Struktureller Antiziganismus – Antiziganismus Watchblog https://antizig.blackblogs.org Sun, 25 Apr 2021 17:46:36 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.1 https://antizig.blackblogs.org/wp-content/uploads/sites/775/2019/01/cropped-antizig-header-e1546873341720-32x32.jpg Struktureller Antiziganismus – Antiziganismus Watchblog https://antizig.blackblogs.org 32 32 Mutmaßlicher Brandanschlag bei Ulm https://antizig.blackblogs.org/2021/04/25/mutmasslicher-brandanschlag-bei-ulm/ Sun, 25 Apr 2021 17:46:36 +0000 http://antizig.blackblogs.org/?p=1483 Continue reading Mutmaßlicher Brandanschlag bei Ulm ]]> Mutmaßlicher Brandanschlag bei Ulm

In einer Pressemitteilung berichtet der Verband Deutscher Sinti und Roma, Landes­verband Ba­den-Württem­berg von einem Vor­fall am 19. März in der Nähe von Ulm. Meh­re­re Wohn­wagen einer Zirkus­trup­pe, die auf­grund der Pan­de­mie in in Wei­den­stet­ten ge­stran­det war, brann­ten ab. Auch Per­so­nen waren in Gefahr, konn­ten sich aber ins Freie retten. Der Lan­des­ver­band spricht von einem mög­li­chen anti­ziganis­ti­schen Brand­an­schlag. Die Po­li­zei er­mit­telt. Die Aus­sen­dung im Ori­gi­nal­wort­laut:

Am Morgen des 19. März 2021 wurden in Weidenstetten im Alb-Donau-Kreis unweit von Ulm gegen 5:40 Uhr drei Wohnwagen einer Zirkus­truppe, zu der auch Sinti ge­hören, durch einen Brand zer­stört. Zwei junge Männer kamen bei dem Brand bei­nahe ums Leben. Sie konn­ten sich noch in letz­ter Se­kunde aus den bren­nenden Wagen retten und ver­loren alles, was sie be­sitzen. Der Wohn­wagen eines weite­ren Mit­glieds des Zirkus ist größ­ten­teils ab­gebrannt. In der Nähe stan­den zwei Wohn­wagen, die eben­falls durch die Hitze be­schädigt wurden.

Die Polizei hat die Ermittlungen aufgenommen und einen Brand­mittel­spür­hund ein­ge­setzt. Ein anti­ziganisti­scher Brandanschlag mit dem Ziel der Vertreibung kann nicht aus­geschlossen werden. Be­troffene be­richteten auch, der Bürger­meister habe dem Zirkus an­gedroht, dass seine Wagen in Flammen auf­gehen könn­ten, wenn er nicht weiter­ziehen würde. Der Zirkus muss­te sich vor 15 Mo­na­ten auf­grund der Coro­na-Pan­demie, die Auf­führun­gen un­mög­lich machte, am Orts­rand von Weiden­stetten nieder­lassen. Zu­gleich kam es nach dem Brand zu einer Solidari­sierung aus der lokalen Be­völke­rung. Eine Spenden­samm­lung fand statt, ein Ulmer Hotel stell­te eine Über­nachtungs­mög­lich­keit zur Ver­fügung, neue Wohn­wagen wur­den ge­spendet.

Der VDSR-BW steht in Kontakt mit den Betroffenen und hat ihnen bürger­recht­liche Beratung und Rechts­schutz an­ge­boten. Daniel Strauß, Vor­stands­vor­sitzen­der des VDSR-BW:

Sollte sich der Verdacht eines anti­ziganisti­schen Brand­anschlags er­härten, würden Erinnerun­gen an den Anschlag im Mai 2019 auf eine Roma-Fa­mi­lie in dieser Region ge­weckt. Die fünf Täter wurden vom Land­gericht Ulm im Sep­tem­ber 2020 wegen Ver­treibung bzw. ge­mein­schaft­li­cher Nötigung in 45 Fällen ver­urteilt. [Anm.: mehr hier] Die Staats­anwalt­schaft hatte so­gar eine Verurteilung we­gen ver­suchten Mordes ge­fordert.

Der VDSR-BW hat bereits den Beauftragten der Landes­regierung gegen Anti­semitis­mus, Dr. Michael Blume, von dem mög­lichen antiziganistischen Anschlag in Kennt­nis ge­setzt.

(Text: Aussendung des Landesverbands Ba­den-Württem­berg)

Quelle: dROMa

Stand: 25.04.2021

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EU Kommission legt neue europäische Strategie zur gleichberechtigten Teilhabe von Sinti und Roma vor https://antizig.blackblogs.org/2020/11/02/eu-kommission-legt-neue-europaeische-strategie-zur-gleichberechtigten-teilhabe-von-sinti-und-roma-vor/ Mon, 02 Nov 2020 13:54:20 +0000 http://antizig.blackblogs.org/?p=1420 Continue reading EU Kommission legt neue europäische Strategie zur gleichberechtigten Teilhabe von Sinti und Roma vor ]]> Zentralrat Deutscher Sinti und Roma begrüßt das Engagement gegen Antiziganismus

Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma begrüßt den heute von der Europäischen Kommission vorgelegten ‚Strategischen EU-Rahmen für die Gleichberechtigung, Inklusion und Partizipation von Sinti und Roma für 2020 bis 2030‘.

Am Montag, dem 12. Oktober 2020 wird der „EU-Rahmen“ bei einer High-Level-Konferenz zum EU-Rahmen für Gleichheit, Inklusion und Teilhabe bis 2030 vorgestellt werden.  Die Konferenz findet aufgrund der Pandemie online statt.  „Mit dieser Konferenz wird die Politik für Sinti und Roma in Europa neu ausgerichtet. Erstmals wird hier der jahrhundertealte Antiziganismus als die Ursache für Ausgrenzung und Stigmatisierung unserer Minderheit benannt und erstmals zielen die Programme der EU auf die Ursachen der menschenunwürdigen Situation ab“, so Rose.

Der Zentralrat hebt hervor, dass die Europäische Kommission und die deutsche EU-Ratspräsidentschaft die Gefahren des Antiziganismus und Rassismus in den Mittelpunkt des politischen Handelns stellen:

Für den jetzt vorgelegten EU-Rahmen ist die Bekämpfung des Antiziganismus die entscheidende Voraussetzung, dass die gleichberechtigte Teilhabe von Sinti und Roma erfolgreich umgesetzt werden kann. Die perspektivlose Lebenssituation großer Teile der Roma-Bevölkerung in ihren jeweiligen Heimatländern, insbesondere in Südosteuropa, hat ihre Ursache nicht in einer der Minderheit diffamierend zugeschriebenen Lebensweise. Damit sollte die Minderheit selbst für die menschenunwürdige Lebenssituation verantwortlich gemacht werden. Die tatsächliche Ursache ist aber die Apartheitspolitik gegen Roma in einer Vielzahl europäischer Länder, die zur Vertreibung eingesetzt wird“, so Romani Rose.

Der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, erklärt grundsätzlich:

„Diese neue EU-Rahmenstrategie ist eine historische Chance, endlich die Ausgrenzung unserer Minderheit in Europa bewusst zu machen und damit die Voraussetzungen für die Überwindung von Antiziganismus zu schaffen. Es muss das Selbstverständnis unsere politischen Repräsentanten in den europäischen Ländern wie in den internationalen Organisationen sein, Antiziganismus genauso zu ächten wie Antisemitismus.“ 

Der Zentralrat fordert die deutsche EU Ratspräsidentschaft und die EU Mitgliedsstaaten auf eine verbindliche Empfehlung des Rates der Europäischen Union zu verabschieden, in der die Verpflichtungen der Mitgliedsstaaten zur Umsetzung auf allen Ebenen festgeschrieben werden. Hierzu gehören insbesondere die Finanzierung der Maßnahmen und das kontinuierlichen Monitoring, sowie die direkte Beteiligung der Minderheit

Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma sieht Deutschland weit fortgeschritten in der Auseinandersetzung mit Antiziganismus. Auf der Grundlage des vorgelegten EU-Rahmens könne jetzt die Bundesregierung noch vor Ende der Legislaturperiode einen „Bundesweiten Strategischen Rahmen für die Bekämpfung von Antiziganismus und die gleichberechtigte Teilhabe von Sinti und Roma“ beschließen.

Die von der Bundesregierung im Frühjahr 2019 eingesetzte Unabhängige Kommission Antiziganismus wird voraussichtlich Anfang 2021 der Bundesregierung und dem Bundestag ihre Ergebnisse und weiterführende Handlungsempfehlungen vorlegen. Diese Empfehlungen sollen in den „Bundesweiten Strategischen Rahmen“ einfließen.

Um diesen „Strategischen Rahmen“ zu entwickeln, regt der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma an, die Bundesregierung möge einen Konsultationsprozess mit Ländern und Kommunen, mit der weiteren Zivilgesellschaft und mit Facheinrichtungen zu initiieren, um Ziele und Maßnahmen für die Dekade bis 2030 zu definieren. Als Grundlage für diesen Konsultationsprozess legte der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma eine umfassende Stellungnahme zur EU-Rahmenstrategie sowie drei Monitoringberichte zur Umsetzung der bisherigen „Integrierten Maßnahmenpakete zur Integration und Teilhabe der Sinti und Roma in Deutschland“ (2011-2020) vor.

 

Neuer Strategischer EU-Rahmen (Website der EU Kommission):

  1. Kommunikation der Europäischen Kommission: der neue strategische EU-Rahmen
  2. Vorschlag der EU Kommission für Empfehlungen des Rates der Europäischen Union
  3. Annex 1: Guidelines für nationale Handlungsrahmen
  4. Annex 2: Portfolio der Indikatoren
  5. Staff Working Dokument: Analytisches Dokument zur Kommunikation der Europäischen Kommission
  6. Factsheet zum neuen EU-Rahmen

 

Quelle: Zentralrat deutscher Sinti und Roma

Stand: 02.11.2020

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Mahnmal für ermordete Sinti und Roma: Eine gesellschaftliche Baustelle https://antizig.blackblogs.org/2020/06/19/mahnmal-fuer-ermordete-sinti-und-roma-eine-gesellschaftliche-baustelle/ Fri, 19 Jun 2020 23:17:45 +0000 http://antizig.blackblogs.org/?p=1388 Continue reading Mahnmal für ermordete Sinti und Roma: Eine gesellschaftliche Baustelle ]]> Mehr als 500 Menschen demonstrierten in Berlin gegen Baupläne der Bahn, die das Mahnmal für Sinti und Roma einschränken könnten.

Als sich der Demozug in Bewegung setzt, wird sichtbar, wer alles gekommen ist, um gemeinsam mit den Selbstorganisationen der Sinti*zze und Rom*nja zu demonstrieren. Ihr Protest richtet sich am Samstag gegen Baupläne von Bundesregierung und Bahn, die den Tunnel für eine neue S-Bahn-Trasse ausgerechnet unter dem Mahnmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma im Tiergarten entlang führen möchten. Die Initiativen befürchten daher, dass das Mahnmal im Zuge der Bauarbeiten gesperrt oder sogar teilweise abgebaut werden könnte.

Und sie sind mit dieser Sorge nicht allein: Während der Auftaktkundgebung hatten sich bereits laufend Demo-Teilnehmer*innen rechts und links vom Lautsprecherwagen dazugesellt. Und wie bei einem Fächer, der das ganze Bild erst im aufgespannten Zustand zeigt, reihen sich nun, als es losgeht, Einzelpersonen und als Gruppen erkennbare Teilnehmer*innen hinter dem Lautsprecherwagen ein, bald zieht sich der Zug vom Mahnmal bis zum Brandenburger Tor: Mehr als 500 Menschen sind gekommen – vor einer Woche, bei der ersten Kundgebung, die mehr Aufmerksamkeit auf die Baupläne und das Mahnmal lenken wollte, waren es rund 50 Menschen gewesen.

Auf Plakaten, T-Shirts und Mund-Nase-Masken ist zu erkennen, woher die Solidarität kommt: Aus migrantischen Gruppen, aus der Black-Lives-Matter-Bewegung, von der Seebrücke, von Jüdinnen und Juden. Das vielfältige Bild macht deutlich: Dies ist heute kein reiner Kampf der Rom*nja und Sinti*zze. Hier sind viele, die deren Kampf für mehr Sichtbarkeit und Anerkennung als einen gemeinsamen Kampf für eine offene, diskriminierungsärmere und gerechtere Gesellschaft verstehen.

Mitorganisator Gianni Jovanovic ist die Freude darüber anzuhören. „Es ist das erste Mal, dass sich so viele Menschen als Alliierte an die Seite der Rom*nja und Sinti*zze gestellt haben“, sagt er. „Das ist ein sehr gutes Zeichen – es ist wichtig, auf die Situation der Sinti*zze und Rom*nja aufmerksam zu machen, denn das Bauvorhaben negiert die Gegenwart der Menschen in der deutschen Gesellschaft und wie stark sie von Rassismus betroffen sind.“ Jovanovic fordert nun andere Ansätze in der Bildung der Dominanzgesellschaft: „Die Menschen müssen das, was sie gelernt haben, hinterfragen und sich ihre Vorurteile bewusst machen.“

Mahnmal unberührt lassen

Denn den Selbstorganisationen geht es bei ihrem Protest gegen die Baupläne nicht nur um das Mahnmal, sondern auch darum, wie sie in der Gesellschaft wahrgenommen werden. Schon im Vorfeld hatten sie dazu aufgerufen, ihr Anliegen zu unterstützen. Sie wünschen sich eine Lösung, die das Mahnmal unberührt lässt, und wollen erreichen, dass das Land Berlin als Bauherrin die Vorhaben stoppt.

„Es ist nicht unser Mahnmal, wir haben die Toten und den Holocaust nicht vergessen. Die Mehrheitsgesellschaft muss mit diesem Ort an die Verbrechen der Geschichte erinnert werden“, sagt Aktivist Kenan Emini. „Ich habe noch Angela Merkels Worte von der Eröffnung im Ohr, als sie sagte: wie können Geschichte nicht ungeschehen machen, aber wir können sie mit dem Mahnmal hier im Zentrum Berlins in unsere Mitte holen.“ Heute sei diese Aussage anscheinend nichts mehr wert.

„Die Zerstörung unseres Gedenkorts ist nicht mehr als eine Randnotiz auf Hunderten von Seiten im Antrag“, sagt zum Beispiel Mitorganisatorin Roxanna-Lorainne Witt. Sie fordert verpflichtende antirassistische Bildung in Schulen und Universitäten und einen Ausbau der Gedenkstätte zu einem Lernort. „Vor allem fordern wir einen Platz in eurer Mitte, nicht mehr am Rande der Gesellschaft“, sagt Witt.

Denn dass der Porajmos, der Genozid an den Sinti*zze und Rom*nja im Nationalsozialismus, im gesellschaftlichen Bewusstsein keinen Platz einnehme, habe Auswirkungen bis heute. So seien drei der bei dem rassistischen Terroranschlag von Hanau ermordeten Menschen Rom*nja gewesen. Die Medien hätten allerdings den sogenannten Migrationshintergrund der Opfer betont. „Mehr als 700 Jahre leben wir hier als Minderheit und haben die Gesellschaft mitgestaltet, und immer noch gehören wir nicht dazu?“, fragt Witt.

Strukturelle rassistische Gewalt

Die Redner*innen prangern bei Zwischenkundgebungen die anhaltende Gewalt gegen Rom*nja und Sinti*zze in Deutschland, Europa und weltweit an. Minutenlang zählt Kenan Emini Fälle auf, in denen Angehörige der Minderheit innerhalb der vergangenen Monate beschimpft, verleumdet, mit Hunden oder Waffen angegriffen, vergewaltigt und ermordet worden sind – eben keine Einzelfälle, sondern Belege für strukturelle rassistische Gewalt, der sie täglich ausgesetzt sind.

Zielscheibe des Protests ist außerdem die Bahn, die im Nationalsozialismus daran verdiente, dass sie die Menschen in die Lager transportierte und nun aus Sicht vieler Demo-Teilnehmer*innen Sensibilität gegenüber Opfern und Hinterbliebenen bei den S-Bahn-Bauvorhaben vermissen lässt. „Erst Deportationen koordinieren, dann Gedenken blockieren“ heißt es auf einem Plakat.

Vor der Konzernzentrale der Deutschen Bahn am Potsdamer Platz endet später auch die Demo – Moderatorin Tayo Awosusi-Onutor prangert an, dass sich die Bahn „komplett verblüfft“ zeigte, dass eine Sperrung oder Schließung des Denkmals problematisch sein könnte. „Diese Verblüffung kenne ich aus meinen Workshops, wenn ich frage, wer in der Schule etwas über den Porajmos gelernt hat“, sagt sie. Ähnlich wie die Geschichte Schwarzer Deutscher sei die Geschichte der Sinti und Roma weitgehend unsichtbar.

Auch darauf zielen viele Plakate ab. „Deutschland: Weltmeister selektiver Erinnerungskultur“ trägt eine Gruppe vor sich her, die sich als „Jüd*innen in Solidarität mit Romn*ja und Sinti*zze“ zu erkennen gibt. Sie finden den Umgang mit dem Mahnmal unverschämt und skandalös. „Mit dem Holocaust-Mahnmal wäre solch eine Diskussion gar nicht denkbar“, sagt Inna Michaeli aus der Gruppe.

„Diskriminierende Erinnerungspolitik“

„Wir kritisieren die Hierarchie von Opfern und die diskriminierende Erinnerungspolitik in Deutschland. Als Jüd*innen wollen wir keine besondere Aufmerksamkeit, vor allem nicht auf Kosten von anderen Gruppen“, sagt Michaeli. „Wir fordern antirassistische Politik mit gleichem Respekt und insbesondere auch gleichen Ressourcen.“ Wo es einen Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung gibt, sollte es daher auch Beauftragte gegen Rassismus und gegen den spezifischen Rassismus gegen Rom*nja und Sinti*zze geben, fordern sie.

Unterstützung kam auch von der Migrantifa, die von ihrer eigenen Kundgebung am Samstagmittag am Hermannplatz zur Demo am Mahnmal mobilisiert hatte und sich auch mit Plakaten solidarisch zeigte. „Das geht gar nicht, dass sie für eine S-Bahn das Mahnmal einschränken“, heißt es aus der Gruppe. „Romn*ja-Perspektiven gehen oft komplett unter im öffentlichen Diskurs, diesen Stimmen müssen wir mehr Reichweite geben. Und es sollte auch nicht die Aufgabe der direkt Betroffenen sein, auf diskriminierende Politik aufmerksam zu machen, sondern unsere gemeinsame Aufgabe, zu verhindern, dass Diskriminierung immer und immer wieder passiert.“

„Diese Demo heute hat mir Hoffnung gemacht“, sagt der in Berlin lebende Roma-Künstler-Aktivist Barica Emanuel. „Ich wünsche mir, dass diejenigen, die heute hier waren und etwas über die Minderheit gelernt haben das weiterverbreiten und sich auch weiter für uns interessieren. Denn nur durch gegenseitiges Interesse werden wir Teil einer gemeinsamen Gesellschaft.“

Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma

Erst nach langem Kampf der Minderheit und 20 Jahren Planung wurde das Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma 2012 eröffnet: ein kreisrundes Wasserbecken mit einem dreieckigen Stein in der Mitte, auf dem stets eine frische Blume liegt. Steine rund ums Becken erinnern an Orte des Nazi-Terrors; auf Glastafeln wird über Ausgrenzung und Massenmord an der Minderheit informiert. Das Mahnmal befindet sich im Tiergarten zwischen Reichstagsgebäude und Brandenburger Tor.

Gefährdet ist das Mahnmal, weil die Trasse für die neue S21 in einem Tunnel unter dem Mahnmal verlaufen soll. Die Trassenführung gab die Bahn im Januar bekannt; vom Mahnmal war keine Rede. Doch lobten sich die Beteiligten dafür, eine Lösung fürs Besuchszentrum des Bundestags gefunden zu haben. Ende Mai hieß es: Das Mahnmal werde während der Bauarbeiten nicht angetastet, immer sei ein Zugang möglich; Planungen befänden sich im frühen Stadium, man hoffe auf eine gute Lösung. (usch)

Quelle: taz.de

Stand:20.06.2020

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Internationaler Tag der Roma: Antiziganismus ist auch ein Virus https://antizig.blackblogs.org/2020/04/09/internationaler-tag-der-roma-antiziganismus-ist-auch-ein-virus/ Thu, 09 Apr 2020 09:22:45 +0000 http://antizig.blackblogs.org/?p=1341 Continue reading Internationaler Tag der Roma: Antiziganismus ist auch ein Virus ]]> Der Internationale Romatag am 8. April findet diesmal virtuell statt. Angesichts von Corona fordern Organisationen Solidarität mit Marginalisierten.

Eigentlich wollten die Organisator*innen der zweiten Roma Biennale mit ihren Lesungen, Ausstellungen und Konzerten hinaus in die ganz Stadt. Und ein bisschen von dieser Idee soll trotz Virus-Pandemie bewahrt werden und das Publikum per Stream erreichen.

Deshalb fährt Kurator Hamze Bytyçi am Internationalen Romatag am heutigen Mittwoch mit einem eigens gestalteten, ganz analogen Biennale-Truck zum Mahnmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma, zum ehemaligen Zwangslager in Marzahn, zum Gorki-Theater und zu der Stele, die an den Boxer Johann Rukeli Trollmann erinnert. An diesen für die Geschichte und Gegenwart von Sinti*ze und Romn*ja in Berlin wichtigen Orten führt er Gespräche mit Künstler*innen, Aktivist*innen und Politiker*innen.

Ergänzend wird es einen Livestream der Künstlerin Delaine Le Bas samt Gesprächspartner*innen aus dem Studio im Gorki Theater geben: Sie diskutieren, was das Coronavirus und die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie für marginalisierte Menschen bedeuten. Die eigentliche Biennale unter dem Titel „We are here“ sei damit aber nicht abgesagt, sondern nur aufgeschoben, betonen die Veranstalter*innen.

„Zum Romaday wollen wir nicht nur über Probleme sprechen sondern auch zeigen, was wir erreicht haben“, sagt Bytyçi. „Aber auch wenn Kultur, Politik und Gesellschaft mit Minderheiten inzwischen anders umgehen, fehlt im Umgang mit Rom*nja an vielen Stellen noch Awareness und Sensibilität.“ Der Weltromatag am 8. April erinnert an den Ersten Welt-Roma-Kongress, der am 8. April 1971 in London stattfand

Das Rroma-Informations-Centrum in Neukölln, eine Selbstorganisation, die eigene Perspektiven in die zumeist fremdbestimmte Debatte einbringen will, kritisiert zum Romatag in einem offenen Brief den Rassismus gegen Rom*nja in Südosteuropa. „Die Regierungen in Ungarn, der Slowakei und Bulgarien benutzen das Virus, um rassistische Macht auszuüben und Rom*nja zu unterdrücken“, sagt Leiter Milan Pavlovic.

„Wir sehen gerade, dass wir nicht weit gekommen sind: Es passiert eine Krise und sofort wird den Rom*nja die Schuld gegeben.“ Darin wiederholten sich die Beschuldigungen, die im Zweiten Weltkrieg zur Verfolgung der Rom*nja geführt hätten, meint Pavlovic. „Und Europa ist still, es gibt keine europäische Solidarität mit den Marginalisierten. Das macht mir Angst“, sagt er. Seinen offenen Brief habe er deshalb an die Botschafter von Russland und China adressiert – diese seien die einzigen, die ihre Hilfe auch anderen Ländern angeboten hatten. Der Brief wird von Amaro Foro und von der Ini Rom*nja unterstützt.

Auch das feministische Rromnja-Archiv RomaniPhen verschiebt den geplanten Romnja* Power Month auf den Spätsommer. Den Romatag wollen die Frauen nicht feiern, aber ein Video mit Statements veröffentlichen. „Die Folgen der politischen und sozialen Ungleichheit waren auch bisher für viele Rom*nja existenziell und akut, allerdings erhalten sie unter den Bedingungen der Pandemie neue Dringlichkeit“, sagt Leiterin Isidora Randjelović. „Unsere Forderung nach struktureller Gerechtigkeit bleibt bestehen.“

Quelle: taz

Stand: 08.04.2020

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Zum Internationalen Roma Tag: Rassismus tötet https://antizig.blackblogs.org/2020/04/09/zum-internationalen-roma-tag-rassismus-toetet/ Thu, 09 Apr 2020 09:19:24 +0000 http://antizig.blackblogs.org/?p=1346 Continue reading Zum Internationalen Roma Tag: Rassismus tötet ]]> In der vergangenen Woche starben in Nordmazedoniens Hauptstadt Skopje eine junge Frau und ihr ungeborenes Kind, nachdem ihnen mehrfach medizinische Versorgung verweigert wurde. Das European Roma Rights Center in Budapest verfolgt diesen Fall von institutionellem Rassismus und wartet auf das Ergebnis der Untersuchungen durch das dortige Gesundheitsministerium, bevor rechtliche Schritte eingeleitet werden können…

Für den Zentralrat Deutscher Sinti und Roma bestätigt dieser traurige Fall erneut, dass sich der strukturelle Antiziganismus, diese spezifische, gegen Roma gerichtete Form des Rassismus, in Europa gerade auch unter den kritischen Bedingungen der Corona-Krise verschärft.

Anlässlich des Internationalen-Roma-Tages am 8. April erneuert der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma seinen Appell an die nationalen Regierungen und die europäischen Institutionen, jetzt die besonders prekäre Situation von Roma in den Ländern Mittel- und Südosteuropas anzuerkennen und umgehend zielgerichtete Maßnahmen zu ergreifen. Der Zentralrat begrüßt hier besonders die Erklärung der EU-Kommissarin für Gleichstellung, Helena Dalli, die eine „Verfolgung und Bestrafung von rassistischen Äußerungen in der Öffentlichkeit“ forderte, „die zu Gewalt gegen Roma in Zeiten der Krise führen können“.

Der seit Jahrzehnten bestehende strukturelle Antiziganismus in vielen Ländern Europas führt immer wieder zu Todesfällen. Der Zentralrat erwartet jetzt von der Europäischen Kommission, dass die neue EU-Roma-Strategie für die gleichberechtigte Teilhabe von Roma in den Mitgliedsstaaten nach 2020 die Bekämpfung des Antiziganismus in das Zentrum der geplanten Programme stellt.

„Antiziganismus ist Ursache der desolaten Situation, in der sich ein Großteil der Roma besonders in den Ländern Mittel- und Südosteuropas befindet. Roma bilden mit ca. 12 Millionen Menschen die größte Minderheit in der Europäischen Union. Gerade jetzt aber sind Roma oftmals doppelt gefährdet, wenn nämlich nationalistische Politiker versuchen, ihre rassistischen Positionen als Staatshandeln zu legitimieren, indem sie Roma als Sündenböcke in der Krise denunzieren“, erklärte Romani Rose. „Für diese desolate Situation tragen die nationalen Regierungen eine direkte Verantwortung. Die Ghettos, in denen Roma häufig abgeschnitten von jeder Infrastruktur leben müssen, sind Ausdruck einer seit Jahrzehnten fortbestehende Apartheit in vielen Ländern“, so Rose weiter.

Der 8. April ist aber auch der Tag, der zeigt, dass Roma heute in Deutschland und in Europa als nationale Minderheit in ihren jeweiligen Heimatstaaten wahrgenommen werden. „In Deutschland erinnern wir gerade an den Hungerstreik von 12 Sinti im ehemaligen Konzentrationslager Dachau, der den Beginn unserer Bürgerrechtsarbeit markierte. Es ist heute in Deutschland und in Europa wichtig, dass Antiziganismus genauso wie der Antisemitismus geächtet wird, und dass antiziganistische Vorfälle beobachtet und erfaßt werden. Der Zentralrat hat die Einrichtung einer Unabhängigen Kommission Antiziganismus deshalb ausdrücklich begrüßt, die in ihrem Bericht gezielte Maßnahmen gegen diesen Rassismus vorgeben soll“, so Rose.

Herbert Heuß, Zentralrat Deutscher Sinti und Roma

Quelle: Hagalil.de

Stand: 09.04.2020

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Diskriminierung gegen Roma https://antizig.blackblogs.org/2018/05/26/diskriminierung-gegen-roma/ Sat, 26 May 2018 10:46:41 +0000 http://antizig.blogsport.de/2018/05/26/diskriminierung-gegen-roma/ Continue reading Diskriminierung gegen Roma ]]>

Der Berliner Verein Amaro Foro hat für 2017 einen starken Anstieg antiziganistischer Diskriminierung in Berlin verzeichnet. Waren es 2016 noch 146 Vorfälle, die in der Jahresdokumentation benannt wurden, sind für das letzte Jahr 252 Vorfälle angegeben. Dazu zählen Fälle behördlicher Diskriminierung unter anderem bei Jobcentern, Kindergeldstellen und Kindertagesstätten ebenso wie stereotypisierende Medienberichte oder Online-Kommentare. Amaro Foro konstatiert hier eine „deutliche Verrohung der Diskurse.“

Stand: 26.05.2018
Quelle: Amaro Foro, neues deutschland

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Who Defines Roma? https://antizig.blackblogs.org/2014/09/23/who-defines-roma/ Tue, 23 Sep 2014 07:25:49 +0000 http://antizig.blogsport.de/2014/09/23/who-defines-roma/ Continue reading Who Defines Roma? ]]>

Roma identity as we know it today wouldn’t exist without the discourse created by numerous experts. The World Bank, for example, has published widely on Roma poverty, others have written on the genetics of Roma. The production of knowledge about Roma presents a curious consensus on who the Roma are and typically reinforces stereotypes. Consequently, Roma identity tends to be recognized by the strength of the stereotypes related to it.

Roma have been subjected to a variety of scientific practices such as counting, classifying, demographic predictions, mapping, photographing, and DNA profiling. All these practices are part and parcel of a trained vision that itself needs to be observed.

Many stereotypes are created by outsiders, of which the academic establishment is just a part, and then internalized and reproduced by Roma themselves. Policy analysis chiefly produces and circulates a standard image of Roma as a group of marginal and vulnerable people, if not at-risk or welfare-dependent. In doing so, policy analysts and policy makers—as well as academics and journalists—create and maintain negative definitions of Roma.

At the visual level, Roma identity is standardized even more powerfully than in the texts: images of Roma are abundant in stereotypes (the beggar, the naked children on the garbage dump, the shantytown resident, the displaced, the poor migrant) which narrow public perceptions. Not that these photographic instances aren’t part of reality, but emphasizing only this aspect perpetuates a deeply negative vision of Roma.

The interest in describing and representing Roma is both scientific and political: science presumes to represent Roma as a research object by constituting Roma group identity through its various disciplinary branches, while political entrepreneurs bolster their agendas by instrumentalizing Roma as a political object. Scientific or expert interests are at the same time epistemic but also mundane and profitable—but not for those categorized. Who would support research on Roma that doesn’t fit with predetermined profiles prepared by bureaucrats or policy makers?

The homogenous image of Roma presented by researchers is inaccurate because it is incomplete. On the one hand, not all individuals judged by the researchers as being Roma think of themselves as such. On the other hand, the problems that are believed to apply exclusively to Roma are not relevant for all of them and, moreover, are also applicable to many non-Roma.

Thus, perhaps the best way to understand the Roma “issue” is not to analyze the Roma (as ethnic identity is contextual and fluid) but to look at their various classifiers and modes of objectification. That the category of Roma is politically institutionalized through the contribution of the expert knowledge is easily observable with the political regime change from socialism to capitalism in Central and Eastern Europe. Before 1990, Roma were not part of the official and expert discourse; afterwards they became the main focus of the political and scientific scrutiny.

The scientific and expert “truth” established by Roma-related research is one that is conjectural, interested, and highly dependent on the political regimes in power. The way in which experts classify people (including Roma) can have important consequences for those who are classified. The expert and scientific images of Roma do nothing but exacerbate more the existing social divisions by lending academic credibility to incorrect and dangerous perceptions that Roma are somehow fundamentally different to everyone else.

In my forthcoming book Expert Trademarks: Scientific and Policy Practices of Roma Classification (CEU Press), I aim to draw attention away from the Roma themselves and toward those who classify them and how.

Acknowledging the implications of scientific categorization for people’s lives was the most significant reason for me to write this book. The negative image of Roma has to be analyzed, challenged, and deconstructed. It’s time for experts to show more prudence in their assumptions, descriptions, and methodologies, and to begin to depoliticize Roma ethnicity.

Source: Open Society Foundation
Date: 08.05.2014

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»Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen« https://antizig.blackblogs.org/2013/02/21/wer-nicht-arbeiten-will-der-soll-auch-nicht-essen/ Thu, 21 Feb 2013 12:11:03 +0000 http://antizig.blogsport.de/2013/02/21/wer-nicht-arbeiten-will-der-soll-auch-nicht-essen/ Continue reading »Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen« ]]>

Über historische Kontinuitäten im Zusammenhang von Arbeitsethik und Antiziganismus seit dem Frühkapitalismus berichtet Markus End

Die stereotype Wahrnehmung von der Art und Weise wie vermeintliche ›Zigeuner‹ ihre materielle Reproduktion sichern, nimmt im Antiziganismus eine prominente Stellung ein. Keiner der ›Gelehrten‹, die seit dem 15. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum über ›Zigeuner‹ berichteten, vergisst darauf hinzuweisen, dass diese hauptsächlich durch ›Betteln‹, ›Stehlen‹ und ›Wahrsagen‹ ihr Leben bestritten und mit ›ehrlicher Arbeit‹ nichts anfangen könnten. Auch in den gegenwärtigen Diskursen über migrierende Roma spielt die Vorstellung vom ›bettelnden Zigeuner‹ eine große Rolle. Um die Entwicklung dieser antiziganistischen Vorstellung zu veranschaulichen, sollen hier die Ausführungen von Hermann Arnold herangezogen werden. Der Mediziner Arnold steht wie kein anderer für die Kontinuitäten des nationalsozialistischen Antiziganismus in der Bundesrepublik Deutschland. Er publizierte auf der Basis der nationalsozialistischen ›Rassegutachten‹ der Rassenhygienischen Forschungsstelle, suchte und ›fand‹ das ›Zigeunergen‹, war nach 1945 als Berater für Ministerien und Verbände tätig und galt bis Anfang der 1980er Jahre als der kompetenteste ›Zigeunerforscher‹ in der BRD.

Das Bild des ›archaischen Parasiten‹ in der antiziganistischen Sinnstruktur

Mit antiziganistischen Sinngehalten sind Bedeutungsmuster gemeint, die einzelnen antiziganistischen Stereotypen oder Bildern auf einer abstrakteren Ebene zugrunde liegen. Den Sinngehalt der ›zigeunerischen Arbeitsscheu‹ hat Arnold unwillentlich präzise auf den Punkt gebracht: »Der Zigeuner ist ein Sammler im wahrsten Sinne des Wortes. Von anderen Jäger- und Sammlervölkern unterscheidet ihn, dass diese in der Natur, er aber auf dem bestellten Acker der menschlichen Zivilisation seine Lebensbedürfnisse gewinnt. Er lebt von Menschen, und daher findet man ihn nicht in unbesiedelten Gebieten.« Diese antiziganistische Logik des ›archaischen Parasiten‹ liegt den meisten Äußerungen dazu zugrunde, wie ›der Zigeuner‹ sein Überleben sichere: »Er lebt von Menschen.« Auf archaische Art und Weise müsste noch hinzugefügt werden. Bis heute wird diese Logik auch in der Wissenschaft reproduziert. So konnte die Ethnologin Harika Dauth, die dem Leipziger Forum Tsiganologische Forschung angehört, in der linken Zeitschrift contraste folgende Thesen publizieren: »Die Wirtschaft der Zigeuner hängt stark von der Ökonomie der Mehrheitsbevölkerung ab. Denn im Vergleich zu klassischen, Nahrungsmittel produzierenden Gruppen, stellen Zigeuner ihre Nahrung nicht selbst her.«

In den antiziganistischen Vorstellungen von dieser Lebensweise gibt es eine gewisse Bandbreite. Diese reichen vom ›Diebstahl‹, der eine illegale Aneignung des Privatbesitzes Anderer darstellt, über das ›Betteln‹, das bei denen, die ihren erarbeiteten Besitz hergeben, ein gewisses Einverständnis voraussetzt, bis zum ›Hausieren‹, das auch jenen, die ihren erarbeiteten Besitz hergeben, einen Nutzen verschafft. Falls ›Zigeunern‹ von den sie beschreibenden ›Expert_innen‹ Tätigkeiten zugestanden werden, die näher an das Bild eines klassischen Berufs heranreichen, so wird doch immer die Trennlinie aufrechterhalten, dass ›Zigeuner‹ keine Lebensmittel, nichts Lebensnotwendiges produzierten. Tätigkeiten als ›Scherenschleifer‹, ›Kesselflicker‹ oder ›Schrottsammler‹ sind Elemente dieser antiziganistischen Bildtradition. Auch wenn hier ein teilsymbiotisches Verhältnis beschrieben wird, verbleiben diese ökonomischen Zuschreibungen in der Logik, dass Zigeuner von anderen Menschen lebten. Arnold beschrieb dies folgendermaßen: »Wo ein Volk noch in enger Naturverbundenheit lebt, kann er [›der Zigeuner‹, M.E.] zu ihm in einen Zustand wirtschaftlicher Symbiose treten. Er macht sich dem Wirtsvolk auf irgendeine Weise nützlich und erkauft sich damit sein Daseinsrecht.« In Arnolds Vorstellung muss sich ›der Zigeuner‹ das Daseinsrecht erkaufen – im Gegensatz zu den Angehörigen der Mehrheitsbevölkerung, die sich ihr Dasein selbst erarbeiteten, indem sie Lebensmittel produzierten.

Entwicklung der Arbeitsgesellschaft

Seit dem 16. Jahrhundert entwickelte sich in Westeuropa eine neue Form der Einstellung zu Arbeit. Der Begriff ›Beruf‹ und die Iodiden der Arbeit als einer lustvollen Tätigkeit wurden in dieser Zeit geprägt. Arbeit wurde unter dem Einfluss der protestantischen Ethik zum »absolute[n] Selbstzweck« stilisiert, Fleiß und Disziplin galten fortan als zentrale Tugenden. Insbesondere die von Martin Luther inspirierte Interpretation des Berufes als göttlicher Verpflichtung, aus deren Erfüllung sich, unabhängig von den erwirtschafteten Arbeitsprodukten, die Freude an der Arbeit ergäbe, war für die Arbeitsethik im deutschsprachigen Raum prägend. Die Durchsetzung der protestantischen Ethik fand auf Grundlage gravierender sozio-ökonomischer Veränderungen statt. Im 15. und 16. Jahrhundert mussten die europäischen Mächte mit einer neuen Dimension von Armut umgehen. Größere Teile der Bevölkerung in Westeuropa waren aufgrund der einsetzenden systematischen Aneignung vormals gemeinschaftlich genutzter Flächen und ganzer Bauernhöfe durch Adel und Feudalherrschaft zum Umherziehen gezwungen und wurden zu ›Vaganten‹ und ›Bettlern‹. Während die protestantische Ethik gewissermaßen die ideologische Komponente der Bekämpfung dieser Auswüchse darstellte, gingen die Herrschenden in den westeuropäischen Staaten auch sehr handfest gegen dieses Phänomen vor. Wer der Arbeitsscheu bezichtigt wurde, hatte schwerste Strafen wie Zwangsarbeit und Brandmarkung bis hin zur Todesstrafe zu befürchten. In den neu etablierten Arbeitshäuser sollte den ›Arbeitsscheuen‹ ihre ›Sünde‹ ausgetrieben werden. Diese Entwicklung ging einher mit dem Aufkommen des Frühkapitalismus, der einer neuen Form von Lohnarbeit und Arbeitsdisziplin bedurfte. Das Zitat aus der Lutherbibel »wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen« wurde zu einem zentralen Motto dieser neuen Arbeitsethik. Die Verfolgung von ›Zigeunern‹ wurde für die Obrigkeiten zu einer Möglichkeit, gegen diese unerwünschten Gruppen vorzfnugehen. Wurden ›Zigeuner‹ im 15. Jahrhundert noch durchweg als fremdes Volk wahrgenommen, häuften sich im 17. Jahrhundert Vorwürfe, ihre ›ägyptische Herkunft‹ und ihre ›schwarze Hautfarbe‹ seien nur betrügerische Täuschungen, die umherziehende Dieb_innen angenommen hätten, um sich eine Legitimation zu verschaffen. Die Bezeichnung ›Zigeuner‹ wurde dabei gerade von der Polizei und anderen staatlichen Organen auch als Ordnungskategorie verwendet, mit der all jene erfasst wurden, die in staatlicher Sichtweise als ›deviant‹, ›arbeitsscheu‹ und ›nichtsesshaft‹ galten.

Ein genauerer Blick soll nun auf die Einordnung der Tätigkeiten geworfen werden. Was zählt neben der direkten Nahrungsmittelproduktion als ›ehrliche Arbeit‹ und was nicht? Arnold schreibt: »Auch die herkömmlichen Zigeunerberufe hatten weder Anstrengung noch Ausdauer verlangt. Sie dienten dazu, ohne eigentliche Arbeit das zu gewinnen, was das Leben verlangt, waren sogar meist nur ein Vorwand zum ›Finden‹.« Anstrengung und Ausdauer sind in Arnolds Vorstellung Merkmale »eigentlicher Arbeit«, während er alle ›Zigeunerberufe‹ pauschal davon ausnimmt. Auch der Konsum der erwirtschafteten Gütern, ist Gegenstand von Arnolds Ressentiment: »Ein Sinto lebt in der Regel von der Hand in den Mund. Er besitzt niemals Ersparnisse und kann sie bei seiner Wirtschaftsweise auch kaum zurücklegen. Verbessert sich sein Einkommen, so feiert er Feste und lässt Gott einen guten Mann sein. Dies bringt ihn bald wieder zurück auf den alten Stand der Armut.« In Arnolds Vorstellung muss das Erwirtschaftete gespart und darf nicht direkt konsumiert oder verprasst werden. Es ist also notwendig, Arbeit zu leisten, die Anstrengung und Ausdauer verlangt, sie also »im Schweisse de[ine]s Angesichts« zu verrichten, sonst gilt sie nicht als »eigentliche Arbeit«. Gleichzeitig soll sie aber nicht dazu dienen, im Nachhinein ihre Früchte zu genießen, vielmehr besteht auch im Konsum der disziplinierte Zugang fort. Gemäß dieser Arbeitsethik sollen die Früchte der Arbeit nicht konsumiert, sondern gespart und angelegt werden. Diese paradoxe und letztendlich masochistische Vorstellung von Arbeit, die anstrengend sein soll und nicht einmal als Ergebnis Genuss bereitstellen darf, kann als ein Merkmal der vorgestellten ›Wir‹-Gruppe, die sich in Abgrenzung zu ›Zigeunern‹ konstituiert, gelten.

»Lohn ohne Arbeit«

Ein tiefergehender sozialpsychologischer Erklärungsansatz dieses Sinnstrukturelements des Antiziganismus lässt sich unter Rückgriff auf die frühe Kritische Theorie formulieren. Auf den ›Zigeuner‹ der antiziganistischen Vorstellung trifft dabei einiges von dem zu, was Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung in den Elementen des Antisemitismus notiert haben. Dieser Grundtext der Antisemitismustheorie ist 1944 unter dem Eindruck des nationalsozialistischen Antisemitismus publiziert worden. In seinen sechs (später sieben) Thesen gehen die Autoren auf sehr verschiedene Momente des modernen Antisemitismus ein. Manche der Thesen sind dabei ausschließlich auf Antisemitismus als Judenfeindschaft fokussiert, während andere mit dem Anspruch antreten, Elemente von Ressentimentbildung im weiteren Sinne zu analysieren.

Der ›Zigeuner‹ kann unter Rückgriff auf Adornos und Horkheimers Thesen als Projektionsfläche für die Vorstellung eines Lebens ohne den Zwang zur Lust an der Arbeit gelten: »Der Hass auf die Nicht-Arbeit besteht also sowohl aus dem Hass gegenüber einer möglichen Aufhebung der Arbeit auf der Basis gesellschaftlichen Fortschritts, dem ›Lohn ohne Arbeit‹, und [sic] aus dem Hass auf die Erinnerung an ein Leben ohne die Friktionen der Arbeitsgesellschaft. Auf dieser Ebene müssen die antisemitischen und antiziganistischen Bilder – ›Ahasver und Mignon‹ – als komplementäre Bestandteile eines kohärenten Wahn- und Projektionsmechanismus betrachtet werden.«

Die »betrogenen Massen« müssten den Gedanken an ein Leben ohne Arbeit noch »als Möglichkeit, als Idee […] verdrängen, sie verleugnen ihn um so wilder, je mehr er an der Zeit ist. Wo immer er inmitten der prinzipiellen Versagung als verwirklicht erscheint, müssen sie die Unterdrückung wiederholen, die der eigenen Sehnsucht galt.« Genau an dieser Stelle eröffnen die Elemente des Antisemitismus explizit die Möglichkeit, sie zur Analyse anderer Ressentiments heranzuziehen. Die Figuren, die Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung nennen, »Ahasver und Mignon« sowie »das als widerwärtig verfemte Tier« stehen für drei unterschiedliche Möglichkeiten, die eigenen Versagungen auf das vermeintliche Leben ohne Arbeit zu projizieren, dass den Anderen zugeschrieben wird – im Antisemitismus, Antiziganismus und Rassismus. Das Bild des »als widerwärtig verfemten Tieres« wird mit dem direkten Verweis auf die ›Natur‹ erklärt. Diese spiegele »den Schein von ohnmächtigen Glück« wieder, eine Projektion, die sich auch im klassischen (neo-)kolonialen Rassismus wiederfindet, in dessen Logik ›Schwarze‹ zumeist direkt mit ›Natur‹ in eins gesetzt werden. Als die Imagination »ohnmächtiges Glücks« ließe sich wohl auch Arnolds Vorstellung vom Leben der anderen »Jäger- und Sammlervölker« deuten, die »in der Natur« ihre »Lebensbedürfnisse gewinnen« . In dieser rassistischen Projektion wird ein natürlicher Zustand ohne jede Kultur unterstellt, in dem es keiner Planung und keiner Arbeit bedarf.

Die ursprünglich christliche Figur des ›Ahasver‹, des ewigen, wandernden Juden, findet in der Vorstellung von der »Verschwörung lüsterner jüdischer Bankiers« und im »Bild des Intellektuellen« im modernen Antisemitismus seine Fortsetzung. Sie steht für die Möglichkeit des »Lohn ohne Arbeit«, die die moderne Produktionsweise selbst verspricht. Da »dies Versprechen, als allgemeines, Lüge bleibt, solange es Klassen gibt« sei es Motivationsgrund für den modernen Antisemitismus. Auch in der antisemitischen Vorstellung leben ›die Juden‹ von der Arbeit anderer Menschen. Allerdings tun sie das, indem sie die Mittel der Zivilisation überstrapazierten und pervertieren.

Zwischen diesen beiden Projektionen steht gewissermaßen die dritte Möglichkeit, ein Leben ohne Arbeit zu imaginieren. Sie wird durch die ›Zigeuner‹-Figur der ›Mignon‹ angedeutet. Die Eigenschaften ›Mignons‹ – der von einer Schauspieltruppe gekauften kindlichen androgynen ›Zigeuner‹-Figur aus Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, die sich durch ihr unbändiges Spielen, Tanzen und Musizieren, jeglichem Ordnungs- und Disziplinierungsversuch widersetzt – gelten Horkheimer und Adorno zusammen mit der Zauberei als Reste mimetischer Ausdrucksformen in der Moderne. In der Dialektik der Aufklärung heißt es: »Von Vernunft und Religion wird das Prinzip der Zauberei in Acht und Bann getan. […] die es praktizieren, werden zu fahrenden Leuten, überlebenden Nomaden, die unter den sesshaft Gewordenen keine Heimat finden. Natur soll nicht mehr durch Angleichung beeinflußt, sondern durch Arbeit beherrscht werden.« Hier wird das mimetische Prinzip, die ›Angleichung‹, als vorzivilisatorischer Gegensatz zum Prinzip der ›Arbeit‹ interpretiert. Nomadentum wird dabei in der Dialektik der Aufklärung immer als historischer Vorläufer zur modernen Eigentumsordnung verstanden: »Mit dem Ende des Nomadentums ist die gesellschaftliche Ordnung auf der Basis festen Eigentums hergestellt. Herrschaft und Arbeit treten auseinander.« ›Nomaden‹ kennen also keine Eigentumsordnung, letztere ist für Adorno auch das Unterscheidungskriterium zur Sesshaftigkeit: »Festes Eigentum unterscheidet von der nomadischen Unordnung, gegen die alle Norm gerichtet ist.« Auch diese Vorstellungen einer archaischen Frühgeschichte müssen verdrängt und aus der ›Wir‹-Gruppe herausprojiziert werden. Der Übergang zur festen Eigentumsordnung kann demnach als eine der sozialen Ursachen des antiziganistischen Sinngehalts des ›archaischen Parasiten‹ interpretiert werden. Weiterhin formulieren Horkheimer und Adorno in der fünften These der Elemente des Antisemitismus: »Die Strenge, mit welcher im Laufe der Jahrtausende die Herrschenden ihrem eigenen Nachwuchs wie den beherrschten Massen den Rückfall in mimetische Daseinsweisen abschnitten, angefangen vom religiösen Bildverbot über die soziale Ächtung von Schauspielern und Zigeunern […] ist die Bedingung der Zivilisation. Gesellschaftliche und individuelle Erziehung bestärkt die Menschen in der objektivierenden Verhaltensweise von Arbeitenden […].« Die Drohung eines Rückfalls in vorzivilisatorische mimetische Formen der Naturbeherrschung geht mit der Stärkung der »objektivierenden Verhaltensweise von Arbeitenden« einher. Dies ist genau der Mechanismus, der sich im Antiziganismus zeigt: ›Zigeuner‹ hätten keinen objektivierenden Zugriff auf Natur, verrichteten keine »eigentliche Arbeit«, seien nicht sesshaft und erkennen auch das damit einhergehende Eigentumsrecht nicht an. Stattdessen nähmen sie sich ihre Lebensmittel, ohne auf Besitzverhältnisse Rücksicht zu nehmen.

Die Vorstellung von der Nichtarbeit der vermeintlichen ›Zigeuner‹ im Antiziganismus ist also eine sehr spezifische und unterscheidet sich sowohl von der Konstruktion der ›unproduktiven Arbeit‹ der ›Juden‹ im Antisemitismus, als auch von der Arbeit der ›Primitiven‹ im (neo-)kolonialen Rassismus. ›Primitive‹ und ›Zigeuner‹ werden in der Sekundärliteratur häufig gleichermaßen als naturhaftes Gegenstück zur Zivilisation analysiert. Eine solche Analyse greift jedoch zu kurz und übersieht die großen Unterschiede in der Konstruktion von Nichtarbeit. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass ›der Primitive‹ in der rassistischen Vorstellung in der Natur selbst seine Lebensmittel gewinne, während ›der Zigeuner‹ »von Menschen« lebe.

Die Vorstellung des ›Parasitären‹ findet sich sowohl in der Sinnstruktur des modernen Antiziganismus als auch in der des modernen Antisemitismus. Der Unterschied zwischen den Imaginationen des Wirtschaftsverhaltens von ›Zigeunern‹ und von ›Juden‹ liegt in der Art und Weise, wie die Angehörigen der ›Wir‹-Gruppe um ihr sauer verdientes Brot gebracht würden. Während ›die Juden‹ im antisemitischen Ressentiment in vermeintlich künstlicher Weise alle Regeln und Methoden der Zivilisation ausnutzten und überdehnten, um sich durch ›Schacher‹ ›und Wucher‹ auf Kosten der ›ehrlich Arbeitenden‹ des ›Wirtsvolkes‹ zu bereichern, gingen ›die Zigeuner‹ genau umgekehrt vor: In scheinbar archaischer Art und Weise ignorieren oder untergraben sie vermeintlich zivilisatorische Errungenschaften wie Eigentumsverhältnisse und Arbeitsethik, um ebenfalls auf Kosten der anderen zu leben. In allen drei Sinngehalten wird den konstruierten Gruppen also die Eigenschaft zugewiesen, nicht selbst zu produzieren, die Art und Weise ist dabei aber jeweils sehr unterschiedlich.

Bis heute hat sich an der Sinnstruktur des Antiziganismus und ihrer weiten Verbreitung nichts grundsätzlich verändert. ›Betteln‹, ›Stehlen‹ und ›Sozialbetrug‹ werden immer noch als essentieller Kern des ›Zigeunerischen‹ betrachtet, die Gefahr eines ›Lebens auf unsere Kosten‹ wird in den deutschen Diskursen um migrierende Roma stets aufs Neue heraufbeschworen. Eine Auseinandersetzung mit der gewaltvollen Diskriminierungsgeschichte von Roma, Sinti und anderen als ›Zigeuner‹ Verfolgten, insbesondere mit der Verfolgung und systematischen Ermordung von ›Asozialen‹ im Nationalsozialismus, scheint bis jetzt nur sehr begrenzt stattgefunden zu haben. Die Gefahr, dass der Hass auf jene, die scheinbar »nicht den Schweiß von Mühsal und Körperkraft« vergießen, erneut in offene Gewalt umschlägt, ist immer gegeben. Die Mehrheitsbevölkerung muss sich indes fragen lassen, welche Vorstellungen von ›ehrlicher Arbeit‹ und einem glücklichen Leben einer Gesellschaft zugrunde liegen, in der Bettelei so große Wut und teilweise offenen Hass auslöst?

Von Markus End. Der Autor ist Mitherausgeber des Sammelbandes Antiziganistische Zustände 2, der noch dieses Jahr im Unrast Verlag erscheinen wird.

Fußnoten

1 Dieser Artikel basiert auf einem gleichnamigen Artikel der in Ferdinand Koller (Hg.), Betteln in Wien: Fakten und Analysen aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen, Berlin u.ac 2012. erscheint
2 Das Boulevardblatt B.Z. überschrieb 2009 fast alle Artikel, die sich mit der Vertreibung einer Gruppe rumänischer Roma aus dem Görlitzer Park und der nachfolgenden aufgezwungenen Odyssee durch Berlin beschäftigten mit Komposita wie ›Bettel-Rumänen‹, ›Rumänen-Bettler‹ oder ›Bettel-Roma‹, B.Z. vom 19., 22., 23., 26. und 30. Mai 2009, sowie vom 12. Mai 2010.
3 Hermann Arnold, The Gypsy Gene, in: Journal of the Gypsy Lore Society 40 (1961), 53-56.
4 Zum Konzept der Sinnstruktur Klaus Holz, Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg 2001, 133ff.
5 Hermann Arnold, Die Zigeuner. Herkunft und Leben der Stämme im deutschen Sprachgebiet, Olten 1965, 207.
6 Harika Dauth, Glücksökonomie bei Roma-/Zigeunergruppen. »Ich verdiene überall meine Brötchen, sogar in der Wüste«, in: contraste. Die Monatszeitung für Selbstorganisation 309 (Juni 2010), 13.
7 Arnold, Die Zigeuner, 207.
8 Klaus-Michael Bogdal, Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung, Berlin 2011, 116-133.
9 Leo Lucassen, Zigeuner. Die Geschichte eines polizeilichen Ordnungsbegriffes in Deutschland 1700–1945, Köln u.a. 1996.
10 Arnold, Der Zigeuner, 207.
11 Ebd., 206.
12 Schatz/Woeldike, Freiheit und Wahn, 23, insbesondere das dortige Zitat.
13 Ebd., 123.
14 Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, 11. Aufl., Frankfurt a.M. 1989, 181.
15 Ebd.
16 Ebd.
17 Arnold, Der Zigeuner, 207.
18 Adorno/Horkheimer, Dialektik, 181.
19 Ebd.
20 Stefanie Sabine Bach, Die narrative und dramatische Vermittlung von »Zigeunerfiguren« in der deutschsprachigen Literatur, Glasgow 2005, 99-142.
21 Adorno/Horkheimer, Dialektik, 25.
22 Ebd., 20.
23 Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Gesammelte Schriften Bd. 4, Darmstadt 1998, 210.
24 Adorno/Horkheimer, Dialektik, 189f.
25 So auch bei Scholz, Antiziganismus und Ausnahmezustand, 29.
26 Zu den Vorstellungen des ›Parasitären‹ im Antisemitismus siehe u.a. Holz, Nationaler Antisemitismus, 271ff.
27 Adorno/Horkheimer, Dialektik, 181.

Quelle: Phase 2
Stand: 21.02.2012

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Ermittlungen: Morddrohung gegen Linken https://antizig.blackblogs.org/2012/05/04/ermittlungen-morddrohung-gegen-linken/ Fri, 04 May 2012 19:36:08 +0000 http://antizig.blogsport.de/2012/05/04/ermittlungen-morddrohung-gegen-linken/ Continue reading Ermittlungen: Morddrohung gegen Linken ]]>

Göppingen – Unbekannte bedrohen den Göppinger Linken-Stadtrat Christian Stähle. In einem offensichtlich in verstellter Schrift abgefassten Brief heißt es: „Diesen Zigeuner werden wir in nächster Zeit abknallen und durch den Kamin lassen“. Beigelegt war ein Zeitungsfoto von Stähle, das im Landtagswahlkampf veröffentlicht worden war. Darüber war das Wort „Verbrecher“ geschrieben. Die Polizei bestätigte, dass der Staatsschutz die Ermittlungen aufgenommen habe.

Der Drohbrief ging an die Presse

Der in Salach abgestempelte Brief sei bereits vor mehr als zwei Wochen bei der Verlagsleitung der örtlichen Lokalzeitung eingegangen. Diese schaltete die Polizei ein. Gestern wurde Stähle von ihr als Geschädigter vernommen.

Der Linken-Politiker vermutet, dass Rechtsradikale hinter der Morddrohung stecken. In der Vergangenheit war er schon mehrfach in den Fokus der örtlichen Nazi-Szene geraten. Die Polizei machte zunächst keine weiteren Angaben.

Quelle: Stuttgarter Zeitung
Stand: 03.04.2012

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Das Schweigen im Walde https://antizig.blackblogs.org/2012/03/03/das-schweigen-im-walde/ Sat, 03 Mar 2012 18:21:22 +0000 http://antizig.blogsport.de/2012/03/03/das-schweigen-im-walde/ Continue reading Das Schweigen im Walde ]]>

Fünf Personen müssen sich vor dem Amtsgericht Prenzlau wegen Volksverhetzung verantworten. Es geht um eine Zirkusfamilie, um Wut und Hass auf das Fremde.

In der Uckermark, ganz im Nordosten von Brandenburg und nahe der polnischen Grenze verliert sich das Zeitgefühl. Die Orte werden kleiner und die Wälder dichter. Gletscher formten hier eine Endmoränenlandschaft. Fürchterlich schön und einsam. In dieser ostdeutschen Einöde verbindet die Landstraße L23 Templin mit der A11. Etwa auf der Hälfte dieser Strecke durchquert die L23 auch den Ort Milmersdorf.

Vor anderthalb Jahren braute sich hier etwas Ungutes zusammen, so archaisch wie die Endmoränen. Eine Tat, die „geeignet“ war, „den öffentlichen Frieden zu stören“, wie die zuständige Staatsanwaltschaft Neuruppin in der Anklageschrift schreibt. Ein Dorfmob soll „Teile der Bevölkerung zum Hass“ angestachelt haben. Zielscheibe der Wut war die Zirkusfamilie H.

Es passiert am frühen Nachmittag des 24. September 2010. Was genau, darüber existieren zwei Erzählungen. Das Resultat jedoch lässt sich nicht mit Erinnerungslücken leugnen. Noch in der Nacht wird die Zirkusfamilie H. Milmersdorf unter Polizeischutz und völlig verängstigt verlassen. Die Scheiben ihrer Fahrzeuge sind zersplittert, Beulen an zwei Campingwohnwagen und dem LKW verursachen einen Sachschaden von 8 000 Euro. Zu einer Zirkusvorstellung ist es in Milmersdorf nicht gekommen.

Zwei Tage dauerte der Prozess vor dem Amtsgericht Prenzlau, der Dienstag zu Ende ging. 14 Zeuginnen und Zeugen wurden gehört. Die Anklage lautete auf Volksverhetzung, versuchte Nötigung und Sachbeschädigung. Sie richtete sich gegen drei Männer im Alter von 18, 21 und 31 Jahren sowie eine 18- und eine 26-jährige Frau. Ursprünglich hatte die Polizei gegen rund 10 Personen ermittelt.

Zwei große Straßen

Milmersdorf ist ein Ort, in dem rund 1800 Menschen leben. Ein Dorf mit zwei Hauptstraßen, die eine heißt Dorf- und die andere Betonstraße. In den 1960er Jahren wurden für die Arbeiter des nahen Betonwerks Plattenbauten errichtet. Drei Riegel dieser Wohneinheiten stehen direkt an der Betonstraße. Hier wohnen „die Asis“, sagen manche Milmersdorfer.

An die Straße grenzt auch ein Sportplatz und eine Rasenfläche. Auf dieser bauen die Kinder der Zirkusfamilie H. am 24. September 2010 ihr Lager auf. Die älteste Tochter Justine H., 18 Jahre alt, stellt mit ihren beiden Brüdern,12 und 14 Jahre alt, das Zelt auf, so wie sie es schon oft getan haben. Die Eltern sind mit dem Auto nach Berlin gefahren. Die beiden jüngeren Schwestern, 7 und 11 Jahre alt, kümmern sich um die Pferde, die in einem Gatter stehen. Auch zwei Hunde gehören zum Zirkus. Sie spielen später eine besondere Rolle im Prozess, ebenso wie die kollektiven Erinnerungslücken und die Schuld eines nicht strafmündigen Kindes.

„Asoziales Zigeunerpack“

So klein wie Milmersdorf, so eng sind auch die Beziehungen der Angeklagten und Zeugen. Manuel B. etwa ist liiert mit der Schwester des Mitangeklagten Kay M., der seine Aussage verweigert. Weiter angeklagt sind die Geschwister Nicole W. und Alexander W., der wiederum mit Manuel B. zur Tatzeit im gleichen Haus wohnt. Angeklagt ist auch Friedericke P.

Nach den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft kommt es zwischen ihr und Justine H. zum Konflikt. Justine H. soll Friedericke P. aufgefordert haben, mit ihren Kindern Abstand von den Pferden zu halten, da diese austreten könnten. Es sei dann zum Streit gekommen. Daraufhin hätte P. gerufen: „Halten sie Ihr fettes Maul… Ihr seid doch ein asoziales Zigeunerpack. Heute Abend brennen wir eure Zelte und Wagen ab.“

Es sei „zu weiteren massiven, einzelnen Personen nicht eindeutig zuordenbaren verbalen Attacken“ gekommen, heißt es in der Anklage. „Es fielen dabei Äußerungen wie ,asoziales dreckiges Zigeunerpack‘, ,verdammtes Zigeunerpack‘, ,asoziales Pack‘, ,Wir stechen Eure Tiere ab!'“. Das alles dauert Stunden und spielt sich etwa zwischen 14.30 Uhr und 19 Uhr ab. Dann trifft die Polizei ein, die eine aufgebrachte Menge vorfindet.

Nur „forscher“ geworden

Beim ersten Prozesstag, am 19. Januar 2012, bestreitet Friedericke P. die Drohungen und Beleidigungen. Sie sei „forscher“ geworden, mehr nicht. Auch die Angeklagte Nicole W. weist die Schuld von sich. Der Streit habe sich entwickelt, weil die Kinder des Zirkus eine Autobatterie an das Pferdegatter anschließen wollten. Dort jedoch spielten auch die Kinder von Friedericke P. Wegen des sich entfachenden Streits hätten die Zirkuskinder dann ihre Hunde von der Leine gelassen. Schmähungen wie „Zigeunerpack“ habe Nicole W. ihrer Erinnerung nach weder ausgesprochen noch vernommen. Und Steine habe ausschließlich Paul R. geworfen.

Ob sich die Angeklagte erklären könne, wieso die Zirkusfamilie H. dann noch in der Nacht Milmersdorf verlassen habe, will die Staatsanwaltschaft wissen. „Nein“, sagt W. „Nach Ihren Schilderungen kann ich mir das auch nicht erklären“, erwidert die Staatsanwältin.

Die Zeugin Silke W., die Mutter von Nicole und Alexander W., meint das Wort „Scheißpack“ gehört zu haben. Auch sie selbst, 43 Jahre alt, habe zu Justine H., 18 Jahre alt, gesagt: „Komm doch auf 1,10 Meter ran, dann klären wir das“. – „Mehr war nicht gewesen.“

Der älteste Angeklagte, der 31-jährige Manuel B., beteuert bei seiner Aussage, er habe keine Steine auf den Zirkus geworfen. Ihn aber hätten die frei laufenden Hunde gestört. „Da habe ich gesagt, sie möchten die Hunde bitte wieder einsperren. Denn im Land Brandenburg besteht Leinenzwang. Beim dritten Mal ist mir der Kragen geplatzt.“

Koketter Auftritt vor Gericht

Dass er die Hunde sonst „abstechen“ werde, habe er nicht gesagt, er selbst sei Hundebesitzer gewesen und auch nach 16jähriger ehrenamtlicher Tätigkeit bei der Freiwilligen Feuerwehr würde er „nie etwas anstecken“. Insofern hätte er auch nicht gerufen, er werde das Zirkuszelt abfackeln.

Richter Hans-Joachim Esche will wissen, ob der Zirkus „grundlos abgebaut“ worden sei. – Schweigen. „Aus Angst?“ – Sekundenlanges Schweigen. Schließlich: „Dit hätte nicht so weit kommen müssen. Wenn man sich einen Platz mietet, hätte er eingezäunt sein müssen. War er aber nicht.“ Steine geworfen hätte seiner Erinnerung nach nur Paul R. In Bezug auf Paul R. besteht bei allen Angeklagten Klarheit, wenn sie auch sonst angesichts der verstrichenen Zeit Mühe haben, die Vergangenheit im Gerichtssaal zu vergegenwärtigen.

Der geladene Zeuge Paul R. gibt dann auch zu, er habe Steine geschmissen. Ebenso wie „andere Kleinkinder“, sagt er. Zur Tatzeit war Paul R. 13 Jahre alt und damit nicht strafmündig. Vor Gericht tritt er kokett auf. Das Wort „Zigeunerpack“ hätte er gehört – jedoch nicht von Milmersdorfern, sondern von den Besitzern des Zirkus selbst. Er widerruft seine erste Zeugenaussage, die er der Polizei vor rund 15 Monaten gab. Es gelte, was er heute „aufgesagt“ habe. An dieser Stelle ist der Richter sichtlich genervt. „Was stimmt denn überhaupt, was du heute gesagt hast?“, fragt er und die Staatsanwältin meint: „Ich glaube dir kein Wort“.

Zeugin Madleen O., 31 Jahre, erinnert ein „Spektakel“, wie sie sich ausdrückt. „Es flogen Steine.“ Aus Sicherheitsgründen versetzte sie sogar ihren Wagen. „Weiter kann ich mich nicht erinnern.“ Ob sie damals eine Falschaussage gemacht habe, aufgrund derer nun die Angeklagten hier sitzen, will der Richter wissen. „Es stimmt, was ich damals gesagt habe.“ Die Zeugin ist sehr aufgeregt. „Haben Sie damals wahrheitsgemäß ausgesagt?“ – „Ja, aber heute kann ich es nicht mehr sagen.“ Die Staatsanwältin: „Es besteht der Eindruck, dass Sie etwas zurückhalten.“ Die Zeugin sagt zum Schluss: „Man hat selber mit seinem Leben zu tun.“

Nicht korrekt identifiziert

Justine H. sagt, sie und ihre Geschwister hätten sich gefürchtet. Etwa 15 Dorfbewohner hätten sich um sie versammelt, hätten gerufen: „Wir fackeln euch ab, euer Zelt und euren Wagen.“ Sie hätten das Geschehen auch mit Handys gefilmt. Aus „dem Haufen“ heraus seien die Steine geworfen worden. Ihre Geschwister, sagt Justine H., hätten wochenlang Angst gehabt, alleine in der Wohnung zu bleiben. Die Angeklagten nennt sie „Herrschaften“ und „Damen“ und „Herren“. Sie will förmlich klingen. Doch bei ihrer Aussage kann sie Friedericke P. nicht korrekt identifizieren und verwechselt sie mit Nicole W. Auch die mutmaßlichen Taten des 31-jährigen Manuel B. ordnet sie einem zu jungen Täter, einem „etwa 17-jährigen Jungen“ zu.

Als Justine H. im Anschluss an ihre Aussage an das Richterpult tritt, um ein Formular für die Fahrtkosten entgegenzunehmen, lachen die Angeklagten. Sie tuscheln und linsen hämisch und nach Bestätigung heischend ins Publikum. Justine H. ist korpulent, sie trägt einen sehr kurzen und sehr engen Rock, darunter Leggings und hohe Stiefel. Ihre Kleidung ist unvorteilhaft.

Diejenigen, die sich in diesem Prozess auf den Leinenzwang im Lande Brandenburg berufen, sind fast alle ohne Berufsausbildung und alle beziehen Hartz IV. Doch die Angeklagten meinen in der Familie H. ein Gegenüber gefunden zu haben, das im sozialen Status vermeintlich unter ihnen steht. Das drückt sich deutlich in ihrer Geringschätzung der Familie H. vor Gericht aus.

Dienstag fällte der vorsitzende Richter Hans-Joachim Esche mit seinen beiden Schöffen das Urteil. Er folgte dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Die zwei erwachsenen Angeklagten erhielten Bewährungsstrafen von sechs bzw. vier Monaten – ausgesetzt auf Bewährung.

Quelle: taz.de
Stand: 07.02.2012

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