Notizen aus der Pathokratie – arbeitskreis psychosoziale krise https://arbeitskreispsk.blackblogs.org bremen Thu, 05 May 2022 10:02:43 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.1 Russland, der Krieg und das Klima: Selbstmord aus Angst vor dem Tod? https://arbeitskreispsk.blackblogs.org/2022/05/05/russland-der-krieg-und-das-klima-selbstmord-aus-angst-vor-dem-tod/ https://arbeitskreispsk.blackblogs.org/2022/05/05/russland-der-krieg-und-das-klima-selbstmord-aus-angst-vor-dem-tod/#comments Thu, 05 May 2022 09:43:00 +0000 http://arbeitskreispsk.blackblogs.org/?p=177 Continue reading ]]> Bei der Sichtung des in den letzten Jahren angefallenen Materials in Sachen Klimakatastrophe für die bevorstehenden Veranstaltungen ist uns der weiter unten folgende, vier Jahre alte Artikel wieder vor Augen gekommen. Und angesichts der aktuellen Situation finden wir die dort thematisierten Aspekte mehr als interessant. Auch, wenn wir nicht von einer monokausalen Erklärung für den russischen Angriffskrieg ausgehen – große Teile der russischen Gesellschaft lassen sich im Prinzip seit Jahrhunderten als psychosoziales Krisengebiet verstehen, siehe

Die Zahlen sind erschreckend: 66 Prozent der in Russland ermordeten Frauen wurden Opfer häuslicher Gewalt. In 53 Prozent der Fälle verübte der Lebenspartner die Tat, die restlichen Taten gingen auf das Konto von Familienangehörigen. (…)

Ohrfeigen, Gürtel und dunkle Räume: Warum gehört Gewalt in Russland noch heute zur Erziehung dazu?

– so ist doch für ein Land ein System, dessen Ökonomie zu entscheidenden Teilen auf dem Verkauf der fossilen Brennstoffe Öl, Gas und Kohle beruht, die Klimakatastrophe, die irgendwann in nicht mehr ferner Zukunft absehbar das Ende dieser Geschäfte erzwingen wird, eine finale Wand. Es ist kaum vorstellbar, dass das den herrschenden russischen Eliten um Putin nicht bewusst ist. Und so kann es also durchaus als Motiv für die aktuelle imperialistische Politik eine Rolle spielen, jetzt zu einer Zeit noch Fakten zu schaffen, in der das für Putins Gang noch möglich ist – bevor die Natur allen Expansionsgelüsten auf jeder Ebene einen Riegel vorschiebt.

Wir haben den erwähnten Artikel vom Englischen ins Deutsche übersetzt. Veröffentlicht wurde er am 6. September 2018 in der „New Moscow Times“

 

Russisches Ministerium warnt vor kommender Umweltapokalypse aufgrund des Klimawandels

Das russische Umweltministerium hat einen Bericht veröffentlicht, der eine apokalyptische Zukunft für das Land aufgrund des Klimawandels malt, mit Folgen wie Epidemien, Dürre, Massenüberschwemmungen und Hunger.

Während Russland von einem bescheidenen Anstieg der globalen Temperaturen, der die Schifffahrt in der Arktis öffnen und mehr wirtschaftliche Aktivitäten im Winter ermöglichen soll, wirtschaftlich profitieren soll, hat das Land schätzungsweise 1,55 Billionen Rubel (22 Milliarden Dollar) für ein neues Umweltprogramm zur Förderung der Verringerung der Luftverschmutzung, der Aufforstung und des Recyclings bereitgestellt.

Der am Montag vom Ministerium für Naturressourcen und Umwelt veröffentlichte Berichtsentwurf umfasst 900 Seiten und schlüsselt die bisherigen und künftigen Folgen des Klimawandels für das Land auf.

Hier sind die wichtigsten Ergebnisse:

 

– Die Zahl der Todesfälle durch Umweltkatastrophen ist in Russland zwischen 2016 und 2017 um das 11-fache gestiegen.

 

– Die Temperaturen in Russland sind mehr als doppelt so schnell gestiegen wie der Weltdurchschnitt von 0,18 Grad Celsius pro Jahrzehnt.

 

– Die Konzentration von Treibhausgasen, die durch das Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum der letzten zwei Jahrhunderte verursacht wurde, erreichte im vergangenen Jahr Rekordwerte.

 

– Dies hat zu einer – zumindest in den letzten 800 000 Jahren – beispiellosen Konzentration von Kohlendioxid (CO2), Methan und Distickstoffoxid in der Atmosphäre geführt.

 

– Mit einem Anteil von 4,5 Prozent hat Russland hinter China, den Vereinigten Staaten und Indien den viertgrößten Anteil an den Treibhausgasemissionen der Welt.

 

– Dem Bericht des Ministeriums zufolge ist es zu 95 Prozent sicher, dass menschliche Aktivitäten zur globalen Erwärmung beitragen, die seit Mitte des 20. Jahrhunderts zu beobachten ist.

Künftige Gefahren

 

– Moskau und andere Großstädte sind von wärmerem Wetter und zunehmender Umweltverschmutzung bedroht, während ältere Menschen in Zentral- und Südrussland der Gefahr von Hitzewellen ausgesetzt sind. Andere Regionen können aufgrund von verunreinigtem Trinkwasser und Insekten zu Krankheitsherden werden, heißt es in dem Berichtsentwurf.

 

– In Südrussland besteht ein erhöhtes Unfallrisiko durch die Verformung von Eisenbahnschienen bei extrem hohen Temperaturen.

 

– Die Überhitzung von Gebäuden während Hitzewellen führt zu einem erhöhten Energieverbrauch und trägt zu Energie- und Wasserversorgungsengpässen bei der städtischen Bevölkerung in Zentralrussland bei.

 

– Schmelzender Permafrost in und um die russische Arktis könnte dazu führen, dass gefährliche chemische, biologische und radioaktive Stoffe in den menschlichen Lebensraum gelangen.

 

– Waldbrände in Sibirien und anderen Gebieten könnten häufiger auftreten, mehr Emissionen verursachen und Menschenleben bedrohen. Der Ferne Osten wird anfälliger für Sturzfluten und Monsunregen.

 

Die Rolle des Ministeriums

Eine anonyme Regierungsquelle sagte, die unerwartete Konzentration auf die Folgen des Klimawandels in diesem Jahr bedeute wahrscheinlich, dass das Ministerium beabsichtige, die Rolle des Hauptentwicklers und Koordinators der Klimapolitik zu übernehmen.

Laut der Wirtschaftszeitung Kommersant teilen sich derzeit das Ministerium für natürliche Ressourcen, das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung, das Energieministerium und das Ministerium für Industrie und Handel diese Aufgabe. „Deshalb legen sie die Grundlagen, um sich bei Bedarf auf ihren Bericht berufen zu können“, sagte der ungenannte Beamte der Zeitung am Donnerstag.

Apropos Sibirien:

„Zweite Front“ für Putin: In Russland wüten verheerende Waldbrände (…) Die Waldbrandsaison in Russland* hat nach Angaben russischer Medien und Greenpeace Russland 2022 bereits sehr früh begonnen. In den vergangenen Tagen seien rund 400 Waldbrände in Sibirien ausgebrochen, berichtete das Katastrophenschutzministerium der Russischen Föderation. Die Waldbrandfläche sei demnach bereits doppelt so groß, wie im April vergangenen Jahres. (…)

Und ein großer Teil derjenigen militärischen Einheiten, die in den letzten Jahren an der Bekämpfung der Brände beteiligt waren, fehlt nun kriegsbedingt. 

 

 

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Notizen aus der Pathokratie (1) https://arbeitskreispsk.blackblogs.org/2016/08/18/notizen-aus-der-pathokratie-1/ Thu, 18 Aug 2016 15:10:55 +0000 http://arbeitskreispsk.blackblogs.org/?p=117 Continue reading ]]> Ja, der Begriff Pathokratie ist für uns die passende Zusammenfassung dessen, was uns da draussen Tag für Tag sowohl im nächsten Umfeld als auch in den entferntesten Weltregionen aufgetischt wird. Zur genaueren Begriffsklärung wird noch ein eigener Beitrag folgen. Ansonsten werden wir zukünftig unter dieser Rubrik / Überschrift immer kurz verlinken und gegebenfalls auch kommentieren, was wir als erinnerungswürdig über den (Veröffentlichungs-) Tag hinaus ansehen.

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Zu der Serie von Anschlägen in diesem Sommer auf europäischen Boden zunächst ein Interview mit einem Mann, dessen Arbeit in Deutschland bis heute chronisch unterschätzt wird:

taz.am wochenende: Herr Theweleit, Ihr letztes Buch handelt unter anderem von ­Anders Breivik, Sie erstellen darin ein „Psychogramm der Tötungslust“. Der Amokmann von Mün­chen, so wurde ermittelt, verehrte Breivik – wofür?

Klaus Theweleit: Breivik war kein Amokmann. Der Münchener Killer auch nicht. Wer sich ein Jahr vorbereitet, läuft nicht „Amok“. Der Terminus ist zwar in Mode, bei de Maizière und anderen medialen Öffentlichkeitsbebetern, er ist aber komplett falsch für die meisten dieser Fälle. Er wird wohl benutzt, weil man auf dieser Schiene über die Täter nicht viel herausbekommt. Das ist wohl das Ziel. Die offiziellen ministerialen Lösungsvorschläge lauten ja auf „schnellere Abschiebung kleinkriminell oder anders auffällig gewordener Flüchtlinge“ – obwohl der Münchener Attentäter mit Flüchtlingen nichts zu tun hat. Mit der psychisch-körperlichen Lage von ihnen und auch der der Killer will sich niemand – so gut wie niemand – befassen.

 

Das Interview ist eine sehr komprimierte Zusammenfassung der Kernthesen des letzten Buches „Das Lachen der Täter“ von Theweleit, in dem er selbst eine Art Fortsetzung der bahnbrechenden „männerphantasien“ aus den späten 1970er Jahren sieht. Für beide gilt ( aus Sicht des Autors dieser Zeilen): die Basis in einem, wenn auch im neuesten Werk um neurobiologische Forschungen (A. Damasio) erweiterten, explizit psychoanalytischem Bezugsrahmen ist ein Faktor, der aus unserer Sicht für unnötige Verzerrungen sorgt. Ja, wir sehen wesentliche Teile der orthodoxen Psychoanalyse nach Freud als überholt, oder treffender, niemals realitätstüchtig gewesen, an. Das mindert aber nicht den grundsätzlichen Wert der Arbeit von Theweleit, die im deutschprachigen Raum noch immer einzigartig ist. Und die – wie auch im obigen Interview deutlich wird – , bis heute in der Lage ist, den eigenen Wahrnehmungsfocus entscheidend zu vergrößern und dadurch ein anderes Licht auf viele Dinge wirft.

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Unter dem Titel „Verrückte Welt“ befasste sich die jungle world Ende Juli in einem Kommentar mit den gleichen Taten und kam zu folgenden Schlüssen:

Während alle Welt versucht, den Terrorismus und andere Formen extremer Gewalt als unverständlichen Wahnsinn von einer angeblichen Normalität abzuspalten, laufen diejenigen, die für die direkte Aktion zu auto­ritär ticken, in den Wahlkabinen Amok und wählen Figuren wie Trump, Erdoğan, Le Pen, Orbán, Petry und Gauland, die objektiv nicht alle Karten im Deck haben und ganz offen die irrsinnigsten Taten ankündigen. Verrückt ist das neue Normal, was freilich nur diejenigen überrascht, die in den vergangenen Jahrzehnten kein einziges gutes Buch in die Hand genommen haben und blind und blöd durchs Leben taumeln. Der Wahnsinn kommt von einer Welt, die an ihren Widersprüchen zerbricht, weil sie wortwörtlich ums ­Verrecken nicht einsehen mag, dass die Reduktion allen Seins auf den Warencharakter und das gleichzeitige Hätscheln irrationaler Ideologien nirgendwo anders hinführen können als in einen Abgrund, dessen Tiefe die meisten noch gar nicht erahnen.

 

Mal abgesehen davon, dass „die Reduktion allen Seins auf den Warencharakter“ womöglich mehr als Symptom denn als Ursache anzusehen ist, durchaus treffende Worte.

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Und zum Schluss dieser AmokTerror-Sammlung noch ein sehr lesenswertes Statement von Götz Eisenberg, einer der wenigen hierzulande, der sich zum Thema Amok seit Jahren wirklich interessante Gedanken macht:

Wem es wirklich um Prävention zu tun ist, wird sich fragen müssen: Welche menschlichen Haltungen gedeihen eigentlich in einem gegebenen sozialen Klima, welche sterben ab? Der Neoliberalismus hat treibhausmäßig eine Atmosphäre der Konkurrenz und zwischenmenschlichen Feindseligkeit gezüchtet und die Herausbildung einer „Kultur des Hasses“ (Eric J. Hobsbawm) befördert. Die Fähigkeiten zu Mitleid, gegenseitiger Hilfe und Solidarität verdorren, weil sie durch die gesellschaftlichen Verhältnisse keine Stützung erfahren und als Karriere-Hindernisse gelten. Die Menschen werden systematisch aufeinander gehetzt und zerfleischen sich untereinander, statt sich gegen zunehmend unerträgliche Verhältnisse zusammenzuschließen und zu wehren. Aggressionen häufen sich an den Rändern des Bewusstseins, der Angst- und Wahnsinnspegel steigt, eine gereizte Stimmungslage breitet sich aus. So dürfen wir uns nicht wundern, wenn Amok und Terror die kriminelle Physiognomie des neoliberalen Zeitalters prägen.

 

Soweit für den Moment. Wie wir fürchten müssen, werden uns ähnliche Taten – nicht eindeutig in einer Schublade abzulegen – zukünftig vermehrt beschäftigen.

 

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