D-Norden – Antifaschistisches Archiv für Rostock und Umgebung https://indyhro.blackblogs.org Linke Veröffentlichungen aus unterschiedlichen Quellen Sat, 21 Nov 2020 19:00:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.1 [HRO] Pogrom Lichtenhagen – Nichts hat sich geändert https://indyhro.blackblogs.org/2017/08/24/hro-pogrom-lichtenhagen-nichts-hat-sich-geandert/ Thu, 24 Aug 2017 17:55:17 +0000 http://indyhro.blackblogs.org/?p=368 Continue reading [HRO] Pogrom Lichtenhagen – Nichts hat sich geändert]]> Das Pogrom von Rostock Lichtenhagen ist inzwischen 25 Jahre her. Doch was hat sich seitdem geändert? Im August 1992 belagerte ein rassistischer Mob aus Neonazis und „normalen“ Anwohner*innen die Zentrale Aufnahmestelle (ZASt) im sogenannten Sonnenblumenhaus. Nachdem die Geflüchteten evakuiert worden waren, richtete sich der Volkszorn dann gegen das Wohnheim der vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen, die schon seit vielen Jahren dort lebten.

 

Gerade angesichts des totalen Versagens von Polizei und Politik grenzt es an ein Wunder, dass es damals keine Toten gab. Rostock Lichtenhagen war Anfang der 90er beileibe kein Einzelfall, weder in Mecklenburg-Vorpommern noch bundesweit. So starben im Mai 1993 fünf Menschen bei einem Brandanschlag in Solingen. Die Bundesregierung nutzte die allgemeine Stimmungslage um das Asylrecht de facto abzuschaffen und machte sich dann mit Lichterketten an die Imagepflege.

 

Nichts hat sich geändert! Diese provokante These steht auf mehreren großflächigen Plakaten, die letzte Nacht in Rostock plakatiert wurden. In den letzten Jahren kam es wieder vermehrt zu Angriffen auf Geflüchtete und ihr Unterkünfte. Oft wird dabei auch der Tod von Menschen billigend in Kauf genommen. Vor zwei Jahren wurde im Rostocker Stadtteil Groß Klein, das in Sichtweite zum Sonnenblumenhaus liegt, ein Zentrum für unbegleitete minderjährige Geflüchtete geschlossen, nachdem einige Rassist*innen dagegen Stimmung gemacht hatten. Die meisten Anwohner*innen zeigten ihre Anteilnahme erst nachdem das Zentrum bereits geschlossen war. Im ebenfalls an Lichtenhagen grenzenden Stadtteil Evershagen störten Neonazis Anfang diesen Jahres eine Sitzung des Ortbeirates um die Errichtung eines geplanten muslimischen Gebetshauses zu verhindern. Sicherlich wirken diese Vorfälle harmlos im Vergleich zum Pogrom von Lichtenhagen, aber sie zeigen eine besorgniserregende Tendenz. Wir sind nicht mehr in den 90ern, aber Rassismus und Ressentiments gegen alles, das als fremd wahrgenommen wird, sind immer noch tief in der Bevölkerung verankert.

Plakat 1
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Plakat 2
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Plakat 3
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Rostock-Lichtenhagen „Der Mut der Überlebenden wird oft ausgeblendet“ https://indyhro.blackblogs.org/2017/08/24/rostock-lichtenhagen-der-mut-der-uberlebenden-wird-oft-ausgeblendet/ Thu, 24 Aug 2017 09:15:19 +0000 http://indyhro.blackblogs.org/?p=486 Continue reading Rostock-Lichtenhagen „Der Mut der Überlebenden wird oft ausgeblendet“]]> Dan Thy Nguyen hat aus Interviews ein Theaterstück über das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen vor 25 Jahren gemacht. Ein Gespräch über ein Opfer-Schema, das nicht greift, und die Lehren aus den Angriffen.

 

Wenn es um das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen geht, stehen oft die Täter im Vordergrund. Sie haben für Ihr Theaterstück mit einigen der Menschen gesprochen, die damals angegriffen wurden. Hat das Ihren Blick auf die Ereignisse verändert?

 
Absolut. Die Geschichte müsste ein Stück weit umgeschrieben werden. Es gibt ein Detail, das ich immer im Kopf habe: Ein Überlebender hat mir erzählt, dass er nicht so sehr davor Angst hatte, an diesen Tagen zu sterben, sondern davor, einen der jungen Angreifer töten zu müssen, um sich selbst zu verteidigen. Das ist eine ganz andere Perspektive: Das klassische Opfer-Schema passt hier gar nicht. Es liegt vielleicht auch daran, dass die Menschen im Haus sich so gut organisiert haben, dass es keine Toten gab.

 

Ein Vietnamese schilderte Ihnen auch, dass er noch einmal ins Sonnenblumenhaus zurück ist, wo er selbst gar nicht wohnte, um anderen zu helfen – trotz der Lebensgefahr.

 
Ja, der Mut der Überlebenden unter Einsatz des eigenen Lebens wird in der Geschichte von Rostock-Lichtenhagen oft ausgeblendet. Teilweise waren frühere Vietnam-Krieg-Soldaten dabei, die auf ihre Erfahrungen zurückgriffen, als sie das Haus über die oberen Stockwerke evakuierten. Im Gedenken sind die Vietnamesinnen und Vietnamesen aber oft eher Randfiguren – ganz zu schweigen von den Roma und den Geflüchteten aus dem ehemaligen Jugoslawien. Das ist eigentlich eine weiße Gedenkkultur, aus einer fast ausschließlich biodeutschen Perspektive.

 

Wie gehen die Menschen, mit denen Sie gesprochen haben, mit dem Jahrestag um?

 
Die meisten sind enttäuscht. Eine Verarbeitung gab es fast nicht, sowohl juristisch als historisch – auch keine Entschädigung. Es ist fast schon ein leeres Gedenken, das nur an der Oberfläche kratzt, eine Eventisierung. Viele sagen auch, dass sie damit abschließen wollen – ob das klappt, ist eine andere Frage. Die Kombination aus Traumata aus dem Vietnam-Krieg, aus Erlebnissen als DDR-Vertragsarbeiter und dann diesen Ereignissen 1992 macht es vielen schwer, ein ganz normales Leben zu führen.

 

Wenn man das überhaupt verallgemeinern kann, welche Rolle spielt Rostock-Lichtenhagen für die vietnamesische Community in Deutschland?

 
Die eine Community gibt es so gar nicht. Ich komme aus der Boat-People-Community, die sich von der ehemaliger DDR-Vertragsarbeiter sehr unterscheidet. Für viele aus der Boat-People-Community ist Rostock-Lichtenhagen kein wirklicher Begriff, auch da gibt es kein richtiges Gedenken. Aber Rostock-Lichtenhagen oder Hoyerswerda haben eine massive Angst vor Ostdeutschland ausgelöst. Dazu kam noch, dass viele dort die Kommunisten lokalisierten, vor denen sie ja geflohen waren. Von klein auf kenne ich die Warnungen vor dem Osten.

 

Die gibt es bis heute?

 
Ja, eindeutig.

 

Und wie ist es mit der Erinnerungskultur bei Menschen mit vietnamesischen Wurzeln in Ostdeutschland?

 
Die Vertragsarbeiter-Community geht meiner Meinung nach offener damit um. Die Menschen hatten aber in den 90er ganz andere Probleme, als sich um eine Gedenkkultur zu kümmern. Es gab zwar schon einige Akteurinnen und Akteure, aber erst ab dem 20. Jahrestag haben sich zusätzlich Menschen stark gemacht, bestimmte Dinge aufzuarbeiten. Insbesondere aus der zweiten Generation.

 

Sie sind in einem kleinen Dorf in NRW aufgewachsen und waren ein Kind, als in Rostock-Lichtenhagen die Molotow-Cocktails flogen. Welche Erfahrungen haben Sie als Sohn vietnamesischer Geflüchteter in Westdeutschland gemacht?

 
Es gab Angriffe auf unser Haus, Steinwürfe, Hunde-Exkremente wurden an die Wand geschmiert. Ich bin mehrmals angespuckt worden. Nachts wurde gehupt, „Ausländer raus!“ gerufen oder „Scheiß Japsen“. Das hat meine Kindheit und Jugend geprägt. Es gibt das Klischee, dass die Boat-People-Community keinen Rassismus erfahren hat. Das ist natürlich totaler Blödsinn. Das Absurde ist: Auch für Vietnamesen im Westen war Rostock-Lichtenhagen damals eine Gelegenheit, um die eigenen Probleme auf den Osten zu projizieren und sich nicht damit auseinandersetzen zu müssen.

 

Sie haben einmal gesagt, es führt eine Linie von Rostock-Lichtenhagen nach Tröglitz, Freital oder Bautzen. Wo sehen Sie die Parallelen zur Gegenwart?

 
Das ist natürlich polemisch gemeint. Die Angriffe auf Unterkünfte der letzten Jahre sind ja noch so nah dran, dass sie historisch noch nicht aufzuarbeiten sind. Und Rostock-Lichtenhagen selbst ist historisch, juristisch, politisch bei weitem noch nicht vollständig aufgearbeitet.

 

Hat das erschwert, daraus Konsequenzen zu ziehen?

 
Ja. Ich habe den Eindruck, dass es im Bewusstsein unserer Gesellschaft in den 90ern nur Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, Mölln und Solingen gegeben hat, dass diese Ereignisse wie singuläre rassistische Events gesehen werden. Sie werden nicht in den größeren politischen Kontext zu jener Zeit gesetzt. Dadurch werden auch die ,kleinen Ereignisse’ auf den Dörfern ausgeblendet. In dem Dokumentarfilm „The truth lies in Rostock“ wird davon gesprochen, dass es fast täglich irgendwo einen Anschlag gab.

 

Was heißt das für die Gegenwart?

 
Ein Beispiel: Hoyerswerda liegt im gleichen Landkreis wie Bautzen. Da muss man sich doch als Gesellschaft fragen, warum passieren diese Dinge in ähnlichen Orten. Darauf brauchen wir zivilgesellschaftlich, wissenschaftlich und politisch eine Antwort. Und dafür müssen wir die Ereignisse in einem größeren Kontext sehen.

 

Interview: Martín Steinhagen

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Von Rostock-Lichtenhagen zu Freital https://indyhro.blackblogs.org/2017/08/24/von-rostock-lichtenhagen-zu-freital/ Thu, 24 Aug 2017 08:55:25 +0000 http://indyhro.blackblogs.org/?p=484 Continue reading Von Rostock-Lichtenhagen zu Freital]]> Vor 25 Jahren brannte in Rostock eine Asylbewerberunterkunft. Die Prozesse dauerten Jahre, die Politik schränkte das Asylrecht ein. So konnte neuer Rechtsterror wachsen.

Ein Gastbeitrag von

 

Zum 25. Mal jährt sich das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen. Im August 1992 griffen dort rassistisch gesinnte Anwohner, aber auch aus weit entfernten Bundesländern angereiste Rechtsextremisten die Zentrale Anlaufstelle für Asylbewerber von Mecklenburg-Vorpommern an.

 

Die Gewalttäter attackierten zudem benachbarte Unterkünfte vietnamesischer Vertragsarbeiter mit Steinen und Molotowcocktails. Mehrere Tage herrschte Ausnahmezustand. Zwar wurde niemand getötet, aber eine Gruppe von Migranten wurde in Todesangst versetzt. Ebenso ging es westdeutschen Journalisten, als sie in einem brennenden Wohnheim festsaßen, über das sie eigentlich im Fernsehen berichten wollten.

 

Schon zuvor hatten sich viele politisch Verantwortliche skandalös verhalten. So, dass Beobachter von heimlicher Komplizenschaft mit den Ausländerfeinden sprachen: Roma mussten vor der hoffnungslos überfüllten Asylunterkunft campieren und ihre Notdurft verrichten. Das brachte die Nachbarschaft gegen sie auf und heizte die Stimmung an. Polizeiführung und Mitglieder der Landesregierung versuchten, die Gewalt herunterzuspielen. Danach zog sich die Strafverfolgung hin. Erst fast zehn Jahre später begann das letzte Hauptverfahren wegen versuchten Mordes, schwerer gemeinschaftlicher Brandstiftung und Landfriedensbruchs. Von den 400 Festgenommenen wurde nur etwa jeder Zehnte verurteilt.

 

Der geistige Hintergrund des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen war eine öffentliche Debatte über den angeblich massenhaften Missbrauch von Sozialhilfe „durch Wirtschaftsasylanten“. Rechtsextreme Medien, Boulevardpresse und konservative Politiker überboten sich monatelang in der Hetze gegen Flüchtlinge, die sie zu „Asylbetrügern“ und „Sozialschmarotzern“ stempelten, wodurch sich die Haltung der SPD in der Asylpolitik schrittweise veränderte. Die mediale Stimmungsmache erklärt auch, warum Tausende zuschauten, als Brandsätze auf das Sonnenblumenhaus in Lichtenhagen flogen. Und warum biedere Kleinbürger und brave Familienväter vor laufenden Fernsehkameras dem brandschatzenden Mob applaudierten.

 

Nur ein paar Wochen später schlossen CDU/CSU, FDP und SPD auf Bundesebene den sogenannten Asylkompromiss. Gemeinsam schränkten sie das Grundrecht auf Asyl drastisch ein. Bis das Bundesverfassungsgericht die Aushungerungs- und Abschreckungspraxis gegenüber Flüchtlingen zehn Jahre später revidierte, erhielten politisch Verfolgte nur noch das Lebensnotwendigste. Dies werteten die Neonazis als Erfolg jener aggressiven Strategie, die sie in Rostock angewendet hatten. Dass Lichtenhagen durch die Herausbringen der angegriffenen Migranten ausländerfrei geworden war, galt als Beweis für die Effektivität brutaler Methoden.

 

Durch die Rostocker Randale gewann der rechte Terror – mehr noch als durch die Belagerung eines Vertragsarbeiterwohnheimes in Hoyerswerda knapp ein Jahr zuvor – eine neue Dimension: Organisierte Neonazis hatten über Ländergrenzen hinweg mobilisiert. Wirkungsvoller als jedes andere zeitgeschichtliche Ereignis hat das Pogrom von Lichtenhagen den Boden für spätere Wahlerfolge der NPD und die Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) bereitet. Ohne dieses Fanal hätten sich die ostdeutschen Skinheads nicht so schnell radikalisiert, hätte sich die Kameradschaftsszene vielleicht gar nicht etabliert. Die Kader des Thüringer Heimatschutzes wären möglicherweise nicht zu Rechtsterroristen geworden.

 

Rostock-Lichtenhagen stand lange für das schlimmste Pogrom der deutschen Nachkriegsgeschichte. Erst rassistisch motivierte Brandanschläge auf Flüchtlinge und deren Unterkünfte in Bautzen, Clausnitz, Freital, Heidenau bei Dresden, Tröglitz und anderswo bildeten eine erschreckende Parallele zu Rostock.

 

Daraus müssen wir die richtigen Lehren ziehen. Rassistischen Ressentiments und rechten Parolen wie „Ausländer raus!“ oder „Deutschland den Deutschen!“ nachzugeben, ist das falsche Signal. Es bestärkt die Neonazis und ruft Nachahmungstäter auf den Plan. Ordnungskräfte, Polizei und Geheimdienste dürfen nicht wegschauen, wenn sich gewaltbereite Rechtsextremisten zusammenrotten, sondern müssen eingreifen, bevor diese angreifen.

 

Wichtig ist, das Denken der rechten Gewalttäter zu ächten – jenes Denken, das sie in der Vorstellung bestärkt, im Namen „des Volkes“ zu handeln. Wir brauchen eine politische Kultur, die jeglichen nationalen Dünkel aus der Öffentlichkeit verbannt – etwa aus den Sportnachrichten, wo jede Bronzemedaille eines Deutschen bejubelt wird, während der Sieger anderer Nationalität häufig keines Wortes gewürdigt wird. Wir brauchen Solidarität mit allen sozial Benachteiligten und jenen Minderheiten, die von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft diskriminiert werden. Nur in einem sozialen Klima, das (ethnische) Minderheiten nicht ausgrenzt, werden sich solch abscheuliche Vorfälle nicht wiederholen. Unser längerfristiges Ziel muss eine inklusive Gesellschaft sein, die niemanden ausgrenzt, der hier lebt oder Zuflucht vor politischer Verfolgung, Kriegen und Bürgerkriegen sucht.

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Rostock-Lichtenhagen: Die Roma bleiben ein blinder Fleck https://indyhro.blackblogs.org/2017/08/23/rostock-lichtenhagen-die-roma-bleiben-ein-blinder-fleck/ Wed, 23 Aug 2017 12:32:48 +0000 http://indyhro.blackblogs.org/?p=482 Continue reading Rostock-Lichtenhagen: Die Roma bleiben ein blinder Fleck]]> Martin Arndt sammelt im Auftrag der Stadt Erinnerungen an die Gewaltausbrüche des Sommers 1992

 

Seit 2015 bauen Sie im Rahmen eines von der Stadt finanzierten Projekts ein Archiv zu den Ausschreitungen vor dem »Sonnenblumenhaus« vor 25 Jahren auf. Was sind die Archivalien?

 
Den Ausgangspunkt bildeten kleine, private »Archive« von Bürgerinnen und Bürgern, die damals gesammelt haben, was ihnen in die Hände kam – das sind natürlich zunächst oft Mediendokumente, schwerpunktmäßig aus den lokalen Zeitungen. Die Flugblätter, die damals von den Rechten in Umlauf gebracht wurden und die von der Gegenseite. Wir haben alle Unterlagen aus dem damaligen Alternativen Jugendzentrum übernommen, darunter ist eine zeitgenössische Chronologie der der Ereignisse, die natürlich auch viele Details enthält, die man im Nachhinein ansonsten vergisst.

 

Das ist »deutsches« Material. Mai-Phuong Kollath vom Sprecherrat der Migrantenorganisationen im Land hat kürzlich gesagt, man müsse den Betroffenen mehr zuhören.

 
Es gehört zu den Zielen unseres Projekts, die Perspektiven der Betroffenen rekonstruieren zu helfen. Dazu gibt es bereits Ansätze. Vor fünf Jahren hat etwa die Heinrich-Böll-Stiftung eine Reihe von Zeitzeugeninterviews aufgezeichnet, mit damaligen Bewohnern des Heims für vietnamesische Vertragsarbeiter, zum Beispiel auch mit Wolfgang Richter, dem damaligen Ausländerbeauftragten der Stadt, der ja im »Sonnenblumenhaus« war, während es angegriffen wurde, und mit Gegenaktivisten. Während viele vietnamesische Zeitzeugen noch in der Stadt sind und mit dem nach den Ereignissen gegründeten Verein Diên Hông auch eine Adresse haben, ist es sehr schwierig, Stimmen der damaligen Roma-Flüchtlinge zu finden, gegen die sich die rassistische Mobilmachung zuerst gerichtet hatte. Viele von diesen kamen aus Rumänien und wurden nach dem entsprechenden Abkommen vom September 1992 zurückgebracht. Ihre individuellen Blickwinkel sind bisher tatsächlich ein blinder Fleck. Immerhin spielen Roma als Gruppe inzwischen eine größere Rolle in der Erinnerung. Am Dienstagabend wird mit Romani Rose vom Zentralrat der Sinti und Roma erstmals ein Vertreter der Roma an einer Gedenkveranstaltung teilnehmen.

 

Haben Sie Kontakt zu »Tätern«, zu Leuten, die damals dabeistanden und das nun vielleicht bereuen?

 
Tatsächlich haben sich zwei Personen bei uns gemeldet, die damals ungefähr eine solche Rolle gespielt haben. Bisher haben wir es noch nicht geschafft, uns mit diesen Zeitzeugen hinzusetzen und ausführliche Interviews zu führen, aber auch das gehört auch zu den Zielen unseres Projekts. Unsere Finanzierung läuft noch ein Jahr, so dass ich hoffe, dass das möglich sein wird.

 

Welche Rolle spielt »Lichtenhagen« inzwischen in der Stadt? Haben die Vorfälle einen festen Platz in ihrem öffentlichen Gedächtnis?

 
Es ist zumindest so, dass die Stadt diesmal recht viel Geld in die Hand genommen hat. Neben unserem Archivprojekt, dessen Einrichtung alle demokratischen Fraktionen in der Bürgerschaft zugestimmt haben, gibt es ja noch weitere Aktivitäten, etwa das Kunstprojekt, bei dem dezentral fünf Stelen in der Stadt aufgestellt werden, auch vor Institutionen, die eine negative Rolle spielten, die damals versagt haben – also die Politik, die Polizei, die Medien. In diesen Institutionen ist man inzwischen durchaus dazu bereit, sich auch kritisch mit dem eigenen Handeln in der damaligen Situation zu befassen. Die »Ostseezeitung«, die damals eine sehr negative Rolle spielte, veranstaltet am Mittwoch eine Podiumsdiskussion. Ich finde es in diesem Zusammenhang auch bemerkenswert, dass die Stadt inzwischen offiziell den Begriff »Pogrom« verwendet.

 

Was sagen diese Vorfälle vor einem Vierteljahrhundert heute jungen Rostockern?

 
Diejenigen, die ohnehin politisch interessiert sind, beschäftigen sich viel mit dem Thema. In der vergangenen Woche gab es zwei Podiumsdiskussionen im Peter-Weiss-Haus, die beide sehr gut besucht waren, oft von sehr jungen Leuten. Aber auch Veranstaltungen mit Rostocker Schulklassen zeigen, dass die Ereignisse nicht vergessen sind. Wenn es auch vielen heutigen Schülern, die um die Jahrtausendwende geboren sind, schwerfällt, die Ereignisse zum Beispiel zeitlich richtig einzuordnen. Solche Veranstaltungen zeigen aber auch: Bis heute halten sich in familiären Überlieferungen hartnäckige Legenden. Etwa diejenige, die Ausschreitungen seien vor allem von busseweise angekarrten Neonazis verübt worden und hätten mit der Stadt nicht viel zu tun gehabt. Oder die Geschichte von den Geflüchteten, die Möwen gegrillt hätten. Das zeigt, wie notwendig ein Projekt wie unser Archiv tatsächlich war und ist.

 

Was hat das Pogrom in der Stadtgesellschaft bewirkt? Wären solche Szenen wie damals heute in Rostock noch möglich?

 
Im vergangenen Juli und August hat es ja eine Situation gegeben, die ein wenig an 1992 erinnerte. Vor einer Unterkunft für minderjährige Geflüchtete im neben Lichtenhagen gelegenen Stadtteil Groß Klein versammelten sich abends regelmäßig Gruppen von etwa 20 bis 40 Personen, darunter auch bekannte Neonazis. Diesmal wurde die Situation genau beobachtet, nicht nur von linken Aktivisten, sondern auch von der Polizei. Auf Anweisung des Sozialsenators Steffen Bockhahn (LINKE) wurde die geplante Einrichtung einer weiteren Unterkunft in dem Stadtteil abgebrochen und die Flüchtlinge auf andere Einrichtungen verteilt. Die Rechten mögen das als Sieg gefeiert haben, aber das zeigte auch, dass die Politik heute aufmerksamer reagiert als vor 25 Jahren. Nicht nur in Rostock, sondern in den neuen Bundesländern überhaupt sind in den letzten beiden Jahrzehnten doch bedeutende zivilgesellschaftliche Strukturen entstanden, die ein »Lichtenhagen«, also eine tagelange Belagerung mit Volksfestcharakter, bei der man mit der Familie auf dem Weg zum Strand vorbeischaut, schwer vorstellbar erscheinen lassen.

 

www.lichtenhagen-1992.de

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Roma-Zentralrat lobt Aufarbeitung der Krawalle https://indyhro.blackblogs.org/2017/08/22/roma-zentralrat-lobt-aufarbeitung-der-krawalle/ Tue, 22 Aug 2017 09:39:21 +0000 http://indyhro.blackblogs.org/?p=480 Continue reading Roma-Zentralrat lobt Aufarbeitung der Krawalle]]> Der Vorsitzende der Organisation, Romani Rose, zollt den Rostocker Bemühungen, sich mit den rassistischen Ausschreitungen von 1992 auseinanderzusetzen, Respekt.

 

Rostock. Der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, hat die Aufarbeitung der rassistischen Krawalle in Lichtenhagen 1992 durch die Stadt Rostock gelobt. Rostock sei „ein bemerkenswertes Beispiel dafür, dass wir aus der Geschichte, auch aus der jüngsten Zeitgeschichte, lernen können“, sagte Rose am Freitag. Stadtverwaltung und Zivilgesellschaft hätten einen Prozess in Gang gesetzt, um Ursachen und Auswirkungen der rassistischen Ausschreitungen und der Gewalt vor 25 Jahren zu dokumentieren und aufzuarbeiten. „Das verdient Anerkennung und Respekt“, erklärte Rose.

 

Im Rückblick kritisierte Rose ein Versagen des Rechtsstaates 1992 und die „Kapitulation vor dem rechtsextremen Mob auf der Straße“. Das staatliche Gewaltmonopol sei preisgegeben worden. All dies habe Neonazis gestärkt. „Die Gewalt der Nazis und die rechtsextreme Mordserie seit 1990 waren und sind nicht nur Angriffe auf Flüchtlinge oder Minderheiten, es sind Angriffe auf unseren demokratischen Rechtsstaat und unsere Werte, es sind Angriffe auf die Humanität schlechthin“, sagte Rose weiter.

 

Gemeinsam mit Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) wird Rose auf der zentralen Gedenkveranstaltung am 22. August in der Rostocker Marienkirche sprechen.

 

Über fünf Tage hinweg hatten im August 1992 hunderte Anwohner und Neonazis eine Asylbewerbereinrichtung und ein Ausländerwohnheim im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen angegriffen und teilweise in Brand gesetzt. Die Ausschreitungen gelten als die bis dahin schwersten ausländerfeindlichen Krawallen der deutschen Nachkriegsgeschichte.

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Ohne Rücksicht auf Verluste https://indyhro.blackblogs.org/2017/08/22/ohne-rucksicht-auf-verluste/ Tue, 22 Aug 2017 09:36:39 +0000 http://indyhro.blackblogs.org/?p=478 Continue reading Ohne Rücksicht auf Verluste]]> Im »vollen Boot« nach Lichtenhagen – wie Medien und Politik die Rostocker Ausschreitungen vorbereiteten

 

Es begann mit einer Zeitungsmeldung. Dass sich genau vor nunmehr 25 Jahren an einem Sommerwochenende vor der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber eine wütende Menge versammelte, die im Laufe dreier aufeinanderfolgender Nächte ein für die Objekte ihrer Wut lebensbedrohliches Inferno heraufbeschwor, war die Folge anonymer Anrufe bei Lokalzeitungen. Es werde ab Samstag dort »aufgeräumt«, die »Rechten« seien wütend, verkündete der. Und die Blätter brachten eine Meldung – gut sichtbar, unkommentiert, fast in der Art eines Veranstaltungstipps. Wer das las, konnte sich ermächtigt fühlen, in die Mecklenburger Allee zu kommen und seinen Gefühlen handgreiflich Ausdruck zu verleihen. Und so geschah es.

 

Der Weg nach Lichtenhagen beginnt mit einem Medienversagen, und das beileibe nicht nur in Rostock. Bereits 1991 hatten sich im sächsischen Hoyerswerda solche Szenen abgespielt, als zwischen 17. und 23. September allabendlich bis zu 500 Menschen vor einer Asylbewerberunterkunft und einem Vertragsarbeiterheim aufgezogen waren und die Gebäude immer wieder attackierten. Allein in Mecklenburg-Vorpommern hatten sich 1991 und 1992 vor »Lichtenhagen« mehr als 30 gravierende Gewalttaten gegen DDR-Vertragsarbeiter oder Asylbewerber ereignet, darunter ein Dutzend brutale Angriffe auf Asylbewerberunterkünfte. In zwei Fällen – in Gelbensande am 26. Juni 1991 und wenige Tage später in Weitendorf – war sogar geschossen worden.

 

Aber auch 1992 gab es für »Lichtenhagen« eine Art Probedurchlauf. Am 28. Mai – dem »Vatertag« – hatten Hunderte eine Flüchtlingsunterkunft im badischen Mannheim-Schönau belagert und angegriffen. Auslöser waren falsche Gerüchte über eine von einem Asylbewerber verübte Vergewaltigung. An den folgenden Abenden kam es zu aggressiven Versammlungen vor der Unterkunft, auf denen die sofortige Ausweisung aller Bewohner gefordert wurde.

 

Über manche dieser Vorfälle wurde bundesweit berichtet, über andere kaum. Und trotz dieses Panoramas heizte damals beileibe nicht nur »Bild« die Stimmung mit fast täglichen und oft höchstens halbwahren Reißergeschichten über »Asylanten« an. Es war der »Spiegel«, der das bis heute berüchtigte Sprachbild vom »vollen Boot« in Umlauf brachte – ohne Rücksicht auf Verluste.

 

Es ist erstens dieser allgemeine Tenor, vor dem die unglaubliche Entscheidung von »Ostseezeitung« und »Norddeutschen Neuesten Nachrichten« verständlich wird, dem unbekannten Anrufer eine Plattform zu bieten. Zweitens aber hatte diese kampagnenartige Thematisierung einer »Asylantenschwemme« politische Hintergründe.

 

Bereits Jahre vor 1989 hatte die CDU auf immer weitergehende Einschränkungen des Asylrechts hingearbeitet, auch aus Angst vor Parteien wie den Republikanern. 1987 setzte die schwarzgelbe Bundesregierung von Kanzler Helmut Kohl (CDU) eine Neufassung des Asylverfahrensrechtes durch, die die Möglichkeiten einer Einschränkung des Asylrechts ohne Änderung des Grundgesetzes ausschöpfte. Doch gab man sich damit noch nicht zufrieden. Umgehend begann die Union, Druck auf SPD Und Grüne auszuüben, deren Zustimmung man für zusätzliche, verfassungsändernde Eingriffe brauchte. Die 1990 zur Bundesrepublik beitretenden Ostdeutschen bekamen die Meinung, dass es zu viele »Asylanten« im Land gebe, quasi mit den neuen Papieren regierungsoffiziell ausgehändigt.

 

Ohne diese Hintergründe sind die Rostocker Nächte kaum vorstellbar. Doch wären sie zu verhindern gewesen, wenn die Politik gewollt hätte. Die Wut, die sich im Sommer 1992 mit Blick auf die Aufnahmestelle entwickelte und dann auch gegen das danebenliegende Vertragsarbeiterheim entlud, fiel ja nicht vom Himmel. Obwohl vor der Aufnahmestelle wochenlang teils Hunderte – meist Roma aus Balkanländern – in Erwartung eines Antragstermins lagerten, gab es kaum Versorgung oder Infrastruktur. Das CDU-regierte Land und die SPD-geführte Stadt schoben einander die Zuständigkeit zu. Schwerin beschied, wie der damalige Rostocker Ausländerbeauftragte Wolfgang Richter jüngst berichtete, dass die vor dem Haus befindlichen Personen »Obdachlose« seien und die Stadt in der Pflicht stehe. Diese wiederum versuchte, das Land einzubinden, anstatt zu handeln. Am Ende streiften zeitweise tatsächlich mehr oder minder mittellose Menschen auf der Suche nach Nahrung durch den Stadtteil – und stank es vor dem Block zum Himmel: Es stellten sich Umstände ein, die rassistische Stereotype scheinbar beglaubigten.

 

Einige Beobachter folgerten damals, die Blockade des Landes sei nur vor dem Hintergrund jener »Asyldebatte« zu verstehen: Man habe die Lage nolens volens eskalieren lassen, um ein Fanal zu schaffen. Handfest beweisen lässt sich das nicht. Doch sagte der Kanzler persönlich nach den Vorfällen in der Tagesschau, dass eben »viele« daran zweifelten, ob »der Staat handlungsfähig« sei. Die Opposition müsse daher die »Zeichen der Zeit jetzt endlich« erkennen und die »notwendigen Entscheidungen« beim Asylrecht treffen.

 

Seine Schamlosigkeit ist bis heute so beklemmend wie der Unwille der meisten damaligen Journalisten, den Zusammenhang zu benennen. Stattdessen schob man die Gewalt wohlfeil der »autoritären« DDR zu, die posthum einmal mehr als »rot lackierter Faschismus« erschien. Dass Kohls »Asylkompromiss« nur Monate später beschlossen wurde, hat eine Generation militanter Neonazis beflügelt. Auch die drei, die später als NSU bekannt werden sollten.

 

All das entschuldigt nicht diejenigen, die Brandsätze auf Wehrlose warfen oder solcher Feigheit applaudierten – so wenig wie der Blick auf die Polizei. Diese hätte dennoch die Gewaltausbrüche beenden müssen. Stattdessen rückten am 22. August zunächst 30 Streifenbeamte an. Auch am Folgetag, als zahlreiche Neonazis angereist waren, um die Gewalt zu organisieren, bot man neben einem Zug Grenzschutz zwei Hamburger Hundertschaften auf, die der Menge wenig entgegenzusetzen hatten. Und am dritten Tag – Montag, 24. August – zog sich die Polizei in der Abenddämmerung sogar zurück.

 

Dass es es die damals durchaus schon krawallerprobte deutsche Polizei drei Tage nicht schaffte, dem Wüten ein Ende zu setzen, ist so erstaunlich wie der Umstand, dass es an diesen Tagen keine Toten gab.

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25 Jahre Pogrom von Lichtenhagen „Wir müssen reden“ https://indyhro.blackblogs.org/2017/08/22/25-jahre-pogrom-von-lichtenhagen-wir-mussen-reden/ Tue, 22 Aug 2017 09:33:03 +0000 http://indyhro.blackblogs.org/?p=476 Continue reading 25 Jahre Pogrom von Lichtenhagen „Wir müssen reden“]]> Mai-Phuong Kollath will Betroffenen des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen eine Stimme geben. Der Brandanschlag hat ihr Leben verändert.

 

Als sie vor 25 Jahren, im August 1992, vor dem ausgebrannten „Sonnenblumenhaus“ stand, war auch in Mai-Phuong ­Kollath etwas zerbrochen. Die Türen des Gebäudes, in dem sie so viele Jahre lang gelebt hatte, waren eingetreten, die Fenster lagen in Scherben, und alles war wie leergefegt.

 

Zunächst glaubte Mai-Phuong Kollath, ihre ehemaligen Mitbewohner seien abgeschoben worden, denn von ihnen fehlte jede Spur. „Als der dunkle Qualm über dem Gebäude aufging und Hubschrauber in der Luft schwirrten, hatte ich mich an den Krieg in Vietnam erinnert gefühlt, wo wir uns im Bunker verstecken mussten“, erzählt sie. „Ich hatte mir bis dahin nicht vorstellen können, dass Deutsche zu so etwas fähig sind.“ Und sie zweifelte daran, dass sie in diesem Land eine Zukunft haben könnte.

 

Mai-Phuong Kollath war 1981 als eine der 60.000 vietnamesischen VertragsarbeiterInnen in die DDR gekommen. Mit 18 Jahren verschlug es sie nach Rostock hoch im Norden, wo sie als Küchenhilfe in einer Großküche für Hafenarbeiter schuftete und im betriebsinternen Wohnheim, im „Sonnenblumenhaus“ lebte. Wie alle vietnamesischen VertragsarbeiterInnen, musste sie einen Teil ihres Lohns zwangsweise an ihr Heimatland abführen. Vor allem Kernseife und Zucker schickte sie ihrer Familie. „Davon müsste es in Vietnam heute noch Vorräte geben“, scherzt die 54-Jährige.

 

Gegen den Willen ihrer Eltern heiratete sie 1987 einen Deutschen, mit dem sie ein Jahr später eine Tochter bekam. Die Schwangerschaft verheimlichte sie, weil sie sonst abgeschoben worden wäre, bis zum siebten Monat. „Erst als ich wusste, dass sie mich nicht mehr ins Flugzeug stecken können, habe ich mich offenbart.“

 

Sehr viele Vertragsarbeiterinnen trieben damals ab, wenn sie schwanger wurden. Sie durfte mit ihrem Baby bleiben, musste aber eine Strafe von 8.060 DDR-Mark an den vietnamesischen Staat zahlen – wegen „Vertragsbruchs“. Von der Legende, die DDR sei eine kinderfreundliche Gesellschaft gewesen, hält Mai-Phuong Kollath nichts. Für sie galt das nicht. 

 

Sündenbock für Versorgungsengpässe


Alltagsrassismus gab es auch in der DDR. „Die Fidschis kaufen uns alles weg“, hieß es, wenn sie sich in der Schlange vor dem Konsum einreihte. „Die DDR-Führung ließ es zu, dass wir zum Sündenbock für die Versorgungsengpässe gemacht wurden“, sagt Kollath rückblickend. Nach dem Mauerfall kündigten viele die verordnete Völkerfreundschaft auf und manche witterten die Gelegenheit, ihren angestauten Aggressionen Luft zu machen. Das Wort von der „Zigarettenmafia“ machte die Runde machte.

 

Kollath arbeitet nach dem Mauerfall in einer Kindertagesstätte und eröffnete mit ihrem Mann auf einem Campingplatz ein kleines Lokal. Dort zeigten ihr glatzköpfige Gäste im August 1992 den Hitlergruß. Als einige der wenigen Rostocker Vietnamesen wohnte Kollath damals schon nicht mehr im „Sonnenblumenhaus“, als es im August 1992 brannte. So blieb ihr die dramatische Flucht über das Dach erspart, mit der die rund 120 Bewohner, ein Fernsehteam und der damalige Ausländerbeauftragte der Stadt ihr Leben retteten.

 

Der Brandanschlag hat ihr Leben dennoch verändert. Kollath engagierte sich fortan im deutsch-vietnamesischen Verein „Dien-Hong“, dessen stellvertretende Geschäftsleiterin sie wurde. Sie studierte an der Universität Rostock Erziehungswissenschaften, bevor sie sich selbstständig machte. Heute berät sie Deutsche, die für die Entwicklungszusammenarbeit oder aus geschäftlichen Gründen nach Vietnam gehen, und bietet Trainings für Behörden an. In ihren Seminaren sitzen Kita-Erzieherinnen oder Bundespolizisten.

 

 

Seit sieben Jahren wohnt Mai-Phuong Kollath in Berlin. „Ich bin viel freier und unabhängiger, seit ich nicht mehr in Rostock lebe und für den Verein spreche“, sagt sie. Nach Rostock fährt sie nach wie vor gern, um Freunde zu besuchen oder um im Meer zu schwimmen. „Das kann man nicht mit den Seen in und um Berlin vergleichen“, schwärmt sie.

 

Mit dem offiziellen Gedenken an das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen tut sie sich dagegen schwer. Zwar habe sich viel getan, gibt sie zu – seit den ersten, selbst organisierten Veranstaltungen im kleinen Kreis bis zur offiziellen Gedenkfeier mit dem damaligen Bundespräsident Joachim Gauck vor fünf Jahren ist das Ereignis fest ins kollektive Gedächtnis der Republik gerückt. Doch die Stimmen derjenigen, die der rassistische Mob damals ins Visier genommen hatte, sie sind noch immer kaum vernehmbar.„Die Opfer haben kein Gesicht“ 

 

„Rostock-Lichtenhagen ist zum Symbol geworden für Politikversagen, für Rassismus, Wendestress und die Änderung des Asylrechts“, sagt Mai-Phuong Kollath. „Man sieht auf den Fotos immer das brennende Haus. Oder die Täter. Aber nie die Opfer. Die Opfer haben kein Gesicht.“

 

Auch viele der Vietnamesen, die damals im brennenden Haus waren, möchten die Geschehnisse lieber verdrängen, hat sie festgestellt, oder sie schämen sich sogar dafür. Manche werfen ihr vor, zu nachtragend zu sein. „Sie vergessen, dass sie beim Abtransport in eine Sportunterkunft im Bus auf dem Boden sitzen oder liegen mussten, um nicht erkannt zu werden, und sich dort tagelang nur von Bockwurst ernährt haben.“

 

 

Eine befreundete Mutter aus Rostock, damals hochschwanger, spielt die Ereignisse heute herunter. Dabei hätte sie beinahe ihr Kind verloren, und im ganzen Nachbargebäude hätten damals nur zwei Familien den Flüchtenden die Tür geöffnet, um ihnen Schutz zu bieten, sagt Kollath. „Ein anderer Landsmann von mir, der vor einem Jahr verstorben ist, sagte mir: Ich habe als Soldat in der Armee gekämpft. Ich wusste, das sind Halbstarke. Aber ich hatte Angst, jemanden töten zu müssen“, berichtet Kollath. „Man verdrängt so etwas gerne.“

 

Das entspreche auch dem vietnamesischen Selbstverständnis: „Wir erheben unsere Stimme nicht, wir sind höflich und halten uns zurück und lächeln sogar Beleidigungen weg.“ Bei vielen Deutschen sind Vietnamesen deshalb beliebt und gelten manchen heute als Vorzeigemigranten.

 

„Ich muss immer lachen wenn jemand sagt, wir seien so gut integriert“, sagt Kollath. „Das haben wir uns alles erkämpft. Erst 1997 hätten die ehemaligen VertragsarbeiterInnen eine unbefristete Arbeitserlaubnis erhalten. „Das hat es ihnen ermöglicht, ihre Familien nachzuholen, Kinder zu bekommen und Wurzeln zu schlagen.“ Nun steckten viele Vietnamesen alles in ihre Kinder, politisch aber blieben sie stumm. „Das ist der Preis dieser Unsichtbarkeit: Wir sind kaum in öffentlichen Debatten vertreten“, sagt Kollath. Sie will das ändern. „Wir müssen reden“, sagt sie.Folgenschwerer Irrtum 

 

1992 glaubten die meisten Viet­namesen in Rostock, dass sich die Wut der Anwohner und die Agitation der Rechtsradikalen nicht gegen sie selbst, sondern „nur“ gegen die Flüchtlinge aus Rumänien und Bulgarien richten würde, die vor der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber campierten, die damals ebenfalls im Sonnenblumenhaus“ untergebracht worden war. Auch die Polizei glaubte das, weshalb sie ihre Beamten abzog, nachdem das Asylbewerberheim evakuiert und die Aufnahmestelle geräumt worden war. Doch das war ein folgenschwerer Irrtum.

 

Kollaths Ziel ist, die Betroffenen von damals, von denen nicht wenige inzwischen wieder in Vietnam und nur ein Teil noch in Rostock leben, nach den Ereignissen von damals zu befragen. Sie will den ehemaligen Bewohnern des „Sonneblumenhauses“ und deren Kindern eine Stimme geben und ihre Erfahrungen dokumentieren.

 

Im Mai war Mai-Puong Kollath beim „NSU-Tribunal“ in Köln. „Die persönliche Erfahrung mit Rassismus verbindet“, sagt sie. In Köln gab es eine Ausstellung und eine Videoinstallation in mehreren Sprachen, in der Hinterbliebene, Betroffene und Experten zu Wort kamen. Mehrere Schulen setzen diese Videodokumentation als Arbeitsmittel ein. So etwas schwebt Kollath auch mit Blick auf die Ereignisse in Rostock-Lichtenhagen vor 25 Jahren vor. „Das wäre ein lohnendes Projekt“, sagt sie.

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Lichtenhagen: Woche des Erinnerns https://indyhro.blackblogs.org/2017/08/21/lichtenhagen-woche-des-erinnerns/ Mon, 21 Aug 2017 11:57:24 +0000 http://indyhro.blackblogs.org/?p=474 Continue reading Lichtenhagen: Woche des Erinnerns]]> Mit Kunstobjekten und Debatten setzt Rostock in dieser Woche Zeichen des Gedenkens an die Katastrophe vor 25 Jahren. Jeden Tag wird ein Denkmal enthüllt.

 

Rostock. Die Bilder gingen vor 25 Jahren um die Welt: Am 24. August 1992 belagerten Hunderte Jugendliche und Erwachsene das „Sonnenblumenhaus“ im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen. Aus der Menge heraus wurden Steine und Brandsätze geworfen. Etwa 150 Menschen konnten sich nur durch Flucht auf das Dach des Hauses vor dem Feuer retten, darunter 120 Vietnamesen, ein ZDF-Team und einige Rostocker. Dies war der traurige Höhepunkt der vom 22. bis 26. August 1992 andauernden ausländerfeindlichen und rassistischen Krawalle vor der Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber im „Sonnenblumenhaus“ und dem benachbarten Wohnheim für Vietnamesen.

 

Die Rostocker Bürgerschaft entschuldigte sich vor fünf Jahren, zum 20. Jahrestag der Ausschreitungen, in einer Erklärung bei den Opfern. Rund 150 Menschen hätten damals um ihr Leben fürchten müssen, während Rechtsextremisten aus ganz Deutschland, aber auch Tausende Rostocker Beifall klatschten, hieß es darin. Die in der Verantwortung stehenden Behörden von Bund, Land und Kommune hätten versagt.

 

Die Ereignisse dürften weder verdrängt, noch beschönigt oder vergessen werden. Die Aufarbeitung sei ein immerwährender Auftrag.

 

Einen weiteren Schritt des Gedenkens will Rostock in diesem Jahr vom 22. bis 26. August mit einer Gedenkwoche gehen. In diesen Tagen sollen fünf Stelen aus Marmor in verschiedenen Stadtteilen eingeweiht werden, die die Künstlergruppe „Schaum“ zum Thema „Gestern Heute Morgen“ gestaltet hat. Diese Künstlergruppe besteht aus Alexandra Lotz und Tim Kellner.

 

Die fünf Kunstobjekte tragen die Titel „Politik“, „Medien“, „Gesellschaft“, „Staatsgewalt“ und „Selbstjustiz“. Aufstellt werden sie vor dem Rathaus, dem Verlagsgebäude der OSTSEE-ZEITUNG, am ehemaligen Standort des „JugendAlternativZentrums“, an der Polizeiinspektion und beim „Sonnenblumenhaus“. Damit will die Stadt das Konzept des dezentralen Erinnerns und Mahnens „Lichtenhagen 1992“umsetzen.

 

Begleitend werden an den verschiedenen Erinnerungsorten dokumentarische Songtexte live aufgeführt. Diese „Gesangsstücke“ haben die Künstler Stefan Krüskemper, Oscar Ardila und Michaela Nasoetion gemeinsam mit Rostocker Einwohnern entwickelt. Sie sollen, so die Stadtverwaltung, ein lebendiges Gedenken sein.

 

Zum Auftakt der Gedenkwoche gibt es am Dienstag (22. August) um 17 Uhr eine Veranstaltung in der Marienkirche, der evangelischen Hauptkirche Rostocks. Dazu wird auch der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, erwartet. Die Krawalle von Rostock-Lichtenhagen 1992 hatten sich auch gegen Sinti und Roma gerichtet.

 

Politikwissenschaftler und Studenten der Universität Rostock hatten vor fünf Jahren in einer Publikation auf die besondere Rolle der Sinti und Roma hingewiesen. Die als „Zigeuner“ Bezeichneten seien in den Wochen vor Lichtenhagen „als Fremdgruppe in den Medien aufgebaut“ worden, heißt es dort. In den Lokalzeitungen seien die Roma unter anderem als „schmutzig“, „kriminell“ und „asozial“ bezeichnet worden. „Der Antiziganismus der Bevölkerung hat das Pogrom entfacht.“ Im Verlauf der Ausschreitungen habe sich dann ein allgemeiner Rassismus breit gemacht, wie der Angriff auf die Unterkunft vietnamesischer Vertragsarbeiter zeige.

 

In ihrem Text hatten die Politikwissenschaftler auch einen dauerhaften Ort des Erinnerns und Gedenkens an die Ereignisse von Lichtenhagen gefordert. Erste Schritte dazu waren im August 2012 unternommen worden. Doch die Friedenseiche, die als Erinnerungszeichen beim „Sonnenblumenhaus“ gepflanzt worden war, war noch im selben Monat von unbekannten Tätern abgesägt worden. Auch die am Rathaus angebrachte Gedenktafel wurde nur wenige Monate später, im Dezember 2012, von Unbekannten abgeschraubt. Die Tafel wurde ersetzt, der Baum jedoch nicht. Die Gefahr, dass er erneut abgesägt wird, erschien der Stadt zu groß. 

 

CHRONOLOGIE


Die fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen 1992 schockierten die Welt und hinterließen in der öffentlichen Wahrnehmung ein verheerendes Bild der Hansestadt. Hier eine kurze Chronologie der Ereignisse:

 

Sonnabend, 22. August

Etwa 2000 Menschen versammeln sich am Abend vor dem Sonnenblumenhaus. Ab 20 Uhr werfen rund 200 Jugendliche und Erwachsene zertrümmerte Betonplatten auf die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (Zast) und das Wohnheim der Vietnamesen. Anwohner applaudieren den Randalierern. Gegen sie haben die nur 30 eingesetzten Polizisten keine Chance. Erst ab etwa 2 Uhr können zusätzliche Polizeieinheiten und zwei Wasserwerfer aus Schwerin die Randalierer zurückdrängen.

 

Sonntag, 23. August

Gegen 12 Uhr versammeln sich etwa 100 Randalierer vor der Zast. Immer mehr Rechtsextremisten aus ganz Deutschland kommen nach Lichtenhagen. Einheiten des Bundesgrenzschutzes und der Hamburger Bereitschaftspolizei rücken an. Ab 17.30 Uhr attackieren rund 200 Jugendliche erneut das Asylbewerberheim sowie das Wohnheim und stürmen Teile des Sonnenblumenhauses. Die Polizei wird mit Steinen, Molotowcocktails, Leuchtraketen und Signalmunition angegriffen.

 

Montag, 24. August

Bis 15 Uhr wird die Zast evakuiert, die vietnamesischen Bewohner bleiben jedoch zurück. Hunderte Gewalttäter greifen die Polizei zwischen der Zast und dem S-Bahnhof an. Beamte setzen vereinzelt die Schusswaffe ein. Gegen 21.25 Uhr werden die Einheiten vom Sonnenblumenhaus zurückgezogen. Gewalttäter setzen mit Molotowcocktails das Wohnheim der Vietnamesen in Brand. 150 Menschen sind eingeschlossen: vietnamesische Familien, Rostocker und ein ZDF-Team. Ein Wasserwerfer der Polizei macht der Feuerwehr bis 23 Uhr den Weg frei, damit diese den Brand löschen kann. Die Eingeschlossenen retten sich indes über das Dach in einen anderen Teil des Gebäudes.

 

Dienstag/Mittwoch, 25./26. August

Etwa 1200 Gewalttäter attackieren erneut Polizisten in Lichtenhagen. Erst ab Mittwoch gegen 2 Uhr kontrolliert die Polizei die Lage. Bei den mehrtägigen Ausschreitungen gab es glücklicherweise keine Toten. Verletzt wurden 204 Polizisten, davon einer schwer. 

 

„Gestern Heute Morgen“: Jeden Tag wird in Rostock ein Denkmal enthüllt


22. August 18.30 Uhr: Das Kunstobjekt „Politik“ wird vor dem Rathaus am Neuen Markt eingeweiht.

 

23. August 17.30 Uhr: Das Kunstobjekt „Medien“ wird vor dem Medienhaus der OSTSEE-ZEITUNG in der Richard-Wagner-Straße eingeweiht. Um 18.00 Uhr folgt im großen Saal eine Podiumsdiskussion zu den Themen „25 Jahre Lichtenhagen: Die Verantwortung der Medien“ und „25 Jahre Lichtenhagen: Die Rolle der Polizei“ mit Innenminister Lorenz Caffier (CDU). Dazu gibt es eine Ausstellung mit Berichten aus der OZ zu den Ereignissen von Lichtenhagen 1992.

 

24. August 17 Uhr: Das Kunstobjekt „Gesellschaft“ wird am ehemaligen Standort des „JugendAlternativZentrums“ an der Ecke Hermannstraße/August-Bebel-Straße eingeweiht. Schüler der Jenaplan-Schule stellen Ergebnisse eines Workshops vor.

 

25. August 17 Uhr: Das Kunstobjekt „Staatsgewalt“ wird an der Polizeiinspektion Ulmenstraße eingeweiht. Die Polizei lädt zu einem World Café. Rund 40 Teilnehmer, darunter Migranten und angehende Polizisten, sprechen über die Geschehnisse 1992.

 

26. August 14 Uhr: Das Kunstobjekt „Selbstjustiz“ wird nahe des Sonnenblumenhauses, Höhe Mecklenburger Allee 18, eingeweiht. Der Verein „Bunt statt braun“ lädt zu einem „Tag der Vielfalt“ mit Präsentationen zu Integration und Antidiskriminierung sowie ab 18 Uhr mit Musik.

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Das Pogrom von Rostock https://indyhro.blackblogs.org/2017/08/21/das-pogrom-von-rostock/ Mon, 21 Aug 2017 11:26:00 +0000 http://indyhro.blackblogs.org/?p=472 Continue reading Das Pogrom von Rostock]]> Vor 25 Jahren griffen Rechtsextreme in Rostock-Lichtenhagen unter dem Beifall ganz normaler Bürger tagelang Asylbewerber und Gastarbeiter an.
Wie konnte es dazu kommen? Und was denken die Menschen aus dem Sonnenblumenhaus heute?
Von Thorsten Fuchs

 

Dabei wollte Nguyen Dinh Khoi doch nur Obst verkaufen. Trauben, Apfelsinen, Bananen, die er vom Großmarkt in Hamburg holte. Morgens um vier stand er auf, stellte seinen Stand auf dem Platz am Glatten Aal auf, gleich gegenüber vom Rathaus, und breitete seine Früchte aus. Meist dauerte es dann nicht lange, bis die ersten Skinheads kamen. „Jede Woche ging das so“, erinnert er sich.

 

Stand aufbauen, Obst verkaufen, bedroht werden: So sah Herrn Khois Alltag aus, damals, im Frühjahr 1992 in Rostock, im Jahr des Po­groms von Lichtenhagen.

Nguyen Dinh Khoi ist heute 51 Jahre alt. Ein Vierteljahrhundert ist das alles nun her, und doch beginnt seine Stimme irgendwann zu stocken, als er von dieser Zeit erzählt. Vielleicht, weil er an die Frau denken muss, die ein paar Tage nach den Ausschreitungen von Lichtenhagen, nach der Jagd auf seine Landsleute, zu ihm an seinen Stand kam und sagte: „Wir sind nicht alle so. Ich schäme mich.“ Vielleicht aber auch, weil er an die Eisenstange denkt, die er sich in jenem Frühjahr in seinen Stand legte, als Waffe. „Irgendwann ging es nicht mehr ohne“, sagt Herr Khoi, wiederum fast entschuldigend.

 

Lichtenhagen, an einem sonnigen Tag Mitte August. Der elfstöckige Block an der Stadtautobahn ist inzwischen saniert, es gibt behindertengerechte Eingänge. Geblieben ist das Mosaik, das dem Block seinen Namen gab: das Sonnenblumenhaus. Auf der Wiese, von der aus die Angreifer Steine und Molotowcocktails auf das Wohnheim der vietnamesischen Vertragsarbeiter warfen, steht heute ein „Hammer“-Baumarkt. Im Erdgeschoss jenes Teils, in dem die Zentrale Anlaufstelle für Asylbewerber untergebracht war, sitzt heute ein Bestattungsunternehmen. Und vor diesem Haus steht nun, noch verhüllt von schwarzer Folie und geschützt von einem Bauzaun, eine Stele, die daran erinnern soll, wie hier vor 25 Jahren Neonazis und andere Chaoten unter dem Beifall ganz normaler Bürger tagelang Ausländer bedrohen, beleidigen, randalieren und brandstiften konnten.

 

Das Pogrom von Lichtenhagen war auch das traurige Ende einer Entwicklung. Lichtenhagen hatte eine Vorgeschichte, die auch woanders spielt. In ganz Rostock, bei der Landesregierung in Schwerin und auch in Bonn.

 

Zu dieser Vorgeschichte gehört, dass Anfang der Neunzigerjahre rechtsradikale Parteien gegen die „Flüchtlingsflut“ hetzen, dass die Union das Asylrecht einschränken will und dass vor der überfüllten Anlaufstelle in Lichtenhagen wochenlang vor allem Rumänen im Freien kampieren. „Die waren nun plötzlich die Sündenböcke“, sagt der damalige Rostocker Ausländerbeauftragte Wolfgang Richter.„Wir hatten damals nichts im Griff, gar nichts“, sagt heute der erste stellvertretende Bürgermeister von damals, Wolfgang Zöllick. Und zu dieser Vorgeschichte gehört natürlich auch Herr Khoi.

 

Nguyen Dinh Khoi betreibt heute ein Cateringunternehmen. Damals, 1992, ist er einer von 368 Vietnamesen in Rostock, die meisten sind ehemalige Vertragsarbeiter. Herr Khoi war vier Jahre zuvor in die DDR gekommen, als Schweißer zum Industrieverband Fahrzeugbau nach Karl-Marx-Stadt. Nach der Wende wird er, wie so viele, arbeitslos. Deutschland ist mit sich selbst beschäftigt – was aus den asiatischen Gästen der DDR werden soll, kümmert erst mal keinen.

 

Nguyen Dinh Khoi jedoch will nicht zurück nach Vietnam. Also zieht er zu einem Freund nach Rostock und sucht sein Glück. Stellt sich an die Straße und verkauft erst den Eben-noch-DDR-Kindern Spielzeug aus dem Westen, später Kleidung. Vor allem aber macht er eine ernüchternde Erfahrung. „Wer eben noch freundlich war, reagierte nun feindlich“, sagt er. „Es wurde auf einmal sehr, sehr kalt für uns.“ Die Menschen suchen einen Schuldigen für ihr eigenes Unglück. So werden aus den geschätzten Arbeitern des sozialistischen Bruderlandes die Fidschis.

 

Zur selben Zeit, als Herr Khoi jeden Tag seinen Stand auf dem Rostocker Markt aufbaut und die Eisenstange hinter sich deponiert, kommen plötzlich sehr viele neue Menschen in die Stadt. Auf Lastwagen, so schildern es die Berichte aus jener Zeit, bringen die Schlepper sie zur Zentralen Aufnahmestelle nach Lichtenhagen, zum Block mit der Sonnenblume. Die Unterkunft jedoch ist mit dem Andrang überfordert. Tagelang müssen die Neuankömmlinge auf der Wiese zwischen den Blöcken verharren. Toiletten gibt es nicht, Geld haben sie nicht. Also schlafen sie unter Balkons, gehen in die Büsche und bedienen sich in der Kaufhalle. Jeden Dienstag, wenn im Rathaus der Bürgermeister und die Senatoren tagen, prangert der Ausländerbeauftragte Wolfgang Richter die Zustände an. Doch was er zu hören bekommt ist: Das ist Sache des Landes. „Das war ein absolut hirnloses Hin und Her“, sagt Richter heute.

 

Richter, weißes Haar, weißer Vollbart, ist so etwas wie das Gesicht des Gedenkens an diese Krawalle. Er war in jenen Tagen selbst hier, im und vor dem Sonnenblumenhaus, und seit 25 Jahren erzählt er geduldig, was geschehen ist. Deshalb kennen sie ihn hier natürlich. Die Begegnung mit dem Bewohner des Sonnenblumenhauses verläuft angespannt. „So, das ist die Wahrheit“, sagt der Rentner, nachdem er von der Schuld der zugereisten Neonazis gesprochen hat. Und Richter widerspricht, bemerkenswert ruhig. Erklärt, dass das erst ab dem zweiten Abend stimmt. Dass es am Anfang die Einheimischen waren, die gebrüllt, geworfen, geklatscht haben. „Der erste Abend war ein reines Rostocker Ereignis“, sagt Richter bestimmt. Es gibt bis heute viele, die das nicht wahrhaben wollen.

 

Es gibt die Theorie, dass manchen Politikern die Bilder von campierenden Sinti und Roma im Rostocker Plattenbaugebiet ganz gut in die Agenda passten, um die Asylrechtsänderung ein bisschen dringlicher erscheinen zu lassen. Sie hätten Zustände bewusst eskalieren lassen, lautet der Vorwurf. Immerhin würde ein solch zynisches Kalkül zumindest die unfassbare Untätigkeit der Behörden erklären. Wer sich aber heute mit Wolfgang Zöllick unterhält, der kommt zu dem Schluss: Es war wohl einfach Unfähigkeit.

 

Die meisten Verantwortlichen von damals schweigen. Zöllick, heute 75 Jahre, redet. Als Sozialsenator war der CDU-Mann damals für die obdachlosen Flüchtlinge vor dem Sonnenblumenhaus letztlich mit zuständig. Weil der eigentliche Bürgermeister während der Ausschreitungen in Lichtenhagen Urlaub macht, ist er zu dieser Zeit höchster Vertreter der Stadt.

 

Zöllick sagt, das Land habe die Stadt damals immer wieder vertröstet. „Aber wir hätten aus heutiger Sicht natürlich auch selbst etwas tun müssen.“ Toiletten aufstellen, zumindest das. Warum das nicht geschehen ist, nicht mal das? Zöllick war Lehrer für Sport und Geografie. Unerfahren seien er und seine Kollegen gewesen. „Wir haben Fehler gemacht“, sagt er. Man darf es wohl auch als eine Art Wiedergutmachung verstehen, dass Wolfgang Zöllick redet. „Es muss daran erinnert werden“, sagt er, „damit so was nicht wieder passiert.“

 

Damals jedoch hält niemand die Verbrechen mehr auf. Zöllick, der zu der Zeit in Lichtenhagen wohnt, fährt jeden Abend zum Sonnenblumenhaus, versucht, auf die klatschende Menge einzureden. „Aber da war schon niemand mehr zugänglich“, sagt er. Wolfgang Richter wird am dritten Abend durch den rassistischen Mob und von den Flammen in dem Haus der vietnamesischen Arbeiter eingeschlossen. Er, 120 Vietnamesen und ein Team des ZDF können sich nur deshalb retten, weil es zwei der Vietnamesen gelingt, eine Tür zum Dach aufzuhebeln. „Für Angst“, sagt Richter, „blieb in dem Moment gar keine Zeit.“ Nguyen Dinh Khoi schließlich, der in der Rostocker Innenstadt wohnt, erfährt von den Krawallen erst, als ihn seine Eltern aus Vietnam anrufen, froh sind, dass er noch lebt.

 

Ob sich so etwas in Rostock wiederholen könnte? Da sagen alle drei sehr entschieden Nein. „Ich trage das Gute in meinem Herzen“, sagt Herr Khoi. Die Begegnungen mit Rostockern, die an seinen Obststand kamen und sagten, wie sehr sie sich schämten. Die alte Dame, die begann, ihm jeden Tag Brote an seinen Stand zu bringen. Rostock ist längst seine Heimat geworden. Es gibt den Verein, den die Vietnamesen als Reaktion gründeten, es gab 2015 die Unterstützung für die Flüchtlinge, die auf dem Weg nach Skandinavien in Rostock strandeten.

 

Auch die Eisenstange hat er Herr Khoi damals irgendwann weggelegt. Aber erst, nachdem er sich mit anderen Vietnamesen zusammengeschlossen und den Nazis gedroht hatte, sich gemeinsam gegen sie zu wehren.


 

Eine Chronologie der Krawalle

22. August 1992: Etwa 2000 Menschen versammeln sich am Abend vor dem Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen, in dem die Zentrale Anlaufstelle für Asylbewerber (ZAst) und ein Wohnheim für vietnamesische Arbeiter untergebracht sind. Ab 20 Uhr werfen rund 200 Jugendliche und Erwachsene unter dem Applaus von Anwohnern zertrümmerte Betonplatten auf beide Einrichtungen. Die zunächst nur 30 Polizisten sind hilflos. Erst nach 2 Uhr drängen zusätzliche Einheiten die Randalierer zurück.

 

23. August 1992: Rechtsex­tremisten aus der gesamten Bundesrepublik reisen nach Lichtenhagen. Bis zu 1000 Gewalttäter attackieren die Polizei mit Steinen und Molotowcocktails und dringen in das Sonnenblumenhaus ein. Erneut bestärken Anwohner und Schaulustige die Täter durch Applaus.

 

24. August 1992: Die ZAst wird geräumt. Erneut greifen Randalierer die Polizei an. Gegen 21.25 Uhr werden die Beamten aus bis heute nicht restlos geklärten Gründen zurückgezogen. Rund 120 Vietnamesen sind in ihrem Wohnheim dem Mob ausgeliefert. Gewalttäter setzen das Gebäude mit Molotowcocktails in Brand. Die Eingeschlossenen entkommen in Todesangst über das Dach. Erst gegen 23 Uhr machen Wasserwerfer der Feuerwehr den Weg frei.

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Krawalle von Rostock-Lichtenhagen „Wenn man von unten Schreie hört“ https://indyhro.blackblogs.org/2017/08/20/krawalle-von-rostock-lichtenhagen-wenn-man-von-unten-schreie-hort/ Sun, 20 Aug 2017 10:06:55 +0000 http://indyhro.blackblogs.org/?p=470 Continue reading Krawalle von Rostock-Lichtenhagen „Wenn man von unten Schreie hört“]]> Flammen lodern aus Flüchtlingswohnungen, Gaffer johlen und applaudieren den Neonazis – eine Schande für Deutschland. Vor 25 Jahren konnte ein rechter Mob in Rostock nahezu ungestört Ausländer attackieren.

 

Diese Angst hat er nicht vergessen. „Wenn über einem nur noch eine Spannbetondecke ist und man von unten Schreie hört, Feuerschein sieht und Qualm riecht, es nicht links und nicht rechts geht, dann verlierst du irgendwann den Mut.“

 

Jochen Schmidt stand am 24. August 1992 im sogenannten Sonnenblumenhaus an der Mecklenburger Allee in Rostock-Lichtenhagen, als Anwohner und Neonazis den Wohnblock in Brand steckten. Als Hospitant eines ZDF-Kamerateams hatte er ausländerfeindliche Krawalle begleitet und war mitten hineingeraten.

Mit rund 150 ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeitern, die in dem Haus wohnten, und mit Kollegen rettete Schmidt sich bis in den elften Stock, schließlich aufs Dach. „Und dann hat da oben eigentlich jeder still für sich mit dem Leben abgeschlossen, muss man einfach so sagen“, erinnert er sich.

 

Die Bilder des brennenden Sonnenblumenhauses gingen um die Welt und zeigten die hässlichste Seite des wiedervereinigten Deutschlands. Es waren die schwersten ausländerfeindlichen Krawalle in der Geschichte der Bundesrepublik.

 

Steine, Eisenkugeln, Brandsätze


Nach der Wiedervereinigung und im Zuge einer hitzigen Asyldebatte, durch die sich Rechtsradikale ermuntert fühlten, kam es Anfang der Neunzigerjahre zu einer Welle der Gewalt mit zahlreichen Angriffen auf einzelne Ausländer und auf Unterkünfte. So wurden in Hoyerswerda im September 1991 Wohnheime für Flüchtlinge und Vertragsarbeiter mit Molotow-Cocktails und Eisenkugeln attackiert.

 

Die Exzesse von Rostock-Lichtenhagen vor 25 Jahren waren ein weiterer schockierender Höhepunkt fremdenfeindlicher Gewalt. Im Sonnenblumenhaus befand sich 1992 Mecklenburg-Vorpommerns Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber. Asylsuchende mussten sich dort melden, bevor sie eine Unterkunft in diesem Bundesland zugewiesen bekamen.

 

Wochenlang schon war die Stelle überfüllt. Die Wartenden kampierten vor dem Haus – ohne Toiletten und ohne Verpflegung. Es kam zu Diebstählen in umliegenden Geschäften. Obwohl Anwohner auf die schlimmen Zustände hinwiesen, reagierten die Verantwortlichen nicht.

 

Ab dem 22. August eskalierte die Situation, der Auftakt zu fast einer ganzen Woche voller Ausschreitungen. Jugendliche und Anwohner versammelten sich, schleuderten Steine und Brandsätze auf das Haus und die Polizei. „In den Anfängen waren es die Einwohner vor Ort, die Jugendlichen, die komplett perspektivlos waren“, sagt Ralf Mucha, SPD-Landtagsabgeordneter und Vorsitzender des Ortsbeirates.

 

„Ein Prototyp für rechte Gewalt“


Später kamen Neonazis aus ganz Deutschland hinzu. Die Polizei – miserabel vorbereitet, schlecht ausgerüstet, von der Politik im Stich gelassen – bekam die Lage nicht in den Griff. Zwischen Untätigkeit, Zaudern und kopflosem Agieren überließ sie letztlich dem Mob das Feld und konnte auch nicht den Zugang der Feuerwehr zum Sonnenblumenhaus und den umliegenden Gebäuden sicherstellen; Rechtsradikale und Schaulustige versperrten den Feuerwehrleuten den Weg.

 

So konnten Tausende nahezu ungehindert gegen Ausländer pöbeln, Neonazis vor einer johlenden Meute Brandflaschen anzünden, Betrunkene den Arm zum Hitlergruß heben – Szenen, die um die Welt gingen. Es war ein Triumph für den rechten Mob. Und ein Schock für alle anderen.

 

Am 24. August entschieden die Behörden nach langem Zögern, die Aufnahmestelle zu räumen. Von da an richteten sich die Gewalt der Neonazis und die Beschimpfungen Tausender Gaffer gegen die im Nachbaraufgang lebenden Vietnamesen. Mehrere Wohnungen wurden angezündet.

 

Wolfgang Richter, damals Ausländerbeauftragter Rostocks, hielt sich mehrere Tage lang im Haus auf. Er erinnert sich an viele Gespräche mit Anwohnern, die auch gesagt hätten: „Aber die Vietnamesen meinen wir nicht! Mit denen leben wir seit zehn Jahren hier. Das hat ihnen aber nichts genützt. Weil diese fremdenfeindliche Gewalt, einmal ausgebrochen, keine Unterschiede gemacht hat.“

 

Ex-Hospitant Schmidt, heute Reporter beim „Hessischen Rundfunk“, sagt: „Rostock ist so etwas wie ein Prototyp für rechte Gewalt. Und dafür, wie leicht Agitatoren es schaffen, Massen zu bewegen.“

 

Verfehlungen in Stein


Die Wiese vor dem Haus, auf der sich die Szenen abspielten, gibt es heute nicht mehr. Seit vielen Jahren ist die Fläche südlich vor dem elfstöckigen Hochhaus bebaut – mit einem Dienstleistungszentrum, einem Heimwerkermarkt und einem Parkplatz. Sie ist zum Mittelpunkt des Stadtteils geworden. Dort gibt es Einkaufsmöglichkeiten, Imbisse und Arztpraxen.

 

„Ich wehre mich dagegen zu sagen, Lichtenhagen ist ein Brennpunktstadtteil. Das ist er nicht“, sagt SPD-Mann Mucha. Mit der Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge etwa gebe es keine Probleme, „die ist akzeptiert, sie wird unterstützt“.

 

In der Kurzchronik der Hansestadt sind die prägenden Ereignisse der Stadtgeschichte notiert. Die Vorgänge von 1992 jedoch werden nicht erwähnt, ebensowenig der Tod von Mehmet Turgut im Jahr 2004 – ein Mord, der dem „Nationalsozialistischen Untergrund“ zugeschrieben wird. „Es ist völlig unbegreiflich, wie 1992 und 2004 fehlen können in einer solchen Aufzählung“, sagt Wolfgang Richter, Rostocks früherer Ausländerbeauftragter.

 

Vom 21. August an sollen in einer Gedenkwoche in Rostock thematische Stelen eingeweiht werden: am Sonnenblumenhaus, am Rathaus, vor dem Redaktionsgebäude der „Ostsee-Zeitung“, der Polizeiinspektion und dem linken „Jugendalternativzentrum“. Die Kunstobjekte werden fortan an die Verfehlungen erinnern und auch an Zivilcourage.

 

Hannes Stepputat, dpa/jol

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