D-Osten – Antifaschistisches Archiv für Rostock und Umgebung https://indyhro.blackblogs.org Linke Veröffentlichungen aus unterschiedlichen Quellen Sat, 21 Nov 2020 19:00:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.1 [KA] – [solidarische Perspektiven] – Remembering means fighting! Transpiaktion zur 25. Jährung der Pogrome in Rostock- Lichtenhagen! https://indyhro.blackblogs.org/2017/08/24/ka-solidarische-perspektiven-remembering-means-fighting-transpiaktion-zur-25-jahrung-der-pogrome-in-rostock-lichtenhagen/ Thu, 24 Aug 2017 19:38:21 +0000 http://indyhro.blackblogs.org/?p=161 Continue reading [KA] – [solidarische Perspektiven] – Remembering means fighting! Transpiaktion zur 25. Jährung der Pogrome in Rostock- Lichtenhagen!]]> Zum 25. Mal jähren sich in diesen Tagen die rassistischen Pogrome von Rostock-Lichtenhagen. Mit zwei Transparenten, welche wir über einer viel befahrenen Kreuzung in Karlsruhe aufgehängt haben, rufen wir dieses Ereignis in Erinnerung.

 

Tagelange Angriffe auf Geflüchtete und sogenannte Fremdarbeiter*innen prägten eine ganze Woche im August 1992. Mit Steinen und Molotowcocktails wurden Menschen beworfen und Häuser, in denen diese wohnten. Staatliche Behörden sahen sich nicht in der Lage einzugreifen und schauten mehrere Tage zu, wie sich der rassistische Mob aus Nazis, Rassisten und Bürgern austobte.

 

Die Konsequenz, welche aus den Pogromen Anfang der neunziger Jahre gezogen wurde, war die faktische Abschaffung des Rechts auf Asyl. Die Politik ist vor dem Mob auf die Knie gefallen.

 

Über zwanzig Jahre später tobt er wieder…

 

Die letzten zwei Jahre sind geprägt von rassistischer und nationalistischer Stimmungsmache. Tägliche Angriffe auf Asylunterkünfte und Geflüchtete führten auch dieses Mal dazu, dass die übriggebliebenen rechtlichen Grundlagen zum Schutz vor Verfolgung weiter eingeschränkt wurden
und die Festung Europa, wie sich in diesen Tagen zeigt, gar mittels Unterstützung durch Warlords verteidigt wird.

Mit Rassismus und Nationalismus zum Wahlerfolg?

 
Waren es in den neunziger Jahre die Republikaner, die von der Pogromstimmung profitierten, so versucht heute die AfD die rassistisch und nationalistisch aufgeladene Stimmung für sich zu nutzen.
Doch nicht nur die AfD bedient sich dieser menschenfeindlichen Politik. Quer durch die Parteienlandschaft wird versucht diese zu vereinnahmen, um dem eigenen Machtanspruch gerecht zu werden. Politische Inhalte und Argumentationen, Fehlanzeige.

 

„Mit dieser Aktion möchten wir dieses schreckliche Ereignis in Erinnerung rufen und dazu Mahnen, dass Rassismus und Nationalismus keine politischen Lösungen bieten.“, so Petra Schwarz, Pressesprecherin der Libertären Gruppe Karlsruhe.
„Gerade jetzt, zur Zeit der Bundestagswahl und dem dazugehörigen Wahlkampf ist diese menschenfeindliche Politik allgegenwärtig und sichtbar. Unter anderem darum begleiten wir diese Wahl mit der Kampagne „Solidarische Perspektiven entwickeln – jenseits von Wahlen und
Populismus“, welche die Möglichkeit zur inhaltlichen Auseinandersetzung, Diskussion über solidarische Alternativen und Kritik an bestehenden gesellschaftlichen und politischen Strukturen bietet.“, so Schwarz weiter.
„Die Erinnerung an die Pogrome und ihre Folgen muss gleichzeitig als Mahnung für die Zukunft gesehen werden. Nationalismus und Rassismus sind menschenverachtende Einstellungen und keine Alternativen!“

 

Remembering means fighting!

Transpi 1
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Transpi 2
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Transpi 3
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[HRO] Pogrom Lichtenhagen – Nichts hat sich geändert https://indyhro.blackblogs.org/2017/08/24/hro-pogrom-lichtenhagen-nichts-hat-sich-geandert/ Thu, 24 Aug 2017 17:55:17 +0000 http://indyhro.blackblogs.org/?p=368 Continue reading [HRO] Pogrom Lichtenhagen – Nichts hat sich geändert]]> Das Pogrom von Rostock Lichtenhagen ist inzwischen 25 Jahre her. Doch was hat sich seitdem geändert? Im August 1992 belagerte ein rassistischer Mob aus Neonazis und „normalen“ Anwohner*innen die Zentrale Aufnahmestelle (ZASt) im sogenannten Sonnenblumenhaus. Nachdem die Geflüchteten evakuiert worden waren, richtete sich der Volkszorn dann gegen das Wohnheim der vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen, die schon seit vielen Jahren dort lebten.

 

Gerade angesichts des totalen Versagens von Polizei und Politik grenzt es an ein Wunder, dass es damals keine Toten gab. Rostock Lichtenhagen war Anfang der 90er beileibe kein Einzelfall, weder in Mecklenburg-Vorpommern noch bundesweit. So starben im Mai 1993 fünf Menschen bei einem Brandanschlag in Solingen. Die Bundesregierung nutzte die allgemeine Stimmungslage um das Asylrecht de facto abzuschaffen und machte sich dann mit Lichterketten an die Imagepflege.

 

Nichts hat sich geändert! Diese provokante These steht auf mehreren großflächigen Plakaten, die letzte Nacht in Rostock plakatiert wurden. In den letzten Jahren kam es wieder vermehrt zu Angriffen auf Geflüchtete und ihr Unterkünfte. Oft wird dabei auch der Tod von Menschen billigend in Kauf genommen. Vor zwei Jahren wurde im Rostocker Stadtteil Groß Klein, das in Sichtweite zum Sonnenblumenhaus liegt, ein Zentrum für unbegleitete minderjährige Geflüchtete geschlossen, nachdem einige Rassist*innen dagegen Stimmung gemacht hatten. Die meisten Anwohner*innen zeigten ihre Anteilnahme erst nachdem das Zentrum bereits geschlossen war. Im ebenfalls an Lichtenhagen grenzenden Stadtteil Evershagen störten Neonazis Anfang diesen Jahres eine Sitzung des Ortbeirates um die Errichtung eines geplanten muslimischen Gebetshauses zu verhindern. Sicherlich wirken diese Vorfälle harmlos im Vergleich zum Pogrom von Lichtenhagen, aber sie zeigen eine besorgniserregende Tendenz. Wir sind nicht mehr in den 90ern, aber Rassismus und Ressentiments gegen alles, das als fremd wahrgenommen wird, sind immer noch tief in der Bevölkerung verankert.

Plakat 1
Plakat 1
Plakat 2
Plakat 2
Plakat 3
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(never) forget Rostock Lichtenhagen https://indyhro.blackblogs.org/2017/08/24/never-forget-rostock-lichtenhagen/ Thu, 24 Aug 2017 16:44:56 +0000 http://indyhro.blackblogs.org/?p=363 Continue reading (never) forget Rostock Lichtenhagen]]> Ich bin stark irritiert auf Indy keinen Artikel über die Progrome von Rostock Lichtenhagen zu finden. Ist es so selbstverständlich bescheid zu wissen und den Mainstreammedien die Arbeit zu überlassen?

 

Sind die Jugendlichen der Parteijugenden, Antifa / AntiRa Gruppen etc. so gut infomiert dass wir es lassen können, über die Hetzjagten der 90er aufzuklären?

 

Ich selbst habe die Redaktion mit einem Beitrag aus dem Deutschlandfunk genervt, wer mag kann

 

25 Jahre Rostock-LichtenhagenProtokoll einer Eskalation

http://www.deutschlandfunk.de/25-jahre-rostock-lichtenhagen-protokoll-einer-eskalation.724.de.html?dram:article_id=394097

 

selbst nachlesen. Es ist spannend nachzuvollziehen, wie selbst ein Einsatzleiter der damilgen Bullen sich wundert, wie aus offensichtlicher politischer Duldung das tagelange Werfen mit Molotovs geduldet wurde und zu guter Letzt eine Verschärfung der Asylgesetze rauskam – das Recht auf politisches Asyl wurde damals abgesägt.

 

Refugees Welcome?

Weg mit Frontex?

 

Etliche Zeitungen haben dem Progrom gedacht, aber fast nie kamen die Stimmen linker Bürgerrechtler zu Wort, geschweigedenn engagierter Autonomer, Antifas, Punx etc. Deren Erlebnisse sind zumindest nicht unbedeutend. Früher hiess es so oft „wer schweigt stimmt zu“, solche Parolen sind heute nur noch selten zu hören. Auch, dass die Progromstimmung mit einer Gründe für das erstarken Antideutscher weit vor dem 11. September war, wäre eigentlich interessant.

 

Ebenso wäre es wichtig, die Entwicklung ostdeutscher linker selbstorganisierter Strukturen zu erfragen, wo Leute unglaublichen Aufwand hatten, der heutzutage für viele Jugendliche kaum nachvollziehbar ist, denkt man dadran wie viele „nicht-Rechte“ es in vielen Dörfern gab, die jahrelange handfeste Kämpfe hinter sich bringen mussten.

 

Ich würd mich freuen Kommentare von euch zu lesen, Links zu Artikel zu finden die solche Erfahrungen nachvollziehbarer machen. Der Hauptgrund war und ist ein ziemliche starke Kluft zwischen den linken Generationen, wer sich erinnert, früher hiess es oft noch „Nazis angreifen“ statt „Naziaufmärsche verhindern“. In den letzten Monaten habe ich etliche linke Jugendliche Getroffen, die undifferenziert „68er“ gebasht haben die hätten „viel falsch gemacht“ – Ende der Diskussion.

 

Gute Frage ob, wann wie ‚uns‘ 30, 40, 50 Jährige das trifft. Neoliberalismus scheint wohl kein Geschichtsbewußtsein zu brauchen, obwohl emanzipatorische Bewegungen auf Jahrhunderte Geschichte zurückgreifen können. Es wäre gut politische Lebenserfahrungen jüngeren Leuten mitzugeben. Und sei es, dass vor 20 Jahren sich mehr Menschen auf den Strassen geküsst haben, schon das wird von so vielen Leuten kaum geglaubt.

 

Schade.

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Rostock-Lichtenhagen: „Jetzt wollen sie uns umbringen!“ https://indyhro.blackblogs.org/2017/08/24/rostock-lichtenhagen-jetzt-wollen-sie-uns-umbringen/ Thu, 24 Aug 2017 09:20:50 +0000 http://indyhro.blackblogs.org/?p=361 Continue reading Rostock-Lichtenhagen: „Jetzt wollen sie uns umbringen!“]]> Die Vorfälle in Rostock-Lichtenhagen verunsichern bis heute viele Vietnamesen. Theaterregisseur Dan Thy Nguyen lernte, sich mit Knüppeln zu verteidigen – und zu rennen.

Ein Gastbeitrag von

 

Plötzlich knickte mein Fuß weg. Kurz vor der Geburt meines Sohnes war ich über den Sportplatz gelaufen und dabei ungünstig aufgekommen. Mein Fußgelenk schmerzte, nicht viel, nur beim Auftreten tat es weh. Ich wurde wütend. „Man, jetzt kannst du dein eigenes Kind nicht mehr beschützen!“, dachte ich. „Das kann doch nicht wahr sein, dass du nicht auf dich aufpassen kannst! Wie konnte dir das passieren!“ Nach der Wut kam die Panik: Aufpassen war das Wichtigste, was ich in meiner Kindheit und Jugend gelernt hatte.

 

Im Jahr 1992 bin ich sieben Jahre alt und starre auf den Fernsehbildschirm. Es zeigt ein Hochhaus in Flammen. Ich verstehe nicht. Ich ahne nur, dass es eine ernste Situation sein muss. Meine Eltern sind ganz still. „Jetzt wollen sie uns umbringen!“, stottert mein Vater schließlich. Dem Tod, dachten sie, waren sie eigentlich schon entflohen: In den siebziger Jahren waren sie vor dem Vietnamkrieg in einem winzigen Fischerboot auf das offene Meer geflüchtet. Nach einer langen Odyssee waren sie letztlich nach Deutschland gekommen, in einen kleinen Ort in der Eifel. Von dort aus sehen sie nun zu, wie Hunderte Neonazis und Tausende Anwohner in Rostock-Lichtenhagen eine Erstaufnahmestelle für Asylbewerber und einen Wohnblock vietnamesischer Vertragsarbeiter belagern. Brandsätze fliegen auf das Sonnenblumenhaus und auf dem Höhepunkt des Pogroms zieht sich die Polizei teilweise vollständig zurück. 

 

Mit Metallknüppeln gegen Nazis


Nach den Nachrichten sagt mein Vater, er müsse mir im Esszimmer etwas beibringen. Er fragt mich, ob ich ihm vertrauen würde. Ich bejahe und wir gehen rüber. Dort packt er mich. Ich müsse mich befreien, ruft er. „Ich kann nicht!“, rufe ich zurück. Ich strample, aber ich habe keine Chance gegen seine Kraft. Mein Vater schreit mir ins Gesicht: „Ich bin noch lieb zu dir, aber der Nazi wird dich umbringen!“ Ich schreie nun auch, sage, dass er mich loslassen soll. Entgeistert kommt meine Mutter dazu und fordert, dass er den Griff lösen soll. „Wir müssen ihm aber beibringen, stark zu sein!“, entgegnet mein Vater. „Insbesondere, wenn sie kommen! Wenn wir zu sanft zu ihm sind, wird er sich nie verteidigen können!“, sagt er. „Wir sind aber nicht mehr im Krieg!“, erwidert meine Mutter aufgebracht. „Der Krieg ist vorbei! Hör auf!“ Widerwillig lässt er los.

 

In den nächsten Tagen kommt mein Vater mit Starkstromleitungen nach Hause. Sie waren in kurze Stücke geschnitten. „Guck einmal! Die sind wie richtige Knüppel mit Metallkern!“, sagt er und zeigt sie stolz meinen zwei älteren Geschwistern und mir. „Wenn Leute uns jetzt angreifen oder ausrauben wollen, dann können wir uns verteidigen!“ Noch an demselben Abend bringt er uns bei, wie wir die Knüppel im Ernstfall anwenden sollen. 

 

Eier und Hundescheiße


Noch in derselben Nacht weckt uns lautes Hupen. „Deutschland den Deutschen!“, grölen ein paar Männer draußen. „Ausländer raus!“ Ich renne ins Wohnzimmer, dort stehen meine Eltern wie versteinert am Fenster. Mein Vater hat einen der neuen Knüppel in der Hand. Ich bin zu erschrocken, um meinen eigenen Knüppel zu holen. „Was soll ich machen?“, frage ich. Sie antworten nicht. Ich frage noch einmal, wieder antworten meine Eltern nicht. Nach gefühlt stundenlangen Minuten ziehen die Männer wieder fort. Ich stehe im Wohnzimmer und wünsche mir, mich nie mehr schwach fühlen zu müssen.    

 

Es sollte nicht der einzige nächtliche Übergriff bleiben. An manchen Morgen klebten Eier an unserer Hauswand oder Hundescheiße. Unbekannte hatten sie dorthin hingeschmiert. Meine Eltern säuberten die Wand am nächsten Tag wieder. Auch Steine schmissen die Leute. Auf jeden Knall folgten Gelächter und schnelle, leiser werdende Schritte. Manchmal versuchte ich aus Wut hinterherzulaufen, aber ich war zu langsam.

 

Im Jahr 1998 bin ich 13 Jahre alt und stehe auf dem Schulhof. Fünf Mitschüler, alle wesentlich größer als ich, umzingeln mich. „Wo haste denn deine Jeans geholt?“, fragt einer. Ich verstehe die Frage nicht. „Bei C&A!“, antworte ich. „Nene, beim Viet Cong, Japse! Da kauft ihr doch alle ein, ihr Scheißjapsen! Hört ma’ her Leute, der Japse hat Jeans vom Viet Cong!“ Dann laufen sie auf mich zu. Einer erwischt mich am Arm, aber ich kann mich losreißen. Ich laufe so schnell ich kann weg, aber ich stolpere und meine Jeans zerreißt. Ein Junge setzt sich auf meinen Rücken und hält mich fest. „Jetzt bin ich tot!“, denke ich. „Gleich werden sie mich zu Tode prügeln.“ Dann kommt die Pausenaufsicht und die Jungs rennen weg. 

 

„Rassismus gibt es in Deutschland nicht mehr“


Am nächsten Tag sitze ich mit meinen Eltern beim Klassenlehrer. Er sagt, dass er mit allen geredet habe und dass es allen leid tue. „Es sind halt Jungs, die sich ausprobieren müssen. Das ist ganz normal in diesem Alter“, sagt er. „Das ist Rassismus„, sagen meine Eltern. Das Wort kannten sie gut, sie sahen ja die Nachrichten. Mein Lehrer sieht das anders: „Rassismus! Rassismus gibt es in Deutschland nicht mehr. Das war ein Problem von früher. Ich verstehe ja, dass Sie nicht aus Deutschland kommen und das daher nicht verstehen können. Aber das, was passiert ist, das hat nichts mit Rassismus zu tun.“

 

Im Auto wiederholt mein Vater seine Forderung, ich müsse mich besser verteidigen lernen: „Wenn die anderen größer sind als du, dann musst du schneller sein.“ Diesmal pflichtet ihm auch meine Mutter bei. 

 

Zorn und Gewaltfantasien


 

Von da an trainiere ich. Ich spiele Volleyball und gehe regelmäßig Joggen. War ich damals noch der Langsamste in der Klasse, wurde ich immer schneller. „Du musst verstehen, dass dich in Deutschland niemand verteidigen wird!“, höre ich meine Eltern oft sagen. Jetzt könnten sie mich noch beschützen, „aber wenn wir nicht da sind, dann musst du es selber können“. Außerdem, sagen sie, müsse ich klug sein, denn die anderen seien größer als ich. „Das heißt, sie werden immer stärker sein als du. Wenn sie stärker sind, dann musst du schneller und klüger sein als sie.“ In mindestens einer Sache hatten meine Eltern recht: Beschützt hat man mich nicht. Und zu häufig war ich nicht schneller oder klüger als meine Angreifer. 

 

Meine Rettung: das Theater


Im Jahr 2002 bin ich 17 Jahre alt und möchte nur noch weg. Weg aus der Eifel, weg aus dieser kleinen, westdeutschen Provinz, weg von den Menschen dort. Aber ich muss noch ein Jahr zur Schule gehen und vielleicht einen Zivildienst ableisten. In der Öffentlichkeit lächele ich, um nicht negativ aufzufallen. Innerlich könnte ich vor Zorn zerbersten. Lehrer glauben mir nicht, dass ich angegriffen werde, und meine Mitschüler empfinde ich mehr als Feinde denn als Freunde. Ich fantasiere, wie ich mit einer Waffe durch meine Schule renne und jeden erschieße. Jeder sollte meine Wut zu spüren bekommen und keiner würde entkommen.

 

Stattdessen sitze ich im Geschichtsunterricht und meine Lehrerin sagt, dass im Nachbarort eine neue Theatergruppe entstanden sei. „Theater!“, denke ich.  Theater ist zwar nicht wirklich das, was mich interessiert, aber es könnte mich bis zu meinem Wegzug ablenken. Wenig später halte ich einen Flyer in meiner Hand und melde mich zum Amateurtheater an. Ich lerne fechten und Bühnenkampf, lese antike Dramen und spiele Schurken, Wahnsinnige und Clowns.

 

Die Entscheidung zum Theater hat mich vermutlich vor meinem eigenen Untergang gerettet. Sie rettete mich vor meiner eigenen Wut und dem Hass anderer. „Ohne die Kunst hätte ich meine Kindheit und Jugend nicht emotional überlebt“, zitierte mich letztens eine Moderatorin auf einer Podiumsveranstaltung. Dann erzählt ein vietnamesischer Gast aus dem Publikum, er habe von klein auf lernen müssen, schnell zu sein – um zu überleben. Er musste entweder rennen oder schneller zuschlagen, um sich gegen Rechte zu verteidigen. Ich sagte ihm, dass es mir genauso ging und lachte innerlich, weil wir dasselbe durchgemacht hatten.

 

Jetzt ist genau ein Jahr vergangen, seitdem mein Fuß umgeknickt war. Er ist geheilt. Mein Sohn übt gerade seine ersten Schritte und ich kann nicht aufhören, ihm dabei zuzusehen. Ich hoffe, dass ich immer genügend Stärke finden werde, ihn zu beschützen, sollte er angegriffen werden. Ich will ihm beibringen, wachsam zu sein und für sich einstehen zu können. Ich will ihm aber nicht beibringen, sich mit Knüppeln zu verteidigen – obwohl mich manchmal Angst überkommt bei den Nachrichten über Anschläge gegen Flüchtlingsheime und dem Erstarken rechter Parteien. Der nächsten Generation sollten wir andere Mittel zur Verteidigung geben: mehr Rechtsstaat, mehr zivilgesellschaftliches Engagement. Nur so kann die tiefe Angst in meiner Generation gelöst werden.

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Rostock-Lichtenhagen „Der Mut der Überlebenden wird oft ausgeblendet“ https://indyhro.blackblogs.org/2017/08/24/rostock-lichtenhagen-der-mut-der-uberlebenden-wird-oft-ausgeblendet/ Thu, 24 Aug 2017 09:15:19 +0000 http://indyhro.blackblogs.org/?p=486 Continue reading Rostock-Lichtenhagen „Der Mut der Überlebenden wird oft ausgeblendet“]]> Dan Thy Nguyen hat aus Interviews ein Theaterstück über das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen vor 25 Jahren gemacht. Ein Gespräch über ein Opfer-Schema, das nicht greift, und die Lehren aus den Angriffen.

 

Wenn es um das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen geht, stehen oft die Täter im Vordergrund. Sie haben für Ihr Theaterstück mit einigen der Menschen gesprochen, die damals angegriffen wurden. Hat das Ihren Blick auf die Ereignisse verändert?

 
Absolut. Die Geschichte müsste ein Stück weit umgeschrieben werden. Es gibt ein Detail, das ich immer im Kopf habe: Ein Überlebender hat mir erzählt, dass er nicht so sehr davor Angst hatte, an diesen Tagen zu sterben, sondern davor, einen der jungen Angreifer töten zu müssen, um sich selbst zu verteidigen. Das ist eine ganz andere Perspektive: Das klassische Opfer-Schema passt hier gar nicht. Es liegt vielleicht auch daran, dass die Menschen im Haus sich so gut organisiert haben, dass es keine Toten gab.

 

Ein Vietnamese schilderte Ihnen auch, dass er noch einmal ins Sonnenblumenhaus zurück ist, wo er selbst gar nicht wohnte, um anderen zu helfen – trotz der Lebensgefahr.

 
Ja, der Mut der Überlebenden unter Einsatz des eigenen Lebens wird in der Geschichte von Rostock-Lichtenhagen oft ausgeblendet. Teilweise waren frühere Vietnam-Krieg-Soldaten dabei, die auf ihre Erfahrungen zurückgriffen, als sie das Haus über die oberen Stockwerke evakuierten. Im Gedenken sind die Vietnamesinnen und Vietnamesen aber oft eher Randfiguren – ganz zu schweigen von den Roma und den Geflüchteten aus dem ehemaligen Jugoslawien. Das ist eigentlich eine weiße Gedenkkultur, aus einer fast ausschließlich biodeutschen Perspektive.

 

Wie gehen die Menschen, mit denen Sie gesprochen haben, mit dem Jahrestag um?

 
Die meisten sind enttäuscht. Eine Verarbeitung gab es fast nicht, sowohl juristisch als historisch – auch keine Entschädigung. Es ist fast schon ein leeres Gedenken, das nur an der Oberfläche kratzt, eine Eventisierung. Viele sagen auch, dass sie damit abschließen wollen – ob das klappt, ist eine andere Frage. Die Kombination aus Traumata aus dem Vietnam-Krieg, aus Erlebnissen als DDR-Vertragsarbeiter und dann diesen Ereignissen 1992 macht es vielen schwer, ein ganz normales Leben zu führen.

 

Wenn man das überhaupt verallgemeinern kann, welche Rolle spielt Rostock-Lichtenhagen für die vietnamesische Community in Deutschland?

 
Die eine Community gibt es so gar nicht. Ich komme aus der Boat-People-Community, die sich von der ehemaliger DDR-Vertragsarbeiter sehr unterscheidet. Für viele aus der Boat-People-Community ist Rostock-Lichtenhagen kein wirklicher Begriff, auch da gibt es kein richtiges Gedenken. Aber Rostock-Lichtenhagen oder Hoyerswerda haben eine massive Angst vor Ostdeutschland ausgelöst. Dazu kam noch, dass viele dort die Kommunisten lokalisierten, vor denen sie ja geflohen waren. Von klein auf kenne ich die Warnungen vor dem Osten.

 

Die gibt es bis heute?

 
Ja, eindeutig.

 

Und wie ist es mit der Erinnerungskultur bei Menschen mit vietnamesischen Wurzeln in Ostdeutschland?

 
Die Vertragsarbeiter-Community geht meiner Meinung nach offener damit um. Die Menschen hatten aber in den 90er ganz andere Probleme, als sich um eine Gedenkkultur zu kümmern. Es gab zwar schon einige Akteurinnen und Akteure, aber erst ab dem 20. Jahrestag haben sich zusätzlich Menschen stark gemacht, bestimmte Dinge aufzuarbeiten. Insbesondere aus der zweiten Generation.

 

Sie sind in einem kleinen Dorf in NRW aufgewachsen und waren ein Kind, als in Rostock-Lichtenhagen die Molotow-Cocktails flogen. Welche Erfahrungen haben Sie als Sohn vietnamesischer Geflüchteter in Westdeutschland gemacht?

 
Es gab Angriffe auf unser Haus, Steinwürfe, Hunde-Exkremente wurden an die Wand geschmiert. Ich bin mehrmals angespuckt worden. Nachts wurde gehupt, „Ausländer raus!“ gerufen oder „Scheiß Japsen“. Das hat meine Kindheit und Jugend geprägt. Es gibt das Klischee, dass die Boat-People-Community keinen Rassismus erfahren hat. Das ist natürlich totaler Blödsinn. Das Absurde ist: Auch für Vietnamesen im Westen war Rostock-Lichtenhagen damals eine Gelegenheit, um die eigenen Probleme auf den Osten zu projizieren und sich nicht damit auseinandersetzen zu müssen.

 

Sie haben einmal gesagt, es führt eine Linie von Rostock-Lichtenhagen nach Tröglitz, Freital oder Bautzen. Wo sehen Sie die Parallelen zur Gegenwart?

 
Das ist natürlich polemisch gemeint. Die Angriffe auf Unterkünfte der letzten Jahre sind ja noch so nah dran, dass sie historisch noch nicht aufzuarbeiten sind. Und Rostock-Lichtenhagen selbst ist historisch, juristisch, politisch bei weitem noch nicht vollständig aufgearbeitet.

 

Hat das erschwert, daraus Konsequenzen zu ziehen?

 
Ja. Ich habe den Eindruck, dass es im Bewusstsein unserer Gesellschaft in den 90ern nur Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, Mölln und Solingen gegeben hat, dass diese Ereignisse wie singuläre rassistische Events gesehen werden. Sie werden nicht in den größeren politischen Kontext zu jener Zeit gesetzt. Dadurch werden auch die ,kleinen Ereignisse’ auf den Dörfern ausgeblendet. In dem Dokumentarfilm „The truth lies in Rostock“ wird davon gesprochen, dass es fast täglich irgendwo einen Anschlag gab.

 

Was heißt das für die Gegenwart?

 
Ein Beispiel: Hoyerswerda liegt im gleichen Landkreis wie Bautzen. Da muss man sich doch als Gesellschaft fragen, warum passieren diese Dinge in ähnlichen Orten. Darauf brauchen wir zivilgesellschaftlich, wissenschaftlich und politisch eine Antwort. Und dafür müssen wir die Ereignisse in einem größeren Kontext sehen.

 

Interview: Martín Steinhagen

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Von Rostock-Lichtenhagen zu Freital https://indyhro.blackblogs.org/2017/08/24/von-rostock-lichtenhagen-zu-freital/ Thu, 24 Aug 2017 08:55:25 +0000 http://indyhro.blackblogs.org/?p=484 Continue reading Von Rostock-Lichtenhagen zu Freital]]> Vor 25 Jahren brannte in Rostock eine Asylbewerberunterkunft. Die Prozesse dauerten Jahre, die Politik schränkte das Asylrecht ein. So konnte neuer Rechtsterror wachsen.

Ein Gastbeitrag von

 

Zum 25. Mal jährt sich das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen. Im August 1992 griffen dort rassistisch gesinnte Anwohner, aber auch aus weit entfernten Bundesländern angereiste Rechtsextremisten die Zentrale Anlaufstelle für Asylbewerber von Mecklenburg-Vorpommern an.

 

Die Gewalttäter attackierten zudem benachbarte Unterkünfte vietnamesischer Vertragsarbeiter mit Steinen und Molotowcocktails. Mehrere Tage herrschte Ausnahmezustand. Zwar wurde niemand getötet, aber eine Gruppe von Migranten wurde in Todesangst versetzt. Ebenso ging es westdeutschen Journalisten, als sie in einem brennenden Wohnheim festsaßen, über das sie eigentlich im Fernsehen berichten wollten.

 

Schon zuvor hatten sich viele politisch Verantwortliche skandalös verhalten. So, dass Beobachter von heimlicher Komplizenschaft mit den Ausländerfeinden sprachen: Roma mussten vor der hoffnungslos überfüllten Asylunterkunft campieren und ihre Notdurft verrichten. Das brachte die Nachbarschaft gegen sie auf und heizte die Stimmung an. Polizeiführung und Mitglieder der Landesregierung versuchten, die Gewalt herunterzuspielen. Danach zog sich die Strafverfolgung hin. Erst fast zehn Jahre später begann das letzte Hauptverfahren wegen versuchten Mordes, schwerer gemeinschaftlicher Brandstiftung und Landfriedensbruchs. Von den 400 Festgenommenen wurde nur etwa jeder Zehnte verurteilt.

 

Der geistige Hintergrund des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen war eine öffentliche Debatte über den angeblich massenhaften Missbrauch von Sozialhilfe „durch Wirtschaftsasylanten“. Rechtsextreme Medien, Boulevardpresse und konservative Politiker überboten sich monatelang in der Hetze gegen Flüchtlinge, die sie zu „Asylbetrügern“ und „Sozialschmarotzern“ stempelten, wodurch sich die Haltung der SPD in der Asylpolitik schrittweise veränderte. Die mediale Stimmungsmache erklärt auch, warum Tausende zuschauten, als Brandsätze auf das Sonnenblumenhaus in Lichtenhagen flogen. Und warum biedere Kleinbürger und brave Familienväter vor laufenden Fernsehkameras dem brandschatzenden Mob applaudierten.

 

Nur ein paar Wochen später schlossen CDU/CSU, FDP und SPD auf Bundesebene den sogenannten Asylkompromiss. Gemeinsam schränkten sie das Grundrecht auf Asyl drastisch ein. Bis das Bundesverfassungsgericht die Aushungerungs- und Abschreckungspraxis gegenüber Flüchtlingen zehn Jahre später revidierte, erhielten politisch Verfolgte nur noch das Lebensnotwendigste. Dies werteten die Neonazis als Erfolg jener aggressiven Strategie, die sie in Rostock angewendet hatten. Dass Lichtenhagen durch die Herausbringen der angegriffenen Migranten ausländerfrei geworden war, galt als Beweis für die Effektivität brutaler Methoden.

 

Durch die Rostocker Randale gewann der rechte Terror – mehr noch als durch die Belagerung eines Vertragsarbeiterwohnheimes in Hoyerswerda knapp ein Jahr zuvor – eine neue Dimension: Organisierte Neonazis hatten über Ländergrenzen hinweg mobilisiert. Wirkungsvoller als jedes andere zeitgeschichtliche Ereignis hat das Pogrom von Lichtenhagen den Boden für spätere Wahlerfolge der NPD und die Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) bereitet. Ohne dieses Fanal hätten sich die ostdeutschen Skinheads nicht so schnell radikalisiert, hätte sich die Kameradschaftsszene vielleicht gar nicht etabliert. Die Kader des Thüringer Heimatschutzes wären möglicherweise nicht zu Rechtsterroristen geworden.

 

Rostock-Lichtenhagen stand lange für das schlimmste Pogrom der deutschen Nachkriegsgeschichte. Erst rassistisch motivierte Brandanschläge auf Flüchtlinge und deren Unterkünfte in Bautzen, Clausnitz, Freital, Heidenau bei Dresden, Tröglitz und anderswo bildeten eine erschreckende Parallele zu Rostock.

 

Daraus müssen wir die richtigen Lehren ziehen. Rassistischen Ressentiments und rechten Parolen wie „Ausländer raus!“ oder „Deutschland den Deutschen!“ nachzugeben, ist das falsche Signal. Es bestärkt die Neonazis und ruft Nachahmungstäter auf den Plan. Ordnungskräfte, Polizei und Geheimdienste dürfen nicht wegschauen, wenn sich gewaltbereite Rechtsextremisten zusammenrotten, sondern müssen eingreifen, bevor diese angreifen.

 

Wichtig ist, das Denken der rechten Gewalttäter zu ächten – jenes Denken, das sie in der Vorstellung bestärkt, im Namen „des Volkes“ zu handeln. Wir brauchen eine politische Kultur, die jeglichen nationalen Dünkel aus der Öffentlichkeit verbannt – etwa aus den Sportnachrichten, wo jede Bronzemedaille eines Deutschen bejubelt wird, während der Sieger anderer Nationalität häufig keines Wortes gewürdigt wird. Wir brauchen Solidarität mit allen sozial Benachteiligten und jenen Minderheiten, die von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft diskriminiert werden. Nur in einem sozialen Klima, das (ethnische) Minderheiten nicht ausgrenzt, werden sich solch abscheuliche Vorfälle nicht wiederholen. Unser längerfristiges Ziel muss eine inklusive Gesellschaft sein, die niemanden ausgrenzt, der hier lebt oder Zuflucht vor politischer Verfolgung, Kriegen und Bürgerkriegen sucht.

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Rostock-Lichtenhagen: Die Roma bleiben ein blinder Fleck https://indyhro.blackblogs.org/2017/08/23/rostock-lichtenhagen-die-roma-bleiben-ein-blinder-fleck/ Wed, 23 Aug 2017 12:32:48 +0000 http://indyhro.blackblogs.org/?p=482 Continue reading Rostock-Lichtenhagen: Die Roma bleiben ein blinder Fleck]]> Martin Arndt sammelt im Auftrag der Stadt Erinnerungen an die Gewaltausbrüche des Sommers 1992

 

Seit 2015 bauen Sie im Rahmen eines von der Stadt finanzierten Projekts ein Archiv zu den Ausschreitungen vor dem »Sonnenblumenhaus« vor 25 Jahren auf. Was sind die Archivalien?

 
Den Ausgangspunkt bildeten kleine, private »Archive« von Bürgerinnen und Bürgern, die damals gesammelt haben, was ihnen in die Hände kam – das sind natürlich zunächst oft Mediendokumente, schwerpunktmäßig aus den lokalen Zeitungen. Die Flugblätter, die damals von den Rechten in Umlauf gebracht wurden und die von der Gegenseite. Wir haben alle Unterlagen aus dem damaligen Alternativen Jugendzentrum übernommen, darunter ist eine zeitgenössische Chronologie der der Ereignisse, die natürlich auch viele Details enthält, die man im Nachhinein ansonsten vergisst.

 

Das ist »deutsches« Material. Mai-Phuong Kollath vom Sprecherrat der Migrantenorganisationen im Land hat kürzlich gesagt, man müsse den Betroffenen mehr zuhören.

 
Es gehört zu den Zielen unseres Projekts, die Perspektiven der Betroffenen rekonstruieren zu helfen. Dazu gibt es bereits Ansätze. Vor fünf Jahren hat etwa die Heinrich-Böll-Stiftung eine Reihe von Zeitzeugeninterviews aufgezeichnet, mit damaligen Bewohnern des Heims für vietnamesische Vertragsarbeiter, zum Beispiel auch mit Wolfgang Richter, dem damaligen Ausländerbeauftragten der Stadt, der ja im »Sonnenblumenhaus« war, während es angegriffen wurde, und mit Gegenaktivisten. Während viele vietnamesische Zeitzeugen noch in der Stadt sind und mit dem nach den Ereignissen gegründeten Verein Diên Hông auch eine Adresse haben, ist es sehr schwierig, Stimmen der damaligen Roma-Flüchtlinge zu finden, gegen die sich die rassistische Mobilmachung zuerst gerichtet hatte. Viele von diesen kamen aus Rumänien und wurden nach dem entsprechenden Abkommen vom September 1992 zurückgebracht. Ihre individuellen Blickwinkel sind bisher tatsächlich ein blinder Fleck. Immerhin spielen Roma als Gruppe inzwischen eine größere Rolle in der Erinnerung. Am Dienstagabend wird mit Romani Rose vom Zentralrat der Sinti und Roma erstmals ein Vertreter der Roma an einer Gedenkveranstaltung teilnehmen.

 

Haben Sie Kontakt zu »Tätern«, zu Leuten, die damals dabeistanden und das nun vielleicht bereuen?

 
Tatsächlich haben sich zwei Personen bei uns gemeldet, die damals ungefähr eine solche Rolle gespielt haben. Bisher haben wir es noch nicht geschafft, uns mit diesen Zeitzeugen hinzusetzen und ausführliche Interviews zu führen, aber auch das gehört auch zu den Zielen unseres Projekts. Unsere Finanzierung läuft noch ein Jahr, so dass ich hoffe, dass das möglich sein wird.

 

Welche Rolle spielt »Lichtenhagen« inzwischen in der Stadt? Haben die Vorfälle einen festen Platz in ihrem öffentlichen Gedächtnis?

 
Es ist zumindest so, dass die Stadt diesmal recht viel Geld in die Hand genommen hat. Neben unserem Archivprojekt, dessen Einrichtung alle demokratischen Fraktionen in der Bürgerschaft zugestimmt haben, gibt es ja noch weitere Aktivitäten, etwa das Kunstprojekt, bei dem dezentral fünf Stelen in der Stadt aufgestellt werden, auch vor Institutionen, die eine negative Rolle spielten, die damals versagt haben – also die Politik, die Polizei, die Medien. In diesen Institutionen ist man inzwischen durchaus dazu bereit, sich auch kritisch mit dem eigenen Handeln in der damaligen Situation zu befassen. Die »Ostseezeitung«, die damals eine sehr negative Rolle spielte, veranstaltet am Mittwoch eine Podiumsdiskussion. Ich finde es in diesem Zusammenhang auch bemerkenswert, dass die Stadt inzwischen offiziell den Begriff »Pogrom« verwendet.

 

Was sagen diese Vorfälle vor einem Vierteljahrhundert heute jungen Rostockern?

 
Diejenigen, die ohnehin politisch interessiert sind, beschäftigen sich viel mit dem Thema. In der vergangenen Woche gab es zwei Podiumsdiskussionen im Peter-Weiss-Haus, die beide sehr gut besucht waren, oft von sehr jungen Leuten. Aber auch Veranstaltungen mit Rostocker Schulklassen zeigen, dass die Ereignisse nicht vergessen sind. Wenn es auch vielen heutigen Schülern, die um die Jahrtausendwende geboren sind, schwerfällt, die Ereignisse zum Beispiel zeitlich richtig einzuordnen. Solche Veranstaltungen zeigen aber auch: Bis heute halten sich in familiären Überlieferungen hartnäckige Legenden. Etwa diejenige, die Ausschreitungen seien vor allem von busseweise angekarrten Neonazis verübt worden und hätten mit der Stadt nicht viel zu tun gehabt. Oder die Geschichte von den Geflüchteten, die Möwen gegrillt hätten. Das zeigt, wie notwendig ein Projekt wie unser Archiv tatsächlich war und ist.

 

Was hat das Pogrom in der Stadtgesellschaft bewirkt? Wären solche Szenen wie damals heute in Rostock noch möglich?

 
Im vergangenen Juli und August hat es ja eine Situation gegeben, die ein wenig an 1992 erinnerte. Vor einer Unterkunft für minderjährige Geflüchtete im neben Lichtenhagen gelegenen Stadtteil Groß Klein versammelten sich abends regelmäßig Gruppen von etwa 20 bis 40 Personen, darunter auch bekannte Neonazis. Diesmal wurde die Situation genau beobachtet, nicht nur von linken Aktivisten, sondern auch von der Polizei. Auf Anweisung des Sozialsenators Steffen Bockhahn (LINKE) wurde die geplante Einrichtung einer weiteren Unterkunft in dem Stadtteil abgebrochen und die Flüchtlinge auf andere Einrichtungen verteilt. Die Rechten mögen das als Sieg gefeiert haben, aber das zeigte auch, dass die Politik heute aufmerksamer reagiert als vor 25 Jahren. Nicht nur in Rostock, sondern in den neuen Bundesländern überhaupt sind in den letzten beiden Jahrzehnten doch bedeutende zivilgesellschaftliche Strukturen entstanden, die ein »Lichtenhagen«, also eine tagelange Belagerung mit Volksfestcharakter, bei der man mit der Familie auf dem Weg zum Strand vorbeischaut, schwer vorstellbar erscheinen lassen.

 

www.lichtenhagen-1992.de

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Lichtenhagen: Woche des Erinnerns https://indyhro.blackblogs.org/2017/08/21/lichtenhagen-woche-des-erinnerns/ Mon, 21 Aug 2017 11:57:24 +0000 http://indyhro.blackblogs.org/?p=474 Continue reading Lichtenhagen: Woche des Erinnerns]]> Mit Kunstobjekten und Debatten setzt Rostock in dieser Woche Zeichen des Gedenkens an die Katastrophe vor 25 Jahren. Jeden Tag wird ein Denkmal enthüllt.

 

Rostock. Die Bilder gingen vor 25 Jahren um die Welt: Am 24. August 1992 belagerten Hunderte Jugendliche und Erwachsene das „Sonnenblumenhaus“ im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen. Aus der Menge heraus wurden Steine und Brandsätze geworfen. Etwa 150 Menschen konnten sich nur durch Flucht auf das Dach des Hauses vor dem Feuer retten, darunter 120 Vietnamesen, ein ZDF-Team und einige Rostocker. Dies war der traurige Höhepunkt der vom 22. bis 26. August 1992 andauernden ausländerfeindlichen und rassistischen Krawalle vor der Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber im „Sonnenblumenhaus“ und dem benachbarten Wohnheim für Vietnamesen.

 

Die Rostocker Bürgerschaft entschuldigte sich vor fünf Jahren, zum 20. Jahrestag der Ausschreitungen, in einer Erklärung bei den Opfern. Rund 150 Menschen hätten damals um ihr Leben fürchten müssen, während Rechtsextremisten aus ganz Deutschland, aber auch Tausende Rostocker Beifall klatschten, hieß es darin. Die in der Verantwortung stehenden Behörden von Bund, Land und Kommune hätten versagt.

 

Die Ereignisse dürften weder verdrängt, noch beschönigt oder vergessen werden. Die Aufarbeitung sei ein immerwährender Auftrag.

 

Einen weiteren Schritt des Gedenkens will Rostock in diesem Jahr vom 22. bis 26. August mit einer Gedenkwoche gehen. In diesen Tagen sollen fünf Stelen aus Marmor in verschiedenen Stadtteilen eingeweiht werden, die die Künstlergruppe „Schaum“ zum Thema „Gestern Heute Morgen“ gestaltet hat. Diese Künstlergruppe besteht aus Alexandra Lotz und Tim Kellner.

 

Die fünf Kunstobjekte tragen die Titel „Politik“, „Medien“, „Gesellschaft“, „Staatsgewalt“ und „Selbstjustiz“. Aufstellt werden sie vor dem Rathaus, dem Verlagsgebäude der OSTSEE-ZEITUNG, am ehemaligen Standort des „JugendAlternativZentrums“, an der Polizeiinspektion und beim „Sonnenblumenhaus“. Damit will die Stadt das Konzept des dezentralen Erinnerns und Mahnens „Lichtenhagen 1992“umsetzen.

 

Begleitend werden an den verschiedenen Erinnerungsorten dokumentarische Songtexte live aufgeführt. Diese „Gesangsstücke“ haben die Künstler Stefan Krüskemper, Oscar Ardila und Michaela Nasoetion gemeinsam mit Rostocker Einwohnern entwickelt. Sie sollen, so die Stadtverwaltung, ein lebendiges Gedenken sein.

 

Zum Auftakt der Gedenkwoche gibt es am Dienstag (22. August) um 17 Uhr eine Veranstaltung in der Marienkirche, der evangelischen Hauptkirche Rostocks. Dazu wird auch der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, erwartet. Die Krawalle von Rostock-Lichtenhagen 1992 hatten sich auch gegen Sinti und Roma gerichtet.

 

Politikwissenschaftler und Studenten der Universität Rostock hatten vor fünf Jahren in einer Publikation auf die besondere Rolle der Sinti und Roma hingewiesen. Die als „Zigeuner“ Bezeichneten seien in den Wochen vor Lichtenhagen „als Fremdgruppe in den Medien aufgebaut“ worden, heißt es dort. In den Lokalzeitungen seien die Roma unter anderem als „schmutzig“, „kriminell“ und „asozial“ bezeichnet worden. „Der Antiziganismus der Bevölkerung hat das Pogrom entfacht.“ Im Verlauf der Ausschreitungen habe sich dann ein allgemeiner Rassismus breit gemacht, wie der Angriff auf die Unterkunft vietnamesischer Vertragsarbeiter zeige.

 

In ihrem Text hatten die Politikwissenschaftler auch einen dauerhaften Ort des Erinnerns und Gedenkens an die Ereignisse von Lichtenhagen gefordert. Erste Schritte dazu waren im August 2012 unternommen worden. Doch die Friedenseiche, die als Erinnerungszeichen beim „Sonnenblumenhaus“ gepflanzt worden war, war noch im selben Monat von unbekannten Tätern abgesägt worden. Auch die am Rathaus angebrachte Gedenktafel wurde nur wenige Monate später, im Dezember 2012, von Unbekannten abgeschraubt. Die Tafel wurde ersetzt, der Baum jedoch nicht. Die Gefahr, dass er erneut abgesägt wird, erschien der Stadt zu groß. 

 

CHRONOLOGIE


Die fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen 1992 schockierten die Welt und hinterließen in der öffentlichen Wahrnehmung ein verheerendes Bild der Hansestadt. Hier eine kurze Chronologie der Ereignisse:

 

Sonnabend, 22. August

Etwa 2000 Menschen versammeln sich am Abend vor dem Sonnenblumenhaus. Ab 20 Uhr werfen rund 200 Jugendliche und Erwachsene zertrümmerte Betonplatten auf die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (Zast) und das Wohnheim der Vietnamesen. Anwohner applaudieren den Randalierern. Gegen sie haben die nur 30 eingesetzten Polizisten keine Chance. Erst ab etwa 2 Uhr können zusätzliche Polizeieinheiten und zwei Wasserwerfer aus Schwerin die Randalierer zurückdrängen.

 

Sonntag, 23. August

Gegen 12 Uhr versammeln sich etwa 100 Randalierer vor der Zast. Immer mehr Rechtsextremisten aus ganz Deutschland kommen nach Lichtenhagen. Einheiten des Bundesgrenzschutzes und der Hamburger Bereitschaftspolizei rücken an. Ab 17.30 Uhr attackieren rund 200 Jugendliche erneut das Asylbewerberheim sowie das Wohnheim und stürmen Teile des Sonnenblumenhauses. Die Polizei wird mit Steinen, Molotowcocktails, Leuchtraketen und Signalmunition angegriffen.

 

Montag, 24. August

Bis 15 Uhr wird die Zast evakuiert, die vietnamesischen Bewohner bleiben jedoch zurück. Hunderte Gewalttäter greifen die Polizei zwischen der Zast und dem S-Bahnhof an. Beamte setzen vereinzelt die Schusswaffe ein. Gegen 21.25 Uhr werden die Einheiten vom Sonnenblumenhaus zurückgezogen. Gewalttäter setzen mit Molotowcocktails das Wohnheim der Vietnamesen in Brand. 150 Menschen sind eingeschlossen: vietnamesische Familien, Rostocker und ein ZDF-Team. Ein Wasserwerfer der Polizei macht der Feuerwehr bis 23 Uhr den Weg frei, damit diese den Brand löschen kann. Die Eingeschlossenen retten sich indes über das Dach in einen anderen Teil des Gebäudes.

 

Dienstag/Mittwoch, 25./26. August

Etwa 1200 Gewalttäter attackieren erneut Polizisten in Lichtenhagen. Erst ab Mittwoch gegen 2 Uhr kontrolliert die Polizei die Lage. Bei den mehrtägigen Ausschreitungen gab es glücklicherweise keine Toten. Verletzt wurden 204 Polizisten, davon einer schwer. 

 

„Gestern Heute Morgen“: Jeden Tag wird in Rostock ein Denkmal enthüllt


22. August 18.30 Uhr: Das Kunstobjekt „Politik“ wird vor dem Rathaus am Neuen Markt eingeweiht.

 

23. August 17.30 Uhr: Das Kunstobjekt „Medien“ wird vor dem Medienhaus der OSTSEE-ZEITUNG in der Richard-Wagner-Straße eingeweiht. Um 18.00 Uhr folgt im großen Saal eine Podiumsdiskussion zu den Themen „25 Jahre Lichtenhagen: Die Verantwortung der Medien“ und „25 Jahre Lichtenhagen: Die Rolle der Polizei“ mit Innenminister Lorenz Caffier (CDU). Dazu gibt es eine Ausstellung mit Berichten aus der OZ zu den Ereignissen von Lichtenhagen 1992.

 

24. August 17 Uhr: Das Kunstobjekt „Gesellschaft“ wird am ehemaligen Standort des „JugendAlternativZentrums“ an der Ecke Hermannstraße/August-Bebel-Straße eingeweiht. Schüler der Jenaplan-Schule stellen Ergebnisse eines Workshops vor.

 

25. August 17 Uhr: Das Kunstobjekt „Staatsgewalt“ wird an der Polizeiinspektion Ulmenstraße eingeweiht. Die Polizei lädt zu einem World Café. Rund 40 Teilnehmer, darunter Migranten und angehende Polizisten, sprechen über die Geschehnisse 1992.

 

26. August 14 Uhr: Das Kunstobjekt „Selbstjustiz“ wird nahe des Sonnenblumenhauses, Höhe Mecklenburger Allee 18, eingeweiht. Der Verein „Bunt statt braun“ lädt zu einem „Tag der Vielfalt“ mit Präsentationen zu Integration und Antidiskriminierung sowie ab 18 Uhr mit Musik.

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Das Pogrom von Rostock https://indyhro.blackblogs.org/2017/08/21/das-pogrom-von-rostock/ Mon, 21 Aug 2017 11:26:00 +0000 http://indyhro.blackblogs.org/?p=472 Continue reading Das Pogrom von Rostock]]> Vor 25 Jahren griffen Rechtsextreme in Rostock-Lichtenhagen unter dem Beifall ganz normaler Bürger tagelang Asylbewerber und Gastarbeiter an.
Wie konnte es dazu kommen? Und was denken die Menschen aus dem Sonnenblumenhaus heute?
Von Thorsten Fuchs

 

Dabei wollte Nguyen Dinh Khoi doch nur Obst verkaufen. Trauben, Apfelsinen, Bananen, die er vom Großmarkt in Hamburg holte. Morgens um vier stand er auf, stellte seinen Stand auf dem Platz am Glatten Aal auf, gleich gegenüber vom Rathaus, und breitete seine Früchte aus. Meist dauerte es dann nicht lange, bis die ersten Skinheads kamen. „Jede Woche ging das so“, erinnert er sich.

 

Stand aufbauen, Obst verkaufen, bedroht werden: So sah Herrn Khois Alltag aus, damals, im Frühjahr 1992 in Rostock, im Jahr des Po­groms von Lichtenhagen.

Nguyen Dinh Khoi ist heute 51 Jahre alt. Ein Vierteljahrhundert ist das alles nun her, und doch beginnt seine Stimme irgendwann zu stocken, als er von dieser Zeit erzählt. Vielleicht, weil er an die Frau denken muss, die ein paar Tage nach den Ausschreitungen von Lichtenhagen, nach der Jagd auf seine Landsleute, zu ihm an seinen Stand kam und sagte: „Wir sind nicht alle so. Ich schäme mich.“ Vielleicht aber auch, weil er an die Eisenstange denkt, die er sich in jenem Frühjahr in seinen Stand legte, als Waffe. „Irgendwann ging es nicht mehr ohne“, sagt Herr Khoi, wiederum fast entschuldigend.

 

Lichtenhagen, an einem sonnigen Tag Mitte August. Der elfstöckige Block an der Stadtautobahn ist inzwischen saniert, es gibt behindertengerechte Eingänge. Geblieben ist das Mosaik, das dem Block seinen Namen gab: das Sonnenblumenhaus. Auf der Wiese, von der aus die Angreifer Steine und Molotowcocktails auf das Wohnheim der vietnamesischen Vertragsarbeiter warfen, steht heute ein „Hammer“-Baumarkt. Im Erdgeschoss jenes Teils, in dem die Zentrale Anlaufstelle für Asylbewerber untergebracht war, sitzt heute ein Bestattungsunternehmen. Und vor diesem Haus steht nun, noch verhüllt von schwarzer Folie und geschützt von einem Bauzaun, eine Stele, die daran erinnern soll, wie hier vor 25 Jahren Neonazis und andere Chaoten unter dem Beifall ganz normaler Bürger tagelang Ausländer bedrohen, beleidigen, randalieren und brandstiften konnten.

 

Das Pogrom von Lichtenhagen war auch das traurige Ende einer Entwicklung. Lichtenhagen hatte eine Vorgeschichte, die auch woanders spielt. In ganz Rostock, bei der Landesregierung in Schwerin und auch in Bonn.

 

Zu dieser Vorgeschichte gehört, dass Anfang der Neunzigerjahre rechtsradikale Parteien gegen die „Flüchtlingsflut“ hetzen, dass die Union das Asylrecht einschränken will und dass vor der überfüllten Anlaufstelle in Lichtenhagen wochenlang vor allem Rumänen im Freien kampieren. „Die waren nun plötzlich die Sündenböcke“, sagt der damalige Rostocker Ausländerbeauftragte Wolfgang Richter.„Wir hatten damals nichts im Griff, gar nichts“, sagt heute der erste stellvertretende Bürgermeister von damals, Wolfgang Zöllick. Und zu dieser Vorgeschichte gehört natürlich auch Herr Khoi.

 

Nguyen Dinh Khoi betreibt heute ein Cateringunternehmen. Damals, 1992, ist er einer von 368 Vietnamesen in Rostock, die meisten sind ehemalige Vertragsarbeiter. Herr Khoi war vier Jahre zuvor in die DDR gekommen, als Schweißer zum Industrieverband Fahrzeugbau nach Karl-Marx-Stadt. Nach der Wende wird er, wie so viele, arbeitslos. Deutschland ist mit sich selbst beschäftigt – was aus den asiatischen Gästen der DDR werden soll, kümmert erst mal keinen.

 

Nguyen Dinh Khoi jedoch will nicht zurück nach Vietnam. Also zieht er zu einem Freund nach Rostock und sucht sein Glück. Stellt sich an die Straße und verkauft erst den Eben-noch-DDR-Kindern Spielzeug aus dem Westen, später Kleidung. Vor allem aber macht er eine ernüchternde Erfahrung. „Wer eben noch freundlich war, reagierte nun feindlich“, sagt er. „Es wurde auf einmal sehr, sehr kalt für uns.“ Die Menschen suchen einen Schuldigen für ihr eigenes Unglück. So werden aus den geschätzten Arbeitern des sozialistischen Bruderlandes die Fidschis.

 

Zur selben Zeit, als Herr Khoi jeden Tag seinen Stand auf dem Rostocker Markt aufbaut und die Eisenstange hinter sich deponiert, kommen plötzlich sehr viele neue Menschen in die Stadt. Auf Lastwagen, so schildern es die Berichte aus jener Zeit, bringen die Schlepper sie zur Zentralen Aufnahmestelle nach Lichtenhagen, zum Block mit der Sonnenblume. Die Unterkunft jedoch ist mit dem Andrang überfordert. Tagelang müssen die Neuankömmlinge auf der Wiese zwischen den Blöcken verharren. Toiletten gibt es nicht, Geld haben sie nicht. Also schlafen sie unter Balkons, gehen in die Büsche und bedienen sich in der Kaufhalle. Jeden Dienstag, wenn im Rathaus der Bürgermeister und die Senatoren tagen, prangert der Ausländerbeauftragte Wolfgang Richter die Zustände an. Doch was er zu hören bekommt ist: Das ist Sache des Landes. „Das war ein absolut hirnloses Hin und Her“, sagt Richter heute.

 

Richter, weißes Haar, weißer Vollbart, ist so etwas wie das Gesicht des Gedenkens an diese Krawalle. Er war in jenen Tagen selbst hier, im und vor dem Sonnenblumenhaus, und seit 25 Jahren erzählt er geduldig, was geschehen ist. Deshalb kennen sie ihn hier natürlich. Die Begegnung mit dem Bewohner des Sonnenblumenhauses verläuft angespannt. „So, das ist die Wahrheit“, sagt der Rentner, nachdem er von der Schuld der zugereisten Neonazis gesprochen hat. Und Richter widerspricht, bemerkenswert ruhig. Erklärt, dass das erst ab dem zweiten Abend stimmt. Dass es am Anfang die Einheimischen waren, die gebrüllt, geworfen, geklatscht haben. „Der erste Abend war ein reines Rostocker Ereignis“, sagt Richter bestimmt. Es gibt bis heute viele, die das nicht wahrhaben wollen.

 

Es gibt die Theorie, dass manchen Politikern die Bilder von campierenden Sinti und Roma im Rostocker Plattenbaugebiet ganz gut in die Agenda passten, um die Asylrechtsänderung ein bisschen dringlicher erscheinen zu lassen. Sie hätten Zustände bewusst eskalieren lassen, lautet der Vorwurf. Immerhin würde ein solch zynisches Kalkül zumindest die unfassbare Untätigkeit der Behörden erklären. Wer sich aber heute mit Wolfgang Zöllick unterhält, der kommt zu dem Schluss: Es war wohl einfach Unfähigkeit.

 

Die meisten Verantwortlichen von damals schweigen. Zöllick, heute 75 Jahre, redet. Als Sozialsenator war der CDU-Mann damals für die obdachlosen Flüchtlinge vor dem Sonnenblumenhaus letztlich mit zuständig. Weil der eigentliche Bürgermeister während der Ausschreitungen in Lichtenhagen Urlaub macht, ist er zu dieser Zeit höchster Vertreter der Stadt.

 

Zöllick sagt, das Land habe die Stadt damals immer wieder vertröstet. „Aber wir hätten aus heutiger Sicht natürlich auch selbst etwas tun müssen.“ Toiletten aufstellen, zumindest das. Warum das nicht geschehen ist, nicht mal das? Zöllick war Lehrer für Sport und Geografie. Unerfahren seien er und seine Kollegen gewesen. „Wir haben Fehler gemacht“, sagt er. Man darf es wohl auch als eine Art Wiedergutmachung verstehen, dass Wolfgang Zöllick redet. „Es muss daran erinnert werden“, sagt er, „damit so was nicht wieder passiert.“

 

Damals jedoch hält niemand die Verbrechen mehr auf. Zöllick, der zu der Zeit in Lichtenhagen wohnt, fährt jeden Abend zum Sonnenblumenhaus, versucht, auf die klatschende Menge einzureden. „Aber da war schon niemand mehr zugänglich“, sagt er. Wolfgang Richter wird am dritten Abend durch den rassistischen Mob und von den Flammen in dem Haus der vietnamesischen Arbeiter eingeschlossen. Er, 120 Vietnamesen und ein Team des ZDF können sich nur deshalb retten, weil es zwei der Vietnamesen gelingt, eine Tür zum Dach aufzuhebeln. „Für Angst“, sagt Richter, „blieb in dem Moment gar keine Zeit.“ Nguyen Dinh Khoi schließlich, der in der Rostocker Innenstadt wohnt, erfährt von den Krawallen erst, als ihn seine Eltern aus Vietnam anrufen, froh sind, dass er noch lebt.

 

Ob sich so etwas in Rostock wiederholen könnte? Da sagen alle drei sehr entschieden Nein. „Ich trage das Gute in meinem Herzen“, sagt Herr Khoi. Die Begegnungen mit Rostockern, die an seinen Obststand kamen und sagten, wie sehr sie sich schämten. Die alte Dame, die begann, ihm jeden Tag Brote an seinen Stand zu bringen. Rostock ist längst seine Heimat geworden. Es gibt den Verein, den die Vietnamesen als Reaktion gründeten, es gab 2015 die Unterstützung für die Flüchtlinge, die auf dem Weg nach Skandinavien in Rostock strandeten.

 

Auch die Eisenstange hat er Herr Khoi damals irgendwann weggelegt. Aber erst, nachdem er sich mit anderen Vietnamesen zusammengeschlossen und den Nazis gedroht hatte, sich gemeinsam gegen sie zu wehren.


 

Eine Chronologie der Krawalle

22. August 1992: Etwa 2000 Menschen versammeln sich am Abend vor dem Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen, in dem die Zentrale Anlaufstelle für Asylbewerber (ZAst) und ein Wohnheim für vietnamesische Arbeiter untergebracht sind. Ab 20 Uhr werfen rund 200 Jugendliche und Erwachsene unter dem Applaus von Anwohnern zertrümmerte Betonplatten auf beide Einrichtungen. Die zunächst nur 30 Polizisten sind hilflos. Erst nach 2 Uhr drängen zusätzliche Einheiten die Randalierer zurück.

 

23. August 1992: Rechtsex­tremisten aus der gesamten Bundesrepublik reisen nach Lichtenhagen. Bis zu 1000 Gewalttäter attackieren die Polizei mit Steinen und Molotowcocktails und dringen in das Sonnenblumenhaus ein. Erneut bestärken Anwohner und Schaulustige die Täter durch Applaus.

 

24. August 1992: Die ZAst wird geräumt. Erneut greifen Randalierer die Polizei an. Gegen 21.25 Uhr werden die Beamten aus bis heute nicht restlos geklärten Gründen zurückgezogen. Rund 120 Vietnamesen sind in ihrem Wohnheim dem Mob ausgeliefert. Gewalttäter setzen das Gebäude mit Molotowcocktails in Brand. Die Eingeschlossenen entkommen in Todesangst über das Dach. Erst gegen 23 Uhr machen Wasserwerfer der Feuerwehr den Weg frei.

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Krawalle von Rostock-Lichtenhagen „Wenn man von unten Schreie hört“ https://indyhro.blackblogs.org/2017/08/20/krawalle-von-rostock-lichtenhagen-wenn-man-von-unten-schreie-hort/ Sun, 20 Aug 2017 10:06:55 +0000 http://indyhro.blackblogs.org/?p=470 Continue reading Krawalle von Rostock-Lichtenhagen „Wenn man von unten Schreie hört“]]> Flammen lodern aus Flüchtlingswohnungen, Gaffer johlen und applaudieren den Neonazis – eine Schande für Deutschland. Vor 25 Jahren konnte ein rechter Mob in Rostock nahezu ungestört Ausländer attackieren.

 

Diese Angst hat er nicht vergessen. „Wenn über einem nur noch eine Spannbetondecke ist und man von unten Schreie hört, Feuerschein sieht und Qualm riecht, es nicht links und nicht rechts geht, dann verlierst du irgendwann den Mut.“

 

Jochen Schmidt stand am 24. August 1992 im sogenannten Sonnenblumenhaus an der Mecklenburger Allee in Rostock-Lichtenhagen, als Anwohner und Neonazis den Wohnblock in Brand steckten. Als Hospitant eines ZDF-Kamerateams hatte er ausländerfeindliche Krawalle begleitet und war mitten hineingeraten.

Mit rund 150 ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeitern, die in dem Haus wohnten, und mit Kollegen rettete Schmidt sich bis in den elften Stock, schließlich aufs Dach. „Und dann hat da oben eigentlich jeder still für sich mit dem Leben abgeschlossen, muss man einfach so sagen“, erinnert er sich.

 

Die Bilder des brennenden Sonnenblumenhauses gingen um die Welt und zeigten die hässlichste Seite des wiedervereinigten Deutschlands. Es waren die schwersten ausländerfeindlichen Krawalle in der Geschichte der Bundesrepublik.

 

Steine, Eisenkugeln, Brandsätze


Nach der Wiedervereinigung und im Zuge einer hitzigen Asyldebatte, durch die sich Rechtsradikale ermuntert fühlten, kam es Anfang der Neunzigerjahre zu einer Welle der Gewalt mit zahlreichen Angriffen auf einzelne Ausländer und auf Unterkünfte. So wurden in Hoyerswerda im September 1991 Wohnheime für Flüchtlinge und Vertragsarbeiter mit Molotow-Cocktails und Eisenkugeln attackiert.

 

Die Exzesse von Rostock-Lichtenhagen vor 25 Jahren waren ein weiterer schockierender Höhepunkt fremdenfeindlicher Gewalt. Im Sonnenblumenhaus befand sich 1992 Mecklenburg-Vorpommerns Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber. Asylsuchende mussten sich dort melden, bevor sie eine Unterkunft in diesem Bundesland zugewiesen bekamen.

 

Wochenlang schon war die Stelle überfüllt. Die Wartenden kampierten vor dem Haus – ohne Toiletten und ohne Verpflegung. Es kam zu Diebstählen in umliegenden Geschäften. Obwohl Anwohner auf die schlimmen Zustände hinwiesen, reagierten die Verantwortlichen nicht.

 

Ab dem 22. August eskalierte die Situation, der Auftakt zu fast einer ganzen Woche voller Ausschreitungen. Jugendliche und Anwohner versammelten sich, schleuderten Steine und Brandsätze auf das Haus und die Polizei. „In den Anfängen waren es die Einwohner vor Ort, die Jugendlichen, die komplett perspektivlos waren“, sagt Ralf Mucha, SPD-Landtagsabgeordneter und Vorsitzender des Ortsbeirates.

 

„Ein Prototyp für rechte Gewalt“


Später kamen Neonazis aus ganz Deutschland hinzu. Die Polizei – miserabel vorbereitet, schlecht ausgerüstet, von der Politik im Stich gelassen – bekam die Lage nicht in den Griff. Zwischen Untätigkeit, Zaudern und kopflosem Agieren überließ sie letztlich dem Mob das Feld und konnte auch nicht den Zugang der Feuerwehr zum Sonnenblumenhaus und den umliegenden Gebäuden sicherstellen; Rechtsradikale und Schaulustige versperrten den Feuerwehrleuten den Weg.

 

So konnten Tausende nahezu ungehindert gegen Ausländer pöbeln, Neonazis vor einer johlenden Meute Brandflaschen anzünden, Betrunkene den Arm zum Hitlergruß heben – Szenen, die um die Welt gingen. Es war ein Triumph für den rechten Mob. Und ein Schock für alle anderen.

 

Am 24. August entschieden die Behörden nach langem Zögern, die Aufnahmestelle zu räumen. Von da an richteten sich die Gewalt der Neonazis und die Beschimpfungen Tausender Gaffer gegen die im Nachbaraufgang lebenden Vietnamesen. Mehrere Wohnungen wurden angezündet.

 

Wolfgang Richter, damals Ausländerbeauftragter Rostocks, hielt sich mehrere Tage lang im Haus auf. Er erinnert sich an viele Gespräche mit Anwohnern, die auch gesagt hätten: „Aber die Vietnamesen meinen wir nicht! Mit denen leben wir seit zehn Jahren hier. Das hat ihnen aber nichts genützt. Weil diese fremdenfeindliche Gewalt, einmal ausgebrochen, keine Unterschiede gemacht hat.“

 

Ex-Hospitant Schmidt, heute Reporter beim „Hessischen Rundfunk“, sagt: „Rostock ist so etwas wie ein Prototyp für rechte Gewalt. Und dafür, wie leicht Agitatoren es schaffen, Massen zu bewegen.“

 

Verfehlungen in Stein


Die Wiese vor dem Haus, auf der sich die Szenen abspielten, gibt es heute nicht mehr. Seit vielen Jahren ist die Fläche südlich vor dem elfstöckigen Hochhaus bebaut – mit einem Dienstleistungszentrum, einem Heimwerkermarkt und einem Parkplatz. Sie ist zum Mittelpunkt des Stadtteils geworden. Dort gibt es Einkaufsmöglichkeiten, Imbisse und Arztpraxen.

 

„Ich wehre mich dagegen zu sagen, Lichtenhagen ist ein Brennpunktstadtteil. Das ist er nicht“, sagt SPD-Mann Mucha. Mit der Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge etwa gebe es keine Probleme, „die ist akzeptiert, sie wird unterstützt“.

 

In der Kurzchronik der Hansestadt sind die prägenden Ereignisse der Stadtgeschichte notiert. Die Vorgänge von 1992 jedoch werden nicht erwähnt, ebensowenig der Tod von Mehmet Turgut im Jahr 2004 – ein Mord, der dem „Nationalsozialistischen Untergrund“ zugeschrieben wird. „Es ist völlig unbegreiflich, wie 1992 und 2004 fehlen können in einer solchen Aufzählung“, sagt Wolfgang Richter, Rostocks früherer Ausländerbeauftragter.

 

Vom 21. August an sollen in einer Gedenkwoche in Rostock thematische Stelen eingeweiht werden: am Sonnenblumenhaus, am Rathaus, vor dem Redaktionsgebäude der „Ostsee-Zeitung“, der Polizeiinspektion und dem linken „Jugendalternativzentrum“. Die Kunstobjekte werden fortan an die Verfehlungen erinnern und auch an Zivilcourage.

 

Hannes Stepputat, dpa/jol

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