Faschismus – Kein Paradies https://keinparadies.blackblogs.org Politik und Kirche Fri, 02 Jul 2021 08:42:07 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.1 https://keinparadies.blackblogs.org/wp-content/uploads/sites/1645/2021/03/cropped-KP_1-1-32x32.jpg Faschismus – Kein Paradies https://keinparadies.blackblogs.org 32 32 Blind. Taub. Stumm. (Teil IV von IV) https://keinparadies.blackblogs.org/2021/07/02/blind-taub-stumm-teil-iv-von-iv/ Fri, 02 Jul 2021 08:42:07 +0000 http://keinparadies.blackblogs.org/?p=123 Continue reading "Blind. Taub. Stumm. (Teil IV von IV)"

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5 Wir kommen wieder keine Frage – Lehren für die Zukunft

Das Bekennervideo des NSU beginnt mit einer Erklärung:

„Der Nationalsozialistische Untergrund ist ein Netzwerk von Kameraden mit dem Grundsatz – Taten statt Worte – Solange sich keine grundlegenden Änderungen in der Politik, Presse und Meinungsfreiheit vollziehen werden die Aktivitäten weitergeführt.“

und endet mit der Drohung:

„Heute ist nicht alle Tage, wir kommen wieder keine Frage.“

Die Ersteller*innen dieses Videos erklären selbst, dass sie kein Trio sind, sondern Teil eines Netzwerkes. Die Annahmen, dass es sich bei Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt um das „NSU-Trio“ handelt, ist falsch. Unterstützer*innen, Befürworter*innen und Helfer*innen dieses Netzwerkes sind weiter Teil der Gesellschaft, sympathisieren mit Taten und Ideologien und können ungehindert weitere mögliche Taten planen und begehen. Das Problem des rechtsextremistischen Terrorismus ist also nicht behoben, nicht alle Beteiligten sind aufgespürt und die Ideologie besteht weiter. „Dieser gesellschaftliche Schoß, aus dem der Rechtsterrorismus kroch, ist noch fruchtbar.“ (Quent 2018, S.158)

Es ist der Umgang mit diesem Wissen, der Umgang mit den Lehren aus der Geschichte, der für die Zivilgesellschaft und die Politik Handlungsmaxime sein muss. Wie kann sich eine Gesellschaft schützen und wehren, um die Unversehrtheit aller Menschen zu garantieren?

Es braucht eine Gesellschaft der Menschenwürde, die solidarisch für diejenigen eintritt, die benachteiligt, bedroht und verfolgt werden. Eine Gesellschaft, die sich souverän und geschlossen einbringt, Themen besetzt und politische Alternativen, „eine Gegenstruktur“ (Deutscher Bundestag 2012, S.54) anbietet. Antifaschismus darf nicht als Kampfbegriff und Gleichsetzung mit Linksextremismus verstanden werden, sondern muss als Grundmaxime des Handelns der Gesellschaft dienen. Nur durch konsequenten, gelebten Antifaschismus kann rechtsextremistischen Tendenzen in der Gesellschaft konsequent und selbstbewusst begegnet werden. Die Sachverständige Röpke sagte im 2. Untersuchungsausschuss des Bundestages: „Wir haben auch die Erfahrung gemacht, dass sich die Neonazis dort zurückziehen, wo ein Milieu herrscht, in dem sie sich nicht wohlfühlen und in dem sie nicht dominieren können.“ (ebd., S.55) Die Leitlinie des „Wehret den Anfängen!“ darf nicht länger historische Floskel, aber ernstgemeinter Handlungsaufruf sein.

Aus dem Bewusstsein dafür, dass der Rechtsextremismus „ein gesellschaftliches Phänomen ist, ist es eine Daueraufgabe, mit der wir uns beschäftigen müssen, unabhängig davon, ob wir grandiose Wirkungen oder teilweise auch nur kleine Wirkungen erzielen. Selbst ein Projekt, das nur eindämmt und den Status quo beibehält, kann sinnvoll sein“ (ebd., S.54).

Es braucht eine Politik der Demokratieverteidigung, die sich aktiv für ihre freiheitlichen Grundwerte einsetzt. Es wurden und werden jährlich rund 20 Millionen Euro für die Bekämpfung des Rechtsextremismus aufgewendet. Dieses Geld gilt es sinnvoll und zielgerichtet einzusetzen. Präventionsmaßnahmen sind hierbei essenzieller Teil, genauso wie die Verfolgung durch die Strafbehörden. Eine weitere politische Maßnahme ist das Aussteigerprogramm „EXIT-Deutschland“, das einen sicheren Ausstieg aus der rechtsextremen Szene bietet. Es darf nicht wieder vorkommen, dass „die Gefahren des Rechtsextremismus […] in Deutschland jahrelang auf allen Ebenen verkannt und verharmlost wurde“ (Deutscher Bundestag 2013, S.873). Daraus leitet sich die Forderung der LINKEN ab, „Die Treppe muss von oben gekehrt werden.“ (ebd., S.1041). Es muss Verantwortung übernommen werden für Fehler und die Bereitschaft für Veränderungen muss entstehen, damit sich diese nicht wiederholen.

In der Zukunft muss als „Sicherheit die Sicherung der Freiheit“ (ebd., S.1040) aller Menschen verstanden und sich dessen verschrieben werden.

Es braucht eine Wissenschaft des kritischen Forschens. Sie muss „Gruppenprozesse und Reaktionen innerhalb der Bewegung auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse und staatliche Handlungen aufmerksam und gründlich“ (Quent 2019, S.326) analysieren und erforschen. Einen Teil hierfür bieten die „Mitte-Studien“ der Universität Leipzig oder auch die zwischen 2002 und 2010 veröffentlichen Bände der „Deutschen Zustände“. Durch die Analyse der Einstellungen in der Gesellschaft, kann es gelingen, Tendenzen in der Bevölkerung zu erkennen und auf diese zu reagieren. Des Weiteren muss der Wissenschaft „zur Aufhellung des Dunkelfeldes rechtsextremistischer und rassistischer Straftaten ein Forschungsauftrag vergeben“ (Deutscher Bundestag 2013, S.898) werden. Nur so können „aus den identifizierten Mechanismen Lehren […] für die Präventions- und Deradikalisierungsarbeit“ gezogen werden.

Es ist sehr unwahrscheinlich, dass sich ein identischer Fall wiederholen wird, jedoch sind ähnliche Fälle nicht neu, sondern bereits heute Alltag. Halle. Hanau. Kassel. Drei Orte und drei Taten, die uns heute an die Taten von gestern erinnern, um daraus für morgen zu lernen.

6 Fazit

Zur Urteilsverkündung am 21. Dezember 2020 im Halle-Prozess schrieb Jan Sternberg für das Redaktionsnetzwerk Deutschland einen Artikel mit der Überschrift: „Einer ist schuldig – wir alle sind verantwortlich“ (Sternberg 2020).

Diese Zeilen sind aktueller denn je und lassen sich wie eine Blaupause auf die Thematik des NSU-Komplexes und die Verurteilung Beate Zschäpes legen.

Die These, dass die deutsche Gesellschaft faktisch mitgemordet habe, ist in ihrer Härte unbegründet, jedoch hat sich gezeigt, dass eine Bezeichnung der deutschen Nachwendegesellschaft als „klatschende Terrorhelfer“ überspitzt zutreffender ist. Es war der Hitlergruß der 90er Jahre, der den Rassismus bei Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt geweckt, gefördert hat.

Erst durch das gesellschaftliche Klima der 1990er Jahre konnte sich der spätere NSU bilden. Die rassistische Gesellschaft als Sozialisationsinstanz der damaligen Jugendlichen Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe trägt eine Mitverantwortung an der Radikalisierung der späteren Täter*innen. Es lässt sich sagen, dass sie, die Gesellschaft, die Entwicklung von einer Jugendclique zu einer terroristischen Vereinigung erst ermöglicht hat. Jedoch darf nicht der Schluss erfolgen, dass die Täter*innen unschuldig oder schuldunfähig auf Grund ihrer Prägungen seien, die sie erst zu diesen Menschen gemacht haben. Der Umgang mit Erlebnissen oblag immer den einzelnen Individuen. Der Gang in den Untergrund, jeder einzelne Anschlag, Überfall und Mord an Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter war eine bewusste Entscheidung, die von Rassismus und rechtsextremistischer Ideologie geprägt war.

Es ist gelungen, durch die Analyse der gesellschaftlichen und individuellen sozialisatorischen Gesichtspunkte die Genese des NSU soziologisch zu untersuchen und zu zeigen, dass eine Gesellschaft rechtsextremistischen Terrorismus hervorbringen kann, wenn sie selbst auf dem Boden eines freiheitlich demokratischen Staates steht, dessen Werte jedoch nicht lebt und teilt.

Die Frage nach Schuld, Unschuld und Mitverantwortung ist eine juristische Aufgabe. Nur Gerichten steht es zu, jemanden schuldig oder frei zu sprechen. Es ist Ziel dieser Arbeit, den individuellen Reflexionsprozess zu befördern, das eigene vergangene und momentane Handeln kritisch zu betrachten, um selbst bestimmen zu können, ob das eigene Handeln richtig war und ist. Das Volk muss sich seiner Rolle bewusst sein, damit in ‚Volkes Namen‘ ein Urteil gefällt werden kann.

Die Urteilsverkündung in München darf keineswegs als Schlussstrich, sondern muss als Startlinie betrachtet werden. Als Ausgangspunkt für zivilgesellschaftliche, politische und wissenschaftliche Aktivitäten, Engagements und Forschungen. Nur wenn kontinuierlich die Entwicklungen der Vergangenheit und Gegenwart kritisch betrachtet werden, kann für die Zukunft aus Fehlern gelernt werden. Der Rechtsextremismus war nie weg, ist immer da und wird immer eine Bedrohung für die vielfältige, demokratische und freiheitliche Gesellschaft darstellen.

Heute gilt wie eh und je: Kein Vergeben! Kein Vergessen!

7 Literatur

Bergmann, Jörg; Leggewie, Claus (2010): Die Täter sind unter uns. Beobachtungen aus der Mitte Deutschlands. In: Christoph Bieber, Benjamin Drechsel und Anne-Katrin Lang (Hg.): Kultur im Konflikt. Claus Leggewie revisited. Bielefeld: transcript Verlag, S. 301–328.

Bolz, Hendrik (2019): Sieg-Heil-Rufe wiegten mich in den Schlaf. Jugend im Osten. der Freitag. Die Wochenzeitung. Online verfügbar unter https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/sieg-heil-rufe-wiegten-mich-in-den-schlaf, zuletzt geprüft am 11.11.2020.

Botsch, Gideon (2019): Was ist Rechtsterrorismus? In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Aus Politik und Zeitgeschichte. Rechtsterrorismus, S. 9–14.

Bundeszentrale für politische Bildung (2013): Vor zwanzig Jahren: Einschränkung des Asylrechts 1993. Online verfügbar unter https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/160780/asylkompromiss-24-05-2013, zuletzt geprüft am 22.11.2020.

Deutscher Bundestag (1992): Plenarprotokoll 12/110.

Deutscher Bundestag (2012): Stenografisches Protokoll der 8. Sitzung des 2. Untersuchungsausschusses. Protokoll.

Deutscher Bundestag (2013): Drucksache 17/14600. Beschlussempfehlung und Bericht des 2. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes.

Förster, Peter; Müller, Harry; Friedrich, Walter; Schubarth, Wilfried (1993): Jugend Ost. Zwischen Hoffnung und Gewalt. Opladen: Leske + Budrich.

Heitmeyer, Wilhelm (1992): Jugend, Staat und Gewalt in der politischen Risikogesellschaft. In: Wilhelm Heitmeyer, Kurt Möller und Heinz Sünker (Hg.): Jugend – Staat – Gewalt. Politische Sozialisation von Jugendlichen, Jugendpolitik und politische Bildung. 2. Aufl. München: Juventa-Verl., S. 11–46.

Heitmeyer, Wilhelm (1992): Rechtsextremisitisch motivierte Gewalt und Eskalation. In: Wilhelm Heitmeyer, Kurt Möller und Heinz Sünker (Hg.): Jugend – Staat – Gewalt. Politische Sozialisation von Jugendlichen, Jugendpolitik und politische Bildung. 2. Aufl. München: Juventa-Verl., S. 205–2018.

Heitmeyer, Wilhelm (2020): Autoritäre Versuchungen. 4. Auflage. Berlin: Suhrkamp.

Heitmeyer, Wilhelm; Freiheit, Manuela; Sitzer, Peter (2020): Rechte Bedrohungsallianzen. 1. Originalausgabe. Berlin: Suhrkamp (Signaturen der Bedrohung).

Heitmeyer, Wilhelm; Möller, Kurt; Sünker, Heinz (Hg.) (1992): Jugend – Staat – Gewalt. Politische Sozialisation von Jugendlichen, Jugendpolitik und politische Bildung. 2. Aufl. München: Juventa-Verl.

Hurrelmann, Klaus; Quenzel, Gudrun (2013): Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung. 12., korrigierte Auflage. Weinheim: Beltz Juventa.

Kahveci, Çagri; Pinar Sarp, Özge (2017): Von Solingen zum NSU. Rassistische Gewalt im kollektiven Gedächtnis von Migrant*innen türkischer Herkunft. In: Juliane Karakayali, Çagri Kahveci, Carl Melchers und Doris Liebscher (Hg.): Den NSU-Komplex analysieren. Aktuelle Perspektiven aus der Wissenschaft. Bielefeld: transcript Verlag, S. 37–56.

Landtag Mecklenburg-Vorpommern (1993): Drucksache 1/3277. Beschlussempfehlung und Zwischenbericht des 2. Untersuchungsausschusses nach Artikel 34 der vorläufigen Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern und dem vorläufigen Untersuchungsausschußgesetz.

Möller, Kurt; Schuhmacher, Nils (2007): Ein- und Ausstiegsprozesse rechtsextremer Skinheads. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Aus Politik und Zeitgeschichte. Fremdenfeindlichkeit und Gewalt. Bonn, S. 17–23.

Oberlandesgericht München, Urteil vom 11.07.2018, Aktenzeichen 6 St 3/12.

Ohlemacher, Thomas (1994): Public Opinion and Violence Against Foreigners in the Reunified Germany. In: Zeitschrift für Soziologie 23 (3), S. 222–236.

Pfahl-Traughber, Armin (2018): Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. In: Eckhard Jesse und Tom Mannewitz (Hg.): Extremismusforschung. Handbuch für Wissenschaft und Praxis. 1. Aufl. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, S. 303–338.

Quent, Matthias (2018): Rassismus als Fluchtpunkt der Dissonanzgesellschaft. Überlegungen zu den Entstehungshintergründen des NSU. In: Mechthild Gomolla, Ellen Kollender und Marlene Menk (Hg.): Rassismus und Rechtsextremismus in Deutschland. Figurationen und Interventionen in Gesellschaft und staatlichen Institutionen. 1. Aufl. Weinheim: Beltz Juventa, S. 143–160.

Quent, Matthias (2019): Rassismus, Radikalisierung, Rechtsterrorismus. Wie der NSU entstand und was er über die Gesellschaft verrät. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Weinheim: Beltz Juventa.

Ramelsberger, Annette; Ramm, Wiebke; Schultz, Tanjev; Stadler, Rainer (2018): Der NSU-Prozess. Das Protokoll. München: Verlag Antje Kunstmann.

Ramelsberger, Annette; Ramm, Wiebke; Schultz, Tanjev; Stadler, Rainer (2018): Der NSU-Prozess. Das Protokoll. Materialien. München: Verlag Antje Kunstmann.

Rieker, Peter (2007): Fremdenfeindlichkeit und Bedingungen der Sozialisation. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Aus Politik und Zeitgeschichte. Fremdenfeindlichkeit und Gewalt. Bonn, S. 31–38.

Sitzer, Peter; Heitmeyer, Wilhelm (2007): Rechtsextremistische Gewalt von Jugendlichen. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Aus Politik und Zeitgeschichte. Fremdenfeindlichkeit und Gewalt. Bonn, S. 3–10.

Speit, Andreas (2013): Der Terror von rechts – 1991 bis 1996. In: Andrea Röpke und Andreas Speit (Hg.): Blut und Ehre. Geschichte und Gegenwart rechter Gewalt in Deutschland. 1. Auflage. Berlin: Ch. Links Verlag, S. 94–121.

Sternberg, Jan (2020): Urteil im Halle-Prozess: Einer ist schuldig – wir alle sind verantwortlich. Hg. v. Redaktionsnetzwerk Deutschland. Online verfügbar unter https://www.rnd.de/politik/urteil-im-halle-prozess-einer-ist-schuldig-wir-alle-sind-verantwortlich-html, zuletzt geprüft am 27.12.2020.

Thüringer Landtag (2014): Drucksache 5/8080. Bericht des Untersuchungsausschusses 5/1 „Rechtsterrorismus und Behördenhandeln“.

Tribunal „NSU-Komplex auflösen“ (2017): Wir klagen an! Köln: Lückenlos e.V.

Wetzel, Wolf (2015): Der NSU-VS-KOMPLEX. Wo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund – wo hört der Staat auf? 3. aktualisierte und erweiterte Auflage. Münster: UNRAST-Verlag.

Winkelmann, Thorsten; Ruch, Hermann (2018): Extremismus in Deutschland. Rechtsextremismus. In: Tom Mannewitz, Hermann Ruch, Tom Thieme und Thorsten Winkelmann (Hg.): Was ist politischer Extremismus? Grundlagen – Erscheinungsformen – Interventionsansätze. Berlin: Wochenschau Verlag, S. 47–80.

8 Anhang

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Blind. Taub. Stumm. (Teil III von IV) https://keinparadies.blackblogs.org/2021/06/04/blind-taub-stumm-teil-iii-von-iv/ Fri, 04 Jun 2021 11:21:55 +0000 http://keinparadies.blackblogs.org/?p=118 Continue reading "Blind. Taub. Stumm. (Teil III von IV)"

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3.2 Dunkles Abendland – das gesellschaftliche Klima der 1990er Jahre

Es sind Monate und Jahre der Unsicherheit, die die späten 80er und frühen 90er Jahre stark prägten, in denen die „Angst vor dem Abstieg nicht zur Solidarität mit anderen [führte], sondern sich in Abgrenzung und verschärften Konkurrenzverhalten“ (Heitmeyer 2020, S.133) zeigte. Monate und Jahre, in denen sich Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe radikalisierten. Alle drei befanden sich in ihrer Jugend, einer Phase, die „von der unselbstständigen Kindheit in das selbstständige Erwachsenenalter führt“ (Hurrelmann und Quenzel 2013, S.40) und starke persönliche Herausforderungen beinhaltet. Einen großen Einfluss haben hierbei die umgebenden gesellschaftlichen Bedingungen und Kontakte, die das Zuwenden zu jugendlichen Subkulturen fördern. Es gilt folglich die gesellschaftlichen Zustände der 90er Jahre zu beschreiben, um den Einfluss auf die Sozialisation, Entwicklung und Radikalisierung der späteren Täter*innen zu untersuchen. 

Förster et al. (1993) sprechen von einer „Jugend Ost. Zwischen Hoffnung und Gewalt“, zur Beschreibung der ostdeutschen Nachwendezeit. Sie sprechen folglich von einem bestehenden multifaktoriellen Spannungsfeld, dass näher betrachtet werden muss. Hierbei liegt der Fokus besonders auf den Auswirkungen für junge Menschen.

Das Politbarometer erfasst seit 1977 unter anderem die politische Stimmung in Deutschland. Die Umfrageergebnisse können als repräsentativ angesehen werden. Analysiert man die Ergebnisse aus den Jahren 1991 und 1992 auf die Frage, ob die bestehenden Gesetze durch die Asylbewerber*innen ausgenutzt werden oder nicht, wird deutlich, dass ein Großteil der Befragten überzeugt ist, dass das deutsche Recht missbraucht werde. (vgl. Abbildung 2)

An dieser Befragung sind die wellenförmigen Bewegungen ebenfalls wieder zu erkennen. Kurze Zeit nach den Ausschreitungen in Hoyerswerda erreichte die Zustimmung im Osten Deutschlands fast 80%, diese sank jedoch im weiteren Verlauf des Jahres leicht ab. In Folge von Rostock-Lichtenhagen stiegen die Zahlen bis auf 85% an, fielen aber nach dem Anschlag in Mölln um 2,5%. Der Brandanschlag in Mölln ist erneut als außergewöhnlich zu betonen, der den bisherigen Trend gebrochen hat. (vgl. POLITBAROMETER 1991/1992 zitiert nach Ohlemacher 1994, S. 230)

Jedoch muss bei der Betrachtung der Zahlen bedacht werden, dass nicht jede*r, der/die der Frage zustimmte, automatisch als rechtsextrem in Erscheinung tritt. Den Zusammenhang zwischen der hohen Zustimmung und den Angriffen durch Rechtsextreme bezeichnet Ohlemacher als eine „very loose connection“ (Ohlemacher 1994, S.231). Dennoch besteht eine mögliche Korrelation zwischen dem Mobilisierungspotential innerhalb der Bevölkerung und den ausgeführten Gewalttaten. Jedoch ist unbestritten, dass sich aus „dem Normalitätszuwachs in der Bevölkerung eine besondere Legitimation für einen nationalen Auftrag [ableitet], der in ihren Augen durch die institutionelle Gewalt des Staates nicht ausreichend gewährleistet ist“ (Heitmeyer 1992, S.210). Es ist die typische „Huhn-oder-Ei-Frage“, die nur schwer kausal zu belegen ist. Die Frage des Auslösers und des Effektes ist nicht zu beantworten.

Die Ursachfaktoren, die zu der Fremdenfeindlichkeit führten, sind jedoch erforscht und benannt.

Als Resultat der Wiedervereinigung ist eine Orientierungslosigkeit in Ostdeutschland festzustellen. Zum einen fielen bestehende Wertesysteme weg und die „jahrzehntelang gültige, auf unversöhnliche Gegnerschaft“ (Förster et al. 1993, S.16) ausgerichtete Weltordnung zerfiel. Zum anderen wurden die Versprechen der „blühenden Landschaften“ nicht eingehalten und die erarbeiteten Lebensleistungen der ehemaligen DDR-Bürger*innen nicht gewürdigt und anerkannt. Fehlende Anerkennung und das Ausbleiben der sozialen Integration und Sicherheit führten dazu, dass „die Geborgenheit der nationalen Volksgemeinschaft als Inbegriff einer hemmungslos rassistischen Staatsordnung und die Rückkehr zu vermeintlich besseren, sichereren und stabileren Verhältnissen“ (Quent 2018, S.145) als attraktive Alternative erschien. Eine negative Zukunftsaussicht ist also festzustellen. Heitmeyer stellte bereits 1992 fest, dass sich „für einen großen Teil der jüngeren Gesellschaft […] pessimistische Zukunftsaussichten mit einer Distanz zu Staat und politischen Großinstitutionen“ (Heitmeyer 1992, S.18) verbindet.

Förster et al. beschreiben den Untergang des SED-Regimes als „kalte Dusche, […] für viele ein Sturz in eine fremdartige, fürs erste unüberschaubare Lebenswelt“ (Förster et al. 1993, S.21f.).  Faktoren der drohenden oder bereits bestehenden Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, soziale Gegensätze, Deklassierung gegenüber westdeutschen Bürgern, der Rückgang der Solidarität, neue Ängste vor Gewalt und Ängste vor Überforderung in der neuen kapitalistischen Gesellschaft führten dazu, dass die neuen Möglichkeiten und Chancen nach der Wende nicht genutzt wurden, da die „Relativität und Austauschbarkeit offiziell-politischer Normen“ (Quent 2019, S.89) verdeutlicht wurde. (vgl. Abbildung 3)

Diese Zunahme „des sozialen Drucks führt zu einem weiteren Ansteigen des Angstniveaus und damit zur Festschreibung der Ausgangssituation“ (Heitmeyer 2020, S.133).

Heitmeyer (1992) sieht eine Risikogesellschaft nach Beck gegeben, die „soziale Risikolagen für Jugendliche und ökologische Risikolagen in der gesamten Gesellschaft umformen können in eine politische Risikogesellschaft, aus der heraus gewaltförmige Auseinandersetzungen erwachsen“ (Heitmeyer 1992, S.13). Quent (2018) geht jedoch von einer Dissonanzgesellschaft aus, in der die Menschen bestrebt sind, Dissonanzempfindungen zu reduzieren oder direkt bestmöglich zu beseitigen. Er sieht ein Spannungsfeld zwischen Anspruch und Wirklichkeit der alltäglichen Erfahrungen, die „für die aufgeklärte Bürgerschaft permanente Dissonanzerfahrungen“ (Quent 2018, S.82) bedeuten.

An beiden Ansätzen der Gesellschaftsbeschreibung wird ein negatives und pessimistisches Bild gezeichnet. Eine Gesellschaft, die herausfordert und verunsichern kann.

Umso herausfordernder ist es für Jugendliche, in diesen Zeiten der „Distanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit der neuen demokratischen Ordnung in Ostdeutschland […] begünstigt durch die fehlende Kohärenz offizieller Deutungen der Autoritäten“ (Quent 2019, S.89) und der „Gefährdung oder gar Zerstörung berechenbar erscheinender eigener zukünftiger Lebenspläne“ (Heitmeyer 1992, S.16) eine eigenständige Identität zu entwickeln. Aus der Selbstverwirklichung wurde eine Selbstbehauptung, die zur Folge hatte, dass es zu einem „tatsächlichen wie gedanklichen Verlust der Kontrolle über den eigenen sozial- und berufsbiographischen Verlauf“ (Heitmeyer 1992, S.18) kam. Deutlich wird dieser in einer Untersuchung Heitmeyers 1988, die feststellte, dass sich 77,5% der Befragten der Aussage:

„In diesen Zeiten ist alles so unsicher geworden, daß man auf alles gefaßt sein muß.“ (Heitmeyer 1988 zitiert nach: Heitmeyer 1992, S.18)

zustimmten.

Der Schluss, dass Ängste, Unzufriedenheit und Arbeitslosigkeit als Ursachen für Fremdenfeindlichkeit und rechtsextreme Entwicklungen verantwortlich sind, ist falsch. Vielmehr sind es persönliche Haltungen und Positionen, die stark die politische Orientierung prägen und beeinflussen. So sind beispielsweise Linke ebenso von Arbeitslosigkeit bedroht, sehen dabei aber keine Schuld bei Ausländern und verknüpfen diese nicht mit ihrer negativen Situation. 

Es braucht folglich einen Blick auf die Entstehung von rechter Gewalt und rechten politischen Positionen, um ein genaueres Verständnis zu erlangen und den Entstehungsprozess des NSU weiter verstehen zu können. 

Ausgangspunkt für die Radikalisierung und Meinungsbildung ist die Annahme, dass „Einheimische das Gefühl haben, dass ihre Macht und Privilegien […] in Gefahr sein könnten“ (Quent 2018, S.155) und, „diese [fremde Gruppe der Ausländer, d. Verf.] wird als Bedrohung konstruiert, gegen die es sich zu verteidigen gelte“ (ebd., S.152).

Gesellschaftliche, ökonomische und soziale Faktoren besitzen somit einen großen Einfluss auf das Denken und Handeln, ebenso auf die Gefühle der Verunsicherung und Angst, die als Hauptursache für Gewalt betrachtet werden. Ohnmachtsgefühle gehen mit der Angst einher. Diese Wahrnehmung zu betäuben, verleitet zur Gewalt, die als subjektiv sinnhaft angesehen wird, denn

  • „sie schafft Eindeutigkeit in unklaren und unübersichtlichen Situationen;
  • sie ist eine zumindest augenblicklich wirkende (Selbst)-Demonstration der Überwindung von Ohnmacht;
  • sie garantiert Fremdwahrnehmung […];
  • sie schafft zumindest kurzfristige partielle Solidarität bzw. erweist sie sich als klar erkennbarer Prüfstein für Solidarität;
  • sie erweist sich […] als erfolgreiches Handlungsmodell;
  • sie verspricht Rückgewinnung von körperlicher Sinnlichkeit […].“ (Heitmeyer 1992, S.26)

 Dass subjektiv sinnhafte Gewalt als Mittel eingesetzt wurde, um der eigenen Ohnmacht zu entkommen, eigene Privilegien zu schützen und andere Menschen, die als minderwertig betrachtet werden, abzuwerten wird deutlich, betrachtet man die Entwicklung von rechtsextremistischen Straf- und Gewalttaten. Ein starker Anstieg „des kleinteiligen Massenterrors in der wiedervereinigten Republik“ (Bergmann und Leggewie 2010, S.304) in den 90er Jahren ist klar erkennbar. (vgl. Abbildungen 4 und 5)

Dies geschah aus der „Überzeugung, […] der ‚höherwertigen‘ Gruppe nicht nur Vorrechte und Privilegien innezuhaben, sondern geradezu in der Pflicht zu stehen, die als ‚natürlich‘ minderwertig Betrachteten zu marginalisieren, zu vertreiben oder umzubringen, um nicht die vermeintliche Höherwertigkeit der Eigengruppe durch ‚Vermischung‘ zu gefährden“ (Quent 2018, S.152).

Oft sind es jedoch keine bis ins kleinste Detail ausgearbeiteten Pläne im Zuge einer rational-choice-Tat, noch spontane ad-hoc-Entscheidungen. Es scheint einen Mittelweg geben zu müssen. Bergmann und Leggewie beschreiben diesen als Konflikt „zwischen Vorsatz und Okkasion“ (Bergmann und Leggewie 2010, S.308), der jedoch erst dadurch entstehen kann, dass sich die Täter*innen „in einen Zustand versetzen, aus dem sich Idee und Ausführung der Tat wie von selbst ergaben und der sie zur extremen Tat befähigte.“ (ebd., S.310) Diese Annahme sieht auch der 2. Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages und zitiert das Bundesamt für Verfassungsschutz von 1995, das davon ausgeht, dass „auf Dauer angelegte strukturierte Gruppen, die zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele schwere Straftaten wie Brand- und Sprengstoffanschläge oder Tötungsdelikte begehen“ (Deutscher Bundestag 2013, S.224) nicht existieren.

Um es mit „Waving the Guns“ in ihrem Song „Endlich wird wieder getreten“ zusammenzufassen, lässt sich sagen, dass „Flüchtlinge das falsche Ziel berechtigter Wut sind“, denn „subjektive ökonomische und soziale Benachteiligungsgefühle können die Anfälligkeit gegenüber rechtsextremen sowie gruppenbezogenen menschenfeindlichen Einstellungen“ (Quent 2018, S.153) steigern, und Menschen nach Nützlichkeit, Effizienz und Verwertbarkeit einordnen und bewerten. Die Wut und Gewalt wirken als „‘produktive‘ Verarbeitung individueller Anerkennungsdefizite“ (Sitzer und Heitmeyer 2007, S.9).

Gerade im Jugendalter sind rechtsextremistische Entwicklungen stark zu beobachten. Ein Großteil der Jugendlichen besitzt ein nationalistisches Weltbild, was von patriotischen bis zum gefestigten nationalsozialistischen Meinungsspektrum reicht. (vgl. Abbildung 6)

In der Lebensphase der Jugend ist der Protest und die Möglichkeit zur Provokation ein fast alltäglicher Begleiter, der die „gesellschaftlichen Normen und Rollenvorschriften, über die in einer Kultur eine breite Übereinstimmung besteht“ (Hurrelmann und Quenzel 2013, S. 28) herausfordern möchte. Es kann somit als „Protest gegen die alten und neuen ‚Herren im Haus‘“ (Quent 2018, S.151) verstanden werden, als ein Widerspruch gegen die „offiziellen Versprechungen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ (ebd.).

Es ist Quent zuzustimmen, wenn er schlussfolgert:

„Aus der Orientierungslosigkeit in Ostdeutschland in Folge der Vereinigung suchten unterschiedliche und miteinander konkurrierende Akteur_innen einen Ausweg. Insbesondere viele Jugendliche schlossen sich der rechtsextremen Bewegung an, die im Zusammenhang mit der Migrationsdebatte […] auf dem Vormarsch war und klare Freund-Feind-Deutungen anbot. Es kam vielerorts zu progromartigen Ausschreitungen, zu Anschlägen, zu Konfrontationsgewalt mit Linken und der Polizei. Aus diesem Bodensatz entstand der NSU.“ (ebd., S.145)

Das Grundgesetz schrieb den Schutz vor Diskriminierung vor, die Verfassungsnorm ist klar antifaschistisch und antirassistisch. Die Demokratie besteht aus der „Unantastbarkeit der Überzeugung, dass Minderheiten eigene Rechtsansprüche haben, über die Mehrheiten nicht verfügen können.“ (Deutscher Bundestag 2013, S.IV) Die Verfassungswirklichkeit und die gesellschaftliche Akzeptanz stehen diesem entgegen und erzeugen eine Diskrepanz. (vgl. Heitmeyer 1992, S.19)

Konrad Weiß (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sprach am 08. Oktober 1992 im Deutschen Bundestag und sagte:

„Ich schäme mich. Ich schäme mich, Deutscher zu sein. Ich schäme mich, in einem Land zu leben, das eine Mauer der Gewalt, der Gefühllosigkeit, der Selbstsucht um sich baut. Ich schäme mich, in einem Land zu leben, in dem Menschen Beifall klatschen, wenn Menschen angegriffen, verletzt, vertrieben werden. Ich schäme mich, Mitbürger von Feiglingen zu sein, die Frauen und Kinder schlagen und drangsalieren, die Jagd auf jene Menschen machen, die bei uns Zuflucht und Hilfe suchen oder anders sind. […] Es gibt keine Entschuldigung für das, was heute in Deutschland geschieht und was wir heute in Deutschland dulden. Weder der mühsame Prozess der Wiedervereinigung noch unsere schmerzliche Ernüchterung, weder Arbeitslosigkeit noch soziale Nöte rechtfertigen die aktive und passive Fremdenfeindlichkeit. Weder die unbewältigte Vergangenheit noch die Deformierung aus 60 Jahren Diktatur dürfen als Entschuldigung dafür dienen, daß Menschen wie Tiere über Menschen herfallen.“ (Deutscher Bundestag 1992, S.9404)

Man kann sagen, dass die Entstehung des NSU durch die gesellschaftliche Stimmung und „ein Klima der Straffreiheit“ (Tribunal „NSU-Komplex auflösen“ 2017) in den 90er Jahren gefördert und befeuert wurde. Es herrschte ein breiter Konsens, der Rassismus legitimierte, Taten und Täter motivierte und das Gefühl des „backing of popular opinion“ (Ohlemacher 1994, S.233) zu besitzen und dies als „legitimation of their choice of violent means“ (ebd.) zu nutzen. Sei es durch das Werfen von Steinen und Brandsätzen oder dem johlenden und jubelnden Applaus der Zuschauer, Unterstützer, Legitimierer.

4 Von der Winzerclique zur Terrorzelle – Sozialisation als Handlungsvoraussetzung

Die Gesellschaft als Lebensort zu betrachten ist nicht ausreichend. Es braucht den Bezug auf das Individuum und dessen einzigartige Sozialisation, den „Prozess der Aneignung von und Auseinandersetzung mit den sozialen und dinglich-materiellen Lebensbedingungen in einem spezifischen historisch-gesellschaftlichen Kontext, in dessen Verlauf sich der Mensch zu einer sozial handlungsfähigen Persönlichkeit bildet“ (Sitzer und Heitmeyer 2007, S.6).

Der Frage, wie es zu Taten kam, wird nun im direkten System der Täter*innen nachgegangen. Hierfür benötigt es eines theoretischen Einstieges, an der die Sozialisation der Täter des NSU betrachtet wird. Welche Faktoren lagen auf dieser Ebene vor, die den NSU beförderten und entstehen ließen?

Sowohl Rieker (2007) als auch Möller und Schuhmacher (2007) nennen verschiedene Sozialisationsbereiche, die von besonderer Bedeutung sind. (vgl. Abbildung 7) Beide Ansätze sehen einen hohen Einfluss der Familie und der Peer-Groups als wichtige Sozialisationsinstanz. Diese beiden werden im Weiteren detaillierter betrachtet.

4.1 Sozialisationsbereich Familie

Diesen familienbezogenen Ansatz haben bereits 1993 „Die Ärzte“ aufgegriffen und musikalisch verarbeitet. Ihre Texte stehen im Folgenden ergänzend zu den Aussagen. 

Rieker betont, dass Jugendliche mit einer fremdenfeindlichen Grundhaltung häufig Defizite in sozialen Beziehungen und deren emotionaler Qualität besitzen, entstanden durch spärliche Zuwendung (Warum hast du Angst vorm Streicheln), Erfahrungen von Zurückweisung (Und deine Eltern hatten niemals für dich Zeit) und fehlender Gefühlsthematisierung (Weil du Probleme hast, die keinen interessieren) in der Kindheit. Als weitere Gründe für den Einfluss der Familie auf den rechten Sozialisationsprozess sieht er die Glorifizierung des Nationalsozialismus und der Kriegsjahre durch ältere Generationen, bei denen „die Ablehnung von Migranten und sozialen Minderheiten als […] salonfähig“ (Rieker 2007, S.37) gilt. Somit werden undemokratische und gewalttätige Handlungen vorgelebt und als normal angesehen. Jedoch ist auch ein gegenteiliges Verhalten zu beobachten. Eine Ablehnung der elterlichen Prinzipien kann als rebellischer und widerständiger Akt empfunden werden, die Annahme einer gänzlich anderen politischen Sichtweise als Orientierung ist üblich. Auffällig ist ebenso, dass Rechtsextreme oft „nicht in vollständigen Familien aufgewachsen“ (ebd., S.32) sind. Ein daraus entstehendes Patchwork-Leben, besonders mit Stiefvätern, „wird gerade von männlichen Jugendlichen als konfliktreich und belastet beschrieben“ (ebd.). Herrschen im System der Familie viele Konflikte und kann keine Kompensation (Du hast nie gelernt dich zu artikulieren) gefunden werden, steigt die „männliche Dominanz, Durchsetzungsfähigkeit und Gewaltbereitschaft“ (ebd., S.33) an. Die Universität Hildesheim konnte 1995 feststellen, dass diese Kindheitsbelastungen bei vielen Befragten mit fremdenfeindlichen Orientierungen nicht gelöst, thematisiert und verarbeitet wurden. Rieker schlussfolgert also, dass „nicht nur explizit politische Äußerungen und Stellungnahmen, sondern auch die familiäre Praxis oder der Umgang mit Verschiedenheit […] als vorpolitische Modelle sozialen Handelns fungieren“ (ebd., S.34).

Mit den Ärzten gesagt, ist diese familiäre Vernachlässigung nur ein „Schrei nach Liebe“ und die Sehnsucht nach Zärtlichkeit.     

Möller und Schuhmacher führen ergänzend noch die „Dominanz des Vaters über die Mutter, eine gewisse erzieherische Härte, mehr aber noch Kommunikationsarmut und emotionale Leere“ (Möller und Schuhmacher 2007, S.20) ein. Daraus kann die Offenheit für rechtes Gedankengut gefördert werden. Ebenso gelten ältere Geschwister als „politische und kulturelle Orientierung [mit] einem maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung“ (ebd.), die als Einstieg in entsprechende Cliquen und Peergroups dienen können. Es ist also die Kombination „der emotionalen Beziehung zu Vater und Mutter mit den politischen Einstellungen und ethnischen Vorurteilen der Eltern, [die] die Entwicklung von fremdenfeindlichen Einstellungen fördern, während jeder Faktor für sich allein keinen Einfluss hat“ (Sitzer und Heitmeyer 2007, S.7).

Für die Betrachtung der Radikalisierung der Täter*innen gilt es also die Familienverhältnisse zu analysieren und deren Bedeutung im individuellen Fall zu beurteilen.

4.2 Sozialisationsbereich Peer-Group

Aus dem „Gefühl mangelnder Unterstützung und fehlenden sozialen Anschlusses“ (Möller und Schuhmacher 2007, S.20) heraus, suchen Jugendliche Peer-Groups, Gleichgesinnte und Cliquen, die Halt und Anerkennung bieten. Jugendliche aus Familien mit „einem negativen Familienklima [verbringen] mehr Zeit in der Peer-Group“ (Rieker 2007, S.36). Es existieren Gefühle der Kameradschaft und Brüderlichkeit, Selbstwertgefühl durch die Abwertung anderer und Zugehörigkeit. Es sind Wahrnehmungen mit einer Kompensationsfunktion. Laut Rieker „entsprechen die Orientierungen in der Peer-Group weitgehend denen in der Familie, etwa in Hinblick auf Gewalt“ (ebd., S.37), Sitzer und Heitmeyer kommen hingegen zu dem Schluss, dass gerade „Gruppen mit abweichenden Norm- und Wertvorstellungen“ (Sitzer und Heitmeyer 2007, S.8) attraktiv sind. Aus diesen positiven Gefühlen kann eine „stimulierende und enthemmende Gemengelage, die rechtsextremistische Gewalttaten motivieren“ (ebd., S.9), entstehen. Welcher Art von Peer-Group ausgewählt wird, ist nicht vorherbestimmt, vielmehr ist es „also eine Frage der Gelegenheit [und] systematischen Zufällen“ (Quent 2019, S.174).

Wie kamen die Täter*innen in ihre Gruppe zusammen? Was brachte sie in den Winzerclub? Dieser Frage ist nachzugehen, um den Prozess der Radikalisierung zu verstehen.

4.3 Radikalisierungskarrieren

Von heute auf morgen wird niemand ein*e Rechtsextremist*in. Er vollzieht einen Prozess des Einstieges und der Radikalisierung, der vielfältig beeinflusst wird und durch die eigene Verarbeitung von Sozialisation, Erfahrungen und Entscheidungen geprägt ist.

Zur Analyse des Entstehungsprozesses des NSU müssen also die Radikalisierungsgeschichten und „die individuellen Merkmale der Anfälligkeit für rechtsextreme Einstellungs- und Handlungsweisen“ (Quent 2019, S.292) der Täter*innen in ihrer Heimatstadt Jena betrachtet werden.   

In den 90er Jahren hatte sich Jena durch die Fankultur des FC Carl Zeiss, Skinhead-Angriffe gegen Migranten und Linke und offene rechte Festlichkeiten als „eine Hochburg der Neonazis“ (Thüringer Landtag 2014, S.162) etabliert und war von erheblichem Alltagsterror geprägt. Der jugendliche Rechtsextremismus in Jena besaß wenig politische Strahlkraft, war jedoch von einer „hohen Integrations- und Provokationskraft“ (Quent 2019, S.181) geprägt. Ziel war es, „die Vorherrschaft in begrenzten Räumen (etwa im Stadtteil Winzerla) gegenüber politischen Gegnern zu erkämpfen und zu sichern“ (ebd.). Der „Winzerclub“ war seit 1991 Anlaufstelle für die rechtsextreme Szene und somit auch für Mundlos und Zschäpe, die damals ein Paar waren und die Renovierung unterstützen. Es wurde das pädagogische Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit genutzt, dass durch die damalige Bundesjugendministerin Angela Merkel als „staatliche Antwort auf den erstarkenden Rechtsextremismus“ (ebd.) ausgegeben wurde und „faktisch Freizeitangebote und Vernetzungsmöglichkeiten“ (Tribunal „NSU-Komplex auflösen“ 2017, S.11) schaffte, um dem „Bedürfnis nach Freizeitgestaltung“ (Quent 2019, S.192) nachzukommen. Aus diesem Freizeittreff entwickelte sich der „Nukleus der rechtsextremen Bewegung in Jena“ (ebd., S.182) und die Hochburg des Rechtsextremismus innerhalb Jenas. Die anfängliche „heterogene Nachbarschaftsclique mit Skins und ‚normalen‘ Jugendlichen“ (ebd.) trat mit immer stärkeren Straf- und Gewalttaten auf und fand durch die Unsicherheiten der Wiedervereinigung „im interventionsanfälligen Gründungsstadium [der Gruppe] günstige Entwicklungschancen“ (ebd., S.182f.). Mundlos radikalisierte sich weiter und fand sein Feindbild in linken Jugendlichen, auf die militant „Jagd gemacht“ wurde. Er habe zu diesem Zweck Reizgaspistolen besessen.

Böhnhardt gehörte anfänglich zu einer Clique aus Jena-Lobeda und fiel seit 1991 durch Straftaten auf. Er kam in Kontakt mit der Clique im Winzerklub und knüpfte auch bei Gefängnisaufenthalten weitere Kontakte mit ideologisierten Rechtsextremen, die „Einfluss auf die Fortentwicklung der Gruppenkultur“ (ebd., S.192) hatten. Ab 1992/1993 hat für das Selbstverständnis der Gruppe die Bedeutung der rechtsextremen Ideologie zugenommen. 1994 ist eine politische Professionalisierung und Radikalisierung zu erkennen, die sich durch einen gesteigerten Organisationsgrad zeigte, aus der die Bewegung „Anti-Antifa Ostthüringen“ und später der „Thüringer Heimatschutz“ entstand. (vgl. ebd., S.186)

An dieser Winzerclique werden viele gruppensoziologische Punkte deutlich:

  • Die soziale Herkunft, der Stadtteil, entschied und gab zufällig vor, welchen Gruppen man zugehören konnte.
  • Neue Mitglieder akzeptierten und tolerierten die Gruppenkultur, Ansichten und Meinungen.
  • Der fortschreitende Radikalisierungsprozess führte zu einer höheren Gewaltbereitschaft der gesamten Gruppe.
  • Durch die rassistischen Angriffe in anderen deutschen Städten entstand ein Gefühl der Legitimation der Ausrichtung der Gruppe.
  • Die akzeptierende Jugendarbeit schaffte Legitimation durch das zur Verfügung stellen von Räumen und das unkritische Arbeiten.

Aus diesen Aspekten entstand eine rechte Szene, die in dieser Phase strukturell-festigend und ideologisch-legitimierend agierte und radikalisierte, den Formierungsprozess des NSU also beförderte und in einer gewissen Form ausbildete. Durch die überregionale Vernetzung, das Ausprobieren von Handlungsräumen und Grenzen, dem Sammeln von operativen Erfahrungen und der fortschreitenden ideologischen Festigung konnte aus einer kleinen Clique eine mordende Terrorzelle entstehen. (vgl. ebd., S.192f.)

Die Anfälligkeit Böhnhardts, Zschäpes und Mundlos für diese Gruppen und Cliquen ist durch individuelle biografische Erfahrungen zu verstehen.

Uwe Böhnhardt ist 1977 geboren und ist durch den Tod seines Bruders, der wichtigsten Bezugsperson, traumatisiert. Seine Mutter wird als dominant beschrieben. Quent sieht es als gegeben an, dass „das elterliche Misstrauen [gegen die Staatgewalt] die Wahrnehmung repressiver Maßnahmen als Unrecht und willkürliche Repression bei Uwe Böhnhardt bestärkt [und] die eigene Schuld negiert“ (ebd., S.300) habe. In einem Urteil des Amtsgerichts Jena 1997 wurden ihm Entwicklungs- und Reifedefizite zugeschrieben. Nach mehreren Schulverweisen, Heim- und Gefängnisaufenthalten besuchte er eine Schule in Jena-Winzerla. Den Winzerklub musste er auf seinem Schulweg passieren und lernte so die Clique kennen. Sein nachschulisches Leben ist von Arbeitslosigkeiten und Gefängnisstrafen geprägt. Im Zuge der Jugendhaft 1993 sei er missbraucht worden. Seit 1995 ist eine politische Motivation zu erkennen. Durch seine Gewaltbegeisterung und Gefängniserfahrungen verschafft er sich Respekt innerhalb der rechten Szene und gilt bald als Kern der Winzerclique und später des Thüringer Heimatschutzes. Er sah in der Ideologie der „Verachtung des Lebens und der Rechtfertigung des Unrechts“ (ebd., S.301) einen Erklärungspunkt „für sein Scheitern auf dem schulischen Bildungsweg und für seine Arbeitslosigkeit, die ihn jedoch ca. 700 DM monatliche Arbeitslosenhilfe“ (ebd., S.300) brachte.

Uwe Mundlos kann als das ideologischer Anführer verstanden werden, der durch die „intergenerationale Weitergabe durch seinen Großvater“ (ebd., S.305) eine Begeisterung für den Nationalsozialismus entwickelte. Sein Bruder ist an den Rollstuhl angewiesen, Mundlos musste somit stets Rücksicht nehmen und oft zurückstecken. Die Familie lebte in einer nicht behindertengerechten Wohnung, eine neue wurde ihnen nicht zugeteilt, wodurch sich die Unzufriedenheit mit dem SED-Staat bei Mundlos und dessen Vater steigerte. Durch den späteren Umzug in den Stadtteil Winzerla kamen erste Kontakte in den Winzerklub und zu Zschäpe zustande, die seine Freundin wurde. Seit 1991 ist er als politischer Gewalttäter bekannt, der sich „von seinem Begrüßungsgeld ein Butterfly-Messer“ (ebd., S.304) kaufte. Er gehörte fortan zu einer ideologisch gefestigten und gebildeten Elite der Bewegung, die „politische Aktionen auf einem höheren Organisations- und Gewaltniveau“ (ebd., S.305) realisieren wollten.

Beate Zschäpe, Jahrgang 1975, lebte in einer unsicheren Familie mit einer hohen Konfliktbelastung, einer alleinerziehenden, alkoholabhängigen Mutter, die mindestens fünf Jahre arbeitslos war. Aus diesen Gründen verbrachte Zschäpe viel Zeit bei ihrer Großmutter. Die Unsicherheit zeigt sich darin, dass sie bis zu ihrem 16. Lebensjahr sechsmal umzog. Sie selbst sagte in einer Vernehmung aus, dass nicht ihre Mutter, sondern die beiden Uwes ihre Familie gewesen seien. Ein weiterer wichtiger biografischer Aspekt ist die politische Orientierung der Mutter, die linke Ansichten vertrat und sich somit noch stärkere Konfliktsituationen ergaben. Aus dem Winzerklub heraus, war Zschäpe 1994 „die einzige Frau, die fest zur Kameradschaft Jena gehörte“ (ebd.) und augenscheinlich ein hohes Vertrauen und Ansehen genoss. Seit 1991 ist sie polizeibekannt, erst durch Diebstähle und Einbrüche, später durch politische Straftaten.

Alle drei Biografien weisen typische Sozialisationsbedingungen auf, die eine Zuwendung hin zu radikalen Gedanken und Meinungen beförderten. Quent (2019) stellt dies methodisch dar und klassifiziert verschiedene Radikalisierungstypen. (vgl. Abbildung 8)

Es wird deutlich, dass die unterschiedlichen Ursprünge und Auslöser für den Prozess der Radikalisierung, „den polarisierenden Gruppenprozess der Winzerclique gegenseitig verstärkten“ (ebd., S.315) und in der weiteren Entwicklung auf das Ziel der „Radikalisierung und politischen Gewalt“, genauer auf Morde und Überfälle, hinausliefen.

Das sind Traditionen von Schweigen und Gewalt

Wann ziehen wir uns endlich den Stachel aus dem Fleisch?

(Zugezogen Maskulin – Tanz auf dem Vulkan)

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Blind. Taub. Stumm. (Teil II von IV) https://keinparadies.blackblogs.org/2021/05/07/blind-taub-stumm-teil-ii-von-iv/ Fri, 07 May 2021 20:41:42 +0000 http://keinparadies.blackblogs.org/?p=114 Continue reading "Blind. Taub. Stumm. (Teil II von IV)"

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3. Kaltes Deutschland

2020 jährte sich die deutsche Wiedervereinigung zum dreißigsten Mal. Die „meiner Kenntnis nach sofort und unverzügliche“ Neuregelung der Ausreise aus der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) am 09. November 1989 zeigt einen historischen Meilenstein in der deutschen Geschichte. Es sollte der Beginn eines Entwicklungsprozesses der blühenden Landschaften sein. Doch es kam eine Zeit der Unsicherheit, Ungewissheit und Wut.

Es ist voranzustellen, dass die folgenden Ausführungen nicht von einem ‚Sonderfall Ost‘ und einem ‚Normalfall West‘ ausgehen. Auf Grund der geografischen Verortung des NSU in den Osten des Landes liegt auf diesem besonderer Fokus. Die problematischen westdeutschen Entwicklungen sollen damit nicht beschönigt werden.

3.1 Ostdeutsche Nachwendegesellschaft der brennenden Landschaften

Im Jahr 2019 eröffnet sich ein neues, bisher unterdrücktes Bild der Nachwendezeit. Unter #baseballschlägerjahre berichten hunderte Menschen von ihren Erfahrungen mit rechtsextremer Gewalt, Einschüchterung und Alltagsterror. Hendrik Bolz, bekannt als Testo des Rap-Duos „Zugezogen Maskulin“, spricht davon, dass ihn in Stralsund „Sieg-Heil-Rufe […] in den Schlaf“ (Bolz 2019) wiegten. Der Rapper KUMMER aus Chemnitz verarbeitete seine Erfahrungen im Song „9010“:

„Wir liefen über die Straßen, getragen von Adrenalin
Liefen schnell wie die Hasen
Doch schneller als Autos waren wir nie
Born to be Opfer
Zeit zu kapieren
Dass da wo wir leben Leute wie wir eben einfach kassieren
Mit dem Mund voller Blut
Den Krankenwagen rufen
Mit Handylicht den ausgeschlagenen Zahn auf dem Asphalt suchen
Es war nie ein Kampf
Wir sind immer nur gerannt“

(KUMMER – 9010)

Es war die rechte Anarchie und Gesetzlosigkeit, die vorherrschte, geführt nach dem Gesetz des Stärkeren, geleitet von „Nazigruppen, die nun fröhlich ihre ganz eigenen Regeln des Zusammenlebens einführten, Andersdenkende durch die Straßen und in den Westen jagten und rechte Hegemonie etablierten“ (ebd.). Wer die Täter*innen, die Nazigruppen, waren, wird bei Bolz sehr deutlich, wenn er schreibt:

„Faschos waren allgegenwärtige Begleiter meiner Kindheit, waren Kassierer im Supermarkt, Erzieher im Ferienlager, große Geschwister von Freunden, die auf dem Schulweg nett winkten, und sie bildeten Gruppen, die vor Haustüren und auf Spielplätzen lungerten und den öffentlichen Raum unangefochten beherrschten.“ (ebd.)

Sie waren Alltag, sie waren normal, sie waren bekannt, hatten Namen und Gesichter.

Erst Jahrzehnte später haben die Menschen den Mut, ihre Geschichte, ihr Erleben zu teilen. Es zeigt sich also, dass es ein weit verbreitetes Angstklima, das bis heute nachwirkt, und eine neue Qualität an Straftaten rechtsextremistischer Gewalt in den 90er Jahren in Deutschland gab. (vgl. Abbildung 1)

Diese alltägliche normalisierte Angst fand Höhepunkte, die für den Rest des Landes und die ganze Welt herauskristallisierten, was bereits im Kleinen bekannt war.

Mölln. Solingen. Rostock-Lichtenhagen. Drei Orte, die symbolisch für die 90er Jahre und das bestehende gesellschaftliche Klima sprechen. Es sind Orte des Mordes, des Hasses und des Rassismus, die sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt haben und bis heute als Sinnbild für den deutschen Nachwenderassismus stehen.

3.1.1 Hoyerswerda 1991

Der September 1991 ist entscheidend in der Betrachtung. Eine Woche lang fanden rassistische Übergriffe im sächsischen Hoyerswerda statt. Die Thomas-Müntzer-Straße wurde zum Sammelpunkt des „an die 500 Personen umfassenden Mobs vor dem Asylbewerberheim“ (Speit 2013, S.101). Es flogen Flaschen, Brandsätze und Pyrotechnik gegen das Haus, um das Ziel der Parole „Ausländer raus!“ zu verwirklichen. Es wurde kommuniziert, dass es erst ein Ende gäbe, wenn „sie alle weg sind“. Nach fünf Tagen entschlossen sich die Verantwortlichen, die 150 Bewohner*innen aus Rumänien und Vietnam mit Bussen zu evakuieren.

Quent fasst es zusammen, wenn er schreibt: „Parolen wie „Ausländer raus“ und „Deutsche zuerst“ boten Lösungsmöglichkeiten, die in Handlungen übersetzt werden konnten.“ (Quent 2019, S.177)

„Feststimmung herrschte, als sie weggefahren wurden. Vielen reichte das noch nicht. Wieder flogen Steine und Glassplitter verletzten den 21-jährigen Tam Le Thanh an einem Auge. […] Als die Busse schnell starteten, rief einer gegenüber Deutschlandradio aus, was wohl viele dachten: „Hoyerswerda ausländerfrei!“ (Speit 2013, S.101)

„Wir handeln, wo andere nur reden“ wurde zum Selbstverständnis. Unter dem „Gegröle und Beifall von Nachbarn und Schaulustigen“ (ebd.) stärkten sich Rechtsextreme und fanden Rückhalt in der Gesellschaft für ihre Taten, was einen Begeisterungs- und Nachahmungseffekt mit sich brachte, „der in der „Szene“ weithin als Signal verstanden“ (Bergmann und Leggewie 2010, S.307) wurde.

3.1.2 Rostock-Lichtenhagen 1992

Im Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen befand sich seit Dezember 1990 die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber. Dem Untersuchungsausschussbericht des Landes Mecklenburg-Vorpommern von 1992 ist zu entnehmen, dass in den ersten Monaten rund 60 bis 70 Asylbewerber*innen ankamen. „Ab Mitte 1991 nahm die Zahl der Antragsteller, die nicht aus dem Länderausgleich kamen und daher aktenmäßig erfaßt waren, sondern ihren Asylantrag erstmals in Rostock gestellt haben (sog. Direktbewerber), drastisch zu“ (Landtag Mecklenburg-Vorpommern 1993, S.17). Diese hohen Zahlen führten dazu, dass das Haus überfüllt war. „Rund 200 Flüchtlinge campierten tagelang ohne lebensnotwendige Versorgung und sanitäre Anlagen im Dreck. Einige krochen unter die Balkone in den Erdgeschossen des Häuserblocks“ (Speit 2013, S.96). Daraus resultierten Streitigkeiten mit den Rostockern, über die Sauberkeit und das Benehmen. Im August schließlich schlossen sich hunderte Menschen zusammen, die begannen, die Bewohner*innen zu beschimpfen und anzugreifen. Das Landespolizeiamt beschrieb nach Beendigung der gewalttätigen Auseinandersetzungen die vorangegangenen Entwicklungen wie folgt:

„In der Bevölkerung von Rostock-Lichtenhagen gab es seit einigen Wochen zunehmenden Unmut und spürbare Beunruhigung und Ängste.

Die zum Teil hohe Belegungszahl mit zeitweise deutlicher Überbelegung der in diesem Stadtteil angesiedelten ZAST hatte dazu geführt, daß ganze Gruppen von Asylbewerbern – insbesondere Sinti und Roma aus Rumänien – die Rasenflächen rund um das Gebäude stark belagerten, da die zügige Abfertigung nicht ständig gewährleistet werden konnte und die Kapazität des Hauses erschöpft war.

Durch Belästigungen der Anwohner, Verunreinigung und dadurch bedingte störende hygienische Zustände kam es immer deutlicher zu Vorwürfen gegen die verantwortlichen Behörden.

Aus Presseberichten, Informationen und Hinweisen von Bürgern der Stadt Rostock war am 21.08.1992 zu entnehmen, daß eine Protestaktion von Anwohnern der ZAST in Lichtenhagen am nachfolgenden Tage stattfinden sollte. Diese Aktion sollte die Zielstellung der Verlagerung der ZAST aus diesem Stadtteil haben. […]

Bei Bekanntwerden der oben aufgeführten Demonstration wurde von der örtlich zuständigen PD Rostock vorsorglich 1 Zug der BPA angefordert und für die Dauer der Veranstaltung in Bereitschaft gelegt, da nicht ausgeschlossen werden konnte, daß es im Verlaufe der Demonstration zu Gewalttätigkeiten kommen könnte. […]“ (Landtag Mecklenburg-Vorpommern 1993, S.35)

Im weiteren Verlauf des Berichtes wird von „militanten Jugendlichen“ (ebd. S.36) und „Störern“ (ebd.) berichtet, die über Tage hinweg „Gewalttätigkeiten durch Steinwürfe, Signalraktenabschuß und Molotow-Cocktails verübt“ (ebd.) haben. Speit hingegen spricht von einem „Mob“ (Speit 2013, S.97) und „Neonazis“ (ebd.). Fast ritualisierend versammeln sich Abend für Abend hunderte Menschen, um Polizisten anzugreifen, Steine zu schmeißen und zu versuchen, das Sonnenblumenhaus anzuzünden. Schließlich, am 23. August, eskalierte die Situation vollständig.

„Die Störer schleuderten Steine und Molotow-Cocktails gegen die ZAST und griffen die Einsatzkräfte der Polizei massiv an. Sie steckten 2 FuStkw an, die ausbrannten, und beschädigten 6 zivile Kraftfahrzeuge. Die Handlungen wurden durch ca. 1 000 anwohnende Bürger, zum Teil auch aktiv, unterstützt. Durch den sofortigen Einsatz der Polizeikräfte konnte verhindert werden, daß die offenbar beabsichtigte Stürmung des Hauses und der direkte Angriff auf die Asylanten nicht gelang. Die Auseinandersetzungen mit der Polizei zogen sich über mehrere Stunden hin. Sie wurden schließlich in den frühen Morgenstunden nach dem Einsatz von herangeführten WaWe 9 beendet.“ (Landtag Mecklenburg-Vorpommern 1993, S.36)

Speit spricht von einer Überforderung der Einsatzleitung, die durch wiederholtes Zurückziehen die Menschen in der Aufnahmestelle schutzlos zurückgelassen habe. (vgl. Speit 2013, S.97) Am 24. August wurden die Flüchtlinge evakuiert, „die Menschenmenge vor dem Haus war in aufgeheizter Stimmung, sie feierte das Fortbringen als ihren Erfolg“ (ebd., S.98).

Ein weiteres Mal erlebten sich die Demonstrant*innen als Wegweiser, die es durch ihren Protest und die „Direktbekämpfung von ausländischen Personen“ (Heitmeyer 1992, S.210) geschafft haben, ihren Willen gegenüber der „powerlessness of the police“ (Ohlemacher 1994, S.225) und dem Staat durchzusetzen. Ausgehend von einer Fremdenfeindlichkeit haben sie gewalttätige Methoden als „efficient instrument“ (ebd.) gewählt, um den Staat in Zugzwang zu versetzen, die Menschen zu evakuieren.

3.1.3 Mölln 1992

In der Nacht vom 13. auf den 14. November 1992 warfen zwei Neonazis, die ihre Tat mit „In der Mühlenstraße brennt es! Heil Hitler!“ der Feuerwehr meldeten, mehrere Molotowcocktails in ein Wohnhaus. Drei Menschen, Yaliz Arslan, Ayşe Yilmaz und Bahide Arslan sterben. Es war der erste rechtsextreme Brandanschlag in der Bundesrepublik, durch den Menschen ermordet wurden. Andreas Speit folgend, kann festgestellt werden: „Mölln war eine Zäsur.“ (Speit 2013, S. 105) Eine Zäsur, die eine neue Qualität der Gewalt darstellte, jedoch einen gesellschaftlichen „shock effect generated by murder“ (Ohlemacher 1994, S.228) verursachte. Deutlich wird dieser in den statistischen Erhebungen, die zeigen, dass „the figures decline after the Mölln arson-attack murders“ (ebd., S.229).

Ohlemacher interpretiert die Zahlen als „Waves of Violence“ (ebd., S.226), die in enger Verbindung mit den gewalttätigen Ausschreitungen in Hoyerswerda, Rostock und Mölln stehen.

„It is impossible to ignore the chronological proximity between the first two peaks and the violent attacks carried out in Hoyerswerda (17th September 1991) and Rostock (22nd-27th August 19921) respectively. […] Both incidents were widely broadcast with intensive media reporting. It is also possible […] that these reports may have triggered off further violent acts. It is possible that Hoyerswerda acted as an amplifying influence on what was already a rising number of offences in the late summer and autumn of 1991. Similarly, a gentle upward trend is discernible before the Rostock riot, though the trend is not unequivocal as it was one year before.“ (Ohlemacher 1994, S.228f.)

Es sind Angriffe, Taten und Meinungen, die Rassismus in Deutschland verbreiteten und normalisierten. Die Politik trägt auch eine Teilverantwortung an der Normalisierung und Förderung der gesellschaftlichen Ausländerfeindlichkeit.

Der Lynchmob ist krank vor Neid
Auf das 5-Sterne-Hotel im Asylantenheim

(K.I.Z. – Boom Boom Boom)

3.1.4 Asylrechtsverschärfung 1993

Artikel 16a des Grundgesetzes schreibt das Recht auf Asyl fest und regelt im Weiteren die Ansprüche und Erfordernisse für den Anspruch auf Asyl.

„Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ (Art.16a Abs. 1 GG)

Seit Anfang der 1990er Jahre wurde eine Verschärfung des Asylrechtsartikels diskutiert und gefordert. Der Weg dahin lässt sich in drei Sätzen der „Bundeszentrale für politische Bildung“ erklären:

„Anfang der 1990er Jahre stiegen die Asylbewerber*innenzahlen in Deutschland auf bis dahin ungekannte Höhen. Eine Welle rassistischer und ausländerfeindlicher Gewalttaten ging durch Deutschland. Die Politik schränkte schließlich das Asylrecht ein.“ (Bundeszentrale für politische Bildung 2013)

Vorausgegangen waren Debatten über das Thema Asyl, die durch „von der Großen Koalition aus CSU/CDU/FDP/SPD und fast allen bürgerlichen Medien ins Leben gerufen“ (Wetzel 2015, S.38) wurden. Helmut Kohl sprach vom „Staatsnotstand“ und der SPIEGEL schrieb „Das Boot ist voll“. Zeil war es, „dem Missbrauch des Asylrechts wirksam einen Riegel vorzuschieben“ (Helmut Kohl 1992 zitiert nach Wetzel 2015, S.39). Die SPD sprach davon, dass Deutschland „nicht der Lastesel für die Armen der Welt sein“ (Georg Kronawetter 1992 zitiert nach Wetzel 2015, S.39) könne.

Ein Prozess der Normalisierung und der Übernahme rechtsextremistischer Gedanken und Forderungen ist klar zu erkennen. Statt die Ursachen anzugehen, werden „Schnittmengen dieses Gedankengutes übernommen“ (Heitmeyer 1992, S.209) und salonfähig gemacht.

Wetzel sieht darin eine politische Benzinspur, die „nur noch entzündet werden“ (Wetzel 2015, S.39) müsse und durch die folgenden Anschläge und Progrome bestätigt wurde. In der finalen Abstimmung am 26. Mai 1993 wurde durch „Neonazis und anständige Deutsche, mit Springerstiefeln und im Anzug, mit Hass und verständlicher Sorge […] unter Schirmherrschaft einer großen Koalition […] die De-Facto-Abschaffung des Asylrechts“ (ebd., S.41) beschlossen. Somit wurde die Ursache für die rechtsextremen Gewalttaten an die Anzahl der Asylbewerber gebunden. Dargestellt wurde es als Bekämpfung der Ausländerfeindlichkeit, war jedoch nur eine „Umwegbekämpfung […] mittels Ausländerrückführung bzw. rigiden Ausländerrechts“ (Heitmeyer 1992, S.210). Das Problem des existierenden Rechtsextremismus wurde verstärkt und unterstützt.

Für Quent (2018) haben diese Prozesse der „Gewalt, Gegengewalt und Repression zur Radikalisierung des NSU beigetragen“ (Quent 2018, S.145).    

All diese Ausschreitungen entstanden nicht im luftleeren Raum. Sie sind das Resultat eines multidimensionalen Entwicklungsprozesses, gefördert durch das in „der Gemeinschaft der Gruppe sich immer erneuernde Klima der Enge, der Häme, der Bosheit und des Grolls, aus dem die Kation eruptiv hervorbricht“ (Bergmann und Leggewie 2010, S.310),befeuert durch „die implizite Ermunterung über spezifische Thematisierungen umstrittener politischer Probleme in der öffentlichen Kommunikation“ (Heitmeyer 1992, S.205) und durch einen „‘sense of success‘ in the face of the weakness shown by controlling government authorities“ (Ohlemacher 1994, S.225).

Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer gilt als führender Wissenschaftler im Bereich Erforschung des Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Er trat 1992 aus der SPD aus, als Reaktion auf deren Asylpolitik. Seiner Theorien wird sich im Folgenden unter anderem bedient, um die Entwicklungen der 90er Jahre zu untersuchen. Es wird geschaut, welche Ursachen zu einer Radikalisierung führten und führen und welchen Einfluss diese auf die Entstehung des NSU hatten.

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Blind. Taub. Stumm. (Teil I von IV) https://keinparadies.blackblogs.org/2021/04/02/blind-taub-stumm-teil-i-von-iv/ Fri, 02 Apr 2021 13:36:08 +0000 http://keinparadies.blackblogs.org/?p=110 Continue reading "Blind. Taub. Stumm. (Teil I von IV)"

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In unserer vierteiligen Serie widmen wir uns einer soziologischen Untersuchung der gesellschaftlichen Mitverantwortung an der Entstehung des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) in den 1990er Jahren in Deutschland.

In Gedenken an

Mahmud Azhar, 40 Jahre Andrzej Fratczak, 36 Jahre Amadeu Antonio, 28 Jahre Klaus-Dieter Reichert, 24 Jahre Nihad Yusufoglu, 17 Jahre Alexander Selchow, 21 Jahre Namentlich unbekannter Obdachloser, 31 Jahre Jorge João Gomondai, 28 Jahre Helmut Leja, 39 Jahre, Obdachloser Agostinho Comboio, 34 Jahre Samuel Kofi Yeboah, 27 Jahre Wolfgang Auch, arbeitslos, 28 Jahre Mete Ekşi, 19 Jahre Gerd Himmstädt, 30 Jahre Timo Kählke, 29 Jahre Ingo Ludwig Dreiköpfige Familie aus Sri LankaMatthias Knabe, 23 Jahre Dragomir Christinel, 18 Jahre, Asylbewerber Gustav Schneeclaus, 52 Jahre, Seemann Ingo Finnern, 31 Jahre, Obdachloser Erich Bosse Nguyen Van Tu, 24 Jahre Thorsten Lamprecht, 23 Jahre Emil Wendland, 50 Jahre, Obdachloser Sadri Berisha, 56 Jahre Dieter Klaus Klein, 49 Jahre, Obdachloser Ireneusz Szyderski, 24 Jahre, Erntehelfer Frank Bönisch, 35 Jahre, Obdachloser Günter Schwannecke, 58 Jahre, Obdachloser Waltraud Scheffler, 44 Jahre, Aushilfskellnerin Rolf Schulze, 52 Jahre, Obdachloser Karl-Hans Rohn, 53 Jahre, Metzger Alfred Salomon, 92 Jahre Silvio Meier, 27 Jahre, Drucker Bahide Arslan, 51 Jahre Ayse Yilmaz, 14 Jahre Yeliz Arslan, 10 Jahre Bruno Kappi, 55 Jahre, Zeitungsverteiler Hans-Jochen Lommatzsch, BaumaschinistSahin Calisir, 20 Jahre Karl Sidon, 45 Jahre, Parkwächter Mario Jödecke, 23 Jahre Mike Zerna, 22 Jahre Mustafa Demiral, 56 Jahre Hans-Peter Zarse, 18 Jahre Matthias Lüders, 23 Jahre, Wehrpflichtiger Jeff Dominiak, 25 Jahre Gürsün İnce, 27 Jahre Hatice Genç, 18 Jahre Hülya Genç, 9 Jahre Saime Genç, 4 Jahre Gülüstan Öztürk, 12 Jahre Horst Hennersdorf, 37 Jahre, Obdachloser Hans-Georg Jakobson, 35 Jahre Namentlich unbekannter Obdachloser, 33 Jahre Bakary Singateh (alias Kolong Jamba), 19 Jahre, Asylbewerber Ali Bayram, 50 Jahre, Unternehmer Eberhart Tennstedt, 43 Jahre Klaus R., 43 Jahre Beate Fischer, 32 Jahre, Prostituierte Jan W., 45 Jahre, Bauarbeiter Gunter Marx, 42 Jahre Piotr Kania, 18 Jahre Michael Gäbler, 18 Jahre Horst Pulter, 65 Jahre, Obdachloser Peter T., 24 Jahre, Bundeswehrsoldat Dagmar Kohlmann, 25 Jahre Klaus-Peter Beer, 48 Jahre Monica Maiamba Bunga, 17 Jahre Nsuzana Bunga, 7 Jahre Françoise Makodila Landu, 32 Jahre Christine Makodila Nsimba, 8 Jahre Miya Makodila, 14 Jahre Christelle Makodila, 8 Jahre Legrand Makodila Mbongo, 5 Jahre Jean-Daniel Makodila Kosi, 3 Jahre Rabia El Omari, 17 Jahre Sylvio Bruno Comlan Amoussou, 27 Jahre Patricia Wright, 23 Jahre Sven Beuter, 23 Jahre Martin Kemming, 26 Jahre Bernd Grigol, 43 Jahre, Geschäftsmann Boris Morawek, 26 Jahre Werner Weickum, 44 Jahre, Elektriker Achmed Bachir, 30 Jahre, Asylbewerber Frank Böttcher, 17 Jahre Antonio Melis, 37 Jahre Stefan Grage, 33 Jahre, Polizist Olaf Schmidke, 26 Jahre Chris Danneil, 31 Jahre Phan Van Toau, 42 Jahre Augustin Blotzki, 59 Jahre, Arbeitsloser Matthias Scheydt, 39 Jahre Goerg Jürgen Uhl, 46 Jahre Josef Anton Gera, 59 Jahre, Rentner Jana Georgi, 14 Jahre Erich Fisk, 59 Jahre, Obdachloser Nuno Lourenco, 49 Jahre, Zimmermann Farid Guendoul (alias Omar Ben Noui), 28 Jahre, Asylbewerber Egon Efferts, 58 Jahre, Frührentner Peter Deutschmann, 44 Jahre, Obdachloser Carlos Fernando, 35 Jahre Patrick Thürmer, 17 Jahre, Lehrling Kurt Schneider, 38 Jahre, SozialhilfeempfängerHans-Werner Gärtner, 37 Jahre Daniela Peyerl, 18 JahreKarl-Heinz Lietz, 54 Jahre Horst Zillenbiller, 60 Jahre Ruth Zillenbiller, 59 Jahre Jörg Danek, 39 Jahre Bernd Schmidt, 52 Jahre, obdachloser Glasdesigner Helmut Sackers, 60 Jahre Dieter Eich, 60 Jahre, Sozialhilfeempfänger Falko Lüdtke, 22 Jahre Alberto Adriano, 39 Jahre Thomas Goretzky, 35 Jahre, Polizist Yvonne Hachtkemper, 34 Jahre, Polizistin Matthias Larisch von Woitowitz, 35 Jahre, Polizist Klaus-Dieter Gerecke, 47 Jahre, Obdachloser Jürgen Seifert, 52 Jahre, Obdachloser Norbert Plath, 51 Jahre, Obdachloser ungeborenes Kind Enver Şimşek, 38 Jahre Malte Lerch, 45 Jahre, Obdachloser Belaid Baylal, 42 Jahre, Asylbewerber Eckhardt Rütz, 42 Jahre, Obdachloser Willi Worg, 38 Jahre Fred Blanke, 51 Jahre, Frührentner Mohammed Belhadj, 31 Jahre, Asylbewerber Axel Urbanietz, 27 Jahre Abdurrahim Özüdoğru, 49 Jahre Süleyman Taşköprü, 31 Jahre Dieter Manzke, 61 Jahre, Obdachloser Klaus-Dieter Harms, 61 Jahre Dorit Botts, 54 Jahre, Ladeninhaberin Habil Kılıç, 38 Jahre Arthur Lampel, 18 Jahre Ingo Binsch, 36 Jahre Jeremiah Duggan, 22 Jahre Klaus Dieter Lehmann, 19 Jahre Kajrat Batesov, 24 Jahre Ronald Masch, 29 Jahre, Dachdecker Marinus Schöberl, 17 Jahre Ahmet Sarlak, 19 Jahre, Lehrling Hartmut Balzke, 48 Jahre Andreas Oertel, 40 Jahre Enrico Schreiber, 25 Jahre Günter T., 35 Jahre Gerhard Fischhöder, 49 Jahre Thomas K., 16 Jahre  Hartmut Nickel, 61 Jahre Mechthild Bucksteeg, 53 Jahre Alja Nickel, 26 Jahre Petros C., 22 Jahre Stefanos C., 23 Jahre Viktor Filimonov, 15 Jahre Aleksander Schleicher, 17 Jahre Oleg Valger, 27 Jahre Martin Görges, 46 Jahre Mehmet Turgut, 25 Jahre Oury Jalloh, 36 Jahre Thomas Schulz, 32 Jahre Ismail Yaşar, 50 Jahre Theodorus Boulgarides, 41 Jahre Mann, 44 Jahre Tim Maier, 20 Jahre Mehmet Kubaşık, 39 Jahre Halit Yozgat, 21 Jahre Andreas Pietrzak, 41 Jahre Andreas F., 30 Jahre Michèle Kiesewetter, 22 Jahre, Polizistin M. S., 17 Jahre Jenisa, 8 Jahre Peter Siebert, 40 JahreBernd Köhler, 55 Jahre Karl-Heinz Teichmann, 59 JahreHans-Joachim Sbrzesny, 50 Jahre Rick Langenstein, 20 Jahre Marcel W., 18 Jahre Marwa El-Sherbiny, 31 Jahre Sven M., 27 Jahre Kamal Kilade, 19 Jahre Duy-Doan Pham, 59 Jahre André Kleinau, 50 Jahre Burak Bektaş, 22 Jahre Klaus-Peter Kühn, 59 Jahre Karl Heinz L., 59 Jahre Andrea B., 44 Jahre Konstantin M., 34 Jahre Charles Werobe, 55 Jahre Luke Holland, 31 JahreDijamant Zabergja (20 Jahre), Armela Sehashi (14 Jahre), Sabina Sulaj (14 Jahre), Giuliano Josef Kollmann (19 Jahre), Sevda Dag (45 Jahre), Chousein Daitzik (17 Jahre), Can Leyla (15), Janos Roberto Rafael (15 Jahre) und Selcuk Kilic (15 Jahre) (staatlich anerkannt)Daniel Ernst, 32 Jahre, Polizist Ruth K., 85 Jahre Christopher W., 27 Jahre Walter Lübcke, 75 Jahre, Regierungschef in Kassel Jana L., 40 Jahre Kevin S., 20 Jahre Said Nessar El Hashemi, 21 Jahre, AuszubildenderSedat Gürbüz, 30 Jahre, Shishabar-Besitzer Gökhan Gültekin, 37 Jahre, Kellner Mercedes Kierpacz, 35 Jahre, Angestellte Hamza Kurtović, 21 Jahre, Auszubildender Vili Viorel Păun, 23 Jahre, Angestellter Fatih Saraçoğlu, 34 Jahre, Selbstständiger Ferhat Ünvar, 22 Jahre, AnlagenmechanikerKalojan Welkow, 32 Jahre, Wirt Gabriele R., 72 Jahre, Mutter des Attentäters

und alle Opfer rechter Gewalt!

1. Einleitung

Halle, Hanau, Kassel. Drei Orte, die heute symbolisch für den rechten Terrorismus in Deutschland stehen. Drei Orte in Ost- und Westdeutschland, die zeigen, dass Migrant*innen, Jüd*innen und politisch Andersdenkende in Deutschland nicht sicher sind. Drei Orte, die verdeutlichen, dass Terrorismus von rechts existiert und erstarkt.

Tausende Menschen gingen nach diesen Taten deutschlandweit auf die Straße, als Zeichen der Solidarität und Erschütterung. Eine positive, zivilgesellschaftliche Reaktion, die reaktiv hervorgerufen wurde. Ein politisches und gesellschaftliches Entsetzen ist fast programmatisch vorhersehbar. Tagesaktuelle Debatten über das „Warum?“ und „Wie konnte nur?“ sind kurzzeitig von gesellschaftlichem Interesse, verlieren jedoch schnell ihre Relevanz.

Rechter Terrorismus ist nicht neu in Deutschland. Der sogenannte „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) ist seit seiner Enttarnung im Jahr 2011 als rechtsterroristisches Netzwerk bekannt. Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat wurden aus rassistischen Motiven ermordet, weil sie Migrant*innen waren, weil sie zu den „Anderen“ gehörten. Michèle Kiesewetter war eine Polizistin, das einzige Mordopfer ohne Migrationshintergrund. Es kommen neben Mord noch Überfälle und Anschläge hinzu. 2011 zeigte sich die Öffentlichkeit empört darüber, wie es möglich war, dass über Jahre hinweg der NSU mordend und ungehindert durch Deutschland ziehen konnte.  

Der Staat, repräsentiert durch das Oberlandesgericht München (OLG München), verkündete am 11. Juli 2018, nach fünf Jahren Verhandlungszeit, das Urteil im NSU-Prozess und befand Beate Zschäpe, Andre Eminger, Holger Gerlach, Ralf Wohlleben und Carsten Schultze schuldig. Sie tragen die Verantwortung für die Taten des NSU. Im ‚Namen des Volkes‘ wurde die Frage der Schuld beantwortet. Fünf Täter*innen, fünf Urteile, dennoch viele unbeantwortete Fragen. Wie konnte es soweit kommen, dass Menschen mordend durch Deutschland ziehen, ohne, dass der Staat eingreift, hart durchgreift? Wurde weggeschaut? Wollte nichts gesehen werden? Insgesamt fanden 438 Verhandlungstage statt. 438 Tage, die für die Untersuchung der individuellen Schuld der Angeklagten genutzt wurden. Doch wenn das Gericht ‚im Namen des Volkes‘ urteilt, muss auch dieses „Volk“ untersucht werden. Dies ist nicht Aufgabe des Gerichts, sondern der Wissenschaft und der kritischen Gesellschaft. Ist dieses „Volk“ in der Position, sich frei und andere schuldig zu sprechen? Oder besteht eine Korrelation zwischen den Taten, der Sozialisation der Täter*innen und der Gesellschaft? Sind die Täter*innen nicht Teil der Gesellschaft?

Die These, dass die gesamtdeutsche Nachwendegesellschaft durch ihr Ignorieren, Ausblenden und stilles Zustimmen den NSU erst ermöglicht hat, wird im Folgenden untersucht. Hat also die Gesellschaft mit gemordet, ohne den Abzug gedrückt zu haben?

Durch eine Annäherung und Betrachtung des NSU-Komplexes wird der Grundstein für die anschließenden soziologischen Analysen gelegt. Grundlegend wird die ostdeutsche Gesellschaft im wiedervereinigten Deutschland untersucht, um, auf Basis der historischen Ereignisse, die aufkommende gesellschaftliche Radikalisierung und Fremdenfeindlichkeit zu beurteilen. Hierfür werden sowohl gesamtgesellschaftliche als auch individuell sozialisierende Faktoren betrachtet. Aus den Ergebnissen der Analysen werden Lehren aus der Vergangenheit für die Zukunft gezogen.

Nicht jede*r Rechte ist ein Neonazi, aber jeder Neonazi ist rechts. In Debatten findet sich selten eine klare begriffliche Anwendung der Begriffe „rechts“, „rechtsextrem“ und „rechtsterroristisch“. Für eine wissenschaftliche Arbeit ist es von Nöten, eine definitorische Klarheit zu finden, um sachgenau argumentieren zu können. In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff des „Rechtsextremismus“ als „Sammelbezeichnung für alle politischen Bestrebungen, die sich im Namen der Überbewertung ethnischer Zugehörigkeit gegen die Minimalbedingungen eines demokratischen Verfassungsstaates richten“ (Pfahl-Traughber 2018, S.303) verwendet. Die entsprechenden Adjektive „rechtsextrem“ und „rechtsextremistisch“ werden synonym verwendet. Rechtsterrorismus steht „für die Formen von politisch motivierter Gewaltanwendung, die von nicht-staatlichen Gruppen gegen ein politisches System in systematisch geplanter Form mit dem Ziel des psychologischen Einwirkens auf die Bevölkerung durchgeführt werden und dabei die Möglichkeit des gewaltfreien und legalen Agierens zu diesem Zweck als Handlungsoption ausschlagen sowie die Angemessenheit, Folgewirkung und Verhältnismäßigkeit des angewandten Mittels ignorieren“ (Pfahl-Traughber 2010 zitiert nach Botsch 2019, S.9).

Diese Arbeit hat den Anspruch, als Teil der Aufklärungsarbeit über den NSU-Komplex verstanden zu werden. Das Urteil des Münchener Oberlandesgerichtes vom 11. Juli 2018 kann nicht als Schlussstrich unter dem NSU-Komplex gelten, sondern muss Ausgangspunkt für weitere, tiefere wissenschaftliche Auseinandersetzungen sein.

Die weit verbreitete Formulierung des „NSU-Trios“ wird in der vorliegenden Arbeit abgelehnt. Stattdessen wird die Vokabel des „NSU-Komplexes“ genutzt. Begründet ist dies darin, die drei Haupttäter*innen nicht isoliert zu betrachten, sondern direkte und indirekte Helfer*innen, Unterstützer*innen und Mitwisser*innen einzuschließen.

Es ist zu betonen, dass die Untersuchung der gesellschaftlichen Mitverantwortung nicht die Schuld der einzelnen Täter*innen mildern soll oder deren Taten rechtfertigt. Vielmehr geht es um ein Verständnis der Zusammenhänge, die dazu führten, dass rechtsterroristische Taten im wiedervereinigten Deutschland möglich wurden. Nur durch die kritische Untersuchung der Vergangenheit, kann das Handeln im Jetzt und in der Zukunft positiv beeinflusst werden.

Ja unter der Haut ist die Scheiße am brodeln
Berichte geschreddert und Bürger belogen
Schlaufe reißt ab, Lunte schießt hoch
Plötzlich sind wieder paar Ausländer tot
(Zugezogen Maskulin – Tanz auf dem Vulkan)

2. Terror von rechts – eine Einführung in den NSU-Komplex

Bekannt sind vor allem die Täter*innen. Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt sind als das „Terror-Trio“ in aller Munde. Unbekannt sind die Opfer, zumindest für die gesellschaftliche Wahrnehmung. Ebenso unbekannt ist der Komplex um die Haupttäter*innen, Mittelsmänner und Mittelfrauen, die Taten und das Leben im Untergrund, ein Dickicht aus Neonazis, V-Männern und V-Frauen des Verfassungsschutzes, Behördenpannen und zivilgesellschaftlichem Versagen.

Zum Verständnis der soziologischen Untersuchungen braucht es ein Verständnis über den Themenkomplex NSU und dessen Tragweite. Da sich diese Arbeit hauptsächlich mit den Täter*innen und deren Taten beschäftigt, wird die Betroffenenperspektive nur kurz Erwähnung finden. Für eine ausführliche Betrachtung wäre eine gesonderte Arbeit von Nöten.

2.1 Ausführer des Terrors – die Haupttäter*innen des NSU

Es ist ein Netzwerk, das den Terrorismus des NSU mit unterstützt hat. Die Anschläge, Morde und Überfälle wurden jedoch immer von den drei Haupttäter*innen Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt ausgeführt. Es benötigt biografisches Material, um den Weg hin zum Terrorismus zu zeigen. Auf Grundlage der Ausführungen können dann soziologische Schlüsse abgeleitet werden.

Beate Zschäpe wurde am 02. Januar 1975 in Jena geboren. Zu ihrem Vater hatte sie nie Kontakt. Nach ihrer Geburt wurde sie von ihrer Großmutter betreut, später lebte sie mit ihrer Mutter bei deren Ehemann. Ende 1976, als die Ehe scheiterte, zog sie mit ihrer Mutter zurück zur Großmutter. Bis 1996 lebte sie dann mit ihrer Mutter in verschiedenen Wohnungen in Jena. 1991 schloss sie die Schule nach der 10. Klasse ab, konnte jedoch ihren Wunschberuf Kindergärtnerin nicht nachgehen, da sie keinen Ausbildungsplatz fand. Sie arbeitete dann vom 01. Juni 1992 bis 31. Oktober 1992 als Malergehilfin. Im November 1992 begann sie eine Ausbildung zur Gärtnerin. Nach ihrer Ausbildung fand sie keine Anstellung und arbeitete wieder als Malergehilfin. In den Jahren 1990/1991 ging sie eine Beziehung mit Uwe Mundlos ein, den sie aus ihrem Wohngebiet kannte. Sie trennten sich, als er zur Bundeswehr musste, sie blieben jedoch freundschaftlich verbunden. An ihrem Geburtstag, wenige Tage nach der Trennung von Mundlos, lernte sie Böhnhardt kennen, mit dem sie eine neue Beziehung einging. Diese soll bis zu dessen Tod bestanden haben. (vgl. Oberlandesgericht München, Urteil vom 11.07.2018, S.39ff.)

Seit ihrem Schulabschluss verschlechterte sich das Verhältnis zwischen Zschäpe und ihrer Mutter stark. Es gab ständig wechselnde Partner der Mutter und einen hohen Alkoholkonsum. Zschäpe war mit ihrer persönlichen Situation äußerst unzufrieden, nicht nur durch den fehlenden Ausbildungsplatz. „Den Tiefpunkt erreichte das Verhältnis der Angeklagten [Beate Zschäpe, d. Verf.] zu ihrer Mutter, als es im Sommer 1996 für die Angeklagte völlig überraschend zu einer Zwangsräumung der gemeinsam genutzten Wohnung kam, weil die Mutter die Miete nicht mehr bezahlt hatte.“ (ebd., S.42)

Bis zum Prozess vor dem Oberlandesgericht München lagen keine strafrechtlichen Vorbelastungen gegen Beate Zschäpe vor. Ab 1991 sind Strafverfahren gegen sie aktenkundig, die jedoch eingestellt wurden. (vgl. ebd., S.42ff.)

Uwe Böhnhardt wurde am 01. Oktober 1977 in Jena geboren. Seine Schulzeit war von Heimaufenthalten, Schulwechseln und Straftaten geprägt, bis er „seine schulische Laufbahn nach acht Schuljahren mit dem Abschluss der 7. Klasse“ (Deutscher Bundestag 2013, S.75) beendete. Im Jahr 1993 befand er sich mehrere Monate in Untersuchungshaft, bis er einen Förderlehrgang im Zuge eines Berufsvorbereitungsjahres 1994 absolvierte. Es folgte eine Ausbildung zum Hochbaufacharbeiter, anschließend übernahm ihn sein Ausbildungsbetreib, musste ihn jedoch 1996 wegen Arbeitsmangels kündigen. Er lebte durchgehend, bis zum 26. Januar 1998, bei seinen Eltern, die als Lehrerin und Abteilungsleiter arbeiteten. (vgl. ebd.)

Am 11. August 1973 wurde Uwe Mundlos in Jena geboren. Er ist Sohn eines Professors für Informatik an der Fachhochschule Jena und einer Verkäuferin. Mundlos absolvierte die Mittlere Reife und begann 1990 eine Ausbildung als Datenverarbeitungskaufmann. Nach seiner Zeit bei der Bundeswehr und einer Periode der Arbeitslosigkeit, begann er 1995 das Ilmenau-Kolleg zu besuchen, um die Hochschulreife zu erlangen. (vgl. ebd.)

Alle drei, Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos, sind in Jena aufgewachsen, lernten sich kennen, begingen gemeinsam Straftaten. Beispielhaft ist das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen im September 1995, illegaler Waffenbesitz und das Anbringen eines Puppentorsos „mit einem gelben Judenstern und einer Spreng- und Brandvorrichtung“ (Deutscher Bundestag 2013, S.79) an einer Autobahnbrücke 1996, und Hausfriedensbruch 1997. (vgl. ebd. S.76ff.)

Drei Personen, drei verschiedene Leben und dennoch kreuzen sich ihre Wege im Jugendclub „Winzerclub“ im Jenaer Stadtteil Winzerla. Bereits in den 90er Jahren fallen sie durch rechte Taten und eine immer weiter steigende Radikalisierung auf. Winkelmann und Ruch (2019) resultieren folglich, dass „die Biographien des NSU […] typische Aspekte rechtsextremistischer Sozialisation“ (Winkelmann und Ruch 2018, S.72) zeigen. Diese These wird im Späteren erneut aufgegriffen.

„Für einen roten Ford Escort ließ sich Mundlos das Kennzeichen „J-AH41“ anfertigen – J für Jena und AH für Adolf Hitler, 1941 begann der „Ostfeldzug“ der deutschen Wehrmacht gegen die Sowjetunion. […] Gekleidet in ihren braunen SA-ähnlichen Uniformen, provozierten Böhnhardt und Mundlos auch in der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald. […] Das Trio nahm teil an rechten Demonstrationen in Saalfeld, Dresden und Rudolstadt. 1996 protestierten sie gegen den Prozess gegen den hessischen Holocaustleugner Manfred Roeder in Erfurt. Sie marschierten mit NPD-Kadern zum Gedenken an den Tod des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß in Worms mit.“ (Röpke und Speit 2013, S.69ff.)

Am 26. Januar 1998 durchsuchte die Polizei eine Garagenanlage in Jena. Vorausgegangen waren Bombenattrappen zwischen 1996 und 1997 an einer Autobahnbrücke, an der Gedenkstätte für Magnus Poser und vor dem Theater. Es wurde vermutet, dass die Garage „die geheime Bombenwerkstatt, in der Neonazis ihre Attrappen basteln“ (ebd., S.73) sei. Böhnhardt wohnte dieser Durchsuchung bei, durfte sich jedoch von dieser entfernen. Er rief seine Eltern an und verabschiedete sich und Zschäpe bat ihre Großmutter um Geld, in dem Wissen, was die Ermittler finden würden: „vier funktionstüchtige Rohrbomben ohne Zünder mit insgesamt 1,39 Kilogramm hochexplosiven TNT. Fahnder fanden zudem in einem gepackten Rucksack einen Aktenordner, in dem Mundlos penibel seine Korrespondenz mit rechtsextremen Gesinnungsgenossen und eine detaillierte Telefonliste sämtlicher Kontakte aus der Szene abgeheftet hatte.“ (ebd.) Sie fanden Unterschlupf in Chemnitz, versorgt durch Thomas Starke. Das Ende des normalen Lebens, der Anfang des Untergrunds, der Anfang des jahrelangen rechtsextremen Terrorismus.

2.2 Historie des Terrors – die Taten des NSU

Am 04. November 2011 wurde die Sparkasse in Eisenach überfallen. Ein Mensch wurde verletzt, 71.915 Euro erbeutet. Die mutmaßlichen Täter*innen sind Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Sie werden später gestellt, entziehen sich jedoch der Festnahme durch Suizid. Beate Zschäpe legte Feuer in ihrer Wohnung in Zwickau und verteilt das Bekennervideo. Es ist das Ende des NSU, seine Enttarnung. (vgl. Ramelsberger et al. 2018, S.12ff.)

Es werden im Folgenden nur die Taten ab dem 26. Januar 1998 beschrieben, dem Tag an dem Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt auf Grund einer polizeilichen Durchsuchung in den Untergrund gegangen sind. Für den Prozess der Radikalisierung sind auch historisch zeitigere Aspekte von Wichtigkeit, diese werden gesondert betrachtet.

Am 18. Dezember 1998 fand der erste Überfall auf einen Supermarkt statt. Weitere Überfälle haben im Oktober 1999, November 2000, Juli 2001, September 2002 und 2003, Mai 2004, November 2005, Oktober und November 2006, Januar 2007, September 2011 und schließlich im November 2011 stattgefunden. 15 Überfalle sind es in der Summe.

Hinzu kommen Anschläge im Juni 1999, Januar 2001 und Juni 2004. Die Kölner Probsteigasse (2001) und die Keupstraße (2004) stellen einen wichtigen Punkt dar, da diese Taten keine einzelnen Menschen verletzen oder töten sollten, sondern größtmögliche Opferzahlen im Fokus standen.

Enver Şimşek wird am 09. September 2000 ermordet. Im Juni 2001 folgen der zweite und dritte Mord, im August 2001 der Vierte. Im Februar 2004 wird Mehmet Turgut als fünfter erschossen. Im Juni 2005 schließlich die nächsten beiden. Mehmet Kubaşik und Halit Yozgat werden im April 2006 ermordet. Im April 2007 erfolgt der letzte Mord am Michèle Kiesewetter, einer Polizistin aus Heilbronn. Zehn Menschen wurden ermordet. (vgl. ebd.)

Es werden dem NSU 15 Überfälle, drei Anschläge und zehn Morde zugeschrieben. Dies ist die Bilanz von einem Jahrzehnt deutschem Terrorismus. Ein neuer Terrorismus, bei dem „die Tötung zum handlungsleitenden Motiv“ (Winkelmann und Ruch 2018, S.73) wurde.

Im Folgenden liegt der Fokus auf den Geschädigten, den Mordopfern. Es wird beschrieben, wer die Mordopfer waren und welche Auswirkungen die Morde hatten.

2.3 Geschädigte des Terrors – die migrantisch-deutsche Gesellschaft

Die Bundesrepublik Deutschland konnte die Würde der Menschen (Art. 1 GG) und deren körperliche Unversehrtheit (Art. 2 GG) nicht schützen und garantieren. Sie wurden Opfer von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Terrorismus. Der Schutzapparat Grundrechte hatte versagt.

„Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen und politischen Anschauungen benachteiligte oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ (Art. 3 Abs. 3 GG)

Bereits in den 1980er Jahren sind Morde und Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte, wie am 22. August 1980 in der Hamburger Halkestraße, registriert. Es ist somit keine neue Entwicklung durch die Morde des NSU, sondern eine „rassistische Kontinuität“ (Kahveci und Pinar Sarp 2017, S.41) in Deutschland zu beobachten. Rassistische Taten, unabhängig von ihrer Stärke, haben immer gemein, dass sie „das Leben der Geflüchteten, der Migrant*innen nicht als wertvoll und schützenswert“ (ebd., S.40) einschätzen. Ziel war es, „die machtschwachen Einwanderer […] als Gruppe schwach zu halten“ (Quent 2018, S.153).

An den Morden an Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat wird dies besonders deutlich. Sie wurden ermordet, weil sie für die Täter nicht „deutsch genug“ waren. Diese Taten sind „zentral im kollektiven Gedächtnis der türkischen Migrant*innen“ verankert, woraus ein „kollektiver Gedächtniszustand [resultierte], der dadurch charakterisiert war, dass jeder, der aus der Türkei stammte, Angst hatte, selber Opfer zu werden“ (Kahveci und Pinar Sarp 2017, S.50)

Semiya Şimşek verließ das Land, andere Hinterbliebene kämpfen für Aufklärung und Aufmerksamkeit. Was generell bleibt, ist eine Entfremdung der Menschen von der Gesellschaft, die es nicht schaffte, sie zu schützen. Die Parole „Getroffen hat es einen, gemeint sind wir alle!“ ist eingebrannt in die Gedächtnisse und hat so nachhaltig die migrantische Gesellschaft verändert, die sich selbst schützen muss, wenn der Staat es nicht kann.

In der Berichterstattung und in der gesamtgesellschaftlichen Öffentlichkeit ist eine Kollektivierung und Entindividualisierung zu finden. Die Opfer sind Migrant*innen ohne Namen. Die Namen der Täter*innen kennt die Öffentlichkeit, die der Opfer nicht. Umso wichtiger ist die Etablierung einer „gesellschaftlichen Achtsamkeit für Minderheiten“ (ebd., S.53) und deren Gedenken.

Cottbus ’96, Baggys sind nicht Trend, doch Statement
Und hängen die zu tief bist du nicht schneller als ein Basy
Mit Vierzehn, Fünfzehn, Sechtzehn, jede Nacht nur im Gebüsch
Hoff‘ uns hör’n die Nachbarn nicht, hoff‘ wir werden nicht erwischt
Denn sonst gibt’s Schläge ins Gesicht
(Döll feat. Audio88 – Kultur)

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