Antifaschismus & Antirassismus – Nachrichten vom Riot Dog https://loukanikos161.blackblogs.org One more Blackblog Sat, 21 Oct 2023 06:21:50 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.1 Baraye (Shervin Hajipour) https://loukanikos161.blackblogs.org/2023/10/21/baraye-shervin-hajipour/ https://loukanikos161.blackblogs.org/2023/10/21/baraye-shervin-hajipour/#respond Sat, 21 Oct 2023 06:14:38 +0000 https://loukanikos161.blackblogs.org/?p=254 Um in den Straßen tanzen zu können
Weil wir Angst davor haben müssen, uns öffentlich zu küssen
Wir haben Angst, uns zu küssen
Für meine Schwester, deine Schwestern, unsere Schwestern
Dafür, dass sich in den morschen Köpfen endlich etwas bewegt
Für die Demütigungen, die uns angetan werden
Wegen der allgegenwärtigen Armut
Weil der Reichtum nicht umverteilt wird
Für den Wunsch nach einem normalen Leben
Wäre das auch für uns möglich
Für die im Abfall nach etwas Verwertbarem suchenden Kinder mit all ihren Träumen
Und wegen dieser gewissenslosen Wirtschaft, die so korrupt ist
Und wegen der verschmutzten Luft
Wegen der verdorrten Bäume auf der Valiasr-Straße
Weil der kleine Gepard vom Aussterben bedroht ist
Für all die unerwünschten Hunde, die doch unschuldig sind
Wegen des endlosen, schier niemals endenwollenden Tränenvergießens
Wegen der Vorstellung, dass sich die Szenen genauso wiederholen könnten
Für ein Lächeln im Gesicht
Für all diese Studenten
Für die Zukunft, für die Zukunft
Und für dieses aufgezwungene Paradies
Für die Intellektuellen, die im Gefängnis sind
Für die Flüchtlingskinder, die aus Afghanistan fliehen
Wegen all dem
Und für all das, was noch nicht gesagt ist
Für jede einzelne ihrer hohlen Phrasen
Wegen der einstürzenden Bruchbuden
Und für die, die friedfertig sind
Für einen Morgen nach diesen langen, langen Nächten
Für die aufgehende Sonne
Wegen der Schlaftabletten und der Schlaflosigkeit
Für die Frauen, das Leben und die Freiheit
Für das Mädchen, welches sich wünscht, ein Junge zu sein
Für die Frauen, das Leben, die Freiheit
Die Freiheit

Übersetzung des iranischen Freiheitsliedes Baraye („Um“, „für“ oder „wegen“) von Shervin Hajipour ins Deutsche.

Gelesen von der Publizistin, Politikwissenschafterin und Ärztin Gilda Sahebi, im Gespräch mit Renata Schmidtkunz in der Radiosendung „Im Gespräch: Gilda Sahebi über Frauen im Iran. ‚Was im Iran geschieht, ist feministische Weltgeschichte'“ am 9.3.2023 auf Ö1.

Zum Kontext dieses Liedes ein Dialog aus der genannten Sendung:

Renata Schmidtkunz: Das eine ist „Baraye“ von Shervin Hajipour. Das habe ich schon erwähnt. Das habe ich mitgebracht, auf deutsch.
Gilda Sahebi: Ach schön.
RS: Und ich wollte Sie mal fragen, ob Sie das vielleicht lesen wollen?
GS: Ja, gerne.
RS: Das ist die deutsche Übersetzung, die vielleicht nicht ganz dem Iranischen entspricht.
Es geht in diesem Lied Baraye, das so viel heisst wie „Um“, „Für“ oder „Wegen“ darum, warum eigentlich die Leute in Iran protestieren.
GS: Also es war so, dass die Frage gestellt wurde: warum? Und dann haben ganz viele Leute ganz viele Tweets abgeschickt. Und aus diesen Tweets wurde dieses Lied zusammengesetzt. Genau.

Gilda Sahebi ist auf social media zu finden (u.a. auf Bluesky) und hat auch ein Buch geschrieben:

„‚Unser Schwert ist Liebe‘. Die feministische Revolte im Iran“ (Fischer Verlag)

Das Lied Baraye:

https://www.fischerverlage.de/spezial/gilda-sahebi-unser-schwert-ist-liebe
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Wien: Solidaritätsdemonstration für die aufständischen Menschen im Iran https://loukanikos161.blackblogs.org/2022/09/30/wien-solidaritaetsdemonstration-fuer-die-aufstaendischen-menschen-im-iran/ https://loukanikos161.blackblogs.org/2022/09/30/wien-solidaritaetsdemonstration-fuer-die-aufstaendischen-menschen-im-iran/#respond Fri, 30 Sep 2022 14:27:26 +0000 http://loukanikos161.blackblogs.org/?p=251 In Wien fand am Dienstag eine Demonstration statt, die Gerechtigkeit für Zhina Mahsa Amini forderte und Solidarität mit den aufständischen Menschen im Iran zeigte.

Ein Gastbeitrag von Alexander Stoff

Zhina Mahsa Amini war Mitte September von „Sittenwächtern“ in Iran verhaftet worden, weil ihr vorgeworfen wurde, das Kopftuch nicht korrekt zu tragen. Am 16. September wurde sie in Polizeigewahrsam getötet. Seither gehen tausende Menschen in vielen Städten des Iran auf die Straße und fordern Frauenrechte und ein Ende der Mullah-Diktatur. Die Proteste werden von jungen Frauen, queeren Menschen, Arbeiter*innen und Kurd*innen getragen. Mutige Frauen widersetzen sich reaktionären Männern und weigern sich, auf der Straße das Kopftuch zu tragen. Es kommt zu öffentlichen Verbrennungen von Hijabs. Mindestens 48 Menschen wurden im Zuge der Proteste getötet, viele verletzt und Tausende verhaftet, hieß es in einer Rede in Wien. Es wurde auch auf den Fall von zwei iranischen Frauen hingewiesen – Zahra Sedighi-Hamadani und Elham Choubdardie aktuell mit der Todesstrafe bedroht werden, weil sie sich für die Rechte der LGBTIQ-Community eingesetzt haben.

Zur Demonstration in Wien hatte die Organisation „Rosa – kämpferisch. sozialistisch. feministisch“ im Bündnis mit anderen Gruppen wie „Avesta – kurdische Frauen in Wien“ und dem „Verein zur Förderung der Freiheitsrechte und Demokratie im Iran“ aufgerufen. Am Treffpunkt auf dem Platz der Menschenrechte versammelten sich die Teilnehmer*innen, laut dem Journalisten Gerhard Kettler ca. 2.000 Personen. Es wurden Redebeiträge gehalten, in denen unter lautem Beifall der Menge ein Ende der Diktatur, Menschen- und besonders Frauenrechte, Selbstbestimmung für Kurd*innen und andere Gruppen und die Befreiung für queere Menschen gefordert wurde. Viel Applaus gab es auch, als in einer Rede darauf hingewiesen wurde, dass die Protestbewegung nun dazu übergehen solle, neben dem Straßenprotest den Widerstand auszuweiten und zu Streiks überzugehen.

Es wurde in einer Rede darauf hingewiesen, dass auf die europäische Politik kein Verlass sei. Als erwähnt wurde, dass der österreichische Außenminister Schallenberg sich mit dem Außenminister des iranischen Mullah-Regimes getroffen hatte, gab es zahlreiche Buh-Rufe. Ein Redner bemerkte auch, dass Iran bisher vor allem mit dem Atomkonflikt in die internationalen Schlagzeilen gekommen sei, sich nun aber ein anderes Gesicht des Iran der Weltöffentlichkeit zeige. Der Widerstand im Iran könnte Auswirkungen auf die gesamte Region haben, zum Beispiel auch auf Afghanistan, wo die Taliban ebenfalls Frauen unterdrücken. Schließlich wurde gesagt, dass die Demonstration sich auch gegen Rassismus, Abschiebungen und Femizide überall auf der Welt richtet.

Nach einer guten Stunde setzte sich der Demonstrationszug nach 18 Uhr in Bewegung. Beim Losgehen wurde ein Lied aus der iranischen Rebellion abgespielt. Die Demonstrierenden trugen Transparente und Schilder. Es waren viele Fahnen von Organisationen sichtbar, etwa von linken und kurdischen Organisationen (Rojava). Der Demozug lief die Museumstraße entlang und bewegte sich dann nach einem Bogen die Stadiongasse hinunter, am Parlament vorbei und über die Ringstraße zum Ballhausplatz. Die ursprünglich geplante Route zur iranischen Botschaft war von der Polizei untersagt worden. Es waren Parolen zu hören wie „Hoch die internationale Solidarität“, „Frauenrechte überall, Frauenrechte in Iran“ und immer wieder der Ruf „Jin, Jîyan, Azadî (Frau – Leben – Freiheit)“. Besonders berührend war der Moment, als ein kleiner Bub immer wieder „Jin, Jîyan, Azadî“ rief.

Zuerst veröffentlicht auf Unsere Zeitung

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Doikayt: „Wo wir leben, dort ist unser Land“ https://loukanikos161.blackblogs.org/2019/12/03/isabel-frey-doikayt/ https://loukanikos161.blackblogs.org/2019/12/03/isabel-frey-doikayt/#respond Tue, 03 Dec 2019 09:24:31 +0000 http://loukanikos161.blackblogs.org/?p=229 Isabel Frey schnappt sich gern ihre Gitarre und macht revolutionäre jiddische Musik. Sie bezeichnet sich selbst als Millenial-Bundistin und setzt sich mit der jüdischen Diaspora auseinander. Bekannt geworden ist sie einer größeren Öffentlichkeit in Wien durch ihre Auftritte bei den Donnerstagsdemos. Langfassung eines Gesprächs mit Alexander Stoff, das zuerst im Augustin (Nr. 492, Oktober/November 2019) erschienen ist.

Frage: Erzähle bitte über deinen Werdegang. Wie bist du aufgewachsen und was ist dir heute in deinem Leben wichtig?

Isabel: Ich bin jüdisch-säkular in Wien aufgewachsen. Wir waren nicht gläubig, aber gewisse Traditionen haben wir eingehalten, wie an Feiertagen in die Synagoge gehen oder an Schabbat die Kerzen anzünden. Das kommt recht häufig in der jüdischen Gemeinde vor, um das Judentum kulturell am Leben zu erhalten. Währenddessen habe ich jede Woche an den Treffen der sozialistisch-zionistischen Jugendbewegung Hashomer Hatzair teilgenommen. Das hat mich sowohl hinsichtlich meiner jüdischen Identität als auch meines politischen Bewusstseins sehr geprägt. So bin ich als Jugendliche mit den Leuten vom Hashomer Hatzair gemeinsam auf Demos gegangen. Nach der Schule bin ich dann über den Hashomer Hatzair für ein Jahr nach Israel gereist, wo ich mit anderen aus Europa und den USA an so einer Art von freiwilligem sozialem Jahr teilgenommen habe. Ich habe in dieser Zeit auch die Siedlungen in der Westbank und den Zaun gesehen. Das hat mich schockiert und zum Nachdenken gebracht, was schließlich dazu führte, dass ich mich vom Zionismus abgewendet habe. Mir wurde mein Leben lang erzählt, dass ich zwar Österreicherin bin, aber dass ich auch eine Heimat in Israel habe. Dennoch habe ich das Land vor Ort als fremd empfunden. Mir gefällt die israelische Kultur und ich habe ein bisschen Hebräisch gelernt, ich habe auch Familie in Israel. Aber ich denke inzwischen, es ist eine Illusion zu glauben, dass es von Geburt aus mein zu Hause ist.

Nach diesem Jahr in Israel wollte ich weg aus Wien und habe 2013 in Amsterdam Soziologie und Politikwissenschaften zu studieren begonnen. Durch den Kontakt zu verschiedenen politischen Gruppen wurde ich nun stark politisiert. So war ich zB in der Hausbesetzer*innenszene aktiv. Als Studierende haben wir Räume besetzt, um sie selbst zu verwalten. Außerdem habe ich mich im Netzwerk „Feministinnen im Widerstand“ engagiert und bin zB gegen den (rechtsextremen Politiker) Geert Wilders auf die Straße gegangen und habe mit anderen Antirassist*innen gegen die Feiern mit der rassistischen Karikatur des „Zwarte Piet“ (schwarzer Peter) protestiert. Der tritt bei den großen Nikolo-Feierlichkeiten auf und es kommt dabei immer wieder zu black facing und stereotypen Verkleidungen. Das ist ganz schrecklich, weil in Holland auch People of color leben, viele Nachkommen von ehemaligen Sklav*innen aus Surinam. Ich war also quer durch verschiedene politische Bewegungen aktiv.

Frage: Als du in Israel warst, hast du im Kibbuz gelebt. Mit was für Erwartungen bist du dort hingegangen? Und welche Erfahrungen hast du dann im Kibbuz gesammelt?

Isabel: Meine Erwartung war, eine sozialistische Utopie vorzufinden. Die Realität war dann aber eine andere. Im Kibbuz, wo ich zuerst gewohnt habe, war kaum noch etwas kommunal. Es war wie in einem Dorf, wo jede Familie ein Haus kauft und für sich dort lebt. Die kommunale Essenshalle haben sie überhaupt nur geöffnet, weil wir jugendlichen Gäst*innen so eine große Gruppe waren. In einem anderen Kibbuz habe ich in einem Kindergarten gearbeitet – das hat mir schon besser gefallen. Toll finde ich, dass in den stärker kommunalisierten Kibbuzim die Kinder gemeinsam aufwachsen und es einfach mehr gemeinschaftliches Leben gibt. Was mich aber gleichzeitig erschreckt hat, war die politisch rechte Gesinnung und der Alltagsrassismus von vielen jungen Menschen dort. In einem Kibbuz nahe der Westbank haben sie die ganze Zeit auf Araber*innen geschimpft. Viele Junge haben inzwischen ganz andere Ziele als die Generation ihrer Eltern, die die Kibbuzbewegung aufgebaut haben. Einerseits leiden die Menschen in den Kibbuzim unter der aufgeheizten Kriegssituation, wenn zB Felder in Brand gesetzt werden, und sie entwickeln dann einen Hass auf die Palästinenser*innen. Andererseits wird überhaupt nicht über Ursachen wie die 53-jährige Besatzung gesprochen. Das hat mich ernüchtert und zeigt für mich, dass eine Utopie in dem Moment zerbröselt, wo sie institutionalisiert wird, weil es nicht statisch bleiben kann. Im Kibbuz haben wir auch eine frühere Partisanin kennen gelernt. Sie hat als junges Mädchen während des Warschauer Ghettoaufstandes Nachrichten übermittelt. Sie hat mich sehr beeindruckt, auch weil sie eine scharfe Analyse über die gegenwärtige Situation hatte. Sie ist Unterstützerin der Friedensbewegung. Leider gehört sie zu einer aussterbenden Generation.

Frage: Kommen wir doch wieder zurück zu sprechen auf deine Erlebnisse in Amsterdam.

Isabel: Vielleicht ein paar Worte darüber, wie ich zur Musik gekommen bin. Das Problem war, dass ich zwar in Amsterdam politisch sehr engagiert war, aber mir hat gänzlich ein jüdisches Umfeld gefehlt. Ich hatte dort keine Familie und in eine fremde Gemeinde wollte ich auch nicht einfach so gehen. Dazu kam, dass ich zum Zionismus auf Distanz gegangen bin. Auch in den Kreisen der linken Palästina-Solidaritätsbewegung habe ich keinen Platz für mich gesehen. Es war eben nicht meine Geschichte und ich wollte palästinensischen Erzählungen nicht den Platz wegnehmen. Mir hat eine Antwort darauf gefehlt, wie ich gleichzeitig links und jüdisch sein kann, wie das vereinbar ist. Und so bin ich schließlich auf dieses Liedgut gestoßen. Durch einen Freund habe ich gewisse Lieder wie den Arbetlose Marsch schon gekannt. Noch in Israel habe ich mir selbst beigebracht, Gitarre zu spielen, und so habe ich mich beim Singen begleitet. Und dann kam der Tag, als ich in einem besetzten Haus in Amsterdam mein erstes Konzert gegeben habe. Ich habe dafür ein Repertoire aus jiddischen Revolutions- und Widerstandsliedern zusammengestellt. Und zwischen den Liedern habe ich ein bisschen etwas darüber erzählt. So ist also dieses Setting zustande gekommen. Das war eine sehr schöne Erfahrung für mich und ich fand es auch stimmig.

Frage: Ist dir also mit deiner Musik die Verbindung von jüdischer Identität mit linker Politik gelungen?

Isabel: Ja, mit diesem Liedgut und dieser Geschichte. Ich habe dabei auch viel gelernt, denn ich wusste bis dahin nicht, dass es eine säkulare, jüdisch-sozialistische und nicht-zionistische Bewegung gegeben hat und mir war auch nicht bekannt, dass die russische Revolution besonders vom jüdischen Proletariat getragen wurde. Im Mittelpunkt stand für mich auch die jiddische Sprache. Beim Singen habe ich das Jiddisch sehr schön gefunden. Und ich habe auch mehr Bezug dazu als zB zum Hebräischen, da die jiddische Sprache aus dem Mittelhochdeutschen kommt und es mir daher leichter gefallen ist zu verstehen. Und so habe ich dann begonnen, auf Demonstrationen zu spielen und zu singen. Manchmal spontan bei Student*innenprotesten, dann wieder bei einer groß angelegten Blockadeaktion der Klimaschutzbewegung in Groningen, mit zivilem Ungehorsam so ähnlich wie Ende Gelände in Deutschland. Kurz nachdem die holländische Polizei die Demonstrant*innen mit Hunden und Pfefferspray attackiert und uns eingekesselt hatte, bin ich mit ein paar Liedern wie zB „Daloy politsey“ („Nieder mit der Polizei“, ein Lied gegen den russischen Zaren, Anm.) aufgetreten. Es war auch eine tolle Verbindung, meine jüdisch-revolutionäre Musik vor einem Publikum aus Klimaschutzaktivist*innen vorzustellen, das sonst wenig damit am Hut hatte.

Frage: Für die Klimaschutzaktivist*innen war es also etwas ganz Neues. Wie wird deine Musik sonst von den Zuhörenden aufgenommen?

Isabel: Einmal hat jemand zu mir gesagt, es sei toll, weil durch meine Musik das Gefühl entstehe, Teil von einem größeren Ganzen zu sein. Es knüpft eine Verbindung, wenn Menschen zum ersten Mal an einer politischen Aktion teilnehmen und dort erfahren, dass sie Teil von einer viel älteren Geschichte sind. Und es bedeutet auch Aufklärung. Aufgrund des Holocaust leben in Europa wenige Juden und Jüdinnen. Und viele kennen jüdische Gemeinden nur aus Geschichten über Antisemitismus und die Shoa. Mir ist es ein wichtiges Anliegen, den Menschen auch einen ganz anderen Teil der jüdischen Kultur näher zu bringen.

Frage: Bei manchen Liedern schreibst du eigene Texte dazu. Wie bist du auf die Idee gekommen?

Isabel: Inspiriert dazu hat mich Daniel Kahn, der auch jiddische revolutionäre Musik macht und die Texte immer auf Englisch übersetzt. Es spricht einfach mehr Leute an. So habe ich den Arbetlose Marsch (Arbeitslosenmarsch) für die Donnerstagsdemo übersetzt, denn auf einer Demonstration brauchst du etwas, um die Menschen aufzurütteln. Und das „Nieder mit HC“-Lied (im Original: „Daloy politsey“) habe ich zu diesem Anlass überhaupt neu vertextet. Diese Dynamik steht durchaus in der Tradition dieser Musik – es muss sich gar nicht streng an das Original halten wie bei einer klassischen Komposition.

Frage: Auf deiner Website wird die jüdische Diaspora thematisiert. Bitte erzähle mehr darüber.

Isabel: Was ich mache, wird als Teil eines Judentums gesehen, das von manchen diasporistisch genannt wird. Gemeint ist damit alles, was außerhalb Israels stattfindet. Obwohl das eigentlich nicht ganz richtig ist, denn auch Israel gehört zur Diaspora. In der Geschichte lebten und heute leben Juden und Jüdinnen auf der ganzen Welt verstreut und es gibt viele verschiedene jüdische Kulturen. Jiddisch ist eine Sprache der Diaspora, die ursprünglich aus Osteuropa kommt und sich auf der Welt verbreitet hat, zB durch die Migration in die USA. Es gab auch große jüdische Bevölkerungen in Nordafrika, wo überhaupt kein Widerspruch zwischen einer jüdischen und arabischen Identität existierte. Mit dem Aufkommen des Zionismus und der Staatsgründung von Israel bekam es eine Bedeutung, alles neu zu entwickeln. Neben neuer Fahne und Hymne das moderne Hebräisch mit neuen Tänzen und Liedern. Diaspora im heutigen Sinne bedeutet ein nicht-zionistisches Judentum. Es steht im Gegensatz zu einem ständigen Sehnen nach Israel als Heimat.

Was mich sehr inspiriert hat, ist die Geschichte des jüdischen Arbeiter*innenbundes. Der Bund repräsentierte eine dritte Strömung neben den jüdischen Kommunist*innen und den sozialistischen Zionist*innen. Der Bund stand dazwischen, weil er sich weder bestehenden linken Parteien anschließen noch nach Palästina emigrieren wollte, um dort den Sozialismus aufzubauen. Der Bund stand für ein selbstbewusstes Judentum, man sprach Jiddisch und die Aktivist*innen des Bundes wollten den Sozialismus an dem Ort aufbauen, wo sie gerade lebten. Das jiddische Wort Doikayt, was übersetzt so viel bedeutet wie Daheit, war genau dieses Prinzip: dort, wo wir leben, dort ist unser Land. Es braucht dafür keinen Nationalstaat, aber wir wollen unsere Rechte, um als Minderheit hier zu leben. Ich finde dieses Prinzip sehr schön, denn es ist eine kämpferische, antifaschistische Ansage: wir wollen hier die Welt verbessern. Es trägt in sich das Überleben der eigenen Gruppe, ebenso wie einen Universalismus, der alle Menschen frei sehen will. In der Diaspora-Tradition des Bundes steht für mich in heutiger Zeit die Solidarität mit Geflüchteten genauso wie das Engagment gegen rechtsextreme Hetze und antimuslimischen Rassismus.

Frage: Welche Organisationen arbeiten heutzutage in diese Richtung?

Isabel: Kleine Gruppen wie zB Jews for racial and economic justice in den USA. Die nennen sich zwar nicht diasporistisch, aber sie praktizieren genau das. Diese Organisation ist solidarisch mit Black Lives Matter und aktiv gegen Abschiebungen durch die Trump-Regierung. Oder das Kollektiv Jewdas in London. Die organisieren das lustige Birthwrong, als eine Alternative zu den Birthright-Reisen nach Israel, die von einem reichen, rechten US-Amerikaner veranstaltet werden und vor allem dazu dienen sollen, den Nationalismus zu stärken. Birthwrong will nun die jüdische Identität in der Diaspora gemeinsam, lustvoll erforschen, etwa durch Reisen nach Andalusien und Marseille, wo ich dabei gewesen bin und das letzte Birthwrong in Amsterdam mitorganisiert habe. Ich war davon begeistert, denn es sind lauter junge, linke Juden und Jüdinnen aus ganz Europa zusammengekommen, es gab eine Tour zur linken jüdischen Geschichte und wir haben eine Ausstellung über den kommunistischen Widerstand gegen die Nazis sowie ein Archiv über die Sklaverei in Holland besucht. Seit ich wieder zurück bin, versuche ich mit anderen auch hier in Wien etwas aufzubauen. Bisher treffen wir uns informell und feiern zB zusammen Rosch ha-Schana, das jüdische Neujahrsfest, und gehen gemeinsam auf Demos.

Frage: Was sind deine Utopien? Von was für einer Welt träumst du?

Isabel: Eine Welt, in der es keine Lohnarbeit gibt und wir nicht zum Arbeiten gezwungen werden. Also eine Welt, wo wir unserer Kreativität freien Lauf lassen können und unsere Handlungen aus eigener Motivation heraus mit dem Wunsch setzen, einander zu helfen oder etwas Neues zu schaffen. Und ich träume von einem Ort, an dem es kein Privateigentum mehr gibt. Wohnraum soll zB kollektives Eigentum sein und die Produktion von Gütern gemeinschaftlich reguliert werden. Und zwar in einer dezentralen und offenen, flexiblen Weise, damit es sich nicht in einem starren System festfährt. Ich träume auch von einer Welt, in der Geschlechterverhältnisse, Geschlechtsidentitäten und Sexualitäten sich öffnen und vielfältige Dinge möglich sind. Es wäre schön, wenn wir in unserer gegenwärtigen Gesellschaft vorhandene, unterdrückende Normen in diesen Bereichen überwinden und zu mehr Freiheit gelangen. Ich wünsche mir eine Welt ohne Grenzen, mit Bewegungsfreiheit, grundlegenden Rechten für alle Menschen und gegenseitiger Hilfe. Und ich wünsche mir eine Art des Zusammenlebens im Einklang mit der Natur, die anerkennt, dass unser Planet bedroht ist. Ich will eine Welt ohne Polizeigewalt.

Frage: Und was bedeutet es für dich, zu Hause zu sein? Fühlst du dich in Österreich wohl oder hast du auch schon daran gedacht, woanders zu leben?

Isabel: Zu Hause fühle ich mich besonders in Wien. Hier bin ich schließlich auch aufgewachsen und ich sehe mich auch mehr als Wienerin denn als Österreicherin. Das hat auch damit zu tun, dass es nur hier in Wien eine größere jüdische Gemeinde und ein jüdisches Leben gibt. Obwohl ich mich also in Wien zu Hause fühle, bleibt ein kleiner Rest von einem Gefühl, dass ich nicht zu 100% Teil der Gesellschaft bin. Das liegt teilweise an der Geschichte, aber auch an der Gegenwart, da wir als jüdische Gemeinde eine Minderheit sind. Und ich finde es auch lustig, denn ich war gerade für einen Monat in den USA und Kanada. In New York habe ich Familie und obwohl ich nie dort gelebt habe, fühle ich mich dort sehr zu Hause. Das hat gar keinen bestimmten Grund, aber ich glaube, es hängt damit zusammen, dass New York eine Stadt ist, in die fast alle zugezogen sind. Und auch damit, dass viele Juden und Jüdinnen in der Stadt leben, sodass es im Alltag einfach zum Leben dazu gehört. Die jüdische Gemeinde ist dort sehr vielfältig, man trifft zB auch Linke. Zur jüdischen Gemeinde in Wien, die ziemlich konservativ geprägt ist, habe ich eine gemischte Beziehung, manchmal ecke ich mit meiner politischen Einstellung und meinen Gefühlen gegenüber Israel an. Und obwohl mein letzter Aufenthalt sechs Jahre her ist, möchte ich auch gerne wieder nach Israel. Ich weiss noch nicht, wie ich es anstellen werde – ich hätte gerne einen Grund dafür, denn nur für einen Strandurlaub möchte ich ungern hinfahren. Im Moment bin ich dabei, meine Kenntnisse in Hebräisch aufzufrischen. Nicht der Zionismus, aber meine biographische Verbindung zieht mich nach Israel. Ich sehe Israel eben auch als eine Form der Diaspora, als einen Ort, an den Juden und Jüdinnen hingezogen sind und dort eine eigene Kultur aufgebaut haben.

Frage: Österreich ist ein sehr konservatives Land. In anderen Ländern gibt es lebendigere soziale Bewegungen. Welche Perspektiven siehst du hier, deine Träume von einer besseren Welt zu verwirklichen?

Isabel: Es stimmt, dass Österreich ein konservatives Land ist, aber ich glaube, im Moment sieht es nirgends auf der Welt besser aus. In Amsterdam fand ich die Hausbesetzer*innenszene schon toll, aber andererseits ist Holland vor allem am Land sehr konservativ, neoliberal und apolitisch. Es gibt dort an ländlichen Orten überhaupt keine linke Jugendkultur. Bei uns hat mich in diesem Jahr schwarz-blauer Regierung die Opposition auf der Straße bei den Donnerstagsdemos schon sehr beeindruckt. Sicher würde ich mir mehr wünschen, aber es ist etwas Besonderes, dabei zu sein. Das hat mir ein bisschen Hoffnung gemacht. Schon aus dem erwähnten jiddischen Prinzip der Doikayt denke ich mir, ich bin jetzt hier und muss mich auch hier engagieren und versuchen, die Lebensumstände zu verbessern.

https://www.isabelfrey.com

 

Langfassung erschienen auf Unsere Zeitung

 

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Gespräch mit Ruben Neugebauer von Sea Watch https://loukanikos161.blackblogs.org/2018/09/28/ruben-neugebauer-sea-watch/ Fri, 28 Sep 2018 16:33:03 +0000 http://loukanikos161.blackblogs.org/?p=161

Im folgenden die Dokumentation eines Interviews, das Cornelia Krebs am 17.08.2018 für das Europa-Journal auf dem Radiosender Ö1 geführt hat. Es handelt sich um kein offizielles Transkript, der ORF hat aber sein Einverständnis erklärt, dass ich das Interview abtippe und veröffentliche.

 

Cornelia Krebs (CK):

Willkommen zum Europa-Journal Sommergespräch. Zu Gast ist Ruben Neugebauer, Mitbegründer der deutschen NGO Sea Watch. Ein Gespräch über den Alltag auf Hoher See, Migrationspolitik und Menschenrechte. Schönen guten Abend!

Ruben Neugebauer (RN):

Guten Abend!

CK:

Die Schlagzeile – das Mittelmeer wird zum Massengrab – ist keine neue. Seit dem Jahr 2000 sind zigtausende Menschen auf dem Seeweg nach Europa ums Leben gekommen. Noch viel mehr konnten gerettet werden, u.a. durch den Einsatz von NGOs wie Sea Watch, der weitaus größere Teil aber von Militär- und Handelsschiffen. Denn eine der fundamentalen Regeln auf Hoher See ist die Verpflichtung zur Rettung von Schiffbrüchigen. Doch darüber scheint es keinen common sense mehr zu geben, wenn man sich die Entwicklungen der letzten Monate anschaut. Ihnen und Ihren Kollegen wird von manch politischer Seite ja zum Vorwurf gemacht, dass Sie Menschenleben retten. Unser Bundeskanzler, Sebastian Kurz, hat zum Beispiel einmal gemeint, der „NGO-Wahnsinn“ müsse aufhören. Und auch dass Sie ein gutes Geschäft damit machen würden, weil Sie angeblich mit Schleppern zusammenarbeiten. Vielleicht wollen Sie gleich zu Beginn ein paar Worte dazu verlieren?

RN:

Also zunächst einmal ist es schlicht nicht wahr. Es wurde immer wieder behauptet, wir würden mit Schleppern zusammenarbeiten. Dafür gibt es keinerlei Beweise. Wir sind eine rein spenden-finanzierte Organisation. Die einzige größere institutionelle Förderung, die wir bekommen haben, ist im Übrigen von der Evangelischen Kirche in Deutschland, die uns großzügig unterstützt haben, weil die als gute Christen natürlich den Grundsatz, dass Menschen aus Seenot gerettet werden müssen, noch hochhalten. Man hat dann gesagt, unsere Finanzierung sei undurchsichtig. Wir sind ein gemeinnütziger Verein in Deutschland. Das bedeutet, dass wir eine Steuererklärung machen müssen wie jeder andere auch und dass das Finanzamt sehr gut darüber Bescheid weiß, wer bei uns spendet und wo unsere Finanzen herkommen. In einem sind wir uns mit dem Kanzler Kurz ja einig: der NGO-Wahnsinn muss tatsächlich beendet werden, weil es ist Wahnsinn, dass hier Privatleute das übernehmen müssen, was eigentlich eine Aufgabe des Staates ist. Es ist Wahnsinn, dass täglich nach wie vor Menschen in Seenot geraten und dass dann letztlich die NGOs der einzige Garant dafür sind, dass die im Einklang mit internationalem Recht gerettet werden. Das ist Wahnsinn und das muss beendet werden – und zwar nicht dadurch, dass man weitere Abschottungsmaßnahmen an den Start bringt. Nicht dadurch, dass man die einzigen, die sich noch an die Grundrechte halten, kriminalisiert und stigmatisiert, sondern der NGO-Wahnsinn muss dadurch beendet werden, dass die europäische Politik endlich ihrer eigentlichen Aufgabe nachkommt: nämlich Lösungen zu finden, nicht zu hetzen, nicht immer weitere Abschottungsmaßnahmen zu starten, sondern tatsächlich Lösungen in Form von sicheren und legalen Wegen und einem Konzept für Migration zu finden.

CK:

Ein weiterer Vorwurf ist: die Initiativen der NGOs im Mittelmeer würden einen sogenannten Pull-Effekt verursachen, also weitere Menschen über das Meer nach Europa locken. Und wenn keine Hilfsschiffe mehr kommen, so die Überlegung, kommen auch keine Flüchtlinge mehr. Ein leitender Beamter unseres Bundeskriminalamtes hat vor wenigen Wochen hier im Europa-Journal gesagt, die Schlepper würden mit Sicherheit keine Boote aufs Meer schicken, wenn sie wüssten, dass den Menschen niemand hilft. Ist das für Sie nachvollziehbar?

RN:

Das ist für uns nicht nachvollziehbar. Gerade ein Kriminalbeamter sollte eigentlich gelernt haben, den Fakten auf den Grund zu gehen und sich mal anzuschauen, wie die Lage vor Ort wirklich aussieht. Das kann im Übrigen jeder auch von zu Hause aus machen. Man braucht lediglich eine Internetverbindung. Auf der Seite marinetraffic.com kann man nämlich sehen, wie viele Schiffe dort unterwegs sind. Und ich kann garantieren, dass zu jedem Zeitpunkt mindestens zehn, fünfzehn Handelsschiffe in Reichweite von diesen Schlauchbooten unterwegs sind, die im Prinzip diese Rettungen auch durchführen könnten. Das ist natürlich gefährlicher, wenn das ein Handelsschiff macht, weil die Crew nicht dafür trainiert ist und weil die auch nicht entsprechend ausgestattet sind. Wenn man einen solchen Pull-Faktor gänzlich ausschließen wollen würde, dann müsste man die Handelsschifffahrt auf dem Mittelmeer verbieten. Und da müsste man ein paar Wirtschaftsexperten fragen, was dann los wäre. Abgesehen davon ist dieser Vorwurf schlicht falsch, dass wir ein Pull-Faktor wären. Das kann man logisch erklären: wir sind ja eine Reaktion auf ein Problem. Diese Menschen sind dort ertrunken und deswegen sind wir dort vor Ort hingefahren – nicht die Menschen sind gekommen, weil wir dort waren. Wir hätten ja keinen Grund gehabt, dort zu sein, wenn sich diese tragischen Bootsunglücke nicht in großer Zahl ereignet hätten. Deswegen sind wir dort vor Ort.

Derselbe Vorwurf wurde übrigens auch schon der italienischen Rettungsmission Mare Nostrum gemacht. Italien hat ja nach den großen Bootsunglücken 2013 – als einziges Land im übrigen – tatsächlich Verantwortung übernommen und gesagt: wir wollen es nicht akzeptieren, dass an unserer Grenze Menschen in großer Zahl ertrinken. Und deswegen haben die damals die Marine und die Küstenwache losgeschickt, um dort Seenotrettung zu leisten. Damals war es der Rest Europas – Frontex vorne mit dabei – die gesagt haben, das könnte die Leute anlocken und die kommen ja nur, weil es die Rettung gibt. Daraufhin wurde diese Rettungsmission eingestellt – und die Mortalität ist massiv angestiegen. Es sind also sehr viel mehr Menschen bei der Überfahrt ums Leben gekommen als davor. Darauf haben wir als NGOs reagiert. Darauf haben wir gesagt: wir müssen aktiv werden, weil dort Menschen ertrinken.

Die Zahl der Überfahrten ist davon im Übrigen nicht berührt worden. Diese Zahl ist nach dem Ende von Mare Nostrum konstant hoch geblieben. Es gibt verschiedene Gründe, warum die Zahl der Überfahrten im Moment sinkt. Die Anwesenheit von weniger Rettungskräften gehört nicht dazu. Das war auch vorher schon der Fall. Gleichzeitig haben wir jetzt wieder eine Situation, bei der die Sterblichkeit massiv nach oben geht. Im Juni haben wir den tödlichsten Juni seit Beginn der Aufzeichnungen erlebt – und das obwohl deutlich weniger Menschen übers Meer gekommen sind als vorher. Es sind über 600 Menschen allein im Juni ums Leben gekommen – und zwar weil es dort keine Seenotrettung mehr gibt.

Mit derselben Argumentation könnte man im Übrigen auch die Bergwacht verbieten. Denn die meisten Menschen, die bergsteigen gehen und verunglücken, haben sich ja freiwillig selber in Gefahr gebracht. Wenn man jetzt keine Bergwacht mehr hätte, wenn die Leute keine Hoffnung auf Rettung mehr hätten, dann würden sie vielleicht gar nicht erst losmarschieren. Und was so eine Rettung kostet, was das den Sozialstaat kostet, wenn da einer vielleicht querschnittsgelähmt ist – bloß weil er sich selber freiwillig in Gefahr gebracht hat. Vielleicht sollte man es einfach lassen. Vielleicht sollte man die Bergwacht abschaffen. Vielleicht sollte man auch, wenn ein Motorradfahrer verunglückt, keinen Krankenwagen mehr losschicken, weil der hat sich ja selber entschieden, sich in Gefahr zu bringen und wenn es ihn in der Kurve hinlegt – vielleicht sollte man dann sagen, wir schicken keinen Krankenwagen mehr los. Vielleicht sollten wir da einfach ein bisschen abschrecken, damit sich keiner mehr in Gefahr bringt. Das ist völlig zynisch.

CK:

Ist das nicht vielleicht ein bisschen polemisch?

RN:

Natürlich ist das polemisch und zynisch. Aber genau das ist die Logik, die dahinter steckt, wenn man sagt: wir leisten keine Seenotrettung mehr, weil es könnten ja Leute kommen.

CK:

Ihr Schiff – die Sea Watch 3 – sitzt seit Wochen in Valletta fest, genauso wie zwei weitere Hilfsschiffe: die Lifeline und die Seefuchs. Mit welcher Begründung eigentlich?

RN:

Offiziell werden nebulöse Argumente vorgebracht wie: unsere Registrierung sei nicht richtig. Es waren zwei Tage Inspekteure von unserem niederländischen Flaggenstaat bei uns an Bord. Die waren sehr zufrieden mit dem, was sie dort vorgefunden haben. Und die niederländische Regierung hat dann auch der maltesischen Regierung deutlich gemacht, dass unser Schiff alle Voraussetzungen erfüllt. Wir haben die nötige Sicherheitsausrüstung, unsere Crew ist trainiert. Unser Schiff ist deutlich besser ausgerüstet als fast alle anderen Rettungsschiffe, die von staatlicher Seite auf dem Mittelmeer unterwegs sind. Nichts desto trotz werden wir weiter ohne juristisch tragbare Begründung – also illegal – dort festgehalten.

Es geht darum, das Mittelmeer zu einer menschenrechts-freien Zone zu machen. Man will nicht, dass es Zeugen für das gibt, was an Europas Grenzen passiert. Wir haben in den vergangenen Wochen mehrfach Vorfälle gehabt, bei denen die sogenannte libysche Küstenwache – dem Handlanger für Europas Abschottungspolitik – schwere Menschenrechtsvergehen auf dem Mittelmeer begangen hat. Unsere Kollegen von Proactiva Open Arms haben zum Beispiel ein Boot vorgefunden, das die libysche Küstenwache aufgeschlitzt hatte, obwohl dort noch lebende Menschen an Bord waren. Ein Kind und eine Frau sind dabei gestorben und nur eine Frau hat es überlebt. So etwas macht die libysche Küstenwache quasi im Auftrag der Europäer – sie lassen die Leute lieber auf See sterben. Was soll denn die libysche Küstenwache für ein Interesse daran haben, Menschen dort auf See sterben zu lassen? Das ist der konkrete Auftrag, der aus Europa kommt. Da sterben Menschen und dafür will man keine Zeugen haben. Und deswegen verhindert man, dass die Zivilgesellschaft mit Schiffen da raus fährt, weil wir natürlich nicht nur Menschen retten, sondern weil wir auch dokumentieren können, was dort vorfällt und das auch vor Gericht bringen. Zum Beispiel unterstützen wir gerade 17 Überlebende von einem Bootsunglück im letzten November dabei, ein Verfahren gegen den italienischen Staat am Europäischen Menschenrechtsgerichtshof zu führen, weil der italienische Staat dazu beigetragen hat, dass sie widerrechtlich nach Libyen zurück gebracht worden sind. Und das möchte man nicht, davon möchte man uns abhalten. Da stellt sich im Prinzip Malta gerade zur Verfügung, um sozusagen den bad cop zu machen und die Rettungsschiffe festzuhalten. Das hat nichts mit Papierkram zu tun. Das ist eine massive Kampagne, um das Mittelmeer zu einer menschenrechts-freien Zone zu machen.

CK:

Wie viele private Schiffe sind jetzt überhaupt auf dem Mittelmeer unterwegs?

RN:

Wir haben seit der vergangenen Woche kein privates Hilfsschiff mehr auf dem Mittelmeer. Die Open Arms ist noch nicht wieder zurück, weil sie von den Behörden bis nach Algeciras – quasi fast bis nach Gibraltar – geschickt worden ist. Das war der weitest entfernte Hafen, den sie auf dem Mittelmeer finden konnten. So etwas dauert dann mehrere Tage und bis sie dann wieder zurück im Einsatzgebiet sind, dauert es entsprechend Zeit. Die Aquarius ist seit gestern aus dem Rennen, weil Gibraltar dem Schiff die Flagge entzogen hat oder ab dem 20.August einfriert. Unsere Schiffe sind zusammen mit dem Schiff von Lifeline und der Seefuchs von Sea Eye auf Malta festgesetzt. Also im Moment ist tatsächlich kein privates Rettungsschiff vor Ort. Das hat dann zur Folge, dass sich zum Beispiel in den letzten Tagen dort ein Seenotfall ereignet hat, der über drei Tage unbeantwortet blieb. Über drei Tage ist immer wieder derselbe Notruf über Inmarsat verschickt worden – das ist ein Notfallsystem, über das die Küstenwache die Position von solchen Seenotfällen verschickt. Über drei Tage kam dieselbe Position immer wieder durch und das ist ganz konkret unterlassene Hilfeleistung. Dafür gehören die entsprechenden Behörden, die da nicht handeln, vor Gericht.

CK:

Sea Watch hat ja auch ein Flugzeug – die Moon Bird – die Sie selber auch fliegen. Damit werden Boote auf dem Meer ausgemacht und auch die hatte lange keine Starterlaubnis. Wie ist da der Stand der Dinge?

RN:

Auch da können wir nach wie vor nicht von Malta aus operieren. Das zeigt noch mal deutlich, dass es hier nicht um Papierkram – also Registrierungsfragen – geht. Wenn man drei unterschiedlich registrierte Rettungsschiffe plus ein völlig korrekt registriertes Schweizer Flugzeug nicht mehr operieren lässt – mit keinerlei ernsthafter Begründung – dann zeigt das deutlich, dass es hier wirklich darum geht, zu verhindern, dass es zivile Augen auf See gibt. Es passieren immer wieder Dinge, die grob gegen das Völkerrecht verstoßen. Es hat zum Beispiel gerade ein italienisches Handelsschiff Menschen zurück nach Tripoli in Libyen gebracht. Das ist ein grober Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention, gegen das sogenannte Refoulement-Verbot und gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Ein Schiff mit italienischer Flagge muss sich daran halten. Das wurde auch im sogenannten Hirsi (?)-Urteil vom europäischen Menschenrechtsgerichtshof festgestellt. Die haben einfach stumpf dagegen verstoßen. Das ist herausgekommen, weil ein ziviles Rettungsschiff – die Open Arms – zu diesem Zeitpunkt in der Nähe war und die Funk-Kommunikation zwischen den Libyern und diesem Handelsschiff abgehört hat. Nur dadurch ist dieser Fall überhaupt öffentlich geworden. Und das möchte man eben verhindern. Mit dem Flugzeug haben wir natürlich die Möglichkeit, ein großes Seegebiet abzudecken. Wir sind damit wesentlich schneller als mit einem Schiff. Wir können uns umschauen und kriegen viel mit. Das soll unterbunden werden.

CK:
Was passiert eigentlich zum Beispiel mit Handelsschiffen, die gerettete Flüchtlinge an Bord haben? Dürfen die in den italienischen Häfen und auf Malta anlegen?

RN:

Das ist genau das Problem: es gibt keine einheitliche Regelung. Es wird ja zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union um jeden Flüchtling einzeln gefeilscht. Es gab dadurch mehrere Fälle, bei denen Handelsschiffe über mehrere Tage vor der italienischen Küste ausharren mussten. Die durften dann irgendwann alle anlegen bzw. die italienische Küstenwache hat dann doch die Leute übernommen. Aber das hat erst mehrere Tage gedauert. Wenn so ein Handelsschiff für einen Tag vor Italien liegt und nicht weiterfahren kann, dann kostet das deutlich mehr als unser Schiff einen Monat lang zu betreiben. Und dieser wirtschaftliche Schaden führt natürlich dazu, dass sich Kapitäne von Handelsschiffen vielleicht sehr genau überlegen, ob sie ordentlich rechts und links von der Brücke aus dem Fenster schauen oder nicht. Es kommt immer wieder vor, dass Handelsschiffe wegschauen. Das habe ich selber schon aus dem Flugzeug beobachtet. Es gab Situationen, wo ich einen Tanker zum Beispiel mehrfach dazu auffordern musste, anzuhalten und das Schlauchboot, das nicht einmal 500 Meter neben diesem Tanker in Seenot geraten war, aufzunehmen bzw. die Rettung einzuleiten. Das war schon letztes Jahr so und jetzt kann man sich so etwas einfacher leisten, da es keine zivilen Augen mehr dort gibt. Vor allem aber werden die Handelsschiffe die Leute auch nicht mehr los. Da entsteht für die ein massiver wirtschaftlicher Schaden. Wenn wie kürzlich ein Schiff mehrere Tage vor Italien ausharren muss bis es die Leute loswird, dann entsteht ein wirtschaftlicher Schaden – davon könnten wir unser Schiff wahrscheinlich ein ganzes Jahr betreiben. Und das führt dazu, dass die Kapitäne massiv unter Druck sind. Dass sie dann auch von den Reedern möglicherweise unter Druck gesetzt werden oder selber sagen: wir wollen den Stress nicht haben – und dann schauen sie lieber weg. Das ist natürlich für uns schwer zu beurteilen, was genau im Hintergrund läuft. Was wir sagen können: bei der letzten Rettung der Aquarius haben die Überlebenden erzählt, dass fünf Schiffe an diesem Boot vorbeigefahren sind, bevor sie dann von der Aquarius gerettet worden sind. Und das ist eine konkrete Auswirkung der europäischen Politik, dass sichere Häfen verweigert werden. Und wenn es da zu Toten kommt, dann gehen die konkret auf das Konto von denen, die diese Politik eingefädelt haben. Und der Erste, der sich aus dem Fenster gelehnt hat, war der Bundeskanzler Kurz.

CK:

Wir haben schon darüber gesprochen: der neue europäische Weg scheint es zu sein, Schiffe mit Flüchtlingen an Bord erst anlegen zu lassen, wenn sich andere europäische Staaten dazu bereit erklären, die Menschen aufzunehmen, was mitunter zu diesen erbärmlichen Irrfahrten auf See führt. Das muss doch für die betroffenen Flüchtlinge wie auch die Crew-Mitglieder extrem belastend sein.

RN:

Das ist extrem belastend, sowohl für die flüchtenden Menschen als auch für die Crew. Deswegen ist im Seerecht auch ganz klar geregelt, dass die Zeit, die Menschen nach einer Rettung auf See verbringen müssen, so gering wie möglich zu halten ist. Und es ist wirklich eine Schande für die Europäische Union, dass der Friedensnobelpreisträger nicht dazu in der Lage ist, hier eine Lösung für ein ganz simples Problem zu finden. Menschen sind in Seenot – die müssen gerettet werden. Die müssen an Land gebracht werden. Wenn der reichste Kontinent der Welt, der immer die Menschenrechte so hoch hält, nicht dazu in der Lage ist, da eine Lösung zu finden, dann ist das wirklich beschämend. Es ist beschämend, dass die Europäische Union mehr dafür tut, Seenotrettung zu verhindern, als in solchen Fällen eine Lösung zu finden. Das ist für mich wirklich nicht nachvollziehbar.

CK:

Sie haben Sea Watch mitbegründet und aufgebaut. Wie sind Sie überhaupt dazu gekommen?

RN:

Das Problem besteht wie gesagt schon länger. Seit vielen Jahren ertrinken Menschen im Mittelmeer. Allerdings hat es 2014 eine tragische Wendung genommen, weil da die Rettungsmission Mare Nostrum, die vom italienischen Staat ausgeführt worden ist, eingestellt wurde – übrigens auf Druck der Europäischen Union. Damit sind die Todeszahlen massiv angestiegen. Gleichzeitig haben wir hier in Deutschland 25 Jahre Mauerfall gefeiert. Und da haben wir uns gefragt: wie kann es sein, dass man sich auf der einen Seite darüber freut, dass die Mauer gefallen ist – und gleichzeitig baut man eine neue Mauer an den europäischen Außengrenzen? Wie kann es sein, dass man der Mauertoten gedenkt – das ist ja ohne Zweifel tragisch, was da passiert ist – ohne zu erwähnen, dass an den europäischen Grenzen so viele Tausend Mauertote jedes Jahr neu dazu kommen? Und aus dem Grund haben wir gesagt, wir müssen aktiv werden und als Zivilgesellschaft das leisten, was der Staat nicht willens ist zu tun. Deswegen hat Harald Höppner damals die Organisation Sea Watch gegründet. Das habe ich frühzeitig mitbekommen – und das fand ich eine gute Idee, da war ich natürlich dabei. Und seitdem mache ich nicht viel anderes.

CK:

Sie sind ja eigentlich Journalist. Sie sind heute Aktivist. Wann ist für Sie der Entschluss gefallen, das eine nicht mehr zu sein und das andere zu werden?

RN:

Ich weiß nicht, ob man das eine automatisch nicht mehr ist. Es gibt dieses Objektivitäts-Dogma. Dazu hat der geschätzte Kollege Glenn Greenwald gesagt: nicht jeder Journalist, aber jeder gute Journalist ist ein Aktivist. Weil was macht letztendlich guten Journalismus aus? Es heißt, dass ich mich an die Fakten halte. Ich darf sehr wohl eine Meinung dazu haben. Ich muss fakten-basiert diskutieren. Und das vermisse ich eigentlich doch häufiger im Journalismus. Wir haben vorhin über die Vorwürfe, die uns gegenüber gemacht worden sind, gesprochen. Da wäre es sehr gut gewesen, wenn ein paar Journalisten eine etwas aktivistischere Motivation an den Tag gelegt hätten – nicht nur nachgeplappert hätten, was da gesagt worden ist, sondern wirklich mal auf den Grund gegangen wären und recherchiert hätten. Da ist es relativ egal, was für eine Meinung ich dazu habe – ich möchte über Fakten reden.

Zum Beispiel gab es den Vorwurf, dass die NGOs Lichtsignale an die libysche Küste geben würden. Da kann man sich jetzt hinsetzen und sagen: ich bin ein objektiver Journalist. Ich sage: der Staatsanwalt sagt, sie geben Lichtsignale. Dann rede ich auch mit der anderen Seite, mit der NGO – die sagt: wir geben keine Lichtsignale. Damit habe ich zur Aufklärung von diesem Sachverhalt gar nichts beigetragen. Ich war zwar neutral, aber ich habe nichts dazu beigetragen, das aufzuklären. Egal ob ich Aktivist oder Journalist bin, aber ich möchte das aufklären – dann stelle ich sehr schnell fest, dass sich die NGO-Schiffe alle außerhalb der libyschen Hoheitsgewässer befinden. Und dann gucke ich: was ist eigentlich die Masthöhe von diesen Schiffen? Dann stelle ich fest, dass die Erde keine Scheibe sondern eine Kugel ist. Und dann erkenne ich sehr schnell, dass es für diese NGOs gar nicht möglich ist, Lichtsignale an die libysche Küste zu geben. Das haut einfach geographisch nicht hin. Entweder glaube ich, die Erde ist eine Scheibe oder ich kann diese Theorie von den Lichtsignalen fix widerlegen. Mir ist ein Journalist mit einer aktivistischen Motivation, der den Dingen auf den Grund geht, deutlich lieber als jemand, der nur sagt: ich höre die eine Seite und die andere Seite.

Desmond Tutu hat einmal gesagt: if you choose neutrality in times of oppression you have chosen the side of the oppressor. Also wenn man in Zeiten von Unterdrückung neutral ist, dann stellt man sich auf die Seite des Unterdrückers. Genau das passiert im Moment in dieser Debatte um Migration, die völlig sachfremd geführt wird. Es wird sehr viel Stimmung gemacht. Und ich verstehe nicht, warum man den Quatsch, den die Rechten reden, nachplappern darf ohne dass einem wer sagt: du bist halt ein rechter Aktivist. Wenn man sich gleichzeitig auf die Seite der Menschenrechte, Grundrechte und auf die Seite derer stellt, die die europäischen Grundwerte verteidigen, dann wird man als Aktivist abgestempelt. Das ist für mich schwer nachvollziehbar. Ich stehe da vor einer Entscheidung: ich muss vielleicht meinen Kindern irgendwann erklären, was ich eigentlich gemacht habe, als Europa seine Werte verraten hat. Ich muss vielleicht irgendwann erklären, wo ich gewesen bin als wir Europäer viele Tausend Menschen an unseren Grenzen ertrinken haben lassen. Die Generationen nach uns werden dazu vielleicht Fragen haben und ich will eine Antwort parat haben. Da will ich nicht sagen: ich musste halt neutral sein.

CK:

Wie muss man sich so einen Einsatztag auf hoher See vorstellen? Sie sind ja selber operativ tätig: sie fliegen, sie sind mit an Bord. Können Sie schildern, wie ein schlechter Tag an Bord ausschaut?

RN:

Ein schlechter Tag ist immer dann, wenn Boote in Seenot geraten. Im Gegensatz dazu, dass uns immer vorgeworfen wird, wir würden die Leute herauslocken, sind wir froh, wenn keine Boote unterwegs sind. Wir würden uns wünschen, dass niemand gezwungen ist, auf diesen see-untauglichen Booten in See zu stechen, weil alle anderen Wege versperrt sind, um zu flüchten. Deshalb ist ein guter Tag, wenn niemand in Seenot gerät. Ein schlechter Tag ist, wenn sich Seenotfälle ereignen, weil das in jedem Fall gefährlich ist.

Aus dem Grund versuchen wir diese Seenotfälle frühzeitig zu erkennen. Das heißt, auf unserem Schiff sind wir 24-7 auf Ausguck – in Schichten natürlich, aber der Ausguck ist rund um die Uhr besetzt. Wir schauen per Radar und mit dem Fernglas. Und wir setzen auch unser Aufklärungsflugzeug dafür ein, Seenotfälle frühzeitig zu erkennen. Die meisten Seenotfälle kriegen wir aber von der Rettungsleitstelle – sei es jetzt von der libyschen, was auch schon vorgekommen ist, oder von der italienischen. Dann fahren wird da hin. Wir haben also entweder das Boot selber entdeckt oder es wird uns eine Position gemeldet – dann fahren wir dorthin.

Das allerwichtigste ist erst einmal das nackte Überleben dieser Menschen zu sichern. Dafür ist es wichtig, ihnen Rettungswesten auszuteilen. Das ist im Übrigen etwas, was die sogenannte libysche Küstenwache nicht macht. Ich habe auf den Booten der libyschen Küstenwache noch keine einzige Rettungsweste gesehen. Das liegt daran, dass es nicht darum geht, möglichst Leute aus Seenot zu retten, sondern nach Möglichkeit die Leute nach Libyen zurückzuschaffen. Denn es ist der Europäischen Union völlig egal, ob sie überleben oder ertrinken. Es geht darum, dass man sie hier nicht haben will. Das ist bei uns anders. Bei uns zählt der oberste Grundsatz im Seerecht und das, was auch die Moral gebietet – nämlich den Menschen, die in Seenot sind, das Überleben zu sichern, ihnen also erst einmal eine Rettungsweste zu geben, damit sie nicht ertrinken. Das ist der erste Schritt – dafür setzen wir unsere kleinen Schnellboote ein. Das ist auch mein Job, wenn ich an Bord bin. Ich fahre diese kleinen Rettungsboote. Damit fahren wir an einen Seenotfall heran, verteilen dort Rettungswesten, damit die Leute nicht ertrinken und dann nehmen wir sie in kleineren Fuhren an Bord auf unserem großen Schiff.

Dort werden sie zunächst erstversorgt. Diese Menschen haben in Libyen richtig schlimme Zustände erlebt. Unterernährung ist leider mittlerweile wieder ein Thema. Das heißt: teilweise sind sie unterernährt. Häufig sind sie dehydriert, weil sie schon mehrere Tage auf dem Wasser ausharren mussten. Wir haben ein medizinisches Team an Bord, das schaut, wer entsprechende Unterstützung braucht – teilweise weil es während der Fahrt mit dem Boot zu Verletzungen gekommen ist. Ganz oft haben wir zum Beispiel Verätzungen durch ein Gemisch aus Seewasser und Benzin, was sich in den Booten häufig findet. Diese Menschen müssen dann versorgt werden. Oft kommen aber auch Leute mit unversorgten medizinischen Problemen aus Libyen. Wir haben es zum Beispiel häufig mit Folteropfern zu tun. Unser medizinisches Team sieht noch sehr deutlich die Spuren von dem, was den Leuten in Libyen angetan wurde. Und darum wird sich dann gekümmert. Es geht auch darum, ein Miteinander herzustellen und den Leuten erst einmal zu sagen: willkommen! Viele von ihnen sagen, sie sind vorher lange nicht wie Menschen behandelt worden. Für viele ist es der erste Zeitpunkt seit langem, dass sie wieder wie Menschen behandelt werden. Und so wie die Debatte im Moment in Europa steht, ist es leider oft für sie auf lange Sicht der einzige Moment, wo sie wie Menschen behandelt werden.

CK:

Sind Sie an Ihre persönlichen Grenzen eigentlich auch schon gestoßen?

RN:
Wir stoßen immer wieder an unsere Grenzen. Eigentlich sollten wir nicht dort draußen sein. Eigentlich sollte es nicht nötig sein, dass Zivilist*innen dort auf See fahren müssen, um Menschen aus Seenot zu retten. Das ist ja keine Naturkatastrophe, sondern das ist ein politisches Problem. Das ist ja kein Erdbeben, weswegen die Leute da in Seenot sind, sondern diese Menschen sind in Seenot und sie sterben dort, weil wir ihnen jegliche sichere und legale Flucht verweigern und versperren. Natürlich kommt man da an seine Grenzen. Ich erinnere mich zum Beispiel an die Situation, als wir versucht haben, ein 16-jähriges Mädchen zu reanimieren. Die hatte gerade aufgehört zu atmen, als wir bei dem Boot angekommen sind. Wir haben alles versucht. Wir haben noch auf dem Schnellboot die Wiederbelebungsmaßnahmen gestartet. Wir haben sie kurzzeitig auch wieder gekriegt – wir hatten ein bisschen Ausschlag auf dem EKG. Aber sie hat dann den Flug ins Krankenhaus nicht überlebt. Das sind die Tage.. was kann man da machen? Wir haben dann die Flagge auf dem Schiff auf Halbmast gesetzt. Das war das einzige, was wir noch tun konnten. Aber so etwas geht einem schon nahe. Da fragt man sich dann schon: was hat dieses Mädchen falsch gemacht? Mit welchem Recht nehmen wir es uns heraus, sie zu zwingen, auf so ein Boot zu gehen, weil sie keine andere Möglichkeit hat, den Bedingungen in dem Land, wo sie herkommt, zu entkommen? Wie kann man das rechtfertigen? Also ich frage mich da wirklich, wie diejenigen, die die Grenzen schließen und die das zu verantworten haben, eigentlich noch ruhig schlafen können? Wenn man bedenkt, dass hier Minderjährige dazu gezwungen werden, ihr Leben zu riskieren und dann häufig auch sterben – das ist für mich nicht nachvollziehbar. Und klar, das bringt uns natürlich auch bei uns auf dem Schiff an unsere persönlichen Grenzen.

CK:

Ruben Neugebauer, ich möchte Ihnen gegen Ende unseres Gesprächs noch eine etwas heikle Frage stellen: was glauben Sie, wäre, wenn in den Booten zum Beispiel Schweden sitzen würden, Franzosen, Deutsche, Amerikaner – gäbe es dann auch diese hässlichen Bilder, von denen Sebastian Kurz einmal als Abschreckung gesprochen hat? Anders gefragt: sind Menschenrechte vielleicht doch nicht unteilbar?

RN:

Da sind wir genau am Kern des Problems angekommen. Ich glaube nämlich nicht, dass dasselbe passieren würde, wenn es weiße Leute, Europäer wären, die auf den Booten sitzen. Wenn ein Surfer abtreibt, dann fahren fünf Schiffe raus und zwei Hubschrauber und ein Flugzeug gehen in die Luft, um diese eine Person wieder an Land zu bringen. Da reitet die komplette Kavallerie los, während es die europäischen Staaten auf dem Mittelmeer fertig bringen, ein Boot über Tage in Seenot zu belassen. Und da ist die Würde des Menschen antastbar geworden. Das ist der allererste Artikel in unserer Verfassung, sowohl in Deutschland als auch in Österreich: die Würde des Menschen ist unantastbar. Auf dem Mittelmeer ist sie antastbar geworden – und zwar durch das Zutun der europäischen Politik, weil ein Unterschied gemacht wird und weil Menschenrechte zur Verhandlungsmasse geworden sind. Und ich sage ganz klar: da muss man sich entscheiden – und zwar zwischen Menschenrechten und Migrationsabwehr. Beides zusammen wird man nicht hinkriegen. Wenn man dazu bereit ist, Menschenrechte für die Migrationsabwehr aufzugeben, dann haben wir ein ernsthaftes Problem, weil dann ist auch unsere Demokratie in Gefahr. Denn dann fängt man nämlich an, einen Unterschied zwischen Menschen mit und ohne europäischen Pass zu machen. Und wenn Sebastian Kurz sagt, man muss diese hässlichen Bilder aushalten, dann sagt er damit nichts anderes als dass das Leben eines Schwarzen Menschen, eines Menschen, der aus Afrika kommt, weniger wert ist als das Leben eines Deutschen. Und von da ist es zum Faschismus nicht mehr weit.

CK:

Und was wäre Ihr Lösungsvorschlag?

RN:

Es gibt ja zahlreiche Möglichkeiten, das zu lösen. Man braucht nur eine versachlichte Debatte. Was wir im Moment haben, ist ein Angstdiskurs, der überhaupt nicht beachtet, wie viele denn eigentlich kommen. Es kommen gar nicht viele. Es sind auch davor Menschen gekommen – und zwar mehr als jetzt im Moment. Da hatten wir diese Debatte nicht. Natürlich sind 2015 sehr viele Menschen gekommen. Das hat zum Beispiel mit dem Krieg in Syrien zu tun. Gleichzeitig ist es aber so, dass im Moment die Zahlen verhältnismäßig ziemlich niedrig sind. Und man braucht nicht denken, dass da alle kommen. Es wird dieses Narrativ gebildet, dass sich ganz Afrika auf den Weg machen würde. Das stimmt schlicht nicht. Ich war zum Beispiel Anfang des Jahres über einen Monat in Ostafrika unterwegs, und ich habe da viele Menschen getroffen, die dort sehr zufrieden sind und die dort bleiben wollen. Das ist ja auch klar – das ist deren Heimat. Wer von uns will denn weg aus der Heimat?

Und es gibt in der Geschichte genügend Beispiele dafür, was passiert, wenn man Migration ermöglicht. Dieselbe hysterische Debatte hatten wir als es um die EU-Osterweiterung ging. Da hieß es: ganz Polen wird kommen und unser Sozialsystem fluten. Dann hat man die EU noch einmal erweitert – da hieß es, ganz Rumänien und Bulgarien wird kommen. Es gibt ein Gefälle in den Sozialstandards zum Beispiel zwischen Rumänien und Österreich. Trotzdem ist nicht ganz Rumänien nach Österreich gekommen, weil die Leute sich da auch zu Hause fühlen. Das heißt: natürlich gibt es partiell Migrationsbewegungen. Die sind völlig normal, die hat es in der Geschichte immer gegeben. Aber man braucht nicht denken, dass ganz Afrika kommt, wenn man Migration ermöglicht. Ein ähnliches Beispiel ist Mikronesien und die USA. Die USA haben irgendwann die Grenzen zu Mikronesien geöffnet. Da dachte man, das ist ein armes Land – die werden dann alle in die USA einreisen. Nur das ist nicht passiert. Natürlich gab es ein Stück weit eine Migrationsbewegung, aber die alle Prognosen deutlich unterschritten.

Überhaupt müssen wir über Migrationsrecht reden. Europa hat ja kein Migrationsrecht und kein Konzept für legale Migration. Deswegen drückt man alle in dieses Asylkonstrukt rein – und das ist eine lose-lose Situation. Da gewinnt keiner etwas. Das heißt: wir brauchen eine Versachlichung der Debatte. Wir müssen weg von diesem Angstdiskurs, der teilweise mit unbegründeten Ängsten und Zahlen herumhantiert. Wir müssen uns das genauer anschauen, wie viele denn tatsächlich kommen wollen. Wo gibt es einen Grund dafür und wie kann man das in Bahnen lenken, die sinnvoll sind? Diese Abschottung, die wir jetzt haben, ist reiner Rechtspopulismus – das hat historisch auch nie funktioniert. Wenn man sich die Beispiele anguckt, wo man historisch versucht hat, etwas mit Zäunen und Mauern zu lösen: die Römer haben beim Limes schon gelernt, dass das nicht hinhaut. Auch die chinesische Mauer hat auf die Dauer nicht funktioniert. Und von der Mauer in Berlin brauchen wir gar nicht anfangen.

Das heißt: es ist dringend notwendig, dass wir von diesem Angstdiskurs wegkommen und ein Konzept für Migration entwickeln. Und dass wir das auch wieder positiv besetzen und die Chancen sehen. Wenn man sich die Demographie in Europa anschaut – selbst die Bertelsmann-Stiftung bringt Studien heraus, dass man Migration braucht. Denn wer wischt mir den Hintern ab, wenn ich alt bin im Altersheim? Was ist mit den ganzen Stellen in der Pflege, die nicht besetzt sind? Letztendlich müssen wir weg davon, Migration immer als Gefahr zu betrachten, sondern wir müssen auch einmal die Chancen sehen. Dann müssen wir da vernünftige Konzepte entwickeln. Und wir müssen aufhören, den Rechtspopulisten – ob es jetzt von der FPÖ, AfD, CSU oder auch Sebastian Kurz kommt – hinterher zu laufen.

CK:

Ruben Neugebauer, ich danke Ihnen für dieses Gespräch. Alles Gute für Ihre Arbeit!

RN:

Sehr gerne und vielen Dank!

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Gestrandet in Kabul https://loukanikos161.blackblogs.org/2018/06/13/gestrandet-kabul/ Wed, 13 Jun 2018 11:26:05 +0000 http://loukanikos161.blackblogs.org/?p=122  

Bericht über die erste gemeinsame Charterabschiebung von 29 Menschen aus Österreich und Schweden nach Afghanistan am 28.03.2017.

 

Am Dienstag, den 28.03.2017 fand in der Nacht die erste gemeinsame Charterabschiebung von 29 Menschen aus Österreich und Schweden nach Afghanistan im Rahmen von „Joint Way Forward“ statt.

 

Afghanistan gilt in Europa inzwischen als „sicheres Herkunftsland“. Eine Sichtweise, die scheinbar nun auch von der österreichischen Regierung und den Behörden geteilt wird. Bislang wurden Asylwerber*innen aus Afghanistan in diesem Land geduldet, auch wenn nicht in allen Fällen Asyl gewährt wurde. Diese Praxis scheint sich nun zu verändern, denn in der Nacht von Dienstag, den 28.03.2017 auf Mittwoch gab es erstmals einen Charterflug nach Afghanistan, mit dem Menschen mit negativem Asylbescheid abgeschoben wurden. Bereits in den letzten Wochen wurden Menschen aus Afghanistan mit Linienflügen wie etwa Turkish Airlines abgeschoben. Der Fall des 23-jährigen Eshan Batoori zeigt jedoch, dass nachdrückliches Engagement von Unterstützer*innen wirksam gegen diese Praxis ist, denn seine geplante Abschiebung konnte vorläufig abgewendet werden.

 

Drohende Abschiebung trotz Verfolgung

 

Eshan Batoori hat nach den sechs Jahren seines Aufenthaltes in Österreich bereits seinen Platz gefunden. Denn er gibt mittlerweile selbst anderen Menschen Unterricht in deutscher Sprache, wie Rick R., Aktivist und Rechtsberater bei Asyl in Not, im Interview hervorhebt. Doch der junge Mann aus Afghanistan fühlt sich miserabel. Nicht nur wird seine Befindlichkeit dadurch in Mitleidenschaft gezogen, dass Eshan Batoori Familienangehörige und Freund*innen in einem Land verliert, wo Tag für Tag Krieg herrscht und Anschläge verübt werden. Er ist auch der Gefahr einer Abschiebung in dieses Land ausgesetzt, wo er als Hazari zu einer Gruppe von Menschen gehört, die in Afghanistan verfolgt werden. Hier wird es ihm schwer gemacht, sich in Österreich ein Leben in Frieden und in Freiheit aufzubauen. Eshan Batooris Asylverfahren wurde vor drei Jahren zunächst negativ abgeschlossen. Es wurde ihm aber Schutz geboten, indem die Behörden seinen Aufenthalt in Österreich duldeten. Vergangenen Sonntag wurde Eshan Batoori nun von der Polizei verhaftet und in Schubhaft genommen. Rechtliche Grundlage für diese Verfahrensweise ist ein negativer Asylbescheid aus dem Jahr 2012, der jedoch vom Gericht 2015 aufgehoben und zurück auf den Instanzenweg geschickt wurde. Vergeblich hat Eshan Batoori in den letzten Monaten darauf gewartet, einen frischen Bescheid zu erhalten. Nun befand er sich nach seiner Verhaftung in Schubhaft bei der Roßauer Lände in Wien, obwohl er also noch ein Verfahren um einen Aufenthaltstitel laufen hat. Inzwischen ist Eshan Batoori wieder frei, nachdem sein Fall in den Medien für Wirbel gesorgt hat und sich viele Menschen für seine Freilassung engagiert haben. So fand noch am Abend des 28.3.2017 eine Kundgebung von solidarischen Menschen vor dem Abschiebegefängnis bei der Roßauer Lände statt.

 

Erster Charterflug nach Afghanistan im Rahmen von „Joint Way Forward“

 

Doch auch wenn Eshan Batoori durch Interventionen auf verschiedenen Ebenen für den Moment davor bewahrt wird, abgeschoben zu werden, sind viele andere Menschen nicht davor geschützt, durch eine Abschiebung an ihre Peiniger ausgeliefert zu werden. Rick R. von Asyl in Not befürchtet im Gespräch, dass eine große Anzahl von Personen in der Nacht auf Mittwoch mit dem Charterflug nach Kabul in Afghanistan gebracht werden. Mittlerweile wurde offiziell bestätigt, dass dieser Charterflug stattgefunden hat. Die wenigsten Namen sind den Rechtsberater*innen bekannt. Manche der Betroffenen befanden sich in Schubhaft, andere wurden gar nicht erst dorthin gebracht, sondern sie hielten sich bereits in Polizeigewahrsam auf. Dort können Menschen bis zu 72 Stunden festgehalten werden, was darauf hindeutet, dass die Gefahr ihrer Abschiebung unmittelbar bevorsteht.

 

Ein Sprecher des Innenministeriums weist darauf hin, dass der Schwerpunkt des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) auf der sogenannten „freiwilligen Rückkehr“ liege. 597 Menschen aus Afghanistan haben Österreich nach Information des Innenministeriums 2016 „freiwillig“ verlassen. Dies macht nahezu die Hälfte der insgesamt 1.094 im Jahr 2016 aus Österreich nach Afghanistan gebrachten Personen aus. Gleichzeitig erhielten 2016 nur 30% der afghanischen Asylwerber*innen in Österreich eine positive Entscheidung im Rahmen von Asyl, subsidiärem Schutz oder humanitärem Aufenthalt. Das BFA rühmt sich auf seiner Website damit, dass im Jahr 2016 insgesamt um 30% mehr Menschen außer Landes gebracht wurden als im Vorjahr.

 

Nun wurden laut Auskunft des Sprechers des Innenministeriums beim ersten gemeinsamen Frontex Charterflug nach Afghanistan am 29.März 19 afghanische Staatsbürger*innen aus Österreich und zehn Personen aus Schweden an die Behörden in Kabul überstellt. Für das BFA handelte es sich um den ersten gemeinsamen koordinierten Flug nach Afghanistan seit der Unterzeichnung der Vereinbarung zwischen der EU und Afghanistan („Joint Way Forward“) im Oktober 2016. Und erst zwei Tage vor der Charterabschiebung, am 27.3.2017, fand in Brüssel das zweite Umsetzungstreffen der EU mit Afghanistan statt. Dabei einigte man sich laut Information des Innenministeriums auf ein Bekenntnis zur weiteren Umsetzung und einer intensivierten Kooperation bei laufenden Aktivitäten im Bereich von Abschiebungen. Laut Sprecher des Innenministeriums stehe dabei die Rückkehr von Menschen ohne Aufenthaltsrecht in der EU im Vordergrund, wobei das BFA seinen Fokus demzufolge auf die sogenannte „freiwillige Rückkehr“ lege. Als Schwerpunkte von „Joint Way Forward“ nennt der Sprecher die „Unterstützung bei der Reintegration“ wie finanzielle Hilfen sowie Aufklärungskampagnen. Die österreichische Regierung führt auf der Grundlage des Abkommens Einzelabschiebungen durch. Laut Website des BFA wurde 2016 insgesamt jeden fünften Tag eine Charterabschiebung durchgeführt. Auch in Zukunft wird es gemeinsame Charterabschiebungen auf der Basis von „Joint Way Forward“ nach Afghanistan geben, an denen sich Österreich beteiligt, kündigt der Sprecher des Innenministeriums an.

 

Im Oktober vergangenen Jahres haben sich in Brüssel verschiedene europäische Repräsentant*innen mit dem Präsidenten und mit Regierungsabgesandten der afghanischen Regierung getroffen. In diesem Rahmen drohte man, dem afghanischen Staat Subventionen zu entziehen, während auf der anderen Seite eine Erhöhung anderer Zahlungen versprochen wurde. Als Teil einer Übereinkunft unterzeichnete die afghanische Regierung daraufhin ein Abkommen für die Rücknahme von mindestens 80.000 Personen, die vor der Gewalt in Afghanistan nach Europa geflüchtet waren. Dies obwohl die Lage in Afghanistan bereits jetzt durch die Abschiebungen aus Pakistan und Iran und die 1,5 Millionen Binnengeflüchteten prekär ist. Seit dem Abkommen sind einige Monate vergangen. Doch nun scheint es mit den Abschiebungen ernst zu werden, befürchtet Rick R.

 

Geflüchtete stranden im „sicheren Herkunftsland“

 

Diese gravierende Situation wäre vermeidbar, so Rick R. Denn in Schubhaft und Polizeigewahrsam geraten Menschen, die einen negativen Asylbescheid erhalten und keine Beschwerde einlegen. Oft ist dies eine Folge schlechter Beratung durch den Verein Menschenrechte Österreich (VMÖ), der dem Innenministerium unterstellt ist. So weist Rick R. darauf hin, dass der VMÖ auf zwei Seiten niederschreibt, wofür eine vertrauenswürdige Beratungsorganisation wie Asyl in Not ganze 20 Seiten benötigt. Dazu kommen abgelaufene Fristen und „Überredungskünste“ durch den VMÖ. In der Folge erhalten Asylwerber*innen, die vom VMÖ vertreten werden, auch häufiger einen negativen Bescheid, so Rick R. Für gewöhnlich stehen die Chancen nicht schlecht, in höherer Instanz vor einem Gericht recht zu bekommen, wenn stichhaltig argumentiert wird. Vom VMÖ vertretene Asylwerber*innen werden jedoch sogar vor Gericht häufig abgewiesen. Andere wiederum erhalten gar nicht erst die Chance einer Beratung, da sie in Räumlichkeiten wie dem Henry Dunant Zentrum beim Flughafen Wien-Schwechat ausharren müssen.

 

Einmal nach Afghanistan abgeschoben, eröffnen sich den Menschen nicht viele Möglichkeiten. Von einem aus Österreich abgeschobenen Jugendlichen in Kabul, mit dem Asyl in Not in Kontakt steht, weiss Rick R., dass die Notunterkünfte für zurückgewiesene Menschen stark überbelegt sind. Denn auch die Regierungen von Pakistan und Iran schieben zahlreiche Personen nach Afghanistan ab. In diesen Lagern werden Menschen von den Taliban angeworben. Perspektiven gibt es für diese Menschen in Kabul und erst recht im unsicheren Umland keine, denn Arbeit ist nicht vorhanden. Die Taliban und Ableger von Daesh verüben immer wieder Anschläge auf die Bevölkerung. Zwar kann dieses Elend gelindert werden, wenn Geld aus Europa an die abgeschobenen Geflüchteten überwiesen wird. Jedoch stellt Rick R. fest, dass Überweisungen etwa mit Western Union riskant sein können, wenn die Taliban davon erfahren. Im „besten“ Fall wird dann den Menschen nur das Geld abgenommen.

 

Stop Deportation

 

Denjenigen Menschen, die mit der Abschiebepraxis nicht einverstanden sind, bleiben die gewohnten Pfade, so Rick R. Solidarische Beziehungen zu den Geflüchteten, Unterstützung auf juristischer Ebene, Versorgung mit Adressen wie die Caritas und Asyl in Not, an die sich Geflüchtete wenden können und Unterstützung bei rassistischer Belästigung und Gewalt. Sollte die österreichische Politik und Verwaltung diesen destruktiven Weg fortsetzen, so bleibt der Zivilgesellschaft politischer Aktivismus auf Demonstrationen und Druckausübung durch Medien. Es geht darum, den Verantwortlichen klar zu machen, dass diese menschenunwürdige staatliche Praxis nicht toleriert und vor allem nicht vergessen wird, betont Rick R. Sollten alle Stricke reissen und Menschen werden nach Afghanistan abgeschoben, so können Geldüberweisungen – trotz aller Risiken – hilfreich sein, damit die Betroffenen wenigstens in eines der Nachbarländer ausweichen können, um der schlimmsten Gewalt zu entfliehen. Um sich einer drohenden Abschiebung zu entziehen, gibt es Wege und Mittel, die schon von vielen in dieser äußersten Notlage angewendet wurden, wobei darüber jeder Mensch selbst entscheiden muss. Nicht zuletzt können sich auch Zeug*innen einer Abschiebung in Linienflügen solidarisch zeigen, indem sie sich von ihren Sitzen erheben und sich weigern mitzufliegen. So hofft Rick R. schließlich auf eine zahlreiche Beteiligung bei der Demonstration beim Polizeianhaltezentrum Roßauer Lände, der sich etliche Menschen am 28.3.2017 angeschlossen haben.

 

veröffentlicht am 02.04.2017 auf no-racism.net

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Hermine Granger ist also schwarz, na und?! https://loukanikos161.blackblogs.org/2018/06/13/black-hermione/ Wed, 13 Jun 2018 06:17:42 +0000 http://loukanikos161.blackblogs.org/?p=93  

Magische Freund*innen

Manchmal ist die Wahrheit komischer als eine erfundene Geschichte… „Harry Potter und das verfluchte Kind“ heisst die neue Geschichte, die in der von JK Rowling entworfenen Zauberer- und Hexenwelt spielt. Es wird ab 2016 in London als Theaterstück aufgeführt werden. Hermine Granger, eine der prominentesten Heldinnen in der Buchserie, wird dabei von Noma Dumezweni dargestellt werden, die aus Swaziland kommt. Im Internet schlagen nun die Wellen der Empörung mal wieder hoch. Rassist_innen wollen einfach nicht einsehen, warum ihre geliebte (?) Hermine plötzlich eine schwarze Hautfarbe haben soll.

 

Keine Annahme scheint ihnen zu abwegig, um hervorzuheben, warum Hermine Granger ganz bestimmt nicht schwarz sein könne und warum eine schwarze Schauspielerin nicht in diese Rolle schlüpfen dürfe. Natürlich wird auch der berüchtigte, reflexhafte Hinweis aus der Mottenkiste aller besorgten Bürger_innen hervorgekramt: „Ich bin ja kein Rassist, aber…“.

 

In der Forendiskussion auf Harry Potter Xperts wird etwa darauf hingewiesen, dass JK Rowling für Hermine selbst eine weisse Hautfarbe vorgesehen habe. Und vermeintlich belegt wird dies durch den Hinweis auf bestimmte Stellen in den Büchern, wo sie mal schreibt, dass Hermine braungebrannt aus den Ferien zurückkommt, mal dass sie im Gesicht rot anläuft. Dies seien unzweifelhafte Beweise, warum Hermine Granger nur als „weiss“ vorgestellt werden könne. Und warum Noma Dumezweni eindeutig eine „Fehlbesetzung“ sei. Manche orten gar eine finstere Verschwörung von Medien und politisch korrekten Fans, die nur gerne die „Rassismuskeule“ auspacken würden. Hermine sei weiss, bleibt weiss und wer sie sich anders vorstellt, der irre sich eben und wisse nicht über die „Fakten“ bescheid.

 

In der taz kommentiert Zoe Sona: „Den selbsternannten Sittenwächter_innen der Hautfarbe geht es ums Prinzip: In einer Welt, die von weißen Menschen dominiert wird, deren Privilegien durch eine rassistische Alltagskultur und Politik aufrecht erhalten wird, kann es keine schwarzen Held_innen geben. Und in einer magischen Parallelwelt, in der die Post von Eulen geliefert wird, schon gar nicht.“

 

Rassismus ist nach Stuart Hall „eine soziale Praxis, bei der körperliche Merkmale zur Klassifizierung bestimmter Bevölkerungsgruppen benutzt werden, etwa wenn man die Bevölkerung nicht in Arme und Reiche, sondern z.B. in Weiße und Schwarze einteilt. Kurz gesagt, in rassistischen Diskursen funktionieren körperliche Merkmale als Bedeutungsträger, als Zeichen innerhalb eines Diskurses der Differenz.“ Und weiter meint Hall: Es entsteht dabei ein „rassistisches Klassifikationssystem …, das auf „rassischen“ Charakteristika beruht. Wenn dieses Klassifikationssystem dazu dient, soziale, politische und ökonomische Praxen zu begründen, die bestimmte Gruppen vom Zugang zu materiellen oder symbolischen Ressourcen ausschließen, dann handelt es sich um rassistische Praxen.“

Wenn also in Frage gestellt oder verneint wird, dass Noma Dumezweni die richtige Besetzung für die Rolle der Hermine sei, weil sie eine schwarze Hautfarbe hat, dann ist dies rassistisch. Denn es wird hier gefordert, sie aufgrund ihrer Hautfarbe von einer schauspielerischen Tätigkeit auszuschließen. Teilweise wird ihr überhaupt das Talent abgesprochen, obwohl noch niemand wissen kann, wie sie sich in der Rolle der Hermine schlagen wird, da die Uraufführung erst 2016 ansteht.

Chitra Ramaswamy bezieht sich im „Guardian“ auf die Empörung im Netz und fragt: „Ist Hermine Granger schwarz? Die Antwort ist zweierlei. Erstens: Warum nicht, verdammt noch mal? Zweitens: Was für eine dumme Frage!“

 

Die Beschreibung der Hautfarbe kann in der Literatur manchmal durchaus im Kontext relevant werden. So ist es eben nicht unwichtig, ob etwa Onkel Tom im gleichnamigen Roman eine schwarze oder weisse Hautfarbe hat. Denn schließlich thematisiert ja der Roman die Sklaverei. Und darunter haben historisch ganz besonders Menschen aus Afrika gelitten. Es wäre also ziemlich skurril, sich den Protagonisten einer Geschichte über die Sklaverei in den USA als weiss vorzustellen.

 

In der Welt von „Harry Potter“ spielt etwas so Oberflächliches wie die Hautfarbe jedoch keine Rolle. Ähnliches gilt übrigens auch für die sexuelle Orientierung, denn JK Rowling erntete bereits einige Irritationen, als sie im Nachhinein öffentlich feststellte, dass Dumbledore „wahrscheinlich schwul“ ist. Der mächtigste Zauberer von allen ist homosexuell? So what. Er bleibt der mächtigste Zauberer im „Harry Potter“-Universum und seine sexuelle Orientierung ist weder von Belang noch ändert sie etwas an seinen Fähigkeiten.

 

JK Rowling versteht es prächtig, die Individuen, welche die Zaubererwelt bewohnen, in ihren charakterlichen Eigenheiten und Verhaltensweisen und in ihren Beziehungen zu einander zu beschreiben. Die Botschaft lautet: Was einen Menschen ausmacht, sind seine und ihre Gefühle, Wünsche, Träume, Ideen und Verhaltensweisen – nicht jedoch Äußerlichkeiten wie die Hautfarbe. Momente von Freundschaft und Liebe sind immer wieder kehrende Erfahrungen, über die JK Rowling schreibt. Rassismus ist zwar ein Thema in dieser Welt, jedoch im Sinne eines Problems, das das Klima in der Gesellschaft vergiftet und dem Reich des Bösen zugeordnet wird, das durch You-Know-Who und seine Anhängerschaft personifiziert wird.

 

Jene Stellen, die von den Gegner_innen einer schwarzen Hermine herangezogen werden, um die Farbe ihrer Haut zu „belegen“, erweisen sich bei näherer Betrachtung nur als Hinweise darauf, wie sich Hermine in einer bestimmten Situation fühlt oder verhält. Wenn sie rot im Gesicht wird, dann will JK Rowling damit wohl nur aussagen, dass ihr etwas peinlich oder unangenehm ist. Und wenn Hermine braungebrannt aus dem Urlaub zurückkehrt, dann soll dies vermutlich kein Hinweis auf ihre Hautfarbe sein, sondern es wird lediglich beschrieben, dass sie sich wohl fühlt, weil sie frisch, fröhlich und entspannt aus den Ferien kommt.

 

Aber könnte es nicht sogar plausibel sein, sich Hermine Granger gerade als schwarz vorzustellen? In den Büchern wird Hermine als Angehörige einer Minderheit – sie kommt aus einer nicht-magischen Familie, den sogenannten Muggeln – mehrmals rassistisch diskriminiert. So wird sie zB von einem Mitschüler als „dreckiges Schlammblut“ beschimpft. Ferner zeigt Hermine viel Courage und wehrt sich gegen die ungerechte Behandlung von anderen, seien es Menschen, Riesen oder Hippogreife. Und Hermine setzt sich für die Freiheit der Hauselfen ein, die in der Welt der Zauberer und Hexen als Sklaven behandelt werden. Schließlich kämpft sie als Aktivistin einer Widerstandsbewegung am Ende sogar gegen die rassistische Diktatur von You-Know-Who, in der de facto eine Apartheid zwischen Magiern und Muggeln herrscht. Zieht man nun diese Erfahrungen und die Art und Weise, wie sich Hermine in bestimmten Situationen verhält, in Betracht, dann erscheint es durchaus als stichhaltig, wenn sich manche Leser_innen gerade Hermine als schwarz vorstellen. Es hängt wohl auch damit zusammen, ob die Leser_innen selbst schon einmal von Rassismus betroffen waren.

 

In der Fanart-Szene wird Hermine Granger jedenfalls seit geraumer Zeit in den verschiedensten Farben gemalt. Manche stellen sie sich schwarz vor und für manche sieht sie asiatisch aus. JK Rowling hat sich übrigens auf Twitter dazu bekannt, was sie von dieser seltsamen „Diskussion“ hält und kommentierte fürs Protokoll: „Richtschnur: braune Augen, krause Haare und sehr schlau. Eine weisse Hautfarbe war nie festgelegt. Rowling liebt die schwarze Hermine *küsschen*“.

 

unveröffentlicht, 29.12.2015

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Zu Hause ist, wo du mit einem Lächeln empfangen wirst https://loukanikos161.blackblogs.org/2018/06/13/train-of-hope/ Wed, 13 Jun 2018 06:04:09 +0000 http://loukanikos161.blackblogs.org/?p=89  

Train of Hope

Özlem K. ist Lehrerin und liebt es, Menschen zu begegnen. Ahmad M. ist Journalist und hat einen langen und beschwerlichen Weg aus dem Irak hinter sich. Gemeinsam ist den beiden, dass sie leidenschaftlich gerne in ihrer Freizeit malen. Vielleicht sind sie sich sogar schon über den Weg gelaufen – hier am Hauptbahnhof in Wien. Eine Helferin und ein Mensch auf der Flucht erzählen.

 

Flucht und Bewegungsfreiheit

 

Ahmad M. spricht unmissverständlich aus, was er braucht, um sich wohl zu fühlen: Sicherheit und Frieden. Zusammen mit seiner Frau – er ist Schiite aus dem Süden, sie ist Sunnitin aus dem Westen – ist Ahmad M. vor ca. einem Monat aus dem Irak vor Gewalt und Verfolgung geflohen. Ein Teil seiner Familie hält sich noch in der Türkei auf, wo er sich aus Angst vor Repressalien auch nicht sicher fühlt. Er berichtet davon, dass seine Frau und er von der ungarischen Polizei geschlagen wurden. Vor mehreren Tagen hat er vom Fall eines Irakers erfahren, der in einem österreichischen Asylzentrum von einem Security misshandelt wurde. Bei Ahmad M. und anderen hat dies Erinnerungen an die Gewalt in Ungarn wachgerufen.

 

Kritik übt Ahmad M. auch daran, dass die lange Dauer der Asylverfahren in Österreich die meisten Menschen stark verunsichert und bedrückt, da sie nicht wissen, ob sie bleiben dürfen oder wieder das Land verlassen müssen. Bei der Einvernahme durch die Behörden vermisst Ahmad M. das Vertrauen in die Menschen, die Wahrheit zu sagen. Denn aufgrund der Tatsache, dass viele Menschen aus dem gleichen Land oder gar der gleichen Stadt flüchten und oft ähnliche schmerzhafte Erfahrungen machen, scheinen die Behörden den Flüchtlingen keinen Glauben zu schenken. Dringlich ist auch die schnelle Bereitstellung von Unterkünften, sagt Ahmad M., da es den Menschen nicht zugemutet werden darf, die bevorstehende kalte Jahreszeit in Zelten oder gar obdachlos zu überwintern. Er möchte am liebsten nach Skandinavien weiterreisen, um wieder mit dem Rest seiner Familie zusammenzukommen. Daher wünscht er sich von der österreichischen Regierung die Möglichkeit zur schnellen Weiterreise für alle Flüchtlinge, sofern sie dies wünschen. Als wenig vertrauensbildend empfindet Ahmad M. auch die Entscheidung der deutschen Regierung, nun Fingerabdrücke an der Grenze abzunehmen. Er möchte die freie Wahl haben zu entscheiden, wohin er geht und sich nicht durch staatliche Registrierung in seiner Freiheit einschränken lassen.

 

Begegnungen zwischen Menschen

 

Wovon Özlem K. besonders beeindruckt ist, das sind die Begegnungen mit anderen Menschen, ungeachtet von Herkunft, Sprache und anderen Unterschieden. Sie bewundert die vielen Menschen, die gemeinsam mit ihr den Menschen auf der Flucht helfen. Die Beziehungen zu den Menschen – Helfer_innen wie auch Flüchtlinge – sind für sie sehr wertvoll. Obwohl sie gerne auch Menschen kennenlernen möchte, die am Hauptbahnhof ankommen, ist Özlem K. meistens zu beschäftigt, um persönliche Beziehungen zu pflegen. Auch Ahmad M. wünscht sich, mit den Menschen am Hauptbahnhof ins Gespräch zu kommen, er beklagt jedoch, dass Sprachbarrieren dies erschweren. Da sie ihrem Beruf als Lehrerin nachgeht und gerade ihren Master in Religionspädagogik macht, kommt Özlem K. unter der Woche jeden Tag am Nachmittag zum Hauptbahnhof und arbeitet dann bis in den Abend hinein beim Essensstand. Am Wochenende bleibt sie auch manchmal über Nacht. Es berührt sie tief, Menschen zu treffen, die auf der Suche nach ihrer Familie sind oder denen sie helfen kann, ihre nassen Schuhe gegen trockene Kleidungsstücke zu wechseln. Manchmal ist Özlem K. den Tränen nahe, wenn sie den Fluchtgeschichten betroffen zuhört – gleichzeitig versucht sie stark zu bleiben, um den Menschen Mut zuzusprechen. Zum Ausweinen geht sie dann nach Hause.

 

Gemeinsam anpacken

 

Özlem K. ist eine von vielen, die anpackt, wo es erforderlich ist und die gerne den Menschen auf der Flucht hilft. Beim Essensstand am Hauptbahnhof übernimmt sie alle Aufgaben, die gerade anfallen: Gemüse schneiden, notwendige Sachen organisieren, saubermachen. Anfangs hat sie oft übersetzt, vor allem für Flüchtlinge, die sich auch in der Türkei aufgehalten haben. Doch sogar wenn sie sich gerade nicht am Hauptbahnhof befindet, schreitet sie zur Tat und kocht mit ihren Kolleg_innen in der Schule oder organisiert Decken und Matten für die Flüchtlinge. Am Hauptbahnhof funktioniert vieles wie geschmiert – es wird gar nicht lange diskutiert sondern einfach in Selbstorganisation getan, was notwendig ist.

 

Genau das unterscheidet auch Menschen wie Özlem K. von den Regierenden in Österreich. Während die Regierung notwendige Maßnahmen für die Öffnung der Grenzen und das Willkommenheißen der Flüchtlinge unterlässt, beweisen die Helfer_innen und NGOs, dass sie sich nicht vom Leid abwenden und ihre Arme öffnen, um tatkräftig den Menschen auf der Flucht zur Seite zu stehen. Ahmad M. sagt, dass er sich hier willkommen fühlt und die Freundlichkeit der Menschen spürt – gleichzeitig weiß er nicht genau, ob die Regierung auch so empfindet wie die vielen Helfer_innen.

 

Zu Hause ankommen

 

Die Menschen, die am Hauptbahnhof ankommen, machen auf Özlem K. ein wenig den Eindruck, verloren zu sein. Zwar werden sie hier gut versorgt, aber dennoch haben sie nach den entbehrungsreichen und leidvollen Erfahrungen auf ihrer Flucht noch keinen Ort gefunden, den sie ihr Zuhause nennen können. Daher ist es auch wichtig, den Menschen durch freundliche Gesten ein Gefühl des Wohlbefindens und der Geborgenheit zu schenken – und sei es durch ein Lächeln, so Özlem K.

 

Der Moment, der sie bisher am meisten bewegt hat, ist für Özlem K. jener Abend, als mehrere Flüchtlinge sich auf den Platz vor dem Hauptbahnhof begeben und ausgelassen mit einander tanzen und singen. Ein Moment der Freude und des Gefühls, willkommen zu sein. Wenn sie sich etwas wünschen darf, dann möchte Özlem K. gerne erleben, dass die Menschen auf der Flucht ein Zuhause finden. Einen Ort, den sie sich selbst aussuchen können und wo sie endlich zur Ruhe kommen und sich wohlfühlen.

 

veröffentlicht auf no-racism.net

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Röszke: Helfen oder zuschauen, wie Menschen sterben https://loukanikos161.blackblogs.org/2018/06/13/roeszke-helfen/ Wed, 13 Jun 2018 05:56:43 +0000 http://loukanikos161.blackblogs.org/?p=87  

Röszke, Anfang September 2015. Kinder zittern vor Kälte, Hunger breitet sich unter den Ankommenden aus, Menschen werden krank, weil sie schutzlos und ohne Dach über dem Kopf der Witterung ausgesetzt sind, viele Menschen schlafen auf dem harten Boden. Rund um das ungarische Erstaufnahmezentrum Röszke herrschen unerträgliche und menschenunwürdige Zustände.

 

Überwachung statt Hilfe

 

Während in Röszke das Elend vorherrscht und die Menschen leiden, nehmen sich die Behörden alle Zeit der Welt, um die ankommenden Flüchtlinge zu registrieren. Denn nur wer seine oder ihre Fingerabdrücke hergibt, darf sich weiter auf den Weg in Richtung Grenze machen. Manche Flüchtlinge verweigern dies aus gutem Grund. Denn nach wie vor ist die Dublin-Verordnung in Kraft, die nur in jenem Land die Behandlung des Asylantrages gewährleistet, in dem die Menschen zuerst europäischen Boden betreten haben. Die Abnahme der Fingerabdrücke in Ungarn bedeutet daher für viele eine akute Bedrohung und löst Ängste aus, hinter Stacheldraht und Zäunen festgehalten zu werden.

 

Mittlerweile haben die ungarischen Behörden die Menschen aus dem Lager in Röszke weggebracht. Das Lager selbst bleibt jedoch bestehen und es kommen neue Leute nach. Über die weitere Entwicklung in Röszke kann gegenwärtig nur spekuliert werden. Die Situation ändert sich nahezu stündlich. Die ungarische Regierung hält jedenfalls daran fest, die Menschen auf der Flucht zu registrieren. Christine Schörkhuber, Helferin bei SOS Röszke, berichtet, dass Passierscheine ausgestellt werden, mit denen die Menschen innerhalb Ungarns von einem Camp, etwa Röszke, ins nächste, wie etwa Györ, verlegt werden. Der ungarische Staat erwartet, dass die Menschen dort einen Asylantrag stellen. Diese offiziellen Lager scheinen zwar basisversorgt zu sein, aber die Lebensbedingungen sind nicht menschenwürdig, so Christine Schörkhuber.

 

Die ungarische Polizei treibt seit Tagen ein Katz und Maus-Spiel mit Flüchtlingen. Mal werden sie durchgelassen, mal werden sie aufgehalten. Auch gegenüber den Autokonvois mit den Hilfslieferungen bleibt die Polizei unberechenbar – es muss mitunter lange verhandelt werden, bevor ein Weiterfahren möglich ist. Doch nicht nur die ungarische Regierung, sondern auch die Regierung von Deutschland trägt nun zur unsicheren Situation bei, indem sie den Druck auf die Flüchtlinge erhöht und die Grenzen schließt.

 

Mut zur Hilfe

 

Österreich kann hier zur Entspannung beitragen, indem es genau den umgekehrten Weg geht und die Grenzen für Fluchtbewegungen umgehend öffnet. Anstatt wie aktuell die Grenzüberwachung zu verstärken, bietet es sich für eine Entspannung an, die Logistik und Koordination der Helfer_innen zu unterstützen.

 

Denn eines haben die Ereignisse der letzten Wochen deutlich gezeigt: eine humanitäre Katastrophe lässt sich abschwächen und letztlich wohl auch ganz verhindern, wenn Helfer_innen sich mit Menschenverstand zusammenschließen. Doch es bedarf auch der Unterstützung durch staatliche Stellen, die ja über bessere Infrastruktur und Ressourcen verfügen. Die Situation lässt sich auch in Österreich und Deutschland meistern, wenn der politische Rahmen die Hilfe der Menschen begünstigt. Die Politik soll Menschen beim Helfen unterstützen und nicht ihr bisheriges Spiel fortsetzen und mal die Grenzen öffnen, dann wieder schließen, hebt Christine Schörkhuber hervor.

 

Selbst wenn sie es schaffen, nach Westen weiterzureisen, bleibt die Gefahr bestehen, wieder nach Ungarn zurückgeschoben zu werden. Immer wieder kam es in Röszke zu kleineren oder größeren Ausbruchsversuchen, die brutal von der ungarischen Polizei niedergeknüppelt wurden. In den um Röszke liegenden Feldern stehen die Flüchtlinge lange im Polizeikessel, während manche fliehen und sich zu Fuß auf den langen Weg zur österreichischen Grenze aufmachen. Doch nicht alle schaffen es, viele werden wieder nach einigen Kilometern von der ungarischen Polizei eingefangen. Immerhin schaffen es einzelne, mit Autos der Registrierung durch die ungarischen Behörden zu entgehen.

 

Um die Menschen auf der Flucht aus dieser katastrophalen Situation herauszuholen, sammeln sich in Österreich und Deutschland couragierte Menschen, die mit Autokonvois nach Ungarn fahren. Gleichzeitig versuchen Menschen, das Elend in Röszke zu lindern, indem behelfsmäßige Hilfsstrukturen aufgebaut werden, um die Flüchtlinge mit dem Allernötigsten wie Nahrungsmittel, Wasser, Medizin, warme Kleidung, Regenschutz und Zelten zu versorgen. Kurzfristig erhofft sich eine Mitarbeiterin von SOS Röszke, dass viele Menschen die benötigten Dinge nach Ungarn bringen und für ein paar Tage vor Ort bleiben.

 

Ali M. ist Mitte vergangener Woche mit anderen als freiwilliger Helfer nach Röszke gefahren, um eine Hilfslieferung zu überbringen und als Dolmetscher auszuhelfen. E schildert die schwierige Situation, als immer mehr Menschen bei Röszke ankamen. Halb ohnmächtige Kinder, Menschen mit Verletzungen, Kinder, die ihre Eltern verloren haben, schwangere Frauen, die nicht gleich medizinisch versorgt werden konnten, weil die wenigen Ärzt_innen überlastet waren. Obwohl die Situation Ali M. selbst bedrückt hat, musste er sich anstrengen, nicht in Tränen auszubrechen und versuchte, den erschöpften Menschen vor allem Mut zuzusprechen.

 

Zumindest bis Mitte vergangener Woche waren die Helfer_innen auf sich alleine gestellt. Eine Handvoll von Helfer_innen und eine kleine lokale NGO kümmerten sich bis dahin um ein winziges Versorgungszelt und ein medizinisches Zelt für Tausende von Flüchtlingen. Durch schnelle Koordination der Hilfsaktivitäten gelang es schließlich, für die Menschen in Röszke eine respektvolle Versorgung zu gewährleisten. Die lokale Hilfsorganisation MigSzol verfügte bald über ein relativ gut befülltes Spendenlager. So wird auch die gesamte Koordination erleichtert, wenn sich mit dem Auto nach Ungarn fahrende Helfer_innen direkt an MigSzol am Bahnhof von Szeged wenden, bevor sie sich dem Lager in Röszke nähern. Nach einer Aufforderung zur Hilfe nach außen engagierten sich auch kleine NGOs, die Suppenküchen einrichteten. Fahrzeugkonvois machen sich auf den Weg von Österreich und Deutschland nach Ungarn. Manche Hilfsleistungen wie die Essensverteilung und die medizinische Versorgung konnten schließlich nach ein paar Tagen an professionelle Organisationen wie Caritas und Ärzte ohne Grenzen übergeben werden. Es gibt auch Ansätze, sich vor Ort mit lokalen Behörden zu koordinieren.

 

Notwendiger Politikwechsel

 

Würden offizielle Stellen den Menschen mit dem gleichen Elan helfen, mit dem Ungarn, Österreich und Deutschland jetzt die Grenzüberwachung verschärfen, dann müsste kein Flüchtling mehr leiden. Die Helfer_innen unternehmen alles, was in ihrer Macht steht, um die Flüchtlinge zu versorgen und zu betreuen, und obwohl sie gar nicht so wenige sind, prägt Überforderung das Bild. „Wir können ein wenig helfen, weil wir uns entscheiden können, ob wir jetzt zu Hause sitzen und zuschauen, wie da unten Menschen sterben oder ob wir helfen.“ Nur alleine bewältigen können die Helfer_innen die Situation nicht.

 

Europäische Regierungen tragen die Verantwortung, den politischen Rahmen so zu gestalten, dass freie und sichere Fluchtwege geöffnet werden und eine Willkommenskultur für Flüchtlinge etabliert wird, wie sie von den Helfer_innen längst praktiziert wird. Eine dafür notwendige Maßnahme muss nicht einmal auf EU-Ebene abgestimmt werden, denn Österreich könnte mit gutem Beispiel voran gehen und die Dublin-Verordnung fallen lassen. Anstatt patriotische Gefühle zu bedienen und sich selbst als „Nation der Helfer_innen“ abzufeiern, ist es überfällig, die überall an den Bahnhöfen, bei Konvois und anderen Hilfseinrichtungen blühende Willkommenskultur der Helfer_innen zu unterstützen und Schritte zu setzen, um Flüchtlingen endlich ein Leben in Frieden und mit Respekt zu ermöglichen.

 

Als eines der reichsten Länder der Welt kann es doch nicht so schwer sein, die dafür erforderliche Infrastruktur und Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Anstatt wie in Traiskirchen die Menschen auf der Flucht in unwürdigen und von Privatfirmen miserabel verwalteten Massenquartieren unterzubringen, ist es an der Zeit für Maßnahmen, die die Lage der Flüchtlinge erleichtern. So bietet es sich an, den großen Leerstand an Wohnungen und Räumen in Städten wie Wien für Flüchtlinge zu öffnen, eine Maßnahme, die auch das Zusammenleben stärkt. Wir haben es nicht mit Angst einflößenden, anonymen „Flüchtlingsströmen“ zu tun, sondern ganz einfach mit Menschen, die unter großem Stress stehen und Schlimmes erlebt haben. Sie haben Ruhe und Entspannung verdient. Es geht jetzt darum, gemeinsam das Zusammenleben zu gestalten und vor allem auch darum, wie sich ein Aktivist von Freedom not Frontex ausdrückt, durch die Abschaffung des Dublin-Abkommens „die Leute selbst entscheiden zu lassen, wo sie hinreisen und leben wollen“.

 

veröffentlicht am 14.09.2015 auf no-racism.net und am 18.09.2015 auf Der Freitag

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Der Frühling der Ungehorsamkeit https://loukanikos161.blackblogs.org/2018/06/12/ungehorsam-sans-papiers/ Tue, 12 Jun 2018 09:09:30 +0000 http://loukanikos161.blackblogs.org/?p=43  

Auch in Österreich nehmen viele Menschen die Abschiebung ihnen vertrauter Asylsuchender nicht mehr hin

 

Die Tatsache, dass Flüchtlinge ins Ungewisse abgeschoben werden, auch wenn sie längst in die österreichische Gesellschaft integriert sind, scheint die ÖsterreicherInnen nicht aus der Gemütlichkeit zu reißen. Die Tradition des zivilen Ungehorsams gegen die Demontierer des Asylrechts, die etwa in Frankreich der Fremdenpolizei so zu schaffen macht, fehlt hierzulande. Umso größere Aufmerksamkeit verdient der spontane Versuch couragierter BürgerInnen, die überraschende Abschiebung eines Fußballtrainers zu verhindern. Auch anderswo wird die Bevölkerung in jüngster Zeit «französischer» Alexander Stoff / 16.06.2010 «Demonstrieren ja, blockieren nein», mit dieser Devise versuchte die Behörde die Wogen am Abend des 29. April in Wien zu glätten. Spontan hatten sich DemonstrantInnen am Hernalser Gürtel versammelt, um einen Polizeitransporter am Weiterfahren zu hindern. Darin befand sich der Asylwerber Cletus B., Trainer der Flüchtlingsmannschaft FC Sans Papiers, der am Nachmittag desselben Tages bei der Stürmung der Marswiese durch eine Hundertschaft der Polizei verhaftet worden war. Die AktivistInnen widersetzten sich der Vorgabe der Polizei, die von dem entschlossenen Vorgehen der DemonstrantInnen überrascht wurde.Denn diese wehrten sich durch Kettenbildung und eine Sitzblockade gegen erste Räumungsversuche durch die Polizei. So griffen die BeamtInnen im Zuge der letztlich durchgeführten Räumung zu unsportlichen Methoden: Einzelne Personen wurden herausgerissen und an der Hand oder Kapuze über den Boden geschleift, Fußtritte ausgeteilt, die AktivistInnen verbal angegriffen, und schließlich folgte ein Knüppeleinsatz. Während die DemonstrantInnen ihrer Friedfertigkeit in Sprechchören
Nachdruck verliehen wie «Wir sind friedlich, was seid ihr?», mussten sich die BeamtInnen gegenüber PassantInnen rechtfertigen. Manchen PolizistInnen schien es nach der Wahrnehmung von AugenzeugInnen richtiggehend Unbehagen zu bereiten, die Gesetze gegen friedlich auf dem Boden sitzende DemonstrantInnen durchsetzen zu müssen. Als Cletus B. letzten Endes in einen zweiten Transporter gebracht wurde, der ohne Rücksicht auf die Umstehenden lospreschte, wurde den Anwesenden klar, dass die Abschiebung nicht mehr direkt verhindert werden konnte.Von den 42 im Zuge der Räumung Verhafteten, werden nun drei Personen strafrechtliche Tatbestände vorgeworfen. Obwohl sie nur passiven Widerstand geleistet hatten und sich von der Polizei wegtragen hatten lassen, müssen sie sich nun wegen «Widerstand gegen die Staatsgewalt» und «schwerer Körperverletzung» verantworten.

Der Justizsprecher der Grünen, Albert Steinhauser erkennt darin den Ausdruck eines Paradigmenwechsels, in dem Sinne, dass nach Wunsch des Innenministeriums die Polizei bei antifaschistischen und linken Demonstrationen verstärkt auf Kriminalisierung und Repression setzt, um die statistische Überzahl rechtsextremer Straftaten auszugleichen. Auch haben die Grünen eine parlamentarische Anfrage eingebracht, um zu klären, ob die rechtlichen Rahmenbedingungen bei der Deportation eingehalten wurden. Es soll dem Verdacht nachgegangen werden, ob die Fremdenpolizei die Rechte der Betroffenen ausgehöhlt hat, um die öffentliche Aufmerksamkeit für ihre Situation zu erschweren und die Abschiebung durchziehen zu können. Aus der Sicht kritischer BeobachterInnen ist die Strafverfolgung der drei DemonstrantInnen als Signal an die Öffentlichkeit zu verstehen, um den gesamten Widerstand gegen Abschiebungen in eine kriminelle Ecke zu rücken.

 

Praxis des zivilen Ungehorsams

 

Das Besondere an der Aktion des zivilen Ungehorsams vom 29. April ist die Tatsache, dass keine Organisation hinter der Blockade des Gefangenentransportes stand und das Handeln allein auf der spontanen Selbstorganisation der AktivistInnen beruhte, die auf das Bekanntwerden der Abschiebung über SMS und Internet entschlossen reagierten. Andreas Görg von ENARA (European Network Against Racism Austria) führt die Motivation der DemonstrantInnen auf das Gefühl von massivem Unrecht zurück, das die Menschen zum praktischen und spontanen Handeln inspirierte. Neben Zweifeln an der Verhältnismäßigkeit wird von AktivistInnen der besondere, nämlich eindeutig politische Charakter der Polizeiaktion gegen den FC Sans Papiers hervorgehoben. Denn die Stürmung der Marswiese richtete sich mit dem Verein direkt gegen ein kulturelles und soziales Projekt von MigrantInnen mit gewissem Bekanntheitsgrad, was die moralische Empörung bei den AktivistInnen noch verstärkte.
Andreas Görg hebt die politische Sensibilisierung für das Thema Rassismus und Abschiebungen hervor: «Da merkt man, dass unsere jahrelange Arbeit, unser Diskurs, doch Früchte trägt».

Michael Genner von Asyl in Not bemerkt: «Das war die erste Aktion dieser Art, zumindest seit sehr langer Zeit. In Hainburg in der Au haben die Menschen sich vor die Bäume gesetzt, damit diese nicht umgeschnitten werden. Hier haben sich Menschen schützend vor andere Menschen gestellt, was noch viel wichtiger ist, um ein Unrecht abzuwehren, das ihnen zugefügt wird.» Michael Genner unterstreicht, dass es in den Bundesländern bereits ähnliche Aktionen gegeben hat wie etwa in der Vorarlberger Gemeinde Röthis, wo sich BewohnerInnen schützend vor das Haus einer Familie stellten, die abgeschoben werden sollte und sich sogar der Bürgermeister an der Protestaktion beteiligte.
Für Herbert Langthaler von der asylkoordination können die antirassistischen Proteste in Österreich an keine republikanische Tradition wie in Frankreich anknüpfen, wo sogar hohe Amtsträger durch Patenschaften die Abschiebung von Menschen ohne Papiere verhinderten. So richtet sich die Aktion des zivilen Ungehorsams auf der Straße gegen Gesetze, die von den NGOs auf der politischen und rechtlichen Ebene bekämpft werden. Dabei könnten sich die NGOs durchaus noch mehr einbringen, so Langthaler, denn für den Fall, dass die rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, stehen sie vor der Frage nach den weiteren Handlungsoptionen.

 

Ermutigende Zeichen von Empathie

 

Auch für den Obmann der Afrika Vernetzungsplattform, Alexis Nshimyimana Neuberg, ist die Aktion des zivilen Ungehorsams ein ermutigendes Zeichen, das in der African Community überwiegend mit einem Gefühl der Solidarität aufgenommen wurde und sich von den Erfahrungen mit fehlender Zivilcourage der BürgerInnen erfreulich abhebt. Gerade im Vorfeld von Wahlen und Beschlüssen von Gesetzen brauche die African Community starke Bündnispartner.
Das Bild der generellen Fremdenfeindlichkeit d e r ÖsterreicherInnen wird durch solche erfreulichen zivilgesellschaftlichen Interventionen zurechtgerückt. «Es gibt in der Bevölkerung viel mehr Empathie, als es scheint», so Herbert Langthaler. Denn dieser Eindruck entspricht auch gar nicht den Erfahrungen, die der Verein asylkoordination etwa bei den Argumentationstrainings gegen Stammtischparolen mache. Sogar eine begrenzte Legalisierung des Aufenthaltsstatus von Menschen, die eine gewisse Zeit hier leben, hält Langthaler unter gewissen Konstellationen für mehrheitsfähig. Von AktivistInnen wird zudem eine Verbindung der unterschiedlichen Ebenen der antirassistischen Arbeit angestrebt. Der Konzentration in der politischen Praxis auf Wien soll durch die Verknüpfung mit dem Widerstand von Gemeinden in den Bundesländern, die sich für den Verbleib «ihrer» MigrantInnen in Österreich aussprechen, entgegengewirkt werden.

 

In Lyon automatische Arbeitserlaubnis nach einem Jahr Asyl

 

Für Michael Genner gehört neben der Aufklärung der Öffentlichkeit vor allem das unmittelbare Eingreifen, wenn jemand in Gefahr ist, abgeschoben zu werden, zu den wichtigen Handlungsoptionen. Jeder Mensch mit gutem Willen könne in seinem Alltag, in der Nachbarschaft und in der Schule aufmerksam sein und darauf achten, wo jemand von der Fremdenpolizei abgeholt wird und sich mit Gleichgesinnten zusammenschließen, um auf die Straße zu gehen und Abschiebungen zu verhindern. NGOs haben erfahren, dass Fluggäste, die Zeugen einer Abschiebung wurden, sich schlicht weigerten, Platz zu nehmen was jedoch gegenwärtig immer schwieriger wird, weil die EU zunehmend auf Charterabschiebungen durch die Grenzschutzagentur Frontex setzt, was einem Entzug der Kontrolle durch die Öffentlichkeit gleichkommt.
Nach den Worten des Obmanns des Vereins FC Sans Papiers, Di-Tutu Bukasa, habe die Stürmung der Marswiese durch die Polizei die Mannschaft in einen Schockzustand versetzt und die Spieler seien frustriert. Der FC Sans Papiers sei gegründet worden, um die Jugendlichen auf dem Fußballfeld ihre eigene Stärke spüren zu lassen und sie von der Straße fernzuhalten. «Aber dieser Traum ist um 80 Prozent reduziert», so Bukasa. Für die African Community ist die Polizeiaktion laut Alexis Nshimyimana Neuberg verbunden mit Angst und Schrecken, denn viele fürchten sich nun davor, in der Öffentlichkeit aufzutreten. Alexis nennt die französische Stadt Lyon als positives Beispiel, wo Personen, deren Asylverfahren nach einem Jahr noch nicht abgeschlossen ist, eine Arbeitserlaubnis erhalten.

Kritisch sieht Neuberg auch den Umstand, dass die beiden Fußballer abgeschoben wurden, obwohl sie durch ihre Aktivitäten für die Mannschaft ein Bleiberecht genießen hätten sollen. Denn der FC Sans Papiers kann als erfolgreiches Modell der Integration betrachtet werden, da die Spieler gegen andere österreichische Mannschaften bei Turnieren und in der Liga antreten.
In Österreich fehlen laut Herbert Langthaler Strukturen, die vergleichbar etwa den radikalen linken Gewerkschaften in Frankreich ein Rückgrat für Menschen ohne Papiere darstellen könnten. Hinzu kommt, dass in anderen Ländern ein höheres Ausmaß an Selbstorganisation der Betroffenen besteht ein Ansatz, den in Österreich nicht zuletzt der FC Sans Papiers verfolgt. Selbstkritisch wird von AntirassistInnen angemerkt, dass der Widerstand gegen Abschiebungen letztlich nur ein unterstützender Kampf sein kann, der sich stets der Gefahr des Paternalismus bewusst sein muss. In den wenigen Fällen, bei denen eine Abschiebung wirksam verhindert werden konnte, waren es die MigrantInnen selbst, die aktiv handelten.
Die antirassistischen Proteste haben den Spielern des FC Sans Papiers zumindest den Mut gegeben, weiterzumachen und nicht ganz mit dem Sport aufzuhören, so Di-Tutu Bukasa.

 

veröffentlicht in: Augustin 277 (16.06.-29.06.2010)

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Delikt: Antifaschismus? https://loukanikos161.blackblogs.org/2018/06/12/delikt-antifaschismus/ Tue, 12 Jun 2018 06:37:55 +0000 http://loukanikos161.blackblogs.org/?p=30  

Prügeleinsätze, Pfefferspray, monatelange U-Haft und politische Prozesse gegen Demonstrant_innen – seit Anfang 2014 verschärft sich die Gangart der staatlichen Institutionen gegen Antifaschist_innen. Die Mainstream Medien assistieren dabei und phantasieren „bürgerkriegsähnliche Zustände“ auf den Strassen von Wien herbei, während die reale Gewalt der Rechtsextremen relativiert und verniedlicht wird. Geht die österreichische Gesellschaft unter der Hoheit der FPÖ vom ohnehin brüchigen antifaschistischen Konsens nahtlos zu einer Agenda über, die den Antifaschismus zum Feindbild erklärt?

Wirklich qualitativ neu ist der repressive Umgang von Staat und Medien mit dem Antifaschismus nicht. Aber die konkrete Form der Maßnahmen und der gesetzlichen Instrumente, mit denen gegen Antifaschist_innen vorgegangen wird, scheint sich gewandelt zu haben. Neuerdings wenden Behörden mit dem Vorwurf des Landfriedensbruches bevorzugt eine Generalstrafe an, bei der es nicht mehr erforderlich ist, ein individuelles Fehlverhalten nachzuweisen. Es reicht bereits, Teil einer Menge zu sein, von der vermeintlich oder tatsächlich Straftaten ausgehen, um die volle Härte des Gesetzes abzukriegen. So weist Benjamin* von der Autonomen Antifa Wien darauf hin, dass lange Zeit für totes Recht gehaltene Paragraphen nun verstärkt ausgegraben werden, um Antifaschist_innen zu kriminalisieren. Das vermehrt angewendete Gesetz über die Störung oder Verhinderung einer Versammlung schlägt in eine ähnliche Kerbe und zeigt, dass jetzt mit dem Strafgesetzbuch verfolgt wird, was früher maximal verwaltungsrechtlich geahndet wurde. So erkennt auch Niki Kunrath von der Initiative Jetzt Zeichen Setzen nichts Neues daran, dass es Kriminalisierung und Repression gibt. Neu ist allein die Struktur und Form der Anzeige, aber nicht die Tatsache, dass es überhaupt Anzeigen gibt, so Kunrath.

Die Rosa Antifa Wien erklärt die Repression mit den Machtverhältnissen innerhalb von Polizei und Verfassungsschutz, wo rechtskonservative Seilschaften stark vertreten sind. Daher wird dem Rechtsextremismus von diesen Institutionen auch wenig entgegengesetzt. Lukas* von der Autonomen Antifa Wien verortet die tragende Rolle bei der Repression nicht nur beim Staat allein, sondern auch bei einem gesellschaftlichen Klima, das sich gegen Gesellschaftskritik im allgemeinen richtet und daher Schläge gegen Antifaschist_innen begünstigt. Benjamin* sieht reaktionäre Ideologien in der Gesellschaft auf breiter Ebene verankert. Antifaschist_innen seien in dem Dilemma gefangen, die bürgerliche Gesellschaft vor ihren eigenen Geschöpfen zu verteidigen, um überhaupt erst eine Perspektive für eine befreite Gesellschaft zu eröffnen. Natascha Strobl von der Offensive gegen Rechts sieht den gesellschaftlichen Diskurs kritisch, der ganz wesentlich von der FPÖ beeinflusst wird, aber auch andere Parteien halten dem wenig entgegen und lassen sich von der FPÖ aus Angst vor Wählerschwund vor sich hertreiben. Strobl vermisst das offene Bekenntnis zum Antifaschismus, das nicht nur von einzelnen Politiker_innen der Grünen und SPÖ, sondern von den Parteien getragen werden müsse. Und auch Niki Kunrath wünscht sich eine klare Verurteilung des Rechtsextremismus durch öffentliche Meinungsbildner_innen bei Medien, Parteien, Wirtschaft und Kultur. Außerdem müsse die Öffentlichkeit erkennen, was Rechtsextremismus im Kern ausmache, nämlich die biologistische Deutung von Ungleichheiten zwischen Menschen und daraus die Ableitung von Ungleichwertigkeit. Dieses Muster präge jedes Feld, auf dem sich Rechtsextreme betätigen – vom Rassismus bis zum Sexismus, so Strobl.

Antifaschismus sei „kein Grundkonsens, er nimmt daher in der Gesellschaft eine marginalisierte Position ein und wird durch die Gesellschaft de-legitimiert“, so Lukas*. Antifaschist_innen werden in diesem Klima als „Störfaktor“ oder „Nestbeschmutzer“ betrachtet. In dieser Wahrnehmung brechen Menschen, die den Nationalsozialismus und Rechtsextremismus thematisieren, den „Konsens des gemeinsamen Schweigens“, so die Rosa Antifa. Benjamin* hebt hervor, dass in Österreich „nichts heiliger als der soziale Friede“ sei. Soziale Widersprüche werden demnach auf autoritäre Weise von oben, von Staat, Parteien und Sozialpartnerschaft befriedet, während sich die Widersprüche von unten in Form von rassistischen und anderen Ressentiments Luft verschaffen. Jeder noch so verhaltene Versuch, die sozialen Widersprüche auf die Strasse zu tragen, wird von den Institutionen mit harter Hand bestraft und es fehlt hier eine offene Konfliktkultur wie sie in anderen Ländern üblich ist. Die Gefährdung für den sozialen Frieden wird von den Mainstream Medien in schlechter Tradition auf ein „Außen“ projeziert und es werden Ängste vor „deutschen Demotourist_innen“ und „ausländischen Horden“ geschürt. Die Wahrnehmung der Polizeipressestelle und die mediale Berichterstattung gehen dabei meistens Hand in Hand. Für Natascha Strobl stehen besonders die Medien in der Pflicht, zu reflektieren, in wessen Dienst man sich stellt, wenn ein bestimmtes Narrativ bedient wird. Strobl wünscht sich daher von Medienarbeiter_innen mehr Mut, nicht mit dem Strom mitzuschwimmen, der immer nur nach der spektakulären Story jagt. Auch Niki Kunrath findet die Praxis vieler Medien problematisch und verdeutlicht dies an einem Beispiel: Als am 4.Juni vor der Universität Wien gegen den Aufmarsch der Burschenschaften demonstriert wurde, stürzten sich die anwesenden Medien sensationshaschend auf ein einzelnes geworfenes Ei.

Natascha Strobl stellt fest, dass die antifaschistischen Mobilisierungen gegen den WKR-Ball seit 2008 gewachsen und die anfangs noch kleinen Kundgebungen der Linken zum Tagesthema geworden sind. Dabei gibt es unterschiedliche politische Vorstellungen und Herangehensweisen, doch eine konstruktive und kritische Zusammenarbeit müsse möglich sein, ohne sich von der FPÖ und den rechten Medien, deren Trommelfeuer auf Entsolidarisierung abzielt, etwas vorschreiben zu lassen oder sich auf deren Geheiß gar von anderen Antifaschist_innen zu distanzieren, so Strobl. Auch Lukas* sieht die Verantwortung bei der Zivilgesellschaft, sich klar für den Antifaschismus zu positionieren und nicht – wie nach dem letzten Akademikerball auf breiter Ebene geschehen – sich an dem Prozess der De-Legitimierung zu beteiligen. Viele Menschen haben sich im Anschluss an die Demonstrationen davon distanziert und bei der „geistigen Repression“ mitgemacht, die eine Isolierung des Antifaschismus erreichen wolle, so Lukas*. Die Repression ziele darauf ab, Verhalten zu normieren, denn es gehe darum, Menschen zu verunsichern und einzuschüchtern und letztlich antifaschistische Strukturen aufzureiben, kommentiert Benjamin*. Natascha Strobl kritisiert am Gerichtsprozess gegen den Antifaschisten Josef, dass dieser dazu diene, ihn persönlich wie auch sein politisches Anliegen zu diskreditieren und seine Existenz aufs Spiel zu setzen. Schon die U-Haft und das Verfahren seien ein Teil der Strafe gegen Josef und zielten auf Abschreckung der Öffentlichkeit ab. Die Kriminalisierung wird auch in anderen Alltagsbereichen schärfer, etwa gegen Bettler_innen, Sprayer_innen, Fußballfans und Asylwerber_innen und zeigt sich beim berüchtigten Tierschützerverfahren ebenso wie beim Fall der AMS-4 und dem aktuellen Fluchthilfeprozess. Niki Kunrath beobachtet in den letzten Jahren die Entstehung einer antifaschistischen Bewegung. Die drei großen Bündnisse haben sich stark entwickelt, es sei jedoch wichtig, eine Struktur zu schaffen, die mehr auf gemeinsame Aktivitäten setzt, denn Kunrath hält es für eine Schwäche, wenn der Protest nicht zusammen artikuliert wird. Gegen die Kriminalisierung helfe vor allem, diejenigen nicht allein zu lassen, die von Repression betroffen sind. Neben der Solidarität sind auch Vernetzung und ein Bewusstsein für die eigenen Rechte von Bedeutung, meint Natascha Strobl. Die Rosa Antifa hebt hervor, dass sich Antifaschist_innen nicht das Recht nehmen lassen dürfen, weiter zu protestieren und sich nicht einreden lassen dürften, dass Antifaschismus eine Straftat sei.

 

veröffentlicht am 27.08.2014 auf Indymedia

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