Feminismus – Nachrichten vom Riot Dog https://loukanikos161.blackblogs.org One more Blackblog Wed, 27 Nov 2024 05:42:47 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.1 Text zum Feminismus von Hanna Herbst https://loukanikos161.blackblogs.org/2024/11/27/text-zum-feminismus-von-hanna-herbst/ https://loukanikos161.blackblogs.org/2024/11/27/text-zum-feminismus-von-hanna-herbst/#respond Wed, 27 Nov 2024 05:42:39 +0000 https://loukanikos161.blackblogs.org/?p=258 Mit dem Feminismus ist das so: Eigentlich würde ich lieber im Wald spazieren gehen. Ich würde gern eine Schafherde züchten, ich würde gerne öfter Romane lesen. Lieber hätte ich Zeit für Müßiggang, lieber würde ich Klavier lernen oder Gebärdensprache oder endlich rausfinden, warum Joghurt-Deckel diese rauen Punkte haben und ob Ampeln schneller grün werden, wenn man öfter drückt. Und eigentlich hätte ich gerne ein Buch mit Kurzgeschichten geschrieben. Aber das spielt’s halt nicht. Denn in der Sekunde, in der bestehende Strukturen hinterfragende Worte den Mund einer Frau verlassen, sammeln sich im Internet die Menschen zusammen, wie das einst im Mittelalter gewesen sein muss (wenn man den gängigen Filmen und Monty Python glaubt), und sie zeigen auf dich, und alle fangen in fieberhafter Aufregung an zu schreien, vor ihnen, das sei eine Feministin. Und dann hast du eine Aufgabe im Leben.

Ehe ich mich versah, nahm mir der Feminismus meine Berufsbezeichnung weg. War ich auf Podiumsdiskussionen kurz zuvor noch Journalistin gewesen, war ich auf einmal Feministin. »Es diskutieren Rechtsanwalt Sepp Hubendübel, Medienimperiumsbesitzer und Schriftsteller Franz Hackenbuchner, Schauspielerin Lise Huber und Feministin Hanna Herbst.« Eine ganz klare Einordnung, unter der meine Aussagen zu hören und zu werten waren. Ein Disclaimer. Und unter diesem Disclaimer waren auch alle Aussagen und Anliegen für viele quasi zu verwerfen, weil überzogen, weil hysterisch, weil männerfeindliche Männerhasserin. Weil Feministin.

Antifeministinnen und Antifeministen begegneten mir mit stolz – und das hatten sie nie getan, bevor ich nicht die Bezeichnung »Feministin« mit mir trug –, denn Antifeminismus ist nicht einmal tauglich für die Rebellion des gemeinen Stammtischrevoluzzers. Antifeministischen Aussagen muss kein »Das wird man ja wohl noch sagen dürfen« nachgestellt werden, weil es für viele vollkommen selbstverständlich zu sein scheint, dass man das ja sowieso noch sagen darf. Feministinnen, gegen die muss laut und stolz angekämpft werden, gegen Feministinnen, gegen die gehört das traditionelle Familienbild verteidigt, weil Feministinnen, die wollen Bewährtes zerstören, die wollen ja Jungs zu Mädchen machen und Mädchen zu Jungs und außerdem wollen sie Jungs im Wachstumsstadium für ein Jahr an einen Stuhl fesseln, damit ihre Muskeln verkümmern und Männer später nicht stärker sind als Frauen. Feministinnen, die handeln nur aus sexueller Frustration heraus, oder weil sie lesbisch sind, jedenfalls, weil sie zu lange keinen nackten Mann gesehen haben, weil ihre Anliegen sind doch längst geklärt. Wir sind doch alle längst gleichberechtigt, Frauen dürfen wählen, sie brauchen nicht mehr die Erlaubnis ihres Ehemannes, wenn sie arbeiten möchten, nachts arbeiten dürfen sie ja jetzt auch schon seit 2002. Das mit den Führungspositionen, da wollen die doch einfach nicht hin, wegen der Verantwortung und alles, in der Ehe vergewaltigen darf man sie auch nicht mehr und auf den Hintern greifen nicht und jetzt darf man als Mann ja sowieso nichts mehr, nicht einmal flirten, weil da kommst du ehe du dich versiehst unschuldig ins Gefängnis.

Dabei ist die Vision des Feminismus keine »weibliche Zukunft«, wie unsere erste Frauenministerin Johanna Dohnal einmal gesagt hat. Es ist eine »menschliche Zukunft«. Sprich eine Zukunft, von der alle Geschlechter profitieren: Nicht nur eins. Nicht einmal nur zwei. Alle. Und die Freiheit beginnt mit der Befreiung.

In diesem Kampf um Wahlfreiheit, um Entfaltungsfreiheit, gibt es natürlich die, die sich zu recht bedroht fühlen. Schließlich rütteln wir an Privilegien. Wenn wir möchten, dass alle gleichgestellt sind, dann gibt es die, die geben, und die, die bekommen müssen. Doch die, die geben müssen, haben es geschafft, einige derer, die bekommen würden, zu überzeugen, dass auch sie bei Chancengleichheit verlieren würden. Dabei hat das Teilen von Privilegien nichts mit Benachteiligung zu tun. Aber in einer Welt, in der das zu Anstrebende beruflicher Erfolg und ein SUV sind, möchten die Wenigsten abgeben. Also werden von den Regierenden Blendgranaten in die Debatte geworfen: Die Feministinnen, die sind männerfeindlich, die Ausländer, die sind schuld, dass du weniger Mindestsicherung kassierst, die Schwulen und Lesben, die wollen jetzt nur heiraten, aber wart noch ein paar Jahre, dann darfst du auf einmal dein Pferd ehelichen. Sie spielen die Bevölkerung gegeneinander aus und lachen sich dabei ins Fäustchen. Kürzen Menschen mit Behinderung 380 Euro im Monat, kürzen bei der Mindestsicherung, bevorteilen Unternehmen, zahlen der Außenministerin 250.000 Euro für ihre Hochzeit. Oder wie Minister Blümel unlängst in einer Diskussionssendung auf den Vorwurf, Reiche bekämen von dieser Regierung mehr und Arme weniger, antwortete: »Ja, das ist der Weg, den die Regierung gewählt hat.«

Wo es einmal Visionen gab, Kämpferinnen und Kämpfer für sozialen Fortschritt und Freiheit, gibt es heute Trumps, Putins, Erdoğans und vor unserer Tür: Einen Kanzler, der in einem Interview mit der Krone sagt: »Genauso falsch wie die Hetze ist die Träumerei.«
Mit dem Fehlen fortschrittlichen Denkens derer, die an der Macht sind, wird sich die Welt verändern. Aber nicht zum Guten. Ergo: Widerstand.

Die Soziologin Frigga Haug hat einmal gesagt: »Wir sollten fragen: Widerstand gegen was, mit wem und wofür? Widerstand bedarf einer Perspektive, eines Wohin, und er bedarf mehr als eines Individuums.« Zitat Ende.

Widerstand wogegen ist klar:

In Polen wird versucht, die Zugangsmöglichkeiten zu Schwangerschaftsabbruch mehr und mehr zu beschränken. Organisationen, die nur das Wort Schwangerschaftsabbruch erwähnen oder sie gar durchführen, bekommen von der US-Regierung keine Zuschüsse mehr. In Russland wird nach einer Gesetzesänderung häusliche Gewalt weniger hart bestraft und gilt nur noch als Ordnungswidrigkeit – außer es handelt sich um eine Wiederholungstat oder es wurden dabei Knochen gebrochen. Bei uns wird Gewalt gegen Frauen so lange ignoriert, bis sie von einem Ausländer ausgeht, die Grenzen der Selbstbestimmtheit der Frauen an nationale Grenzen gebunden. Währenddessen sagen Zahlen Folgendes:

In Österreich stieg die Zahl der – meist durch ihren Partner oder Ex-Partner – ermordeten Frauen in den vergangenen Jahren an. In Deutschland versucht alle 24 Stunden ein Mann, seine Frau zu töten. Jeden dritten Tag gelingt es einem.

In der Türkei, die auf dem Weg zu einem modernen, pro-europäischen Staat war, fordert der Präsident, der einmal als Reformer galt, dass alle Frauen mindestens drei Kinder, alle in Europa lebenden türkischen Frauen sogar mindestens fünf Kinder bekommen müssen. In einer Broschüre, die türkische Paare vor der Hochzeit bekommen, schreibt ein ehemaliger Mitarbeiter der staatlichen Religionsbehörde: »Eine Frau, die sich nicht für ihren Mann zurechtmacht, ihrem Mann als Herren im Hause nicht gehorsam ist, kann geschlagen werden«. Die bulgarische Regierung weigert sich, die Istanbul Konvention zu ratifizieren – ein Abkommen zur zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Brett Kavanough wurde Höchstrichter auf Lebenszeit und der US-Präsident entschuldigte sich bei ihm »im Namen der Nation« für das, was ihm vermeintlich angetan worden war. All das findet großen Zuspruch.

Genug Weltschmerz. Wieder zurück zu Frigga Haug. Wir sollten uns also fragen: »Widerstand gegen was, mit wem und wofür?«, sagt sie. Ich glaub, das können wir beantworten. Aber wie sie weiter sagt: »Widerstand bedarf einer Perspektive, eines Wohin, und er bedarf mehr als eines Individuums«.

Also: Widerstand wofür und wohin? Und wie?

Widerstand darf nicht nur Reaktion bedeuten. Zu oft reagieren wir dieser Tage einfach nur und schaffen selbst keine Gegenentwürfe. Aber es bleibt uns ja nichts anderes übrig. Denn wär die Welt ein heruntergekommenes Haus, dann würde während wir versuchen, das Dach zu reparieren, damit es nicht immer reintropft, jemand Steine durch alle Fenster werfen und während wir die Fenster ersetzen langsam ein Bulldozer anrollen.

Ich selbst hab das so gemacht: Ich hab mir ein neues Notizheft gekauft, weil ich neue Notizhefte liebe und produktiver bin, wenn ich in ein neues Heft schreibe. Und dann hab ich mir aufgeschrieben. 1.: Was ist die Welt, in der ich leben möchte. Und 2.: Was sind Baustellen, die ich behandeln möchte und kann. Wie kann ich für andere Frauen einstehen, wie kann ich für Mädchen einstehen, wie kann ich für andere Menschen einstehen. Wie kann ich denen helfen, die Hilfe benötigen und wie kann ich mir Hilfe holen, wenn ich sie selbst benötige. Um zu verändern, muss man nicht nur einen Hebel bedienen, das können und müssen ganz viele sein:

Zu einer besseren Welt gehört nicht nur die Gleichstellung von Mann und Frau. Es gehört genau so dazu, dass die historische Fehlentwicklung überwunden wird, es gebe nur zwei Geschlechter. Es gehört genauso dazu, dass nicht stets dem Individuum ein Versagen vorgeworfen wird, wo es strukturelle Probleme gibt, die sein Elend verschulden. Es gehört genau so dazu, dass die Spaltung der Gesellschaft in Gewinner und Verlierer zumindest nicht verschlimmert wird. Dass Vermögen gerechter verteilt wird. Dass Macht gerechter verteilt wird. Dass Menschen ihren Selbstwert nicht daraus ziehen müssen, wie erfolgreich sie beruflich sind und was sie sich deswegen kaufen können. Dass sie sich zwar eine Dachterrasse leisten können, aber keine Zeit haben, dort zu sitzen. Zu einer besseren Welt gehört, dass Lohnarbeit nicht anerkannter ist als die in die Unsichtbarkeit gedrängte Hausarbeit. Und dass sie daher auch gerecht verteilt ist. Weil es viele Mütter gibt, die trotz Kind in ihrem Beruf weiterkommen möchten und viele Väter, die ihre Kinder nicht nur die eine Stunde sehen möchten, bevor sie ins Bett gehen müssen.

Wir müssen eine Welt denken, in der Menschen Zeit haben, sich um sich selbst zu kümmern, und um die Menschen um sich herum, sich fortzubilden und selbst zu entwickeln, in den Wald zu gehen, um die nicht von Menschen und Autos zugemüllte Welt zu sehen und sich für sie und ihren Erhalt interessieren. Um einen umsichtigen Umgang mit Menschen, Tieren, der Natur und Dingen pflegen zu können. Die Entwicklung des Einzelnen ist die Voraussetzung für die Entwicklung aller.

Wir müssen also selbst aktiv sein und nicht immer nur reagieren – aber dürfen aufs Reagieren nicht vergessen, weil sonst auf einmal etwas weg ist, das lange erkämpft gewesen zu sein schien.

Also engagiert euch, geht in eine Partei, gründet selbst eine Partei. Geht im Wald spazieren, nehmt Gesangsunterricht, singt politische Lieder auf der Landstraße. Macht Menschen darauf aufmerksam, wenn sie sexistische, rassistische, homophobe Witze machen. Studiert Lehramt und seid die Lehrerinnen und Lehrer, die ihr immer gerne gehabt hättet. Bekommt Kinder und erzieht sie freier, offener, liebender, sagt ihnen, es ist egal, wer sie sind, solange sie gut zu anderen sind. Oder bekommt keine Kinder und vermittelt das Gefühl euren Nichten und Neffen oder dem Nachbarskind. Unsere Wissenschaftsministerin hat sich vor Kurzem in einem Interview über das Bildungssystem beschwert. Ihre Kritik: Gymnasien würden am Markt vorbei produzieren. Ein bisschen hat mir diese Kritik das Herz gebrochen. Menschen für einen Markt produzieren, das ist die Welt, in der wir leben. Hört auf, egoistische Menschen für ihr Verhalten zu belohnen. Lest Bücher, sprecht über Bücher. Schafft Räume, in denen konstruktiv diskutiert werden kann. Seid gut zu euch selbst und anderen. Achtet Menschen, Tiere, die Natur, und Dinge. Sprecht mit denen, die etwas nicht verstehen, das ihr verstanden habt – sofern sie es verstehen möchten. Erinnert euch stets an die Menschen, die ihr wart, bevor ihr wusstet, was ihr jetzt wisst und seid nachsichtig mit denen, die es noch nicht wissen. Zieht in Betracht, dass das, was ihr gerade denkt, vielleicht so gar nicht stimmt und hört anderen zu, die euch in euren Ansichten weiterbringen könnten – auch wenn es sich besser anfühlt, die vermeintlich absolute Wahrheit zu besitzen. Beharrt nicht auf Standpunkten, weil ihr zu stolz seid, dazuzulernen. Jede Art von Gewissheit ist trügerisch. Reproduziert nicht einfach. Menschen mit guten Intentionen reproduzieren täglich diese Welt, in die viele Menschen schlicht hineinsterben. Weil wir in diese Welt geboren wurden, weil wir uns keine andere vorstellen können. Sagt euch immer wieder: Es stimmt nicht, dass eine Einzelne oder ein Einzelner nichts bewirken kann.

Lasst alle an der Debatte teilhaben, die konstruktiv an ihr teilhaben möchten, auch wenn die Person Begrifflichkeiten nicht kennt. Wer sich mit Feminismus auseinandersetzen möchte, muss ein wenig eine neue Sprache lernen. Lasst das feministische Subjekt so frei sein in dem, was es ist, wie die Freiheit, die ihr selbst fordert: Lasst es trans sein, inter, nicht binär. Lasst es Sexarbeiterin sein und Muslima, Christin, Schülerin, oder alt und weiß und hetero und männlich. Glaubt nicht alles, das jemand sagt, der auf einer Bühne sitzt. Springt über Schatten. »Tut nicht so, als wärt ihr nicht die Gesellschaft«, hat Manuel Rubey einmal gesagt. »Bildet Banden«, hat Pippi Langstrumpf einmal gesagt. »Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach da zu sitzen und vor sich hin zu schauen.« Hat die sehr politische Astrid Lindgren einmal gesagt.

Und irgendwann, da klappt das dann auch mit der Schafherde.

Text vorgetragen auf ihrer Lesereise mit dem Buch „Feministin sagt man nicht“ im Jahr 2018.

Veröffentlicht auf Facebook am Tag der Menschenrechte, 10.12.2018:

https://www.facebook.com/hhumorlos/posts/10216257874053997

Mit Slideshow:

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Baraye (Shervin Hajipour) https://loukanikos161.blackblogs.org/2023/10/21/baraye-shervin-hajipour/ https://loukanikos161.blackblogs.org/2023/10/21/baraye-shervin-hajipour/#respond Sat, 21 Oct 2023 06:14:38 +0000 https://loukanikos161.blackblogs.org/?p=254 Um in den Straßen tanzen zu können
Weil wir Angst davor haben müssen, uns öffentlich zu küssen
Wir haben Angst, uns zu küssen
Für meine Schwester, deine Schwestern, unsere Schwestern
Dafür, dass sich in den morschen Köpfen endlich etwas bewegt
Für die Demütigungen, die uns angetan werden
Wegen der allgegenwärtigen Armut
Weil der Reichtum nicht umverteilt wird
Für den Wunsch nach einem normalen Leben
Wäre das auch für uns möglich
Für die im Abfall nach etwas Verwertbarem suchenden Kinder mit all ihren Träumen
Und wegen dieser gewissenslosen Wirtschaft, die so korrupt ist
Und wegen der verschmutzten Luft
Wegen der verdorrten Bäume auf der Valiasr-Straße
Weil der kleine Gepard vom Aussterben bedroht ist
Für all die unerwünschten Hunde, die doch unschuldig sind
Wegen des endlosen, schier niemals endenwollenden Tränenvergießens
Wegen der Vorstellung, dass sich die Szenen genauso wiederholen könnten
Für ein Lächeln im Gesicht
Für all diese Studenten
Für die Zukunft, für die Zukunft
Und für dieses aufgezwungene Paradies
Für die Intellektuellen, die im Gefängnis sind
Für die Flüchtlingskinder, die aus Afghanistan fliehen
Wegen all dem
Und für all das, was noch nicht gesagt ist
Für jede einzelne ihrer hohlen Phrasen
Wegen der einstürzenden Bruchbuden
Und für die, die friedfertig sind
Für einen Morgen nach diesen langen, langen Nächten
Für die aufgehende Sonne
Wegen der Schlaftabletten und der Schlaflosigkeit
Für die Frauen, das Leben und die Freiheit
Für das Mädchen, welches sich wünscht, ein Junge zu sein
Für die Frauen, das Leben, die Freiheit
Die Freiheit

Übersetzung des iranischen Freiheitsliedes Baraye („Um“, „für“ oder „wegen“) von Shervin Hajipour ins Deutsche.

Gelesen von der Publizistin, Politikwissenschafterin und Ärztin Gilda Sahebi, im Gespräch mit Renata Schmidtkunz in der Radiosendung „Im Gespräch: Gilda Sahebi über Frauen im Iran. ‚Was im Iran geschieht, ist feministische Weltgeschichte'“ am 9.3.2023 auf Ö1.

Zum Kontext dieses Liedes ein Dialog aus der genannten Sendung:

Renata Schmidtkunz: Das eine ist „Baraye“ von Shervin Hajipour. Das habe ich schon erwähnt. Das habe ich mitgebracht, auf deutsch.
Gilda Sahebi: Ach schön.
RS: Und ich wollte Sie mal fragen, ob Sie das vielleicht lesen wollen?
GS: Ja, gerne.
RS: Das ist die deutsche Übersetzung, die vielleicht nicht ganz dem Iranischen entspricht.
Es geht in diesem Lied Baraye, das so viel heisst wie „Um“, „Für“ oder „Wegen“ darum, warum eigentlich die Leute in Iran protestieren.
GS: Also es war so, dass die Frage gestellt wurde: warum? Und dann haben ganz viele Leute ganz viele Tweets abgeschickt. Und aus diesen Tweets wurde dieses Lied zusammengesetzt. Genau.

Gilda Sahebi ist auf social media zu finden (u.a. auf Bluesky) und hat auch ein Buch geschrieben:

„‚Unser Schwert ist Liebe‘. Die feministische Revolte im Iran“ (Fischer Verlag)

Das Lied Baraye:

https://www.fischerverlage.de/spezial/gilda-sahebi-unser-schwert-ist-liebe
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Wien: Solidaritätsdemonstration für die aufständischen Menschen im Iran https://loukanikos161.blackblogs.org/2022/09/30/wien-solidaritaetsdemonstration-fuer-die-aufstaendischen-menschen-im-iran/ https://loukanikos161.blackblogs.org/2022/09/30/wien-solidaritaetsdemonstration-fuer-die-aufstaendischen-menschen-im-iran/#respond Fri, 30 Sep 2022 14:27:26 +0000 http://loukanikos161.blackblogs.org/?p=251 In Wien fand am Dienstag eine Demonstration statt, die Gerechtigkeit für Zhina Mahsa Amini forderte und Solidarität mit den aufständischen Menschen im Iran zeigte.

Ein Gastbeitrag von Alexander Stoff

Zhina Mahsa Amini war Mitte September von „Sittenwächtern“ in Iran verhaftet worden, weil ihr vorgeworfen wurde, das Kopftuch nicht korrekt zu tragen. Am 16. September wurde sie in Polizeigewahrsam getötet. Seither gehen tausende Menschen in vielen Städten des Iran auf die Straße und fordern Frauenrechte und ein Ende der Mullah-Diktatur. Die Proteste werden von jungen Frauen, queeren Menschen, Arbeiter*innen und Kurd*innen getragen. Mutige Frauen widersetzen sich reaktionären Männern und weigern sich, auf der Straße das Kopftuch zu tragen. Es kommt zu öffentlichen Verbrennungen von Hijabs. Mindestens 48 Menschen wurden im Zuge der Proteste getötet, viele verletzt und Tausende verhaftet, hieß es in einer Rede in Wien. Es wurde auch auf den Fall von zwei iranischen Frauen hingewiesen – Zahra Sedighi-Hamadani und Elham Choubdardie aktuell mit der Todesstrafe bedroht werden, weil sie sich für die Rechte der LGBTIQ-Community eingesetzt haben.

Zur Demonstration in Wien hatte die Organisation „Rosa – kämpferisch. sozialistisch. feministisch“ im Bündnis mit anderen Gruppen wie „Avesta – kurdische Frauen in Wien“ und dem „Verein zur Förderung der Freiheitsrechte und Demokratie im Iran“ aufgerufen. Am Treffpunkt auf dem Platz der Menschenrechte versammelten sich die Teilnehmer*innen, laut dem Journalisten Gerhard Kettler ca. 2.000 Personen. Es wurden Redebeiträge gehalten, in denen unter lautem Beifall der Menge ein Ende der Diktatur, Menschen- und besonders Frauenrechte, Selbstbestimmung für Kurd*innen und andere Gruppen und die Befreiung für queere Menschen gefordert wurde. Viel Applaus gab es auch, als in einer Rede darauf hingewiesen wurde, dass die Protestbewegung nun dazu übergehen solle, neben dem Straßenprotest den Widerstand auszuweiten und zu Streiks überzugehen.

Es wurde in einer Rede darauf hingewiesen, dass auf die europäische Politik kein Verlass sei. Als erwähnt wurde, dass der österreichische Außenminister Schallenberg sich mit dem Außenminister des iranischen Mullah-Regimes getroffen hatte, gab es zahlreiche Buh-Rufe. Ein Redner bemerkte auch, dass Iran bisher vor allem mit dem Atomkonflikt in die internationalen Schlagzeilen gekommen sei, sich nun aber ein anderes Gesicht des Iran der Weltöffentlichkeit zeige. Der Widerstand im Iran könnte Auswirkungen auf die gesamte Region haben, zum Beispiel auch auf Afghanistan, wo die Taliban ebenfalls Frauen unterdrücken. Schließlich wurde gesagt, dass die Demonstration sich auch gegen Rassismus, Abschiebungen und Femizide überall auf der Welt richtet.

Nach einer guten Stunde setzte sich der Demonstrationszug nach 18 Uhr in Bewegung. Beim Losgehen wurde ein Lied aus der iranischen Rebellion abgespielt. Die Demonstrierenden trugen Transparente und Schilder. Es waren viele Fahnen von Organisationen sichtbar, etwa von linken und kurdischen Organisationen (Rojava). Der Demozug lief die Museumstraße entlang und bewegte sich dann nach einem Bogen die Stadiongasse hinunter, am Parlament vorbei und über die Ringstraße zum Ballhausplatz. Die ursprünglich geplante Route zur iranischen Botschaft war von der Polizei untersagt worden. Es waren Parolen zu hören wie „Hoch die internationale Solidarität“, „Frauenrechte überall, Frauenrechte in Iran“ und immer wieder der Ruf „Jin, Jîyan, Azadî (Frau – Leben – Freiheit)“. Besonders berührend war der Moment, als ein kleiner Bub immer wieder „Jin, Jîyan, Azadî“ rief.

Zuerst veröffentlicht auf Unsere Zeitung

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Verändere die Geschichte und du veränderst die Welt https://loukanikos161.blackblogs.org/2020/09/22/change-story-world/ https://loukanikos161.blackblogs.org/2020/09/22/change-story-world/#respond Tue, 22 Sep 2020 06:18:53 +0000 http://loukanikos161.blackblogs.org/?p=247 Laurie Penny über Diversität im Storytelling und Fanfiction

 

Nachdem lange Zeit nur weisse cis Männer als Helden im Mittelpunkt von Erzählungen gestanden haben, verändert sich langsam das storytelling und Geschichten werden diverser. Frauen, Schwarze Menschen und LGBTIQs beanspruchen ihren Platz in den Erzählungen, sagt die britische Aktivistin, Journalistin, Feministin und Drehbuchautorin Laurie Penny.

 

Erzählungen und Kultur

 

Geschichten werden nicht nur erzählt, um uns zu unterhalten, sondern es wird auf diese Weise auch Kultur weitergegeben. Das kann zu einer Homogenisierung von Kultur führen. So erklärt Laurie Penny anhand des Beispiels der kolonialen Beherrschung Indiens durch das British Empire, wie die Bewohner*innen der Kolonien durch die Schuldbildung mit britischer Kultur indoktriniert wurden. In anderen Kolonien geschah dies meistens durch christliche Missionierung, aber in Indien funktionierte das nicht. Missionar*innen sollten die Bewohner*innen der Kolonien durch religiöse Durchdringung und Vorschreiben des „richtigen Verhaltens“ davon abhalten, gegen die Kolonialherrschaft zu rebellieren. In Indien existierten jedoch große religiöse Probleme und Spannungen, also entschied sich die Kolonialmacht dafür, den Kindern in den Schulen Englische Literatur anstelle des Christentums beizubringen. Die Held*innen in den Geschichten waren nie Inder*innen, sondern immer weiss, Mittelklasse und englisch.

Der „westliche Kanon“ von Harold Blum aus den 1950er Jahren besagt, dass es eine Handvoll von Werken gibt, die als relevant eingestuft werden, wobei Blum sich selbst gleich als Wächter darüber eingesetzt hat, welche Bücher in diesen Kanon einfließen und welche nicht. Auf der Liste befinden sich „ein Haufen weisse Typen, Jane Austen und Ursula Le Guin“ hebt Laurie Penny hervor. Die Vorstellung eines Monomythos, also eine Anzahl von Geschichten, die als wichtig angesehen werden, gibt es auch im Fach Englische Literatur und sie hat auch die Kultur der Nerds beeinflusst. „Dickens ist wichtig, sagt man dir, aber Buffy und Star Trek sind es nicht“, so Laurie Penny.

 

Hero’s journey

 

Ein solcher Monomythos aus der Mitte des 20.Jahrhunderts ist die Hero’s journey von Joseph Campbell. Bei diesem Erzählmuster geht es um den Helden, er trifft einen Mentor, dann ereilt ihn der Ruf zum Abenteuer, zuerst widersetzt sich der Held, dann geht er auf die Reise, er trifft seinen zweiten Mentor, da ist die Prinzessin als love interest und auch die Vaterfigur. Das ist die Handlung von Star Wars, aber das Muster wiederholt sich in vielen anderen Geschichten von Lion King bis Matrix. Die Hero’s journey wurde einfach kopiert und wieder und wieder erzählt.

Es stellt sich also Langeweile ein, u.a. deshalb, weil – wie Laurie Penny sagt – der Held immer ein weisser, junger Mann ist. Frauen tauchen darin nur als Nebencharaktere auf, sie sind nie die Heldinnen. Frauen brauchen keine eigene Hero’s journey, hat Joseph Campbell einmal auf die Frage einer Studentin gesagt, denn sie sie sei im Monomythos die ganze Zeit über da, die Frau müsse nur realisieren, dass sie es sei, wo alle hinwollen, so Campbell.

 

Fanfiction

 

Fanfiction, also das Umschreiben von populären Geschichten aus Büchern, Filmen und Fernsehen hat es schon lange vor dem Boomen der Nutzung des Internet gegeben. Aber erst durch das Internet ist Fanfiction wirklich explodiert. Mit der Verbreitung des Internet hat sich die Art und Weise verändert, wie Geschichten erzählt werden – nicht mehr mit klassischem Anfang, Mittelteil und Schluss. Charakterentwicklung hat seine Bedeutung verloren, Hyperlinks werden gesetzt. Dennoch wünschen sich viele Menschen weiterhin traditionelle Geschichten mit Held*innen. Wenn Erzählungen ein Spiegel und Fenster sind, die dich und deine Welt verändern können, so zeigte die Etablierung der Website fanfiction.net im Jahr 1998, dass die Menschen sich verschiedene Held*innen und Erzählweisen wünschen. Laurie Penny selbst hat in dieser Zeit damit begonnnen, Fanfiction aus der Erzählwelt von Harry Potter und Buffy zu schreiben.

 

Diversity

 

Fanfiction wurde insbesondere von jungen Frauen geschrieben, die als Ergänzungen zum Universum von Harry Potter neue Geschichten erzählten, oft mit einer Handlung, die gefährlicher oder erotischer als das Original war. Es ging dabei etwa um eine Liebesbeziehung zwischen Harry Potter und Draco Malfoy, Harry Potter wurde für manche zu einem weiblichen Charakter oder seine Freundin Hermine Granger wurde zur Hautprotagonistin, die ihre eigenen Wege geht. Die Hero’s journey bekam also bei Harry Potter Fanfiction einen neuen Anstrich und in den Geschichten spielten nun Schwarze und weibliche Charaktere eine größere Rolle. Die Autorin JK Rowling begünstigte Fanfiction, da sie grundsätzlich damit einverstanden war, solange kein Geld damit verdient wurde.

Als nun die Fanfiction schreibenden Teenagerinnen erwachsen wurden und als junge Frauen in der Medienbranche zu arbeiten begannen, führte all dies zu einer Veränderung der Kultur. Diese Frauen verlangen jetzt mehr von unserem kollektiven storytelling. Das erkennt man zB auch daran, dass bei den neueren Star Wars-Filmen nun eine weibliche Heldin und ein Schwarzer love interest im Mittelpunkt der Erzählung stehen. Und bei der Theateraufführung von „Harry Potter and the cursed child“ wird Hermine Granger von einer Schwarzen Schauspielerin verkörpert.

 

Backlash

 

Dennoch sind diese Veränderungen in Richtung Vielfalt noch lange nicht im Mainstream angekommen. Und es gibt außerdem einen Backlash durch wütende weisse cis Männer, die an veralteten Mustern festhalten wollen und die sich mangels Vorstellungskraft nicht an die veränderten Rollenbilder gewöhnen können. „Wir haben noch keine Gleichheit erreicht. Wenn du in jeder Geschichte repräsentiert wirst und an dein Privileg gewöhnt bist, dann sieht Gleichheit wie ein Vorurteil aus,“ sagt Laurie Penny. Die Wut der weissen cis Männer entzündet sich daran, dass es in dieser kleinkarierten Weltsicht scheinbar zu viel von ihnen verlangt ist, sich mit Charakteren zu identifizieren, die nicht weiss und männlich sind. „Menschliche Geschichten sind vielfältig und wir alle tragen eine Seite dazu bei – das macht weisse Männer wütend,“ so Laurie Penny. Und deshalb reagieren sie mit viel Hass und Belästigung auf Tendenzen zur Vielfalt in den Erzählungen (Beispiele: die Kampagnisierung weisser cis Männer gegen die female Ghostbusters, die Schwarze Hermine und Rey aus Star Wars).

„Ich verstehe die Wut, jede*r, die*der jemals erfahren hat, wegen des Geschlechts oder der Hautfarbe aus einer Geschichte ausgeschlossen zu werden, hat diese Wut schon einmal gefühlt,“ kommentiert Laurie Penny. Sie versteht diese Wut, denn sie hat sie selbst oft gespürt so wie alle Menschen – Frauen, Schwarze Menschen, LGBTIQs – die die längste Zeit von den großen Erzählungen ausgeschlossen blieben und von denen erwartet wurde, sich mit weissen cis Männern zu identifizieren, also Menschen, die anders aussehen, anders sprechen und ein Leben leben, von dem sie keine Vorstellungskraft haben. Bis du langsam den Frust spürst, dass du vielleicht nie zur Held*in einer Geschichte werden wirst.

 

Geschichten verändern die Welt

 

Laut Laurie Penny werden Geschichten erzählt, um die Dunkelheit draußen zu halten, Mythen und Fabeln, die uns vor der Verzweiflung retten. Mit ihrer Hilfe wird Macht etabliert oder zerstört. So bringen wir uns gutes Verhalten bei und die Grenzen der Sehnsucht werden beschrieben. Geschichten lassen uns kämpfen und Sehnsucht haben, wenn es einfacher wäre aufzugeben. Sie sind die Zutaten für jede menschliche Gesellschaft seit der Steinzeit. Viel zu lange waren Geschichten zu bequem und haben den weissen westlichen Mann ins Zentrum gestellt und so Rassismus und Sexismus legitimiert.

Laurie Penny schließlich: „Ich hoffe, im Moment beginnt ein großes Umschreiben. Wir können nur zu dem werden, was wir uns vorstellen können. Jetzt lernen wir, dass Held*innen nicht immer weiss, cis und männlich sind, dass Leben und Liebe, Bösartigkeit und Erfolg etwas anders aussehen – abhängig davon, wer die Geschichte erzählt. Die Welt verändern ist nie einfach. Es braucht dazu Mut – das habe ich von Harry Potter gelernt.“

 

Laurie Penny: Change the story, change the world

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Humorvolle Revoluzzerin für Feminismus und Müßiggang https://loukanikos161.blackblogs.org/2020/07/28/hanna-herbst/ https://loukanikos161.blackblogs.org/2020/07/28/hanna-herbst/#respond Tue, 28 Jul 2020 03:07:13 +0000 http://loukanikos161.blackblogs.org/?p=239 Hanna Herbst im Portrait

 

Die diesjährige online Veranstaltung zum Bachmannpreis hat für Hanna Herbst eine Premiere bedeutet. Schreiben ist etwas, das sie schon ihr ganzes Leben über begleitet. So hat sie als Kind und, wie sie selbst sagt, depressiver Teenager „schlimme Gedichte“ verfasst, um Dinge zu verarbeiten. Später hat sie in kleinen Literaturzeitschriften kurze Geschichten über Menschen und ihr Leben veröffentlicht. „Der Ohrenzeuge“ von Elias Canetti fällt ihr dazu als Referenz ein. Bekannt ist sie vielen als Buchautorin („Feministin sagt man nicht“) und als ehemalige Journalistin bei Vice. Nun arbeitet sie in Köln bei der Redaktion der neuen Informationsshow von Jan Böhmermann als Chefin vom Dienst mit. Beim Bachmannpreis hat sie am 19.Juni zum ersten Mal einen ihrer literarischen Texte vorgelesen. Mit „Es wird einmal“ belegte sie beim Publikumsvoting den zweiten Platz nur knapp hinter Lydia Haider, die damit u.a. in die Fußstapfen von Stefanie Sargnagel tritt. Im Gespräch mit Alexander Stoff hat Hanna Herbst etwas über ihr Leben verraten und Gedanken darüber geteilt, wie sie die Welt sieht.

Eine furchtlose Frau reist nach Argentinien

Hanna sagt, dass sie ein mutiges Kind war, das sich vor nichts gefürchtet hat. Mit acht Jahren verändert sich alles, denn da zieht sie mit ihren Eltern und ihrem Bruder aus einer kleinen Stadt in Deutschland nach Salzburg. Die Kinder sollten die Möglichkeit haben, ein Gymnasium zu besuchen, meinen die Eltern – ein Luxus, den es in der deutschen Kleinstadt nicht gibt. Im neuen Zuhause fühlt sich Hanna allerdings einige Zeit sehr unwohl. Denn sie wird von Mitschüler*innen belästigt und auf dem Heimweg verfolgt. Eine Lehrerin korrigiert Hanna, wenn sie schreibt, dass sie sich langweile und kommentiert, dass man in Österreich „fadisieren“ sage. Mit 15 oder 16 Jahren habe sie schließlich herausgefunden, „mit wem ich zu tun haben will und mit wem nicht“. Von da an sei es ihr wieder besser gegangen. Nach der Schule geht Hanna nach Argentinien, um Psychologie zu studieren. Das war um 2008 herum. Aber dann kommt die Schweinegrippe-Epidemie und die Universitäten müssen geschlossen werden. Hanna entscheidet sich, ihr Studium abzubrechen und wieder nach Hause zu ihrer Familie zurückzukehren.

 

Journalistin aus Leidenschaft

 

„Auf meinem MacBook Air schreib ich nur noch Relevantes

über die Conditio Humana und Spaghetti Bolognese ..

Ich sag der Menschheit die Wahrheit ins Gesicht

mit der Diktierfunktion meines Mobiltelefons“

(aus „Herbstmanöver“)

 

Mit dem Ziel, Journalistin zu werden, beginnt sie nun ein Studium in Politikwissenschaft. Gleichzeitig bewirbt sich Hanna bei der Redaktion von Vice für ein Praktikum. Dabei hinterläßt sie offensichtlich einen guten Eindruck, denn ihr wird angeboten, in einem Vollzeitarbeitsverhältnis bei Vice mitzuarbeiten. Doch sie steht zunächst vor einem Problem, denn: „Ich habe zu meiner Mutter gesagt: Mama, wenn ich jetzt 40 Stunden arbeite, dann glaube ich, dass ich mein Studium nicht fertig mache.“ Ihre Mutter macht ihr deutlich, dass es genug erwerbslose Studienabsolvent*innen gäbe, und überzeugt sie, dass berufliche Erfahrung viel wert sei. Außerdem könne sie ja zu einem späteren Zeitpunkt ihr Studium abschließen. So wird Hanna also Redakteurin bei Vice.

Bei ihren Recherchen liegt ihr alles am Herzen, „worüber ich stolpere und denke, es ist spannend“. Das Spektrum der Themen ist daher breit gefächert. So gehört ein Vice-Artikel über Tanja Playner – eine Pop-Art-Künstlerin, die ihren künstlerischen Wert weit übertreibt und außerdem der FPÖ nahe steht – ebenso dazu wie gesellschaftlich relevantere Themen mit einem Fokus auf Menschenrechte. Eine Recherche wie jene über Tanja Playner macht Hanna „viel mehr Spass, weil man sich reinfuchst und denkt, wie verrückt ist diese Welt“. Recherchen über Menschenrechte spielen hingegen besonders für ihre Mitarbeit bei der Zeitschrift Liga eine Rolle. Hier geht es um Themen wie Obdachlosigkeit, Rassismus, Diskriminierung und Ausbeutung von Erntehelfer*innen.

Wäre sie nicht Journalistin, dann würde sie sich für den Beruf der Psychotherapeutin entscheiden, sagt Hanna. Von ihrer aktuellen Tätigkeit bei Böhmermann erwartet sie sich, dass ihr neues Berufsfeld großen Spass machen, aber auch stressig sein wird. Hanna glaubt, dass Raum sein wird, um viele Menschen zu erreichen und Wissen weiterzugeben. Sie spüre einen richtigen Revoluzzerinnenfunken in sich sprießen.

 

Homo politicus

 

Eine Eigenschaft zeichnet Hanna aus, die schon von klein auf sichtbar wird: ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden. Sie spricht immer laut aus, wenn sie etwas als ungerecht empfindet – gegenüber ihren Eltern genauso wie gegenüber Lehrer*innen oder im Beruf. Ihr Gerechtigkeitsempfinden zieht sich durch ihr ganzes Leben, meint Hanna: „Ich bin generell so ein Mensch, wenn ich etwas schlimm finde, dann sage ich etwas.“ So sind es auch die Ungerechtigkeiten auf dieser Welt, die sie kaum ertragen kann und die sie dazu bewegen, zum Stift bzw. Tastatur zu greifen. Ob sie ein politischer Mensch ist? Darauf antwortet Hanna, dass wahrscheinlich jeder Mensch politisch sei, das habe schon Plato mit dem homo politicus festgestellt. Politisch ist sie selbst also „natürlich auch volle Kanne“. Denn wenn du in dieser Welt aufwächst und aufmerksam mitverfolgst, was passiert, dann sei es gar nicht möglich, nicht zu politisch sein, sagt sie. Es habe jedoch kein bestimmtes Ereignis oder eine bestimmte Person gegeben, die sie politisiert habe. Hanna sympathisiert mit verschiedenen Bewegungen wie zB dem Klimavolksbegehren und der Demokratiebewegung in Hongkong.

„Ich weiss nicht, wie man eine gerechte Welt gestalten kann oder eine Welt, wo ich sagen würde, ich bin wunschlos glücklich, weil es dann eine Welt ist, wo man sich umsieht und einem auffällt, dass die Menschen glücklich sind,“ sagt Hanna, angesprochen auf ihre Utopie. Es gebe so viele Baustellen auf unserer Welt, dass sie gar nicht wisse, wo man mit der Veränderung anfangen soll. So ist die Schere zwischen Arm und Reich in der Corona-Krise noch größer geworden als sie ohnehin schon war. Wenige Milliardäre haben in dieser Zeit ihren unfassbaren Reichtum noch um ein Vielfaches gesteigert, während viele Menschen ihren Job verloren und in die Armut abgerutscht sind. Und Arbeiten wird zur Religion, stellt Hanna fest. Während man früher dachte, dass wir alle bald weniger arbeiten müssen, wurde in Österreich unter Schwarz/Türkis-Blau II der 12-Stunden-Tag eingeführt. Parteien wie FPÖ, ÖVP und FDP werten auf menschenverachtende Weise Menschen ab, weil sie keiner Erwerbsarbeit nachgehen. Alles das läuft in eine ganz falsche Richtung, so Hanna: „Und du denkst dir: hä? Das ist doch gar nicht, wofür wir Mensch sind! Es ist doch viel schöner, ein Tier zu streicheln oder Blumen zu pflanzen.“ Deshalb wäre eine Arbeitszeitverkürzung auf vier Stunden, wie von der Soziologin und Philosophin Frigga Haug vorgeschlagen, eine Utopie, mit der Hanna sich anfreunden könnte. Denn dann bliebe für uns alle mehr Zeit für Müßiggang. Und sie wünscht sich auch, dass wir Menschen wieder mehr Bezug für die Dinge bekommen, für die wir leben und die uns gut tun. Etwa die Natur und der Umgang mit Tieren oder auch lecker Essen, weil es gut schmeckt und nicht nur, um satt zu werden.

 

Feministin sagt man doch

 

Erfahrungen als politische Aktivistin hat sie bisher einmal gesammelt, nämlich im Rahmen des Frauenvolksbegehrens. Gefragt, was sie dazu inspiriert hat, antwortet sie: „Wir saßen damals zusammen, ein US-Präsident Trump in Aussicht, Schwarz-Blau in Aussicht, und da haben wir gesagt, das werden schlimme Jahre für Frauen. Wir müssen was tun.“ Besonders schlimm findet sie es, wenn Frauen eine Führungsposition erreichen und sich dann unsolidarisch verhalten und eine menschenverachtende Politik betreiben. Als Beispiele fallen Hanna etwa die ÖVP-Ministerinnen ein. Deshalb findet sie es nicht genug, wenn Feministinnen sich Verbündete suchen, auch wenn das sehr wichtig ist, aber eine Veränderung zu einer geschlechtergerechten Gesellschaft erfordere auch, dass Feministinnen in Entscheidungspositionen gelangen, um politisch zu gestalten.

Ob sie mit ihrer Arbeit etwas verändert, darüber hat sie sich noch nicht viele Gedanken gemacht, sagt Hanna. Im Kleinen macht sie jedenfalls öfter die Erfahrung, dass Menschen sich bei ihr melden und ihr mitteilen, einen anderen, positiveren Blickwinkel auf den Feminismus gewonnen zu haben, nachdem sie ihr Buch gelesen haben. Junge Frauen und Männer schreiben ihr selbst heute noch – zwei Jahre nach dem Erscheinen von „Feministin sagt man nicht“ – Emails, in denen sie feststellen, dass sie jetzt besser verstehen, was Feminismus bedeutet und dass Hannas Buch so wichtig für sie war. Diese Veränderungen im Kleinen findet Hanna sehr schön und befriedigend.

Unter Emanzipation versteht sie, dass wir uns von Zwängen freikämpfen, die uns klein machen und beengen. Damit muss gar nicht mal das Verhältnis zwischen Männern und Frauen gemeint sein, sagt Hanna. Es geht um Situationen, wie zB in einer Beziehung, bei der du in eine Rolle gedrängt wirst, wo du nicht sein möchtest. Oder gesellschaftliche Verhältnisse, wo Menschen unterdrückt werden. Es ist unübersehbar, dass Frauen in westlich-europäischen Gesellschaften diskriminiert werden, dennoch hält Hanna die Lage im Verhältnis zu anderen Regionen der Welt für eine privilegierte Position. „Ich kam nie in die Situation, mich emanzipieren zu müssen,“ sagt sie daher. Wovon sie sich sehr wohl emanzipieren musste, ist davon, dass sie sich manchmal selbst im Weg gestanden und klein gehalten hat. Nachdem sie ein mutiges Kind gewesen ist, gab es eine Zeit, in der sie schüchtern war und daraus musste sie sich erst wieder befreien und zu ihrer alten Furchtlosigkeit zurückfinden. Und – auch wenn dies nie ganz gelinge – so musste sich Hanna auch von gesellschaftlichen Normen emanzipieren, die Frauen vorschreiben, wie sie sich zu verhalten hätten.

 

Plaudern mit Diogenes und ein Balkon voller Pflanzen

 

„Ich hänge nur noch ab mit krassen Ikonen

hab jetzt neue Freunde, bitte ruft nicht mehr bei mir an

Aichinger Ilse und die Beauvoir Simone

wir entspannen zusammen im alten Haus von Thomas Mann“

(aus „Herbstmanöver“)

 

Beim Bachmannpreis mitzumachen, habe ihr viel Freude bereitet, allerdings mache sie das noch nicht zu einer Schriftstellerin. Den Text hat sie übrigens während einer Reise nach Indonesien im vergangenen Jahr geschrieben. Und auch singen ist eine Beschäftigung, die ihr Spass macht, was sie der Öffentlichkeit schon gezeigt hat, denn anlässlich des Literaturwettbewerbes hat Hanna zusammen mit Leon Engler ein kleines Video mit dem Lied „Herbstmanöver“ gedreht. In ihren literarischen Texten vermischt sich Fiktives mit tatsächlichen Erfahrungen. So sagt Hanna: „Bei allen Leuten, die schreiben, hast du einmal ein Gefühl, eine tiefe Trauer, und du schreibst darüber. Das Gefühl, das dem zugrunde liegt, ist echt. Aber die Geschichte darum herum ist frei erfunden. Oder jemand erzählt einem eine Geschichte und man spinnt sie weiter. Oder man hat etwas genau so erlebt und schreibt darüber.“ Literarische Einflüsse von anderen Autor*innen bemerkt Hanna in ihren Werken zwar nicht, aber ein Buch, das sie gelesen hat und das sie immer noch sehr beschäftigt, ist „Roman eines Schicksallosen“ des Holocaust-Überlebenden Imre Kertész. Für sich entdeckt hat sie die Romane von Janosch, die der Kinderbuchautor für Erwachsene geschrieben hat, denn sie findet Bücher wie „Vom Glück, Hrdlak gekannt zu haben“ sprachlich famos, lustig und etwas für das Herz.

Wenn sie die Gelegenheit hätte, jeden Menschen auf der Welt zu treffen – auch historische Persönlichkeiten – dann würde Hanna sich am liebsten mit den Philosophen Diogenes und Epikur unterhalten. Sie würde Diogenes unendlich viele Fragen stellen, wie zB warum er in einer Tonne lebte, und sich von ihm ausfragen lassen. Den hedonistischen Epikur würde sie gerne fragen, wie man leben soll. Ihr fallen noch unzählige Menschen ein, die sie gerne kennen lernen und das Gespräch suchen würde: Goethe, Simone de Beauvoir, Sokrates, Ingeborg Bachmann, Paul Celan.

Hanna ist ein Mensch, der viel und gerne lacht – das merkt man auch während des Gesprächs. Sie glaubt, dass sie wohl ein sehr dankbares Publikum für jede*n Comedian wäre. Danach gefragt, was sie denn zum Lachen bringt, meint Hanna, sie amüsiere sich oft über die lustigen Sachen, die ihr Hund Lila macht. Wegen ihrem Freund wird sie im Alter vermutlich Lachfalten bekommen, fürchtet sie, denn er schafft es immer, sie zum Lachen zu bringen. Hanna mag schwarzen Humor besonders gerne und es darf auch ein Humor sein, der ein wenig böse und bissig ist.

„Ich hätte gerne einen Garten,“ sagt Hanna. „Vor die Tür gehen und Natur. Das fehlt mir schon. Mein Balkon ist voll, weil ich alles anpflanze – Kartoffeln, Salat und Kräuter. Man kann am Balkon vor lauter Pflanzen fast gar nicht mehr sitzen.“ Sie denkt, am Land zu leben wäre genau das Richtige für sie, dann würde der Stress in Hannas Leben wegfallen. Wenn sie Zeit für Müßiggang hat, dann geht sie am liebsten zelten und wandern. Ihr Hund Lila muss unbedingt dabei sein, damit es noch mehr Spass macht. Hanna freut sich, wenn sie Zeit mit Dingen verbringen kann, die ihr Leben bereichern wie Meditation und Philosophie. Danach sehnt sie sich und darüber möchte sie sich am liebsten Gedanken machen – „und nicht über die FDP“. Aber sie will sich dem auch wieder nicht entziehen. „Dazu bin ich noch nicht ganz bereit. Da habe ich das Gefühl, ich muss noch ein bisschen mitmischen.“ Eines Tages vielleicht wird es soweit sein, dass sie aufs Land zieht. Aber noch nicht jetzt. In einem schönen Text, den Hanna bei ihrer Buchpräsentation öfter vorgelesen hat, schreibt sie, dass sie gerne Schafe hüten möchte. So lautet der letzte Satz in dem Text: „Und irgendwann, da klappt das dann auch mit der Schafherde.“

 

Hanna Herbst auf Twitter, Facebook und Instagram: @HHumorlos

 

veröffentlicht auf Unsere Zeitung und Der Freitag

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Buchrezension von History vs Women

 

Das Buch History vs Women von Anita Sarkeesian und Ebony Adams sammelt 25 Lebensgeschichten von Frauen*, die Großartiges geschafft haben, aber im kollektiven Bewusstsein unserer Gesellschaft überwiegend nicht vorkommen. Zu ihnen gehören draufgängerische Rebellinnen, aufschlussreiche Forscherinnen, ruhelose Künstlerinnen, unaufhaltsame Amazonen und sogar skrupellose Schurkinnen – so jedenfalls heißen die Kapitel im Buch. Dass diese Frauen* in den großen Erzählungen und in der herrschenden Geschichtsschreibung weitgehend unsichtbar gemacht werden – darauf weist auch der Untertitel des Werkes: „Die trotzigen Leben, von denen sie nicht wollen, dass ihr davon wisst“. Über ihr Buch sagen die Autorinnen, dass es darauf abzielt, „das Leben und die Leistungen von faszinierenden Frauen* auf der ganzen Welt zu erforschen, die den kulturellen Erwartungen und dem sozialen Druck trotzten, der ihren Ehrgeiz zu beschränken und sie aus den Geschichtsbüchern zu löschen versuchte.“

Zum Beispiel Ida B. Wells. Als afroamerikanische Sklavin in Mississippi auf die Welt gekommen, kümmert sie sich nach dem Tod der Eltern schon in jungen Jahren um ihre Geschwister und sorgt als Lehrerin für ein Einkommen. Während sie die Universität besucht, besteigt sie mit 21 Jahren eines Tages im Jahr 1883 einen Zug nach Memphis und nimmt in der ersten Klasse Platz. Als man ihr mitteilt, dass Afroamerikaner*innen nur in den Wagons der zweiten Klasse mitfahren dürfen, wehrt sie sich mit Bissen gegen ihre gewaltsame Verdrängung. Und Ida B. Wells verklagt das Eisenbahnunternehmen wegen Diskriminierung. Auch durch ihre journalistische Arbeit bringt sie das Thema auf den Tisch. 1892 wird ihr Freund Thomas Moss neben zwei anderen Afroamerikanern von einem rassistischen Mob in Memphis ermordet. Für Wells eine einschneidende Erfahrung, die sie dazu veranlasst, in der Zeitung, die sie mit herausgibt, gegen das Grauen der Lynchmorde ihre Stimme zu erheben, denen auch Jahre nach dem Ende des Bürgerkrieges viele Afroamerikaner*innen zum Opfer fallen. Ida B. Wells argumentiert, dass Lynchmorde ein Mittel sind, mit dem Weiße im Süden der USA ihre Machtposition verteidigen. Ihre Artikel beeinflussen den gesellschaftlichen Diskurs rund um das Lynchen und ziehen auch Todesdrohungen gegen Wells nach sich. Doch sie lässt sich davon nicht einschüchtern und setzt ihr Engagement fort. Ihre investigativen Berichte und öffentlichen Reden führen Wells auch nach Großbritannien und heben die Kampagne gegen Lynchmorde auf eine internationale Ebene. Ida B. Wells gerät in Konflikt mit der von ihr unterstützten Suffragettinnen-Bewegung, in der nicht alle den Kampf gegen Rassismus als Priorität sehen, während zugleich Frauen*rechte von manchen in der afroamerikanischen Community mitunter hinten angestellt werden.

Oder Ana de Urinza und Eustaquia de Sonza. Ihre Zeit ist das 17. Jahrhundert, ihr Ort die peruanische Silberstadt Potosí. Während Ana de Urinza in den Strassen aufwächst und um ihr tägliches Durchkommen kämpft, wird Eustaquia de Sonza in einem wohlhabenderen Umfeld groß. Die beiden haben sehr unterschiedliche Charaktere. Eustaquias Vater adoptiert Ana, damit die beiden Freundinnen einander näher sind. Die beiden Mädchen sind fasziniert vom Fechtkampf ihres Bruders und trainieren bald selbst diese Kunst bei einem Lehrer. Weil sie das Abenteuer suchen, verkleiden sie sich in der Nacht als Männer* und schleichen sich heimlich in die Stadt, um zu trinken, sich beim Glücksspiel zu vergnügen und zu kämpfen. Am Morgen schlüpfen sie wieder in ihre Kleider und gehen ihren Beschäftigungen nach. Ana und Eustaquia haben bald einen Ruf als Verteidigerinnen der Marginalisierten und Verletzlichen unter den Bewohner*innen von Potosí, für die sie Rücken an Rücken mit ihren Schwertern kämpfen. Eines Tages fliegt ihre Tarnung auf und bald werden sie als die tapferen Frauen* von Potosí bekannt. Nach dem Tod des Vaters übernehmen die beiden die Verwaltung seines Grundbesitzes. Trotzdem hören sie nie ganz auf mit ihrem aufregenden Leben voller Abenteuer. Doch es endet tragisch, denn nachdem Ana bei einem Stierkampf schwer verletzt wird und stirbt, verkraftet ihre Freundin diesen Verlust nicht und stirbt schließlich vier Monate später.

Neben diesen liest man in dem Buch History vs. Women noch weitere spannende Geschichten wie jene von Doria Shafik, ägyptische Frauen*rechtsaktivistin, Trieu Thi Trinh, vietnamesische Freiheitskämpferin, Fatima al-Fihri, Gründerin der ältesten Universität in Fès, Murasaki Shikibu, Verfasserin des ersten Romans in der Geschichte, Maria Tallchief, Balletttänzerin aus einer Native American Familie, Bessie Stringfield, die auf ihrem Motorrad quer durch die USA reiste und die Biographien von vielen anderen beeindruckenden Frauen*.

Die Lebensgeschichten werden im Buch jeweils eingebettet in einen Kontext, bei dem beschrieben wird, welche Rollenbilder historisch in der Gesellschaft gängig waren. Es wird erklärt, wie den Frauen* durch die Gesellschaft ein Platz zugewiesen wurde, der sie in ihren Freiheiten und ihrer Entfaltung beschränkt. Packend und in poetischer Sprache geschrieben und mit sehr schönen, eigens für das Buch gezeichneten Portraits bebildert zeigen die Biographien, wie sich diese Frauen* den gesellschaftlichen Erwartungen ihrer Zeit widersetzt haben, aus engen Strukturen ausgebrochen und selbstbestimmt ihren ganz eigenen Weg gegangen sind. Einen Makel in ihrem Buch gestehen die Autorinnen selbst ausdrücklich ein, wenn sie selbstkritisch darauf hinweisen, dass bei der Auswahl der Biographien ein gewisser Fokus gelegt wurde, der zu wenig über den Tellerrand der westlichen Welt hinausblickt.

Es ist zu spüren, dass die Autorinnen wohl Frauen* und Mädchen von heute dazu ermutigen wollen, sich nicht an einengenden gesellschaftlichen Erwartungen und Rollenbildern zu orientieren und ihr Leben lieber selbstbewusst in die eigenen Hände zu nehmen und das Abenteuer zu wagen. So schreiben die Autorinnen ganz zu Beginn in ihrer Widmung: „Für alle Frauen*, deren Geschichten nie erzählt, deren Lieder nie gesungen und deren Werke nie gefeiert wurden. Möge das Wissen über euer Leben ambitionierte Träume in neuen Generationen von Frauen* wecken, die niemals vergessen werden.“

Anita Sarkeesian & Ebony Adams: History vs Women – the defiant lives that they don‘t want you to know (New York 2018)

 

veröffentlicht am 09.12.2018 auf Unsere Zeitung

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„Mit dem Frauenstreik für eine plurale Gesellschaft einstehen“ https://loukanikos161.blackblogs.org/2018/11/08/franziska-schutzbach-frauenstreik/ https://loukanikos161.blackblogs.org/2018/11/08/franziska-schutzbach-frauenstreik/#comments Thu, 08 Nov 2018 17:36:43 +0000 http://loukanikos161.blackblogs.org/?p=165

Franziska Schutzbach ist Initiatorin von #SchweizerAufschrei, Forscherin und feministische Aktivistin. Im Gespräch mit Alexander Stoff spricht sie über aktuelle Herausforderungen des feministischen Aktivismus.

 

F:

In den letzten Jahren treten Phänomene wie Women‘s March, #metoo oder #Aufschrei auf. Was sind verbindende Themen und Praktiken? Und wo gibt es Unterschiede?

FS:

Ich bin überrascht wie stark feministische Themen mittlerweile wieder auf der aktivistischen und medialen Agenda stehen. Dazu haben verschiedene Hashtags oder der Women‘s March in den USA beigetragen. Die großen sozialen Bewegungen sind im Moment die feministischen.

#Aufschrei und #metoo haben ein gesellschaftliches Bewusstsein für das Problem der sexualisierten Gewalt und Belästigung hergestellt. Hashtags sind ein relativ demokratisches Prinzip, weil alle mitmachen können. Aber nicht alle können es sich leisten, öffentlich über Gewalterfahrungen zu sprechen. Bei den netzpolitisch Aktiven gibt es eine unglaubliche Vielfalt. So fordern etwa viele Women of color oder queere Frauen* differenzierte Debatten ein, da ihre Probleme wie zum Beispiel Armut bei Hashtags zu wenig berücksichtigt werden. Die Stimmen von so vielen Frauen* machen deutlich, dass sexualisierte Gewalt überall vorkommt – ob in Hollywood, in den Fabriken, im Privaten oder in der Disco. Durch den Hashtag wird ein strukturelles Problem sichtbar und breit diskutiert. Zum Teil sind das auch problematische Debatten, wo sich dann Leute äußern, die es klein reden oder die behaupten, dass man das Problem den Männern* nur unterschiebe.

Sichtbar wird auch, dass es nicht nur unmittelbar um Gewalt geht, sondern auch um größere Zusammenhänge, um Machtverhältnisse. Gewalt gegen Frauen* gibt es, weil wir in einer sexistischen und geschlechter-ungleichen Gesellschaft leben. Sie ist die Spitze des Eisberges und kann unmittelbar mit Hashtags skandalisiert werden. Die Gewalt wird aber überhaupt erst möglich, weil Frauen* oft in ökonomisch prekären Verhältnissen und Abhängigkeit leben. Die Forderung nach Lohngleichheit enthält daher, dass Frauen* ökonomisch gleich gestellt sein müssen, damit sich Gewalt reduziert.

Auch die intersektionale Dimension muss berücksichtigt werden: denn migrantische Frauen* und Women of color machen andere Erfahrungen als weiße Frauen* aus der Mittelschicht. Die Dominanz des westlichen Blicks muss innerhalb der feministischen Bewegung unbedingt in Frage gestellt werden. Forderungen nach Kinderbetreuung oder Vereinbarkeit von Beruf und Familie sind zwar richtig, aber eine Perspektive von eher privilegierten Frauen*. Für viele Frauen* aus einer unteren Schicht und in ausgebeuteten Arbeitsverhältnissen enthält die Forderung nach Berufstätigkeit überhaupt keinen emanzipatorischen Charakter.

Als ich angefangen habe, im Internet feministische Beiträge zu teilen, bin ich auf viele Widerstände gestoßen. Hier in der Schweiz hinkt man nämlich bei vielem noch hinterher. Dies hat sich in wenigen Jahren geändert: über Feminismus zu sprechen und feministische Perspektiven einzunehmen hat sich ein wenig normalisiert. Ich bin Jahrgang 1978 und in der Schule und beim Studium wurde uns erzählt, die Gleichstellung sei erreicht. Doch als Erwachsene haben wir bemerkt, dass das nicht stimmt. Ich denke, meine Generation und die jüngeren Frauen* wachen gerade auf und wir bemerken, dass wir betrogen wurden, denn die erreichte Gleichstellung ist ein Märchen. Gerade bei den Statistiken in Bezug auf Gewalt gegen Frauen* und sexualisierte oder häusliche Gewalt hat sich in den letzten Jahrzehnten kaum etwas verändert.

F:

Früher hat der klassische Protest bei Demonstrationen auf der Straße stattgefunden, während heute viel im Internet passiert. Hast du den Eindruck, dass sich die öffentlichen Räume verändert haben, in denen heute feministischer Aktivismus und Bewegung stattfinden?

FS:

Ja, ich denke schon, dass das Internet im Hinblick auf Meinungsäußerung und soziale Bewegung vieles verändert hat – sowohl mit positiven als auch schlimmen Effekten. Trotz des Potentials von Demokratisierung durch das Internet habe ich das Gefühl, dass sich im Moment eine Katerstimmung breit macht. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass gerade Frauen* und Women of color in besonderem Maße wieder aus diesen öffentlichen Räumen verdrängt werden. Vor allem Männer* nutzen die Kommentarfunktion bei großen Medien mit Troll-Strategien und Hate speech. Das führt dazu, dass Frauen* sich aus diesen Räumen zurückziehen. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass dieses „silencing“ funktioniert. Schon in der nicht-virtuellen Welt werden weibliche Stimmen weniger gehört, nehmen Frauen* seltener an Podien teil und sind weniger in Medien und Politik vertreten. Das spiegelt sich dann auch im Internet wider.

Ich denke, wir müssen der Individualisiertheit im Internet wirkliche Räume entgegensetzen, wo wir uns treffen, austauschen und unterstützen. Deswegen organisiere ich zB einmal im Monat die Feministischen Salons in Zürich und Basel. Auch Demonstrationen oder Streiks sind Anlässe, bei denen man sich gemeinsam auf der Straße trifft, sich spüren und bestärken kann.

F:

Du hast in einem Text geschrieben, dass #Aufschrei ein Bildungsmoment und der Hashtag-Feminismus eine Form von Aufklärungsarbeit ist. Was braucht es, damit die feministische Kritik stärker von Männern* reflektiert wird, auch um dem Hass etwas entgegenzusetzen?

FS:

Es wäre schön, wenn Männer* in allen gesellschaftlichen Institutionen damit anfangen, über dieses Thema zu sprechen und sich zu engagieren. Teilweise passiert das auch schon. Beim #Aufschrei in der Schweiz vor zwei Jahren mussten die Journalistinnen erst in ihren Redaktionen durchsetzen, dass sie über sexualisierte Gewalt schreiben konnten. Bei #metoo und anderen Themen schreiben mittlerweile auch männliche, vor allem jüngere Journalisten Leitartikel oder Kommentare – und zwar oft profeministisch. Ich finde es wichtig, dass Männer* in diskurs-bestimmenden Positionen sich für dieses Thema stark machen.

Als ein Mensch, der nicht von Rassismus betroffen ist, überlege ich mir immer wieder selbst, wie ich dieses Privileg einsetzen kann, um antirassistische Themen voranzubringen. Auch wenn ich persönlich nicht davon betroffen bin, so mache ich mich mitschuldig, wenn ich Rassismus akzeptiere und mich nicht dazu äußere. Ich hoffe, dass diese Erkenntnis sich auch bei vielen Männern* durchsetzt. Manchmal erlebe ich schon, wie Männer* einander aufmerksam machen und ihre Stimme erheben, wenn sie sexistisches Verhalten beobachten. Das ist ein langsamer Veränderungsprozess, weil Männlichkeit* so stark darüber funktioniert, sich selbst als Norm und alle anderen als besonders zu begreifen. In der Folge wird auch Gewalt gegen Frauen* und andere geschlechterpolitische Themen als ein Problem wahrgenommen, mit dem sich nur Frauen* zu befassen hätten. Diese Wahrnehmung müssen Männer* überwinden.

F:

Was macht für dich kritische Männlichkeit* aus? Und wie kann das Verhältnis zu einem gemeinsamen feministischen Aktivismus sein, bei dem sich Männer* solidarisch als Verbündete betätigen?

FS:

Ich denke, kritische Männlichkeit* bedeutet vor allem, sich zuerst zu überlegen, inwiefern patriarchale Verhältnisse auch für Männer* selbst Probleme oder Nachteile mit sich bringen. Patriarchale Zuschreibungen von Überlegenheit, Macht und Stärke sollen kritisch reflektiert werden. Männer* als privilegiert zu bezeichnen, bedeutet ja nicht, dass alle Männer* reiche Finanzmogule sind. Es gibt auch unter Männern* extreme Armut, Erfahrungen von Gewalt usw.

Und auch Männer* erfahren geschlechter-basierte Vorurteile. Nur sind Frauen* stärker von Sexismus betroffen, weil sie weniger gesellschaftliche Macht besitzen. In dieser Gesellschaft ist Macht nach wie vor ungleich auf die Geschlechter verteilt: Männer* besetzen beinahe alle Schlüsselpositionen in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Kunst und Kultur. Männer* besitzen, verteilen und repräsentieren in der Regel die Macht – auch finanziell. Doch nicht allen Männern* steht der Zugang zu Macht in demselben Maße offen, sondern vor allem denjenigen, die außerdem weiß, begütert, nicht-behindert, heterosexuell und akademisch gebildet sind. Also die Aussage – Männer* haben Privilegien – heißt nicht, dass Männer* kein Leid, keine Gewalt und keine Prekarisierung erfahren. Denn das schließt sich nicht aus. Ich denke, manche Männer* reagieren deshalb mit starker Abwehr, weil sie das Gefühl haben, ihnen wird quasi gesagt, dass sie immer auf der Sonnenseite des Lebens stehen.

F:

Was macht es für dich in einer intersektionalen Sichtweise aus, ein*e gute*r Verbündete*r zu sein? Was bedeutet es, sich als ein*e gute*r Verbündete*r zu verhalten und was sollte man dabei vermeiden?

FS:

Wichtig ist sicher die Bereitschaft zuzuhören und zu reflektieren. Ich denke, es ist für viele Männer* tatsächlich schwer, einmal nicht in der Position des Akteurs zu sein, sondern als Verbündete erst einmal Rezipienten von dem sind, was Frauen* sagen. Ich glaube, das ist für Männer* schwierig, weil sie es gewohnt sind, vor allem anderen Männern* zuzuhören. Das nennt sich Homosozialität: Männer* sind an anderen Männern* ausgerichtet, man will Anerkennung und bewundert andere Männer*. Frauen* werden vielleicht als Partnerinnen oder Mütter gewürdigt, aber nicht als Ideengeberinnen. Laut Studien retweeten Männer* vor allem andere Männer* auf Twitter. Übrigens sind auch Frauen* stark männer-orientiert, denn Männer* repräsentieren Macht und Schlüsselpositionen in unserer Gesellschaft. Männer* sollten sich stärker bewusst machen und darauf achten, was Frauen* schreiben oder sagen. Und ich muss mir auch immer wieder selbst bewusst machen und mich fragen: wann habe ich zuletzt etwas von einer Woman of color getwittert? Der Faktor der Homosozialität ist bei Männern* besonders wirksam und wurde als integraler Bestandteil von Männlichkeit* in der Männerforschung schon länger untersucht, etwa bei Jungen an Schulen. Das Alpha-Männchen in einer Klasse ist der Maßstab, dem alle anderen zu gefallen versuchen, während die Mädchen keine Rolle spielen.

F:

Wo siehst du dann Ansatzpunkte, das zu durchbrechen?

FS:

Indem man bei sich selber anfängt und sich überlegt: an wem orientiere ich mich? Dabei kann man sich bewusst machen, wie viel von dem, was man täglich liest, von Männern* gemacht wird. Dann gibt es Techniken der Diskussionsführung, bei denen eine Diskussion abgebrochen wird, sobald sich keine Frau* mehr zu Wort meldet, weil das als ein Indiz gesehen wird, dass der Verlauf für viele nicht mehr interessant oder sogar diskriminierend ist. Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist. Ich finde es jedenfalls interessant, weil man darüber nachdenkt. Wenn sich nur noch Männer* melden, dann trauen sich Frauen* oft gar nicht. In gemischten Gruppendiskussionen bei Versammlungen oder Konferenzen kann auch die Redezeit von Frauen* und Männern* gemessen werden. Frauen*, die das einfordern, werden oft dafür kritisiert. Daher hilft es, wenn auch Männer* für eine gender-gerechte Gesprächsführung einstehen.

F:

Konservative und rechtsextreme Kräfte in Machtpositionen streichen an vielen Orten staatliche Förderungen zB für Frauen*häuser, feministische Gruppen oder Gender Studies. Wie können feministische Bewegungen mit diesem Problem umgehen und welche Spielräume bleiben?

FS:

Letztlich geht es im Idealfall darum, den Rechtsrutsch aufzuhalten, denn dieser geht immer einher mit einem Backlash bei der Frauen*förderung und auch bei der freien Forschung. Demokratische Institutionen wie das Parlament sollten wieder aus diesem rechten Griff befreit werden. Wir haben bei den Wahlen in der Schweiz 2019 die Chance, die rechtskonservative Dominanz abzuwählen, die uns das alles einbrockt. Die rechte Regierung in der Schweiz ist nicht unbedingt repräsentativ, weil viele Leute nicht wählen oder ohne Staatsbürgerschaft gar nicht wählen dürfen. Ich bin selbst lange nicht zur Wahl gegangen, aber durch die Wahl von Donald Trump in den USA aufgewacht.

Durch die Nutzung des Stimmrechtes wird eine gesellschaftliche Basis für die Entwicklung einer emanzipatorischen Politik geschaffen. Im Moment reagieren wir vor allem auf die Provokationen und Agitationen von rechts und sind in einer Empörungsspirale gefangen. Dabei kommt viel zu kurz, wo wir selbst mit der Gesellschaft und unseren Ideen hinwollen. Wir sollten uns mehr überlegen, was unsere eigenen Ideen oder politischen Utopien sind. Wir müssen eine gute Balance zwischen der Skandalisierung von rechtspopulistischen Äußerungen und dem Ausbrechen aus diesem Rahmen finden, sonst lassen wir uns alles von Rechten und ihren Diskursen vorgeben.

F:

Wie kann man die eigene Erzählung und die eigenen Ideen stark machen? Wie kann stärker gezeigt werden, wofür Feminismus steht und was feministische Aktivistinnen wollen?

FS:

Wir planen in der Schweiz gerade den Streik für den 14.Juni 2019, der meines Wissens auch in Deutschland und Österreich stattfinden soll. Das halte ich für eine wichtige Mobilisierung. Dabei soll es um Themen gehen wie zB Lohngleichheit, Sozialpolitik und Antirassismus. Angelehnt am spanischen Vorbild kann über ökonomische Forderungen hinaus politisiert werden. Wir stehen mit dem Streik auch für eine plurale Gesellschaft ein.

Eine andere konkrete Praxis ist zu zeigen, wie viele tolle Projekte es im Kleinen und Großen bereits gibt. Wir müssen deutlich machen, dass die emanzipatorische Gesellschaft, die wir uns wünschen, ein Stück weit schon da ist, denn es gibt so viel solidarisches Handeln in unserer Gesellschaft. Das dürfen wir uns nicht nehmen lassen. Wir leben schon ein Stück weit unsere Utopien. Das können die Rechten nicht aufhalten und darüber ärgern sie sich auch. Deshalb sind sie vielleicht im Moment so stark, denn sie merken, dass tatsächlich starke Veränderungen hin zu einer pluralen Gesellschaft passieren. Und dagegen bäumen sie sich noch einmal mit Aggressivität auf. Ich denke, das ist auch ein Zeichen des Erfolges von emanzipatorischen Bewegungen. Wir können unsere Andersheit in die Waagschale legen und sagen: wir sind schon da. Wir sind starke Frauen*, wir sind schwule Pärchen, wir sind schwarze Menschen mit Kopftuch in Führungspositionen. Hier, wir sind da – ätsch!

Aber ich denke, es ist auch eine gefährliche Situation, denn ich will nichts schönreden. Wir stehen an einem historischen Wendepunkt. Es kann auch in die falsche Richtung kippen und die Gesellschaft im schlimmsten Fall autoritär und faschistisch werden, wie wir es in manchen Staaten schon sehen.

F:

In einem deiner Texte schreibst du, dass der Kapitalismus sich einen eigenen Begriff von Diversität und Feminismus aneignet und dabei diese Themen für den Markt nutzbar macht. Dabei werden diejenigen, die schon privilegiert sind, weiter bevorzugt und die anderen bleiben ausgeschlossen. Siehst du eine Perspektive dafür, dass man Diversität und soziale Gerechtigkeit mit einander verbindet, um sie der kapitalistisch-neoliberalen Sicht entgegenzuhalten?

FS:

Meiner Meinung nach muss Diversität mit sozialer Gerechtigkeit zusammen gedacht werden, wenn es nicht auf dieser hochglanz-neoliberalen Ebene verweilen soll, wo nur manche davon profitieren, während ökonomische und gesellschaftliche Machtstrukturen davon unberührt bleiben. Es ist für mich ganz klar, dass Diversität mit Kapitalismuskritik und der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit zusammen gebracht werden muss.

Dazu gehört zB das ganze Care-Thema. Die feministische Ökonomie hat in den letzten Jahren hervorgehoben, dass die Logik des Kapitalismus und die Ausbeutung auf der Abwertung von jeglicher Sorge-Tätigkeit aufbaut. Ein erheblicher Teil der Arbeit in unserer Gesellschaft soll demnach gratis gemacht werden. Dazu zählt die Pflegearbeit und schlecht bezahlte Sorge-Arbeit unter prekären Bedingungen. Wenn man diese Arbeit bezahlen müsste, dann könnte der Kapitalismus nicht so erfolgreich sein. Und das hängt mit Geschlecht zusammen. Manche Diversitätsforderungen berücksichtigen das nicht und zielen nur darauf ab, mehr Frauen* in die Verwaltungsräte zu holen. Dabei sollten wir darüber nachdenken, die notwendige Care-Arbeit in der Gesellschaft gerecht zu verteilen und vermeiden, dass sie unter ausgebeuteten Bedingungen stattfindet. Ansonsten können ein paar privilegierte Frauen* unter dem Schlagwort „Diversity“ ihre Karriere machen, während zB die philippinischen Nannys in extrem unsicheren Arbeitssituationen ohne Arbeitsrecht oder gewerkschaftliche Vertretung in diesen Haushalten arbeiten.

 

Franziska Schutzbach ist in verschiedenen feministischen Zusammenhängen aktiv, sie lehrt und forscht an der Uni Basel im Fach Gender Studies. Demnächst erscheint ihr Buch „Die Rhetorik der Rechten. Rechtspopulistische Diskursstrategien im Überblick“. Franziska Schutzbach schreibt u.a. Texte für Geschichte der Gegenwart und ihren Blog

 

Text erschien in der Langfassung am 01.11.2018 auf Unsere Zeitung

Gekürzte Fassung unter dem Titel: „Was macht für dich kritische Männlichkeit aus?“ in der Ausgabe 11 der „Volksstimme“ (November 2018)

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Anita Sarkeesian: Was ich nicht sagen konnte https://loukanikos161.blackblogs.org/2018/06/13/sarkeesian-couldnt-say/ Wed, 13 Jun 2018 12:27:46 +0000 http://loukanikos161.blackblogs.org/?p=135  

Anita Sarkeesian

Anita Sarkeesian ist Feministin und bastelt Videos, in denen sie Kritik an der mangelnden Repräsentation und sexistischen Darstellung von Frauen* in Medien übt, anfangs mit einem Schwerpunkt auf Videospiele. Ihre Inputs werden für die Bildung an Universitäten verwendet und auch in der Industrie aufgegriffen, um Spiele mit mehr Inklusivität herzustellen. Heute führt Anita Sarkeesian mit ihrer Organisation Feminist Frequency ihre Arbeit fort und produziert Videoserien, in denen rassistische und sexistische Stereotype und Narrative hinterfragt werden. Von Beginn an war Anita Sarkeesian einer koordinierten Kampagne von zumeist männlichen Antifeministen und Hatern ausgesetzt, die sie belästigt und mit Vergewaltigungs- und Morddrohungen bedroht haben. In einem Redebeitrag bei All About Women am 8.März 2015 macht sich Anita Sarkeesian darüber Gedanken, was diese Erfahrung mit ihr als Mensch macht, warum sich der Hass gerade gegen Frauen* richtet, die ihre Meinung öffentlich aussprechen und warum es keine Schwäche ist, die eigenen Gefühle zum Ausdruck zu bringen.

 

 

Anita Sarkeesian: Was ich nicht sagen konnte

 

Was ich nicht sagen konnte, ist „Fickt euch“ zu den Tausenden von Männern*, die ihre Frauenfeindlichkeit in ein Spiel verwandelt haben. Ein Spiel, bei dem geschlechtsspezifische Beleidigungen, Todes- und Vergewaltigungsdrohungen als Waffen eingesetzt werden, um zu versuchen, den großen, gemeinen Bösewicht zu Fall zu bringen, der in diesem Fall ich bin. Mein Leben ist kein Spiel. Ich werde seit drei Jahren jeden Tag belästigt und bedroht, ohne dass ein Ende absehbar wäre. Und alles nur, weil ich es gewagt habe, den offensichtlichen Sexismus zu hinterfragen, dem in der Spieleindustrie freier Lauf gelassen wird. Nichts an meiner Erfahrung ist ein Spiel.

 

Was ich nicht sagen konnte, ist dass ich wütend bin. Wenn mich Menschen, die wissen, was ich jeden Tag durchmache, persönlich treffen, sind sie oft überrascht und sagen Dinge wie „Ich verstehe nicht, warum du nicht viel wütender bist“. Weil ich einfach ich selbst bin. Üblicherweise bin ich lieb und freundlich zu anderen Menschen. Doch ich antworte, dass ich wütend bin. In Wirklichkeit macht es mich rasend. Ich bin wütend, weil wir in einer Gesellschaft leben, wo online Belästigung geduldet, akzeptiert und entschuldigt wird und wo Internet-Dienste und staatliche Behörden keine Verantwortung übernehmen, um der Misshandlung entgegenzuwirken, die Frauen* jeden Tag im Netz zu spüren bekommen. Ich bin wütend, weil von mir erwartet wird, online Belästigung als Preis hinzunehmen, den Frauen* für eine eigene Meinung zu bezahlen hätten.

 

Was ich nicht sagen konnte, ist irgendetwas Lustiges. Die meisten von meinen Freund*innen würden mich als ein wenig bissig und ziemlich sarkastisch beschreiben. Und in manchen von meinen früheren Videokritiken kannst du dir einen kleinen Eindruck von dieser Facette meiner Persönlichkeit machen. Aber heute mache ich beinahe keine Witze mehr auf Youtube. Obwohl Humor uns zu Menschen machen kann und ich ihn gerne verwende, mache ich es nicht, denn viele Zuschauer*innen interpretieren Humor und Sarkasmus als Ignoranz, ganz besonders wenn die Zuseher*innen männlich sind und es sich bei denjenigen, die Witze reißen, um Frauen* handelt. Du würdest es nicht glauben, wie oft Witze als Beweis dafür genommen werden, dass ich nicht weiß, wovon ich spreche oder dass ich keine echte Gamerin bin, selbst wenn diese Witze auf einem tiefgreifenden Wissen über die Materie aufbauen. Also ist das Ergebnis, dass ich diese mehr humorvolle Seite meiner Persönlichkeit bei meinen aktuellen Videopräsentationen absichtlich weglasse.

 

Ich fühle mich selten wohl, wenn ich spontan in der Öffentlichkeit spreche. Ich gehe bewusst und vorsichtig mit Interviews um, die ich den Medien gebe. Ich sage die meisten Einladungen für Podcasts und Web-Shows ab. Ich achte genau auf den Sprachgebrauch bei jedem von meinen Tweets, damit ich sicher gehe, dass alles klar ist und nichts falsch ausgelegt werden kann. Im Lauf der letzten paar Jahre bin ich überwachsam geworden. Mein Leben, meine Worte und Handlungen werden unter ein Vergrößerungsglas gestellt. Jeden Tag sehe ich, wie das, was ich sage, von Tausenden Männern*, die darauf versessen sind, mich zu zerstören und zum Schweigen zu bringen, genau untersucht, verdreht und verzerrt wird.

 

Was ich nicht sagen konnte, ist dass ich ein Mensch bin. Ich komme nicht dazu, in der Öffentlichkeit meine Traurigkeit, Wut, Erschöpfung, Angst oder Depression zum Ausdruck zu bringen. Ich kann nicht aussprechen, dass die Belästigung mir manchmal wirklich nahe geht oder umgekehrt dass sie so normal geworden ist, dass ich manchmal überhaupt nichts spüre. Die Todesdrohungen dringen auf meinen sozialen Kanälen durch und es ist zu einer Routine geworden. Screenshot, an den FBI weiterleiten, blockieren und weitermachen. Ich komme nicht dazu, Gefühle und Ängste auszudrücken, oder wie ermüdend es ist, in meiner physischen und digitalen Umgebung ständig wachsam sein zu müssen, wie ich bestimmte Veranstaltungen meide, weil ich mich nicht sicher fühle oder wie ich im Coffee shop und Restaurant in abgeschiedeneren Räumen sitze, wo mich möglichst wenige Leute bemerken und sehen. Ich zeige nicht, wie es mich peinlich berührt, wenn ich eine Person, die mich im örtlichen Lebensmittelladen erkennt, darum ersuchen muss, bitte nicht weiterzusagen, an welchem Ort wir uns getroffen haben.

 

Irgendwie haben wir uns austricksen lassen und glauben, dass die Belästiger irgendwie gewonnen hätten, wenn wir menschliche Gefühle zum Ausdruck bringen. Dieser falsche Glaube kommt hauptsächlich daher, dass es Frauen* in unserer Gesellschaft nicht erlaubt wird, Gefühle auszudrücken, ohne dass ihnen zugeschrieben wird, hysterisch, wechselhaft, zickig, höchst emotional oder viel zu empfindlich zu sein. Wenn wir Unsicherheit, Zweifel, Wut oder Traurigkeit zum Ausdruck bringen, so wird dies kontrolliert und oft gegen uns verwendet. Aber indem wir uns den Raum für Gefühle und für das Teilen von Emotionen vorenthalten, schreiben wir nur die Vorstellung fort, dass wir alle allein leiden sollen, dass wir uns alle nur abhärten und uns eine dickere Haut zulegen sollen – was nicht von uns verlangt werden sollte.

 

Was ich nicht sagen konnte, ist dass ich nicht einmal etwas von alldem sagen möchte, hauptsächlich weil ich immer noch die Angst spüre, dass das Ausdrücken von menschlichen Gefühlen in der Öffentlichkeit mich unsicher erscheinen lässt. Die Wahrheit ist, dass Frauen*, die ein gewisses Maß ihrer Menschlichkeit bewahren, keine Schwäche zeigen. Sie beweisen Mut. Mit all den verschiedenen, schwierigen, ehrlichen Formen, in denen wir auf die Belästigung reagieren, zeigen wir tatsächlich, wie viel Menschlichkeit im Angesicht dieser Grausamkeit und Ungerechtigkeit noch in uns allen steckt. Danke für die Aufmerksamkeit.

 

unveröffentlicht, 25.05.2018

 

Anita Sarkeesian: What I couldn’t say

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Mit Frauensolidarität und rosa Pussyhats für die sexismusfreie Gesellschaft https://loukanikos161.blackblogs.org/2018/06/13/schweizer-aufschrei/ https://loukanikos161.blackblogs.org/2018/06/13/schweizer-aufschrei/#comments Wed, 13 Jun 2018 07:08:18 +0000 http://loukanikos161.blackblogs.org/?p=112  

Über den #SchweizerAufschrei

 

Eine Vergewaltigung, die nicht so genannt werden darf

 

Nach einer politischen Feier zu Weihnachten 2014 erwacht Jolanda Spiess-Hegglin am darauf folgenden Morgen mit Schmerzen im Unterleib. Sie hat keine Erinnerung mehr daran, was an diesem Abend passiert ist. Es sollte sich herausstellen, dass ihr K.O.-Tropfen verabreicht wurden. DNA-Spuren von zwei Männern werden sicher gestellt, einer von ihnen ist Politiker bei der rechtsextremen Schweizer Volkspartei (SVP). Alles deutet darauf hin, dass Jolanda Spiess-Hegglin vergewaltigt wurde. Doch die Untersuchungen verlaufen schließlich derart schlampig, dass die Politikerin und Mutter von drei kleinen Kindern das Unrecht, welches ihr angetan wurde, nicht beweisen kann. Deshalb darf Jolanda Spiess-Hegglin ihre leidvollen Erfahrungen nicht beim Namen nennen und nicht in der Öffentlichkeit darüber sprechen, denn der SVP-Mann würde sie umgehend anzeigen. Sie darf den Vorfall nicht Vergewaltigung nennen, sondern eben nur „Vorfall“.

 

Für Jolanda Spiess-Hegglin hat es in dieser Situation eine heilsame Wirkung, dass sie sich mit anderen Frauen austauschen kann, wie sie im Gespräch mit dem Redakteur feststellt. Sie wendet sich dem Feminismus zu, denn dieser gibt ihr Kraft und Mut, als sie nach dem „Vorfall“ ihre innere Sicherheit verliert und sich allein fühlt. Nach der Gewalterfahrung macht sie sich selbst Vorwürfe und fragt sich, ob sie vielleicht an diesem Abend weniger Alkohol trinken hätte sollen (obwohl sie gemäss einem neuen Rechtsmedizinischen Gutachten nach der Feier sogar noch hätte Autofahren dürfen). Durch die Auseinandersetzung mit feministischen Ideen ist Jolanda Spiess-Hegglin aber bewusst geworden, dass es keine Entschuldigung für sexualisierte Gewalt geben kann und dass Frauen niemals „selbst schuld“ sind, wenn sie vergewaltigt werden: „Heute weiss ich, dass selbst wenn ich nackt durch die Strassen laufen würde, mich niemand anzufassen hat. Dieses Bewusstsein kam mit dem Feminismus. Aber eigentlich muss man doch sagen, dass dies jedem Mitglied unserer Gesellschaft klar sein sollte“, so Jolanda Spiess-Hegglin im Interview.

 

Nachdem sie sich zunächst durch das Lesen von Büchern über Feminismus informiert, stellt sie fest, dass eine Debatte unter Frauen, denen ähnliches Leid zugefügt wurde, heilsam ist. Indem sie Kontakt zu anderen Feministinnen pflegt, kehrt Jolanda Spiess-Hegglins Kraft zurück und sie kann ihre eigene Geschichte besser verarbeiten, indem sie sich feministischen Ideen widmet. Heute legt sie auch als Politikerin der Piratenpartei ihren Fokus auf Feminismus und unterstützt andere Opfer von sexualisierter Gewalt: „Ich mache nun feministische Netzpolitik. Gebe aber meine Kraft auch gern im realen Leben weiter. Vor ein paar Tagen habe ich beispielsweise eine Frau am Tag des Gerichtsprozesses ihres Vergewaltigers begleitet. Das sind Momente, in welchen alles andere unwichtig wird.“

 

#SchweizerAufschrei

 

Nun geht ein Aufschrei im Land um. Es ist der #SchweizerAufschrei. Frauen, Feministinnen und auch einige Männer erheben lautstark ihre Stimme, sprechen über Sexismus und teilen ihre alltäglichen Erfahrungen mit anderen. Unter dem Hashtag #SchweizerAufschrei erzählen seit vergangenem Herbst – ähnlich wie beim #Aufschrei in Deutschland – zahlreiche Menschen im Internet ihre Geschichten. Dem #SchweizerAufschrei ging u.a. die Wahl des neuen US-Präsidenten voran, der berüchtigt dafür ist, Frauen zu belästigen und gegen ihren Willen zwischen ihre Beine zu fassen und auch noch damit zu prahlen. Außerdem erregte eine Aussage in der Schweiz viel Aufsehen, bei der die SVP-Politikerin und ehemalige Polizistin Andrea Geissbühler in gewissen Fällen von Vergewaltigung den Frauen eine Mitverantwortung zuschiebt. Diese Fälle sind symptomatisch für Rape Culture, also ein gesellschaftlicher Umgang mit sexualisierter Gewalt, bei dem den Frauen die Schuld für die erlittene Gewalt zugeschrieben wird, während die Täter entlastet werden und somit ein Weiterwirken der Gewalt begünstigt wird.

 

Die Journalistin Nadja Brenneisen machte mit einem Artikel im Vice-Magazin das Victim Blaming durch die SVP-Politikerin einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Daraufhin beginnen sich Frauen aus verschiedenen Bereichen – feministische Aktivistinnen, Wissenschaftlerinnen, Journalistinnen, Politikerinnen – über Plattformen im Internet wie Facebook zu vernetzen und ihrem Unmut eine Stimme zu verleihen. Der Hashtag #SchweizerAufschrei wird geboren. Es beteiligen sich viele Frauen und auch einige Männer aller Generationen an der Aktion. Und der Aufschrei artikuliert sich mit rasender Geschwindigkeit, denn innerhalb „eines Tages hat er sich wie ein Lauffeuer und mit der ersten medialen Präsenz noch weiter verbreitet“, stellt Nadja Brenneisen im Interview mit dem Redakteur fest. Diverse Medien berichten und das Thema wird öffentlich im Fernsehen diskutiert. Für Nadja Brenneisen war die starke mediale Resonanz überraschend. In einigen Medien werden praktische Ratschläge geboten, wie sich Frauen aktiv gegen Sexismus wehren können und wie Männer im Alltag vermeiden können, wenn auch nicht immer mit Absicht, sich sexistisch zu verhalten, so die Autorin und Wissenschaftlerin Lovis Cassaris zum Autor dieses Artikels. Nadja Brenneisen ortet gewisse Lernprozesse durch den #SchweizerAufschrei, denn: „Vielleicht hat der ein oder andere überlegt, dass die Kollegin im Büro nicht mehr so gerne „Mäuschen“ genannt werden möchte, oder dass man sich den Kommentar über den Hintern einer Frau auch sparen kann. Inwiefern die Aktion konkret „gewirkt“ hat, lässt sich kaum abschätzen, aber sie wäre nicht möglich gewesen, wenn die grosse Mehrheit alltäglichen Sexismus noch als unveränderbar gegeben wahrgenommen hätte.“ Andererseits bemerkt Jolanda Spiess-Hegglin auch, dass konservative und rechtsextreme Kreise rund um die SVP nur Spott für den #SchweizerAufschrei übrig hatten. „Es ist schon verrückt. Wenn in Köln Menschen mit ausländischem Pass womöglich Frauen belästigen, werden unsere rechten Politiker zu Feministen. Wenns darum geht, die Missstände der Gesellschaft in der Schweiz zu thematisieren, wird hämisch gelacht. Aber ja, ich musste ja auch einiges einstecken. Die SVP machte im Wahlkampf mehrmals Witze über K.O.-Tropfen. Als ob an dieser heimtückischen Droge irgendwas lustig wäre. Ich habe im letzten Jahr ungefähr 70-80 Wutbürger angezeigt, welche mich auf Social Media beschimpften oder verleumdeten. Es waren zu 95 Prozent Anhänger der SVP. Und es waren zu 98% Männer. Das sagt einfach zu viel aus.“

 

Das Schweigen durchbrechen

 

Der #SchweizerAufschrei ermutigt die Betroffenen zum Sprechen und knüpft solidarische Netze zwischen den Frauen. So kommentiert Lovis Cassaris: „Es haben sich betroffene Frauen gemeldet und ihr Schweigen gebrochen. Und sie haben Unterstützung von anderen Frauen erfahren.“ Dies wird auch von Jolanda Spiess-Hegglin bestätigt, die ihre Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt beim #SchweizerAufschrei offen gelegt hat: Sie habe die längste Zeit nie an einen Aufstand gedacht – „(bis) ich auf sehr eindrückliche Weise übelsten Sexismus, Vorverurteilung und die Missstände unserer Gesellschaft im Allgemeinen erfahren musste. Plötzlich war Schweigen für mich keine Option mehr. Und dann kam diese neue feministische Welle, welcher ich mich gern angeschlossen habe und dadurch auch die essentielle Solidarität erfahren habe.“ Und Jolanda Spiess-Hegglin weiter: „#SchweizerAufschrei kam für mich in einer Zeit, in welcher ich extrem froh war, mich mit vielen anderen Menschen endlich über all die Unglaublichkeiten austauschen zu können. In den letzten zwei Jahren habe ich so viel erlebt, ich setzte einen Tweet nach dem anderen ab.“

 

Als wichtiges Anliegen des #SchweizerAufschreis identifiziert Nadja Brenneisen die Sensibilisierung für alltäglichen Sexismus. „Es ging darum aufzuzeigen, dass Sexismus weit verbreitet und omnipräsent ist. Es ging darum zu zeigen, dass man sich diesen nicht weiter gefallen lässt, ja, dass man stark und vernetzt ist.“ Für Lovis Cassaris steht der #SchweizerAufschrei schließlich für den Wunsch nach einer sexismusfreien Gesellschaft, in der Männer keine Macht mehr über Frauen ausüben und das Verhältnis zwischen den Geschlechtern auf Respekt und der Begegnung auf gleicher Augenhöhe beruht. Die queer*feministische Autorin bewegt sich seit vielen Jahren in der LGBTIQ-Community und weist auch darauf hin, dass als Teil des #SchweizerAufschreis auch eine Kritik am Sexismus gegenüber Angehörigen der LGBTIQ-Gruppen artikuliert wird, die von der Lesbenorganisation Schweiz (LOS) formuliert wird. Lovis Cassaris findet es daher auch wichtig, „dass wir mehr sensibilisiert werden in Bezug auf Themen wie Mehrfachdiskriminierung/Intersektionalität.“

 

Vorwärts mit pinken Katzenöhrchen

 

Lovis Cassaris sieht die Wirkung des #SchweizerAufschreis darin, dass Frauen sich noch besser vernetzen. „Das Teilen der eigenen Erfahrungen mit anderen macht Sexismus sichtbarer und bewirkt, dass man sich mit dem Problem nicht alleine fühlt.“ Außerdem wird das Bewusstsein in breiteren Kreisen der Gesellschaft zunehmend geschärft, denn die öffentlichen Debatten werden auch im privaten Umfeld der Menschen thematisiert, selbst von Personen, die sich bis dahin kaum oder gar nicht mit der Problematik befasst haben. „Auch nach Monaten reden wir noch über den Aufschrei. Das ist ein gutes Zeichen“, so Lovis Cassaris.

 

Im Hinblick auf die Zukunft meint Lovis Cassaris: „Jetzt dürfen wir einfach nicht nachgeben, auch wenn Feminismus manchmal anstrengend wirkt. Wie Sarah Bosetti neulich gesagt hat: Feminismus ist wie das Kondom, das man erst noch kaufen muss, obwohl man schon nackt zusammen im Bett liegt. Ohne wär‘ es einfacher, aber langfristig nur für den Mann.“ Kontinuität ist das Zauberwort. So meint Nadja Brenneisen, dass weitere Aktionen erforderlich sind – „so müssen Frauen und Männer weiter dafür kämpfen, als Menschen nicht mehr ungleich behandelt zu werden, lieben zu können, wen sie wollen, sein zu dürfen, wer sie sind. In der Schweiz tragen beispielsweise gerade viele Frauen die pinken Katzenöhrchen (#makeswitzerlandpink). Ich persönlich sehe das ziemlich einfach: Aufhören können wir alle erst dann, wenn wir am Ziel sind“, so Nadja Brenneisen. Auch Jolanda Spiess-Hegglin meint, dass es nun von Bedeutung ist, sich zu organisieren und Strukturen aufzubauen – und diese sind gerade im Entstehen begriffen. Das gilt sowohl für die Plattformen im Netz als auch für die nicht-virtuelle Welt. Die nächste Gelegenheit sich zu vernetzen und die Stimme gegen Sexismus zu erheben, wird es am 18.März geben, wenn in Zürich der Women‘s March stattfindet. Jolanda Spiess-Hegglin sieht dem Women‘s March bereits hoffnungsfroh entgegen: „Pinke Wolle für die Pussyhats sind in vielen Warenhäusern ausverkauft.“

 

unveröffentlicht, 16.03.2017

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