Kapitalismuskritik – Nachrichten vom Riot Dog https://loukanikos161.blackblogs.org One more Blackblog Thu, 19 Dec 2019 18:18:22 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.1 „Die Menschenrechtsverletzungen in Chile sind wie ein zweites Trauma“ https://loukanikos161.blackblogs.org/2019/12/19/chile-zweites-trauma/ https://loukanikos161.blackblogs.org/2019/12/19/chile-zweites-trauma/#respond Thu, 19 Dec 2019 18:13:15 +0000 http://loukanikos161.blackblogs.org/?p=232 Sergio Patricio ist Künstler, Student und Aktivist bei Chile desperto in Wien. Im Interview berichtet er über Hintergründe der aktuellen Protestbewegung in Chile.

Die gegenwärtige Protestbewegung in Chile hat ihren Ausgang genommen, als vor allem Schüler*innen gegen die Erhöhung der Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr protestierten. Doch schnell hat die Bewegung auf den Rest der Gesellschaft übergegriffen und die Forderungen haben sich dabei vervielfältigt. Inzwischen richtet sich die Protestbewegung gegen das neoliberal-kapitalistische Regime als Ganzes und eine zentrale Forderung ist der Rücktritt der Regierung des rechtsextremen Präsidenten Sebastian Piñera. Die Kritik wendet sich auch gegen die Vorgängerregierungen, die in den fast 30 Jahren seit dem Ende der Diktatur von Augusto Pinochet wenig unternommen haben, um die sozioökonomischen und politischen Kontinuitäten der Diktatur wie etwa die massive soziale Ungleichheit zu beenden, die auch in Zeiten der bürgerlichen Demokratie fortwirkten. Obwohl die Diktatur vor 30 Jahren beendet wurde, stellen wir heute im wesentlichen noch die gleichen Fragen,“ sagt Sergio Patricio dazu. Bei Umfragen sind die Zustimmungswerte der Regierung inzwischen auf weniger als 10% gesunken.

„Es demonstrieren noch immer viele Menschen. Die Leute sind wütend und es hat sich über die vergangenen 30 Jahre eine Menge Wut und Frustration angestaut. Deshalb haben sie viel Kraft, um die Demonstrationen fortzusetzen,“ so Sergio Patricio. Was als Protest gegen Fahrpreiserhöhungen begonnen hatte, entwickelte sich bald zu einem Ausbruch, bei dem es auch zu Randale und Sachbeschädigung kam. Doch die chilenische Regierung und Staatskräfte reagierten darauf mit unverhältnismäßiger Gewalt und es kam zu unzähligen Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei und während des vorübergehend verhängten Ausnahmezustandes auch durch das Militär. Beinahe 30 Menschen wurden durch Staatskräfte getötet, tausende eingesperrt und viele misshandelt, darunter auch Kinder. Neben sexualisierter Gewalt gegen Frauen und LGBTIQ-Personen durch Staatskräfte wurden auch Menschen wie in Diktaturzeiten verschleppt ohne dass ihr Aufenthaltsort bekannt ist. Und um die 200 Menschen haben ein oder beide Augen verloren, nachdem sie durch Gummigeschoße der Polizei verletzt wurden. Dass in Chile die Menschenrechte verletzt werden ist nichts Neues, so Sergio Patricio. „Es ist so wie während der Diktatur. Es wiederholt sich, was schon in der Vergangenheit geschehen ist. Nur während den Opfern früher ihre Erfahrungen nicht geglaubt wurden, ist der Unterschied heute, dass die Menschen die Gewalt mit Kameras dokumentieren können. So erfahren viele über social media sofort, dass die chilenische Polizei und Armee die Menschenrechte missachtet.“ Die Zahlen von Chile desperto beruhen auf den Quellen von Amnesty International und der UN. Die offiziellen Verlautbarungen der Regierung, dass alles korrekt abliefe, wurden also bald durch die Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen Lügen gestraft.

Chilen*innen im Ausland, die sich über das Internet informierten und sich wegen der Gewalteskalation Sorgen machten, haben sich in mittlerweile 30 Ländern zusammengefunden und begonnen, sich zu vernetzen, um auf die Situation in Chile aufmerksam zu machen. Eine der Gruppen von Chile desperto ist auch in Wien tätig. Im Vergleich zu anderen Städten wie Barcelona und London ist die Gruppe in Wien allerdings von überschaubarer Größe. Dennoch konnten auch hier Aktionen wie eine Demonstration und Trauerkundgebung organisiert werden, an denen mehrere hundert Menschen teilgenommen haben. Sergio Patricio sagt, dass die Menschen, die sich bei einer der lokalen Gruppen von Chile desperto in Städten wie Barcelona, London, Sydney, Berlin und New York zusammengefunden haben, über die Lage in Chile erschrocken sind: „Wie ist es möglich, dass sich die Regierung nicht für die begangenen Menschenrechtsverletzungen entschuldigt? Das ist keine Gerechtigkeit. Menschen werden auf den Strassen getötet und eingesperrt. Auf einem Video ist zu sehen, wie die chilenische Polizei in eine Schule eindringt und auf Schülerinnen schießt.“

In den cabildos genannten Versammlungen trifft sich die Bevölkerung und es wird über verschiedene gesellschaftliche Themen wie soziale Sicherheit debattiert. Schließlich werden Vorschläge zu Papier gebracht, von denen sich die Menschen eine Lösung sozialer Probleme erwarten, und den parlamentarischen Gremien wie dem Kongress vorgelegt. Auch die während der Pinochet-Diktatur beschlossene und immer noch gültige Verfassung ist Gegenstand von Diskussionen. Stimmen aus der Protestbewegung rufen laut nach einer neuen Verfassung, die die geänderten Realitäten der chilenischen Gesellschaft berücksichtigt. Ein anderes Thema, das im Rahmen der cabildos aufgegriffen wird, sind die Rechte der indigenen Mapuche und ihre Territorien. Dazu kommt der Umgang mit den natürlichen Ressourcen, besonders Wasser. Die Wasserversorgung wurde privatisiert und vor allem spanische Firmen und transnationale Konzerne haben darauf Zugriff. Diese arbeiten rein profit-orientiert und bringen den Großteil des Wassers außer Landes. Auch der Entwurf einer neuen Verfassung wird in den cabildos thematisiert. Ein weiterer Punkt ist die soziale Sicherheit. Denn in Chile sind die meisten Bereiche privatisiert, was auch als neoliberales Erbe auf die Diktatur zurückgeht. Soziale Versorgung erhält nur, wer es sich leisten kann und lebenswichtige Bereiche wie das Bildungs- und Gesundheitswesen sind extrem teuer. So müssen Familien etwa für den Unterricht an einer der privaten Schulen monatlich ca. 400 Dollar aufbringen.

„Chilen*innen innerhalb und außerhalb des Landes wissen bescheid über die Menschenrechtsverletzungen. Medien berichten darüber und internationale Organisationen wie die UN und Amnesty International haben es dokumentiert. Sie wissen, dass es passiert und wir warten auf Gerechtigkeit.“ Juristische Ermittlungen gegen einzelne Polizisten und sogar gegen Präsident Piñera sind im Laufen. Vertreter*innen von Chile desperto erwarten sich internationale und europäische Unterstützung und hoffen darauf, dass politischer Druck auf die chilenische Regierung ausgeübt wird, damit die Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung gezogen werden, so Sergio Patricio. Aus diesem Grund versucht Chile desperto in mehr als 30 Ländern die Öffentlichkeit für die Situation in Chile zu sensibilisieren. Chile ist heute eine bürgerliche Demokratie, umso schwerwiegender die Tatsache, dass systematisch Menschenrechte verletzt werden. Sergio Patricio stellt fest, dass die gegenwärtigen Proteste undenkbar wären ohne die vorangegangenen Proteste der Studierenden- und der feministischen Bewegung in Chile. Diese Bewegungen haben soziale Ideen gestärkt und ein Bewusstsein geschaffen. Sergio Patricio ist selbst noch während der Diktatur aufgewachsen und hat den politischen Übergang zur bürgerlichen Demokratie miterlebt. Er erinnert sich an ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit in seiner Generation. Die jüngeren Bewegungen haben nun das Selbstbewusstsein der Menschen gestärkt und für Themen wie soziale Gleichheit und Korruption sensibilisiert. Im Moment hat Sergio Patricio Hoffnung, dass die sozialen Bewegungen in Chile Veränderungen erreichen können. Dennoch ist die Situation schwierig, da Nachbarländer in der Krise sind. So gab es in Bolivien einen Putsch gegen Evo Morales. „Wir wünschen uns, dass sich alles in die richtige Richtung entwickelt. Aber wir haben auch Angst, dass es sich verschärfen kann. Ich hoffe, wir enden nicht als Geflüchtete,“ sagt Sergio Patricio. Für ihn ist es eine erschreckende Erfahrung, nach der Diktatur ein zweites Mal in seinem Leben schwere Menschenrechtsverletzungen mitansehen zu müssen: „Für uns ist es wirklich wie ein zweites Trauma.“ Von der österreichischen Zivilgesellschaft erhofft sich Sergio Patricio Unterstützung und eine Positionierung für die Verteidigung von Menschenrechten in Chile.

 

erschienen in: akin 25 (4.Dezember 2019) und Unsere Zeitung

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Wien: #ChileDesperto Solidaritätsdemo mit der Protestbewegung in Chile https://loukanikos161.blackblogs.org/2019/10/28/wien-chiledesperto-solidemo/ https://loukanikos161.blackblogs.org/2019/10/28/wien-chiledesperto-solidemo/#respond Mon, 28 Oct 2019 08:44:12 +0000 http://loukanikos161.blackblogs.org/?p=226 In Solidarität mit den großen Protesten gegen die rechtsextreme Regierung von Präsident Piñera und den neoliberalen Kapitalismus in Chile kam es am Sonntag, 27.10.2019, nachmittags zu einer Demonstration in Wien.

Nach einer Zählung des Radiojournalisten Gerhard Kettler (https://nochrichten.net) beteiligten sich daran ca. 650-750 Menschen. Aufgerufen hatte die Gruppe Chile despertó 2019 – Viena (zu finden auf Facebook).

Die Atmosphäre war großartig und sehr lebhaft. Schon beim Treffpunkt beim Gutenbergdenkmal am Lugeck riefen die Menschen hüpfend laute Parolen und sangen Lieder. Wie bei einem in Lateinamerika üblichen Cacerolazo wurde auf Töpfe und Pfannen geschlagen. Auch Pfeifen und Trommeln kamen zum Einsatz. Das Bild wurde durch viele chilenische Nationalfahnen dominiert, ob groß oder als kleine Fähnchen, manche Demoteilnehmer*innen hatten sich in die Flagge eingehüllt. Andere trugen auch Fahnen der indigenen Mapuche mit sich.

Schilder und Transparente, meist auf Spanisch, manche auch auf Englisch und Deutsch, forderten den Rücktritt des chilenischen Präsidenten Piñera und eine neue Verfassung. Die unzähligen Menschenrechtsverletzungen wie Folter, Vergewaltigungen und Morde, mit denen die chilenischen Staatskräfte in den letzten Tagen gegen die Protestierenden vorgegangen waren, wurden angeklagt.

Beeindruckend war, als mehrere Personen begannen, die Gitarre anzustimmen. Daraufhin sang die Menge das Lied „El derecho de vivir en paz“ von Victor Jara. Der für seine sozialkritischen Lieder bekannte Folkmusiker Victor Jara wurde wenige Tage nach dem Militärputsch in Chile am 11.September 1973 von den Schergen der Pinochet-Diktatur gefoltert und ermordet. Im Stadion von Santiago de Chile haben sie ihm die Finger gebrochen, damit er nicht mehr Gitarre spielen kann. Auch das Lied „El pueblo unido jamas sera vencido“ wurde von der Menge angestimmt. Es war der Kampfschrei der Widerstandsbewegung gegen die Pinochet-Diktatur und wurde u.a. von der chilenischen Gruppe Quilapayún performt.

Nach längerer Zeit als Standkundgebung setzten sich schließlich die Menschen mit einer Demonstration, meist spanische Parolen rufend, in Bewegung. Sie zogen durch den ersten Bezirk, über den Hohen Markt und die Wipplingerstraße zum Ring. Dort wurde die Demo von der Polizei auf eine Nebenfahrbahn umgelenkt. Wie so oft in Wien wurde also wieder einmal die Meinungs- und Versammlungsfreiheit dem ungestörten Autoverkehr geopfert. Die Menge zog weiter bis zum Sigmund-Freud-Park, wo die Abschlusskundgebung stattfand. Hier versammelten sich noch einmal alle und machten in der inzwischen angebrochenen Dunkelheit Musik.

El derecho de vivir en paz

https://vimeo.com/369258900

El pueblo unido

https://vimeo.com/369260091

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Gewerkschafter*innen weltweit unter Beschuss https://loukanikos161.blackblogs.org/2019/08/02/igb-rechtsindex19/ https://loukanikos161.blackblogs.org/2019/08/02/igb-rechtsindex19/#respond Fri, 02 Aug 2019 03:43:48 +0000 http://loukanikos161.blackblogs.org/?p=218

Zu alarmierenden Ergebnissen hinsichtlich der weltweiten Lage von Arbeiter*innen und Gewerkschaften kommt der Globale Rechtsindex des Internationalen Gewerkschaftsbundes. Die Missachtung von Arbeiter*innenrechten durch Unternehmen und Regierungen, sowohl in autoritär als auch demokratisch verfassten Staaten, ist weiter gestiegen.

Rechtsverletzungen in Zahlen

In 85% der Länder wurde das Streikrecht missachtet, in 80% gab es Verletzungen des Rechts auf Tarifverhandlungen und in 59% wurde das Recht auf Zulassung von Gewerkschaften unterbunden. Seit dem letzten Jahr gab es eine Zunahme von 92 auf 107 Länder, wo das Recht verletzt wurde, eine Gewerkschaft zu gründen oder beizutreten. Einschränkungen der Vereinigungsfreiheit sind zwar in allen Regionen mehr geworden – der massivste Anstieg, nämlich von 50% gegenüber dem Vorjahr, ist in Europa zu beobachten. Allein im laufenden Jahr 2019 wurden bislang in 123 von den untersuchten 145 Ländern Streiks erheblich eingeschränkt oder verboten.

In 52 Ländern waren Arbeiter*innen der Gewalt ausgesetzt und in 10 Staaten wurden Gewerkschafter*innen umgebracht. Allein im Jahr 2018 wurden 53 Gewerkschafter*innen in acht Ländern gezielt ermordet. Während etwa Italien zwar zu jenen Ländern zB neben Island, Uruguay und Slowakei gehört, in denen nur sporadisch die Rechte von Arbeiter*innen missachtet wurden, kam es hier andererseits auch zur Ermordung von Gewerkschafter*innen. In 54 Ländern wurde im vergangenen Jahr die Rede- und Versammlungsfreiheit eingeschränkt. In 72% der Länder haben Arbeiter*innen keinen oder nur begrenzten Zugang zur Justiz. Die Anzahl der Länder, in denen Arbeiter*innen und Gewerkschafter*innen inhaftiert waren, ist gegenüber 2018 von 59 auf 64 gestiegen. Festgenommen wurden Arbeiter*innen in drei Viertel der Länder in der Region Asien/Pazifik und in einem Viertel der europäischen Länder.

Als schlimmste Weltgegend für Arbeiter*innen wird die Region Naher Osten und Nordafrika eingestuft und unter den 10 weltweit schlimmsten Ländern finden sich Brasilien, Philippinen und die Türkei.

Regionale Tendenzen

In der Region des Nahen Ostens und Nordafrikas waren besonders Wanderarbeiter*innen miserablen Bedingungen ausgesetzt. In Saudi Arabien wurde eine Wanderarbeiterin im Geheimen hingerichtet, nachdem sie in Notwehr ihren Vergewaltiger umgebracht haben soll. Eine unabhängige Organisierung von Gewerkschaften in Algerien und Ägypten wurde durch verschärfte Auflagen unterbunden, die meisten aufgelöst. Außerdem gingen die Regierungen repressiv gegen protestierende Arbeiter*innen vor, in Iran etwa gab es Massenverhaftungen.

In der Asien/Pazifik-Region hat die physische Gewalt zugenommen. Auf den Philippinen wurden im letzten Jahr insgesamt 10 Gewerkschafter*innen ermordet, neun Personen – darunter zwei Minderjährige – im Rahmen eines Protestes für Landreform. Bei Protesten gegen Sonderwirtschaftszonen in Vietnam setzte die Polizei Gewalt gegen Tausende von Demonstrant*innen ein, Hunderte wurden inhaftiert und in Haft geschlagen. In Bangladesch, Indonesien und China kam es zu systematischen Entlassungen von Arbeiter*innen, die versuchten, eine Gewerkschaft zu gründen. In der Region haben fast alle Länder das Streikrecht verletzt und das Recht auf Tarifverhandlungen wurde überall missachtet.

In fast der Hälfte aller afrikanischen Staaten wurden Arbeiter*innen inhaftiert. Polizeigewalt gab es etwa bei Demonstrationen in Kamerun und Ghana. Anfang 2019 wurden in Simbabwe bei einer Demonstration 12 Arbeiter*innen von den Staatskräften getötet. Das Streikrecht wurde in 38 von 39 Ländern von Afrika verletzt.

Gegenüber vergangenem Jahr hat sich das Rating von Gesamtamerika verschlechtert. In vielen Ländern wurde Gewalt gegen Gewerkschafter*innen angewendet. Den traurigen Rekord im Jahr 2018 hält zum wiederholten Male Kolumbien, wo 34 Gewerkschafter*innen ermordet wurden, viele von ihnen Landarbeiter*innen und Lehrer*innen. Auch in Brasilien und Guatemala gab es Morde an Gewerkschafter*innen. Straflosigkeit für diese Verbrechen war ein weitverbreitetes Problem. In Ländern wie Ecuador wurden zahlreiche Arbeiter*innen entlassen, weil sie eine Gewerkschaft gründen wollten. In Panama und Argentinien wurde die Zulassung von Gewerkschaften verweigert.

Auch das Rating von Europa hat sich verschlechtert. Es kam vermehrt zu Gewalt gegen Gewerkschafter*innen und Arbeiter*innen wurden wegen ihrer Teilnahme an Streiks juristisch verfolgt. In Italien und der Türkei gab es Morde an Gewerkschafter*innen. Zahlreiche Streiks wurden etwa in Frankreich und Belgien von der Polizei unterdrückt. Vergangenen Oktober wurden bei einem Protest von Arbeiter*innen des Istanbuler Flughafens 400 von ihnen verhaftet, 43 von ihnen droht ein Gerichtsverfahren. Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Chemiearbeiter*innen in der Türkei wurde bei einem Betriebsbesuch im November 2018 erschossen.

Im Bericht des IGB, der Mitte Juni veröffentlicht wurde, werden 145 Länder im Zeitraum von April 2018 bis März 2019 bewertet und konkrete Vorfälle von Rechtsverletzungen dokumentiert, die in Fragebögen erhoben wurden. Grundlage sind die Normen der ILO.

Zwischen Diktatur und Demokratie

Dass die Gewerkschafts- und Menschenrechte immer mehr unter Druck geraten, beobachtet Marcus Strohmeier vom internationalen Referat des Österreichischen Gewerkschaftsbundes (ÖGB) seit vielen Jahren. Dies hängt mit Diktaturen und ihrer repressiven Vorgehensweise gegen Arbeiter*innen zusammen wie in der Türkei und Ungarn. Andere Länder wie Simbabwe haben die Hoffnungen auf Demokratisierung nicht erfüllt und die Gefängnisse bleiben gefüllt.

Neben den Diktaturen gab es aber auch eine Reihe von demokratischen Staaten, in denen die Arbeiter*innenrechte in Frage gestellt und missachtet wurden. Obwohl die inzwischen abgewählte Syriza-Regierung in Griechenland angetreten war, die Interessen der Arbeiter*innen zu vertreten, hat sie nicht wieder das Recht auf Kollektivverhandlungen eingeführt, das die Troika aufgehoben hatte, kritisiert Strohmeier. In Tschechien wurde das Streikrecht eingeschränkt und auch in Polen ist es nun nicht mehr möglich, einen landesweiten Streik zu organisieren. In den USA haben einzelne Bundesstaaten Kollektivverhandlungen sogar verboten. Maßnahmen wie die Einführung des 12-Stundenarbeitstages und die versuchte Abschaffung der Jugendvertrauensräte in Österreich durch ÖVP und FPÖ gehen in eine ähnliche Richtung.

Gewerkschaftsrechte sind Menschenrechte

Der Abbau von Demokratie hat auch zur Folge, dass sich die Gewerkschaften neben ihren klassischen Aufgaben im Bereich der Arbeits- und Sozialrechte zunehmend dafür engagieren müssen, dass demokratische Verhältnisse abgesichert werden, und zwar nicht nur außerhalb Europas sondern auch in Ländern wie Polen, Ungarn, Italien und Ukraine. Denn: „Ohne Demokratie keine Gewerkschaften, zumindest keine freien Gewerkschaften. Und das ist unsere Lebensgrundlage, wie die Luft zum Atmen brauchen wir die Demokratie für unsere Arbeit„, so Marcus Strohmeier. Besonders seit den 2000er Jahren werden gerade in den demokratisch verfassten Gesellschaften die Rechte der Arbeiter*innen demontiert, auch weil die Unternehmen mit bestimmten Regierungsparteien sich rücksichtslos über die Arbeiter*innen und Gewerkschaften hinwegsetzen. Nicht nur in Österreich hören Sozialpartnerschaften auf zu funktionieren, weil die Unternehmensseite nicht mehr bereit ist, mit den Gewerkschaften zu verhandeln.

Marcus Strohmeier weist darauf hin, dass die Arbeit für Gewerkschafter*innen im internationalen Bereich viel komplexer geworden ist. Arbeitsrechtliche Standards der ILO werden mit Füßen getreten. Wenn zB in Kasachstan Arbeiter*innen inhaftiert werden, setzen sich die gut vernetzten Gewerkschaften mit Protestbriefen und Demonstrationen vor den Botschaften dafür ein, dass die Kolleg*innen wieder aus dem Gefängnis frei kommen. Aber zwei Wochen später werden wieder andere Gewerkschafter*innen eingesperrt. Hilferufe erhalten die ÖGB-Gewerkschafter*innen mittlerweile fast täglich aus aller Welt und der Arbeitsaufwand ist kaum noch zu bewältigen, sagt Strohmeier.

Besonderen Respekt bringt Marcus Strohmeier seinen Kolleg*innen in Kolumbien entgegen, deren Mut er bewundert, unter lebensbedrohlichen Umständen gewerkschaftlich tätig zu sein. Deshalb hat sich der ÖGB beim Abschluss des Freihandelsabkommens der EU mit Kolumbien quer gestellt. Letztlich vergeblich, denn während die Vorgängerregierung in Österreich sich noch aus menschenrechtlichen Bedenken weigerte, zuzustimmen, hat die Regierung von ÖVP und FPÖ nicht einmal mit der Wimper gezuckt und das Abkommen sofort unterzeichnet.

Im Rahmen der ILO wurde erst vor kurzem eine neue Kernnorm angenommen, die besagt, dass gegen sexualisierte Belästigung am Arbeitsplatz vorzugehen ist und bei Diskriminierung von Frauen* auch Strafen vorgesehen sind. Marcus Strohmeier wünscht sich außerdem ein stärkeres Engagement und eine Regelung der ILO, mit der die Rechte von LGBTIQ-Personen gestärkt werden, aber dies wurde von mehreren afrikanischen Regierungen blockiert.

„Wir lassen Menschenrechte und Gewerkschaftsrechte nicht auseinander dividieren. Das gehört für uns zusammen. Gewerkschaftsrechte sind Menschenrechte,“ hebt Marcus Strohmeier hervor.

Internationale Solidarität

Damit sich an den Verhältnissen etwas zum Besseren für die Arbeiter*innen verändert, hält Marcus Strohmeier ein Bündel von Maßnahmen für erforderlich. Zunächst ist es wichtig, dass die Konsument*innen informiert werden, was in den Produkten steckt und welche Arbeitsbedingungen und Entlohnung dahinter stehen. Auch die Vernetzung und gegenseitige Hilfe der Gewerkschaften sollte noch weiter gesteigert werden, so Strohmeier: „Wenn in Simbabwe die Gewerkschaftsführer*innen ins Gefängnis kommen, würde ich mir erwarten und wünschen, dass aus Uganda und anderen Ländern die Kolleginnen und Kollegen sofort agieren und vielleicht sogar die Grenzen blockieren.“ Schließlich braucht es auch mehr politischen Druck auf die nationalen Regierungen, damit diese sich im Rahmen der EU mehr auf internationaler Ebene für die Rechte der Arbeiter*innen einsetzen. Dieser notwendige politische Druck wird allerdings in Österreich durch die stark konzentrierte Medienlandschaft erschwert, was dazu führt, dass bürgerliche Medien einfach nicht über Themen berichten, welche die Arbeiter*innenrechte betreffen. Nicht zuletzt findet Strohmeier mehr politisches Engagement der Gewerkschaften nötig, um innerhalb der bestehenden Parteien mehr Druck aufzubauen. Skeptiker*innen wie etwa den ungarischen Gewerkschafter*innen hält Strohmeier entgegen: „Die Politik macht die Probleme für die Gewerkschaften, sie beschließt Gesetze, die dann ihre Arbeit einschränken. Das heißt, dass die Gewerkschaften sich ihrer Aufgabe bewusster werden sollten, politisch zu agieren und der verstärkte politische Arm der Zivilgesellschaft zu werden.“

veröffentlicht am 1.8.2019 auf Unsere Zeitung

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