Portraits – Nachrichten vom Riot Dog https://loukanikos161.blackblogs.org One more Blackblog Tue, 28 Jul 2020 07:12:48 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.1 Humorvolle Revoluzzerin für Feminismus und Müßiggang https://loukanikos161.blackblogs.org/2020/07/28/hanna-herbst/ https://loukanikos161.blackblogs.org/2020/07/28/hanna-herbst/#respond Tue, 28 Jul 2020 03:07:13 +0000 http://loukanikos161.blackblogs.org/?p=239 Hanna Herbst im Portrait

 

Die diesjährige online Veranstaltung zum Bachmannpreis hat für Hanna Herbst eine Premiere bedeutet. Schreiben ist etwas, das sie schon ihr ganzes Leben über begleitet. So hat sie als Kind und, wie sie selbst sagt, depressiver Teenager „schlimme Gedichte“ verfasst, um Dinge zu verarbeiten. Später hat sie in kleinen Literaturzeitschriften kurze Geschichten über Menschen und ihr Leben veröffentlicht. „Der Ohrenzeuge“ von Elias Canetti fällt ihr dazu als Referenz ein. Bekannt ist sie vielen als Buchautorin („Feministin sagt man nicht“) und als ehemalige Journalistin bei Vice. Nun arbeitet sie in Köln bei der Redaktion der neuen Informationsshow von Jan Böhmermann als Chefin vom Dienst mit. Beim Bachmannpreis hat sie am 19.Juni zum ersten Mal einen ihrer literarischen Texte vorgelesen. Mit „Es wird einmal“ belegte sie beim Publikumsvoting den zweiten Platz nur knapp hinter Lydia Haider, die damit u.a. in die Fußstapfen von Stefanie Sargnagel tritt. Im Gespräch mit Alexander Stoff hat Hanna Herbst etwas über ihr Leben verraten und Gedanken darüber geteilt, wie sie die Welt sieht.

Eine furchtlose Frau reist nach Argentinien

Hanna sagt, dass sie ein mutiges Kind war, das sich vor nichts gefürchtet hat. Mit acht Jahren verändert sich alles, denn da zieht sie mit ihren Eltern und ihrem Bruder aus einer kleinen Stadt in Deutschland nach Salzburg. Die Kinder sollten die Möglichkeit haben, ein Gymnasium zu besuchen, meinen die Eltern – ein Luxus, den es in der deutschen Kleinstadt nicht gibt. Im neuen Zuhause fühlt sich Hanna allerdings einige Zeit sehr unwohl. Denn sie wird von Mitschüler*innen belästigt und auf dem Heimweg verfolgt. Eine Lehrerin korrigiert Hanna, wenn sie schreibt, dass sie sich langweile und kommentiert, dass man in Österreich „fadisieren“ sage. Mit 15 oder 16 Jahren habe sie schließlich herausgefunden, „mit wem ich zu tun haben will und mit wem nicht“. Von da an sei es ihr wieder besser gegangen. Nach der Schule geht Hanna nach Argentinien, um Psychologie zu studieren. Das war um 2008 herum. Aber dann kommt die Schweinegrippe-Epidemie und die Universitäten müssen geschlossen werden. Hanna entscheidet sich, ihr Studium abzubrechen und wieder nach Hause zu ihrer Familie zurückzukehren.

 

Journalistin aus Leidenschaft

 

„Auf meinem MacBook Air schreib ich nur noch Relevantes

über die Conditio Humana und Spaghetti Bolognese ..

Ich sag der Menschheit die Wahrheit ins Gesicht

mit der Diktierfunktion meines Mobiltelefons“

(aus „Herbstmanöver“)

 

Mit dem Ziel, Journalistin zu werden, beginnt sie nun ein Studium in Politikwissenschaft. Gleichzeitig bewirbt sich Hanna bei der Redaktion von Vice für ein Praktikum. Dabei hinterläßt sie offensichtlich einen guten Eindruck, denn ihr wird angeboten, in einem Vollzeitarbeitsverhältnis bei Vice mitzuarbeiten. Doch sie steht zunächst vor einem Problem, denn: „Ich habe zu meiner Mutter gesagt: Mama, wenn ich jetzt 40 Stunden arbeite, dann glaube ich, dass ich mein Studium nicht fertig mache.“ Ihre Mutter macht ihr deutlich, dass es genug erwerbslose Studienabsolvent*innen gäbe, und überzeugt sie, dass berufliche Erfahrung viel wert sei. Außerdem könne sie ja zu einem späteren Zeitpunkt ihr Studium abschließen. So wird Hanna also Redakteurin bei Vice.

Bei ihren Recherchen liegt ihr alles am Herzen, „worüber ich stolpere und denke, es ist spannend“. Das Spektrum der Themen ist daher breit gefächert. So gehört ein Vice-Artikel über Tanja Playner – eine Pop-Art-Künstlerin, die ihren künstlerischen Wert weit übertreibt und außerdem der FPÖ nahe steht – ebenso dazu wie gesellschaftlich relevantere Themen mit einem Fokus auf Menschenrechte. Eine Recherche wie jene über Tanja Playner macht Hanna „viel mehr Spass, weil man sich reinfuchst und denkt, wie verrückt ist diese Welt“. Recherchen über Menschenrechte spielen hingegen besonders für ihre Mitarbeit bei der Zeitschrift Liga eine Rolle. Hier geht es um Themen wie Obdachlosigkeit, Rassismus, Diskriminierung und Ausbeutung von Erntehelfer*innen.

Wäre sie nicht Journalistin, dann würde sie sich für den Beruf der Psychotherapeutin entscheiden, sagt Hanna. Von ihrer aktuellen Tätigkeit bei Böhmermann erwartet sie sich, dass ihr neues Berufsfeld großen Spass machen, aber auch stressig sein wird. Hanna glaubt, dass Raum sein wird, um viele Menschen zu erreichen und Wissen weiterzugeben. Sie spüre einen richtigen Revoluzzerinnenfunken in sich sprießen.

 

Homo politicus

 

Eine Eigenschaft zeichnet Hanna aus, die schon von klein auf sichtbar wird: ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden. Sie spricht immer laut aus, wenn sie etwas als ungerecht empfindet – gegenüber ihren Eltern genauso wie gegenüber Lehrer*innen oder im Beruf. Ihr Gerechtigkeitsempfinden zieht sich durch ihr ganzes Leben, meint Hanna: „Ich bin generell so ein Mensch, wenn ich etwas schlimm finde, dann sage ich etwas.“ So sind es auch die Ungerechtigkeiten auf dieser Welt, die sie kaum ertragen kann und die sie dazu bewegen, zum Stift bzw. Tastatur zu greifen. Ob sie ein politischer Mensch ist? Darauf antwortet Hanna, dass wahrscheinlich jeder Mensch politisch sei, das habe schon Plato mit dem homo politicus festgestellt. Politisch ist sie selbst also „natürlich auch volle Kanne“. Denn wenn du in dieser Welt aufwächst und aufmerksam mitverfolgst, was passiert, dann sei es gar nicht möglich, nicht zu politisch sein, sagt sie. Es habe jedoch kein bestimmtes Ereignis oder eine bestimmte Person gegeben, die sie politisiert habe. Hanna sympathisiert mit verschiedenen Bewegungen wie zB dem Klimavolksbegehren und der Demokratiebewegung in Hongkong.

„Ich weiss nicht, wie man eine gerechte Welt gestalten kann oder eine Welt, wo ich sagen würde, ich bin wunschlos glücklich, weil es dann eine Welt ist, wo man sich umsieht und einem auffällt, dass die Menschen glücklich sind,“ sagt Hanna, angesprochen auf ihre Utopie. Es gebe so viele Baustellen auf unserer Welt, dass sie gar nicht wisse, wo man mit der Veränderung anfangen soll. So ist die Schere zwischen Arm und Reich in der Corona-Krise noch größer geworden als sie ohnehin schon war. Wenige Milliardäre haben in dieser Zeit ihren unfassbaren Reichtum noch um ein Vielfaches gesteigert, während viele Menschen ihren Job verloren und in die Armut abgerutscht sind. Und Arbeiten wird zur Religion, stellt Hanna fest. Während man früher dachte, dass wir alle bald weniger arbeiten müssen, wurde in Österreich unter Schwarz/Türkis-Blau II der 12-Stunden-Tag eingeführt. Parteien wie FPÖ, ÖVP und FDP werten auf menschenverachtende Weise Menschen ab, weil sie keiner Erwerbsarbeit nachgehen. Alles das läuft in eine ganz falsche Richtung, so Hanna: „Und du denkst dir: hä? Das ist doch gar nicht, wofür wir Mensch sind! Es ist doch viel schöner, ein Tier zu streicheln oder Blumen zu pflanzen.“ Deshalb wäre eine Arbeitszeitverkürzung auf vier Stunden, wie von der Soziologin und Philosophin Frigga Haug vorgeschlagen, eine Utopie, mit der Hanna sich anfreunden könnte. Denn dann bliebe für uns alle mehr Zeit für Müßiggang. Und sie wünscht sich auch, dass wir Menschen wieder mehr Bezug für die Dinge bekommen, für die wir leben und die uns gut tun. Etwa die Natur und der Umgang mit Tieren oder auch lecker Essen, weil es gut schmeckt und nicht nur, um satt zu werden.

 

Feministin sagt man doch

 

Erfahrungen als politische Aktivistin hat sie bisher einmal gesammelt, nämlich im Rahmen des Frauenvolksbegehrens. Gefragt, was sie dazu inspiriert hat, antwortet sie: „Wir saßen damals zusammen, ein US-Präsident Trump in Aussicht, Schwarz-Blau in Aussicht, und da haben wir gesagt, das werden schlimme Jahre für Frauen. Wir müssen was tun.“ Besonders schlimm findet sie es, wenn Frauen eine Führungsposition erreichen und sich dann unsolidarisch verhalten und eine menschenverachtende Politik betreiben. Als Beispiele fallen Hanna etwa die ÖVP-Ministerinnen ein. Deshalb findet sie es nicht genug, wenn Feministinnen sich Verbündete suchen, auch wenn das sehr wichtig ist, aber eine Veränderung zu einer geschlechtergerechten Gesellschaft erfordere auch, dass Feministinnen in Entscheidungspositionen gelangen, um politisch zu gestalten.

Ob sie mit ihrer Arbeit etwas verändert, darüber hat sie sich noch nicht viele Gedanken gemacht, sagt Hanna. Im Kleinen macht sie jedenfalls öfter die Erfahrung, dass Menschen sich bei ihr melden und ihr mitteilen, einen anderen, positiveren Blickwinkel auf den Feminismus gewonnen zu haben, nachdem sie ihr Buch gelesen haben. Junge Frauen und Männer schreiben ihr selbst heute noch – zwei Jahre nach dem Erscheinen von „Feministin sagt man nicht“ – Emails, in denen sie feststellen, dass sie jetzt besser verstehen, was Feminismus bedeutet und dass Hannas Buch so wichtig für sie war. Diese Veränderungen im Kleinen findet Hanna sehr schön und befriedigend.

Unter Emanzipation versteht sie, dass wir uns von Zwängen freikämpfen, die uns klein machen und beengen. Damit muss gar nicht mal das Verhältnis zwischen Männern und Frauen gemeint sein, sagt Hanna. Es geht um Situationen, wie zB in einer Beziehung, bei der du in eine Rolle gedrängt wirst, wo du nicht sein möchtest. Oder gesellschaftliche Verhältnisse, wo Menschen unterdrückt werden. Es ist unübersehbar, dass Frauen in westlich-europäischen Gesellschaften diskriminiert werden, dennoch hält Hanna die Lage im Verhältnis zu anderen Regionen der Welt für eine privilegierte Position. „Ich kam nie in die Situation, mich emanzipieren zu müssen,“ sagt sie daher. Wovon sie sich sehr wohl emanzipieren musste, ist davon, dass sie sich manchmal selbst im Weg gestanden und klein gehalten hat. Nachdem sie ein mutiges Kind gewesen ist, gab es eine Zeit, in der sie schüchtern war und daraus musste sie sich erst wieder befreien und zu ihrer alten Furchtlosigkeit zurückfinden. Und – auch wenn dies nie ganz gelinge – so musste sich Hanna auch von gesellschaftlichen Normen emanzipieren, die Frauen vorschreiben, wie sie sich zu verhalten hätten.

 

Plaudern mit Diogenes und ein Balkon voller Pflanzen

 

„Ich hänge nur noch ab mit krassen Ikonen

hab jetzt neue Freunde, bitte ruft nicht mehr bei mir an

Aichinger Ilse und die Beauvoir Simone

wir entspannen zusammen im alten Haus von Thomas Mann“

(aus „Herbstmanöver“)

 

Beim Bachmannpreis mitzumachen, habe ihr viel Freude bereitet, allerdings mache sie das noch nicht zu einer Schriftstellerin. Den Text hat sie übrigens während einer Reise nach Indonesien im vergangenen Jahr geschrieben. Und auch singen ist eine Beschäftigung, die ihr Spass macht, was sie der Öffentlichkeit schon gezeigt hat, denn anlässlich des Literaturwettbewerbes hat Hanna zusammen mit Leon Engler ein kleines Video mit dem Lied „Herbstmanöver“ gedreht. In ihren literarischen Texten vermischt sich Fiktives mit tatsächlichen Erfahrungen. So sagt Hanna: „Bei allen Leuten, die schreiben, hast du einmal ein Gefühl, eine tiefe Trauer, und du schreibst darüber. Das Gefühl, das dem zugrunde liegt, ist echt. Aber die Geschichte darum herum ist frei erfunden. Oder jemand erzählt einem eine Geschichte und man spinnt sie weiter. Oder man hat etwas genau so erlebt und schreibt darüber.“ Literarische Einflüsse von anderen Autor*innen bemerkt Hanna in ihren Werken zwar nicht, aber ein Buch, das sie gelesen hat und das sie immer noch sehr beschäftigt, ist „Roman eines Schicksallosen“ des Holocaust-Überlebenden Imre Kertész. Für sich entdeckt hat sie die Romane von Janosch, die der Kinderbuchautor für Erwachsene geschrieben hat, denn sie findet Bücher wie „Vom Glück, Hrdlak gekannt zu haben“ sprachlich famos, lustig und etwas für das Herz.

Wenn sie die Gelegenheit hätte, jeden Menschen auf der Welt zu treffen – auch historische Persönlichkeiten – dann würde Hanna sich am liebsten mit den Philosophen Diogenes und Epikur unterhalten. Sie würde Diogenes unendlich viele Fragen stellen, wie zB warum er in einer Tonne lebte, und sich von ihm ausfragen lassen. Den hedonistischen Epikur würde sie gerne fragen, wie man leben soll. Ihr fallen noch unzählige Menschen ein, die sie gerne kennen lernen und das Gespräch suchen würde: Goethe, Simone de Beauvoir, Sokrates, Ingeborg Bachmann, Paul Celan.

Hanna ist ein Mensch, der viel und gerne lacht – das merkt man auch während des Gesprächs. Sie glaubt, dass sie wohl ein sehr dankbares Publikum für jede*n Comedian wäre. Danach gefragt, was sie denn zum Lachen bringt, meint Hanna, sie amüsiere sich oft über die lustigen Sachen, die ihr Hund Lila macht. Wegen ihrem Freund wird sie im Alter vermutlich Lachfalten bekommen, fürchtet sie, denn er schafft es immer, sie zum Lachen zu bringen. Hanna mag schwarzen Humor besonders gerne und es darf auch ein Humor sein, der ein wenig böse und bissig ist.

„Ich hätte gerne einen Garten,“ sagt Hanna. „Vor die Tür gehen und Natur. Das fehlt mir schon. Mein Balkon ist voll, weil ich alles anpflanze – Kartoffeln, Salat und Kräuter. Man kann am Balkon vor lauter Pflanzen fast gar nicht mehr sitzen.“ Sie denkt, am Land zu leben wäre genau das Richtige für sie, dann würde der Stress in Hannas Leben wegfallen. Wenn sie Zeit für Müßiggang hat, dann geht sie am liebsten zelten und wandern. Ihr Hund Lila muss unbedingt dabei sein, damit es noch mehr Spass macht. Hanna freut sich, wenn sie Zeit mit Dingen verbringen kann, die ihr Leben bereichern wie Meditation und Philosophie. Danach sehnt sie sich und darüber möchte sie sich am liebsten Gedanken machen – „und nicht über die FDP“. Aber sie will sich dem auch wieder nicht entziehen. „Dazu bin ich noch nicht ganz bereit. Da habe ich das Gefühl, ich muss noch ein bisschen mitmischen.“ Eines Tages vielleicht wird es soweit sein, dass sie aufs Land zieht. Aber noch nicht jetzt. In einem schönen Text, den Hanna bei ihrer Buchpräsentation öfter vorgelesen hat, schreibt sie, dass sie gerne Schafe hüten möchte. So lautet der letzte Satz in dem Text: „Und irgendwann, da klappt das dann auch mit der Schafherde.“

 

Hanna Herbst auf Twitter, Facebook und Instagram: @HHumorlos

 

veröffentlicht auf Unsere Zeitung und Der Freitag

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Doikayt: „Wo wir leben, dort ist unser Land“ https://loukanikos161.blackblogs.org/2019/12/03/isabel-frey-doikayt/ https://loukanikos161.blackblogs.org/2019/12/03/isabel-frey-doikayt/#respond Tue, 03 Dec 2019 09:24:31 +0000 http://loukanikos161.blackblogs.org/?p=229 Isabel Frey schnappt sich gern ihre Gitarre und macht revolutionäre jiddische Musik. Sie bezeichnet sich selbst als Millenial-Bundistin und setzt sich mit der jüdischen Diaspora auseinander. Bekannt geworden ist sie einer größeren Öffentlichkeit in Wien durch ihre Auftritte bei den Donnerstagsdemos. Langfassung eines Gesprächs mit Alexander Stoff, das zuerst im Augustin (Nr. 492, Oktober/November 2019) erschienen ist.

Frage: Erzähle bitte über deinen Werdegang. Wie bist du aufgewachsen und was ist dir heute in deinem Leben wichtig?

Isabel: Ich bin jüdisch-säkular in Wien aufgewachsen. Wir waren nicht gläubig, aber gewisse Traditionen haben wir eingehalten, wie an Feiertagen in die Synagoge gehen oder an Schabbat die Kerzen anzünden. Das kommt recht häufig in der jüdischen Gemeinde vor, um das Judentum kulturell am Leben zu erhalten. Währenddessen habe ich jede Woche an den Treffen der sozialistisch-zionistischen Jugendbewegung Hashomer Hatzair teilgenommen. Das hat mich sowohl hinsichtlich meiner jüdischen Identität als auch meines politischen Bewusstseins sehr geprägt. So bin ich als Jugendliche mit den Leuten vom Hashomer Hatzair gemeinsam auf Demos gegangen. Nach der Schule bin ich dann über den Hashomer Hatzair für ein Jahr nach Israel gereist, wo ich mit anderen aus Europa und den USA an so einer Art von freiwilligem sozialem Jahr teilgenommen habe. Ich habe in dieser Zeit auch die Siedlungen in der Westbank und den Zaun gesehen. Das hat mich schockiert und zum Nachdenken gebracht, was schließlich dazu führte, dass ich mich vom Zionismus abgewendet habe. Mir wurde mein Leben lang erzählt, dass ich zwar Österreicherin bin, aber dass ich auch eine Heimat in Israel habe. Dennoch habe ich das Land vor Ort als fremd empfunden. Mir gefällt die israelische Kultur und ich habe ein bisschen Hebräisch gelernt, ich habe auch Familie in Israel. Aber ich denke inzwischen, es ist eine Illusion zu glauben, dass es von Geburt aus mein zu Hause ist.

Nach diesem Jahr in Israel wollte ich weg aus Wien und habe 2013 in Amsterdam Soziologie und Politikwissenschaften zu studieren begonnen. Durch den Kontakt zu verschiedenen politischen Gruppen wurde ich nun stark politisiert. So war ich zB in der Hausbesetzer*innenszene aktiv. Als Studierende haben wir Räume besetzt, um sie selbst zu verwalten. Außerdem habe ich mich im Netzwerk „Feministinnen im Widerstand“ engagiert und bin zB gegen den (rechtsextremen Politiker) Geert Wilders auf die Straße gegangen und habe mit anderen Antirassist*innen gegen die Feiern mit der rassistischen Karikatur des „Zwarte Piet“ (schwarzer Peter) protestiert. Der tritt bei den großen Nikolo-Feierlichkeiten auf und es kommt dabei immer wieder zu black facing und stereotypen Verkleidungen. Das ist ganz schrecklich, weil in Holland auch People of color leben, viele Nachkommen von ehemaligen Sklav*innen aus Surinam. Ich war also quer durch verschiedene politische Bewegungen aktiv.

Frage: Als du in Israel warst, hast du im Kibbuz gelebt. Mit was für Erwartungen bist du dort hingegangen? Und welche Erfahrungen hast du dann im Kibbuz gesammelt?

Isabel: Meine Erwartung war, eine sozialistische Utopie vorzufinden. Die Realität war dann aber eine andere. Im Kibbuz, wo ich zuerst gewohnt habe, war kaum noch etwas kommunal. Es war wie in einem Dorf, wo jede Familie ein Haus kauft und für sich dort lebt. Die kommunale Essenshalle haben sie überhaupt nur geöffnet, weil wir jugendlichen Gäst*innen so eine große Gruppe waren. In einem anderen Kibbuz habe ich in einem Kindergarten gearbeitet – das hat mir schon besser gefallen. Toll finde ich, dass in den stärker kommunalisierten Kibbuzim die Kinder gemeinsam aufwachsen und es einfach mehr gemeinschaftliches Leben gibt. Was mich aber gleichzeitig erschreckt hat, war die politisch rechte Gesinnung und der Alltagsrassismus von vielen jungen Menschen dort. In einem Kibbuz nahe der Westbank haben sie die ganze Zeit auf Araber*innen geschimpft. Viele Junge haben inzwischen ganz andere Ziele als die Generation ihrer Eltern, die die Kibbuzbewegung aufgebaut haben. Einerseits leiden die Menschen in den Kibbuzim unter der aufgeheizten Kriegssituation, wenn zB Felder in Brand gesetzt werden, und sie entwickeln dann einen Hass auf die Palästinenser*innen. Andererseits wird überhaupt nicht über Ursachen wie die 53-jährige Besatzung gesprochen. Das hat mich ernüchtert und zeigt für mich, dass eine Utopie in dem Moment zerbröselt, wo sie institutionalisiert wird, weil es nicht statisch bleiben kann. Im Kibbuz haben wir auch eine frühere Partisanin kennen gelernt. Sie hat als junges Mädchen während des Warschauer Ghettoaufstandes Nachrichten übermittelt. Sie hat mich sehr beeindruckt, auch weil sie eine scharfe Analyse über die gegenwärtige Situation hatte. Sie ist Unterstützerin der Friedensbewegung. Leider gehört sie zu einer aussterbenden Generation.

Frage: Kommen wir doch wieder zurück zu sprechen auf deine Erlebnisse in Amsterdam.

Isabel: Vielleicht ein paar Worte darüber, wie ich zur Musik gekommen bin. Das Problem war, dass ich zwar in Amsterdam politisch sehr engagiert war, aber mir hat gänzlich ein jüdisches Umfeld gefehlt. Ich hatte dort keine Familie und in eine fremde Gemeinde wollte ich auch nicht einfach so gehen. Dazu kam, dass ich zum Zionismus auf Distanz gegangen bin. Auch in den Kreisen der linken Palästina-Solidaritätsbewegung habe ich keinen Platz für mich gesehen. Es war eben nicht meine Geschichte und ich wollte palästinensischen Erzählungen nicht den Platz wegnehmen. Mir hat eine Antwort darauf gefehlt, wie ich gleichzeitig links und jüdisch sein kann, wie das vereinbar ist. Und so bin ich schließlich auf dieses Liedgut gestoßen. Durch einen Freund habe ich gewisse Lieder wie den Arbetlose Marsch schon gekannt. Noch in Israel habe ich mir selbst beigebracht, Gitarre zu spielen, und so habe ich mich beim Singen begleitet. Und dann kam der Tag, als ich in einem besetzten Haus in Amsterdam mein erstes Konzert gegeben habe. Ich habe dafür ein Repertoire aus jiddischen Revolutions- und Widerstandsliedern zusammengestellt. Und zwischen den Liedern habe ich ein bisschen etwas darüber erzählt. So ist also dieses Setting zustande gekommen. Das war eine sehr schöne Erfahrung für mich und ich fand es auch stimmig.

Frage: Ist dir also mit deiner Musik die Verbindung von jüdischer Identität mit linker Politik gelungen?

Isabel: Ja, mit diesem Liedgut und dieser Geschichte. Ich habe dabei auch viel gelernt, denn ich wusste bis dahin nicht, dass es eine säkulare, jüdisch-sozialistische und nicht-zionistische Bewegung gegeben hat und mir war auch nicht bekannt, dass die russische Revolution besonders vom jüdischen Proletariat getragen wurde. Im Mittelpunkt stand für mich auch die jiddische Sprache. Beim Singen habe ich das Jiddisch sehr schön gefunden. Und ich habe auch mehr Bezug dazu als zB zum Hebräischen, da die jiddische Sprache aus dem Mittelhochdeutschen kommt und es mir daher leichter gefallen ist zu verstehen. Und so habe ich dann begonnen, auf Demonstrationen zu spielen und zu singen. Manchmal spontan bei Student*innenprotesten, dann wieder bei einer groß angelegten Blockadeaktion der Klimaschutzbewegung in Groningen, mit zivilem Ungehorsam so ähnlich wie Ende Gelände in Deutschland. Kurz nachdem die holländische Polizei die Demonstrant*innen mit Hunden und Pfefferspray attackiert und uns eingekesselt hatte, bin ich mit ein paar Liedern wie zB „Daloy politsey“ („Nieder mit der Polizei“, ein Lied gegen den russischen Zaren, Anm.) aufgetreten. Es war auch eine tolle Verbindung, meine jüdisch-revolutionäre Musik vor einem Publikum aus Klimaschutzaktivist*innen vorzustellen, das sonst wenig damit am Hut hatte.

Frage: Für die Klimaschutzaktivist*innen war es also etwas ganz Neues. Wie wird deine Musik sonst von den Zuhörenden aufgenommen?

Isabel: Einmal hat jemand zu mir gesagt, es sei toll, weil durch meine Musik das Gefühl entstehe, Teil von einem größeren Ganzen zu sein. Es knüpft eine Verbindung, wenn Menschen zum ersten Mal an einer politischen Aktion teilnehmen und dort erfahren, dass sie Teil von einer viel älteren Geschichte sind. Und es bedeutet auch Aufklärung. Aufgrund des Holocaust leben in Europa wenige Juden und Jüdinnen. Und viele kennen jüdische Gemeinden nur aus Geschichten über Antisemitismus und die Shoa. Mir ist es ein wichtiges Anliegen, den Menschen auch einen ganz anderen Teil der jüdischen Kultur näher zu bringen.

Frage: Bei manchen Liedern schreibst du eigene Texte dazu. Wie bist du auf die Idee gekommen?

Isabel: Inspiriert dazu hat mich Daniel Kahn, der auch jiddische revolutionäre Musik macht und die Texte immer auf Englisch übersetzt. Es spricht einfach mehr Leute an. So habe ich den Arbetlose Marsch (Arbeitslosenmarsch) für die Donnerstagsdemo übersetzt, denn auf einer Demonstration brauchst du etwas, um die Menschen aufzurütteln. Und das „Nieder mit HC“-Lied (im Original: „Daloy politsey“) habe ich zu diesem Anlass überhaupt neu vertextet. Diese Dynamik steht durchaus in der Tradition dieser Musik – es muss sich gar nicht streng an das Original halten wie bei einer klassischen Komposition.

Frage: Auf deiner Website wird die jüdische Diaspora thematisiert. Bitte erzähle mehr darüber.

Isabel: Was ich mache, wird als Teil eines Judentums gesehen, das von manchen diasporistisch genannt wird. Gemeint ist damit alles, was außerhalb Israels stattfindet. Obwohl das eigentlich nicht ganz richtig ist, denn auch Israel gehört zur Diaspora. In der Geschichte lebten und heute leben Juden und Jüdinnen auf der ganzen Welt verstreut und es gibt viele verschiedene jüdische Kulturen. Jiddisch ist eine Sprache der Diaspora, die ursprünglich aus Osteuropa kommt und sich auf der Welt verbreitet hat, zB durch die Migration in die USA. Es gab auch große jüdische Bevölkerungen in Nordafrika, wo überhaupt kein Widerspruch zwischen einer jüdischen und arabischen Identität existierte. Mit dem Aufkommen des Zionismus und der Staatsgründung von Israel bekam es eine Bedeutung, alles neu zu entwickeln. Neben neuer Fahne und Hymne das moderne Hebräisch mit neuen Tänzen und Liedern. Diaspora im heutigen Sinne bedeutet ein nicht-zionistisches Judentum. Es steht im Gegensatz zu einem ständigen Sehnen nach Israel als Heimat.

Was mich sehr inspiriert hat, ist die Geschichte des jüdischen Arbeiter*innenbundes. Der Bund repräsentierte eine dritte Strömung neben den jüdischen Kommunist*innen und den sozialistischen Zionist*innen. Der Bund stand dazwischen, weil er sich weder bestehenden linken Parteien anschließen noch nach Palästina emigrieren wollte, um dort den Sozialismus aufzubauen. Der Bund stand für ein selbstbewusstes Judentum, man sprach Jiddisch und die Aktivist*innen des Bundes wollten den Sozialismus an dem Ort aufbauen, wo sie gerade lebten. Das jiddische Wort Doikayt, was übersetzt so viel bedeutet wie Daheit, war genau dieses Prinzip: dort, wo wir leben, dort ist unser Land. Es braucht dafür keinen Nationalstaat, aber wir wollen unsere Rechte, um als Minderheit hier zu leben. Ich finde dieses Prinzip sehr schön, denn es ist eine kämpferische, antifaschistische Ansage: wir wollen hier die Welt verbessern. Es trägt in sich das Überleben der eigenen Gruppe, ebenso wie einen Universalismus, der alle Menschen frei sehen will. In der Diaspora-Tradition des Bundes steht für mich in heutiger Zeit die Solidarität mit Geflüchteten genauso wie das Engagment gegen rechtsextreme Hetze und antimuslimischen Rassismus.

Frage: Welche Organisationen arbeiten heutzutage in diese Richtung?

Isabel: Kleine Gruppen wie zB Jews for racial and economic justice in den USA. Die nennen sich zwar nicht diasporistisch, aber sie praktizieren genau das. Diese Organisation ist solidarisch mit Black Lives Matter und aktiv gegen Abschiebungen durch die Trump-Regierung. Oder das Kollektiv Jewdas in London. Die organisieren das lustige Birthwrong, als eine Alternative zu den Birthright-Reisen nach Israel, die von einem reichen, rechten US-Amerikaner veranstaltet werden und vor allem dazu dienen sollen, den Nationalismus zu stärken. Birthwrong will nun die jüdische Identität in der Diaspora gemeinsam, lustvoll erforschen, etwa durch Reisen nach Andalusien und Marseille, wo ich dabei gewesen bin und das letzte Birthwrong in Amsterdam mitorganisiert habe. Ich war davon begeistert, denn es sind lauter junge, linke Juden und Jüdinnen aus ganz Europa zusammengekommen, es gab eine Tour zur linken jüdischen Geschichte und wir haben eine Ausstellung über den kommunistischen Widerstand gegen die Nazis sowie ein Archiv über die Sklaverei in Holland besucht. Seit ich wieder zurück bin, versuche ich mit anderen auch hier in Wien etwas aufzubauen. Bisher treffen wir uns informell und feiern zB zusammen Rosch ha-Schana, das jüdische Neujahrsfest, und gehen gemeinsam auf Demos.

Frage: Was sind deine Utopien? Von was für einer Welt träumst du?

Isabel: Eine Welt, in der es keine Lohnarbeit gibt und wir nicht zum Arbeiten gezwungen werden. Also eine Welt, wo wir unserer Kreativität freien Lauf lassen können und unsere Handlungen aus eigener Motivation heraus mit dem Wunsch setzen, einander zu helfen oder etwas Neues zu schaffen. Und ich träume von einem Ort, an dem es kein Privateigentum mehr gibt. Wohnraum soll zB kollektives Eigentum sein und die Produktion von Gütern gemeinschaftlich reguliert werden. Und zwar in einer dezentralen und offenen, flexiblen Weise, damit es sich nicht in einem starren System festfährt. Ich träume auch von einer Welt, in der Geschlechterverhältnisse, Geschlechtsidentitäten und Sexualitäten sich öffnen und vielfältige Dinge möglich sind. Es wäre schön, wenn wir in unserer gegenwärtigen Gesellschaft vorhandene, unterdrückende Normen in diesen Bereichen überwinden und zu mehr Freiheit gelangen. Ich wünsche mir eine Welt ohne Grenzen, mit Bewegungsfreiheit, grundlegenden Rechten für alle Menschen und gegenseitiger Hilfe. Und ich wünsche mir eine Art des Zusammenlebens im Einklang mit der Natur, die anerkennt, dass unser Planet bedroht ist. Ich will eine Welt ohne Polizeigewalt.

Frage: Und was bedeutet es für dich, zu Hause zu sein? Fühlst du dich in Österreich wohl oder hast du auch schon daran gedacht, woanders zu leben?

Isabel: Zu Hause fühle ich mich besonders in Wien. Hier bin ich schließlich auch aufgewachsen und ich sehe mich auch mehr als Wienerin denn als Österreicherin. Das hat auch damit zu tun, dass es nur hier in Wien eine größere jüdische Gemeinde und ein jüdisches Leben gibt. Obwohl ich mich also in Wien zu Hause fühle, bleibt ein kleiner Rest von einem Gefühl, dass ich nicht zu 100% Teil der Gesellschaft bin. Das liegt teilweise an der Geschichte, aber auch an der Gegenwart, da wir als jüdische Gemeinde eine Minderheit sind. Und ich finde es auch lustig, denn ich war gerade für einen Monat in den USA und Kanada. In New York habe ich Familie und obwohl ich nie dort gelebt habe, fühle ich mich dort sehr zu Hause. Das hat gar keinen bestimmten Grund, aber ich glaube, es hängt damit zusammen, dass New York eine Stadt ist, in die fast alle zugezogen sind. Und auch damit, dass viele Juden und Jüdinnen in der Stadt leben, sodass es im Alltag einfach zum Leben dazu gehört. Die jüdische Gemeinde ist dort sehr vielfältig, man trifft zB auch Linke. Zur jüdischen Gemeinde in Wien, die ziemlich konservativ geprägt ist, habe ich eine gemischte Beziehung, manchmal ecke ich mit meiner politischen Einstellung und meinen Gefühlen gegenüber Israel an. Und obwohl mein letzter Aufenthalt sechs Jahre her ist, möchte ich auch gerne wieder nach Israel. Ich weiss noch nicht, wie ich es anstellen werde – ich hätte gerne einen Grund dafür, denn nur für einen Strandurlaub möchte ich ungern hinfahren. Im Moment bin ich dabei, meine Kenntnisse in Hebräisch aufzufrischen. Nicht der Zionismus, aber meine biographische Verbindung zieht mich nach Israel. Ich sehe Israel eben auch als eine Form der Diaspora, als einen Ort, an den Juden und Jüdinnen hingezogen sind und dort eine eigene Kultur aufgebaut haben.

Frage: Österreich ist ein sehr konservatives Land. In anderen Ländern gibt es lebendigere soziale Bewegungen. Welche Perspektiven siehst du hier, deine Träume von einer besseren Welt zu verwirklichen?

Isabel: Es stimmt, dass Österreich ein konservatives Land ist, aber ich glaube, im Moment sieht es nirgends auf der Welt besser aus. In Amsterdam fand ich die Hausbesetzer*innenszene schon toll, aber andererseits ist Holland vor allem am Land sehr konservativ, neoliberal und apolitisch. Es gibt dort an ländlichen Orten überhaupt keine linke Jugendkultur. Bei uns hat mich in diesem Jahr schwarz-blauer Regierung die Opposition auf der Straße bei den Donnerstagsdemos schon sehr beeindruckt. Sicher würde ich mir mehr wünschen, aber es ist etwas Besonderes, dabei zu sein. Das hat mir ein bisschen Hoffnung gemacht. Schon aus dem erwähnten jiddischen Prinzip der Doikayt denke ich mir, ich bin jetzt hier und muss mich auch hier engagieren und versuchen, die Lebensumstände zu verbessern.

https://www.isabelfrey.com

 

Langfassung erschienen auf Unsere Zeitung

 

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Aufstand der Subjektivität https://loukanikos161.blackblogs.org/2018/06/13/leo-gabriel-1968/ Wed, 13 Jun 2018 12:23:47 +0000 http://loukanikos161.blackblogs.org/?p=133  

Leo Gabriel im Gespräch über den Mai 1968 und seine Folgen von Paris bis Managua

 

Paris, Mai 1968

Den Mai 1968 in Paris erleben viele Menschen – einer von ihnen ist Leo Gabriel – ein paar Augenblicke lang als einen Moment, in dem die Revolution zum Greifen nahe scheint. Die Jugend rebelliert in den Straßen von Paris. Die Gewerkschaften rufen den Generalstreik aus und Aktivist*innen liefern sich Straßenschlachten mit der französischen Polizei. Staatspräsident de Gaulle verschwindet vorübergehend von der Bildfläche. Manche sehen in den Ereignissen ein Wiederaufleben der Pariser Kommune von 1871, als die Bewohner*innen die Staatsmacht aus der Stadt vertrieben und soziale Maßnahmen für eine Verbesserung der Lebensbedingungen ergriffen hatten.

 

Leo Gabriel nennt diese Tage einen Aufstand der Subjektivität. Ein Aufbegehren gegen jede Form von Herrschaft – gegen Kapitalismus und Konsumgesellschaft ebenso wie gegen das autoritäre Gesellschaftsmodell in der Sowjetunion und gegen die hierarchischen Kirchen. Und auch auf persönlicher Ebene handelt es sich um eine Befreiung des Individuums, die für viele mit sexueller Freiheit einher geht. Besonders die Frauen*bewegung nimmt in dieser Zeit einen Aufschwung. Der Blick erweitert sich von Europa auf andere Regionen wie Afrika, wo antikoloniale Befreiungsbewegungen sich für die Unabhängigkeit von kolonialer Unterdrückung stark machen und Lateinamerika, wo revolutionäre Bewegungen seit der erfolgreichen Kubanischen Revolution für soziale Befreiung kämpfen. 1968 ereignet sich als ein globales Phänomen, das an vielen Orten zum Ausdruck kommt. In politischer Hinsicht dennoch eine Niederlage, so Leo Gabriel, denn die Macht können die Aktivist*innen der 68er nirgends übernehmen. Veränderungen zeigen sich vor allem auf gesellschaftlicher und kultureller Ebene.

 

Für Leo Gabriel persönlich bedeuten die Ereignisse in Paris einen tiefen Einschnitt in sein Leben. Als Sohn eines Universitätsprofessors für Philosophie und Chefideologen der konservativen ÖVP führt Leo Gabriels Weg nach Paris, mit dem Plan, eine diplomatische Laufbahn einzuschlagen. Zudem absolviert er ein Studium der Sozialanthropologie, u.a. bei Claude Levy-Strauss. Einst als Mitglied des katholischen Cartellverbandes und jetzt Vertreter der Auslandsstudent*innen erlebt Leo Gabriel die Ereignisse 1968 hautnah mit. Er liest die Werke von Autor*innen wie Herbert Marcuse, die besondere theoretische Impulse für die 68er Bewegung geben. Dies alles wird schließlich sein eigenes Leben tiefgreifend verändern und seinem bisherigen Weg eine Wendung geben.

 

Leo Gabriel kommt mit den Befreiungsbewegungen in Afrika, Asien und Lateinamerika in Berührung, die für die Überwindung der kolonialen Strukturen kämpfen. Auf einer persönlichen Ebene verändert auch die sexuelle Befreiung sein Leben. Freie Liebe und Sozialismus sind prägend für ihn, der lange Zeit in Kommunen lebt. Den Umbruch im Lebensstil erlebt er nicht nur abstrakt, sondern im Alltag, etwa bei den regelmäßigen Sitzungen in den Kommunen, wo selbstkritisch im Kollektiv über die eigenen Fehler reflektiert wird.

 

Nach dem Abflauen der Proteste hat Leo Gabriel das Gefühl, dass er nach all dem nicht mehr einfach in das erzkonservative Österreich zurückkehren kann. Er verbringt eine Zeit lang in einem kleinen Fischerdorf in Südspanien. Dort reift sein Entschluss, nach Lateinamerika zu reisen. Inspiriert von Persönlichkeiten wie Che Guevara und den Aufständen der Arbeiter*innen und Student*innen in ganz Lateinamerika möchte Leo Gabriel dorthin, um die wirkliche Revolution zu suchen, wie er es nennt. In Mexiko, wo er sich zunächst länger aufhält, hat er sie nicht gefunden, dafür ein paar Jahre später in Nicaragua.

 

Leo Gabriel beschließt, sich vom gewohnten intellektuellen Umfeld abzukoppeln und liest für einige Zeit kein Buch mehr, weil er so leben möchte wie die Kleinbauern und -bäuerinnen. Zu Beginn der 1970er Jahre schließt er sich dann einer Straßentheatergruppe an und gründet später eine eigene Gruppe. Der Gedanke hinter dem Straßentheater ist die Ermutigung der Arbeiter*innen und Kleinbauern und -bäuerinnen, deren Selbstbewusstsein gestärkt werden soll. Dafür werden soziale Kämpfe der Arbeiter*innen und Bauern dokumentiert und dramaturgisch auf der Bühne dargestellt. Besonders an den Orten, wo gerade Streiks und soziale Konflikte stattfinden, soll den Aktivist*innen an der Basis bewusst gemacht werden, dass hartnäckiger Widerstand und solidarischer Zusammenhalt zum Erreichen der gemeinsamen Ziele führt. Auf den Spuren von Che Guevara, nur in umgekehrter Richtung, reist Leo Gabriel als Filmemacher zusammen mit Musiker*innen und Schauspieler*innen quer durch den Kontinent, von Mexiko bis nach Argentinien, bis die Gruppe Anfang 1976 wieder nach Mexiko zurückkehrt. Alles, was er gefühlsmäßig über Lateinamerika weiss, hat er sich in diesen fünf Jahren angeeignet, so Leo Gabriel. So lebt er mit den Kleinbauern und -bäuerinnen in Guatemala zusammen und lernt Aktivist*innen aus den sozialen Bewegungen kennen. Später lernt er auch Personen wie den Revolutionsführer und heutigen Präsidenten von Nicaragua Daniel Ortega kennen und andere, die bei den lateinamerikanischen Linksregierungen seit Beginn der Jahrtausendwende eine Rolle spielen wie z.B. Evo Morales, den ehemaligen Gewerkschaftsaktivisten der Kokabauern und heutigen Präsidenten von Bolivien.

 

Während andere Aktivist*innen von 1968 den langen Marsch durch die Institutionen antreten und sich manche mit den Verhältnissen arrangieren, bleibt Leo Gabriel bis heute ein 68er. Einen Grund dafür sieht er darin, dass er lange Jahre in Lateinamerika verbracht hat. Er ist nicht vor der Frage gestanden, innerhalb der staatlichen Institutionen für Veränderungen einzutreten, wofür sich viele 68er in Österreich besonders in den Kreisky-Jahren entschieden haben. Um 1978 herum wird Leo Gabriel als Journalist tätig. Die Mitarbeiter*innen der von ihm frisch gegründeten alternativen Presseagentur APIA (Agencia Periodistica de Información Alternativa) treten als Kollektiv auf und berichten aus verschiedenen Ländern Lateinamerikas. Während die Ereignisse in Nicaragua zunächst kaum von den großen Medienunternehmen zur Kenntnis genommen werden, setzen später viele auf die Arbeit der kleinen APIA, die von Anfang an über den Umbruch in diesem zentralamerikanischen Land berichtet.

 

Die Regierungen reagieren an vielen Orten mit brutaler Gewalt und schlagen die Proteste 1968 nieder wie in Kalifornien, wo der Gouverneur und spätere US-Präsident Ronald Reagan die Nationalgarde auf Demonstrant*innen hetzt. In Mexiko werden während der Olympischen Spiele im Oktober 1968 von der Armee Tausende Menschen auf dem Platz der drei Kulturen massakriert. In vielen Ländern von Lateinamerika führt die harte Repression durch die Staatsmacht – nahezu überall sind Diktaturen an der Macht – zur Militarisierung der sozialen Konflikte nach 1968 und zur Bildung von Guerillabewegungen. In den meisten Ländern werden diese niedergeschlagen, nur in Guatemala und El Salvador können diese Bewegungen zeitweise größere Gebiete befreien und in Nicaragua gelingt 1979 der Sturz der Diktatur von Somoza durch eine bewaffnete Revolution. Die Saat dafür war 1968 gelegt worden, so Leo Gabriel, denn je nach politischer Ausgangslage führte sie in manchen Ländern zu einer zivilgesellschaftlichen und kulturellen Dynamik, in anderen Ländern zu revolutionären bewaffneten Bewegungen.

 

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gilt es vorübergehend als unzeitgemäß, sich für soziale Veränderung und Gerechtigkeit einzusetzen. Doch inzwischen ist es wieder möglich, in der Gesellschaft fundamentale Kritik am Kapitalismus zu äußern und Fragen nach Alternativen aufzuwerfen, wie etwa im Rahmen des Weltsozialforums, dem Leo Gabriel als Mitglied des Internationalen Rates bis heute angehört. Vielfältige soziale Bewegungen treten, auch in Europa, wieder in Erscheinung, die für die Rechte der Arbeiter*innen und Subalternen kämpfen. Dies zeigt, dass das Bewusstsein und die Ideen von 1968 noch heute aktuell bleiben.

 

veröffentlicht am 26.04.2018 auf Unsere Zeitung

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Jasminduft in der Wohnung und Melonen im Pool https://loukanikos161.blackblogs.org/2018/06/13/luna-damaskus/ Wed, 13 Jun 2018 11:50:34 +0000 http://loukanikos161.blackblogs.org/?p=130  

Eine Träne. Ein Lächeln

Luna Al-Mousli erzählt von ihren Kindheitserlebnissen in Damaskus

 

„Im heißen Sommer gab es immer Wassermelonen als Nachspeise. Sie wurden in den Pool geworfen, weil im Kühlschrank kein Platz war. Wir durften sie beobachten, wie sie weder untergingen noch wirklich oben schwammen. Wir spielten mit diesen Melonen, warfen sie hin und her, versuchten auf den Melonen zu stehen, bis sie auftauchten und uns ins Wasser warfen.“ (*)

Freiheit ist eine Erfahrung, die Luna in Syrien nur in den eigenen vier Wänden und im Garten ihres Großvaters macht. Im familiären Umfeld erlebt sie als Kind an diesen Orten eine schöne Zeit. Sie fühlt sich frei und hat Spass. Besonders im Garten ihres Großvaters hat Luna als Kind viel Freiheit genossen. Zusammen mit ihren Geschwistern tobt sie durch den Garten und probiert vieles aus. Für sie als kleines Kind sei es wie das Paradies gewesen, sagt Luna. Freudig erinnert sie sich an die vielen bunten Blumen, die Bäume, das Obst und Gemüse. Luna denkt gerne daran zurück, wie sie die Gurken, Tomaten und Weintrauben beim Wachsen beobachtet. Gemeinsam mit ihrem Opa pflückt und trocknet sie das Gemüse. Im Garten verbringt sie auch viel Zeit mit vergnüglichen, sportlichen Aktivitäten wie Radfahren, Basketball spielen und Schwimmen. Auch mit Tieren zusammen genießt Luna den Tag. Ganz gleich zu welcher Jahreszeit – im Garten gibt es immer etwas zu tun.

„Unser Salon veränderte sich, er wurde kleiner und größer. Zum Beispiel wenn wir Minze trockneten oder Lavendel. Oma legte eine weiße Decke auf den Boden und verteilte die Blätter. Der Geruch verbreitete sich in der ganzen Wohnung. Es ist erfrischend.“

Auch die Wohnung in einem Stadtteil der wohlhabenden Mittelschicht im neuen Teil von Damaskus ist ein Abenteuerspielplatz für Luna und ihre Geschwister. Die Kinder bemalen gerne die Wände. Es gibt viele Räume, die von den Kleinen genutzt werden, um Verstecken zu spielen. Auf die Frage, ob Luna als Kind alles gehabt habe, was sie braucht, antwortet sie, dass es ihr an nichts gefehlt habe. Womöglich haben ihre Eltern ihr nicht jeden Wunsch nach Schuhen oder Spielzeug erfüllt. Aber materielle Not hat Luna in ihrer Familie nicht gekannt.

 

„Die Wohnung war immer voll. Es gab keinen einzigen Tag, an dem ich alleine zuhause bin.“

Sie habe eine sehr schöne Kindheit gehabt hat, blickt Luna zurück. Sie fühlt sich in ihrer Familie gut aufgehoben und hat den Eindruck, dass gut für sie gesorgt und auf sie aufgepasst wird. Es ist immer viel los und es gibt viel zu tun. In ihrer Familie ist Luna immer mit jemandem zusammen und fühlt sich nie allein.

„Amme Samiha stand immer als Erste auf, wenn die Sonne aufging, um zu beten und dann mit der Nachbarin Rajaa spazieren zu gehen. Auf dem Rückweg pflückte sie Jasmin und legte ihn aufs Tablett neben ihre Kanne Grüntee. Das war ihr Morgenritual.“

Zu den Menschen, die Luna in ihrer Kindheit besonders nahe stehen, gehört ihr Opa Badr und eine Tante ihres Vaters, Samiha. Die Familie lebt zusammen mit der Großmutter väterlicherseits in einer Wohnung in der Innenstadt von Damaskus. Zur Schwester ihres Großvaters pflegt Luna eine enge Beziehung. Ihre Oma Fatma, die die Familien ihrer Kinder häufiger besucht und dann in der Wohnung übernachtet, wird von Luna als die geselligere von ihren Großeltern beschrieben. Ihr Großvater wiederum verbringt die meiste Zeit im Jahr in seinem Haus im Garten, das etwas außerhalb von Damaskus liegt. Daher hat es für Luna eine besondere Bedeutung, wenn die Familie immer am Wochenende ihren Opa im Garten besucht.

Luna denkt gerne an die ruhige und entspannte Stimmung bei ihrem Opa. Es gehört zu seinem Morgenritual, früh aufzustehen und die Pflanzen rechtzeitig vor dem Sonnenaufgang zu gießen. Danach macht er noch alles sauber und geht ein paar Runden schwimmen. Luna erinnert sich an die frische Luft, wenn sie schon in aller Frühe wach wird und aus dem Bett steigt. Ihr Großvater erzählt der kleinen Luna und ihren Geschwistern viele Geschichten und sie spielen gemeinsam Karten. Es bereitet ihr auch viel Vergnügen, wenn ihr Opa die Kinder zum Obst und Gemüse ernten in den Garten mitnimmt und ihnen zeigt, wie Marmelade zubereitet wird. Die gemeinsamen Spaziergänge mit ihrem Opa durch den Garten hat Luna immer sehr genossen.
„Politische Bildung war eines der wichtigsten Fächer in der Schule, genauso wie Mathematik und Arabisch. Wir lernten alles Mögliche über die Baath-Partei. Zur Prüfung kamen Assad-Zitate, die wir ergänzen und zeitlich einordnen mussten. Ich lernte alles auswendig. Ich verstand jedoch nichts.“

 

Außerhalb der Wohnung und des Gartens in Damaskus spürt Luna schnell, dass etwas anders ist als zu Hause und dass sie im öffentlichen Raum, in der Schule und auf der Strasse, nicht frei ist. Luna lernt, dass nicht alles, was sie als Kind zu Hause mitbekommt und was in der Familie gesprochen wird, nach außen getragen werden darf. Wirklich verstanden hat sie diese schützenden Verhaltensmuster erst später, nachdem sie Syrien mit ihrer Familie verlassen hat. Denn vorher stellt man einfach nicht so viele Fragen, erklärt sich das Luna. Sie kannte es als Kind auch gar nicht anders und die Möglichkeit zu vergleichen ergibt sich erst, nachdem sie in Österreich andere Verhältnisse kennen lernt.

 

Wien, kalte Stadt

Als Luna im jugendlichen Alter von 14 Jahren mit ihren Eltern und zwei Geschwistern nach Wien gekommen ist, hat sich schlagartig vieles verändert. Bisher hat sie immer andere Menschen um sich gehabt, denn zu Hause war immer jemand da. In Wien ist ihre Familie plötzlich allein. Im Haus, wo sie nun wohnen, sind sie umgeben von lauter unbekannten Menschen. In Damaskus hat die Familie ihre Nachbar*innen gut gekannt und man ist sich oft begegnet – etwa um sich zu einem festlichen Anlass zu beglückwünschen. „Das ist in Wien ganz anders,“ so Luna. Sie findet, Wien ist eine sehr kalte Stadt.

 

Lunas Mutter hat in Wien bald zu arbeiten begonnen. Dadurch hat sich auch der Tagesablauf für Luna verändert, denn nun musste sie lernen, mit einem Schlüssel umzugehen. In Damaskus war das schlicht nicht notwendig, da immer jemand zu Hause war, der die Tür öffnete. Wenn Luna in Wien die Haustür mit dem Schlüssel aufsperrt und die leere Wohnung betritt, dann fehlen ihr die vielfältigen Eindrücke und der Lärm, die sie in Damaskus gewohnt war.

 

Im neuen Zuhause ankommen

Sie ist hier in Wien inzwischen erwachsener geworden, denkt Luna. Sie geht gerne spazieren und trifft sich mit ihren Freund*innen, die für sie ihre Cousinen und Cousins in Damaskus ersetzen. In der ersten Zeit nach ihrer Ankunft in Wien macht Luna die Erfahrung, dass sie sich ihren Platz erst erkämpfen muss. In der Schule nimmt sie mit der Zeit mehr an gemeinsamen Aktivitäten in der Klasse teil und sie wächst als Jugendliche in einen Freundeskreis hinein. Sie erhebt ihre Stimme und spricht für sich selbst, auch oder gerade wenn sie einmal mit etwas nicht einverstanden ist.

Aber das war nicht von Anfang an so. Vorher fühlt sie sich nicht frei, denn Luna wird nicht sofort in der Gruppe akzeptiert, als sie nicht an allen Aktivitäten teilnimmt. Anfangs will sie sich mit der neuen Situation nicht abfinden, nachdem ihre Familie aus Damaskus nach Wien gekommen ist. Sie will eigentlich gar nicht in Wien sein. Luna hat als junges Mädchen noch nicht verstanden, warum die Familie aus Damaskus weggegangen ist, wo sie ihre sozialen Kontakte und vertraute Personen zurückgelassen hat. Wenn sie sich nur hartnäckig genug den geänderten Umständen widersetzt, gehen sie vielleicht wieder zurück nach Syrien, denkt Luna. Luna geht deshalb zunächst nicht gerne in die Schule, kommt oft zu spät und beteiligt sich nicht an Aktivitäten der Gruppe. Auch beim Einrichten der neuen Wohnung möchte sie nicht mithelfen. Schließlich muss ihre Mutter sie dazu drängen, am Projektunterricht teilzunehmen, damit sie andere Menschen kennen lernt. Und so kommt eines Tages der Augenblick, wo Luna plötzlich bemerkt, dass sie sich besser mit der neuen Wirklichkeit abfindet, da dies jetzt ihr neues Zuhause ist: „Und irgendwann checkt man dann, dass es gar kein Zurück mehr gibt. .. Und dann fängt man an, Kontakte zu knüpfen, an Aktivitäten teilzunehmen und neue Sachen auszuprobieren“.

Zwar sei die Unterdrückung in Syrien im öffentlichen Raum sehr spürbar gewesen, doch sie habe auch in Wien Unfreiheit erlebt, sagt Luna – sie sei nur viel versteckter als in Damaskus. Luna braucht eine Weile bis sie in die Klassengemeinschaft in ihrer neuen Schule hineinwächst. Geholfen hat ihr dabei eine Lehrerin. Ihr Klassenvorstand sorgt sich um sie und versucht, sie einzubinden. Diese Lehrerin lässt die Schüler*innen Portraits von verschiedenen Ländern gestalten, wobei Syrien nur eines von vielen darstellt. So verfährt die Lehrerin dann auch bei den Gruppenarbeiten über die verschiedenen Religionen, bei denen der Islam einen Platz neben den anderen erhält. Diese Lehrerin unterstützt Luna im Unterricht und sie „hat mir nie das Gefühl gegeben, dass ich weniger gut bin als die anderen, weil ich länger brauche – was sehr hilft“, so Luna. Einmal verteidigt diese Lehrerin sie gegenüber einer anderen Lehrerin, die sehr zornig wird und Luna zum Weinen bringt, nachdem sie so schnell im Dialekt spricht, dass Luna sie nicht verstehen kann. Diese Erfahrung hat Luna gezeigt, dass sie nicht allein ist und ihre Lehrerin hinter ihr steht. Wohlbefinden bedeutet für Luna, von den anderen als der Mensch akzeptiert zu werden, der sie ist. Dazu gehört, dass den anderen und ihr selbst der benötigte Raum zur Verfügung gestellt wird, um sich auszudrücken. Das gibt Sicherheit, sagt Luna. Denn gegenseitiges Respektieren ist wichtig, auch wenn man in verschiedener Hinsicht nicht die gleiche Meinung teilt.

 

We are Family

Heute pflegt Luna zu anderen Familienangehörigen vor allem Kontakt über Chats im Internet. Zu einem Anlass hat sich die Familie vor nicht allzu langer Zeit wieder getroffen, nämlich für die Verlobung ihrer Cousine, die heute in Kanada wohnt. Um dies mit einer angemessenen Feier zu begehen, hat sich die Familie in Beirut zusammengefunden, der einzige Ort, an dem wirklich alle sich versammeln können. Luna hat sich bei dieser familiären Feier gut amüsiert. Da niemand von den Anwesenden selbst vor Ort in Beirut gelebt hat, war die Organisation der Feierlichkeiten sehr aufwändig. Daher musste erst für alles Nötige gesorgt werden – angefangen vom gemeinsamen Essen bis zur Unterkunft im Apartment. Viele von den anwesenden Familienangehörigen hat sie schon seit mehreren Jahren nicht mehr gesehen – während sie sich früher jede zweite Woche begegnet sind. Beim Treffen gab es viel zum Austauschen, weshalb sie in diesen Tagen nur wenig geschlafen hat.

In Wien fällt es Luna schon schwerer, einen bestimmten Platz auszumachen, den sie besonders bevorzugt wie die Wohnung und den Garten in Damaskus. Denn sie fühlt sich in der ganzen Stadt wohl – allein die Donauinsel besucht sie nur ungern. Luna lebt gerne in Wien und findet diese Stadt sehr abwechslungsreich – der Ort gibt ihr Sicherheit.
Nicht zu wissen, wie es jetzt ist, in Syrien zu leben, macht ihr Angst, schreibt Luna im Nachtrag ihres Buches. „Es ist nicht irgendein Land für mich. Es ist das Land, in dem noch ein Großteil meiner Familie wohnt. Es ist das Land, in dem ich meine Kindheit verbracht habe. Es ist das Land, in dem ich morgens Jasmin pflückte.“
(*) Zitate aus dem Buch „Eine Träne. Ein Lächeln. Meine Kindheit in Damaskus“ von Luna Al-Mousli (2016)

 

unveröffentlicht, 12.02.2018

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Das Recht auf ein Leben in Frieden (Victor Jara) https://loukanikos161.blackblogs.org/2018/06/13/derecho-de-vivir/ Wed, 13 Jun 2018 06:10:05 +0000 http://loukanikos161.blackblogs.org/?p=91  

Juan Neira im Portrait

 

„Cancion popular“ von Luis Villarroel

Die Augen von Juan Neira leuchten und er beginnt herzhaft zu lachen, wenn er von den Kindern damals in Chile erzählt. Damals… das ist im Jahr 1970, als der sozialistische Präsident Salvador Allende gewählt wird und Juan selbst gerade mal 17 Jahre alt ist. In einem großen Park mitten in Santiago de Chile organisiert er für die Kinder soziales Kasperltheater. Die kleinen Knirpse, meist Kinder aus Arbeiter_innenfamilien, reden ihn ganz selbstverständlich mit „Companero“ an, also Genosse. Und Juan amüsiert sich noch heute prächtig, wenn er sich zurückerinnert, wie die Kleinen plötzlich Steine auf die Bühne werfen und den Puppenspieler_innen mit Holzlatten auf die Finger klopfen. Denn das Kasperltheater setzt die Ungerechtigkeiten und die Ausbeutung in Szene, unter denen die Arbeiter_innen seit jeher leiden. Das macht zu Recht wütend.

 

Aber lassen wir den Blick auf ein paar Jahre vorher schweifen. Juan Neira wird Anfang der 1950er Jahre in der chilenischen Hauptstadt Santiago geboren. Seine Familie mit bäuerlichem Hintergrund wandert aus dem Süden nach Santiago und lässt sich dort im Arbeiter_innenviertel Barrancas am Rande der Stadt nieder. Eine seiner frühesten Erinnerungen aus der Kindheit ist jene an Agustin, seinen Schulkollegen aus der ersten Klasse, die er in seinem Viertel besucht. Die Familie des kleinen Agustin ist so arm, dass sie ihn sogar im Winter ohne Schuhe in die Schule schicken muss. Juans Familie, die im Armenviertel Barrancas lebt, immerhin sogar mit einem eigenen Hof, verfügt wenigstens über genug Einkommen, um Juan zum Schulbeginn zwei Paar Schuhe zu kaufen. Juan bekommt so großes Mitgefühl mit Agustin, dass er ihm sein braunes Paar Schuhe schenkt. Fröhlich erzählt Juan, wie Agustin daraufhin glücklich über das Eis tanzt. Gleichzeitig die „erste große Enttäuschung für meine Eltern“, denn diese verstehen seinen Akt der Solidarität nicht, meint Juan im Rückblick. Ein anderes Erlebnis aus seiner Kindheit zeigt, dass Juan schon früh lernt, seine Stimme zu erheben, wenn er nicht einverstanden ist. In der privaten Franziskanerschule, die Juan von 1960 bis 1965 besucht, ist Fußball das einzige verbotene Spiel für die Schüler. Wahrscheinlich deshalb, weil dieser Sport den Priestern und Nonnen als „proletarisch“ gilt, vermutet Juan. Trotzdem oder gerade deshalb sorgt Juan dafür, dass die Schüler in der Mittagspause, wenn die Priester und Nonnen schlafen, mit einem improvisierten Ball aus Papier über den Hof fegen können. Mehr als einmal muss er deshalb zur Strafe in der Ecke stehen. Das hält ihn jedoch nicht davon ab, beim nächsten Mal wieder ein Match für die Schüler zu organisieren. Und auch zur Musik entwickelt er eine leidenschaftliche Beziehung, denn mit 12 Jahren beginnt Juan, sich mit Freund_innen zu treffen, um gemeinsam Gitarre zu spielen und zusammen zu träumen, wie er sagt.

 

Doch von den Fenstern zu Hause beobachtet Juan schon als kleines Kind die Gewalt der Sicherheitskräfte, wenn die Arbeiter_innen mal wieder streiken. Das Armenviertel Barrancas ist ein heißes Pflaster, wo in dieser Zeit viele soziale Konflikte stattfinden. Als Juan schließlich in die Handelsschule wechselt, gerät er zum ersten Mal in Berührung mit politisch aktiven Schüler_innen. In der Folge nimmt Juan an Schulstreiks teil und beteiligt sich auch an den Besetzungen, mit denen 1966 – ähnlich wie auch heute wieder – in Chile eine Bildungsreform gefordert wird. Mehrere Male wird Juan wegen einer Schulbesetzung der Schule verwiesen. Bei den Okupas, also den Landbesetzungen von obdachlosen Arbeiter_innen in Santiago, kann Juan nicht mitmachen, da er noch minderjährig ist und ihm bei einer etwaigen Verhaftung das Jugendgefängnis droht. Dennoch hilft er eifrig mit, indem er gemeinsam mit Companer@s alles Nötige für die Landbesetzung sammelt: Zelte, Lebensmittel, Kochgeschirr, Brennmaterial und er besorgt von Freund_innen eine chilenische Flagge. Denn die Landbesetzer_innen glauben, dass die Polizei weniger gewalttätig vorgeht, wenn eine Nationalfahne vor Ort gehisst wird. Das erweist sich als Irrglaube, denn die Räumungsversuche von Polizei und Armee laufen sehr brutal ab und oft werden dabei Kinder verprügelt und Menschen erschossen.

 

Als Salvador Allende bei seiner vierten Kandidatur zum Präsidenten gewählt wird, hegt auch Juan so wie viele andere Chilen_innen große Hoffnungen auf soziale Veränderung, Gerechtigkeit und ein gutes Leben für alle – auch wenn er der Regierung kritisch gegenüber steht. Juan gehört nämlich zu den „jungen Wilden“, in deren Augen der Prozess der Veränderung viel zu langsam vonstatten geht. Viele Arbeiter_innen und die Armen „machen Lärm“, um die Dynamik der gesellschaftlichen Veränderung durch die Poder Popular („Volksmacht“) zu beschleunigen. Salvador Allende hingegen möchte aus Angst, die politische Rechte im Land zu provozieren, lieber leiser treten. Aber der Faschismus zeigt seine hässliche Fratze schon in den Tagen, bevor Salvador Allende überhaupt als Präsident angelobt wird. Zwei Tage vor seinem Amtsantritt wird General Rene Schneider von Rechtsextremen ermordet, weil er sich loyal zur Verfassung bekennt und sich der Demokratie verpflichtet fühlt. Wenn Juan auf diese Zeit zurückblickt, dann fällt ihm auf, dass Salvador Allende der einzige chilenische Politiker ist, für den er mit den Jahren immer mehr Respekt entwickelt hat. Andere Politiker_innen, selbst aus dem linken Lager wie die heutige sozialistische Präsidentin Michelle Bachelet, haben sich Juan zufolge mit den Verhältnissen arrangiert. So wurde das neoliberale Regime, das von der Pinochet-Diktatur gewaltsam durchgesetzt wurde, nach dem Übergang zur Demokratie zu Beginn der 1990er Jahre nicht in Frage gestellt und bruchlos fortgeführt.

 

Am 11.September 1973 werden die Träume und Hoffnungen von unzähligen Chilen_innen furchtbar zerschmettert und der Schrecken der Militärdiktatur von General Pinochet verbreitet von nun an Terror. Juan hat großes Glück, denn er entgeht mehrmals den Schergen der Diktatur, einmal sogar nur um wenige Minuten. Drei Monate vor dem Putsch wird er mit anderen aus dem elektrotechnischen Betrieb entlassen, wo Juan mit der Organisation des Puppentheaters betraut ist, weil die Firmenleitung den Verdacht „revolutionärer Umtriebe“ äußert. Nun befindet sich gegenüber dem Parque O’Higgins, wo sich die Kinderbühne befindet, eine Kaserne. Die Entlassung hat ihn also sozusagen gerettet, denn gleich nach dem Putsch stürmt die Armee den Park und viele Arbeiter_innen werden zu Opfern der Diktatur. Auch das Haus seiner Eltern wird immer wieder von Militärs durchsucht. Für Juan beginnt nun eine sehr schwere Zeit. Um den Schergen der Diktatur nicht in die Hände zu fallen, sucht Juan Hilfe beim Anwaltsbüro der ökumenischen Friedensbewegung. Erst wird ihm nahegelegt, dass er das Land besser verlassen solle. Als Juan jedoch ein Visum nach Deutschland ablehnt und seine feste Überzeugung zum Ausdruck bringt, in Chile bleiben zu wollen, sind die Vertreter_innen der Kirche so beeindruckt, dass sie ihm Unterstützung anbieten. Im darauf folgenden Jahr ist man ihm dabei behilflich, sich sicher durch Santiago zu bewegen und vor der Diktatur zu verstecken.

 

Trotz aller Widrigkeiten bleibt Juan sein rebellischer Geist erhalten. Er veranstaltet gemeinsam mit Companer@s in verschiedenen Lokalen und Kirchen am Stadtrand Benefizkonzerte für die Angehörigen der politischen Gefangenen und kocht und sammelt für Hunger leidende Menschen. Dabei hat Juan selbst kaum etwas. Für die Diktatur erscheinen Menschen mit Gitarre und Flöte sogar noch verdächtiger als bewaffnete Guerilleros. Und wieder entkommt Juan nur knapp der Verfolgung: Bei einem Konzert trägt er ein Lied vor, das Kritik am Militär übt. Plötzlich bemerkt er im Publikum eine Frau, die ihm Zeichen gibt. Da er nicht versteht, was sie von ihm will, denkt er, dass die Frau durcheinander sei. Nach dem Ende des Liedes wirft Juan einen Blick ins Publikum und bekommt plötzlich Angst, als er im Hintergrund die Helme von Soldaten erkennt. Schnell verabschiedet er sich, wirft seine Gitarre weg und flüchtet über eine Mauer. Mit einem Schlag wird ihm klar, dass die mutige Frau im Publikum ihn mit ihren Zeichen warnen wollte.

 

Im Jahr 1980 – Juan ist inzwischen Vater von zwei Kindern – sieht Juan überhaupt keine Perspektive mehr in Chile. Seine Familie wird von der Armee belästigt und dem Widerstand im Untergrund gelingt es nicht, adäquate Antworten auf die Repression zu finden. Die Massenproteste, die letztlich dazu beitragen werden, die Diktatur zu Fall zu bringen, beginnen erst drei Jahre später. Um seine Kinder zu schützen und weil er keinen Handlungsspielraum mehr sieht – außer „auf die Haft zu warten“ – flieht Juan aus Chile und sucht in Österreich um Asyl an. Neben musikalischen Arbeiten für Dokumentationen und das Fernsehen tritt Juan nun auf Festivals auf. Er fängt an, mit Jugendlichen zusammen zu arbeiten, bringt ihnen die Musik näher und unterrichtet sie in verschiedenen Instrumenten. Bald gehen Musikgruppen wie „Lican Antai“, „Copihues“, „Musikwerkstatt Arco Iris“, „Marca Tambo“ und „Musikwerkstatt Mallarauco“ daraus hervor, mit denen er unzählige Konzerte bestreitet sowie die „Notenchaoten“, die in ihrer Kunst lateinamerikanische Musik mit deutschen Texten verbinden. Überhaupt sieht sich Juan als Brückenbauer zwischen Südamerika und Österreich und gibt gerne Konzerte mit chilenischen und österreichischen Einflüssen. Als Obmann des Centro Once/Stadtteilzentrum Simmering trägt Juan schließlich dazu bei, dass dieses Kulturzentrum in der Schneidergasse im 11. Wiener Gemeindebezirk zu einem Ort wird, an dem viele künstlerische Ausdrucksformen zusammenfließen und durch gegenseitige Befruchtung die Menschen erfreuen. Hier werden Menschen, gleich welcher Herkunft, dabei unterstützt, Kunstprojekte mit möglichst geringem finanziellem Aufwand umzusetzen.

 

In Österreich, wo Juan mittlerweile länger lebt als in Chile, fühlt er sich wie in seinem „Habitat“, mit allen Vor- und Nachteilen. Das ist nicht immer so gewesen. Anfangs fühlt er sich hier nicht wohl und empfindet Traurigkeit. Denn er hat bei seiner Flucht aus Chile nicht nur all seine Freund_innen und Companer@s zurück lassen müssen. Seine neue Umgebung ist für ihn auch wie ein Kulturschock. Denn alles scheint hier schon gemacht und gut zu laufen. Juan muss sich also erst auf die Suche nach einer Aufgabe in der Gesellschaft machen. Und er entdeckt sie bald: Zusammen mit anderen Musiker_innen besucht er regelmäßig Krankenhäuser und Altersheime, um den Menschen dort eine Freude zu bereiten. Natürlich kostenlos, denn Juan hätte ein schlechtes Gewissen, dafür auch noch Geld zu verlangen, sagt er. Seine materielle Situation ist nicht gerade rosig, aber auf dieser Ebene möchte er sich ohnehin nicht mit anderen Menschen verglichen wissen. Juan begegnet anderen Menschen nämlich auf gleicher Augenhöhe und er erfährt in seinem Umfeld die gleiche respektvolle Behandlung. Trotzdem weiß er, dass das in Österreich keine Selbstverständlichkeit ist und Menschen aus Afrika oder Afghanistan auch weniger angenehme Erfahrungen im Alltag machen. Für Juan gehört aber genau dieses Gefühl – nicht mehr und auch nicht weniger als alle anderen zu sein – unbedingt dazu, um sich in einem neuen Land wohl zu fühlen. Gerade von anderen Künstler_innen erfährt Juan eine große Freundlichkeit und Zuneigung. Und dies trägt wohl auch dazu bei, dass er Österreich als sein „Habitat“ erlebt. Der Antrag auf die österreichische Staatsbürgerschaft vor drei Jahren ist für Juan nur noch eine Formalität. Er denkt lange Jahre gar nicht an diese Option oder etwaige Vorteile und lässt sich schließlich von Freund_innen dazu überreden: „Mach das“, reden sie ihm zu, „es ist genug, du bist schon von da, mach die Staatsbürgerschaft“. Jetzt, wo er die Staatsbürgerschaft besitzt, die seinen Flüchtlingsstatus beendet, ist es ihm auch offiziell erlaubt, nach Chile einzureisen.

 

Wenn er Chile besucht, um seine Mutter und Freund_innen zu treffen, so dauert es jedes Mal ein bisschen bis Juan sich wieder akklimatisiert hat. „Ach Juan, du wurdest in Österreich germanisiert“, scherzen seine Freund_innen gerne, wenn er mal wieder pünktlich auf die Minute zu einem Treffpunkt kommt und dann lange warten muss bis seine Freund_innen nach und nach eintrudeln. Dazu muss man wissen, dass es in Chile üblich ist, entspannt eine Stunde später zu einem abgemachten Treffen zu kommen, wobei eine Viertel Stunde bis 20 Minuten zusätzliche Verspätung noch als höflich gelten. Juan genießt jedenfalls seine Aufenthalte in Chile zusammen mit Freund_innen auf dem Land bei Rotwein und Empanadas, man vergnügt sich auf Konzerten und es wird viel gemeinsam gelacht.

 

gekürzte Fassung erschienen in: Augustin 400 (28.10-10.11.2015)

 

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Auf Reisen zwischen Ernst und hemmungslosem Hedonismus https://loukanikos161.blackblogs.org/2018/06/13/neonschwarz/ Wed, 13 Jun 2018 05:17:35 +0000 http://loukanikos161.blackblogs.org/?p=77  

Alle stressen sich und hetzen von Termin zu Termin
Ich Schmeiß` den Wecker aus dem Fenster und bleib neben mir liegen
Es ist für mich so logisch, doch die Menschen finden es seltsam
sie fliegen und wir liegen auf ’ner Decke am Elbstrand

Ich lass die Uhr ticken, ich lass den Fluss fließen
Mein Herz schlägt und ich muss es genießen

(Neonschwarz – On a Journey)

 

Am 22.1. gastierte die Hip Hop-Band Neonschwarz aus Hamburg zu ihrem mittlerweile dritten Konzert in Wien. Vor den begeisterten Fans im vollen B72 gaben Marie Curry, Johnny Mauser, Captain Gips und der DJ Spion Ypsilon diverse Nummern aus ihrem Zeckenrap-Repertoire zum Besten.

 

Neonschwarz, der Name des gleichnamigen Albums, das 2010 erschienen ist – die Band bildete sich 2012 – „drückt ganz gut unseren Platz zwischen ernsten Themen und hemmungslosem Hedonismus aus“, stellt die Band im Interview fest. Während Hip Hop für Neonschwarz die größte Rolle für ihr Schaffen spielt – „wir sind ziemlich froh, dass sich Hiphop gerade in eine Richtung entwickelt, in der Inhalte wieder eine größere Rolle spielen“ – sind die Bandmitglieder auch offen für andere Musikrichtungen. Angesprochen auf die Quelle ihrer Inspiration meinen Neonschwarz: „Captain Gips schreibt am liebsten am Elbstrand mit Kaffee und Zigarette, Marie kriegt die besten Ideen, wenn sie zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs ist aber wir haben da auch kein Geheimrezept. Manchmal kommen gute Zeilen komplett unerwartet, da ist es immer gut, Stift und Papier dabei zu haben.“

 

Die Stimmung im Publikum im B72 war gut gelaunt. Auf dem gefüllten Parkett wurde viel getanzt und gehüpft. Für Neonschwarz war das Konzert in Wien „sensationell“, sowohl die Menschen im Publikum als auch die Gruppe auf der Bühne hatten merklich viel Spaß. „Wir sind immer wieder beeindruckt, dass es in fast jeder Stadt Menschen gibt, die unsere Texte mitsingen können. Besonders schön ist für uns natürlich immer wieder, wenn wir antirassistische Songs wie z.B. „2014“ spielen und die Leute das feiern. Es ist wirklich gut zu sehen, dass wir mit unseren Fans auf einer Linie stehen.“

 

Neonschwarz thematisieren eine breite Palette von Inhalten. So bringt die Gruppe mit „Love will never die“ ihre eindrückliche Anklage gegen Homophobie vor – „Ob jetzt Frau – Frau – Mann – Mann – Frau – Trans – Händchen hält. Mensch liebt Mensch, das ist alles was zählt“. In „2014“ wird der Rassismus kritisiert, was vor dem Hintergrund der Proteste gegen Flüchtlingsheime in Deutschland und der Aufmärsche von Pegida in Dresden eine brennende Aktualität gewinnt. Neonschwarz rufen zu zivilcouragiertem und solidarischem Handeln auf: „Bitte guck nicht weg, bitte misch dich ein. Stell dich wie ne Mauer vor das Flüchtlingsheim!“ Das Konzert fand eine Woche vor dem Akademikerball rechtsextremer Burschenschaften und der FPÖ in der Hofburg statt – Neonschwarz appellierten daher von der Bühne, sich an den antifaschistischen Protestaktionen zu beteiligen, was die Menge mit „Alerta Antifascista“-Rufen beantwortete.

 

Auch wenn es an anderer Stelle heißt, dass Utopie nicht greifbar sei, so verschafft sich in den Texten von Neonschwarz doch immer wieder die Lust auf das gute und schöne Leben für alle Luft. Angelehnt an Rio Reiser und Ton Steine Scherben performen Neonschwarz mit „Unser Haus“ auch das leidenschaftliche Plädoyer für die bunte Vielfalt und die kreative Kultur der Freiräume in besetzten Häusern: „Wer keinen Platz zum Pennen hat und wer bisher noch kein Zimmer fand, kommt alle mit, verdammt, wir holen uns unser Nimmerland!“

 

Neonschwarz bringen ihre lebensfrohe Philosophie in Songs wie „Hinter Palmen“ und „On a Journey“ zum Ausdruck: Lass dich nicht unterkriegen und genieße dein Leben in vollen Zügen – „Ich bleib dabei: Die Welt ist kacke, doch das Leben ist schön“, so die Botschaft der Gruppe in „Heben ab“. Und höre niemals auf, nach deinen Träumen zu greifen, auch wenn dir manchmal Steine in den Weg gelegt werden: „Gestern war vielleicht der Pleitegeier am Start. Und morgen Strand, 30 Grad und Papayasalat. … Rio sagt, uns trennt nur die Angst von dem besten Leben. Schmeiß dich mitten rein, saug es auf, was kann es bessres geben.“

 

(unveröffentlicht, 2015)

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