Recht auf Stadt – Nachrichten vom Riot Dog https://loukanikos161.blackblogs.org One more Blackblog Wed, 13 Jun 2018 05:41:43 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.1 Macondo blüht auf, kocht auf, spielt auf https://loukanikos161.blackblogs.org/2018/06/13/macondo-blueht/ Wed, 13 Jun 2018 05:35:39 +0000 http://loukanikos161.blackblogs.org/?p=82  

Eine Flüchtlingssiedlung am Stadtrand – und das «Prinzip Hoffnung»

 

Gemeinsames Gärtnern, Möbelerneuerung, Ernährungsberatung – diese Methoden der Gemeinwesenarbeit klingen nicht gerade sensationell innovativ. Aber sie haben sich bewährt und werden auch in der Simmeringer Flüchtlingssiedlung «Macondo» das Zusammenleben unterschiedlichster Menschen erleichtern können. Alexander Stoff über «Macondo blüht auf», ein Projekt der evangelischen Flüchtlingsarbeit.

Im vergangenen Jahr kamen 130 syrische Flüchtlinge nach Macondo. Eine gewaltige Herausforderung für die Leute aus der «Basis Zinnergasse», dem Gemeinwesenbüro des Flüchtlingsdienstes der Diakonie: Was tun, um den Neuankömmlingen das Willkommensein zu vermitteln und sie von Beginn an zu ermuntern, ihr Umfeld selbst zu gestalten? «Am Areal wohnen um die 2000 Leute aus den verschiedensten Ländern, und wir wollen, dass die sich kennen lernen und gut verstehen. Der Gemeinschaftsgarten bietet sich auch als sinnvolle und bereichernde Freizeit-Tätigkeit an», meint Carina Pachler von der «Basis Zinnergasse».

Ergänzt wird das Gärtnern durch eine Vielfalt von Workshops. Angedacht ist das gemeinsame Kochen zu Rezepten aus den unterschiedlichen Herkunftsländern, die am Ende des Projektes in einem Kochbuch gesammelt und veröffentlicht werden sollen (eine weitere bewährte Methode, um Menschen zusammenzubringen). Auch Ernährungsberatung soll im Rahmen von Workshops angeboten werden, um den Familien ein Werkzeug in die Hand zu geben, mit wenigen Mitteln eine gesunde Jause für ihre Kinder zusammenzustellen. An Sport-Workshops für Kickboxen und Capoeira ist ebenfalls gedacht. Schließlich sollen auch einige Müllprobleme auf dem Areal gelöst werden.

Bei «Macondo blüht auf» werden unterschiedliche Bedürfnisse der Bewohner_innen aufgegriffen. So organisiert die «Basis Zinnergasse» immer wieder Ausflüge, um die Flüchtlinge aus ihren engen vier Wänden herauszuholen. Der in Macondo aufgewachsene Carlos Rojas – seine Familie floh 1974 vor dem Pinochet-Regime in Chile – erklärt, dass die verschiedenen Fluchthintergründe die Menschen entsprechend verschieden prägen. Daher sei es gut, wenn Gemeinwesenarbeit helfen könne, gegenseitige Vorverurteilungen zu vermeiden und Ängste abzubauen. Dies ist gerade deshalb wichtig, weil viele Flüchtlinge traumatische Erfahrungen hinter sich haben. «Das Wichtigste bei Menschen, die mit Traumatisierungen kämpfen, ist, dass man ihnen eine Alltagsstruktur schafft, also dass sie einfach etwas zu tun haben und nicht daheim herumsitzen», so Carina Pachler. Es entstand auch bei den Bewohner_innen der Wunsch, auf dem Areal von Macondo selbst das Lebensumfeld mehr zu gestalten. Manche von den Bewohner_innen haben schon in ihrem Herkunftsland einen eigenen Garten kultiviert, und so lag es nahe, das gemeinsame Gärtnern in den Vordergrund zu rücken. Aber auch das gemeinsame Kochen kommt dem Bedürfnis vieler Bewohner_innen von Macondo entgegen, die besonders bei Festen gerne Gerichte zubereiten.

 

Was uns fehlt – ein Fußballplatz

 

Ein Gedanke hinter «Macondo blüht auf» ist das gegenseitige Kennenlernen von Menschen innerhalb und außerhalb Macondos. Während nämlich gar nicht so wenige Bewohner_innen das Areal selten verlassen, ist vielen Wiener_innen nicht bekannt, dass es Macondo überhaupt gibt. Hier hat vielleicht der Film «Macondo» von Sudabeh Mortezai zu einem Bewusstseinswandel beigetragen, meint Carina Pachler. Und auch das Projekt der «Basis Zinnergasse» zielt darauf ab, Grenzen zwischen den Menschen zu überwinden und durch gemeinsames Tun Beziehungen aufzubauen. Carlos Rojas konnte als langjähriger grüner Bezirksrat erreichen, dass in der Nähe von Macondo endlich eine Busstation eingerichtet wurde. Seit langem setzt er sich dafür ein, dass Macondo einen richtigen Fußballplatz bekommt – und eine Heimmannschaft, die die kukturelle Buntheit Macondos widerspiegelt. Sich am jetzigen steinigen Sportplatz, der seit 1976 unverändert besteht, n i c h t zu verletzen, ist eine Kunst.

Nicht zuletzt soll «Macondo blüht auf» das Selbstbewusstsein der Bewohner_innen stärken, denn Flüchtlinge bringen Wissen und Fähigkeiten mit, die in Österreich sehr wenig Anerkennung finden. «Macondo blüht auf» sei auch ein Signal der Wertschätzung all der Kompetenzen, die unter den Flüchtlingsfamilien zutage treten, so Carina Pachler. Carlos Rojas´ Bild von einer gelebten Nachbarschaft in der Flüchtlingssiedlung mit dem poetischen Namen ist das einer realisierbaren Utopie: «Er repariert Wagen des Nachbarn, der macht ihm dafür den Kühlschrank funktionierend. Da entsteht ein soziales Gefüge. Ich brauche ihn, er braucht mich – wir sind alle wichtig.»

Da immer wieder neue Leute zuziehen, müssen die Voraussetzungen für ein Gefühl des Willkommenseins immer neu geschaffen werden, sagt Carina Pachler. Auf lange Sicht sollen die Bewohner_innen von Macondo dabei unterstützt werden, ihre Angelegenheiten selbst in die Hände zu nehmen. Die «Macondianer_innen» müssen Bedingungen vorfinden, unter denen sie das in den Workshops erlernte Wissen weitergeben können. Nach maximal acht Jahren (die meisten Flüchtlinge leben wesentlich kürzere Zeit hier) müssen die Flüchtlinge Macondo wieder verlassen und an einem anderen Ort unterkommen. Durch ein Projekt wie «Macondo blüht auf» selbstsicherer gemacht, sollten die «Abgängigen» die Lust, ihr Umfeld aktiv mituzugestalten, auch in die kommende neue Lebenssituatiuon mitnehmen, hoffen die Flüchtlingsarbeiter_innen der «Basis Zinnergasse».

 

veröffentlicht in Augustin 392 (10.06.-23.06.2015)

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Gentrifizierung auf Wienerisch https://loukanikos161.blackblogs.org/2018/06/12/gentrifizierung-wienerisch/ Tue, 12 Jun 2018 09:53:24 +0000 http://loukanikos161.blackblogs.org/?p=50  

(Teil 1)

 

Der Hackler macht ums Szenebeisel einen Bogen

 

Wird über Gentrifizierung gesprochen, so stößt man recht bald auf den Prozess der Verdrängung der alteingesessenen Bewohner_innen. Zu einer solchen kommt es in vielen Städten, sobald ein Stadtteil zum Objekt der Begierde für die Bauindustrie und Immobilienwirtschaft wird. Möglicherweise hat die Wiener Tourismuswerbung in dieser Beziehung sogar Recht: Ist Wien anders? Möglicherweise wird hier nur indirekt verdrängt…

 

Ähnlich wie in anderen Städten findet die ökonomische Aufwertung von Stadtteilen zwar auch hier statt, doch umstritten bleibt, ob damit eine starke Verdrängung der alteingesessenen Bewohner_innen einhergeht. Gentrifizierung beschreibt einen auch in Wien längst nicht mehr unbekannten Prozess. Der setzt meist ein, sobald ein Viertel von alternativen Milieus wie Künstler_innen und Student_innen – in der Forschung „Pioniere“ genannt – „entdeckt“ wird. Aufgrund niedriger Mieten ziehen diese Gruppen in den Stadtteil, gründen WGs und eröffnen neue Kneipen und Ateliers.

 

So verändert sich langsam das Bild des Stadtteils, eine bestimmte Wahrnehmung in der Öffentlichkeit als „trendig“ entsteht, und es werden – nicht zuletzt auch durch medialen Hype – neue Bevölkerungsgruppen aufmerksam und in das Viertel gezogen. Schließlich wird auch das Interesse der Wirtschaft geweckt. Investitionen fließen in die Sanierung der alten Bausubstanz, und neuer Luxuswohnraum sowie zahlreiche Boutiquen entstehen. Da in der Folge die Mieten steigen, werden im internationalen Regelfall die alteingesessenen Bewohner_innen verdrängt, die sich ihre Wohnungen nicht mehr länger leisten können. Auch die „Pioniere“ müssen früher oder später weichen. Es kommt zu einem Zuzug von einkommensstärkeren Schichten, und so verändert sich mit der ökonomischen Aufwertung auch die Bevölkerungsstruktur des Stadtteils.

 

Im Zusammenhang mit Gentrifizierung in Wien kann von einer indirekten Verdrängung gesprochen werden, so Florian Huber, Lehrbeauftragter am Institut für Soziologie an der Universität Wien. Mit der Verdrängung der alten Beiseln und Lokale etwa im Rahmen der Aufwertung des Karmeliterviertels verschwand der „Urwiener“ aus dem öffentlichen Raum. Die sozialen Räume rund um den Karmelitermarkt, die vor allem für Netzwerke und Beziehungsgeflechte von Bedeutung sind, haben sich verändert, und aus einem ehemals infrastrukturell auf die ortsansässige Bevölkerung abgestimmten Markt ist mittlerweile ein „Trendviertel“ geworden. Zwar lebt die alteingesessene Bevölkerung vielleicht nach wie vor im Stadtteil, aber sie zieht es nun vor, zu Hause zu bleiben, und ist daher im öffentlichen Raum nicht mehr sichtbar. So weist auch Gerhard Rauscher, der im Zuge seiner Stadterforschungen regelmäßige Rundgänge in Wien organisiert, darauf hin, dass gerade alternative Milieus die Augen nicht vor möglichen Ausschlussmechanismen verschließen dürfen. Denn „der Hackler von nebenan kommt nicht ins Alternativbeisl, der hat halt lieber sein Wirtshaus. Und wenn das dann auch verschwindet, dann verschwindet auch der Hackler“, meint Rauscher.

 

Gürtel: Auf Lepschi in die Ex-Verkehrshölle

 

Bedeutsam ist auch die symbolische Ebene der Gentrifizierung, also das Image eines Stadtteils. Udo Häberlin von der Magistratsabteilung für Stadtentwicklung und Stadtplanung (MA 18) kommentiert, dass der Ruf eines Grätzels so bestimmend sein kann, dass es Zuschreibungen gibt, die die Bewohner_innen eines Stadtteils stigmatisieren oder die urbane Plätze besser dastehen lassen, als sie es in der Realität sind. Eine wesentliche Rolle spielt dabei die negative Darstellung eines Stadtgebietes in den Medien, denen bei manchen Stadtteilen reißerische Zuschreibungen wie „Ghetto“ oft vorschnell über die Lippen kommen, obwohl es in Wien gar keine Ghettos gebe, so Häberlin. Beispielweise haben geringfügige positive Veränderungen durch die Etablierung von Lokalen in den alten Stadtbahnbögen bereits ausgereicht, um das Image der Gürtelgegend von einer Verkehrshölle und einem Rotlichtgebiet zu einem trendigen Ausgehboulevard zu verschieben.

 

Die Wohnbaupolitik der Stadt Wien ist Florian Huber zufolge ein Grund, warum hier nicht von direkter Verdrängung gesprochen werden kann. Das Konzept der „sanften Stadterneuerung“ und die Regulationsmechanismen der Wohnbaupolitik nehmen Druck vom Wohnungsmarkt und den Mietpreisen. Durch den hohen Anteil an Gemeinde- und Genossenschaftswohnungen konnten die in anderen Städten wesentlich problematischer ablaufenden Prozesse abgewendet werden. Dass in Wien von offizieller Seite nur ungern über Gentrifizierung geredet wird, hängt Huber zufolge damit zusammen, dass man immer noch an dem engen Begriff der 1960er Jahre festhalte, mit dem Phänomene wie indirekte Verdrängung nicht erfasst werden können.

 

Wann kommt die Wiener rot-grüne Zwischennutzungs-Agentur?

 

Udo Häberlin weist anhand des Beispiels Brunnenmarkt darauf hin, dass in Wien aufgrund von Faktoren wie (relativ) gesicherten Mietpreisen eine für Gentrifizierung typische Verdrängung so gut wie nicht festzustellen sei; denkbar sei jedoch, dass die Verdrängungsproblematik in den öffentlichen Raum ausgelagert wird. Es sei in diesem Zusammenhang schwierig zu beurteilen, „wie Aneigungsmechanismen funktionieren und welche Bevölkerungsteile wie ausweichen“. Letztlich müsse die Verdrängung nicht notwendigerweise auf die Aufwertung eines Stadtteils zurückzuführen sein; so würden Menschen, denen es beispielsweise an einem Ort zu laut werde, zu einem ruhigeren Platz wechseln. Zwar sollen im Rahmen von Sozialraumanalysen der MA 18 besonders die Interessen und Bedürfnisse jener Menschen berücksichtigt werden, die keine institutionelle Vertretung haben, dennoch gehöre es derzeit weder zum Auftrag der Stadtplanung, noch könne diese es leisten, im ganzen Stadtgebiet mögliche Verdrängungsprozesse zu untersuchen. Überlegenswert ist für Häberlin eine erweiterte Evaluierung von Umbauplanungen im öffentlichen Raum, bei der auch Verdrängungsprozesse mit erhoben werden könnten.

 

Im Kulturabschnitt der Regierungsvereinbarung der rot-grünen Stadtregierung findet sich auch ein Punkt zur Zwischennutzung von Leerständen und Baulücken. Eine Sammlung leerstehender und ungenutzter urbaner Räume bei einer Agentur für Zwischennutzung, die als Schnittstelle verschiedener Ressorts wirkt, soll ermöglichen, dass ungenutzter Raum kostengünstig oder gratis – etwa für junge Künstler_innen – zur Verfügung gestellt wird. Der Menschenrechts- und Kultursprecher der Wiener Grünen, Klaus Werner-Lobo, stellt fest, dass hier noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten sei, da vor allem seitens „Wiener Wohnen“, dem ehemaligen Wohnungsamt, eine reservierte Haltung gegenüber dem Vorhaben bestehe, während in anderen Abteilungen wie dem Kulturressort und dem Magistrat für Stadtplanung durchaus Interesse für die Einrichtung einer Zwischennutzungsagentur vorhanden sei. Die Skepsis bei Wiener Wohnen, also gerade jener Stelle, die den Raum anbieten soll, ist ein Hinweis darauf, dass unterschiedliche Interessen gar nicht zwischen SPÖ und Grünen, sondern vielmehr zwischen den diversen Abteilungen verlaufen. Klaus Werner-Lobo hofft daher längerfristig, durch intensive Gespräche einen Kulturwechsel in der Stadtpolitik zu erreichen. Denn bislang galt die Devise, dass öffentliches Eigentum im Einflussbereich der Stadtverwaltung bleiben solle, während die Grünen die Position vertreten, dass der öffentliche Raum allen Menschen zugänglich sein solle. Entgegen den Vereinbarungen erzeuge die gewaltsame Räumung besetzter Häuser wie des Lobmeyrhofs in Wien-Ottakring Unmut bei den Grün-Wähler_innen. Auch im Sinne eines gepflegten Koalitionsklimas dürfe es solche polizeiliche „Problemlösungen“ nicht mehr geben.

 

Gentrifizierung auf Wienerisch

 

(Teil 2)

 

Von Pionieren, Hausbesetzern und dem „schöpferischen Überschuss der Stadt“

 

„Gentrifizierung“ nennt man jene Schiene der Stadtentwicklung, bei der es zu einem Prozess der Aufwertung von Stadtteilen kommt, die aus diesem Grund zu Objekten der Begierde für Bauindustrie und Immobilienwirtschaft werden. Im ersten Teil seines Beitrags (Ausgabe 313) zitiert der Autor Expert_innen, die infrage stellen, dass mit der Gentrifizierung in Wien eine starke Verdrängung der alteingesessenen Bevölkerung einhergehe.

 

Problematischerweise suggeriert schon die in der Forschung über Gentrifizierung gebräuchliche Bezeichnung „Pioniere“, dass quasi „Neuland“ erschlossen wird. Gegen eine solche „Entdeckerperspektive“ erhebt Florian Huber, Lehrbeauftragter am Institut für Soziologie an der Uni Wien, Einspruch, denn „es haben auch vorher Bewohner dort gelebt, die diese oder jene Kultur gelebt haben“. Am Beginn von Gentrifizierung stehen dennoch oft eine Diversifizierung von Lebensentwürfen und eine kulturelle Belebung der Stadtviertel. Solche Prozesse gehen der ökonomischen Aufwertung voraus und werden letztlich durch diese auch wieder zu einem Stillstand gebracht. Denn auch die alternativen Milieus gehören am Ende eines typischen Gentrifizierungsprozesses zu den Verdrängten. Die Entwicklung des erneuerten Stadtteils endet irgendwann auf dem Niveau einer sehr teuren Wohngegend mit Top-Lokalen, die aber genau jene anfängliche Heterogenität vermissen lässt.

 

Somit kann das eigentlich Problematische an der Gentrifizierung vor allem bei der Ökonomisierung festgemacht werden, die jedoch beispielsweise im Hinblick auf die Infrastruktur auch positive Auswirkungen haben kann. Für Florian Huber stellt sich hinsichtlich der Ökonomisierung die Frage: „Ab welchem Moment kippt es dann in eine Richtung? Sobald es kippt, wird es problematisch. Solange man die Diversität und Heterogenität aufrechterhalten kann, ist es auch durchaus sinnvoll bzw. kann man es nicht nur als negativen Prozess sehen.“ Mit Blick auf die Handlungsspielräume von sozialen Akteur_innen und Bewegungen stellt sich die Frage, ob am Ende von Gentrifizierung notwendigerweise Ökonomisierung und somit Ausschluss bestimmter Bevölkerungsschichten stehen muss oder ob der Prozess auch in eine andere Richtung „kippen“ kann, bei der heterogene Lebensentwürfe und das Zusammenleben im Mittelpunkt stehen?

 

Armin Kuhn stellt fest, dass schon die Hausbesetzer_innen der 1980er Jahre z.B. in Berlin-Kreuzberg für „Freiräume“ kämpften, von denen aus ihre Forderungen an die Öffentlichkeit herangetragen wurden: „nach einem Ende der Immobilienspekulation, nach einer an den Bewohnerinnen und Bewohnern orientierten Stadtentwicklung und nicht zuletzt nach selbstorganisierten Freiräumen jenseits kapitalistischer Verwertungslogik und staatlichem Zugriff“. Doch die in der Folge erkämpfte Öffnung der staatlichen Politik gegenüber ihren Forderungen erwies sich „als funktional für eine neoliberal umgestaltete Stadtpolitik. … Die „behutsame Stadterneuerung“ wurde ab den 1990er Jahren zu einem Vehikel für eine Aufwertung der innerstädtischen Viertel im Osten Berlins. Subkulturen passten sich reibungslos in Strategien der Kommerzialisierung und der „Standortpolitik“ ein“. Im Zuge einer neuen Welle von Hausbesetzungen im Osten Berlins zu Beginn der 1990er Jahre reagierte die Stadtverwaltung ähnlich wie schon zuvor: „Spaltung und Vereinnahmung, Mietverträge und Subventionen für die einen, Kriminalisierung der anderen“.1

 

Um den durch Gentrifizierung ausgelösten Verdrängungsprozessen etwas entgegenzusetzen, hält Gerhard Rauscher es für bedeutsam, dass sich gerade die alternative Kultur über ihre Rolle bewusst wird und reflektiert, wie sich ihre Gegenwart auf einen Stadtteil auswirkt. Obwohl Künstler_innen und Studierende gemeinhin zu den „Pionier_innen“ gezählt werden, welche die Gentrifizierung lostreten, können sie sich im Bewusstsein der eigenen Rolle der Gentrifizierung auch widersetzen. So wurde etwa im Rahmen der Kampagne „Recht auf Stadt“ in Hamburg den vom Rausschmiss bedrohten Mieter_innen Unterstützung angeboten.

 

Epizentren für eine Stadterneuerung von unten

 

Dem Paternalismus der Behörden wirken Aktivist_innen wie Barbara Graf und Willi Hejda vom Guerilla Gardening Netzwerk mit der Praxis der Selbstorganisation entgegen. Das Lebensumfeld soll nicht Behörden oder Firmen überlassen werden, sondern es besteht der Anspruch, dass Menschen die Gestaltung ihres Alltags in die eigenen Hände nehmen. Aus dem Verständnis heraus, dass der öffentliche Raum uns allen gehört, ist Guerilla Gardening für Barbara Graf eine Methode, den öffentlichen Raum zu gestalten. Willi Hejda sieht darin eine Möglichkeit, sich die meist brachliegenden Flächen, die man zum Anbau eines Gartens benötigt, direkt anzueignen und einer kollektiven Nutzung zuzuführen, ohne erst mühsam den Behördenweg zu beschreiten und ohne sich den Zwängen der ökonomischen Verwertung zu unterwerfen. Es geht dabei aber auch um allgemeinere Fragen nach der Ernährungssouveränität und Selbstversorgung einer Stadt sowie darum, „ob nicht eine Stadt anders und besser funktionieren würde, wenn es mehr Grünflächen und Begegnungsräume gibt, wo sich die Nachbarschaft treffen kann“.

 

Für Julia (*), eine Besetzerin des „Epizentrums“, wird durch die Bewahrung von Autonomie vermieden, dass soziale Bewegungen für die Zwecke der ökonomischen Aufwertung instrumentalisiert werden. Erst durch den Abschluss von Verträgen seien Projekte wie die Arena oder das WUK zu dem geworden, was sie heute sind: ein kleiner Baustein der Gentrifizierung. Hingegen erachtet es die Besetzerin Jacqueline (*) für ein Projekt wie das „Epizentrum“ zwar als schwierig, sich aus dem Prozess auszuklammern, denn die Aktivist_innen interagieren in dem Raum und werden somit zu einem Teil der Prozesse in ihrer Umgebung. Dennoch sieht Jacqueline das weniger als einen Schritt in Richtung Gentrifizierung, sondern vielmehr als eine Insel inmitten eines bereits gentrifizierten Stadtteils von Wien.

 

Das theoretische Konzept vom „Recht auf Stadt“ des französischen Philosophen und Raumtheoretikers Henri Lefebvre weist auf eine Stadterneuerung, die sich den Tendenzen zur Ökonomisierung und bürokratischen Regulierung entzieht. Klaus Ronneberger zufolge stellte Lefebvre in seinem 1970 erschienen Werk „Die Revolution der Städte“ den „schöpferischen Überschuss“ der Stadt, „der über die beschränkte Rationalität der Ökonomie und der administrativen Planung hinausgeht“, in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Der Entfremdung und den regulierten Verhaltensnormen der modernen Stadt stellte Lefebvre das „Städtische“ entgegen, das „Bedürfnis nach einem vielseitigen, abwechslungsreichen Lebenszusammenhang. Das „Recht auf Stadt“ bedeutet deshalb für Lefebvre auch, das „Zentrum“ als Ort der Kreation und der Urbanität wiederzufinden.“ Zumindest historisch konnte sich Lefebvres Ansatz trotz der allgemeinen Aufbruchsstimmung nach 1968 nicht durchsetzen, denn eine Systemveränderung blieb aus. „Vielmehr gelang es dem Kapitalismus durch neue Identitäts- und Konsumangebote auf bestimmte Anliegen der sozialen Bewegungen einzugehen und Forderungen nach „Autonomie“ und „Kreativität“ für seine Zwecke zu instrumentalisieren.“ Nicht zuletzt deshalb wird heute „das gesamte städtische Leben vornehmlich als Ressource angesehen, die es auszubeuten und marktförmig zu verwerten gilt.“2

 

Aber vielleicht lässt sich das „Recht auf Stadt“ gerade in Zeiten der Krise wieder beleben. Das Mitte Oktober in Wien-Neubau besetzte „Epizentrum“ zeichnete sich von Anfang an durch seine Offenheit für Menschen aus, die neugierig waren, was dort vor sich geht. Dabei wurden den Ideen der Menschen in dem weiträumigen Haus kaum Grenzen gesetzt: Bereits in den ersten Tagen entstanden ein Kost-Nix-Laden, Kreativ- und Schlafräume sowie ein Filmstudio – weitere Pläne reichten von Werkstätten, Infoladen und Café bis zu Bibliothek und Volxküche. Die Namensgebung „Epizentrum“ für das nach drei Wochen kreativen Schaffens polizeilich geräumte Haus ist daran angelehnt, dass ein Erdbeben im geographischen Bereich für Verschiebung steht. Für die Besetzerin Sara (*) kann Bewegung dadurch entstehen, dass jedes Haus für sich ein Epizentrum ist, und kann Veränderung durch viele besetzte Häuser angeregt werden. Umgelegt auf die Gesellschaft soll das „Epizentrum“ also als ein Knotenpunkt von vielen aufgefasst werden, von denen aus die Sozialstruktur und die Geographie der Stadt sich verändern.

 

(*) Name geändert

 

1 Armin Kuhn: Illegal, legal, Ikea-Regal; in: Jungle World 15 vom 10.4.2008

2 Klaus Ronneberger: Das Recht auf Stadt. Die Geschichte einer Parole; in: Jungle World 26 vom 30.6.2011

 

Teil 1 veröffentlicht in: Augustin 313 (25.01.-07.02.2012)

Teil 2 veröffentlicht in: Augustin 314 (08.02.- 21.02.2012)

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„Mi Grätzel es tu Grätzel“ https://loukanikos161.blackblogs.org/2018/06/12/barrio-simmering/ Tue, 12 Jun 2018 08:55:37 +0000 http://loukanikos161.blackblogs.org/?p=41  

Überlegungen, was Stadtteilarbeit in Simmering bewegen kann

 

Simmering liegt am Rand von Wien. In jedem Fall geographisch, aber vielleicht auch sozial. Fragt man Außenstehende, was sie mit dem 11. Wiener Gemeindbezirk spontan assoziieren, so bekommt man mitunter Antworten zu hören wie „Zentralfriedhof“ oder „Müllverbrennung“. Jedoch fehlt in dieser Wahrnehmung, dass sich in Simmering genauso belebte Orte finden wie anderswo, mit dem Unterschied, dass der 11. Bezirk zur Peripherie und nicht zum urbanen Zentrum von Wien gehört. Zudem stellt sich die Frage, wie der öffentliche Raum von den BewohnerInnen Simmerings selbst wahrgenommen wird: als allgemein zugänglicher Ort, der von den vielfältigsten Menschen aus den verschiedensten Gründen besucht und genutzt wird und wo ein soziales Miteinander stattfindet, ein Ort des Kennenlernens und der Kommunikation, der bunt gestaltet und mit Leben erfüllt werden will – oder als nüchterner Ort der kommerziellen Tätigkeiten, des effizienten Verkehrs und der städtischen Infrastruktur?

 

Um sich einer Antwort darauf anzunähern, lohnt sich eine Auseinandersetzung mit den Aktivitäten der Stadtteilarbeit in Simmering. Denn gerade die Sichtweisen von Menschen, die bereits aktiv in die Gestaltung des öffentlichen Raumes involviert sind, können den Blick erweitern und neue Horizonte eröffnen, was alles im Bezirk möglich ist, das die engen Grenzen städtischer Verwaltung und ökonomischer Verwertung überschreitet. Durch das kreative und selbstbestimmte Tätigwerden im eigenen urbanen Umfeld wird letztlich auch das „Recht auf Stadt“ greifbar und es harrt so der Verwirklichung für jeden Bewohner und jede Bewohnerin der Stadt.

 

Fragend gehen wir voran

 

Um herauszufinden, was den Leuten im Bezirk und im Grätzel unter den Nägeln brennt, liegt es nahe, sich zunächst forschend und fragend auf den Weg zu begeben. So weist Pfarrer Carsten Marx vom evangelischen Gemeindezentrum Arche darauf hin, dass man Antworten erwarten darf, „wenn man den Menschen begegnet und ganz konkret Fragen stellt“. Auch in der Arbeit der Gebietsbetreuung spielt es eine wichtige Rolle, bei städtischen Umgestaltungen wie geplanten Bauvorhaben die Meinung der Bevölkerung vor Ort einzuholen und in kommunale Prozesse zu integrieren, so Andrea Breitfuss von der GB*3/11. So werden etwa im Rahmen eines mobilen Würstelstandes auf der Simmeringer Hauptstrasse unter dem Motto „Gib deinen Senf dazu“ PassantInnen befragt, was ihnen an der Strasse gefällt und was nicht. Hintergrund für diese Aktion ist laut Breitfuss eine allgemeine Unzufriedenheit der BewohnerInnen mit Entwicklungen wie dem häufigen Auszug und Neueinzug von Geschäften. Es gehe dabei vor allem darum, das Image der Simmeringer Hauptstrasse zu verbessern, da diese eigentlich eine funktionierende Geschäftsstrasse sei.

 

Erforschung der Bedürfnisse im Grätzel

 

Zur Arbeit der GB*3/11 gehört neben dem Koordinieren verschiedener urbaner Akteure und Institutionen auch die konkrete Aktivität im Viertel. Wenn die MitarbeiterInnen der GB*3/11 in ein Grätzel gehen und feststellen, dass es zB an Bildungsmöglichkeiten mangelt, dann werden Institutionen gesucht, die entsprechende Ressourcen anbieten können: „Wir versuchen vorher auch schon herauszukriegen, was braucht ein Viertel, was brauchen die Leute vor Ort? Das ist immer wieder ein Schauen, ein Analysieren und Menschen zusammenbringen, über Themen der Versuch, Impulse anzustoßen in verschiedenen Bereichen“, so Andrea Breitfuss.

 

Das Kulturzentrum Centro Once soll nach der Vorstellung seines Obmannes Juan Neira ein Laboratorium sein, wo Menschen sich treffen und Verschiedenes lernen können. Besonders Menschen aus diversen Herkunftsländern von Vietnam über Chile bis Somalia finden dort eine Plattform, um ihre Sprache, Tänze, Musik und Theater zu kultivieren. Und es geht auch darum, eine gemeinsame Sprache zu finden und sich auszutauschen. In diesem Sinne leistet das Centro Once einen Beitrag zu einer „Integration von unten“, die von den Betroffenen selbst in die Hände genommen und bestimmt wird. Juan Neira: „Viele Menschen kommen hier her, um etwas zu lernen, (..) und zu helfen. (.. ) Ziel ist der Mensch, keine politische Idee, außer Humanismus. Keine Meinung ist besser als die andere, keine Hautfarbe ist schöner als diese, keine Sprache ist weniger schön als die andere. Also da treffen sich Menschen.“ So erlebt Neira viele schöne Momente und zwischenmenschliche Höhepunkte im Centro Once und meint über seine Arbeit: „Das ist wie eine Brücke, (um) zu diesem Laborhaus zu kommen“, wo verschiedene kulturelle Erfahrungen zusammentreffen.

 

Der Verein Balu & Du widmet sich ganz der Kinder- und Jugendarbeit, im Sommer hauptsächlich durch die Parkbetreuung und Spiele mit freizeit- und erlebnispädagogischem Hintergrund sowie Ausflüge und im Winter verstärkt durch verschiedene Aktivitäten in den Räumlichkeiten des Vereins. Zu den Prioritäten des Vereins gehören die Erweiterung der Handlungsspielräume von Kindern und Jugendlichen, die Förderung von Selbstbestimmung, Kreativität und Bildung im weiteren Sinne sowie eine gender-gerechte Arbeitsweise, die Bekämpfung von Diskriminierung und die Gewaltprävention. Dabei sind Obmann Norbert Gollinger zufolge der ständige Kontakt mit den Menschen in der Umgebung und ein regelmäßiges Angebot sehr hilfreich dabei, Beziehungen zu den Leuten im öffentlichen Raum aufzubauen – Balu & Du ist im Laufe der Zeit zu einem Ansprechpartner für verschiedene Anliegen nicht nur von Kindern und Jugendlichen geworden. Mobile Teams von SozialarbeiterInnen durchforsten abendlich die Grätzeln mit wachsamen Augen für Konflikte oder infrastrukturelle Mängel. Dabei soll darauf geachtet werden, möglichst schon präventiv zu wirken und wenn bereits ein Konflikt ausgebrochen ist, so greifen die MitarbeiterInnen vermittelnd ein.

 

Partizipation und Streit um den öffentlichen Raum

 

Der Klubobmann der Simmeringer Grünen, Herbert Anreitter, weist darauf hin, dass zwar bei den Grünen eine grundsätzliche Offenheit für Inputs aus der Nachbarschaft besteht, jedoch schränkt er ein, dass die Partizipation dort eine Grenze findet, wo „Dinge gefordert werden, die unseren Prinzipien zu wider laufen“. Man könne sich nicht lange mit Anliegen aufhalten, die überspitzt formuliert darauf hinauslaufen, „weniger Radwege und mehr Parkplätze“ zu verlangen. In konkreten Fällen wissen aber die Menschen, dass sie sich auf die Grünen verlassen können, so wurde auf Druck der Grünen durchgesetzt, dass die B228 zumindest in den fünf Jahren der rot-grünen Stadtregierung nicht durch das Wohngebiet beim Gasometer gebaut wird.

 

Auch für die GB*3/11 spielt es eine wichtige Rolle, im Rahmen ihrer koordinierenden Aktivitäten auch ein Meinungsbild der BewohnerInnen mit einzubeziehen. Es gilt dabei ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass auf der Strasse mehr passieren kann und andere Dinge möglich sind als nur der gewohnte Verkehr. Die MitarbeiterInnen der GB*3/11 versuchen – auch durch Aktionen – Raum für einen Diskurs zu schaffen, „um andere Ideen in den Köpfen entstehen zu lassen. Wir stellen Liegestühle auf und machen zusammen mit dem Centro Once ein Strassenfest.“ Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine Grundlage für die Meinungsbildung schon lange im Vorfeld eines etwaigen Bauvorhabens geschaffen werden muss: „Wir halten es nicht für so sinnvoll, wenn man immer nur dann, wenn jetzt gleich etwas gebaut werden soll, die Leute quasi überfällt, (..) weil viele Menschen sich mit dem öffentlichen Raum gar nicht so auseinander setzen“, so Andrea Breitfuss. Bei Interessenkonflikten im öffentlichen Raum versucht die GB*3/11 vermittelnd und ausgleichend einzugreifen und durch beratende Gespräche den Konflikt zu entschärfen, etwa dann, wenn eine Hausverwaltung keine Bereitschaft zeigt, mit den MieterInnen zu kommunizieren. So befördert Breitfuss zufolge oft schon das auf den Tisch bringen des Konfliktes eine gewisse Offenheit, die eigene Position zu relativieren.

 

Für Norbert Gollinger von Balu & Du ist die Partizipation von Kindern und Jugendlichen ein wichtiges Anliegen. Zum einen sollen sie mitbestimmen, was im Rahmen der Aktivitäten des Vereins passiert, zum anderen werden die Sichtweisen der Kinder und Jugendlichen bei Bauvorhaben im öffentlichen Raum eingebracht. So werden etwa Workshops an Schulen durchgeführt, um bei der Anlage eines neuen Spielplatzes die Bedürfnisse der Kinder herauszufinden – konkret haben die Ideen der Kinder schon ihren Ausdruck in den Spielplätzen beim Ostbahn 11 Platz und im Braunhuber Park gefunden, die ganz nach den Vorstellungen und Wünschen der Kinder gestaltet wurden.

 

Gerade auf der Ebene des Stadtteiles ist nach Ansicht von Pfarrer Marx die partizipative Demokratie, die in den letzten Monaten in aller Munde ist, am leichtesten umzusetzen, denn „was die Menschen vor Augen haben, damit können sie umgehen“. Das Grätzel, wo sie zu Hause sind, ist das Umfeld, wo die Leute am ehesten reflektieren können, welche Anliegen sie betreffen und ihnen wichtig sind. Eine Einschränkung ergibt sich daraus, dass die meisten Menschen neben Arbeit und Familie kaum noch Zeit haben, sich mit solchen Fragen zu befassen.

 

Für den Aktivisten und Sozialarbeiter im Untergrund Carlos Rojas braucht Partizipation aber auch eine hohe Frustrationstoleranz. Der langjährige Bezirksrat der Grünen in Simmering musste erleben, wie viele seiner Anträge abgelehnt wurden. Andere wurden zwar einstimmig angenommen, passiert ist jedoch nichts – so zB sein Antrag für die Asphaltierung eines Wegstückes bei einer Bushaltestelle in der Nähe von Macondo. Seit 20 Jahren wird seitens der BewohnerInnen von Macondo der Dialog mit den politisch Verantwortlichen gesucht, jedoch gewinnt man den Eindruck, dass die Gemeinde Wien ihr Gegenüber nicht als Gesprächspartner wahrhaben möchte. Für Rojas stellt sich daher die Frage, ob der diplomatische Ton noch ausreicht, um sich Gehör zu verschaffen. Mit Blick auf andere Länder fällt auf, dass es eine ganz andere Demonstrationskultur gibt und es ist üblich, durch spektakuläre Aktionen des zivilen Ungehorsams die Öffentlichkeit auf Missstände aufmerksam zu machen.

 

Ein steiniger Weg

 

Ein Problem, mit dem Stadtteilarbeit prinzipiell umgehen muss, sind die vorhandenen Ressourcen, sowohl in personeller wie auch materieller Hinsicht. So kann etwa das Centro Once, das nur durch ehrenamtliche Mitarbeit und unter prekären finanziellen Verhältnissen am Laufen gehalten wird, keine großen Sprünge machen und die Stahltreppen in den Keller konnten erst nach sechs Jahren durch eine Steinstiege ersetzt werden. Auch der GrünRaum Leberberg, das zwischen Ende 2007 und Anfang 2011 bestehende Lokal der Simmeringer Grünen, hatte mit chronischer Unterbesetzung zu kämpfen. Es war der Versuch, in einer Wohnumgebung Fuß zu fassen, die gemessen an den Wahlergebnissen für die Grünen eher ein „schwieriges Pflaster“ darstellt, so Herbert Anreitter. Mit dem GrünRaum Leberberg wurde auch der Versuch unternommen, abseits der Arbeit in den Gremien eine Anlaufstelle für alle Altersgruppen aufzubauen, wobei Angebote wie das Projekt „Speak up Leberberg“ sich speziell an Jugendliche richteten. Laut Anreitter seien solche Veranstaltungen am besten bei den Menschen angekommen, die auf einer niederschwelligen Ebene politische Botschaften mit Spiel und Spass verbunden haben wie zB ein Tischfußballturnier. Auch den Foto-Workshop für Mädchen sieht Anreitter positiv, denn für die Mädchen habe sich das Thema „Mit einander Leben in Wien“ als wichtiges Anliegen herauskristallisiert. Explizite Aufforderungen zur Mitarbeit seien jedoch von den Jugendlichen weniger angenommen worden. Vielleicht sind die Grünen mit ihren Botschaften für ein gutes Zusammenleben zu direkt an die Leute herangetreten, übt Anreitter Selbstkritik, dennoch war der GrünRaum Leberberg ein spannendes Experiment, das primär an den finanziellen Mitteln letztlich gescheitert ist. Zudem haben sich der Antifaschismus und Antirassismus gerade in dieser Gegend als drängende Themen heraus gestellt, was sich nicht zuletzt darin ausdrückte, dass die Grünen zwei Mal Hakenkreuz-Schmiererein von der Fassade des GrünRaumes entfernen mussten.

 

Bezogen auf ein latentes Gewaltproblem im Bezirk und zahlreiche soziale Probleme weist Norbert Gollinger darauf hin, dass die MitarbeiterInnen von Balu & Du darauf reagieren, indem sie die Räumlichkeiten häufiger aufsperren und öfter in den Parks unterwegs sind. Der Verein ist beratend tätig und vermittelt Kinder und Jugendliche, die Opfer von Gewalt sind, an die entsprechenden Einrichtungen weiter, selten auch durch Begleitung. Einen Beitrag zur Gewaltprävention leistet Balu & Du dadurch, dass klare Grenzen gezogen werden und aufgezeigt wird, dass Gewalt nicht akzeptiert wird.

 

Juan Neira stellt fest, dass es in Chile, von wo er als junger Erwachsener vor der Pinochet-Diktatur geflüchtet war, eine ganz andere soziale Kultur gibt als in Österreich. Zwar leiden die chilenischen Armen und ArbeiterInnen eine größere Not und Entbehrung als hier, dennoch gibt es in Chile weniger das Problem der sozialen Vereinsamung, da man sich dort täglich auf der Strasse trifft. Im Centro Once bemerkt er manchmal Integrationsprobleme, jedoch weniger zwischen MigrantInnen und Einheimischen, sondern häufiger bei Einheimischen, die gewisse Berührungsängste und Schüchternheit an den Tag legen, wenn sie das Centro Once zum ersten Mal besuchen – eine Art von Integrationsproblem, das es etwa in den chilenischen Armenvierteln einfach nicht gibt, so Neira. Ähnliche Erfahrungen hat das Centro Once ganz zu Beginn gemacht, als es in der Nachbarschaft noch Vorurteile gab, diese wurden durch das Kennenlernen des Centro Once über die Jahre abgebaut. Die Leute begrüßen Juan Neira inzwischen kumpelhaft mit „Amigo“, wenn sie ihn auf der Strasse treffen, und so feierte das Kulturzentrum am 15.9. bereits sein 10-jähriges Bestehen mit einer Hommage an den chilenischen Musiker Victor Jara.

 

„Integration“ besitzt auch für die GB*3/11 eine Relevanz, jedoch in einem weiter gefassten Sinne als nur die in der gesellschaftlichen Debatte übliche Beschränkung auf Migration. Es geht Andrea Breitfuss zufolge darum, dass alle Menschen in einem Viertel teilhaben können. Es betrifft also auch Fragen wie Barrierefreiheit, Sprachkompetenzen und Bildung, von denen sehr viele Menschen betroffen sind. Darin, das Zusammenleben zu stärken, sieht die GB*3/11 ihre Aufgabe.

 

Pfarrer Marx beobachtet gerade in Simmering eine gewisse Skepsis und Vorbehalte gegenüber allem, was den Eindruck der Erneuerung und Umwälzung erweckt. Es sei schon schwierig genug, die Menschen zum Mitarbeiten und Planen bei Angelegenheiten ihres Grätzels zu bewegen. Ein Problem sieht er auch darin, dass die kommunale Politik in Wien, gerade unter Rot-Grün, es nicht ausreichend zu vermitteln vermag, was sie erreicht hat, weshalb der Spielraum für soziale Veränderungsprozesse hier nicht gerade berauschend ist. Insgesamt brauche man in Simmering einen langen Atem, um etwas durchzusetzen oder auch nur Verbesserungsvorschläge zu machen. Denn die „Menschen (nehmen) gewisse Zuckerln einfach nicht an (..) und wissen gar nicht, wie schön manches Zuckerl sein und schmecken kann.“

 

Balu im Niemandsland von Macondo

 

Für Carlos Rojas stehen die Kreisky-Jahre für eine andere, nämlich ernsthafte Integrationspolitik. Und zwar in einem weiteren Sinne: es gab mehr direkten Kontakt zu PolitikerInnen und die Menschen waren damals leichter dazu zu bewegen, für allgemeine Freiheiten und gegen Gewalt, von Kurdistan bis Lateinamerika, auf die Strasse zu gehen. Diesen Zusammenhalt und die Solidarität vermisst Carlos Rojas in der heutigen Politik, denn selbst die Grünen haben sich von ihrer ehemals widerständigen politischen Praxis verabschiedet. Der Kern des Problems in Macondo besteht Rojas zufolge darin, dass in dem gleichen Maße wie das Klima in Macondo an sozialen Spannungen zugenommen hat, sich die Politik aus der Verantwortung zurückgezogen hat. Beispielhaft lässt sich das daran erkennen, dass der Österreichische Integrationsfonds seine Aktivitäten in Macondo aus finanziellen Gründen eingestellt hat – eine grob fahrlässige Vorgehensweise, denn nun sind die Menschen in der Flüchtlingssiedlung vollkommen auf sich allein gestellt. Zu allem Überdruss wurde den BewohnerInnen nun auch noch ein Schubhaftzentrum für Familien hingepflanzt. Es geht laut Rojas um die zentrale Frage, welche Verantwortlichkeiten daraus erwachsen, dass Macondo eine Flüchtlingssiedlung ist. Zwar befindet sich das Areal im privaten Eigentum der Bundesimmobiliengesellschaft (BIG), die von den BewohnerInnen ja auch Einnahmen durch Miete und Pacht lukriert, aber zugleich werden die grundlegenden Rechte und Bedürfnisse der BewohnerInnen, zB auf Müllentsorgung, Gartenpflege und Sicherheit nicht ernst genommen. Den BewohnerInnen wird nicht einmal ein Recht auf eine Betriebskostenabrechnung gewährt, sie wissen also gar nicht, was mit ihrem Geld tatsächlich geschieht. Während es zwar gewisse Regeln gibt, wie die Miete zu bezahlen, fehlen ganz klar solche Spielregeln, die für ein friedliches Zusammenleben notwendig wären. Rojas zufolge gilt Macondo den Behörden gewissermaßen als Niemandsland, wo kein Mensch lebt, und daher fühlt sich niemand als zuständig. Von offizieller Seite wird Macondo aufgrund der Eigentumsverhältnisse nicht als Teil von Simmering betrachtet. Carlos Rojas hofft deshalb, dass ein Konsens gesucht wird, um einen Weg zu finden, aus Macondo auch rechtlich eine Siedlung zu machen, in der es Verantwortlichkeiten gibt. Ob die Gemeinde den Grund nun kauft oder eine andere juristische Möglichkeit offen steht, müssen Fachleute entscheiden. So besteht im Moment zB der Sportplatz nur aus Sand, Steinen und Löchern, was die Verletzungsgefahr bei den Jugendlichen enorm steigert – in welcher anderen Siedlung von Wien würde die Gemeinde das einfach hinnehmen? Carlos Rojas wünscht sich, dass Macondo eine Siedlung wie der Leberberg oder Thürnlhof wird – eine Siedlung, „die zu Wien gehört, ein Teil Wiens, den wir auch im Grundbuch eintragen, als öffentliches Gut. Und plötzlich hätten dort die MA 40 und MA 30 zu tun, also Kanal, Garten, Strassen und Beleuchtung“. Denn „überall gibt es Parks von der Gemeinde. Wenn sich da ein Spielgerät als gefährlich erweist, ist eine Behörde da, die es sperrt, saniert oder auswechselt. (..) Es gibt eine gewisse Reaktion, weil die BewohnerInnen geschützt werden müssen“ – nicht jedoch in Macondo, so Rojas. Die Polizei kommt nur dann nach Macondo, wenn bereits ein Konflikt eskaliert ist, wie vor einigen Jahren als es mehrere Schwerverletzte gab, u.a. eine Pensionistin aus Ungarn, die versucht hatte, schlichtend einzugreifen. Carlos Rojas hält angesichts der Tatsache, dass viele Flüchtlinge, die schwere Traumatisierungen erlitten haben, in Macondo wegen der fehlenden Betreuung auf sich allein gestellt sind und den daraus erwachsenden Konflikten zwischen den BewohnerInnen eine Mediation für äußerst wichtig, um die Lage zu entschärfen. MediatorInnen, die bei Nachbarschaftskonflikten intervenieren, „müssten (in Macondo) ständig sein, weil es einfach ein Pulverfass ist!“ appelliert Rojas.

 

Die Kleingartensiedlung in Macondo geht darauf zurück, dass die ansässigen AsylwerberInnen das ursprünglich bewaldete Gebiet selbständig zu kultivieren begannen. Mit der Übernahme des Grundstückes durch die BIG wurde von den KleingärtnerInnen Pacht verlangt, die sich viele nicht leisten konnten und daher ihren Garten aufgeben mussten. Die KünstlerInnengruppe Cabula 6, die einige Zeit in Macondo aktiv war, sah in der Idee eines Gemeinschaftsgartens eine sinnvolle Weiterführung ihres Projektes, um den landlos gewordenen GärtnerInnen wieder eine Chance zum Gärtnern zu verschaffen. Cabula 6 beauftragte den Verein gartenpolylog mit der Organisation und seit 2010 gibt es in Macondo nun den Nachbarschaftsgarten, an dem sich Menschen aus verschiedensten Herkunftsländern beteiligen. Der Garten soll ebenso Handlungsfreiräume außerhalb der eigenen vier Wände eröffnen wie auch durch gemeinsames Gärtnern die sozialen Beziehungen zwischen den AsylwerberInnen vertiefen. Selbst die Tatsache, dass neu zugezogene Flüchtlinge nur wenige Jahre in Macondo bleiben dürfen, hält sie nicht von einer Teilnahme ab, dazu David Stanzel von polylog: „Es gibt viele afghanische Frauen, die sehr glücklich sind, dort zwei Jahre lang ihren Koriander anbauen zu können, meistens in Monokultur, so große Plantagen“. Für Stanzel ist das Schöne daran, dass verschiedene Kulturen – nicht nur Herkunftsländer, sondern auch soziale Kulturen – zusammenkommen und gemeinsam gärtnern und essen und die Stimmung zwischen den Menschen eine sehr wohlwollende ist. Das Gärtnern hat für manche Flüchtlinge, die oft sehr wilde Erfahrungen hinter sich haben, etwas Heilsames und kann dabei helfen, traumatische Erlebnisse zu bewältigen und sich hier einzurichten.

 

Obwohl Macondo quasi als „ex-territoriales Gebiet“ und nicht als Teil von Simmering betrachtet wird, duldet die Bezirksvertretung die Präsenz von Vereinen wie Balu & Du. Der Verein ist regelmäßig in Macondo anwesend und sucht den Kontakt zu den Kindern und Jugendlichen vor Ort, die diversen Aktivitäten wie Ausflüge werden von diesen begeistert angenommen. Seit der Österreichische Integrationsfonds einen Teil seiner Aktivitäten in Macondo eingestellt hat, gibt es immer wieder Versuche, an runden Tischen die Verantwortlichen ins Gespräch zu verwickeln, denn es gibt ein starkes Bedürfnis, dort wieder Gemeinwesenarbeit zu etablieren. Die BewohnerInnen von Macondo brauchen Ansprechpartner und soziale Unterstützung, doch wird dies dadurch erschwert, dass die Zuständigkeiten nicht klar definiert sind, so Norbert Gollinger. In positives Erstaunen versetzt hat viele Personen der Vorschlag der BIG, ein ähnliches Modell für Macondo anzuwenden wie es im grünen Prater bereits üblich ist: Zumindest Teile des Geländes könnten von der MA 42 (Stadtgärten) verwaltet und de facto wie ein öffentlicher Raum behandelt werden.

 

Fazit

 

Vor diesem Hintergrund lässt sich die eingangs gestellte Frage dahin gehend beantworten, dass im Bezirk und im Grätzel die verschiedensten Interessen und Bedürfnisse auf einander treffen. Plattformen und Bemühungen, die Menschen zum selbstbestimmten und gemeinsamen Tätigwerden zu aktivieren, sind durchaus vorhanden – sei es nun das kulturelle Laboratorium im Centro Once, sei es der Nachbarschaftsgarten in Macondo oder auch die spielerische Erweiterung der Handlungsspielräume für Kinder und Jugendliche bei Balu & Du. Ob diese Angebote von den BewohnerInnen auch tatsächlich aufgegriffen werden, wird durch soziale Faktoren wie Zeit- und Ressourcenmangel erschwert. Dennoch tragen solche und andere Aktivitäten dazu bei, den Bezirk und das Grätzel zu einem lebendigeren und bunteren Ort zu machen. Zu wünschen wäre eine breitere Basis für eine derartige Belebung des öffentlichen Raumes durch eine Vervielfachung der Initiativen, die eine aktive Beteiligung der Menschen an der Entwicklung ihres Grätzels fördern. Doch helfen letztlich die schönsten Angebote wenig, wenn den Menschen zwischen der täglichen Arbeit und dem Konsum kaum mehr Zeit übrig bleibt, sich aktiv in den Stadtteil einzubringen. Vielleicht sollte sich die Gesellschaft hier prinzipiell Gedanken darüber machen, wie eine aktive Partizipation der Menschen im Grätzel erleichtert werden kann, etwa durch Arbeitszeitverkürzung (bei vollem Lohnausgleich), bedingungsloses Grundeinkommen oder auch ganz neue Modelle.

 

Zurück nach Macondo… Trotz all der Probleme fühlen sich vor allem die alteingesessenen BewohnerInnen als MacondianerInnen. Seinen Ausdruck findet dies in einem Graffiti in der Nähe der Siedlung: „Es mi Barrio“ – das ist mein Grätzel, hier wohne ich, steht dort geschrieben. Die Flüchtlinge aus Chile haben ein Bewusstsein mitgebracht, ihre Stimme zu erheben, mit dem Unterschied, dass sie damit ihr Leben – anders als unter Pinochet – hier nicht aufs Spiel setzen: „Für uns war es die einzige Form der Résistance, dass man soviel Mumm und Eier gehabt hat, auf die Strasse zu gehen, was verboten war – Ausgangssperre, Ausnahmezustand – und die sind trotzdem mit Farbe und Pinsel auf die Strasse gegangen und haben geschrieben „Weg mit der Diktatur!“ und „Tod Pinochet!“. Die Diktatur in Chile hat einen Traum zerstört, der von Millionen Menschen geteilt wurde, die Salvador Allende zum Präsidenten gewählt hatten. Carlos Rojas weiss aus seiner eigenen Familiengeschichte zu erzählen: „Mein Vater hat eine relativ gute Position gehabt, in seiner Arbeit. Trotzdem ist er mit meiner Mama und mit 100.000en auf LKWs gefahren, da waren Lehrer, Gewerkschafter, Professoren, Ingenieure, Ärzte, Bauern, alles, (..) und da wurden ohne Maschinen, jeder mit einer Schaufel, monatelang, ohne Entgelt (..) Strassen und ganze Autobahnen gebaut, von Menschenhand, von Leuten, die an etwas geglaubt haben, an eine bessere Zukunft. Da war weder eine Partei dahinter, noch gab es eine finanzielle Entschädigung. (..) Aus reiner Überzeugung und so wurde dieses Land aufwärts getrieben.“

 

unveröffentlicht (2012)

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Das Gaswerk des Volkes https://loukanikos161.blackblogs.org/2018/06/12/gaswerk-leopoldau/ Tue, 12 Jun 2018 06:46:49 +0000 http://loukanikos161.blackblogs.org/?p=33  

Der Leopoldau-Konflikt: Stadtplanung von oben oder von unten…

 

Wem gehört die Stadt?

 

Für das seit Jahren leerstehende Gelände des ehemaligen Gaswerks Leopoldau in Wien-Floridsdorf sollen nun in einem >kooperativen Planungsverfahren< verschiedene Szenarien einer möglichen Nutzung durchgespielt werden, wozu man viele Fachleute und drei Anrainervertreter_innen an einen Tisch bringt. Indessen fordern kritische Stimmen einen viel breiteren Diskussionsprozess, um dieses Gebiet in der Größe eines Stadtteils – einen der potenziell aufregendsten öffentlichen Räume in Wien – neu zu interpretieren.

In der Architektur des 1912 eröffneten kommunalen Gaswerks Leopoldau spiegelt sich ein Stück Geschichte unserer Stadt wider. Auf dem als Industriegebiet gewidmeten Areal finden sich Betriebshallen, Wohnhäuser, ein Wohlfahrtsgebäude mit eigenem Theatersaal und viel Grünfläche – 17 Gebäude stehen unter Denkmalschutz. Zwei riesige Kugelgasbehälter drücken dem Bild des Gaswerkes seinen charakteristischen Stempel auf. Im Norden des Geländes befindet sich eine Busgarage der Wiener Linien, die WEGA nutzt das Gebiet zu Übungszwecken und Wiengas nutzt Bestandsflächen zur Energiespeicherung. Gewisse Teile des Gebietes sind kontaminiert – in einem Endbericht nächstes Jahr soll festgehalten werden, ob das Gelände gesichert ist.

Ein 20-köpfiges Kernteam aus Stadtplaner_innen, Architekt_innen, Gemeindevertreter_innen, Wirtschaft, Anrainer_innen und diversen Fachleuten soll nun im Auftrag der eigens ins Leben gerufenen Neu Leopoldau Entwicklungsgesellschaft, bestehend aus der Wien Holding und Wiengas, in einem >ergebnisoffenen, kooperativen Planungsverfahren< ein städtebauliches Konzept erarbeiten, auf dessen Grundlage eine Umwidmung der südlich und zentral gelegenen Teile des Geländes stattfinden kann. Nach der Auswahl von drei Planungsteams durch ein Juryverfahren und der Wahl von drei Repräsentant_innen der Anrainerschaft bei einer öffentlichen Versammlung im vergangenen Oktober sind bis Anfang 2013 einige Workshops vorgesehen, bei denen das Spektrum an Meinungen und Fachexpertisen zu einem gemeinsamen Konzept zusammengeführt werden soll. Das Novum bestehe darin, so Stephan Barasits von der Wien Holding, dass die Anrainer_innen nicht wie sonst üblich erst im Nachhinein über ein abgeschlossenes Bauprojekt informiert werden, sondern dass sie von Anfang an über ihre gewählten Vertreter Einfluss nehmen können. Für Thomas Spritzendorfer von der Stadtplanung ist die Partizipation im Planungsverfahren in der gegenwärtigen Form ausreichend. Da es sich letztlich um einen Planungsprozess handle, müsse man darauf achten, eine >Kaffeehausdiskussion< zu vermeiden und es sei daher nicht redlich, „Stellungnahmen von Leuten einzuholen, wenn man noch gar nichts hat, was man auf den Tisch legen und zur Diskussion stellen kann“.

 

Drei Repräsentanten der Bewohner_innen – ein Witz

 

Das CIT Collective, eine Gruppe von Menschen aus sozialen, politischen, feministischen und künstlerischen Zusammenhängen, übt hingegen scharfe Kritik an dem Planungsverfahren. Das bislang noch selten angewendete Format räume zwar partizipative Handlungsmöglichkeiten ein, sei aber in der Praxis kaum partizipativ. Während schon beim Auswahlverfahren der Kreis der teilnehmenden ArchitektInnen eingeschränkt worden sei, lege die Stadtverwaltung auch den gewöhnlichen BürgerInnen große Hürden in den Weg, ihre Ideen zur Nutzung des Gaswerkes einzubringen. So blitzte das CIT Collective bereits vor mehr als einem Jahr mit einem Nutzungskonzept beim Büro von Stadträtin Maria Vassilakou ab; die Aktivist_innen fühlten sich übergangen, als sie schließlich über Umwege von der Ausschreibung erfuhren.

Ein eigenes Konzept einreichen möchten die AktivistInnen nun nicht mehr, denn sie hinterfragen kritisch gerade den Ablauf des Verfahrens. So hält eine Aktivistin die Wahl der drei Vertreter der Anrainerschaft nicht für repräsentativ, da nur ein beschränkter Teilnehmer_innenkreis informiert gewesen sei und an der Wahl teilgenommen habe. Auch kritisiert die Gruppe, dass das Ergebnis des ganzen Verfahrens unverbindlich letztlich nur als Grundlage für eine Umwidmung dienen wird. Die Aktivist_innen befürchten, dass nach einer Umwidmung einzelne Parzellen oder das gesamte Gelände verkauft und aufgewertet werden und am Ende von einer privaten Firma entschieden wird, welche Gebäude tatsächlich dort errichtet werden. Schließlich wollen sich die Aktivist_innen nicht instrumentalisieren lassen und vermissen Transparenz. „Wenn man sehr laut schreit, dann darf man vielleicht seine Idee heimlich noch hinten reinschieben, aber alle anderen werden weiterhin ignoriert. Das ist sicher nicht die Art, wie wir intervenieren wollen.“

Vom CIT Collective wird der massive Leerstand (bei gleichzeitigem Bau-Boom) und das Fehlen von leistbaren Räumen für Kultur bemängelt. Mit der Entdeckung des Areals des ehemaligen Gaswerkes habe sich ein Fenster geöffnet, um diesem Mangel entgegenzuwirken. Andererseits werden allgemeinere Fragen aufgeworfen, nämlich wie der öffentliche Raum in Wien genutzt wird und wer darüber überhaupt mitbestimmt. Nun wissen die Aktivist_innen auch von anderen Fällen, bei denen Menschen auf der Suche nach Räumlichkeiten von der Gemeinde Wien abgespeist wurden. Die Gruppe sieht sich daher als kritische Stimme, um solche Entwicklungen aufzuarbeiten und für die Öffentlichkeit transparenter zu machen, damit die Praxis der Stadtpolitik in Zukunft anders abläuft.

 

Ein Laboratorium der unbeschränkten Möglichkeiten

 

Theresa Schütz vom Fachbereich Örtliche Raumplanung an der TU Wien sieht das Areal des Gaswerkes als Raum der unbeschränkten Möglichkeiten, den es neu zu interpretieren und auf die Bedürfnisse der Stadtbewohner_innen abzustimmen gelte. Neue, noch unbestimmte Formen des Wohnens und Arbeitens und der Kultur können hier ausprobiert werden. Dazu sei es aber unerlässlich, das Gaswerksareal als öffentlichen Raum zu definieren. Es bedürfe eines offenen Kommunikations- und Handlungsraumes, der die Segmentierung der Lebensbereiche überwindet. Statt den Bewohner_innen Wiens klar voneinander getrennte Bereiche wie Wohnen, Arbeit und Freizeit zuzuweisen, könnten an diesem Ort innovative Wege beschritten werden, wo experimentiert wird und sich vieles vermischt. Nach der Vorstellung des CIT Collectives soll ein breiter und langfristiger Prozess der >Wunschproduktion< die diversen Bedürfnisse für eine Nutzung des Gaswerksareals erforschen, bei dem – ähnlich wie bei Park Fiction in Hamburg – nicht nur ein spezialisierter Fachkreis, sondern die Bewohner_innen selbst über mögliche Nutzungen nachdenken. Unter der Devise >Was war – was ist – was könnte hier sein?< sollen Nachbarschaftsgruppen sowie Institutionen vor Ort wie Schulen, Jugendzentren und die Bezirkszeitungen als Sprachrohre zu einer breiten Diskussion, auch über Internet, eingeladen werden. Für einen solchen Prozess ist eine Öffnung und Entschleunigung notwendig.

So hält es ein Aktivist für wichtig, >mit einem langsamen Prozess anzufangen, also nicht alles nach Schema F, sondern Tore auf, klein anfangen … immer wieder Veranstaltungen, die öffentlich nach Ideen fragen, sodass es von unten wächst.< In anderen Städten wie Amsterdam und Kopenhagen gibt es modellhafte Erfahrungen, wie alte Industriegebiete von sozialpolitischen Initiativen phantasievoll und langsam wachsend genutzt wird. Wenn man weiß, dass auf dem Gelände des Gaswerks Leopoldau frühestens in fünf Jahren etwas passieren wird, drängt sich die Frage auf, warum das Areal in diesem Zeitraum nicht einfach im Rahmen der Zwischennutzung für die Öffentlichkeit freigegeben wird.

 

http://citcollective.wordpress.com

 

veröffentlicht in: Augustin 333 (28.11.-11.12.2012)

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