Nachrichten vom Riot Dog https://loukanikos161.blackblogs.org One more Blackblog Wed, 27 Nov 2024 05:42:47 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.1 Text zum Feminismus von Hanna Herbst https://loukanikos161.blackblogs.org/2024/11/27/text-zum-feminismus-von-hanna-herbst/ https://loukanikos161.blackblogs.org/2024/11/27/text-zum-feminismus-von-hanna-herbst/#respond Wed, 27 Nov 2024 05:42:39 +0000 https://loukanikos161.blackblogs.org/?p=258 Mit dem Feminismus ist das so: Eigentlich würde ich lieber im Wald spazieren gehen. Ich würde gern eine Schafherde züchten, ich würde gerne öfter Romane lesen. Lieber hätte ich Zeit für Müßiggang, lieber würde ich Klavier lernen oder Gebärdensprache oder endlich rausfinden, warum Joghurt-Deckel diese rauen Punkte haben und ob Ampeln schneller grün werden, wenn man öfter drückt. Und eigentlich hätte ich gerne ein Buch mit Kurzgeschichten geschrieben. Aber das spielt’s halt nicht. Denn in der Sekunde, in der bestehende Strukturen hinterfragende Worte den Mund einer Frau verlassen, sammeln sich im Internet die Menschen zusammen, wie das einst im Mittelalter gewesen sein muss (wenn man den gängigen Filmen und Monty Python glaubt), und sie zeigen auf dich, und alle fangen in fieberhafter Aufregung an zu schreien, vor ihnen, das sei eine Feministin. Und dann hast du eine Aufgabe im Leben.

Ehe ich mich versah, nahm mir der Feminismus meine Berufsbezeichnung weg. War ich auf Podiumsdiskussionen kurz zuvor noch Journalistin gewesen, war ich auf einmal Feministin. »Es diskutieren Rechtsanwalt Sepp Hubendübel, Medienimperiumsbesitzer und Schriftsteller Franz Hackenbuchner, Schauspielerin Lise Huber und Feministin Hanna Herbst.« Eine ganz klare Einordnung, unter der meine Aussagen zu hören und zu werten waren. Ein Disclaimer. Und unter diesem Disclaimer waren auch alle Aussagen und Anliegen für viele quasi zu verwerfen, weil überzogen, weil hysterisch, weil männerfeindliche Männerhasserin. Weil Feministin.

Antifeministinnen und Antifeministen begegneten mir mit stolz – und das hatten sie nie getan, bevor ich nicht die Bezeichnung »Feministin« mit mir trug –, denn Antifeminismus ist nicht einmal tauglich für die Rebellion des gemeinen Stammtischrevoluzzers. Antifeministischen Aussagen muss kein »Das wird man ja wohl noch sagen dürfen« nachgestellt werden, weil es für viele vollkommen selbstverständlich zu sein scheint, dass man das ja sowieso noch sagen darf. Feministinnen, gegen die muss laut und stolz angekämpft werden, gegen Feministinnen, gegen die gehört das traditionelle Familienbild verteidigt, weil Feministinnen, die wollen Bewährtes zerstören, die wollen ja Jungs zu Mädchen machen und Mädchen zu Jungs und außerdem wollen sie Jungs im Wachstumsstadium für ein Jahr an einen Stuhl fesseln, damit ihre Muskeln verkümmern und Männer später nicht stärker sind als Frauen. Feministinnen, die handeln nur aus sexueller Frustration heraus, oder weil sie lesbisch sind, jedenfalls, weil sie zu lange keinen nackten Mann gesehen haben, weil ihre Anliegen sind doch längst geklärt. Wir sind doch alle längst gleichberechtigt, Frauen dürfen wählen, sie brauchen nicht mehr die Erlaubnis ihres Ehemannes, wenn sie arbeiten möchten, nachts arbeiten dürfen sie ja jetzt auch schon seit 2002. Das mit den Führungspositionen, da wollen die doch einfach nicht hin, wegen der Verantwortung und alles, in der Ehe vergewaltigen darf man sie auch nicht mehr und auf den Hintern greifen nicht und jetzt darf man als Mann ja sowieso nichts mehr, nicht einmal flirten, weil da kommst du ehe du dich versiehst unschuldig ins Gefängnis.

Dabei ist die Vision des Feminismus keine »weibliche Zukunft«, wie unsere erste Frauenministerin Johanna Dohnal einmal gesagt hat. Es ist eine »menschliche Zukunft«. Sprich eine Zukunft, von der alle Geschlechter profitieren: Nicht nur eins. Nicht einmal nur zwei. Alle. Und die Freiheit beginnt mit der Befreiung.

In diesem Kampf um Wahlfreiheit, um Entfaltungsfreiheit, gibt es natürlich die, die sich zu recht bedroht fühlen. Schließlich rütteln wir an Privilegien. Wenn wir möchten, dass alle gleichgestellt sind, dann gibt es die, die geben, und die, die bekommen müssen. Doch die, die geben müssen, haben es geschafft, einige derer, die bekommen würden, zu überzeugen, dass auch sie bei Chancengleichheit verlieren würden. Dabei hat das Teilen von Privilegien nichts mit Benachteiligung zu tun. Aber in einer Welt, in der das zu Anstrebende beruflicher Erfolg und ein SUV sind, möchten die Wenigsten abgeben. Also werden von den Regierenden Blendgranaten in die Debatte geworfen: Die Feministinnen, die sind männerfeindlich, die Ausländer, die sind schuld, dass du weniger Mindestsicherung kassierst, die Schwulen und Lesben, die wollen jetzt nur heiraten, aber wart noch ein paar Jahre, dann darfst du auf einmal dein Pferd ehelichen. Sie spielen die Bevölkerung gegeneinander aus und lachen sich dabei ins Fäustchen. Kürzen Menschen mit Behinderung 380 Euro im Monat, kürzen bei der Mindestsicherung, bevorteilen Unternehmen, zahlen der Außenministerin 250.000 Euro für ihre Hochzeit. Oder wie Minister Blümel unlängst in einer Diskussionssendung auf den Vorwurf, Reiche bekämen von dieser Regierung mehr und Arme weniger, antwortete: »Ja, das ist der Weg, den die Regierung gewählt hat.«

Wo es einmal Visionen gab, Kämpferinnen und Kämpfer für sozialen Fortschritt und Freiheit, gibt es heute Trumps, Putins, Erdoğans und vor unserer Tür: Einen Kanzler, der in einem Interview mit der Krone sagt: »Genauso falsch wie die Hetze ist die Träumerei.«
Mit dem Fehlen fortschrittlichen Denkens derer, die an der Macht sind, wird sich die Welt verändern. Aber nicht zum Guten. Ergo: Widerstand.

Die Soziologin Frigga Haug hat einmal gesagt: »Wir sollten fragen: Widerstand gegen was, mit wem und wofür? Widerstand bedarf einer Perspektive, eines Wohin, und er bedarf mehr als eines Individuums.« Zitat Ende.

Widerstand wogegen ist klar:

In Polen wird versucht, die Zugangsmöglichkeiten zu Schwangerschaftsabbruch mehr und mehr zu beschränken. Organisationen, die nur das Wort Schwangerschaftsabbruch erwähnen oder sie gar durchführen, bekommen von der US-Regierung keine Zuschüsse mehr. In Russland wird nach einer Gesetzesänderung häusliche Gewalt weniger hart bestraft und gilt nur noch als Ordnungswidrigkeit – außer es handelt sich um eine Wiederholungstat oder es wurden dabei Knochen gebrochen. Bei uns wird Gewalt gegen Frauen so lange ignoriert, bis sie von einem Ausländer ausgeht, die Grenzen der Selbstbestimmtheit der Frauen an nationale Grenzen gebunden. Währenddessen sagen Zahlen Folgendes:

In Österreich stieg die Zahl der – meist durch ihren Partner oder Ex-Partner – ermordeten Frauen in den vergangenen Jahren an. In Deutschland versucht alle 24 Stunden ein Mann, seine Frau zu töten. Jeden dritten Tag gelingt es einem.

In der Türkei, die auf dem Weg zu einem modernen, pro-europäischen Staat war, fordert der Präsident, der einmal als Reformer galt, dass alle Frauen mindestens drei Kinder, alle in Europa lebenden türkischen Frauen sogar mindestens fünf Kinder bekommen müssen. In einer Broschüre, die türkische Paare vor der Hochzeit bekommen, schreibt ein ehemaliger Mitarbeiter der staatlichen Religionsbehörde: »Eine Frau, die sich nicht für ihren Mann zurechtmacht, ihrem Mann als Herren im Hause nicht gehorsam ist, kann geschlagen werden«. Die bulgarische Regierung weigert sich, die Istanbul Konvention zu ratifizieren – ein Abkommen zur zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Brett Kavanough wurde Höchstrichter auf Lebenszeit und der US-Präsident entschuldigte sich bei ihm »im Namen der Nation« für das, was ihm vermeintlich angetan worden war. All das findet großen Zuspruch.

Genug Weltschmerz. Wieder zurück zu Frigga Haug. Wir sollten uns also fragen: »Widerstand gegen was, mit wem und wofür?«, sagt sie. Ich glaub, das können wir beantworten. Aber wie sie weiter sagt: »Widerstand bedarf einer Perspektive, eines Wohin, und er bedarf mehr als eines Individuums«.

Also: Widerstand wofür und wohin? Und wie?

Widerstand darf nicht nur Reaktion bedeuten. Zu oft reagieren wir dieser Tage einfach nur und schaffen selbst keine Gegenentwürfe. Aber es bleibt uns ja nichts anderes übrig. Denn wär die Welt ein heruntergekommenes Haus, dann würde während wir versuchen, das Dach zu reparieren, damit es nicht immer reintropft, jemand Steine durch alle Fenster werfen und während wir die Fenster ersetzen langsam ein Bulldozer anrollen.

Ich selbst hab das so gemacht: Ich hab mir ein neues Notizheft gekauft, weil ich neue Notizhefte liebe und produktiver bin, wenn ich in ein neues Heft schreibe. Und dann hab ich mir aufgeschrieben. 1.: Was ist die Welt, in der ich leben möchte. Und 2.: Was sind Baustellen, die ich behandeln möchte und kann. Wie kann ich für andere Frauen einstehen, wie kann ich für Mädchen einstehen, wie kann ich für andere Menschen einstehen. Wie kann ich denen helfen, die Hilfe benötigen und wie kann ich mir Hilfe holen, wenn ich sie selbst benötige. Um zu verändern, muss man nicht nur einen Hebel bedienen, das können und müssen ganz viele sein:

Zu einer besseren Welt gehört nicht nur die Gleichstellung von Mann und Frau. Es gehört genau so dazu, dass die historische Fehlentwicklung überwunden wird, es gebe nur zwei Geschlechter. Es gehört genauso dazu, dass nicht stets dem Individuum ein Versagen vorgeworfen wird, wo es strukturelle Probleme gibt, die sein Elend verschulden. Es gehört genau so dazu, dass die Spaltung der Gesellschaft in Gewinner und Verlierer zumindest nicht verschlimmert wird. Dass Vermögen gerechter verteilt wird. Dass Macht gerechter verteilt wird. Dass Menschen ihren Selbstwert nicht daraus ziehen müssen, wie erfolgreich sie beruflich sind und was sie sich deswegen kaufen können. Dass sie sich zwar eine Dachterrasse leisten können, aber keine Zeit haben, dort zu sitzen. Zu einer besseren Welt gehört, dass Lohnarbeit nicht anerkannter ist als die in die Unsichtbarkeit gedrängte Hausarbeit. Und dass sie daher auch gerecht verteilt ist. Weil es viele Mütter gibt, die trotz Kind in ihrem Beruf weiterkommen möchten und viele Väter, die ihre Kinder nicht nur die eine Stunde sehen möchten, bevor sie ins Bett gehen müssen.

Wir müssen eine Welt denken, in der Menschen Zeit haben, sich um sich selbst zu kümmern, und um die Menschen um sich herum, sich fortzubilden und selbst zu entwickeln, in den Wald zu gehen, um die nicht von Menschen und Autos zugemüllte Welt zu sehen und sich für sie und ihren Erhalt interessieren. Um einen umsichtigen Umgang mit Menschen, Tieren, der Natur und Dingen pflegen zu können. Die Entwicklung des Einzelnen ist die Voraussetzung für die Entwicklung aller.

Wir müssen also selbst aktiv sein und nicht immer nur reagieren – aber dürfen aufs Reagieren nicht vergessen, weil sonst auf einmal etwas weg ist, das lange erkämpft gewesen zu sein schien.

Also engagiert euch, geht in eine Partei, gründet selbst eine Partei. Geht im Wald spazieren, nehmt Gesangsunterricht, singt politische Lieder auf der Landstraße. Macht Menschen darauf aufmerksam, wenn sie sexistische, rassistische, homophobe Witze machen. Studiert Lehramt und seid die Lehrerinnen und Lehrer, die ihr immer gerne gehabt hättet. Bekommt Kinder und erzieht sie freier, offener, liebender, sagt ihnen, es ist egal, wer sie sind, solange sie gut zu anderen sind. Oder bekommt keine Kinder und vermittelt das Gefühl euren Nichten und Neffen oder dem Nachbarskind. Unsere Wissenschaftsministerin hat sich vor Kurzem in einem Interview über das Bildungssystem beschwert. Ihre Kritik: Gymnasien würden am Markt vorbei produzieren. Ein bisschen hat mir diese Kritik das Herz gebrochen. Menschen für einen Markt produzieren, das ist die Welt, in der wir leben. Hört auf, egoistische Menschen für ihr Verhalten zu belohnen. Lest Bücher, sprecht über Bücher. Schafft Räume, in denen konstruktiv diskutiert werden kann. Seid gut zu euch selbst und anderen. Achtet Menschen, Tiere, die Natur, und Dinge. Sprecht mit denen, die etwas nicht verstehen, das ihr verstanden habt – sofern sie es verstehen möchten. Erinnert euch stets an die Menschen, die ihr wart, bevor ihr wusstet, was ihr jetzt wisst und seid nachsichtig mit denen, die es noch nicht wissen. Zieht in Betracht, dass das, was ihr gerade denkt, vielleicht so gar nicht stimmt und hört anderen zu, die euch in euren Ansichten weiterbringen könnten – auch wenn es sich besser anfühlt, die vermeintlich absolute Wahrheit zu besitzen. Beharrt nicht auf Standpunkten, weil ihr zu stolz seid, dazuzulernen. Jede Art von Gewissheit ist trügerisch. Reproduziert nicht einfach. Menschen mit guten Intentionen reproduzieren täglich diese Welt, in die viele Menschen schlicht hineinsterben. Weil wir in diese Welt geboren wurden, weil wir uns keine andere vorstellen können. Sagt euch immer wieder: Es stimmt nicht, dass eine Einzelne oder ein Einzelner nichts bewirken kann.

Lasst alle an der Debatte teilhaben, die konstruktiv an ihr teilhaben möchten, auch wenn die Person Begrifflichkeiten nicht kennt. Wer sich mit Feminismus auseinandersetzen möchte, muss ein wenig eine neue Sprache lernen. Lasst das feministische Subjekt so frei sein in dem, was es ist, wie die Freiheit, die ihr selbst fordert: Lasst es trans sein, inter, nicht binär. Lasst es Sexarbeiterin sein und Muslima, Christin, Schülerin, oder alt und weiß und hetero und männlich. Glaubt nicht alles, das jemand sagt, der auf einer Bühne sitzt. Springt über Schatten. »Tut nicht so, als wärt ihr nicht die Gesellschaft«, hat Manuel Rubey einmal gesagt. »Bildet Banden«, hat Pippi Langstrumpf einmal gesagt. »Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach da zu sitzen und vor sich hin zu schauen.« Hat die sehr politische Astrid Lindgren einmal gesagt.

Und irgendwann, da klappt das dann auch mit der Schafherde.

Text vorgetragen auf ihrer Lesereise mit dem Buch „Feministin sagt man nicht“ im Jahr 2018.

Veröffentlicht auf Facebook am Tag der Menschenrechte, 10.12.2018:

https://www.facebook.com/hhumorlos/posts/10216257874053997

Mit Slideshow:

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Baraye (Shervin Hajipour) https://loukanikos161.blackblogs.org/2023/10/21/baraye-shervin-hajipour/ https://loukanikos161.blackblogs.org/2023/10/21/baraye-shervin-hajipour/#respond Sat, 21 Oct 2023 06:14:38 +0000 https://loukanikos161.blackblogs.org/?p=254 Um in den Straßen tanzen zu können
Weil wir Angst davor haben müssen, uns öffentlich zu küssen
Wir haben Angst, uns zu küssen
Für meine Schwester, deine Schwestern, unsere Schwestern
Dafür, dass sich in den morschen Köpfen endlich etwas bewegt
Für die Demütigungen, die uns angetan werden
Wegen der allgegenwärtigen Armut
Weil der Reichtum nicht umverteilt wird
Für den Wunsch nach einem normalen Leben
Wäre das auch für uns möglich
Für die im Abfall nach etwas Verwertbarem suchenden Kinder mit all ihren Träumen
Und wegen dieser gewissenslosen Wirtschaft, die so korrupt ist
Und wegen der verschmutzten Luft
Wegen der verdorrten Bäume auf der Valiasr-Straße
Weil der kleine Gepard vom Aussterben bedroht ist
Für all die unerwünschten Hunde, die doch unschuldig sind
Wegen des endlosen, schier niemals endenwollenden Tränenvergießens
Wegen der Vorstellung, dass sich die Szenen genauso wiederholen könnten
Für ein Lächeln im Gesicht
Für all diese Studenten
Für die Zukunft, für die Zukunft
Und für dieses aufgezwungene Paradies
Für die Intellektuellen, die im Gefängnis sind
Für die Flüchtlingskinder, die aus Afghanistan fliehen
Wegen all dem
Und für all das, was noch nicht gesagt ist
Für jede einzelne ihrer hohlen Phrasen
Wegen der einstürzenden Bruchbuden
Und für die, die friedfertig sind
Für einen Morgen nach diesen langen, langen Nächten
Für die aufgehende Sonne
Wegen der Schlaftabletten und der Schlaflosigkeit
Für die Frauen, das Leben und die Freiheit
Für das Mädchen, welches sich wünscht, ein Junge zu sein
Für die Frauen, das Leben, die Freiheit
Die Freiheit

Übersetzung des iranischen Freiheitsliedes Baraye („Um“, „für“ oder „wegen“) von Shervin Hajipour ins Deutsche.

Gelesen von der Publizistin, Politikwissenschafterin und Ärztin Gilda Sahebi, im Gespräch mit Renata Schmidtkunz in der Radiosendung „Im Gespräch: Gilda Sahebi über Frauen im Iran. ‚Was im Iran geschieht, ist feministische Weltgeschichte'“ am 9.3.2023 auf Ö1.

Zum Kontext dieses Liedes ein Dialog aus der genannten Sendung:

Renata Schmidtkunz: Das eine ist „Baraye“ von Shervin Hajipour. Das habe ich schon erwähnt. Das habe ich mitgebracht, auf deutsch.
Gilda Sahebi: Ach schön.
RS: Und ich wollte Sie mal fragen, ob Sie das vielleicht lesen wollen?
GS: Ja, gerne.
RS: Das ist die deutsche Übersetzung, die vielleicht nicht ganz dem Iranischen entspricht.
Es geht in diesem Lied Baraye, das so viel heisst wie „Um“, „Für“ oder „Wegen“ darum, warum eigentlich die Leute in Iran protestieren.
GS: Also es war so, dass die Frage gestellt wurde: warum? Und dann haben ganz viele Leute ganz viele Tweets abgeschickt. Und aus diesen Tweets wurde dieses Lied zusammengesetzt. Genau.

Gilda Sahebi ist auf social media zu finden (u.a. auf Bluesky) und hat auch ein Buch geschrieben:

„‚Unser Schwert ist Liebe‘. Die feministische Revolte im Iran“ (Fischer Verlag)

Das Lied Baraye:

https://www.fischerverlage.de/spezial/gilda-sahebi-unser-schwert-ist-liebe
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Wien: Solidaritätsdemonstration für die aufständischen Menschen im Iran https://loukanikos161.blackblogs.org/2022/09/30/wien-solidaritaetsdemonstration-fuer-die-aufstaendischen-menschen-im-iran/ https://loukanikos161.blackblogs.org/2022/09/30/wien-solidaritaetsdemonstration-fuer-die-aufstaendischen-menschen-im-iran/#respond Fri, 30 Sep 2022 14:27:26 +0000 http://loukanikos161.blackblogs.org/?p=251 In Wien fand am Dienstag eine Demonstration statt, die Gerechtigkeit für Zhina Mahsa Amini forderte und Solidarität mit den aufständischen Menschen im Iran zeigte.

Ein Gastbeitrag von Alexander Stoff

Zhina Mahsa Amini war Mitte September von „Sittenwächtern“ in Iran verhaftet worden, weil ihr vorgeworfen wurde, das Kopftuch nicht korrekt zu tragen. Am 16. September wurde sie in Polizeigewahrsam getötet. Seither gehen tausende Menschen in vielen Städten des Iran auf die Straße und fordern Frauenrechte und ein Ende der Mullah-Diktatur. Die Proteste werden von jungen Frauen, queeren Menschen, Arbeiter*innen und Kurd*innen getragen. Mutige Frauen widersetzen sich reaktionären Männern und weigern sich, auf der Straße das Kopftuch zu tragen. Es kommt zu öffentlichen Verbrennungen von Hijabs. Mindestens 48 Menschen wurden im Zuge der Proteste getötet, viele verletzt und Tausende verhaftet, hieß es in einer Rede in Wien. Es wurde auch auf den Fall von zwei iranischen Frauen hingewiesen – Zahra Sedighi-Hamadani und Elham Choubdardie aktuell mit der Todesstrafe bedroht werden, weil sie sich für die Rechte der LGBTIQ-Community eingesetzt haben.

Zur Demonstration in Wien hatte die Organisation „Rosa – kämpferisch. sozialistisch. feministisch“ im Bündnis mit anderen Gruppen wie „Avesta – kurdische Frauen in Wien“ und dem „Verein zur Förderung der Freiheitsrechte und Demokratie im Iran“ aufgerufen. Am Treffpunkt auf dem Platz der Menschenrechte versammelten sich die Teilnehmer*innen, laut dem Journalisten Gerhard Kettler ca. 2.000 Personen. Es wurden Redebeiträge gehalten, in denen unter lautem Beifall der Menge ein Ende der Diktatur, Menschen- und besonders Frauenrechte, Selbstbestimmung für Kurd*innen und andere Gruppen und die Befreiung für queere Menschen gefordert wurde. Viel Applaus gab es auch, als in einer Rede darauf hingewiesen wurde, dass die Protestbewegung nun dazu übergehen solle, neben dem Straßenprotest den Widerstand auszuweiten und zu Streiks überzugehen.

Es wurde in einer Rede darauf hingewiesen, dass auf die europäische Politik kein Verlass sei. Als erwähnt wurde, dass der österreichische Außenminister Schallenberg sich mit dem Außenminister des iranischen Mullah-Regimes getroffen hatte, gab es zahlreiche Buh-Rufe. Ein Redner bemerkte auch, dass Iran bisher vor allem mit dem Atomkonflikt in die internationalen Schlagzeilen gekommen sei, sich nun aber ein anderes Gesicht des Iran der Weltöffentlichkeit zeige. Der Widerstand im Iran könnte Auswirkungen auf die gesamte Region haben, zum Beispiel auch auf Afghanistan, wo die Taliban ebenfalls Frauen unterdrücken. Schließlich wurde gesagt, dass die Demonstration sich auch gegen Rassismus, Abschiebungen und Femizide überall auf der Welt richtet.

Nach einer guten Stunde setzte sich der Demonstrationszug nach 18 Uhr in Bewegung. Beim Losgehen wurde ein Lied aus der iranischen Rebellion abgespielt. Die Demonstrierenden trugen Transparente und Schilder. Es waren viele Fahnen von Organisationen sichtbar, etwa von linken und kurdischen Organisationen (Rojava). Der Demozug lief die Museumstraße entlang und bewegte sich dann nach einem Bogen die Stadiongasse hinunter, am Parlament vorbei und über die Ringstraße zum Ballhausplatz. Die ursprünglich geplante Route zur iranischen Botschaft war von der Polizei untersagt worden. Es waren Parolen zu hören wie „Hoch die internationale Solidarität“, „Frauenrechte überall, Frauenrechte in Iran“ und immer wieder der Ruf „Jin, Jîyan, Azadî (Frau – Leben – Freiheit)“. Besonders berührend war der Moment, als ein kleiner Bub immer wieder „Jin, Jîyan, Azadî“ rief.

Zuerst veröffentlicht auf Unsere Zeitung

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Verändere die Geschichte und du veränderst die Welt https://loukanikos161.blackblogs.org/2020/09/22/change-story-world/ https://loukanikos161.blackblogs.org/2020/09/22/change-story-world/#respond Tue, 22 Sep 2020 06:18:53 +0000 http://loukanikos161.blackblogs.org/?p=247 Laurie Penny über Diversität im Storytelling und Fanfiction

 

Nachdem lange Zeit nur weisse cis Männer als Helden im Mittelpunkt von Erzählungen gestanden haben, verändert sich langsam das storytelling und Geschichten werden diverser. Frauen, Schwarze Menschen und LGBTIQs beanspruchen ihren Platz in den Erzählungen, sagt die britische Aktivistin, Journalistin, Feministin und Drehbuchautorin Laurie Penny.

 

Erzählungen und Kultur

 

Geschichten werden nicht nur erzählt, um uns zu unterhalten, sondern es wird auf diese Weise auch Kultur weitergegeben. Das kann zu einer Homogenisierung von Kultur führen. So erklärt Laurie Penny anhand des Beispiels der kolonialen Beherrschung Indiens durch das British Empire, wie die Bewohner*innen der Kolonien durch die Schuldbildung mit britischer Kultur indoktriniert wurden. In anderen Kolonien geschah dies meistens durch christliche Missionierung, aber in Indien funktionierte das nicht. Missionar*innen sollten die Bewohner*innen der Kolonien durch religiöse Durchdringung und Vorschreiben des „richtigen Verhaltens“ davon abhalten, gegen die Kolonialherrschaft zu rebellieren. In Indien existierten jedoch große religiöse Probleme und Spannungen, also entschied sich die Kolonialmacht dafür, den Kindern in den Schulen Englische Literatur anstelle des Christentums beizubringen. Die Held*innen in den Geschichten waren nie Inder*innen, sondern immer weiss, Mittelklasse und englisch.

Der „westliche Kanon“ von Harold Blum aus den 1950er Jahren besagt, dass es eine Handvoll von Werken gibt, die als relevant eingestuft werden, wobei Blum sich selbst gleich als Wächter darüber eingesetzt hat, welche Bücher in diesen Kanon einfließen und welche nicht. Auf der Liste befinden sich „ein Haufen weisse Typen, Jane Austen und Ursula Le Guin“ hebt Laurie Penny hervor. Die Vorstellung eines Monomythos, also eine Anzahl von Geschichten, die als wichtig angesehen werden, gibt es auch im Fach Englische Literatur und sie hat auch die Kultur der Nerds beeinflusst. „Dickens ist wichtig, sagt man dir, aber Buffy und Star Trek sind es nicht“, so Laurie Penny.

 

Hero’s journey

 

Ein solcher Monomythos aus der Mitte des 20.Jahrhunderts ist die Hero’s journey von Joseph Campbell. Bei diesem Erzählmuster geht es um den Helden, er trifft einen Mentor, dann ereilt ihn der Ruf zum Abenteuer, zuerst widersetzt sich der Held, dann geht er auf die Reise, er trifft seinen zweiten Mentor, da ist die Prinzessin als love interest und auch die Vaterfigur. Das ist die Handlung von Star Wars, aber das Muster wiederholt sich in vielen anderen Geschichten von Lion King bis Matrix. Die Hero’s journey wurde einfach kopiert und wieder und wieder erzählt.

Es stellt sich also Langeweile ein, u.a. deshalb, weil – wie Laurie Penny sagt – der Held immer ein weisser, junger Mann ist. Frauen tauchen darin nur als Nebencharaktere auf, sie sind nie die Heldinnen. Frauen brauchen keine eigene Hero’s journey, hat Joseph Campbell einmal auf die Frage einer Studentin gesagt, denn sie sie sei im Monomythos die ganze Zeit über da, die Frau müsse nur realisieren, dass sie es sei, wo alle hinwollen, so Campbell.

 

Fanfiction

 

Fanfiction, also das Umschreiben von populären Geschichten aus Büchern, Filmen und Fernsehen hat es schon lange vor dem Boomen der Nutzung des Internet gegeben. Aber erst durch das Internet ist Fanfiction wirklich explodiert. Mit der Verbreitung des Internet hat sich die Art und Weise verändert, wie Geschichten erzählt werden – nicht mehr mit klassischem Anfang, Mittelteil und Schluss. Charakterentwicklung hat seine Bedeutung verloren, Hyperlinks werden gesetzt. Dennoch wünschen sich viele Menschen weiterhin traditionelle Geschichten mit Held*innen. Wenn Erzählungen ein Spiegel und Fenster sind, die dich und deine Welt verändern können, so zeigte die Etablierung der Website fanfiction.net im Jahr 1998, dass die Menschen sich verschiedene Held*innen und Erzählweisen wünschen. Laurie Penny selbst hat in dieser Zeit damit begonnnen, Fanfiction aus der Erzählwelt von Harry Potter und Buffy zu schreiben.

 

Diversity

 

Fanfiction wurde insbesondere von jungen Frauen geschrieben, die als Ergänzungen zum Universum von Harry Potter neue Geschichten erzählten, oft mit einer Handlung, die gefährlicher oder erotischer als das Original war. Es ging dabei etwa um eine Liebesbeziehung zwischen Harry Potter und Draco Malfoy, Harry Potter wurde für manche zu einem weiblichen Charakter oder seine Freundin Hermine Granger wurde zur Hautprotagonistin, die ihre eigenen Wege geht. Die Hero’s journey bekam also bei Harry Potter Fanfiction einen neuen Anstrich und in den Geschichten spielten nun Schwarze und weibliche Charaktere eine größere Rolle. Die Autorin JK Rowling begünstigte Fanfiction, da sie grundsätzlich damit einverstanden war, solange kein Geld damit verdient wurde.

Als nun die Fanfiction schreibenden Teenagerinnen erwachsen wurden und als junge Frauen in der Medienbranche zu arbeiten begannen, führte all dies zu einer Veränderung der Kultur. Diese Frauen verlangen jetzt mehr von unserem kollektiven storytelling. Das erkennt man zB auch daran, dass bei den neueren Star Wars-Filmen nun eine weibliche Heldin und ein Schwarzer love interest im Mittelpunkt der Erzählung stehen. Und bei der Theateraufführung von „Harry Potter and the cursed child“ wird Hermine Granger von einer Schwarzen Schauspielerin verkörpert.

 

Backlash

 

Dennoch sind diese Veränderungen in Richtung Vielfalt noch lange nicht im Mainstream angekommen. Und es gibt außerdem einen Backlash durch wütende weisse cis Männer, die an veralteten Mustern festhalten wollen und die sich mangels Vorstellungskraft nicht an die veränderten Rollenbilder gewöhnen können. „Wir haben noch keine Gleichheit erreicht. Wenn du in jeder Geschichte repräsentiert wirst und an dein Privileg gewöhnt bist, dann sieht Gleichheit wie ein Vorurteil aus,“ sagt Laurie Penny. Die Wut der weissen cis Männer entzündet sich daran, dass es in dieser kleinkarierten Weltsicht scheinbar zu viel von ihnen verlangt ist, sich mit Charakteren zu identifizieren, die nicht weiss und männlich sind. „Menschliche Geschichten sind vielfältig und wir alle tragen eine Seite dazu bei – das macht weisse Männer wütend,“ so Laurie Penny. Und deshalb reagieren sie mit viel Hass und Belästigung auf Tendenzen zur Vielfalt in den Erzählungen (Beispiele: die Kampagnisierung weisser cis Männer gegen die female Ghostbusters, die Schwarze Hermine und Rey aus Star Wars).

„Ich verstehe die Wut, jede*r, die*der jemals erfahren hat, wegen des Geschlechts oder der Hautfarbe aus einer Geschichte ausgeschlossen zu werden, hat diese Wut schon einmal gefühlt,“ kommentiert Laurie Penny. Sie versteht diese Wut, denn sie hat sie selbst oft gespürt so wie alle Menschen – Frauen, Schwarze Menschen, LGBTIQs – die die längste Zeit von den großen Erzählungen ausgeschlossen blieben und von denen erwartet wurde, sich mit weissen cis Männern zu identifizieren, also Menschen, die anders aussehen, anders sprechen und ein Leben leben, von dem sie keine Vorstellungskraft haben. Bis du langsam den Frust spürst, dass du vielleicht nie zur Held*in einer Geschichte werden wirst.

 

Geschichten verändern die Welt

 

Laut Laurie Penny werden Geschichten erzählt, um die Dunkelheit draußen zu halten, Mythen und Fabeln, die uns vor der Verzweiflung retten. Mit ihrer Hilfe wird Macht etabliert oder zerstört. So bringen wir uns gutes Verhalten bei und die Grenzen der Sehnsucht werden beschrieben. Geschichten lassen uns kämpfen und Sehnsucht haben, wenn es einfacher wäre aufzugeben. Sie sind die Zutaten für jede menschliche Gesellschaft seit der Steinzeit. Viel zu lange waren Geschichten zu bequem und haben den weissen westlichen Mann ins Zentrum gestellt und so Rassismus und Sexismus legitimiert.

Laurie Penny schließlich: „Ich hoffe, im Moment beginnt ein großes Umschreiben. Wir können nur zu dem werden, was wir uns vorstellen können. Jetzt lernen wir, dass Held*innen nicht immer weiss, cis und männlich sind, dass Leben und Liebe, Bösartigkeit und Erfolg etwas anders aussehen – abhängig davon, wer die Geschichte erzählt. Die Welt verändern ist nie einfach. Es braucht dazu Mut – das habe ich von Harry Potter gelernt.“

 

Laurie Penny: Change the story, change the world

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Humorvolle Revoluzzerin für Feminismus und Müßiggang https://loukanikos161.blackblogs.org/2020/07/28/hanna-herbst/ https://loukanikos161.blackblogs.org/2020/07/28/hanna-herbst/#respond Tue, 28 Jul 2020 03:07:13 +0000 http://loukanikos161.blackblogs.org/?p=239 Hanna Herbst im Portrait

 

Die diesjährige online Veranstaltung zum Bachmannpreis hat für Hanna Herbst eine Premiere bedeutet. Schreiben ist etwas, das sie schon ihr ganzes Leben über begleitet. So hat sie als Kind und, wie sie selbst sagt, depressiver Teenager „schlimme Gedichte“ verfasst, um Dinge zu verarbeiten. Später hat sie in kleinen Literaturzeitschriften kurze Geschichten über Menschen und ihr Leben veröffentlicht. „Der Ohrenzeuge“ von Elias Canetti fällt ihr dazu als Referenz ein. Bekannt ist sie vielen als Buchautorin („Feministin sagt man nicht“) und als ehemalige Journalistin bei Vice. Nun arbeitet sie in Köln bei der Redaktion der neuen Informationsshow von Jan Böhmermann als Chefin vom Dienst mit. Beim Bachmannpreis hat sie am 19.Juni zum ersten Mal einen ihrer literarischen Texte vorgelesen. Mit „Es wird einmal“ belegte sie beim Publikumsvoting den zweiten Platz nur knapp hinter Lydia Haider, die damit u.a. in die Fußstapfen von Stefanie Sargnagel tritt. Im Gespräch mit Alexander Stoff hat Hanna Herbst etwas über ihr Leben verraten und Gedanken darüber geteilt, wie sie die Welt sieht.

Eine furchtlose Frau reist nach Argentinien

Hanna sagt, dass sie ein mutiges Kind war, das sich vor nichts gefürchtet hat. Mit acht Jahren verändert sich alles, denn da zieht sie mit ihren Eltern und ihrem Bruder aus einer kleinen Stadt in Deutschland nach Salzburg. Die Kinder sollten die Möglichkeit haben, ein Gymnasium zu besuchen, meinen die Eltern – ein Luxus, den es in der deutschen Kleinstadt nicht gibt. Im neuen Zuhause fühlt sich Hanna allerdings einige Zeit sehr unwohl. Denn sie wird von Mitschüler*innen belästigt und auf dem Heimweg verfolgt. Eine Lehrerin korrigiert Hanna, wenn sie schreibt, dass sie sich langweile und kommentiert, dass man in Österreich „fadisieren“ sage. Mit 15 oder 16 Jahren habe sie schließlich herausgefunden, „mit wem ich zu tun haben will und mit wem nicht“. Von da an sei es ihr wieder besser gegangen. Nach der Schule geht Hanna nach Argentinien, um Psychologie zu studieren. Das war um 2008 herum. Aber dann kommt die Schweinegrippe-Epidemie und die Universitäten müssen geschlossen werden. Hanna entscheidet sich, ihr Studium abzubrechen und wieder nach Hause zu ihrer Familie zurückzukehren.

 

Journalistin aus Leidenschaft

 

„Auf meinem MacBook Air schreib ich nur noch Relevantes

über die Conditio Humana und Spaghetti Bolognese ..

Ich sag der Menschheit die Wahrheit ins Gesicht

mit der Diktierfunktion meines Mobiltelefons“

(aus „Herbstmanöver“)

 

Mit dem Ziel, Journalistin zu werden, beginnt sie nun ein Studium in Politikwissenschaft. Gleichzeitig bewirbt sich Hanna bei der Redaktion von Vice für ein Praktikum. Dabei hinterläßt sie offensichtlich einen guten Eindruck, denn ihr wird angeboten, in einem Vollzeitarbeitsverhältnis bei Vice mitzuarbeiten. Doch sie steht zunächst vor einem Problem, denn: „Ich habe zu meiner Mutter gesagt: Mama, wenn ich jetzt 40 Stunden arbeite, dann glaube ich, dass ich mein Studium nicht fertig mache.“ Ihre Mutter macht ihr deutlich, dass es genug erwerbslose Studienabsolvent*innen gäbe, und überzeugt sie, dass berufliche Erfahrung viel wert sei. Außerdem könne sie ja zu einem späteren Zeitpunkt ihr Studium abschließen. So wird Hanna also Redakteurin bei Vice.

Bei ihren Recherchen liegt ihr alles am Herzen, „worüber ich stolpere und denke, es ist spannend“. Das Spektrum der Themen ist daher breit gefächert. So gehört ein Vice-Artikel über Tanja Playner – eine Pop-Art-Künstlerin, die ihren künstlerischen Wert weit übertreibt und außerdem der FPÖ nahe steht – ebenso dazu wie gesellschaftlich relevantere Themen mit einem Fokus auf Menschenrechte. Eine Recherche wie jene über Tanja Playner macht Hanna „viel mehr Spass, weil man sich reinfuchst und denkt, wie verrückt ist diese Welt“. Recherchen über Menschenrechte spielen hingegen besonders für ihre Mitarbeit bei der Zeitschrift Liga eine Rolle. Hier geht es um Themen wie Obdachlosigkeit, Rassismus, Diskriminierung und Ausbeutung von Erntehelfer*innen.

Wäre sie nicht Journalistin, dann würde sie sich für den Beruf der Psychotherapeutin entscheiden, sagt Hanna. Von ihrer aktuellen Tätigkeit bei Böhmermann erwartet sie sich, dass ihr neues Berufsfeld großen Spass machen, aber auch stressig sein wird. Hanna glaubt, dass Raum sein wird, um viele Menschen zu erreichen und Wissen weiterzugeben. Sie spüre einen richtigen Revoluzzerinnenfunken in sich sprießen.

 

Homo politicus

 

Eine Eigenschaft zeichnet Hanna aus, die schon von klein auf sichtbar wird: ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden. Sie spricht immer laut aus, wenn sie etwas als ungerecht empfindet – gegenüber ihren Eltern genauso wie gegenüber Lehrer*innen oder im Beruf. Ihr Gerechtigkeitsempfinden zieht sich durch ihr ganzes Leben, meint Hanna: „Ich bin generell so ein Mensch, wenn ich etwas schlimm finde, dann sage ich etwas.“ So sind es auch die Ungerechtigkeiten auf dieser Welt, die sie kaum ertragen kann und die sie dazu bewegen, zum Stift bzw. Tastatur zu greifen. Ob sie ein politischer Mensch ist? Darauf antwortet Hanna, dass wahrscheinlich jeder Mensch politisch sei, das habe schon Plato mit dem homo politicus festgestellt. Politisch ist sie selbst also „natürlich auch volle Kanne“. Denn wenn du in dieser Welt aufwächst und aufmerksam mitverfolgst, was passiert, dann sei es gar nicht möglich, nicht zu politisch sein, sagt sie. Es habe jedoch kein bestimmtes Ereignis oder eine bestimmte Person gegeben, die sie politisiert habe. Hanna sympathisiert mit verschiedenen Bewegungen wie zB dem Klimavolksbegehren und der Demokratiebewegung in Hongkong.

„Ich weiss nicht, wie man eine gerechte Welt gestalten kann oder eine Welt, wo ich sagen würde, ich bin wunschlos glücklich, weil es dann eine Welt ist, wo man sich umsieht und einem auffällt, dass die Menschen glücklich sind,“ sagt Hanna, angesprochen auf ihre Utopie. Es gebe so viele Baustellen auf unserer Welt, dass sie gar nicht wisse, wo man mit der Veränderung anfangen soll. So ist die Schere zwischen Arm und Reich in der Corona-Krise noch größer geworden als sie ohnehin schon war. Wenige Milliardäre haben in dieser Zeit ihren unfassbaren Reichtum noch um ein Vielfaches gesteigert, während viele Menschen ihren Job verloren und in die Armut abgerutscht sind. Und Arbeiten wird zur Religion, stellt Hanna fest. Während man früher dachte, dass wir alle bald weniger arbeiten müssen, wurde in Österreich unter Schwarz/Türkis-Blau II der 12-Stunden-Tag eingeführt. Parteien wie FPÖ, ÖVP und FDP werten auf menschenverachtende Weise Menschen ab, weil sie keiner Erwerbsarbeit nachgehen. Alles das läuft in eine ganz falsche Richtung, so Hanna: „Und du denkst dir: hä? Das ist doch gar nicht, wofür wir Mensch sind! Es ist doch viel schöner, ein Tier zu streicheln oder Blumen zu pflanzen.“ Deshalb wäre eine Arbeitszeitverkürzung auf vier Stunden, wie von der Soziologin und Philosophin Frigga Haug vorgeschlagen, eine Utopie, mit der Hanna sich anfreunden könnte. Denn dann bliebe für uns alle mehr Zeit für Müßiggang. Und sie wünscht sich auch, dass wir Menschen wieder mehr Bezug für die Dinge bekommen, für die wir leben und die uns gut tun. Etwa die Natur und der Umgang mit Tieren oder auch lecker Essen, weil es gut schmeckt und nicht nur, um satt zu werden.

 

Feministin sagt man doch

 

Erfahrungen als politische Aktivistin hat sie bisher einmal gesammelt, nämlich im Rahmen des Frauenvolksbegehrens. Gefragt, was sie dazu inspiriert hat, antwortet sie: „Wir saßen damals zusammen, ein US-Präsident Trump in Aussicht, Schwarz-Blau in Aussicht, und da haben wir gesagt, das werden schlimme Jahre für Frauen. Wir müssen was tun.“ Besonders schlimm findet sie es, wenn Frauen eine Führungsposition erreichen und sich dann unsolidarisch verhalten und eine menschenverachtende Politik betreiben. Als Beispiele fallen Hanna etwa die ÖVP-Ministerinnen ein. Deshalb findet sie es nicht genug, wenn Feministinnen sich Verbündete suchen, auch wenn das sehr wichtig ist, aber eine Veränderung zu einer geschlechtergerechten Gesellschaft erfordere auch, dass Feministinnen in Entscheidungspositionen gelangen, um politisch zu gestalten.

Ob sie mit ihrer Arbeit etwas verändert, darüber hat sie sich noch nicht viele Gedanken gemacht, sagt Hanna. Im Kleinen macht sie jedenfalls öfter die Erfahrung, dass Menschen sich bei ihr melden und ihr mitteilen, einen anderen, positiveren Blickwinkel auf den Feminismus gewonnen zu haben, nachdem sie ihr Buch gelesen haben. Junge Frauen und Männer schreiben ihr selbst heute noch – zwei Jahre nach dem Erscheinen von „Feministin sagt man nicht“ – Emails, in denen sie feststellen, dass sie jetzt besser verstehen, was Feminismus bedeutet und dass Hannas Buch so wichtig für sie war. Diese Veränderungen im Kleinen findet Hanna sehr schön und befriedigend.

Unter Emanzipation versteht sie, dass wir uns von Zwängen freikämpfen, die uns klein machen und beengen. Damit muss gar nicht mal das Verhältnis zwischen Männern und Frauen gemeint sein, sagt Hanna. Es geht um Situationen, wie zB in einer Beziehung, bei der du in eine Rolle gedrängt wirst, wo du nicht sein möchtest. Oder gesellschaftliche Verhältnisse, wo Menschen unterdrückt werden. Es ist unübersehbar, dass Frauen in westlich-europäischen Gesellschaften diskriminiert werden, dennoch hält Hanna die Lage im Verhältnis zu anderen Regionen der Welt für eine privilegierte Position. „Ich kam nie in die Situation, mich emanzipieren zu müssen,“ sagt sie daher. Wovon sie sich sehr wohl emanzipieren musste, ist davon, dass sie sich manchmal selbst im Weg gestanden und klein gehalten hat. Nachdem sie ein mutiges Kind gewesen ist, gab es eine Zeit, in der sie schüchtern war und daraus musste sie sich erst wieder befreien und zu ihrer alten Furchtlosigkeit zurückfinden. Und – auch wenn dies nie ganz gelinge – so musste sich Hanna auch von gesellschaftlichen Normen emanzipieren, die Frauen vorschreiben, wie sie sich zu verhalten hätten.

 

Plaudern mit Diogenes und ein Balkon voller Pflanzen

 

„Ich hänge nur noch ab mit krassen Ikonen

hab jetzt neue Freunde, bitte ruft nicht mehr bei mir an

Aichinger Ilse und die Beauvoir Simone

wir entspannen zusammen im alten Haus von Thomas Mann“

(aus „Herbstmanöver“)

 

Beim Bachmannpreis mitzumachen, habe ihr viel Freude bereitet, allerdings mache sie das noch nicht zu einer Schriftstellerin. Den Text hat sie übrigens während einer Reise nach Indonesien im vergangenen Jahr geschrieben. Und auch singen ist eine Beschäftigung, die ihr Spass macht, was sie der Öffentlichkeit schon gezeigt hat, denn anlässlich des Literaturwettbewerbes hat Hanna zusammen mit Leon Engler ein kleines Video mit dem Lied „Herbstmanöver“ gedreht. In ihren literarischen Texten vermischt sich Fiktives mit tatsächlichen Erfahrungen. So sagt Hanna: „Bei allen Leuten, die schreiben, hast du einmal ein Gefühl, eine tiefe Trauer, und du schreibst darüber. Das Gefühl, das dem zugrunde liegt, ist echt. Aber die Geschichte darum herum ist frei erfunden. Oder jemand erzählt einem eine Geschichte und man spinnt sie weiter. Oder man hat etwas genau so erlebt und schreibt darüber.“ Literarische Einflüsse von anderen Autor*innen bemerkt Hanna in ihren Werken zwar nicht, aber ein Buch, das sie gelesen hat und das sie immer noch sehr beschäftigt, ist „Roman eines Schicksallosen“ des Holocaust-Überlebenden Imre Kertész. Für sich entdeckt hat sie die Romane von Janosch, die der Kinderbuchautor für Erwachsene geschrieben hat, denn sie findet Bücher wie „Vom Glück, Hrdlak gekannt zu haben“ sprachlich famos, lustig und etwas für das Herz.

Wenn sie die Gelegenheit hätte, jeden Menschen auf der Welt zu treffen – auch historische Persönlichkeiten – dann würde Hanna sich am liebsten mit den Philosophen Diogenes und Epikur unterhalten. Sie würde Diogenes unendlich viele Fragen stellen, wie zB warum er in einer Tonne lebte, und sich von ihm ausfragen lassen. Den hedonistischen Epikur würde sie gerne fragen, wie man leben soll. Ihr fallen noch unzählige Menschen ein, die sie gerne kennen lernen und das Gespräch suchen würde: Goethe, Simone de Beauvoir, Sokrates, Ingeborg Bachmann, Paul Celan.

Hanna ist ein Mensch, der viel und gerne lacht – das merkt man auch während des Gesprächs. Sie glaubt, dass sie wohl ein sehr dankbares Publikum für jede*n Comedian wäre. Danach gefragt, was sie denn zum Lachen bringt, meint Hanna, sie amüsiere sich oft über die lustigen Sachen, die ihr Hund Lila macht. Wegen ihrem Freund wird sie im Alter vermutlich Lachfalten bekommen, fürchtet sie, denn er schafft es immer, sie zum Lachen zu bringen. Hanna mag schwarzen Humor besonders gerne und es darf auch ein Humor sein, der ein wenig böse und bissig ist.

„Ich hätte gerne einen Garten,“ sagt Hanna. „Vor die Tür gehen und Natur. Das fehlt mir schon. Mein Balkon ist voll, weil ich alles anpflanze – Kartoffeln, Salat und Kräuter. Man kann am Balkon vor lauter Pflanzen fast gar nicht mehr sitzen.“ Sie denkt, am Land zu leben wäre genau das Richtige für sie, dann würde der Stress in Hannas Leben wegfallen. Wenn sie Zeit für Müßiggang hat, dann geht sie am liebsten zelten und wandern. Ihr Hund Lila muss unbedingt dabei sein, damit es noch mehr Spass macht. Hanna freut sich, wenn sie Zeit mit Dingen verbringen kann, die ihr Leben bereichern wie Meditation und Philosophie. Danach sehnt sie sich und darüber möchte sie sich am liebsten Gedanken machen – „und nicht über die FDP“. Aber sie will sich dem auch wieder nicht entziehen. „Dazu bin ich noch nicht ganz bereit. Da habe ich das Gefühl, ich muss noch ein bisschen mitmischen.“ Eines Tages vielleicht wird es soweit sein, dass sie aufs Land zieht. Aber noch nicht jetzt. In einem schönen Text, den Hanna bei ihrer Buchpräsentation öfter vorgelesen hat, schreibt sie, dass sie gerne Schafe hüten möchte. So lautet der letzte Satz in dem Text: „Und irgendwann, da klappt das dann auch mit der Schafherde.“

 

Hanna Herbst auf Twitter, Facebook und Instagram: @HHumorlos

 

veröffentlicht auf Unsere Zeitung und Der Freitag

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„Die Menschenrechtsverletzungen in Chile sind wie ein zweites Trauma“ https://loukanikos161.blackblogs.org/2019/12/19/chile-zweites-trauma/ https://loukanikos161.blackblogs.org/2019/12/19/chile-zweites-trauma/#respond Thu, 19 Dec 2019 18:13:15 +0000 http://loukanikos161.blackblogs.org/?p=232 Sergio Patricio ist Künstler, Student und Aktivist bei Chile desperto in Wien. Im Interview berichtet er über Hintergründe der aktuellen Protestbewegung in Chile.

Die gegenwärtige Protestbewegung in Chile hat ihren Ausgang genommen, als vor allem Schüler*innen gegen die Erhöhung der Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr protestierten. Doch schnell hat die Bewegung auf den Rest der Gesellschaft übergegriffen und die Forderungen haben sich dabei vervielfältigt. Inzwischen richtet sich die Protestbewegung gegen das neoliberal-kapitalistische Regime als Ganzes und eine zentrale Forderung ist der Rücktritt der Regierung des rechtsextremen Präsidenten Sebastian Piñera. Die Kritik wendet sich auch gegen die Vorgängerregierungen, die in den fast 30 Jahren seit dem Ende der Diktatur von Augusto Pinochet wenig unternommen haben, um die sozioökonomischen und politischen Kontinuitäten der Diktatur wie etwa die massive soziale Ungleichheit zu beenden, die auch in Zeiten der bürgerlichen Demokratie fortwirkten. Obwohl die Diktatur vor 30 Jahren beendet wurde, stellen wir heute im wesentlichen noch die gleichen Fragen,“ sagt Sergio Patricio dazu. Bei Umfragen sind die Zustimmungswerte der Regierung inzwischen auf weniger als 10% gesunken.

„Es demonstrieren noch immer viele Menschen. Die Leute sind wütend und es hat sich über die vergangenen 30 Jahre eine Menge Wut und Frustration angestaut. Deshalb haben sie viel Kraft, um die Demonstrationen fortzusetzen,“ so Sergio Patricio. Was als Protest gegen Fahrpreiserhöhungen begonnen hatte, entwickelte sich bald zu einem Ausbruch, bei dem es auch zu Randale und Sachbeschädigung kam. Doch die chilenische Regierung und Staatskräfte reagierten darauf mit unverhältnismäßiger Gewalt und es kam zu unzähligen Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei und während des vorübergehend verhängten Ausnahmezustandes auch durch das Militär. Beinahe 30 Menschen wurden durch Staatskräfte getötet, tausende eingesperrt und viele misshandelt, darunter auch Kinder. Neben sexualisierter Gewalt gegen Frauen und LGBTIQ-Personen durch Staatskräfte wurden auch Menschen wie in Diktaturzeiten verschleppt ohne dass ihr Aufenthaltsort bekannt ist. Und um die 200 Menschen haben ein oder beide Augen verloren, nachdem sie durch Gummigeschoße der Polizei verletzt wurden. Dass in Chile die Menschenrechte verletzt werden ist nichts Neues, so Sergio Patricio. „Es ist so wie während der Diktatur. Es wiederholt sich, was schon in der Vergangenheit geschehen ist. Nur während den Opfern früher ihre Erfahrungen nicht geglaubt wurden, ist der Unterschied heute, dass die Menschen die Gewalt mit Kameras dokumentieren können. So erfahren viele über social media sofort, dass die chilenische Polizei und Armee die Menschenrechte missachtet.“ Die Zahlen von Chile desperto beruhen auf den Quellen von Amnesty International und der UN. Die offiziellen Verlautbarungen der Regierung, dass alles korrekt abliefe, wurden also bald durch die Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen Lügen gestraft.

Chilen*innen im Ausland, die sich über das Internet informierten und sich wegen der Gewalteskalation Sorgen machten, haben sich in mittlerweile 30 Ländern zusammengefunden und begonnen, sich zu vernetzen, um auf die Situation in Chile aufmerksam zu machen. Eine der Gruppen von Chile desperto ist auch in Wien tätig. Im Vergleich zu anderen Städten wie Barcelona und London ist die Gruppe in Wien allerdings von überschaubarer Größe. Dennoch konnten auch hier Aktionen wie eine Demonstration und Trauerkundgebung organisiert werden, an denen mehrere hundert Menschen teilgenommen haben. Sergio Patricio sagt, dass die Menschen, die sich bei einer der lokalen Gruppen von Chile desperto in Städten wie Barcelona, London, Sydney, Berlin und New York zusammengefunden haben, über die Lage in Chile erschrocken sind: „Wie ist es möglich, dass sich die Regierung nicht für die begangenen Menschenrechtsverletzungen entschuldigt? Das ist keine Gerechtigkeit. Menschen werden auf den Strassen getötet und eingesperrt. Auf einem Video ist zu sehen, wie die chilenische Polizei in eine Schule eindringt und auf Schülerinnen schießt.“

In den cabildos genannten Versammlungen trifft sich die Bevölkerung und es wird über verschiedene gesellschaftliche Themen wie soziale Sicherheit debattiert. Schließlich werden Vorschläge zu Papier gebracht, von denen sich die Menschen eine Lösung sozialer Probleme erwarten, und den parlamentarischen Gremien wie dem Kongress vorgelegt. Auch die während der Pinochet-Diktatur beschlossene und immer noch gültige Verfassung ist Gegenstand von Diskussionen. Stimmen aus der Protestbewegung rufen laut nach einer neuen Verfassung, die die geänderten Realitäten der chilenischen Gesellschaft berücksichtigt. Ein anderes Thema, das im Rahmen der cabildos aufgegriffen wird, sind die Rechte der indigenen Mapuche und ihre Territorien. Dazu kommt der Umgang mit den natürlichen Ressourcen, besonders Wasser. Die Wasserversorgung wurde privatisiert und vor allem spanische Firmen und transnationale Konzerne haben darauf Zugriff. Diese arbeiten rein profit-orientiert und bringen den Großteil des Wassers außer Landes. Auch der Entwurf einer neuen Verfassung wird in den cabildos thematisiert. Ein weiterer Punkt ist die soziale Sicherheit. Denn in Chile sind die meisten Bereiche privatisiert, was auch als neoliberales Erbe auf die Diktatur zurückgeht. Soziale Versorgung erhält nur, wer es sich leisten kann und lebenswichtige Bereiche wie das Bildungs- und Gesundheitswesen sind extrem teuer. So müssen Familien etwa für den Unterricht an einer der privaten Schulen monatlich ca. 400 Dollar aufbringen.

„Chilen*innen innerhalb und außerhalb des Landes wissen bescheid über die Menschenrechtsverletzungen. Medien berichten darüber und internationale Organisationen wie die UN und Amnesty International haben es dokumentiert. Sie wissen, dass es passiert und wir warten auf Gerechtigkeit.“ Juristische Ermittlungen gegen einzelne Polizisten und sogar gegen Präsident Piñera sind im Laufen. Vertreter*innen von Chile desperto erwarten sich internationale und europäische Unterstützung und hoffen darauf, dass politischer Druck auf die chilenische Regierung ausgeübt wird, damit die Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung gezogen werden, so Sergio Patricio. Aus diesem Grund versucht Chile desperto in mehr als 30 Ländern die Öffentlichkeit für die Situation in Chile zu sensibilisieren. Chile ist heute eine bürgerliche Demokratie, umso schwerwiegender die Tatsache, dass systematisch Menschenrechte verletzt werden. Sergio Patricio stellt fest, dass die gegenwärtigen Proteste undenkbar wären ohne die vorangegangenen Proteste der Studierenden- und der feministischen Bewegung in Chile. Diese Bewegungen haben soziale Ideen gestärkt und ein Bewusstsein geschaffen. Sergio Patricio ist selbst noch während der Diktatur aufgewachsen und hat den politischen Übergang zur bürgerlichen Demokratie miterlebt. Er erinnert sich an ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit in seiner Generation. Die jüngeren Bewegungen haben nun das Selbstbewusstsein der Menschen gestärkt und für Themen wie soziale Gleichheit und Korruption sensibilisiert. Im Moment hat Sergio Patricio Hoffnung, dass die sozialen Bewegungen in Chile Veränderungen erreichen können. Dennoch ist die Situation schwierig, da Nachbarländer in der Krise sind. So gab es in Bolivien einen Putsch gegen Evo Morales. „Wir wünschen uns, dass sich alles in die richtige Richtung entwickelt. Aber wir haben auch Angst, dass es sich verschärfen kann. Ich hoffe, wir enden nicht als Geflüchtete,“ sagt Sergio Patricio. Für ihn ist es eine erschreckende Erfahrung, nach der Diktatur ein zweites Mal in seinem Leben schwere Menschenrechtsverletzungen mitansehen zu müssen: „Für uns ist es wirklich wie ein zweites Trauma.“ Von der österreichischen Zivilgesellschaft erhofft sich Sergio Patricio Unterstützung und eine Positionierung für die Verteidigung von Menschenrechten in Chile.

 

erschienen in: akin 25 (4.Dezember 2019) und Unsere Zeitung

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Doikayt: „Wo wir leben, dort ist unser Land“ https://loukanikos161.blackblogs.org/2019/12/03/isabel-frey-doikayt/ https://loukanikos161.blackblogs.org/2019/12/03/isabel-frey-doikayt/#respond Tue, 03 Dec 2019 09:24:31 +0000 http://loukanikos161.blackblogs.org/?p=229 Isabel Frey schnappt sich gern ihre Gitarre und macht revolutionäre jiddische Musik. Sie bezeichnet sich selbst als Millenial-Bundistin und setzt sich mit der jüdischen Diaspora auseinander. Bekannt geworden ist sie einer größeren Öffentlichkeit in Wien durch ihre Auftritte bei den Donnerstagsdemos. Langfassung eines Gesprächs mit Alexander Stoff, das zuerst im Augustin (Nr. 492, Oktober/November 2019) erschienen ist.

Frage: Erzähle bitte über deinen Werdegang. Wie bist du aufgewachsen und was ist dir heute in deinem Leben wichtig?

Isabel: Ich bin jüdisch-säkular in Wien aufgewachsen. Wir waren nicht gläubig, aber gewisse Traditionen haben wir eingehalten, wie an Feiertagen in die Synagoge gehen oder an Schabbat die Kerzen anzünden. Das kommt recht häufig in der jüdischen Gemeinde vor, um das Judentum kulturell am Leben zu erhalten. Währenddessen habe ich jede Woche an den Treffen der sozialistisch-zionistischen Jugendbewegung Hashomer Hatzair teilgenommen. Das hat mich sowohl hinsichtlich meiner jüdischen Identität als auch meines politischen Bewusstseins sehr geprägt. So bin ich als Jugendliche mit den Leuten vom Hashomer Hatzair gemeinsam auf Demos gegangen. Nach der Schule bin ich dann über den Hashomer Hatzair für ein Jahr nach Israel gereist, wo ich mit anderen aus Europa und den USA an so einer Art von freiwilligem sozialem Jahr teilgenommen habe. Ich habe in dieser Zeit auch die Siedlungen in der Westbank und den Zaun gesehen. Das hat mich schockiert und zum Nachdenken gebracht, was schließlich dazu führte, dass ich mich vom Zionismus abgewendet habe. Mir wurde mein Leben lang erzählt, dass ich zwar Österreicherin bin, aber dass ich auch eine Heimat in Israel habe. Dennoch habe ich das Land vor Ort als fremd empfunden. Mir gefällt die israelische Kultur und ich habe ein bisschen Hebräisch gelernt, ich habe auch Familie in Israel. Aber ich denke inzwischen, es ist eine Illusion zu glauben, dass es von Geburt aus mein zu Hause ist.

Nach diesem Jahr in Israel wollte ich weg aus Wien und habe 2013 in Amsterdam Soziologie und Politikwissenschaften zu studieren begonnen. Durch den Kontakt zu verschiedenen politischen Gruppen wurde ich nun stark politisiert. So war ich zB in der Hausbesetzer*innenszene aktiv. Als Studierende haben wir Räume besetzt, um sie selbst zu verwalten. Außerdem habe ich mich im Netzwerk „Feministinnen im Widerstand“ engagiert und bin zB gegen den (rechtsextremen Politiker) Geert Wilders auf die Straße gegangen und habe mit anderen Antirassist*innen gegen die Feiern mit der rassistischen Karikatur des „Zwarte Piet“ (schwarzer Peter) protestiert. Der tritt bei den großen Nikolo-Feierlichkeiten auf und es kommt dabei immer wieder zu black facing und stereotypen Verkleidungen. Das ist ganz schrecklich, weil in Holland auch People of color leben, viele Nachkommen von ehemaligen Sklav*innen aus Surinam. Ich war also quer durch verschiedene politische Bewegungen aktiv.

Frage: Als du in Israel warst, hast du im Kibbuz gelebt. Mit was für Erwartungen bist du dort hingegangen? Und welche Erfahrungen hast du dann im Kibbuz gesammelt?

Isabel: Meine Erwartung war, eine sozialistische Utopie vorzufinden. Die Realität war dann aber eine andere. Im Kibbuz, wo ich zuerst gewohnt habe, war kaum noch etwas kommunal. Es war wie in einem Dorf, wo jede Familie ein Haus kauft und für sich dort lebt. Die kommunale Essenshalle haben sie überhaupt nur geöffnet, weil wir jugendlichen Gäst*innen so eine große Gruppe waren. In einem anderen Kibbuz habe ich in einem Kindergarten gearbeitet – das hat mir schon besser gefallen. Toll finde ich, dass in den stärker kommunalisierten Kibbuzim die Kinder gemeinsam aufwachsen und es einfach mehr gemeinschaftliches Leben gibt. Was mich aber gleichzeitig erschreckt hat, war die politisch rechte Gesinnung und der Alltagsrassismus von vielen jungen Menschen dort. In einem Kibbuz nahe der Westbank haben sie die ganze Zeit auf Araber*innen geschimpft. Viele Junge haben inzwischen ganz andere Ziele als die Generation ihrer Eltern, die die Kibbuzbewegung aufgebaut haben. Einerseits leiden die Menschen in den Kibbuzim unter der aufgeheizten Kriegssituation, wenn zB Felder in Brand gesetzt werden, und sie entwickeln dann einen Hass auf die Palästinenser*innen. Andererseits wird überhaupt nicht über Ursachen wie die 53-jährige Besatzung gesprochen. Das hat mich ernüchtert und zeigt für mich, dass eine Utopie in dem Moment zerbröselt, wo sie institutionalisiert wird, weil es nicht statisch bleiben kann. Im Kibbuz haben wir auch eine frühere Partisanin kennen gelernt. Sie hat als junges Mädchen während des Warschauer Ghettoaufstandes Nachrichten übermittelt. Sie hat mich sehr beeindruckt, auch weil sie eine scharfe Analyse über die gegenwärtige Situation hatte. Sie ist Unterstützerin der Friedensbewegung. Leider gehört sie zu einer aussterbenden Generation.

Frage: Kommen wir doch wieder zurück zu sprechen auf deine Erlebnisse in Amsterdam.

Isabel: Vielleicht ein paar Worte darüber, wie ich zur Musik gekommen bin. Das Problem war, dass ich zwar in Amsterdam politisch sehr engagiert war, aber mir hat gänzlich ein jüdisches Umfeld gefehlt. Ich hatte dort keine Familie und in eine fremde Gemeinde wollte ich auch nicht einfach so gehen. Dazu kam, dass ich zum Zionismus auf Distanz gegangen bin. Auch in den Kreisen der linken Palästina-Solidaritätsbewegung habe ich keinen Platz für mich gesehen. Es war eben nicht meine Geschichte und ich wollte palästinensischen Erzählungen nicht den Platz wegnehmen. Mir hat eine Antwort darauf gefehlt, wie ich gleichzeitig links und jüdisch sein kann, wie das vereinbar ist. Und so bin ich schließlich auf dieses Liedgut gestoßen. Durch einen Freund habe ich gewisse Lieder wie den Arbetlose Marsch schon gekannt. Noch in Israel habe ich mir selbst beigebracht, Gitarre zu spielen, und so habe ich mich beim Singen begleitet. Und dann kam der Tag, als ich in einem besetzten Haus in Amsterdam mein erstes Konzert gegeben habe. Ich habe dafür ein Repertoire aus jiddischen Revolutions- und Widerstandsliedern zusammengestellt. Und zwischen den Liedern habe ich ein bisschen etwas darüber erzählt. So ist also dieses Setting zustande gekommen. Das war eine sehr schöne Erfahrung für mich und ich fand es auch stimmig.

Frage: Ist dir also mit deiner Musik die Verbindung von jüdischer Identität mit linker Politik gelungen?

Isabel: Ja, mit diesem Liedgut und dieser Geschichte. Ich habe dabei auch viel gelernt, denn ich wusste bis dahin nicht, dass es eine säkulare, jüdisch-sozialistische und nicht-zionistische Bewegung gegeben hat und mir war auch nicht bekannt, dass die russische Revolution besonders vom jüdischen Proletariat getragen wurde. Im Mittelpunkt stand für mich auch die jiddische Sprache. Beim Singen habe ich das Jiddisch sehr schön gefunden. Und ich habe auch mehr Bezug dazu als zB zum Hebräischen, da die jiddische Sprache aus dem Mittelhochdeutschen kommt und es mir daher leichter gefallen ist zu verstehen. Und so habe ich dann begonnen, auf Demonstrationen zu spielen und zu singen. Manchmal spontan bei Student*innenprotesten, dann wieder bei einer groß angelegten Blockadeaktion der Klimaschutzbewegung in Groningen, mit zivilem Ungehorsam so ähnlich wie Ende Gelände in Deutschland. Kurz nachdem die holländische Polizei die Demonstrant*innen mit Hunden und Pfefferspray attackiert und uns eingekesselt hatte, bin ich mit ein paar Liedern wie zB „Daloy politsey“ („Nieder mit der Polizei“, ein Lied gegen den russischen Zaren, Anm.) aufgetreten. Es war auch eine tolle Verbindung, meine jüdisch-revolutionäre Musik vor einem Publikum aus Klimaschutzaktivist*innen vorzustellen, das sonst wenig damit am Hut hatte.

Frage: Für die Klimaschutzaktivist*innen war es also etwas ganz Neues. Wie wird deine Musik sonst von den Zuhörenden aufgenommen?

Isabel: Einmal hat jemand zu mir gesagt, es sei toll, weil durch meine Musik das Gefühl entstehe, Teil von einem größeren Ganzen zu sein. Es knüpft eine Verbindung, wenn Menschen zum ersten Mal an einer politischen Aktion teilnehmen und dort erfahren, dass sie Teil von einer viel älteren Geschichte sind. Und es bedeutet auch Aufklärung. Aufgrund des Holocaust leben in Europa wenige Juden und Jüdinnen. Und viele kennen jüdische Gemeinden nur aus Geschichten über Antisemitismus und die Shoa. Mir ist es ein wichtiges Anliegen, den Menschen auch einen ganz anderen Teil der jüdischen Kultur näher zu bringen.

Frage: Bei manchen Liedern schreibst du eigene Texte dazu. Wie bist du auf die Idee gekommen?

Isabel: Inspiriert dazu hat mich Daniel Kahn, der auch jiddische revolutionäre Musik macht und die Texte immer auf Englisch übersetzt. Es spricht einfach mehr Leute an. So habe ich den Arbetlose Marsch (Arbeitslosenmarsch) für die Donnerstagsdemo übersetzt, denn auf einer Demonstration brauchst du etwas, um die Menschen aufzurütteln. Und das „Nieder mit HC“-Lied (im Original: „Daloy politsey“) habe ich zu diesem Anlass überhaupt neu vertextet. Diese Dynamik steht durchaus in der Tradition dieser Musik – es muss sich gar nicht streng an das Original halten wie bei einer klassischen Komposition.

Frage: Auf deiner Website wird die jüdische Diaspora thematisiert. Bitte erzähle mehr darüber.

Isabel: Was ich mache, wird als Teil eines Judentums gesehen, das von manchen diasporistisch genannt wird. Gemeint ist damit alles, was außerhalb Israels stattfindet. Obwohl das eigentlich nicht ganz richtig ist, denn auch Israel gehört zur Diaspora. In der Geschichte lebten und heute leben Juden und Jüdinnen auf der ganzen Welt verstreut und es gibt viele verschiedene jüdische Kulturen. Jiddisch ist eine Sprache der Diaspora, die ursprünglich aus Osteuropa kommt und sich auf der Welt verbreitet hat, zB durch die Migration in die USA. Es gab auch große jüdische Bevölkerungen in Nordafrika, wo überhaupt kein Widerspruch zwischen einer jüdischen und arabischen Identität existierte. Mit dem Aufkommen des Zionismus und der Staatsgründung von Israel bekam es eine Bedeutung, alles neu zu entwickeln. Neben neuer Fahne und Hymne das moderne Hebräisch mit neuen Tänzen und Liedern. Diaspora im heutigen Sinne bedeutet ein nicht-zionistisches Judentum. Es steht im Gegensatz zu einem ständigen Sehnen nach Israel als Heimat.

Was mich sehr inspiriert hat, ist die Geschichte des jüdischen Arbeiter*innenbundes. Der Bund repräsentierte eine dritte Strömung neben den jüdischen Kommunist*innen und den sozialistischen Zionist*innen. Der Bund stand dazwischen, weil er sich weder bestehenden linken Parteien anschließen noch nach Palästina emigrieren wollte, um dort den Sozialismus aufzubauen. Der Bund stand für ein selbstbewusstes Judentum, man sprach Jiddisch und die Aktivist*innen des Bundes wollten den Sozialismus an dem Ort aufbauen, wo sie gerade lebten. Das jiddische Wort Doikayt, was übersetzt so viel bedeutet wie Daheit, war genau dieses Prinzip: dort, wo wir leben, dort ist unser Land. Es braucht dafür keinen Nationalstaat, aber wir wollen unsere Rechte, um als Minderheit hier zu leben. Ich finde dieses Prinzip sehr schön, denn es ist eine kämpferische, antifaschistische Ansage: wir wollen hier die Welt verbessern. Es trägt in sich das Überleben der eigenen Gruppe, ebenso wie einen Universalismus, der alle Menschen frei sehen will. In der Diaspora-Tradition des Bundes steht für mich in heutiger Zeit die Solidarität mit Geflüchteten genauso wie das Engagment gegen rechtsextreme Hetze und antimuslimischen Rassismus.

Frage: Welche Organisationen arbeiten heutzutage in diese Richtung?

Isabel: Kleine Gruppen wie zB Jews for racial and economic justice in den USA. Die nennen sich zwar nicht diasporistisch, aber sie praktizieren genau das. Diese Organisation ist solidarisch mit Black Lives Matter und aktiv gegen Abschiebungen durch die Trump-Regierung. Oder das Kollektiv Jewdas in London. Die organisieren das lustige Birthwrong, als eine Alternative zu den Birthright-Reisen nach Israel, die von einem reichen, rechten US-Amerikaner veranstaltet werden und vor allem dazu dienen sollen, den Nationalismus zu stärken. Birthwrong will nun die jüdische Identität in der Diaspora gemeinsam, lustvoll erforschen, etwa durch Reisen nach Andalusien und Marseille, wo ich dabei gewesen bin und das letzte Birthwrong in Amsterdam mitorganisiert habe. Ich war davon begeistert, denn es sind lauter junge, linke Juden und Jüdinnen aus ganz Europa zusammengekommen, es gab eine Tour zur linken jüdischen Geschichte und wir haben eine Ausstellung über den kommunistischen Widerstand gegen die Nazis sowie ein Archiv über die Sklaverei in Holland besucht. Seit ich wieder zurück bin, versuche ich mit anderen auch hier in Wien etwas aufzubauen. Bisher treffen wir uns informell und feiern zB zusammen Rosch ha-Schana, das jüdische Neujahrsfest, und gehen gemeinsam auf Demos.

Frage: Was sind deine Utopien? Von was für einer Welt träumst du?

Isabel: Eine Welt, in der es keine Lohnarbeit gibt und wir nicht zum Arbeiten gezwungen werden. Also eine Welt, wo wir unserer Kreativität freien Lauf lassen können und unsere Handlungen aus eigener Motivation heraus mit dem Wunsch setzen, einander zu helfen oder etwas Neues zu schaffen. Und ich träume von einem Ort, an dem es kein Privateigentum mehr gibt. Wohnraum soll zB kollektives Eigentum sein und die Produktion von Gütern gemeinschaftlich reguliert werden. Und zwar in einer dezentralen und offenen, flexiblen Weise, damit es sich nicht in einem starren System festfährt. Ich träume auch von einer Welt, in der Geschlechterverhältnisse, Geschlechtsidentitäten und Sexualitäten sich öffnen und vielfältige Dinge möglich sind. Es wäre schön, wenn wir in unserer gegenwärtigen Gesellschaft vorhandene, unterdrückende Normen in diesen Bereichen überwinden und zu mehr Freiheit gelangen. Ich wünsche mir eine Welt ohne Grenzen, mit Bewegungsfreiheit, grundlegenden Rechten für alle Menschen und gegenseitiger Hilfe. Und ich wünsche mir eine Art des Zusammenlebens im Einklang mit der Natur, die anerkennt, dass unser Planet bedroht ist. Ich will eine Welt ohne Polizeigewalt.

Frage: Und was bedeutet es für dich, zu Hause zu sein? Fühlst du dich in Österreich wohl oder hast du auch schon daran gedacht, woanders zu leben?

Isabel: Zu Hause fühle ich mich besonders in Wien. Hier bin ich schließlich auch aufgewachsen und ich sehe mich auch mehr als Wienerin denn als Österreicherin. Das hat auch damit zu tun, dass es nur hier in Wien eine größere jüdische Gemeinde und ein jüdisches Leben gibt. Obwohl ich mich also in Wien zu Hause fühle, bleibt ein kleiner Rest von einem Gefühl, dass ich nicht zu 100% Teil der Gesellschaft bin. Das liegt teilweise an der Geschichte, aber auch an der Gegenwart, da wir als jüdische Gemeinde eine Minderheit sind. Und ich finde es auch lustig, denn ich war gerade für einen Monat in den USA und Kanada. In New York habe ich Familie und obwohl ich nie dort gelebt habe, fühle ich mich dort sehr zu Hause. Das hat gar keinen bestimmten Grund, aber ich glaube, es hängt damit zusammen, dass New York eine Stadt ist, in die fast alle zugezogen sind. Und auch damit, dass viele Juden und Jüdinnen in der Stadt leben, sodass es im Alltag einfach zum Leben dazu gehört. Die jüdische Gemeinde ist dort sehr vielfältig, man trifft zB auch Linke. Zur jüdischen Gemeinde in Wien, die ziemlich konservativ geprägt ist, habe ich eine gemischte Beziehung, manchmal ecke ich mit meiner politischen Einstellung und meinen Gefühlen gegenüber Israel an. Und obwohl mein letzter Aufenthalt sechs Jahre her ist, möchte ich auch gerne wieder nach Israel. Ich weiss noch nicht, wie ich es anstellen werde – ich hätte gerne einen Grund dafür, denn nur für einen Strandurlaub möchte ich ungern hinfahren. Im Moment bin ich dabei, meine Kenntnisse in Hebräisch aufzufrischen. Nicht der Zionismus, aber meine biographische Verbindung zieht mich nach Israel. Ich sehe Israel eben auch als eine Form der Diaspora, als einen Ort, an den Juden und Jüdinnen hingezogen sind und dort eine eigene Kultur aufgebaut haben.

Frage: Österreich ist ein sehr konservatives Land. In anderen Ländern gibt es lebendigere soziale Bewegungen. Welche Perspektiven siehst du hier, deine Träume von einer besseren Welt zu verwirklichen?

Isabel: Es stimmt, dass Österreich ein konservatives Land ist, aber ich glaube, im Moment sieht es nirgends auf der Welt besser aus. In Amsterdam fand ich die Hausbesetzer*innenszene schon toll, aber andererseits ist Holland vor allem am Land sehr konservativ, neoliberal und apolitisch. Es gibt dort an ländlichen Orten überhaupt keine linke Jugendkultur. Bei uns hat mich in diesem Jahr schwarz-blauer Regierung die Opposition auf der Straße bei den Donnerstagsdemos schon sehr beeindruckt. Sicher würde ich mir mehr wünschen, aber es ist etwas Besonderes, dabei zu sein. Das hat mir ein bisschen Hoffnung gemacht. Schon aus dem erwähnten jiddischen Prinzip der Doikayt denke ich mir, ich bin jetzt hier und muss mich auch hier engagieren und versuchen, die Lebensumstände zu verbessern.

https://www.isabelfrey.com

 

Langfassung erschienen auf Unsere Zeitung

 

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Wien: #ChileDesperto Solidaritätsdemo mit der Protestbewegung in Chile https://loukanikos161.blackblogs.org/2019/10/28/wien-chiledesperto-solidemo/ https://loukanikos161.blackblogs.org/2019/10/28/wien-chiledesperto-solidemo/#respond Mon, 28 Oct 2019 08:44:12 +0000 http://loukanikos161.blackblogs.org/?p=226 In Solidarität mit den großen Protesten gegen die rechtsextreme Regierung von Präsident Piñera und den neoliberalen Kapitalismus in Chile kam es am Sonntag, 27.10.2019, nachmittags zu einer Demonstration in Wien.

Nach einer Zählung des Radiojournalisten Gerhard Kettler (https://nochrichten.net) beteiligten sich daran ca. 650-750 Menschen. Aufgerufen hatte die Gruppe Chile despertó 2019 – Viena (zu finden auf Facebook).

Die Atmosphäre war großartig und sehr lebhaft. Schon beim Treffpunkt beim Gutenbergdenkmal am Lugeck riefen die Menschen hüpfend laute Parolen und sangen Lieder. Wie bei einem in Lateinamerika üblichen Cacerolazo wurde auf Töpfe und Pfannen geschlagen. Auch Pfeifen und Trommeln kamen zum Einsatz. Das Bild wurde durch viele chilenische Nationalfahnen dominiert, ob groß oder als kleine Fähnchen, manche Demoteilnehmer*innen hatten sich in die Flagge eingehüllt. Andere trugen auch Fahnen der indigenen Mapuche mit sich.

Schilder und Transparente, meist auf Spanisch, manche auch auf Englisch und Deutsch, forderten den Rücktritt des chilenischen Präsidenten Piñera und eine neue Verfassung. Die unzähligen Menschenrechtsverletzungen wie Folter, Vergewaltigungen und Morde, mit denen die chilenischen Staatskräfte in den letzten Tagen gegen die Protestierenden vorgegangen waren, wurden angeklagt.

Beeindruckend war, als mehrere Personen begannen, die Gitarre anzustimmen. Daraufhin sang die Menge das Lied „El derecho de vivir en paz“ von Victor Jara. Der für seine sozialkritischen Lieder bekannte Folkmusiker Victor Jara wurde wenige Tage nach dem Militärputsch in Chile am 11.September 1973 von den Schergen der Pinochet-Diktatur gefoltert und ermordet. Im Stadion von Santiago de Chile haben sie ihm die Finger gebrochen, damit er nicht mehr Gitarre spielen kann. Auch das Lied „El pueblo unido jamas sera vencido“ wurde von der Menge angestimmt. Es war der Kampfschrei der Widerstandsbewegung gegen die Pinochet-Diktatur und wurde u.a. von der chilenischen Gruppe Quilapayún performt.

Nach längerer Zeit als Standkundgebung setzten sich schließlich die Menschen mit einer Demonstration, meist spanische Parolen rufend, in Bewegung. Sie zogen durch den ersten Bezirk, über den Hohen Markt und die Wipplingerstraße zum Ring. Dort wurde die Demo von der Polizei auf eine Nebenfahrbahn umgelenkt. Wie so oft in Wien wurde also wieder einmal die Meinungs- und Versammlungsfreiheit dem ungestörten Autoverkehr geopfert. Die Menge zog weiter bis zum Sigmund-Freud-Park, wo die Abschlusskundgebung stattfand. Hier versammelten sich noch einmal alle und machten in der inzwischen angebrochenen Dunkelheit Musik.

El derecho de vivir en paz

https://vimeo.com/369258900

El pueblo unido

https://vimeo.com/369260091

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Gewerkschafter*innen weltweit unter Beschuss https://loukanikos161.blackblogs.org/2019/08/02/igb-rechtsindex19/ https://loukanikos161.blackblogs.org/2019/08/02/igb-rechtsindex19/#respond Fri, 02 Aug 2019 03:43:48 +0000 http://loukanikos161.blackblogs.org/?p=218

Zu alarmierenden Ergebnissen hinsichtlich der weltweiten Lage von Arbeiter*innen und Gewerkschaften kommt der Globale Rechtsindex des Internationalen Gewerkschaftsbundes. Die Missachtung von Arbeiter*innenrechten durch Unternehmen und Regierungen, sowohl in autoritär als auch demokratisch verfassten Staaten, ist weiter gestiegen.

Rechtsverletzungen in Zahlen

In 85% der Länder wurde das Streikrecht missachtet, in 80% gab es Verletzungen des Rechts auf Tarifverhandlungen und in 59% wurde das Recht auf Zulassung von Gewerkschaften unterbunden. Seit dem letzten Jahr gab es eine Zunahme von 92 auf 107 Länder, wo das Recht verletzt wurde, eine Gewerkschaft zu gründen oder beizutreten. Einschränkungen der Vereinigungsfreiheit sind zwar in allen Regionen mehr geworden – der massivste Anstieg, nämlich von 50% gegenüber dem Vorjahr, ist in Europa zu beobachten. Allein im laufenden Jahr 2019 wurden bislang in 123 von den untersuchten 145 Ländern Streiks erheblich eingeschränkt oder verboten.

In 52 Ländern waren Arbeiter*innen der Gewalt ausgesetzt und in 10 Staaten wurden Gewerkschafter*innen umgebracht. Allein im Jahr 2018 wurden 53 Gewerkschafter*innen in acht Ländern gezielt ermordet. Während etwa Italien zwar zu jenen Ländern zB neben Island, Uruguay und Slowakei gehört, in denen nur sporadisch die Rechte von Arbeiter*innen missachtet wurden, kam es hier andererseits auch zur Ermordung von Gewerkschafter*innen. In 54 Ländern wurde im vergangenen Jahr die Rede- und Versammlungsfreiheit eingeschränkt. In 72% der Länder haben Arbeiter*innen keinen oder nur begrenzten Zugang zur Justiz. Die Anzahl der Länder, in denen Arbeiter*innen und Gewerkschafter*innen inhaftiert waren, ist gegenüber 2018 von 59 auf 64 gestiegen. Festgenommen wurden Arbeiter*innen in drei Viertel der Länder in der Region Asien/Pazifik und in einem Viertel der europäischen Länder.

Als schlimmste Weltgegend für Arbeiter*innen wird die Region Naher Osten und Nordafrika eingestuft und unter den 10 weltweit schlimmsten Ländern finden sich Brasilien, Philippinen und die Türkei.

Regionale Tendenzen

In der Region des Nahen Ostens und Nordafrikas waren besonders Wanderarbeiter*innen miserablen Bedingungen ausgesetzt. In Saudi Arabien wurde eine Wanderarbeiterin im Geheimen hingerichtet, nachdem sie in Notwehr ihren Vergewaltiger umgebracht haben soll. Eine unabhängige Organisierung von Gewerkschaften in Algerien und Ägypten wurde durch verschärfte Auflagen unterbunden, die meisten aufgelöst. Außerdem gingen die Regierungen repressiv gegen protestierende Arbeiter*innen vor, in Iran etwa gab es Massenverhaftungen.

In der Asien/Pazifik-Region hat die physische Gewalt zugenommen. Auf den Philippinen wurden im letzten Jahr insgesamt 10 Gewerkschafter*innen ermordet, neun Personen – darunter zwei Minderjährige – im Rahmen eines Protestes für Landreform. Bei Protesten gegen Sonderwirtschaftszonen in Vietnam setzte die Polizei Gewalt gegen Tausende von Demonstrant*innen ein, Hunderte wurden inhaftiert und in Haft geschlagen. In Bangladesch, Indonesien und China kam es zu systematischen Entlassungen von Arbeiter*innen, die versuchten, eine Gewerkschaft zu gründen. In der Region haben fast alle Länder das Streikrecht verletzt und das Recht auf Tarifverhandlungen wurde überall missachtet.

In fast der Hälfte aller afrikanischen Staaten wurden Arbeiter*innen inhaftiert. Polizeigewalt gab es etwa bei Demonstrationen in Kamerun und Ghana. Anfang 2019 wurden in Simbabwe bei einer Demonstration 12 Arbeiter*innen von den Staatskräften getötet. Das Streikrecht wurde in 38 von 39 Ländern von Afrika verletzt.

Gegenüber vergangenem Jahr hat sich das Rating von Gesamtamerika verschlechtert. In vielen Ländern wurde Gewalt gegen Gewerkschafter*innen angewendet. Den traurigen Rekord im Jahr 2018 hält zum wiederholten Male Kolumbien, wo 34 Gewerkschafter*innen ermordet wurden, viele von ihnen Landarbeiter*innen und Lehrer*innen. Auch in Brasilien und Guatemala gab es Morde an Gewerkschafter*innen. Straflosigkeit für diese Verbrechen war ein weitverbreitetes Problem. In Ländern wie Ecuador wurden zahlreiche Arbeiter*innen entlassen, weil sie eine Gewerkschaft gründen wollten. In Panama und Argentinien wurde die Zulassung von Gewerkschaften verweigert.

Auch das Rating von Europa hat sich verschlechtert. Es kam vermehrt zu Gewalt gegen Gewerkschafter*innen und Arbeiter*innen wurden wegen ihrer Teilnahme an Streiks juristisch verfolgt. In Italien und der Türkei gab es Morde an Gewerkschafter*innen. Zahlreiche Streiks wurden etwa in Frankreich und Belgien von der Polizei unterdrückt. Vergangenen Oktober wurden bei einem Protest von Arbeiter*innen des Istanbuler Flughafens 400 von ihnen verhaftet, 43 von ihnen droht ein Gerichtsverfahren. Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Chemiearbeiter*innen in der Türkei wurde bei einem Betriebsbesuch im November 2018 erschossen.

Im Bericht des IGB, der Mitte Juni veröffentlicht wurde, werden 145 Länder im Zeitraum von April 2018 bis März 2019 bewertet und konkrete Vorfälle von Rechtsverletzungen dokumentiert, die in Fragebögen erhoben wurden. Grundlage sind die Normen der ILO.

Zwischen Diktatur und Demokratie

Dass die Gewerkschafts- und Menschenrechte immer mehr unter Druck geraten, beobachtet Marcus Strohmeier vom internationalen Referat des Österreichischen Gewerkschaftsbundes (ÖGB) seit vielen Jahren. Dies hängt mit Diktaturen und ihrer repressiven Vorgehensweise gegen Arbeiter*innen zusammen wie in der Türkei und Ungarn. Andere Länder wie Simbabwe haben die Hoffnungen auf Demokratisierung nicht erfüllt und die Gefängnisse bleiben gefüllt.

Neben den Diktaturen gab es aber auch eine Reihe von demokratischen Staaten, in denen die Arbeiter*innenrechte in Frage gestellt und missachtet wurden. Obwohl die inzwischen abgewählte Syriza-Regierung in Griechenland angetreten war, die Interessen der Arbeiter*innen zu vertreten, hat sie nicht wieder das Recht auf Kollektivverhandlungen eingeführt, das die Troika aufgehoben hatte, kritisiert Strohmeier. In Tschechien wurde das Streikrecht eingeschränkt und auch in Polen ist es nun nicht mehr möglich, einen landesweiten Streik zu organisieren. In den USA haben einzelne Bundesstaaten Kollektivverhandlungen sogar verboten. Maßnahmen wie die Einführung des 12-Stundenarbeitstages und die versuchte Abschaffung der Jugendvertrauensräte in Österreich durch ÖVP und FPÖ gehen in eine ähnliche Richtung.

Gewerkschaftsrechte sind Menschenrechte

Der Abbau von Demokratie hat auch zur Folge, dass sich die Gewerkschaften neben ihren klassischen Aufgaben im Bereich der Arbeits- und Sozialrechte zunehmend dafür engagieren müssen, dass demokratische Verhältnisse abgesichert werden, und zwar nicht nur außerhalb Europas sondern auch in Ländern wie Polen, Ungarn, Italien und Ukraine. Denn: „Ohne Demokratie keine Gewerkschaften, zumindest keine freien Gewerkschaften. Und das ist unsere Lebensgrundlage, wie die Luft zum Atmen brauchen wir die Demokratie für unsere Arbeit„, so Marcus Strohmeier. Besonders seit den 2000er Jahren werden gerade in den demokratisch verfassten Gesellschaften die Rechte der Arbeiter*innen demontiert, auch weil die Unternehmen mit bestimmten Regierungsparteien sich rücksichtslos über die Arbeiter*innen und Gewerkschaften hinwegsetzen. Nicht nur in Österreich hören Sozialpartnerschaften auf zu funktionieren, weil die Unternehmensseite nicht mehr bereit ist, mit den Gewerkschaften zu verhandeln.

Marcus Strohmeier weist darauf hin, dass die Arbeit für Gewerkschafter*innen im internationalen Bereich viel komplexer geworden ist. Arbeitsrechtliche Standards der ILO werden mit Füßen getreten. Wenn zB in Kasachstan Arbeiter*innen inhaftiert werden, setzen sich die gut vernetzten Gewerkschaften mit Protestbriefen und Demonstrationen vor den Botschaften dafür ein, dass die Kolleg*innen wieder aus dem Gefängnis frei kommen. Aber zwei Wochen später werden wieder andere Gewerkschafter*innen eingesperrt. Hilferufe erhalten die ÖGB-Gewerkschafter*innen mittlerweile fast täglich aus aller Welt und der Arbeitsaufwand ist kaum noch zu bewältigen, sagt Strohmeier.

Besonderen Respekt bringt Marcus Strohmeier seinen Kolleg*innen in Kolumbien entgegen, deren Mut er bewundert, unter lebensbedrohlichen Umständen gewerkschaftlich tätig zu sein. Deshalb hat sich der ÖGB beim Abschluss des Freihandelsabkommens der EU mit Kolumbien quer gestellt. Letztlich vergeblich, denn während die Vorgängerregierung in Österreich sich noch aus menschenrechtlichen Bedenken weigerte, zuzustimmen, hat die Regierung von ÖVP und FPÖ nicht einmal mit der Wimper gezuckt und das Abkommen sofort unterzeichnet.

Im Rahmen der ILO wurde erst vor kurzem eine neue Kernnorm angenommen, die besagt, dass gegen sexualisierte Belästigung am Arbeitsplatz vorzugehen ist und bei Diskriminierung von Frauen* auch Strafen vorgesehen sind. Marcus Strohmeier wünscht sich außerdem ein stärkeres Engagement und eine Regelung der ILO, mit der die Rechte von LGBTIQ-Personen gestärkt werden, aber dies wurde von mehreren afrikanischen Regierungen blockiert.

„Wir lassen Menschenrechte und Gewerkschaftsrechte nicht auseinander dividieren. Das gehört für uns zusammen. Gewerkschaftsrechte sind Menschenrechte,“ hebt Marcus Strohmeier hervor.

Internationale Solidarität

Damit sich an den Verhältnissen etwas zum Besseren für die Arbeiter*innen verändert, hält Marcus Strohmeier ein Bündel von Maßnahmen für erforderlich. Zunächst ist es wichtig, dass die Konsument*innen informiert werden, was in den Produkten steckt und welche Arbeitsbedingungen und Entlohnung dahinter stehen. Auch die Vernetzung und gegenseitige Hilfe der Gewerkschaften sollte noch weiter gesteigert werden, so Strohmeier: „Wenn in Simbabwe die Gewerkschaftsführer*innen ins Gefängnis kommen, würde ich mir erwarten und wünschen, dass aus Uganda und anderen Ländern die Kolleginnen und Kollegen sofort agieren und vielleicht sogar die Grenzen blockieren.“ Schließlich braucht es auch mehr politischen Druck auf die nationalen Regierungen, damit diese sich im Rahmen der EU mehr auf internationaler Ebene für die Rechte der Arbeiter*innen einsetzen. Dieser notwendige politische Druck wird allerdings in Österreich durch die stark konzentrierte Medienlandschaft erschwert, was dazu führt, dass bürgerliche Medien einfach nicht über Themen berichten, welche die Arbeiter*innenrechte betreffen. Nicht zuletzt findet Strohmeier mehr politisches Engagement der Gewerkschaften nötig, um innerhalb der bestehenden Parteien mehr Druck aufzubauen. Skeptiker*innen wie etwa den ungarischen Gewerkschafter*innen hält Strohmeier entgegen: „Die Politik macht die Probleme für die Gewerkschaften, sie beschließt Gesetze, die dann ihre Arbeit einschränken. Das heißt, dass die Gewerkschaften sich ihrer Aufgabe bewusster werden sollten, politisch zu agieren und der verstärkte politische Arm der Zivilgesellschaft zu werden.“

veröffentlicht am 1.8.2019 auf Unsere Zeitung

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Wien: Aktion für Ausrufung des Klimanotstandes https://loukanikos161.blackblogs.org/2019/06/24/wien-aktion-klimanotstand/ https://loukanikos161.blackblogs.org/2019/06/24/wien-aktion-klimanotstand/#respond Mon, 24 Jun 2019 09:09:38 +0000 http://loukanikos161.blackblogs.org/?p=215 Heute versammelten sich um 8:30 anlässlich der letzten Sitzung des Wiener Gemeinderates vor der Sommerpause ca. 40-50 Menschen, vor allem Jugendliche, beim Eingang zum Rathaus. Mit der Protestaktion, zu der Fridays for Future aufgerufen hatte, sollten die Gemeindeabgeordneten und die Stadtregierung daran erinnert werden, dass die Zeit angesichts der dramatischen Auswirkungen des Klimawandels drängt und sie bei all ihren Entscheidungen klimapolitische Kriterien für Klimagerechtigkeit berücksichtigen sollten. Daher die Forderung nach der Ausrufung des Klimanotstandes endlich auch in Wien.

Beim Eingang zum Rathaus waren zwei „Klimafakten-Teppiche“ ausgelegt, um die Abgeordneten und die Stadtregierung noch einmal auf die Facts zum Klimawandel hinzuweisen. Auch auf Transparenten und Schildern waren Botschaften zu lesen, u.a. hielten die Teilnehmenden Schilder mit Namen von Städten, wo der Klimanotstand bereits ausgerufen worden ist.

Die Aktion dauerte etwas länger als eine halbe Stunde. Es wurden gemeinsam Parolen skandiert wie „Klimanotstand ausrufen!“, „There is no future on a dead planet“ und „Es gibt kein Recht, unsere Zukunft zu zerstören“. Mit der Parole „Es gibt kein Recht, einen SUV zu fahren“ wurde auch auf die Problematik der destruktiven Auswirkungen des Verkehrswesens auf das Klima hingewiesen. Außerdem wurden im Chor Songs gesungen wie „Hey ho, take me by the hand. Strong in solidarity we stand. Fight for climate justice, fight for climate justice!“ und eine klimapolitische Neuvertextung des antifaschistischen Partisan*innen-Liedes „Bella ciao“.

Für Mittwoch, den 26.6. rufen Fridays for Future zu einer weiteren Protestaktion für die Ausrufung des Klimanotstandes um 8:30 beim Wiener Rathaus auf.

Aufruf hier

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