Feminismus – Nachrichten vom Riot Dog https://loukanikos161.blackblogs.org One more Blackblog Wed, 27 Nov 2024 05:42:47 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.1 Text zum Feminismus von Hanna Herbst https://loukanikos161.blackblogs.org/2024/11/27/text-zum-feminismus-von-hanna-herbst/ https://loukanikos161.blackblogs.org/2024/11/27/text-zum-feminismus-von-hanna-herbst/#respond Wed, 27 Nov 2024 05:42:39 +0000 https://loukanikos161.blackblogs.org/?p=258 Mit dem Feminismus ist das so: Eigentlich würde ich lieber im Wald spazieren gehen. Ich würde gern eine Schafherde züchten, ich würde gerne öfter Romane lesen. Lieber hätte ich Zeit für Müßiggang, lieber würde ich Klavier lernen oder Gebärdensprache oder endlich rausfinden, warum Joghurt-Deckel diese rauen Punkte haben und ob Ampeln schneller grün werden, wenn man öfter drückt. Und eigentlich hätte ich gerne ein Buch mit Kurzgeschichten geschrieben. Aber das spielt’s halt nicht. Denn in der Sekunde, in der bestehende Strukturen hinterfragende Worte den Mund einer Frau verlassen, sammeln sich im Internet die Menschen zusammen, wie das einst im Mittelalter gewesen sein muss (wenn man den gängigen Filmen und Monty Python glaubt), und sie zeigen auf dich, und alle fangen in fieberhafter Aufregung an zu schreien, vor ihnen, das sei eine Feministin. Und dann hast du eine Aufgabe im Leben.

Ehe ich mich versah, nahm mir der Feminismus meine Berufsbezeichnung weg. War ich auf Podiumsdiskussionen kurz zuvor noch Journalistin gewesen, war ich auf einmal Feministin. »Es diskutieren Rechtsanwalt Sepp Hubendübel, Medienimperiumsbesitzer und Schriftsteller Franz Hackenbuchner, Schauspielerin Lise Huber und Feministin Hanna Herbst.« Eine ganz klare Einordnung, unter der meine Aussagen zu hören und zu werten waren. Ein Disclaimer. Und unter diesem Disclaimer waren auch alle Aussagen und Anliegen für viele quasi zu verwerfen, weil überzogen, weil hysterisch, weil männerfeindliche Männerhasserin. Weil Feministin.

Antifeministinnen und Antifeministen begegneten mir mit stolz – und das hatten sie nie getan, bevor ich nicht die Bezeichnung »Feministin« mit mir trug –, denn Antifeminismus ist nicht einmal tauglich für die Rebellion des gemeinen Stammtischrevoluzzers. Antifeministischen Aussagen muss kein »Das wird man ja wohl noch sagen dürfen« nachgestellt werden, weil es für viele vollkommen selbstverständlich zu sein scheint, dass man das ja sowieso noch sagen darf. Feministinnen, gegen die muss laut und stolz angekämpft werden, gegen Feministinnen, gegen die gehört das traditionelle Familienbild verteidigt, weil Feministinnen, die wollen Bewährtes zerstören, die wollen ja Jungs zu Mädchen machen und Mädchen zu Jungs und außerdem wollen sie Jungs im Wachstumsstadium für ein Jahr an einen Stuhl fesseln, damit ihre Muskeln verkümmern und Männer später nicht stärker sind als Frauen. Feministinnen, die handeln nur aus sexueller Frustration heraus, oder weil sie lesbisch sind, jedenfalls, weil sie zu lange keinen nackten Mann gesehen haben, weil ihre Anliegen sind doch längst geklärt. Wir sind doch alle längst gleichberechtigt, Frauen dürfen wählen, sie brauchen nicht mehr die Erlaubnis ihres Ehemannes, wenn sie arbeiten möchten, nachts arbeiten dürfen sie ja jetzt auch schon seit 2002. Das mit den Führungspositionen, da wollen die doch einfach nicht hin, wegen der Verantwortung und alles, in der Ehe vergewaltigen darf man sie auch nicht mehr und auf den Hintern greifen nicht und jetzt darf man als Mann ja sowieso nichts mehr, nicht einmal flirten, weil da kommst du ehe du dich versiehst unschuldig ins Gefängnis.

Dabei ist die Vision des Feminismus keine »weibliche Zukunft«, wie unsere erste Frauenministerin Johanna Dohnal einmal gesagt hat. Es ist eine »menschliche Zukunft«. Sprich eine Zukunft, von der alle Geschlechter profitieren: Nicht nur eins. Nicht einmal nur zwei. Alle. Und die Freiheit beginnt mit der Befreiung.

In diesem Kampf um Wahlfreiheit, um Entfaltungsfreiheit, gibt es natürlich die, die sich zu recht bedroht fühlen. Schließlich rütteln wir an Privilegien. Wenn wir möchten, dass alle gleichgestellt sind, dann gibt es die, die geben, und die, die bekommen müssen. Doch die, die geben müssen, haben es geschafft, einige derer, die bekommen würden, zu überzeugen, dass auch sie bei Chancengleichheit verlieren würden. Dabei hat das Teilen von Privilegien nichts mit Benachteiligung zu tun. Aber in einer Welt, in der das zu Anstrebende beruflicher Erfolg und ein SUV sind, möchten die Wenigsten abgeben. Also werden von den Regierenden Blendgranaten in die Debatte geworfen: Die Feministinnen, die sind männerfeindlich, die Ausländer, die sind schuld, dass du weniger Mindestsicherung kassierst, die Schwulen und Lesben, die wollen jetzt nur heiraten, aber wart noch ein paar Jahre, dann darfst du auf einmal dein Pferd ehelichen. Sie spielen die Bevölkerung gegeneinander aus und lachen sich dabei ins Fäustchen. Kürzen Menschen mit Behinderung 380 Euro im Monat, kürzen bei der Mindestsicherung, bevorteilen Unternehmen, zahlen der Außenministerin 250.000 Euro für ihre Hochzeit. Oder wie Minister Blümel unlängst in einer Diskussionssendung auf den Vorwurf, Reiche bekämen von dieser Regierung mehr und Arme weniger, antwortete: »Ja, das ist der Weg, den die Regierung gewählt hat.«

Wo es einmal Visionen gab, Kämpferinnen und Kämpfer für sozialen Fortschritt und Freiheit, gibt es heute Trumps, Putins, Erdoğans und vor unserer Tür: Einen Kanzler, der in einem Interview mit der Krone sagt: »Genauso falsch wie die Hetze ist die Träumerei.«
Mit dem Fehlen fortschrittlichen Denkens derer, die an der Macht sind, wird sich die Welt verändern. Aber nicht zum Guten. Ergo: Widerstand.

Die Soziologin Frigga Haug hat einmal gesagt: »Wir sollten fragen: Widerstand gegen was, mit wem und wofür? Widerstand bedarf einer Perspektive, eines Wohin, und er bedarf mehr als eines Individuums.« Zitat Ende.

Widerstand wogegen ist klar:

In Polen wird versucht, die Zugangsmöglichkeiten zu Schwangerschaftsabbruch mehr und mehr zu beschränken. Organisationen, die nur das Wort Schwangerschaftsabbruch erwähnen oder sie gar durchführen, bekommen von der US-Regierung keine Zuschüsse mehr. In Russland wird nach einer Gesetzesänderung häusliche Gewalt weniger hart bestraft und gilt nur noch als Ordnungswidrigkeit – außer es handelt sich um eine Wiederholungstat oder es wurden dabei Knochen gebrochen. Bei uns wird Gewalt gegen Frauen so lange ignoriert, bis sie von einem Ausländer ausgeht, die Grenzen der Selbstbestimmtheit der Frauen an nationale Grenzen gebunden. Währenddessen sagen Zahlen Folgendes:

In Österreich stieg die Zahl der – meist durch ihren Partner oder Ex-Partner – ermordeten Frauen in den vergangenen Jahren an. In Deutschland versucht alle 24 Stunden ein Mann, seine Frau zu töten. Jeden dritten Tag gelingt es einem.

In der Türkei, die auf dem Weg zu einem modernen, pro-europäischen Staat war, fordert der Präsident, der einmal als Reformer galt, dass alle Frauen mindestens drei Kinder, alle in Europa lebenden türkischen Frauen sogar mindestens fünf Kinder bekommen müssen. In einer Broschüre, die türkische Paare vor der Hochzeit bekommen, schreibt ein ehemaliger Mitarbeiter der staatlichen Religionsbehörde: »Eine Frau, die sich nicht für ihren Mann zurechtmacht, ihrem Mann als Herren im Hause nicht gehorsam ist, kann geschlagen werden«. Die bulgarische Regierung weigert sich, die Istanbul Konvention zu ratifizieren – ein Abkommen zur zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Brett Kavanough wurde Höchstrichter auf Lebenszeit und der US-Präsident entschuldigte sich bei ihm »im Namen der Nation« für das, was ihm vermeintlich angetan worden war. All das findet großen Zuspruch.

Genug Weltschmerz. Wieder zurück zu Frigga Haug. Wir sollten uns also fragen: »Widerstand gegen was, mit wem und wofür?«, sagt sie. Ich glaub, das können wir beantworten. Aber wie sie weiter sagt: »Widerstand bedarf einer Perspektive, eines Wohin, und er bedarf mehr als eines Individuums«.

Also: Widerstand wofür und wohin? Und wie?

Widerstand darf nicht nur Reaktion bedeuten. Zu oft reagieren wir dieser Tage einfach nur und schaffen selbst keine Gegenentwürfe. Aber es bleibt uns ja nichts anderes übrig. Denn wär die Welt ein heruntergekommenes Haus, dann würde während wir versuchen, das Dach zu reparieren, damit es nicht immer reintropft, jemand Steine durch alle Fenster werfen und während wir die Fenster ersetzen langsam ein Bulldozer anrollen.

Ich selbst hab das so gemacht: Ich hab mir ein neues Notizheft gekauft, weil ich neue Notizhefte liebe und produktiver bin, wenn ich in ein neues Heft schreibe. Und dann hab ich mir aufgeschrieben. 1.: Was ist die Welt, in der ich leben möchte. Und 2.: Was sind Baustellen, die ich behandeln möchte und kann. Wie kann ich für andere Frauen einstehen, wie kann ich für Mädchen einstehen, wie kann ich für andere Menschen einstehen. Wie kann ich denen helfen, die Hilfe benötigen und wie kann ich mir Hilfe holen, wenn ich sie selbst benötige. Um zu verändern, muss man nicht nur einen Hebel bedienen, das können und müssen ganz viele sein:

Zu einer besseren Welt gehört nicht nur die Gleichstellung von Mann und Frau. Es gehört genau so dazu, dass die historische Fehlentwicklung überwunden wird, es gebe nur zwei Geschlechter. Es gehört genauso dazu, dass nicht stets dem Individuum ein Versagen vorgeworfen wird, wo es strukturelle Probleme gibt, die sein Elend verschulden. Es gehört genau so dazu, dass die Spaltung der Gesellschaft in Gewinner und Verlierer zumindest nicht verschlimmert wird. Dass Vermögen gerechter verteilt wird. Dass Macht gerechter verteilt wird. Dass Menschen ihren Selbstwert nicht daraus ziehen müssen, wie erfolgreich sie beruflich sind und was sie sich deswegen kaufen können. Dass sie sich zwar eine Dachterrasse leisten können, aber keine Zeit haben, dort zu sitzen. Zu einer besseren Welt gehört, dass Lohnarbeit nicht anerkannter ist als die in die Unsichtbarkeit gedrängte Hausarbeit. Und dass sie daher auch gerecht verteilt ist. Weil es viele Mütter gibt, die trotz Kind in ihrem Beruf weiterkommen möchten und viele Väter, die ihre Kinder nicht nur die eine Stunde sehen möchten, bevor sie ins Bett gehen müssen.

Wir müssen eine Welt denken, in der Menschen Zeit haben, sich um sich selbst zu kümmern, und um die Menschen um sich herum, sich fortzubilden und selbst zu entwickeln, in den Wald zu gehen, um die nicht von Menschen und Autos zugemüllte Welt zu sehen und sich für sie und ihren Erhalt interessieren. Um einen umsichtigen Umgang mit Menschen, Tieren, der Natur und Dingen pflegen zu können. Die Entwicklung des Einzelnen ist die Voraussetzung für die Entwicklung aller.

Wir müssen also selbst aktiv sein und nicht immer nur reagieren – aber dürfen aufs Reagieren nicht vergessen, weil sonst auf einmal etwas weg ist, das lange erkämpft gewesen zu sein schien.

Also engagiert euch, geht in eine Partei, gründet selbst eine Partei. Geht im Wald spazieren, nehmt Gesangsunterricht, singt politische Lieder auf der Landstraße. Macht Menschen darauf aufmerksam, wenn sie sexistische, rassistische, homophobe Witze machen. Studiert Lehramt und seid die Lehrerinnen und Lehrer, die ihr immer gerne gehabt hättet. Bekommt Kinder und erzieht sie freier, offener, liebender, sagt ihnen, es ist egal, wer sie sind, solange sie gut zu anderen sind. Oder bekommt keine Kinder und vermittelt das Gefühl euren Nichten und Neffen oder dem Nachbarskind. Unsere Wissenschaftsministerin hat sich vor Kurzem in einem Interview über das Bildungssystem beschwert. Ihre Kritik: Gymnasien würden am Markt vorbei produzieren. Ein bisschen hat mir diese Kritik das Herz gebrochen. Menschen für einen Markt produzieren, das ist die Welt, in der wir leben. Hört auf, egoistische Menschen für ihr Verhalten zu belohnen. Lest Bücher, sprecht über Bücher. Schafft Räume, in denen konstruktiv diskutiert werden kann. Seid gut zu euch selbst und anderen. Achtet Menschen, Tiere, die Natur, und Dinge. Sprecht mit denen, die etwas nicht verstehen, das ihr verstanden habt – sofern sie es verstehen möchten. Erinnert euch stets an die Menschen, die ihr wart, bevor ihr wusstet, was ihr jetzt wisst und seid nachsichtig mit denen, die es noch nicht wissen. Zieht in Betracht, dass das, was ihr gerade denkt, vielleicht so gar nicht stimmt und hört anderen zu, die euch in euren Ansichten weiterbringen könnten – auch wenn es sich besser anfühlt, die vermeintlich absolute Wahrheit zu besitzen. Beharrt nicht auf Standpunkten, weil ihr zu stolz seid, dazuzulernen. Jede Art von Gewissheit ist trügerisch. Reproduziert nicht einfach. Menschen mit guten Intentionen reproduzieren täglich diese Welt, in die viele Menschen schlicht hineinsterben. Weil wir in diese Welt geboren wurden, weil wir uns keine andere vorstellen können. Sagt euch immer wieder: Es stimmt nicht, dass eine Einzelne oder ein Einzelner nichts bewirken kann.

Lasst alle an der Debatte teilhaben, die konstruktiv an ihr teilhaben möchten, auch wenn die Person Begrifflichkeiten nicht kennt. Wer sich mit Feminismus auseinandersetzen möchte, muss ein wenig eine neue Sprache lernen. Lasst das feministische Subjekt so frei sein in dem, was es ist, wie die Freiheit, die ihr selbst fordert: Lasst es trans sein, inter, nicht binär. Lasst es Sexarbeiterin sein und Muslima, Christin, Schülerin, oder alt und weiß und hetero und männlich. Glaubt nicht alles, das jemand sagt, der auf einer Bühne sitzt. Springt über Schatten. »Tut nicht so, als wärt ihr nicht die Gesellschaft«, hat Manuel Rubey einmal gesagt. »Bildet Banden«, hat Pippi Langstrumpf einmal gesagt. »Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach da zu sitzen und vor sich hin zu schauen.« Hat die sehr politische Astrid Lindgren einmal gesagt.

Und irgendwann, da klappt das dann auch mit der Schafherde.

Text vorgetragen auf ihrer Lesereise mit dem Buch „Feministin sagt man nicht“ im Jahr 2018.

Veröffentlicht auf Facebook am Tag der Menschenrechte, 10.12.2018:

https://www.facebook.com/hhumorlos/posts/10216257874053997

Mit Slideshow:

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Baraye (Shervin Hajipour) https://loukanikos161.blackblogs.org/2023/10/21/baraye-shervin-hajipour/ https://loukanikos161.blackblogs.org/2023/10/21/baraye-shervin-hajipour/#respond Sat, 21 Oct 2023 06:14:38 +0000 https://loukanikos161.blackblogs.org/?p=254 Um in den Straßen tanzen zu können
Weil wir Angst davor haben müssen, uns öffentlich zu küssen
Wir haben Angst, uns zu küssen
Für meine Schwester, deine Schwestern, unsere Schwestern
Dafür, dass sich in den morschen Köpfen endlich etwas bewegt
Für die Demütigungen, die uns angetan werden
Wegen der allgegenwärtigen Armut
Weil der Reichtum nicht umverteilt wird
Für den Wunsch nach einem normalen Leben
Wäre das auch für uns möglich
Für die im Abfall nach etwas Verwertbarem suchenden Kinder mit all ihren Träumen
Und wegen dieser gewissenslosen Wirtschaft, die so korrupt ist
Und wegen der verschmutzten Luft
Wegen der verdorrten Bäume auf der Valiasr-Straße
Weil der kleine Gepard vom Aussterben bedroht ist
Für all die unerwünschten Hunde, die doch unschuldig sind
Wegen des endlosen, schier niemals endenwollenden Tränenvergießens
Wegen der Vorstellung, dass sich die Szenen genauso wiederholen könnten
Für ein Lächeln im Gesicht
Für all diese Studenten
Für die Zukunft, für die Zukunft
Und für dieses aufgezwungene Paradies
Für die Intellektuellen, die im Gefängnis sind
Für die Flüchtlingskinder, die aus Afghanistan fliehen
Wegen all dem
Und für all das, was noch nicht gesagt ist
Für jede einzelne ihrer hohlen Phrasen
Wegen der einstürzenden Bruchbuden
Und für die, die friedfertig sind
Für einen Morgen nach diesen langen, langen Nächten
Für die aufgehende Sonne
Wegen der Schlaftabletten und der Schlaflosigkeit
Für die Frauen, das Leben und die Freiheit
Für das Mädchen, welches sich wünscht, ein Junge zu sein
Für die Frauen, das Leben, die Freiheit
Die Freiheit

Übersetzung des iranischen Freiheitsliedes Baraye („Um“, „für“ oder „wegen“) von Shervin Hajipour ins Deutsche.

Gelesen von der Publizistin, Politikwissenschafterin und Ärztin Gilda Sahebi, im Gespräch mit Renata Schmidtkunz in der Radiosendung „Im Gespräch: Gilda Sahebi über Frauen im Iran. ‚Was im Iran geschieht, ist feministische Weltgeschichte'“ am 9.3.2023 auf Ö1.

Zum Kontext dieses Liedes ein Dialog aus der genannten Sendung:

Renata Schmidtkunz: Das eine ist „Baraye“ von Shervin Hajipour. Das habe ich schon erwähnt. Das habe ich mitgebracht, auf deutsch.
Gilda Sahebi: Ach schön.
RS: Und ich wollte Sie mal fragen, ob Sie das vielleicht lesen wollen?
GS: Ja, gerne.
RS: Das ist die deutsche Übersetzung, die vielleicht nicht ganz dem Iranischen entspricht.
Es geht in diesem Lied Baraye, das so viel heisst wie „Um“, „Für“ oder „Wegen“ darum, warum eigentlich die Leute in Iran protestieren.
GS: Also es war so, dass die Frage gestellt wurde: warum? Und dann haben ganz viele Leute ganz viele Tweets abgeschickt. Und aus diesen Tweets wurde dieses Lied zusammengesetzt. Genau.

Gilda Sahebi ist auf social media zu finden (u.a. auf Bluesky) und hat auch ein Buch geschrieben:

„‚Unser Schwert ist Liebe‘. Die feministische Revolte im Iran“ (Fischer Verlag)

Das Lied Baraye:

https://www.fischerverlage.de/spezial/gilda-sahebi-unser-schwert-ist-liebe
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„Mit dem Frauenstreik für eine plurale Gesellschaft einstehen“ https://loukanikos161.blackblogs.org/2018/11/08/franziska-schutzbach-frauenstreik/ https://loukanikos161.blackblogs.org/2018/11/08/franziska-schutzbach-frauenstreik/#comments Thu, 08 Nov 2018 17:36:43 +0000 http://loukanikos161.blackblogs.org/?p=165

Franziska Schutzbach ist Initiatorin von #SchweizerAufschrei, Forscherin und feministische Aktivistin. Im Gespräch mit Alexander Stoff spricht sie über aktuelle Herausforderungen des feministischen Aktivismus.

 

F:

In den letzten Jahren treten Phänomene wie Women‘s March, #metoo oder #Aufschrei auf. Was sind verbindende Themen und Praktiken? Und wo gibt es Unterschiede?

FS:

Ich bin überrascht wie stark feministische Themen mittlerweile wieder auf der aktivistischen und medialen Agenda stehen. Dazu haben verschiedene Hashtags oder der Women‘s March in den USA beigetragen. Die großen sozialen Bewegungen sind im Moment die feministischen.

#Aufschrei und #metoo haben ein gesellschaftliches Bewusstsein für das Problem der sexualisierten Gewalt und Belästigung hergestellt. Hashtags sind ein relativ demokratisches Prinzip, weil alle mitmachen können. Aber nicht alle können es sich leisten, öffentlich über Gewalterfahrungen zu sprechen. Bei den netzpolitisch Aktiven gibt es eine unglaubliche Vielfalt. So fordern etwa viele Women of color oder queere Frauen* differenzierte Debatten ein, da ihre Probleme wie zum Beispiel Armut bei Hashtags zu wenig berücksichtigt werden. Die Stimmen von so vielen Frauen* machen deutlich, dass sexualisierte Gewalt überall vorkommt – ob in Hollywood, in den Fabriken, im Privaten oder in der Disco. Durch den Hashtag wird ein strukturelles Problem sichtbar und breit diskutiert. Zum Teil sind das auch problematische Debatten, wo sich dann Leute äußern, die es klein reden oder die behaupten, dass man das Problem den Männern* nur unterschiebe.

Sichtbar wird auch, dass es nicht nur unmittelbar um Gewalt geht, sondern auch um größere Zusammenhänge, um Machtverhältnisse. Gewalt gegen Frauen* gibt es, weil wir in einer sexistischen und geschlechter-ungleichen Gesellschaft leben. Sie ist die Spitze des Eisberges und kann unmittelbar mit Hashtags skandalisiert werden. Die Gewalt wird aber überhaupt erst möglich, weil Frauen* oft in ökonomisch prekären Verhältnissen und Abhängigkeit leben. Die Forderung nach Lohngleichheit enthält daher, dass Frauen* ökonomisch gleich gestellt sein müssen, damit sich Gewalt reduziert.

Auch die intersektionale Dimension muss berücksichtigt werden: denn migrantische Frauen* und Women of color machen andere Erfahrungen als weiße Frauen* aus der Mittelschicht. Die Dominanz des westlichen Blicks muss innerhalb der feministischen Bewegung unbedingt in Frage gestellt werden. Forderungen nach Kinderbetreuung oder Vereinbarkeit von Beruf und Familie sind zwar richtig, aber eine Perspektive von eher privilegierten Frauen*. Für viele Frauen* aus einer unteren Schicht und in ausgebeuteten Arbeitsverhältnissen enthält die Forderung nach Berufstätigkeit überhaupt keinen emanzipatorischen Charakter.

Als ich angefangen habe, im Internet feministische Beiträge zu teilen, bin ich auf viele Widerstände gestoßen. Hier in der Schweiz hinkt man nämlich bei vielem noch hinterher. Dies hat sich in wenigen Jahren geändert: über Feminismus zu sprechen und feministische Perspektiven einzunehmen hat sich ein wenig normalisiert. Ich bin Jahrgang 1978 und in der Schule und beim Studium wurde uns erzählt, die Gleichstellung sei erreicht. Doch als Erwachsene haben wir bemerkt, dass das nicht stimmt. Ich denke, meine Generation und die jüngeren Frauen* wachen gerade auf und wir bemerken, dass wir betrogen wurden, denn die erreichte Gleichstellung ist ein Märchen. Gerade bei den Statistiken in Bezug auf Gewalt gegen Frauen* und sexualisierte oder häusliche Gewalt hat sich in den letzten Jahrzehnten kaum etwas verändert.

F:

Früher hat der klassische Protest bei Demonstrationen auf der Straße stattgefunden, während heute viel im Internet passiert. Hast du den Eindruck, dass sich die öffentlichen Räume verändert haben, in denen heute feministischer Aktivismus und Bewegung stattfinden?

FS:

Ja, ich denke schon, dass das Internet im Hinblick auf Meinungsäußerung und soziale Bewegung vieles verändert hat – sowohl mit positiven als auch schlimmen Effekten. Trotz des Potentials von Demokratisierung durch das Internet habe ich das Gefühl, dass sich im Moment eine Katerstimmung breit macht. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass gerade Frauen* und Women of color in besonderem Maße wieder aus diesen öffentlichen Räumen verdrängt werden. Vor allem Männer* nutzen die Kommentarfunktion bei großen Medien mit Troll-Strategien und Hate speech. Das führt dazu, dass Frauen* sich aus diesen Räumen zurückziehen. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass dieses „silencing“ funktioniert. Schon in der nicht-virtuellen Welt werden weibliche Stimmen weniger gehört, nehmen Frauen* seltener an Podien teil und sind weniger in Medien und Politik vertreten. Das spiegelt sich dann auch im Internet wider.

Ich denke, wir müssen der Individualisiertheit im Internet wirkliche Räume entgegensetzen, wo wir uns treffen, austauschen und unterstützen. Deswegen organisiere ich zB einmal im Monat die Feministischen Salons in Zürich und Basel. Auch Demonstrationen oder Streiks sind Anlässe, bei denen man sich gemeinsam auf der Straße trifft, sich spüren und bestärken kann.

F:

Du hast in einem Text geschrieben, dass #Aufschrei ein Bildungsmoment und der Hashtag-Feminismus eine Form von Aufklärungsarbeit ist. Was braucht es, damit die feministische Kritik stärker von Männern* reflektiert wird, auch um dem Hass etwas entgegenzusetzen?

FS:

Es wäre schön, wenn Männer* in allen gesellschaftlichen Institutionen damit anfangen, über dieses Thema zu sprechen und sich zu engagieren. Teilweise passiert das auch schon. Beim #Aufschrei in der Schweiz vor zwei Jahren mussten die Journalistinnen erst in ihren Redaktionen durchsetzen, dass sie über sexualisierte Gewalt schreiben konnten. Bei #metoo und anderen Themen schreiben mittlerweile auch männliche, vor allem jüngere Journalisten Leitartikel oder Kommentare – und zwar oft profeministisch. Ich finde es wichtig, dass Männer* in diskurs-bestimmenden Positionen sich für dieses Thema stark machen.

Als ein Mensch, der nicht von Rassismus betroffen ist, überlege ich mir immer wieder selbst, wie ich dieses Privileg einsetzen kann, um antirassistische Themen voranzubringen. Auch wenn ich persönlich nicht davon betroffen bin, so mache ich mich mitschuldig, wenn ich Rassismus akzeptiere und mich nicht dazu äußere. Ich hoffe, dass diese Erkenntnis sich auch bei vielen Männern* durchsetzt. Manchmal erlebe ich schon, wie Männer* einander aufmerksam machen und ihre Stimme erheben, wenn sie sexistisches Verhalten beobachten. Das ist ein langsamer Veränderungsprozess, weil Männlichkeit* so stark darüber funktioniert, sich selbst als Norm und alle anderen als besonders zu begreifen. In der Folge wird auch Gewalt gegen Frauen* und andere geschlechterpolitische Themen als ein Problem wahrgenommen, mit dem sich nur Frauen* zu befassen hätten. Diese Wahrnehmung müssen Männer* überwinden.

F:

Was macht für dich kritische Männlichkeit* aus? Und wie kann das Verhältnis zu einem gemeinsamen feministischen Aktivismus sein, bei dem sich Männer* solidarisch als Verbündete betätigen?

FS:

Ich denke, kritische Männlichkeit* bedeutet vor allem, sich zuerst zu überlegen, inwiefern patriarchale Verhältnisse auch für Männer* selbst Probleme oder Nachteile mit sich bringen. Patriarchale Zuschreibungen von Überlegenheit, Macht und Stärke sollen kritisch reflektiert werden. Männer* als privilegiert zu bezeichnen, bedeutet ja nicht, dass alle Männer* reiche Finanzmogule sind. Es gibt auch unter Männern* extreme Armut, Erfahrungen von Gewalt usw.

Und auch Männer* erfahren geschlechter-basierte Vorurteile. Nur sind Frauen* stärker von Sexismus betroffen, weil sie weniger gesellschaftliche Macht besitzen. In dieser Gesellschaft ist Macht nach wie vor ungleich auf die Geschlechter verteilt: Männer* besetzen beinahe alle Schlüsselpositionen in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Kunst und Kultur. Männer* besitzen, verteilen und repräsentieren in der Regel die Macht – auch finanziell. Doch nicht allen Männern* steht der Zugang zu Macht in demselben Maße offen, sondern vor allem denjenigen, die außerdem weiß, begütert, nicht-behindert, heterosexuell und akademisch gebildet sind. Also die Aussage – Männer* haben Privilegien – heißt nicht, dass Männer* kein Leid, keine Gewalt und keine Prekarisierung erfahren. Denn das schließt sich nicht aus. Ich denke, manche Männer* reagieren deshalb mit starker Abwehr, weil sie das Gefühl haben, ihnen wird quasi gesagt, dass sie immer auf der Sonnenseite des Lebens stehen.

F:

Was macht es für dich in einer intersektionalen Sichtweise aus, ein*e gute*r Verbündete*r zu sein? Was bedeutet es, sich als ein*e gute*r Verbündete*r zu verhalten und was sollte man dabei vermeiden?

FS:

Wichtig ist sicher die Bereitschaft zuzuhören und zu reflektieren. Ich denke, es ist für viele Männer* tatsächlich schwer, einmal nicht in der Position des Akteurs zu sein, sondern als Verbündete erst einmal Rezipienten von dem sind, was Frauen* sagen. Ich glaube, das ist für Männer* schwierig, weil sie es gewohnt sind, vor allem anderen Männern* zuzuhören. Das nennt sich Homosozialität: Männer* sind an anderen Männern* ausgerichtet, man will Anerkennung und bewundert andere Männer*. Frauen* werden vielleicht als Partnerinnen oder Mütter gewürdigt, aber nicht als Ideengeberinnen. Laut Studien retweeten Männer* vor allem andere Männer* auf Twitter. Übrigens sind auch Frauen* stark männer-orientiert, denn Männer* repräsentieren Macht und Schlüsselpositionen in unserer Gesellschaft. Männer* sollten sich stärker bewusst machen und darauf achten, was Frauen* schreiben oder sagen. Und ich muss mir auch immer wieder selbst bewusst machen und mich fragen: wann habe ich zuletzt etwas von einer Woman of color getwittert? Der Faktor der Homosozialität ist bei Männern* besonders wirksam und wurde als integraler Bestandteil von Männlichkeit* in der Männerforschung schon länger untersucht, etwa bei Jungen an Schulen. Das Alpha-Männchen in einer Klasse ist der Maßstab, dem alle anderen zu gefallen versuchen, während die Mädchen keine Rolle spielen.

F:

Wo siehst du dann Ansatzpunkte, das zu durchbrechen?

FS:

Indem man bei sich selber anfängt und sich überlegt: an wem orientiere ich mich? Dabei kann man sich bewusst machen, wie viel von dem, was man täglich liest, von Männern* gemacht wird. Dann gibt es Techniken der Diskussionsführung, bei denen eine Diskussion abgebrochen wird, sobald sich keine Frau* mehr zu Wort meldet, weil das als ein Indiz gesehen wird, dass der Verlauf für viele nicht mehr interessant oder sogar diskriminierend ist. Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist. Ich finde es jedenfalls interessant, weil man darüber nachdenkt. Wenn sich nur noch Männer* melden, dann trauen sich Frauen* oft gar nicht. In gemischten Gruppendiskussionen bei Versammlungen oder Konferenzen kann auch die Redezeit von Frauen* und Männern* gemessen werden. Frauen*, die das einfordern, werden oft dafür kritisiert. Daher hilft es, wenn auch Männer* für eine gender-gerechte Gesprächsführung einstehen.

F:

Konservative und rechtsextreme Kräfte in Machtpositionen streichen an vielen Orten staatliche Förderungen zB für Frauen*häuser, feministische Gruppen oder Gender Studies. Wie können feministische Bewegungen mit diesem Problem umgehen und welche Spielräume bleiben?

FS:

Letztlich geht es im Idealfall darum, den Rechtsrutsch aufzuhalten, denn dieser geht immer einher mit einem Backlash bei der Frauen*förderung und auch bei der freien Forschung. Demokratische Institutionen wie das Parlament sollten wieder aus diesem rechten Griff befreit werden. Wir haben bei den Wahlen in der Schweiz 2019 die Chance, die rechtskonservative Dominanz abzuwählen, die uns das alles einbrockt. Die rechte Regierung in der Schweiz ist nicht unbedingt repräsentativ, weil viele Leute nicht wählen oder ohne Staatsbürgerschaft gar nicht wählen dürfen. Ich bin selbst lange nicht zur Wahl gegangen, aber durch die Wahl von Donald Trump in den USA aufgewacht.

Durch die Nutzung des Stimmrechtes wird eine gesellschaftliche Basis für die Entwicklung einer emanzipatorischen Politik geschaffen. Im Moment reagieren wir vor allem auf die Provokationen und Agitationen von rechts und sind in einer Empörungsspirale gefangen. Dabei kommt viel zu kurz, wo wir selbst mit der Gesellschaft und unseren Ideen hinwollen. Wir sollten uns mehr überlegen, was unsere eigenen Ideen oder politischen Utopien sind. Wir müssen eine gute Balance zwischen der Skandalisierung von rechtspopulistischen Äußerungen und dem Ausbrechen aus diesem Rahmen finden, sonst lassen wir uns alles von Rechten und ihren Diskursen vorgeben.

F:

Wie kann man die eigene Erzählung und die eigenen Ideen stark machen? Wie kann stärker gezeigt werden, wofür Feminismus steht und was feministische Aktivistinnen wollen?

FS:

Wir planen in der Schweiz gerade den Streik für den 14.Juni 2019, der meines Wissens auch in Deutschland und Österreich stattfinden soll. Das halte ich für eine wichtige Mobilisierung. Dabei soll es um Themen gehen wie zB Lohngleichheit, Sozialpolitik und Antirassismus. Angelehnt am spanischen Vorbild kann über ökonomische Forderungen hinaus politisiert werden. Wir stehen mit dem Streik auch für eine plurale Gesellschaft ein.

Eine andere konkrete Praxis ist zu zeigen, wie viele tolle Projekte es im Kleinen und Großen bereits gibt. Wir müssen deutlich machen, dass die emanzipatorische Gesellschaft, die wir uns wünschen, ein Stück weit schon da ist, denn es gibt so viel solidarisches Handeln in unserer Gesellschaft. Das dürfen wir uns nicht nehmen lassen. Wir leben schon ein Stück weit unsere Utopien. Das können die Rechten nicht aufhalten und darüber ärgern sie sich auch. Deshalb sind sie vielleicht im Moment so stark, denn sie merken, dass tatsächlich starke Veränderungen hin zu einer pluralen Gesellschaft passieren. Und dagegen bäumen sie sich noch einmal mit Aggressivität auf. Ich denke, das ist auch ein Zeichen des Erfolges von emanzipatorischen Bewegungen. Wir können unsere Andersheit in die Waagschale legen und sagen: wir sind schon da. Wir sind starke Frauen*, wir sind schwule Pärchen, wir sind schwarze Menschen mit Kopftuch in Führungspositionen. Hier, wir sind da – ätsch!

Aber ich denke, es ist auch eine gefährliche Situation, denn ich will nichts schönreden. Wir stehen an einem historischen Wendepunkt. Es kann auch in die falsche Richtung kippen und die Gesellschaft im schlimmsten Fall autoritär und faschistisch werden, wie wir es in manchen Staaten schon sehen.

F:

In einem deiner Texte schreibst du, dass der Kapitalismus sich einen eigenen Begriff von Diversität und Feminismus aneignet und dabei diese Themen für den Markt nutzbar macht. Dabei werden diejenigen, die schon privilegiert sind, weiter bevorzugt und die anderen bleiben ausgeschlossen. Siehst du eine Perspektive dafür, dass man Diversität und soziale Gerechtigkeit mit einander verbindet, um sie der kapitalistisch-neoliberalen Sicht entgegenzuhalten?

FS:

Meiner Meinung nach muss Diversität mit sozialer Gerechtigkeit zusammen gedacht werden, wenn es nicht auf dieser hochglanz-neoliberalen Ebene verweilen soll, wo nur manche davon profitieren, während ökonomische und gesellschaftliche Machtstrukturen davon unberührt bleiben. Es ist für mich ganz klar, dass Diversität mit Kapitalismuskritik und der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit zusammen gebracht werden muss.

Dazu gehört zB das ganze Care-Thema. Die feministische Ökonomie hat in den letzten Jahren hervorgehoben, dass die Logik des Kapitalismus und die Ausbeutung auf der Abwertung von jeglicher Sorge-Tätigkeit aufbaut. Ein erheblicher Teil der Arbeit in unserer Gesellschaft soll demnach gratis gemacht werden. Dazu zählt die Pflegearbeit und schlecht bezahlte Sorge-Arbeit unter prekären Bedingungen. Wenn man diese Arbeit bezahlen müsste, dann könnte der Kapitalismus nicht so erfolgreich sein. Und das hängt mit Geschlecht zusammen. Manche Diversitätsforderungen berücksichtigen das nicht und zielen nur darauf ab, mehr Frauen* in die Verwaltungsräte zu holen. Dabei sollten wir darüber nachdenken, die notwendige Care-Arbeit in der Gesellschaft gerecht zu verteilen und vermeiden, dass sie unter ausgebeuteten Bedingungen stattfindet. Ansonsten können ein paar privilegierte Frauen* unter dem Schlagwort „Diversity“ ihre Karriere machen, während zB die philippinischen Nannys in extrem unsicheren Arbeitssituationen ohne Arbeitsrecht oder gewerkschaftliche Vertretung in diesen Haushalten arbeiten.

 

Franziska Schutzbach ist in verschiedenen feministischen Zusammenhängen aktiv, sie lehrt und forscht an der Uni Basel im Fach Gender Studies. Demnächst erscheint ihr Buch „Die Rhetorik der Rechten. Rechtspopulistische Diskursstrategien im Überblick“. Franziska Schutzbach schreibt u.a. Texte für Geschichte der Gegenwart und ihren Blog

 

Text erschien in der Langfassung am 01.11.2018 auf Unsere Zeitung

Gekürzte Fassung unter dem Titel: „Was macht für dich kritische Männlichkeit aus?“ in der Ausgabe 11 der „Volksstimme“ (November 2018)

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