Gefunden auf infokiosques, mit der spanischen Übersetzung verglichen, die Übersetzung ist von uns. Weitere solche geile Texte werden folgen.
Die staatsbürgeristische Sackgasse des. Beitrag zu einer Kritik des Staatsbürgerismus– Alain C.
Ein paar einleitende Wörter:
Wir haben vor fast drei Jahren zu der Einleitung eines Textes der sich mit derselben Thematik beschäftigt, folgendes geschrieben: „Bei den folgenden Artikeln liegt, unter anderem, der Schwerpunkt auf die Debatte/Kritik der modernen Figur des sogenannten Staatsbürgers, bzw. der Ideologie dahinter, als Ersatz zu der Klassenkonfrontation, zu der wir auf Deutsch noch keinen passenden Begriff gefunden haben – man könnte den der Staatsbürgerschaft verwenden – zumindest im Gegensatz zu anderen Sprachen (Citizen und Citizenship (Englisch), Ciudadano und Ciudadanismo (Spanisch) und Citoyen und Citoyenneté (Französisch). Weitere Texte zu der Thematik finden sich hier, Textreihe Kritik an der Linken des Kapitalismus und hier Staatsbürgerschaft. Hiermit fahren wir mit der Kritik an den Staatsbürgertum/Staatsbürgerschaft fort und der unumgänglichen Notwendigkeit die Konfrontation im Kapitalismus als eine zwischen Klassen zu verstehen.“
Wir selbst haben seit dem uns mehrmals den Kopf zerbrochen und überlegt wie wir die oben erwähnten Begriffe einheitlich verwenden könnten, denn es ergibt auch gar keinen Sinn jedes Mal andere Begriffe zu verwenden. Denn wir sind selbst in die Falle getappt über die Jahre verschiedene Begriffe zu verwenden von denen wir dachten sie würden am verständlichen wirken, ohne dabei auf dass wichtigste zu achten, nämlich den Inhalt des Begriffes selbst, auch wenn wie gleich gesehen wird, furchterregende Neologismen kreiert haben. Während wir in den jüngsten Vergangenheit von Staatsbürgerschaft (siehe oben z.B.) als ein Begriff verwendeten der eine Ideologie benennen und beschreiben sollte, haben wir uns für Staatsbürgerismus letzten Endes entschieden.
Aus dem Französischen über´s Spanische finden wir folgende Begriffe die wir auch daher so in Deutsche übersetzt haben, weil es für uns am präzisesten ist:
Citoyen – Ciudadano – Staatsbürger
Citoyennisme – Ciudadanismo – Staatsbürgerismus
Citoyenniste – ciudadanista – staatsbürgeristisch
In den verschiedenen Texten die wir zu der Thematik veröffentlicht haben haben wir als Übersetzung den Begriff Staatsbürgerschaft verwendet, aber dieser erweißt sich als unzureichend.
Der hier vorliegende Text, wurde im Jahr 2001 veröffentlicht, sagt dass die alte Arbeiterbewegung versagt hat und besiegt. Sie hat im Grunde versagt weil sie im Grunde nicht die Zerstörung des Staates-Kapitals in Visier genommen hat, sondern nur deren Verwaltung. Da die Organisationen der alten Arbeiterbewegung (Kommunistische Parteien, Gewerkschaften) entweder verschwunden sind oder kurz davor sind, ein Schatten ihrer selbst sind, oder irrelevant geworden sind, musste für den sozialen Frieden, für die Integration des Proletariats im Kapitalismus eine neue Ideologie-Bewegung entstehen, die den falschen Antagonismus der alten Arbeiterbewegung nicht mehr zu täuschen brauchte.
Nämlich den sogenannten citoyennisme. Die zentrale Figur, oder Subjekt, essentiell in der Demokratie ist der Staatsbürger, eine politische Figur die nur durch und mit dem modernen Staat existiert. Es wäre nicht richtig hier an die Bürger der Griechischen Polis zu denken, genauso wenig an jene der Römischen Republik bis der Rubikon überquert wurde, nein hier spielt alleine der Staatsbürger als Produkt der Französischen Revolution eine zentrale Rolle, genauso wie die Demokratie, die wie bekannt sein sollte, ein System ist der eine Gesellschaft die in Klassen gespalten ist und unversöhnlich ist, eben diesen Antagonismus durch die Demokratie aufhebt (was natürlich unmöglich ist) und die Klassen „verschwinden lässt“.
Das Konzept des Staatsbürgers stammt aus der Aufklärung und der Französischen Revolution und wird in der Regel hauptsächlich in der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz umgesetzt. Dafür ist aber nicht nur ein starker und funktionierender Staat die Voraussetzung, sondern dient diese Gleichheit vor dem Gesetz, welches auch nur durch das Gewaltmonopol garantiert werden kann, durch das Gesetz selbst, was nur das Abbild der Interessen der herrschenden Klasse ist.
Dieser Text befasst sich mit der Ideologie die als radikal präsentiert wird und sogar hier eine sehr große Rolle spielt, wie wir in vielen Kämpfen und bei Wahlen spielt.Dieser Text geht eine Debatte/Kritik ein die so im deutschsprachigen Raum kaum bis gar nicht bekannt ist. Eine Debatte/Kritik die sich für die deutsche Sprache (wahrscheinlich) unmöglicher und unverständlicher Begriffe bedient, eine Mischung zwischen Neologismen und syntaktischen Spagats. Wir denken auch gerade wie der Eindruck bei den ersten Texte der SI (Situationistischen Internationale) gewesen sein muss, wenn immer wieder die Begriffe Rekuperation, Racket, oder aufgrund des herrschenden Pauperismus in sogenannten anarchistischen Kreisen (in Wahrheit sozialdemokratischen) eine Unmöglichkeit eintrifft anarchistische Idee zu verstehen, wie es so oft der Fall beim aufständischen Anarchismus und der anarchistischen Geschichte selbst der Fall ist, apropos jene Geschichte die die des Proletariats ist.
Zentrale Aspekte der Kritik sind folgende:
– Das Aufgeben revolutionärer Positionen/Programm, jegliche Aktion finden und (kann nur) innerhalb der Legalität des demokratischen Staates, ergo des kapitalistischen ökonomischen System entwickelt werden.
– Kämpfe zielen nicht mehr die Risse der Gesellschaft aufzureißen, sondern die Demokratie selbst als Vehikel der Verbesserung (Reformen) zu verstehen. Wir sehen dies im Bereich vieler Kämpfe wie für Menschenrechte, um die Wohnung, Umwelt, usw., da die Zeit der sozialen Revolution abgelaufen ist, kann nur noch ein Arrangement mit dem Kapitalismus existieren. Wir haben dies die letzten Jahre in den Illusionen gesehen die (auch bei Anarchistinnen und Anarchisten) in Parteien/Politiker wie Syriza, Podemos, die Linke, Obama aufgingen.
Da die alte Arbeiterklasse Geschichte ist (gemeint sind aber seine Organisationen die sich nicht als effektiv bewiesen haben) hat der Staatsbürgerismus diesen Platz eingenommen, nur mit dem Unterschied dass dieser nicht so tut als ob er gegen Staaten-Nationen-Kapital kämpft, sondern nur eine reaktionäre Funktion erfüllt, „nämlich die Stärkung eines Staates im Dienste des Kapitals.“
Eine andere Debatte die hier aufgehen würde, ist ob und überhaupt die Demokratie das beste System ist, das als die Voraussetzung für die soziale Revolution (davor den allgemeinen bewaffneten Aufstand des Proletariats), ergo die klassenlose Gesellschaft (frei von Nationen, Staaten, Waren, Geld, Grenzen, Patriarchat, etc.), gilt. Wir sind entschieden gegen diese Auffassung. Zumindest was eine positive und naive Vorstellung der Demokratie angeht.
Genauso wie die historische Rolle der Linken (radikalen auch) des Kapitals, aber dies wäre ein komplett anderes Kapitel.
Weitere interessante Frage treten im Verlauf des Textes auf, aber wir wollen ja nicht alles vorwegnehmen.
Salud
Die staatsbürgeristische Sackgasse des. Beitrag zu einer Kritik des Staatsbürgerismus– Alain C.
„Wenn die Logik des falschen Bewußtseins sich nicht selbst wahrheitsgemäß erkennen kann, so muß die Suche nach der kritischen Wahrheit über das Spektakel auch eine wahre Kritik sein. Sie muß praktisch unter den unversöhnlichen Feinden des Spektakels kämpfen und zugeben, dort abwesend zu sein, wo sie abwesend ist. Der abstrakte Wille zur unmittelbaren Wirksamkeit erkennt die Gesetze des herrschenden Denkens, den ausschließlichen Gesichtspunkt der Aktualität an, wenn er sich den Kompromittierungen des Reformismus oder der gemeinsamen Aktion pseudorevolutionärer Trümmerhaufen ergibt. Dadurch hat sich der Wahn in derselben Position wiederhergestellt, die ihn zu bekämpfen beansprucht. Die über das Spektakel hinausgehende Kritik muß viel mehr zu warten wissen.“
Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels
Die im Folgenden vorgestellten Thesen erheben nicht den Anspruch, das letzte Wort zu dem behandelten Thema zu haben. Sie sind vielmehr eine Reihe von Anhaltspunkten, die in einigen Fällen weiterverfolgt und vertieft werden können, in anderen einfach aufgegeben werden können. Wenn es uns gelingt, einer Kritik, die noch auf der Suche nach sich selbst ist, einige Referenzpunkte (u. a. historische) zu geben, werden wir unser Ziel voll und ganz erreichen.
Wir sind auch der Meinung, dass weder dieser Text noch irgendein anderer allein durch die Kraft der Theorie den Staatsbürgerismus zu Fall bringen kann. Die wahre Kritik am Staatsbürgerismus wird nicht auf dem Papier erfolgen, sondern das Ergebnis einer sozialen Bewegung sein, die diese Kritik zwangsläufig enthalten muss, was bei Weitem nicht ihr einziger Vorzug sein wird. Es ist die gesamte Gesellschaftsordnung, die durch den Staatsbürgerismus in Frage gestellt wird, eben weil diese Ordnung ihn enthält.
Der Zeitpunkt scheint uns geeignet, um mit dieser Kritik zu beginnen. Wenn der Staatsbürgerismus anfangs eine gewisse Verwirrung darüber aufkommen lassen konnte, was er wirklich war, so ist er heute aufgrund seines eigenen Erfolgs gezwungen, immer mehr sein wahres Gesicht zu zeigen. Mehr oder weniger kurzfristig wird er sein wahres Gesicht zeigen müssen. Dieser Text versucht, diese Enthüllung vorwegzunehmen, damit wir zumindest nicht unvorbereitet sind und angemessen reagieren können.
I. Vorläufige Definition
Wir beschränken uns auf eine einleitende Definition des Staatsbürgerismus, d. h. wir konzentrieren uns nur auf das Offensichtliche. Ziel dieses Textes ist es, mit einer genaueren Definition zu beginnen.
Unter Staatsbürgerismus verstehen wir zunächst eine Ideologie, deren Hauptmerkmale sind:
1) der Glaube, dass die Demokratie in der Lage ist, sich dem Kapitalismus entgegenzustellen;
2) das Projekt, den Staat (oder die Staaten) zu stärken, um diese Politik umzusetzen;
3) die Staatsbürger als aktive Grundlage dieser Politik.
Das ausdrückliche Ziel des Staatsbürgerismus ist es, den Kapitalismus zu vermenschlichen, ihn gerechter zu machen, ihm in gewisser Weise eine zusätzliche Seele zu verleihen. Der Klassenkampf wird hier durch die politische Beteiligung der Staatsbürger ersetzt, die nicht nur ihre Vertreter wählen, sondern auch ständig Druck auf sie ausüben müssen, damit sie das umsetzen, wofür sie gewählt wurden. Natürlich dürfen die Staatsbürger die staatlichen Behörden in keinem Fall ersetzen. Sie können von Zeit zu Zeit das praktizieren, was Ignacio Ramonet „zivilen Ungehorsam“ genannt hat (nicht mehr „zivil“, ein Begriff, der zu sehr an den „Bürgerkrieg“1 erinnert), um die Behörden zu einem Politikwechsel zu zwingen.
Der Rechtsstatus des „Staatsbürgers“, einfach verstanden als Staatsangehöriger eines Staates, erhält einen positiven, ja sogar anstößigen Inhalt. Als Adjektiv beschreibt der Begriff „Staatsbürger“ im Allgemeinen alles, was gut und großzügig, engagiert und verantwortungsbewusst ist, und allgemeiner, wie man früher sagte, „sozial“. In diesem Sinne können wir von „Staatsbürgerunternehmen“, „Staatsbürgerdebatten“, „Staatsbürgerkino“ usw. sprechen.
Diese Ideologie manifestiert sich in einer Vielzahl von Assoziationen, Gewerkschaften/Syndikate, Presseorganen und politischen Parteien. In Frankreich gibt es Assoziationen wie ATTAC, die Freunde von „Monde Diplomatique“, AC! [Gemeinsam gegen Arbeitslosigkeit], Droit au Logement [Recht auf Wohnung], APOC [Kriegsdienstverweigerer], die Ligue des Droits de l’Homme [Menschenrechtsliga], das Netzwerk Sortir du nucléaire [Atomausstieg], usw. Es ist erwähnenswert, dass die meisten Personen, die in dieser Bewegung militieren, oft gleichzeitig mehreren Assoziationen angehören. Auf gewerkschaftlicher/syndikalistischer Ebene haben wir die CGT [verbunden mit der Kommunistischen Partei Frankreichs], SUD [gegründet von Trotzkisten], die Confédération Paysanne, die UNEF [Nationale Studentenvereinigung Frankreichs] usw. Was die politischen Parteien betrifft, so sind die trotzkistischen Parteien und die Grünen vertreten. Allerdings haben die politischen Parteien einen anderen Status, aber wir werden diese Frage später behandeln. Am äußersten linken Rand des Staatsbürgerismus können wir die Fédération Anarchiste, die CNT und die antifaschistischen Anarchisten einordnen, die in den meisten Fällen den staatsbürgerlichen Bewegungen folgen, um ihren libertären Beitrag zu leisten, sich aber in Wirklichkeit auf demselben Terrain befinden.
Auf weltweiter Ebene haben wir Bewegungen wie Greenpeace usw. und all die Gewerkschaften/Syndikate, Assoziationen, Lobbys, Dritte-Welt-Bewegungen (A.d.Ü., Dritterweltismus) usw., die sich in Seattle getroffen haben. Eine vollständige Liste zu erstellen, wäre zu lang. Wichtig ist, dass all diese Gruppierungen ideologisch, mit lokalen Varianten, auf demselben Terrain stehen. Der Staatsbürgerismus ist heute eine weltweite Bewegung, die auf einer gemeinsamen Ideologie beruht. Von Seattle bis Belgrad, von Ecuador bis Chiapas erleben wir den Aufschwung dieser Bewegung, und jetzt geht es sowohl für sie als auch für uns darum, zu wissen, welchen Weg sie einschlagen und wie weit sie gehen kann.
II. – Voraussetzungen und Fundamente
Die Wurzeln des Staatsbürgerismus sind in der Auflösung der alten Arbeiterbewegung zu suchen. Die Ursachen für diese Auflösung liegen sowohl in der Integration der alten Arbeiterbewegung als auch im offensichtlichen Scheitern ihres historischen Projekts, das sich in äußerst unterschiedlichen Formen manifestieren konnte (sagen wir, vom Marxismus-Leninismus bis zu den Rätekommunisten). Dieses Projekt forderte in seinen verschiedenen Ausprägungen, dass das Proletariat die kapitalistische Produktionsweise übernehmen sollte, eine Produktionsweise, deren Kinder und damit Erben sie sind. Das Wachstum der Produktivkräfte war in dieser Weltanschauung auch der Weg zur Revolution, die eigentliche Bewegung, durch die sich das Proletariat als künftige herrschende Klasse (die Diktatur des Proletariats) konstituierte, eine Herrschaft, die später (nach einer problematischen „Übergangsphase“) zum Kommunismus führen sollte. Das tatsächliche Scheitern dieses Projekts erfolgte in den 1920er Jahren und 1936-38 in Spanien. Die internationale Bewegung der 1960er Jahre (1968) wurde oft als „zweiter proletarischer Angriff auf die Klassengesellschaft“ nach dem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts angesehen.
Mit der Krise und der Einleitung der Globalisierung in ihrer modernen Form markieren die 70er und dann die 80er Jahre den Niedergang und das Verschwinden dieses historischen Projekts. Diese Globalisierung ist gekennzeichnet durch zunehmende Automatisierung, d.h. Massenarbeitslosigkeit und Produktionsverlagerung in die ärmeren Länder, wodurch das alte Industrieproletariat der Industrieländer aus den Fabriken verdrängt wird. Hier ist eine Tendenz der Unternehmen zu beobachten, sich zumindest formal von einem Großteil des Produktionssektors zu „entledigen“, um ihn auf die Zulieferung zu verweisen und sich idealerweise nur noch mit Marketing und Spekulation zu befassen. Dies bezeichnen die Staatsbürgeristen als „Finanzialisierung des Kapitals“. Ein Unternehmen wie Coca-Cola besitzt derzeit praktisch keine Produktionseinheiten mehr und begnügt sich damit, „die Marke zu verwalten“, sein Börsenkapital zu vermehren und „neu zu investieren“, indem es kleinere Wettbewerber aufkauft, die es zuvor zur Standortverlagerung gezwungen hatte usw. Es gibt eine doppelte Bewegung der Kapitalkonzentration und der Produktionsfragmentierung. Ein Auto kann aus in Mexiko hergestellten Stoßstangen und aus in Taiwan gefertigten elektronischen Bauteilen bestehen, wobei das Ganze in Deutschland montiert wird, während die Gewinne an der Wall Street umlaufen.
Die Staaten begleiten diese Globalisierung, indem sie sich des aus der Kriegswirtschaft stammenden öffentlichen Sektors entledigen (Entstaatlichung), die Arbeitskosten so weit wie möglich „flexibilisieren“ und senken. In Frankreich führte dies zu dem Gesetz über die 35-Stunden-Woche, das von der staatsbürgeristischen Bewegung (zumindest in ihren offiziellen Erklärungen), der Arbeitslosenbewegung von 1998 und dem PARE (Plan zur Unterstützung der Rückkehr in den Beruf) so vehement gefordert wurde.
Die Machtübernahme der Linken im Jahr 1981 und die Studenten- und Eisenbahnerbewegung im Jahr 1986 sind Bezugspunkte, die es uns ermöglichen, den Fortschritt dieser Auflösung und den Ersatz der alten Arbeiterbewegung durch den Staatsbügerismus im Rahmen der Globalisierung zu verorten. Die Bewegung von 1968 war in Frankreich wie auch im Rest der Welt in der Tat „der letzte Angriff auf die Klassengesellschaft“. Ihr Scheitern markiert die historische Auflösung dessen, was bis dahin der Traum von der historischen Anerkennung des Proletariats als Proletariat, d. h. als Arbeiterklasse, war. Die Selbstverwaltung und die Arbeiterräte waren die äußerste Ausprägung dieser Bewegung. Wir bereuen nichts. Nach diesen Jahren wurde auch eine viel breitere und vielfältigere soziale Protestbewegung liquidiert, während sich die schwere Bleischicht der 1980er Jahre über die Welt legte.
Auch wenn der Slogan „Alles gehört uns, nichts gehört ihnen“ bei Demonstrationen immer noch zu hören ist, entspricht er genau dem Gegenteil der Realität, und das war schon immer so. Er bezieht sich offensichtlich auf eine illusorische „Verteilung des Reichtums“ (und von welchen Reichtümern können wir heute sprechen?), stammt aber direkt von der alten Arbeiterbewegung, die die kapitalistische Welt selbst verwalten wollte. In diesem Satz lässt sich sowohl ein Wiederaufleben, eine Kontinuität als auch eine Verdrehung der Ideale der alten Arbeiterbewegung (offensichtlich in ihrem weniger revolutionären Teil) durch den Staatsbürgerismus erkennen. Das nennt man die Kunst, die Reste zu verwerten. Wir werden später auf diesen Punkt zurückkommen.
Das Verschwinden des Klassenbewusstseins und seines historischen Projekts, erschöpft durch die Zersplitterung der Arbeit, durch das allmähliche Verschwinden der großen „gemeinschaftlichen“ Fabrik sowie durch die Prekarisierung der Arbeit (alles nicht das Ergebnis einer Verschwörung, die versucht, das Proletariat zu knebeln, sondern des Prozesses der Kapitalakkumulation, der zur heutigen Globalisierung geführt hat), hat das Proletariat verstummen lassen. Es zweifelt sogar an seiner eigenen Existenz, ein Zweifel, der von einer großen Zahl von Intellektuellen und von dem, was Debord als „integrierten Spektakel“ bezeichnete, das nichts anderes ist als die Integration in das Spektakel, angefacht wurde.
Angesichts dieser Perspektivlosigkeit konnte sich der Klassenkampf nur in Verteidigungskämpfen erschöpfen, die manchmal sehr gewalttätig waren, wie im Fall Englands. Aber diese Energie war vor allem die Energie der Verzweiflung. Es kann auch hervorgehoben werden, dass dieser Verlust positiver Perspektiven sich bei den Menschen, die die 60er und 70er Jahre erlebt haben, oft in einer sehr realen persönlichen Verzweiflung manifestiert hat, die manchmal bis zu ihren letzten Konsequenzen, Selbstmord oder Terrorismus, geführt hat.
Der Staatsbügerismus fügt sich somit in diesen Rahmen ein: Nachdem die Revolution begraben war, als sich keine Kraft mehr in der Lage fühlte, die radikale Umgestaltung der Welt in Angriff zu nehmen, und angesichts der Tatsache, dass die Ausbeutung ihren Lauf nahm, musste sich eine Form des Protests äußern. Dies war der Staatsbürgerismus. Seine offizielle Geburtsstunde kann im Verlauf der Unruhen im Dezember 1995 [in Frankreich] verortet werden. Diese Bewegung, die auf der realen Grundlage der Opposition gegen die Privatisierung des öffentlichen Sektors und die damit einhergehende Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und den Verlust des eigentlichen Sinns der Arbeit entstand, konnte sich in dieser Situation nur als Verteidigung des öffentlichen Sektors und nicht als Infragestellung der kapitalistischen Logik im Allgemeinen, wie sie sich im öffentlichen Dienst manifestiert, manifestieren. Die Verteidigung dieses Sektors impliziert logischerweise, dass dieser Sektor als außerhalb der kapitalistischen Logik betrachtet wird oder betrachtet werden sollte. Es war keine gute Kritik an dieser Bewegung, als ihr vorgeworfen wurde, eine Bewegung von Privilegierten oder einfach von egoistischen Korporatisten zu sein. Aber es lässt sich feststellen, dass selbst die großzügigsten oder radikalsten Aktionen dieser Bewegung die gleichen Grenzen hatten. Alle Haushalte kostenlos mit Strom zu versorgen ist eine Sache, über die Produktion und Nutzung von Energie nachzudenken eine andere. Man kann an diesen Aktionen erkennen, dass der Staat als eine vom Kapital parasitierte Gemeinschaft verstanden wird, wobei das Kapital zwischen den Staatsbürgern-Nutzern und dem Staat steht. Der Staatsbürgerismus sagt nichts anderes aus.
Wir können sehen, dass der Staatsbürgerismus keine radikalere Bewegung rekuperieren könnte. Im Moment existiert eine solche Bewegung einfach nicht. Der Staatsbürgerismus entwickelt sich als Ideologie, die notwendigerweise von einer Gesellschaft hervorgebracht wird, die keine Aussichten auf Überwindung [des Systems] in Betracht zieht.
Wir können auch hervorheben, dass die Bewegung von 1995, dem Geburtsjahr des Staatsbürgerismus, ein Misserfolg war, selbst in Bezug auf ihre begrenzten grundlegenden Ziele. Die Privatisierung des öffentlichen Sektors schreitet weiter voran, und dieser Sektor kann sogar als Vorreiter der Ideologie des Privaten gelten, was die Beteiligung der Unternehmen, die Einbeziehung in die Verwaltung usw. betrifft. In diesem Sektor gibt es Massenentlassungen, es entstehen immer mehr prekäre Arbeitsverhältnisse, die so genannten „Arbeit-Jugend“, Arbeitsplätze werden abgebaut und die verbleibenden überlastet. Auch der öffentliche Sektor steht bei der Umsetzung der 35-Stunden-Woche, d. h. der Flexibilisierung, an vorderster Front. Auch hier zeigt sich, dass die Logik des Staates und die des Kapitals, wenn nötig, keineswegs im Widerspruch zueinander stehen, was eine der internen Grenzen des Staatsbürgerismus darstellt.
III. – Das Verhältnis zum Staat, Reformismus und Keynesianismus.
Die Beziehung des Staatsbürgerismus zum Staat ist sowohl eine Beziehung der Opposition als auch der Unterstützung, oder besser gesagt der kritischen Unterstützung. Es kann sich dem Staat widersetzen, aber es kann nicht auf die Legitimität verzichten, die er ihm bietet. Die staatsbürgerlichen Bewegungen müssen sich schnell zu Gesprächspartnern entwickeln und dazu manchmal „radikale“, d. h. illegale oder spektakuläre Aktionen durchführen. Es geht darum, sich gleichzeitig in die Opferrolle zu versetzen, den Staat in Verlegenheit zu bringen (d.h. den idealen Staat dem realen Staat gegenüberzustellen) und so schnell wie möglich an den Verhandlungstisch zu gelangen. Das Eintreffen der CRS (Bereitschaftspolizei) bestätigt, dass die Staatsbürgeristen verstanden wurden. Natürlich muss all dies vor den Augen der Kameras geschehen. Hier ist die Repression der Vorläufer der staatsbürgerlichen Bewegungen: Die Konfrontation ist nicht mehr wie in früheren Zeiten der Moment, in dem das Kräfteverhältnis gemessen wird, sondern besteht aus einer symbolischen Legitimation. Daher beispielsweise das Missverständnis zwischen René Riesel [ehemaliges Mitglied der Situationistischen Internationale] und einigen anderen der Confédération Paysanne, die dieses Kräfteverhältnis herstellen wollten, und José Bové (und offensichtlich dem Großteil der Confédération), die durch eine spektakuläre Aktion ihre Bewegung zu einem Gesprächspartner des Staates machen wollten, was tatsächlich teilweise gelungen ist.
Der Staat selbst akzeptiert diese Praktiken großzügig, und jeder kann heute eine kleine Demonstration abhalten, zum Beispiel die Außenbezirke blockieren und anschließend offiziell empfangen werden, um seine Forderungen vorzutragen. Die Staatsbürgeristen sind empört über diesen Zustand, zu dem sie selbst beigetragen haben, und meinen, dass man den Staat trotzdem nicht wegen Kleinigkeiten stören sollte. Die privilegierten Gesprächspartner sehen Parasiten und andere Raubvögel der Demokratie mit Missfallen.
Darüber hinaus werden bestimmte staatsbürgerliche Praktiken direkt vom Staat gefördert, wie die „Staatsbürgerliche Debtten“ oder „Debatten der Staatsbürger“ zeigen, mit denen der Staat sich das „Wort an die Statsbürger“ anmaßt. Es ist interessant zu sehen, wie sehr sich diese Bewegung mit jedem Ersatz für einen Dialog zufrieden gibt und bereit ist, in allem nachzugeben, solange sie nur gehört wird und die Experten „auf ihre Anliegen eingegangen sind“. Der Staat spielt hier die Rolle des Vermittlers zwischen der „Zivilgesellschaft“ und den ökonomischen Instanzen, genauso wie die Staastbürgeristen als Vermittler zwischen dem kritisch überarbeiteten Staatsprogramm (das nichts anderes ist als das Transmissionsriemen der Kapitaldynamik) und der „Zivilgesellschaft“ fungieren. Das hat man beim 35-Stunden-Gesetz gesehen. Die Staatsbürgeristen spielen hier die Rolle, die früher den Gewerkschaften/Syndikaten in der Arbeitswelt zukam, und zwar für alles, was als „Probleme der Gesellschaft“ bezeichnet wird. Das Ausmaß der Mystifizierung zeigt auch das Ausmaß des möglichen Protestbereichs, der sich auf alle Aspekte der Gesellschaft ausgedehnt hat.
In ihrer Beziehung zum Staat beginnen die Staatsbürgeristen – zumindest in Frankreich – an ihrem Sieg zu erkranken. Die Bewegung spaltet sich immer mehr auf und bildet sich neu zwischen denen, die dazu neigen, der Macht zu vertrauen (auf der linken Seite), und den Radikaleren, die den Kampf fortsetzen wollen. Aber das wesentliche Problem ist aufgeworfen worden. Wen könnten die Menschen noch wählen, wenn die Linke erst einmal an der Macht ist? Braucht es mehr Grüne in der Regierung oder sollten diese sich aus der Macht zurückziehen, um ihre Rolle in der Opposition besser ausüben zu können? Aber wozu ist eine politische Partei gut, wenn nicht dazu, sich in die demokratische Arena zu begeben?
Der Staatsbürgerismus ist von seiner Natur her unfähig, sich auf eine Partei zu konzentrieren, zumindest in den demokratischen Gesellschaften, die wir kennen. Es bräuchte eine Diktatur oder eine autoritäre Demokratie, damit die Bestrebungen der Klein- und Mittelbourgeoisie mit einer breiteren Opposition in Resonanz treten und es gelänge, eine demokratische Partei der radikalen Opposition zu organisieren. Wir haben dies in Belgrad oder in Venezuela mit dem Nationalpopulismus von Chávez gesehen. Dagegen gibt es dort, wo es Demokratie gibt, bereits Parteien, die die Bestrebungen dieser Klein- und Mittelbourgeoisie vertreten, und genau diesem Parteiensystem trauen viele Staatsbürgeristen nicht mehr. In den am weitesten entwickelten Ländern konzentriert sich der Staatsbürgerismus im Wesentlichen auf den Wunsch nach einer direkteren, „partizipativen“ Demokratie, einer Demokratie der „Staatsbürger“. Natürlich schlagen sie keine Methode vor, um dies zu erreichen, und dieser Wunsch nach direkter Demokratie endet wie immer an den Wahlurnen oder in der ohnmächtigen Stimmenthaltung.
Unter diesem Gesichtspunkt bieten die Grünen ein interessantes Schauspiel, da sie diese Grenze des Staatsbürgerismus aufzeigen. Aus den Umweltbewegungen der 70er Jahre hervorgegangen, haben sie es in den 80er Jahren geschafft, sich über Wasser zu halten. Aber sie stützen sich immer noch auf das alte Parteimodell, eine hierarchische Form, die der nebulösen Natur der lebendigen Kräfte des Staatsbürgerismus widerspricht. Aufgrund ihrer eigenen Natur liefen sie daher Gefahr, mit der realen Erfahrung der Macht konfrontiert zu werden, was schließlich auch geschah. Tatsächlich ist dies das letzte politische Risiko, dem die „Reformisten“ ausgesetzt sind, nämlich zu regieren. In diesem Szenario politisch aktiv (A.d.Ü., im Sinne der Militanz) zu sein, ist nicht immer ohne Konsequenzen, wie die Grünen auf ihre Kosten feststellen konnten.
Was es ermöglicht, das Risiko zu umgehen, ist das „Lobbying“. Die Lobbys üben niemals Macht direkt aus. Daher können ihnen die „Misserfolge“ des Staates nicht angelastet werden. Der Militantismus des „Lobbying“ kennt in jeder Hinsicht keine Grenzen. Das ist äußerst befriedigend für Menschen, die sich engagieren möchten, ohne allzu große politische Risiken einzugehen. In einer Lobby ist man unter seinesgleichen, man muss keine soziale Basis suchen, wie es bei den klassischen Parteien der Fall ist, indem man mehr oder weniger demagogische Mittel einsetzt. Man kann sich getrost als „radikal“ zeigen. Man kann ungestört den kritischen Ratgeber des Prinzen spielen, ohne sich mit den Schwierigkeiten der Regierung auseinandersetzen zu müssen. Man kann sich ewig über den Mangel an „politischem Willen“ in den Bereichen Kernenergie, Einwanderung oder öffentliche Gesundheit beklagen, ohne auch nur im Geringsten darüber nachdenken zu müssen, was ein Staat im kapitalistischen Kontext tatsächlich tun kann.
Eines der wahnsinnigsten Beispiele dafür ist die unbeschreibliche Vereinigung ATTAC. Es ist allgemein bekannt, dass die bloße Idee einer Besteuerung von Börsentransaktionen selbst den dümmsten Ökonomen vor Lachen in die Knie zwingt. Es ist offensichtlich, dass die Anwendung dieser Besteuerung in einem einzigen Staat diesen in eine tiefe Krise stürzen würde und dass die weltweite Anwendung dieser Maßnahme offensichtlich unmöglich ist. Es ist offensichtlich, dass selbst wenn eine Organisation wie die WTO, die von einem Wahnsinnsausbruch erfasst wurde, diese Maßnahme predigen würde, die Ablehnung weltweit so groß wäre, dass sie keine andere Wahl hätte, als sie wieder in der Schublade zu lassen. Und um es auf die Spitze zu treiben: Wenn eine solche Maßnahme umgesetzt würde, würde automatisch eine weltweite Zunahme der Ausbeutung folgen, um die Verluste auszugleichen.
All dies hindert die Ökonomen von ATTAC nicht daran, angesichts der sarkastischen Gleichgültigkeit der Machthaber mit Kurven und Grafiken über diese Angelegenheit zu schwadronieren. Sie werden bereit sein, sie von Zeit zu Zeit zu empfangen, um sich ein wenig zu amüsieren und vor allem zu zeigen, wie sehr der Staat auf alle Vorschläge achtet, die die Staatsbürger zu machen bereit sind. Auf jeden Fall muss man ATTAC zugute halten, dass es in eine so finstere Disziplin wie die Ökonomie das komische Element eingeführt hat, das ihr fehlte. Wir sehen hier, dass ihre Ohnmacht noch kein Problem für den Staatsbürgerismus ist. Kaum jemand denkt daran, ihn auf der Grundlage ihrer Ergebnisse zu beurteilen, da die Dringlichkeit, Ergebnisse zu erzielen, noch nicht spürbar ist. Wenn dies in großem Maßstab geschieht, wird ihm zweifellos nicht mehr viel Zeit bleiben.
An dieser Stelle müssen wir die Frage des staatsbürgeristischen „Reformismus“ ansprechen. Wir wissen, dass die Staatsbürgeristen diese Bezeichnung gerne annehmen. Es versteht sich, dass sie durch die Verwendung dieses Begriffs suggerieren wollen, dass sie pragmatischer und realistischer sind als die verdammten revolutionären Idealisten. Und tatsächlich können wir an einer Vereinigung wie ATTAC sehen, wie weit ihr Pragmatismus und Realismus geht.
Auf jeden Fall gleichen wir armen Revolutionäre unseren Mangel an Pragmatismus mit der schlechten Angewohnheit aus, die Dinge oft anhand der Geschichte zu beurteilen, also anhand dessen, was bisher wirklich passiert ist. Und wir müssen feststellen, dass der Reformismus immer in Zeiten der Krise des Kapitalismus entsteht. Der Front Populaire (Volksfront) beispielsweise war reformistisch. Zu einer Zeit, als die Arbeiteraufstände weit verbreitet waren und Fabriken besetzt wurden, gewährte der Front Populaire unter anderem den Arbeitern und Arbeiterinnen bezahlten Urlaub, was nie gefordert worden war. Auch Keynes war reformistisch, und die Krise von 1929 hatte etwas damit zu tun. Allerdings gibt es derzeit keine aufständischen Streiks, keine Investitionskrise und keinen signifikanten Rückgang des Konsums. Selbst der jüngste relative Anstieg der Zinssätze nach einem Jahrzehnt kontinuierlicher Senkungen und das sehr vorhersehbare „Debakel“ der „Technologieaktien“ werden eher als Konsolidierung der Märkte denn als Krisenrisiko wahrgenommen. Derzeit gibt es keine wirkliche Kapitalkrise. Es sollte also keine Reformer geben.
Andererseits dienten alle Reformen, die im Kapitalismus durchgeführt wurden, nur dazu, den Kapitalismus selbst zu retten. Es gibt keine antikapitalistischen Reformen. Keynes versteckte sich nicht davor, ein Liberaler zu sein, noch davor, das liberale System retten zu wollen, das durch die Krise von 1929 in Gefahr geraten war.
Wir sollten hier einen Moment bei Keynes verweilen, der von den Staatsbürgerismus als der Ökonom der Wunder dargestellt wird, der alle unsere Übel heilen kann. Zunächst einmal muss gesagt werden, dass Keynes den Kapitalismus seiner Zeit sehr gut kannte, da er ein persönliches Vermögen von 500 000 Dollar angehäuft hatte, indem er nur eineinhalb Stunden pro Tag internationalen Devisen- und Warentransaktionen widmete, während er gleichzeitig für die englische Regierung arbeitete. Es ist verständlich, dass ihn der Börsenkrach von 1929 nicht gleichgültig gelassen hat.
Die Weltwirtschaftskrise von 1929 markiert den Beginn der modernen Epoche des Kapitalismus. Sie ist das Ergebnis der gewaltigen Expansion des 19. Jahrhunderts, die keine Grenzen zu kennen schien, insbesondere in Amerika. Der amerikanische Traum erreichte seinen Höhepunkt und sollte in einem Albtraum enden. Dieser Traum beruhte auf dem Unternehmergeist, auf der unternehmerischen Kühnheit der Erben der Eroberer des Westens, wurde aber von der Realität des Kapitalismus zunichte gemacht, in dem Investitionen nicht aus Freude am Risiko oder Unternehmergeist getätigt wurden, sondern um Gewinne zu erzielen.
Als der Kapitalismus seine Reife erlangt hatte, begann er zu stagnieren, und es wurde allmählich klar, dass unbegrenztes Wachstum nicht für immer garantiert war, als handele es sich um ein Naturgesetz. Die Investitionen gingen zurück oder brachen sogar zusammen. Die klassischen ökonomischen Theorien postulierten, dass es immer ein Angebot geben würde, solange es eine Nachfrage gäbe, und ignorierten dabei die Tatsache, dass Unternehmen nicht produzieren, um Waren zu verwalten, sondern um den Mehrwert aus der Produktion zu ziehen. In diesem Zusammenhang trat Keynes auf den Plan. Das wirklich Notwendige war die Investition, das Wissen, wie man neue Märkte schafft, neue Produkte erfindet und in die Welt des Massenkonsums eintritt. Vor dem Hintergrund der Krise musste der Staat die Anfangsinvestitionen übernehmen, d. h. die Menschen so weit wie möglich wieder in Arbeit bringen, eine inflationäre Geldpolitik betreiben und Infrastrukturen schaffen, auf deren Grundlage das Privatkapital reinvestieren konnte. „Wer wird Autos bauen, wenn es nicht genügend Straßen gibt?“, fragte Keynes. Tatsächlich hatte Präsident Roosevelt bereits begonnen, diese Politik ohne die wertvolle theoretische Unterstützung umzusetzen, die Keynes ihm später geben sollte. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass die Krise von 1929 Millionen von Arbeitslosen auf die Straße gesetzt hatte und dass die „Früchte des Zorns“ gefährlich zu reifen begannen.
Wir sehen jedenfalls, dass der Keynesianismus im Wesentlichen liberal ist. Er geht einfach davon aus, dass der Liberalismus nicht von selbst reguliert werden kann, dass das einfache Spiel von Angebot und Nachfrage nicht der Motor ist, der es dem Kapital ermöglicht, unbegrenzt zu wachsen, und dass es daher Aufgabe des Staates ist, die Wachstumsbedingungen wiederherzustellen, um anschließend den privaten Investoren Platz zu machen. In einem Brief an die New York Times schrieb Keynes 1934: „Ich sehe das Problem der ökonomischen Erholung wie folgt: Wie lange werden die normalen Unternehmen brauchen, um der Ökonomie zu Hilfe zu kommen? In welchem Umfang, mit welchen Mitteln und wie lange müssen die außergewöhnlichen, durch die Regierung verursachten Kosten fortbestehen, bis diese Erholung eintritt?“ Wir haben „außergewöhnlich“ unterstrichen. Es ist klar, dass Keynes keineswegs die Idee einer dauerhaften und kontinuierlichen Kontrolle des Privatkapitals durch den Staat oder verschiedene internationale Instanzen verfolgte. Keynes war kein Sozialist.
Tatsächlich war er so weit vom Sozialismus entfernt, dass er 1931 in Bezug auf den „Kommunismus“ schrieb: „Wie könnte ich eine Doktrin annehmen, die, indem sie Brot dem Kuchen vorzieht, das stinkende Proletariat zum Nachteil der Bourgeoisie und der Intelligenz preist, die trotz all ihrer Fehler die Quintessenz der Menschheit sind und sicherlich hinter jedem menschlichen Werk stehen?“ Es ist wahr, dass die Bourgeoisie damals ganz anders war als das, was sie geworden ist, und dass sie noch nicht das Bedürfnis verspürte, sich zusammen mit Viviane Forrester über das zu beklagen, was man trotz allem „den ökonomischen Schrecken“ genannt hat.
Abschließend muss darauf hingewiesen werden, dass Keynes‘ Theorien ihre Grenzen hatten und dass der Kapitalismus andere Methoden hat, um „Investitionen anzukurbeln“: Zehn Jahre nach der Krise von 1929 begann der Krieg, der die Welt verwüsten, dem technologischen Fortschritt einen unerwarteten Schlag versetzen und die industrialisierte Welt in die glücklichen Jahre des Massenkonsums führen sollte. Keynes selbst trug zu diesem „Investitionsschub“ bei, indem er ein Büchlein mit dem Titel How to Pay for the War (Wie man den Krieg bezahlt) verfasste.
Die Staatsbürgeristen wollen den Liberalismus mit Hilfe von Keynes kritisieren. Da sie nie vorgegeben haben, antikapitalistisch zu sein, folgt daraus, dass sie, wenn sie gegen den Liberalismus sind, gleichzeitig prokapitalistisch sind, also für das stehen, was man früher „Sozialismus“ nannte, d. h. Staatskapitalismus. So lässt sich die Präsenz von Trotzkisten in ihren Reihen besser verstehen. Aber natürlich wehren sie sich auch dagegen. Es ist wirklich kompliziert zu wissen, was sie wollen.
Wir behaupten, dass es derzeit keine kapitalistische Krise gibt, und sie behaupten natürlich das Gegenteil. Tatsächlich muss es eine Krise geben, damit sie gebraucht werden. Die Krise ist das natürliche Element des Reformismus. Sie glaubten, eine in Südostasien gefunden zu haben, aber diese Krise war eher der Beweis dafür, dass der Kapitalismus die Lehren von Keynes gut gelernt hat und nicht mehr glaubt, dass der Liberalismus sich selbst regulieren kann. So wurde die asiatische Krise schnell gelöst, auch mit einigen „sozialen Konsequenzen“. Aber der Kapitalismus kümmert sich nicht um „soziale Konsequenzen“, solange er nicht radikal in Frage gestellt wird. Es wird keinen sozialen Keynesianismus mehr geben, es wird keine glorreichen dreißiger Jahre mehr geben. Auch das ist Vergangenheit.
Wenn die Staatsbürgeristen von Krise sprechen können, dann deshalb, weil der Staat zuerst davon gesprochen hat. Seit 30 Jahren heißt es, Frankreich stecke in der Krise. Diese „Krise“, die zu Beginn real war, wurde dann als Rechtfertigung für Ausbeutung benutzt. Heute spielt die „Rekuperation“ diese Rolle, und die Reformisten sind genervt. Dies zwingt sie, ihren Diskurs, der stets dem des Staates nachempfunden ist, neu auszurichten, und diejenigen, die von einer allgemeinen weltweiten Krise sprachen, sprechen heute von der „Verteilung der Früchte des Wachstums“. Wo bleibt die Kohärenz? Wo sind also diese antiliberalen Keynesianer, diese Reformisten ohne Reform, diese Etatisten, die nicht am Staat teilnehmen können, diese Staatsbürgeristen?
Die Antwort ist einfach: Sie befinden sich in einer Sackgasse, in einer ausweglosen Situation.
Es mag abwegig erscheinen, zu behaupten, dass eine Bewegung, die so offensichtlich alle Bereiche der Protestbewegung besetzt, in einer ausweglosen Situation sein könnte. Einige werden darin eine unbegründete Behauptung sehen, die von einem nicht genau bekannten Ressentiment diktiert wird. Wir haben jedoch oben die Auflösung und das Verschwinden einer viel älteren Bewegung erwähnt, die über eine unendlich breitere und kämpferischere soziale Basis verfügte, ohne dass wir dafür besondere rhetorische Vorsichtsmaßnahmen ergriffen hätten, so offensichtlich erscheint uns dieses Verschwinden heute. Ebenso denken wir, dass eine andere soziale Bewegung auf bisher unbekannten Grundlagen möglich ist.
IV. Staatsbürgerismus und Staatsbürger.
Wenn Ignacio Ramonet von „staatsbürgerlichen“ und nicht von„zivilen“ Ungehorsam spricht, macht er einen klaren Unterschied, der die Beziehung zwischen dem Staatsbürgerismus und seiner eigenen Basis zeigt. Das Wort „zivil“ bezieht sich objektiv und neutral auf den Staatsbürger eines Staates, der nicht in diesem Staat geboren wurde. Der Begriff „staatsbürgerlich“ definiert, was einem guten Staatsbürger entspricht, d. h. einer Person, die aktiv zeigt, dass sie Teil dieses Staates ist. Wie wir sehen können, ist der Unterschied im Wesentlichen moralischer Natur.2
Eine der Stärken des Staatsbürgerismus liegt in diesem im Wesentlichen moralischen, um nicht zu sagen moralisierenden Charakter. Er wechselt leicht von der Anprangerung der „Krise“ zum Vorschlag, „die Früchte des Wachstums zu verteilen“, ohne die Fakten zu berücksichtigen und ohne eine Analyse durchzuführen. Was zählt, ist, die „staatsbürgerlichste“ Position einzunehmen, d. h. die großzügigste, die moralischste. Und natürlich positioniert sich jeder für den Frieden, gegen den Krieg, gegen „schlechte Ernährung“, für „gute Ernährung“, gegen Elend, für Reichtum. Kurz gesagt, es ist besser, in Friedenszeiten reich und gesund zu sein, als in Kriegszeiten arm und krank.
In einer Welt, die sich ein Jahrhundert nach Nietzsche energisch über Gut und Böse hinwegsetzt, ist Moral das, was sich am besten verkauft. Aber dieses Bedürfnis nach Trost kann nicht gestillt werden. Wir können zum Beispiel das Unbehagen sehen, das die leidige Givers-Affäre in den Reihen der Staatsbürgeristen auslöste. Diese Revolte hatte die Besonderheit, dass sie gleichzeitig ein archaisches Wiederaufleben der Arbeiterunruhen und die Manifestation einer Verzweiflung war, die sehr typisch für die heutige Zeit ist. Ein Staatsbürgerist fragte sich während des Aufstands in den Seiten der Zeitung „Le Monde“, ob die Aktion der Arbeiter von CELLATEX als „staatsbürgerliche Aktion“ bezeichnet werden könne. Wir können antworten: Die Lohnarbeiter von Givers, die bis zum Hals in der Patsche saßen und völlig verzweifelt waren, verfügten nicht über den Optimismus und die wohlüberlegte Besorgnis, die den Lesern des „Monde Diplomatique“ eigen sind; sie sind keine Staatsbürger und haben auch nicht als solche gehandelt. Die Ohnmacht, die die Staatsbürgeristen unter diesen Umständen an den Tag legten, zeigt deutlich, welche Art von Reaktion sie unter anderen Umständen in größerem Maßstab zeigen könnten.
Natürlich würden sie nicht zögern, im Namen der Demokratie, des Rechtsstaats und der Moral zur Repression gegen schlechte Staatsbürger aufzurufen. Tatsächlich zielte der Diskurs des Staatsbürgeristen in „Le Monde“ in eine andere Richtung, da er mit seiner hinterhältigen (natürlich völlig objektiven) Infragestellung verhindern wollte, dass jegliche Sympathie, die entstehen könnte, unterbunden wird, und die Staatsbürger zur Vernunft rufen wollte, um eine mögliche Repression vorzubereiten (die natürlich nicht stattfand, da die Arbeiter in der gegenwärtigen Situation keine andere Wahl hatten, als zu verhandeln). Auf jeden Fall ist es interessant zu sehen, wie in dieser Minikrise ein Staatsbürgeristen sich beeilt, dem Staat seine Vermittlungsdienste anzubieten. Der Staatsbürgerismus ist potenziell eine konterrevolutionäre Bewegung.
Unser Beispiel zeigt auch, dass der Staatsbürgerismus nicht in der Lage ist, auf Bewegungen zu reagieren, die nicht von ihm selbst ins Leben gerufen wurden. Andererseits ist es wichtig zu betonen, dass die soziale Basis des Staatsbürgerismus viel breiter und diffuser ist als die der Militanten von Assoziationen und Gewerkschaften/Syndikate. Der Staatsbürgerismus spiegelt die Sorgen einer bestimmten gebildeten Mittelklasse und einer kleinen Bourgeoisie wider, die ihre Privilegien und ihren politischen Einfluss verloren hat, als die alte Arbeiterklasse verschwand. Die weltweite Umstrukturierung des Kapitalismus hat zum Niedergang des alten nationalen Kapitals und damit zum Niedergang der Bourgeoisie, die es besaß, und der Mittelklasse, die sie beschäftigte, geführt. Die alte bourgeoise Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, die noch nach Ancien Régime roch, ist vollständig verschwunden. Die Konsolidierung des Staates und die Kritik an der Globalisierung wirken wie eine Nostalgie nach diesem alten nationalen Kapital und dieser bourgeoisen Gesellschaft, so wie die Kritik an den multinationalen Konzernen nichts anderes ist als Ausdruck der Nostalgie nach dem familiären Geschäft. Wieder einmal wird eine verlorene Welt beklagt.
Eine Welt, die zweimal verloren gegangen ist, da sich der Begriff „Staatsbürger“ auch auf die alte republikanische Bezeichnung bezieht, zweifellos auf die zu Beginn der bourgeoisen Revolution und nicht auf die der Pariser Kommune (obwohl ein neuer endloser und absichtlich anachronistischer Film, der sich mit diesem Thema befasst, darauf hindeutet, dass man auch die Kommune wiederbeleben will). Aber diese Revolution wurde durchgeführt und wir leben in der Welt, die sie geschaffen hat. Die Sans-Culotte wären überrascht, wenn sie die Veränderung der Republik sehen würden, an deren Aufbau sie selbst mitgewirkt haben, aber so wie es unmöglich ist, zweimal in derselben Situation zu leben, kehren die Toten nie zurück. Es kann jedoch sein, dass zukünftige Sans-Culotte, gekleidet in Nike-Kleidung, eines Tages durch irgendeinen Winkel einer modernen Vorstadt schlendern.
Durch den Staatsbürgerismus stellen die enterbten Mittelklassen ihre verlorene Klassenidentität wieder her. So kann sich ein Bioladen als „Schaufenster für Lebensstile und staatsbürgerlichen Denken“ präsentieren. Aber Vorsicht! Die Menschen, die kein Bio essen, sollen wissen, dass sie keine „Staatsbürger“ sind. Ein junger Staatsbürgerist kann dann seine Zweifel am Proletariat schnell vereinfachen: „Was kann man von ihnen erwarten? Sie gehen zu Auchan (einem Supermarkt) einkaufen.“
Die Staatsbürgeristen werden auf der Grundlage, die sie derzeit einnehmen, nicht in der Lage sein, radikalere soziale Bewegungen rekuperieren, da sie sich von diesen radikalen Bewegungen völlig abgetrennt fühlen. Wenn es soweit ist, werden sie dem Staat, den sie verteidigen, nur eine moralische Garantie für seine Repression bieten können. Die Pseudolösungen, die sie angesichts einer realen Krisensituation vorschlagen, werden als das erscheinen, was sie wirklich sind: ein Mittel zur Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung. Wenn große Gruppen von Menschen beginnen, nach Antworten auf ihre konkreten Situationen zu suchen, werden abstrakte und endlose Gegensätze zwischen Staat und Kapital, „echter“ Demokratie und der Demokratie, in der wir leben, oder „Solidarwirtschaft“ und Liberalismus nicht mehr ausreichen. Eine Bewegung, die aus einer großen Krise hervorgeht, d.h. aus der Infragestellung der Existenzbedingungen selbst, wird diesen Spielchen nicht lange standhalten.
Da die Staatsbürgeristen jedoch da sind, werden sie für eine Weile die Revolte in Anspruch nehmen können, die auch die Form eines übersteigerten Nationalismus annehmen könnte, den sie selbst genährt und entwickelt haben (die Voraussetzungen dafür sind bereits vorhanden, zum Beispiel die von José Bové und vielen anderen entwickelte antiamerikanische Haltung). Die Kritik am globalisierten Kapital muss jedoch nicht mit der Möglichkeit eines Rückfalls in das vom Staat verteidigte nationale Kapital konfrontiert werden. Sollte diese sehr unwahrscheinliche Alternative eintreten, würde höchstwahrscheinlich ein Krieg entfacht werden.
Wie wir sehen können, gibt es keine Garantie dafür, dass die nächste soziale Bewegung revolutionär sein wird. Auf jeden Fall wird sie dazu beitragen, den Staatsbürgerismus endgültig zu entlarven, und sie könnte einen neuen Weg eröffnen, um das sehr alte Projekt der Veränderung der Welt jenseits von Staat und Kapital wieder aufzunehmen.
V. – Staatsbürgerismus und Revolution.
Die gesamte alte revolutionäre Bewegung beruhte auf der Tatsache, dass die Arbeiter die Zügel der kapitalistischen Produktionsweise in die Hand nahmen, die sie aufgrund ihrer tatsächlichen Stellung in der Produktion praktisch als ihre eigene betrachteten. Die Automatisierung und Prekarisierung der 1970er Jahre haben diese effektive Stellung, die einer echten Beziehung zwischen dem Proletariat und der Produktion entsprach, zunichte gemacht. Einige Radikale, wie die der Encyclopédie des Nuisances oder Camatte (von Invariance), ahnten oder theoretisierten diese Veränderung. Sie konnten jedoch nicht aus der alten Konzeption der Revolution herauskommen, ohne die Revolution selbst aufzugeben, und genau das ist auch passiert.
Die Situationistische Internationale befürwortete lediglich eine „bessere Nutzung der Produktivkräfte“, um durch Arbeiterräte Situationen zu schaffen. Sie sahen nicht (aber wie hätte man das damals sehen können?), dass die kapitalistische Produktionsweise kapitalistisch war und die von ihnen befürwortete Automatisierung kein Mittel war, um Zeit zu gewinnen und „ohne Zeitverlust zu leben und ohne Hindernisse zu genießen“, sondern nur ein Mittel, um Kapital zu gewinnen. Und nach der „Konterrevolution“ der 70er und 80er Jahre haben sie sich damit abgefunden, diese Produktion, die die Arbeiter nicht zurückgewinnen konnten, als Quelle allen Übels zu identifizieren.
Anstatt das Verschwinden der alten Arbeiterbewegung als neue Bedingung einer aufkommenden revolutionären Bewegung und vor allem als Chance für diese Bewegung zu begreifen, haben sie es als Katastrophe erlebt. Tatsächlich war es eine große Katastrophe für diese alte Arbeiterbewegung, ihr Totenschein. Die große Mehrheit der Generation nach den Bewegungen von 1968 hat sich in dem durch diese Niederlage entstandenen Vakuum verloren. Und wir wollen ihnen das keineswegs vorwerfen, denn man kann eine ein Jahrhundert lang geltende Konzeption weder an einem Tag noch in zwanzig Jahren vergessen.
Heute kann man damit beginnen, Bilanz zu ziehen. Seit 1995 hatten wir das zweifelhafte Privileg, beobachten zu können, wie auf den Trümmern der Revolution eine Ideologie wieder aufgebaut wurde. Wir konnten die neuen Aspekte dieser Ideologie schnell erkennen, aber es dauerte viel länger, bis wir ihren archaischen Charakter erkannten, d.h. wie sehr sie von der Geschichte bestimmt war.
Wir haben bereits erwähnt, dass der Staatsbürgerismus die Überreste der alten revolutionären Bewegung aufnimmt. Der Staatsbürgerismus möchte heute „reformistisch“ sein, weil die alte revolutionäre Bewegung im Grunde keine Überwindung des Kapitalismus darstellte, sondern dessen Verwaltung durch die „aufsteigende Klasse“, die eines Tages das Proletariat werden sollte. Die „Arbeiterverwaltung“ des Kapitals ist einfach zu einer „Verteilung des Reichtums“ oder einer „Besteuerung des Kapitals“ geworden, die Produktion ist zugunsten des Profits, des Finanzkapitals und des Geldes verschwunden. Ein französischer Slogan verkündet: „De l’argent, il y en a, dans les poches du patronat“ [Geld gibt es, in den Taschen der Arbeitgeber]. Und das stimmt auch, aber im Namen von was sollte dieses Geld in die Taschen der Proletarier, pardon, der „Staatsbürger“ gelangen?
Da die alte Arbeiterbewegung nicht in der Lage war, die Verwirklichung der menschlichen Gemeinschaft herbeizuführen, beschränkt sie sich auf obszöne und aufschlussreiche Weise darauf, einen Teil der kapitalistischen Gewinne zu erlangen (obwohl es wichtig ist zu erwähnen, dass, wenn „nur“ Geld vom Kapitalismus verlangt wird, dies daran liegt, dass wir wissen, dass wir nichts anderes erwarten können). Dies ist zweifellos Grund genug, einen alten Revolutionär zu entmutigen, einen von denen, die glaubten, eine bessere Welt aufbauen zu können. Aber wenn die Überzeugung, dass diese Welt durch die Verwaltung des Kapitals durch die Arbeiter aufgebaut werden könnte, bereits eine Illusion war, dann ist es auch eine Illusion zu glauben, dass der Kapitalismus gezwungen werden kann, seine Gewinne zur Freude aller „Staatsbürger“ zu teilen, wenn wir akzeptieren, dass sein Geld uns glücklich machen kann. Der Staatsbürgerismus greift den Kern einer hundert Jahre alten Illusion auf, und diese Illusion, die in Wirklichkeit bereits tot ist, steht kurz vor ihrer Zerstörung.
„Alles gehört uns, nichts gehört ihnen“, verkünden die Demonstranten hartnäckig. Doch das Kapital, diese Geldmasse, die nur durch die Beherrschung menschlicher Tätigkeit und folglich durch die Umgestaltung dieser Tätigkeit nach seinen eigenen Regeln anwachsen will, hat eine Welt geschaffen, in der ‚alles ihm gehört, nichts uns‘. Und dies betrifft nicht nur das Privateigentum an den Produktionsmitteln, sondern auch deren Natur und Ziele. Das Kapital begnügte sich nicht damit, sich alles anzueignen, was die Menschheit zum Überleben braucht, was den ersten Schritt seiner Herrschaft darstellte, sondern hat es dank Industrialisierung und Technologie so verändert, dass heute fast nichts mehr produziert wird, um konsumiert zu werden, sondern einfach nur, um verkauft zu werden. Produktion zur Befriedigung unserer Bedürfnisse kann nicht vom Kapitalismus kommen. Von der vorkapitalistischen menschlichen Tätigkeit ist praktisch nichts übrig geblieben. Die Welt ist tatsächlich zu einer Ware geworden.
Das Kapital ist keine neutrale Kraft, die, wenn sie richtig „ausgerichtet“ wird, das Glück der Menschheit hervorbringen könnte, genauso wie sie ihr Verderben verursacht. Es kann nicht „entsorgen, wie es verschmutzt“, wie ein ökologischer Staatsbürgerist behauptete, da seine eigene Bewegung ihn unweigerlich dazu führt, zu verschmutzen und zu zerstören, d.h. die Bewegung der Akkumulation und der Produktion für diese Akkumulation setzt sich über jede Vorstellung von „Notwendigkeit“ hinweg, ebenso wie über die lebenswichtige Notwendigkeit, die es für die Menschheit bedeutet, ihre Umwelt zu erhalten. Das Kapital dient nur seinen eigenen Zwecken, es kann kein menschliches Projekt sein. Es gibt keine andere „Globalisierung“. Vor ihm stehen nicht die Bedürfnisse der Menschheit, sondern die Notwendigkeit der Akkumulation. Wenn es sich zum Beispiel dem Recycling widmet, wird die dafür geschaffene Branche alles Notwendige tun, um immer wieder Dinge zu recyceln. Das Recycling, das nichts anderes ist als eine andere Form der Rohstoffgewinnung, erzeugt immer mehr „recycelbare“ Abfälle. Außerdem verschmutzt es genauso wie jede andere industrielle Tätigkeit.
Um Missverständnisse zu vermeiden, ist es wichtig klarzustellen, dass wir die etwas paranoide Vorstellung, die von gewissen „Radikalen“ verbreitet wird, nicht teilen, dass nämlich das Kapital verschmutzt, um einen Markt für die Dekontaminierung zu schaffen, oder dass jedenfalls jeder vom Kapitalismus verursachte Schaden Märkte hervorbringt, um diese Schäden zu beheben, wie es „ein brandstiftender Feuerwehrmann“ tun würde. Es gibt nicht wenige Schäden, die niemand reparieren will, einfach weil es dafür keinen Markt gibt. Ein Beweis dafür ist, dass die Staaten die Kosten für die Dekontaminierung meistens allein tragen müssen, was zu Konflikten zwischen Staaten und Unternehmen führen kann, die in der Debatte „wer verschmutzt / wer bezahlt“ sichtbar werden. Die wahre Quadratur des Kreises, die der „ökologische Kapitalismus“ lösen muss, und worum es bei den „ökologischen Vorschriften“ wirklich geht, ist die Vermeidung von Schäden und vor allem von Kosten, ohne dabei Investoren zu vertreiben.
Es geht nie darum, nicht mehr zu verschmutzen, sondern darum, zu wissen, wer zahlen muss, wenn die Verschmutzung zu katastrophal und sichtbar ist. Der angebliche „Dekontaminierungsmarkt“ existiert im Gegensatz zum Recyclingmarkt nicht wirklich, da der einzige Gewinn, der erzielt werden kann, darin besteht, sich an bestimmte Vorschriften zu halten, und nichts weiter als eine Belastung für die Unternehmen darstellt, eine Belastung, die sie so weit wie möglich begrenzen sollten. Niemand will dekontaminieren, wie kürzlich auf der Haager Konferenz festgestellt werden konnte.
Wir könnten dieses Thema noch weiter ausführen, aber dann würden wir den Rahmen dieses Textes sprengen. Auf jeden Fall ist klar, dass man eine „menschliche“ Steuerung der kapitalistischen Produktion nicht in Betracht ziehen kann, geschweige denn, dass man diese Produktion in ihrer jetzigen Form fortsetzen kann. Alles muss neu aufgebaut werden. Die Revolution wird auch der Zeitpunkt des „großen Abbaus“ und der Wiederherstellung der menschlichen Tätigkeit auf einer völlig neuen Grundlage sein, die derzeit fast vollständig vom Kapital beherrscht wird.
Die alte revolutionäre Bewegung zeigte die Verbindung zwischen Kapitalismus und Proletariat auf. Selbst der am stärksten ausgebeutete Arbeiter konnte sich durch seine Arbeit als Verwahrer einer zukünftigen Welt fühlen, in der die Arbeit das Kapital beherrschen würde. Die Partei war gleichzeitig eine Familie und der Keim eines Arbeiterstaats, so dass sich alle syndikalistische Anführer mit der Arbeitergemeinschaft von heute und morgen verbunden fühlen konnten. Die Veränderungen der kapitalistischen Produktionsweise der letzten zwanzig Jahre haben all dies zunichte gemacht und die Trennung der Individuen bewirkt.
Im Zuge seiner Expansion musste der Kapitalismus die alten Gemeinschaften bäuerlicher Herkunft zerstören, um die von ihm benötigte Arbeiterklasse zu schaffen. Und unmittelbar nachdem er sie geschaffen hat, muss er sie wieder zerstören, und er steht vor dem Problem, Millionen von Individuen in seine Welt zu integrieren. Die Staatsbürgeristen schlagen eine lächerliche Lösung vor, wenn sie versuchen, das Bindeglied, das früher die „Arbeiterklasse“ verband, durch ein anderes zu ersetzen, das die „Staatsbürger“, d.h. den Staat, vereint. Der Wunsch, dieses Band durch den Staat wiederherzustellen, zeigt sich im latenten Nationalismus der Staatsbürgeristen. Das abstrakte und gesichtslose Kapital wird durch nationale Figuren ersetzt, wie den Schnurrbart von José Bové oder die Wiederbelebung der zaristischen Hymne in Russland (natürlich handelt es sich in diesem Fall nicht um Staatsbürgerismus, sondern um die Manifestation eines viel allgemeineren Nationalismus, der ebenfalls keine Lösung bietet). Aber der Staat kann nur Symbole und Ersatz für diese Bindungen vorschlagen, da er selbst, wenn man so will, mit Kapital gesättigt ist und seine Symbole nur in dem Sinne schwenken kann, wie es ihm die kapitalistische Logik, der er angehört, vorschreibt.
Den „Staatsbürger“ als Bindeglied vorzuschlagen, offenbart die Existenz eines Vakuums, oder besser gesagt, dass es nun Aufgabe des Kapitalismus ist, und nur ihm, diese Milliarden von Menschen, denen die Gemeinschaft genommen wurde, zu integrieren. Und wir müssen feststellen, dass ihm dies bisher nur mit Mühe gelingt.
Dennoch wird der Kapitalismus weiterhin als eine der Menschheit feindlich gesinnte, äußere Kraft wahrgenommen, sei es, weil er sie des Brotes beraubt oder weil er ihr den „Sinn“ nimmt. In den fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften äußert sich dies in der Flucht der Individuen in das, was die Soziologen „die private Sphäre“ nennen, d.h. in die Freizeit, die Familie oder das, was von ihr übrig geblieben ist, die Clique von Freunden usw. Auf diese Weise entwickelt sich logischerweise ein Markt der Trennung, der sich in den Kommunikations- und Konsuminstrumenten materialisiert. Aber in der Welt der Waren wird dieser Konsum des „Zusammenseins“ schließlich zu einem „Alleinebesitzen“, das wieder in die Trennung zurückfällt, die es ursprünglich beheben sollte.
Die Arbeit selbst, die immer die wichtigste Integrationskraft des Kapitals darstellt, wird zunehmend als äußere Verpflichtung empfunden und dient nur noch in sehr geringem Maße dazu, die Identität von Individuen zu prägen, die immer mehr in der Masse untergehen und immer weniger eine eigene Identität haben. In einer Zeit, in der Berufe verschwinden und durch Funktionen ersetzt werden, die keine besonderen Fähigkeiten erfordern, ist diese Situation nicht überraschend. Die „Arbeitswelt“ ist auch zur Welt der Inkompetenz geworden. Manche empfinden diese Dynamik der Entqualifizierung als dekadent (und die Dynamik der Integration durch das Kapital schafft ihre eigenen internen „Barbaren“), aber sie führt auch zu einer Demoralisierung der Arbeit, die von allen als sinnlos, rein willkürlich, als äußere Verpflichtung, als Ausbeutung empfunden wird. Die Arbeitsmoral, die einst von der Bourgeoisie und dem Proletariat geteilt wurde, löst sich im Zuge der kapitalistischen Integration auf.
Die kapitalistische Integration (ein zentrales Problem, das wir später angehen müssen) wird zunehmend als künstlich empfunden und ist in jedem Fall sehr problematisch und führt zu einer Art Massenneurose, die mit dem Gefühl verbunden ist, die Kontrolle über das eigene Leben verloren zu haben. Die nächste revolutionäre Bewegung wird sich dieser Feststellung nicht entziehen können, da diese Ohnmacht, die dem entspricht, was man früher als Entfremdung bezeichnete, ein wesentlicher Bestandteil unserer Beziehung zur kapitalistischen Welt ist.
VI. „Proletarier aller Länder, ich habe keine Ratschläge für euch!“
Wir werden uns nicht lächerlich machen, indem wir hier den nächsten revolutionären Schritt vorstellen. Niemand kann das mit Sicherheit sagen, ohne in eine Ideologie des (Wieder-)Austausches zu verfallen. Dennoch können wir uns anhand dessen, was bereits existiert, vorstellen, was dieser Schritt sein könnte, d.h. was in der gegenwärtigen Situation der Keim einer zukünftigen Situation ist.
Die Globalisierung des Kapitals und die Auflösung der nationalen Kapitalien implizieren, dass es sich um eine weltweite Bewegung handeln wird, und zwar nicht gerade in der karikaturhaften Form einer Aktion gegen die Welthandelsorganisation oder die UNCTAD. Es wird nicht darum gehen, Frankfurt oder Brüssel in Brand zu setzen, sondern gegen den Kapitalismus in seiner hier und jetzt bestehenden Form vorzugehen, denn hier und jetzt wird die Globalisierung tatsächlich ausgetragen. Die Globalisierung des Kapitals ist auch die Globalisierung des Kampfes, und wenn in New York entschieden wird, was in Mexiko produziert und in Pas-de-Calais [einer Region im Norden Frankreichs] verpackt wird, hat jeder lokale Angriff globale Auswirkungen.
Die Auflösung des Klassenbewusstseins und der alten Arbeiterbewegung hat auch zur Folge, dass jeder in seinem Leben allein ist, angesichts von Ausbeutung und Herrschaft gleichzeitig. Es gibt keinen Zufluchtsort mehr, keine Gemeinschaft, in die man sich zurückziehen kann. Die Identität, die man sich durch die Arbeit aufgebaut hat, neigt dazu, sich aufzulösen und allmählich durch die Privatsphäre, die Clique von Freunden oder Verwandten, die Freizeit ersetzt zu werden.
Doch mit der Massifizierung der Freizeit, der Auflösung der Familie und der Brutalität der sozialen Beziehungen wird das Private ständig wieder in das Allgemeine verdrängt. Der moderne Mensch ist ein Mensch der Öffentlichkeit. Niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit waren die Menschen gezwungen, sich selbst so global zu betrachten, als Menschheit, auf globaler Ebene. Dies beinhaltet sowohl Leiden (was leicht verständlich macht, warum sich manche zu Zerzan [neo-primitivistischer Theoretiker aus den USA] oder Kaczinski [besser bekannt als „Unabomber“] und anderen Rückschritten hingezogen fühlen) als auch die Bedingung der Befreiung selbst. Die Primitivisten wollen sich von der Menschheit befreien und zur ursprünglichen Harmonie der eingeschränkten und isolierten Gemeinschaft zurückkehren. Aber eine solche Rückkehr ist unmöglich. Es gibt kein Leben außerhalb des Kapitalismus.
Im Jahr 1860 konnte Marx in Das Kapital noch schreiben: „Um die gemeinschaftliche Arbeit, das heißt die unmittelbare Assoziation wiederzufinden, ist es nicht notwendig, zu ihrer natürlichen Urform zurückzukehren, wie sie zu Beginn aller zivilisierten Völker erscheint. Wir haben ein Beispiel dafür in der rustikalen und patriarchalischen Industrie einer Bauernfamilie, die für ihren eigenen Bedarf produziert (…).“ Dieses „Beispiel“ ist verschwunden.
Die gesamte oder fast die gesamte menschliche Tätigkeit wird vom Kapitalismus beherrscht, was einige – Zerzan oder Kaczinski und viele andere – dazu veranlasst, sich nach den „guten alten Zeiten“ zu sehnen, seien sie primitiv-funktional oder patriarchal-handwerklich. Aber keine dieser Formen der sozialen Organisation konnte dem Kapitalismus widerstehen, weshalb es uns sehr schwer fällt, sie als seine Zukunft zu betrachten, es sei denn, man postuliert eine Natur der Menschheit, deren Manifestation diese Formen wären, und auch eine Selbstzerstörung des Kapitalismus (d.h. der Welt) in einer Katastrophe, nach der sie bequem ihren vorübergehend usurpierten Platz wieder einnehmen könnten. Aber diese „Selbstzerstörung“ des Kapitalismus wäre auch unsere, weshalb wir die Zukunft ausgehend vom Kapitalismus betrachten müssen, ob es uns gefällt oder nicht.
Wir haben gesehen, dass die Globalisierung der Individuen die Grenzen der Lohnarbeit erheblich überschreitet. Jeder Aspekt des Lebens ist dieser Globalisierung unterworfen, so dass jeder Aspekt des Lebens einheitlich verändert werden muss. Einfacher ausgedrückt: Heute kann nichts verändert werden, ohne alles zu verändern. Dies wird die Hauptbedingung der kommenden Revolution sein.
Konkret kann jedes Problem, das wir vom Kapitalismus erben, nur auf der Ebene einer ganzen Gesellschaft gelöst werden. Atommüll, Verkehr, Landwirtschaft – all dies wird uns zu Entscheidungen und Organisationsformen führen, die global behandelt werden müssen, jenseits von Privateigentum und hierarchischer Arbeitsteilung. Und es wird nicht nur um Arbeit gehen. Die „Welt ohne Grenzen“, die der Kapitalismus für die Waren geschaffen hat, wird tatsächlich eine Welt ohne Grenzen für die Menschheit sein. Es wird kein Zollrecht geben.
Wir werden die Notwendigkeit, all dies zu entwickeln, auf später verschieben. Wir könnten auch analysieren, welche Organisationsformen die Menschen annehmen könnten, aber die enorme Menge an praktischen Problemen, die sich stellen können, wird so groß sein, dass notwendigerweise noch nie dagewesene Lösungen umgesetzt werden müssen, die zweifellos oft von Dringlichkeit geprägt sein werden. Die Eigeninitiative wird dann vielleicht genauso wichtig sein wie der allgemeine Konsens, wohl wissend, dass sie einander unersetzlich sind. Die Debatte ist eröffnet, und auch in Bezug auf all diese Fragen müssen wir „warten können“.
VII. Vorläufige Schlussfolgerung
Wir haben versucht, in diesem Text die wichtigsten Grenzen und Schwächen des Staatsbürgerismus aufzuzeigen. Es ist klar, dass es sich nicht nur um „theoretische“ Grenzen oder Schwächen handelt, sondern um sehr reale, die ihm kurz- oder langfristig zum Verhängnis werden.
Es geht auch nicht darum, untätig zu bleiben und „darauf zu warten“, dass der Staatsbürgerismus zusammenbricht und auf magische Weise der Revolution Platz macht. Zweifellos verfügt diese Bewegung noch über viele Ressourcen und ist in der Lage, sich an neue Bedingungen anzupassen. Aber wir haben hier dargelegt, an welche „Bedingungen“ sie sich nicht anpassen kann. Auf jeden Fall haben wir die Kritik nur skizziert, andere werden sie fortsetzen.
Eine weitere Frage, auf die wir versucht haben, eine Antwort zu finden, betrifft die Art und Weise, wie die Kritik angegangen werden sollte. Allzu oft kritisieren einige Revolutionäre diejenigen, die sie als Reformisten betrachten, unter dem einzigen Vorwand, dass sie keine Revolutionäre sind. Das ist, als würde man die Debatte so darstellen, als handele es sich um eine einfache Debatte von Meinungen, die letztlich gleich oder gleich leer sind: leere Worte gegenüber der allmächtigen objektiven Realität der Welt. Auf diese Weise kann man alles verteidigen: man kann die Indianer von Zerzan den Cowboys von Kaczynski vorziehen, die Renaissance der Industriegesellschaft, die Proletarier mit Mütze den jungen Rappern mit Nike.
Die nächste revolutionäre Bewegung wird auch ihre eigene Sprache finden müssen. Sie wird sich wahrscheinlich nicht in den hier verwendeten Begriffen ausdrücken, die einer bestimmten theoretischen Tradition entsprechen. Die theoretische Sprache, die wir verwenden, ist ein Werkzeug, um die kommende Revolution zu verstehen, aber sie ist nicht diese Revolution. Wir müssen uns von der magisch-affektiven Verwendung der Sprache lösen, die die Sprache der zeitgenössischen Entfremdung ist, die Sprache derer, die keine praktische Macht über die Welt haben und die daher nichts anderes tun können, als davon zu träumen. Nur wer keine Macht über die Welt hat, kann alles sagen, ohne Angst vor Widerlegung zu haben, da er weiß, dass sein Diskurs keine Konsequenzen hat.
In der Welt der kapitalistischen Integration gibt es keine Wahrheit und keine Lüge mehr, sondern nur noch flüchtige Empfindungen. Und wir müssen aufhören, die Wahrheit zu fürchten. Wenn wir den Willen, die Wahrheit zu sagen, oft als Herrschaft empfinden – als „Faschismus“, als Willen zur Hegemonie des Diskurses –, dann deshalb, weil in der kapitalistischen Welt nur die Herrschenden behaupten können, die Wahrheit zu sagen, denn sie sind es, die sie schaffen, die das Monopol des „wahren Wortes“ innehaben. Aber diese Wahrheit ist so offensichtlich falsch und unsere Ohnmacht, ihr zu widersprechen, so überwältigend, dass wir jeden Versuch, die Wahrheit zu suchen, mit Ekel betrachten: Letztendlich zweifeln wir an der Möglichkeit, überhaupt etwas Wahres sagen zu können, d.h. im Rahmen unserer Möglichkeiten die Welt, in der wir leben, verständlich zu machen.
In der Willkür des Spektakels ist alles eine Frage der „Sichtweisen“. Aus „ihrer Sichtweise“ kann jeder gleichzeitig Recht haben oder nicht, und die liberale Gleichgültigkeit gegenüber dem anderen manifestiert sich im Respekt gegenüber allen „Meinungen“.
Der sogenannte „revolutionäre“ Aufruf zur Subjektivität, ein Überbleibsel des Surrealismus und des Situationismus von Guy Debord [Debord war Mitglied der Situationistischen Internationale], ist heute reaktionärer denn je, da der Kapitalismus selbst zur freudigen Trennung aufruft: „Träumt, wir erledigen den Rest.“ Im Gegenteil, wir müssen wieder eine gemeinsame Sprache finden. Wir können unsere Subjektivität nur dann wirklich aufbauen, wenn wir zusammen mit anderen in der Lage sind, die Objektivität der Welt, die wir teilen, zu erfassen. Verstehen heißt beherrschen, dann kann man die Welt verändern. Der Versuch zu verstehen, bedeutet, die Kommunikation mit dem, was uns umgibt, wiederherzustellen, das Eis zu brechen, das uns trennt.
Wir haben die Staatsbürgeristen nicht kritisiert, weil wir nicht die gleichen Vorlieben, Werte oder die gleiche Subjektivität haben. Und wir haben auch nicht die Staatsbürgeristen als Personen kritisiert, sondern den Staatsbürgerismus als falsches Bewusstsein und als reaktionäre Bewegung, wie bereits gesagt wurde, d.h. als Bewegung, die dazu beiträgt, das zu ersticken, was noch in den Kinderschuhen steckt. Wir haben dies historisch kritisiert, oder zumindest war dies unsere Absicht. So sehr, dass wir nicht daran zweifeln, dass sich eines Tages eine große Zahl von Menschen, die von den Widersprüchen des Staatsbürgerismus in seinem lobenswerten Wunsch, auf die Welt einzuwirken, abgestumpft sind, denen anschließen werden, die die Welt wirklich verändern wollen.
Wir sind nicht mehr und nicht weniger „radikal“ als zu dem Zeitpunkt, an dem wir uns befinden.
Ursprünglich veröffentlicht „en attendant“; 5, rue de Four; 54000 Nancy; en_[email protected]. Übersetzung ins Spanische veröffentlicht in Nr. 23 der Broschüren Etcétera.
1A.d.Ü., auf Französisch „désobéissance civique“ (ziviler Ungehorsam) und „guerre civile“ (Bürgerkieg), hier geht die sprachliche Anspielung verloren, weil der Begriff guerre civile auf Deutsch nicht Zivilkrieg bedeutet, wie es aber auf anderen Sprachen der Fall ist (civil war, guerra civil, guerra civile, gerra zibil,
2A.d.Ü., im Originaltext wird zwischen civique und civile unterschieden. Zweiteres beschreibt vor allem einen Zivilisten, also eine Person die nicht dem Militär angehörig ist. Aber dies gilt natürlich nur für Friedenszeiten. Selbst die französische Nationalhymne, die einst als ein Revolutionslied galt, einer Revolution der Bourgeoisie, erinnert daran: „Aux armes, citoyens, Formez vos bataillons, … (Zu den Waffen, Staatsbürger! Formt Eure Schlachtreihen)
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Dieser Text ist nicht eine kritische Studie der Thesen, die im Buch Der kommende Aufstand dargelegt werden, ebensowenig ist er ein Versuch, es „theoretisch auseinanderzunehmen“. Zuerst kam mir die Idee, es so anzugehen, und zweifelsohne bin ich nicht der Einzige. In der Tat könnten viele der in diesem Buch vorangetragenen Dinge diskutiert werden. Doch bald bekam ich das Gefühl der Sinnlosigkeit eines solchen Vorgehens. Dieses Gefühl, diese Intuition viel eher, war jene der Unmöglichkeit eines Dialogs mit diesem Buch, oder eines stets an einem bestimmten Punkt unterbrochenen Dialogs. Mir kam das entmutigende Gefühl, dieser Text könne nicht kritisiert werden: es schien mir, dass hier etwas anderes im Spiel war, etwas, worüber man nicht diskutieren kann, keine blossen Meinungsverschiedenheiten, es schien mir, dass das, was in diesem Text zentral war, nicht das war, was behauptet wurde, sondern die Behauptung selbst.
Dieser wütende Wille nach Behauptung ist das, was dem Text seine Stärke, jedoch auch seine Steifheit gibt, dies ist es, was ihn für den Dialog unzugänglich macht. Darin sehe ich nicht bloss einen Stileffekt, sondern eine tiefgreifende Struktur, so, wie sie allen doktrinären Darlegungen eigen ist.
Mir zeigte sich also dies: wenn DKA viele Ideen, eine Vorstellung der Welt oder ein politisches Projekt verteidigt, so ist das, was dieser Text zur Schau stellt, stets durch die Behauptung einer Identität bedingt. Dies ist der Blickwinkel, aus dem ich das Buch angehen werde.
Die Identität und ihre Eigenschaften
Es ist nicht notwendig, zu definieren, was eine Identität ist, um sie zu kennen, ebenso wie es nicht notwendig ist, eine Katze zu definieren, um zu wissen, was eine Katze ist.
Ein Individuum mag Macken haben, es ist ein Individuum; tausend Individuen, die dieselben Macken haben, das ist vielleicht ein Brauch oder eine Epidemie; tausend Individuen, die eine Macke verteidigen, das ist eine Identität.
Eine Identität ist das, was einer Gruppe zugrunde liegt, indem sie jedem Individuum, das sich für sie einsetzt, ermöglicht, sich aktiv durch sie zu definieren. Für das Individuum ist das ein Schritt aktiver Unterwerfung, der ihm ermöglicht, diese Identität für sich in Anspruch zu nehmen. Im Gegenzug verschafft die Identität dem Individuum den Vorteil einer subjektiven Stärkung. Der einfachste Vorteil besteht darin, sagen zu können: « Ich bin », und vor allem, « Ich bin nicht » dies oder das.
Eine Identität zeichnet sich durch gegenseitiges Einschränken, durch Grenzen und Ränder aus. Es gibt Uns und die Anderen, die sich im Verhältnis zu Uns definieren.
Die Identität will auffindbar sein. Daher Gesten, Kleider, Parolen und ihr direkter Nutzen: die Sichtbarkeit gewährleisten, indem man von der Identität abschneidet. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, ist es ziemlich offensichtlich, dass die Masken nicht da sind, um Gesichter zu verhüllen, sondern, um eine Identität zum Ausdruck zu bringen.
Eine Identität ist keine Lösung für irgendetwas, doch sie hat eine Antwort auf alles. Bei jedem Problem, jedem Widerspruch, jeder Gefährdung reagiert sie spontan, mit ihrer Wahrung und Stärkung zum einzigen Zweck. Wie sich hervorheben, wie ins Auge stechen, wie um sie herum die szenographische Ordnung ihrer Welt wiederherstellen: auf all das antwortet sie mit der Schnelligkeit eines lebenswichtigen Reflexes.
Die szenographische Ordnung ihrer Welt: keine Identität beruht auf einer blossen Vorstellung der Welt, sondern auf einem aktiven in Szene Setzen dieser. Die Welt wird aktiv aufgebaut, wie eine Erzählung, in deren Innern die Identität eine bedeutende oder tragische Rolle spielt. Die Identität kann das Überflüssige, das Unbestimmte, das, was nicht erlaubt, zu urteilen oder Position zu ergreifen nicht ausstehen. Die Identität liebt die Ordnung. „Ordnung in die Allgemeinplätze dieser Epoche bringen.“
Für das Individuum, das in dem sie wohnt, ist die Identität stets etwas zu konstruierendes. Irgendetwas entgeht immer der perfekten Identifizierung des Individuums: es gibt immer Schwachstellen, immer neue, noch zu kreierende Stärkungen. Die Identität ist immer eine Suche nach Identität.
Die Identität verschleiert den Feind, sobald sie ihn zum Vorschein kommen lässt. Denn sie lässt ihn nach ihren eigenen szenographischen Bedürfnissen erscheinen. Es gelingt ihr, ihn zu benennen, jedoch nicht, ihn zu kennen. Sie schleift sogleich dessen widersprüchliche und überflüssige Unebenheiten. Der Feind dient zu nichts anderem, als alles andere: als Vorwand für ihre eigenen Bestätigung. Die Identität, was dies betrifft und auch sonst, selektiert.
In sich selbst alles findend, was sie benötigt, bemerkt die Identität ihre eigenen Grenzen nicht: darin ähnelt sie dem Alkoholiker oder Drogensüchtigen, schreit nach Getränken und es fehlt nur noch der Abstieg. Eine Identität ist der permanente Rausch des Ichs.
Verlangen nach der Einheit des Ichs, nach dem Gleichförmigmachen der Ideen und des Lebens, Grauen vor dem Zweifel und dem Formlosen, Bedürfnis nach Behauptung, nach Kohärenz, Kohäsion, Kontraktion: Identität.
Eine Identität kann sich nicht als Identität erkennen, ohne sich zu gefährden. Dass die Philosophen des XVIII. Jahrhunderts fähig waren, die Gesten der Religion als Gesten aufzuzeigen, war der Beweis eines unheilbaren Risses in der christlichen Identität. Und umgekehrt.
Als sozialer Gegenstand, hat eine Identität ihre eigentliche Nützlichkeit in der Ökonomie des Sozialen. Vor allem die Randidentitäten nehmen eine Impffunktion für die Gesamtidentität (die Gesellschaft) ein, da sie helfen, sich neu zu definieren und sich zu stärken. Das Christentum hat schliesslich die Ketzereien, die es selbst produziert hat, nicht lange überlebt. Und umgekehrt.
Die Identität ist eine in den Individuen verankerte, in den Dienst von spezifischen sozialen Bedürfnissen gestellte kognitive Realität.
Usw., usf.
Am Anfang war das Ich
Diese kurze, etwas trockene und gezwungenermassen unvollständige Ausschweifung durch die allgemeine Beschreibung dessen, was ich unter dem Wort Identität verstehe, erlaubt, jene, die in DKA zum Ausdruck kommt, etwas besser zu begreifen.
Insbesondere wird verständlich, wieso es so sehr an die Problematiken des Ichs gebunden ist: es kann etwas daraus machen. DKA ist ein Identitätsangebot. Es fühlt sich in der Lage, den abdriftenden Ichs ein Lebensprojekt vorzuschlagen. Was es anbietet, ist weniger ein politisches Projekt, als eine existenzielle Alternative.
Was im Aufruf klar formuliert wurde, nämlich der Wille, ideologisch und existenziell deutliche und aufeinander abgestimmte Gruppen zu bilden, findet sich in verdünnter Form, in einer Version für das „breite Publikum“, in DKA wieder. Die Absicht blieb jedoch dieselbe: überzeugen, aufrufen, um sich sammeln. Die erste Stärkung, an die die Identität denkt, ist die zahlenmässige Stärkung. « Wir sind nicht genug zahlreich » bleibt ihr ewiges Lamento. Es gilt ohne Unterbruch zu überzeugen, die Einwände aus dem Weg zu räumen, die anderen Gruppen zur Übergabe zu treiben: zu bekehren.
Um dies zu tun, um dieses Angebot glaubwürdig und notwendig zu machen, zeichnet DKA zunächst das Bild einer Welt in Ruinen. Die sieben Kreise der Hölle sind nicht zu viel, um diese materielle und geistige Ruine zu beschreiben. Materiell zunächst, und alle wissen das, die Bildschirme und Statistiken überhäufen sich mit den Bildern der Katastrophe. Aber vor allem „geistig“ denn in Wirklichkeit ist es die angebliche Auflösung des Subjekts, die einen für den vorgeschlagenen identitären Wiederaufbau geeigneten Raum anbietet. Dies ist auch der Grund, weshalb die erste Figur der Hölle das Ich-ganz-alleine ist, das isolierte Subjekt und seine stolze Devise « Ich bin was ich bin ». Und hinter ihm das wirkliche Subjekt, leidend, nicht anpassungsfähig, deprimiert, das sich nur in der Revolte, das heisst, im auf sich Nehmen der vorgeschlagenen Identität wieder in Gewahr seiner eigenen Realität bringen kann. « Trete uns bei, und du wirst gerettet sein ».
Als existenzielle Alternative hat DKA eine „auswegslose Gegenwart“ vorauszusetzen, um so den Ich’s, die versucht wären, sich mit dieser unerträglichen Welt abzufinden, sich in ihr Nischen zu suchen den Weg zu versperren. Sie werden hingegen mit Abscheu die Kreise der Hölle durchqueren müssen, um so das Paradies eines Projektes, eines Ziels, einer Gewissheit zu finden: eine Lebensentscheidung.
Das Durchqueren der Kreise der Hölle und das Projekt, zu dem es führt, greift jene Erzähldynamik wieder auf, die der Identität, ausgelegt als aktives und zentrales Subjekt der Welt, innewohnt: Die Identität alleine gibt der Welt den Sinn, dessen sie durch sie selbst enteignet wurde.
Ich werde es nicht unterlassen, im Vorbeigehen meine relative Zustimmung zur Definition des Ich’s, als Durchgangspunkt einer singulären und kollektiven Erfahrung der Welt, und die rasche Kritik der identitären Eineckung anzumerken, die diese begleitet. Ich bedauere schlicht, dass die Konsequenzen daraus nicht gezogen wurden. Ich bedauere vor allem, dass sich diese Definition nicht auf das ausweitet, was sozial das Ich festlegt, sondern sich darauf beschränkt, aus ihm eine neutrale Sache zu machen, eine reine Subjektivität, verirrt in einer sozial undifferenzierten Welt. Und das Vergessen all dessen, was macht, dass die Welt für gewisse „Ich“’s weniger das ist, was sie durchdringt, als das, woran sie sich andauernd stossen.
Die singuläre Erfahrung als Realität des Subjektes verschwindet jedoch sehr schnell hinter der gesteigerten Wertbeimessung gegenüber der „Verbindung“. Man hat es also nur für einen Moment losgelöst, das Ich, um ihm eine Heidenangst, die Angst vor der Leere einzujagen, und um ihm aufs Neue die brüderliche Bindung vorzuschlagen. Das Band, das persönliche Band weitet sich aus. Und es ist nicht das alberne „soziale Band“, wovon die Politiker sprechen, was dem, von einem Schwindelanfall gepackten Ich erneut vorgeschlagen wird. Was bindet mehr als eine spezielle, umschränkte, herzliche und obendrein revolutionär auf alle ausweitbare Identität, das Wir?
Als Bekehrungswerkzeug entdeckt DKA die guten alten Methoden der Predigt wieder: erst Angst machen, in die Hölle einsehen lassen, und dann eine letzte Rettung vorschlagen. Eine rhetorische Methode. Auch eine Methode der Abrichtung und Aneignung; ein Baby in die Luft werfen, um es gleich wieder aufzufangen, einem Feind drohen, um ihm daraufhin die Hand zu reichen. Eine Identität ist allem voran ein Unterwerfungsprozess, und sie kennt und appliziert instinktiv all dessen Wirkungsbereiche.
„Der gute Moment, der nie kommen wird“
Und selbstverständlich hat das Ich keine Wahl: dem Weiterleben im anxiogenen Brutkasten der Welt, so wie sie ist, zuzustimmen, bedeutet, sich dazu zu verdammen, mit ihr zugrunde zu gehen. Denn das Urteil wurde gesprochen: das globale Babylon geht seinem Zusammenbruch entgegen. Die einzige Alternative ist daher, mit ihr zugrunde zu gehen oder gegen sie zu leben. Schliesslich aufs Neue „die Freiheit oder der Tod“.
Nirgends wird die Möglichkeit in Betracht gezogen, und sei es nur als Hypothese, dass der Kapitalismus noch etwas andauert, dass sein Zusammenbruch leicht aufgeschoben werden, oder vielleicht so langsam sein könnte, dass er Gefahr läuft, mehrere Jahrhunderte zu brauchen. Was werden wir in diesem Fall tun? Soll diese Möglichkeit auf unser Handeln einwirken, oder ist es weiser, sie gar nicht zu bedenken? In welcher Zeitlichkeit verorten wir unser Handeln? Selbstverständlich, diese kleinlichen, rationalen, nach Liberalismus stinkenden Berechnungen widerstreben unserer revolutionären Identität, die von nichts anderem träumt, als erneut „das Banner der guten alten Sache“ zu schwingen und den Ansturm anzugehen, und soll sie dabei zugrunde gehen.
Szenographisc h betrachtet, sind Vorschläge wie « das ist vielleicht nicht der gute Moment » für eine Identität vollkommen nichtig. Eine Identität erbaut sich nicht auf Szenarien der Art von Désert des Tartares. Sie vernimmt viel lieber die Signalhörner der Schlacht. Man bildet keine Identitäten auf Ungewissheiten.
Darum ist es ziemlich unnütz, über die praktischen Schwierigkeiten oder den unangebrachten Charakter dieses oder jenes Unternehmens zu argumentieren, wofür sich die Identität einsetzt: mit einer Identität, die sich kundtun muss, diskutiert man nicht über praktische Probleme. Das Mögliche und das Unmögliche, das existiert für eine Identität nicht, und eben darin liegt ihre Stärke, denn die Stärke, nach der sie sucht, ist ihre eigene Verstärkung durch diejenigen Individuen, die sie tragen. Sie passt sich nicht unter Berücksichtigung von objektiven Realitäten der Welt an.
Zu sagen, dass der gute Moment niemals kommen wird, bedeutet, zu sagen, dass man niemals mit Gewissheit weiss, ob dies der gute Moment ist oder nicht: es ist eben nötig, den Schritt zu wagen, ohne die Gewissheit, erfolgreich zu sein. Das ist wahr, bedeutet aber nicht, dass es nicht nötig wäre, den Moment zu berücksichtigen, was heissen soll, die Wirklichkeit zu befragen, und nicht, darauf zu warten, dass sie auf unsere Verlangen antwortet. Wenn auch auf die Gefahr hin, im gekommenen Moment in die Menge zu stürmen.
Der „gute Moment“ für die Kämpfe hängt direkt von keinem der Beteiligten ab, er unterliegt nicht der Entscheidung oder Wahl irgendeines Komitees, unsichtbar oder nicht. Tatsächlich ist er stets Gegenstand eines Konfliktes. Dies ist insbesondere heute wahr, wo die Kämpfe immer weniger von Parteien und Gewerkschaften abhängig sind, während sie immer mehr danach streben, sich andere, zweifellos nicht „radikalere“, doch auf jeden Fall weniger greifbare Formen zu geben. Ein Beispiel dafür haben wir 2006 mit dem Kampf gegen das CPE gesehen, bei dem sich die Bewegung, von der man annahm, sie sei mit dem Zurückziehen des CPE’s beendet, trotzdem weitergezogen hat, schlicht, weil alle nicht damit einverstanden waren, es dabei zu belassen. Dennoch war es wohl erforderlich, anzuhalten, selbst mit Widerwillen, denn weiterzumachen wäre absurd gewesen. Auch eine soziale Bewegung ist wie eine Erzählung aufgebaut, mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende. Es gibt also, ob man es will oder nicht, Momente. Um das Beispiel von 2006 nochmal aufzugreifen, so wäre sein wirklich guter Moment gewesen, die „Bewegung“ fortsetzen zu können, obwohl „nicht mehr der Moment war“. Doch die „guten Momente“ kommen und gehen; sie hängen nicht nur von unseren Entscheidungen ab. Es geht nicht darum, der schlechten Zeitlichkeit der sozialen Bewegungen, die bloss das bleiben wollen, was sie sind, nachzugeben, sondern diese Zeitlichkeit in Konflikt zu stellen.
„das Gefühl des bevorstehenden Zusammenbruchs“
Der unmittelbar bevorstehende Tod des Kapitalismus, schon seit bald zwei Jahrhunderten predigt man ihn uns. Alle, die das Ende des Kapitalismus ersehnten, haben auch versucht, aus ihm ein historisches Schicksal zu machen. In den marxistischen Formulierungen erhob man Anspruch auf „tödliche Widersprüche“, auf den „Zerfall“. Jetzt ist es, dass er „in sich zusammenbricht“.
Der Zusammenbruch hat seine Merkmale: wenn ein Gebäude in sich zusammenbricht, liegt das daran, dass das Baumaterial, das es zusammenhält und ihm bis anhin ermöglichte, sich aufrecht zu halten, verfallen und verfault ist, so, dass es das Gebäude nicht mehr stützt. Er ist ein zunächst langsamer und kaum wahrnehmbarer Gesamtprozess, der eine kritische Phase und schliesslich eine plötzliche Beschleunigung erreicht, wobei die noch standfesten Bestandteile unter dem Gewicht jener nachgeben, die völlig verfault sind. Man kann ihn diagnostizieren, jedoch nicht seinen exakten Moment voraussehen.
Er ist ein Gesamtprozess, aber ein Prozess der Aufspaltung. Jedes Teil des Komplexes lösst sich von der Gesamtheit los, bildet nicht länger eine organische Einheit mit ihm. Aus biologischer Sicht ähnelt dies dem Zerfall eines Körpers.
Was dem Kapitalismus, und allgemeiner, der ganzen sozialen Welt durch die Zusammenbruchsvorstellung abgesprochen wird, ist seine Fähigkeit, ein kohärentes Ganzes zu bilden.
Diesem angeblichen Mangel an Zusammenhalt stellt die Identität ihre eigene, dieser formlosen Sache unendlich überlegene, ethische Kohärenz entgegen. Dieser Aufspaltung stellt sich die Solidarität, die Dichte der Verbindungen, ja sogar die Undurchdringlichkeit der Gruppe gegenüber.
Diesen sich lösenden Verbindungen stellt die Identität die Macht jener Verbindungen entgegen, die sie wieder einrichtet. Jede Identität, ob Fanclub oder beliebige Sekte, hat ihren abspalterischen Moment, der ebenso jener ihrer Gründung ist.
Es ist ersichtlich, dass der Kapitalismus (oder das Empire, oder wie man will) in dieser Anschauung wie ein Ding, und wie etwas Äusseres ausgelegt wird. Er könnte auch eine Maschine sein, die durch den Verschleiss ihrer Teile schliesslich kaputt geht.
Das äussere Ding ist genau das, was eine Identität braucht, um sich zu bilden. Ihr Bemühen, alles zurück nach Aussen zu stossen, was nicht sie ist, erweckt in ihr Widerwillen gegen die Idee, dass sie Teil von dem sein könnte, was sie verabscheut. Der Kapitalismus ist der Feind. Der Feind kann nicht in Uns sein, er ist ausserhalb von Uns, er ist eine Äusserlichkeit, ein Ding.
Ihr Zusammenbruchsschicksal beschreibt das Kapital also als reine Äusserlichkeit, angesichts derer wir nur oberflächlich gezwungen sind, denn sie kann uns ja nur gelegenheitsmässig innewohnen oder uns in unseren Entscheidungen beeinflussen. Angesichts dessen sind das Klarheit schaffen und die zu erlernenden Tricks weit ausreichende Antworten.
Der Kapitalismus wird nicht nur als soziale Beziehung, sondern als erzwungene soziale Beziehung verleugnet. Die Tatsache, dass man zum Arbeiten gezwungen sein könnte, und dass eben darin das Problem liegt, wird völlig kaschiert.
Wenn der Kapitalismus in sich zusammenbricht, so ist das eigentlich weil er eine Fiktion geworden ist, an die niemand mehr glaubt. All die vom Empire gemachten Anstrengungen, um zu überleben, beschränken sich auf folgendes: die Fiktion seiner eigenen Existenz aufrechtzuerhalten. Diese Welt ist nicht wirklich, sie lässt es so scheinen, als ob sie existiert. Sie ist ein Nichts, eine Abstraktion, die es weniger zu bekämpfen als aus den Köpfen zu vertreiben gilt.
Das „unmittelbare Bevorstehen“ des Zusammenbruchs gibt den Abenteuern der Identität ihren tragischen Rahmen: es ist der Hintergrund, das Dekor ihrer Erzählung. Das „unmittelbare Bevorstehen“ schreibt diese Erzählung in eine Zeitlichkeit der permanenten Dringlichkeit ein. Die Zeit der Welt fliesst nicht mehr ohne vorbestimmte Richtung, je nach zufällig eintretenden Schwankungen dahin: sie hat einen Sinn, einen tragischen Sinn.
Wenn nichts wirklich präzises über den Zusammenbruch gesagt wird, so ist das, weil es nicht nötig ist, dass er wirklich ins Auge gefasst wird: was wichtig ist, ist im Grunde das Gefühl, das man davon hat. Die Überzeugung, in diesem Zusammenbruch zu leben, verstärkt das Bedürfnis nach der Identität, um die Furcht vor dem Zusammenbruch zu überwinden, darin zu überleben, aus ihm die Gelegenheit einer neuen Stärkung, ja sogar einer totalen Verwirklichung des identitären Inhalts zu machen. Als Mikro-Gesellschaftsvertrag verspricht die Identität jenen Schutz und Wohl, die ihr zustimmen.
Sollte der Zusammenbruch niemals kommen, ist das kein Problem: man wird immer die Anzeichen dafür entziffern können, bis in die Unendlichkeit. Die Millenaristen, die das Datum des Milleniums hundert mal vorausgesagt haben und es nie kommen sahen, liessen sich dennoch nicht entmutigen. Der Wahn, das heisst, die kollektiv organisierte Blindheit stützte sie.
Der „Zerfall der sozialen Beziehungen“ ist eine weit verbreitete Vorstellung. Zumeist stützt sie sich auf die Nostalgie nach „wahren“ sozialen Beziehungen von früher. Wird eine bessere Zeit vorausgesetzt, in der jeder seinen bestimmten, ein für alle Mal zugeschriebenen sozialen Platz innehatte. Diese etwas vage Nostalgie überlagert heute die bürgerliche Nostalgie nach den Trente glorieuses, nach einer Zeit, in der der Staat väterlich über uns Wachte.
Die Realität ist, dass der Kapitalismus einen stetigen sozialen Zerfall mit sich bringt, und dass dies seine Art ist, zu überleben. Er musste, um sich herauszubilden, eine tausendjährige Bauernwelt zerstören, um so eine Arbeiterwelt zu erschaffen, die ihrerseits zu zerstören (das heisst, neu zusammenzusetzen) er sich heute, zumindest in den entwickelten Ländern, zur Aufgabe macht. Diese lebenswichtige Dynamik der Zerstörung mit einem Zusammenbruch gleichzustellen, ist eine Täuschung, denn dies verweist den Lauf des Kapitals auf einen natürlichen Zerfallsprozess und erlaubt nicht, die Faktoren einzusehen, die in diesem Prozess zur Anwendung kommen.
Die Bedeutung eines Krieges kann man nicht durch die blosse Beschreibung der von ihm verursachten Schäden verstehen. Zu sagen, « man hat Dresten dem Erdboden gleichgemacht », sagt nichts über den Zweiten Weltkrieg aus. Zu sagen, « die sozialen Beziehungen lösen sich auf », sagt nichts über den Kapitalismus aus. Man muss noch aufzeigen, wieso sie sich auflösen.
Doch für eine Identität, die die Welt ohne Unterlass nach den Anforderungen der Erzählung ausrichten will, die ihr ermöglicht, in sie einzugreifen, bedeutet Verstehen Akzeptieren. Die Welt „wird erst dann unerträglich“, wenn sie „ohne Grund und Ursache“ scheint.
Die Identität, die sich um eine Verweigerung bildet, betrachtet die Tatsache, zu versuchen, das zu verstehen, was man verweigert, als ein Zugeständnis. Die Verweigerung genügt schon: was nützt es, zu versuchen zu verstehen? Verstehen wollen ist der Anfang des Verrats. Es genügt, seiner Verweigerung, seiner Revolte Ausdruck zu geben, und wenn man etwas verstehen muss, dann nur im Hinblick darauf, diese Revolte zu nähren. Der Rest ist überflüssig.
Es gibt viele Gründe und Ursachen für die kapitalistischen Welt, DKA setzt jedoch stillschweigend voraus, dass ihre Gründe irrsinnig sind, das heisst, nicht zu rechtfertigen. Dass der Kapitalismus ethisch nicht zu rechtfertigen ist, nimmt ihm, zu unserem Unglück, in keinster Weise weder seine Realität, noch seinen inneren Zusammenhalt. Die ethische Verweigerung genügt nicht. Die Gründe für den Kapitalismus sind gewiss nicht die unsrigen. Zu begreifen, was diese Gründe sind, ermöglicht, den unversöhnlichen Charakter dieses Konflikts zu bekräftigen, und ihn mit Präzision zu verorten.
„Was passiert, wenn Wesen sich finden“
Das Bild der tiefen Betrübnis, das uns DKA von der Welt zeichnet, mündet schliesslich in einer Idylle. Plötzlich finden sich „Wesen“.
Sorgfältig den Weg zu jeglicher Form von Gruppierung versperrt, die nicht sie wäre, stellt uns die Identität die Belohnung in Aussicht. Wir seien, schliesslich, „Wesen“. Keine sozialen, konfliktuell in einer Klasse verankerten Subjekte, Träger von Widersprüchen, sondern schlicht „Wesen“.
Endlich von allen Verbindungen losgelöste „Wesen“, frei und unterschiedslos, von aller Schlacke blank gescheuert, die die soziale Existenz dort abgesetzt hat. DKA spricht von den „Wesen“ wie der Humanismus vom Menschen sprach.
Die „Wesen“ besitzen die Reinheit von Engeln und schönen Abstraktionen. Sie können alle Formen annehmen, sich frei wählen. Endlich von aller Eigenheit gereinigt, sind sie bereit, die neuen Kleider überzuziehen, die man ihnen vorschlägt.
Den Konflikt nach Aussen gestossen, herrscht im Innern eine verschmelzende Atmosphäre, während versichert wurde, dass das, was sich zwischen den „Wesen“ bildet, nicht ein schreckliches „Milieu“ sein kann, denn die Milieus sind streng kritisiert worden. Die Verbindung zwischen den „Wesen“ ist von einer ganz anderen Natur, rein und unsagbar.
Die Identität kann sich nicht als Identität denken. Man sieht dennoch nicht recht, aufgrund welcher Magie diese jenigen „Wesen“ auf diese Art und Weise jeglicher Konfliktualität entwischen sollten, wenn nicht durch die Verabschiedung ihrer eigenen kritischen Urteilskraft.
Was sich hier durch das freie Bilden von „Wesen“ in „Kommunen“ abzeichnet, ist die Perspektive einer völlig befriedeten, in sich selbst transparenten Gesellschaft, ohne jegliche Antagonismen: der alte millenaristische Traum eines natürlichen Kommunismus, der auf der Idee einer kommunistischen Natur des Menschens ruht. Sei es in Form eines goldenen, edenhaften Zeitalters, oder in der anthropologischen Form eines „primitiven Kommunismus“, der dem Anbeginn des sozialen entspränge, es ist stets der Kommunismus, die absolute Gleichheit zwischen den Menschen, was vorausgesetzt wird, als ob es die wahre soziale Natur der Menschen wäre.
Man neigt also dazu, dem Stamm, der Bande, oder sogar der Meute gesteigerten Wert beizumessen, von denen man annimmt, dass sie natürlicher, wahrhaftiger sozial sind, als die „komplexen“ Gesellschaften der kapitalistischen Welt.
Vom „Primitiven“ nimmt man an, dass er keine Identitätsprobleme hat: er ist rein das, was er ist, das heisst, sein eigener Platz im Innern des Stammes. Er ist von der Last seiner eigenen Singularität losgelöst. Er ist eine reine, vervollständigte Identität. Er ist die anthropologische Essenz des Menschen: der Kommunismus.
Folglich ist die Revolution nur eine Frage materieller Organisation: Es genügt, allen Institutionen der komplexen Gesellschaft den Wind aus den Segeln zu nehmen, damit die soziale Veranlagung im Galopp zurückkommt: dies ist sofort der Kommunismus.
Der Kommunismus, als soziale Natur des Menschens, ist im Laufe der Geschichte vom Weg abgekommen: es genügt, ihm den Weg zu öffnen, damit er sogleich wieder aufersteht. Das Beispiel von natürlichen Katastrophen wie der Orkan Katharina hat es gezeigt: es genügt, dass sich in der kapitalistischen Organisation eine Bresche öffnet, damit sich die „Basis“ selbst organisiert, ihre teilenden Instinkte wiederfindet, sich kommunisiert.
Doch die Wirklichkeit ist sicherlich komplexer. Wenn der Mensch nicht die Kreatur von Hobbes ist, jene des ursprünglichen Krieges eines jeden gegen jeden, der allen sozialen Verträgen zugrunde läge, wenn er unmittelbar sozial ist, so drückt sich diese Gesellschaftlichkeit nicht nur durch eine angeborene Neigung zum Teilen aus. Die soziale Neigung zur Herrschaft, der sozialen Strukturierung rund um die Aneignung der Macht und/oder der Güter durch einige, und selbst jene zur manischen Akkumulation von Gütern, ist um einiges älter als der Kapitalismus (dem sie zweifellos den Weg geöffnet hat), und gewiss älter als der Mensch selbst. Der Mensch ist ein soziales Tier wie die anderen. Auch bei den Menschenaffen gab es Chefverhalten: das dominante Männchen macht sich den besseren Teil der Nahrung und die Weibchen zu eigen. Dies unterbindet nicht die gegenseitige Hilfe unter den Individuen der Gruppe. Nur ist es so, dass die Dominanten, aus Gründen bezüglich der natürlichen Selektion, umgehend Vorkehrungen in Stellung bringen, die sie noch stärker, und die Schwachen noch schwächer machen. Wieso sollte der Mensch von Natur aus anders sein?
Natürlich, der Mensch denkt sich seine eigenen Gesellschaften und handelt in ihnen. Seine soziale Formbarkeit ist derjenigen seiner nicht-menschlichen Artgenossen unendlich überlegen. Er hat eine Beziehung zu seiner eigenen Sozialität. Doch diese Beziehung ist nicht eine bloss zweckdienliche Beziehung: oft wirkt sie wie die Verehrung eines Götzenbildes. Der Mensch ist die Kreatur, die ihre eigene Gesellschaft fetischisiert. Und es ist der Fetisch, der schlussendlich die Kontrolle über seine Liebhaber übernimmt. Eine Identität ist nichts anderes als diese Art von Fetisch.
Der Kommunismus ist nicht eine besonders vorteilhafte Variante des sozialen Vertrages. Die Verbindungen auflösend, die um die Aneignung, die Herrschaft, die Akkumulation, das Territorium errichtet wurden, löst er nicht nur eine Gesellschaft auf, sondern das soziale Wesen selbst. Was die Kommunisierung kreiert, ist eine Welt jenseits der sozial eingewilligten Aufopferung eines Jeden zugunsten eines vorausgesetzten Ganzen: des Sozialen. Diese Idee ist heute ebenso schwer zu fassen, wie eine Welt ohne Gott im XIII Jahrhundert. Die Idee einer Welt jenseits des Sozialen ruft spontan nur Barbarei oder Rohheit ins Gedächtnis: sie macht Angst, genauso wie die Idee einer Welt ohne Gott einen Christen des Mittelalters mit Schrecken erfüllt hätte.
Eine solche Idee ist offensichtlich gefährlich, und man sieht gut all die Wahnsinnigkeiten, die sie hervorrufen kann. Es ist klar, dass diese Idee dazu geeignet ist, nicht nur bei denen, die sich ihr entgegenstellen würden, sondern selbst bei jenen, die sie annehmen könnten, eine irrationale Panik zu kreieren. Eine der Äusserungen dieser Panik ist die Konzeption eines verschmelzenden Zustands der Individuen, oder einer Verschmelzung der Individuen mit dem Sozialen, das heisst, eine rückschrittliche Konzeption der Übersteigung des Sozialen.
Das Soziale mit der Aussicht auf die Errichtung einer reinen, verschmelzenden Beziehung zwischen „Wesen“ zu verneinen, bedeutet, über das Soziale hinausgehen zu wollen, indem man es ignoriert. Die Negierung der sozialen Klassen ist nicht die Negierung ihrer Existenz, sie muss im Gegenteil ausgehend von deren in Konflikt stehender Existenz gedacht werden.
Die Existenz des Kapitalismus, der Klassen, der sozialen Beziehungen zu verneinen, ist das, worauf dieses identitäre Konstrukt, das DKA ist, notwendigerweise hinausläuft. Wir haben aufgezeigt, dass die Neigung zur Verweigerung des Realen im Kernpunkt jeder Identität liegt, denn eine Identität nimmt nicht das Reale, sondern nur ihre eigene Existenz als Identität wahr. Sie bekräftigt sich also, indem sie allem die Existenz abspricht, was nicht sie ist.
Doch die Existenz des Kapitalismus zu verneinen, wird ihn nicht verschwinden lassen. Und eben diese Verneinung findet ihre Wurzeln in der Wirklichkeit der kapitalistischen Welt, und vor allem in ihrer Wirklichkeit als Klassengesellschaft.
Das Klagelied der Mittelklassen (realistisches Lied)
Die sich für universell und demnach identitätslos haltende Identität ist in Wirklichkeit eine bestimmte soziale Klasse: die westliche obere Mittelklasse. Sie ist identitätslos, weil sie die soziale Normalklasse, die abstrakte Referenz aller anderen Klassen, und daher des Menschen im Allgemeinen ist. Dies ist, was sie „Universalismus“ nennt. Es ist eben sie, die, ohne jemals benannt zu werden, von DKA beschrieben wird. Es ist selbstverständlich auch an sie (und gegen sie), dass DKA seinen Diskurs richtet.
Sie ist es, die die Gesellschaft bloss als „nebelhaftes Aggregat“ von Institutionen und Individuen, als eine „endgültige Abstraktion“ wahrnimmt.
Sie ist es, die überall im „Wohnsiedlungs“-Leben nur Polizisten und junge Revoltierende sieht.
Eben sie ist es, für die Arbeiten bedeutet, zu verhandeln und das zum besten Preis zu verkaufen, was nicht mehr „Arbeitskraft“, sondern kognitive und zwischenmenschliche Kompetenz ist, und die logischerweise an dem leidet, womit sie arbeitet.
Sie ist es, die ihr wertvolles und problematisches Ich durch Eigenentwicklung, Yoga und Psychoanalyse kultiviert.
Sie ist es, die unter der „schulischen Kastration“ leidet und in ihrer Kindheit davon träumt, ihre Schule niederzubrennen, weil sie der erforderliche Weg für ihre Integration ist, und es, aus demselben Grund, nicht tut.
Auch sie ist es, die, umgeben von Waren, von denen sie ignorieren will, dass sie wohl produziert werden mussten, der Meinung ist, dass die Industriearbeit überholt ist, die Arbeiter überzählig sind, und dass die Ökonomie fortan „virtuell“ ist.
Sie ist es alleine, die politisch existiert, sich ökologisch kümmert und demokratisch wählt.
Sie ist es auch, von der sich ein Teil der Jugend gegen alle G20 der Welt als Schwarzer Block formen geht.
Sie ist schliesslich „die Klasse, die alle Klassen negiert“, nicht, damit sie verschwinden, sondern, damit sie auf ewig existieren.
Dies sei gesagt, nicht um diese Klasse aus dem Feld der Kämpfe zu verweisen, sondern, um aufzuzeigen, dass sich keine Identität ausserhalb einer sozial festgelegten Welt verorten kann.
„Die Freude, eine gemeinsame Stärke zu erleben“
Wenn dieser Text einen Nutzen hat, dann der, zu erreichen, etwas mehr Misstrauen gegenüber den Gruppen zu erwecken, zu deren Bildung wir veranlasst sind. Es ist notwendig, sich zu versammeln. Doch die volkstümliche Weisheit „Gleich und Gleich gesellt sich gern“ neigt allzu oft dazu, sich umzukehren. Es geht nicht darum, niemandem zu gleichen, sondern darum, aufmerksam zu sein, dass wir uns nicht von einer Identität überkommen lassen.
Beispielsweise sich nicht von einer Identität ihre Worte in den Mund legen lassen, sich nicht von dem Versprechen, einen grösseren Zusammenhalt zu erreichen als jener, den wir durch uns selbst erzeugen könnten verführen lassen, um den Preis, dass wir auf unsere Urteilsfähigkeit verzichten. Auch vor der Kohärenz muss sich in Acht genommen werden. Nichts ist kohärenter, nichts ist besser organisiert als ein Kristall, das letzte Stadium der Mineralisierung, es gibt aber auch nichts, dass so tot ist.
Die durch DKA vorangetragene Identität äussert sich heute unter anderem durch das Schwärmen von ihren Wörtern in zahlreichen Mündern: man hört „Freundschaften“, „Körper“, „Flüsse“, „sich organisieren“, man versteht das, was spricht, und man hört nichts mehr. Man entwickelt keine gemeinsame Sprache mit Papageien.
Doch es gibt nicht nur DKA: wenn ich vor allem von diesem spreche, dann weil es ausreichend deutlich und zusammenhängend, und auch genügend weit bekannt ist, um es als Ausgangspunkt für eine kollektive Diskussion zu nehmen. Es gibt andere Identitäten, zum Beispiel jene, für die die Wörter „Klassenkampf“ und „sozialer Krieg“ weniger Fragen sind, die sich stellen, als vielmehr Banner, die man schwenkt, um sich besser von der gegenüberliegenden Identität abzuheben. Der Kampf unter den Identitäten ist wortwörtlich ohne Ende.
Es ist klar, dass sich heute keine einzelne Gruppe von der Welt loslösen und den Kommunismus in ihrem Ecken verwirklichen kann. Was uns nicht davon abhält, und das tun wir bereits, anti-hierarchische Praktiken zu suchen, die Art und Weise unserer Teilnahme in Frage zu Stellen, etc. Stets in dem Wissen, dass auch dies in identitärer Eineckung erstarren kann.
Man kann sich an einer Gruppe beteiligen, ohne sich deswegen mit ihr zu identifizieren. Die Aufgabe einer Gruppe müsste es sein, jenen, die sich an ihr beteiligen, mehr Autonomie zu geben, um die Entwicklung ihrer Fähigkeiten zu ermöglichen. Das emotionale Überengagement in einer Gruppe endet allzu oft damit, nur Abhängigkeiten zu kreieren, und damit, liebevolles Chefverhalten hervorzurufen.
Eine Gruppe ist kein Selbstzweck. Die Freundschaft ist dabei nicht notwendig. Man kann sich provisorisch für eine präzise Aufgabe gruppieren und sich auf diesen Zweck verstehen, und die Gruppe kann nur zu diesem bestimmten Zweck bestehen, ohne sich deswegen über andere Bereiche auszustrecken. Es gibt Leute, die unsere Freunde sind, mit denen wir nichts tun, ausser gute Momente zu teilen, und andere, mit denen wir uns gruppieren, um eine Aufgabe umzusetzen, ein Projekt durchzuführen, und die deswegen nicht unsere Freunde sind. Der Kommunismus ist nicht die Gemeinschaft. Er hat nicht eine Gruppe jenseits der Zwecke fortbestehen zu lassen, für die wir sie benötigen.
Eine zu speziellen Zwecken gebildete Gruppe kann sich sogar erlauben, sich „Chefs“ zu geben, die präzise Aufgaben übernehmen. Um einen Dreimaster zu manövrieren, ist es dringend notwendig, dass jemand das Manöver leitet: das ist eine Frage der Koordination. Auf einen Kapitän kann man hingegen verzichten, und gemeinsam die das Schiffsleben bestimmenden Entscheidungen treffen, die einzuschlagende Richtung wählen, etc.
Wir haben spontan die Neigung, unsere Gruppen überzubewerten, und je randständiger eine Gruppe ist, desto intensiver ist diese Überbewertung. Sie ist ein essenzieller Mechanismus der identitäten Stärkung. Dies erkennen lassen und sich davor in Acht nehmen, bedeutet, bereits damit zu beginnen, ihr ein Riegel vorzuschieben.
Des weiteren bringt die identitäre Überbewertung randständiger (was schlicht schlicht bedeuten kann: „zahlenmässig begrenzter“) Gruppen diese dazu, sich noch mehr an den Rand zu drängen, indem sie diese dazu verleitet, nützliche Kontrastfiguren für die Gesamtheit der Gesellschaft zu werden. Ein paar Punks verstärken viele Rahmen. Und dies ist nicht ein strategischer Fehler seitens der Identitäten, es wird sozial produziert: schlussendlich werden wir zu dem, was man will, dass wir sind. Jede begrenzte Gruppe läuft also Gefahr, sich in ihre eigene Karikatur zu verwandeln, um nach der Art und Weise zu leben, die von ihr sozial erwartet wird.
Sich von Anfang an in dem Wissen zu bilden, dass man nur ein Teil einer umfassenderen Gesamtheit ist, im Innern derer man gleichermassen existiert, wie jene, die man als seine Feinde betrachtet, dass man in einer offenen, und nicht nach den Anforderungen der Erzählung ausgerichteten Welt lebt, das ist eine Grundlage, auf der man versuchen kann, Gruppen zu bilden, die sich nicht in Identitäten einschliessen. In den Kämpfen zu bestehen, die sie auf dieser Grundlage ermöglichen, wäre ein guter Anfang. Persönlich scheint es mir, einen Entwurf davon in der „AG en lutte“ der rue Servan, im Jahr 2006 in Paris zu sehen.
Es ist dennoch klar, dass die identitäre Einschliessung wohl oft etwas ist, in das wir weiterhin sozial getrieben werden. Wir können nur hoffen, dass diese Einschliessung ausfindig zu machen, sie dort sichtbar zu machen, wo sie erfolgt, es ermöglichen kann, damit zu beginnen, sie zu durchbrechen. Sich ihrer gänzlich zu entledigen, ist das Ziel einer kommunistischen Revolution.
Alain C.
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