Gefunden auf antipolitika, dieser Text wurde unter anderem auch für die Diskussionen auf dem antimilitaristischen Treffen Action Week in Prag geschrieben. Die Übersetzung ist von uns.
Veröffentlicht am 25.05.2024
SYSTEMISCHE TRIEBKRÄFTE FÜR DEN KRIEG(E) UND EINE AUTONOME, ANTIKAPITALISTISCHE ANTIKRIEGSPOSITION
1. VORBEMERKUNGEN
1. Die Angriffe der Houthis auf Frachtschiffe, die Schläge der USA und Großbritanniens gegen den Jemen, die im Roten Meer stationierte Marineflotte der USA und der EU, der Angriff von ISIS auf die Crocus City Hall1 (A.d.Ü., Anschlag in Krasnogorsk) und die Raketenangriffe des Irans und Israels2 sind neue Ausdrucksformen der sich abzeichnenden globalen Realität: Konkurrierende Gruppen/Blöcke von Kapitalisten haben den Weg des Krieges gewählt, um sich in den Hierarchien einer globalisierten Ökonomie, die sich in der Stagnation befindet und auch mit der Erschöpfung der natürlichen Ressourcen zu kämpfen hat, besser zu positionieren. Diese neue multipolare Welt wurde nach der russischen Invasion in der Ukraine deutlich, aber die Anzeichen dafür gab es schon seit der Annexion der Krim durch die Russische Föderation (Februar 2014), dem Stellvertreterkrieg in Syrien (September 2015 – …) und dem neuen Kampf um Afrika (Kriege im Sudan, in der Zentralafrikanischen Republik und in Mali).
2. Während die Ökonomie weltweit immer tiefer in die Krise gerät, wird der Krieg zur letzten Lösung des Kapitalismus, um den Weg für Wachstum freizumachen. Wenn wir daher die Gräueltaten der IDF im Gazastreifen als bloße Fortsetzung der 75-jährigen Besatzung und die Angriffe der Hamas als bloße Fortsetzung des palästinensischen Widerstands verstehen, werden wir ihren Zusammenhang mit der aktuellen Abwärtsspirale des globalen Kapitalismus in Richtung Krieg nicht erkennen.
3. In den ersten Wochen der Militärkampagne in Gaza protestierten die Menschen massiv auf den Straßen und forderten einen Waffenstillstand, vor allem als die Brutalität der IDF-Angriffe bekannt wurde. Empathie ist wichtig, spontaner Widerstand gegen Krieg und militaristisches Grauen ist entscheidend. Aber wenn die Menschen diese Todespolitik nicht mit den Bedingungen des Kapitalismus als globales System in Verbindung bringen (und nur über das „kolonialistische und mörderische Israel“ sprechen), können sie die Notwendigkeit nicht verstehen, gegen kapitalistische Kriege in ihrem eigenen Interesse zu kämpfen. Die romantisierte Darstellung des palästinensischen Kampfes und die Entmenschlichung der Palästinenser/innen im Mainstream sind zwei Seiten derselben Medaille. Und solange die Reaktionen auf Sentimentalität beruhen, können sie zu einer massenhaften Banalisierung des Todes führen: Wenn die Menschen der Gewalt und dem ständigen Gemetzel zu sehr ausgesetzt sind, gewöhnen sie sich daran, ohne sich jemals über die Ursachen und die Funktion des Krieges klar zu werden. Sie sehen auch nicht die Notwendigkeit, den Krieg und nicht die Kriege zu bekämpfen.
4. Wer auch immer hier oder dort gewinnt oder verliert, Krieg ist für den Kapitalismus als globales System notwendig. Neben den Profiten für die Rüstungsindustrie setzt er Gewinne frei und ermöglicht die Schaffung von Mehrwert durch Zerstörung, er diszipliniert die Gesellschaften in den kapitalistischen Zentren und verwaltet überschüssige Bevölkerungen, die vom Kapital nicht profitabel ausgebeutet werden können.
5. Krieg ist die endgültige Lösung für die Widersprüche des Kapitalismus als globales System. Aber aus diesem Bündel von Widersprüchen wird keine neue Gesellschaft entstehen. Das kann nur die antikapitalistische soziale Bewegung erreichen. Solange wir passiv bleiben oder Positionen zugunsten der einen oder anderen kriegführenden Seite einnehmen, schaufeln wir unser Grab mit unseren eigenen Händen.
6. Deshalb ist es dringender denn je, klare Positionen zu beziehen und sich gemeinsam für die Schaffung einer globalen sozialen Bewegung gegen die kapitalistische Maschine des Todes und der Verzweiflung einzusetzen.
2. WARUM GESCHEHEN ALL DIESE DINGE?
Die Dividenden steigen, und die Proletarier fallen. (Rosa Luxemburg, Das Junius-Pamphlet, 1915)
Wir müssen nicht auf romantisierte und naturalisierende Vorstellungen von Geschichte und kulturellen Unterschieden zurückgreifen. Die Geschichte des Kapitalismus ist mit Blut und Feuer geschrieben. Krieg, Krisen, Zerstörung, Enteignung, Plünderung und Kolonialismus waren schon immer das (nicht so) verborgene Gesicht des kapitalistischen Fortschritts und der Entwicklung nach dem Zeitalter der Entdeckungen. Neben dem Wettbewerb um Ressourcen und Einflusszonen als Triebfedern für bewaffnete Auseinandersetzungen kann Krieg die Proletarier disziplinieren, die Akkumulation durch Enteignung beschleunigen, die überschüssige Bevölkerung verwalten und das kapitalistische System als Ganzes wiederbeleben: Wenn die Profitabilität blockiert ist, können Krieg und Zerstörung die (Nachkriegs-)Chance für neue Wertschöpfungs- und Wachstumsrunden eröffnen. Konkurrierende kapitalistische Blöcke kämpfen gegeneinander um die Vorherrschaft im Handel, im Finanzwesen und im Militär. In diesem Wettbewerb sind es die Menschen, die Proletarier, wenn du so willst, die garantiert verlieren werden. Einige Kapitalisten werden viel gewinnen, andere werden etwas verlieren, und manche werden sogar alles verlieren. Aber Geld kennt keinen Meister – das kapitalistische System als Ganzes wird garantiert gewinnen. Vor allem in einer globalisierten Ökonomie kann das Schlafen mit dem Feind (Handel zwischen Gegnern in Kriegszeiten) zur Norm und nicht zur Ausnahme werden und die Profitabilität für die herrschenden Eliten aller kriegführenden Seiten erhöhen. Auch wenn die ökonomische Logik eines bestimmten Krieges nicht sofort ersichtlich ist oder in diesem Moment gar nicht existiert, tragen Kriege immer zu Formen der Macht bei, wie z. B. Nationalstaaten oder bestimmte Anführer und Regime, die letztlich dem Kapitalismus insgesamt zugute kommen. Was diejenigen angeht, die glauben, dass eine multipolare Welt günstiger für soziale Gerechtigkeit sein wird: Wie könnte ein neues Machtgleichgewicht, das auf Kosten der Gesellschaften geschaffen wird (da die soziale Bewegung unter dem Gewicht der Geopolitik begraben oder auf einen Unterstützer autoritärer Regime und/oder staatlicher Politik reduziert wird), irgendjemandem nützen?
Die Machtzentren des Kapitalismus als Weltsystem haben sich in der Vergangenheit viele Male verändert. Diese Veränderungen haben noch nie dazu geführt, dass der Kapitalismus (oder die Ausbeutung) weniger brutal geworden ist. Damit diese für den Kapitalismus so nützlichen Kriege stattfinden können, gibt es zwei Voraussetzungen: (a) Waffen, die produziert werden müssen, und (b) Köpfe, die für denselben Zweck geformt werden müssen. Die Rüstungsindustrie ist immer bereit, die Mittel für die Zerstörung zu liefern. Die Rüstungsindustrie ist schließlich eine Industrie wie alle anderen auch, eine Industrie, die mehr Produkte verkaufen, die „Kauffrequenz“ erhöhen, für Produkte werben muss, indem sie sie potenziellen Kunden unter realen Bedingungen und in vivo vorführt, neue Produkte entwickeln, Lagerbestände abbauen, neue Märkte schaffen usw.3 Das Gleiche gilt für die Gegenseite. Die russische und die chinesische Rüstungsindustrie kämpfen seit Jahren auf dem Weltmarkt, da ihre Systeme noch nicht kampferprobt sind.4
3. DIREKTE FOLGEN DES KRIEGES/DER KRIEGE JENSEITS DES HORRORS AUF DEN SCHLACHTFELDERN
a. Die Umwelt als Kriegsopfer
Die jüngsten Kriege haben Aktionen zur Bewältigung der Klimakrise zunichte gemacht, während der Bedarf der globalen Kriegsmaschinerie an fossilen Brennstoffen ein weiterer Parameter für die zunehmenden Konfrontationen ist.
„Das Ziel der Dekarbonisierung der Energiesysteme, das vor dem Krieg in politischen Kreisen oft genannt wurde, ist zugunsten von Energiesicherheit und Bezahlbarkeit der Energie verblasst. Der Schwerpunkt liegt jetzt auf der Energieunabhängigkeit, bei der es darum geht, genügend einheimische Energiequellen zu sichern, um nicht auf Importe angewiesen zu sein, egal wie kohlenstoffintensiv diese Quellen auch sein mögen. Dies hat dazu geführt, dass der Ausstieg aus schmutzigeren Energieformen ins Stocken geraten ist. Einige Länder haben begonnen, mehr Kohle zu verbrennen, mehr Terminals für Flüssigerdgas (LNG) zu bauen und die Gaspipelines zu erweitern. Überall auf der Welt bauen Länder im eigenen Land Kohlekraftwerke oder nehmen sie wieder in Betrieb, während sie im Ausland in die Erschließung von Öl- und Gasvorkommen investieren“5.
Während der COP28 sagten die USA gerade einmal 17,5 Millionen Dollar für den „Loss and Damage Fund“ (Fonds zur Unterstützung der Entwicklungsländer bei der Bewältigung der Auswirkungen des Klimawandels) zu – ein Tropfen auf den heißen Stein im Vergleich zu ihren gigantischen Militärausgaben von 876,94 Milliarden Dollar im Jahr 2022. Auf demselben Treffen betonten die Teilnehmer „ihr Engagement für die Bewältigung der Klimakrise und neue Investitionen in erneuerbare Energien“.
Dennoch befinden sich viele der wichtigen Mineralienvorkommen – Kobalt, Lithium6, Mangan, Graphit und Nickel -, die für erneuerbare und kohlenstoffarme Technologien wichtig sind, in Afrika. Die Abkehr von fossilen Brennstoffen bedeutet also, dass wir ein neues Feld der Auseinandersetzung betreten.
Auf der anderen Seite sind fossile Brennstoffe für das Militär unverzichtbar. „Der Energieverbrauch des US-Militärs treibt den gesamten Energieverbrauch der US-Regierung an.“7 „Wären die Militärs der Welt eine einzige Nation, läge sie nach unserer Schätzung an vierter Stelle – hinter China, den USA und Indien – aber vor Russland und Japan.“8
Zwischen 2013 und 2021 gaben die reichsten Länder 9,45 Billionen US-Dollar für das Militär aus, das sind 56,3 % der gesamten weltweiten Militärausgaben (16,8 Billionen US-Dollar). Die Militärausgaben sind seit 2013 um 21,3 % gestiegen.9
b. Militarismus, Männlichkeit und geschlechtsspezifische Gewalt
Obwohl sowohl in der Ukraine als auch in Israel Massenmedien und Behörden den queeren Kampf für Krieg und nationalistische Propaganda instrumentalisieren, ist der Krieg selbst die Definition von Männlichkeit, Patriarchat und dem romantisierten Bild des Helden, der „das Mutterland beschützt“ und „das Vaterland ehrt“. Kriege und Militarismus stärken das Patriarchat und patriarchalische Gesellschaften und fördern eine Kultur, in der Gewalt gegen Frauen und LGBTQIA-Personen normalisiert wird. Neben dem patriarchalischen Charakter des Krieges tragen bewaffnete Auseinandersetzungen direkt zur Zunahme geschlechtsspezifischer Gewalt bei und führen zu finanzieller Unsicherheit, ökonomischer Not und Ernährungsunsicherheit. Die rassistische Dynamik überschneidet sich mit geschlechtsspezifischer Gewalt und macht das Leben für Frauen und LGBTQIA-Personen of Colour zur Hölle. So wurden im Jahr 2022 weltweit „fast 89.000 Frauen und Mädchen vorsätzlich getötet. Das ist die höchste jährliche Zahl, die in den letzten zwei Jahrzehnten verzeichnet wurde. Eine beträchtliche Anzahl von Femizidopfern (etwa 40 Prozent) bleibt im UN-Bericht unberücksichtigt, da sie nicht als geschlechtsspezifische Tötungen kategorisiert werden“10.
Dieses Argument gilt selbst angesichts einer „queer-freundlichen Militarisierung“, wie sie in Israel und der Ukraine zu beobachten ist. Die Inklusion von LGBTQIA in Kriegseinsätzen ist kein Zeichen von Fortschritt. Im Gegenteil: Sie deradikalisiert, entpolitisiert und neutralisiert diese Ungleichheiten, indem sie sie in die nationalistische, kapitalistische Kriegsmaschinerie integriert.
c. Der Krieg gegen Migranten
Während Kriege immer mehr Flüchtlinge und Migranten hervorbringen, haben wir in den letzten 10 Jahren eine Militarisierung der (Anti-)Migrationspolitik in einem solchen Ausmaß erlebt, dass wir den Begriff „Krieg gegen Migranten“ verwenden müssen.
– Kürzlich wurden unter dem Vorwand des Massakers in Gaza Änderungen an der (Anti-)Migrationspolitik vieler EU-Länder eingeführt.
– Der US-Kongress musste die Bewilligung von mehr Mitteln für Waffenlieferungen an die Ukraine mit dem Versprechen kompensieren, dass auch neue Mittel für den Bau der Mauer in Mexiko und die Blockade von Migranten bereitgestellt werden.
– Militarisierung und Brutalität haben ihren Höhepunkt im Mittelmeer (z. B. der Massenmord bei Pylos, wo 600 Migranten bei einem Vorfall ums Leben kamen, an dem die griechische Küstenwache beteiligt war, aber niemand zur Verantwortung gezogen wurde) und an den Grenzen zwischen Mexiko und den USA (z. B. hat Texas eine schwimmende Barriere mit Kettensägen installiert, um Migranten zu verletzen) erreicht.
d. Die Reichen werden reicher und die Armen werden ärmer
„Während Millionen von Menschen auf der ganzen Welt in bitterer Armut leben, ohne sauberes Trinkwasser, angemessene Gesundheitsversorgung, menschenwürdige Unterkünfte oder Bildung für ihre Kinder, haben die Milliardäre der Welt ihren Reichtum allein in den letzten drei Jahren um über 3 Billionen US-Dollar gesteigert.“ „Die einkommensschwachen Länder hingegen liegen immer noch über den Armutsquoten vor der COVID und schließen die Lücke nicht, da die Armut dort zwischen 2022 und 2023 leicht zunimmt.“ „Die Milliardäre sind heute um 3,3 Billionen US-Dollar (oder 34 %) reicher als zu Beginn dieses Krisenjahrzehnts, wobei ihr Vermögen dreimal so schnell wächst wie die Inflationsrate. Die größten Unternehmen verzeichneten 2021 und 2022 einen Gewinnsprung von 89 %, während die Gewinne von 14 Öl- und Gasunternehmen 2023 um 278 % über dem Durchschnitt von 2018-21 lagen.““ „Seit 2020 haben die fünf reichsten Männer der Welt ihr Vermögen verdoppelt.“11
e. Der Krieg nährt neue Kriege – Krieg wird als Mittel zur Bewältigung aller Arten von Krisen normalisiert
– Der Krieg, den die türkische Armee gegen das kurdische Volk führt, wird immer härter, mit Beschuss durch Drohnen und Kampfflugzeuge im Oktober 2023, Januar 2024 und März 2024 (inzwischen hat der türkische Staat starke ökonomische Verbindungen mit dem israelischen, auch wenn das Erdogan-Regime die Hamas unterstützt).
– Am 17. und 18. Januar 2024 griffen der Iran und Pakistan über ihre Grenzen hinweg Zivilisten in der Region Belutschistan an. Am 17. März 2014 startete Pakistan Luftangriffe innerhalb Afghanistans „gegen pakistanische Taliban“.
– Die Zentralafrikanische Republik ist bereit, einen russischen Stützpunkt für bis zu 10.000 Soldaten aufzunehmen. (Zentralafrikanische Republik will russischen Stützpunkt beherbergen – offiziell. 16. Januar / TASS). In Burkina Faso ist der russische „Antiimperialismus“ auf dem Vormarsch, seit das Militär in zwei aufeinanderfolgenden Putschen im Jahr 2022 die Macht übernommen hat (z. B. Burkina Faso dankt Russland für das „unbezahlbare Geschenk“ von Weizen, BBC News, 27. Januar 2024).
– Am 16. März 2024 verkündete der Sprecher der nigrischen Militärregierung, dass „Niger die militärische Zusammenarbeit mit Washington aussetzen wird“ (Niger’s junta says US military presence is no longer justified (Niger´s Junta verkündet dass die militärische Präsenz der USA nicht gerechtfertigt werden kann), Associated Press News, 17. März 2024).
– Neben den oben erwähnten jüngsten Entwicklungen sind auch die laufenden Kriege im Sudan, in Somalia und Äthiopien zu beachten.
– Mögliche Gebiete für künftige bewaffnete Auseinandersetzungen sind China/Taiwan und das Gebiet Esequiba in Guyana (am 3. Dezember 2023 fand in Venezuela ein Referendum statt, bei dem es um die Frage ging, ob das Gebiet in die Landkarte Venezuelas aufgenommen werden soll).
– In Lateinamerika (Mexiko, Ecuador, Kolumbien usw.) wird der Krieg gegen die Bevölkerung durch die Narcos geführt, die genauso agieren wie die paramilitärischen Gruppen in den 70er und 80er Jahren.
– Wir haben bereits den „Krieg gegen Migranten“ erwähnt. Die Militarisierung der Reaktionen auf COVID-19 ist ein weiteres Beispiel dafür, wie Krieg als Mittel zur Bewältigung aller Arten von Krisen normalisiert wird.
Parenthese: Notizen von den Fronten des Krieges
Russland/Ukraine
Gefährten und Gefährtinnen aus der Region informieren uns darüber: Menschen aus Zentralasien werden zur russischen Armee geschickt, wofür ihnen die russische Staatsbürgerschaft versprochen wird; wenn sie in ihre Länder zurückkehren, werden sie verhaftet, weil es verboten ist, der Armee eines anderen Landes beizutreten. Die russische Ökonomie wird durch den Krieg schwer geschädigt, aber sie macht auch Gewinne durch den Krieg. Die Stimmung in der Ukraine ändert sich. Viele Arbeiter verstecken sich. Wenn sie erwischt werden, werden sie einfach zur Armee geschickt. Es gibt immer mehr Geschichten von Verwundeten, die sich in der EU, vor allem in den baltischen Ländern, verkriechen, um dem neuen Mobilmachungsgesetz in der Ukraine zu entgehen. „Estland ist, wenn nötig, bereit, die Flüchtlinge, die der Mobilmachung unterliegen, an die Ukraine auszuliefern“, sagte Innenminister Lauri Läänemets (22. Dezember 2023). Im Moment gibt es keine Anzeichen für Initiativen, die bereit oder in der Lage sind, den Krieg in der Ukraine zu beenden.
Gaza Techno- Thanatospolitik
Über die Militärkampagne der IDF als Rache an der Bevölkerung des Gazastreifens für die Hamas-Angriffe vom 7. Oktober und als Vorstoß in Richtung der nationalen Säuberungsträume der Netanjahu-Regierung12 ist schon viel geschrieben worden. Ein Aspekt, der nicht genug betont wurde, ist das Beispiel der Politik des Todes und der Verwaltung der überschüssigen Bevölkerung, die dieser Krieg auf eine äußerst raffinierte Art und Weise setzt, die man als Techno-Thanatospolitik bezeichnen kann: „Die israelische Armee verfügt über Dateien zu den meisten potenziellen Zielen im Gazastreifen – einschließlich Häusern -, in denen die Anzahl der Zivilisten festgelegt ist, die bei einem Angriff auf ein bestimmtes Ziel wahrscheinlich getötet werden. Diese Zahl wird im Voraus berechnet und ist den Geheimdiensten der Armee bekannt, die auch kurz vor einem Angriff wissen, wie viele Zivilisten mit Sicherheit getötet werden.“13
Es gibt keinen Ausweg aus der Situation in Gaza/Palästina/Israel, wenn es keine internationalistische und antikapitalistische Mobilisierung gibt. Wir brauchen dringend einen Ansatz, der die Wurzeln des Konflikts, die jeweiligen Interessen und vor allem die sozialen Kräfte innerhalb Israels und der palästinensischen Gesellschaft anspricht, die in der Lage und bereit sind, eine andere Lösung als den totalen Krieg und die Vernichtung zu unterstützen (die von der IDF derzeit brutal praktiziert und von verschiedenen Versionen des politischen Islams für die Zukunft angestrebt wird). Das bedeutet, dass wir die fortschrittlichen und oppositionellen Stimmen in Palästina und Israel, die sich gegen die Netanjahu-Regierung und die Hamas-Regierung wenden, erfassen, unterstützen und verbinden müssen.
f. Die Angst vor dem Krieg befeuert die Kriegspolitik: Die Angst vor der Ausbreitung des Krieges führt dazu, dass die Menschen den Krieg unterstützen
Wie kann man in einer Situation, in der der größte Teil der Gesellschaft Angst vor dem Krieg hat, eine Perspektive gegen den Krieg schaffen? Wie können wir erklären, dass Antikriegspolitik nützlicher ist als die Politik der NATO oder der eurasischen Militarisierung?
Diese sehr realen Fragen werden in den letzten zwei Jahren in allen Nachbarländern der Ukraine gestellt. Die Kriegsherren des westlichen Kapitalismus wollen sie auf ihr gesamtes Herrschaftsgebiet ausweiten: „Die EU sollte sich bis zum Ende des Jahrzehnts auf einen Krieg vorbereiten, warnt der deutsche Verteidigungsminister“ (18. Dezember 2023), „Die Zeit der Friedensdividende ist vorbei. Genau wie unsere Feinde müssen wir jetzt für eine Ära der Konfrontation planen und investieren…“ (Großbritanniens Verteidigungsminister, Montag, 15. Januar 2024), „Das Militär der NATO ist bereit, aber auch die Zivilbevölkerung muss sich auf den Krieg vorbereiten“ (NATO-Militärkommandeur Admiral Rob Bauer, 18. Januar 2024). „Französische Truppen sind bereit für „die härtesten Einsätze““ (NATO-Verbündeter könnte 60.000 Mann starke Truppen in der Ukraine befehligen, Newsweek, 20. März 2024). Abgesehen davon, dass dies ein klarer Fall ist, in dem das Heilmittel die Krankheit nährt, kann es keine persönliche Antwort (außer auf ethischer Basis) auf die oben genannten Fragen geben. Die Antwort wird entweder von einer transnationalen sozialen Bewegung gegen Militarismus und Krieg oder von der grausamen Realität des Krieges selbst kommen.
g. Die Angst verschiebt das gesamte politische Spektrum nach (ganz) rechts
Die Unterstützung für mehr oder weniger offene Faschisten (Geert Wilders, Javier Milei, Giorgia Meloni, Marine Le Pen usw.) ist die Antwort der freien Welt auf die despotischen Regime der konkurrierenden kapitalistischen Blöcke.
Auch am anderen Ende des politischen Spektrums findet ein Rechtsruck statt: Während sich autoritäre und unterdrückerische Regime als Anführer einer entstehenden „multipolaren“ Welt präsentieren, treten Teile der Linken dafür ein, dass tyrannische, autoritäre und reaktionäre Kräfte und Regime einen progressiven Widerstand gegen den „westlichen Imperialismus“ darstellen.
Menschen, die noch vor einem Jahr „Frau, Leben, Freiheit“ riefen, unterstützen jetzt die sogenannte Achse des Widerstands. Wir sind entschieden dagegen, dass Menschen aufgrund ihrer Nationalität unterdrückt werden. Das ist klar. Aber wir dürfen nie vergessen, dass alle Nationalismen – auch die der derzeit unterdrückten Gruppen – ebenfalls ausgrenzend und unterdrückend sind. Das Gleiche gilt für Theokratie und religiösen Obskurantismus. Außerdem ist der politische Islam kein Konkurrent des Kapitalismus, sondern ein Werkzeug in den Händen verschiedener kapitalistischer Gruppierungen, eine Alternative zur Marke des westlichen Kapitalismus, nicht zum Kapitalismus selbst. Er wird seit vielen Jahrzehnten von globalen und regionalen kapitalistischen Mächten eingesetzt: In der Vergangenheit von den USA gegen den säkularen arabischen Nationalismus und die Sowjetunion, in jüngerer Zeit vom israelischen Staat gegen den säkularen Widerstand der Palästinenser, von der NATO gegen das Regime von Bashar al-Assad in Syrien, von den Golfmonarchien und der Islamischen Republik Iran, um ihre eigenen Interessen in der Region durchzusetzen, vom Erdogan-Regime für das neo-osmanische Narrativ der AKP, und selbst die christlich-orthodoxe Russische Föderation hat die Karte des pro-putinistischen politischen Islams in Tschetschenien gespielt, um die neue Konfrontation in Palästina anzugehen.
„Wir wissen, dass der Weg zur kollektiven Befreiung nicht in der Wahl zwischen falschen Dichotomien wie „globaler Imperialismus/Islamische Republikregierung“ oder „israelische Kolonialherrschaft/Hamas reaktionäre Kraft“ liegt. (…) Stattdessen geht es darum, diese Binaritäten und groben Vereinfachungen abzubauen. Jahrelang hat man uns weisgemacht, dass wir nur die Wahl zwischen dem „Schlechten und dem Schlimmeren“ haben. Heute sagen wir laut und deutlich „Nein“ zu den falschen Binaritäten, die uns präsentiert werden, und stellen uns gegen Unterdrückung und Repression in all ihren Formen. (Jin Jiyan Azadî wie in Freies Palästina, Text unterzeichnet von 250+ iranischen Feministinnen, November 2023)14
Selbst Solidaritätsbewegungen neigen dazu, diese Dichotomien als Erklärungsrahmen für diese Konflikte zu interpretieren. Diese Dichotomien scheinen einen einfachen Zugang zu moralisierenden politischen Bewertungen zu bieten, die politische Subjekte dazu bringen können, die eine oder andere Seite zu unterstützen oder die Situation zu vereinfachen. Da solche Dichotomien jedoch auf kapitalistischen, etatistischen Erzählungen über Weltfrieden durch Krieg oder über eine multipolare Welt beruhen, reproduzieren sie in Wirklichkeit den Effekt, den sie abschwächen sollen. In einem konfliktreichen, kapitalistischen, hyperkomplexen Stellvertreterkrieg gibt es eine endlose Vermehrung solcher Dichotomien.
Es gibt auch die visuelle Darstellung des Antiimperialismus der 1960er und 1970er Jahre, der als Avatar wiederkehrt. Obwohl es keine Staatsmacht gibt, die sich als antikapitalistisch ausgibt, phantasieren die Anhänger des Antiimperialismus rivalisierende kapitalistische Blöcke als Gegenmittel zum westlichen Kapitalismus. Es genügt, eine sowjetische Flagge auf einem russischen Panzer oder die DFLP-Flagge neben der der Hamas zu sehen, um das Gefühl zu bekommen, dass eine Ideologie wiederbelebt wird, die sich bereits in der Vergangenheit als falsch erwiesen hat, als antikolonialistische Kämpfe gezwungen waren, sich entweder mit der einen oder anderen Version des Staatskapitalismus (UdSSR oder China) zu verbünden oder durch Industrialisierung, primitive Akkumulation und den Aufbau von Nation-Staaten „ihren eigenen Weg zu finden“. Auch wenn die Revolutionäre vor Ort wohlmeinend waren und die besten Träume und Absichten hatten, waren sie, als sie sich mit den bestehenden Machtstrukturen und den aufstrebenden herrschenden Klassen in den gerade entkolonialisierten Ländern verbündeten, gestrandet und zwischen staatlicher Politik, der Außenpolitik der damaligen Supermächte und der internationalen Diplomatie gefangen. Wenn sie nicht direkt von der Militärmaschinerie des Westens überrollt wurden, reichten all die oben genannten Sackgassen und entfremdenden Kampfmittel aus, um die Menschen völlig zu entmachten und ihnen jede Perspektive und Hoffnung auf Emanzipation zu nehmen. In den 1990er Jahren setzten der konzerngesteuerte Neokolonialismus, die „Strukturanpassungsprogramme“, die „humanitären Kriege“ und schließlich der „Krieg gegen den Terror“ eine neue Art von Kolonialherrschaft durch, deren Alternative nun die Bühne betritt: der politische Islam und die „multipolare“ BRICS-“Perspektive“.
4. VERKNÜPFUNG DER LAUFENDEN SOZIALEN KÄMPFE MIT DEM WIDERSTAND GEGEN MILITARISMUS UND KRIEG
Anstatt von einer Rückkehr zu etwas zu fantasieren, das sich von Anfang an als falsch erwiesen hat, sollten wir versuchen, den Widerstand gegen die kapitalistische Todesmaschinerie mit den laufenden sozialen Kämpfen zu verbinden. Überall finden bereits Mobilisierungen zu verschiedenen Themen statt, mit Forderungen, die der Logik des Krieges schon durch ihre bloße Existenz trotzen: Feministische Kämpfe wie die riesigen Demonstrationen am 25. November 2023 in Italien gegen patriarchale Gewalt15, die Proteste in Frankreich gegen das neue und sehr rassistische Einwanderungsgesetz oder der Marsch von Migranten an die US-Grenzen16, Kämpfe gegen Privatisierungen wie der Kampf der Studenten gegen die Privatisierung der griechischen Universitäten, Kämpfe gegen Extraktivismus und kapitalistische Megaprojekte, die in vielen Teilen Lateinamerikas, aber auch in Frankreich, Serbien und anderswo in Europa stattfinden.
Obwohl Krieg von den Machthabern oft als Mittel gegen die wachsende allgemeine Unzufriedenheit eingesetzt wird, verdrängt die Stärkung des Sozialen- bzw. Klassenkriegs in einer Weise, die es dem (universellen) Proletariat ermöglicht, seine eigene neue Form der Macht zu verkörpern, indem es zur Klasse des Bewusstseins wird, verdrängt immer die Aussicht auf Krieg. Das erfordert internationalistische Organisationsinitiativen wie die Aktionswoche und den Antikriegskongress in Prag. Leider hat es in den mehr als zwei Jahren, die seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine vergangen sind, nicht so viele ähnliche Initiativen gegeben. Wir können nur die folgenden nennen:
– Der zapatistische Aufruf „zu Protesten und Mobilisierungen gegen ALLE KAPITALISTISCHEN KRIEGE“ am 13. März 2022.
– Der Aufruf der Permanent Assembly Against the War (Permanenten Vollversammlung gegen den Krieg) zum „Streik gegen den Krieg“ am 1. Mai. 2022.
– Der internationalistische, antikapitalistische und Antikriegs-Protest, der am 8. Juli 2023 in Ljubljana im Rahmen der Balkan Anarchist Bookfair stattfand.
– Die „Weltweiten Aktionstage gegen jeglichen Krieg und Militarismus“, die auf dem Internationalen Anarchistischen Treffen in Saint-Imier (Juli 2023) vorgeschlagen wurden und Ende November 2023 stattfinden sollen. Am 18. November fand in Turin eine von der Assemblea Antimilitarista organisierte antimilitaristische Demonstration „gegen die Stadt der Waffen und den NATO-Innovationsbeschleuniger in Turin anlässlich der Marktausstellung der Luft- und Raumfahrtindustrie (Aerospace and Defense Meeting)“ statt. Am 29. November fand ein Protest gegen die Berliner Sicherheitskonferenz (ein internationales Treffen von Rüstungsindustrien, NATO-Beamten und europäischen Politikern) unter dem Slogan „Keine Kriegskonferenz in unserer Stadt!“ statt, während die Gefährten und Gefährtinnen in Ljubljana Anti-Kriegs-Transparente vor den Gebäuden von 3 Rüstungsindustrien aufhängten. In denselben Tagen wurde ein Antikriegsplakat mit der Aufschrift „Überall auf der Welt, vom Balkan bis nach Palästina und Israel, Russland und der Ukraine, ist der Feind das Kapital und der Staat – über die Mauern des Nationalismus und des Krieges hinweg, Solidarität und Widerstand aufbauen!“ produziert – dieses Plakat wurde auf der Vollversammlung der 15. Balkan Anarchist Bookfair (Ljubljana, Juni 2023) beschlossen17.
Eine weitere internationale (aber nicht unbedingt internationalistische) Initiative fand am 10. November 2023 statt, als auf verschiedenen Kontinenten Demonstrationen und Streiks gegen Waffenlieferungen an die israelische Armee stattfanden. In Kent, England, wurde mit einer Blockade eine Waffenfabrik gestoppt, während Hafenarbeiterinnen und -arbeiter in Oakland, Seattle, Barcelona und Sydney zur gleichen Zeit Aktionen organisierten. Im Hafen von Genua, Italien, organisierten Arbeiterinnen und Arbeiter eine Blockade der Hafentore, begleitet von einer Demonstration gegen den Krieg und die Militärlogistik. Die Aktionen in Genua wurden von der CALP (Autonomes Kollektiv der Hafenarbeiterinnen und -arbeiter) organisiert. Hafenarbeiterinnen und -arbeiter in Genua hatten bereits am 31. März 2022 mit einem Transparent mit der Aufschrift“Keinen Pfennig, kein Gewehr, kein Soldat für den Krieg“ eine ähnliche Protestaktion durchgeführt.
Es gab den Vorschlag, die Proteste der Feministinnen am 8. März 2024 mit dem Widerstand gegen Krieg und Kapitalismus zu verbinden, aber das scheint vor allem in Italien geschehen zu sein. Im Gegensatz dazu fanden in Deutschland separate pro-israelische und pro-palästinensische feministische Proteste statt.
Die Notwendigkeit, Deserteure und Kriegsverweigerer in den betroffenen Gebieten zu unterstützen, wurde oft angesprochen.
– In Israel wurden Sofia Or und Tal Mitnick (Mesarvot-Netzwerk) vor Gericht gestellt und inhaftiert, weil sie sich weigerten, der Armee beizutreten.
– In der Ukraine werden sogar christliche Kriegsdienstverweigerer (wie Vitaly Alekseenko) inhaftiert, während Pazifisten, wie Yurii Sheliazhenko von der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung, ständig schikaniert werden.
– Es gibt gegenseitige Unterstützungsnetzwerke von ukrainischen Staatsangehörigen, die in EU-Länder geflohen sind, um nicht für den Krieg rekrutiert zu werden, aber (mit sehr wenigen Ausnahmen) fühlen sie sich nicht sicher, wenn sie an die Öffentlichkeit gehen.
– Viele Menschen, die aus Russland geflohen sind, halten sich jetzt in Serbien auf, da sie für die Einreise in EU-Länder ein Visum benötigen, was bei ihrer Einreise nach Serbien nicht erforderlich war. Gleichzeitig werden sie in Serbien selbst ständig von FSB-Agenten überwacht.
– In Russland gibt es viele Gefangene, die wegen direkter Aktionen gegen den Krieg verurteilt wurden. Hier sind die Kontaktadressen von Anti-Kriegs-, Anarchistinnen und Anarchisten und antifaschistischen Gefangenen in Russland (Informationen, von Anarchist Black Cross Moskau, Update vom 20. Februar 2024):
Wir sollten bedenken:
a. Eine Bewegung, die sich gegen die systemischen Ursachen von Kriegen richtet, kann entstehen, bevor ein Krieg ausbricht. Wenn der Krieg ausbricht, ist es zu spät.
b. Im Westen wird der „Krieg“ immer noch in den Köpfen und Herzen der Menschen ausgetragen.
Nach dem Ende des Kalten Krieges hat die Realität des Krieges und seine Wahrnehmung in der Öffentlichkeit verschiedene Phasen durchlaufen:
– Morbide Neugier und Exotik/Spektakel (Irak 1990) / Live-Übertragung eines Krieges / „Der Himmel über Bagdad wird erleuchtet“.
– Opferbereitschaft/Solidarität, während der Krieg noch „weit weg“ war (Syrien) und Gleichgültigkeit (in der Vergangenheit haben wir von einigen der tödlichsten Massaker nicht einmal etwas mitbekommen: dem Maya-Genozid in Guatemala, dem zweiten Kongo-Krieg, auch bekannt als Afrikas Weltkrieg. Zurzeit gibt es Kriege im Sudan und in Äthiopien, für die sich niemand interessiert.)
– Je näher der Krieg rückte (der Krieg in der Ukraine wurde als „erster Krieg auf europäischem Boden nach dem 2. Weltkrieg“ bezeichnet, eine Beschreibung, die die Jugoslawien-Kriege bequemerweise vergisst), desto weiter reichte das allgemeine Gefühlsspektrum von Angst bis zur Banalisierung des Todes.
– Das Übermaß an Gewalt und Tod während des andauernden Massakers in Gaza hat die Thanatospolitik auf ein neues Niveau gehoben.
Wir brauchen unsere eigene Politik des Lebens.
Wir müssen verstehen, dass die Antikriegspolitik den Aufbau von Realitäten beinhalten muss, die die Wurzeln des Krieges bekämpfen.
An verschiedenen Orten auf der Welt versuchen Bewegungen und Menschen, Alternativen zum Kapitalismus, dem Staat und seiner Kriegsmaschinerie zu schaffen: Die zapatistische Autonomie in Chiapas, der kurdische demokratische Konföderalismus in Rojava, die Selbstorganisation der Mapuche (Chile/Argentinien), der Nasa und der Misak (Kolumbien) sowie von Dutzenden von Völkern im Amazonasgebiet, die Abahlali baseMjondolo-Bewegung der Hüttenbewohner in Südafrika, die MST in Brasilien und die internationale Via Campesina Bewegung. Schauen wir uns auch die Bewegungen innerhalb der kapitalistischen Kernländer an (Hausbesetzungen, Soziale Zentren, Solidaritätsnetzwerke, selbstorganisierte Projekte und Initiativen in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Lebensmittelverteilung und Gegeninformation, Initiativen der Arbeiterinnen und Arbeiter zur Selbstverwaltung, landwirtschaftliche Kollektive usw.).
Wir müssen verstehen, dass die Antikriegspolitik den Aufbau anderer Realitäten beinhalten muss, Realitäten, die den Wurzeln des Krieges widerstehen. Mit anderen Worten: Wir können uns der Thanatospolitik nicht widersetzen, wenn wir nicht unsere eigene Politik des Lebens praktizieren: Die Freude am Widerstand und an der Revolution gegen den Kult des Todes und des Märtyrertums; Fürsorge und Solidarität anstelle des wachsenden Militarismus und der Intoleranz (die aus dem Elend und der Verzweiflung erwachsen); Selbstverwaltung und soziale Verantwortung anstelle der vom Kapitalismus geförderten allgemeinen Verantwortungslosigkeit; kollektive Freiheit anstelle der individualistischen Inhaltslosigkeit.
Zusammen mit klassenkämpferischen Organisationen und sozialen Bewegungen gegen Rassismus, Patriarchat, Umweltzerstörung, Militarismus und zur Verteidigung des Gemeinguts, zusammen mit Kriegsverweigerern und Deserteuren von den verschiedenen Kriegsfronten, zusammen mit Feministinnen, Migrantinnen, prekären Arbeiterinnen und Arbeitern und Umweltaktivistinnen und -aktivisten werden wir eine autonome Antikriegsbewegung gegen die kapitalistische Maschinerie des Todes und der Verzweiflung schaffen.
Wie immer kann der Krieg – wenn es kein Bürgerkrieg ist – den Prozess der sozialen Revolution nur einfrieren. In Nordvietnam bewirkt er, dass die Bauernmassen der sie ausbeutenden Bürokratie zustimmen – was diese bisher nie erreicht hatte. In Israel liquidiert er für lange Zeit jede Opposition gegen den Zionismus, während in den arabischen Ländern – momentan – die reaktionärsten Schichten verstärkt werden. Keineswegs können sich die revolutionären Strömungen darin erkennen. Ihre Aufgabe liegt am anderen Ende der gegenwärtigen Bewegung, deren absolute Negation sie sein müssen. (Mustapha Khayati, Zwei lokale Kriege, Internationale Situationniste #11, Oktober 1967; Übers. von Ken Knabb)
Antipolitika, Mai 2024.
1Wir sollten uns islamistischen Bewegungen nicht anhand der Ideen annähern, die sie artikulieren, sondern vielmehr anhand ihres sozialen Inhalts. Der Islamische Staat entstand nach dem katastrophalen Krieg im Irak und wuchs nach der Niederlage des Arabischen Frühlings im Umfeld des wachsenden Gewichts des Golfkapitals sowohl im Nahen Osten als auch im globalen Maßstab. Sie wurde durch die Internetpornografie ihrer Gewalt weltweit bekannt. Während des Stellvertreterkriegs in Syrien haben westliche Regierungen Gruppen, die mit ISIS in Verbindung stehen, mit Waffen und Geld unterstützt. Über ihre aktuelle Organisationsform wissen wir nichts. Vielerorts beanspruchen Gruppen, dazuzugehören, und es ist unklar, welche spezifischen Faktoren jede vom Islamischen Staat beanspruchte Aktion bestimmen (der ISIS-Crocus City Hall Anschlag könnte mit der unverhältnismäßigen Zwangsrekrutierung von Muslimen in die russische Armee in der Ukraine oder mit den brutalen Kriegen in Itschkeria, Inguschetien usw. zusammenhängen). In der heutigen komplexen globalen Umgebung können viele Faktoren gleichzeitig eine Rolle spielen, sogar mit widersprüchlichen langfristigen Interessen. Doch anstatt sich in Verschwörungstheorien zu ergehen, sollten wir den Islamischen Staat im Rahmen der globalen sozialen Beziehungen und Bedingungen untersuchen: Niederlage und Demütigung sind zu alltäglichen Erfahrungen geworden, und es sind keine plausiblen Alternativen für die politische und ökonomische Organisation in Sicht; das Kapital bewegt sich auf der Suche nach Profit ständig über nationale Grenzen hinweg, während Thanatospolitik den Alltag beherrscht und einen ideologischen Rahmen bietet, der ganze Gruppen von Menschen zum Untermenschen degradiert; der Islamische Staat könnte als transnationales Netzwerk verstanden werden, das das System widerspiegelt, gegen das er sich stellt.
2„Die jüdische Apartheid und die schiitische Apartheid brauchen Krieg: Die Angleichung des islamischen Regimes an die Ziele der Ausweitung des Krieges durch Netanjahu und die israelische Rechte ist genau auf die Angleichung an die Ergebnisse und Auswirkungen dieses zerstörerischen Krieges bei der Unterdrückung der zivilen und revolutionären Bewegung des Volkes im Iran zurückzuführen. In diesem Ziel sind die beiden Apartheidregime vereint und gleichgeschaltet. (…) Wir rufen alle freiheitsliebenden und nach Gleichheit strebenden Kräfte, alle gewissenhaften und besorgten Individuen dazu auf, die Friedensbewegung von ganzem Herzen zu verjüngen; alle ihre Ressourcen zu nutzen, um die Bemühungen der Kriegstreiber von allen Seiten zu entlarven. O.R.W.I. – Organisation der Revolutionären Arbeiterinnen und Arbeiter des Iran (Rahe Kargar).“ Voices of Dissent: Iranische Linksparteien verurteilen Militarismus und Imperialismus – https://firenexttime.net/voices-of-dissent-iranian-leftist-parties-condemn-militarism-and-imperialism/
3Siehe zum Beispiel: Sophia Goodfriend, „Gaza war offers the ultimate marketing tool for Israeli arms companies“, +972 Magazine, 17. Januar 2024.
4Siehe z. B. Matthew Loh, „Russlands Kinzhals frustrieren chinesische Analysten, die herausfinden wollen, wie sich Pekings Hyperschallraketen gegen die US-Abwehr behaupten können“, Businesss Insider, 16. Januar 2024.
5Brown O., Froggatt A., Gozak N., et al. The impact of Russia’s war against Ukraine on climate security and climate action. OSZE; 2023.
6Es gibt auch große Lithiumvorkommen in den USA, in Mittel- und Westeuropa und kleine in Serbien. Rate mal, wo in Europa die Unternehmen zuerst graben wollen? In Serbien, denn der Abbau ist furchtbar umweltschädlich! Es ist nicht immer nur so, dass bestimmte Reserven nicht verfügbar sind, aber es ist einfacher, Gewalt gegen die Bevölkerung in einem afrikanischen Land oder in Serbien zu delegieren als in einem westeuropäischen Land.
7„Das Verteidigungsministerium ist der größte Einzelverbraucher von Energie in den USA und sogar der größte institutionelle Verbraucher von Erdöl weltweit. … wäre das US-Militär eine Nation, würde es zu den 50 größten Treibhausgasemittenten der Welt gehören und damit noch vor Schweden oder Dänemark liegen“. Neta C. Crawford, Pentagon Fuel Use, Climate Change, and the Costs of War, Boston University, November 2019.
8„Unsere Schätzung hat eine ziemlich große Unsicherheit – wir haben zwischen 3,3 % und 7,0 % [der globalen Emissionen] berechnet – aber es ist auch wichtig zu wissen, dass diese Zahlen die weiteren Auswirkungen des Krieges nicht berücksichtigen. Dazu gehören: Brände in Lagern für fossile Brennstoffe und in Gebäuden, Brände und andere Schäden an Wäldern, Ernten und anderen biologischen Kohlenstoffspeichern, Flüchtlingsströme, die medizinische Versorgung der Überlebenden und der Wiederaufbau nach Konflikten. Unsere Schätzung berücksichtigt auch nicht die Klimaerwärmung durch die Auswirkungen der militärischen Flugzeugemissionen in der Stratosphäre“. Dr. Stuart Parkinson, „How big are global military carbon emissions?“ Zeitschrift Responsible Science Nr. 5; Juli 2023.
9Transnational Institut. Climate Collateral. How military spending accelerates climate breakdown. November 2022.
10UNODC – UN Women, Gender-related killings of women and girls (femicide/feminicide), November 2023.
11Oxfam-Bericht „Inequality Inc“, Januar 2024.
12Es gibt eine Diskussion darüber, wie man das, was im Gazastreifen passiert, nennen soll: Massaker, ethnische Säuberung, Genozid…? In der Tat gibt es kein „richtiges“ Wort, keine angemessene Terminologie, keine Worte, um das Grauen zu beschreiben. Aus antikapitalistischer Sicht wäre es vielleicht sinnvoll, daran zu erinnern, dass diese Art der „Bestrafung“ mit einem Verhältnis von 1:30 zu 1:100 (30-100 getötete „Untermenschen“ für jeden getöteten Europäer) seit langem und bis vor kurzem die Standardprozedur des europäischen/westlichen Kolonialismus war: Das Massaker von Sétif und Guelma (Algerien) im Jahr 1945, das Massaker von Mỹ Trạch (Vietnam) im Jahr 1947 und die Massenhinrichtungen, Folterungen, Kriegsvergewaltigungen, das Abfackeln ganzer Dörfer, kollektive Bestrafungen und andere Gräueltaten während des madagassischen Aufstandes (Madagaskar, 1947-1949) werden die Französische Republik immer stigmatisieren – massive Gräueltaten, die denen der britischen Armee in nichts nachstehen: die Kopfjagd auf Rebellen bei der Niederschlagung der Revolte in Malaya (1948-1960), die „fragwürdigen Methoden“ bei der Niederschlagung der irakischen Revolte 1920, das Massaker von Jallianwala Bagh (Indien) 1919 oder die so genannte „Strafexpedition nach Benin“ (1897). Dann gibt es noch das Massaker von Shar al-Shatt (Libyen) von 1911 durch italienische Truppen, die chemischen Waffen, die General Franco einsetzte, um den Aufstand der Berber gegen die Kolonialherrschaft in der Rif-Region (1921) niederzuschlagen, ganz zu schweigen von dem Genozid an den Herrero und Nama 1904-1908 durch das Deutsche Reich, die Millionen von Kongolesen, die in den Kautschukplantagen des von König Leopold II. von Belgien besessenen „Kongo-Freistaats“ (1885-1908) starben, oder den Aphorismus von General Sheridan „Der einzige gute Indianer ist ein toter Indianer“ („Indianerkriege“, 1866-1869).
13Yuval Abraham, „ A mass assassination factory: Inside Israel’s calculated bombing of Gaza“, +972 Magazine, 30. November 2023.
14Online hier: https://www.jadaliyya.com/Details/45544
15Hunderttausende Menschen haben am Samstag, den 25. November 2023 (Internationaler Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen), in ganz Italien an Protesten teilgenommen, um ihre Wut und Bestürzung über den Mord an der 22-jährigen Giulia Cecchettin durch ihren Ex-Freund Filippo Turetta zum Ausdruck zu bringen. Es gab eine Debatte, weil einige jüdische Feministinnen und Mitglieder der jüdischen Gemeinde behaupteten, Non una di meno kümmere sich nicht um die von der Hamas am 7. Oktober vergewaltigten Frauen. Diese Art von Kritik wurde vom rechten Flügel benutzt, um den feministischen Kampf gegen patriarchale Gewalt zu disqualifizieren. Dies ist ein Beispiel dafür, wie der Krieg ein Mittel ist, um die Räume des Kampfes zu schließen und zu untergraben.
16Etwa 7.500 Menschen aus 24 verschiedenen Ländern nahmen an einem Karawanenprotest teil, der sich vom mexikanischen Bundesstaat Chiapas in Richtung der Grenzen zu den USA bewegte. Die meisten Migranten stammten aus Mittelamerika, Kuba, Venezuela und Haiti, aber einige kamen auch aus der Türkei, dem Iran, Syrien und Kamerun.
17Obwohl es im Internet kursierte, wurde es wahrscheinlich nur an die Wände mehrerer Städte im griechischen Staat geklebt: Chania, Patras, Larissa, Ioannina, Thessaloniki und Athen.
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Aus der dritten Ausgabe der anarchistischen Publikation aus dem Balkan Antipolitika, die Übersetzung ist von uns.
Im Verlies des Nationalismus
Die Kommunistische Partei Jugoslawiens und die nationale Frage
Einleitung
Wenn vom Zerfall des sozialistischen Jugoslawiens die Rede ist, wird als eine der Ursachen der jahrhundertealte ethnische Hass zwischen Serben und Kroaten genannt, aufgrund dessen der Staat, der sie zu vereinen versuchte, einfach nicht überleben konnte. Abgesehen davon, dass dieses Argument nationalistisch ist und die Geschichte des sozialistischen Jugoslawiens bis zur Absurdität vereinfacht, projiziert es auch Vorstellungen über die Ethnien der Menschen auf dem nördlichen Balkan in die Geschichte zurück, die ihre heutige Form gerade während der Zeit des sozialistischen Jugoslawiens angenommen haben. Im 19. Jahrhundert wie auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts existierten heterogene Vorstellungen darüber, wer die Menschen im Norden des Balkans sind, welchen Namen man für sie verwenden sollte, ob sie eine Nation oder mehrere Nationen sind usw., und sie hingen in hohem Maße von den aktuellen politischen Interessen der Vertreter einer bestimmten Idee ab1.
Die Verbrechen des Ustascha-Regimes im Zweiten Weltkrieg bestätigten auf blutige Art und Weise eine bis dahin politisch und gesellschaftlich marginale Vision der ethnischen Beziehungen auf dem nördlichen Balkan. So sehr der Sieg des Nationalen Befreiungskampfes (NBK, NOB) unter der Führung der Kommunistischen Partei Jugoslawiens (KPJ) die Negation dieser Vision war, so wenig gelang es dem etablierten Staat, der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (SFRJ), mit seiner nationalen Politik die künstlichen ethnischen Trennungen zu dekonstruieren, sondern stattdessen die Bindungen von Territorium, Ethnizität und staatlicher Verwaltung zu institutionalisieren und zu stärken. Die Gefühle und Ideen über Nationen, die die heutigen Menschen mit Lebenserfahrung in Jugoslawien und Post-Jugoslawien haben, sind nicht das Ergebnis historischer Ereignisse und Ideen von Figuren aus dem 18., 19. und frühen 20. Jahrhundert, die heute Teil individueller nationaler Erzählungen sind2. Die Annahme einer Kontinuität dieser Ideen bis in die Gegenwart ist eine ahistorische und nationalistische Idee. Diese Gefühle und Ideen sind vor allem das Ergebnis der jahrzehntelangen Institutionalisierung der Nationen in den jugoslawischen sozialistischen Republiken, der Institutionalisierung der kapitalistischen Verhältnisse und all dessen, was dies in der Alltagserfahrung der Menschen mit sich bringt. Als Anhänger der Komintern und der bourgeoisen Ideologie der nationalen Befreiung3 von Lenin war die Idee, dass eine Alternative zum Königreich Jugoslawien etwas anderes sein könnte als eine andere Form der Staatsmacht, schon sehr früh (1920) aus dem Horizont der politischen Ansichten der KPJ verschwunden. Aufgrund der gleichen Loyalität zu Lenin war die KPJ der Hauptbefürworter des Fortschritts und der kapitalistischen Entwicklung, die notwendigerweise mit dem Nationalismus verflochten sind. Dank der Politik der KPJ und der SFRJ wird die Reproduktion des Lebens der Arbeiterinnen und Arbeiter ein Nebenprodukt der Reproduktion des Staates und des Kapitals bleiben, und die „befreiten“ Menschen der unterdrückten Nationen werden die Grundlage der zukünftigen nationalen Polizei und der nationalen Armeen sein.
Ziel des vorliegenden Textes ist es, einen Überblick über die Politik der Kommunistischen Partei Jugoslawiens in der nationalen Frage von ihrer Gründung 1919 bis zum Zusammenbruch der SFRJ 1991 zu geben; sie in Bezug auf ihren historischen, sozialen und ökonomischen Kontext aus einer Perspektive zu betrachten, für die die einzige Alternative zur kapitalistischen Gesellschaft durch eine vollständige Zerlegung ihrer Grundelemente – abstrakte Arbeit, Warenproduktion, Geschlecht, Staat und Nation – erreicht werden kann. Die Geschichtsschreibung aus der Zeit der SFRJ bewertet die nationale Politik der KPJ im Laufe der Geschichte aus einem leninistischen Blickwinkel, indem sie alles, was ihr nahe steht, als positiv und alles, was von Lenins Konzeptionen abweicht, als wahnhaft oder dem Problem nicht angemessen bewertet. Auch die zeitgenössische Geschichtsschreibung nähert sich der Bewertung dieser Politiken ausschließlich aus der bourgeoisen Dichotomie von rechts oder links, und nicht aus der Perspektive der Arbeiterinnen und Arbeiter. Die rechte Perspektive sieht in Jugoslawien nur die Unterdrückung der nationalen Freiheiten, was, wie wir sehen werden, sehr weit von der Wahrheit entfernt ist. Die linke Perspektive lässt sich weitgehend von der Logik der Eroberung und der Bewahrung der Kontinuität der Staatsmacht leiten und bewertet die Politiken positiv, die ihrer Meinung nach zum Einfluss der KPJ und zur Stabilität der SFRJ beigetragen haben.
Der Text gliedert sich in drei Kapitel: Nationalismus als Strategie zur Eroberung der Macht (von der Gründung der Partei 1919 bis zum Kriegsende 1945), Nationalismus und primitive Akkumulation (die Zeit des so genannten revolutionären Etatismus 1945-1963) und Nationalismus und die Herrschaft des Staates über die Gesellschaft (die Zeit der so genannten sozialistischen Selbstverwaltung ab 1963). In diesen Abschnitten wird die nationale Politik der KPJ in Bezug auf ihre Rolle als Förderer der Interessen des Kapitals, Anführer der Industrialisierung und Hüter der Staatsmacht dargestellt. Da der historische Zeitraum, den der Text abdeckt, bereits recht umfangreich ist, werde ich der Kürze halber nicht auf Phänomene des Nationalismus eingehen, die nicht in engem Zusammenhang mit der Parteipolitik, den Debatten über den Nationalismus und das politische System Jugoslawiens in den späteren 80er Jahren, den Verfassungsänderungen von 1988 und den darauf folgenden Ereignissen stehen, die zum Zerfall Jugoslawiens führten4.
Nationalismus als Strategie zur Erlangung der Macht
Von der Gründung der Partei 1919 bis zum Ende des Krieges 1945
Unsere Parteien müssen wissen, dass sie nicht nur für den Achtstundentag usw. kämpfen, sondern auch dafür, unter den gegebenen Umständen die Massen zu gewinnen, sie müssen wissen, dass die nationale Frage in vielen Ländern eine unserer stärksten Waffen im siegreichen Kampf gegen das bestehende Regime ist.
Sinowjew, Schlussbemerkung
Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale
III. Erweitertes Plenum, Juni 1923
Der Erste Weltkrieg brachte die als jugoslawisch geltenden Völker in eine ungleiche politische Lage. Das serbische Bürgertum hatte einen Nationalstaat und strebte die Befreiung und Vereinigung der noch nicht befreiten Serben an. Die kroatische Bourgeoisie war gespalten, ohne Nationalstaat, aber mit einer gewissen Autonomie und einem starken Einfluss des Staatsrechts auf ihre nationale Ideologie. Albanien war Teil des Osmanischen Reiches. Die slowenische Bourgeoisie lebte in mehreren Kronländern, ohne Nationalstaat und Staatstradition. Die montenegrinische Bourgeoisie baute ihren Nationalstaat auf und betrachtete sich gleichzeitig als Teil Serbiens, aber mit eigenen nationalen Merkmalen. Das mazedonische Segment wurde nicht als Nationalität anerkannt und war das Objekt der Aneignung durch mehrere Bourgeoisien der Balkanstaaten. Bis zur Gründung der Kommunistischen Partei Jugoslawiens stand die Arbeiterbewegung in Slowenien, Bosnien und Herzegowina, der Vojvodina und Kroatien unter dem Einfluss Österreichs und Ungarns, während die Bewegung in Serbien von der deutschen Sozialdemokratie beeinflusst wurde. Die sozialdemokratischen Parteien in den jugoslawischen Ländern, die Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegründet wurden, machten in Bezug auf die nationale Frage eine lange und unterschiedliche Entwicklung durch. Die Sozialdemokratische Partei Serbiens (SSDP) agierte in einem unabhängigen Nationalstaat, in dem die serbische Bourgeoisie ihr nationales Programm aufstellte, und im Zusammenhang mit der noch nicht abgeschlossenen Befreiung und Vereinigung des serbischen Volkes. Als Partei eines unabhängigen Staates genoss die SSDP größere Unabhängigkeit in der II. Internationale und die nationale Frage war für sie in erster Linie eine politische und ökonomische Frage. Auf der anderen Seite, war die nationale Frage bis zum Krieg aufgrund der Unterentwicklung der sozialistischen Bewegung und ihrer Unterordnung unter die Sozialdemokratische Partei Österreichs in der II. Internationale, für die sozialdemokratischen Parteien unter der österreichisch-ungarischen Herrschaft die nationale Frage eine kulturelle Frage innerhalb der Grenzen des Legitimismus und der Forderung nach einer demokratischen und föderalistischen Umgestaltung der österreichisch-ungarischen Monarchie. Die Wahrnehmung der nationalen Frage als kulturelle Frage änderte sich jedoch nach den Balkankriegen und dem Sieg Serbiens.5 Die SSDP war die erste, die das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker, die Idee des Zusammenhangs zwischen dem Kampf um soziale und nationale Befreiung und die Föderation auf dem Balkan als Formel für die Lösung der Balkanfrage aufstellte. Nach der Vereinigung des Königreichs Serbien, Montenegro und der südslawischen Teile Österreich-Ungarns im Jahr 1918 zum Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (ab 1929 Königreich Jugoslawien)6 verstand die SSDP den neuen Staat als Nationalstaat und die Serben, Kroaten und Slowenen als eine Nation. In der Frage der Staatsform befürwortet sie den Zentralismus, der ihrer Meinung nach große Vorteile für den Kampf des Proletariats bietet, und in der nationalen Frage den Unitarismus.7
Im Dezember 1918 initiierten die Führungen der sozialdemokratischen Parteien in Serbien und Bosnien und Herzegowina die Vereinigung der Arbeiterorganisationen im neuen Staat. Der Kongress zur Vereinigung der sozialdemokratischen Parteien und Organisationen fand vom 20. bis 23. April 1919 in Belgrad statt. Auf diesem Kongress wurde die Gründung der Sozialistischen Arbeiterpartei Jugoslawiens (Kommunisten) (Socijalistička radnička partija Jugoslavije (komunista) – SRPJ(k)) beschlossen. Neben den Mitgliedern der sozialdemokratischen Parteien bestand sie hauptsächlich aus unabhängigen Linken, von denen viele, zumindest in den ehemaligen österreichisch-ungarischen Gebieten, aus den Reihen der Nationalistischen Jugend kamen8. Die Einigung Jugoslawiens 1918 wurde von der gesamten jugoslawischen Sozialdemokratie unterstützt. Die SRPJ(k) akzeptierte die Vereinigung als Ergebnis der nationalen Revolution der jugoslawischen Bourgeoisie, lehnte aber den Monarchismus und Zentralismus des rechtlichen und politischen Systems ab. Sie erkannte drei nationale Bourgeoisien an – die kroatische, die serbische und die slowenische -, aber nicht, dass es drei Völker gibt. Für sie waren das vielmehr drei historische Bezeichnungen für ein und dasselbe Volk. Nationalistische Konflikte sind also die Konflikte der nationalen bürgerlichen Parteien, die sich aus dem kapitalistischen System und aus der Art und Weise ergeben, wie die Einigung vollzogen wurde. Als Lösung der nationalen Frage traten sie für eine Reorganisation der Monarchie in eine Republik und einen Nationalstaat mit weitestgehenden Selbstverwaltungsrechten der Regionen, Bezirke und Gemeinden ein.
Delegierte des ersten Kongresses der SRPJ(k) vor dem Hotel Slavija, Belgrad, 1919
Von ihrer Gründung an akzeptierten die „Radikalen“ innerhalb der SRPJ(k) die Ideen der III. Internationale: die Idee eines bewaffneten Weges zum Sozialismus durch die Vereinigung der Arbeiterbewegungen der jugoslawischen Völker zu einer einzigen proletarischen Front; die These von der einheitlichen jugoslawischen Nation; die Idee, dass die Errichtung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen den reinen Klassenkampf des Proletariats erleichtert und dass die nationale Frage eine bourgeoise Frage ist. Auf der anderen Seite standen die „Zentristen“ für legale Formen der Aktion und soziale Reformen. Sie akzeptierten die Haltung zur nationalen Einheit der Serben, Kroaten und Slowenen, waren aber gegen die Zentralisierung der Partei und glaubten, dass ihre Föderalisierung der Idee der nationalen Einheit dienen könnte.
Es sollte erwähnt werden, dass der Standpunkt der Komintern zur Vereinigung der jugoslawischen Völker, der in der Proklamation an die kommunistischen Parteien des Balkans 1920 zum Ausdruck kam, darin bestand, dass das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen durch die bewaffnete Macht der Entente und Serbien als deren Verbündeten geschaffen wurde, ohne die Meinung der Nation zu berücksichtigen. Gestützt auf die Entente, die Bourgeoisie und die nationalistische sozialdemokratische Bewegung, bestand seine Aufgabe darin, eines der Zentren der weltweiten Konterrevolution zu werden und so revolutionäre Bewegungen auf seinem Territorium zu verhindern und sich der russischen und internationalen sozialistischen Revolution entgegenzustellen. Die Komintern lehnte eine solche Vereinigung ab, weil sie nicht auf der Selbstbestimmung der Nation beruhte und weil sie eine erhebliche territoriale Ausdehnung Serbiens bedeutete, was die nationale Frage auf dem Balkan noch komplizierter machte. Ihre Idee war, dass das Proletariat des Balkans nach einer erfolgreichen proletarischen Revolution seine staatliche Vereinigung in einer föderierten sozialistischen Balkan- (oder Balkan-Donau-) Sowjetrepublik erreichen würde.
Auf dem Zweiten Kongress der SRPJ(k) in Vukovar vom 20. bis 25. Juni 1920 wurde die „radikale“ Strömung zur dominierenden. Die Partei änderte ihren Namen in Kommunistische Partei Jugoslawiens (KPJ) und trat der Komintern bei. Ein Teil der Zentristen verließ den Kongress, und die übrigen wurden im Dezember 1920 aus der Partei ausgeschlossen. Die Position der Komintern, dass das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen8 durch die Sowjetrepublik Jugoslawien ersetzt werden müsse, die der Föderation der Balkan-Donau-Länder9 beitreten und Teil der internationalen Föderation der Sowjetrepubliken sein sollte, wurde nun akzeptiert. Sie lehnten jedoch die Vorstellung der Komintern von einem erweiterten Serbien und einer serbischen Hegemonie ab und behaupteten, dass es in dem neuen Staat nur eine Nation, die jugoslawische Nation, sowie nationale Minderheiten geben würde.
Zweiter Kongress der SRPJ(k) in Vukovar , 1920
Trotz des großen Erfolgs der Partei bei den Wahlen im August 1920 wurden bereits Ende des Jahres die Mandate der KPJ in der Nationalen Vollversammlung durch das Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und der staatlichen Ordnung (zakon o zaštiti javne bezbednosti i poretka u državi) annulliert, die Führung wurde verhaftet, ins Exil gezwungen und illegalisiert. Zwei zentrale Fragen wurden für die Partei zentral, die Frage der Fortsetzung der kommunistischen Tätigkeit unter den Bedingungen der Illegalität und die nationale Frage. In den Debatten bildeten sich zwei Lager heraus – „links“ und „rechts“. Die so genannte „Linke“ begann zu glauben, dass die Unterdrückung der Nation und der Klasse miteinander verbunden sind, und akzeptierte schließlich die Position der Komintern, dass die serbische Bourgeoisie die slowenische und kroatische Bourgeoisie unterdrückte, was deren Tendenz zum Föderalismus oder sogar offen antijugoslawische Gefühle fördert. Sie waren der Meinung, dass nationalistische Initiativen in bestimmten Regionen nicht erstickt werden sollten, da dies den Separatismus nur stärken kann. Vielmehr sei es notwendig, die ererbten politischen Traditionen zu respektieren, da die Arbeiterklasse unterdrückter Nationen nicht gleichgültig gegenüber der nationalen Position ihrer Nation sein könne. Nach Ansicht der „Linken“ muss die KPJ mit Separatismus und Föderalismus rechnen, auch wenn es sich dabei um Illusionen handelt. Einige der prominenten „Linken“ waren Đuro Cvijić, Vladimir Ćopić, Ante Ciliga10, Kamilo Horvatin, Kosta Novaković und Triša Kaclerović.
Der „rechte“ Flügel begann zunächst, von den drei Nationen zu sprechen. Die nationale Frage wurde jedoch von den Aufgaben des Klassenkampfes getrennt. Sie vertraten die Auffassung, dass der Staat nicht auf einer ethnisch-föderalen Basis organisiert werden sollte, sondern auf der Grundlage der Autonomie der einzelnen Segmente der jugoslawischen Völker, eine Idee, die der ursprünglichen Idee von Jugoslawien als zentralistischem Staat, die die KPJ 1919 vertrat, nahe kam. Die nationale Frage sollte von der nationalen Bourgeoisie gelöst werden, und die KPJ muss die auf dem Klassenkampf beruhenden sozialen Veränderungen beschleunigen, die dazu führen werden, dass diese Frage von der Tagesordnung verschwindet. Die Einschätzung der „Rechten“ lautete, dass die Revolution noch weit entfernt sei und dass die Autonomie das beste Mittel sei, um ethnische Spaltungen zu verhindern. Sie lehnten die These von der serbischen Bourgeoisie als einziger Ursache für das Entstehen nationaler Spannungen ab und unterschieden nicht zwischen den bürgerlichen Parteien an der Macht und denen in der Opposition, was nach Ansicht der „Linken“ eine Position sei, die die Möglichkeit der Ausweitung der verbündeten Front einschränke. Prominente „Rechte“ waren Sima Marković11, Lazar Stefanović und Ljuba Radovanović, die alle der Sozialdemokratischen Partei Serbiens aus der Vorkriegszeit angehörten.
Sowohl für die „Linken“ als auch für die „Rechten“ war die nationale Frage ein Mittel, um ein Ziel zu erreichen, nämlich die sozialistische Revolution. Die „Linken“ beschuldigten jedoch die „Rechten“, sich den separatistischen und föderalistischen Ideen der kroatischen Arbeitermassen entgegenzustellen und bürokratische Zentralisten zu sein. Die „Linken“ glaubten, dass der Föderalismus den revolutionären Prozess beschleunigen würde, weil die beschleunigte Lösung der nationalen Frage den Staat destabilisieren würde. Die „Rechten“ hingegen glaubten, dass der Autonomismus zum selben Ziel beitragen würde, da die Vermeidung der nationalen Frage die ungünstigen Auswirkungen des Nationalismus auf die Einheit der Arbeiterklasse verhindern würde. Diese Meinungsverschiedenheit über die nationale Frage wird bis nach der III. Nationalen Konferenz (1924) bestehen. Interessant ist die Willkürlichkeit, mit der diese Positionen als „links“ und „rechts“ bezeichnet werden. Die Position, die sich durchsetzte, nannte sich später „die Linke“. In der Geschichtsschreibung aus der Zeit des sozialistischen Jugoslawien findet sich eine durchgängige Übereinstimmung mit der Position der „Linken“, meist gefolgt von der Feststellung, dass die „Rechte“ die Situation nicht „realistisch“ gesehen habe. Eine „realistische“ Position war also diejenige, die zu mehr Macht führte.
Nach dem IV. Kongress 1922 gewann die Komintern mehr und mehr Autorität über die Mitgliedsparteien, und es wurde eine Sonderkommission für die KPJ gebildet. Die Kommission stellte fest, dass die nationale Frage von zentraler Bedeutung für den Konflikt innerhalb der KPJ war. Als Lösung für die Situation auf dem Balkan betonte der KPJ-Delegierte auf dem IV. Kongress den „Kampf gegen den imperialistischen Frieden und den imperialistischen Krieg“ sowie die Föderative Sowjetrepublik der Donau- und Balkanländer.
Die nationale Frage wurde offiziell auf die Tagesordnung der II. Nationalen Konferenz der KPJ in Wien im Mai 1923 gesetzt. Eines der Hauptprobleme war die so genannte kroatische Frage, d.h. die massenhafte Unterstützung der kroatischen Arbeiterinnen und Arbeiter und der Bauernschaft für die Kroatische Bauernpartei (Hrvatska seljačka stranka, HSS), und eine ähnliche Situation in Bosnien und Herzegowina und Slowenien. Die serbische hegemoniale und zentralistische Politik wurde zur Hauptursache einer solchen Situation erklärt. Nationale Konflikte wurden nun als Konflikte ganzer Stämme und nicht nur der Stammesbourgeoisie interpretiert. Die Konflikte der Bourgeoisie wurden durch die ungleiche ökonomische Entwicklung dieser Bourgeoisien verursacht. Die Frage der national getönten Bewegungen der mazedonischen Türken, Deutschen, Ungarn, Bunjevci und Rumänen wurde angesprochen. Die Mazedonier wurden nicht als Nation oder Stamm bezeichnet, und der Begriff „Stamm“ wurde für Serben, Slowenen und Kroaten verwendet, obwohl es auch hier ein Dilemma bei der Verwendung dieses Begriffs gab. Der Begriff „Nation“ wurde für nichtslawische Völker wie Deutsche, Ungarn usw. und der Begriff „Bevölkerung“ nur für Mazedonier verwendet. Im Rahmen der Konferenz wurde beschlossen, dass es notwendig ist, eine Debatte über die nationale Frage zu eröffnen und dass die Genossen, die an dieser Frage interessiert sind, sie in der Parteipresse diskutieren sollen. Die Debatte wurde im Rahmen der Unabhängigen Arbeiterpartei Jugoslawiens (Nezavisna radnička partija Jugoslavije, NRPJ) geführt, der legalen Partei, über die die KPJ bis zum Verbot der NRPJ im Jahr 1924 tätig war. Im selben Jahr rief die Zeitschrift Borba (1924 verboten, ebenso wie die Zeitschrift Radnik) zu einer Debatte über die nationale Frage auf.
Das Buch Die nationale Frage im Lichte des Marxismus von Sima Marković stellt einen besonderen Beitrag zu dieser Debatte dar. Es war die erste umfassende theoretische Arbeit über die nationale Frage nach der Vereinigung. Marković vertrat die Ansicht, dass der politische Diskurs bis 1920 von sozialen und danach von nationalen Themen dominiert wurde, was dazu neigt, „die soziale Struktur des politischen Lebens zu verschleiern und den Klassenkampf zu verwischen…“. Die erste Periode ist gekennzeichnet durch ein Klassenbündnis der Bourgeoisie mit dem Ziel, ihre Macht zu stabilisieren, und in dieser Periode hatten weder die slowenische noch die kroatische Bourgeoisie ein Interesse daran, ihre nationalen Themen zu betonen. In der zweiten Periode wurde die bourgeoise Herrschaft konsolidiert und die slowenische und kroatische Bourgeoisie schlossen sich zusammen, während die Hegemonie der serbischen Bourgeoisie stärker wurde. Marković akzeptierte die These der Komintern über die Hegemonie der serbischen Bourgeoisie, betonte aber, dass es sich nicht um eine politische, sondern um eine ökonomische Hegemonie handele. Er lehnte die Idee des nationalen Jugoslawismus ab und ersetzte sie durch das Konzept des jugoslawischen Staates als einer multinationalen Gemeinschaft. Marković zufolge würden die republikanische demokratische Ordnung und der nationale Frieden Raum für den Kampf der Arbeiterinnen und Arbeiter schaffen. Er vertrat die Auffassung, dass Föderation und Konföderation unter den jugoslawischen Bedingungen nur eine Parole des separatistischen bourgeoisen Nationalismus sein können, gegen den die Arbeiterklasse ebenso kämpfen muss wie gegen den serbischen zentralistischen Imperialismus. Als Lösung zwischen Zentralismus und Föderalismus schlug er kulturelle und politische Autonomie für die Provinzen, für alle Nationen, Teile von Nationen und nationale Minderheiten vor, die erklärt haben, dass sie in einem gemeinsamen Staat sein wollen. Eine solche Lösung würde den Slowenen und Kroaten eine Garantie gegen die serbische Hegemonie bieten. Marković betrachtete das Selbstbestimmungsrecht der Völker bis hin zur Sezession nicht als verbindliche Angelegenheit, sondern als eine sinnvolle Frage, die durch die Verfassung geregelt werden sollte. Dennoch glaubte er, dass sich die Mehrheit der Nationen für den jugoslawischen Staatsrahmen entscheiden würde.12
Sima Marković
Während der Debatte kristallisierten sich drei Positionen heraus. Die erste, die in der extremen Minderheit war, leugnete die Existenz der nationalen Frage im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen. Die zweite, die versuchte, die frühere Politik der Partei zu rechtfertigen, behauptete, dass die nationale Frage erst nach 1920 aufkam. Die dritte Position lautete, dass die nationale Frage seit Beginn der Gründung des Königreichs bestanden habe und dass die Idee, sie zu leugnen, zutiefst irrig sei.
Auch die Idee des Föderalismus wurde diskutiert, wobei August Cesarec13 den größten Beitrag leistete. Er betrachtete die Föderation nicht als ein Prinzip, sondern als eine Etappe, die als Übergangsform auch nach der proletarischen Revolution notwendig sein wird. Seiner Meinung nach kann das Ziel, eine Föderation zu erreichen, nicht nur deshalb als bourgeois betrachtet werden, weil ihr Träger die Bourgeoisie ist, was er mit dem Gedanken erklärt, dass es nationale Bewegungen unterdrückter Nationen gibt, die nach der Vollendung ihrer nationalen Revolution streben. Selbst wenn dies zu zusätzlichen nationalen Spannungen führe, könne die Föderation deren Lösung erleichtern, indem sie die Menschen sensibilisiere, nationalistische Wahnvorstellungen aufzugeben und Beziehungen zu schaffen, die für den Klassenkampf bereit seien, so Cesarec. So deutete er an, dass die Interessen der Bourgeoisie, nationale Revolutionen zu vollenden, mit den Interessen der Menschen übereinstimmen, die dieser Nation zugerechnet werden. Gleichzeitig wird der Nationalismus als eine Obsession betrachtet, die die Menschen aufgeben werden, sobald sie in einen ökonomischen und institutionellen Rahmen gebracht werden, der nationalistische Gefühle und Konflikte tatsächlich fördert.
August Cesarec
Das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale (EKKI) verweist in seinem Bericht auf dem III. erweiterten Plenum im Juni 1923 auf den großen Erfolg der HSS bei den Wahlen zur Nationalen Vollversammlung. Sie schrieben, dass die HSS das revolutionäre Gefühl des bäuerlichen Proletariats hervorragend ausnutzt und in ihrer Agitation eine revolutionäre, antimonarchistische Rhetorik verwendet14. Die nationalen Gefühle der arbeitenden Massen werden ihrer Meinung nach auch von der slowenischen und kroatischen Bourgeoisie ausgenutzt. Im Gegensatz zu ihnen nimmt die KPJ keine „richtige Position“ zur nationalen Frage ein, weshalb sie auch keine entsprechenden Parolen formuliert und letztlich keine Verbindung zu den Bauernmassen und dem Industrieproletariat herstellt15. Darüber hinaus wurde auf dem Plenum selbst festgestellt, dass es unter einigen kommunistischen Parteien einen „Nihilismus gegenüber der nationalen Frage“ gibt, und auch die KPJ wurde unter diesen Parteien genannt. Sinowjew hob Sima Marković als den einzigen aus der Führung der KPJ hervor, der die nationale Frage richtig verstanden habe, und er selbst glaubte, dass die nationale Frage einer der wichtigsten Hebel für den Sturz des Regimes im Reich der Serben, Kroaten und Slowenen sei16. Das EKKI kam zu dem Schluss, dass die kommunistischen Parteien ihre Haltung gegenüber dem „reinen Klassenkampf“ überdenken und ihren Kampf als den Kampf der gesamten Nation für den Sozialismus verstehen müssen. Die KPJ muss die Front der Verbündeten unter der Bauernschaft und der petite Bourgeoisie erweitern.
Nach dem III. Plenum des EKKI beginnt die KPJ, die Idee des Selbstbestimmungsrechts der Völker bis zur Sezession zu vertreten und die Idee der Teilung Jugoslawiens abzulehnen, es sei denn, es ist im Interesse des Fortschritts und des Klassenkampfes des Proletariats, d.h. es ist nicht opportun. Diese Entscheidung lag jedoch bei der NRPJ (KPJ). Von diesem Moment an begann die KPJ, an der Zusammenarbeit mit den Bauernparteien zu arbeiten und über Serben, Slowenen und Kroaten als Nationen zu sprechen. Dementsprechend wurde die Position zur Vereinigung im Jahr 1918 revidiert – man glaubte nun, dass die Vereinigung der drei jugoslawischen Nationen zum ersten Mal vollzogen wurde. Diese Nationen sind zwar ethnisch verwandt, aber dennoch unterschiedlich.
Auf der III. Nationalen Konferenz im Januar 1924 tauchte der Gedanke auf, dass die Erhaltung der Einheit des jugoslawischen Staates die Richtung des historischen Fortschritts und das Interesse des Klassenkampfes des Proletariats sei. Neben der Frage der politischen Stellung der kroatischen und slowenischen Nation befasst sich die KPJ auch mit der Frage der Autonomie Montenegros und der Gewalt, Kolonisierung und Assimilierung Mazedoniens, sowie mit den Bewegungen für die Autonomie Bosniens und der Vojvodina. Zum ersten Mal wird die Existenz der mazedonischen und montenegrinischen Nation anerkannt. Für den künftigen Staat wählten sie den Namen Föderative Arbeiter- und Bauernrepublik Jugoslawien, und für die derzeitige Monarchie forderten sie die Abschaffung der vidowdischen Verfassung und die Annahme einer republikanisch-föderalistischen Verfassung, die mehr Gleichheit für alle Nationen ermöglichen sollte. Es wird der Zusammenhang zwischen der nationalen und der bäuerlichen Frage diskutiert und die Schlussfolgerung gezogen, dass die proletarische Revolution unter den Bedingungen der sozialen und nationalen Struktur des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen unmöglich ist, ohne den Kampf der Arbeiterklasse mit dem Kampf der Bauernmassen zu verbinden. Wenn es also eine Möglichkeit gibt, Unterstützung für die Eroberung der Macht zu gewinnen, muss sie Teil des Klassenkampfes sein.
Als Ergebnis der Konferenz wurde die Resolution zur nationalen Frage verabschiedet. Sie kamen zu dem Schluss, dass es im Interesse des „historischen Fortschritts und des Befreiungskampfes des arbeitenden Volkes ist, dass 1) die Hegemonie der serbischen Bourgeoisie und ihrer militaristischen Clique, die eine der Haupthochburgen der Konterrevolution auf dem Balkan ist, durch die Verwirklichung des vollen Rechts der Nationen auf Selbstbestimmung beseitigt wird, 2) dass die Arbeiterklasse den Kampf der Bauernmassen und der unterdrückten Nationen gegen den Kapitalismus unterstützt, 3) dass durch die Vereinigung der Werktätigen verschiedener Nationen in einem gemeinsamen Kampf gegen den Kapitalismus die Voraussetzungen für die Schaffung einer föderativen Arbeiter- und Bauernrepublik in Jugoslawien, auf dem Balkan und im Donauraum geschaffen werden.“ Darüber hinaus wurde die Resolution zur antimilitaristischen Propaganda verabschiedet, die sich für den Schutz der Nationalitäten in der Armee aussprach, d.h. für die aktive Unterstützung der Bestrebungen der einzelnen Nationen nach Gleichstellung mit der serbischen Armee und für das Recht eines jeden, auf dem Territorium der eigenen Nation in der Armee zu dienen. Nach Ansicht der KPJ ist die Existenz nationaler Armeen daher ein antimilitaristisches Ziel.
Auf ihrem 5. Kongress (Juni-Juli 1924) konkretisiert die Komintern die Idee der Zerschlagung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen, die sie bereits 1920 vorgeschlagen hatte. Sie ist der Meinung, dass die allgemeine Losung der KPJ über das Selbstbestimmungsrecht der Völker in der Form ausgedrückt werden muss, dass Kroatien, Slowenien und Mazedonien aus der Zusammensetzung des Königreichs herausgelöst und unabhängige Republiken geschaffen werden. Die KPJ akzeptierte diese Entscheidung nicht. Die Komintern fand eine Rechtfertigung für diese Idee in der Rede von Filip Filipović, einem Delegierten der Kommunistischen Föderation des Balkans, der das Königreich der Serben, der Kroaten und der Slovenen als eine Einheit als eine Einheit interpretierte, als Agenten der konterrevolutionären Politik des französischen Imperialismus und erklärte, dass die KPJ die Idee der Selbstbestimmung bis zur Abspaltung und vollständigen Unabhängigkeit Mazedoniens, Thrakiens, Dobrudschas, Sloweniens und Kroatiens vertrete, die bereits 1923 auf der Konferenz deder Kommunistischen Föderation des Balkans angenommen wurde.
Im April 1925 verabschiedete das erweiterte Plenum des Exekutivkomitees der Komintern eine Resolution zur jugoslawischen Frage. In der Resolution hieß es: „Keine Furcht, nationale Leidenschaften zu entfachen, darf die Partei daran hindern, in dieser wichtigsten Frage (der nationalen Frage) mit aller Kraft an die Massen zu appellieren. Wenn die Partei Angst vor den aufflammenden Elementen der nationalen Bewegungen hat, wird sie niemals der siegreiche Anführer der großen revolutionären Volksbewegung werden, die in Jugoslawien aus einer revolutionären Verbindung von Arbeitern, Bauern und nationalen Befreiungsbewegungen hervorgehen wird“.17
1925 geriet Sima Marković – der bereits auf dem III. Plenum der Komintern 1921 mit dem Exekutivkomitee der Komintern und Sinowjew wegen ihrer Position zur KPJ aneinandergeraten war, weil er der Meinung war, dass das Exekutivkomitee nicht ausreichend über die Situation im Königreich informiert war – erneut mit Stalin und Dimitri Manuilski wegen der nationalen Frage aneinander. Sie hielten Markovićs Position zur nationalen Frage für sozialdemokratisch und anti-leninistisch, und Stalin warf ihm vor, die nationale Frage auf eine Verfassungsfrage zu reduzieren.18
Auf dem III. Kongress (1926) ignorierte die KPJ weiterhin die Forderung der Komintern nach der Auflösung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen. Nach Ansicht der KPJ ist das Königreich ein multinationaler Staat, in dem die serbische Nation als die herrschende erscheint. Die KPJ hatte begonnen, die Frage der nationalen Ausbeutung auf alle gesellschaftlichen Gruppen innerhalb einer Nation auszuweiten, weshalb die Haltung gegenüber zivilen Oppositionsparteien aus unterdrückten Nationen aufgewertet wurde. Damit erweitert sich auch das Spektrum der möglichen Verbündeten.
1927 bricht der Konflikt um die nationale Frage erneut aus, Sima Marković wurde rausgeworfen und an seiner Stelle trat Đuro Cvijić19, ein Vertreter der gemäßigten „Linken“ auf. Mit dem Ziel, die KPJ zu bolschewisieren, gründete die Komintern das Parallelzentrum der KPJ in Moskau. Die ideologische Grundlage des Parallelzentrums bildete das Frühwerk von Đuro Cvijić, der in den 1920er Jahren dem Parlamentarismus und den reformistischen Gewerkschaften/Syndikate skeptisch gegenüberstand und das föderalistische Modell Jugoslawiens unterstützte, in dem die einzelnen Nationen das Recht auf Selbstbestimmung bis zur Abspaltung haben.
Đuro Cvijić
Die KPJ akzeptierte die Idee der Komintern über die Notwendigkeit der Aufteilung des Reiches auf dem IV. Kongress 1928 in Dresden. In der Zwischenzeit wurde nämlich der Anführer der HSS, Stjepan Radić, in der Nationalen Vollversammlung erschossen, und auf dem VI. Kominternkongress wurde die Möglichkeit eines imperialistischen Weltkrieges diskutiert. In der KPJ glaubte man, dass die Ermordung von Radić Auswirkungen auf die Radikalisierung der HSS in Richtung der Zerstörung des Königreichs haben würde, und man kam zu dem Schluss, dass ihre neue Aufgabe darin bestand, die kroatische Bauernbewegung und die Bewegungen anderer unterdrückter Nationen mit dem Klassenkampf des Proletariats zu koordinieren. Der integrierte revolutionäre Kampf des Proletariats und der Bauernschaft auf dem Territorium des Königreichs wäre jedoch die zukünftige bourgeois-demokratische Revolution, die nur den Boden für die sozialistische Revolution bereiten würde. Die nationale Frage ist also nicht Teil des Klassenkampfes, sondern muss durch die bourgeoise Revolution gelöst werden. Neben der slowenischen, mazedonischen und kroatischen Frage wurden auf der Konferenz auch die montenegrinische, albanische und ungarische nationale Frage diskutiert.
Im Januar 1929 wurde die Diktatur vom 6. Januar (šestojanuarska diktuatura) eingeführt. König Aleksandar I. Karađorđević löste die Nationale Vollversammlung auf, verbot die Arbeit aller Parteien, Gewerkschaften/Syndikate und politischen Versammlungen, führte die Zensur ein, proklamierte die Ideologie des „integralen Jugoslawiens“ und änderte den Namen des Landes in Königreich Jugoslawien. Als Reaktion auf die Einführung der Diktatur gab die KPJ-Führung eine Direktive für einen bewaffneten Aufstand heraus.
Nach dem Dresdner Kongress begann die KPJ, verschiedene militante nationalistische Organisationen, die gegen die serbische Herrschaft kämpften, zu unterstützen und mit ihnen zusammenzuarbeiten, darunter das Komitee zur Verteidigung des Kosovo (Komitet narodne odbrane Kosova), die Interne Mazedonische Revolutionäre Organisation (Unutrašnja makedonska revolucionarna organizacija, VMRO) und die Ustascha. Während der Diktatur, Anfang der 1930er Jahre, arbeitete die KPJ oft direkt mit kroatischen und mazedonischen Nationalisten zusammen. So organisierten die Ustascha im September 1932 den so genannten „Lika-Aufstand“ („lički ustanak“, auch bekannt als Velebit-Aufstand), d. h. einen Angriff auf eine Polizeistation, an dem zehn Personen beteiligt waren. Aus diesem Anlass schrieb die KPJ eine Proklamation im Parteiorgan Proleter:
„… aus der Tatsache, dass die Ustascha-Bewegung in Lika und Norddalmatien – den ärmsten Regionen Jugoslawiens – ihren Anfang nahm, lässt sich schließen, dass soziale und ökonomische Faktoren eine große Rolle in dieser Bewegung spielen. Aber auch das nationale Element ist von großer Bedeutung, da die Bewegung in den kroatischen Teilen Likas und Norddalmatiens am stärksten entwickelt ist. Die Kommunistische Partei begrüßt die Ustascha-Bewegung der Bauern von Lika und Dalmatien und steht voll und ganz auf ihrer Seite. Es ist die Pflicht aller kommunistischen Organisationen und jedes Kommunisten, diese Bewegung zu unterstützen, zu organisieren und zu führen. …“
Es ist wichtig, an dieser Stelle zu betonen, dass die Ustascha-“Bewegung“ zu diesem Zeitpunkt nur aus einigen hundert Personen bestand. Es handelte sich um eine terroristische Organisation, die von Mussolinis faschistischem Italien unterstützt und finanziert wurde, das auch als Basis für diese Organisation diente. Darüber hinaus wurde der Lika-Aufstand nicht von der lokalen Bevölkerung initiiert, sondern von den Ustascha ohne jegliche Kommunikation mit der lokalen Bevölkerung. Das beweist die Tatsache, dass die Ustascha die für den „Aufstand“ benötigten Waffen aus Italien über Zadar (damals unter italienischer Kontrolle) schmuggelten. Als die jugoslawischen Behörden die Repression gegen die örtliche Bevölkerung durchführten, eine Ausgangssperre verhängten und viele unschuldige Bauern verhafteten, entdeckten sie, dass die örtliche Bauernschaft voll mit Waffen war, da viele aufgrund ihrer Armut in den Waffenschmuggel verwickelt waren. Wären die Ustascha in irgendeiner Weise mit der lokalen Bevölkerung verbunden gewesen, wäre der Waffenschmuggel aus Italien nicht notwendig gewesen. Es stellt sich die Frage, inwieweit die KPJ über die Umstände des Lika-Aufstandes und das Wesen der Ustascha-“Bewegung“ falsch informiert war und inwieweit es sich um ein autoritäres Missverständnis dessen handelt, was soziale Bewegungen sind.
Drei Monate später, in der Proleter-Ausgabe vom Februar/März 1933, wurden die zuvor beschriebenen Positionen des Zentralkomitees der KPJ in Bezug auf die Ustascha-Bewegung bestätigt und die Mitglieder der KPJ zur Unterstützung der „nationalrevolutionären Bewegung“ aufgerufen. Der auf den versuchten Aufstand folgende Polizeiterror brachte die KPJ und die Ustascha, insbesondere die Gefangenen, noch näher zusammen. Im Februar 1933 veröffentlichte Proleter einen großen Artikel mit dem Titel „Für die Hilfe und Befreiung der politischen und militärischen Gefangenen“, in dem die Freilassung aller politischen Gefangenen aus den „großserbischen Gefängnissen“, darunter zahlreiche Ustascha, befürwortet wurde. Anfang 1934 wurde die „Gemeinschaft der politischen Gefangenen: Kroatische Nationalrevolutionäre, mazedonische Nationalrevolutionäre und Kommunisten“ im Gefängnis von Lepoglava mit dem Ziel eines gemeinsamen Kampfes gegen die Diktatur gegründet. Die KPJ war sich des faschistischen Charakters der Ustascha-“Bewegung“ von Anfang an bewusst und verurteilte offiziell die „faschistischen Elemente“, ihre Ideologie und Methoden. Es ist schwer zu sagen, wie es möglich ist, eine Organisation zu unterstützen und gleichzeitig ihre Ideologie und Methoden zu verurteilen. Die leninistische Ideologie der Unterstützung so genannter nationaler Befreiungsbewegungen ermöglichte es der KPJ, eine faschistische Organisation zu unterstützen, in dem Glauben, dass sie damit die armen Bauern von Lika und Dalmatien unterstützte, die gegen Polizeigewalt, Armut und „nationale“ Unterdrückung kämpften.
Während der IV. Nationalen Konferenz der KPJ im Jahr 1934 wurde beschlossen, dass zur Stärkung des Interesses der kroatischen und slowenischen Massen an der Partei und zur Bekämpfung des bourgeoisen Nationalismus innerhalb der KPJ die KP Kroatiens und die KP Sloweniens und in naher Zukunft die KP Mazedoniens gegründet werden sollten, um die Mazedonier zu mobilisieren, da die beiden Nachbarstaaten die Existenz des mazedonischen Volkes weder politisch noch historisch anerkannten.20 Die Idee einer Föderation der Arbeiter- und der Bauernrepubliken auf dem Balkan wurde nicht mehr aufrechterhalten. Das Ziel, Jugoslawien aufzulösen, war viel weniger ausgeprägt und wurde nach der Konferenz ganz aufgegeben. Die KPJ strebte nach größtmöglicher Unabhängigkeit von der Komintern. Die dominierende Linie der Partei wurde der Kampf für nationale und soziale Gleichheit, die Umwandlung Jugoslawiens in einen demokratischen Staat mit gleichberechtigten Nationen und Nationalitäten und die Schaffung einer breiten antifaschistischen Front demokratischer Kräfte.
Bald darauf richten sich die Propagandatexte nicht mehr an die Arbeiterklasse, sondern an die Völker. Ein Text aus dem Jahr 1937 heißt zum Beispiel „Arbeiter! Arbeitendes Volk! Slowenen!“, und die Proklamation der Kommunistischen Partei Kroatiens aus demselben Jahr beginnt mit „Kroatisches Volk!“. In beiden Texten sprechen sie viele soziale Schichten an – Bauern, kleine Händler und Handwerker, ehrliche Intelligenzija, Staatsbürger. In diesen und anderen Texten erklären sie, wie der Kampf der Arbeiter und der Kampf für die nationale Befreiung zusammenhängen, wie die slowenische und kroatische Industrie und die Arbeiter vor fremden Kapitalisten und vor Belgrad geschützt werden sollten. Ihre Interessen sollten vor der Belgrader Bank und der Zentralisierung durch Steuern, finanzielle Mittel und günstige Kredite geschützt werden.
Im selben Jahr 1937 veröffentlichte Stjepan Cvijić, der Bruder von Đuro Cvijić, in Chicago ein Pamphlet über die Volksfront unter dem Titel The Working Class and the Croatian National Movement. Sie wurde in Jugoslawien bald verboten, aber illegal verbreitet. Die in der Broschüre zum Ausdruck gebrachte Haltung von Cvijić entsprach der Haltung der meisten führenden Parteimitglieder zu dieser Zeit. Er unterstützte uneingeschränkt die Linie der Volksfront und forderte die Einsetzung einer neuen verfassungsgebenden Vollversammlung in Jugoslawien, die eine Lösung herbeiführen sollte, die die Mehrheit der Serben, Slowenen und Kroaten zufriedenstellen würde. Darüber hinaus forderte er das nationale Selbstbestimmungsrecht der Montenegriner und Mazedonier. Für ihn ist der Sozialismus das Endziel des Kampfes für ein demokratisches Jugoslawien, das unter anderem den nationalistischen Spannungen im Land ein Ende setzen wird. Er betonte, dass alle „Nationen“ ihre eigenen verfassungsmäßigen Vollversammlungen haben sollten, in denen sie frei über den Beitritt zu Jugoslawien entscheiden könnten. Auch die Völker von Bosnien und Herzegowina, Kosovo und der Vojvodina sollten Vollversammlungen haben. Diese Idee kommt dem Modell von Josip Broz Tito nahe, das während des Krieges eine neue verfassungsgebende Vollversammlung (AVNOJ) sowie Provinzvollversammlungen vorsah und die Grundlage für die Republiken und Provinzen im sozialistischen Jugoslawien bildete.
Während der Periode der Volksfront (1935-1939) erhielt die Politik der KPJ durch die Mobilisierung gegen den Faschismus einige neue Elemente. Obwohl die „großserbische Hegemonie“ der Hauptfeind blieb, griff die KPJ die Versuche der imperialistischen Mächte an, die Nationalismen der Peripherie auszunutzen. In dieser Zeit tauchten vor allem unter dem Einfluss von Tito vorübergehend Elemente des jugoslawischen Patriotismus in der Rhetorik der KPJ auf.
Die Debatten über die nationale Frage verschärften sich im März 1938 nach der Annexion Österreichs durch die Nationalsozialisten und der Ankunft deutscher Truppen an der jugoslawischen Grenze. Mit dem Ziel, den Staat zu verteidigen, gab die KPJ-Führung eine Proklamation heraus, in der sie zur Zusammenarbeit nicht nur mit der Vereinigten Opposition21, sondern auch mit den jugoslawischen monarchistischen Zentralisten und Nationalisten, die gegen die Regierung waren, aufrief. Die Proklamation rief scharfe Kritik der KP Kroatiens (KPH) hervor, deren Führung behauptete, dass eine solche Zusammenarbeit für sie nicht in Frage käme. Einige kroatische Kommunisten machten die Lösung der kroatischen nationalen Frage zur Vorbedingung für ihre Unterstützung eines vereinigten Jugoslawiens. Tito kritisierte eine solche Haltung scharf als sektiererisch. Die kroatische Nationalfrage eskalierte im Dezember desselben Jahres während der Wahlen erneut. Da Kroatien bei den Wahlen 1920 eine der kommunistischen Hochburgen war, hoffte die KPJ, diesen Erfolg wiederholen zu können. Unstimmigkeiten zwischen der Führung der KPJ und der KPH machten dies jedoch unmöglich. Die KPH sahen in der massenhaften Unterstützung für die HSS ein Zeichen dafür, dass in der öffentlichen Meinung nur diese Partei die wahren Vertreter der kroatischen nationalen Interessen war, und glaubten daher, dass eine Konfrontation mit der HSS die Unterstützung der KPJ bei den „Kroaten“ weiter verringern würde. Die KPH betonte immer wieder, dass Kroatien ein Sonderfall in Jugoslawien sei und dass es für die Volksfront das einzig Richtige sei, sich mit der Partei zu verbünden, die die Interessen der „Kroaten“ vertrete und die sie als unterdrückt in Jugoslawien betrachte. Während die KPH eine Taktik der Unterwanderung der HSS und anderer Organisationen der Vereinigten Opposition verfolgte, warfen Tito und die Provisorische Leitung22 ihr vor, sich gegenüber den kroatischen Nationalisten herablassend zu verhalten, obwohl die KPJ bei anderen Gelegenheiten dieselbe Taktik anwendete. Die durch den Fall KPH23 ausgelösten Konflikte um die nationale Frage setzten sich in der Partei auch nach 1940 fort.
Milan Gorkić
Die nationalistische und opportunistische Politik der KPJ wurde während des Krieges besonders deutlich. Die Proklamation des Zentralkomitees der KPJ vom 12. Juli 1941 beginnt mit „Volk von Jugoslawien!“ und wendet sich in getrennten Absätzen an das „kroatische Volk“ und die „Serben“. Er ruft zum Aufstand gegen die Faschisten, die deutschen Besatzer und die Ustascha auf und betont, dass es notwendig ist, das „nationale Erbe“ und die „glorreichen Traditionen“ zu bewahren. Erwähnt werden auch die „Söhne der kroatischen Nation“, der „strahlende kroatische Name“ und die „illustren Vorfahren“. Während der gesamten Kriegszeit betonte die KPJ das Prinzip der nationalen Emanzipation weit mehr als die Idee der sozialen Gerechtigkeit und der sozialistischen Revolution. Abgesehen von politischem Opportunismus war dies auch ein Ausdruck der Loyalität gegenüber den Hauptverbündeten, dem Vereinigten Königreich und der so genannten Sowjetunion, die empfahlen, mitten im Krieg zur Befreiung des Landes von den Besatzern keine politischen Fragen (und schon gar nicht in Form eines Bürgerkriegs) zu eröffnen.
Neben der nationalistischen Politik und Rhetorik spiegelte sich der Opportunismus auch in politischen Bündnissen mit bourgeoisen Parteien wider. Zur Volksfront in Jugoslawien gehörten sowohl reformistische sozialistische Parteien als auch bourgeoise Parteien, die die Führung der KPJ akzeptierten. Für Josip Broz Tito bedeutete die Volksfront im Wesentlichen, legale Parteien zu infiltrieren und in ihnen Zellen zu schaffen, die dem Zentralkomitee der KPJ entsprachen. Mit dieser Taktik gelang es der KPJ, sich in allen großen Parteien zu etablieren und ihre Mitgliederzahl von 1.500 im Jahr 1937 auf 8.000 im Jahr 1942 zu erhöhen.
Erste Sitzung der AVNOJ, Bihać 1942
Es dauerte lange, bis sich die Spitze der Partisanenbewegung offen zu ihrer kommunistischen politischen Ausrichtung bekannte. Stattdessen betonten sie den patriotischen Charakter ihres Kampfes und sprachen von Brüderlichkeit und Einheit, ein Ideal, das leicht mit liberal-demokratischen Werten identifiziert werden konnte. Selbst als Ende 1943 klarer wurde, dass sich das neue Jugoslawien politisch vom alten unterscheiden würde, stand der Sozialismus immer noch nicht im Programm der neuen Regierung, der Kampf gegen den Kapitalismus wurde mit keinem Wort erwähnt, und die Monarchie wurde nicht verboten. Die Partisanenrhetorik verband geschickt bestimmte nationalistisch-patriotische Elemente mit jugoslawischen Elementen, die für viele attraktiv waren. Außerdem versprach sie radikale Veränderungen, ohne jedoch zu sagen, um welche Art von Veränderungen es sich dabei handelte. Die Partisanenbewegung und die Idee eines neuen Jugoslawiens sprachen viele verschiedene Strömungen und Bevölkerungsgruppen an und boten allen etwas, aber niemandem etwas Bestimmtes.
In der Geschichtsschreibung und in theoretischen Texten aus der Zeit des sozialistischen Jugoslawien heißt es, dass „das erste historische Verdienst der Kommunistischen Partei Jugoslawiens gerade darin besteht, dass sie die Verbindung zwischen Klasse und Nation als einzige Möglichkeit des Kampfes für den Sozialismus in Jugoslawien erkannt hat und dass sie es verstand, einen revolutionären Kampf auf der Plattform des demokratischen Patriotismus erfolgreich zu organisieren, der die tägliche Durchdringung von Klasse und Nation, nationaler Freiheit und Klassenemanzipation, nationaler Affirmation und sozialem Fortschritt immanent beinhaltet „24. Die historischen Ereignisse werden aus einer Perspektive bewertet, die bereits weiß, welche Strömungen innerhalb der KPJ dominieren werden und wie die Ergebnisse des Krieges aussehen werden. Nur Siege – entweder als Dominanz einer Strömung innerhalb der Partei oder als Sieg im Krieg und die Eroberung der Macht – diktierten, welche Position als richtig und „links“ und welche als Wahnvorstellungen und „rechts“ bezeichnet werden würde. Dabei handelte es sich nicht nur um die Ideologisierung der Literatur aus der sozialistischen Zeit, denn auch in der sehr jungen Literatur aus der postsozialistischen Zeit werden Kategorien wie z.B. „links“ und „rechts“ in der Partei nicht in Frage gestellt. In der Zwischenkriegszeit hatten viele Kommunisten der KPJ originelle und ausgefeilte Ideen zur nationalen Frage und ihr Herz am rechten Fleck. Dennoch basierte die Politik der Partei selbst in vielen Fragen, einschließlich der nationalen, nicht auf der Analyse der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse und der Macht, die die Arbeiterklasse hatte, um diese Verhältnisse potenziell zu beenden, sondern ausschließlich auf der Analyse der politischen Macht. Sie wurde auch nicht von dem Ziel geleitet, die kommunistische Idee unter einer möglichst breiten Bevölkerung zu verbreiten, denn sonst wären diese Ideen nicht absichtlich versteckt worden. Das Ziel war ausschließlich die Stärkung der Macht der Partei, unabhängig von der Methode. Wenn Marxisten/Bolschewiki über den Unterschied zwischen Reform und Revolution sprechen, meinen sie damit nur unterschiedliche Methoden der Machtergreifung. Das Ziel selbst, die Eroberung der Macht, wird nicht in Frage gestellt. Wenn dies das Ziel ist, ist es klar, dass die Taktik je nach den Umständen ständig geändert werden muss. In der Zwischenkriegszeit hat die KPJ in der nationalen Frage fast alle Standpunkte ausprobiert, die im damaligen jugoslawischen Kontext möglich waren. Um nur einige Momente in groben Zügen zusammenzufassen: von der anfänglichen Akzeptanz des jugoslawischen nationalen Unitarismus (1919-1921) und dem Eintreten für Jugoslawien als Sowjetrepublik, die Teil der Föderation der Balkan-Donau-Länder sein sollte (1919-1934), über die Anerkennung, dass „Serben“, „Slowenen“ und „Kroaten“ drei verschiedene Nationen darstellen (Anfang der zwanziger Jahre), die Befürwortung der Föderativen Arbeiter- und Bauernrepublik Jugoslawien (1924), die offene Unterstützung nationalistischer Bewegungen (1926-1935), eine vorübergehende Rückkehr zum jugoslawischen Patriotismus während der Zeit der Volksfront, aber mit einer parallelen Verschärfung der kroatischen Frage und der Unterwanderung der bourgeoisen Parteien (1935-1939), bis hin zur Intensivierung der nationalistischen Rhetorik während des Krieges. Alles, was irgendwann dazu beitragen konnte, die Macht der KPJ zu stärken, wurde zur „richtigen marxistischen Position“ und alles, was dem widersprach, zur „Illusion“.
Nationalismus und primitive Akkumulation
Die Periode des sogenannten revolutionären Etatismus 1945-1963.
Eine Nation ist eine spezifische nationale Gemeinschaft, die auf der Grundlage der gesellschaftlichen Arbeitsteilung in der Epoche des Kapitalismus entstanden ist, d.h. auf dem Entwicklungsniveau der Produktivkräfte, als die Quantität der überschüssigen gesellschaftlichen Arbeit begann, sich in eine neue Qualität der sozialen Integration auf einem höheren Niveau zu verwandeln, d.h. auf einem kompakten nationalen Territorium, im Rahmen einer gemeinsamen Sprache und einer engen ethnischen und kulturellen Verwandtschaft im Allgemeinen.
Edvard Kardelj, Entwicklung der slowenischen Nationalfrage, 1939.
Während des Krieges wurden im Rahmen der fünf „Nationen“ (Montenegro, Mazedonien, Serbien, Kroatien und Slowenien) und Bosnien und Herzegowina25 die wichtigsten Hauptquartiere, regionalen Räte und gemeinsamen Gremien auf Föderationsebene gebildet – das Oberste Hauptquartier, der Antifaschistische Rat der Volksbefreiung Jugoslawiens (AVNOJ) und andere. Auf der zweiten Sitzung des AVNOJ im Jahr 1943 wurde der Verfassungsbeschluss gefasst, Jugoslawien auf einem föderalen Prinzip aufzubauen, „das den Serben, Kroaten, Slowenen, Mazedoniern und Montenegrinern, d. h. den Völkern Serbiens, Kroatiens, Sloweniens, Mazedoniens, Montenegros und Bosniens und Herzegowinas volle Gleichberechtigung garantiert“. Nach dieser Sitzung konstituierten sich die nationalen antifaschistischen Räte aller Nationen Jugoslawiens als oberste Instanzen in den föderativen Einheiten und bestätigten die Beschlüsse des AVNOJ, die die verfassungsrechtlichen und rechtlichen Grundlagen für „Jugoslawien als gleichberechtigte Gemeinschaft der jugoslawischen Nationen und Nationalitäten“ schufen.
Zweite Sitzung des AVNOJ, Jajce, 1943
Die erste Verfassung der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien (FNRJ)26 , die 1946 verabschiedet wurde, bestätigte die Beschlüsse der zweiten Sitzung des AVNOJ. Jede Nation konstituierte sich als eigenständige politische Einheit, die in einer Volksrepublik zum Ausdruck kam, mit Ausnahme von Bosnien und Herzegowina (siehe Fußnote 21). Obwohl es in dieser Zeit nicht viele Diskussionen über die nationale Frage gab, waren die Identitäten der politischen und staatlichen Institutionen Jugoslawiens, wie sie von der politischen Elite konzipiert wurden, ethnisch und national begründet, denn Jugoslawien war ein Land südslawischer Völker und Nationen, und die Nationen konstituierten sich in Republiken. Daher war der Jugoslawismus auch ein nationales Projekt mit dem Ziel, eine bestimmte nationale Identität zu schaffen, auch wenn er mit einer geringeren Tendenz zur kulturellen und sprachlichen Homogenisierung einherging als andere nationale Projekte mit ethnischer Grundlage. In der Nachkriegszeit, als das Land noch in Gefahr war, konnte der Jugoslawismus noch als Grundlage für einen möglichen Widerstand dienen. Und wenn es nicht mehr nötig ist, steht ein System von Republiken mit nationaler Basis bereit, um die Kontinuität der Reproduktion von Staat und Kapital zu gewährleisten.
Wappen und Flaggen der FNRJ
Um die jugoslawische Nationalpolitik besser zu veranschaulichen, ist es sinnvoll, sie kurz mit derjenigen der so genannten Sowjetunion zu vergleichen. Beginnen wir mit den Gemeinsamkeiten. In beiden Ländern wurde das System des ethno-territorialen Föderalismus angewandt, d.h. „ethnische“ Gruppen wurden territorialisiert und durch eine komplexe Hierarchie von Einheiten in Bezug auf die Ebene der Staatlichkeit und Souveränität institutionalisiert: Sowjetische (UdSSR) und sozialistische Republiken (Jugoslawien), autonome Republiken (UdSSR) und autonome Provinzen (Jugoslawien), autonome Bezirke und Regionen (UdSSR, Jugoslawien) und Gruppen ohne eigenes Territorium (UdSSR und Jugoslawien). In beiden Fällen waren die Republiken grundlegende Partei- und Verwaltungseinheiten sowie territorial definierte Nationalstaaten von Titularnationen oder mehrheitlich ethnischen Gruppen. Ziel der nationalen Politik war es, die Vorherrschaft der dominierenden Nation (Russen und Serben) zu verhindern und gleichzeitig das „Recht“ der dominierenden ethnischen Gruppe in einem bestimmten Gebiet, d. h. des „konstituierenden Volkes“ auf Selbstbestimmung, zu erfüllen. Sowohl in der UdSSR als auch in Jugoslawien war Patriotismus ein akzeptabler Ausdruck der Loyalität gegenüber dem neuen System, und beide Systeme stärkten letztlich die Verbindung von Ethnie, Staat und Territorium und schufen so die Grundlage für die Entstehung neuer Nationen.
Anders als in der UdSSR, wo die Sowjetrepubliken Träger des Selbstbestimmungsrechts waren, wurde in der jugoslawischen Verfassung nicht festgelegt, ob dieses Recht den Republiken oder den „Nationen/Völkern“ zusteht. Die Frage der persönlichen nationalen Identifikation war in der Sowjetunion ein Merkmal, das bei der Geburt zugewiesen wurde, während es in Jugoslawien eine Frage der persönlichen Entscheidung war, die bei der Volkszählung zum Ausdruck gebracht wurde, die den Wechsel der nationalen Identifikation sowie die Wahl der Identität „Jugoslaw“ ermöglichte27. Während es in der UdSSR zu Überschneidungen zwischen sowjetischen und russischen Institutionen kam, weil die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (RSFSR) den Status eines Restgebiets hatte, nachdem andere nationale und autonome Republiken ihren Teil des gemeinsamen Territoriums eingenommen hatten, wurde der Föderalismus in Jugoslawien auch auf Serbien angewandt, weil die KPJ verhindern wollte, dass Serbien eine dominante Nation nach dem Vorbild der Russen in der UdSSR wurde. Aus demselben Grund wurden zwei autonome Provinzen geschaffen – Kosovo und Metohija (Kosmet) und die Vojvodina28. Schließlich wurde in Jugoslawien eine Republik ohne eindeutige Titularnation geschaffen – Bosnien und Herzegowina, für die es in der UdSSR kein vergleichbares Beispiel gab.
Jugoslawien, 1946 – 1990
Diese Periode, die mit der Verabschiedung der neuen Verfassung im Jahr 1963 endete, wird als Periode des „revolutionären Etatismus“ bezeichnet und war durch die Herausbildung eines zentralistischen Staatssystems, das Staatseigentum an den Produktionsmitteln und die zentralisierte Planung von Produktion und Verteilung gekennzeichnet, so dass der Staat noch immer nicht als Föderation funktionierte. Nach den offiziellen historiographischen Interpretationen dieser Zeit aus den 1970er Jahren gab es zwei Gründe für eine solche Regelung. Der erste Grund war die Verteidigung des neu errichteten sozialistischen Systems gegen konterrevolutionäre Angriffe. Ein weiterer Grund war der Mangel an anderen Modellen für den Aufbau des Sozialismus, abgesehen vom sowjetischen Modell, im schwierigen Kontext komplexer internationaler Beziehungen. Ein solides staatszentralistisches System wurde von der KPJ als einzige Möglichkeit angesehen, den Staat zu retten. Dementsprechend wurde die Idee vom Tod des Staates, die auf dem Dritten Kongress der Volksfront Jugoslawiens 1949 als eines der zentralen Konzepte des jugoslawischen Sozialismus festgelegt wurde, nur auf internen Parteiversammlungen erwähnt und hatte keinen Einfluss auf politische Entscheidungen.
Die Verstaatlichung erfolgte in Jugoslawien nach 1946 in mehreren Etappen und bildete, wie in anderen sozialistischen Ländern, die materielle Grundlage der Macht der professionellen Verwalter. Damit diese Schicht ihre politische Bestimmung erfüllen konnte, die in den Ländern des entwickelten Kapitalismus bereits von der Bourgeoisie erfüllt worden war, musste sie die Industrialisierung und den ökonomischen Fortschritt zu ihrem Hauptziel machen. Da das Territorium Jugoslawiens industriell unterentwickelt und die Mehrheit der Bevölkerung bäuerlich war, bestand die historische Rolle der neuen Nation-Staaten darin, den rechtlichen, institutionellen und ideologischen Rahmen für die weitere Entwicklung des kapitalistischen Warenproduktionssystems zu sichern und zu stärken. Die Bauernschaft musste enteignet und proletarisiert werden, um in das neue ökonomische System einbezogen zu werden. Und damit die Bevölkerung im Einklang mit der neuen Ideologie rechtmäßig als Ressource genutzt werden konnte, musste sie als konstituierendes Volk oder Nation betrachtet werden. Für die Angehörigen einer von äußeren Besatzern befreiten Nation war Arbeit nicht länger eine Last und Ausbeutung, sondern eine nationale Pflicht, die mit Freude erfüllt werden sollte. Bereits 1937 wird in der Proklamation der Kommunistischen Partei Kroatiens29 deutlich, wie die KP die Arbeitskräfte als Ressource ansah: „Allen Verleumdern, die die Kommunistische Partei verleumden, weil sie ihr Land und ihr Volk vernachlässigen, rufen wir Kommunisten zu: Wir Kommunisten lieben unser Vaterland und unser Volk!“, „…es ist notwendig, dass die kroatischen Arbeiter, die in diesen Organisationen organisiert sind, einen gemeinsamen Kampf gegen die gemeinsamen Feinde – kroatische und ausländische Kapitalisten – führen, die das kostbare nationale Kapital – die kroatische Arbeiterschaft – am rücksichtslosesten ausbeuten und zerstören.“ Der Nationalismus als Teil des KP-Diskurses hatte nicht nur die Aufgabe, das Volk während des Krieges gegen die ausländischen Besatzer zu mobilisieren, sondern auch die Aufgabe, die Menschen nach dem Krieg aktiv zum Kampf für den Staat zu ermutigen. Die Aufgabe der nationalen Einheiten und Institutionen bestand nicht in der Pflege von Sprache, Kultur und Bräuchen, sondern in der Entwicklung der Ökonomie, der Umwandlung der Bauernschaft in Arbeiterinnen und Arbeiter, der Armee und der petite bourgeoise Betriebe in kapitalistische Großbetriebe.
In der Nachkriegszeit war die Umwandlung der Bauernschaft in eine Arbeiterklasse noch nicht vollständig abgeschlossen, und es bedurfte der Akkumulation von Primärkapital, um dem System der Warenproduktion neuen Schwung zu verleihen. Wie in anderen Ländern ohne externe Kolonien konnte die Primärakkumulation durch die Enteignung der Bauernschaft erfolgen, vorzugsweise derjenigen Bauern, die noch nicht den Status einer Nation hatten. Der größte Druck auf die Bauernschaft wurde in der Zeit von 1946 bis 1953 ausgeübt und beinhaltete die Zwangsaneignung von landwirtschaftlichen Produkten und eine Kollektivierung nach dem Vorbild der sogenannten Sowjetunion. Die Menge bestimmter landwirtschaftlicher Erzeugnisse, die die Bauern an den Staat verkaufen mussten, war oft höher als die durchschnittliche Menge der in dem betreffenden Jahr erzeugten Produkte, was zu mehreren Bauernrevolten führte. Einer dieser Aufstände war der bewaffnete Aufstand der Bauern aus Cazinska Krajina in Bosnien und Kordun in Kroatien, der am 6. Mai 1950 ausbrach. Die überwiegende Mehrheit der Aufständischen aus dem bosnischen Teil war bosniakisch. Viele Menschen hatten ihre Häuser nach dem Krieg noch nicht wieder aufgebaut, sie konnten ihre Familien nicht ernähren, und die Erfüllung der ohnehin unrealistischen Verpflichtungen gegenüber dem Staat wurde in jenem Jahr durch eine große Dürre noch erschwert. Daher unterdrückte der Staat sie brutal mit Polizeigewalt, Beschlagnahmung von Eigentum und Mobilisierung zur Zwangsarbeit in Wäldern, auf Baustellen und in Fabriken. Während des Aufstands steckten die Bauern mehrere lokale Regierungsarchive in Brand, entwaffneten Polizisten, rissen Telegrafenmasten um, beschlagnahmten eine Reihe von Genossenschaftslagern und nahmen mehrere politische Beamte fest. Der Staat schlug den Aufstand rasch nieder, indem er mehrere hundert Soldaten gegen die rebellierende Bauernschaft einsetzte. Mehr als siebenhundert Personen wurden verhaftet, fünfzehn von ihnen wurden bei der Gefangennahme getötet, achtzehn von ihnen wurden zum Tode verurteilt, 275 Personen wurden zu langen Haftstrafen, darunter lebenslänglich, verurteilt, mehrere Verurteilte starben an den Folgen der Überarbeitung in einem Bergwerk in Zenica, und einige begingen Selbstmord. Zwischen 70 und 100 Familien bosnischer Aufständischer wurden in Viehwaggons ohne Wasser und Lebensmittel zwangsweise nach Srbac verbracht. In Srbac bettelten die älteren Exilanten, und die Kinder hüteten das Vieh der wohlhabenderen Einheimischen.
1939 definierte Edvard Kardelj, der nach 1945 Vizepräsident der Bundesregierung und dann Außenminister war, in seinem Buch Die Entwicklung der slowenischen Nationalfrage die Nation wie folgt: „Eine Nation ist eine spezifische nationale Gemeinschaft, die auf der Grundlage der gesellschaftlichen Arbeitsteilung des kapitalistischen Zeitalters geschaffen wird, d.h. auf einem solchen Entwicklungsniveau der Produktivkräfte, wenn die Quantität der überschüssigen gesellschaftlichen Arbeit beginnt, sich in eine neue Qualität der sozialen Integration auf einem höheren Niveau zu verwandeln, d.h. auf einem kompakten nationalen Territorium, im Rahmen einer gemeinsamen Sprache und einer engen ethnischen und kulturellen Verwandtschaft im Allgemeinen“.30 Es muss jedoch gesagt werden, dass viele Elemente der Arbeitsteilung in Jugoslawien nur dank dem Nation-Staat, seinem rechtlichen Rahmen und der Armee möglich wurden. Das sozialistische Jugoslawien war bei dieser Aufgabe wesentlich erfolgreicher als die vorhergehenden Staaten. Mit seiner nationalen Befreiungsrhetorik während des Krieges, seinem national und ethnisch geprägten republikanischen System und seinen Institutionen, seiner Armee und später dem System der Selbstverwaltung der Arbeiterinnen und Arbeiter erreichte die KP ein noch nie dagewesenes Niveau und, wie Kardelj sagen würde, eine „Qualität der sozialen Integration“.
Das kapitalistische System der sozialen Regulierung ist nur dann wirksam, wenn alle Teile der Gesellschaft ihm untergeordnet und von ihm abhängig sind. Nach der Etablierung der Nation-Staaten fand die primäre Akkumulation nach dem Krieg in Jugoslawien in mehreren parallelen Prozessen statt: 1) die Enteignung der Bauernschaft; 2) die Domestizierung und Konzentration der Arbeitskräfte durch Schockarbeit, die Einführung einer wachsenden Zahl von Arbeiterinnen und Arbeitern in die Fabrikarbeit und die Verstädterung, 3) die Errichtung eines staatlichen Eigentumsmonopols. Bei all diesen Prozessen spielte der ethnisch begründete jugoslawische Nationalismus eine wichtige Rolle bei der Identifizierung der Bevölkerung mit dem neuen Regime der Arbeit und der Staatsmacht. Das vorübergehende zentrale Staatsmonopol als eines der Mittel zur Sicherung der Kontinuität des Staates und der kapitalistischen Produktion sollte in der nächsten Phase durch völlig andere Methoden ersetzt werden.
Nationalismus und die Herrschaft des Staates über die Gesellschaft
die Periode der so genannten sozialistischen Selbstverwaltung ab 1963
In den sozialistischen Selbstverwaltungsverhältnissen werden die Interessen der Arbeiterklasse, die sich die Stellung der herrschenden Klasse in der Nation erkämpft hat, zu den Interessen der Nation, und die Interessen der Nation werden zu den Interessen der Klasse.
Tito, Bericht
X. SKJ-Kongress
Auf dem VIII. Kongress des Bundes der Kommunisten 196431 wurde die nationale Frage aufgrund des Kampfes zwischen den Republiken um die Verteilung des zentralisierten Nationaleinkommens, der Krise der Produktion und anderer Probleme, die angeblich durch das zentralistische Staatssystem verursacht wurden, auf die Tagesordnung gesetzt. Plötzlich musste das Erbe des revolutionären Etatismus beseitigt werden, und so wurden noch im selben Jahr ökonomische Reformen eingeleitet, die „freiere sozioökonomische Beziehungen“ und die Arbeit an „objektiven ökonomischen Gesetzen“ ermöglichen sollten. Auf demselben Kongress stand auf den Stimmzetteln neben Titos Namen zum ersten Mal kroatisch und nicht jugoslawisch.
Ein Jahr zuvor hatte die neue Verfassung die Selbstverwaltung der Arbeiterinnen und Arbeiter als Grundlage der gesellschaftlichen Organisation bestätigt und im Prinzip die rechtlichen Voraussetzungen für ihre weitere Entwicklung geschaffen. Die Einführung der Selbstverwaltung begann Anfang der 1950er Jahre und wurde zweimal – in den 1960er und 1970er Jahren – in Richtung eines zunehmend freien Marktes reformiert.
Die Schlüsselperson bei der Schaffung der neuen ökonomischen Politik war Boris Kidrič, der langjährige Anführer der Kommunistischen Partei Sloweniens. Kidrič vertrat die Ansicht, dass die jugoslawische Alternative zur sowjetischen „sozialistischen Primärakkumulation“ in der „sozialistischen Warenproduktion“ zu finden sei, die in der Übergangszeit vom Kapitalismus zum Kommunismus notwendig sei. Die Notwendigkeit eines solchen Modells ergab sich für ihn aus dem Scheitern der UdSSR – der Staatssozialismus führt unweigerlich zur Stärkung der Bürokratie, zur Unterdrückung der sozialistischen Demokratie und schließlich zur Umwandlung des Staatssozialismus in einen Staatskapitalismus. Um die weitere Entwicklung des Kapitalismus zu verhindern, ist es laut Kidrič notwendig, die Gesellschaft nach dem Wertgesetz zu organisieren, auch wenn dieses Prinzip das eigentliche Wesen der kapitalistischen Produktionsweise und der sozialen Regulierung darstellt. Bereits auf dem Plenum des Zentralkomitees der KPJ im Januar 1949 wies Kidrič darauf hin, dass die zentrale Kontrolle über die Verteilung das freie Funktionieren der ökonomischen Gesetze bedroht, die die Hauptantriebskraft der Produktion sind. Auf dem sechsten Kongress der KPJ im Jahr 1952 beharrte er auf diesem Ansatz: „…das neue ökonomische System muss auf objektiven ökonomischen Gesetzen beruhen, und es muss die administrative Unterdrückung dieser Gesetze so weit wie möglich vermeiden“. Um das Wachstum, die Qualität und die Vielfalt der materiellen Waren sowie die Normalisierung der Lebensbedingungen zu gewährleisten, hielt er es für notwendig, die Arbeitsproduktivität zu erhöhen, d. h. arbeitsintensive Innovationen in der Produktion einzuführen.
Boris Kidrič
Die SKJ stand vor dem Problem, wie man die Arbeiterinnen und Arbeiter zu mehr Arbeit zwingen und gleichzeitig im Rahmen der sozialistischen Ideologie bleiben konnte. Die in der vorangegangenen Periode vernachlässigte Idee der Abschaffung des Staates war nun zur herrschenden Doktrin erhoben worden. Sie diente der Partei nicht nur dazu, die Vorteile der sozialistischen Demokratie gegenüber dem nichtsozialistischen Charakter der UdSSR zu beweisen, sondern ermöglichte auch die ideologische Legitimierung institutioneller Veränderungen in Richtung einer Stärkung der Rolle des Marktes und wurde vor allem durch das Konzept der Selbstverwaltung der Arbeiterinnen und Arbeiter institutionalisiert. Das Konzept der Selbstverwaltung, das von oben und nicht als Ergebnis des Kampfes der Arbeiterinnen und Arbeiter eingeführt wurde, ermöglichte eine Reihe von Dingen. Da das Einkommen eines Arbeitskollektivs nun von seinem Erfolg auf dem Markt abhing, wurde jedes Individuum durch sein eigenes Überleben motiviert, so hart wie möglich zu arbeiten. Auf diese Weise wurde die Produktivität gesteigert und die sozioökonomischen Voraussetzungen für eine weitere Industrialisierung wurden geschaffen. Gleichzeitig sicherten die ideologischen Konzepte der Abschaffung des Staates und der Selbstverwaltung der Arbeiterinnen und Arbeiter letztlich das Überleben der jetzigen Regierung und im weiteren Sinne, wie wir sehen werden, auch das Überleben des Staates. Die Arbeiterschaft war gezwungen, mehr zu arbeiten, die Legitimität des Staates war gesichert, so dass er weiterhin in aller Ruhe für den Fortbestand der „objektiven ökonomischen Gesetze“, d. h. des Kapitals, sorgen konnte.
László Sekelj zufolge war die Selbstverwaltung von Anfang an ausschließlich als ein Modell der administrativen Dezentralisierung gedacht, und das einzige wirkliche Ergebnis der Selbstverwaltung war seiner Meinung nach die Verlagerung des Machtzentrums von der Föderation zu den Republiken. Im Vergleich zur Zeit des „revolutionären Etatismus“ übt der Staat weiterhin seine Umverteilungsfunktion aus, nur mit etwas anderen institutionellen Methoden.
Die Idee der Brüderlichkeit und der Einheit, die in der vorangegangenen Periode vorherrschend war, wurde allmählich aufgegeben und Anfang der sechziger Jahre durch das Konzept des sozialistischen Jugoslawiens und dann Anfang der siebziger Jahre durch das Konzept der Einheit der jugoslawischen Völker und Nationalitäten ersetzt. Vom Achten bis zum Zehnten Kongress wurden parallel zur Betonung der Bedeutung der marktwirtschaftlichen Unabhängigkeit der Arbeitskollektive immer wieder Änderungen in Richtung einer Stärkung und Ausweitung der Befugnisse der Republiken und Provinzen vorgenommen, was mit der Notwendigkeit der Bestätigung der Nationen in der Selbstverwaltung begründet wurde.
Die ersten Anzeichen für die Abkehr vom Jugoslawismus zeigten sich bereits auf dem bereits erwähnten VIII. Kongress des Bundes der Kommunisten, als die Republikanisierung der Partei stattfand und Tito zum ersten Mal „Kroaten“ neben seine Unterschrift setzte. Auf demselben Kongress erhalten die obersten Parteiführer der Republiken (auf dem 9. Kongress auch der Provinzen) das Recht, ihre eigene Politik zu gestalten. Nach der Kongressresolution sowie nach dem Bericht von Kardelj und Tito waren die Hauptelemente der Reform des ökonomischen Systems: die Entnationalisierung der Fonds und der Entscheidungsfindung auf allen Ebenen der sozio-politischen Gemeinschaften, die Abschaffung aller zentralen Fonds, die für ökonomische Investitionen bestimmt waren; die Unabhängigkeit der Arbeitskollektive bei der Entscheidung über die gesamte erweiterte Reproduktion; die Arbeiterorganisationen und ihre Interessen als Träger der Integrationsprozesse; das freie Wirken der ökonomischen Gesetze der Warenproduktion, usw. Titos Bericht zufolge ist „die jugoslawische sozialistische Integration eine neue Art von sozialer Gemeinschaft, in der alle Nationalitäten gemeinsame Interessen haben“, „die internationalen ökonomischen Beziehungen müssen so gestaltet werden, dass sie die volle Entwicklung der gesamten sozialen Gemeinschaft und aller ihrer nationalen Teile gewährleisten“. In seinem Bericht entwickelte Kardelj die These von der nationalen ökonomischen Unabhängigkeit und den Nationalstaaten mit sozialistischem Charakter: „Der Ausgangspunkt der internationalen ökonomischen Beziehungen ist sicherlich die ökonomische Unabhängigkeit jeder Nation, die die Unabhängigkeit der Arbeit und der Verfügung über das Produkt der Arbeit, d.h. des Aufbaus der materiellen Basis der eigenen Kultur und Zivilisation, gewährleistet.“ Während er glaubte, dass der Staat historisch gesehen im Sterben liegt und durch eine Vereinigung freier Produzenten ersetzt wird, bestand Kardelj gleichzeitig darauf, dass die Nationen von Natur aus zu ihren Staaten tendieren, so dass Jugoslawien nur dann eine historische Bedeutung hat, wenn es allen jugoslawischen „vollendeten“ Nationen ermöglicht, dieses Ziel zu erreichen. Auch andere Redner des Kongresses betonten die größere Bedeutung der Republiken. So sagte Veljko Vlahović, einer der drei Sekretäre im Exekutivkomitee, dass „unsere Entwicklung, deren Ausdruck die neue Verfassung ist, die Nation in der Selbstverwaltung bekräftigt“, und er verwendete in seinem Vortrag auch den Begriff der sozialistischen Warenproduktion.
VIII. Kongress des Bundes der Kommunisten, Belgrad, 1964
Nach dem Brioni-Plenum, d.h. der vierten Plenartagung des Zentralkomitees des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens (CK SKJ) 1966, ging das Recht zur Ernennung der oberen und mittleren Führungskräfte vom Organisationssekretär des CK SKJ auf die republikanischen Personalkommissionen über, was die Macht der Republiken weiter stärkte.
1968 fanden die bis dahin massivsten und am stärksten artikulierten Studentenrevolten in Jugoslawien statt, die wegen der schlechten Lebensbedingungen der Studenten begannen und sich bald zu Demonstrationen gegen die Klassengesellschaft und die herrschende bürokratische Klasse entwickelten, die dann zur „roten Bourgeoisie“ erklärt wurde. Die Art und Weise, wie die SKJ auf die Ausschreitungen der Studenten reagierte, bestätigte den Charakter ihrer nationalistischen Politik und zementierte den Weg, den die SKJ einschlagen würde, weiter. Der Nationalismus wird zu einem Mittel der politischen Manipulation und der Umlenkung von Konflikten, die auf anderen Ebenen, z. B. auf Klassenlinien, ausgetragen werden. Während die Demonstrationen in Zagreb, Belgrad, Pristina und anderen Städten stattfanden, wurden nur in Pristina Polizei und Armee gegen die Demonstranten eingesetzt. In Zagreb hingegen bestand das Hauptquartier zur Unterdrückung der Studentenbewegung aus denjenigen, die bald zu Ideologen des kroatischen Nationalismus werden sollten, und autorisierte Mitglieder des SKJ verkündeten auf Vollversammlungen der Studenten, dass „die Tschetniks die Macht in Belgrad übernommen haben“. Der Nationalismus wurde zunehmend zur neuen Legitimationsgrundlage der SKJ.
Auf dem Neunten Kongress der SKJ im Jahr 1969 wurde die nationale Unabhängigkeit offen als konstitutives Prinzip des jugoslawischen Sozialismus hervorgehoben. Neben dem Begriff der nationalen Unabhängigkeit wurde auch der Begriff der nationalen Souveränität verwendet. Auf dem Kongress wurden die allgemeinen Standpunkte der Partei zur nationalen Unabhängigkeit dargelegt: „Die wirkliche Freiheit, Souveränität und Gleichheit der Nationen beruht auf der sozialen und ökonomischen Stellung des arbeitenden Menschen. Umgekehrt kann die gesellschaftliche Stellung des arbeitenden Menschen ohne die Verwirklichung der Freiheit, der Souveränität der Nationen, keinen sozialistischen Inhalt bekommen“; „nur als führende Kraft ihrer Nation, d.h. ihrer Republik, kann sich die Arbeiterklasse als führende Kraft der sozialistischen Gesellschaftsbewegung in der gesamten Gesellschaft behaupten“, und „unter den heutigen materiellen und gesellschaftlichen Verhältnissen ist es nicht möglich, die Widersprüche der nationalen Interessen in den ökonomischen Beziehungen vollständig zu überwinden“. Die offizielle Politik des SKJ sah also eine weitere Heterogenisierung der Arbeitskräfte auf nationaler Ebene und eine Homogenisierung innerhalb der Grenzen der Republiken vor. Laut SKJ sind die Widersprüche der nationalen Interessen grundlegende gesellschaftliche Widersprüche, und die Arbeiterklasse einer Republik hat mehr mit den Machtzentren der Republik, der sie angehört, gemeinsam als mit der Arbeiterklasse anderer Republiken. Auf demselben Kongress bezeichnete der Präsident des SKJ die Unruhen im Kosovo als nationalistisches und irredentistisches Ablenkungsmanöver.
Während die SKJ auf dem Achten, Neunten und Zehnten Kongress die Bedeutung der Nation und die Stärkung der nationalen Ökonomien betont, kritisiert sie nominell Nationalismus, Unitarismus und Partikularismus. Das Problem des unitarischen Nationalismus besteht darin, dass er nationale Fragen im Namen eines „abstrakten Internationalismus“ ignoriert, und das Problem des partikularistischen Nationalismus besteht darin, dass er die nationalen Fragen anderer Nationen im Namen einer Nation ignoriert. Wir sehen, dass die Kritik an beiden Arten von Nationalismus nicht aus der Kritik am Nationalismus als solchem kommt, sondern selbst in nationalistischen Ideen verwurzelt ist. Im Grunde genommen ist der Nationalismus die Vernachlässigung des Nationalismus31. Mehr denn je wurde betont, dass die Kommunisten zuallererst den Nationalismus ihres eigenen Volkes angreifen müssen und erst dann den der anderen. Im Diskurs wird der partikularistische Nationalismus vor allem mit Slowenien, Mazedonien und insbesondere Kroatien in Verbindung gebracht, wofür die aussagekräftigere Formulierung „separatistischer Nationalismus“ verwendet wird. Es gab keine genaueren Erklärungen für diese Art von Nationalismus, außer der Idee, dass er mit dem Liberalismus und der Technokratie verbunden ist und dass er die politische Plattform verschiedener Gegner des Sozialismus darstellt.
Zwischen dem Neunten und Zehnten (1974) Kongress wurde das Prinzip der nationalen, republikanischen und provinziellen Souveränität kontinuierlich normativ und institutionell gestärkt, bei gleichzeitiger Verengung der Zuständigkeiten der Föderation. Darüber hinaus festigte der SKJ kontinuierlich seine Macht über die Gesellschaft, indem er eine Reihe von ökonomischen Privilegien für wichtige Schichten der Gesellschaft auf republikanischer, provinzieller und lokaler Ebene gewährte. Die wichtigsten Veränderungen in diesem Bereich wurden durch die 1972 verabschiedeten Verfassungsänderungen herbeigeführt, die die erste Phase der Verfassungsreformen darstellten, die in die neue Verfassung von 1974 aufgenommen wurden. Im Prinzip eröffneten die Änderungen jeder Republik den Raum, ihre politische Organisation mit eigenen Verfassungen zu definieren. Darüber hinaus bildeten die Änderungen die politische Grundlage für den zunehmend aggressiven Nationalismus der SKH in der SR Kroatien. Wenn Historiker aus der jugoslawischen Zeit über die Entstehung des so genannten „kroatischen Frühlings“, d. h. der so genannten „Massenbewegung“ (MASPOK, 1967-1971), schreiben, sagen sie oft, dass die „Nationalisten“ (ich verwende den Begriff „Nationalisten“ in Anführungszeichen, um die Nationalisten außerhalb der SKH zu bezeichnen, da der Begriff in der Literatur aus dieser Zeit nur sehr vage verwendet wurde, wahrscheinlich um die Tatsache zu verschleiern, dass die Führung und die Mitglieder des SKJ tatsächlich auch nationalistisch waren) und die Emigration der Ustascha die Taktik anwandten, sich auf die Nationalkommunisten zu stützen, indem sie den Diskurs des Bundes der Kommunisten übernahmen, dem sie dann ihren eigenen Akzent und ihre eigene Richtung gaben, um falsche Vorstellungen zu verbreiten und den Diskurs zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen. Dasselbe gilt jedoch auch für den SKJ, der den nationalistischen Diskurs schon seit einiger Zeit nutzte, um seine Macht über die Gesellschaft zu stärken und die Aufmerksamkeit von anderen sozialen Spaltungen abzulenken. Darüber hinaus ist es bezeichnend, dass es für die Ustascha-Emigration und die „Nationalisten“ so einfach war, sich auf den SKJ-Diskurs zu stützen. Schließlich waren die Anführer von MASPOK Mitglieder der SKH, Savka Dabčević-Kučar und Miko Tripalo, und nicht irgendwelche „Nationalisten“.
Savka Dabčević-Kučar, Zagreb, 1971
Miko Tripalo, Drniš, 1971
In den Jahren 1970 und 1971, parallel zu den Verurteilungen des Nationalismus durch das Zentralkomitee auf der 10. Sitzung und das Exekutivkomitee bei mehreren Gelegenheiten, sagten einige Mitglieder der SKH – während sie unzureichend nationalistische Mitglieder der SKH kritisierten – offen, dass Angriffe auf Nationalisten Angriffe auf das Zentralkomitee der SKH selbst sind. Die Frage der kroatischen nationalen Interessen wurde zur Hauptströmung, und diejenigen, die sie in der Partei vertraten, galten als „fortschrittlich“. Ein Treffen des SKH-Exekutivkomitees mit Tito32 am 4. Juli 1971 sollte dazu dienen, den nationalistischeren Teil der SKH zu besänftigen. Sie setzten jedoch ihre Bündnisse mit Nationalisten außerhalb der SKH fort und hatten darüber hinaus den Ehrgeiz, dass die SKH, d.h. ihr „progressiver Kern“, an der Spitze des MASPOK stehen sollte. Es ging nicht um ein paar marginale Mitglieder der SKH, sondern um Leute von ganz oben. Die Forderungen des MASPOK reichten von der Verringerung des Anteils der in der SR-Kroatien erwirtschafteten Profite, der an das Zentrum der Föderation überwiesen wird, über den Widerstand gegen eine stärkere Vertretung von Menschen serbischer Nationalität in der Politik, der Armee und den Geheimdiensten bis hin zur Förderung der Idee, dass die kroatische Variante der Sprache im Verhältnis zur serbokroatischen Sprache getrennt ist. SKH-Funktionäre und „Nationalisten“ sprachen dieselbe Sprache: Beide betonten die Notwendigkeit eines Nationalstaates und die These, dass Kroatien beraubt worden sei. Als sie sahen, in welche Richtung sich die Dinge entwickelten, begannen viele „gemäßigte“ SKH-Mitglieder, aus Opportunismus nationalistische Argumente zu akzeptieren. Bei Studentenprotesten, die die nationalistische Politik der SKH unterstützten, waren Slogans wie „Die kroatischen Banken müssen ihre Gelder in ihren Tresoren behalten“ und „Es lebe die Brüderlichkeit“ zu hören, allerdings ohne Einheitlichkeit. Innerhalb der Partei und in einigen Institutionen und Arbeitsorganisationen von strategischer Bedeutung wurde Druck auf diejenigen ausgeübt, die nicht mit dem MASPOK übereinstimmten, das bereits eine nationale Währung, eine nationale Armee und eine territoriale Ausdehnung forderte. Nationalisten außerhalb der SKH schufen ihre eigenen Organisationen in Arbeitskollektiven und führten im Namen der „Verjüngung“ und des „Fachwissens“ personelle Veränderungen nach Nationalität ein, was von einigen aus der Spitze der SKH, den Vertretungsorganen und Behörden sowie von einigen Abgeordneten der Föderalen Vollversammlung (z.B. Marko Veselica, Jure Sarić) unterstützt wurde. Schließlich wurden einige der Forderungen des kroatischen MASPOK als offizielle, für alle Republiken geltende Politik akzeptiert und in die Verfassung von 1974 aufgenommen. Zum Vergleich: Als 1981 im Kosovo Ausschreitungen ausbrachen, wurde eine Armee mit Panzern gegen die Demonstranten geschickt, und einige von ihnen wurden getötet, obwohl ihre Forderungen viel bescheidener waren als die des MASPOK. Sie forderten nämlich den Status einer Republik, eine Verfassung anstelle eines Statuts, besondere nationale Feiertage und eine Flagge.33 Die Kosovo-Albaner wurden nicht als Nation, sondern als Nationalität anerkannt, und es scheint, dass einige Nationalismen als gefährlicher angesehen wurden als andere. Die Nationalismen der „unvollendeten“ Nationen waren eindeutig gefährlicher, obwohl die Kriterien für die Anerkennung einer Nation als „vollständig“ völlig willkürlich waren, d.h. sie wurden von der liberalen Logik geleitet, dass vollendete Nationen diejenigen sind, deren politische „Vertreter“ Zugang zu mehr Macht haben.
Auf dem Zehnten Kongress im Jahr 1974 erklärte Tito: „In den sozialistischen Selbstverwaltungsbeziehungen werden die Interessen der Arbeiterklasse, die sich die Position der herrschenden Klasse in der Nation erkämpft hat, zu den Interessen der Nation, und die Interessen der Nation werden zu den Interessen der Klasse“ (Titos Papier, X. Kongress des SKJ, „Kommunist“ Belgrad 1974, S. 47). Im selben Jahr wurden eine neue föderale Verfassung, die Verfassungen der Republiken und zum ersten Mal auch die Verfassungen der autonomen Provinzen verabschiedet. Den Republiken wurde die staatliche Souveränität und den Nationen, d. h. den konstitutiven Völkern (narodi), die politische Legitimität verliehen. Das jugoslawische Volk und die jugoslawische Identität existierten im politischen Sinne nicht mehr. Darüber hinaus bestätigte die Verfassung die Verwendung des Begriffs „arbeitendes Volk“ anstelle der Arbeiterklasse, und alle Mitglieder einer Nation, d. h. einer administrativ-politischen Einheit (Republik, Provinz, Gemeinde, lokale Gemeinschaften) sind normativ gleich.
X. Kongress des Bundes der Kommunisten, Belgrad, 1974
Dieses Verfassungskonzept, das manchmal auch als „viertes Jugoslawien“ bezeichnet wird, wird hauptsächlich Edvard Kardelj zugeschrieben. Obwohl nicht alle Fraktionen des SKJ in dieser Frage völlig einig waren34, war das Konzept von Kardelj letztlich das dominierende. Er vertrat nämlich konsequent die These, dass die Kommunisten die Nation, der sie angehören, beherrschen müssen, und dass der Staat nach Stalins Formulierung „sozialistisch im Inhalt, national in der Form“ sein muss. Sein Konzept von Jugoslawien basierte auf der Idee des so genannten „Absterbens des Staates“, während er gleichzeitig die Bedeutung der Republiken als Staaten betonte, in denen die Nationen ihre Souveränität ausüben. Kardelj versuchte, dieses Paradoxon zu verbergen, indem er ständig nominell den Etatismus und den Bürokratismus angriff. Tatsächlich ist die Kritik am Etatismus und an der Bürokratie ein notwendiger Bestandteil fast aller Texte aus den späten sechziger und siebziger Jahren.
Edvard Kardelj
Wie genau wurde das Absterben des Staates konzipiert? Laut Kardelj sollten an die Stelle des Staates zahllose Basisorganisationen der vereinigten Arbeit (osnovne organizacije udruženoga rada, OOUR), selbstverwaltete Interessengemeinschaften (samoupravne interesne zajednice, SIZ), gesellschaftspolitische Organisationen, Institutionen der Landesverteidigung und zahlreiche andere Organisationen treten. Die OOUR sollten die Demokratisierung der Gesellschaft auf der Ebene der Produktion selbst darstellen, und durch sie sollten die Arbeiterinnen und Arbeiter ihre eigene Arbeit und die gesamte gesellschaftliche Reproduktion verwalten. In Verbindung mit dem Markt und den nationalen Republiken trugen sie jedoch nur zu einer extremen Atomisierung bei und stärkten die Vorherrschaft des Staates über die Gesellschaft und die nationale Spaltung der Arbeiterschaft. Die Ökonomien der Republiken wurden zu nationalen Ökonomien, und die horizontale Verbindung von Arbeiterinnen und Arbeitern über die Grenzen der Republiken hinweg wurde extrem schwierig. Bereits 1965 hatten die Republiken autonome Bankensysteme, nur ein einheitliches Steuersystem blieb bestehen. Ende 1976 gab es in 2.892 Arbeitsorganisationen (radna organizcija, RO) 15.302 OOURs, von denen sich der Sitz der OOUR in nur 2,1 % der Fälle in einer anderen Republik als das Zentrum der Arbeitsorganisation befand, und 1981 waren es 4.541 ROs mit 21.488 OOURs und in der zweiten Republik sogar nur 1,5 % der OOURs. 1976 gab es in Jugoslawien 123 SOURs (Komplexe Organisationen der vereinigten Arbeit) mit 887 ROs, von denen nur zwei ihren Sitz außerhalb der Heimatrepublik der SOURs hatten. Ende 1980 gab es 364 SOURs mit 2.807 ROs, von denen nur 45 oder 1,6 % ihren Sitz in einer anderen Republik hatten (Korošić, 1988). Seit 1970, als die Inflation einsetzte, ging der Handel zwischen den Republiken auf 20% der gesamten ökonomischen Aktivität zurück.
Die OOURisierung zersplitterte nicht nur die Arbeiterklasse auf nationaler Ebene, sondern schuf entgegen Kardeljs Absicht auch eine riesige bürokratische Struktur des Staates, die ständig an Größe und Komplexität zunahm. Ein Jahr nach der Verabschiedung des Gesetzes über die einheitliche Arbeit (1980) gab es in Jugoslawien 94.415 OOURs. Um die Komplexität der Struktur zu verdeutlichen, sei hier das Beispiel der Post, des Telefons und des Telegrafen (PTT) genannt. Die PTT umfasste nicht weniger als 291 OOURs, zwei Arbeitsorganisationen ohne OOURs, 26 Arbeitsorganisationen mit OOURs, vier Arbeitsgemeinschaften, die OOURs hatten, und 22 andere Arbeitsgemeinschaften. Selbst die Flugsicherung auf Bundesebene war in 52 verschiedenen Einheiten organisiert, von denen 21 OOURs waren. Dieses System hatte in der Tat erreicht, dass mehr Arbeiterinnen und Arbeiter in den verschiedenen Verwaltungsgremien ihrer OOURs und SOURs mitwirkten. In der Realität waren die Arbeiterinnen und Arbeiter jedoch weit davon entfernt, die Fabriken und den gesamten Prozess der sozialen Reproduktion zu steuern. Sie waren nur in ihrer kleinen Einheit an der Entscheidungsfindung beteiligt, ohne wirklichen Einfluss auf das, was außerhalb dieser Einheit geschah.
In dieser Zeit wurde der Kongress der Selbstverwalter Jugoslawiens nur zweimal einberufen – 1971 und 1981. Die Idee, in der Föderalen Vollversammlung einen Rat der vereinigten Arbeit zu bilden, wie es in den Vollversammlungen der Republiken und Provinzen der Fall war, wurde von der Mehrheit nicht unterstützt und als einseitig angegriffen. Da die jugoslawische, d.h. die supranationale Arbeiterklasse nicht existiert, gibt es keine Notwendigkeit für die Existenz eines jugoslawischen parlamentarischen Rates. Obwohl Tito bis zu seinem Tod von einer einheitlichen Arbeiterklasse sprach, vertraten Politiker, die tatsächlich Einfluss auf die konkrete Politik hatten, wie Kardelj und Vladimir Bakarić, die Idee nationaler Arbeiterklassen bzw. Arbeiterklassen abgeschlossener Nationen.
In der Literatur der 1970er Jahre wird das Erstarken des Nationalismus ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre auf den Etatismus, die Bürokratisierung und die Technokratie zurückgeführt. Das heißt, die Bestrebungen der bürokratischen, republikanischen und technokratischen Schichten, ihre Autorität und Macht im Namen der Wahrung der Interessen ihrer Nation zu stärken, was auf Kosten der Selbstverwaltung geht. Der Nationalismus wurde auch auf die ökonomischen Ungleichheiten zwischen den Republiken, die Kämpfe der republikanischen Bourgeoisien und die Interessen der einzelnen republikanischen Anführer zurückgeführt. Wie jedoch aus den Debatten und Schlussfolgerungen der SKJ-Kongresse sowie aus der von ihr beschlossenen Politik hervorgeht, hat die SKJ selbst diesen Schichten Macht verliehen und sie systematisch gestärkt. Wie Jelka Kljajić-Imširović, die in der radikalen Strömung der Studentenbewegung von 1968 aktiv war, feststellte, „sind einige der kritisierten spezifischeren Erscheinungsformen des Nationalismus nicht – das ist mehr als offensichtlich – das Ergebnis der Aktion der parteifeindlichen nationalistischen Kräfte, sondern die logische Folge bestimmter systemischer Prinzipien der offiziellen Parteipolitik“ (Kljajić-Imširović, 221). „Die ideologische und normativ-institutionelle Unterordnung der Klassen- und Sozialinteressen unter die nationalen Interessen im Namen ihrer Einheit im Rahmen der ’nationalen Unabhängigkeit‘ (VIII. Kongress) und insbesondere im Rahmen der ’nationalen Souveränität‘ (IX. Kongress) behinderte und begrenzte integrative Prozesse innerhalb der jugoslawischen Gesellschaft, trugen zum Antagonismus von im Wesentlichen identischen Klassen- und Sozialinteressen auf nationaler Ebene bei und damit zur Erschwerung oder Blockierung der Möglichkeit, eine autonome Selbstverwaltungsbewegung und ein authentisches Klassen- und Sozialbewusstsein zu konstituieren“ (Kljajić-Imširović, 242).
In dem Text „Die Beziehung zwischen Klasse und Nationalismus im zeitgenössischen Sozialismus“ (in der gleichnamigen Sammlung von 1970) schreiben Stipe Šuvar, Andrija Dujić und Vatroslav Mimica:
„Die Nation entstand und besteht als eine Form der Organisation der Klasseneinteilung der Gesellschaft, die auf einem bestimmten Entwicklungsniveau der menschlichen Produktivkräfte die ’natürlichste‘ und daher fortschrittlichste ist. […] Um die Nation in Richtung Sozialismus zu führen und die sozialistische Praxis zu leiten, muss sie [die Arbeiterklasse] sich so weit wie möglich mit der Nation identifizieren und die ausbeutenden Klassen und Schichten aus der Nation ausschließen. Die Arbeiterklasse ist also weder supranational noch antinational noch nichtnational. Solange sie als Klasse existiert und solange die Nation existiert, kämpft die Arbeiterklasse um die Rolle der führenden Klasse ihrer eigenen Nation. Die Interessen der Arbeiterklasse und die Interessen der Nation, die sie anführt, stimmen notwendigerweise überein. Unter diesen Umständen bedroht die Verletzung der nationalen Interessen die Klasseninteressen und umgekehrt. […] In den nationalen Befreiungskämpfen kommt der wesentliche Zusammenhang zwischen nationalem und Klasseninteresse, ihre grundlegende Identität im Kampf um den Fortschritt, am deutlichsten zum Ausdruck.“
In der gleichen Sammlung sagt Šefko Međedović:
„Die Nation als soziale Gruppierung, als eine bestimmte Form des gesellschaftlichen Lebens, ist das Ergebnis der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die durch die kapitalistische Produktionsweise entwickelt wurde (und die selbst das Ergebnis dieser Arbeitsteilung ist); daher stellt die Nation den ‚Endpunkt‘ dieser Gesellschaft dar – die vollendete kapitalistische Gesellschaft. In diesem Sinne stellt sie als sozialgeschichtliche Form der sozialen Gemeinschaft (Gemeinschaft des sozialen Lebens) eine höhere historische Form des Zusammenschlusses von Menschen in der Gesellschaft dar, eine Form der Vergesellschaftung des Produktionsprozesses und des sozialen Lebens. Die nationale Verfassung drückt den gesellschaftlichen Prozess der Abschaffung der feudalen, mittelalterlichen, patriarchalischen Formen des gesellschaftlichen Lebens aus und repräsentiert ihn…“
Der Fortschritt, von dem Šuvar, Međedović und andere sprechen, ist ausschließlich eine für jugoslawische Ideologen und Theoretiker typische kapitalistische bourgeoise Beschäftigung. Um den Fortschritt zu erreichen, muss die gesamte Gesellschaft in die Produktion hineingezogen werden, der Staat und die Nation. Nichts kann außerhalb dieses Verhältnisses bleiben, und dies wird durch die so genannte Vergesellschaftung erreicht. Dank der jugoslawischen sozialistischen Selbstverwaltung und ihrer allgegenwärtigen verschlungenen Architektur von Basisorganisationen der vereinigten Arbeit (OOUR) hat das Kapital in diesen Bereichen schließlich triumphiert: Die abstrakte Arbeit wurde gewissermaßen rationalisiert und vermenschlicht, und als soziales Verhältnis wurde sie auf einen größeren Teil der Gesellschaft verallgemeinert, das Lohnverhältnis wurde zu einem etatistischen Verhältnis, die Gesellschaft wurde zum Staat. Die Nation als „Form der Vergesellschaftung des Produktionsprozesses und des gesellschaftlichen Lebens“, wie Međedović sagt, ist die Krone dieses Prozesses in zweifacher Hinsicht: erstens als Ergebnis der konkreten Politik der Föderation und der Republiken, die darauf abzielte, den Begriff und die Interessen der Nationen zu bewahren und zu stärken, und zweitens als subjektiver Klebstoff, der jedes Individuum weiter an die Interessen des Kapitals und der Republik/Nation, der es zugeordnet war, band. In diesem Kontext hätte eine autonome Selbstverwaltungsbewegung, wie sie Jelka Kljajić-Imširović erwähnt, keine Chance.
Fazit
Die Rolle der nationalistischen Politik der KPJ bei der Aufrechterhaltung der Kontinuität von Kapitalismus und Staat
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die marxistische Führung der SSDP besorgt über die Militanz der Arbeiterinnen und Arbeiter in Serbien zu jener Zeit. Sie waren besorgt über das mangelnde Interesse der Arbeiterinnen und Arbeiter am politischen Kampf (womit sie den Kampf um die Eroberung der Macht meinten) und befürchteten, dass aufgrund zu vieler Streiks „die Ausländer das Interesse verlieren werden, ihr begehrtes Kapital zu investieren“.35 Dušan Popović glaubte, dass die Klassenposition des serbischen Proletariats eher dem Lumpenproletariat entsprach, und Dimitrije Tucović erklärte, dass die Massen zum Anarchismus neigten und auf den richtigen Weg geführt werden müssten36. Auch hier hatte das Kapital seine „zivilisatorische Mission „37 zu erfüllen, und die Arbeiterinnen und Arbeiter verstanden und akzeptierten diesen Weg zum Kommunismus noch nicht. Also kämpft die Arbeiterklasse weiter. Während der gesamten Zeit des sozialistischen Jugoslawiens und auch während des Krieges in den 90er Jahren kam es immer wieder zu Streiks und Aufständen. Daher waren Kapital und Staat gezwungen, immer neue Strategien zu finden, um den Widerstand zu brechen.
In einem Gebiet, in dem viele Sprachen und Dialekte gesprochen wurden und die verschiedenen Vorstellungen von nationalen Identitäten und Beziehungen, die die Bourgeoisie langsam aufbaute, noch nicht vollständig stabil und von den Nationalstaaten bestätigt waren, konnten aufkommende Nationalgefühle der KPJ als eine der Strategien dienen, um Menschen anzuziehen und zu formen, damit sie für ihre Politik handhabbar wurden. Deshalb war die nationale Frage seit ihrer Gründung eines der zentralen Themen für die Kommunistische Partei Jugoslawiens (KPJ). Als sich die geopolitische Lage auf dem Balkan und in Europa in der Zwischenkriegszeit veränderte, änderte die KPJ ihre Haltung zur nationalen Frage. Die Zusammenarbeit mit bourgeoisen Parteien und faschistischen Organisationen war legitim, wenn sie zur Macht der Partei beitrug. Die KPJ führte den Volksbefreiungskampf bekanntlich auf der Plattform des bourgeoisen Antifaschismus, wobei sie spezifische nationalistische patriotische Elemente mit dem jugoslawischen Patriotismus verband, ohne antikapitalistische Ziele zu erwähnen. Bereits 1920 verschwand jeder Hinweis darauf, dass die Revolution die Befreiung des Volkes vom Staat bedeuten sollte – nicht von dieser oder jener Regierung, sondern vom Staat als solchem – aus den Diskussionen der Partei. Und wenn nach dem Sieg im Krieg das Ziel die Bildung eines neuen Staates ist, wird die Ideologie der nationalen Befreiung oder des nationalen Befreiungskampfes nur zu einer weiteren ideologischen Legitimation des eigenen Rechts, über andere zu herrschen.
Wie andere kommunistische Parteien in der Welt hat die KPJ in Jugoslawien historisch zur Durchsetzung des Kapitals als einzig möglicher Form der menschlichen Gemeinschaft beigetragen, was unterschiedliche Taktiken zur Domestizierung der Arbeitskräfte erfordert. Nach der Gründung des neuen Staates wurde der Nationalismus zunächst als eine der Strategien der Akkumulation und Konzentration der Arbeitskräfte eingesetzt, und dann ab den 60er Jahren als eine der Strategien der Atomisierung. Da Jugoslawien vor dem Krieg überwiegend ein Agrarland war und die Arbeiterinnen und Arbeiter militant und „zum Anarchismus neigend“ waren, bestand die Aufgabe des neuen Staates darin, den rechtlichen, institutionellen und ideologischen Rahmen für die weitere Entwicklung des kapitalistischen Warenproduktionssystems zu schaffen und zu stärken und die Bevölkerung zu funktionalen Staatsbürgern zu machen, die bereit waren, viel zu arbeiten. Mit anderen Worten: Der neue Staat musste aus der Masse eine Nation machen. In diesem Sinne war die Umwandlung der Bevölkerung in konstitutive Völker und Nationen funktional für ihre legitime Ausbeutung als Ressourcen durch Schockarbeit. Für die Mitglieder einer Nation, die sich von einem äußeren Besatzer befreit hat, hört die Arbeit auf, Ausbeutung zu sein, und wird zu einer nationalen Pflicht, die mit Freude erfüllt wird. (Parallel zur Schockarbeit der konstituierenden Völker und Nationen erfolgte die Akkumulation durch die Enteignung der Bauernschaft).
Die Starrheit des zentralen Staatsmonopols konnte die Kontinuität der Mehrwertabschöpfung nicht auf Dauer gewährleisten, so dass die Verwalter des jugoslawischen Kapitalismus erkannten, dass die soziale Regulierung den „objektiven ökonomischen Gesetzen“ überlassen werden sollte. Parallel zur immer stärkeren Hinwendung zur Logik des Marktes wurden seit den 60er Jahren immer wieder Veränderungen in Richtung einer Stärkung und Ausweitung der Befugnisse der Republiken vorgenommen, was mit der Notwendigkeit begründet wurde, die Nationen in ihrer Selbstverwaltung zu bestätigen. Die Arbeiterinnen und Arbeiter wurden nicht mehr durch die Notwendigkeit der Verteidigung und des Aufbaus eines neuen gemeinsamen Staates der Südslawen gebändigt, sondern durch die Notwendigkeit der Verteidigung ihres eigenen Einkommens, des Einkommens ihres Arbeitskollektivs und des Profits, der in ihrer eigenen Republik geschaffen wurde, d.h. durch die Atomisierung. Das Erstarken des Nationalismus ist in diesem Zusammenhang nicht nur eine Frage der institutionellen und politischen Struktur, die ihn durch die Stärkung der Macht der ethnisch basierten Volksrepubliken und ihrer politischen Anführer begünstigt, sondern ein notwendiges Element der kapitalistischen Gesellschaft. Wenn die abstrakte Arbeit und die Form des Wertes die Grundlage der sozialen Regulierung sind und wenn die Arbeit von Institutionen und Organisationen absorbiert wird, die von oben auferlegt wurden, wie es bei den OOURs der Fall war, selbst wenn diese Institutionen Selbstverwaltung genannt werden, wird es eine Tendenz geben, dass die Menschen von ihren Partikularinteressen geleitet werden. Egoistisches, partikularistisches und unsolidarisches Denken ist das sinnvollste und logischste Denken in kapitalistischen Gesellschaften. Der Nationalismus ist eine solche Art des Denkens.
In den 1990er Jahren musste das globale Kapital eine neue Legitimationsgrundlage für noch härtere Regime der Wertschöpfung finden. Für die Länder der kapitalistischen Peripherie bedeutete dies oft erzwungene restriktive ökonomische Maßnahmen, deren Umsetzung durch die weitere brutale Atomisierung und Zerschlagung der Macht der Arbeiterinnen und Arbeiter durch Schüren von ethnischem Hass, militärische Operationen und ethnische Säuberungen, kurz: durch Krieg, erleichtert wurde. Der Zerfall Jugoslawiens und der Krieg waren keineswegs nur eine Frage des Drucks und der Interventionen von außen, sondern auch der Logik kapitalistischer Gesellschaften, wie es sie in Jugoslawien gab. Kapitalismus und Nationalismus sind nicht plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht. Vielmehr hatte das sozialistische Jugoslawien die historische Aufgabe, ihre Kontinuität in diesem Gebiet zu entwickeln, zu konsolidieren und zu erhalten. Mit dem Krieg und den neuen Staaten nahm der Nationalismus lediglich eine andere spektakuläre Form an.
LISTE DER VERWENDETEN TEXTE
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Camatte, Jacques, 2003. Protiv pripitomljavanja [Gegen die Domestizierung], Anarhija blok 45, Beograd
Bedszent, Gerd, Staatsgewalt vom Beginn der Neuzeit bis heute. Der Nationalstaat als Geburtshelfer und Dienstleister der Warenproduktion, https://www.exit-online.org/textanz1.php?tabelle=aktuelles&index=19&posnr=708
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Jović, Dejan, 2003. Jugoslavija: država koja je odumrla: uspon, kriza i pad Kardeljeve Jugoslavije: (1974-1990) [Jugoslawien: der Staat, der starb: Aufstieg, Krise und Fall von Kardeljs Jugoslawien: (1974-1990)], Prometej, Zagreb
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1Es gab Ideen eines exklusiven kroatischen und serbischen Nationalismus, aber auch Ideen eines jugoslawischen Nationalismus, d. h. Ideen zur Schaffung einer einheitlichen jugoslawischen Nation (z. B. innerhalb der illyrischen Bewegung in Kroatien in den 1930er Jahren, die die Idee der Einheit der Südslawen oder „Illyrer“ vertrat). Es ist anzumerken, dass die Ideen der exklusiven Nationalismen oft ganz anders formuliert wurden als sie heute formuliert werden. So glaubte beispielsweise der wichtigste Ideologe des kroatischen Nationalismus im 19. Jahrhundert, Ante Starčević, dass es auf dem Balkan nur zwei slawische Völker gab – Bulgaren und Kroaten, was für ihn bedeutete, dass „Serben“ „Kroaten“ genannt werden sollten. Vuk Karadžic hingegen war der Meinung, dass alle Sprecher des štokavischen Dialekts Serben, die Sprecher des Kajkavischen Slowenen und die Sprecher des Chakavischen Kroaten seien.
2Zum Beispiel die Ideen von Ante Starčević (1823-1896) und der Angriff auf Stjepan Radić 1928 in der Vollversammlung des Königreichs Jugoslawien für das kroatische nationale Narrativ, oder die Ideen von Dositej Obradović (1739-1811), Vuk Karadžić (1787-1864) und der serbischen Revolution (1804-1835) für das serbische nationale Narrativ.
3Rosa Luxemburg warnte immer wieder vor dem Opportunismus der nationalen Politik Lenins und schrieb in ihrem Buch Die russische Revolution (1918), dass die Bolschewiki mit ihrer Ideologie der nationalen Befreiung und des Selbstbestimmungsrechts der Nationen die Ideologie der Konterrevolution sicherten und die Position der Bourgeoisie stärkten und die Position des Proletariats schwächten.
4Zur Frage des Zusammenbruchs Jugoslawiens siehe den Text „How [not] to do a critique: Demystifying the antiimperialist narrative of the collapse of Yugoslavia“ des Kollektivs Our baba doesn’t say fairy tales in der zweiten Ausgabe von Antipolitika, die Jugoslawien gewidmet ist.
5Sozialdemokratische Parteien aus anderen jugoslawischen Ländern warfen den serbischen Sozialisten vor, den anderen Balkanstaaten große Bedeutung beizumessen und die slawischen Völker unter Österreich-Ungarn nicht zu berücksichtigen. Bis zum Ersten Weltkrieg akzeptierte die SSDP das jugoslawische Nationalprogramm weder als Programm der Annäherung und Gegenseitigkeit noch als Programm für die Befreiung der Völker unter Österreich-Ungarn und ihre Vereinigung mit Serbien im Rahmen Jugoslawiens. Die serbischen Sozialdemokraten hielten an der Idee einer Balkanföderation fest, und die unter Österreich-Ungarn an Jugoslawien. Die serbischen Sozialdemokraten begründeten ihre Balkanpolitik mit der Notwendigkeit, die Balkanvölker zur Verteidigung gegen den Imperialismus, vor allem gegen Österreich-Ungarn, zu vereinen.
6Obwohl König Aleksandar vor dem Krieg die Politik eines Großserbiens befürwortete, favorisierte er während des Krieges aus strategischen Gründen die Idee eines Jugoslawiens. Um nämlich einen starken, stabilen und legitimen Staat unter einem einzigen Herrscher zu schaffen, mussten Nation und Staat gleichberechtigt sein, und deshalb musste es eine Nation geben – eine jugoslawische Nation. Obwohl die Idee des Jugoslawismus ethnische (und sogar rassische) Wurzeln hatte, weil sie auf der Vorstellung beruhte, dass es eine Art Einheit zwischen den slawischen Völkern, insbesondere den südslawischen Völkern, gibt, die zu ihrem Zusammenschluss zu einer Nation – der jugoslawischen – führt, wurde sie mit der Schaffung des Staates eher zu einem politischen Projekt, das die Anerkennung kultureller Unterschiede nicht ausschloss.
7Interessant ist, dass es seit 1918 eine südslawische kommunistische Gruppe unter der bolschewistischen Partei in Russland gab, die aus Tausenden von Slowenen, Serben, Bulgaren und Kroaten bestand und eine eigene Zeitung, Svetska revolucija [Weltrevolution], herausgab. In der Frage des politischen Systems der Nachkriegszeit spaltete sich die Gruppe bald in zwei Fraktionen: Die eine trat für Jugoslawien als Staat der Südslawen ein, die andere für eine Balkanföderation, die auch Albaner, Griechen und Rumänen und in einigen Varianten auch Ungarn umfassen sollte. Nach der Rückkehr aus Russland und unmittelbar vor der Gründung der Sozialistischen Arbeiterpartei Jugoslawiens (Kommunisten) akzeptierten viele von ihnen, nach der Abschaffung des Königreichs der Schs, die Idee der nationalen Einheit der Jugoslawen.
8Die KPJ verwendet in ihrer Propaganda gelegentlich den Begriff „Verlies des Volkes“, der sich auf das Königreich shs bezieht. Derselbe Begriff wurde von anderen Kommunisten für die österreichisch-ungarische Monarchie und das Russische Imperium verwendet.
9Während die Idee einer Balkanföderation im XIX. Jahrhundert unter den Sozialisten präsent war, war die vorherrschende Vorstellung einer solchen Föderation damals die einer Föderation von Gemeinden oder Kommunen unter dem Einfluss von Proudhon, des Anarchismus und des russischen populistischen Sozialismus. Die Frage nach der Methode zur Vereinigung der jugoslawischen Völker wurde von den sozialistischen Parteien erstmals 1908 im Zusammenhang mit der Frage der österreichisch-ungarischen Annexion von Bosnien und Herzegowina aufgeworfen. Die slowenischen und kroatischen Sozialisten glaubten, dass die Aufnahme weiterer slawischer Völker in die Grenzen Österreich-Ungarns deren Umwandlung in eine Konföderation der Nationen beschleunigen würde. Die serbischen Sozialisten hingegen betonten, dass die Vereinigung der jugoslawischen Völker nicht im Rahmen Österreich-Ungarns, sondern durch eine einheitliche sozialistische Politik auf dem Balkan erreicht werden könne. Bereits 1903 entwickelten sie die Idee der Balkanföderation, und 1910 wurde auf der Balkan-Konferenz der Sozialisten in Belgrad, an der Delegierte der sozialistischen Parteien Serbiens, Sloweniens, Slawoniens, Bosniens und Herzegowinas, der Türkei, Rumäniens, Griechenlands und Kroatiens sowie Delegierte der sozialistischen Organisationen Mazedoniens und Montenegros teilnahmen, die Idee der Sozialistischen Föderativen Balkanrepublik bestätigt. Allerdings gab es keine Einigung über die Methode der Vereinigung, und nur die bulgarischen und serbischen Sozialisten akzeptierten die Idee der Balkanföderation als politischen Ausdruck der Vereinigung der Balkanvölker. Die Idee wurde auch von der II. Internationale unterstützt. Nach dem Ausbruch des ersten Balkankrieges unterstützte die II. Internationale die Idee einer demokratischen Föderation der Balkanstaaten, die Serbien, Rumänien, Bulgarien, Griechenland, die Türkei und Albanien umfassen sollte, und schlug vor, dass die Völker unter der österreichisch-ungarischen Monarchie an der Umsetzung des Rechts auf demokratische Selbstverwaltung arbeiten sollten. So schlug die Internationale den einzelnen Nationen unterschiedliche Optionen vor und zog die staatliche Vereinigung nicht in Betracht. Die serbischen Sozialisten hielten auch während des Ersten Weltkriegs an der Idee einer Balkanföderation fest, die 1915 auf der Zweiten Sozialistischen Balkankonferenz in Bukarest bestätigt wurde. Die Sozialisten in Österreich-Ungarn näherten sich der Idee der Vereinigung durch die Sozialistische Föderative Balkanrepublik erst nach der Februarrevolution in Russland und insbesondere nach der so genannten Oktoberrevolution.
10A.d.Ü., die Biographie von Ante Ciliga – Im Land der verwirrenden Lüge kann man hier lesen.
11Vor dem Ersten Weltkrieg war Sima Marković ein revolutionärer Gewerkschafter/Syndikalist, d. h. ein Mitglied des radikalen Flügels der SSDP, der wegen seines Beharrens auf direkten Aktionen „direktaši“ genannt wurde.
12Er schrieb, dass Slowenen, Serben und Kroaten als drei Zweige einer einzigen Nationalität behandelt werden können. Ethnisch sind sie nämlich ein Volk, aber sie fühlen sich nicht mehr so, weil sie jahrhundertelang unter unterschiedlichen kulturellen, ökonomischen, politischen und sozialen Bedingungen gelebt haben. Dass sie sich nicht als eine Nation fühlen, ist außerdem die Schuld der slowenischen, serbischen und kroatischen Bourgeoisie. Im Moment sind diese drei Zweige noch nicht bereit, in einem Staat zu leben, aber sie könnten im Laufe der zukünftigen historischen Entwicklung zu einer Nation werden. In einigen seiner Schriften schreibt er, dass die Lösung der nationalen Frage im Zeitalter des Imperialismus (die Periode von den 1870er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg) unmöglich ist. Er fügt jedoch hinzu, dass diese Frage im Rahmen des Kapitalismus generell nicht gelöst werden kann.
13August Cesarec (1983-1941) war Schriftsteller, Übersetzer und Mitglied der KPJ seit deren Gründung. Vor dem Ersten Weltkrieg beteiligte er sich an der sozialdemokratischen Bewegung und war Mitglied der Nationalistischen Jugend. Im Jahr 1912 wurde er verhaftet und beschuldigt, an der Ermordung des königlichen Kommissars Slavko Cuvaj beteiligt gewesen zu sein, wofür er zu fünf Jahren und dann zu drei Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Ende 1918 trat er der erneuerten Sozialdemokratischen Partei bei und entschied sich für die so genannte „Linke“, die 1919 die SRPJ(k) (ab 1920 KPJ) gründete. Im Jahr 1919 gründete und redigierte er zusammen mit Miroslav Krleža die Zeitschrift Plamen, die im August desselben Jahres verboten wurde. Im Herbst 1922 schickte ihn die KPJ als Delegierten zum IV. Kongress der Kommunistischen Internationale in Moskau. Nach dem Kongress blieb er fünf Monate in Moskau und wurde auf dem Rückweg an der Grenze verhaftet und anschließend zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt. Nach Bekanntwerden seiner Verhaftung und Inhaftierung forderten die Zeitungen Borba und Savremenik seine Freilassung, und Miroslav Krleža kritisierte in seinem berühmten Artikel „Der Fall August Cesarec“, der in der Zeitung Nova Evropa (Nr. 16, 1923) veröffentlicht wurde, die damaligen Zustände im Königreich. Während der NDH wurde er in Kerestinac inhaftiert, von wo aus er in einem organisierten Fluchtversuch entkam. Die Flucht scheiterte an der schlechten Organisation, und alle überlebenden Flüchtlinge wurden gefangen genommen. Einige Tage später wurden sie wegen versuchter Rebellion gegen die Regierung zum Tode verurteilt. Wahrscheinlich wurde er zusammen mit anderen Genossen am 17. Juli 1941 in der Zagreber Dotrščina erschossen.
14In den Jahren 1924 und 1925 schloss die Komintern auf Initiative von Zinoviev die HSS der Krestintern (von der Komintern gegründete Bauerninternationale) an.
15Der Delegierte der KPJ „Vladetić“ Đuka Cvijić verteidigte die KPJ und sagte, dass die Frage nicht wegen der Illegalität behandelt wurde, sondern dass die KPJ fest in Opposition zur serbischen Hegemonie, für die Revision der Verfassung und die Selbstbestimmung aller Nationen und Stämme steht.
16Zinoviev’s letzte Rede auf der Sitzung: „Radić und anderen ist es weitgehend gelungen, viele Arbeiter in ihren nationalistischen (separatistischen) Netzwerken zu fangen, weil die jugoslawische Partei die nationale Frage falsch verstanden hat… Unsere Parteien müssen wissen, dass sie nicht nur für den Achtstundentag usw. kämpfen, sondern auch dafür, die Massen unter den gegebenen Umständen zu gewinnen, sie müssen wissen, dass die nationale Frage in vielen Ländern eine unserer stärksten Waffen im siegreichen Kampf gegen das bestehende Regime ist. Zweifellos müssen unsere Parteien Arbeiterparteien bleiben, aber diese Arbeiter müssen auch wissen, wie sie auf die nationale Frage in all den Ländern, in denen sie brennend ist, richtig reagieren können. Deshalb fordern wir, dass unsere Parteien in den Ländern, in denen die nationale Frage eine große Rolle spielt, in der Lage sind, das nationale Element im Kampf gegen das bürgerliche Regime zu nutzen.“ Interessant ist, dass der Erfolg der HSS ausschließlich auf die Ausnutzung der nationalen Frage zurückgeführt wird und nicht etwa darauf, dass sich die Partei in einem überwiegend bäuerlichen Land an die Bauernschaft wendet, während die Bauernschaft bei der KPJ nie im Mittelpunkt stand.
17Zum Vergleich schrieb Sima Marković, dass der Sozialismus nicht aus flammenden nationalen Leidenschaften entwickelt werden kann, sondern aus der Demokratie.
18Die Debatte wurde in der Broschüre über die Position der Kommunistischen Internationale zum KPJ-Streit und in Bolshevik veröffentlicht. Marković wurde 1939 bei Stalins Säuberungen hingerichtet.
19Đuro Cvijić (1896-1938) gehörte wie August Cesares als junger Mann der nationalistischen Jugend an und beteiligte sich an der Ermordung des königlichen Kommissars Slavko Cuvaj, wofür er erst zu fünf und dann zu drei Jahren Gefängnis verurteilt wurde. 1917 trat er der Sozialdemokratischen Partei Kroatiens und Slawoniens bei. Ab November 1918 wurde er Chefredakteur der sozialistischen Zeitung Sloboda, für die er mit Krleža zusammenarbeitete. Als Delegierter der Linken der Sozialdemokratischen Partei beteiligte er sich an der Vorbereitung der Dokumente für den Gründungskongress der SRPJ(k) im Jahr 1919. Am 9. August 1919 wurde er wegen seiner Beteiligung an der Diamantstein-Affäre (einem angeblichen Versuch eines kommunistischen Aufstandes im Königreich) verhaftet. Angesichts der Gefahr einer erneuten Inhaftierung emigrierte er im September nach Österreich. Zusammen mit Kamilo Horvatin war er seit der Gründung der Parteizeitung Borba im Jahr 1922 deren Herausgeber. 1923 wurde er in die Leitung der sogenannten „Linken“ der Partei gewählt und gleichzeitig für die KPJ Delegierter auf der erweiterten Tagung des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale in Moskau. Im Laufe des Jahres 1924 beteiligt sich Cvijić in Borba an der innerparteilichen Debatte über die nationale Frage, die er auch auf dem 5. erweiterten Plenum des Exekutivkomitees der Komintern erörtert. Aufgrund von Fraktionskämpfen in der KPJ entlässt die Komintern die auf ihrer Dritten Konferenz gewählte Parteiführung und ernennt Đuro Cvijić 1925 zum Sekretär der Provisorischen Führung. Auf dem Plenum des Zentralkomitees der KPJ im November 1926 wurde Cvijić zum politischen Sekretär gewählt. Im April 1928 nahm er an den Moskauer Beratungen teil, wo der Offene Brief des Exekutivkomitees der Komintern an die KPJ angenommen wurde, in dem die Fraktionen in der KPJ verurteilt wurden. Er war einer der ersten, der diesem Brief zustimmte. 1928 wurde Cvijić als Chefredakteur von Borba verurteilt. Es wurden 32 Anklagen gegen ihn erhoben, und er wurde wegen der in Borba geschriebenen Artikel zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Nach der Intervention von Miroslav Krleža wurde er 1931 freigelassen. Nach dem von der KPJ unterstützten „Velebit-Aufstand“ der Ustascha in den Jahren 1933-1934 gab Cvijić auf Anweisung der Partei die Zeitung Hrvatski put (Der kroatische Weg) heraus, die das Organ der im Lande gebildeten sogenannten nationalrevolutionären Gruppen war. Aufgrund seiner Opposition zur Führung wurde er 1937 aus der Partei ausgeschlossen. Bei Stalins Säuberungen in der so genannten Sowjetunion wurde er 1938 liquidiert.
20Die KP Kroatien und die KP Slowenien wurden 1937 gegründet, die KP Mazedonien und die KP Bosnien und Herzegowina 1943, die KP Serbien 1945. Die KP Kosovo und die KP Vojvodina wurden 1944 als Provinzkomitees der KPJ gegründet, die ab 1945 Teil der KP Serbiens sein werden. Spezielle Parteiorganisationen, d. h. der Bund der Kommunisten (SK) des Kosovo und die SK Vojvodina, wurden erst 1968 gegründet.
21Die Vereinigte Opposition oder die Liste der Nationalen Opposition des Blocks der Volksvereinigung war eine politische Liste, die bei den Wahlen für die Abgeordneten des Königreichs Jugoslawien 1935 gegen die regierende Jugoslawische Nationalpartei antrat. Die Liste bestand aus folgenden Parteien: der Bauern-Demokraten-Koalition, der Jugoslawischen Muslimischen Organisation, einem Flügel der Demokratischen Partei (Ljubomir Davidović) und einem Teil der Agrarpartei. Die Liste wurde von Vlatko Maček angeführt. Die Vereinigte Opposition befürwortete eine föderalistische Organisation des Königreichs Jugoslawien.
221936 wurde Tito zum organisatorischen Sekretär des Zentralkomitees der KPJ und zum Stellvertreter von Milan Gorkić ernannt, der Generalsekretär wurde. Im Mai 1937 bildete Tito die provisorische Verwaltung des Landes. Milan Gorkić, mit bürgerlichem Namen Josip Čižinski (1904-1937), war von 1936 bis 1937 Generalsekretär der KPJ. Im Alter von 17 Jahren wurde er Sekretär des SKOJ-Bezirkskomitees für Bosnien und Herzegowina, im Alter von 18 Jahren war er stellvertretender Chefredakteur der Gewerkschaftszeitung Radničko Jedinstvo. Im Jahr 1923 verließ er heimlich das Land und nahm am Zweiten Parteitag der SKJ in Wien teil. Von Wien aus wurde er zur Ausbildung nach Moskau geschickt. Er arbeitete im Apparat der Komintern und übernahm verschiedene Aufgaben. Zwischen 1928 und 1935 war Gorkić der organisatorische Sekretär der Kommunistischen Jugendinternationale. Er verfasste zahlreiche Broschüren und Artikel in verschiedenen Zeitschriften. Als Instrukteur der Kommunistischen Internationale reiste er in verschiedene europäische Länder. Im September 1936 entlässt das Exekutivkomitee der Komintern alle Mitglieder des Zentralkomitees der KPJ außer Gorkic. Am 9. September 1936 wurde er zum Generalsekretär der KPJ ernannt, während Josip Broz organisatorischer Sekretär wurde. Im Jahr 1937 wurde er nach Moskau eingeladen, wo er im Juli oder August verhaftet wurde. Angeblich wurde er als Gestapo-Spion angeklagt und anschließend liquidiert.
23Aus Gründen des Kontextes ist es notwendig, kurz auf die Politik des Königreichs in dieser Zeit einzugehen. Die Befürchtung, dass interne Spaltungen in der kroatischen Frage in Verbindung mit dem Einfluss externer Kräfte (vor allem des faschistischen Italiens) zu einer Bedrohung für das Überleben und die Sicherheit des jugoslawischen Staates werden könnten, veranlasste Fürst Pavle I. (der nach der Ermordung Alexanders von 1934 bis 1941 Regent des Königreichs war) und die politische Elite, das konstitutive Konzept der nationalen Einheit zugunsten eines Kompromisses mit dem kroatischen Konzept der Nation zu ändern. Das bisherige Konzept der nationalen Einheit, demzufolge der jugoslawische Staat eine einzige jugoslawische Nation darstellt, wurde im August 1939 durch eine Vereinbarung zwischen der Krone und kroatischen Politikern unter der Führung von Vladko Maček aufgegeben. Mit diesem Abkommen wurde die autonome Banovina von Kroatien innerhalb des Königreichs Jugoslawien gebildet. Historikern zufolge verringerten sich durch dieses Abkommen die Spannungen zwischen den „Kroaten“ und anderen Teilen der südslawischen Völker, die kroatische Frage wurde ad acta gelegt und zwei radikale Optionen für die Zukunft Jugoslawiens wurden kurzzeitig ausgeschaltet: die Doktrin des radikalen jugoslawischen Integralismus und die Doktrin des kroatischen Separatismus. Es reduzierte auch die Präsenz radikaler antijugoslawischer, antiserbischer und antikroatischer Rhetorik in der Öffentlichkeit. Andererseits wurde durch das Abkommen ein Konzept gefördert, das mit der ursprünglichen Idee der Identität des jugoslawischen Staates und der jugoslawischen Nation nicht mehr vereinbar war.
24Zitiert nach: Šuvar, Dujić i Mimica: Klasno i nacionalno u suvremenom socijalizmu [Die Klasse und das Nationale im zeitgenössischen Sozialismus], Zagreb: Naše teme, 1970.
25Vor dem Zweiten Weltkrieg wurde Bosnien und Herzegowina als gemeinsames Territorium zweier Nationen betrachtet – der Serben und der Kroaten sowie der Muslime, die vor dem Zweiten Weltkrieg von der KPJ als separate ethnische Gruppe ohne die Merkmale einer Nation betrachtet wurden. Im Mai 1968 vertrat das Zentralkomitee von Bosnien und Herzegowina die Auffassung, dass sich die Muslime zu einer Nation entwickelt hätten, was 1971 in der neuen jugoslawischen Verfassung bestätigt wurde. Es sollte betont werden, dass einige Republiken mehrere konstituierende Nationen hatten, z. B. war Kroatien ein Nationalstaat aus Kroaten und Serben, während Bosnien und Herzegowina eine Nation aus Serben, Kroaten und Muslimen war.
26Mit der Verabschiedung der Verfassung von 1963 wurde es in Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien umbenannt.
27Entgegen der Tendenz der offiziellen Politik, die in dieser Zeit die Identifizierung als „Jugoslawe“ als Ausdruck der Loyalität zum sozialistischen Jugoslawien förderte, was ab 1960 nicht mehr der Fall sein wird, wird diese Identifizierung gerade in der nächsten Zeit zunehmen und in den 80er Jahren ihren Höhepunkt erreichen.
28In der RSFSR gab es auch autonome Republiken, die jedoch nicht das gleiche symbolische Gewicht hatten wie Kosmet und Vojvodina für Serbien.
29Siehe die Erklärung der Kommunistischen Partei Kroatiens, in: Die nationale Frage in den Werken der Klassiker des Marxismus und in den Dokumenten und Praktiken der KPJ/SKJ, Zagreb: Udžbenici i priručnici politologija 5, 1978.
30In der zweiten, geänderten Auflage von 1957 kritisiert Kardelj Stalin und behauptet im Gegensatz zu ihm, die nationale Frage sei nicht nur eine Frage der Bauernschaft, sondern der gesamten Gesellschaft – des städtischen petite und mittel Bourgeoisie der unterworfenen Nation und der Intelligenz, die beide in den nationalen Befreiungsbewegungen eine Rolle spielen.
31Ein Beispiel für eine solche Haltung geben Šuvar, Dujić und Mimica in „The relationship between the class and the national in contemporary socialism“; in: Die Klasse und das Nationale im zeitgenössischen Sozialismus, Zagreb 1970: „Nationalismus ist die Theorie und Praxis der Unterordnung des Klasseninteresses unter das nationale Interesse, ihre Trennung und gegenseitige Aufhebung.“
32Als Tito gezwungen war, die MASPOK zu kritisieren, betonte er mehr als je zuvor, dass er ein Kroate sei. Angeblich hatte das MASPOK ein kleines Liedchen auf Tito: „Druže Tito / ich küsse dich auf die Stirn / komm zieh dir / einen Ustascha-Anzug an“.
33Das Garantieren oder Verweigern bestimmter Rechte für einzelne Gruppen wurde häufig mit dem Ausmaß der Kriegsbeteiligung dieser Gruppe begründet. So war zum Beispiel eines der Hauptargumente gegen die Gründung der Republik Kosovo im Jahr 1945 die geringe Beteiligung von Kosovo-Albanern an den Partisanen.
34Seit dem achten Kongress, dann intensiv während der Verfassungsdebatte bis zur Spaltung des SKJ im Januar 1990, gibt es Debatten zwischen den Anhängern von Kardeljs Konzept und den Befürwortern des früheren Konzepts des sozialistischen Jugoslawiens. Die Frage ist jedoch, wie grundlegend unterschiedlich diese beiden Konzepte waren, da beide auf der Errichtung und Stärkung ethnisch definierter Nation-Staaten beruhen.
35Vinaver, Vuk, 1964. „Sindikalno-štrajkački pokret u Srbiji (1903-1910)“ [Die sindikalistische Streikbewegung in Serbien (1903-1910)], Istorija 20. veka, 6/1964, Beograd, str. 37.
36Ješić, Rafajlo, 1969. „Ideološko-političke struje u radničkom pokretu Srbije 1903-1914“ [Ideologische und politische Tendenzen in der Bewegung der Arbeiterinnen und Arbeiter in Serbien 1903-1914)], Tokovi revolucije, 4/1969, Beograd, str. 101.
37Marx, Das Kommunistische Manifest, Grundrisse, etc.
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Aus der letzten Ausgabe von Antipolitik, der Nummer Drei, die Übersetzung ist von uns. Mehr Texte gegen den Nationalismus.
(Antipolitika # 3) Jungslawen und nihilistischer Nationalismus 1907-1914
1.
Die Jungslawen waren die jungen jugoslawischen revolutionären Nationalisten aus Bosnien und Kroatien, die sich in den Jahren unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg politisch entwickelten.
Weil sie so sehr von den europäischen nationalistischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts inspiriert waren und weil es unter ihnen einen starken deutschen intellektuellen Einfluss gab, gab der Historiker Milorad Ekmečić ihnen den Namen „Jungslawen“.
Heute ist die bekannteste und am meisten geschätzte Sektion dieser Bewegung das Mlada Bosna (Junges Bosnien), eine Gruppe, die 1914 das Attentat auf Franz Ferdinand in Sarajewo verübte. Viele Anarchisten und Anarchistinnen auf dem Balkan sind heute bereit, auf die anarchistischen Einflüsse dieser Gruppe hinzuweisen oder sie sogar zu Anarchisten und Anarchistinnen zu erklären, obwohl die Mitglieder von Mlada Bosna (A.d.Ü., ab hier Junges Bosnien oder JB) den Anarchismus zugunsten des Nationalismus klar ablehnten.
Mit diesem Text soll versucht werden, diese Verwirrung zu beseitigen.
Um besser zu verstehen, was die Jungslawen waren, werden wir mit einigen Aspekten der Geschichte Serbiens, Kroatiens und Bosniens beginnen und dann die Ideen untersuchen, die die jugoslawische revolutionäre nationalistische Bewegung zu Beginn des 20sten Jahrhunderts beeinflussten.
2.
In dem von 1804 bis 1835 andauernden Prozess, den Leopold von Ranke als „Serbische Revolution“ bezeichnete, wurde Serbien als de facto unabhängiger Staat gegründet, und diese Unabhängigkeit wurde auf dem Berliner Kongress 1878 offiziell anerkannt.
Während dieses Prozesses wurden die feudalen Verhältnisse in Serbien abgeschafft und erste Versuche unternommen, ein liberales Verfassungssystem zu etablieren. Es wurden einige politische Parteien gegründet, die in einem ungleichen Verhältnis zu den oft autokratisch gesinnten Herrschern (zunächst Fürsten, später Könige) der beiden rivalisierenden Dynastien (Obrenović und Karađorđević) standen.
Die bei weitem zahlreichste Klasse in Serbien waren die Kleinbauern, die kleine Grundstücke besaßen. Aus der kleinen Zahl der Gebildeten bildete sich eine neue herrschende Klasse: die Bürokratie. So schrieb Bakunin in seinem Buch Staatlichkeit und Anarchie (1873) über die serbischen Bürokraten:
„Solange sie jung und noch nicht durch den Staatsdienst korrumpiert sind, zeichnen sich diese Individuen größtenteils durch glühenden Patriotismus, Liebe zum Volk, einen recht aufrichtigen Liberalismus und neuerdings sogar durch das Bekenntnis zu Demokratie und Sozialismus aus. Sobald sie jedoch in den Staatsdienst eintreten, macht sich die eiserne Logik ihrer Position, die Kraft der Umstände, die bestimmten hierarchischen und profitablen politischen Beziehungen innewohnt, bemerkbar, und die jungen Patrioten werden von Kopf bis Fuß zu Bürokraten, während sie vielleicht weiterhin sowohl Patrioten als auch Liberale sind. Aber jeder weiß, was ein liberaler Bürokrat ist; er ist unvergleichlich schlimmer als eine einfache und geradlinige bürokratische Geißel.“
1903 wurde König Aleksandar Obrenović, der ein pro-österreichischer Autokrat war, von einer Gruppe von Verschwörern ermordet, die alle Offiziere des serbischen Militärs waren. Petar Karađorđević (aus der rivalisierenden Dynastie) wurde König. Während dieser ganzen Zeit war die vorherrschende politische Partei die Radikale Volkspartei, die die Ermordung unterstützte und versuchte, Serbien enger an Russland und Frankreich anzugliedern.
Dieses Ereignis führte zu großen Spannungen zwischen dem österreichisch-ungarischen Kaiserreich und Serbien. Diese Spannungen wurden durch eine Reihe von Ereignissen weiter verschärft, wie z.B.: der so genannte „Schweinekrieg“ 1906-1908, ein Handelskrieg, in dem Österreich-Ungarn ein Handelsembargo gegen Serbien verhängte; die einseitige Annexion Bosniens durch Österreich-Ungarn im Jahr 1908 (serbische Nationalisten betrachteten Bosnien als serbisches Land, und dieser Schritt wurde von den europäischen Mächten als illegal angesehen); und die unerwarteten Siege Serbiens in den Balkankriegen 1912-1913 mit der anschließenden territorialen Expansion Serbiens auf Kosten der Türkei.
3.
Der Nationalismus entwickelte sich in Kroatien unter Bedingungen, die vor allem durch die Tatsache bestimmt und begrenzt waren, dass Kroatien ein Gebiet innerhalb des Kaiserreichs Österreich-Ungarn war. Im Jahr 1867 wurde das Habsburger Reich als Kaiserreich Österreich-Ungarn reformiert. Mit dem so genannten „österreichisch-ungarischen Kompromiss“ wurde das Kaiserreich zu einer Doppelmonarchie, einem Bündnis zweier souveräner Staaten. Im darauf folgenden Jahr, 1868, wurde der „Kroatisch-Ungarische Ausgleich“ geschlossen, mit dem ein weiterer Dualismus eingeführt wurde, diesmal im ungarischen Teil des Kaiserreiches. Im kroatischen Verständnis dieses Kompromisses sollte Kroatien als ein Staat und eine Nation gesehen werden, die in einem Bündnis mit Ungarn steht, das wiederum als größere Einheit in einem Bündnis mit Österreich steht. Da die ungarische Seite eine andere Auffassung von der Regelung hatte, führte dies zu nationalistischen Spannungen.
Kroatien hatte ein Parlament, eine Regierung und einen ernannten „Ban“ – praktisch einen Premierminister.
Die verschiedenen politischen Parteien, die sich in Kroatien bildeten, wurden in der Regel durch ihre Ansichten über den Vergleich von 1868 bestimmt. Eine weitere entscheidende Frage war die nach der großen serbischen Bevölkerung in Kroatien.
Die kroatischen Nationalisten näherten sich dieser Frage auf unterschiedliche Weise, aber es gab zwei Hauptströmungen des Denkens.
Zum einen gab es die ilirische und später jugoslawische Bewegung der Volkspartei, später der Unabhängigen Volkspartei und noch später der Progressiven Jugend und anderer Gruppen. Nach dieser Auffassung waren die Kroaten und die Serben Kroatiens Teil ein und derselben Nation, die als jugoslawisch bezeichnet werden sollte. In Übereinstimmung mit dieser Idee traf das kroatische Parlament verschiedene Entscheidungen, wie z. B. 1861, als es beschloss, dass die Amtssprache Kroatiens jugoslawisch genannt werden sollte.
Im Gegensatz dazu bestand der zweite Strang, der von dem kroatischen nationalistischen Ideologen Ante Starčević verkörpert wurde, auf der Bedeutung der Beibehaltung des kroatischen Nationalnamens und der „historischen Rechte“, die diesem Namen zugeschrieben wurden. Nach dieser Auffassung gab es auf kroatischem Gebiet keine serbische Nationalität. Die Serben als solche wurden jedoch nicht abgelehnt. Starčević (dessen Mutter Serbin war) betrachtete die Serben als Kroaten. Tatsächlich betrachtete Starčević auch alle slawischen Einwohner Serbiens, Bosniens und Montenegros als Kroaten. Starčević und seine Anhänger gründeten die Partei der Rechten, die später viele verschiedene Fraktionen hatte, die sich alle unter dem Namen „Rechte“ zusammenfassen lassen, im Gegensatz zu den jugoslawisch orientierten „Progressiven“.
4.
1878 beschloss derselbe Kongress in Berlin, der die Unabhängigkeit Serbiens (und Montenegros) anerkannte, dass Bosnien, obwohl es offiziell immer noch zur Türkei gehörte, von Österreich verwaltet werden sollte.
Von allen Gebieten, die später zu Jugoslawien gehören sollten, war Bosnien vielleicht dasjenige, das sich am deutlichsten in einer kolonialen Position befand. Das alte, vom Osmanischen Reich geschaffene Feudalsystem war noch in Kraft, und das Gebiet wurde von einem von Österreich ernannten Gouverneur verwaltet.
Im Jahr 1914 gab es in Bosnien 93.336 Leibeigenenfamilien. Die orthodoxe Bevölkerung, die mehr als 40 % der Gesamtbevölkerung ausmachte, kontrollierte nur 6 % des Bodens. Mehr als 90 % des Landes hatten muslimische Eigentümer – was natürlich nicht bedeutet, dass alle Muslime Landbesitzer waren. Andererseits bestand der größte Teil der staatlichen Bürokratie aus Ausländern. Die Minderheit der Einheimischen, die vom Staat beschäftigt wurden, waren fast ausschließlich Katholiken.
Das bedeutet, dass die Serben von den drei in Bosnien lebenden ethnischen Hauptgruppen die am meisten entfremdete Gruppe waren. Dennoch setzte sich die nationalistische Jugendbewegung, die sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg entwickelte, aus Angehörigen aller drei Ethnien zusammen und stand den jungen Nationalisten aus Kroatien persönlich und ideologisch nahe.
5.
Obwohl die jungen Nationalisten aus Bosnien (Junges Bosnien, JB) und Kroatien (Junges Kroatien, JK) eng miteinander verbunden waren, kann man nicht sagen, dass sie ein direktes Gegenstück in Serbien hatten.
Das, was einem jungen Serbien am nächsten kam, war eine Gruppe von Studenten, die sich um die Zeitschrift Slovenski Jug (Slawischer Süden) scharte, die 1903 veröffentlicht wurde. Die Gruppe wurde von Ljubomir Jovanović – Čupa angeführt, der einer der Anführer der Studentendemonstrationen gegen König Aleksandar im Jahr 1903 war und von einem der Ideologen der JB, Vladimir Gaćinović, als „Mazzini des jungen Serbiens“ bezeichnet wurde. Aber dies war offensichtlich eine ältere Generation als JB und JK.
Zu der Zeit, als die Jungslawen in Serbien aktiv waren und Verbindungen knüpften, gab es in Serbien noch keine entsprechende Gruppe. Was es dort gab, war eine Gruppe nationalistischer Offiziere, die sich 1903 zu einem Attentat auf den König verschworen hatten und nun einen Geheimbund mit dem Namen „Vereinigung oder Tod“ gründeten, besser bekannt als die Schwarze Hand.
Dies ist die Gruppe, mit der die Jungslawen in Serbien eine enge Verbindung eingingen. Die Gruppe von Čupa bildete den zivilen Teil der Schwarzen Hand. Sein Enthusiasmus für und sein Wissen über europäische nationalistische Geheimgesellschaften des 19. Jahrhunderts, wie die Carbonari, lieferte eine nützliche Vorlage für die Gründung der Schwarzen Hand sowie für ihre geheimen Rituale und Schwüre.
6.
Junges Bosnien als konkrete Organisation gab es nicht. Was es gab, waren viele Geheimklubs, die überall dort gegründet wurden, wo es in Bosnien Gymnasien gab. Der Name „Junges Bosnien“ wurde eher als Bezeichnung für eine Generation oder ein bestimmtes Milieu verwendet.
Die ersten Klubs dieser Art wurden im Gymnasium von Mostar gegründet. Sie wurden 1905 gegründet, einer von Dimitrije Mitrinović (dem späteren Hauptideologen von JB) und der andere von Bogdan Žerajić (dem späteren Märtyrer von JB). Schon bald verbreiteten sich die Gruppen in ganz Bosnien, und eine der wichtigsten Gruppen wurde 1911 in Sarajewo gegründet und nannte sich „Serbo-kroatische Fortschrittsorganisation“. Gavrilo Princip wurde ihr Mitglied.
1912 schrieb und veröffentlichte Dimitrije Mitrinović ein Programm mit dem Titel „Programm des Jugendclubs Nationale Vereinigung“ (eine solche Gruppe existierte nicht), und die Jungslawen-Gruppen in Bosnien und Kroatien machten es sich zu eigen.
7.
Im Gegensatz zu JB gab es eine konkrete Gruppe namens Junges Kroatien.
Dabei handelte es sich um eine Gruppe „rechter“ Jugendlicher, die sich 1910 von der Hauptpartei der Rechten abspaltete und die gleichnamige Zeitschrift herausgab. Sie begannen, sich von der älteren Generation abzugrenzen, ähnlich wie die Jungslawen in Bosnien, indem sie militantere Methoden des Kampfes annahmen und propagierten. Für eine Gruppe, die aus dem rechten Milieu stammte und sogar mit der am stärksten antiserbischen und chauvinistischen Fraktion dieser Bewegung um Josip Frank verbündet war, begannen sie, sich mehr und mehr für die Idee einer jugoslawischen kulturellen Zusammenarbeit zu öffnen, auch wenn sie vorerst noch ein exklusives kroatisches nationalistisches Programm vertraten, demzufolge in Kroatien und Bosnien nur die kroatische Nation existierte.
Dennoch gab es offensichtliche Widersprüche in der Gruppe, was sich daran zeigt, dass sowohl Mile Budak (ein schrecklicher Schriftsteller und zukünftiger Ustascha) als auch Tin Ujević (ein genialer Dichter und zukünftiger jugoslawischer revolutionärer Nationalist, der mit der Schwarzen Hand verbündet war) Mitglieder waren.
Dies ist jedoch nur ein engerer Rahmen, in dem der Name Junges Kroatien verwendet werden kann.
Die umfassendere Art ist die Bezeichnung einer neuen Bewegung, die sich in Kroatien vor allem während der Balkankriege (1912-13) entwickelte und die sich sowohl aus Teilen der rechten Jugend (wie der Ujević-Gruppe in der JK), die die jugoslawische nationalistische Position vertraten, als auch aus Teilen der pro-jugoslawischen „progressiven“ Jugend, die militantere Kampfmethoden anwandten, zusammensetzte. Diese neue Gruppierung wurde zu Junges Kroatien, die das direkte Gegenstück zu Junges Bosnien war und sich als die jugoslawische revolutionäre nationalistische Jugend verstand.
8.
In Serbien wurde bereits 1902 eine geheime Gruppe als „Privatinitiative“ gegründet, die als „Mazedonisches Komitee“, „Serbisches Komitee“ usw. bezeichnet wurde. Die Gruppe wurde von der militanten mazedonisch-bulgarischen Gruppe VMRO (Interne Mazedonische Revolutionäre Organisation) inspiriert, die den Guerillakrieg in Mazedonien, damals noch ein Teil der Türkei, koordinierte.
Das Ziel der Gruppe war es, proserbische Tschetnik-Kommandos zu organisieren, die als paramilitärische Formation den nationalistischen Interessen der serbischen Bourgeoisie dienen sollten, ohne offiziell an den serbischen Staat gebunden zu sein.
Bald wurde diese Gruppe vollständig vom Staat übernommen und existierte als geheime Organisation mit dem Namen „Serbische Verteidigung“, die sowohl ein nachrichtendienstliches Netzwerk als auch eine Struktur für den organisierten Guerillakrieg in Form von Tschetnik-Kommandos war.
Als Österreich 1908 beschloss, Bosnien zu annektieren – was bedeutete, dass es aufhörte, so zu tun, als würde es die Souveränität der Türkei über Bosnien anerkennen, und es einfach offen zu seinem eigenen Territorium erklärte – führte dies zu großen Spannungen innerhalb Serbiens.
Dies führte zu großen Spannungen in Serbien. Der Schritt wurde als große Provokation gegen die serbischen Interessen angesehen und eine intensive nationalistische Mobilisierung wurde in Gang gesetzt. Es wurde offen darüber spekuliert, dass ein Krieg zwischen Österreich-Ungarn und Serbien ausbrechen könnte.
Unter diesen Umständen wurde die „Serbische Verteidigung“ in „Nationale Verteidigung“ umbenannt und als öffentliche nationalistische politische Organisation reorganisiert. Die Nationale Verteidigung war zuständig für öffentliche nationalistische Veranstaltungen und für die Rekrutierung von Menschen in Tschetnik-Kommandos zur Vorbereitung auf einen möglichen Krieg. Bald wurde die Organisation zu einer Massenorganisation.
Doch die serbische Bourgeoisie beschloss, dem Beispiel der Großmächte zu folgen, von einer kriegsbereiten nationalistischen Position abzurücken und sich mit der Annexion zu arrangieren. Dies wurde von den extremeren nationalistischen Kreisen in Serbien als Verrat angesehen.
9.
Die extremeren nationalistischen Kreise waren vor allem im serbischen Militär einflussreich. Bald beschloss eine Gruppe jüngerer Verschwörer und Attentäter aus dem Jahr 1903, dass die Regierung aus schwachen Männern und Verrätern bestehe und dass es an ihnen sei, zu handeln.
Ihre Organisation wurde in den Jahren 1910-11 unter dem Namen „Vereinigung oder Tod“ formalisiert und besser bekannt als die Schwarze Hand.
Die Schwarze Hand war ein extrem nationalistischer Geheimbund mit einigen protofaschistischen Elementen. Obwohl sie nicht öffentlich auftrat, beschloss sie, eine Zeitung mit dem Namen Pijemont (benannt nach dem italienischen Staat Piemont, der als der Staat angesehen wurde, der den Prozess der italienischen Einigung anführte) zu gründen, die ihren Zielen dienen sollte. Die Zeitung wurde von Čupa herausgegeben, der auch viele freimaurerische Einflüsse in die Gruppe einbrachte.
Die von der Gruppe propagierte Ideologie war ein extremer Nationalismus und eine offene Propagierung des Kultes der Nation und des Staates. Sie befürworteten die Aufhebung von Freiheiten, Menschenrechten und Demokratie, um die Interessen der Nation zu schützen. In ihrer Ideologie wurde die jugoslawische Idee oft mit der Idee eines Großserbiens verbunden.
Angeführt wurde die Gruppe von dem fanatischen und skrupellosen Oberst Dragutin Dimtrijević – Apis, der als graue Eminenz des serbischen politischen Lebens galt und von den Politikern gefürchtet wurde. Seine rechte Hand war Voja Tankosić, der wichtigste Tschetnik-Kommandant und Organisator von Tschetnik-Ausbildungslagern. Tankosić wurde von seinen Zeitgenossen als ein dummer Mann beschrieben, der dafür bekannt war, Deserteure und feindliche Soldaten persönlich mit einem Messer zu töten.
Die Schwarze Hand hatte eine wirksame Kontrolle über die Tschetnik-Organisation und platzierte ihre Mitglieder in einflussreichen Positionen innerhalb der Nationalen Verteidigung.
In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass die Nationale Verteidigung weiterhin als Geheimdienstorganisation genutzt wurde, ein Netzwerk von Agenten, das eng mit der Tschetnik-Organisation und dem serbischen Staat zusammenarbeitete. Aber jetzt bekam die Nationale Verteidigung ihr paralleles Geheimnis, wir können sagen ein „tiefes staatliches“ Zentrum, das von der Schwarzen Hand kontrolliert wurde und von dem viele seiner Mitglieder nichts wussten.
Ab 1908 konzentrierte sich die Nationale Verteidigung zunehmend auf Bosnien und baute dort ihr Agentennetz aus. Nach den Siegen der serbischen Armee in den Jahren 1912-13, nach denen der serbische Staat die Kontrolle über große Teile Mazedoniens übernahm, verlagerte sich der Schwerpunkt vollständig auf Bosnien. Die Schwarze Hand war in der Lage, die von der Nationalen Verteidigung aufgebauten Netzwerke zu nutzen, ohne dass die serbische Regierung davon wusste. Genau über diese Kanäle wurden Mitglieder des Jungen Bosnien nach Sarajewo geschickt, um Franz Ferdinand zu ermorden.
Die Siege in Mazedonien bedeuteten nicht, dass die Spannungen zwischen der Schwarzen Hand und der serbischen Regierung verschwanden. Die Militärbehörden in den neu eroberten Gebieten Mazedoniens und des Kosovo, zu denen viele Mitglieder der Schwarzen Hand gehörten, weigerten sich, die Vormachtstellung der zivilen Behörden anzuerkennen, und diese Gebiete wurden als besetzte Gebiete von den Militärs regiert. In dieser Zeit wurde Apis‘ Macht offiziell anerkannt, als er die Position des Leiters des serbischen militärischen Geheimdienstes übernahm.
10.
Für die Jungslawen in Kroatien und Bosnien wurde Serbien immer attraktiver. Es war ein unabhängiger südslawischer Staat mit einem politischen und ökonomischen System, das den jungen Nationalisten sehr egalitär erschien, insbesondere im Vergleich zu Österreich.
Vladimir Čerina, der Anführer der nationalistischen Revolutionäre in Kroatien, sagte über die serbische Demokratie: „Serbien ist eine lebendige Demokratie, wie es sie nirgendwo in Europa gibt: Seine Sozialisten und Anarchisten sind zahlreicher als unsere Konservativen, und die Mädchen sind dort emanzipierter als hier.“ Dies war eine sehr typische Ansicht. Als die Mitglieder von JB vorübergehend in Belgrad lebten (sie wurden wegen ihrer Aktivitäten oft von bosnischen Schulen verwiesen und setzten ihre Ausbildung in Serbien fort, wo sie Beziehungen zur Schwarzen Hand knüpften), waren sie sehr beeindruckt von der egalitären Kultur in Belgrad, wo Menschen mit sehr unterschiedlichem sozialen Status in Bars zusammenkamen. Und obwohl sie nicht religiös waren, besuchten sie gerne die Liturgie in einer kleinen Belgrader Kirche namens Ružica, weil sie dort König Petar selbst bei der Messe sehen konnten.
Die Aktivitäten von JB inspirierten auch JK dazu, sich stärker in die proserbische Richtung zu bewegen. Als Bogdan Žerajić 1910 versuchte, den bosnischen Gouverneur Varešanin zu ermorden (und anschließend Selbstmord beging, wodurch er zum Märtyrer und zu einer großen Inspirationsquelle für die jungen Revolutionäre wurde), erklärte sein Freund und JB-Ideologe Vladimir Gaćinoć, dass Žerajić Varešanin töten wollte, um die kroatischen Nationalisten des 19. Jahrhundert Eugen Kvaternik und Vjekoslav Bach zu rächen. Kvaternik und Bach versuchten 1871 einen bewaffneten Aufstand gegen Österreich. Als der Versuch scheiterte, wurde Varešanin von den kroatischen „Rechten“ für ihren Tod verantwortlich gemacht. Sowohl Kvaternik als auch Bach waren enge Mitarbeiter von Ante Starčević und gehörten zu den Gründern der Partei der Rechten.
Dieses Opfer von Žerajić veranlasste junge „Rechte“ wie Tin Ujević, eine jugoslawisch-nationalistische und pro-serbische Position einzunehmen: „Die Serben schießen und rächen unsere Märtyrer“.
Aber ein wichtiger Anstoß für die proserbische Sache waren die Erfolge der serbischen Armee in den Balkankriegen – sie schufen einen proserbischen Rausch unter der Jugend sowohl in Kroatien als auch in Bosnien. Ujević verkündete: „Unsere Leute in der Monarchie begreifen nicht, wie sehr unser Serbien uns gehört, wie es hundertmal mehr, ich will nicht sagen serbisch, aber mehr kroatisch ist als Kroatien selbst, und das müssen sie begreifen, hören und sehen.“ Sein enger Mitarbeiter und ebenfalls ein ehemaliger „Rechter“, Krešo Kovačić, betonte: „Die Kroaten sollten nie vergessen, dass es einen freien kroatischen Staat gibt: Serbien, und ebenso sollte Serbien nie vergessen, dass es einen versklavten serbischen Staat gibt: Kroatien.“
Sowohl Ujević als auch Kovačić gingen nach Serbien, ebenso wie andere kroatische Jungslawen wie Vladimir Čerina, Luka Jukić, Oskar Tartaglia und Pavle Bastajić, die alle Beziehungen zur Schwarzen Hand knüpften. Wir wissen mit Sicherheit, dass Tartaglia und Bastajić Mitglieder der Schwarzen Hand wurden, dass Ujević und Kovačić eine revolutionär-nationalistische Broschüre schrieben, die vom Verlag Pijemont der Schwarzen Hand veröffentlicht wurde, und dass Luka Jukić von Voja Tankosić und seinen Tschetniks Waffen und Ausbildung erhielt. Er nutzte diese Ausbildung und die Waffen, um 1912 ein Attentat auf Ban Cuvaj in Zagreb zu verüben.
Die bosnischen nationalistischen Revolutionäre hatten eine noch engere Beziehung zur Schwarzen Hand, und nach den Erinnerungen eines von ihnen, Mustafa Golubić, „wurden alle Mitglieder des Jungen Bosnien Mitglieder der Schwarzen Hand“ – er bezog sich wahrscheinlich auf diejenigen, die nach Serbien gingen. Viele von ihnen wurden Tschetniks, gingen in die Ausbildungslager und sammelten Kampferfahrung in Mazedonien.
Einige von ihnen, wie Princip und seine Freunde, wurden von Tankosić als zu kränklich und ungeeignet für den Guerillakrieg eingestuft, aber die Tatsache, dass sie bei schlechter Gesundheit waren, über Tod und Opfer nachdachten und bereit waren, für eine nationalistische Sache zu sterben, machte sie zu sehr guten potenziellen Attentätern. Es ist unklar, ob Apis und Tankosić tatsächlich glaubten, dass das Attentat auf Franz Ferdinand erfolgreich sein würde. Es wurde spekuliert, dass sie tatsächlich glaubten, Princip und seine Freunde würden scheitern und dies würde die serbische Regierung, die die Schwarze Hand als ihren Feind betrachtete, in Verlegenheit bringen. Auf jeden Fall versorgten sie die Attentäter von Junges Bosnien mit Zyanidkapseln, damit sie nach dem Attentat Selbstmord begehen konnten.
11.
Die Ideologie der Jungslawen war in erster Linie von den nationalistischen Bewegungen inspiriert, die zu den Vereinigungen Deutschlands und Italiens führten. Die Anarchistinnen und Anarchisten, die Linken sowie die Nationalisten, die heute die Jungslawen bewundern, verleugnen, was der Kern ihrer Ideologie war: der Liberalismus.
Die Jungslawen hatten verschiedene ideologische Einflüsse, aber diejenigen, die ihre Ziele definierten – die Gesellschaft, die sie in der Zukunft sehen wollten – waren liberal.
So veröffentlichten sie zum Beispiel eine Broschüre des in Wien lebenden Anarchisten und Anarchisten Pierre Ramus Die Lüge des Parlamentarismus. Und das war tatsächlich eine anarchistische Kritik am Parlamentarismus als solchem. Aber wenn sie selbst über den Parlamentarismus schrieben, wie er in Bosnien oder Kroatien existierte, schrieben sie nicht über die Lüge des Parlamentarismus (auf serbokroatisch: „laž parlamentarizma“), sondern über den falschen Parlamentarismus (auf serbokroatisch: „lažni parlamentarizam“).
Immer wieder kamen sie zu dem Schluss, dass sie revolutionäre Mittel wählten, weil es sinnlos sei, in einem Land mit Scheindemokratie wie Bosnien parlamentarische Mittel des politischen Kampfes einzusetzen. Andererseits hielten sie das parlamentarische System, das in Serbien in Kraft war, für authentisch und attraktiv.
Darüber hinaus glaubten sie, dass die sozialen, ökonomischen und politischen Probleme, mit denen sie konfrontiert waren, automatisch gelöst würden, wenn auf den Trümmern des österreichischen Kaiserreichs ein jugoslawischer Nation-Staat gegründet würde, der sowohl das landwirtschaftliche als auch das parlamentarische System, das in Serbien (dem Kerngebiet dieses neuen Staates) existierte, einführen würde.
12.
Es bedurfte einer gewissen kognitiven Dissonanz, um eine solche Sichtweise auf Serbien aufrechtzuerhalten.
Erleichtert wurde dies durch die Tatsache, dass die Mitglieder von Junges Bosnien nach ihren eigenen Erinnerungen, während sie in Belgrad lebten, fast ausschließlich unter sich verkehrten. Einer von ihnen, Ratko Parežanin, sagte, er habe sich während seines monatelangen Aufenthalts in Belgrad (und als Zimmergenosse von Gavrilo Prinicip) nicht nur mit keinem der dortigen Jugendlichen angefreundet, sondern nicht einmal mit einem von ihnen gesprochen. Ihre einzigen Kontakte in Belgrad waren diejenigen, die mit der Schwarzen Hand verbunden waren.
Zu dieser Zeit gab es in Belgrad junge Anarchistinnen und Anarchisten und revolutionäre Syndikalisten. Hätten die bosnischen Jungslawen Kontakte zu ihnen gehabt, hätten sie ihnen schildern können, dass sie an vielen Streiks teilgenommen haben, dass einige dieser Streiks brutal niedergeschlagen wurden und dass es in einigen Fällen Arbeiterinnen und Arbeiter gab, die vom Staat erschossen wurden, und dass ihre Freunde, die Tschetniks, manchmal zur Niederschlagung der Arbeiterbewegung eingesetzt wurden. Sie hätten ihnen auch sagen können, dass anarchistische Zeitungen vom Staat verboten wurden.
Aber da solche Gespräche nicht stattfanden, mussten sich Junges Bosnien, die anarchistische Literatur lasen und mit einigen ihrer Inhalte sympathisierten, nicht der Realität stellen, wer ihre neuen Verbündeten waren, oder sie wollten sich dieser Realität vielleicht nicht stellen. So konnten sie engste Beziehungen zur antidemokratischen und protofaschistischen Schwarzen Hand knüpfen, während sie gleichzeitig die „serbische Demokratie“ bewunderten.
Der einzige unter ihnen, der sich später als Anarchist bezeichnete, Nedeljko Čabrinović, war auch der einzige, der einige Kontakte zu den jungen Anarchisten in Belgrad hatte. Aus diesem Grund schwankte er zwischen anarchistischen und nationalistischen Positionen und wurde als solcher von Gavrilo Princip verachtet, der ihn für „nicht intelligent genug“ und „nicht national genug“ hielt, weil er früher Anarchist und Sozialist gewesen sei.
13.
Die Sympathien für einige Aspekte des Anarchismus waren echt, aber sie waren auch bewusst oberflächlich.
Die Jungslawen sahen sich selbst als Revolutionäre und suchten nach Inspirationen bei anderen Revolutionären. Damals war es für jeden, der „das politische System stürzen“ wollte, schwer, sich nicht vom Beispiel anarchistischer Revolutionäre inspirieren oder teilweise beeinflussen zu lassen.
Die Sympathien galten vor allem den damals angewandten „anarchistischen Methoden“, die manchmal sogar als „russische Methoden“ bezeichnet wurden – aber in diesen Methoden (wie z. B. Attentaten) steckte nichts Anarchistisches, und die Jugend war sich dessen bewusst.
Während seines Prozesses erklärte Princip deutlich, dass er zwar der Meinung war, dass eine Gesellschaft im Sinne Kropotkins theoretisch möglich wäre, wenn sich die Umstände ändern würden, dass dies aber nicht ihr Anliegen war: „Aber da wir Nationalisten waren und obwohl wir sozialistische und anarchistische Literatur lasen, haben wir uns nicht so sehr mit diesem Thema beschäftigt, weil wir dachten, dass wir eine andere Pflicht haben, eine nationale Pflicht.“ Er stellte auch klar, dass ihr Ziel die Errichtung eines jugoslawischen Nation-Staats war, entweder in Form einer Republik oder einer Monarchie.
Auch Nedeljko Čabrinović, der sich zumindest eine Zeit lang als Anarchist sah, formulierte es so: „Ich bin ein Anhänger der radikalen anarchistischen Idee, damit wir mit Terrorismus das gegenwärtige System zerstören und an seine Stelle ein neues, liberaleres System setzen können; deshalb hasse ich alle Vertreter des heutigen angeblich konstitutionellen Systems, nicht als Personen, sondern als diejenigen, die in der Regierung sind, die das Volk unterdrückt.“
Die Gleichsetzung von „Anarchismus“ mit einer bestimmten Form des militanten Kampfes ist hier offensichtlich, ebenso wie der zugrunde liegende Liberalismus.
14.
Die Gründe dafür liegen auf der Hand, wenn man bedenkt, dass die Jungslawen der Meinung waren, dass jede Nation ihre eigene „Französische Revolution“ haben sollte, und dass sie die „Erklärung der Menschen- und Staatsbürgerrechte“ mit Begeisterung gedruckt und verbreitet haben.
Einer der historischen Einflüsse, die für die Jungslawen sehr inspirierend waren, waren die deutschen liberal-nationalistischen Studentenvereine, des 19. Jahrhunderts, die Burschenschaften. Diese hatten großen Anteil an der Märzrevolution und an der Einigung Deutschlands 1871. Sie waren liberal und extrem nationalistisch, traten für Freiheit, Rechte und Demokratie ein, schlossen aber manchmal Juden von ihrer Mitgliedschaft aus, weil sie nicht „national genug“ waren.
Das Programm von Mitrinović, das von allen Jungslawen übernommen wurde und weitgehend ihre Phraseologie bestimmte, war ebenfalls von einem unterschwelligen Liberalismus geprägt. Darin hieß es, das Ziel des „Clubs“ sei die Verbreitung des Nationalbewusstseins unter den Teilen „unserer geteilten, vielnamigen und multikulturellen Nation“, die sich ihrer nationalen Rechte, ihrer nationalen Pflichten und ihres nationalen Wertes nicht oder nicht ausreichend bewusst seien: „Alle Elemente, die nicht national genug sind, sollten unterdrückt werden (anational und antinational im materiellen und geistigen Leben unseres Volkes).“
Das Ziel dieses Programms war die Modernisierung. Für JB bedeutete „Modernisierung“ die Übernahme der Werte des liberalen Europas und seiner Kultur. Mitrinović formulierte es so: „Wir können nicht unsensibel gegenüber dem reichen und vielfältigen Leben des modernen und starken Westens sein, denn in diesem Fall wird uns dieser reiche und starke Westen, unkultiviert und unmodern wie wir sind, mit der Kraft seiner Kultur überrollen.“ Und Vaso Čubrilović, der jüngste der Angeklagten, brachte es während des Prozesses um das Attentat auf Franz Ferdinand so auf den Punkt: „Ein Nationalist kämpft dafür, dass seine Nation das Niveau der anderen Nationen erreicht, um die Nation kulturell und politisch zu erheben.“ Dieser Gedanke, das Niveau anderer Nationen zu erreichen, ist in den JB-Schriften allgegenwärtig. So sagte Danilo Ilić auch während des Prozesses: „Wenn die Deutschen es geschafft haben, eine Nation zu sein, warum können Serben, Kroaten und Slowenen das nicht auch schaffen. „
Für sie war der Nationalismus eine notwendige Bedingung für die Einführung der Demokratie, des allgemeinen Wahlrechts, der nationalen Souveränität und der Abschaffung der aristokratischen Privilegien.
15.
Wie bereits erwähnt, hegten die Jungslawen vordergründig viele Sympathien für die von Anarchistinnen und Anarchisten und nihilistischen Revolutionären verübten Attentate. Aber es gab auch ähnliche Sympathien für die Methoden der revolutionären Syndikalisten. Dieser Einfluss kam aus Frankreich und Italien, wobei Sorel eine besonders wichtige Figur war.
Die Jungslawen sympathisierten mit den außerparlamentarischen Kampfmethoden und sahen sie als potentiell nützlich in ihrem eigenen Kontext an. In der Tat war es diese Generation, die das Wort “štrajk” (Streik) im Serbokroatischen popularisierte.
Aber auch hier veränderten sich die Grundlagen und Ziele dieser Methoden: Statt sich wie die Syndikalisten auf das Proletariat und die mit jedem neuen Streik wachsende Solidarität innerhalb des Proletariats zu konzentrieren, sah die nationalistische Jugend den Streik als Methode zur Umwandlung eines anationalen Volkes in eine Nation. Anstelle eines Generalstreiks, der den Kapitalismus stürzen würde, glaubten sie an eine Revolution, die den jugoslawischen Nation-Staat schaffen würde.
Im Jahr 1911 versuchte der Gymnasiast Šćerbak ein Attentat auf einen Lehrer zu verüben, und als es ihm nicht gelang, brachte er sich um. Dies führte zum ersten “Studentenstreik” in Kroatien, an dem hauptsächlich Gymnasiasten beteiligt waren. Šćerbak war in Wirklichkeit ein Anführer einer der vielen revolutionären nationalistischen Studentengruppen. Der zweite Studentenstreik brach 1912 aus, als Ban Cuvaj begann, das politische Leben in Kroatien mit absolutistischen Methoden zu regeln. Die Studenten besetzten das Universitätsgebäude und brachten eine schwarze Fahne an. Mehr als 300 Studenten nahmen daran teil.
In Sarajevo fanden Studentendemonstrationen in Solidarität mit den Studenten in Zagreb statt. Diese Demonstrationen wurden von den “serbokroatischen” Revolutionären organisiert, denen Gavrilo Princip angehörte. Dies entwickelte sich zu einem “studentischen Generalstreik” in Kroatien und war ein wichtiger Schritt für die Verbreitung der jugoslawischen nationalistischen Idee sowie für die Annäherung der serbischen und kroatischen Jugend, einschließlich der ehemaligen “Rechten”, die nun proserbische Ansichten vertraten und sich auf eine nationale Revolution mit dem Ziel der Errichtung eines jugoslawischen Staates vorbereiteten: In ihren Augen war Ante Starčević selbst ein Jugoslawe, weil er glaubte, dass alle Serben Kroaten seien. Sie glaubten, dass die jugoslawische Idee das gleiche Programm neu formulierte, aber auf einem höheren Niveau, und nun mit revolutionären Methoden zur Verfügung stand.
16.
Die Jungslawen entwickelten ihre Ideen in einer Zeit, als die Ideen des “integralen Nationalismus” unter jungen Nationalisten populär waren. Diese aus Frankreich stammende Doktrin betonte die Bedeutung einer kulturell homogenen Nation mit einer einheitlichen Kultur.
Die Einflüsse des integralen Nationalismus machen sich besonders in der Vorstellung der Jugend bemerkbar, dass die einzelnen Teile der jugoslawischen Nation nicht isoliert überleben können und dass eine Nation, die im Entstehen begriffen oder in Gefahr ist, ihren einzelnen Mitgliedern, insbesondere der Jugend, große Opfer abverlangen muss. Nach dieser Doktrin ist moralisch, was der Nation dient.
Die Vorstellung, dass die Einheit und Homogenität einer Nation eine Voraussetzung für ihr Überleben und ihre Entwicklung ist, führte bei den Anhängern des integralen Nationalismus zu einer aggressiven Tendenz, andere Nationen zu assimilieren. Der integrale Nationalismus war ein wichtiges Kapitel in der Geschichte der reaktionären Ideen in der europäischen Geschichte, eines, das eine Verbindung zwischen den liberalen extremen nationalistischen Ideen des 19. Jahrhunderts und dem Faschismus herstellte. Und genau unter jenen Intellektuellen in Frankreich und Italien, die beschlossen, Aspekte des integralen Nationalismus und des revolutionären Syndikalismus zu kombinieren, entstanden die ersten faschistischen Programme.
Die Jungslawen wurden stark von der Tendenz geprägt, die oft als “Revolte gegen die Vernunft” bezeichnet wurde. Dazu gehörte nicht nur der bereits erwähnte Einfluss von Sorel in der Art und Weise, wie er seine syndikalistischen Ideen formte und auf der Bedeutung des Mythos bestand, sondern in erster Linie der Einfluss, den Nietzsche auf sie hatte.
Die nationalistische Jugend in Bosnien und Kroatien las viel, und zwar immer, und gab alles Geld, das sie hatte, für Bücher aus (oft liehen sie sich Bücher aus kleinen Buchhandlungen, die auch als Leihbibliotheken dienten): Sie lasen beim Spazierengehen auf der Straße, während der Mahlzeiten und am Abend vor dem Schlafengehen. Einer der beliebtesten Autoren, die sie lasen, war Nietzsche. Seine Freunde sagten, dass Gavrilo Princip immer wieder Nietzsche zitierte.
Die Motive des Willens und der Entschlossenheit, der Vitalität und der Aktivität, sind bei den Jungslawen sehr stark ausgeprägt. Eines der Mitglieder sagte später, dass sich das gesamte Programm von JB in einem Wort zusammenfassen lässt: Aktion. Princip glaubte, dass für die Entwicklung eines starken Willens das Schlafen mit einer Bombe (was er praktizierte) eine viel geeignetere Methode sei als alle populären Ideen französischer Pädagogen.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Jungslawen den Ideen der avanguardistischen Kunstströmungen, insbesondere dem Futurismus und dem Expressionismus, gegenüber sehr aufgeschlossen waren.
Miloš Vidaković, ein Mitglied von Junges Bosnien, schrieb über das Futuristische Manifest, noch bevor es bekannt wurde (1909). Die Jugend begrüßte das zerstörerische Programm der Futuristen mit Begeisterung, und laut Vidaković war das Ziel der Jugend ein radikaler Kampf bis hin zur Aufopferung. In den Gedichten dieser jungen Revolutionäre sind Tod und Blut ständig präsent, ebenso wie die Idee, das ultimative Opfer zu bringen, indem man sein Leben für das Wohl der Nation aufgibt, manchmal in einem Krieg, in dem alle, auch der Dichter selbst, sterben.
Dimitrije Mitrinović ging noch einen Schritt weiter und schrieb 1913 sein eigenes futuristisches Manifest: Ästhetische Kontemplation. Mitrinović war auch derjenige, der 1912 direkte Kontakte zwischen JB und den deutschen Expressionisten herstellte.
Die Idee eines Bruchs mit den älteren Generationen, deren gemäßigte Politik die jungen Nationalisten ablehnten, passte sehr gut zum Thema des Konflikts zwischen Vätern und Söhnen, das in expressionistischen Werken oft vorkommt, sowie zu Heinrich Mans Ansicht, dass der Expressionismus ein durch Aktion gestärkter Geist” sei.
17.
Die Begeisterung der Jungslawen für die deutschnationale Bewegung wurde erwidert, als Hitler in der ersten Ausgabe von Mein Kampf über die Ermordung Franz Ferdinands in Sarajewo durch die bosnischen Jugendlichen schrieb: „Es war die Hand der Göttin der Gerechtigkeit, die den größten und tödlichsten Feind Deutschösterreichs, den Erzherzog Franz Ferdinand, beseitigt hat“.
In den späteren Ausgaben wurde dieser Satz gestrichen, und heute wird Hitlers Haltung gegenüber Junges Bosnien gewöhnlich durch ein Foto veranschaulicht, das nach der Besetzung Jugoslawiens durch die Nazis aufgenommen wurde und zeigt, wie deutsche Soldaten Hitler die Gedenktafel für Gavrilo Princip und das Attentat überreichen.
Woran Hitler in diesem Moment genau gedacht hat, lässt sich nicht sagen, aber wir können etwas über die Beziehung zwischen einigen Mitgliedern der Jungslawen und dem Faschismus sagen. Nach dem Ersten Weltkrieg hatten die den Jungslawen angeschlossenen Individuen unterschiedliche politische Entwicklungen, aber einige sehr prominente waren mit faschistischen Bewegungen verbunden und knüpften diese Bewegungen ausdrücklich an die Ideen der Jungslawen.
Ljubo Leontić, ein wichtiger Teil der jugoslawischen revolutionären nationalistischen Jugend aus Kroatien, arbeitete mit Enthusiasmus an der Gründung einer gemeinsamen revolutionären Organisation und wurde in seinen Bemühungen durch das Attentat von Sarajevo unterbrochen (an diesem Tag organisierte Leontić ein Treffen junger Nationalisten zur Gründung einer neuen Organisation).
In den 1920er Jahren war Leontić der Anführer der ORJUNA (Organisation der jugoslawischen Nationalisten), einer faschistischen Organisation, die für die Schaffung einer integralen jugoslawischen Nation eintrat. Diese Organisation trat auch für die Errichtung eines korporatistischen Systems ein, feierte „einheimisches produktives Kapital und Arbeit“ und verurteilte das Finanz- und Spekulationskapital als parasitär und anational.
Dobrosav Jevđević, ein Mitglied von Junges Bosnien, der Princip persönlich kannte, wurde einer der Anführer der ORJUNA, insbesondere ihrer paramilitärischen Tschetnik-Kommandos, die zur Zerschlagung der Arbeiterinnen und Arbeiter eingesetzt wurden. Während des Zweiten Weltkriegs war Jevđević ein Kollaborateur.
Niko Bartulović war ein nationalistischer Revolutionär aus Dalmatien und verfasste nach dem Krieg als Mitglied der ORJUNA eine Broschüre, deren ausdrückliches Ziel es war, zu erklären, dass die faschistische Organisation ihre Wurzeln in der Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg hatte. In den 1930er Jahren tauchte in Jugoslawien eine neue faschistische Organisation auf. Es handelte sich um den Zbor, der später zur wichtigsten kollaborierenden Organisation während der Besetzung Serbiens durch die Nazis werden sollte. Einer ihrer Anführer war Ratko Parežanin, ein Mitglied von Junges Bosnien und ehemaliger Zimmergenosse von Gavrilo Princip.
Der kommunistische und antistalinistische Schriftsteller Miroslav Krleža, der viele der Jungslawen-Führer persönlich kannte, schrieb Folgendes über Vladimir Čerina, einen der Anführer der Jungslawen in Kroatien: „Seine Stimme zeigte die protofaschistischen Symptome eines hysterischen Chauvinismus.“
Es fällt schwer, Krleža zu widersprechen, wenn man bedenkt, was Čerina über den Dichter Vladimir Nazor schrieb: „Dieser Apostel unserer nationalen Energie, unseres Optimismus und unserer Religion, der Zerstörer der barbarischen Kultur und der Herold der zivilisierten Barbaren, von uns, den Erneuerern und Siegern von morgen, die feinste und leidenschaftlichste Stimme unseres Blutes und unserer Rasse, der Dichter der zukünftigen Revolution der Seelen, ein Visionär des neuen Vaterlandes, der Erleuchter des Landes und des Lebens und der Offenbarer der neuen Helden, er kommt von Gott. „
Interessant ist vielleicht auch, dass Dimitrije Mitrinović, als das Attentat 1914 geschah, die Nachricht davon in Deutschland erhielt, während er sich im Haus des deutsch-britischen Rassentheoretikers und antisemitischen Schriftstellers Houston Stewart Chamberlain aufhielt, den Mitrinović für eines seiner Zeitschriftenprojekte anzuwerben versuchte (Mitrinović war in dieser Hinsicht sehr eklektisch und versuchte, sowohl Chamberlain als auch Kropotkin für seine Ideen anzuwerben).
18.
Wie bereits erwähnt, debattierte Nedeljko Čabrinović während seines Aufenthalts in Belgrad im Gegensatz zu allen anderen Mitgliedern von Junges Bosnien mit jungen lokalen Anarchistinnen und Anarchisten und war hin- und hergerissen zwischen nationalistischen und anarchistischen Positionen.
Letztendlich kehrte er zum Nationalismus zurück, was sich vielleicht auch teilweise dadurch erklären lässt, dass er in Belgrad auch Krsto Cicvarić kennenlernte. Cicvarić war der prominenteste Verfechter des Anarcho-Syndikalismus im Serbien der Vorkriegszeit.
Zu der Zeit, als er Čabrinović traf, wechselte Cicvarić selbst zu nationalistischen Positionen und war einer der Herausgeber der von der Schwarzen Hand betriebenen Zeitung Pijemont. Doch obwohl er immer mehr nationalistische Positionen einnahm, bezeichnete er sich vorerst weiterhin als Anarchisten.
Tatsächlich versuchte Cicvarić in einer von ihm verfassten Broschüre mit dem Titel „Wie werden wir Österreich besiegen“, die er Čabrinović übergab, Anarchismus und Nationalismus zu vereinen (Čabrinović bestätigte ausdrücklich, dass er diesen Text während seines Prozesses gelesen hatte).
Dies ist ein außergewöhnlicher Text und vielleicht ein erstes Beispiel für etwas, das man als „nationalen Anarchismus“ bezeichnen kann. Darin ruft Cicvarić zu einer „gesamtserbischen Revolution“ unter Führung des „serbischen Proletariats“ (das seiner Meinung nach hauptsächlich aus Bauern besteht) auf, die eine Fortsetzung und Vollendung der serbischen Revolution vom Anfang des 19. Jahrhunderts darstellen würde. Das Ziel einer solchen Revolution sei die Errichtung eines „Großserbiens“, in dem soziale Gerechtigkeit und Gleichheit herrschen würden, ohne „Tränen und Blut“. Dies war ein klarer Versuch, anarchistisches Gedankengut mit nationalistischer Rhetorik zu verbinden, der jedoch letztlich im Nationalismus endete. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Cicvarić zu einem offenen Nationalisten, Antisemiten und Befürworter des Faschismus, und während der Besetzung Serbiens durch die Nazis im Zweiten Weltkrieg war er ein Kollaborateur.
Während Čabrinović also in einem Dilemma steckte, was seinen Nationalismus einerseits und seinen Anarchismus andererseits betraf, wurde er von jemandem angesprochen (bei dem es sich möglicherweise um einen Agenten der Schwarzen Hand handelte), der ihm sagte, er könne beides sein. Unter den intellektuellen Einflüssen der Jungslawen gab es viele Beispiele für die Vermischung von Nationalismus und eher revolutionären, anarchistischen und syndikalistischen Einflüssen (in einer oberflächlichen Form), aber dieser Text war einzigartig in seinem Versuch, solche gegensätzlichen Ideen explizit zu kombinieren.
19.
Aber natürlich schlugen nicht alle Jungslawen, die den Ersten Weltkrieg überlebten, die offiziell faschistische Richtung ein.
Ein äußerst interessanter Fall ist Vaso Čubrilović. Čubrilović war der jüngste der Attentäter von Sarajevo, der vor Gericht gestellt wurde, und er wurde ein bekannter Historiker, der 1990 in hohem Alter starb.
In den 1930er Jahren wurde Čubrilović Mitglied einer nationalistischen Intellektuellengruppe, die sich „Serbischer Kulturklub“ nannte, und 1937 schrieb er für die jugoslawische Regierung ein Papier mit dem Titel „Die Vertreibung der Albaner“, in dem er wissenschaftlich Methoden für das „Albanerproblem im Kosovo“ entwickelte, indem er verschiedene Wege empfahl, um eine totale ethnische Säuberung der Albaner aus Jugoslawien durchzuführen. Einige der empfohlenen Methoden waren: gewaltsame polizeiliche Repression, Niederbrennen von Dörfern und Stadtvierteln, ökonomischer Druck, religiöse Diskriminierung und andere.
Doch im Gegensatz zu vielen anderen nationalistischen Intellektuellen unterstützte Čubrilović während des Zweiten Weltkriegs die Partisanen und nicht die kollaborierenden Streitkräfte. Nach dem Krieg wurde er 1945 Minister in der Regierung des neuen titoistischen Regimes. Bereits 1944 schrieb er eine neue wissenschaftliche Abhandlung über ethnische Säuberungen mit dem Titel „Das Minderheitenproblem im neuen Jugoslawien“, diesmal für das von der Kommunistischen Partei Jugoslawiens geführte Regime. Darin sprach er sich für die Ausweisung von Albanern, Deutschen, Italienern, Ungarn und Rumänen als „nichtnationale Elemente“ aus Jugoslawien aus und erklärte, dass der laufende Krieg der geeignetste Zeitraum für solche Lösungen sei und dass der Krieg die Möglichkeit biete, in Monaten oder einem Jahr zu erreichen, was in Friedenszeiten viele Jahre oder Jahrzehnte erfordern würde. Das neue Regime beschloss in der Tat, den größten Teil der einheimischen deutschen und italienischen Bevölkerung zu vertreiben. Obwohl es viele Repressionen gegen die albanische Bevölkerung gab, wurde die Entscheidung, den Čubrilović-Plan gegen die albanische Bevölkerung umzusetzen, erst 1999 getroffen, als es dem Milošević-Regime gelang, vorübergehend mehrere hunderttausend Albaner aus dem Kosovo zu vertreiben und Tausende von ihnen zu töten.
20.
Es ist wichtig zu erwähnen, dass es mindestens ein Mitglied der Jungslawen-Generation gab, das sich nach dem Ersten Weltkrieg öffentlich vom Nationalismus lossagte und gleichzeitig den revolutionären Sozialismus annahm. Dies war Rudolf Hercigonja, der vor 1914 in Zagreb wegen seiner Zugehörigkeit zu einer revolutionären nationalistischen Gruppe vor Gericht stand, nach dem Krieg aber zum Kommunismus übertrat.
Hercigonja schrieb 1919 ein Pamphlet, in dem er sich von den jugoslawischen nationalistischen Ideen lossagte und den neuen Staat als ebenso repressiv wie das österreichisch-ungarische Kaiserreich verurteilte und ihn als großes Gefängnis bezeichnete, das gesprengt werden müsse. Er unterzeichnete den Text mit den Namen toter Genossen und Genossinnen der Jungslawen-Generation. Hercigonja gehörte zu einer kommunistischen Gruppe in Jugoslawien, die wegen ihrer antiparlamentarischen Ausrichtung manchmal als Anarchistinnen und Anarchisten bezeichnet wurde. Diese Gruppe hatte auch Kontakte zu den Rätekommunisten aus Deutschland. Nachdem die Gruppe 1921 den jugoslawischen Polizeiminister ermordet hatte, ging Hercigonja in die UdSSR, wo er bei den stalinistischen Säuberungen ermordet wurde.
21.
Miroslav Krleža schrieb, dass für Junges Bosnien der Nationalismus viel wichtiger war als die Idee der sozialen Gerechtigkeit. In seinem Roman Zastave (Fahnen) schrieb er, dass JB die serbische imperialistische Politik in Kosovo und Mazedonien unterstützte. Dem können wir sicher zustimmen, wenn wir wissen, dass viele Mitglieder sich Tschetnik-Kommandos anschlossen, die in diesen Gebieten viele Verbrechen begingen und extreme nationalistische Ziele verfolgten. Gleichzeitig waren sich diese jungen Nationalisten der arbeiterinnen- und arbeiterfeindlichen und antisozialistischen Gewalt, die dieselben Tschetnik-Kommandos in Serbien ausübten, nicht bewusst oder wollten sie ignorieren.
Die Jungslawen verbanden ihre nationalistischen Ziele vollständig mit der Verwirklichung einer Art von sozialer Gerechtigkeit. Dies zeigt sich in der Art und Weise, wie Tin Ujević über die serbischen Siege in den Balkankriegen 1912-1913 schrieb. Er charakterisierte diese serbischen Gebietserweiterungen als „Verwirklichung einer Utopie“ und „das Unmögliche wird zur Realität“.
Diese Verwirrung rührte daher, dass die Jungslawen zwar in der Lage waren, begrifflich zwischen Nation und Staat zu unterscheiden, aber nicht in der Lage waren, das richtige Verhältnis zwischen diesen beiden Phänomenen zu bestimmen.
In einem nationalistischen Rausch, der teils durch Unterdrückung und Armut, teils durch eine nihilistische Veranlagung und einen starken Todestrieb und den Willen, sich auf dem Altar des Vaterlandes zu opfern, ausgelöst wurde, überzeugten sie sich, dass die Nation die Verwirklichung einer Utopie sei.
Heute sind wir leider noch nicht über diese Verwirrung hinweg.
Vor einigen Jahren behauptete ein „serbischer Anarchist“ während einer Diskussion über das Erbe von Krsta Civarić, dass es kein Widerspruch sei, wenn Cicvarić eine nationalistische Sprache benutze, während er sich noch in seiner anarchistischen Phase befinde, und dass, wenn Cicvarić von der Schaffung von „Großserbien“ spreche, er damit „Jugoslawien“ meine, und dass beides mit der Verwirklichung der Anarchie gleichgesetzt werde (Großserbien = Jugoslawien = Anarchie). Dieser Person zufolge war das, was Cicvarić und Junges Bosnier wollten, die „Vereinigung eines Volkes zur Anarchie“ – diese Umschreibung einer soziologischen Definition einer Nation kommt einer tatsächlichen Definition der Absurdität, die der nationale „Anarchismus“ ist, am nächsten.
In den Straßen Belgrads kann man außerdem Graffiti einer antifaschistischen Gruppe sehen, auf denen steht, dass der kollaborierende Premierminister und Nazi Milan Nedić „ein Verräter“ war. Hier, mehr als 100 Jahre nach Cicvarić, sehen wir einen Versuch, libertäre Politik durch die Verwendung einer nationalistischen Sprache zu formulieren.
Dies ist ein unmögliches Ziel, und jeder Versuch, Anarchismus mit Nationalismus zu verbinden, wird nur zu Nationalismus führen.
Wir sollten in der Tat in der Lage sein, Nation und Staat begrifflich zu unterscheiden, aber nur, damit wir besser gerüstet und effektiver in der Ablehnung beider sind. Aus dem Beispiel der Jungslawen können wir lernen, dass das Hinauswerfen eines bestimmten Staates durch die Tür, während man sich immer noch den Nationalismus zu eigen macht, nur den Staat durch das Fenster zurückbringen wird. Und mit dem Staat die ganze Repression, die damit einhergeht, wie Rudolf Hercigonja auf brutalste Weise erfuhr, als er ganz Jugoslawien zu einem riesigen Gefängnis erklärte. Aus diesem Beispiel können wir auch lernen, dass, wie edel und sympathisch einige nationalistische Kämpfer auch erscheinen mögen, aufgrund der Ungerechtigkeiten, die sie ihr ganzes Leben lang als Opfer von Unterdrückung und Ausbeutung erlitten haben, und ungeachtet ihrer edlen Absichten und Illusionen, die Art und Weise, wie sie den Kampf geführt haben, und die Ziele, die sie sich selbst gesetzt haben, nur Unterdrückung und Ausbeutung reproduzieren werden.
Wir sollten dies nicht lernen, um irgendjemanden moralisch zu verurteilen, sondern um den miserablen Zustand der Welt, der zum Teil durch Nationalismus und Nation-Staaten geschaffen wurde, wirksamer bekämpfen zu können.
Alles in allem ist dies eine sehr traurige, wenn auch lehrreiche Geschichte, und es scheint mir unangemessen, sie mit einem aufmunternden Slogan zu beenden. Aber manchmal ist traurig sein ein angemessenes Gefühl. Anstatt aus den Jungslawen anarchistische Helden zu machen, sollten wir vielleicht lieber um ihren Glauben trauern und um alle, deren Leben durch den Nationalismus noch elender geworden ist.
Aber ich kann hier einen Trick anwenden und den Artikel mit ein paar Fotos vom bosnischen Aufstand 2014 beenden, einem Aufstand, bei dem ein sehr guter Slogan an die Wände bosnischer Städte geschrieben wurde, während die Zentralen nationalistischer Parteien in Brand gesetzt wurden: „Tod dem Nationalismus!“.
Verwendete und nützliche Bücher:
Miloš Vojinović, Političke ideje Mlade Bosne, Filip Višnjić, 2015.
Josip Horvat, Pobuna omladine 1911-1914, SDK Prosvjeta – Gordogan, 2006.
Vladimir Dedijer, Sarajevo 1914, Prosveta, 1966.
Veselin Masleša, Mlada Bosna, Kultura, 1945.
Mirjana Gross, Nacionalne ideje studentske omladine u Hrvatskoj uoči I svjetskog rata, u: Historijski zbornik, godina XXI-XXII, 1968-1969.
Leo Pfefer, Istraga u Sarajevskom atentatu, Nova Evropa, 1938.
Vojislav Bogićević, Sarajevski atentat – stenogram Glavne rasprave protiv Gavrila Principa i drugova, Državni arhiv Sarajevo, 1954.
Ratko Parežanin, Gavrilo Princip u Beogradu, Catena Mundi, 2013.
Dobrosav Jevđević, Sarajevski zaverenici, Familet, 2002.
Miloš Ković, Gavrilo Princip – dokumenti i sećanja, Prometej, 2014.
Niko Bartulović, Od revolucionarne omladine do ORJUNE: istorijat jugoslovenskog omladinskog pokreta, Direktorijum Orujne, 1925.
]]>Aus der letzten Ausgabe von Antipolitik, der Nummer Drei, die Übersetzung ist von uns. Mehr Texte gegen den Nationalismus.
Dieser Text ist das erste Kapitel einer Veröffentlichung mit dem Titel „Einer ist der Feind… die Nation, der Antiimperialismus und die antagonistische Bewegung“ der Gruppe gegen Nationalismus aus dem Jahr 2007. Diese Gruppe war Teil der Hausbesetzung und Vollversammlung Fabrika Yfanet, die immer noch in der Stadt Thessaloniki aktiv ist. Anlässlich des Pogroms vom 4. September 2004, nach der Niederlage der griechischen Fußballnationalmannschaft gegen Albanien, erkannte das Kollektiv die Notwendigkeit, sich mit dem Thema Nationalismus-Patriotismus auseinanderzusetzen. Eine kleinere Gruppe beschloss auf der Vollversammlung, sich stärker mit dem Thema zu befassen und die bestehende Analyse zu vertiefen.
Wir glauben, dass dieser Text auch heute, 14 Jahre später, noch viel zu bieten hat, wenn es um die Frage geht, was eine Nation ausmacht und aus welchen Elementen sich der Nationalismus speist. Das ist wichtig, weil wir dem Nationalismus weiterhin in Schulen, auf Plätzen, bei Protesten und sogar in sozialen Bewegungen begegnen. Wir glauben, dass ein Projekt wie dieses ein erster Schritt zu seiner Dekonstruktion sein kann.
(Antipolitika # 3) Das nationale Phänomen
In dem bekannten Witz Stalin in Wien1 stellt ein russischer Künstler ein gleichnamiges Gemälde aus, das die angebliche Frau Stalins allein im Kreml zeigt. Nach der berechtigten Frage des Offiziers: „Und wo ist Stalin [auf dem Gemälde]?“ wird die unmittelbare Antwort mit einer Prise schlechten Humors serviert: „In Wien“. Beide Protagonisten dieses Witzes wissen genau, verheimlichen es aber eifrig, dass der „prächtige Georgier“ im Winter 1913 in Wien war. Dort war er als Lenins Gesandter „dabei, einen großen Artikel zu schreiben“2, den berüchtigten „Marxismus und die nationale Frage“, in dem uns der zukünftige Generalsekretär eine Definition der „Nation“ vorlegt, die auf fünf objektiven Kriterien beruht: Sprache, Territorium, ökonomisches Leben, Psyche und Kultur. Wenn man alle diese Kriterien erfüllt, kann man als „Nation“ angesehen werden.
Abgesehen von dem morbiden Verweis auf Stalin hat das Bemühen um eine objektive Definition der Nation viele Varianten hervorgebracht, bei denen eine Nation entweder über die Sprache oder über die Religion, in anderen Fällen über die gemeinsame Herkunft, die Tradition, die Geschichte, die gemeinsamen Lebenserfahrungen, die politischen Rechte, die patriotische Loyalität usw. definiert wird.
Im Großen und Ganzen gehören alle diese Definitionen zu einem Bereich, in dem auf der einen Seite das „Nation-Blut“, die deutsche romantische Auffassung, die die „ kulturellen Kriterien „ (Sprache, Religion, Territorium, Rasse) betont, und auf der anderen Seite der „Nation-Vertrag“, die französische oder selektive Auffassung, die die „politischen Kriterien“ (Rechte, Gesetze, politisches Bewusstsein, Erinnerung) betont, zu finden sind. Beide Ansätze führen schnell in eine methodologische Sackgasse. Ein Bestreben, das über die aktuellen Nationalismen hinausgeht und versucht, universelle und stabile Kernelemente einer Nation zu finden, ist zum Scheitern verurteilt.
Selbst die stärksten Anhaltspunkte des nationalistischen Arsenals können logisch untersucht werden. Die Sprache, die als das am wenigsten zweideutige Symbol der nationalen Identität gilt, erweist sich als unzureichend, wenn man Menschen betrachtet, die dieselbe Sprache sprechen, ohne sich einer gemeinsamen nationalen Identität bewusst zu sein (z. B. Amerikaner, Australier, Neuseeländer), aber auch die Nationalstaaten, die ihre Einheit ohne eine einzige Landessprache bekräftigen (z. B. die Schweiz). Auch die Religion kann der gleichen Kritik unterworfen werden. Die religiöse Vielfalt, die in den USA besteht, hat nie die Gefahr mit sich gebracht, das Land in viele getrennte Nationen aufzuspalten, während andererseits Länder wie Italien und die Philippinen, die einen gemeinsamen katholischen Glauben teilen, sich nicht als Teil einer gemeinsamen „katholischen Nation“ fühlen. Der gemeinsame rassische Ursprung und seine biologische Grundlage entbehren jeder ernsthaften historischen oder wissenschaftlichen Grundlage. Die Vermischung der Menschen untereinander ist ein ständiger Bezugspunkt in Raum und Zeit. Auch die Hingabe an eine Verfassung und die Anerkennung von Bürgerrechten für Inhaber einer nationalen Staatsbürgerschaft verschaffen den vermeintlich Einheimischen nicht die erforderliche gesellschaftliche Legitimation, auch nicht für Einwanderer der zweiten oder dritten Generation. Der Fall der modernen französischen Republik und ihre Unfähigkeit, Einwanderer aus den ehemaligen Kolonien aufzunehmen, selbst wenn sie als französische Staatsbürger anerkannt werden, ist bezeichnend. Im Grunde gibt es weder eine heuristische Methode noch ein objektives Kriterium, um zu bestimmen, wo und wann wir eine Nation haben. Mit dem Konzept der Nation verhält es sich wie mit dem Mythos des Proteus. Jedes Mal, wenn wir denken, wir hätten es verstanden, entpuppt es sich als etwas Schwer fassbares.
Die Lösung könnte in der subjektiven Wahrnehmung der Nation zu finden sein. Renan sagt, dass die „Nation das ist, was eine Gruppe von Individuen definiert“, was bedeutet, dass eine „Nation unser Wille ist, eine Nation zu werden“. Die Priorität für das, was eine Nation ausmacht, sollte nicht auf den bewussten politischen Willen oder die rationale Planung abzielen, sondern vielmehr auf die Vorstellungskraft. Eine Nation ist das, was eine Gruppe von Menschen als solche empfindet und sich vorstellt. Dabei spielt es keine Rolle, ob sich die rassische Kontinuität oder die kulturelle Einheit als Mythen erweisen, die durch rationales Denken kritisiert werden. Sobald einige Menschen diese Mythen für gültig halten, neigen sie dazu, konkrete Ergebnisse in Bezug auf die Kohärenz und ihre sozialen Praktiken zu erzielen. In gleicher Weise sind der Gesellschaftsvertrag und das Sozialreferendum von Renan in der politischen Wahrnehmung der Nation sowohl Phantasiegebilde als auch gleichzeitig in der Realität wirksam für diejenigen, die sich auf sie als verbindliches Band berufen. Kurzum, wir kommen auf den Punkt von Benedict Anderson: Nationen sind imaginierte Gemeinschaften3, und damit wird ergänzt, was Etienne Balibar erklärt hat; unter bestimmten Umständen sind nur imaginierte Gemeinschaften real.
Die subjektive Wahrnehmung bietet eine Perspektive, beendet aber nicht das Gespräch über die Nation. Die oben als Teil der objektiven Wahrnehmung hervorgehobenen Elemente (Blut, Rasse, Territorium, politische Rechte) sind unerlässlich, um die historischen Marksteine oder die historische Dynamik zu überprüfen, die zur Entstehung unterschiedlicher, einem Raum und einer Zeit zugeordneter Vorstellungen von der Nation geführt haben. Die individuelle Untersuchung spezifischer historischer Nationen und Nationalismen geht über die Ziele dieses Textes hinaus. Wir werden versuchen, uns auf einer abstrakteren Ebene zu bewegen; dies ist unser methodischer Bezugspunkt. Um jedoch den Begriff der Nation gründlich zu beleuchten, werden wir uns mit zwei weiteren Begriffen befassen: nationalistische Ideologie und nationale Identität.
i. nationalistische Ideologie
Um sich dem Nationalismus als Ideologie zu nähern, bedarf es einer Vorstellung von der Ideologie selbst. Mit einer gewissen relativen Zweideutigkeit können wir sagen, dass Ideologie „mehr oder weniger eine systematische Reihe von Ideen und Vorstellungen ist, die Macht- und Souveränitätsverhältnisse rechtfertigen und rationalisieren, aber auch Individuen auf so drastische Weise integrieren „4. Um Althusser zu zitieren: „Ideologie funktioniert so, dass sie Subjekte rekrutiert“. Eine methodologische Anmerkung: Der hier gewählte Ansatz zur Ideologie ist weit entfernt von der doktrinären Sichtweise einiger Marxisten, die Ideen mit der objektiven Realität der Produktionsverhältnisse in Verbindung bringen und dabei den Begriff „falsches Bewusstsein“ oder „die subjektive Manipulation der objektiven Wahrheit“ verwenden. Ideologien können Ungereimtheiten und Antinomien beinhalten oder instabile und widersprüchliche Prinzipien aufstellen, aber sie sind Teil der Realität, weil ihre Folgen völlig real sind. Der Beziehung zwischen Subjekt und Wirklichkeit und der einseitigen Bestimmung des Subjekts durch das Subjekt oder umgekehrt werden wir „die entscheidende Ambivalenz unserer menschlichen Präsenz in unserer eigenen Geschichte entgegensetzen, als Teilsubjekte, Teilobjekte, als freiwillige Agenten unserer eigenen unfreiwilligen Bestimmungen“5. „Es ist wahr, dass die Menschen die Geschichte nicht nach ihrem Willen machen und dass ihre bewussten Ziele nicht immer mit den tatsächlichen Ergebnissen übereinstimmen: aber sie führen auch keine im Voraus festgelegte Ordnung aus; sie sind nicht gezwungen, eine Grundstruktur zu durchleben, die sie nicht kennen“6. Daher ist die soziale Realität weder außerhalb des menschlichen Zugriffs noch unabhängig vom Handeln und Denken der sozialen Subjekte. Die sozialen Subjekte können also nicht außerhalb der sie umgebenden sozialen Realität verstanden werden. Sie sind gleichzeitig deren Geschöpfe und Schöpfer7.
Aber warum sollten wir den Nationalismus als Ideologie betrachten und nicht als ein Konzept, das zur gleichen Kategorie gehört wie die Verwandtschaft im anthropologischen Sinne des Wortes oder die Religion als anthropologisches Ideensystem, wie Benedict Anderson vorschlägt? Wie bei jeder anderen Ideologie der Moderne wird auch im Nationalismus die Berufung auf einen außersozialen Experten wie Gott durch die Notwendigkeit von Ideen ersetzt, die auf Beweisen und Argumenten empirischer, weltlicher und nicht metaphysischer Art beruhen. Dies verweist auf die ihr innewohnende Rationalität, die eher die Richtigkeit ihrer Behauptungen als den Inhalt des Gesagten legitimieren soll. „Die Logik ist die Schablone, mit der die Ideologie ihre Behauptungen formt, die ‚Syntax‘, die sie anwendet, um ihre Interpretationen zu formulieren“8. Es handelt sich um eine instrumentalistische Rationalität, die sich eher auf die Struktur als auf den Inhalt von Ideen bezieht.
Darüber hinaus unterscheidet sich der Nationalismus in einem weiteren Punkt von der Religion. Die Lehren der letzteren sind, zumindest was die traditionellen Gesellschaften betrifft, per definitionem stabil und unveränderlich (Wahrheit durch Offenbarung), und jeder Versuch, die Doktrin zu ändern, wird als Kult betrachtet. Im Gegenteil, es ist unmöglich, sich eine identische nationalistische Ideologie in einem bestimmten Raum und einer bestimmten Zeit vorzustellen. Der Inhalt des Nationalismus unterliegt den Gegebenheiten einer jeden Gesellschaft in Form verschiedener kultureller und politischer Ideen. Aber auch innerhalb einer Gesellschaft hat der Nationalismus das Potenzial, sich im Laufe der Geschichte mit einem einzigartigen Grad an Effektivität zu verändern, was die Machtinteressen betrifft, und zwar in einer Weise, die mit den durch das historische Wirken der Massen verursachten Transformationen verbunden ist. Vielleicht ist dies ein Anhaltspunkt, der seine große Widerstandsfähigkeit erklärt.
Abgesehen von den individuellen historischen Unterschieden behält die nationalistische Ideologie als Erscheinungsform des Phänomens jedoch in all ihren Varianten einige Grundvoraussetzungen bei:
(A) Es gibt eine Nation mit offensichtlichen und passenden Merkmalen.
(B) Die Nation muss ihre politische Souveränität haben oder behaupten.
(C) Die Interessen und Werte der Nation haben Vorrang vor allen anderen Interessen und Werten9.
ii. Nationalismus und Identität
Die doppelte Funktion der Ideologie ergibt sich aus der vorangegangenen Definition: Sie ist erklärend und ethisch. Die Ideologie enthält Vorstellungen und Doktrinen, die die Welt beschreiben und interpretieren und sie gleichzeitig bewerten. Sie beschreibt das „Sein“ der Welt und das „Wie sie sein sollte“. Jede Bezugnahme auf das „Sein“ wird von einer Bezugnahme darauf begleitet, „wie sie sein sollte“. Diese unauflösliche Koexistenz der beiden Funktionen ergibt das Element der Praxis. Die Widersprüchlichkeit oder sogar die Übereinstimmung zwischen den beiden Bildern erzwingt spezifische Verhaltensweisen und politisches Handeln, um entweder die Kluft zu überbrücken oder das Gleichgewicht zwischen beiden aufrechtzuerhalten. Mit anderen Worten: Da die Ideologie beschreibt, wie die Welt „sein sollte“, schreibt sie auch vor, was „wir tun sollten“, um dieses Ziel zu erreichen, von der Interpretation über die Aufforderung bis hin zum angemessenen Verhalten. Auf diese Weise beabsichtigt der Nationalismus die Bildung kollektiver und individueller Identitäten, die seine Einheiten definieren und verbinden.
Bevor wir fortfahren, könnten wir das künstliche Dilemma der Nebeneinanderstellung einer kollektiven Identität und einer Vielzahl von individuellen Identitäten beseitigen. Jede Identität ist individuell, aber jede ist historisch gewachsen und wurde in einem Feld von sozialen Werten, Verhaltensregeln und kollektiven Symbolen konstruiert. Die Identitäten der Menschen stimmen nie mit denen der anderen überein, sondern werden immer aus der Ferne gewonnen10. Außerdem wird die nationalistische Botschaft nicht von jedem Menschen einheitlich aufgenommen. Sie ist offen für eine Reihe von Möglichkeiten, von der totalen Übernahme bis zur teilweisen Akzeptanz, und unterliegt der Modifikation oder sogar der Osmose mit anderen Ideologien.
Die Frage ist also, warum akzeptieren die Menschen nationalistische Ideologien? Oder besser gesagt, was bedeutet die Konstituierung einer Identität, genauer gesagt einer nationalen Identität, für ein Subjekt? Identität scheint für eine Person notwendig zu sein, um in die symbolische soziale Ordnung einzutreten und eine Position innerhalb dieser Ordnung einzunehmen. Von diesem Standpunkt aus bildet eine Person ein elementares, kohärentes Selbstverständnis, wird zum Subjekt und nimmt die Welt als eine Welt der Bedeutung wahr. Jede Identität wird durch ein zentrales Konzept konstruiert, das andere Identitäten ordnet und ihnen Bedeutung verleiht. Durch die ideologische Form der Nation „integriert das Subjekt diese Einverleibung in einen elementareren Prozess (den wir als ‚primär‘ bezeichnen können) der Fixierung der Wirkungen von Liebe und Hass und der Repräsentation des Selbst“11. Die nationale Ideologie enthält idealistische Signifikanten (den Namen der Nation, den des Vaterlandes), durch die das Gefühl des Heiligen, der Liebe, der Achtung, des Opfers oder der Angst vermittelt werden kann. Dies ist der Punkt, an dem der Nationalismus beginnt, der Religion zu ähneln. Er ist eine säkularisierte Form der Bedeutung von Macht, Zeit, Gesellschaft und Tod. Oder, wie Benedict Anderson sagen würde, es ist eine Art, den Zufall in Schicksal zu verwandeln.
Zusammenfassend würden wir sagen, dass Ideologien vor allem deshalb akzeptiert werden, weil sie dazu neigen, subjektive Identitäten zu bilden, indem sie dem Individuum einen imaginären und symbolischen Kontext bieten, durch den es versucht, seinen gespaltenen Charakter und die Präsenz der Zufälligkeit und der beunruhigend seltsamen Darstellung von Differenz und Heterogenität in den sozialen Beziehungen zu verbergen, ohne dies jemals vollständig zu erreichen12. Dieses schwer fassbare Gefühl der Vollständigkeit ist jedoch immer mit Herrschaftsverhältnissen im ökonomischen, politischen und privaten Kontext verbunden.
Die durch die nationalistische Ideologie konstituierte Identität weist jedoch in all ihren Formen einige wichtige gemeinsame Merkmale auf. Es handelt sich um eine übergeordnete Identität, die alle anderen sozialen und individuellen Identifikationen orchestriert, integriert, organisiert, neu formuliert und hierarchisiert oder sogar aufhebt. Das bedeutet zum Beispiel, dass man, bevor man rechts oder kommunistisch, Arbeiterinnen und Arbeiter oder Chefs, Mann oder Frau, Vater oder Sohn, gesund oder „psychisch krank“ ist, Grieche, Türke, Amerikaner oder Israeli usw. ist.
Indem er sich als übergeordnetes soziales Band definiert, kommt der Nationalismus der Beendigung aller Diskussionen über die soziale Konstruktion sehr nahe, indem er ihre Gegensätze und Widersprüche bedeutungslos macht13. Der Nationalismus formt ein Bild der Totalität, innerhalb dessen er eingeschränkt ist, wenn er nicht bewusst darauf abzielt, das Nicht-Identische auszulöschen, so dass die symbolische Differenz zwischen „uns“ und „den Fremden“ hervorgehoben und als primär und nicht reduzierend erlebt wird. Erinnert man sich an die von Fichte in der Rede an die deutsche Nation vorgeschlagene Terminologie, so muss das Individuum ständig äußere Grenzen als Projektion und Verteidigung einer inneren kollektiven Persönlichkeit phantasieren14. Gemäß dem von Slavoj Žižek vorgeschlagenen rhetorischen Schema der Umkehrung: „Ideologie ist keine traumhafte Illusion, die wir aufbauen, um der unerträglichen Realität zu entkommen; in ihrer grundlegenden Dimension ist sie eine Fantasiekonstruktion, die als Stütze für unsere ‚Realität‘ selbst dient. Die Funktion der Ideologie besteht nicht darin, uns einen Fluchtpunkt vor unserer Realität zu bieten, sondern die soziale Realität selbst als eine Flucht vor einem traumatischen, realen Kern anzubieten: Der soziale Antagonismus als innerer Bestandteil jeder Gesellschaft“15. Mit anderen Worten: Der Nationalismus ist ein Versuch der Universalisierung, der die Spuren seiner Unmöglichkeit nicht verbergen kann.
Wenn wir den Begriff „sozialer Antagonismus“ verwenden, wollen wir ihn nicht auf den auf verschiedene Weise implizierten Klassenkampf beschränken. Die Machtverhältnisse liegen in der politischen Sphäre, in den Klassenwidersprüchen, in der Ausbeutung der Natur, im Rassismus, im Sexismus und in allen Aspekten des Alltagslebens, in denen autoritäre Praktiken reproduziert werden. Wir wollen jedoch keinem dieser Elemente eine zentrale Bedeutung zuschreiben.
An diesem Punkt könnten wir das Konzept der „Nation“, ausgehend vom Nationalismus, neu überdenken. Die „Nation“ selbst ist ein leerer Signifikant, sie hat keine begriffliche Bedeutung außerhalb der Praktiken, die die Subjekte moderner Gesellschaften zur Definition und Institutionalisierung ihres Staates anwenden. Dass die „Nation“ selbst bedeutungslos ist, zeigt sich auch darin, dass „sie zwar als das erscheint, was unserem Leben Fülle und Lebendigkeit verleiht, wir sie aber nur bestimmen können, indem wir auf verschiedene Versionen derselben leeren Tautologie zurückgreifen. Alles, was wir letztlich darüber sagen können, ist, dass die Sache „sich selbst“, „die wirkliche Sache“, „das, worum es wirklich geht“, usw. ist. Wenn wir gefragt werden, wie wir die Präsenz dieses Dings erkennen können, ist die einzige konsistente Antwort, dass das Ding in dieser schwer fassbaren Entität namens ‚unsere Lebensweise‘ präsent ist“16. Der Nationalismus ist um diese Abwesenheit von Bedeutung herum strukturiert, die sich gleichzeitig selbst Bedeutung verleiht. Das Baumaterial sind die kulturellen (Sprache, Religion, Tradition) und politischen (Wille, Gesetze, Verfassung) Merkmale. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass in jeder nationalen Identität politische und kulturelle Elemente nebeneinander bestehen, wobei erstere in der Regel überwiegen.
Wir möchten uns auf zwei dieser Elemente konzentrieren: Sprache und Rasse. Erstens ist die Schaffung einer Sprachgemeinschaft erforderlich. Dabei geht es nicht um die Einheit oder Reinheit der Landessprache, sondern um ihre Fähigkeit, als Sprache des öffentlichen und privaten Lebens, der täglichen Beziehungen und der offiziellen Institutionen zu funktionieren. Die „sprachliche“ Gemeinschaft allein reicht jedoch nicht aus. Es muss auch eine „rassische“ Gemeinschaft geschaffen werden (im weitesten Sinne ein auf die nationale Bevölkerung ausgedehnter Begriff der Verwandtschaft). Diese rassische Gemeinschaft wird auf der Grundlage der Ideologie der Mischehen gefestigt. Der Mechanismus, der dabei eine entscheidende Rolle spielt (ebenso wie die Schule zur Bildung der Sprachgemeinschaft beiträgt), ist die moderne Familie (aufgrund der Auflösung traditioneller Formen wie „Generation“ oder „Sippe“). Die moderne Familie „erzeugt“ das Privatleben und stellt gleichzeitig die Grundzelle des Staates dar, die durch ihre Einbindung in die Mechanismen des Bildungs-, Gesundheits- und Sozialwesens geschützt und kontrolliert wird17.
Diese Behauptung zeigt einen weiteren Aspekt der Prägnanz der nationalen Identität. Die Person wird während ihres gesamten Lebens durch eine Vielzahl von Alltagspraktiken (von den Finanzämtern, bei denen man bedient wird, bis zu den Gerichten, an die man sich wendet) als homo nationalis inszeniert, und nicht nur durch Doktrinen. Im Grunde genommen verbindet die Organisation des Alltagslebens die Subjekte mit der nationalen Einheit, der sie angehören, über die katalytischste Wechselbeziehung der Abhängigkeit.
iii die Konstruktion der Nation
Die Nation geht dem Nationalismus nicht voraus, weder logisch noch historisch. Auch wenn die Nation vom Nationalismus als allgegenwärtig in Raum und Zeit dargestellt wird, ist sie eine historische Konstruktion, die durch die nationale Ideologie konstituiert und legalisiert wird. Wie Gellner feststellt, „lassen sich Nationen über das Zeitalter des Nationalismus definieren und nicht umgekehrt, wie gemeinhin angenommen wird“.
In dieser historischen Epoche des Übergangs von der traditionellen Gemeinschaft zur modernen Gesellschaft institutionalisieren die Menschen die Nation als eine imaginäre Gemeinschaft. Anderson zufolge ist die Nation einerseits eine imaginäre Gemeinschaft, weil sie als tief verwurzelte horizontale Gemeinschaft wahrgenommen wird, und andererseits, weil die Mitglieder selbst der kleinsten Nation niemals alle anderen Mitglieder der nationalen Gemeinschaft als Familie kennen werden, auch wenn sie sich vorstellen und glauben, ihr anzugehören und an ihr teilzuhaben. Die Nation existiert als eine „mentale“ Einheit von Menschen, die auf der Ebene des Objekts einer imaginären Wahrnehmung „existiert“.
Das besondere Zugehörigkeitsgefühl, das die Nation kennzeichnet, entsteht durch die Verschränkung einer vertikalen und horizontalen Identifikation. Die Individuen einer Gemeinschaft werden vertikal durch die Nation und ihre Symbole identifiziert, und gerade deshalb werden sie auch inter-subjektiv identifiziert, indem sie sich gegenseitig auf der Grundlage des horizontalen gemeinsamen konzeptionellen Nenners der „Nation“18 erkennen. Auf diese Weise entsteht, wie Benedict Anderson hervorgehoben hat, die von den nationalen Subjekten phantasierte horizontale Gemeinschaft. In diesem Zusammenhang ist der Unterschied zwischen Solidarität und Feindseligkeit hervorzuheben, der in traditionellen Gesellschaften besteht. Dort ist der zentrale Bezugspunkt nicht das abstrakte Konzept der Nation, sondern der Clan, das Dorf, die Feudal-, Zunft- oder Religionsgemeinschaft, also konkrete und greifbare Einheiten, die durch das unmittelbare menschliche Erfahrungsfeld definiert sind. Außerdem ist die Abwehr äußerer Bedrohungen fast immer das Ergebnis einer Reaktion auf äußere Gefahren, die nachlässt, sobald die Bedrohungen vorüber sind19. Mit dem bisher Gesagten wollen wir uns nicht gegen imaginäre Gemeinschaften wenden und traditionelle Gemeinschaften als das einzig Wahre vorschlagen. Im Gegenteil: Unter den historischen Bedingungen der Moderne ist jede Gemeinschaft, die durch Institutionen reproduziert wird, imaginär. Diese Behauptung ist gleichbedeutend mit der eingangs aufgestellten Vermutung, dass in der modernen Geschichte nur imaginäre Gemeinschaften tatsächlich real sind. Wichtig ist, dass die anthropologischen Beschreibungen traditioneller Gemeinschaften, auch wenn sie nicht der historischen Realität entsprechen, für die menschliche Vorstellungskraft als nostalgische Erinnerung an eine einst geteilte Vertrautheit fungieren. Diese Nostalgie interpretiert die Abwesenheit jedoch als Verlust. Sie provoziert Trauer um etwas, das wir glauben, verloren zu haben, obwohl es in Wirklichkeit nie uns gehörte. Der Nationalismus macht sich dieses subjektive psychologische Bedürfnis zunutze und bietet die Möglichkeit, diese mythische „verlorene Intimität“, die durch die Tradition hervorgerufen wird, zu rekonstruieren.
Was bisher gesagt wurde, zeigt das konstruktivistische Konzept der Nation. Mit anderen Worten: Nationen werden historisch konstituiert und aufgelöst und sind keine unveränderlichen Naturbegriffe. Dies allein reicht nicht aus, um eine Sichtweise der Geschichte als offenes Verfahren und nicht als Determinismus zu rechtfertigen. Die Auffassung, dass Nationen historische Konstruktionen sind, wird auch von einer essentialistischen Konzeption der Nation übernommen, die die Tatsache hervorhebt, dass, selbst wenn Nationen einmal konstruiert wurden, die nationale Identität dennoch historisch einheitlich und durch die Zeit unveränderlich ist. In diesem Denkmodell existiert die Nation heute, weil sie schon immer im Keim vorhanden war, und dieser prä-ewige nationale Kern durchläuft Jahrtausende ethnogenetischer Entwicklung und mehrere Evolutionsstufen, um zur heutigen Form des Nation-Staates zu reifen. Dementsprechend gibt es auch eine funktionalistische Auffassung von Nation, bei der die Nation ausschließlich durch staatliche Strukturen hervorgebracht wird und als Instrument zur effektiven Ausübung staatlicher Macht fungiert, unabhängig von Nationalismus und dem sozialen Prozess ihrer Entstehung. Diese absolute Reduzierung der Nation auf den Staat beinhaltet auch eine statische und mechanische Wahrnehmung der Geschichte. Wir sind im Gegenteil der Meinung, dass die historische Konstitution der nationalen Identität weder gegeben noch unveränderlich ist, sondern sich je nach der Grundlage der dynamischen sozialen Beziehungen periodisch verändert und nicht auf eine inner-historische Einheitsform reduziert wird20.
iv. Die Geburt und Reproduktion der Nation
Damit die Ideologie des Nationalismus und die globale Realität der Nation entstehen können, ist eine ganze Reihe kultureller, philosophischer, politischer, ökonomischer, institutioneller und technischer Bedingungen erforderlich. Wir werden nicht behaupten, dass es eine deterministische, lineare Entwicklung gibt, die von bereits existierenden Institutionen zum Nationalstaat führt, sondern vielmehr eine Abfolge von konjunkturellen Beziehungen, die viele ungleichmäßig überalterte Institutionen und Mechanismen in neue politische Strukturen integrieren werden. So führte beispielsweise die schrittweise Herausbildung der absoluten Monarchien des 17. und 18. Jahrhunderts zu einem vollständigen Geldmonopol, zur Zentralisierung der Steuern und der Verwaltung, zur Vereinheitlichung des Rechtswesens, zur immer weiter fortschreitenden Bürokratisierung des Steuersystems und zur entsprechenden inneren Befriedung durch eine einheitliche Polizeiarbeit und die Konzentration der Streitkräfte. Die bisherige Vorstellung von territorialer Integrität wird damit ganz entscheidend über den Haufen geworfen. Reformation und Gegenreformation beschleunigten den Übergang von der Konkurrenz zwischen Staat und Kirche (d.h. zwischen theokratischem und weltlichem Staat) zu deren Komplementarität. Die Wiedereinführung des römischen Rechts (anstelle des Gewohnheitsrechts), der Merkantilismus und die Konsolidierung des Feudalwesens21 hatten größtenteils eine völlig andere Tragweite, aber sie brachten nach und nach die Elemente des Nationalstaats hervor, oder besser gesagt, sie wurden unfreiwillig verstaatlicht und begannen, die Gesellschaft zu verstaatlichen. Alle diese Prozesse spielten, sofern sie sich wiederholten und in neue politische Strukturen integriert wurden, eine wesentliche Rolle bei der Entstehung nationaler Formationen22. Mit dem Aufkommen des Nation-Staats wurden viele dieser Prozesse abgeschlossen. Die Schaffung eines nationalen Heeres, die Vereinheitlichung und Rationalisierung des positiven Rechts, die Schulpflicht und die disziplinarische Steuerung der Bevölkerung unterschieden den Nationalstaat drastisch von allen vorherigen Staatstypen.
Der entscheidende Punkt ist das bemerkenswerte Maß an Legitimität, das die Nationalstaaten in den Augen ihrer Bevölkerung erlangt haben. Infolge des Gewaltmonopols, das sich der moderne Staat gesichert hat, erreichte er eine ethnische Homogenisierung und Disziplinierung seiner Staatsbürger. Seine erfolgreiche Reproduktion liegt jedoch in seiner Fähigkeit, auf die Bedürfnisse seiner Staatsbürger in einer noch nie dagewesenen Weise einzugehen. Dieser Schritt in der evolutionären Kette wird am besten durch die Institution des Wohlfahrtsstaates repräsentiert, ein Produkt der Institutionalisierung sozialer Kämpfe, die Ende des 19. Jahrhunderts begannen und im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einer Hauptregelung geworden ist. Sie ermöglicht es, den Status des „Staatsbürgers“ durch den des „Mitglieds einer ethnischen Gemeinschaft“ zu ersetzen – ein Staat, der sich in die Reproduktion der Ökonomie einmischt, insbesondere in die Individuen, die Familienstrukturen und die öffentlichen Gesundheitssysteme, ein Staat, der generell im gesamten Bereich des Privatlebens präsent ist. Infolgedessen wurde die Existenz aller Individuen, unabhängig von ihrer sozialen Schicht, vollständig dem Status des Nationalstaatsbürgers23 unterworfen.
Was Foucault aus einer ganz anderen Perspektive zeigt, ist der Übergang vom „Territorialstaat“ zum „Bevölkerungsstaat“ und der damit verbundene Bedeutungszuwachs des biologischen Lebens und der Gesundheit der Bevölkerung als Voraussetzung der souveränen Macht24. Er eröffnet die Möglichkeit einer Biomacht, die in zwei Richtungen geht: Einerseits zielt sie auf die Körpermaschine und die Steigerung ihrer Kapazitäten, die Extraktion ihrer Kräfte, ihre Einbindung in ein effektives und ökonomisch strukturiertes Kontrollsystem; die anatomisch-politische Politik des menschlichen Körpers. Auf der anderen Seite werden die biologischen Prozesse von der Autorität in den Mittelpunkt gestellt: Geburten, Sterben und Überleben fallen in eine ganze Reihe von Regelungen und Anpassungen, eine Biopolitik der Bevölkerung. All dies schafft eine Autorität, deren oberste Funktion von nun an nicht mehr nur darin besteht, das Leben zu zerstören, sondern es durchgängig zu umgeben25. Es ist das biologische Leben, das schrittweise in den Mittelpunkt der politischen Szene rückt. Der Staatsbürger des Nationalstaats erkennt eine Art von Leben an, um das sich der „eigene“ Staat kümmert, der das Fremde, das Andere und das Gesundheitsrisiko für den nationalen Körper aus seinen Strukturen ausschließt.
Aus klassischer politischer Sicht wird dieser Ausschluss eher politisch als biologisch mit dem Begriff „das Volk“ beschrieben. Üblicherweise wird der Begriff in einer Bedeutung verwendet, die „zwischen zwei gegensätzlichen Polen oszilliert: Auf der einen Seite das ganze ‚Volk‘ als integraler politischer Körper, auf der anderen Seite die Teilmenge ‚Volk‘ (popolo) als fragmentarische Vielzahl von benachteiligten und ausgeschlossenen Körpern“26. Hier, interessieren wir uns für die erstgenannte Gruppe, eine Gemeinschaft, die ihre politischen Kämpfe in den Horizont ihres eigenen Staates einschreibt27. Als solches ist das Volk mit dem Gesellschaftsvertrag und der Volkssouveränität verbunden. Das „Volk“ als Konzept taucht mit der Französischen Revolution auf und „existiert“ nur durch seine Repräsentation. Es muss nicht als soziologische, sondern als „politische Idealisierung“ verstanden werden. Das Volk“ existiert in erster Linie durch den Akt, der es als Souverän etabliert, d.h. durch den Vertrag, der es konstituiert. Diese Agentur ist die politische Funktion der Repräsentation/Befugnis/Beauftragung. Die Repräsentation wird zur neuen politischen Religion der Moderne, zum offiziellen Ritual der Produktion des „einen und unteilbaren“ Volkes, seiner Überschneidung mit der Nation28.
Andererseits spielen Faktoren wie der Buchdruck, die Zeitungen und Zeitschriften (Druckkapitalismus, wie Benedict Anderson erwähnt) sowie die Standardisierung der gedruckten Landessprachen eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung und Verbreitung der nationalen Idee. Die Degradierung der heiligen Sprache Latein29, die Verbreitung bestimmter Umgangssprachen als Instrumente des Verwaltungsapparats, neue Drucktechnologien, aber auch die Verbreitung der Druckerpresse unter den Bedingungen des aufkommenden Kapitalismus haben die Welt verändert und die Art und Weise, wie Informationen, Gefühle und Ideen zwischen den Menschen ausgetauscht werden, ein für alle Mal verändert. Zu den Quellen des Nationalismus gehört nicht nur die Sprache, sondern auch die gedruckte Sprache, die die Sprache der heiligen Texte entthront und sich den lokalen Dialekten aufdrängt, indem sie als offizielle Sprache des Staates anerkannt wird.
Das mentale Konzept der Nation wäre ohne die entsprechenden Brüche in der Organisation und Wahrnehmung von Zeit und Raum nicht denkbar. „Im post-traditionellen Universum des Diskurses ist die Zeit im Gegensatz zum Raum institutionalisiert. Der Bruch, die Entfremdung der Zeit vom Raum trennte ihre subjektive Auffassung vom bis dahin lokalen und konkreten Charakter und führte zu einer universellen, messbaren, aber auch abstrakten Auffassung der Zeitlichkeit“30. An die Stelle der von Walter Benjamin beschriebenen messianischen Zeit, der gleichzeitigen Präsenz von Vergangenheit und Zukunft in einer augenblicklichen Gegenwart, tritt nun die „homogene, leere Zeit“, ein weiterer von Benjamin entlehnter Begriff. „Der Fluss der Zeit wird nicht mehr als unendlich wiederkehrend aufgefasst, sondern nimmt in Abhängigkeit von der Entwicklung der säkularen Wissenschaft die Form einer evolutionären Reihe an, d. h. eines ununterbrochenen Flusses von Entwicklungen, die von einem Zeitpunkt zum nächsten führen, einer endlosen Abfolge von Ursachen und Wirkungen, die durch Uhr und Kalender gemessen werden“.31 Die chronologische Abfolge wird logisch. Das Zeitbewusstsein kommt in allen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens zum Ausdruck, von der ökonomischen Produktion über die politische Aktion bis hin zum kulturellen Ausdruck. Der abstrakte Zeitbegriff ist, ohne einseitig auf ihn reduziert zu sein, mit der Verallgemeinerung der Ökonomie der Waren und der Dominanz des allgemeinen Äquivalents, des Geldes, verbunden. Die messbare Zeit wird zum verallgemeinerten Kriterium des Tauschwerts, zur geteilten, zu vergleichenden und dann homogenisierten Zeit, die getauscht werden kann.
Der Nationalismus kommt nicht, um über Diskontinuitäten, Brüche und Unvereinbarkeiten zu sprechen. Er kommt, um die leere, homogene Zeit der Nation zu gebären. Die Nation wird nicht als eine von vielen Formen sozialer Solidarität dargestellt, die im Laufe der Geschichte auftauchen, sondern als ein soziales Band, das immer in der Zeit präsent ist. Ein Gemeinschaftsideal mit festen Wurzeln in der Vergangenheit, das durch seine historische Kontinuität die Grundlage für die künftige Regelung der menschlichen Angelegenheiten bildet. Es kommt aus der Vergangenheit als natürliche Kulturgemeinschaft, um in der Gegenwart als politische Einheit verwirklicht und in der Zukunft als ideale Nation (wie sie jeder Nationalismus versteht) vollendet zu werden.
Was die Wahrnehmung des Raums betrifft, so steht im Mittelpunkt des Wandels die Vorstellung vom geopolitischen Territorium. Politische Autorität war schon immer mit dem Territorium verbunden. Was sich ändert, ist die Art dieser Verbindung. Im feudalen Europa wurden die Lehen durch ihr Zentrum definiert, die Grenzen waren durchlässig und vage, und die Autoritäten wurden unsichtbar geschwächt, da sie sich gegenseitig durchdrangen32. In der Moderne erhalten die Grenzen einen exklusiven, nicht verhandelbaren, nicht fluktuierenden, unveränderlichen Charakter, der nur durch Krieg verändert werden kann. Diese Abgrenzung ist eine Bewegung mit einer doppelten Funktion. Sie trennt und trennt gleichzeitig die Menschen, um sie unter dem politischen Dach der Nation zu vereinen, aber sie fragmentiert auch die Gemeinschaften, um sie zu vernetzen, sie umschließt das Territorium, um die verschiedenen Kulturen zu homogenisieren, und sie individualisiert, um die Vielfalt und die Unterschiede zu zerstören33. Die Nationalisierung des Territoriums und die Territorialisierung der Nation sind gleichzeitige Prozesse. „Grenzen und nationales Territorium existieren nicht vor der Vereinheitlichung dessen, was sie strukturieren: Es gibt kein ursprüngliches Inneres, das später vereinheitlicht werden muss. […] Der Staat markiert die Grenzen dieses seriellen Raums im Prozess der Vereinheitlichung und Homogenisierung dessen, was diese Grenzen umschließen.34“ Der Körper des Königs, der die totalitäre Autorität symbolisiert, wird durch das nationale Territorium ersetzt, in dem die Autorität einheitlich reproduziert wird und in jedem Zentimeter des Landes ungeteilt ist. Nationale politische Hegemonie existiert nicht ohne Bezug auf ein ideales oder existierendes Territorium, was sie von Natur aus in eine ständige Konfrontation mit anderen Nation-Staaten bringt, sei es offensichtlich oder verdeckt. Die Rivalität zwischen ihnen ist trotz der rhetorischen Schemata des friedlichen Nationalismus eine Selbstverständlichkeit.
An dieser Stelle muss etwas hervorgehoben werden, dem normalerweise nicht die gebührende Aufmerksamkeit zuteil wird. Der Schauplatz, auf dem sich der Nation-Staat präsentiert und schließlich universelle Anerkennung findet, ist das Schlachtfeld, auf dem er seine Effizienz im Vergleich zu anderen Formen staatlicher Organisationen, wie z.B. den traditionellen Imperien, beim Gewinnen von Kriegen unter Beweis stellt. Im Laufe der Zeit verschafften das zunehmende Ausmaß von Kriegen und insbesondere die zunehmende Abhängigkeit von technologischen Fortschritten, Industrialisierung und Spezialisierung in Verbindung mit der sich entwickelnden kommerziellen, rechtlichen und diplomatischen Interaktion zwischen Staaten dem modernen, zentralisierten Nation-Staat einen klaren Vorteil gegenüber anderen Staatsformen35. Die Fähigkeit, Krieg zu führen, hing von der Effizienz und der Fähigkeit eines Staates ab, Ressourcen, Männer, Waffen, Nahrungsmittel und Steuern zur Unterstützung seiner Kriegsanstrengungen zu beschaffen. Die Entwicklung einiger der wichtigsten Mechanismen des modernen Staates erschien als ein Einschnitt zwischen dem Krieg und den Bemühungen, ihn zu finanzieren. Einerseits führte dies zur Monopolisierung der Zwangsmittel und zur systematischen Organisation der Disziplinarmaßnahmen durch den Staat. Andererseits wurde den Menschen, je mehr sie sich in Krieg und Kampf engagierten, ihre Stellung als Mitglieder einer politischen Gemeinschaft bewusst. Die allgemeine Wehrpflicht beginnt, der hohen Nachfrage nach der Teilnahme an politischen Prozessen zu entsprechen. Dadurch wurde eine Reihe von repräsentativen Institutionen gefördert, die für den modernen Staat charakteristisch sind. In diesem Zusammenhang spielt die Nation eine doppelte Rolle: Sie wird von den Regierungen zur Legitimierung der staatlichen Aktionen eingesetzt, aber auch im Kampf um die Teilnahme an politischen Verfahren. In beiden Fällen sorgt die oberflächliche nationale Identität für die Koordination von Politik, Wehrpflicht und Legalität.
Der Krieg steht am Anfang des Nation-Staats, aber die nationale Identität ist das erfolgreichste Mittel zur Legitimierung jedes Kriegseinsatzes. Diese bewährte Beziehung hat ihre Bedeutung während des gesamten 20. Jahrhunderts und auch heute noch beibehalten, da Söldnerarmeen einen Großteil der Drecksarbeit der nationalen Armeen zu übernehmen scheinen. Letztlich wird das Vaterland durch das Vaterland gerettet, dank der einzigartig effizienten Fähigkeit der Nationen, gegnerische Seiten zu schaffen, die über die notwendigen Mittel verfügen, um jederzeit gegeneinander Krieg zu führen. Die nationale Gemeinschaft ist reif genug, um durch das Tragen von Waffen die Einheit zum Ausdruck zu bringen, die sie in Zeiten des Friedens als grundlegenden Bestandteil der sozialen und ökonomischen Prozesse erlebt. Der nationale Konflikt ist nicht nur ein zynischer Slogan, der die Massen täuscht, sondern vielmehr die Folge einer bereits stabilisierten, strukturierten und nationalisierten Organisation der finanziellen Interessen und der Mechanismen der bewaffneten Gewalt. Die Realität einer in Nationen geteilten Welt und das Vorhandensein von Minderheiten in benachbarten Staaten führt jedoch zu Konflikten, die sich nicht durch eine reibungslose Kapitalakkumulation kontrollieren lassen, und damit zu einem hohen Maß an Autonomie gegenüber direkten finanziellen Interessen. Mit anderen Worten: Die Nationen bestimmen aufgrund ihrer eigenen Logik der Anziehung und Abstoßung einen Kontext internationaler politischer Antagonismen, der nicht auf seine finanzielle Dimension reduziert werden kann36.
Diese beiden Konzepte, die Nation und der Kapitalismus, weisen von Anfang an eine intensive Verbindung auf, die nie zur Identifikation wird. Bereits im 16. Jahrhundert war die Herausbildung der kapitalistischen Ökonomie auf einer zunehmend internationalen Ebene zunächst in Form von expandierenden Marktbeziehungen und später die Herausbildung des Industriekapitalismus ein primärer und entscheidender Faktor für das Ausmaß und die Grenzen der staatlichen Macht. Die zwingende Forderung der aufstrebenden Bourgeoisie war die Schaffung einer staatlichen Struktur, die durch ihre stabilisierende Fähigkeit einen koordinierenden Rahmen für die neue kapitalistische Ökonomie gewährleisten sollte, indem sie das Recht durchsetzte, Verträge und Transaktionen sicherte und konkurrierende Ansprüche auf Eigentumsrechte förderte. Die Form, die die Nation annimmt, ist jedoch nicht direkt mit den kapitalistischen Produktionsverhältnissen gleichzusetzen. „In der Geschichte des Kapitalismus sind andere Staatsformen als der Nationalstaat entstanden und haben eine Zeit lang mit ihm konkurriert, bevor sie schließlich unterdrückt oder instrumentalisiert wurden“37.
Zum Beispiel das Kaiserreich, die Stadt, die Hanse. Mit anderen Worten: Die Form des Nation-Staats ist kein bourgeoiser Plan, sondern das Ergebnis einer Reihe von politischen Bündnissen und Klassenkämpfen, die sich in verschiedenen geopolitischen Formationen von Klassen- und Staatsmacht herauskristallisierten. Kräfte, die darauf abzielten, die politische Macht und die finanziellen Arrangements zu konzentrieren, indem sie jegliche Autorität, die der Aristokratie und dem Klerus noch verblieben war, zerbrachen und entwurzelten, sowie finanzielle Interessen, die versuchten, Hindernisse für die Ausdehnung der Marktbeziehungen zu beseitigen, wurden durch starke soziale Netzwerke, sowohl auf dem Land als auch in der Stadt, projiziert, die sich verbündeten, aber auch untereinander in Konflikt gerieten, wann immer die Ökonomie innerhalb der nationalen Grenzen begrenzt war und von der willkürlichen Intervention des Staates bedroht wurde. Letztendlich könnte man sagen, dass der Nation-Staat mit seiner zentralisierten Struktur, seiner Klassenzusammensetzung und seinem abgegrenzten Territorium der historische Gleichgewichtspunkt für die doppelte Konkurrenz der bourgeoisen Klassen war. Zwischen einem äußeren Kampf, bei dem sich individuelle Agenten des Kapitals antagonistisch gegenüberstehen und versuchen, ihren „eigenen“ Staatsmechanismus zu stützen, während sie gleichzeitig alle nationalen Grenzen überschreiten, und einem inneren Kampf, der viel grundlegender und essentieller für jede Art von gesellschaftlicher Struktur ist, nämlich dem zwischen den Klassen. Im Spannungsfeld zwischen lokalem, kommunalem Widerstand und Internationalismus der Arbeiterklasse war der Nation-Staat historisch gesehen die erfolgreichste Antwort auf die Entwicklung eines Binnenmarktes und die Ausbeutung der Arbeit. Aufgrund der ungleichmäßigen historischen Entwicklung des Kapitalismus in Zeit und Raum entwickelten sich die kapitalistischen Verhältnisse in den verschiedenen geografischen Regionen jedoch auf unterschiedliche Weise und zu unterschiedlichen Zeiten. So entstand anstelle einer einzigen internationalen Bourgeoisie eine Vielzahl unterschiedlicher Bourgeoisien, die sich auf bestimmte nationalisierte Territorien bezogen. Wie es dazu kam und mit welchen Mitteln in der Folge Allianzen und Konflikte entstanden, ist für jeden Nation-Staat im Einzelnen zu untersuchen.
Was hier geschrieben wird, ist der Versuch, die Prozesse und Veränderungen zu analysieren, die bestimmte Tendenzen und Entwicklungsprozesse aufzeigen, die zum Aufstieg, aber leider noch nicht zum Fall der Nation-Staaten geführt haben. Es wird jedoch immer die „Kontingenz“, die „Ungewissheit“ und die „Unvorhersehbarkeit“ geben, die sowohl die Vorherrschaft der Struktur des Nation-Staats gegenüber anderen Staatsformen als auch das Auftreten und das Überleben bestimmter Staaten zu bestimmten Zeiten bestimmten und anderen nicht. Die Geschichte unterwirft sich aufgrund menschlicher Eingriffe keinen Gesetzen, ist nicht vorherbestimmt und wird auch im Nachhinein nicht in ihrer Gesamtheit verstanden.
Andererseits sollte das zufällige Element, das jeder Ethnogenese innewohnt, nicht als historische Arbitrage betrachtet werden. Es gibt ein sogenanntes „Rohmaterial“ oder einen „proto-ethnischen“ Unterbau, aus dem jeder Nationalismus Elemente aus einer Vielzahl lokaler, verstreuter und widersprüchlicher Traditionen schöpft und so seinen eigenen Mythos, eine neue historische Schöpfung, zusammensetzt. Die Nation lässt sich jedoch nicht auf eine einzigartige und individuelle lokale Tradition, ein religiöses Erbe oder eine sprachliche Besonderheit zurückführen. Obwohl sie sich auf diese stützt und tatsächlich Materialien aus der Vergangenheit verwendet, transformiert, reformuliert und homogenisiert sie diese, vor allem, indem sie ihnen einen höheren Stellenwert einräumt, so dass sie nicht mehr das sind, was sie einmal waren. Sie schreibt sich ihre eigene Tradition ein.
Wie Agamben bemerkt: „Die Reinheit existiert nie im Anfang“. Der formative, anfängliche Zustand ist die sprachliche und biopolitische Mischung, während die Katharsis und die Produktion von national unterschiedlichen Menschen das Ergebnis eines anstrengenden Prozesses und keineswegs ein natürlicher Prozess ist, der den Vorfahren zugeschrieben wird38. Der Schluss wird also zum Ende/Zweck und damit zum Anfang, sowohl in zeitlicher als auch in logischer Hinsicht39. In dieser vom Nationalismus präsentierten „Abfolge von Ereignissen“ sieht Benjamins Engel „eine einzige Katastrophe, die Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert40“. Wir sehen genau das Gleiche.
1Der Titel dieses Witzes könnte auch lauten: „Lenin in Warschau“ oder „Breschnew in Athen“ oder jeder andere Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion in einer beliebigen europäischen Hauptstadt.
2Aus einem Brief von Lenin an Michael Lowy, Marxists and the National question.
3Benedict Anderson, Imagined Communities.
4Nikos Demertzis, „Nationalism as ideology“ im Sammelband Nation-State-Nationalism. (Not translated into English)
5E.P. Thomson, The poverty of theory and other essays.
6J. Larrain, Der Begriff der Ideologie.
7P. Lekkas, The nationalistic ideology – five work assumptions in the historic sociology. (Not translated into English)
8Ebenda
9Nikos Demertzis, ebenda.
10Etienne Balibar, „Die historische Nation“ in Balibar E. & Wallerstein I., Rasse, Klasse, Nation: ambivalente Identitäten
11Ebenda
12Nikos Demertzis, ebenda.
13Ebenda
14Etienne Balibar, ebenda
15Slavoj Žižek, Das sublime Objekt der Ideologie.
16Slavoj Žižek, „Enjoy Your Nation as Yourself“, in Les Black und John Solomos, (Hrsg.), Theories of Race and Racism: A Reader.
17Etienne Balibar, Forschung über Nationalismus und Rassismus.
18Nikos Demertzis, ebd.
19Pantelis Lekkas, ebd.
20Dimitris Dimoulis – Chrostina Gianouli, Nations – Ranks – Politic – The dialectics of war. (Not translated into English)
21„Die Reaktion der Aristokraten im frühen 18. Jahrhundert zielt auf den Wissens-Macht-Mechanismus ab, der den Verwaltungsmechanismus mit dem staatlichen Autoritarismus verbindet, in dem Bestreben, ihre Rechte zurückzufordern. In diesem Zusammenhang stellen sie dem Rechtswissen einen neuen historischen Diskurs und ein Subjekt gegenüber, das für sich selbst spricht. Die Nation in ihrer unklaren, unbestimmten und zweideutigen Bedeutung wird Konflikte schüren, von denen einige in der Zeit der Französischen Revolution große Bedeutung erlangen werden“. (Michel Foucault, Die Gesellschaft muss verteidigt werden).
22Etienne Balibar, ebd.
23Ebenda.
24Giorgio Agamben, Homo Sacer.
25Michel Foucault, Die Geschichte der Sexualität: Der Wille zur Erkenntnis
26Giorgio Agamben, Homo Sacer.
27Etienne Balibar, o. p.
28Adreas Pantazopoulos, For the People and the Nation – The Moment Andreas Papandreou 1965 – 1989
29„Die heilige Sprache wird als ein Auswuchs der Wirklichkeit und nicht als eine willkürliche Darstellung derselben betrachtet, als ein Teil der Wahrheit und nicht nur als ein Mittel, sie auszudrücken.
Diejenigen, die sie besitzen und deren Zahl gering ist, werden als eine strategische Ebene der kosmologischen Hierarchie betrachtet. Das Schicksal der Vielfalt der menschlichen Sprachen und die territoriale Begrenzung jeder Religion erschüttern das ökumenische Imaginäre des Christentums und tragen zur Degradierung der heiligen Sprachen bei.“ [Anderson, a.a.O.]
30Nikos Demertzis, a. a. O.
31Pantelis Lekkas, The Game of Time (Not translated into English)
32Benedikt Anderson, ebenda.
33Nikos Poulantzas, Staat, Macht, Sozialismus.
34Nikos Poulantzas, ebenda.
35Stewart Hall – Bram Gieben, Formations of Modernity
36Dimitris Dimoulis- Christina Giannoulis, Idib. (Not translated into English)
37Etienne Balibar, Idib.
38Akis Gavrilidis, The Incurable Necrophilia of Radical Patriotism.
39Ebenda
40Walter Benjamin, „IX“, Thesen zur Philosophie der Geschichte.
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Dieser Text erschien in der dritten Nummer der anarchistischen Publikation aus dem Balkan, namens Antipolitika. Die Übersetzung ist von uns. Eine weitere anarchistische Kritik am Nationalismus, an der Nation-Staat, an das Konzept/Idee/Kategorie des Volkes. Die Übersetzung ist wieder einmal von uns. Hier auch auf Englisch und hier eine weitere Textsammlung von Ediciones Inéditas.
(Antipolitika) Contra Aztlán
Eine Kritik des Chicano-Nationalismus
Von EDICIONES INÉDITAS
Die Mütze oben ist ein Bild, das die Runde macht und einen Kontrapunkt zu dem jetzigen Präsidenten Donald Trump und die Rolle die ihn (un)berühmt gemacht hat1. Sie erinnert daran, dass ein großer Teil des US-Territoriums einst mexikanisches Staatsgebiet war. Ein Chicanx-Akt des Détournement.2 Allerdings ist es ein Akt des Détournement, dem eine kritische Analyse der mexikanischen Geschichte fehlt. Ein Großteil des nationalistischen Eifers der Chicano-Bewegung ist auf den Verlust von Mexikos Territorium durch die rassistische Aggression der USA zurückzuführen. Dies geschah mit dem Vertrag von Guadalupe im Jahr 1848, mit dem das Gebiet, das heute als Kalifornien bekannt ist, und ein großes Gebiet, etwa die Hälfte von New Mexico, der größte Teil von Arizona, Nevada, Utah und Teile von Wyoming und Colorado, an die USA „abgetreten“ wurden.3
Letztes Jahr haben zwei Künstler die Nordgrenze Mexikos so vermessen, wie sie 1821 aussah, und sie mit Obelisken markiert, die weit innerhalb der heutigen Grenzen der USA liegen. Heute bezeichnen wir diese historische Form der mexikanischen Republik als Erstes Mexikanisches Reich; dieses Reich erstreckte sich bis weit nach Mittelamerika hinein und reichte bis zum Staatsgebiet von Costa Rica. Wenn diese Künstler die südliche Grenze dieses Reiches vermessen würden, würden wir das eklatante Versäumnis dieses Projekts erkennen. Sie geben zwar vor, die Vergänglichkeit von Grenzen zeigen zu wollen, aber sie haben versehentlich hervorgehoben, worum es bei dem Projekt der mexikanischen Republik wirklich geht: die Gewinnung von Kapital innerhalb ihrer Grenzen ohne die Notwendigkeit von Angriffskriegen (Kolonialismus); ein Projekt, das den Klassenkrieg der Privatisierung von natürlichen Ressourcen4, die allen gehören, und die Gewinnung von Mehrwert aus der einheimischen, schwarzen und mestizischen Bevölkerung vorzieht. Dieses Staatsprojekt umfasste einst ein viel größeres Territorium. Das nostalgische Bild einer friedlichen Heimat, das Chicanxs oft auf Mexiko projizieren, verliert langsam seinen Glanz. Doch aus dieser Nostalgie erwächst ein Großteil des Chicano-Nationalismus.
¿Aztlán Libre?
Es ist der Chicano-Dichter Alurista, dem die Verbreitung der Geschichte von Aztlán als mythisches Heimatland der Mexica zugeschrieben wird. Er schrieb auch das Dokument, das zum wichtigsten Dokument der Chicano-Nationalisten werden sollte: El Plan Espiritual de Aztlán. Darin finden wir die ersten grundlegenden Irrtümer des Chicano-Nationalismus:
„Der Nationalismus als Schlüssel zur Organisation überschreitet alle religiösen, politischen, klassenmäßigen und ökonomischen Fraktionen oder Grenzen. Der Nationalismus ist der gemeinsame Nenner, auf den sich alle Mitglieder von La Raza einigen können.“
Hic salta, hic Aztlán: eine neue Nation, die im heutigen Südwesten der USA entstehen soll, als Teil des vermeintlichen gemeinsamen ethnischen Erbes aller Chicanxs.5 Als Antistaatlicher Kommunist wünsche ich mir den Sturz des Kapitalismus en su totalidad. Wie können dann selbst Chicanx- Antistaatliche Kommunistinnen, Kommunisten, Anarchistinnen und Anarchisten einen Plan unterstützen, der uns unweigerlich mit einer neuen nationalen Bourgeoisie zusammenbringt? Die Widersprüche sind eklatant und würden dazu führen, dass die Menschen, die diese „Chicanx-Nation“ bilden, weder von der Lohnarbeit noch von der allgemeinen Ausbeutung befreit werden. Eine weitere Revolution, die im Namen der nationalen Souveränität verhindert wird. Auch wenn es bestimmte Dinge gibt, die die Chicanx über diese „Fraktionen“ und „Grenzen“ hinweg verbinden, auf die Alurista anspielt, so sind es doch gerade diese Bindungen, die das kommunistische Projekt dämpfen, das die Vorstellung einer Chicanx-Nation als falsch begreift. Fredy Perlman schrieb in seinem aufrüttelnden Essay Der anhaltende Reiz des Nationalismus:
„(Man) mag versucht sein, eine Definition einer Nation als ein organisiertes Territorium anzulegen, das aus Leuten besteht, die eine gemeinsame Sprache, Religion und Gebräuche teilen, oder zumindest eins von den dreien. Solch eine Definition, klar, oberflächlich und statisch, ist keine Beschreibung des Phänomens, sondern eine Entschuldigung dafür, eine Rechtfertigung.“
Diese erfundene Rechtfertigung wird benutzt, um das Projekt der kapitalistischen Ausbeutung zu ermöglichen. Wenn wir das Heimatland, das die Chicano-Nationalisten zurückerobern wollen, analysieren, stoßen wir auf den grundlegenden Widerspruch, dass dieses vermeintliche Heimatland bereits seit Jahrtausenden von vielen verschiedenen indigenen Völkern besetzt ist. Um nur einige zu nennen: die Tongva-Gabrielino, die Chumash, die Yuman, die Comanche, die Apachen, die Navajo und die Mohave.
Außerdem heißt es im Plan Espiritual de Aztlán, dass die Chicano-Nationalisten „die Unabhängigkeit [ihrer] Mestizen-Nation erklären“. Hier lauert die Gefahr einer neuen Form der Unterdrückung: Eine weitere sesshaft-koloniale Mestizo-Nation schottet sich erneut gegen die indigenen Völker ab. Die National Brown Berets, eine chicano-nationalistische Gruppe, behauptet stattdessen.
„Der Anteil an europäischem Blut in unserem Volk ist ein Tropfen auf den heißen Stein im Vergleich zu den Hunderten von Millionen Ureinwohnern, die diese Hemisphäre bewohnt haben. Die Mehrheit von uns ist indigener Abstammung und es ist dieses Blut, das uns mit dem Land verbindet und nach ihm schreit.“6
Ein seltsames Spiel der Blutszugehörigkeit legt den Grundstein für einen vermeintlichen Anspruch auf Aztlán. Kim Tallbear, Antropologe an der University of Texas, Austin, und Mitglied des Sisseton Wahpeton Oyate in South Dakota, beklagt:
„Viele Menschen in den USA wollen das Gefühl haben, dass sie zu diesem Land gehören. Ich bin vor kurzem nach Texas gezogen, und viele Weiße, die ich treffe, sagen: „Ich habe einen Cherokee-Vorfahren“… Das beunruhigt uns in einem Land, in dem wir ohnehin das Gefühl haben, dass die Geschichte unserer Stämme und unsere Beziehungen zur Kolonialmacht kaum verstanden werden…“7
Chicanxs sind das historische Produkt von Kolonialismus, Rassismus, Kapitalismus, Sklaverei, Genozid und kultureller Auslöschung. Ein Teil des Kampfes für die Befreiung der Chicanxs (und aller anderen Menschen) würde unweigerlich die Rückgewinnung der verlorenen alten Bräuche beinhalten, aber dies kann nicht den Kampf der indigenen Völker überholen, die es geschafft haben, eine direkte Verbindung zu ihrer tiefen Vergangenheit und Gegenwart zu bewahren. Indigenität ist mehr als nur genetisches Erbe, sie ist eine echte kulturelle Verbindung. Und eine Politik, die sich auf das genetische Erbe stützt, sieht immer eugenischer aus.8 Es ist unklar, inwiefern sich das nationalistische Projekt der Chicanos von der Souveränität unterscheidet, die die amerikanischen Kolonialisten-Kaufleute („Founding Fathers“) von der englischen Krone erlangen wollten.
Gegen alle Nation-Staaten, gegen die Polizei
Das ursprüngliche 10-Punkte-Programm der Brown Berets enthält die Forderung, dass „alle Polizisten in mexikanisch-amerikanischen Gemeinden in der Gemeinde leben und Spanisch sprechen müssen.“9 Siebenundvierzig Jahre später, im Jahr 2015, berichtete die LA Times, dass 45 % der LAPD-Beamten Latinos sind und die Beziehungen zwischen dem LAPD und der Stadt, die es überblickt, nach wie vor angespannt sind.10 Man könnte sagen, dass dies zum Zeitpunkt der Ausarbeitung dieses Programms eine radikale Forderung war, aber 61 Jahre zuvor gibt es eine Anekdote, die verdeutlicht, dass die Mexikanisch-Amerikaner bereits wussten, dass ein anderer Weg notwendig war.
„… Scharen von Cholos sprangen auf und liefen zu dem Platz, an dem der [LAPD-]Beamte sitzen sollte. Wäre er dort gewesen, hätte nichts einen bösartigen Angriff und ein mögliches Blutvergießen verhindern können“11
Jetzt der Kontext: Der mexikanisch-amerikanische LAPD-Detective Felipe Talamantes verhaftete 1907 zusammen mit anderen mexikanisch-amerikanischen LAPD-Detectives drei Mitglieder der P.L.M., einer mexikanischen anarchistisch-kommunistischen Organisation, in Los Angeles unter erfundenen und falschen Anschuldigungen. Damals wurde festgestellt, dass die LAPD-Detektive höchstwahrscheinlich auf Anweisung der mexikanischen Bundesregierung arbeiteten, die damals von Diktator Porfirio Díaz geführt wurde. Man sah darin eine Möglichkeit, gegen mexikanische Radikale in den USA vorzugehen, kurz vor dem Ausbruch der mexikanischen Revolution im Jahr 1910.
Jemand im Gerichtssaal sagte, dass Detective Talamantes bei einer Anhörung anwesend gewesen sein könnte, bei der es zu der oben beschriebenen Szene mit den springenden Cholos kam. Zu dieser Zeit war das Verhältnis zwischen dem LAPD und den Mexikanern in Los Angeles bereits sehr angespannt. Daher erhielten die drei Anarchisten massive Unterstützung von Mexikanern und mexikanischen Amerikanern sowie von weißen Radikalen. Grundsätzlich sind alle Anarchistinnen und Anarchisten gegen die Institution der Polizei. Während ihrer Inhaftierung gelang es ihnen, beachtliche 1.950 Dollar für ihre Verteidigung zu sammeln: bemerkenswert angesichts der mageren Beiträge, die zwischen 0,10 und 3,00 Dollar lagen.12 Diese Anekdote ist deshalb so aufschlussreich, weil es den Unterstützern der drei Verhafteten wenig ausmachte, dass die LAPD-Detectives selbst auch mexikanisch-amerikanisch waren. Diese Polizisten wurden eindeutig als Komplizen der weißen Mehrheit angesehen, die damals die konservative Machtstruktur der Stadtverwaltung kontrollierte.
Bis heute setzt sich die Chicano National Liberation Group, Unión del Barrio, in Los Angeles für das ein, wofür die Brown Berets 1968 eintraten: ein Civilian Police Review Board. Während die radikaleren Elemente der Black Lives Matter-Bewegung die vollständige Abschaffung der Polizei fordern, übersehen die Chicano-Nationalisten in ihrer rassistischen Kurzsichtigkeit die antischwarzen Ursprünge der Polizei in den USA.13
Fredy Perlman stellt etwas Merkwürdiges über Pro-Nationalisten fest und sagt:
„Es ist unter Menschen, die all ihre Wurzeln verloren haben, die davon träumen Supermarktmanager und Polizeichef zu werden, wo die nationale Befreiung ihre Wurzeln schlägt; das ist der Ort, an dem Anführer und Generalstab geformt werden.
Der Nationalismus übt weiterhin seinen Reiz auf die Entleerten aus, weil andere Aussichten trostloser erscheinen.“14
Aber welche Aussichten, wie düster auch immer, bieten die Antistaatliche Kommunistinnen und Kommunisten an?
Contra el nacionalismo, por el comunismo y anarquía!
Chicano-Nationalisten sprechen oft davon, dass „die Grenze über sie hinwegspringt“, um dem rassistischen Narrativ entgegenzuwirken, dass Mexikaner irgendwie Invasoren des heutigen amerikanischen Südwestens sind. Sie schimpfen über die Grenzen, die ihre Eltern, Großeltern und andere auf gefährliche Weise überqueren mussten, aber sie wollen offensichtlich nicht die Abschaffung der Grenzen, sondern eine Neuziehung der Grenzen. Antistaatliche Kommunistinnen und Kommunisten (und Anarchistinnen und Anarchisten) wollen die Abschaffung von Grenzen, Nation-Staaten, Kapitalismus, Patriarchat, Kolonialismus und Arbeit. Obwohl es natürlich schwierig ist, diese Maßnahmen voranzutreiben, ohne die Erfahrung der Identität anzusprechen, ist es nur halbherzig, durch die Linse einer rein nationalen Befreiungsstrategie zu sprechen.
Das Denken von Mao Zedong, eine häufige Quelle der Ideologie der nationalen Befreiung, wird hier von Perlman kritisiert:
„Wenige der Unterdrückten der Welt hatten auch nur ein Attribut einer Nation in der nahen oder fernen Vergangenheit besessen. Die Gedanken mussten an Menschen angepasst werden, deren Vorfahren ohne nationale Vorsitzende, Armeen oder Polizeien gelebt hatten, ohne kapitalistische Produktionsprozesse und deshalb ohne Bedarf an ursprünglichem Kapital.
Diese Revisionen wurden durch die Anreicherung der ursprünglichen Gedanken mit Leihnahmen von Mussolini, Hitler und dem zionistischen Staat Israel vollendet. Mussolinis Theorie über die Erfüllung der Nation im Staat war ein zentraler Eckpfeiler. Alle Gruppen an Menschen, ob klein oder groß, industriell oder nicht-industriell, konzentriert oder verstreut, wurden als Nationen betrachtet, nicht im Hinblick auf ihre Vergangenheit, sondern im Hinblick auf ihre Aura, ihre Potenzialität, eine Potenzialität, die in ihre nationalen Befreiungsfronten eingebettet war. Hitlers Behandlung (wie auch die der Zionisten) der Nation als rassische Einheit war ein anderer zentraler Grundsatz. Die Kader wurden unter Leuten rekrutiert, die von der Sippschaft und den Gebräuchen ihrer Vorfahren entleert waren und in der Konsequenz waren die Befreier ununterscheidbar von den Unterdrückern im Hinblick auf Sprache, Glaube, Gebräuche oder Waffen; das einzige Schweißmaterial, das sie aneinander und an ihre Massenbasis hielt, war das Schweißmaterial, das weiße Angestellte mit weißen Bossen an der amerikanischen Grenze hielt; das »rassische Band« gab denen eine Identität, die keine hatten, denjenigen Sippschaft, die keine Sippe hatten, denjenigen Gemeinschaft, die ihre Gemeinschaft verloren hatten; es war das letzte Band der kulturell Entleerten.“15
Das Projekt, den Chicanxs eine Alternative zur Nationalen Befreiung oder einem anderen falschen Appell an die Nationalität zu bieten, ist notwendiger denn je. Als radikale Chicanxs, die die Welt wirklich befreien (oder vielleicht zerstören) wollen, sollten wir es auf uns nehmen, die Rhetorik, die Bewegungen und die Geschichte zu schaffen, die wir in der Welt sehen wollen. Ich freue mich darauf, dazu beizutragen, solche Werke zu finden, zu schaffen und zu fördern, die dieses Projekt der totalen Befreiung nicht nur für Chicanxs, sondern für unterdrückte Menschen überall erfüllen.
Erstmals veröffentlicht im Lucha No Feik Club, 2. August 2016
Erweitert und bearbeitet am 9. März 2017
Überarbeitet am 11. März 2018
Live aus dem besetzten Tongva-Gabrielino Territorium
(Los Angeles, CA)
Kontakt: [email protected]
1A.d.Ü., dabei geht es um eine Veränderung, daher später die Rede von Détournement, der bekannten Mützen mit der Aufschrift „Make America great again“, an die abgebildete Mütze trägt die Aufschrift „Make America Mexico again“.
2Weitere Lektüre zu Détournement, Détournement as Negation and Prelude von SI 1959 (A.d.Ü., hier eine Übersetzung des Artikels, welches aber unserer Meinung nach falsch übersetzt wurde)
3Vertrag von Guadalupe Hidalgo
4Ein aktuelles Beispiel ist der Kampf der Menschen in Mexicali, Mexiko, und den umliegenden Gebieten gegen die Constellation Brands, die ihnen ihr Wasser abnehmen. Für weitere Informationen siehe hier: https://ediciones-ineditos.com/2018/01/17/communique-our-resistance-at-rancho-meno-6-arbitrary-arrests/
5Selbst wenn das Gebiet, das Alurista als Aztlán bezeichnet, wirklich die Heimat der Mexica wäre, könnte nicht jeder Chicanx Anspruch darauf erheben, da nicht alle Chicanx mexikanischer Abstammung sind. Chicanxs haben eine Vielzahl ethnischer Abstammungen, unter anderem von den Ureinwohnern des so genannten Mexikos und anderen Ursprüngen wie Europa und Afrika. Chicanx ist keine Rasse.
6National Brown Berets, Our Nation Aztlán. [Die Seite ist verschwunden, der Link ist ein Cache-Inhalt]
7New Scientist, „There is no DNA test to prove you’re Native American“.
8Es ist erwähnenswert, dass die Idee von La Raza Cósmica, die von dem mexikanischen Philosophen José Vasconcelos entwickelt wurde (eine Idee, die von den Chicano-Nationalisten übernommen wurde), im Wesentlichen Eugenik ist.
9Hecho en Aztlán, „Brown Beret Ten-Point Program“ (1968)
10LA Times, „LAPD is more diverse, but distrust in the community remains.“
11LA Times, 13. November 1907
12Edward J. Escobar, „Race, Police and the Making of a Political Identity: Mexican Americans and the Los Angeles Police Department, 1900-1945“, S. 58
13Für weitere Informationen siehe „Origins of the Police“ von David Whitehouse
14Fredy Perlman, „Die anhaltende Reiz des Nationalismus“ (1984)
15Ebenda
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Dieser Text erschien in der dritten Nummer der anarchistischen Publikation aus dem Balkan, namens Antipolitika. Die Übersetzung ist von uns. Eine weitere anarchistische Kritik am Nationalismus, an der Nation-Staat, an das Konzept/Idee/Kategorie des Volkes. Die Übersetzung ist wieder einmal von uns.
Vorläufige Thesen zur griechischen Nation für den täglichen Gebrauch
Zum Text und seinem Kontext
Der folgende Text besteht aus ein paar vorläufigen Thesen zur griechischen Nation und zum griechischen Staat. In seinen Grundzügen wurde er 2018 als Beitrag zu einer längst vergangenen Diskussionsrunde verfasst, als die sogenannte „mazedonische Frage“ wieder einmal in aller Munde war. Dieser alte Text wurde 2022 neu formuliert, um für Leser, die mit dem griechischen Kontext nicht vertraut sind, so verständlich wie möglich zu sein. Damit versuchen wir, einen heute dringend benötigten Dialog über das heikle Thema Nation und Nationalismus aus einer proletarischen Perspektive zu eröffnen, d. h. aus einer Perspektive, die überhaupt nicht daran interessiert ist, die gegenwärtige(n) Gesellschaftsform(en) zu bewahren.
Im Jahr 2018 hatte fast jeder in Griechenland eine Meinung zum „richtigen“ Namen für Mazedonien, das im öffentlichen Diskurs Griechenlands sehr oft als „der Nachbarstaat“ bezeichnet wurde. Trotz oder gerade wegen der überhitzten Atmosphäre war der richtige Ausgangspunkt für uns, den wir nach wie vor als methodisch unverzichtbar ansehen, die Notwendigkeit, einen Schritt zurückzutreten. Bevor wir uns über die Teilnehmer an einer öffentlichen Debatte über den Namen eines anderen Staates Gedanken machen, müssen wir uns mit den Bedingungen auseinandersetzen, die eine solche Debatte ermöglichen. Warum wurde eine solche Debatte nicht für andere ehemalige jugoslawische Nation-Staaten geführt? Warum gab es keine solche Diskussion darüber, wie Kroatien oder Bosnien genannt werden sollten? Warum hat niemand in Griechenland jemals die Entscheidung Sloweniens in Frage gestellt, der EU und der NATO beizutreten?
Die national(istisch)en Spannungen um „Mazedonien“ waren der Anlass für den Text, aber der Text selbst handelt nicht davon. Es ist kein historischer Text, der sich mit der Expansion des griechischen Staates in das osmanische Mazedonien im 20. Jahrhundert und der damit einhergehenden Gewalt gegen diejenigen, die nicht den nationalen Kriterien entsprachen, beschäftigt. Es gibt eine ganze Reihe von Texten zu diesem Thema und einige davon sind in der Tat bemerkenswert gut. Außerdem waren (und sind) wir nicht daran interessiert, eine weitere Zeitleiste der jüngsten ökonomischen Beziehungen zwischen Griechenland und Mazedonien oder der (geo)politischen Prozesse, die zum Prespa-Abkommen geführt haben, anzubieten. Unser Problem hier ist ein vorläufiges. Es geht um die griechische Nation(alismus) und ihre sozial konstitutive Kraft als entscheidende Dimension unserer sozialen und politischen Gegenwart.
Je abstrakter man vom Nationalismus ausgeht, desto einfacher erscheinen die Dinge. Heute ist es tatsächlich einfach, den Nationalismus zu verleugnen. Damals, im Jahr 2018, waren es nur die lautesten, offensichtlichsten und trivialsten Aspekte, die vom offiziellen Staat bis hin zu einem ziemlich großen Teil der antagonistischen Bewegung als Nationalismus anerkannt wurden. Das Problem bei einer solchen verarmten Formulierung des Nationalismus ist natürlich, dass sie sowohl die offizielle Version des griechischen Staates als auch die griechische Gesellschaft aus der Kritik ausklammert, also fast alles. In dieser Hinsicht könnte man den folgenden Text mit einer gewissen Dehnung wie folgt zusammenfassen: 1) Nationalismus ist weder extrem noch eine bloße Ideologie, und 2) eine Kritik des Nationalismus ohne eine Kritik der Nation ist überhaupt keine Kritik, sondern eine Täuschung durch Verbalismus.
Am 10. März 2018 fand eine Demonstration anlässlich der Brandstiftung des besetzten Hauses Libertatia während einer „pro-mazedonischen“ Kundgebung im Januar desselben Jahres statt. Am selben Tag, kurz nach der Demonstration, veranstaltete das Balkan Solidarity Network ein öffentliches Treffen zum Thema Nationalismus mit Gefährten und Gefährtinnen aus Serbien, Mazedonien, dem Kosovo, Bulgarien, Kroatien und Slowenien. Obwohl die Organisatoren nicht im Voraus besprochen hatten, wie das Treffen ablaufen sollte, konzentrierte sich jede Gefährtin und jeder Gefährte auf den Nationalismus „ihres/seines“ Landes. Genau in dieser politischen Haltung finden wir den Kern einer richtigen antinationalen politischen Perspektive. Kurz gesagt: Man sollte immer dort ansetzen, wo man sich befindet, nämlich bei der „eigenen“ Nation und dem eigenen Staat. Jeder andere Ausgangspunkt führt direkt dazu, „deinen“ außen- oder innenpolitischen Apparat zu begünstigen. Zweitens kann man erst von hier aus zu einer allgemeineren Kritik des Nationalismus übergehen, nicht nur als Ideologie, sondern als konstitutive soziale Kraft. Erst auf dieser Ebene können unterschiedliche Erfahrungen aus verschiedenen Ländern und historischen Entwicklungen in einen sinnvollen Dialog treten und konkreter werden. Der dritte Schritt besteht darin, zum Ausgangspunkt zurückzukehren, der auch das ständige Ziel der proletarischen Kritik ist.
I
Es ist etwas irreführend, sich mit dem griechischen Nationalismus in dieser Zeit zu beschäftigen, in der der öffentliche Diskurs von so genannten nationalen Fragen, den „mazedonischen“ und den berüchtigten „türkischen Provokationen“ beherrscht wurde. Dies ist nicht auf ein außergewöhnliches „äußeres Ereignis“ zurückzuführen, sondern auf den vorherrschenden Ansatz, nach dem Nationalismus etwas ist, das gelegentlich kommt und geht. Daher wird Nationalismus als eine abnormale, extreme Situation dargestellt, das genaue Gegenteil der „demokratischen Normalität“. In ihrer harmlosesten Version vermengt diese politische Position das Objekt mit seiner Intensität und bezeichnet nur einige seiner lauten Momente als Nationalismus. In einem solchen diskursiven Kontext wird der Nationalismus von den Bedingungen abgekoppelt, die ihn zu einem entscheidenden Aspekt des gesellschaftlichen Lebens machen. Selbst mit den besten Absichten sichert dieser Ansatz den Nationalismus, indem er seine Dauerhaftigkeit und seine formative Kraft verschleiert. Eine konsequente Kritik muss daher an dem ansetzen, was unsichtbar gemacht wird. Wir könnten es das Alltagsleben des Nationalismus nennen.
II
In der liberalen Demokratie ist Nationalismus ein ziemlich anrüchiger Begriff, so dass sich jede Person leicht zum Anti-Nationalisten erklären kann. Die Nation ist jedoch eine ganz andere Geschichte. Der Widerstand gegen die Nation als solche ist nicht nur unpopulär, sondern fast unvorstellbar. Selbst in der marxistischen und anarchistischen Bewegung wird die Nation selbst nur selten als Gegenstand der Opposition gegen den Nationalismus betrachtet. Schließlich gibt es für die Nation kein „-ismus“ wie für Ideologien. Deshalb kann sie auch nicht in Frage gestellt werden, denn jeder weiß, dass jeder Mensch zu einer Nation „gehören“ muss, so wie jeder „eine Nase und zwei Ohren haben muss“.1
Es war (und ist) die strategische soziale Vorherrschaft des Nationalismus, die die Entkopplung zwischen Nationalismus und Nation ermöglicht hat. Durch die Entkopplung von der Nation wird der Nationalismus von seiner größten Errungenschaft, dem Nation-Staat, entkoppelt, der nichts anderes als ein verstaatlichter Nationalismus ist. So wird die Nation vom Nationalismus isoliert. Erstere wird zu einer selbstverständlichen conditio humana, während letztere zu einem pervertierten „Ideenkomplex“ reduziert wird. Der Nationalismus wird zu einer Krankheit der Nation. Ohne ihn könnte sie vollkommen gesund sein. Als ob man sagen wollte: „Jeder kann ein stolzer Grieche sein, ohne ein Nazi zu sein.“ Der Versuch, das eine gegen das andere auszuspielen, stärkt das eine und schafft wiederum die Voraussetzungen für das andere.
III
Die weit verbreitete Banalität lautet wie folgt: Nationalismus ist das, was Nationalisten tun. Wir müssen also davon ausgehen, dass diejenigen, die nicht als Nationalisten (bezeichnet) werden, auch eine nicht-nationalistische Aktivität haben müssen (sei es links, gemäßigt, liberal usw.). Nach diesen Maßstäben lässt sich die Aktivität ausschließlich anhand der politischen Identität der Beteiligten messen. Die Subjekte erscheinen nur als Produzenten, aber nie als (soziale) Produkte. Doch niemand schafft sich selbst in einem Vakuum. Genau das Gegenteil ist der Fall. Sowohl das Repertoire an Wahlmöglichkeiten als auch die Kriterien, nach denen ein Subjekt tatsächlich eine Wahl trifft, sind historisch spezifische soziale Produkte, die durch Machtbeziehungen geformt (und aufgelöst) werden. Durch diese Brille betrachtet, erscheinen viele „natürliche“ und „neutrale“ soziale Realitäten als entscheidende Pfeiler des griechischen Nationalismus: Griechische (hellblaue) Personalausweise sowie die Bedingung und die Folgen des Nichtbesitzes eines solchen Ausweises, lächerliche Ausdrücke wie „das griechische Licht“ und „die griechische Natur“, Fustanellen und Klarinetten (in Kombination), nationale Feiern an griechischen Schulen, griechische Schulen selbst, die griechische Verfassung, nach der „alle Griechen vor dem Gesetz gleich sind“ (Artikel 4) und ihre Auswirkungen auf nicht-griechische Mitglieder der Arbeiterklasse. Ganz einfach, der Nation(alismus) macht nationalistische Subjekte…
IV
Wenn ein anständiger Mensch in Griechenland zufällig auf eine Kundgebung für „Mazedonien“ voller (Neo-)Nazis, Priester und Clowns mit antik anmutenden Helmen trifft, wird er sofort verstehen, dass es sich um eine nationalistische Veranstaltung handelt. Der Eindruck ist jedoch ein ganz anderer, wenn der griechische linke Ministerpräsident erklärt, dass er mit dem Versuch, „eine beschreibende Phrase vor dem Namen Mazedonien“ zu gewinnen, eine starke „nationale Position“ verteidigt. „Wir werden nicht geben“, sagte er, „wir werden nehmen“.2 Denselben „nicht-nationalistischen“ Eindruck vermittelt die Aussage des Außenministers, der sich rühmt, dass es dem griechischen Staat gelungen ist, Mazedonien ohne Krieg zur Namensänderung zu zwingen. Das einzige andere Land, „das seinen Namen nicht nur im 21., sondern auch im 20. Jahrhundert geändert hat, war Österreich, das ihn änderte, weil es in einem Krieg besiegt und das österreichisch-ungarische Reich nach dem Ersten Weltkrieg aufgelöst wurde.“3 In den „mazedonischen“ Kundgebungen vom Januar 2018 in Griechenland Nationalismus zu erkennen, ist ein billiger Schuss, der leider seinen Preis hat. Indem er den Feind auf diese Weise verortet, lässt dieser „Anti-Nationalismus“ die offizielle Version des griechischen Staates, die wichtigste Kraft des griechischen Nationalismus, aus dem Blickfeld der Kritik.
Im Gegensatz zu dem Mob, der auf die Straße ging, zielt der griechische Staat heute nicht darauf ab, die Verwendung des Namens Mazedonien durch den mazedonischen Staat zu verhindern. Jeder ernstzunehmende Staatsfunktionär in Griechenland weiß, dass die Besessenheit von dem Namen Mazedonien ein Hindernis für die produktive Ausübung seiner Macht ist. Staatliche Macht manifestiert sich nicht nur in einem offenen, bewaffneten Konflikt. Sie nimmt auch die Form an, dass sie die Entscheidungen derer, auf die sie ausgeübt wird, ohne Waffen bestimmt und gestaltet. Wie ein kluger Beamter es ausdrückte, „wird Patriotismus in den internationalen Beziehungen der Mächte beurteilt“.4 Der griechische Staat, der Mitglied der EU und der NATO ist, erweist sich als eine Kraft, die Mazedonien Verfassungsänderungen aufzwingen kann, die sich nicht nur auf seinen Namen beschränken. Trotz der Unterschiede zwischen ihnen kämpfen beide Versionen des griechischen Nationalismus, die „kompromisslose“ und die „realistische“, für die Verteidigung und Stärkung Griechenlands. Offenbar hat Griechenland genug Platz für beide. Vor allem gegen die Türkei, den klassischen Feind schlechthin, kommen die „gemäßigten“ und die „radikalen“ Patrioten zusammen. Wenn die Umstände es erfordern, können sie sich sogar so weit annähern, dass sie zu einer vereinten militärischen Faust werden.
V
Auch wenn der Klassenkampf dazu neigt, Risse in der nationalen Einheit zu verursachen, rechtfertigt dies keineswegs den naiven Glauben an ein angeblich antinationales „Wesen“ der Arbeiterklasse. Es sind die Gräueltaten des 20. Jahrhunderts, die bis ins 21. Jahrhundert hineinreichen, die die Messlatte für jede sinnvolle Bewertung proletarischer Aktivitäten setzen. Kurz gesagt: Diese Aktivität war nicht in der Lage, sie zu verhindern. Der Zusammenbruch der europäischen Arbeiterbewegung in der nationalistischen Raserei zu Beginn des Ersten Weltkriegs und das Scheitern der revolutionären Kämpfe nach 1917 trugen entscheidend zum erbitterten Sieg der Nation über die Klasse bei. Dieser Sieg ebnete den Weg für die tatsächliche Unterordnung des Proletariats unter die Nation(alität). Im Hinblick auf die Beteiligung der europäischen „einfachen Arbeiterinnen und Arbeiter“ am Ersten Weltkrieg weist Eric Hobsbawm darauf hin, dass „die Unterstützung ihrer Regierung im Krieg durchaus mit dem Protest gegen ihr Klassenbewusstsein und ihre Feindseligkeit gegenüber ihren Arbeitgebern vereinbar war.“ Ian Kershaw hingegen verweist auf die Auswirkungen von Patriotismus und Militarismus auf das Bewusstsein der sozialistischen Arbeiterinnen und Arbeiter: „Als Wehrpflichtige waren sie in Patriotismus und Disziplin indoktriniert worden. Sie entpuppten sich nun in erster Linie als Patrioten und erst in zweiter Linie als Sozialisten.“5 Die einfache Tatsache, dass unsere Zeit nach dem 20. Jahrhundert liegt, also nach zwei Weltkriegen, der Shoah und den Massakern, die mit der Nationalisierung des Balkans einhergingen, macht jeden „internationalistischen Klassenautomatismus“ zu einer gefährlichen Folklore.
VI
Aber warum so viel Aufregung um die Nation? Was ist eigentlich dein (unser) Problem? Diese Fragen, auch wenn sie nicht explizit gestellt werden, beschäftigen uns schon, bevor wir überhaupt anfangen zu reden. Es muss so einfach wie möglich gesagt werden. Aus proletarischer Sicht bleibt eine radikale Kritik an der bestehenden Gesellschaft – einschließlich des Proletariats – lächerlich ohne eine radikale Kritik an der Nation als Regime der sozialen Beziehungen. Es ist nicht nur so, dass der kapitalistische Staat national ist, sondern auch, dass in Krisenzeiten die Macht der Nation eine entscheidende Rolle dabei spielt, was gesagt, in Frage gestellt oder (ungestraft) getan werden darf und was nicht. Gegen die Nation als soziales Regime zu sein, bedeutet, sich gegen das Elend, die Ausgrenzung und die Gewalt zu stellen, die sie mit sich bringt. In Griechenland wird die proletarische Situation täglich durch die Hierarchisierung zwischen Griechen und Nicht-Griechen (re)produziert. In Griechenland stehen die Griechen „natürlich“ an erster Stelle. Innenpolitischer Rassismus (gegen Migranten, Muslime und Roma) und Antisemitismus sind ohne diese nationale Ordnung, aus der sie ihre Macht und Legitimität beziehen, nicht denkbar. Aber die Macht der Nation ist nicht unendlich, also müssen wir uns den Punkten zuwenden, an denen sie tatsächlich versagt, die nicht als die „natürliche“, selbstverständliche Ordnung der Dinge durchgehen können. Wir müssen uns an den Punkten orientieren, an denen es zu Reibungen und Konflikten kommt. Diese Punkte sind, wie die Nation selbst, fast überall: an der Grenze, im Stadtzentrum, in der Schule, auf der Straße, im Bus, bei der Arbeit, im Krankenhaus, sogar (besonders!) am verdammten Strand. Dort müssen wir ansetzen, nicht bei den Gewerkschaften/Syndikate des öffentlichen Sektors.
VII
Die Nation ist nicht nur eine interne (A.d.Ü., domestic) Realität, ihre Macht ist auch auf internationaler Ebene von zentraler Bedeutung. Die Festigung der griechischen Vormachtstellung gegenüber einer multinationalen Arbeiterklasse ist für den griechischen Staat entscheidend, um seine (bewaffnete) Machtposition auf dem Balkan, in der Ägäis und im östlichen Mittelmeer zu behaupten. Griechenland hat eine lange Geschichte der aggressiven Auseinandersetzung mit seinen nördlichen und östlichen Nachbarn und diese Geschichte ist Teil seiner eigenen historischen Formierung. Die Tatsache, dass Griechenland selbst aus dem Zerfall des Osmanischen Reiches hervorgegangen ist, hat seine geopolitische Ausrichtung und die „Hotspots“, die als „nationale Sicherheitsbedrohungen“ erscheinen, weitgehend bestimmt. Die Existenz der Türkei, Mazedoniens, Bulgariens und Albaniens ist eine ständige Erinnerung an die Grenzen seiner Expansion nach Norden und Osten, eine Erinnerung daran, dass seine Bestrebungen nicht ganz erfolgreich waren. Trotz gelegentlicher taktischer Veränderungen haben weder staatliche Aktionen noch „internationaler Druck“ diese „strategischen Bedenken“ jemals ausräumen können.
VIII
Sogenannte nationale Angelegenheiten sind per Definition Angelegenheiten des griechischen Staates, denn nur er kann diplomatische Verhandlungen beginnen und beenden, eine Überwachungszone auf seinem Territorium einrichten, um „gefährliche“ Minderheiten zu kontrollieren, von „Gleichheit für alle“ sprechen, eine Universität auf den Ruinen eines geplünderten jüdischen Friedhofs gründen, „korrekte“ Namen für Orte vorschreiben oder Sprachen und Minderheiten (Türkisch, Mazedonisch) verbieten. Es ist der griechische Staat, der sich an Kriegen beteiligen (und sie erklären) und Friedensverträge unterzeichnen kann. Die einzige proletarische, antinationale Kritik ist also die am griechischen Staat selbst. Nicht an seinen rechten oder linken Regierungen, der Europäischen Union oder den USA… Wenn das Ziel der Kritik nicht der griechische Staat ist, sondern, sagen wir, die „Unterordnung“ (Beteiligung) Griechenlands an „imperialistischen Formationen und Plänen“, dann ist das, was du bekommst, die schlechte alte nationale Strategie des Ausstiegs aus der EU und der NATO. Dieser Antiimperialismus entpuppt sich als eine weitere Version des Projekts der „nationalen Unabhängigkeit“.
IX
Die nationale Einheit sollte nicht von vornherein als selbstverständlich angesehen werden. Ihre gefeierte Natürlichkeit sollte als ständiges Bemühen um ihre Verwirklichung begriffen werden. Die Nation flickt zusammen, was Klassenkampf und sozialer Antagonismus zerstören. Die Nation flickt die Nation zusammen, und das geht bis in die oberste Ebene des Staates. Selbst die alltäglichen Appelle an die „nationalen Interessen“ führen nicht zu einer allgemeinen Einigkeit unter den Patrioten. Schon der Begriff der nationalen Interessen und was es bedeutet, ihnen zu dienen, kann unterschiedlich und manchmal sogar widersprüchlich ausgelegt werden. Im Jahr 1916 führten solche Konflikte sogar zur Teilung Griechenlands in zwei verschiedene Staaten. So rabiat und blutig diese Spaltungen auch sein mögen, sie stellen nie die Bedeutung der Nation und des Staates in Frage. Im Gegenteil, sie verteidigen immer die herrschenden sozialen Beziehungen und Institutionen, auch wenn ihre Verfechter von Zeit zu Zeit ihre Hände im Blut ihrer Landsleute färben müssen.
Χ
Es gibt eine weit verbreitete Analyse, die die Aktivitäten der Arbeiterklasse in die Bewegung der „Empörten“ (Platz) von 2011 sowie in die Bewegung (?) rund um das Referendum vom Juli 2015 unterteilt. Diese überdrehte Geschichte geht ungefähr so: „Nun, vielleicht war der Syntagma-Platz voller griechischer Fahnen und vielleicht gab es in der Menge ausgewachsene Nationalisten, aber in Wirklichkeit waren es die Arbeiterinnen und Arbeiter/Arbeitslosen, die gegen die Sparmaßnahmen (oder neoliberalen Maßnahmen) kämpften, und ein paar Jahre später waren sie diejenigen, die die (majestätische) Schlacht des NEIN-Sagens zu den EU-Mandaten kämpften und gewannen.“ Eine proletarische Perspektive, die ihren Namen verdient, muss zuallererst den nationalen Charakter dieser Kämpfe erkennen, mit denen griechische Arbeiterinnen und Arbeiter, Arbeitslose und Bourgeois für die Befreiung Griechenlands von den Fesseln kämpften, die ihm von „Ausländern“ auferlegt wurden. Diejenigen, die kämpften, taten dies als Griechen, um ihren Staat zu zwingen, sie vor den Folgen des Bankrotts zu schützen. Als Griechen erklärten sie mit ihrer Stimmabgabe ihren Widerstand gegen „deutsche/europäische Kredithaie“. Wir haben die Nase voll von diesem apologetischen Diskurs, der die Nation mit der Politur der Arbeiterklasse beschönigt; was wir brauchen, ist ein kohärenter Diskurs, der in der Lage ist, die Nation in die Klasse hineinzulesen. Eine solche konsequente antinationale Kritik zu entwickeln, ist nicht die einfachste Aufgabe unserer Zeit.
XΙ
Da Nation(alismus) nicht nur eine Reihe von Ideen, sondern ein Regime sozialer Beziehungen ist, gibt es so etwas wie einen „Null-Grad des Nationalismus“ nicht. Für diejenigen, die innerhalb ihrer Grenzen leben, ist die griechische Nation nicht etwas, das einfach umgangen oder abgeschafft werden kann. Wer sich nicht mit ihr beschäftigt, lässt ihre Macht intakt. Die griechische Nation ist ein großer Teil des Zustands, in dem wir leben, und ohne eine konkrete, praktische Kritik an diesem Zustand ist keine Kritik an der bestehenden Gesellschaft möglich. Der Nation(alismus) triumphiert sogar unter seinen (vermeintlichen) Feinden, wenn sie sich als unfähig erweisen, seine Sprache zu sprechen: FYROM, Skopje, das Nachbarland, Skopjeanischer Irredentismus, etc. Die Verurteilung anderer Nationen ist nur allzu einfach, so einfach wie Scheiße in der Kanalisation zu finden. Auch für den griechischen Staat ist es bequem.
Andererseits lässt die etwas blasierte Verachtung aller Nationalismen ohne Unterschied, wie der Slogan „keine Nation eint uns, kein Name trennt uns“, die griechische Nation(alität) in Griechenland besonders intakt, indem sie mit der mazedonischen Nation(alität) gleichgesetzt wird. Diese Gleichsetzung ist irgendwie beruhigend, weil sie nie wirklich in direkten Kontakt mit den harten Kanten des dominanten einheimischen Nation(alismus) kommt. Da sie nicht in der Lage ist, konkrete Unterscheidungen zu treffen, scheitert diese abstrakte Ablehnung des Nationalismus im Allgemeinen stillschweigend an dem Machtgefüge, in dem sich die inländische „antagonistische Bewegung“ befindet. Die Tatsache, dass dieser politische Ansatz manchmal geschmeichelt wird, indem er als Höhepunkt des Radikalismus dargestellt wird, scheint nicht das größte Problem zu sein.
XII
Es gab definitiv eine Zeit, vor allem in Europa, in der der National(alismus) leichter unter dem Deckmantel des Fortschritts auftreten konnte, als moderne Staatsbürger die Untertanen der alten Reiche ersetzten. Durch die Produktion und den anschließenden Ausschluss des Nicht-Nationalen brachte dieses soziale Regime jedoch neue Subjektformationen hervor, wie Minderheiten, Staatsbürger mit weniger Rechte, Nicht-Staatsbürger (ohne Rechte) und natürlich den nationalen Feind. An Orten, die so gemischt und multiethnisch sind wie der Balkan, wurde die Nation von Anfang an zu einer treibenden Kraft für endlose Unterdrückung, Katastrophen und Tod. Ihre tatsächliche Macht lässt sich nicht dadurch beseitigen, dass man sie ignoriert oder, schlimmer noch, sie als sekundäres Derivat des Kapitals hinstellt. Die letztgenannte politische Position, die im so genannten „radikalen Milieu“ immer noch stark vertreten wird, ist nur eine andere Art, den Nationalismus nicht zu bekämpfen, nur auf eine etwas raffiniertere Weise. Die Nation ist zwar untrennbar mit dem Kapital verbunden, kann aber nicht auf dieses reduziert werden und muss daher als eigenständiges Phänomen behandelt und bekämpft werden. In Griechenland wie auch anderswo ist dies nicht die bescheidenste unserer Aufgaben.
1Ernest Gellner (1983) Nations and Nationalism, Oxford, Basil Blackwell Publisher, p.6.
2“Tsipras on the Scopje issue: Great victory if we win a descriptive phrase in front of Macedonia,” I Kathimerini, 25-05-2018.
3Nikos Kotzias’ Interview, 19-06-2018, https://www.mfa.gr/epikairotita/proto-thema/sunenteuxe-upourgou-exoterikon-kotzia-sten-ekpompe-kalemera-ellada-tou-ts-ant1-me-ton-dpho-papadake-19062018.html?fbclid=IwAR0qwEuOqpdxa-2c54U9xFAVnJNIrlPHe9lFnQKX7sQiJ3m0pD2WsNPV3sI (access 02-03-2018).
4Evangelos Venizelos, “Occasioned by the Name: Conjuncture and Stategy over the Balkans,” 24-02-2018, https://ekyklos.gr/sb/579-omilia-ev-venizelou-stin-ekdilosi-me-aformi-to-onoma-sygkyria-kai-stratigiki-sta-valkania.html (accessed 07-03-2022
5Siehe E. J. Hobsbawm (1993) Nation and Nationalism since 1780: Programme, Myth, Reality, Cambridge-New York, Cambridge University Press, p.124 and Ian Kershaw (2015) To Hell and Back: Europe, 1914-1949, London, Penguin Random House, p.
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Dieser Text erschien in der dritten Nummer der anarchistischen Publikation aus dem Balkan, namens Antipolitika. Die Übersetzung ist von uns. Eine weitere anarchistische Kritik am Nationalismus, an der Nation-Staat, an das Konzept/Idee/Kategorie des Volkes.
NATIONALISMUS ALS GRUNDLAGE EINES JEDEN STAATES
Ein Beitrag zur anarchistischen Analyse des Nationalismus im postjugoslawischen Raum
Der Nationalismus „überrascht“ uns immer wieder; die Frage nach seiner Attraktivität stellt sich ständig, ebenso wie seine Fähigkeit, Massen zu mobilisieren, die bereit sind, sich in neue Konflikte zu stürzen – wenn nicht in Kriege, dann in imaginäre, mythologische Schlachten. Schließlich ist der Nationalismus genau das: eine Mythologie über Boden und Blut, über Menschen und Opfer, über „unsere“ Gerechtigkeit und „ihre“ Aggression. Er hat sich als mächtige Waffe in den Händen des Staates und des Kapitals erwiesen, deren Interessen viele im Namen der nationalen Interessen und des Nationalstolzes verteidigten, den sie sich zu eigen machten. Selbst wenn nationale Bewegungen scheinbar von „unten“ kommen, sind ihre Ergebnisse immer eindeutig: ein noch stärkerer Staat und eine robuste Position des Kapitals.
Der heutige Nationalismus kann nicht außerhalb des Rahmens seiner historischen Entwicklung oder Kontinuität betrachtet werden, denn seit er zu einer treibenden Kraft geworden ist, hat er sich zu einer Ideologie entwickelt, die sich leicht an verschiedene Kontexte anpassen kann, aber im Kern immer gleich bleibt. Seit der Zerstörung der alten Imperien, der Gründung der nationalen Staaten und bis zum heutigen Tag ist der Nationalismus ständig präsent. Aus der Perspektive der postjugoslawischen Region betrachtet, hat die kontinuierliche Präsenz des Nationalismus in diesem Gebiet seit dem neunzehnten Jahrhundert in den letzten hundert Jahren mehrmals ihren Höhepunkt erreicht. Die Nationalismen hatten verschiedene Namen, kroatisch, jugoslawisch, deutsch, serbisch, italienisch, ungarisch und andere, aber im Kern hatten sie alle dasselbe Ziel: eine neue Regierung zu errichten, die eigene Hegemonie zu etablieren, und zwar durch die Mobilisierung der Massen, um den Sieg zu erringen, und immer im „Namen des Volkes“. Wer wäre schon so verrückt, für die Interessen von Staat und Kapital zu sterben? Aber im Namen des Volkes und der Nationen sind viele bereit, ihr Leben zu geben, und noch mehr bereit, das Leben eines anderen zu nehmen. Dieses mythologische Ideal von Reinheit, Unbestechlichkeit und Gerechtigkeit, das durch die Ikonologie der fiktiven Geschichte unter den bunten Lumpen, die wir Fahnen nennen, dargestellt wird, trägt dazu bei, ein Gefühl der Einheit und Zugehörigkeit zu schaffen. Ein schwer fassbares Ziel, das wie das Versprechen des Paradieses einen Ausweg aus einer schlechten Situation bietet, für die immer „die anderen“ verantwortlich gemacht werden. Es verspricht ständig eine bessere Zukunft, die nie kommt.
Wenn wir unsere eigene jüngere Geschichte betrachten, kann man sich fragen, woher der Nationalismus kam, der das größte Massaker in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg verursachte. War Jugoslawien nicht ein Raum ohne Nationalismus, oder zumindest der Raum für eine neue, jugoslawische Nation und verschiedene ethnische Gruppen? Wie wurde die nationale Frage in Jugoslawien behandelt?
Auf all diese Fragen gibt es keine einfachen Antworten, und einige dieser Antworten können zeigen, dass der Nationalismus nicht nur rechts, sondern auch links ist und dass gerade deshalb die „sozialistische Utopie“ leicht zu einer nationalistischen Dystopie wurde.
Wenn wir uns nur den antifaschistischen Kampf in Jugoslawien ansehen, die größte organisierte antifaschistische Bewegung auf dem besetzten Boden Europas, und wenn wir kurz analysieren, auf welcher Grundlage die Aufrufe zum Widerstand gegen die ausländischen Besatzer und ihre einheimischen Diener entstanden sind und was ihr Endziel war, werden wir sehr leicht zu einigen Schlussfolgerungen kommen. Der Aufruf zum Aufstand richtete sich an „Patrioten“, er hatte eine nationale Ladung und trat für die Befreiung des Landes von einem ausländischen Besatzer ein. Natürlich rief er auch zum Kampf gegen den Faschismus auf, aber er verstand sich als ein Krieg für die nationale Befreiung. Das war für eine neu gegründete Regierung in der letzten Phase des Krieges äußerst wichtig, denn die Partisanen, die sich bereits als jugoslawische Armee etabliert hatten, übernahmen die Kontrolle über Teile der Gebiete Italiens und Österreichs (die noch heute von diesen Staaten besetzt sind), um ihr Territorium zu erweitern und die nationale Befreiung in die von slawischen Bevölkerungsgruppen bewohnten Gebiete zu bringen. Der Antifaschismus war in Jugoslawien nicht anational, er hatte kroatische, serbische, slowenische, bosnische, albanische, mazedonische und montenegrinische Züge, aber auch einen jugoslawischen, da er die Idee hatte, eine neue Nation zu schaffen. Auf der Grundlage von Brüderlichkeit und Einheit, einem ihrer grundlegenden Slogans, wurde die Schaffung eines von ausländischen Besatzern befreiten nationalen Staates immer noch als das ultimative Ziel angesehen. Rein hypothetisch betrachtet, müssen wir uns fragen, wie viel Widerstand sich gegen einen nicht-ausländischen Besatzer gerichtet hätte. Das schmälert natürlich nicht die Tatsache, dass der Kampf gegen den Faschismus wichtig und weitreichend war und alle Schichten der Gesellschaft einbezog. Der Kampf gegen den Faschismus war jedoch nicht das Einzige, was stattfand, was uns zu der Schlussfolgerung führt, dass Antifaschismus allein nicht ausreicht, vor allem wenn er in irgendeiner Weise patriotisch orientiert ist.
Das zeigt sich vor allem an der starken Identifikation mit dem Staat, die in dem blutigen Krieg, der gleichzeitig ein Kampf um die nationale Befreiung war, entstanden ist. Die „nationale“ Armee bestand, wie in jedem Nation-Staat, aus allen, d.h. alle Männer über 18 Jahren waren Soldaten, und die Armee war eine der starken Grundlagen des neuen Staates. In diesem Sinne war die Gesellschaft stark militarisiert, und die Armee war in vielen Bereichen des sozialen, politischen und kulturellen Lebens präsent. Als Anekdote sei hier nur die Militärsendung „Erlaubnis zu sprechen“ erwähnt, die jeden Sonntagmorgen im staatlichen Fernsehen ausgestrahlt wurde. Seit den ersten Tagen des Nationalismus und der Französischen Revolution hat sich eine starke Identifikation mit dem Staat als „mein eigener“ und dem Militär als Garant für Sicherheit immer wieder als Weg zum Massaker erwiesen.
Darüber hinaus wurde diese Identifikation mit dem „Heimatland“ und seine Verherrlichung von frühester Zeit an geprägt; viele Kinderbücher waren mit Staatsflaggen gefüllt, die Größe und Bedeutung des Heimatlandes wurde ebenso gefeiert wie seine Schönheit und Stärke, seine Brüderlichkeit und sein Schutz. Das Heimatland und die Erinnerung daran, wie seine Freiheit durch Blutvergießen errungen wurde, waren die Dinge, die nicht in Frage gestellt werden konnten.
Die jugoslawische Regierung sah in ihrer inneren Struktur die Lösung der „nationalen Frage“ durch die Schaffung von Nationalstaaten (Republiken), die die Föderation (mit den autonomen Provinzen) bildeten, und so hörte die Idee einer Nation, die auf der ethnischen Zugehörigkeit beruhte, nie auf zu existieren. Die Idee von „Blut und Boden“ oder „ein Volk, eine Nation, ein Land“ überlebte trotz der deklaratorischen „Brüderlichkeit und Einheit“, die sicherlich für eine große Anzahl von Menschen von Bedeutung war, aber nicht unbedingt für die republikanische Regierung. Ein interessantes Beispiel dafür ist die Sprachenpolitik, die fast während der gesamten Zeit des Bestehens des sozialistischen Jugoslawiens Anlass für Konflikte war. Obwohl die Föderation keine offizielle Sprache hatte, wurde Serbo-Kroatisch bevorzugt (auch wenn Mazedonisch, Slowenisch, Albanisch, Ungarisch und einige „kleinere“ Sprachen ebenfalls gesprochen wurden). Die Position, der Name und der Standard des Kroatischen und Serbischen, obwohl es sich um verschiedene Varianten derselben Sprache handelt, waren Gegenstand ständiger Diskussionen und Konflikte, die bei mehreren Gelegenheiten ihren Höhepunkt erreichten und nationalistische Spannungen im Land hervorriefen. Obwohl diese Diskussionen oft auf akademischer Ebene stattfanden, sollte ihr Einfluss nicht vernachlässigt werden, da ein Teil der Akademie eine wichtige Rolle bei der Bewahrung und dem Aufbau der nationalistischen Ideologie spielte. Außerdem sollte man nicht vergessen, dass die Standardisierung der Sprache eines der wichtigsten Instrumente zur Schaffung einer „nationalen Identität“ ist. Aus diesem Grund wurden die Entscheidungen über die Sprache für offizielle Dokumente von der republikanischen Regierung getroffen.
Die republikanischen Behörden waren das Fundament der Nationalstaaten, die in den neunziger Jahren ihre Unabhängigkeit erklären werden. Parteikader des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens oder der republikanischen Parteiorganisationen wechselten 1990 zu neuen nationalistischen Parteien und stellten so nicht nur die institutionelle, sondern auch die personelle Kontinuität des Staates sicher. In Kroatien zum Beispiel wechselten 97.000 Mitglieder (genauer gesagt zunächst 27.000 und dann 70.000 nach dem Wahlsieg) von der SKH (Kroatischer Bund der Kommunisten) in die neu gegründete HDZ (Kroatische Demokratische Union). Tatsächlich ist die neue nationalistische Partei symbolisch die Erbin der alten Partei geworden. Der Übergang von links nach rechts beinhaltete nur einen Schritt – einen neuen Parteibuch. Obwohl die nationale Frage schon vorher existierte, wurde sie von nun an anders wahrgenommen. Die Frage der Herrschaft und die neue Aufteilung des Territoriums erforderten eine breite Mobilisierung und damit ein neues „nationales Erwachen“. Dieser Prozess wurde schon etwas früher von verschiedenen Akteuren eingeleitet. Heute wissen wir (auch wenn es damals noch nicht bekannt war), dass die republikanischen Geheimdienste schon Jahrzehnte vor dem Zusammenbruch Jugoslawiens einen stillen „Krieg“ gegeneinander führten. Die katholische Kirche initiierte in Kroatien die Rehabilitierung von Alojzije Stepinac (ein Kardinal der katholischen Kirche, der wegen seiner Zusammenarbeit mit dem nationalsozialistischen Unabhängigen Staat Kroatien verurteilt wurde) und eine Reihe anderer Aktionen, die darauf abzielten, einen neuen „nationalen Geist“ zu verbreiten. Fußball-Fanclubs, eine Art Indikator für die vorherrschenden politischen Trends, konzentrierten sich bei ihren Konflikten zunehmend auf nationale Trennungen und weniger auf die interregionale und regionale Ebene, wie es bis dahin der Fall war. In Serbien wurde der Jahrestag der Kosovo-Schlacht (der mythologische Konflikt aus der serbischen nationalistischen Folklore) gefeiert, und Milošević ritt auf der nationalistischen Welle. Im Kosovo und in Teilen Mazedoniens brach ein Jahrzehnt vor dem Zerfall der SFRJ ein Krieg geringer Intensität aus, während die Medien systematisch schwiegen oder nur das Nötigste berichteten. Gegen Ende der 1980er Jahre war der Boden für blutige Auseinandersetzungen bereitet, nur die Aufteilung der neuen Positionen und die Einführung „neuer“ (eigentlich alter) Akteure, die das „Volk“ in einen neuen „nationalen Sieg“ führen sollten, war noch nicht abgeschlossen. Gleichzeitig sah die ganze Vorbereitung so aus, als würde das „Volk“ einen Ausweg im Nationalismus suchen, als eine authentische Bewegung von unten. Es gab jedoch eine Reihe von Akteuren, die eine solche Entwicklung aufgrund ihrer Interessen und der Interessen der zukünftigen Staaten schufen oder zuließen. Für Staaten ist das eine ganz normale Handlungsweise.
Natürlich war der Prozess der Auslösung des Konflikts nicht ganz einfach, denn ein Großteil der Gesellschaft wollte den Krieg nicht und dachte auch nicht, dass Nationalismus etwas Gutes sei oder dass der Krieg eine Lösung für die aufgestauten Probleme sei. Drohungen, massive „nationale Vollversammlungen“, das Errichten von Barrikaden, Bewaffnung (unabhängig oder organisiert von dieser oder jener republikanischen Regierung oder Armee), die Ermordung von Individuen, die sich dem Krieg auf institutioneller Ebene widersetzten, die Zerstörung antifaschistischer Denkmäler, das Verbrennen von Häusern von Nachbarn „falscher“ ethnischer Zugehörigkeit, das Verbreiten von Angst, systematische nationalistische Propaganda durch die Medien und viele andere Abscheulichkeiten waren Teil eines Mechanismus, der eine neue Stufe des Nationalismus und des Hasses gegenüber „anderen“ hob. In dem Moment, als der Krieg begann, die Granaten überall abgefeuert wurden und die Kriegseinsätze immer mehr Menschenleben kosteten, war der Nationalismus so weit normalisiert und allgegenwärtig, dass jede Kritik fast unmöglich war, weil sie niemanden mehr erreichte.
Dieser oberflächliche Rückblick auf die Entstehung und den Höhepunkt des Nationalismus in Jugoslawien macht bereits deutlich, dass der Nationalismus, egal ob er scheinbar „von unten“ oder „von oben“ kommt, immer derselbe mehr oder weniger kontrollierte Prozess ist, dessen Ziel immer einfach ist: Macht und Reichtum für die alte/neue Regierung. Wenn wir uns die nationalistischen Bewegungen in der Vergangenheit ansehen, wie den Faschismus in Italien oder den Nationalsozialismus in Deutschland, können wir nicht umhin festzustellen, dass beide, wie viele populistische Bewegungen von heute, „antisystemisch“ waren und dass sie auf die gleiche Weise scheinbar die alte Ordnung provozierten, indem sie auf das Fehlen von „nationalen Interessen“, „Identitäten“, „Traditionen“, „nationaler Ökonomie“ usw. hinwiesen, während sie gleichzeitig als Sprecher der Arbeiterklasse oder des „Volkes“ auftraten und einen „starken, aber sozialen Staat“ forderten. Am Ende sicherten sie mit Hilfe der alten Ordnung die Kontinuität von Staat und Kapitalismus, was von Anfang an ihr Ziel war.
In der modernen Welt wird eine solche scheinbar „antisystemische“ nationalistische Option durch den Krieg in der Ukraine, das Referendum in Katalonien und Spanien, den Brexit in Großbritannien oder den Konflikt um den Namen Mazedoniens vertreten. All diese Beispiele haben etwas gemeinsam: Sie basieren auf der gleichen nationalistischen Ideologie, wenn auch scheinbar mit einer anderen Bezeichnung. Linker oder rechter Nationalismus haben die gleichen Folgen, das haben all die nationalen Befreiungskriege gezeigt, die die sozialistischen Regierungen der Welt unterstützt haben (genauso wie die kapitalistischen). Der Nationalismus hat sich als ein gutes Werkzeug für alle erwiesen.
Unsere anarchistische Solidarität kennt keine Nation, keine ethnischen oder anderen Trennungen! Gegen jede Idee von Nation, Staat und Kapital!
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Dieser Text erschien in der dritten Nummer der anarchistischen Publikation aus dem Balkan, namens Antipolitika. Wir finden nicht nur die komplette Ausgabe sehr gut, interessant und lesenswert, sondern finden dass einige der Artikel aus mehreren Gründen ins Deutsche übersetzt werden müssen.
Der hier vorhandene Text interessiert uns vor allem angesichts der Debatte um den falschen Antagonismus zwischen Imperialismus und Anti-Imperialismus, zum Thema siehe auch Gegen die leninistische Position zum Imperialismus von Antithesi. Darüber hinaus sehen wir die falsche und inflationäre Verwendung dieses, und nicht nur dieses, Begriffes im Krieg in der Ukraine, wo alle Seiten die andere als imperialistisch beschimpfen. Nun denn, hier ein Text der hoffentlich etwas Klarheit verschaffen kann.
Soligruppe für den sozialen Krieg und für Gefangene
Man kann den Imperialismus nicht mit Anti-Imperialismus bekämpfen
Heute wird Imperialismus im Allgemeinen als ein Begriff verstanden, der die Tendenz bestimmter Länder beschreibt, andere Länder auszubeuten. Diese scheinbar einfache Formulierung führt zu sehr unterschiedlichen und oft widersprüchlichen Interpretationen – und politischen Praktiken.
Einleitung
Wie leisten Bevölkerungen in ausgebeuteten Ländern Widerstand? Welche Folgen hat die Tatsache, dass die Bevölkerung in den „mächtigen Ländern“, obwohl sie nicht für ihre Position verantwortlich ist, an den Privilegien ihres Landes teilhat? Bedeutet die Vorstellung, dass „[ganze] Länder andere [ganze] Länder ausbeuten“, nicht, dass Gesellschaften in Staaten organisiert sein sollten, um der Ausbeutung zu widerstehen? Und schließlich: Bedeutet die Existenz konkurrierender Imperialismen das Ende der sogenannten Globalisierung? All diese Fragen machen deutlich, dass Imperialismus nicht einfach zu definieren ist. Auf jeden Fall hat sich die Bedeutung des Wortes zwischen der Mitte des 19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts „nicht weniger als zwölf Mal“ geändert.1
Der folgende Text geht von der Prämisse aus, dass der Kolonialismus der Eckpfeiler des kapitalistischen Systems ist, und erörtert zunächst die Folgen des völligen Fehlens des Begriffs Imperialismus in Marx‘ Werk. Dann wird kurz darauf eingegangen, dass der Anti-Imperialismus, der von der Linken im Dienste des „Kampfes gegen den Imperialismus“ eingesetzt wurde, auf dieselben Ideologien zurückgriff, die die Bourgeoisie gegen den Feudalismus eingesetzt hatte, d.h. die angebliche Notwendigkeit des Nation-Staates, der Mythos der „Entwicklung“ und des „Fortschritts“ sowie die Vorherrschaft des ökonomischen gegenüber dem sozialen und politischen Bereich. Abschließend werden einige Überlegungen zur Rückkehr des Anti-Imperialismus in der gegenwärtigen Zeit angestellt, in der auf den vermeintlichen Triumph des globalisierten Kapitalismus eine tiefe Krise folgt, in deren Rahmen starke Antagonismen innerhalb des Systems zunehmen.
TEIL Ι. DER FREIE MARKT FÜHRT ZUM KRIEG, UND DER ANTI-IMPERIALISMUS VON LENIN AUCH
„Marx hat den Produktionsprozess als Ausbeutung der Arbeit gründlich analysiert, aber er hat sich nur kursorisch und zögerlich zu den Voraussetzungen der kapitalistischen Produktion und dem Gründungskapital geäußert, das diesen Prozess ermöglicht hat. Ohne das Gründungskapital hätte es keine Investitionen, keine Produktion und keinen großen Sprung nach vorn geben können. (…) Diese Voraussetzung kann nicht aus dem kapitalistischen Produktionsprozess selbst hervorgehen, wenn dieser Prozess noch nicht in Gang gekommen ist. Sie muss von außerhalb des Produktionsprozesses kommen, und das tut sie auch. Sie kommt aus den geplünderten Kolonien. Sie kommt von den enteigneten und ausgerotteten Bevölkerungen der Kolonien. (…) Die primitive oder vorläufige Kapitalakkumulation ist nicht etwas, das einmal in der fernen Vergangenheit geschah und danach nie wieder. Sie ist etwas, das den kapitalistischen Produktionsprozess ständig begleitet und ein integraler Bestandteil davon ist.“ Fredy Perlman. Der anhaltende Reiz des Nationalismus, 19842
Imperialismus: der Ursprung eines Begriffs
Wie bereits erwähnt, unterscheiden Koebner und Schmidt zwölf Veränderungen des Imperialismusbegriffs im Laufe von hundert Jahren. Robert Young dokumentiert diese unterschiedlichen Verwendungen des Begriffs3: Das Wort „Imperialismus“ wurde 1858 zum ersten Mal im Englischen verwendet, als Synonym für Despotismus (in demselben Sinne, in dem Marx es später verwenden sollte). In der damals stärksten Kolonialmacht, die sich selbstgefällig das „Britische Empire“ nannte, war der Begriff Imperialismus zunächst abwertend und bezog sich auf das Regime von Napoleon III. Von 1880 bis 1890 erhielt der Begriff im Englischen eine positive Bedeutung und bezeichnete eine potenzielle angelsächsische Föderation, die sich über den ganzen Globus ausbreiten und innerhalb des Britischen Reiches alle Staaten mit einer Bevölkerung britischer Herkunft, wie die USA und Australien, vereinen würde. Im Jahr 1895 beschrieb der Begriff „neuer Imperialismus“ die neue Explosion des europäischen Kolonialismus. Nach den Burenkriegen (1899-1902) behielt der Begriff seine negative Konnotation sowohl gegenüber dem französischen als auch dem britischen Kolonialismus bei. Im Jahr 1902 verknüpfte John A. Hobson in seinem Werk Imperialism: A Study, den Imperialismus mit dem Kapitalismus in Verbindung. Die Unterkonsumtion, so schrieb er, sei die Hauptursache der kapitalistischen Krise, und der Imperialismus schaffe neue Märkte, um dieses Problem zu lösen.
Marx und der Imperialismus
Marcel Stoetzler merkt an, dass „Marx das Wort Imperialismus nur selten und nur in seiner damals üblichen Bedeutung verwendete, nämlich als Beinahe-Synonym für Cäsarismus oder Bonapartismus. In diesen Kontexten bezeichnete Imperialismus die Herrschaft auf der Grundlage von Bündnissen der Eliten mit den unteren Klassen gegen die liberale Bourgeoisie oder sogar gegen das Parlament und die Herrschaft über bestimmte politische Parteien nach dem Vorbild des römischen Imperiums, die auf zentralisierten staatlichen Behörden und Monopolen basierte“.4
Anthony Brewer analysiert Marx‘ Ansicht über die fortschrittliche Rolle des Kolonialismus im Zeitalter des industriellen Kaptalismus: „Marx definierte den Kapitalismus als Verhältnis zwischen einer Klasse von freien Lohnarbeitern und einer Klasse von Kapitalisten. Der Wettbewerb erzwingt Akkumulation und technischen Fortschritt. Der Kapitalismus braucht kein untergeordnetes Hinterland oder eine Peripherie, auch wenn er sie nutzt und von ihr profitiert, wenn es sie gibt. Bis zur industriellen Revolution wurden die Außenbeziehungen des Kapitalismus durch das Handelskapital vermittelt und veränderten nicht unbedingt die anderen Gesellschaften, die in den Weltmarkt einbezogen wurden. Sobald das Industriekapital das Kommando übernommen hatte, konnte die kapitalistische Eroberung eine fortschrittliche (wenn auch brutale) Rolle spielen, indem sie die kapitalistische Industrialisierung einleitete.“5
Der indische Marxist Prabhat Patnaik formulierte es so: „Das von Marx im Kapital analysierte Modell des Kapitalismus ist für alle praktischen Zwecke ein Modell einer geschlossenen und isolierten Ökonomie. Sicherlich kann man dieses Modell erweitern, um eine koloniale Beziehung einzubeziehen, die im Wesentlichen darin besteht, einen Markt zu schaffen, auf dem die Waren der Metropole in Produkte der Dritten Welt umgewandelt werden, die von der Metropole benötigt werden; aber der Kolonialismus ist ein Lieferant von Mehrwert für die Akkumulation in der Metropole (…)“ Patnaik zufolge „taucht der Imperialismus in Marx‘ Diskussion über die primitive Kapitalakkumulation auf. Aber danach spielt er in seiner Analyse kaum noch eine bedeutende Rolle.“ Der Imperialismus gehört für Marx zur Vorgeschichte des Kapitalismus“.6
Der Imperialismus und der klassische Marxismus
Rosa Luxemburg versuchte in ihrer „Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus“, wie sie es nannte, den analytischen blinden Fleck in Marx‘ Werk zu beseitigen.7 Laut Luxemburg ist die ständige Expansion der kapitalistischen Produktionsweise innerhalb der Grenzen eines rein kapitalistischen Systems unmöglich. Sie ist nur möglich, wenn sie von einer ständigen Ausweitung des Konsums begleitet wird. Je weiter sich jedoch das kapitalistische System und die Automatisierung entwickeln, desto weniger Kaufkraft haben die Arbeiterinnen und Arbeiter, so dass sich das System durch eine dritte, im Grunde vorkapitalistische und außerkapitalistische Produktionsweise reproduzieren muss. In ihren eigenen Worten: „[Die] vorherrschenden Methoden [des Kapitalismus] sind Kolonialpolitik, ein internationales Kreditsystem – eine Politik der Interessensphären – und Krieg. Gewalt, Betrug, Unterdrückung und Plünderung werden offen zur Schau gestellt, ohne dass man versucht, sie zu verbergen, und es bedarf einiger Anstrengung, um in diesem Gewirr aus politischer Gewalt und Machtkämpfen die strengen Gesetze des ökonomischen Prozesses zu entdecken.“
Lenin, dem es vor allem darum ging, die Rolle des Anführers des Proletariats zu übernehmen, verlangte von seinen Anhängern doktrinären Gehorsam gegenüber seinen eigenen theoretischen Konstruktionen des Marxismus. Es ging ihm nicht darum, Marx‘ Analyse zu verbessern, sondern darum, seine eigenen politischen Entscheidungen als unbestreitbare Konsequenz der marxistischen Orthodoxie zu fördern und unerschütterlich zu bestätigen. Lenins politisches Urteilsvermögen beschränkte sich auf die Überlegung, dass der Kampf der kapitalistischen Staaten um die Kontrolle der Kolonien den Zusammenbruch des Kapitalismus beschleunigen würde und dass die Bolschewiki bereit sein sollten, diese Chance zu ergreifen. Es ging ihm also nur darum, sich als unbestrittener Nachfolger von Marx in der Analyse des Status quo zu etablieren, und so ist auch sein berühmtes Pamphlet über den Imperialismus von 1916 zu verstehen. Sein Aufsatz griff die Argumente von Bucharin auf („Imperialismus ist die Politik des Finanzkapitals“), der wiederum die Analyse des Finanzkapitals des österreichischen Theoretikers der deutschen Sozialdemokratie Hilferding (1910) aufgegriffen hatte: „Finanzkapital bedeutet eine Vereinigung des Kapitals, da die früher getrennten Sektoren des Industrie-, Handels- und Bankenkapitals jetzt unter der Kontrolle des großen Finanzkapitals stehen, mit dem die Industrie- und Bankmagnaten eng verbunden sind. Die Theorie der ‚Unterkonsumtion‘ in den kapitalistischen Metropolen als Ursache für die imperialistische Expansion wurde bereits 1898 von dem bourgeoisen Ökonomen J.A. Hobson formuliert“.
Was den analytischen Strang selbst angeht, hat Lenins Ansatz wenig hinzuzufügen. Die generative Verbindung zwischen Finanzkapital und Imperialismus wird einfach ohne Erklärung verkündet – die Explosion des Finanzkapitals am Ende des 19. Jahrhunderts fiel mit der neuen Phase des kapitalistischen Kolonialismus zusammen, aber beide sollten als Folgen derselben Veränderungen im kapitalistischen System gesehen werden, nicht als Folgen des jeweils anderen. Offensichtlich ist der Imperialismus kein Stadium des Kapitalismus und schon gar nicht das letzte (er sollte vielmehr als Voraussetzung für die Entstehung des Kapitalismus betrachtet werden), während die permanente primitive Akkumulation, zu der der Imperialismus gehört, ein dauerhaftes Merkmal des kapitalistischen Systems ist. Das Neue und Entscheidende an Lenins Analyse sind die politischen Schlussfolgerungen: „Wenn die Kapitalisten die Krisen im eigenen Land abwenden könnten, dann wäre der Kapitalismus ewig. Sie sind entschieden blinde Bauern im allgemeinen Mechanismus (…) Die Desintegration in der ganzen Welt breitet sich immer weiter aus“ Für Lenin sind „[d]iese blinden Bauern, die Bolschewiki in der Lage, sie für die Interessen der Revolution zu benutzen“, denn „für die Stabilisierung der sozialistischen Demokratie ist das Bündnis mit einem Imperialismus gegen einen anderen prinzipiell nicht unrealistisch (…) Unsere Politik besteht darin, die kapitalistischen Länder, die vom Imperialismus erdrosselt werden, um die Sowjetrepublik zu gruppieren. (…) Die Zweifel und Ängste, die in den fortgeschrittenen Ländern immer noch bestehen, die behaupten, dass Russland eine sozialistische Revolution riskieren könnte, weil es ein riesiges Land mit eigenen Lebensmitteln ist, während sie, die Industrieländer Europas, dies nicht können, weil sie keine Verbündeten haben – diese Zweifel und Ängste sind unbegründet. Wir sagen: ‚Ihr habt jetzt einen Verbündeten, Sowjetrussland.’“8
Anti-Imperialismus als Produkt der leninistischen Taktik
Das oben erwähnte Zitat von Lenin bezieht sich auf die (wünschenswerte) Möglichkeit eines taktischen Bündnisses der „Sozialistischen Republik“ mit den USA. „Großbritannien ging mit riesigen Kolonien aus dem Krieg hervor. Das tat Frankreich auch. Großbritannien bot Amerika ein Mandat – so nennt man das heute – für eine der Kolonien an, die es erobert hatte, aber Amerika nahm es nicht an. Amerikanische Geschäftsleute haben offensichtlich andere Gründe. Sie haben gesehen, dass ein Krieg aufgrund der Verwüstungen, die er anrichtet, und der Stimmung, die er unter den Arbeiterinnen und Arbeitern hervorruft, ganz konkrete Folgen hat, und sie sind zu dem Schluss gekommen, dass es nichts bringt, ein Mandat anzunehmen. (…) Amerika steht in unvermeidlichem Widerspruch zu den Kolonien, und wenn es versucht, sich dort stärker zu engagieren, hilft es uns zehnmal mehr. Die Kolonien brodeln vor Unruhe, und wenn du sie anrührst, ob es dir gefällt oder nicht, ob du reich bist oder nicht – und je reicher du bist, desto besser -, wirst du uns helfen (…) Amerika kann sich nicht mit dem Rest Europas arrangieren – das ist eine Tatsache, die die Geschichte bewiesen hat.“9 Lenins Glaube an sich selbst als unfehlbaren und dämonischen Ingenieur der Revolution führte dazu, dass er die Kapitalisten der Vereinigten Staaten als einfache Geschäftsleute betrachtete. 1913 schrieb der US-Botschafter in Großbritannien, W. Page, an US-Präsident Wilson: „Die Zukunft der Welt gehört uns. . . . Was werden wir jetzt mit der Führung der Welt machen, wenn sie eindeutig in unsere Hände fällt?“ Und im Jahr 1914: „Was werden wir jetzt mit diesem England und diesem Empire machen, wenn die ökonomischen Kräfte die Führung der Rasse eindeutig in unsere Hände legen?“10
In diesem Wettstreit auf dem Weltschachbrett kam die Unterstützung der Kommunistischen Internationale für die „Selbstbestimmung der Völker“ zeitlich hinter der der Vereinigten Staaten zurück: Am 8. Januar 1918 machte US-Präsident Wilson in seiner Rede vor dem US-Kongress viele der Forderungen der damaligen Progressiven zu den Schlagworten der US-Außenpolitik: Freihandel, Demokratie und Selbstbestimmung der Völker. Am 11. Februar 1918 erklärte Wilson: „Nationale Bestrebungen müssen respektiert werden; die Völker dürfen nur noch durch ihre eigene Zustimmung beherrscht und regiert werden. Selbstbestimmung ist nicht nur eine Phrase. Es ist ein zwingender Grundsatz für Aktionen“11.
Nach der Schwächung der europäischen Mächte durch den Wettbewerb um die Kontrolle der Kolonien stimmte Lenin mit Wilson in der Aussicht überein, die kolonisierten Gebiete in Nation-Staaten zu verwandeln: „… wir sind zu dem einstimmigen Entschluss gekommen, nicht mehr von der „bourgeois-demokratischen“ Bewegung, sondern von der national-revolutionären Bewegung zu sprechen (…) Es steht außer Zweifel, dass jede nationale Bewegung nur eine bourgeois-demokratische Bewegung sein kann,“ (…) wir als Kommunisten sollten und werden die bourgeois-liberalen Bewegungen in den Kolonien nur unterstützen, wenn sie wirklich revolutionär sind.“12
Dieser Wandel in Analyse, Taktik und Strategie führte zu einer Reihe von Propagandastunts: Die bolschewistischen Anführer versprachen den muslimischen ehemaligen Untertanen des Russischen Imperiums einen „heiligen Krieg gegen den Imperialismus“ und riefen „Es lebe die Sowjetmacht, es lebe die Scharia“13. 1920 rief Gregory Zinoviev, Generalsekretär der Kommunistischen Internationale, auf dem Kongress der Völker des Ostens in Baku (Aserbaidschan) aus: „Brüder, wir rufen euch zum heiligen Krieg [Dschihad] auf, in erster Linie gegen den britischen Imperialismus!“ Der Anführer der Roten Armee, Michail Frunze, erklärte im Mai 1920 den 118 Delegierten des Ersten Kongresses der turkestanischen Frauen – die alle einen Schleier trugen -, dass in den Augen der sowjetischen Behörden ihr Parandschi (der schwere Rosshaarschleier, der fast bis zum Boden reichte) nichts Negatives über sie oder ihre politische Einstellung aussagt. Während des Bürgerkriegs dienten diese Schleier sogar einem militärischen Zweck: Die Delegierten könnten dabei helfen, Turkestan zu befreien, erklärte er und fügte hinzu, dass „unter dem Paranji ein ehrenhaftes Herz schlägt, unter dem Paranji [man] der Revolution treu dienen kann und der Paranji manchmal einen mutigen Späher für die Rote Armee verbirgt“.14
Das theoretische Schema innerhalb der leninistischen Taktik, mit dem die marxistische Theologie begründet wurde, wird von Marcel Stoetzler zusammengefasst:
„Im Mittelpunkt des leninistischen Imperialismuskonzepts steht die Vorstellung, dass sich der zweideutige Kapitalismus, der verschärfte Ausbeutung mit der Möglichkeit der Emanzipation verbindet (wie von Marx und Engels beschrieben), um 1900 in einen ganz und gar negativen Kapitalismus verwandelt hat: Letzterer ist ein ‚Monopolkapitalismus‘, der durch das Finanzkapital, eine korrupte Arbeiterinnen und Arbeiteraristokratie und den Imperialismus gekennzeichnet ist und mit allen Mitteln bekämpft und zerstört werden muss. Der völlig schlechte im Gegensatz zum zweideutigen Kapitalismus wird ergänzt durch die Vorstellung von schlechtem, pervertiertem Nationalismus (Imperialismus) im Gegensatz zu gutem, gutartigem Nationalismus (wie im „gesunden Patriotismus“ usw.). (…) Die Leninisten stützen sich bei ihrem Konzept des Selbstbestimmungsrechts der Nationen auf die damals von Liberalen und Demokraten geteilte Vorstellung des 19. Jahrhunderts, dass die Nationenbildung die spätfeudale Atomisierung überwindet und mit einer einheitlichen nationalen Gesellschaft die Voraussetzungen für emanzipatorische Bewegungen schafft. Die Behauptung der Leninisten, dass die „Völker des Ostens“ die Nationenbildung als erste Stufe der Emanzipation benötigen, während die „Völker des Westens“ diese „Stufe“ bereits hinter sich gelassen haben und für den Klassenkampf bereit sind, ohne durch Nationalität und Ethnizität belastet zu sein, hat wohl etwas Orientalisches. (Die Realpolitik des ‚Sozialismus in einem Land‘ hat selbst diese geografisch begrenzte antinationale Haltung schnell ersetzt.)“15
Kolonialismus als Vorbedingung des Kapitalismus
„Mit anderen Worten: Es geht darum, klar zu sehen, klar zu denken – das ist gefährlich – und die unschuldige erste Frage klar zu beantworten: Was ist Kolonialisierung im Grunde? (…) Ein für alle Mal und ohne mit der Wimper zu zucken zuzugeben, dass die entscheidenden Akteure hier der Abenteurer und der Pirat, der Großhändler und der Reeder, der Goldgräber und der Händler, Appetit und Gewalt sind, und hinter ihnen der unheilvolle projizierte Schatten einer Zivilisationsform, die sich an einem bestimmten Punkt ihrer Geschichte aus inneren Gründen gezwungen sieht, den Wettbewerb ihrer antagonistischen Ökonomien auf die Welt auszudehnen.
Wenn ich meine Analyse fortsetze, stelle ich fest, dass die Heuchelei erst seit kurzem besteht; dass weder Cortez, der Mexiko von der Spitze des großen Teocalli aus entdeckt, noch Pizzaro vor Cuzco (geschweige denn Marco Polo vor Cambaluc) behaupten, sie seien die Vorboten einer höheren Ordnung; dass sie töten; dass sie plündern; dass sie Helme, Lanzen und Amoretten haben; dass die geifernden Apologeten später kamen; dass der Hauptschuldige in diesem Bereich die christliche Pedanterie ist, die die unehrlichen Gleichungen Christentum=Zivilisation, Heidentum=Saventum aufgestellt hat.
Ja, es würde sich lohnen, die Schritte, die Hitler und der Hitlerismus unternommen haben, im Detail klinisch zu untersuchen und dem sehr vornehmen, sehr humanistischen, sehr christlichen bourgeois des zwanzigsten Jahrhunderts klarzumachen, dass (… ), was er Hitler nicht verzeihen kann, ist nicht das Verbrechen an sich, das Verbrechen gegen den Menschen, es ist nicht die Erniedrigung des Menschen an sich, es ist das Verbrechen gegen den weißen Mann, die Erniedrigung des weißen Mannes, und die Tatsache, dass er auf Europa kolonialistische Verfahren anwandte, die bis dahin ausschließlich den Arabern in Algerien, den Kulis in Indien und den Schwarzen in Afrika vorbehalten waren.“ Aimé Césaire, Discours sur le colonialisme, 1955
TEIL II DIE „NEUE WELT“, DIE GÖTTLICHE AUFTEILUNG DES PLANETEN UND DER DREIECKSHANDEL
Das Zeitalter der Entdeckungen ist eine lose definierte europäische historische Periode vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. Es begann mit dem Wunsch der europäischen Mächte, die „Seidenstraße“ durch eine alternative Seeroute für wertvolle Produkte „aus Indien“ zu ersetzen, um den Umweg über die muslimischen Königreiche zu vermeiden, was die Kosten für Gewürze und andere exotische Produkte in die Höhe trieb. Die Seestreitkräfte der iberischen Königreiche waren Vorreiter bei diesem Unterfangen. Schiffe aus Lissabon versuchten, die Indischen Inseln zu erreichen, indem sie Afrika umsegelten, während die katholischen Könige von Kastilien und Aragonien die Expedition von Kolumbus finanzierten, der die Indischen Inseln auf einer Weltumsegelung erreichen wollte. 1470 entdeckten Seefahrer aus Lissabon eine unbewohnte Insel am Äquator mit einem idealen Klima für tropische Landwirtschaft, auf der 1493 die Kolonie São Tomé gegründet wurde. Mit dem Ziel, umfangreiche Zuckerplantagen zu errichten, schlossen die Portugiesen ein Abkommen mit dem benachbarten afrikanischen Königreich Kongo. Der König des Kongo konvertierte zum Christentum und lieferte den „Entdeckern“ im Tausch gegen europäische Produkte Sklaven für die Plantagen. Dies war der Beginn des Kolonialismus, des Sklavenhandels und des „Dreieckshandels“. In der Zwischenzeit „entdeckte“ Kolumbus mit seinen Expeditionen zur See die „neue Welt“. 1494 teilte Papst Alexander VI. mit dem Vertrag von Tordesillas die Welt in die Seekönigreiche von Iberien auf: Alle Länder westlich des Meridians, der durch die Azoren verläuft, sollten dem Thron von Lissabon gehören und die Länder östlich einer imaginären Linie („Linea Alexandrina“) dem Thron von Kastilien und Aragon. Bis heute wird in den beiden westafrikanischen Ländern und in Brasilien Portugiesisch gesprochen und nicht Spanisch wie im Rest von Süd- und Mittelamerika. Der Vertrag von Tordesillas wurde durch den Vertrag von Saragossa (1529) ergänzt, der die asiatischen „Besitztümer“ in die Königreiche Iberia, „westlich und östlich des Antimeridians“ aufteilte (was erklärt, warum auch auf den Philippinen Spanisch gesprochen wird und warum Portugiesisch in Osttimor und Macau noch immer als Amtssprache anerkannt ist).
Am 9. Juli 1595 brach auf São Tomé eine Sklavenrevolte, die Revolta Angolar, aus. Die Rebellen nahmen die Hauptstadt ein, die Revolte wurde ein Jahr später blutig niedergeschlagen. Da die Kolonialherren keinen neuen Aufstand riskieren wollten, beschlossen sie, das „Dreieckssystem“ in die sogenannte Neue Welt, nach Amerika, zu übertragen. Der transatlantische Sklavenhandel, der vom späten 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert betrieben wurde, bildete die Grundlage für das bekanntere „Dreieckshandelssystem“, ein System der Zirkulation von Sklaven, landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Industriewaren zwischen Afrika, Amerika und Europa. Afrikanische Sklaven wurden in der „kolonialen“ Landwirtschaft in Amerika eingesetzt, und die Produkte wurden dann nach Europa exportiert. Die Produkte wurden dann nach Europa exportiert. Die Waren wurden in Europa weiterverarbeitet und ein Teil davon nach Afrika exportiert, im Austausch gegen afrikanische Sklaven, die dann von Afrika nach Amerika transportiert wurden.
Die Sklaven wurden nicht nur für die Plantagen in die Neue Welt gebracht, sondern auch für die Edelmetallminen wie Gold (das „Eldorado“, das die Konquistadoren suchten) und vor allem Silber. Potosí ist eine Stadt und Hauptstadt des gleichnamigen Departamento (A.d.Ü., gleichzusetzen mit einem Bundesland in Deutschland) in Bolivien. Im 16. Jahrhundert galt die Region als der größte Industriekomplex der Welt und stand unter der Kontrolle der spanischen Kolonialregierung. Die Gründung der Stadt Potosi war auf die Entdeckung von Silber in der Gegend im Jahr 1544 zurückzuführen. Die Ureinwohner wurden zur Zwangsarbeit in den Silberminen von Potosi gezwungen. Von Anfang an starben Tausende von Sklaven aufgrund der harten Arbeitsbedingungen und der großen Höhe an Lungenentzündungen oder Quecksilbervergiftungen während der Silberverarbeitung. Um 1600 stieg die Sterblichkeitsrate in den lokalen indigenen Gemeinden sprunghaft an. 1608 baten die spanischen Bergbauherren den Thron von Madrid um die Erlaubnis, afrikanische Sklaven zu importieren. Es wird geschätzt, dass während der Kolonialzeit acht Millionen einheimische und afrikanische Sklaven für den Abbau von Silber starben.
Die kolonialen Besitztümer verwandelten das Königreich Kastilien und Aragonien in das Spanische Reich, „in dem die Sonne nie unterging“, da es über die ganze Welt verbreitet wurde. Aber der Unterhalt all dieser Besitztümer war sehr teuer und die Edelmetalle aus den neuen Besitztümern wurden hauptsächlich zur Finanzierung von Kriegen in Europa und zur Verteidigung der überseeischen Besitztümer gegen Piraten und Söldner verwendet. Da das spanische Reich den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus nicht vollzog, begann schließlich ein langer Weg des Niedergangs.
Die Geburt des kapitalistischen Systems
Die Weltherrschaft wurde von Kräften aus Nordeuropa beansprucht, die bereit waren, aus den neuen Bedingungen Kapital zu schlagen. Im Jahr 1602 wurde die erste offizielle Börse der Welt von der Niederländischen Ostindien-Kompanie (VOC – Verenigde Oostindische Compagnie) gegründet. Die VOC war das erste Unternehmen in der Geschichte, das Anleihen und Aktien ausgab. Die globalen Systemtheoretiker Wallerstein und Arrighi (REFS?) betrachten die ökonomische und finanzielle Dominanz der niederländischen Republik im 17. Jahrhundert als das erste historische Modell kapitalistischer Hegemonie. Der „Kaufmannskapitalismus“ der Niederlande basierte auf Handel, Schifffahrt und Finanzen und nicht auf der Produktion oder der Landwirtschaft. Die enorme Kapitalanhäufung in dieser Zeit schuf eine Nachfrage nach „Investitionsmöglichkeiten“. Dies erforderte neue Institutionen zur Regulierung des Investitionskapitals, was zur Gründung der Amsterdamer Börse und der Amsterdamsche Wisselbank führte. Es gab auch Neuerungen in der Seeversicherung und in der rechtlichen Struktur des Handels, wie z. B. die Gründung (ebenfalls zum ersten Mal in der Geschichte) von Aktiengesellschaften. Nach der 1602 gegründeten Niederländischen Ostindien-Kompanie (VOC) wurde (am 3. Juni 1621) die Niederländische Westindien-Kompanie (WIC – Westindische Compagnie) gegründet, deren Hauptzuständigkeitsbereich die Beteiligung der Niederlande am Sklavenhandel in der Neuen Welt (die oben erwähnten „Investitionsmöglichkeiten“) war. Es handelte sich auch um eine Art staatlichen Monopolkapitalismus, da die VOC und die WIC die ausschließliche Zuständigkeit für ihre individuellen Sektoren hatten, während sie gleichzeitig unter der Kontrolle der Föderation (Staten-Generaal) der „Parlamente“ der unabhängigen Regionen der Niederlande standen.
Nachdem die Niederlande ihre Unabhängigkeit von der damaligen Supermacht Spanien erlangt hatten, errichteten sie in einem 30-jährigen Krieg die kapitalistische Hegemonie über das bis dahin unschlagbare Spanien und Portugal, nur um anschließend (in einem weiteren 30-jährigen Krieg) von der englischen Marine besiegt zu werden, die konkurrierende Kolonial- und Handelsprojekte vorantrieb. Durch „Eisen und Blut“ wurde Großbritannien schließlich zur treibenden Kraft des Weltkapitalismus. Das heutige Zentrum des globalen Finanzsystems, die Wall Street, befindet sich an der gleichen Stelle, an der die Niederländische Westindien-Kompanie die „Waalstraat“ angelegt hatte, als Manhattan das Zentrum der Stadt war, die damals Neu-Amsterdam hieß und von einem der größten Sklavenhändler der Zeit, Pieter Stuyvesant, regiert wurde (zu dessen Ehren die gleichnamigen Zigaretten benannt sind). Am 13. Dezember 1711, als die Stadt unter die Kontrolle des englischen Throns übergegangen war und in New York umbenannt wurde, richtete der Stadtrat in der Wall Street einen gesetzlichen Markt für afrikanische und indische Sklaven ein. Die großen Gewinne der Händler und Spekulanten, die zum Sklavenmarkt strömten, und die zusätzlichen Transaktionen zwischen ihnen führten schließlich zur Gründung der New Yorker Börse am selben Ort.
Die neue Nutzung der Wall Street begann nur ein Jahrzehnt, nachdem die ehemaligen kolonialen Besitzungen Nordamerikas ihre Unabhängigkeit vom europäischen Kolonialismus erlangt hatten und die Vereinigten Staaten begannen, ihre eigene Kolonialgeschichte zu schreiben. Damit wurde gewissermaßen eine Brücke geschlagen zwischen der ersten Welle der expansiven Besetzung des gesamten Planeten durch westliche Mächte (15. bis 18. Jahrhundert) und der zweiten Welle, dem Kolonialismus des Industriekapitalismus am Ende des 19. Jahrhunderts. Die zweite Welle des Kolonialismus wurde weitgehend durch die Industrielle Revolution ausgelöst. Die Industriestaaten brauchten die Kolonien als Quelle billiger und stetig fließender Rohstoffe, als Absatzmärkte für die Industriegüter der jeweiligen Kolonialmacht, aber auch als Absatzmärkte für die Investition von überschüssigem (A.d.Ü., mehrwertigen/surplus) Kapital (mit garantierten Aussichten auf hohe Gewinne bei minimalem Risiko). Im Rahmen des industriellen Wettbewerbs zwischen den europäischen Staaten wurden Kolonien auch genutzt, um strategische Punkte wie die Straße von Gibraltar und den Suezkanal zu kontrollieren. Außerdem konnten die Kolonien als Militärstützpunkte auf der ganzen Welt genutzt werden.
Revolten als treibende Kraft der Geschichte
In dieser blutigen Darstellung der Geburt des Kapitalismus über den Kolonialismus bis hin zum „Imperialismus“ am Ende des 19. Jahrhunderts konnte die Aufzeichnung der Revolten, die von der eurozentrischen Geschichtsschreibung in der Regel ignoriert wird, nicht außer Acht gelassen werden. In der Tat wurden die Revolten während der ersten Welle des Kolonialismus in der Arbeiter- und sozialistischen Bewegung nicht einmal erwähnt. Die erste antikoloniale Revolte, die der Sklaven in São Tomé, fand, wie wir gesehen haben, bereits 1595 statt und führte zu einer Neuordnung des Dreieckshandels. Wir wollen hier nur die größten Revolten erwähnen, die folgten, als sich der Dreieckshandel zu einem Transfer von Sklaven aus Afrika in die „Neue Welt“ entwickelte und dort die großen Plantagen für „Kolonialprodukte“ entstanden: Revolten wie die berühmte „Nannie der Maroons“, die afrikanische Sklavin, die 1734 auf Jamaika den ersten „Maroon-Krieg“ auslöste. Es folgte der Aufstand von 1751 bis 1757 in St. Dominic, für den ihr Anführer, der afrikanische Sklave François Mackandal, von den französischen Kolonialherren als „Zauberer“ auf den Scheiterhaufen gebracht wurde. Es folgten der große Aufstand der Eingeborenen 1780-1782 in Bolivien und Peru und der Aufstand der „Schwarzen Jakobiner“ auf Haiti im Jahr 1791. Es wäre nicht übertrieben zu sagen, dass die Sklavenrevolten und die antikapitalistischen Revolutionen in der „Neuen Welt“ den Kurs des Kapitalismus bestimmten (eine alternative Version von Marx‘ Formulierung, dass die Geschichte der Menschheit die Geschichte des Klassenkampfes ist). Der Aufstand in São Tomé trug zur Verlagerung der Plantagen in die „neue Welt“ bei. Die Revolten in der Karibik (Mitte bis Ende des 18. Jahrhunderts) und die antikolonialen bourgeois-demokratischen Revolutionen in Lateinamerika verlagerten die „Aktivität“ der europäischen Kolonialisten auf die Sklavenplantagen im Süden der USA oder Brasiliens. Das Ende der Sklaverei in den USA (1865) und Brasilien (1888) lenkte die Aufmerksamkeit der Kolonialisten auf die Errichtung von Sklavenplantagen in Afrika selbst, im sogenannten „Kampf um Afrika“ – mit schrecklichen Folgen, z. B. starben im „freien (für die Ausbeutung) Staat Kongo“ (im Besitz des belgischen Throns) von 1885 bis 1908 fünf bis zehn Millionen Afrikaner auf Kautschukplantagen.
Schlussfolgerungen aus der kurzen Genealogie des Dekolonialismus als Kapitalismus
„Einem weit verbreiteten (und manipulierbaren) Irrtum zufolge ist der Imperialismus relativ jung, besteht aus der Kolonisierung der gesamten Welt und ist die letzte Stufe des Kapitalismus. Diese Diagnose verweist auf ein bestimmtes Heilmittel: Nationalismus wird als Gegenmittel zum Imperialismus angeboten: Nationale Befreiungskriege sollen das kapitalistische Imperium zerschlagen.
Diese Diagnose dient einem Zweck, aber sie beschreibt kein Ereignis und keine Situation. Wir kommen der Wahrheit näher, wenn wir diese Auffassung auf den Kopf stellen und sagen, dass der Imperialismus die erste Stufe des Kapitalismus war, dass die Welt anschließend von Nation-Staaten kolonisiert wurde und dass der Nationalismus die vorherrschende, die aktuelle und (hoffentlich) die letzte Stufe des Kapitalismus ist. Die Fakten wurden nicht erst gestern entdeckt; sie sind so bekannt wie der Irrglaube, der sie leugnet.“ Fredy Perlman. Die anhaltende Anziehungskraft des Nationalismus, 1984
Der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus ist keine Folge der Entwicklung der Produktivkräfte; jahrhundertelang gab es kapitalistische Gesellschaften, in denen der Gegensatz zwischen Kapital und Lohnarbeit keineswegs im Mittelpunkt stand; die erste Verwirklichung der getrennten Arbeit war nicht die des Industriearbeiters und Arbeiters, sondern die des Söldnersoldaten. Die primäre Akkumulation fand nicht einmalig statt, sondern ist ein Prozess, der ununterbrochen andauert. Selbst in dem engen Sinne, in dem Marx sie beschrieb, geschah sie viel früher und an anderen Orten als in Europa. Im Kontext der westlichen Welt, in dem Marx das Phänomen der primitiven Akkumulation betrachtete, umfasste es viel mehr Ausprägungen.16
Jahrzehntelang war die Hauptinterpretation des Imperialismus durch die Linke, dass er Ausdruck einer anisotropen Entwicklung sei, d.h. dass die imperialistischen Länder die „Dritte Welt“ unterentwickelt hielten (und ihre „wahre“ kapitalistische Entwicklung verhinderten), um sie auszubeuten, während es vom ersten Moment des Kolonialismus an (Dreieckshandel) darum ging, wer mit Schwert und Kanone den Wert von Menschen und natürlichen Ressourcen in der globalen Ausbeutungsteilung bestimmt.
TEIL III ANTIIMPERIALISMUS ALS AUSSENPOLITIK
Imperialismus und Antiimperialismus in der Zeit des Kalten Krieges
Wie wir bereits gesehen haben, entschied sich Lenins Staatskapitalismus dafür, die nationale Ideologie zu „benutzen“, indem er sie mit verschiedenen antikapitalistischen Chips und Emanzipationsnuggets verzierte, um eine neue vereinheitlichende Ideologie namens Anti-Imperialismus aufzubauen. Die Formierung der kolonisierten Bevölkerungen auf der ganzen Welt zu Nation-Staaten unter der Kontrolle lokaler kommunistischer Parteien und Bourgeoisien schuf ein globales, ebenfalls imperiales System mit der UdSSR im Zentrum. Die Bindung an die Militärmaschinerie des Sowjetimperiums würde die neuen Nation-Staaten vor der Ausplünderung ihrer Rohstoffe durch die „Imperialisten“ schützen. Natürlich würde das „Mutterland des Sozialismus“ diese „Ausbeutung“ der natürlichen Reichtümer übernehmen, während seine regionalen Verbündeten eine rasche Industrialisierung durchführen sollten, um die „anisotrope Entwicklung“, die angeblich „vom Imperialismus aufgezwungen“ wurde, umzukehren – das war die alternative Beschreibung der „primitiven Akkumulation“, diesmal „zugunsten des Sozialismus“.
Das maoistische China trat als Konkurrent „von links“ des Sowjetimperiums auf, das bereits mit dem westeuropäischen und nordamerikanischen Kapitalismus konkurrierte. Im April 1969 erklärte Marschall Lin Biao (Mao Zedongs offizieller Nachfolger) in seiner Grundsatzrede zur Außenpolitik Chinas auf dem 9. ZK-Kongress einen Zweifrontenkampf gegen die USA und die UdSSR, bezeichnete beide Supermächte als „Papiertiger des Imperialismus“ und erklärte die Bereitschaft seines Landes zu groß angelegten Kriegen: „Der imperialistische Krieg ist der Vorabend der sozialistischen Revolution.“ Diese grundlegende These Lenins hat nichts von ihrer Aktualität verloren. Nach den historischen Erfahrungen des Ersten und Zweiten Weltkriegs können wir sicher sein, dass, wenn die russischen Revisionisten, die amerikanischen Imperialisten und die Weltreaktion beschließen, einen dritten Weltkrieg anzuzetteln, dies unweigerlich die Entwicklung der Widersprüche beschleunigen und populäre Revolutionen entfachen wird, die die ganze Meute der Imperialisten, Revisionisten und Reaktionäre eine Stunde früher ins Grab schicken werden. Dann begann China, das seine Kriegsführung gegen die UdSSR intensivierte, seine schrittweise Annäherung an die USA, um… Stalins politisches Erbe als weltweiter Anführer des internationalen Proletariats zu verteidigen, „ein Erbe, auf das die UdSSR mit ihrer Destalinisierung verzichtet hatte“.17
Während das „Mutterland des Sozialismus“ in den 1970er Jahren in seiner Einflusszone eine koloniale Politik des Staatskapitalismus durchsetzte, begann in der „freien Welt“ ein neuer Kolonialismus mit IWF-Krediten an die frisch entkolonialisierten Länder, die sie zu Schuldenkolonien machten. In den kapitalistischen Metropolen stand der antiimperialistische revolutionäre Militarismus im Mittelpunkt der Politik und des öffentlichen Diskurses, der zu einem unglaublichen Patchwork führte, zu dem die IRA, die ETA, Gaddafi, die Stasi, die RAF, „marxistische“ palästinensische Organisationen, „Carlos der Schakal“, die Unterstützung „antiimperialistischer“ Diktatoren in der „Dritten Welt“ und andere gehörten, und zwar in einer Weise, die eher an einen schlechten Kriminalroman erinnerte als an ein Zusammentreffen von befreienden Praktiken und Zielen. Gleichzeitig wurde die maoistische „Drei-Welten-Theorie“, für die Zehntausende von Rebellen auf der ganzen Welt starben, schließlich zu einer diplomatischen Karte in den internationalen Beziehungen, als sich die Kommunistische Partei Chinas zu dem wandelte, was sie heute ist, und es ihr gelang, ihr Modell des Totalitarismus zu ändern, ohne auch nur ihren Namen ändern zu müssen. In Angola unterstützten die USA im Zuge der „Annäherung“ zwischen den USA und dem kommunistischen China von den 1970er bis in die 1990er Jahre die maoistische Guerillagruppe UNITA gegen die prosowjetische Volksbefreiungsbewegung von Angola (MPLA) in einem Bürgerkrieg zwischen zwei kommunistischen antiimperialistischen Guerillagruppen, der 500.000 Menschen das Leben kostete.
Nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der Sowjetunion erlebten wir in der Balkanregion das groteske, aber auch äußerst tragische Ereignis der Unterstützung des „Antiimperialisten“ Milošević durch die griechische Geschäftswelt, die Medien, die orthodoxe Kirche, die Kommunistische Partei, verschiedene Zweige des Staatsapparats und die Neonazis. Die bekennenden griechischen Antiimperialisten haben in der letzten Phase der Kriege im ehemaligen Jugoslawien gegen den „von der NATO inszenierten“ Krieg gewettert.
Interessant ist, dass das Vorbild der „pro-NATO UCK“ die Koalition verschiedener antiimperialistischer kommunistischer pro-Hodscha („Interventionist“) Organisationen im Kosovo war. Nach den Arbeiterbewegungen 1981 in Jugoslawien und der gewaltsamen Repression der jugoslawischen Armee gegen albanische Arbeiterinnen und Arbeiter im Kosovo aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit schlossen sich verschiedene linke Gruppen zur Kosovo-Volksbewegung (LPRK) zusammen. Sie traten für den „echten Stalinismus“ Albaniens gegen die „westfreundlichen Revisionisten“ Belgrads ein und stellten die Ausbeutung des albanischsprachigen Agrar- und Industrieproletariats des Kosovo als jugoslawischen Imperialismus in Zusammenarbeit mit dem kapitalistischen Westen dar. Nach dem Zusammenbruch des Hoxha-Regimes in Albanien blieb vom „stalinistischen Anti-Imperialismus“ im Kosovo nur noch der Nationalismus übrig, der in der NATO Verbündete suchte.
Die „Besonderheit“ des Balkans
Die Geschichte des Balkans hat ihre eigenen besonderen und sehr wichtigen Merkmale. In regelmäßigen Abständen wird heutzutage irgendein Balkanland als „Pulverfass“ bezeichnet, womit das Stereotyp der Beschreibung des Balkans als „Pulverfass Europas“ aus den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg aufrechterhalten wird. Dies wird nach dem vorherrschenden Narrativ durch den Ausbruch der Jugoslawienkriege unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bestätigt. Das erste europäische Stereotyp über den Balkan war jedoch das des Vampirs – man denke an Le Fanus Horrorroman Carmilla (1872) oder Bram Stokers bekannteren Dracula (1892).
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Balkan zu einem beliebten Gesprächsthema und Reiseziel, da Städtereisende aus den entwickelten europäischen Nation-Staaten den exotischen Balkan als lebendiges Laboratorium sahen, in dem sie Zuschauer ihrer eigenen Vergangenheit werden konnten, da sich verschiedene Ethnogenesen direkt vor ihren Augen abspielten, während die Abwesenheit von kapitalistischer Ethik und eurozentrischem Szientismus auf dem Balkan die Westler mit ihrem wilden, animalischen Alltagsleben faszinierte. Die ethnisch unreine, „uneheliche“ und „fremde“ Identität des Balkans kommt am besten in der Figur des Dracula zum Ausdruck, des halbmenschlichen Untermenschen, der das rassisch reine Europa ansteckend bedrohte. In den Romanen dieser Zeit tauchen verschiedene fiktive Balkanländer wie Ruritanien, die Steiermark oder die Herzo-Slowakei auf, die den transzendentalen Charakter der Ethnogenese einfangen. In den darauffolgenden Jahren wurden transzendentale Erbfolgekriege provoziert, da die verschiedenen lokalen Bourgeoisien ihre Interessen mit einigen der europäischen Großmächte identifizierten, die ihre Konfrontation miteinander nach außen verlagert hatten und in diesem Fall den Nutzen aus dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches maximieren wollten. Die Geschwindigkeit, mit der der zivilisierte Westen von der Horrorliteratur zur schrecklichen Realität der Kriege für die kapitalistische Expansion übergehen konnte, ist nur mit der Geschwindigkeit der kapitalistischen Expansion selbst vergleichbar. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts suchte der Antagonismus der nationalen Kapitalistenklassen nach einem Vorwand, um auf dem Balkan auszubrechen. Am Ende desselben Jahrhunderts musste der Balkan erneut in den Krieg ziehen, dieses Mal im Namen der sogenannten kapitalistischen Globalisierung. Und jetzt hören wir wieder Kriegsgeschrei, im Kontext des innerkapitalistischen Wettbewerbs.
TEIL IV. DER KAMPF GEGEN DEN IMPERIALISMUS KANN NICHT ANTI-IMPERIALISTISCH SEIN
Den Kapitalismus herauszufordern bedeutet, die Art und Weise, wie er die Macht neu ordnet, zu verändern und schließlich abzuschaffen. Doch um dies effektiv zu tun, müssen wir genau verstehen, was wir in Frage stellen. Macht, so argumentieren wir, ist kein äußerer Faktor, der einen materiellen Akkumulationsprozess verzerrt oder unterstützt; sie ist vielmehr die innere Triebkraft, das Mittel und der Zweck der kapitalistischen Entwicklung im Allgemeinen. Aus dieser Sicht lässt sich der Kapitalismus am besten nicht als Konsum- und Produktionsmodus, sondern als Machtmodus verstehen und bekämpfen.18
Wenn der Anti-Imperialismus historisch gesehen die Antwort auf die Frage war, wie man mit dem nicht ökonomischen Aspekt des Kapitalismus (ein Aspekt, den die Anhänger des „exogenen Sozialismus“ viel zu spät entdeckt haben) so umgehen kann, dass er den Interessen des bolschewistischen und dann des maoistischen Staatskapitalismus dient, sollten wir wahrscheinlich eine andere Frage stellen: Wie können die Kämpfe derjenigen, die die Brutalität der Ausplünderung in der kapitalistischen Peripherie erleben, vermeiden, sich auf Nationalismus zu beschränken und alternative Wege zur kapitalistischen Ausplünderung aufzuzeigen? Wie können wir uns in den Wohlstandszonen organisieren, ohne die planetarische Ungleichheit zu ignorieren und ohne auf Orientalismus zurückzugreifen? Wie können wir die Kämpfe der Ausgeschlossenen und der von Ausgrenzung Bedrohten mit den Kämpfen in den globalen kapitalistischen Zentren verbinden? Wie schaffen wir es, auf internationalistische Weise auf das Aufkommen der extremen Rechten zu reagieren, die sich angeblich gegen die Auswirkungen der Globalisierung richtet? Wie können wir die kapitalistische Kriegsmaschinerie stoppen? Die Antworten auf diese Fragen hängen von der kollektiven Intelligenz und den vielschichtigen Aktivitäten der Bewegung ab. Hier wollen wir nur einige Punkte ansprechen.
Es gibt viele, die wohlwollend fragen: „Aber sollten sich die Bevölkerungen in der kapitalistischen Peripherie nicht selbst organisieren, um sich gegen ihre Ausbeutung zu wehren?“ In der Geschichte hat sich jedoch immer wieder gezeigt, dass, wenn sich eine Bevölkerung in einem vertikalen, pyramidalen Machtsystem organisiert, „um sich gegen die mächtigen Länder zu wehren“, die Verwalter dieses Systems versuchen werden, sie in ein breiteres Pyramidensystem zu integrieren. Mit anderen Worten: Sie werden sich nicht gegen die stärkeren kapitalistischen Mächte und schon gar nicht gegen hierarchische Systeme im Allgemeinen wenden. Darüber hinaus wird der heutige internationalisierte Kapitalismus über die vertikalen Strukturen hinaus, auf denen er beruht (die verschiedenen Nation-Staaten, ihre Armeen und ihre Polizeikräfte), von einem erdrückenden transnationalen Netzwerk von Banken beherrscht, aber auch von einem Mediensystem, das die imaginäre Dimension der Menschheit prägt und unser abstraktes und symbolisches Denken bestimmt. Wenn wir vertikale Machtstrukturen schwächen und Risse im Netz der globalen Ökonomie aufreißen wollen, müssen wir zuerst versuchen, genau dieses symbolische System zu verändern. Das geht nicht, indem wir Interpretationen wiederholen, die auf ganzer Linie versagt haben.
Es sollte auch darauf hingewiesen werden, dass der Kapitalismus zwar immer universeller wird, die „einheitliche Theorie“, die ihn zu erklären versuchte, sich aber längst aufgelöst hat. Gab es jemals ein anderes Beispiel für eine internationalistische Organisation und Aktion gegen den Kolonialismus als den Anti-Imperialismus des Sowjetimperiums? Die Antwort lautet: Ja. Die Erste Internationale hat durch ihre bloße Existenz und ihre erklärten Ziele Kräfte auf der ganzen Welt befreit. Die IWW war ein Vorbild für eine Organisation mit wirklich internationalistischem, revolutionärem Charakter, da sich Einwanderer aus Europa neben Einwanderern aus Asien und Nachkommen afrikanischer Sklaven in den USA organisierten. Die IWW unterstützten die rebellischen indigenen Bauern in Mexiko und organisierten darüber hinaus die ersten gemischten Gewerkschaften/Syndikate aus afrikanischen und weißen Arbeiterinnen und Arbeitern auf dem afrikanischen Kontinent. „Lange Zeit konnte man sagen, dass der Anarchismus ernsthafter internationalistisch war als sein Konkurrent [der Marxismus]. Diese Haltung kam zum Teil dadurch zustande, dass der Anarchismus auf den riesigen Migrationswellen aus Europa ritt, die die letzten 40 Jahre vor dem Ersten Weltkrieg prägten: Italiener, Spanier, Portugiesen, Polen, Juden und so weiter strömten in die Neue Welt, rund um das Mittelmeer und in die von den Europäern gegründeten Reiche in Asien und Afrika. (Malatesta verbrachte zum Beispiel Jahre in Argentinien und Ägypten, während Marx und Engels in Westeuropa blieben).“19
In vielen Teilen der Welt „kam es zu einer massenhaften proletarischen Migration, die transnationale Netzwerke von Militanten schuf und radikale Publikationen hervorbrachte. Die Kombination dieser Prozesse führte zur Entstehung einer Bewegung, die sich über alle Kontinente ausbreitete“.20 Dennoch war die Komintern, wie D. Broder feststellt, „… von Anfang an ein weitgehend europäisches Phänomen (…) es gab einige asiatische Vertreter, aber keine aus Lateinamerika oder Afrika.“ Die Komintern verbreitete sich dank der Politik des so genannten „Anti-Imperialismus“. Broder zitiert den charakteristischen autobiografischen Satz von Ho Chi Minh: „Was mich zuerst dazu brachte, an Lenin und die Dritte Internationale zu glauben, war nicht der Kommunismus, sondern der Patriotismus“.21
In krassem Gegensatz zu dieser Priorität des Vaterlandes stand die praktische Unterstützung der antikolonialen Kämpfe durch anarchistische Organisationen (die in der „tragischen Woche“ von Barcelona gipfelte, d.h. dem Aufstand der Arbeiterinnen und Arbeiter gegen Spaniens Kolonialkrieg in Marokko vom 26. Juli bis 2. August 1909), die mit einer ausdrücklichen Ablehnung sowohl des Militarismus als auch des Nationalismus einherging.
Zwei Jahre vor der Veröffentlichung von Lenins Pamphlet über den Imperialismus hatte William Du Bois, ein weithin missverstandener afroamerikanischer Schriftsteller und Militanter, im Atlantic Monthly eine ausführliche Analyse mit dem Titel „The African Roots of War“ veröffentlicht, in der er das Gemetzel des Ersten Weltkriegs nicht mit „ungleicher Entwicklung“, der „Verschmelzung von Bankkapital mit Industriekapital“ und „Monopolkapitalismus“ in Verbindung brachte, sondern den Krieg als Zusammenstoß konkurrierender Interessen zwischen den westlichen Mächten als Teil eines Prozesses betrachtete, der im späten 19. Jahrhundert begonnen hatte.
„Es ist nicht mehr nur der Handelsfürst oder das aristokratische Monopol oder sogar die Arbeiterklasse, die die Welt ausbeutet: Es ist die Nation; eine neue demokratische Nation, die aus vereintem Kapital und Arbeit besteht. Die Arbeiter bekommen zwar noch nicht so viel Anteil, wie sie wollen oder bekommen werden, und unten gibt es immer noch große und unruhige ausgeschlossene Klassen. (…) Solche Nationen sind es, die die moderne Welt beherrschen. Ihr nationales Band ist nicht nur sentimentaler Patriotismus, Loyalität oder Ahnenverehrung. Es ist die Vermehrung von Reichtum, Macht und Luxus für alle Klassen in einem Ausmaß, das die Welt noch nie gesehen hat.“22
In The Souls of White Folk (1920) interpretiert Du Bois den „neuen Imperialismus“ als eine Notwendigkeit für die Reproduktion der Macht im Westen:
„Der modernen weißen Zivilisation ist klar, dass die Unterwerfung der weißen Arbeiterklasse nicht mehr lange aufrechterhalten werden kann. Bildung, politische Macht und zunehmendes Wissen über die Technik und Bedeutung des industriellen Prozesses werden in naher Zukunft zu einer immer gerechteren Verteilung des Reichtums führen. Die Zeit der Superreichen neigt sich dem Ende zu, soweit es die einzelnen weißen Nationen betrifft. Aber es gibt ein Schlupfloch. Es gibt eine Chance für Ausbeutung im großen Stil und für übermäßigen Profit, nicht nur für die sehr Reichen, sondern auch für die Mittelklasse und für die Arbeiterinnen und Arbeiter. Diese Chance liegt in der Ausbeutung der dunkleren Völker. Hier winkt die goldene Hand. Hier gibt es keine Gewerkschaften/Syndikate oder Wählerstimmen oder fragende Zuschauer oder unbequeme Gewissen. Diese Männer können bis auf die Knochen ausgebeutet und in „Strafexpeditionen“ erschossen und verstümmelt werden, wenn sie revoltieren. In diesen dunklen Ländern kann die „industrielle Entwicklung“ in übertriebener Form alle Schrecken der europäischen Industriegeschichte wiederholen, von Sklaverei und Vergewaltigung bis hin zu Krankheit und Verstümmelung, mit nur einem einzigen Erfolgskriterium: der Dividende!“23
Die anti-imperialistischen Kämpfe gegen den Kolonialismus vertrauten auf den Rahmen der national-patriotischen staatskapitalistischen Perspektive, anstatt den Kapitalismus als Machtsystem, das auf Plünderung, Krieg und Rassismus – aber auch auf Integration – beruht, ins Herz zu treffen. Bei dem Versuch, alles auf den „zentralen Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit“ zu reduzieren, ignorierten die meisten Theoretiker des Marxismus entscheidende Kategorien wie Kolonialismus und Militarismus. Die Taktik des Leninismus brachte die nationale Ideologie durch die Hintertür ins Spiel. Das ist nicht ohne Bedeutung, denn heute erleben wir das scheinbar paradoxe Phänomen, dass „fortschrittliche“ Mitglieder der transnationalen globalen Elite sich gegen den wachsenden populistischen Nationalismus aussprechen. Ist es möglich, dass der Kapitalismus, der sich auf die nationale Ideologie (als einigendes ideologisches Regime, das die Religion ersetzt) verlassen hat, nun transnationale Formationen fördert und gleichzeitig den populistischen Nationalismus als seinen Gegner definiert? Der transnationale Kapitalismus strebt nach höheren Profiten durch die Verlagerung der Produktion in Zonen mit niedrigen Arbeitskosten, kombiniert mit einem neuen Kolonialismus (Plünderung von Ressourcen durch „Freihandel“, Kreditaufnahme und ständige Kriege „niedriger Intensität“ in der Peripherie) und mit dem Angriff auf Rechte und Leistungen in den „privilegierten Zonen“, wodurch Bedingungen extremer Ungleichheit innerhalb der kapitalistischen Zentren entstehen. In diesem Zusammenhang könnten wir „Imperialismus“ als ökonomischen, kulturellen und militärischen Expansionismus (außerhalb der eng gefassten kapitalistischen Produktionsweise) definieren, der darauf abzielt, den Kapitalismus als globales System zu reproduzieren. Darüber hinaus gibt es „individuelle Imperialismen“, die die jeweiligen (nicht unbedingt territorialen) Expansionsbestrebungen supranationaler Formationen oder regionaler Mächte im Rahmen eines Wettbewerbs um die Macht innerhalb des Weltsystems beschreiben. Schließlich sind alle Staaten innerhalb der globalen kapitalistischen Aufteilung und entsprechend ihrem Potenzial expansionistisch, da sie einerseits den Expansionismus ihrer bourgeoisen Klassen unterstützen und andererseits an suprastaatlichen Formationen beteiligt sind, die genau für die Bedürfnisse des imperialistischen Aspekts des Weltsystems eingerichtet wurden. Die nationale Ideologie ist immer noch notwendig: Sie ist das wirksamste falsche Bewusstsein der Unterdrückten. Konfrontationen führen zu einem neuen Gleichgewicht, da in jedem Land die Verschlechterung der Lebensqualität als Ergebnis eines „nationalen Feindes“ (eines anderen Staates, einer supranationalen Organisation, aber nicht des Kapitalismus und seiner Krise) gerechtfertigt werden kann. Außerdem bereiten sie ständig den Boden für einen Krieg, den ultimativen Neustart der kapitalistischen Maschine.
Der Nationalismus war für die sogenannte Bourgeoisie in ihren ersten Schritten nützlich, weil er sie einte, indem er sie spaltete. Der transnationale Kapitalismus wird nicht durch die Individuation seiner Subjekte bedroht. Im Gegenteil, er entwirft und reproduziert alle Arten der Trennung. Während innerstaatliche Rivalitäten und Antagonismen zwischen verschiedenen suprastaatlichen Formationen zunehmen, wird die globale Vorherrschaft des Kapitalismus nicht im Geringsten in Frage gestellt. Das kapitalistische Imaginäre wird nicht nur nicht in Frage gestellt, sondern die Apathie steigt in unvorstellbare Höhen. Im Gegensatz zu Guy Debords beruhigender Prophezeiung, dass „die Tage dieser Gesellschaft gezählt sind (…) ihre Bewohner in zwei Teile gespalten sind, von denen einer sie zerstören will“ (vielleicht der berühmteste Aphorismus aus der 4. italienischen Ausgabe der Gesellschaft des Spektakels), erzeugen die „Nationalismen von unten“ auf der ganzen Welt nun Spaltungen, die den Menschen helfen, die Strukturen unserer eigenen Unterwerfung tiefer zu verinnerlichen.
TEXTE:
Jason Adams (2003), Non-Western Anarchisms, Zabalaza Books.
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Robert Young (2001), Postcolonialism: An historical introduction, Oxford, Blackwell
1Richard Koebner und Helmut Dan Schmidt. „Imperialism: The Story and Significance of a Political Word“, 1964.
2A.d.Ü., auch wenn wir den Text von einer anderen Übersetzung auf unseren Blog übernommen haben, haben wir die Stelle selber nochmals übersetzt um gewisse marxistische Begriffe korrekter anzuwenden.
3Robert Young. Postcolonialism: An Historical Introduction 2007.
4Marcel Stoetzler. «Marx, Karl (1818-83) and imperialism», Palgrave Encyclopaedia of Imperialism and Anti-Imperialism, vol 1. 2016.
5Brewer 1980.
6Patnaik 2017.
7Rosa Luxemburg. The Accumulation of Capital 1913.
8V. I. Lenin, Eighth All-Russia Congress of Soviets, December 29, 1920.
9Lenin, Ebenda
10Briefe vom Botschafter Page and den Präsidenten Wilson, 1913 und 1914, zitiert von Aimé Cesaire, Discourse on Colonialism, übersetzt von Joan Pinkham, Monthly Review Press, New York 2001, p. 76.
1111 February, 1918: President Wilson’s Address to Congress, Analyzing German and Austrian Peace Utterances,http://www.gwpda.org/1918/wilpeace.html
12V. I. Lenin, The Second Congress Of The Communist International, July 19-August 7, 1920.
13Dave Crouch, “The Bolsheviks and Islam”, International Socialism 2 : 110, Spring 2006.
14Rote Armee Anführer Mikhail Frunze, 1920 zitiert in D.T. Northrop, Veiled Empire: Gender and Power in Soviet Central Asia, New York 2004.
15Marcel Stoetzler. „Critical Theory and the Critique of Anti-Imperialism“, The SAGE Handbook of Frankfurt School Critical Theory, τόμος 3. 2018.
16Zusammenfassungen dieser Idee, die hauptsächlich in den Werken von Silvia Federici, George Caffentzis und Peter Linebaugh entwickelt wurde, findest du zum Beispiel in: Camille Barbagallo, Nicholas Beuret und David Harvey (Hrsg.) Commoning with George Caffentzis and Silvia Federici, Pluto Press 2019. Siehe auch die Proceedings der Konferenz: Towards a Global History of Primitive Accumulation, International Institute of Social History, Amsterdam, 9. bis 11. Mai 2019.
17Lin Biao. Report to the Ninth National Congress of the Communist Party of China, delivered on April 1 and adopted on April 14, 1969, https://www.marxists.org/reference/archive/linbiao/1969/04/01.htm
18Shimshon Bichler und Jonathan Nitzan. “Capital as Power – Toward a New Cosmology of Capitalism,” Dissident Voice, May 2010.
19Steven Hirsch und Lucien van der Walt (eds.). «Anarchism and Syndicalism in the Colonial and Postcolonial World, 1870-1940», Studies in Global Social History, 6, 2010.
20Adams 2003.
21David Broder, “Machete and Sickle”, https://jacobinmag.com/2019/03/latin-american-communism-comintern-third-international].
22W.E.B. Du Bois, «The African Roots οf War», Atlantic Monthly, May 1915.
23W.E.B. Du Bois. The Souls οf White Folk, New York 1920.
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9 Punkte – Erste Reaktionen auf den Krieg in der Ukraine
Veröffentlicht am 06.03.2022
Clandestina, Thessaloniki
„Wenn du nicht beides haben kannst, die Vernunft und die Kraft, dann wähle immer die Vernunft und überlasse die Kraft dem Feind (…) wir können immer aus unserer Vernunft Kraft schöpfen“
1. Es gibt viele Möglichkeiten, über kapitalistische Kriege zu sprechen: zwischenstaatliche militärische Konflikte, Mittel zur kapitalistischen Expansion, Plünderung und Besitz durch Enteignung, Methoden zur gewaltsamen Zerstörung der Produktivkräfte und Entwertung des vorhandenen Reichtums, Mittel zur Erlangung sozialer Disziplin und Konformität usw. Andererseits ist es kontraproduktiv, über die kapitalistische Kriegsmaschinerie mit dem Begriff „Imperialismus“ zu sprechen.
2. Der Imperialismus kann nicht viel erklären. Erstens ist er kein präziser Begriff, und, was noch wichtiger ist, er kann dazu verwendet werden, widersprüchliche und entgegengesetzte Standpunkte zu unterstützen. Die „Kämpfe der Völker gegen den Imperialismus“ werden schnell mit der Verteidigung bestimmter nationaler Interessen verbunden. Langfristig verwandelt der „Antiimperialismus“ jeden Kampf gegen die Macht und das Kapital in eine etatistische Politik und in zwischen- und innerstaatliche Interessen. Während des (ersten) Kalten Krieges diente der Antiimperialismus dem Aufbau von Nationen und der „sozialistischen“ primitiven Akkumulation in den Gebieten innerhalb der Einflusszonen der Sowjetunion und des maoistischen Chinas, vor allem in Afrika. Die Entkolonialisierung (einschließlich der Entkolonialisierung von der kapitalistischen Denkweise) ist eine ganz andere Geschichte und sollte nicht mit dem Antiimperialismus verwechselt werden.
3. Der innerkapitalistische Wettbewerb, der bis zum Krieg eskalieren kann, ist eine offensichtliche Realität, vor allem in einer Welt, die in einer globalen Schuldenspirale steckt und der die natürlichen Ressourcen ausgehen. Dieser Wettbewerb, insbesondere wenn er sich in bewaffneten Konflikten äußert, kann Gesellschaften und bestimmte ökonomische Sektoren destabilisieren, aber er destabilisiert nicht den Kapitalismus als globales System. Im Gegenteil, dieser Wettbewerb stärkt den Kapitalismus, indem er ein neues globales Gleichgewicht des Schreckens herstellt.
4. In einem bipolaren/multipolaren System ist die Stabilität das Ergebnis einer Machtverteilung zwischen zwei (oder mehr) Kontrahenten. Die bitteren Folgen bekommen die Bevölkerungen innerhalb der Territorien der gegnerischen zwischenstaatlichen Koalitionen zu spüren, und in noch stärkerem Maße die Bevölkerungen an der Peripherie des Kapitalismus. Die globale kapitalistische Kriegsmaschinerie kann ihre Untergebenen nur dann angreifen, wenn sie an eine weitere falsche Dichotomie glauben – und sich entsprechend aufteilen -, selbst wenn diese einigen als Bedrohung für die Stabilität des Kapitalismus erscheinen mag. Nur die soziale Bewegung kann dem Kapitalismus schaden, und nur eine transnationale soziale Bewegung wird in der Lage sein, die kapitalistische Kriegsmaschinerie und das neue Gleichgewicht des Terrors zu stoppen.
5. Der ursprüngliche „Kalte Krieg“ (der tatsächlich sehr hohe Temperaturen erreichte und zu Recht als dritter Weltkrieg bezeichnet wurde) basierte auf konkurrierenden Ideologien: die sogenannte „freie Welt“ gegen die sogenannte „kommunistische“. Ein „neuer Kalter Krieg“ ist bereits im Entstehen, ohne dass genügend Zeit für die ideologischen Investitionen und die rhetorische Beschönigung seiner Lager bleibt. In der Vergangenheit wurde der Staatskommunismus (sowohl in seiner sowjetischen als auch in seiner chinesischen Version) als Sozialismus dargestellt. Heute ist jedem klar, dass die Konfrontation zwischen „Kapitalismus und Kapitalismus“ (autoritärer Liberalismus gegen militaristische Oligarchie, wenn man so will) stattfindet. Der „neue Kalte Krieg“ braucht eine gewisse ideologische Legitimation (z.B.: „Entnazifizierung der Ukraine“ oder „Vladolf Putler“ usw.), aber die Situation ist immer noch ziemlich fließend, so dass wir besonders vorsichtig sein müssen, wie wir unsere Argumente formulieren, um nicht noch mehr Verwirrung und Stereotypen zu erzeugen.
6. Obwohl die NATO jahrzehntelang der militärische Flügel des westlichen Kapitalismus war und obwohl sie die tödlichste militärische Formation der Welt war (und immer noch ist), ist der Angreifer dieses Mal ein anderer (der ironischerweise alle alten NATO-Argumente verwendet hat). Wir müssen auch berücksichtigen, dass es auf dem Balkan eine starke Anti-NATO-Rhetorik und -Stimmung gibt, sowohl in der extremen Rechten als auch in der patriotischen Linken, insbesondere in Griechenland und Serbien. Vor kurzem wurde die radikale linke Anti-NATO-Partei in Nordmazedonien in eine nationalistische Partei umgewandelt.
Wir sagen laut und deutlich: Stoppt den Krieg. Lassen wir nicht zu, dass die reinsten Antikriegs- und antimilitaristischen Gefühle unter geostrategischen und historisch-politischen Analysen begraben werden. Militarismus bringt immer den Tod. Dies ist eine unumstößliche Wahrheit.
Wir sind der Meinung, dass wir neben Solidaritätsaktionen mit denjenigen, die unter dem Krieg leiden, und denjenigen, die gegen einen von „ihrem“ Staat geführten Krieg protestieren, auch Proteste und Mobilisierungen gegen die eigene Kriegsmaschinerie jeder Nation und gegen Militarismus und Nationalismus durchführen und unterstützen müssen.
Wir können auch nicht gegen den Krieg sprechen, wenn wir nicht gegen den Krieg gegen Migranten vorgehen, der von vielen Staaten in der Region geführt wird (die führende Rolle des griechischen Staates dabei muss betont werden). Der Weg zum Krieg in unserer Region wird auch durch Antiziganismus, Machismus, Homophobie, Patriarchat, religiösen Obskurantismus und jede entmenschlichende Ideologie der Aggression und Unterordnung geebnet.
7. In den letzten Tagen wurde viel darüber diskutiert, dass der Krieg in der Ukraine ein Blitzkrieg sei, es scheint jedoch, dass der Krieg verlängert werden könnte. Wenn die Bedrohung durch einen Atomkrieg (hoffentlich) nachlässt, könnten die „Europäer“ das Interesse am Tod von Menschen in der Ukraine verlieren (solange es nicht zu einer Eskalation der Gewalt kommt) und die „echten Flüchtlinge“ mit blauen Augen und blonden Haaren könnten als billige Arbeitskräfte eingesetzt werden. Auf jeden Fall werden die Europäer nun mehr haben, was sie eint und zusammenhält, nämlich mehr als der Hass auf dunkelhäutige Einwanderer und die Illusion von Hochkultur und Bildung: Die Einigung Europas wird durch eine neue, militarisierte Gesellschaft verwirklicht, die sich zum Ziel gesetzt hat, „die Freiheit gegen das neue böse Imperium zu verteidigen“. Kürzungen der Sozialausgaben und die Verschlechterung des Lebensstandards werden voll und ganz legitimiert, ebenso wie die brutale Ausbeutung und die verstärkte Plünderung der natürlichen Ressourcen in der kapitalistischen Peripherie.
8. Die Pandemie hat den Tod in eine Banalität verwandelt (vor allem in Gebieten wie dem Balkan, d.h. ohne ausreichendes öffentliches Gesundheitssystem), und in der ersten Welt wurden neue Wege der sozialen Kontrolle und Unterdrückung erprobt (für den Rest der Welt war es business as usual). Die Pandemie war jedoch ein globales Ereignis, auf das ein weiteres globales Ereignis folgte: die Rückkehr des Kriegskapitalismus im Westen. Der Krieg hat den Rest der Welt nie verlassen. Aber jetzt wurde er zu einem globalen Ereignis aufgewertet, weil er sich in der Nähe des Herzens des globalen Kapitalismus abspielt. Und dafür gibt es einen Grund. Die Vereinigten Staaten und Russland sind die beiden größten Ölproduzenten. Bei den derzeitigen Fördermengen reichen die russischen Ölreserven noch für 21 Jahre. Die Ölreserven der USA reichen nur noch für 15 Jahre.
Es ist dringender denn je, unsere eigenen globalen Ereignisse zu schaffen.
9. Mit den Jugoslawienkriegen und dem langen Übergang vom Staatskapitalismus zum Marktkapitalismus erlebte der Balkan eine der ersten Phasen des „vierten Weltkriegs“ auf diesem Planeten. Nationalismus und Militarismus haben den Balkan in der Vergangenheit mehrfach auseinandergerissen, und es sieht so aus, als ob sich dies wiederholen könnte. Im Jahr 2014 wurden große Teile von Bosnien und Herzegowina von Unruhen erschüttert, die sich gegen Privatisierungen und Arbeitslosigkeit richteten, eine breite soziale Unruhe, die sich über die nationalen Grenzen hinaus ausbreitete. Der Nationalismus kehrt nach Bosnien zurück, da die Konfrontation zwischen der NATO und Russland auch dort aufgebaut wird. Ein paar Jahre zuvor waren dem Arabischen Frühling 2011 Kriege gefolgt, und wenn wir noch weiter zurückblicken, wurde zwei Monate nach der größten Mobilisierung der weltweiten Bewegung für soziale Gerechtigkeit (Genua 2001) der „Krieg gegen den Terror“ erklärt. (Übrigens hatten die G7-Staats- und Regierungschefs kein Problem damit, Wladimir Putin in Genua zu empfangen, der gerade im blutigen zweiten Tschetschenienkrieg „gesiegt“ hatte).
Es ist dringender denn je, unsere eigenen globalen Ereignisse zu schaffen.
Wir müssen wiederholen: Die einzige Kraft, die sich der neuen bipolaren Welt entgegenstellen kann, ist die transnationale soziale Bewegung. „Sie ist nicht viel, aber sie ist die einzige, die wir haben.“ Wir sollten versuchen, unsere gewonnene kollektive Intelligenz zu nutzen, Polemik und eine konfrontative Haltung zu vermeiden, alle Netzwerke, in die wir eingebunden sind, zu stärken, zu versuchen, sie zu erweitern und miteinander zu verbinden, und die Initiative zu ergreifen, um gemeinsame Aktionen zu organisieren, beginnend mit einem lokalen und regionalen Kontext, um dann zu globalen Aktionen überzugehen, mit dem Ziel eines sozialen Streiks, um die kapitalistische Kriegsmaschine zu entwaffnen. Wir müssen vorsichtig vorgehen, aber schnell sein, bevor alle vernünftigen Menschen in den westlichen Gesellschaften* durch die Banalität des Todes gelähmt werden.
*Im Rest der Welt ist der Tod eine alltägliche Realität. Wir bewundern nicht nur die mutigen Menschen, die sich dem Krieg in Russland entgegenstellen, sondern auch die soziale Bewegung in Mexiko, die trotz der Schreckensherrschaft des Narcoestado existiert und Widerstand leistet.
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