Anton Pannekoek – Soligruppe für Gefangene https://panopticon.blackblogs.org Für die Anarchie! Knäste, Staat, Patriarchat und Kapital abschaffen! Thu, 30 May 2024 09:04:05 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.1 https://panopticon.blackblogs.org/wp-content/uploads/sites/1233/2020/02/cropped-discharge-degenerik-blog-1-32x32.jpg Anton Pannekoek – Soligruppe für Gefangene https://panopticon.blackblogs.org 32 32 Anton Pannekoek, der Syndikalismus https://panopticon.blackblogs.org/2024/05/13/anton-pannekoek-der-syndikalismus/ Mon, 13 May 2024 10:22:21 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5817 Continue reading ]]> Anton Pannekoek, der Syndikalismus

Erschien ursprünglich in der Nummer Zwei, Bd. II im Januar 1936 in „International Council Correspondence”. Hier und hier.

Die italienische Übersetzung erschien in der Nummer 12, November-Dezember 1976, von „Anarchismo“. Die spätere Veröffentlichung vom „Edizione Anarchismo“ im November 2013 als die Nummer 53, der Reihe „Opuscoli Provvisori“.


Einleitende Anmerkung zur zweiten Auflage

Ein weiterer paläontologischer Beitrag. Auf den ersten Blick scheint es eine naheliegende Bewertung zu sein, aber das ist sie nicht. Eine Kritik des Gewerkschaftswesens/Syndikalismus aus der Ferne und gerade deshalb offenkundig noch lange nicht alt.

Heute kämpfen die Ausgebeuteten in der Mitte derselben Furt, sie kommen nicht vorwärts und denken nicht einmal daran – sie können es nicht -, umzukehren. Und mit ihnen die Anarchistinnen und Anarchisten, zumindest diejenigen, die über das Problem nachdenken, wie man etwas tun kann, um sich in Richtung Revolution zu bewegen, die anarchistische Revolution natürlich, denn von anderen Revolutionen, ob groß oder klein, mit Guillotinen im Einsatz oder nicht, sind die Seiten der Illustrierten voll.

Pannekoeks Schrift ist prägnant, Pulsinellis Einleitung ist prägnant, und sogar meine kleine Anmerkung, die ich hier im Anhang platziere, ist gültig. Im Übrigen verweise ich auf meine Kritik des Syndikalismus (A.d.Ü., Critica del sindcalismo, die Übersetzung ist ein Arbeit), die immer mehr zu einer lästigen Parade von „Ich hab’s dir ja gesagt“ wird, deren Lektüre aber unfehlbar gültig bleibt.

Die Phänomenologie der Clowns in der Regierung ändert sich, die blutigen Auswirkungen, die sich auf dem Rücken der Sklaven materialisieren, die jetzt von Fußmatten vernarbt sind, ändern sich, aber das bronzene Gesicht der Gewerkschafter/Syndikalisten bleibt immer dasselbe. Teilnahmslose Mumien, die ihren eigenen kleinen Garten bewachen. Der letzte Gedanke, der durch die wenigen Gramm grauer Substanz (ein flüchtiges Herz, das versteht sich von selbst) in ihrer Schädelkiste fließt, gilt ihren eigenen Interessen und denen der Kapitalisten – die durch das raue Auf und Ab der internationalen Finanzbilanz auf die Probe gestellt werden – und ganz sicher nicht denen der Arbeiter.

Wann wird die Beerdigung dieser abscheulichen Bürokraten stattfinden?

Triest, 25. November 2011

Alfredo M. Bonanno


Einleitung zur ersten Auflage

Der folgende Text stammt aus der amerikanischen Zeitschrift „International Council Correspondence“, Bd. II, Nr. 2 vom Januar 1936; er wurde von Anton Pannekoek unter dem Pseudonym J. Harper verfasst. Die Zeitschrift ‚I.C.C.‘ war das Sprachrohr der Rätekommunisten, die nach der Niederlage der revolutionären Bewegung und dem Aufkommen des Nationalsozialismus nach Amerika geflüchtet waren. Karl Korsch, Paul Mattick, Otto Rühle und andere nicht-leninistische Marxisten, die die deutschen Räteerfahrungen miterlebt und unterstützt hatten, sowie die KAPD, die niederländische Partei, die nicht Mitglied der leninistischen Internationale war, arbeiteten ebenfalls mit der „I.C.C.“ zusammen. Gegen sie schleuderte Lenin polemische Donnerschläge in, Der „Linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus.

Der Text von Pannekoek – Autor von Arbeiterräte – enthält an sich nichts Außergewöhnliches oder absolut Neues, er ist aber wertvoll für das klare Verständnis der inneren Grenzen des Gewerkschaftswesens/Syndikalismus und schafft es, Tendenzen und Erscheinungsformen vorwegzunehmen, die der Gewerkschaftswesens/Syndikalismus in den folgenden Jahrzehnten tatsächlich annahm.

Es gibt auch Naivitäten und Ansätze feststellbar, die nicht ganz unsere sind, die wir hier aber nicht hervorheben wollen.

Bei der Bewertung dieses Textes dürfen wir nicht das Jahr vergessen, in dem er veröffentlicht wurde: 1936. Die kritische Bewertung des Gewerkschaftswesens/Syndikalismus im negativen Sinne ist eindeutig, und zwar genau zu der Zeit, als wir – zum Beispiel in Spanien – an theoretischen Positionen festhielten, die dazu tendierten, die Gewerkschaft/Syndikat zum Verwaltungsorgan der Ökonomie und der Betriebe zu machen, die von der Anwesenheit der Bosse befreit waren. Im Wesentlichen wollten sie die Ökonomie „gewerkschaftlich/syndikalistisch organisieren“, also nicht unmittelbar diese durch Arbeiterinnen und Arbeiter vereinnahmen und verwalten zu lassen, sondern die – vermeintlich „neutrale“ – Gewerkschafts-, Syndikatsstruktur vermitteln lassen.

Pannekoeks Position zur Gewerkschaft/Syndikat unterscheidet sich deutlich von der letzteren. Diese beiden Positionen verdeutlichen, wie damals – und heute – die Gewerkschafts-, Syndikatsfrage und die Lösung, die ihr gegeben wird, zwischen verschiedenen Positionen unterscheiden, die von der Mitbeteiligung an der Verwaltung der kapitalistischen Ökonomie bis hin zur Übernahme von Haltungen und dem Eintreten für eine Praxis reichen können, die der kapitalistischen Ökonomie eindeutig entgegengesetzt und antagonistisch ist.

Was wir heute betonen wollen, ist, dass die Gewerkschaft/Syndikat eine perfekt integrierte und funktionale Institution für die Verwirklichung der kapitalistischen Planung ist, mit der spezifischen Aufgabe, die Klasse zu „kontrollieren“ und zu chloroformieren.

Als „Vertreterin“ der Arbeiterklasse stimmt sie sich mit den Bedürfnissen des Kapitals ab und durchdringt sie, indem sie die Kräfte – Kapital und Arbeit -, die bei der Realisierung von Profiten zusammenwirken, neu zusammensetzt, um immer stabilere Gleichgewichte zu erreichen, natürlich unter dem Vorzeichen der Kontinuität der Lohnsklaverei.

Die Gewerkschaft/Syndikat ist das verzerrte Spiegelbild der ökonomischen Bedürfnissphäre des Lohnempfängers und bringt das Warenwesen des Lohnempfängers, der sich verkauft, um andere Waren zu realisieren, voll zum Ausdruck.

Als verdinglichter Ausdruck der Reduktion des Menschen auf die Ware und mit dem Anspruch, nur ökonomische „Interessen“ zu interpretieren, delegiert sie am Ende alles andere an die „Partei“: Sie wird darauf reduziert, den Verkaufs- (und Kauf-)Preis der Arbeitskraft auszuhandeln.

Ihr Ziel ist nicht die Abschaffung der Lohnarbeit, sondern die Angleichung ihrer Kosten. Eine Funktion, die dem Kapital völlig fremd ist und seine ständige Rationalisierung vorantreibt.

Das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus neigt dazu, die Funktion des Lohnarbeiters zu fixieren – und aufrechtzuerhalten – und arbeitet nicht im Geringsten daran, das Lohnarbeiterdasein zu überwinden und zu verleugnen, um die Identität, die Würde und das Bewusstsein des Proletariats anzunehmen, d.h. als praktischer Negator des Kapitalismus, seines gewerkschaftlichen Derivats und von sich selbst.

Es ist völlig sinnlos, über den Zustand des herzlichen Einvernehmens und der perfekten Kollaboration des heutigen Gewerkschaftswesens/Syndikalismus mit dem Staat und den Bossen in der Zunftkammer zu sprechen, denn er ist für alle sichtbar.

Vielleicht ist es wichtiger, sich damit zu beschäftigen, wie sie ihr kapitalistisches Wesen vollständig verwirklicht haben, indem sie sich – im wahrsten Sinne des Wortes – in rein kapitalistische Strukturen wie Banken verwandelt haben. Das ist in Deutschland und den Vereinigten Staaten der Fall, wo die Gewerkschaften/Syndikate eine Reihe von Banken betreiben und somit: Handel treiben, Kredite vergeben, Profitraten festlegen, investieren, spekulieren usw.

Ist es heute sinnvoll, eine gewerkschaftliche/syndikalistische Erneuerung vorzuschlagen, Anarcho-Syndikate zu gründen oder sich als linker Gewerkschafter/Syndikalist sich zu stellen? Das sind die Fragen, über die wir diskutieren müssen.

Wir sind der Meinung, dass die Wiederherstellung einer organisatorischen Trennung zwischen dem ökonomischen und dem politischen Moment einen Rückschritt gegenüber dem Niveau der proletarischen Autonomie der letzten Jahre bedeutet. Es kann keine Trennung reproduziert werden, nur weil man den fotogensten und vorzeigbarsten Teil des Kapitals, nämlich die linke Seite seines Gesichts (die Gewerkschaften/Syndikate), bevorzugt oder zu imitieren versucht. Stattdessen geht es darum, Basisorganisationen zum Leben zu erwecken, die, ausgehend von der Besonderheit der sozialen Struktur, aus der sie hervorgehen, dazu neigen, die Gesamtheit der Spannungen und Bedürfnisse zum Ausdruck zu bringen und dabei kristallisierte Organisationsformen und Interventionspraktiken zu vermeiden.

Sie überschreiten die Grenzen des produktiven Bereichs, in dem sie tätig sind, und vereinen das Territorium und die Probleme, mit denen das Proletariat dort konfrontiert ist, mit allen anderen unerfüllten sozialen Bedürfnissen. Der Versuch, das Geflecht der Bedürfnisse und die Konflikte, die sie hervorbringen, nachzuvollziehen, in einem Moment der Kontinuität der Intervention und der theoretisch-praktischen Komplexität Fabrik und Territorium, antiproduktivistisches Moment und Wiederaneignung der produzierten Waren zu verbinden, den abstrakt „politischen“ Angriff auf die dominante Achse von Partei, Gewerkschaft/Syndikat, Staat und Kapital mit der praktischen Konkretheit der Selbstbeschränkung, der Hausbesetzung mit der Ablehnung von Steuern und der Aushöhlung der Löhne, der Forderung nach Verallgemeinerung der Löhne, der Massifizierung des Einkommens mit der Entlohnung der weiblichen Hausarbeit, der Forderung nach Beschäftigung mit der Abschaffung paläokapitalistischer Formen (von Schwarzarbeit, Akkordarbeit, Heimarbeit), die die Schule mit dem Territorium verbindet, d.h. das Problem des Studenten mit dem der Arbeitslosen, in dem er oder sie aussteigen wird, usw.

In den Fluss der proletarischen Selbstorganisation zu kommen, bedeutet, Anti-Macht-Zellen zu gebären, die perfekt in das soziale Gefüge eingebettet sind und das Krebsgeschwür der praktischen Negation der kapitalistischen Verhältnisse und Werte verbreiten: die Ideologie der Arbeit, des Profits, der Akkumulation, der Arbeitsteilung usw. sowie die Immunisierung der Repressionsstrukturen und ihrer Prätorianer.

Proletarische Selbstorganisation bedeutet, vom Spezifischen der gegebenen Situation auszugehen, um den Bereich der praktischen Intervention auf die Universalität der Funktionen und Rollen auszuweiten, die die Proletarierinnen und Proletarier übernehmen müssen, um das Kapital (und ihre eigene Versklavung) im Austausch für einen Lohn, d. h. einen infinitesimalen Teil der produzierten Waren, zu reproduzieren.

In diesem Prozess, der zur Totalität tendiert, ist es höchst schädlich, Organisationsformen – wie die Gewerkschaft/Syndikat – neu vorzuschlagen, deren Existenzgrundlage auf einer Teilung und Begrenzung beruht: dem ökonomischen Moment und dem Bereich der Produktion, d.h. dem Proletariat nur in der Phase der Produktion.

Diese Verstümmelung zu vermeiden, würde bedeuten, seinen eigenen Platz im Netzwerk der Anti-Macht-Organismen zu finden und vor allem das Proletariat als ein Wesen zu begreifen, das nicht nur produziert, sondern auch konsumiert, das sich mit Kultur, Unterhaltung und Sport entfremdet, das das Kapital in seiner Familie reproduziert (wo er der „Herr“ ist und seine Frauen-Kinder die Proletarier der Situation), dessen Sexualität immer verzerrt und sublimiert ist, das Lebensmittel mit geringem Nährwert isst, wenn sie nicht völlig schädlich sind, das in Städten des Wahnsinns und der Umweltverschmutzung lebt usw. Es geht darum, eine enorme kritische Intervention – theoretisch und dann praktisch – zu entwickeln, die sich auf die Gesamtheit der bestehenden Bedingungen erstreckt. Es geht darum, das Proletarische in seiner Gesamtheit zu begreifen, ohne das Ökonomische, das Politische, das Militärische, die Stadtplanung usw. zu privilegieren.

Sich auf die ökonomische Sphäre zu beschränken und sich darin zu erschöpfen, ist der beste Weg, um sich selbst dazu zu zwingen, auf alles andere zu verzichten und Schemata und Formeln – ähnlich wie ausgestopfte Tiere – einer proletarischen Bewegung zu reproduzieren, die sich gegen einen alten, jetzt veränderten Kapitalismus stellte.

Ist der Anarchosyndikalismus erneuerbar?

Tito Pulsinelli

[Veröffentlicht in „Anarchismo“ Nr. 12, November-Dezember 1976, S. 353-355]


Syndikalismus, von Anton Pannekoek, 1936

Quelle: Trade-Unionism / J[ohn]. H[arper]. [=Anton Pannekoek]. – In: International Council Correspondence, Vol. II (1935-1936), Nr. 2 (Januar 1936)

Wie muss die Arbeiterklasse den Kapitalismus bekämpfen, um zu gewinnen? Das ist die alles entscheidende Frage, vor der die Arbeiterinnen und Arbeiter jeden Tag stehen. Welche effizienten Aktionsmittel, welche Taktiken können sie anwenden, um die Macht zu erobern und den Feind zu besiegen? Keine Wissenschaft, keine Theorie kann ihnen genau sagen, was sie tun sollen. Aber spontan und instinktiv, durch Ausprobieren, durch das Erspüren von Möglichkeiten, fanden sie ihre Handlungsmöglichkeiten. Und als der Kapitalismus wuchs, die Erde eroberte und seine Macht ausbaute, wuchs auch die Macht der Arbeiterinnen und Arbeiter. Neue Aktionsformen, die breiter und effizienter waren, kamen zu den alten hinzu. Es liegt auf der Hand, dass sich mit den veränderten Bedingungen auch die Aktionsformen und Taktiken des Klassenkampfes ändern müssen. Das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus ist die wichtigste Form der Arbeiterbewegung im starren Kapitalismus. Die isolierten Arbeiterinnen und Arbeiter sind gegenüber den kapitalistischen Arbeitgebern machtlos. Um dieses Handicap zu überwinden, organisieren sich die Arbeiterinnen und Arbeiter in Gewerkschaften/Syndikate. Die Gewerkschaft/Syndikat bindet die Arbeiterinnen und Arbeiter zu gemeinsamen Aktionen zusammen, wobei der Streik ihre Waffe ist. Dann ist das Kräfteverhältnis relativ ausgeglichen oder manchmal sogar am stärksten auf der Seite der Arbeiterinnen und Arbeiter, so dass der isolierte kleine Arbeitgeber gegenüber der mächtigen Gewerkschaft/Syndikat schwach ist. Daher stehen sich im entwickelten Kapitalismus Gewerkschaften/Syndikate und Arbeitgeberverbände (Verbände, Trusts, Unternehmen usw.) als kämpfende Kräfte gegenüber.

Das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus entstand zuerst in England, wo sich der Industriekapitalismus zuerst entwickelte. Später verbreitete sie sich in anderen Ländern als natürlicher Begleiter der kapitalistischen Industrie. In den Vereinigten Staaten herrschten ganz besondere Bedingungen. Zu Beginn sorgte der Reichtum an freiem, unbesetztem Land, das den Siedlern offenstand, für einen Mangel an Arbeiterinnen und Arbeitern in den Städten und für relativ hohe Löhne und gute Bedingungen. Die American Federation of Labour wurde zu einer Macht im Land und konnte den in ihren Gewerkschaften/Syndikaten organisierten Arbeiterinnen und Arbeitern einen relativ hohen Lebensstandard sichern.

Es ist klar, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter unter diesen Bedingungen nicht einen Moment lang auf die Idee kommen konnten, den Kapitalismus zu stürzen. Der Kapitalismus bot ihnen einen ausreichenden und ziemlich sicheren Lebensunterhalt. Sie fühlten sich nicht als getrennte Klasse, deren Interessen der bestehenden Ordnung feindlich gegenüberstanden; sie waren ein Teil von ihr; sie waren sich bewusst, dass sie an allen Möglichkeiten eines aufsteigenden Kapitalismus auf einem neuen Kontinent teilhatten. Es gab Platz für Millionen von Menschen, die hauptsächlich aus Europa kamen. Für diese wachsenden Millionen von Bauern war eine schnell wachsende Industrie notwendig, in der Arbeiterinnen und Arbeiter mit Energie und Glück zu freien Handwerkern, kleinen Geschäftsleuten und sogar reichen Kapitalisten aufsteigen konnten. Es ist nur natürlich, dass hier ein wahrer kapitalistischer Geist in der Arbeiterklasse herrschte.

Das Gleiche war in England der Fall. Hier lag es an Englands Monopol im Welthandel und in der Großindustrie, am Mangel an Konkurrenten auf den ausländischen Märkten und am Besitz reicher Kolonien, die England enormen Reichtum brachten. Die Kapitalistenklasse brauchte nicht um ihre Gewinne zu kämpfen und konnte den Arbeiterinnen und Arbeitern einen angemessenen Lebensunterhalt ermöglichen. Natürlich waren anfangs Kämpfe nötig, um ihnen diese Wahrheit klarzumachen, aber dann konnten sie Gewerkschaften/Syndikate zulassen und Löhne im Austausch für den Arbeitsfrieden gewähren. So wurde auch hier die Arbeiterklasse vom kapitalistischen Geist durchdrungen.

Dies steht in völligem Einklang mit dem innersten Charakter des Gewerkschaftswesens/Syndikalismus. Das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus ist eine Aktion der Arbeiterinnen und Arbeiter, die nicht über die Grenzen des Kapitalismus hinausgeht. Ihr Ziel ist es nicht, den Kapitalismus durch eine andere Produktionsform zu ersetzen, sondern gute Lebensbedingungen innerhalb des Kapitalismus zu sichern. Ihr Charakter ist nicht revolutionär, sondern konservativ.

Natürlich ist die gewerkschaftliche/syndikalistische Aktion Klassenkampf. Im Kapitalismus gibt es einen Antagonismus der Klassen – Kapitalisten und Arbeiterinnen und Arbeiter haben entgegengesetzte Interessen. Nicht nur in der Frage der Erhaltung des Kapitalismus, sondern auch innerhalb des Kapitalismus selbst, wenn es um die Aufteilung des Gesamtprodukts geht. Die Kapitalisten versuchen, ihre Gewinne, den Mehrwert, so weit wie möglich zu steigern, indem sie die Löhne senken und die Arbeitszeit oder die Arbeitsintensität erhöhen. Die Arbeiterinnen und Arbeiter hingegen versuchen, ihre Löhne zu erhöhen und ihre Arbeitszeit zu verkürzen.

Der Preis der Arbeitskraft ist keine feste Menge, auch wenn er ein bestimmtes Hungerminimum überschreiten muss; und er wird von den Kapitalisten nicht aus freien Stücken gezahlt. So wird dieser Antagonismus zum Gegenstand einer Auseinandersetzung, dem eigentlichen Klassenkampf. Es ist die Aufgabe, die Funktion der Gewerkschaften/Syndikate, diesen Kampf zu führen.

Das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus war die erste Schule für proletarische Tugenden, für Solidarität als Geist des organisierten Kampfes. Sie verkörperte die erste Form der proletarischen organisierten Macht. In den frühen englischen und amerikanischen Gewerkschaften/Syndikate versteinerte diese Tugend oft und entartete zu einer engen Handwerkskorporation, einer wahrhaft kapitalistischen Geisteshaltung. Anders war es jedoch dort, wo die Arbeiterinnen und Arbeiter um ihre Existenz kämpfen mussten, wo die äußersten Anstrengungen ihrer Gewerkschaften/Syndikate ihren Lebensstandard kaum aufrechterhalten konnten, wo die volle Wucht eines energischen, kämpferischen und expandierenden Kapitalismus auf sie einschlug. Dort mussten sie die Weisheit lernen, dass nur die Revolution sie endgültig retten kann.

Es gibt also eine Diskrepanz zwischen der Arbeiterklasse und dem Gewerkschaftswesen/Syndikalismus. Die Arbeiterklasse muss über den Kapitalismus hinausblicken. Der Gewerkschaftswesen/Syndikalismus lebt vollständig innerhalb des Kapitalismus und kann nicht über ihn hinausblicken. Der Gewerkschaftswesen/Syndikalismus kann nur einen Teil des Klassenkampfes darstellen, einen notwendigen, aber engen Teil. Und er entwickelt Aspekte, die ihn in Konflikt mit den größeren Zielen der Arbeiterklasse bringen.

Mit dem Wachstum des Kapitalismus und der Großindustrie müssen auch die Gewerkschaften/Syndikate wachsen. Sie werden zu großen Unternehmen mit Tausenden von Mitgliedern, die sich über das ganze Land erstrecken, mit Sektionen in jeder Stadt und jeder Fabrik. Es müssen Funktionäre ernannt werden: Vorsitzende, Sekretäre, Schatzmeister, die die Geschäfte führen und die Finanzen verwalten, sowohl auf lokaler als auch auf zentraler Ebene. Sie sind die Anführer, die mit den Kapitalisten verhandeln und durch diese Praxis eine besondere Fähigkeit erworben haben. Der Vorsitzende einer Gewerkschaft/Syndikats ist ein hohes Tier, so groß wie der kapitalistische Arbeitgeber selbst, und er verhandelt mit ihm auf Augenhöhe über die Interessen seiner Mitglieder. Die Funktionäre sind Spezialisten für die gewerkschaftliche/syndikalistische Arbeit, die die Mitglieder, die ganz mit ihrer Fabrikarbeit beschäftigt sind, nicht selbst beurteilen oder leiten können.

Eine so große Körperschaft wie eine Gewerkschaft/Syndikat ist nicht einfach eine Versammlung einzelner Arbeiterinnen und Arbeiter; sie wird zu einem organisierten Körper, wie ein lebendiger Organismus, mit einer eigenen Politik, einem eigenen Charakter, einer eigenen Mentalität, eigenen Traditionen und eigenen Funktionen. Sie ist ein Organ mit eigenen Interessen, die sich von den Interessen der Arbeiterklasse unterscheiden. Sie hat den Willen zu leben und für ihre Existenz zu kämpfen. Sollte es dazu kommen, dass die Gewerkschaften/Syndikate für die Arbeiterinnen und Arbeiter nicht mehr notwendig sind, dann würden sie nicht einfach verschwinden. Ihre Gelder, ihre Mitglieder und ihre Funktionäre: All das sind Realitäten, die nicht sofort verschwinden, sondern als Elemente der Organisation weiterbestehen werden.

Die Funktionäre der Gewerkschaft/Syndikats, die Anführer der Arbeiterinnen und Arbeiter, sind die Träger der speziellen Gewerkschafts-, Syndikatsinteressen. Ursprünglich waren sie Arbeiterinnen und Arbeiter aus dem Betrieb, aber durch ihre lange Tätigkeit an der Spitze der Organisation haben sie einen neuen sozialen Charakter bekommen. In jeder sozialen Gruppe, die groß genug ist, um eine spezielle Gruppe zu bilden, prägt und bestimmt die Art ihrer Arbeit ihren sozialen Charakter, ihre Denk- und Handlungsweise. Die Funktion der Beamten und Beamtinnen ist eine ganz andere als die der Arbeiterinnen und Arbeiter. Sie arbeiten nicht in Fabriken, sie werden nicht von Kapitalisten ausgebeutet, ihre Existenz ist nicht ständig von Arbeitslosigkeit bedroht. Sie sitzen in Büros, in ziemlich sicheren Positionen. Sie müssen sich um die Angelegenheiten der Unternehmen kümmern, auf Versammlungen der Arbeiterinnen und Arbeiter sprechen und mit den Arbeitgebern diskutieren. Natürlich müssen sie sich für die Arbeiterinnen und Arbeiter einsetzen und ihre Interessen und Wünsche gegenüber den Kapitalisten verteidigen. Das unterscheidet sich jedoch nicht sehr von der Position eines Rechtsanwalts, der als Sekretär einer Organisation für deren Mitglieder eintritt und deren Interessen nach seinen Fähigkeiten verteidigt.

Es gibt jedoch einen Unterschied. Da viele der Anführer aus den Reihen der Arbeiterinnen und Arbeiter stammen, haben sie am eigenen Leib erfahren, was Lohnsklaverei und Ausbeutung bedeuten. Sie fühlen sich als Mitglieder der Arbeiterklasse und der proletarische Geist wirkt oft wie eine starke Tradition in ihnen. Aber die neue Realität ihres Lebens neigt dazu, diese Tradition immer weiter zu schwächen. Ökonomisch gesehen sind sie keine Proletarier mehr. Sie sitzen in Konferenzen mit den Kapitalisten und verhandeln über Löhne und Arbeitszeiten, wobei sie ihre Interessen gegeneinander ausspielen, genauso wie die entgegengesetzten Interessen der kapitalistischen Konzerne gegeneinander abgewogen werden. Sie lernen, die Position des Kapitalisten genauso gut zu verstehen wie die der Arbeiterinnen und Arbeiter; sie haben ein Auge für die „Bedürfnisse der Industrie“; sie versuchen zu vermitteln. Natürlich gibt es persönliche Ausnahmen, aber in der Regel haben sie nicht das elementare Klassengefühl der Arbeiterinnen und Arbeiter, die die kapitalistischen Interessen nicht verstehen und gegen ihre eigenen abwägen, sondern für ihre eigenen Interessen kämpfen. So geraten sie in Konflikt mit den Arbeiterinnen und Arbeitern.

Die Anführer der Arbeiter im fortgeschrittenen Kapitalismus sind so zahlreich, dass sie eine besondere Gruppe oder Klasse mit einem besonderen Klassencharakter und besonderen Interessen bilden. Als Vertreter und Anführer der Gewerkschaften/Syndikate verkörpern sie den Charakter und die Interessen der Gewerkschaften/Syndikate. Die Gewerkschaften/Syndikate sind notwendige Elemente des Kapitalismus, also fühlen sich auch die Anführer als nützliche Staatsbürger in der kapitalistischen Gesellschaft notwendig. Die kapitalistische Funktion der Gewerkschaften/Syndikate besteht darin, Klassenkonflikte zu regeln und den Arbeitsfrieden zu sichern. Daher sehen es die Anführer der Gewerkschaften/Syndikate als ihre Pflicht an, sich für den Arbeitsfrieden einzusetzen und bei Konflikten zu vermitteln. Die Bewährungsprobe der Gewerkschaft/Syndikats liegt ganz und gar im Kapitalismus; deshalb blicken die Anführer der Gewerkschaften/Syndikate nicht über ihn hinaus. Der Selbsterhaltungstrieb, der Wille der Gewerkschaften/Syndikate, zu leben und um ihre Existenz zu kämpfen, verkörpert sich in dem Willen der Anführer, für die Existenz der Gewerkschaften/Syndikate zu kämpfen. Ihre eigene Existenz ist untrennbar mit der Existenz der Gewerkschaften/Syndikate verbunden. Das ist nicht in einem kleinlichen Sinne gemeint, dass sie nur an ihre persönlichen Arbeitsplätze denken, wenn sie für die Gewerkschaften/Syndikate kämpfen. Es bedeutet, dass primäre Lebensnotwendigkeiten und soziale Funktionen die Meinungen bestimmen. Ihr ganzes Leben konzentriert sich auf die Gewerkschaften/Syndikate, nur hier haben sie eine Aufgabe. Das notwendigste Organ der Gesellschaft, die einzige Quelle von Sicherheit und Macht sind für sie also die Gewerkschaften/Syndikate; deshalb müssen sie mit allen Mitteln erhalten und verteidigt werden, auch wenn die Realitäten der kapitalistischen Gesellschaft diese Position untergraben. Dies geschieht, wenn sich die Klassenkonflikte durch die Expansion des Kapitalismus verschärfen.

Die Konzentration des Kapitals in mächtigen Konzernen und ihre Verbindung zur Großfinanz machen die Position der kapitalistischen Arbeitgeber viel stärker als die der Arbeiterinnen und Arbeiter. Mächtige Industriemagnaten herrschen wie Monarchen über große Massen von Arbeiterinnen und Arbeitern; sie halten sie in absoluter Unterwerfung und erlauben „ihren“ Leuten nicht, in Gewerkschaften/Syndikate einzutreten. Ab und zu brechen die schwer ausgebeuteten Lohnsklaven in einem großen Streik aus. Sie hoffen, bessere Bedingungen, kürzere Arbeitszeiten, humanere Arbeitsbedingungen und das Recht auf gewerkschaftliche/syndikalistische Organisierung durchzusetzen. Gewerkschaftliche/Syndikalistische Organizer kommen ihnen zu Hilfe. Doch dann setzen die kapitalistischen Herren ihre soziale und politische Macht ein. Die Streikenden werden aus ihren Häusern vertrieben; sie werden von der Miliz oder angeheuerten Schlägern erschossen; ihre Sprecher werden ins Gefängnis gesteckt; ihre Hilfsaktionen werden per Gerichtsbeschluss verboten. Die kapitalistische Presse prangert ihre Sache als Unordnung, Mord und Revolution an; die öffentliche Meinung wird gegen sie aufgehetzt. Dann, nach monatelangem Durchhalten und heldenhaftem Leiden, erschöpft von Elend und Enttäuschung, unfähig, der eisernen kapitalistischen Struktur eine Delle zuzufügen, müssen sie aufgeben und ihre Forderungen auf günstigere Zeiten verschieben.

In den Branchen, in denen die Gewerkschaften/Syndikate als mächtige Organisationen existieren, wird ihre Position durch dieselbe Kapitalkonzentration geschwächt. Die umfangreichen Mittel, die sie zur Streikunterstützung gesammelt hatten, sind im Vergleich zur Geldmacht ihrer Gegner unbedeutend. Ein paar Aussperrungen (A.d.Ü., lock-outs) können sie völlig aufzehren. Egal, wie sehr der kapitalistische Arbeitgeber die Arbeiterinnen und Arbeiter durch Lohnkürzungen und Arbeitszeitverlängerungen unter Druck setzt, die Gewerkschaft/Syndikat kann keinen Kampf führen. Wenn Verträge erneuert werden müssen, fühlt sich die Gewerkschaft/Syndikat als die schwächere Partei. Sie muss die schlechten Bedingungen akzeptieren, die die Kapitalisten anbieten; da nützt kein Verhandlungsgeschick. Aber jetzt beginnt der Ärger mit den einfachen Mitgliedern. Sie wollen kämpfen; sie werden sich nicht unterwerfen, bevor sie gekämpft haben, und sie haben nicht viel zu verlieren, wenn sie kämpfen. Die Anführer hingegen haben viel zu verlieren – die Finanzkraft der Gewerkschaft/Syndikats, vielleicht sogar ihre Existenz. Sie versuchen, den Kampf zu vermeiden, den sie für aussichtslos halten. Sie müssen sie davon überzeugen, dass es besser ist, sich zu einigen. Letztendlich müssen sie also als Sprecher der Arbeitgeber auftreten, um den Arbeiterinnen und Arbeitern die Bedingungen der Kapitalisten aufzuzwingen. Noch schlimmer ist es, wenn die Arbeiterinnen und Arbeiter darauf bestehen, gegen die Entscheidung der Gewerkschaften/Syndikate zu kämpfen. Dann muss die Macht der Gewerkschaft/Syndikats als Waffe eingesetzt werden, um die Arbeiterinnen und Arbeiter zu unterdrücken.

So ist der Anführer der Gewerkschaften/Syndikate zum Sklaven seiner kapitalistischen Aufgabe geworden, den Arbeitsfrieden zu sichern – nun auf Kosten der Arbeiterinnen und Arbeiter, obwohl er ihnen doch so gut wie möglich dienen wollte. Er kann nicht über den Kapitalismus hinausblicken, und innerhalb des Horizonts des Kapitalismus mit einer kapitalistischen Sichtweise hat er Recht, wenn er meint, dass Kämpfen nichts bringt. Ihn zu kritisieren kann nur bedeuten, dass das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus hier an der Grenze seiner Macht steht.

Gibt es denn einen anderen Ausweg? Können die Arbeiterinnen und Arbeiter durch Kämpfe etwas gewinnen? Wahrscheinlich werden sie das unmittelbare Thema des Kampfes verlieren; aber sie werden etwas anderes gewinnen. Indem sie sich nicht unterwerfen, ohne gekämpft zu haben, wecken sie den Geist der Revolte gegen den Kapitalismus. Sie proklamieren ein neues Thema. Aber hier muss die gesamte Arbeiterklasse mitmachen. Der ganzen Klasse, allen Arbeiterinnen und Arbeitern, müssen sie zeigen, dass es im Kapitalismus keine Zukunft für sie gibt und dass sie nur gewinnen können, wenn sie kämpfen, nicht als eine Gewerkschaft/Syndikat, sondern als eine vereinte Klasse. Das bedeutet den Beginn eines revolutionären Kampfes. Und wenn die anderen Arbeiterinnen und Arbeiter diese Lektion verstehen, wenn in anderen Branchen zeitgleiche Streiks ausbrechen, wenn eine Welle der Rebellion über das Land schwappt, dann werden in den arroganten Herzen der Kapitalisten vielleicht Zweifel an ihrer Allmacht und eine gewisse Bereitschaft zu Zugeständnissen aufkommen.

Der Anführer der Gewerkschaften/Syndikate versteht diese Sichtweise nicht, denn die Gewerkschaften/Syndikate können nicht über den Kapitalismus hinausgehen. Er lehnt diese Art des Kampfes ab. Den Kapitalismus auf diese Weise zu bekämpfen, bedeutet gleichzeitig eine Rebellion gegen die Gewerkschaften/Syndikate. Der Anführer der Gewerkschaften/Syndikate steht an der Seite des Kapitalisten, weil sie gemeinsam die Rebellion der Arbeiterinnen und Arbeiter fürchten.

Als die Gewerkschaften/Syndikate gegen die Kapitalistenklasse für bessere Arbeitsbedingungen kämpften, hasste die Kapitalistenklasse sie, aber sie hatte nicht die Macht, sie vollständig zu zerstören. Wenn die Gewerkschaften/Syndikate versuchen würden, alle Kräfte der Arbeiterklasse in ihrem Kampf zu mobilisieren, würde die Kapitalistenklasse sie mit allen Mitteln verfolgen. Sie könnten erleben, dass ihre Aktionen als Rebellion unterdrückt werden, ihre Büros von der Miliz zerstört werden, ihre Anführer ins Gefängnis geworfen und mit Geldstrafen belegt werden und ihre Gelder beschlagnahmt werden. Wenn sie andererseits ihre Mitglieder vom Kampf abhalten, kann die Kapitalistenklasse sie als wertvolle Institutionen betrachten, die erhalten und geschützt werden müssen, und ihre Anführer als verdienstvolle Staatsbürger. Die Gewerkschaften/Syndikate befinden sich also zwischen dem Teufel und dem tiefen blauen Meer: auf der einen Seite die Verfolgung, die für Menschen, die eigentlich friedliche Staatsbürger sein wollten, schwer zu ertragen ist; auf der anderen Seite die Rebellion der Mitglieder, die die Gewerkschaften/Syndikate untergraben kann. Die Kapitalistenklasse wird, wenn sie klug ist, erkennen, dass ein bisschen Scheingefechte erlaubt sein müssen, um den Einfluss der Anführer der Gewerkschaften/Syndikaten auf die Mitglieder zu wahren.

Die Konflikte, die hier entstehen, sind niemandes Schuld; sie sind eine unvermeidliche Folge der kapitalistischen Entwicklung. Der Kapitalismus existiert, aber er ist gleichzeitig auf dem Weg in den Ruin. Er muss als etwas Lebendiges und gleichzeitig als etwas Vergängliches bekämpft werden. Die Arbeiterinnen und Arbeiter müssen einen ständigen Kampf um Löhne und Arbeitsbedingungen führen, während gleichzeitig kommunistische Ideen, mehr oder weniger deutlich und bewusst, in ihren Köpfen erwachen. Sie klammern sich an die Gewerkschaften/Syndikate, weil sie glauben, dass diese immer noch notwendig sind, und versuchen ab und zu, sie in bessere Kampfinstitutionen zu verwandeln. Aber der Geist des Gewerkschaftswesens/Syndikalismus, der in seiner reinen Form ein kapitalistischer Geist ist, steckt nicht in den Arbeiterinnen und Arbeitern. Die Divergenz zwischen diesen beiden Tendenzen im Kapitalismus und im Klassenkampf zeigt sich jetzt als Riss zwischen dem Geist der Gewerkschaften/Syndikate, der hauptsächlich von ihren Anführern verkörpert wird, und dem wachsenden revolutionären Gefühl der Mitglieder. Diese Kluft zeigt sich in den entgegengesetzten Positionen, die sie in verschiedenen wichtigen sozialen und politischen Fragen vertreten.

Die Gewerkschaften/Syndikate sind an den Kapitalismus gebunden; sie haben die besten Chancen, gute Löhne zu erzielen, wenn der Kapitalismus floriert. In Zeiten der Depression muss sie also hoffen, dass der Wohlstand wiederhergestellt wird, und sie muss versuchen, ihn zu fördern. Für die Arbeiterinnen und Arbeiter als Klasse ist der Wohlstand des Kapitalismus überhaupt nicht wichtig. Wenn dieser durch Krisen oder Depressionen geschwächt ist, haben sie die beste Chance, ihn anzugreifen, die Kräfte der Revolution zu stärken und die ersten Schritte in Richtung Freiheit zu unternehmen.

Der Kapitalismus dehnt seine Herrschaft über fremde Kontinente aus und reißt deren Naturschätze an sich, um große Profite zu machen. Er erobert Kolonien, unterjocht die primitive Bevölkerung und beutet sie aus, oft mit schrecklichen Grausamkeiten. Die Arbeiterklasse prangert die koloniale Ausbeutung an und wehrt sich dagegen, aber die Gewerkschaften/Syndikate unterstützen oft die Kolonialpolitik als Weg zum kapitalistischen Wohlstand.

Mit der enormen Zunahme des Kapitals in der heutigen Zeit werden Kolonien und fremde Länder als Orte genutzt, an denen große Kapitalsummen investiert werden können. Sie werden als Absatzmärkte für die Großindustrie und als Rohstoffproduzenten zu wertvollen Besitztümern. Zwischen den großen kapitalistischen Staaten entsteht ein Wettlauf um die Kolonien und ein erbitterter Interessenkonflikt um die Aufteilung der Welt. In dieser Politik des Imperialismus werden die Mittelklassen in einer gemeinsamen Verherrlichung nationaler Größe mitgerissen. Dann stellen sich die Gewerkschaften/Syndikate auf die Seite der Herrenklasse, weil sie den Wohlstand ihres eigenen nationalen Kapitalismus als abhängig von seinem Erfolg im imperialistischen Kampf betrachten. Für die Arbeiterklasse bedeutet der Imperialismus zunehmende Macht und Brutalität ihrer Ausbeuter.

Diese Interessenkonflikte zwischen den nationalen Kapitalismen explodieren in Kriegen. Der Weltkrieg ist die Krönung der Politik des Imperialismus. Für die Arbeiterinnen und Arbeiter bedeutet der Krieg nicht nur die Zerstörung all ihrer Gefühle von internationaler Brüderlichkeit, sondern auch die brutalste Ausbeutung ihrer Klasse für den kapitalistischen Profit. Die Arbeiterklasse, als die zahlreichste und am meisten unterdrückte Klasse der Gesellschaft, muss alle Schrecken des Krieges ertragen. Die Arbeiterinnen und Arbeiter müssen nicht nur ihre Arbeitskraft, sondern auch ihre Gesundheit und ihr Leben hergeben.

Die Gewerkschaften/Syndikate müssen im Krieg jedoch auf der Seite des Kapitalisten stehen. Ihre Interessen sind mit dem nationalen Kapitalismus verknüpft, dessen Sieg sie von ganzem Herzen wünschen müssen. Daher trägt sie dazu bei, starke nationale Gefühle und nationalen Hass zu wecken. Sie hilft der Kapitalistenklasse, die Arbeiterinnen und Arbeiter in den Krieg zu treiben und jeden Widerstand niederzuschlagen.

Die Gewerkschaften/Syndikate verabscheuen den Kommunismus. Der Kommunismus entzieht ihr die Grundlage ihrer Existenz. Im Kommunismus, wo es keine kapitalistischen Arbeitgeber gibt, ist kein Platz für die Gewerkschafts/Syndikats- und Arbeiterführer. Es stimmt, dass in Ländern mit einer starken sozialistischen Bewegung, in denen die Mehrheit der Arbeiterinnen und Arbeiter Sozialistinnen und Sozialisten sind, auch die Anführer der Gewerkschaften/Syndikate Sozialisten sein müssen, sowohl von ihrer Herkunft als auch von ihrem Umfeld her. Aber dann sind sie rechte Sozialisten; und ihr Sozialismus beschränkt sich auf die Idee eines Gemeinwohls, in dem statt gieriger Kapitalisten ehrliche Anführer der Arbeiter die industrielle Produktion leiten werden. Die Gewerkschaften/Syndikate hassen die Revolution. Die Revolution bringt alle gewöhnlichen Beziehungen zwischen Kapitalisten und Arbeiterinnen und Arbeitern durcheinander. In ihren gewaltsamen Zusammenstößen werden alle sorgfältigen tariflichen Regelungen hinweggefegt; im Kampf ihrer gigantischen Kräfte verliert das bescheidene Geschick der verhandelnden Arbeiterführer seinen Wert. Mit all ihrer Macht stellt sich das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus gegen die Ideen der Revolution und des Kommunismus.

Dieser Widerstand ist nicht ohne Bedeutung. Das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus ist eine Macht für sich. Sie verfügt über beträchtliche Mittel als materielles Element der Macht. Sie hat ihren geistigen Einfluss, den sie durch ihre Zeitschriften aufrechterhält und verbreitet, als geistiges Element der Macht. Sie ist eine Macht in den Händen der Anführer, die sie überall dort einsetzen, wo die besonderen Interessen der Gewerkschaften/Syndikate mit den revolutionären Interessen der Arbeiterklasse in Konflikt geraten. Obwohl die Gewerkschaften/Syndikate von den Arbeiterinnen und Arbeitern aufgebaut wurden und aus Arbeiterinnen und Arbeitern bestehen, sind sie zu einer Macht geworden, die über den Arbeiterinnen und Arbeitern steht, so wie die Regierung eine Macht ist, die über dem Volk steht.

Die Formen des Gewerkschaftswesens/Syndikalismus sind in den verschiedenen Ländern unterschiedlich, was auf die verschiedenen Entwicklungsformen des Kapitalismus zurückzuführen ist. Sie sind auch nicht immer in jedem Land gleich. Wenn sie langsam auszusterben scheinen, gelingt es dem Kampfgeist der Arbeiterinnen und Arbeiter manchmal, sie zu verändern oder neue Formen des Gewerkschaftswesens/Syndikalismus zu schaffen. So entstand in England in den Jahren 1880-90 aus den Massen der armen Hafenarbeiter und der anderen schlecht bezahlten, ungelernten Arbeiterinnen und Arbeiter das „neue Gewerkschaftswesen/Syndikalismus“, das den alten Handwerksgewerkschaften (A.d.Ü., sowas wie Zünfte) einen neuen Geist einhauchte. Es ist eine Folge der kapitalistischen Entwicklung, dass sie bei der Gründung neuer Industrien und der Ersetzung von Facharbeitern durch Maschinenkraft große Mengen ungelernter Arbeiterinnen und Arbeiter anhäuft, die unter den schlechtesten Bedingungen leben. Sie werden schließlich zu einer Welle der Rebellion, zu großen Streiks gezwungen und finden so den Weg zu Einheit und Klassenbewusstsein. Sie formen das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus in eine neue Form, die an einen höher entwickelten Kapitalismus angepasst ist. Wenn der Kapitalismus danach zu noch mächtigeren Formen heranwächst, kann dieses neue Gewerkschaftswesen/Syndikalismus natürlich nicht dem Schicksal aller Gewerkschaften/Syndikate entgehen, und dann produziert es die gleichen inneren Widersprüche.

Die bemerkenswerteste Form entstand in Amerika, in den „Industrial Workers of the World“. Die i.w.w. entstand aus zwei Formen der kapitalistischen Expansion. In den riesigen Wäldern und Ebenen des Westens erntete der Kapitalismus die natürlichen Reichtümer mit den Methoden des Wilden Westens, der wilden und brutalen Ausbeutung, und die Arbeiterinnen und Arbeiter wehrten sich ebenso wild und eifersüchtig dagegen. Und in den östlichen Staaten wurden neue Industrien gegründet, die auf der Ausbeutung von Millionen armer Einwanderer beruhten, die aus Ländern mit niedrigem Lebensstandard stammten und nun in Ausbeuterbetrieben oder unter anderen miserablen Arbeitsbedingungen arbeiten mussten.

Gegen den engstirnigen, handwerklichen Geist des alten Gewerkschaftswesens/Syndikalismus, der A.F. of L (A.d.Ü., American Federation of Labor)., der die Arbeiterinnen und Arbeiter eines Industriebetriebs in eine Reihe von getrennten Gewerkschaften/Syndikate aufspaltete, stellte die i.w.w. den Grundsatz: Alle Arbeiterinnen und Arbeiter einer Fabrik müssen als Gefährte und Gefährtinnen gegen den einen Meister eine Gewerkschaft/Syndikat bilden, um als starke Einheit gegen den Arbeitgeber zu agieren. Gegen die Vielzahl der oft eifersüchtigen und zänkischen Gewerkschaften/Syndikate stellte der i.w.w. die Parole auf: eine große Gewerkschaft/Syndikat für alle Arbeiterinnen und Arbeiter (A.d.Ü., One big union for all the workers). Der Kampf der einen Gruppe ist die Sache aller. Die Solidarität erstreckt sich auf die gesamte Klasse. Entgegen der hochmütigen Verachtung der gut bezahlten alten amerikanischen Facharbeiter gegenüber den unorganisierten Einwanderern, waren es diese am schlechtesten bezahlten Proletarier, die der i.w.w. in den Kampf führte. Sie waren zu arm, um hohe Beiträge zu zahlen und gewöhnliche Gewerkschaften/Syndikate zu gründen. Aber als sie ausbrachen und sich in großen Streiks auflehnten, war es der i.w.w., der ihnen beibrachte, wie man kämpft, der im ganzen Land Unterstützungsgelder sammelte und der ihre Sache in seinen Zeitungen und vor Gericht verteidigte. Durch eine glorreiche Reihe von großen Schlachten brachte sie den Geist der Organisation und des Selbstvertrauens in die Herzen dieser Massen. Im Gegensatz zum Vertrauen in die großen Kassen der alten Gewerkschaften/Syndikate setzten die Industriearbeiterinnen und -arbeiter auf die lebendige Solidarität und die Kraft des Durchhaltens, getragen von einer brennenden Begeisterung. Anstelle der schweren, gemauerten Gebäude der alten Gewerkschaften/Syndikate vertraten sie das Prinzip des flexiblen Aufbaus, mit einer schwankenden Mitgliederzahl, die in Friedenszeiten schrumpft und im Kampf selbst anschwillt und wächst. Im Gegensatz zum konservativen kapitalistischen Geist der Gewerkschaften/Syndikate waren die Industriearbeiterinnen und -arbeiter antikapitalistisch und standen für die Revolution. Deshalb wurden sie von der gesamten kapitalistischen Welt mit großem Hass verfolgt. Sie wurden ins Gefängnis geworfen und aufgrund falscher Anschuldigungen gefoltert; für sie wurde sogar ein neues Verbrechen erfunden: das des „kriminellen Syndikalismus“.

Industrieller Syndikalismus/Gewerkschaftswesen allein ist als Methode zum Kampf gegen die Kapitalistenklasse nicht ausreichend, um die kapitalistische Gesellschaft zu stürzen und die Welt für die Arbeiterklasse zu erobern. Sie bekämpft die Kapitalisten als Arbeitgeber auf dem ökonomischen Feld der Produktion, aber sie hat nicht die Mittel, um ihre politische Hochburg, die Staatsmacht, zu stürzen. Trotzdem ist der I.W.W. bisher die revolutionärste Organisation in Amerika gewesen. Mehr als jede andere hat sie dazu beigetragen, Klassenbewusstsein und Einsicht, Solidarität und Einheit in der Arbeiterklasse zu wecken, ihren Blick auf den Kommunismus zu richten und ihre Kampfkraft vorzubereiten.

Die Lehre aus all diesen Kämpfen ist, dass das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus gegen den Großkapitalismus nicht gewinnen kann. Und wenn es doch einmal gewinnt, dann sind diese Siege nur eine vorübergehende Erleichterung. Und doch sind diese Kämpfe notwendig und müssen geführt werden. Bis zum bitteren Ende? – Nein, bis zum besseren Ende.

Der Grund dafür ist offensichtlich. Eine isolierte Gruppe von Arbeiterinnen und Arbeitern mag einem Kampf gegen einen isolierten kapitalistischen Arbeitgeber gewachsen sein. Aber eine isolierte Gruppe von Arbeiterinnen und Arbeitern ist gegen einen Arbeitgeber, hinter dem die gesamte Kapitalistenklasse steht, machtlos. Und das ist hier der Fall: Die Staatsmacht, die Geldmacht des Kapitalismus, die öffentliche Meinung der Mittelklasse, angestachelt durch die kapitalistische Presse, greifen die Gruppe der kämpfenden Arbeiterinnen und Arbeiter an. Aber steht die Arbeiterklasse hinter den Streikenden? Die Millionen anderer Arbeiterinnen und Arbeiter betrachten diesen Kampf nicht als ihre eigene Sache. Sicherlich sympathisieren sie und sammeln oft Geld für die Streikenden, was eine gewisse Erleichterung bringen kann, sofern die Verteilung nicht durch eine richterliche Verfügung untersagt wird. Aber diese nachsichtige Sympathie überlässt den wirklichen Kampf der streikenden Gruppe allein. Die Millionen stehen abseits, passiv. So kann der Kampf nicht gewonnen werden (außer in einigen besonderen Fällen, wenn die Kapitalisten es aus geschäftlichen Gründen vorziehen, Zugeständnisse zu machen), weil die Arbeiterklasse nicht als eine ungeteilte Einheit kämpft.

Anders sieht es natürlich aus, wenn die Masse der Arbeiterinnen und Arbeiter einen solchen Kampf als etwas ansieht, das sie direkt betrifft; wenn sie merken, dass ihre eigene Zukunft auf dem Spiel steht. Wenn sie selbst in den Kampf ziehen und den Streik auf andere Fabriken, auf immer mehr Industriezweige ausweiten, dann muss die staatliche Macht, die kapitalistische Macht, geteilt werden und kann nicht vollständig gegen die einzelne Gruppe von Arbeiterinnen und Arbeitern eingesetzt werden. Sie muss sich der kollektiven Macht der Arbeiterklasse stellen.

Die Ausweitung des Streiks auf immer breitere Kreise bis hin zum Generalstreik ist oft als Mittel zur Abwendung der Niederlage empfohlen worden. Aber das ist natürlich kein wirklich zweckmäßiges Muster, auf das man zufällig stößt und das den Sieg garantiert. Wäre das der Fall, hätten die Gewerkschaften/Syndikate es sicherlich schon mehrfach als reguläre Taktik eingesetzt. Es kann nicht von den Anführern der Gewerkschaften/Syndikate nach Belieben als einfache taktische Maßnahme verkündet werden. Sie muss den tiefsten Gefühlen der Massen entspringen, als Ausdruck ihrer spontanen Initiative, und diese wird erst dann geweckt, wenn das Thema des Kampfes größer ist oder wird als ein einfacher Lohnkampf einer Gruppe. Nur dann werden die Arbeiterinnen und Arbeiter ihre ganze Kraft, ihren Enthusiasmus, ihre Solidarität und ihr Durchhaltevermögen in den Kampf einbringen.

Und all diese Kräfte werden sie brauchen. Denn auch der Kapitalismus wird stärkere Kräfte als bisher ins Feld führen. Vielleicht wurde er durch die unerwartete Demonstration proletarischer Kraft besiegt und überrumpelt und hat deshalb Zugeständnisse gemacht. Aber danach wird er neue Kräfte aus den tiefsten Wurzeln seiner Macht schöpfen und seine Position zurückerobern. Der Sieg der Arbeiterinnen und Arbeiter ist also weder dauerhaft noch sicher. Es gibt keinen klaren und offenen Weg zum Sieg; der Weg selbst muss unter immensen Anstrengungen durch den kapitalistischen Dschungel gehauen und gebaut werden.

Aber auch so wird er einen großen Fortschritt bedeuten. Eine Welle der Solidarität ist durch die Massen gegangen, sie haben die immense Kraft der Klasseneinheit gespürt, ihr Selbstvertrauen ist gestiegen, sie haben den bornierten Gruppenegoismus abgeschüttelt. Durch ihre eigenen Taten haben sie eine neue Weisheit erlangt: was Kapitalismus bedeutet und wie sie als Klasse gegen die Kapitalistenklasse stehen. Sie haben einen Blick auf ihren Weg in die Freiheit erhascht.

So weitet sich das enge Feld des gewerkschaftlichen/syndikalistischen Kampfes zum weiten Feld des Klassenkampfes. Aber jetzt müssen sich die Arbeiterinnen und Arbeiter selbst ändern. Sie müssen einen breiteren Blick auf die Welt werfen. Von ihrem Beruf, ihrer Arbeit innerhalb der Fabrikmauern, muss sich ihr Blick auf die Gesellschaft als Ganzes weiten. Ihr Geist muss sich über die unbedeutenden Dinge um sie herum erheben. Sie müssen sich mit dem Staat auseinandersetzen; sie betreten das Reich der Politik. Die Probleme der Revolution müssen angegangen werden.

J.H.


Anhang

Jenseits von Operaismus und Syndikalismus. Das Ende des Syndikalismus entspricht dem Ende des Operaismus

Für uns ist es auch das Ende der quantitativen Illusion der Partei und der spezifischen Syntheseorganisation. Die Revolte von morgen wird neue Wege gehen.

Die Gewerkschaft/Syndikat befindet sich auf dem Weg zu ihrem traurigen Untergang.

Auf Gedeih und Verderb geht mit dieser strukturellen Form des Kampfes eine Epoche, ein Modell und eine zukünftige Welt zu Ende, die als (verbesserte und korrigierte) Reproduktion der gegenwärtigen Welt gesehen wird.

Wir bewegen uns auf neue und tiefgreifende Umwälzungen zu. In der Produktionsstruktur, in der Sozialstruktur.

Auch die Methoden des Kampfes, die Aussichten und die mittelfristigen Pläne selbst werden verändert.

Die sich ausbreitende Industriegesellschaft eignete sich gut für das Instrument der Gewerkschaften/Syndikate, die von einem Kampfinstrument bald zu einem Instrument der Unterstützung der Produktionsstruktur selbst wurden.

Auch der revolutionäre Syndikalismus spielte eine Rolle: Er trieb die kämpferischsten Komponenten der Arbeiterbewegung voran, drängte sie aber gleichzeitig als Fähigkeit zurück, über die Gesellschaft der Zukunft, die kreativen Bedürfnisse der Revolution nachzudenken. Alles blieb in der Dimension der Fabrik verpackt.

Der Operaimsus war nicht nur ein Gemeinplatz des autoritären Kommunismus. Privilegierte Orte der Klassenkonfrontation zu lokalisieren, ist immer noch eine der tief verwurzelten Gewohnheiten, die sich nicht ändern lassen.

Das Ende des Gewerkschaftswesens/Syndikalismus also. Wir führen dieses Gespräch nun schon seit mehr als fünfzehn Jahren [1975-1986].

Früher ernteten wir Kritik und Erstaunen, vor allem, wenn wir den Anarchosyndikalismus in einen Topf mit derselben negativen Bewertung warfen. Heute werden wir leichter akzeptiert. Denn wer ist nicht kritisch gegenüber dem Gewerkschaftswesen/Syndikalismus? Jeder, oder fast jeder. Nur vergessen wir die Zusammenhänge. Unsere Kritik an dem Gewerkschaftswesen/Syndikalismus war auch eine Kritik an der „quantitativen“ Methode, die alle Merkmale der Partei in „nuce“ aufweist; sie war auch eine Kritik an den spezifischen Syntheseorganisationen (z.B. – in gewisser Hinsicht – an der F.A.I. von heute und gestern); sie war auch eine Kritik an der Respektabilität der Klasse (A.d.Ü., eigentliche Spießbürgertum der Klasse), die von der Bourgeoisie übernommen und durch die Gemeinplätze der so genannten proletarischen Moral auf uns übertragen wurde. All das kann nicht beiseite gelassen werden.

Auch wenn es heute viele Gefährtinnen und Gefährten gibt, die mit uns in unserer mittlerweile traditionellen Kritik am Gewerkschaftswesen/Syndikalismus übereinstimmen, gibt es immer noch wenige, die alle Konsequenzen teilen, die sich aus dieser Kritik ergeben.

In der Welt der Produktion können wir nur mit Instrumenten intervenieren, die sich nicht in die quantitative Perspektive einordnen und daher nicht behaupten können, dass hinter ihnen spezifische anarchistische Organisationen stehen, die an der Hypothese der revolutionären Synthese arbeiten.

Dies erfordert eine andere Methode der Intervention, eine, die „Kerne“ in den Fabriken oder in den Zonen aufbaut und sich darauf beschränkt, den Kontakt zu einer spezifischen Struktur zu halten, die ausschließlich auf Affinität beruht. Aus der Beziehung zwischen der spezifischen Struktur und den Basiskernen entsteht ein neues Modell des revolutionären Kampfes, das darauf abzielt, die Strukturen des Kapitals und des Staates mit einer aufständischen Methodik anzugreifen.

Dieser Ansatz ermöglicht es, die tiefgreifenden Veränderungen in der Produktionsstruktur besser zu verfolgen. Die Fabrik wird bald verschwinden, an ihre Stelle werden neue

Produktionsorganisationen treten, die hauptsächlich auf Automatisierung basieren. Die Arbeitenden von gestern werden (teilweise) in eine Unterstützungsrealität (Dienstleistungen) oder einfach in eine kurzfristige Wohlfahrtssituation und langfristig in ein einfaches Überleben integriert werden. Neue Formen der Arbeit zeichnen sich am Horizont ab. Die klassische Arbeiterfront gibt es schon jetzt nicht mehr. Die Gewerkschaft /Syndikat natürlich auch nicht. Zumindest existiert sie nicht mehr in den Formen, in denen wir sie bisher kannten. Sie wird zu einer Art Holdinggesellschaft, die einen gesellschaftlichen Konsens herstellt. Ein Unternehmen wie jedes andere.

Ein Netzwerk von sich ständig verändernden Beziehungen, die alle unter dem Banner von Partizipation, Pluralismus, Demokratie, Versammlungsrecht usw. stehen, wird sich über die Gesellschaft ausbreiten und (fast) alle Kräfte der Subversion zügeln. Die extremen Aspekte des revolutionären Projekts werden systematisch kriminalisiert. Aber die Revolte wird neue Wege einschlagen, durch tausend neue unterirdische Kanäle eindringen und in hunderttausend plötzlichen Ausbrüchen blinder Wut, scheinbar zweckloser Zerstörung und einer neuen, unverständlichen Symbolik zum Vorschein kommen.

Wir müssen aufpassen, dass wir, die wir oft schmerzhafte und schwere Hypotheken aus der Vergangenheit mit uns herumtragen, nicht von einem Phänomen abgeschnitten werden, das wir am Ende nicht verstehen und dessen Gewalt uns an einem schlechten Tag sogar Angst machen könnte. Und wir müssen zuerst darauf achten, dass wir unsere kritische Analyse ohne Vorspiegelung falscher Tatsachen voll entfalten.

Alfredo M. Bonanno

[Veröffentlicht in „Anarchismo“ Nr. 52, Mai 1986, S. 3].

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„Partei und Arbeiterklasse“ von Anton Pannekoek und ein Kommentar von Paul Mattick dazu https://panopticon.blackblogs.org/2023/09/28/partei-und-arbeiterklasse-von-anton-pannekoek-und-ein-kommentar-von-paul-mattick-dazu/ Thu, 28 Sep 2023 08:27:15 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5207 Continue reading ]]>

Wir haben diese beide Texte ausgegraben und übersetzt, was der Fall beim Text von Paul Mattick ist, weil sie sich beide der Kritik der Parteien, auch der leninistischen Avantgardevorstellung der Partei, widmen. Dies sollte nicht nur für alle Anarchistinnen und Anarchisten interessant sein, sondern kann qualitativ in der Debatte zur Formalität vs. Informalität eingefügt werden. Denn die Kritik an Parteien-Avantgarden, Gewerkschaften/Syndikate und dergleichen wird rasch auf den entweder autoritären und/oder reformistischen Charakter beider zum Ausdruck gebracht. Nicht dass diese Kritiken falsch wären, liegt jedoch das Problem eher darin dass diese Kritik nicht den Umfang trägt denn die Kritik an sich inne haben müsste. Parteien-Avantgarden und/oder Gewerkschaften/Syndikate könnten durchaus „in der Lage sein“ dennoch die soziale Revolution vorantreiben, dass tun sie aber nicht und die Kritik von Mattick wie auch von Pannekoek unterstreicht dies auf einer materiellen und nicht idealistischen Art und Weise. Daher sehen wir diese Texte als eine Bereicherung für alle Anarchistinnen und Anarchisten die der aufständischen Praxis eine Absage gemacht haben.


(März 1936 Anton Pannekoek) Partei und Arbeiterklasse

Aus: Rätekorrespondenz, Heft 15, März 1936.

Wir sehen erst die allerersten Anfänge einer neuen Arbeiterbewegung emporkommen; die alte Bewegung ist verkörpert in Parteien; der Glaube an die Partei ist das schwerste Hemmnis, das die Arbeiterklasse jetzt machtlos macht. Daher vermeiden wir es, eine neue Partei zu bilden; nicht, weil wir zu wenig sind – jede Partei mußte klein anfangen – sondern weil eine Partei jetzt eine Organisation bedeutet, die die Arbeiterklasse führen und beherrschen will. Demgegenüber stellen wir das Prinzip: die Arbeiterklasse wird nur emporkommen und siegen können, wenn sie selbst ihre Geschicke in die Hand nimmt. Die Arbeiter sollen nicht gläubig die Losungen eines Anderen, einer Gruppe übernehmen, auch nicht die unsrigen, sondern selbst denken, selbst handeln, selbst entschließen. Daher betrachten wir als ihr natürliches Organ zur Aufklärung in dieser Zeit des Übergangs die Arbeitsgruppen, die sich selbst bildenden, ihren Weg selbst suchenden Studien- und Diskussionsorganisationen.

Diese Anschauung steht im schärfsten Widerspruch zu den überlieferten Auffassungen über die Rolle der Partei als wichtigstes Organ zur Aufklärung des Proletariats. Daher stößt sie in vielen Kreisen, die von der sozialistischen oder kommunistischen Partei nichts mehr wissen wollen, auf Widerstand und Ablehnung. Teilweise ist das die Macht der Tradition; wenn man immer den Arbeiterkampf als Parteikampf und Kampf der Parteien betrachtet hat, ist es sehr schwer, die Welt vom Gesichtspunkt der Klasse allein und des Klassenkampfes zu sehen. Aber teilweise steckt darin auch das Bewußtsein, daß trotz alledem die Partei eine wesentliche und wichtige Rolle in dem Befreiungskampf des Proletariats zu spielen hat. Diese wollen wir jetzt näher betrachten.

Der Unterschied, um den es sich hier handelt, läßt sich kurz dahin zusammenfassen: eine Partei ist eine Gruppierung nach Anschauungen, eine Klasse ist eine Gruppierung nach Interessen. Die Klassenangehörigkeit wird bestimmt durch die Rolle im Produktionsprozeß, die bestimmte Interessen mit sich bringt. Die Parteiangehörigkeit beruht auf dem Zusammenschluß von Personen, die die gleichen Ansichten über die wichtigen gesellschaftlichen Fragen hegen.

Früher hat man geglaubt, aus theoretischen und praktischen Gründen, daß dieser Gegensatz verschwinden werde in der Klassenpartei, der „ArbeiterPartei“. Während des Emporkommens der Sozial-Demokratie schien es, als ob diese Partei allmählich die ganze Arbeiterklasse umfassen sollte, teils als Mitglieder, teils als Mitläufer. Und weil die Theorie besagte, daß gleiche Interessen notwendig gleiche Ansichten und gleiche Ziele bewirken müssen, müßte der Unterschied zwischen Klasse und Partei stets mehr verschwinden. Die geschichtliche Entwicklung hat dann ganz andere Dinge gezeigt. Die Sozialdemokratie blieb eine Minderheit, andere Arbeitergruppen organisierten sich gegen sie, Teile spalteten sich ab, ihr eigener Charakter änderte sich, ihre Programmpunkte wurden revidiert oder bekamen eine andere Bedeutung. Die Entwicklung der Gesellschaft vollzieht sich nicht nach einer glatten Linie, sondern in Kämpfen und Gegensätzen. Mit dem Wachstum des Arbeiterkampfes wächst auch die Macht des Gegners und wirft immer wieder neue Unsicherheit und Zweifel in die Herzen der Kämpfer, welchen Weg sie zu wählen haben. Und jeder Zweifel bewirkt Spaltungen, innere Gegensätze und Richtungskämpfe innerhalb der Arbeiterbewegung.

Man soll diese Spaltungen und Richtungskämpfe nicht einfach bejammern als etwas Schädliches, das nicht sein sollte und die Arbeiter machtlos hält. Es ist schon oft in diesen Schriften gesagt worden: die Arbeiterklasse ist nicht schwach weil sie innerlich gespalten ist, sondern sie ist innerlich gespalten weil sie schwach ist. Weil die Macht des Gegners gewaltig ist und die alten Mittel gegen ihn sich unfähig zeigten, deshalb muß die Arbeiterklasse sich ihre neuen Wege suchen. Was sie zu tun hat, kann nicht als eine Erleuchtung von oben kommen; sie muß es sich in schwerer Arbeit, in Denkarbeit, im Zwiespalt entgegengesetzter Meinungen, im harten Meinungskampf erringen. Selbst muß sie den Weg suchen, und dazu dient der innere Kampf. Sie muß alte Gedanken und Illusionen aufgeben und neue Wege finden; und weil das jetzt gerade so schwer ist, deshalb ist die Spaltung so groß.

Man soll auch nicht die Illusion haben, daß diese scharfen Partei- und Meinungskämpfe nur für diese Übergangszeit natürlich sind und nachher in einer großen Einheit verschwinden werden. Gewiß, in der Entwicklung des Klassenkampfes kommen Zeiten vor, daß auf einmal alle Kräfte sich auf einen großen erreichbaren Erfolg konzentrieren, und die Revolution von einer mächtigen Einheit getragen wird. Aber dann, wie nach jedem Sieg, kommen sofort die Differenzen über die weiteren Ziele. Auch wenn die Arbeiterklasse siegreich ist, steht sie immer wieder vor den schwierigsten Aufgaben, die Gegner weiter niederzuwerfen, die Produktion aufzubauen, neue Ordnung zu schaffen. Es ist unmöglich, daß dabei alle Arbeiter, alle Schichten und Gruppen mit ihren oft noch verschiedenen Interessen dabei ganz dasselbe denken und fühlen, und sofort von selbst einmütig sind in dem weiteren Handeln. Gerade weil sie Menschen sind, die es selbst machen müssen, die selbst ihren Weg finden müssen, werden die schärfsten Meinungsverschiedenheiten auftreten, die sich gegenseitig bekämpfen, und dadurch erst die Gedanken zu Klarheit bringen können.

Wenn dabei nun die Personen mit gleichen Grundanschauungen sich zusammentun, zur Besprechung der praktischen Möglichkeiten, zur Klärung durch Diskussionen, zur Propaganda ihrer Ansichten, dann kann man solche Gruppen auch Parteien nennen. Der Name ist gleichgültig; das Wesentliche ist, daß in der Sache diese Parteien eine ganz andere Rolle haben als was die Parteien von heute für sich beanspruchen. Die Tat, das Handeln, der materielle Kampf ist die Sache der Arbeitermassen selbst, in ihrer Gesamtheit, in ihrer natürlichen Gruppierung als Fabrikbelegschaften, weil diese die Einheiten im praktischen Kampfe sind, oder in anderen natürlichen Gruppen. Es wäre widersinnig, wenn die Anhänger einer Parteimeinung in einen Streik treten und die Anhänger einer anderen Richtung weiter arbeiten sollten. Aber beide Richtungen werden durch ihre Anhänger ihren Standpunkt über Streik oder Nichtstreik in der Fabrikversammlung verfechten, und dadurch der Gesamtheit eine wohlbegründete Entscheidung ermöglichen. Der Kampf ist so groß, der Feind so mächtig, daß nur die Kraft der Massen in ihrer Gesamtheit einen Sieg erringen kann; materielle und moralische Kraft der Tat, der Einheit, der Begeisterung, aber zugleich geistige Kraft der Einsicht, der Klarheit. Und darin liegt die große Bedeutung solcher Parteien oder Meinungsgruppen, daß sie diese Klarheit bringen, durch ihre gegenseitigen Kämpfe, ihre Diskussionen, ihre Propaganda. Sie sind die Organe der Selbstaufklärung der Arbeiterklasse, mittels deren sie für sich selbst den Weg zur Freiheit herausfindet.

Es versteht sich dabei, daß solche Parteien und ihre Anschauungen nicht fest und unveränderlich sind. Mit jeder neuen Lage der Dinge, mit jeder neuen Kampfaufgabe werden sich die Geister trennen und vereinigen; andere Gruppierungen bilden sich mit anderen Programmen. Sie haben einen fluktuierenden Charakter, und passen sich damit den stets neuen Situationen an.

Die heutigen Arbeiterparteien haben einen völlig entgegengesetzten Charakter. Sie haben ja auch ein anderes Ziel; sie wollen die Herrschaft für sich erobern. Sie wollen nicht Hilfsmittel der Arbeiterklasse sein sich zu befreien, sie wollen selbst herrschen, und sagen, daß das die Befreiung des Proletariats sein wird. Die Sozialdemokratie, die im Zeitalter des Parlamentarismus aufwuchs, denkt sich diese Herrschaft als eine Parlamentsmehrheitsregierung. Die kommunistische Partei führt die Parteiherrschaft zur äußersten Konsequenz, als Parteidiktatur.

Solche Parteien, im Gegensatz zu dem oben Gesagten, müssen starre Gebilde sein, die sich fest abgrenzen, durch Mitgliedsbuch, Statut, Parteidisziplin, Aufnahme- und Ausschlußverfahren. Denn sie sind Machtapparate, kämpfen um die Macht, halten ihre Anhänger durch Machtmittel bei der Stange, und suchen ihre Ausdehnung, ihr Machtgebiet stetig zu erweitern. Ihre Aufgabe ist nicht, die Arbeiter zum Selbstdenken zu erziehen, sondern sie zu gläubigen Anhängern gerade ihrer Lehre zu dressieren. Während daher die Arbeiterklasse für ihre Machtentwicklung und ihren Sieg die unbeschränkteste Freiheit der geistigen Entwicklung braucht, muß die Parteiherrschaft alle anderen Meinungen als ihre eigene zu unterdrücken suchen. Bei „demokratischen“ Parteien geschieht das verhüllt, unter dem Scheine der Freiheit, bei den Diktatur-Parteien geschieht es durch offene brutale Unterdrückung.

Es gibt schon viele Arbeiter, die einsehen, daß die Herrschaft der sozialistischen oder der kommunistischen Partei nur eine verhüllte Form der Herrschaft einer bürgerlichen Klasse sein würde, wobei die Ausbeutung und Unterwerfung der Arbeiterklasse bestehen bleibt. Aber statt derer soll nun nach ihrer Ansicht eine „revolutionäre Partei“ aufgebaut werden, die wirklich die Herrschaft der Arbeiter erstrebt und den Kommunismus verwirklichen will. Nicht eine Partei in dem Sinne als wir im ersten Stück darlegten, eine Meinungsgruppe, die nur aufklärt, sondern eine Partei im heutigen Sinne, die selbst um die Macht kämpft, die als Vorhut der Klasse, als Organisation der bewußten revolutionären Minorität die Parteiherrschaft erobert, um sie für die Befreiung der Klasse auszunutzen.

Wir behaupten demgegenüber: In dem Namen „revolutionäre Partei“ liegt schon ein innerer Widerspruch. Eine solche Partei kann nicht revolutionär sein. Es sei denn, daß man einen Regierungswechsel mit etwas Gewalttätigkeit – wie z. B. den Beginn des dritten Reiches – eine Revolution nennt. Wenn wir über „revolutionär“ reden, ist dabei natürlich immer an die proletarische Revolution, die Machtergreifung durch die Arbeiterklasse gedacht.

Die „revolutionäre Partei“ beruht auf der Idee, daß die Arbeiterklasse eine Gruppe von Führern braucht, um für sie die Bourgeoisie zu besiegen und eine neue Regierung zu bilden – m. a. W. darauf, daß die Arbeiterklasse selbst noch nicht fähig zur Revolution ist. Sie beruht auf der Idee, daß diese Führer dann durch Gesetzesdekrete den Kommunismus einführen, – m. a. W. darauf, daß die Arbeiterklasse selbst noch nicht fähig ist, ihre Arbeit und Produktion zu verwalten und zu ordnen.

Ist aber diese Idee vorerst nicht richtig? Da jetzt, in diesem Augenblick, die Arbeiterklasse als Masse sich noch nicht fähig zeigt zur Revolution, ist es daher nicht nötig, daß jetzt die revolutionäre Vorhut, die Partei, es für sie macht? Und gilt das nicht solange die Massen den Kapitalismus ruhig ertragen? Demgegenüber muß die Frage gestellt werden: welche Macht könnte eine solche Partei zur Revolution aufbringen? Wie ist sie imstande, die kapitalistische Klasse zu besiegen? Nur dadurch, daß die Massen hinter ihr stehen. Nur dadurch, daß die Massen aufstehen und durch Massenangriff, Massenkampf, Massenstreik die alte Herrschaft stürzen. Also ohne das Auftreten der Massen geht es auf keinen Fall.

Dann kann zweierlei geschehen. Entweder die Massen bleiben bei der Aktion. Sie gehen nicht nach Hause, um der neuen Partei die Regierung zu überlassen. Sie organisieren ihre Macht in Fabriken und Werkstätten, sie bereiten den weiteren Kampf zur völligen Besiegung des Kapitals vor, sie bilden durch Arbeiterräte eine feste Verbindung, um damit die Leitung der ganzen Gesellschaft in die Hand zu nehmen – kurz, sie zeigen, daß sie nicht so ganz unfähig zur Revolution sind als es schien. Dann werden sich notwendig Konflikte entwickeln mit der Partei, die selbst die Herrschaft in die Hand nehmen will, und die durch ihre Lehre, daß die Partei Führerin der Klasse sein müsse, diese Selbsttätigkeit der Klasse nur als Unordnung und Anarchie betrachtet. Es kann dann geschehen, daß die Bewegung der Arbeiterklasse sich machtvoll entwickelt und über die Partei hinweggeht. Oder umgekehrt könnte die Partei mit Hilfe bürgerlicher Elemente die Arbeiter niederwerfen. Aber jedenfalls ist die Partei dann ein Hemmnis der Revolution. Weil sie mehr sein will als Propaganda- und Ausklärungsorgan. Weil sie als Partei herrschen und führen zu müssen glaubt. Oder die Arbeitermassen befolgen die Parteilehre und überlassen ihr die weitere Leitung der Sachen; sie folgen den von oben gegebenen Parolen, haben Zutrauen in die neue Regierung (wie in Deutschland 1918), die den Sozialismus oder Kommunismus verwirklichen wird, und gehen nach Hause an die Arbeit. Sofort setzt nun die Bourgeoisie ihre ganze Klassenkraft ein, deren Wurzeln noch ungebrochen sind: ihre Geldmacht, ihre gewaltige geistige Macht, ihre wirtschaftliche Macht in Fabrik und Großunternehmen. Dagegen ist die regierende Partei zu schwach; sie kann nur durch Mäßigung, durch Zugeständnisse, durch Nachgeben sich aufrecht erhalten. Dann sagt man, daß mehr im Augenblick nicht zu erreichen ist, und daß es Torheit bei den Arbeitern ist, durch Drängen unerfüllbare Forderungen durchsetzen zu wollen. So wird die Partei, beraubt von der Massenkraft einer revolutionären Klasse, zum Werkzeug der Erhaltung der bürgerlichen Herrschaft.

Wir sagten vorher, daß eine „revolutionäre Partei“ ein innerer Widerspruch sei, im Sinne der proletarischen Revolution. Man könnte es anders sagen: in dem Wort „revolutionäre Partei“ bedeutet revolutionär immer eine bürgerliche Revolution. Immer wenn die Massen auftreten, um eine Regierung zu stürzen, und dann die Herrschaft einer neuen Partei überlassen, haben wir eine bürgerliche Revolution, die Ersetzung einer herrschenden Schicht durch eine neue frische herrschende Schicht. So kam in Paris in 1830 die Geldbourgeoisie an die Stelle des Grundbesitzes, in 1848 die industrielle Bourgeoisie an Stelle der Finanz, in 1870 die gesamte kleine und große Bourgeoisie. So kam in der russischen Revolution die Parteibürokratie als regierende Schicht zur Herrschaft. Aber in West-Europa und Amerika ist die Bourgeoisie so viel mächtiger und fester verankert in Betrieben und Banken, daß sie sich durch eine Parteibürokratie nicht beiseite schieben läßt. Sie kann nur besiegt werden, indem immer wieder an die Massen appelliert wird und diese die Betriebe beschlagnahmen und ihre Räteorganisation aufbauen. Aber dann stellt sich immer wieder heraus, daß in den Massen die wirkliche Kraft liegt, die in der fortschreitenden eigenen Aktion die Kapitalsherrschaft vernichtet.

Diejenigen, die also von einer „revolutionären Partei“ träumen, ziehen nur eine halbe, beschränkte Lehre aus der bisherigen Entwicklung. Weil die Arbeiterparteien, die S.P. und die K.P. zu bürgerlichen Herrschaftsorganen zur Aufrechterhaltung der Ausbeutung geworden sind, ziehen sie nur den Schluß, sie müssen es besser tun. Sie sehen nicht, daß hinter dem Versagen jener Parteien ein viel tieferer Konflikt liegt, nämlich der Konflikt zwischen der Selbstbefreiung der ganzen Klasse durch eigene Kraft und der Beschwichtigung der Revolution durch eine arbeiterfreundliche neue Herrschaft. Sie glauben, eine revolutionäre Vorhut zu sein, weil sie die Massen ohne Aktivität, gleichgültig sehen. Die Massen sind aber inaktiv, weil sie den Weg des Kampfes, die Einheit der Klasse noch nicht klar sehen, und instinktiv die gewaltige Macht des Gegners und ebenso instinktiv die riesige Größe ihrer eigenen Aufgabe herausfühlen. Werden sie durch die Verhältnisse einmal zur Aktion getrieben, dann müssen sie diese Aufgabe, die Selbstorganisation, die Beschlagnahme der Produktionsmittel, den Angriff auf die wirtschaftliche Macht des Kapitals anfassen. Und dann stellt sich heraus, daß jene angebliche Vorhut, die versucht, die Massen nach ihrem Programm, mittels einer „revolutionären Partei“ zu führen und zu beherrschen, gerade durch diese Auffassung sich als rückständig erweist.


Gefunden auf marxists.org, die Übersetzung ist von uns.

(Paul Mattick 1941) Pannekoek’s „Die Partei und die Arbeiterklasse“

Unsere Gewohnheit, Namen wegzulassen, hat zu einem Missverständnis geführt. Der Artikel „Partei und Arbeiterklasse“, der nach seinem Erscheinen in der Council Correspondence von der APCF nachgedruckt und in Solidarity (Nr. 34-36) von Frank Maitland besprochen wurde, stammt von Anton Pannekoek. Dieser ist derzeit nicht in der Lage, auf Maitlands Kritik zu antworten. Da ich in gewisser Weise für den Inhalt der Council Correspondence verantwortlich bin, werde ich versuchen, einige der Fragen von Maitland zu beantworten.

Die aufgeworfenen Probleme können nicht abstrakt und allgemein angegangen werden, sondern nur spezifisch in Bezug auf konkrete historische Situationen. Als Pannekoek sagte, dass der „Glaube an Parteien“ der Hauptgrund für die Ohnmacht der Arbeiterklasse ist, sprach er von Parteien, wie sie tatsächlich existiert haben. Es ist offensichtlich, dass sie weder der Arbeiterklasse gedient haben, noch ein Instrument zur Beendigung der Klassenherrschaft waren. In Russland wurde die Partei zu einer neuen herrschenden und ausbeutenden Institution. In Westeuropa sind die Parteien durch den Faschismus abgeschafft worden und haben sich damit als unfähig erwiesen, die Arbeiterinnen und Arbeiter zu emanzipieren oder in Machtpositionen aufzusteigen. (Die faschistischen Parteien können nicht als Instrumente zur Beendigung der Ausbeutung der Arbeit angesehen werden). In Amerika dienen die Parteien nicht den Arbeiterinnen und Arbeitern, sondern den Kapitalisten. Parteien haben alle möglichen Funktionen erfüllt, aber keine, die mit den wirklichen Bedürfnissen der Arbeiterinnen und Arbeiter zu tun hat.

Maitland stellt diese Tatsachen nicht in Frage. Wie die Christen, die Kritik mit dem Argument zurückweisen, dass das Christentum nie ernsthaft ausprobiert wurde, argumentiert Maitland, dass „das Problem nicht ist, ob es eine Partei gibt oder nicht, sondern welche Art von Partei.“ Selbst wenn es stimmt, dass bisher alle Parteien gescheitert sind, beweist das seiner Meinung nach nicht, dass eine neue Partei, seine „Konzeption der Partei“, ebenfalls scheitern wird. Es ist klar, dass eine „Vorstellung von einer Partei“ nicht scheitern kann, nur weil reale Parteien gescheitert sind. Aber dann spielen „Konzepte“ keine Rolle. Die Partei, von der er spricht, gibt es nicht. Seine Argumente müssen in der Praxis bewiesen werden, aber eine solche Praxis gibt es nicht. Alle Parteien, die bisher funktioniert haben, sind mit Maitlands Vorstellungen davon gestartet, was eine Partei sein sollte. Das hat sie nicht daran gehindert, im Laufe ihrer Geschichte gegen diese Vorstellung zu verstoßen.

Die Partei, die „Lenin schaffen wollte“, und die Partei, die er tatsächlich schuf, waren zwei verschiedene Dinge, weil Lenin und seine Partei nur ein Teil der Geschichte waren; sie konnten der Geschichte nicht ihre eigenen Vorstellungen aufzwingen. Neben den Vorstellungen gibt es noch andere Kräfte in der Gesellschaft, die die Ereignisse beeinflussen. Maitland mag Recht haben, wenn er sagt, dass das „gegenwärtige Debakel der Komintern nicht beweist, dass Lenins Konzeption der Partei falsch war“, aber das Debakel zeigt mit Sicherheit, dass die Partei, unabhängig von seiner Konzeption, tatsächlich „falsch“ war, wenn man sie an Maitlands Ideen und den Bedürfnissen der internationalen Arbeiterklasse misst.

Die Partei, so Maitland, „ist eine historische Schöpfung, die nicht weggeworfen werden kann“. Leider war das in der Vergangenheit so, aber die Geschichte hat auch gezeigt, dass Parteien nicht das waren, was sie sein sollten. Sie sind eine historische Schöpfung des liberalen Kapitalismus und dienten – eine Zeit lang – den Bedürfnissen der Arbeiterinnen und Arbeiter, aber nur am Rande. Sie dienten in erster Linie dazu, das Gruppeninteresse und den sozialen Einfluss der Partei zu stärken. Sie wurden zu kapitalistischen Institutionen, die sich an der Ausbeutung der Arbeit beteiligten und mit anderen kapitalistischen Gruppen um die Kontrolle von Machtpositionen kämpften. Aufgrund der allgemeinen Krisenbedingungen, der Konzentration des Kapitals und der Zentralisierung der politischen Macht wurde der Staatsapparat zum wichtigsten gesellschaftlichen Machtzentrum. Eine Partei, die – legal oder illegal – die Kontrolle über den Staat erlangt, kann sich in eine neue herrschende Klasse verwandeln. Das haben die Parteien getan oder versucht zu tun. Wo immer die Partei Erfolg hatte, diente sie nicht den Arbeiterinnen und Arbeitern. Das Gegenteil war der Fall: Die Arbeiterinnen und Arbeiter dienten der Partei. Auch der Kapitalismus ist eine „historische Schöpfung“. Wenn die „Partei nicht abgeschafft werden kann, weil sie eine historische Schöpfung ist“, wie will Maitland dann den Kapitalismus abschaffen, da er mit dem Einparteienstaat identisch ist? In Wirklichkeit müssen beide „beiseite geworfen“ werden; die Abschaffung des Kapitalismus bedeutet heute auch die Abschaffung der Partei.

Für Maitland „sollte die Partei der materielle Apparat sein, um die bewusste Minderheit und die unbewusste Masse zu integrieren.“ Die Masse ist jedoch aus demselben Grund „unbewusst“, aus dem sie machtlos ist. Die „bewusste“ Minderheit kann die eine Situation nicht ändern, ohne die andere zu verändern. Sie kann der Masse kein „Bewusstsein“ bringen, wenn sie ihr nicht die Macht gibt. Wenn das Bewusstsein und die Macht von der Partei abhängen, bekommt die ganze Klassenkampffrage einen religiösen Charakter. Wenn die Menschen, die die Partei bilden, „gute“ Menschen sind, werden sie den Massen Macht und Bewusstsein geben; wenn sie „schlechte“ Menschen sind, werden sie beides zurückhalten. Hier geht es nicht um die Frage der „Integration“, sondern nur um die Frage der „Ethik“. Wir können also nicht nur auf abstrakte Vorstellungen darüber vertrauen, was eine Partei sein sollte, sondern auch auf den guten Willen der Menschen. Kurz gesagt: Wir müssen unseren Anführern vertrauen. Was Parteien geben können, können sie aber auch wieder wegnehmen. Unter den gegebenen Bedingungen ist das „Bewusstsein“ der Minderheit entweder bedeutungslos, oder es ist mit einer Machtposition in der Gesellschaft verbunden. Das „Bewusstsein“ zu stärken, bedeutet also, die Macht der Gruppe zu stärken, die es in sich trägt. Es entsteht keine „Integration“ zwischen „Anführern“ und „Geführten“, sondern die bestehende Kluft zwischen ihnen wird immer größer. Die bewusste Gruppe verteidigt ihre Position als bewusste Gruppe; sie kann diese Position nur gegen die „unbewusste“ Masse verteidigen. Die „Integration“ der bewussten Minderheit und der unbewussten Masse ist nur eine angenehmer klingende Beschreibung der Ausbeutung der Vielen durch die Wenigen.

Die Tatsache, dass Maitland die Partei als „materielles Instrument“ sieht, das das Denken und die Aktion koordiniert, zeigt, dass er noch in der Vergangenheit denkt. Deshalb plädiert er für die Partei der Zukunft. Der materielle Apparat (Versammlungen, Zeitungen, Bücher, Kino, Radio usw.), von dem er spricht, steht den Parteien, wie sie Maitland vorschweben, inzwischen nicht mehr zur Verfügung. Die Phase der kapitalistischen Entwicklung, in der Parteien wie jedes andere Unternehmen aufwachsen und die Instrumente der Propaganda zu ihrem eigenen Vorteil nutzen konnten, ist vorbei. In der heutigen Gesellschaft kann die Entwicklung von Arbeiterorganisationen nicht mehr den traditionellen Wegen folgen. Eine Partei, die „das Klassenbewusstsein in den Massen entwickelt“, kann nicht mehr entstehen. Die Propagandamittel sind zentralisiert und stehen ausschließlich im Dienst der herrschenden Klasse oder Partei. Sie können nicht genutzt werden, um sie zu stürzen. Wenn die Arbeiterinnen und Arbeiter nicht in der Lage sind, Kampfmethoden zu entwickeln, die sich der Kontrolle der herrschenden Gruppen entziehen, werden sie sich nicht emanzipieren können. Eine Partei ist keine Waffe gegen die herrschenden Klassen; es gibt sie nicht einmal in faschistischen Gesellschaften. Gegen die gegenwärtige Macht der Kombination aus Staat, Partei und Kapital hilft nur die „bewusste Aktion der ganzen Masse der Menschen“. Solange diese Masse „unbewusst“ bleibt, solange sie das „Gehirn“ einer Partei braucht, wird diese Masse machtlos bleiben, denn dieses „Gehirn“ wird sich nicht entwickeln.

Dennoch gibt es keinen Grund zur Verzweiflung. Wir können eine weitere Frage stellen: Was ist dieses „Bewusstsein“, das die Parteien den Arbeiterinnen und Arbeitern angeblich vermitteln sollen? Und was ist das für ein „Bewusstsein“, das die Unterstützung der Massen durch ein eigenes „Gehirn“ verlangt – durch die Partei? Ist diese Art von Bewusstsein, die wir in Parteien finden, wirklich notwendig, um die Gesellschaft zu verändern? Was bisher wirklich gefährlich für die Massen und ihre Bedürfnisse war, ist genau dieses „Bewusstsein“, das in Parteiorganisationen vorherrscht. Das „Bewusstsein“, von dem Maitland spricht und das er in der Praxis erlebt hat, hat nichts mit dem „Bewusstsein“ zu tun, das nötig ist, um gegen die Gegenwart zu rebellieren und eine neue Gesellschaft zu organisieren. Das Fehlen eines solchen Bewusstseins, das von Parteien genährt wird, ist kein Mangel, wenn es um die praktischen Bedürfnisse der Arbeiterklasse geht.

Die Aufgabe der Arbeiterinnen und Arbeiter ist im Grunde ganz einfach. Sie besteht darin, zu erkennen, dass alle bisher existierenden herrschenden Gruppen die Entwicklung einer wirklich sozialen Produktion und Verteilung behindert haben; sie besteht darin, die Notwendigkeit zu erkennen, Produktion und Verteilung abzuschaffen, die von den Profit- und Machtbedürfnissen spezieller Gruppen in der Gesellschaft bestimmt werden, die die Produktionsmittel und die anderen gesellschaftlichen Machtquellen kontrollieren. Die Produktion muss so umgestellt werden, dass sie den wirklichen Bedürfnissen der Menschen dient; sie muss zu einer Produktion für den Verbrauch werden. Wenn diese Dinge erkannt sind, müssen die Arbeiterinnen und Arbeiter darauf reagieren, um ihre Bedürfnisse und Wünsche zu verwirklichen. Es braucht nur wenig Philosophie, Soziologie, Ökonomie und Politikwissenschaft, um diese einfachen Dinge zu erkennen und nach dieser Erkenntnis zu handeln. Der tatsächliche Klassenkampf ist hier entscheidend und bestimmend. Aber auf dem praktischen Feld der revolutionären und sozialen Aktivitäten ist die „bewusste“ Minderheit nicht besser informiert als die „unbewusste“ Mehrheit. Eher das Gegenteil ist der Fall. Das hat sich in allen tatsächlichen revolutionären Kämpfen gezeigt. Außerdem ist jede Fabrikorganisation besser in der Lage, ihre Produktion zu organisieren als eine Partei von außen. Es gibt genug überparteiliche Intelligenz auf der Welt, um die gesellschaftliche Produktion und Verteilung ohne die Hilfe oder Einmischung von auf ideologische Bereiche spezialisierten Parteien zu koordinieren. Die Partei ist ein fremdes Element in der gesellschaftlichen Produktion, so wie die Kapitalistenklasse ein unnötiger dritter Faktor neben den beiden ist, die für die Durchführung des gesellschaftlichen Lebens benötigt werden: die Produktionsmittel und die Arbeit. Die Tatsache, dass Parteien an Klassenkämpfen beteiligt sind, zeigt, dass diese Klassenkämpfe nicht auf ein sozialistisches Ziel ausgerichtet sind. Sozialismus bedeutet schließlich nichts anderes als die Beseitigung des dritten Faktors, der zwischen den Produktionsmitteln und der Arbeit steht. Das „Bewusstsein“, das die Parteien entwickeln, ist das „Bewusstsein“ einer Ausbeutergruppe, die um den Besitz der gesellschaftlichen Macht kämpft. Wenn sie ein „sozialistisches Bewusstsein“ propagieren will, muss sie zuallererst das Parteikonzept und die Parteien selbst abschaffen.

Das „Bewusstsein“, gegen die Gesellschaft zu rebellieren und sie zu verändern, wird nicht durch die „Propaganda“ bewusster Minderheiten entwickelt, sondern durch die reale und direkte Propaganda der Ereignisse. Das zunehmende soziale Chaos gefährdet das gewohnte Leben immer größerer Massen von Menschen und verändert ihre Ideologien. Solange Minderheiten als separate Gruppen innerhalb der Masse agieren, ist die Masse nicht revolutionär, aber die Minderheit auch nicht. Ihre „revolutionären Vorstellungen“ können weiterhin nur kapitalistischen Funktionen dienen. Wenn die Massen revolutionär werden, verschwindet die Unterscheidung zwischen bewusster Minderheit und unbewusster Mehrheit und damit auch die kapitalistische Funktion des scheinbar „revolutionären Bewusstseins“ der Minderheit. Die Unterscheidung zwischen einer bewussten Minderheit und einer unbewussten Mehrheit ist selbst historisch bedingt. Sie ist von der gleichen Größenordnung wie die Unterscheidung zwischen Arbeiterinnen und Arbeitern und Bossen.

So wie der Unterschied zwischen Arbeiterinnen und Arbeitern und Bossen im Zuge der unlösbaren Krisenbedingungen und der damit verbundenen sozialen Nivellierung tendenziell verschwindet, so wird auch der Unterschied zwischen bewusster Minderheit und unbewusster Masse verschwinden. Wo sie nicht verschwindet, werden wir eine faschistische Gesellschaft haben.

„Integration“ kann nur bedeuten, dazu beizutragen, den Unterschied zwischen bewusster Minderheit und unbewusster Masse zu beseitigen. Innerhalb der Klassen und innerhalb der Gesellschaft wird es weiterhin Unterschiede zwischen den Menschen geben. Einige werden tatkräftiger sein als andere, einige klüger als andere usw. Es wird weiterhin eine Arbeitsteilung geben. Dass diese realen Unterschiede zu Unterschieden zwischen Kapital und Arbeit, zu Unterschieden zwischen Partei und Masse erstarrt sind, liegt lediglich an den historisch bedingten spezifischen Produktionsverhältnissen, an der kapitalistischen Produktionsweise. Diese Unterscheidung hinsichtlich der gesellschaftlichen Tätigkeit muss beendet werden, damit der Kapitalismus beendet werden kann. Wenn man die Notwendigkeit einer „Integration“ sieht, muss man das Problem auf eine ganz andere Weise angehen als Maitland. Die „Integration“ muss nicht von oben nach unten erfolgen – wo die Partei der Masse das Bewusstsein vermittelt -, sondern von unten nach oben, wo die Klasse ihre ganze Intelligenz und Energie für sich behält und sie nicht in getrennten Organisationen isoliert und damit kapitalisiert.

Die Produktion ist sozial. Alle Menschen, egal wer sie sind oder was sie tun, sind in einer sozial bestimmten Gesellschaft gleich wichtig. Ihre tatsächliche Integration, nicht die „ideologische Integration“ durch die traditionelle Partei-Masse-Beziehung, ist erforderlich. Aber diese tatsächliche Integration, die menschliche Solidarität, die notwendig ist, um dem Elend in der Welt ein Ende zu setzen, muss jetzt gefördert werden. Sie kann nur entwickelt werden, wenn die Kräfte, die ihr entgegenwirken, zerstört werden. Klassensolidarität und Klassenaktionen können nicht mit, sondern nur gegen Gruppen und Parteiinteressen entstehen.

August-September 1941

]]> (1933) Anton Pannekoek – Die Arbeiter, das Parlament und der Kommunismus https://panopticon.blackblogs.org/2023/08/08/1933-anton-pannekoek-die-arbeiter-das-parlament-und-der-kommunismus/ Tue, 08 Aug 2023 10:44:12 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5109 Continue reading ]]> (1933) Anton Pannekoek – Die Arbeiter, das Parlament und der Kommunismus

Ein weiterer Text von Anton Pannekoek, indem er Demokratie, Parteien und Gewerkschaften/Syndikate angreift und kritisert.


Krise und Armut1

Die Gesellschaft gerät in eine Krise. Handel und Industrie schrumpfen beständig, große Betriebe sind still gelegt. Es herrscht Arbeitslosigkeit in bislang unvorstellbarem Maße. Millionen Arbeiter weltweit haben keine Stelle, und das schon seit Jahren, und müssen sich mit einer allzu knappen Arbeitslosenunterstützung mit knapper Not über Wasser halten. Die heranwachsende neue Generation hat keine Chance. Die Staaten Schotten sich durch hohe Schutzzölle voneinander ab und zerschlagen den internationalen Verkehr. Die Bauern finden für ihre Produkte keine Abnehmer. Überall herrscht das Gefühl, daß irgendetwas in unserer kapitalistischen Gesellschaft verkehrt läuft. Was früher als unerträglicher Zustand galt: die große Ausbeutung, die ewige Hetze, die Ständig drohende Existenzunsicherheit, die trostlose Aussicht, immer nur Proletarier zu bleiben – das erscheint nun beinahe als Idealzustand, den man sich zurückwünscht. Aber es ist sehr unwahrscheinlich, daß dieser Zustand wiederkehrt. Selbst wenn die Krise vorüberginge und die alte Betriebsamkeit wieder zurückkehrte – was niemand Vorhersagen kann –, würde sich doch alles verändert haben. Es ist gut möglich, daß es zu einem Aufschwung in den jungen Staaten von Amerika und Asien kommt und daß in Europa die Industrie auf Dauer zurückgeht.2 Untergang, tiefste Armut und größtes Elend scheinen die Zukunft der Arbeiter zu sein.

Und warum? Die Gesellschaft ist reicher als je zuvor, reicher durch ihre Fähigkeit Reichtum zu schaffen. Angewandte Wissenschaft und Technik ermöglichen es der Landwirtschaft und der Industrie Überfluß für alle zu produzieren. Schon vor fünfzig Jahren ist berechnet worden, daß auf der Basis der damaligen Technik eine Arbeitszeit von fünf Stunden täglich ausgereicht hätte, um jedem eine Existenz auf dem Niveau der oberen Mittelschicht zu sichern. Und vor kurzem hat ein Ingenieur-Büro unter der Leitung des Amerikaners Scott ausgerechnet, daß bei einer Arbeitszeit von zwei Stunden täglich die Menschheit in der Lage sein sollte, für jeden ein mehr als ausreichendes Einkommen zu schaffen.

Wenn das so ist, warum existiert dann der Widerspruch zwischen der faktischen und stets drohender werdenden Armut und dem Potential von Überfluß? Die Antwort: Weil es einen Konflikt zwischen der Arbeitsstruktur und der Eigentumsform gibt. Die Eigentumsformen passen nicht mehr zu den Arbeitsformen.

Der Konflikt zwischen Arbeit und Eigentum

Früher, in den Zeiten der Kleinbetriebe, hatte der Mann, der arbeitete, die Verfügungsgewalt über die Werkzeuge, die er benutzte, und natürlich auch über das Produkt, das er herstellte. Der Handwerker war Eigentümer seiner Gerätschaften und verkaufte sein Produkt; der Bauer war Eigentümer des Landes und des Viehs und verkaufte, was er nicht selbst verbrauchte. Das Privateigentum gehörte zum Kleinbetrieb. Der Eigentümer nahm Knechte und Gesellen zur Hilfe; Werkzeug und Produkt aber blieben sein Eigentum. An die Stelle der Werkzeuge rückten große Maschinen; der Kapitalist erwarb sie, nahm Arbeiter in Dienst und bezahlte als Lohn das lebensnotwendige Minimum. Immer noch war er Eigentümer der Werkzeuge und der Produkte; aus dem Mehrwert dessen, was er für das Produkt, das die Arbeiter hergestellt hatten, bezahlt hatte, erzielte er seinen Gewinn und vermehrte so sein Kapital. Dieses Wachstum aus der Tätigkeit der Arbeiter stieg im Zeitalter der Großindustrie ins Gigantische an, während die Arbeiter nicht mehr erhielten als das, was zum Lebenserhalt notwendig war, und manchmal nicht einmal das.

Der heutige Zustand sieht so aus: Der größte Teil der Produkte wird in Fabriken durch Organisationen kooperierender Arbeiter, Ingenieure und Techniker hergestellt, die den gesamten Maschinenpark gemeinsam bedienen. (Die Maschinen selbst sind das Produkt anderer Arbeitergruppen.) Aber das Ergebnis ihrer Arbeit, das Produkt, ist nicht ihr Eigentum; aus dem Ertrag erhalten sie lediglich ihren Lohn, der Rest ist für den Kapitalisten. Kapitalisten sind die Anteilseigner, die gemeinsam die Geschäftsführung der Fabrik einstellen, aber selbst völlig außerhalb des Produktionsprozesses stehen. Sie wohnen irgendwo in ihren Villen und übernehmen keinerlei Funktion in der Produktion, außer daß sie den Löwenanteil des Ertrags in die Tasche stecken. Sie sind die Parasiten der Gesellschaft. Ist das nicht verquer und unsinnig? Aber das ist die Rolle des Privateigentums, seitdem es kapitalistisches Eigentum geworden ist. Aber es kommt noch ärger: Diese Anteilseigner sind die Besitzer, die Herrscher über die Fabrik, über ihr Eigentum. Sie lassen nur dann arbeiten, wenn damit Gewinn zu erzielen ist; ob die Menschen die Produkte benötigen, kann sie solange nicht kümmern, wie diese dafür nicht genug bezahlen können. Wenn kein Gewinn zu machen ist, dann legen sie das Ganze still, wie das jetzt in der Weltwirtschaftskrise geschieht. Auf der einen Seite stehen die still gelegten und unbenutzten Maschinen, auf der anderen Seite stehen die Arbeiter, begierig sie in Bewegung zu setzen. Sie sollten Überfluß für alle schaffen können. Aber die Eigentümer der Produktionsmittel wollen das nicht, sie verhindern das. Deshalb gibt es Entbehrungen und Armut, obwohl die Voraussetzungen für Reichtum: hervorragende Produktionsmittel und Millionen williger Hände bereit stehen. Ist das Wahnsinn? Das ist die Wirkung des aus dem Zeitalter des Kleinbetriebs übernommenen Eigentumsrechts.

Der Konflikt besteht also darin: Die Arbeit ist gemeinschaftlich geworden, das Eigentumsrecht ist individuell geblieben. Daraus entstehen Ausbeutung und Krise als unvermeidliche Folgen.

Wie ist dieser Konflikt zu lösen? Es ist nicht möglich, die Arbeit in ihre frühere Form zurückzuverwandeln, die Maschinen in Stücke zu schlagen und die Kleinbetriebe wiederherzustellen. Deshalb muß das Eigentumsrecht in Übereinstimmung mit der Arbeit gebracht werden.

Die heutigen Werkzeuge, die großen Maschinen und die Fabriken werden durch die Gemeinschaft der Arbeiter bedient. Wenn das so ist, dann muß auch die Gemeinschaft der Arbeiter die Entscheidungsgewalt über Werkzeuge und Produkte haben. Die Arbeit hat ihren Charakter gewechselt, von einem individuellen, wie früher, zu einem kollektiven und gemeinschaftlichen Charakter heute. Keine außen stehenden Parasiten, sondern sie selbst, die die Arbeit tun, müssen über die Arbeit bestimmen können. Das ist die Form des Kommunismus, die an die Stelle des Kapitalismus rücken soll.

Der Klassenkampf

Wie kann man diese Entwicklung vorantreiben?

Von alleine verändert sich die Gesellschaft nicht; die Menschen müssen das tun. Die Kapitalisten haben keinen Grund, eine Veränderung zu wünschen, und widersetzen sich selbstverständlich mit aller Macht der Forderung, ihr Eigentum an den Produktionsmitteln aufzugeben. Aber auch die kleineren Mittelständler sind gegen eine Veränderung, weil sie darauf setzen, durch ihre Geschäfte ihren Besitz vermehren zu können. Zwar werden sie selbst massiv vom Großkapital unter Druck gesetzt, dennoch klammern sie sich an ihren Besitz, der sie von den besitzlosen Proletariern unterscheidet. Auch den meisten Bauern gibt der Umstand, daß sie ihren Hof besitzen, sosehr er auch durch Hypotheken belastet sein mag, Anlaß zu der Hoffnung, durch harte Arbeit nach oben zu kommen. Sie glauben, daß der Kommunismus es auf ihre kleinen Besitztümer abgesehen hat, ohne zu ahnen, wie der Kapitalismus mit ihrem Eigentum umgehen wird.

Nur die Arbeiterklasse hat ein unmittelbares Interesse am Kommunismus. Nur durch ihn kann ihrer Armut und ihrer Lebensunsicherheit ein Ende gemacht werden. Die Arbeiter können dieses Ziel durch den Kampf erreichen, durch den Kampf der Arbeiterklasse gegen die besitzenden Klassen.

Die Arbeiter bilden in den großindustriellen Ländern Westeuropas und Amerikas die Mehrheit und eine wohl stets wachsende Mehrheit. Das allein gibt ihnen die Sicherheit, daß sie diesen Kampf gewinnen können. Darüber hinaus sind sie die unentbehrlichste Klasse; ohne ihre Arbeit kann die Gesellschaft keinen Moment existieren. Sie haben den gesamten Produktionsapparat in Händen, zwar nicht im rechtlichen Sinn, aber faktisch. Wenn die gesamte Arbeiterklasse ihre Macht einig einsetzt, ist das lediglich auf Papieren beruhende Recht der Kapitalistenklasse dagegen machtlos. Die Kapitalisten verfügen über alle Macht, die der Besitz von Geld verleihen kann. Damit bezahlen sie alle die klugen Köpfe, mit denen sie ihre Gesellschaft steuern, organisieren und verteidigen. Sie kaufen, wenn es nötig sein sollte, bewaffnete Truppen, um die Arbeiter mit Waffengewalt niederzuhalten. Durch Presse, Schule, Kirche, Radio, Kino, durch alle geistigen Mächte und Mittel versuchen sie, die Arbeiter in Abhängigkeit zu halten. Hinzu kommt noch als ihr vornehmstes Machtmittel die politische Herrschaft, ihre Macht über den Staat. Die Staatsmacht ist eine solide gebaute Beamtenorganisation, die von einem einzigen Punkt aus gesteuert das Volk regiert, falls nötig durch bewaffnete Truppen, Polizei und Heer unterstützt. Jeder Versuch der Arbeiterklasse, sich gegen den bestehenden Zustand von Ausbeutung und Not zu wehren, wird durch die Staatsmacht tatkräftig unterdrückt. Der Staat ist wie eine solide Festungsmauer, die das Kapital um sich herum errichtet hat. Will die Arbeiterklasse den Klassenkampf gewinnen und die Kapitalisten überwinden, dann muß die Staatsmacht überwunden werden, dann muß sie die politische Macht erringen.

Das Ziel der Arbeiterklasse ist es, das Eigentumsrecht zu verändern, die Produktionsmittel aus dem Privateigentum zu lösen und zu gesellschaftlichem Eigentum zu machen. Das Eigentumsrecht muß durch Gesetze geregelt werden, die Gesetzbücher werden wie alle Gesetze durch die politischen Organe des Staates festgelegt. Wer über den Staat herrscht, der bestimmt auch über Recht und Gesetz. Deshalb muß die Arbeiterklasse sich zur Herrin der politischen Macht aufschwingen. Die politische Macht zu erobern ist eine notwendige Bedingung für die Veränderung des Eigentums, mit dem dem arbeitenden Volk Freiheit und Überfluß gesichert werden. Wie können die Arbeiter die politische Herrschaft erobern? Damit kommen wir auf die Wahlen zu sprechen.

Der Parlamentarismus als Befreiungsmittel

Die Sozialdemokraten verstehen den Parlamentarismus, das heißt Wahlen, als Mittel für die Arbeiter, die Herrschaft zu erringen.

Denn wer ist die Regierung, die die politische Macht ausübt und die Gesetze erläßt? In erster Linie das Parlament, die beiden Kammern, die aus gewählten Volksvertretern bestehen. In den westeuropäischen Ländern, zuerst in England, dann in Frankreich durch die Französische Revolution, anschließend in anderen Ländern hat sich die besitzende Klasse der Macht versichert, indem sie die gewählten Parlamente zur eigentlichen Regierungsgewalt gemacht hat.

Die sogenannte Regierung, die Minister, die an der Spitze des Staates, der Beamten und des Heeres stehen und die alle Machtmittel des Staates in der Hand halten, können nicht regieren, wenn das Parlament sie nicht will. Deshalb sind sie abhängig von der parlamentarischen Mehrheit. Seitdem die Arbeiter nach langem Kampf das allgemeine Wahlrecht erworben haben, wählt die Mehrheit des Volkes auch die Mehrheit des Parlaments. Das ist Demokratie. Wann auch immer deshalb in einem Land die Arbeiter die Mehrheit der Bevölkerung sind, können sie auch die Mehrheit des Parlaments wählen, wenn sie denn gut und richtig wählen und sich nicht durch schöne Versprechungen ihrer Feinde blenden lassen. Zu diesem Zweck bilden sie eine eigene politische Partei, eine Arbeiterpartei. Gelingt das, dann sind sie die Herren der Regierung und auf diese Weise über den Staat. Sie können Recht und Gesetz nach ihrer Auffassung und ihren Interessen ausrichten. Auf diese Weise kann sich die Arbeiterklasse, wenn sie nur ihren Verstand gebraucht, durch den Stimmzettel selbst befreien. Die neue Regierung, die aus Vertretern der Arbeiter besteht, hat dann die Aufgabe, die kapitalistischen Unternehmen zu enteignen und in Staatsbetriebe (oder lokal zu Gemeindeunternehmen) umzuwandeln, angefangen bei den großen Monopolen und Banken und weitergehend bei den kleineren Betrieben. In diesen Betrieben wird nicht mehr aus Profitinteresse, sondern nach Notwendigkeit produziert. Die Staatsorgane sorgen für die zentrale Steuerung dieser Produktion; die Arbeiter stehen im Dienst dieser Gemeinschaftsorgane; ihr Lebensunterhalt ist gesichert, Krisen und Arbeitslosigkeit verschwinden. Dadurch daß kein Profit an die Kapitalisten abgeführt werden muß, kommen die Arbeiter in den Genuß des gesamten Einkommens, allerdings nach Abzug der Kosten für Verwaltung und der öffentlichen Dienste wie Erziehung, Gesundheit, Verkehr und dergleichen. Weil jeweils die besten Arbeitsmethoden eingesetzt werden und der unproduktiven Stümperei, mit der heute soviel Arbeit vergeudet wird, ein Ende gemacht wird, wird in einer kurzen Arbeitszeit Überfluß für alle produziert werden können.

Die Arbeiterführer als Befreier

Im Grunde ist es also ganz einfach. Die Arbeiter müssen nur als Mehrheit in der richtigen Weise ihre Stimme abgeben und der Kapitalismus ist besiegt. Alle vier Jahre füllt der Arbeiter einen Stimmzettel aus. Mehr braucht er nicht zu tun; seine Abgeordneten tun den Rest. Er kämpft nicht selbst unaufhörlich für sein Recht; er überträgt seinen Kampf einem anderen, der für ihn kämpfen soll. Der Parlamentarismus ist ein Kampf zwischen anderen, den Führern. Auf diese anderen, die Abgeordneten, kommt es nun an, auf ihre Fähigkeit zum parlamentarischen Gezänk; deshalb sind es die Führer, die die eigentliche Arbeit tun, die sich am besten auskennen und deshalb selbstverständlich auch das meiste zu sagen haben.

Wir reden hier von Demokratie, weil das allgemeine Wahlrecht existiert. Aber diese parlamentarische Demokratie ist keine Herrschaft durch das Volk selbst, sondern durch die Parlamentarier. Nur am Wahltag selbst ist das Volk Herr; aber wehe, wenn es dann nicht gut wählt! Vier Jahre lang hat es dann nichts mehr zu sagen und vier Jahre lang können die Parlamentarier tun, was ihnen beliebt. Natürlich denken die Herren daran, daß nach vier Jahren erneut ein „Tag der Abrechnung“ kommt, aber sie setzen dann auf die notwendige Reklamekirmes, auf die großen Worte, die großartigen Prinzipien und geschickten Reden, um die Wähler so zu beeinflussen, daß es allein in wirklich extremen Fällen zu einer tatsächlichen Abrechnung kommt. Dann aber wird Piet durch Klaas ersetzt, der kaum anders ist als Piet. Außerdem: Suchen die Wähler in einem Bezirk denn selbst den Mann aus, der als ihr Vertrauensmann nach Den Haag geht? Keine Rede davon: Die verschiedenen großen und kleinen politischen Parteien stellen die Kandidaten auf, zwischen denen die Wähler sich entscheiden dürfen. Nur mit großer Mühe gelingt es manchmal Wählergruppen, selbst einen „wilden“ Kandidaten (so nennen sie das) aufzustellen und ihn wählen zu lassen; aber im Parlament steht so jemand allein und hat keinerlei Einfluß. Im Parlament spielen die großen politischen Parteien miteinander um die Macht.

Die parlamentarische Demokratie ist eine Scheindemokratie.

Der Parlamentarismus ist kein Instrument der Arbeiter, um sich selbst zu befreien; er ist ein Instrument, sich befreien zu lassen. Durch andere, die sagen: wählt uns und wir verschaffen euch den Sozialismus. Durch die Parlamentarier, durch die Arbeiterführer, durch die sozialistische Partei. Die Arbeiter stimmen für, soll heißen: sie geben den Auftrag an die sozialistischen Führer: Befreit uns, führt den Sozialismus ein und vernichtet den Kapitalismus. Die sozialistische Mehrheit im Parlament geht an die Arbeit, schickt die bisherigen Minister weg, beruft neue, sozialistische, setzt Gesetze in Kraft, mit denen sozialisiert wird, und unterdrückt derweil mit dem Staat im Rücken jeden Widerstand. Darauf folgt noch das Mühsamste, die Organisation und Steuerung der gesellschaftlichen Produktion. Es ist selbstverständlich, daß Sozialdemokraten, die den Kampf der Arbeiter hauptsächlich als einen Kampf der Führer sehen, sich auch eine sozialistische Gesellschaft nicht anders vorstellen können als von kompetenten Führern geleitet. Eine große Beamtenorganisation ist nötig, um das Kommando über die Produktion zu führen. Von ihren Fähigkeiten vor allem wird es abhängen, ob die Sache gut geht. Sie organisieren, und die Arbeiter gehorchen und arbeiten. Die Arbeiter spielen also weder in der Revolution noch im Aufbau des Sozialismus eine Rolle. Sie dürfen für die Führer stimmen, sie unterstützen, ihnen zujubeln und ausführen, was diese anordnen. Die wesentliche Arbeit machen die Führer; sie sollen deshalb auch – in demokratischen Formen – die wirkliche Macht haben. Die Arbeiter haben sich neue Herren an Stelle der alten gewählt, gute Herren an Stelle der schlechten. Diese verschaffen uns Sozialismus, Freiheit und Überfluß. Deshalb ist alles ganz einfach. So einfach, daß man sich fragt, ob es nicht zu einfach ist, um wahr sein zu können.

Und mit wie wenig Mühe das geschehen soll! In früheren Zeitaltern mußten die Bürger mit aller Macht dafür kämpfen, Leib und Leben einsetzen, gewalttätige Revolutionen in Szene setzen, um die Macht zu erobern. Die Arbeiter jedoch brauchen nur ihren Verstand zu gebrauchen und das Kreuz an der richtigen Stelle zu machen. Mehr brauchen sie für ihre Befreiung nicht zu tun. Und das, wo ihnen eine herrschende Klasse gegenüber steht, so mächtig an Geld und Besitz, an Wissen und Energie, an materiellen und geistigen Machtmitteln wie keine Klasse zuvor!

Kann irgendjemand daran glauben, daß sich eine solch mächtige Klasse in aller Ruhe enteignen läßt, sobald die Arbeiter eine sozialistische Mehrheit ins Parlament wählen? Jeder Arbeiter, auch wenn er sonst keine Ahnung hat, weiß und versteht, daß die Eroberung der Macht in der Gesellschaft nur das Ergebnis eines lang anhaltenden Kampfes, einer enormen Kraftanspannung und von schweren Opfern sein kann, daß seine Befreiung nur durch Kampf, Kraftanspannung und eigene Opfer möglich ist. Deshalb ist die Befreiung durch Parlament und Stimmzettel ein Trugbild. In der Idee der parlamentarischen Machteroberung ist von den Arbeitern kaum die Rede. Auch die Bourgeoisie ist offensichtlich nicht vorhanden und spielt keine Rolle. Lediglich die politischen Parteien, die Parlamentsabgeordneten und Minister werden erwähnt. Eine solche naive Vorstellung von einer ökonomischen Umwälzung, die gewaltiger ist, als alles, was die Welt je gesehen hat, kann nur bei Menschen entstehen, deren Horizont auf Politik beschränkt ist. Aber hinter all diesem parlamentarischen und politischen Getue stehen die Klassen, steht die Bourgeoisie und steht die Arbeiterklasse. Und der Kampf dieser beiden Klassen bestimmt die gesamte gesellschaftliche Entwicklung.

Die Bourgeoisie ist auch noch da

Die besitzende Klasse hat natürlich von vorneherein dafür gesorgt, daß die Parlamente nicht zu viele Entscheidungsbefugnisse erhalten. Die Herrschaft der Parlamentsmehrheit ist nur Schein. Neben dem Parlament gibt es auch noch andere politische Kräfte. Eine Parlamentsmehrheit kann ein Kabinett zum Abdanken zwingen. Aber sie kann keine neuen Minister ernennen. Das ist Aufgabe eines Königs oder eines Präsidenten. Die Umgebung eines Königs oder Präsidenten bilden einflußreiche Menschen, adelige Herren, hohe Offiziere, alte vornehme Politiker, reiche Kapitalisten; aus diesem Kreis und dessen Anhang oder auf deren Anordnung werden die neuen Minister benannt. Sie stellen eine Macht dar, die hinter den Kulissen wirkt und die vom reichsten und mächtigsten Teil der Bourgeoisie unterstützt wird.

Unterstellen wir, daß im Falle eines Konfliktes dieser Kreis doch einmal einen „echten“ Demokraten aus dem Parlament nehmen muß, dann sind dem Mann doch als Minister die Hände gebunden. Die gesamte Riege der hohen und niederen Beamten, die das Volk regieren und die Gesetze ausführen, in den Ministerien und außerhalb, bleibt dieselbe; einige von ihnen können sogar von Gesetz wegen nicht abgelöst werden, wie zum Beispiel die Richter. Diese Leute ändern nicht plötzlich ihre Richtung, nur weil die Minister wechseln. Überdies gehören sie selbst zur Bourgeoisie und fühlen sich als Teil der besitzenden Klasse. Selbst auf der untersten Stufe der Leiter, als Feldwächter oder Büroschreiber, fühlen sie sich als ein Teil der Obrigkeit, dazu berufen, das Volk zu regieren. Kann irgendjemand glauben, daß dieses Beamtenkorps sich von einem zum anderen Tag zum Werkzeug des Sozialismus machen ließe, auch wenn ein sozialdemokratisches Kabinett die Regierung stellt?

Eine Parlamentsmehrheit von sozialdemokratischen Arbeiterrepräsentanten würde damit auf ein Gebilde stoßen, das sie mit ihren eigenen Mitteln nicht besiegen kann. Gegen diese Absicherungen, mit denen die Bourgeoisie die Staatsorganisation versehen hat, sind alle Stimmzettel, alle Reden und alle Parteiklüngel machtlos. Das wissen die Sozialdemokraten selbst sehr gut, lediglich in ihrem Programm ist noch von der Einführung der „vollständigen Demokratie“ die Rede. Das wird allein dadurch möglich, daß sie sich auf die Arbeiter stützen. Diese sollen dann nicht durch den Stimmzettel, sondern mit aller Kraft ihre Macht gegen die Bourgeoisie ins Feld führen. Es kann aber auch schon geschehen, daß die besitzende Klasse den wachsenden parlamentarischen Einfluß der Arbeiter zu gefährlich findet; dann kann sie das allgemeine Wahlrecht wieder abschaffen, so sie noch über die parlamentarische Mehrheit verfügt. Mit parlamentarischen Mitteln kann man dagegen überhaupt nichts tun. Allein das Erscheinen der Arbeitennassen selbst kann das verhindern. Es kann als sicher gelten, daß teilweise schon die Furcht vor solchen massenhaften Auftritten der Arbeiter die Bourgeoisie davon abgehalten hat, das allgemeine Wahlrecht wieder anzutasten.3

Vor 25 Jahren wurde in Deutschland intensiv über die Abschaffung des Reichstagswahlrechts debattiert und dem der Generalstreik entgegengesetzt. Gegenwärtig hat die Bourgeoisie ein besseres Instrument zur Verfügung als die Abschaffung des Wahlrechts, nämlich die Ausschaltung des Parlaments und seine Ersetzung durch eine Diktatur – wie in Italien, Deutschland und anderen Ländern. Gegen die wirklichen Kräfte in der Gesellschaft, gegen den Macht- und Herrschaftswillen der Bourgeoisie ist die Parlamentswählerei völlig hilflos. In diesem essentiellen Kampf um die Macht, gegen diese wesentlichen gesellschaftlichen Veränderungen müssen die Arbeiter selbst auftreten. Die Macht, die im trügerischen Parlamentarismus ungenutzt bleibt, die Macht der Arbeiterklasse in ihrem Auftreten als Masse selbst, ist die einzige, die es mit der Bourgeoisie aufnehmen kann.

Der Nutzen des Parlaments, früher und heute

Nun stellt sich die Frage: Wenn die Grundidee der Befreiung durch den Parlamentarismus falsch ist, war es dann nicht schon immer die falsche Taktik, sich auf das Parlament zu stützen? War die Teilnahme an Wahlen nicht immer Kraftvergeudung? Dabei muß man freilich bedenken, daß sich die Gesellschaft beständig verändert. Was auf dem einen Entwicklungsstand gut und angemessen ist, kann auf einem anderen in die Irre führen und falsch sein. Die kapitalistische Gesellschaft hat sich in den letzten fünfzig Jahren stark verändert.

Als der Kapitalismus entstand, bestand die Bourgeoisie aus einer großen Zahl mäßig reicher Kapitalisten, die allein dadurch die Macht ergreifen konnten, daß sie die Parlamente gegen Fürsten und Adel stärkten. In dieser Zeit bildete sich auch die Arbeiterklasse, indem verarmte Handwerker und Bauernsöhne vom Land in die Stadt zogen, ohne einen Begriff von den neuen kapitalistischen Verhältnissen zu haben. Um sie zu organisieren, Klassenbewußtsein zu wecken und ihnen die Perspektive von Arbeitern zu vermitteln, schienen damals Wahlen ein hervorragendes Mittel zu sein. Das zog sie zu Versammlungen und in den Strom des öffentlichen politischen Lebens, das weckte ihr Interesse für gesellschaftliche Fragen, auf diese Weise wurde ihnen der Begriff des Sozialismus und die Notwendigkeit von Organisation nahe gebracht. Wo die Arbeiter kein Wahlrecht hatten, hat der Kampf um das allgemeine Wahlrecht in dieselbe Richtung gewirkt, die wachsenden Arbeitermassen in den Industriebezirken zum Kampf gegen den Kapitalismus aufzurütteln.

Dabei galt die Lehre, daß durch Wahlen auf die Dauer der Sozialismus und die Befreiung der Arbeiter kommen würden. In der realen Praxis dienten Wahlen jedoch dazu, den Kapitalismus zu einer erträglichen und akzeptablen Lebensform für die Arbeiter zu machen. Im Kapitalismus sind beide, Kapitalisten und Arbeiter, notwendig. Sie bekämpfen einander aufgrund ihrer widersprüchlichen Interessen, aber sie erfüllen dabei beide ihre Rollen. Ein normaler Kapitalismus kann allein dann bestehen, wenn die Arbeiter freie Menschen sind, imstande ihre Interessen zu verteidigen, versehen mit den Rechten und Freiheiten freier Bürger, mit dem Recht sich zu vereinigen, dem Streikrecht, der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, mit Wahlrecht, um das alles zu verteidigen. Ohne all das, und so auch ohne eine Arbeiterpartei, die im Parlament und außerhalb die direkten Interessen der Arbeiter verteidigt, ist der Kapitalismus nicht vollständig. Deshalb ist die Sozialdemokratie, nicht anders als die Gewerkschaften, ein unverzichtbares Organ der kapitalistischen Gesellschaft – das Organ, durch das alle Interessen, die die Arbeiter im Kapitalismus haben, auf eine geregelte Art und Weise zum Ausdruck kommen.

Einmal zum Organ des Kapitalismus geworden, kann die Sozialdemokratie sich von diesem Boden nicht mehr losmachen. Sie kann nicht zugleich Organ des Kapitalismus und Organ der Revolution sein. Sie redet natürlich viel über Revolution. Aber wenn sie die Arbeitermassen zu revolutionären, gegen den Staat gerichteten Aktionen aufrufen würde, dann würde die Staatsmacht ihre Organisation auflösen, ihre Konten in Beschlag nehmen, ihre Führer gefangen setzen. Damit wäre ihrer Existenz und ihrer Arbeit ein Ende gemacht. Darum fürchtet sie eine Revolution der Arbeiter durch Massenaktionen. Wenn diese jedoch ohne ihren Einfluß entstünden und Erfolg hätten, dann würde die Sozialdemokratie versuchen, sich an die Spitze der Bewegung zu setzen, um sie zu bremsen und in eine größere Regierungsgewalt für sich selbst umzulenken. Sie kann die Arbeiter nur als Wähler brauchen. Deshalb ist ihr höchstes Ziel, durch Wahlen eine Parlamentsmehrheit zu erreichen, um dann das Kabinett zu stellen. Wie sehr sie sich jedoch als Organ des Kapitalismus im Dienste der Arbeiterinteressen versteht, geht aus ihrer Praxis hervor, solange sie noch keine Mehrheit hat, sozialistische Minister zusammen mit anderen Parteien die Regierung bilden zu lassen. Dabei müssen diese Sozialdemokraten dann zugleich die Geschäfte der besitzenden Klasse betreiben und die Interessen des Kapitalismus wahrnehmen. In diesem Moment sind sie nichts anderes mehr als sozial fühlende bürgerliche Politiker. Noch schlimmer machte es die deutsche sozialistische Partei, als bei der Revolution 1918 die Macht in die Hände der Arbeiter gefallen war. Sie ließ den revolutionären Teil der Arbeiter durch Noske und die Generäle niederwerfen, bildete danach eine „sozialistische“ Regierung, tat dann aber für die Einführung des Sozialismus nicht mehr, als eine Kommission zu benennen, die darüber beraten sollte, welche Großbetriebe reif für die Nationalisierung waren. Unter dem Schutz der sozialistischen Regierung, die die Arbeiter mit süßen Reden bei Stimmung hielt, konnte das deutsche Kapital sich wieder erneuern und seine Macht wieder aufrichten. Danach wurden die sozialistischen Minister wieder nach Hause geschickt. Jetzt genießen die deutschen Arbeiter die Früchte dieser Arbeit. Früher konnte die Sozialdemokratie im Parlament für die täglichen Interessen der Arbeiter wirken. Aber in den letzten fünfzig Jahren Entwicklung hat sich auch der Kapitalismus verändert. Das Kapital ist in dieser Zeit enorm konzentriert worden. Von der großen Klasse der mittelständischen Selbständigen ist kaum noch etwas übrig. Riesige Banken, Konzerne und Monopole beherrschen das ökonomische Leben. Diese Großkapitalisten können ihre Interessen viel besser hinter den Kulissen bei Fürsten, Präsidenten und Ministern vertreten und durchsetzen als im Parlament. Deshalb verlieren die Parlamente immer mehr an Macht. Manchmal werden sie sogar ganz ausgeschaltet und durch eine Diktatur ersetzt, anderswo mißraten sie zu unwichtigen Schwatzbuden, auf die nur noch die sozialdemokratischen Arbeiter mit Achtung schauen. Haben unter diesen Umständen Parlamentswahlen keinen Nutzen mehr? O doch, sie haben einen großen Nutzen – nämlich für das Kapital. Während Wahlen früher den Arbeitern nutzten, hatten sie zugleich auch Nutzen für die Bourgeoisie, weil sich dabei der Kapitalismus ruhig und ungestört entwickeln konnte, ohne daß unter den Arbeitern immer wieder Aufstände ausbrachen.

Heute, da die Wahlen für die Arbeiter unbedeutend geworden sind, haben sie für den Kapitalismus jedoch ihren Nutzen bewahrt. Denn solange die Arbeiter wählen gehen und davon etwas erwarten, verschwenden sie ihre Gedanken nicht an andere Aktionen, die den Kapitalismus wirklich berühren würden.

Arbeiter, die an Wahlen teilnehmen, geben damit zu erkennen: Wir lassen uns noch brav an der Nase herumführen; der Kapitalismus kann beruhigt sein, er ist noch sicher.

Die kommunistische Partei

Wir haben die ganze Zeit von der Sozialdemokratie gesprochen. Ganz anders aber ist die kommunistische Partei, ruft sie doch die Arbeiter immer wieder zu Revolution und Aktionen auf. Es ist richtig, sie unterscheidet sich darin von der Sozialdemokratie, daß sie gewaltigere Worte verwendet, in scharfen Worten über die Kapitalisten und ihre Wortführer schimpft und in donnernden Kraftworten zur Revolution aufruft. Aber in Ziel und Praxis unterscheidet sie sich eigentlich nicht von der Sozialdemokratie. Sie setzt genauso auf Wahlen, mit demselben Erfolg: Wenn die Arbeiter zustimmend lesen, wie die Parteikommunisten im Parlament auf die Bourgeoisie einschlagen, sagen sie: Was sich diese Kerle trauen! Die müssen wir haben, die sollen uns befreien! Und dann werfen sie einen roten Wahlzettel in die Wahlurne und vergessen, daß sie selbst gegen den Kapitalismus kämpfen müssen.

Die kommunistische Partei will die Arbeiterrevolution in den großindustriellen Ländern Westeuropas genau so durchführen wie die bolschewistische Revolution in dem frühindustriellen und bäuerlichen Rußland, natürlich unter der Führung der Partei. In Rußland herrscht Staatskapitalismus. Dort steuert und reguliert eine allmächtige Staatsund Parteibürokratie die gesamte Industrie. Die Arbeiter werden von oben herab herumkommandiert, auch werden von oben Arbeitslohn und Arbeitszeit festgesetzt. Diese Herrschaft der Parteiführer über die Arbeiterklasse und diese Regelung der Industrie durch eine Steuerungsorganisation ist auch ihr Ziel für Westeuropa.

Die direkte Aktion der Massen

Auch in früheren Zeiten hat es Aktionen der Arbeitermassen gegeben, wo die Kraft des Parlaments nicht weit genug reichte. Zum Beispiel vor etwa einem halben Jahrhundert Massendemonstrationen und Generalstreik zur Eroberung des allgemeinen Wahlrechts in Belgien. Die Sozialdemokratie glaubt, daß solche Aktionen manchmal notwendige, aber doch außergewöhnliche Ereignisse sind, eine Art reinigendes Unwetter, nach dem der normale parlamentarische Geschäftsgang wieder wie gewohnt ablaufen kann. Das war möglich, weil die Aktionen gelangen und die Bourgeoisie schnell nachgab. Was aber, wenn die Bourgeoisie einmal nicht nachgibt, weil es um ihren Herrschaftsanspruch geht?

Kann dann die Arbeiterklasse durch solche Massenaktionen doch die Bourgeoisie besiegen?

Wir können natürlich zukünftige Ereignisse nicht präzise vorhersagen.

Noch weniger kann jemand Rat geben, wie die Arbeiter dann, später, handeln müssen. Man kann allein aus dem, was bei bisherigen Massenaktionen wie bei früheren Revolutionen geschehen ist, einigermaßen ableiten, welche Kräfte dabei auftreten und welche Wirkungen sie haben.

Wir setzen hier voraus, daß die Arbeiter die Masse der Bevölkerung ausmachen und daß die besitzende Klasse eine Minderheit darstellt. Aber diese Minderheit stützt sich auf die Staatsmacht. Die Staatsmacht besteht aus einer Beamtenorganisation, überall in der Bevölkerung verstreut, die selber eine Minderheit ist, jedoch durch eine straffe Organisation verbunden und durch einen gemeinsamen Geist beseelt ist sowie durch einen Willen aus dem Herrschaftszentrum heraus geführt wird; außerdem verfügt sie, falls nötig, über die bewaffnete Macht der Polizei und des Heeres. So kann sie eine Bevölkerungsmehrheit von vereinzelten Menschen ohne Einheit und verbindendes Element beherrschen.

Wenn jedoch die Arbeiter als eine fest geschlossene Masse in einer Riesenkundgebung gegen die Regierung aufziehen, dann versteht sie das als einen Aufstand, der den Kern ihrer Macht berührt. Sie kann nicht gleichgültig bleiben und sagen: Laßt sie mal machen. Sie kann auch nicht nachgeben wollen. Deshalb versucht sie, mit ihrer Macht die neue Macht zu brechen. Sie ruft Verbote aus, verkündet neue, einschränkende Gesetze, schickt die Polizei ins Feld. Ist jedoch der Zusammenhalt, die Geschlossenheit, die Masse auf der Kundgebung so groß, daß sie sich nicht zerstreuen läßt, dann hat die Autorität bereits Schaden davon getragen. Die Staatsmacht hat zwar noch stärkere Waffen; sie hat das Heer. Aber die Erfahrung zeigt, daß auf die Dauer Soldaten, die gegen Massenaktionen eingesetzt werden, aber selber aus dem Volk stammen, wankelmütig und unzuverlässig werden. Auch die Arbeiter haben stärkere Waffen: Massenstreiks, durch die die gesamte gesellschaftliche Struktur durcheinander gerät. Kann die Regierung diese Aktionen nicht unterdrücken, und das ist der Fall, solange sie nicht die „Ordnung wiederhergestellt“ hat, dann verliert sie noch mehr an Autorität. Außerdem wird durch allgemeine Verkehrsblockaden die Verbindung zwischen den lokalen Autoritäten und der zentralen Regierung unterbrochen. Jeder Bürgermeister muß dann auf eigene Verantwortung handeln; die Einheit und der feste Zusammenhalt der gesamten Staatsmacht werden damit zerrüttet. Natürlich versucht umgekehrt die Regierung zusammen mit der besitzenden Klasse die Organisation4 und die Einheit der kämpfenden Arbeitermassen zu brechen, durch die Ausrufung des Belagerungszustandes, durch die Inhaftierung von Anführern oder Wortführern, durch den Einsatz von Gewalt an der einen Stelle, durch Versprechungen und Zugeständnisse an der anderen, und durch die Verbreitung von Falschmeldungen über Fehlschläge, um das Selbstvertrauen der Arbeiter zu mindern. Und vor allem durch die traditionelle Aufsplitterung der Arbeiter in allerlei Verbände, Parteien, Richtungen und Ideologien, durch die Führer dieser Verbände, oder sie setzen darauf, Uneinigkeit und Mißtrauen unter den Arbeitern zu säen. In jeder Aktion kommt es deshalb darauf an, welcher Teil der kämpfenden Mächte innerlich der stärkste und am meisten gefestigte ist. Jeder bezwingt durch die eigene Stärke die des Gegenübers.

Bei ihren ersten Massenaktionen – die teilweise aus politischen Konflikten, teilweise aus großen Streiks, zum Teil aber auch aus Notlagen entstehen können – ist die Macht der Arbeiter noch gering. Sie können zwar manchmal bescheidene Erfolge verbuchen, wenn es um ein begrenztes Ziel geht. Aber oft erleiden sie auch Niederlagen. Die innerliche Zersplitterung in viele Verbände und Parteien wirkt noch nach, Selbstvertrauen, Einsicht und Solidarität sind noch unzureichend. Solange sie auch noch ihr Vertrauen in andere setzen und glauben, daß die sozialdemokratische oder kommunistische Partei sie durch das Parlament befreien kann, werden sie sich von den Mühen und Opfern der direkten Aktion abschrecken lassen. Am Ende werden sie aber trotzdem kämpfen müssen, immer wieder aufs Neue, durch die Not im Kapitalismus gezwungen. Und mit jeder Kampferfahrung wachsen ihre Kraft und ihr Zusammenhalt. Nicht auf einmal, aber in einer Reihe von revolutionären Massenbewegungen kann die Arbeiterklasse siegen. Denn die wesentliche Bedingung ihres Sieges ist, sich selbst zu einer festen, durch stahlharte Solidarität unantastbaren Kampfmacht zu machen, der gegenüber alle Unterdrückungsversuche der Staatsmacht machtlos abprallen. Natürlich ist das nicht einfach. Was hier in einfachen zusammenfassenden Worten gesagt wird, wird eine lange Zeitspanne – wie lange wissen wir nicht – und schwere Kämpfe brauchen, auf die spätere Geschlechter als wichtigste Umwandlungsphase in der Geschichte zurückblicken werden. Noch nie zuvor in den Revolutionen vergangener Zeiten stand der aufkommenden Klasse ein so starker, gerüsteter Feind gegenüber. Aber auch noch nie zuvor besaß sie solche Kraft. Die Bourgeoisie wird bis zum Äußersten kämpfen, denn für sie geht es um Leben und Tod. Auch wenn das eine Regierungssystem zusammenbricht, wird sie Mittel und Wege finden um ein neues zu errichten. Drohen Massenstreiks, organisiert sie Heere von Streikbrechern, um die Schlüsselindustrien weiter betreiben zu können. Sind die normalen Truppen unzuverlässig, dann stellt sie fanatische Freikorps aus kleinbürgerlichen und subproletarischen Elementen und solchen mit mangelndem Klassenbewußtsein auf, die für sie kämpfen. Aus der modernen Kriegstechnologie wird sie grausame Angriffswaffen gegen aufständische Arbeiter einsetzen. Versuchen die Arbeiter besetzte Fabriken zu Stützpunkten im Kampf auszubauen, dann wird sie versuchen, die Fabriken mit gehorsamen „gelben“ Elementen weiter zu führen.5 Das alles kann ihr in einem solch außergewöhnlichen Fall hilfreich sein. Aber danach werden die Geschlossenheit und der Zusammenhalt der Arbeitermassen wieder zu großer Macht anwachsen. Denn diese ziehen stets neue Kraft aus der Tatsache, daß sie die Arbeiter sind, die die Welt, ihre Welt tragen, daß sie ihre Freiheit erringen müssen, während die anderen, durch die Entwicklung überflüssig geworden, eine Parasitenklasse darstellen, die künstlich ihre Herrschaft aufrecht zu erhalten versucht. Es ist kein anderes Ende möglich, als daß die Staatsmacht zerbröselt und zu Staub zerfallt, ihre Autorität verfliegt und die vormalige Bourgeoisie machtlos wird. Dann besitzt die Arbeiterklasse die politische Herrschaft, dann hat sie die Macht über die Gesellschaft erobert. Das ist dann der Zustand, den Marx die Diktatur des Proletariats genannt hat.

Die Arbeiterräte

Der revolutionäre Kampf der Arbeiterklasse wird meist als im Wesentlichen destruktive, zerstörende Kraft verstanden. Die Organe der alten Autorität der Bourgeoisie müssen besiegt werden und gehen dabei zu Grunde. Natürlich müssen in diesem Fall zugleich neue Institutionen aufgebaut werden, die der Einheit und dem Zusammenhalt der Arbeiter entsprechen. Weil Einheit im Handeln zentrale Steuerung hervorbringt und die Führung als Vertreter doch von allen demokratisch gewählt werden muß, liegt der Irrtum nahe, daß auf diese Weise durch die Arbeiter doch wieder eine neue Staatsmacht, Regierung und Parlament eingeführt werden müssen. Vor allem, um die Gesetze zu erlassen, mit denen das neue sozialistische Eigentumsrecht eingeführt wird. So kommt man, scheint es, doch wieder dorthin, wo auch die Sozialdemokratie hin will. Das ist aber nur scheinbar so. Zum ersten ist es nicht richtig, daß neue Eigentumsformen durch Gesetze eingeführt werden müssen. Ein Gesetz kann genauso gut lediglich als bindende Regel festhalten, was bereits zum größten Teil Realität geworden ist. Während des Kampfes selbst haben die Arbeiter die Produktionsmittel, die Fabriken in Besitz genommen, weil sie sie zum arbeiten brauchen, um die lebensnotwendigen Produkte herzustellen. Die gesetzliche Regelung folgt dem lediglich. Auch ist es durchaus richtig, daß die siegreiche Arbeiterklasse Organe schaffen wird, mit denen die Einheit des Handelns garantiert wird. Diese werden aber völlig anders aussehen als Parlamente oder Regierungen. Sie erwachsen aus den gesellschaftlichen Notwendigkeiten und beginnen sich bereits im Kampf selbst zu bilden. Bei jedem großen Kampf, zum Beispiel einem Streik, der viele Fabriken erfaßt, müssen die Arbeiter für Einheit im Handeln sorgen, indem sie sich beständig darüber verständigen. Weil nicht die gesamte Masse in einer Versammlung diskutieren kann, schickt jede Belegschaft ihre Sprecher. Bei Massenbewegungen, die sich über größere Gebiete erstrecken, ist dies noch viel notwendiger. In diesem Fall werden die Versammlungen der Abgeordneten der jeweiligen Fabriken und Werkstätten zu den wichtigsten Organen, die die Leitung innehaben. Das sind die Arbeiterräte. Sie sind etwas ganz anderes als Parlamente, weil die Räte jeweils Vertreter der Betriebsgruppen sein werden, die sie entsenden, und sagen und tun werden, was diese Gruppen denken und wollen und in jedem Moment abberufen und von anderen Vertretern ersetzt werden können. Sie haben deshalb nichts von unabhängigen Führern. Die Arbeiter selbst können jederzeit über alles entscheiden und sind selbst verantwortlich. Das ist der Beginn der Arbeiterdemokratie, der wahren Demokratie, im Gegensatz zum scheindemokratischen Parlamentarismus.

In dem Maße, in dem die Macht der Arbeiter in revolutionären Bewegungen zunimmt und die des bürgerlichen Staatsapparates schwindet, erhalten diese Arbeiterräte stets größere und wichtigere Aufgaben. Sie müssen dabei jeweils unterschiedliche Formen annehmen, die der Forderung des jeweiligen Augenblicks entsprechen: hier Streikleitung, dort Organ für die Lebensmittelversorgung oder -produktion, woanders Regierungsorgan für die Handhabung der neuen Ordnung. Denn in dem Maße, in dem die Macht der Arbeiter wächst, werden ihre Institutionen mehr und mehr zur rechtlichen Autorität der Gesellschaft, während die ehemalige besitzende Klasse, die durch ihren Widerstand die neue Ordnung stört, unterdrückt werden muß.

Die Arbeiterräte sind die politischen Organe der Diktatur des Proletariats. Durch die Art und Weise, wie sie gewählt werden, bleibt die Bourgeoisie von ihnen völlig ausgeschlossen. Wer darin einen Verstoß gegen die Demokratie, gegen die Rechtsgleichheit jedes Menschen sieht, muß berücksichtigen, daß die Bourgeoisie kein Existenzrecht mehr hat und verschwinden muß – im Gegensatz zum Kapitalismus, in dem beide, Bourgeoisie und Arbeiterklasse, notwendig sind und deshalb einander anerkennen müssen. In der neuen Gesellschaft gibt es nur noch Arbeiter, die gemeinsam ihre Arbeit regeln und darüber entscheiden, in Industrie und Landwirtschaft, im kleinen Maßstab der Fabrik wie im großen Maßstab des Volkes, des Staates und der Menschheit, die das Zusammenwirken der Weltproduktion zu regeln und zu organisieren hat. So kann es als sicher gelten, daß eine Befreiung der Menschheit aus dem Kapitalismus auf parlamentarischem Wege, in dem die Arbeiter ihren Kampf auf Führer übertragen, nicht möglich ist. Sie ist nur durch Massenaktionen der Arbeiter selbst möglich. Bei ihren Versuchen, diese Massenbewegung zu unterdrücken, wird die Staatsmacht, als Organ der herrschenden Klasse, schließlich in einer revolutionären Phase zu Grunde gehen. Die siegreiche Arbeiterklasse errichtet die neue kommunistische Gesellschaft und sie organisiert die Arbeit nach den Vorgaben der Arbeiterräte. Die Befreiung der Arbeiter kann nur das Werk der Arbeiter selbst sein.


1[ED.] (Anonym), De Arbeiders, het Parlement en het Kommunisme. Uitgeven door: Groep van Internationale Communisten (G.I.C.), Amsterdam 1933. In einigen Exemplaren ist neben der GIC die „Linksche Arbeiders Oppositie” (LAO) als Mitherausgeber aufgeführt; wieder abgedruckt wurde der Text in dem Band: Anton Pannekoek, Partij, Raden, Revolutie. Samengesteid en van aantekeningen voorzien door Jaap Kloosterman, Amsterdam 1972, S. 63-80. Dem Text vorangestellt ist folgende redaktionelle Vorbemerkung:

„Zielsetzung

Die kapitalistische Entwicklung führt zu stets heftigeren Krisen, die in einer stets größeren Erwerbslosigkeit und einer immer tiefer gehenden Erschütterung der Wirtschaft zum Ausdruck kommen. Millionen Arbeiter werden dadurch von der Produktion ausgeschaltet und dem Hunger preisgegeben. Zugleich verschärfen sich die Gegensätze der verschiedenen kapitalistischen Länder so, daß die Konkurrenz, zum Wirtschaftskrieg geworden, ausmünden muß in einen neuen Weltkrieg.

Die fortschreitende Verarmung und die wachsende Unsicherheit der bloßen Existenz zwingen die Arbeiterklasse, für die kommunistische Produktionsweise zu kämpfen. Die Gruppen internationaler Kommunisten fordern die Arbeiter in diesem Kampf auf, Verwaltung und Leitung von Produktion und Distribution nach allgemein geltenden, gesellschaftlichen Regeln selbst in die Hand zu nehmen, um so die Assoziation freier und gleicher Produzenten zu verwirklichen. Die Gruppen internationaler Kommunisten sehen in der Entwicklung des Selbstbewußtseins der Arbeiter den wesentlichen Fortschritt der Arbeiterbewegung. Sie bekämpfen darum die Führerpolitik der parlamentarischen Parteien und der Gewerkschaften und erheben als Kampfeslosung: Alle Macht den Arbeiterräten!”

2Damit ist der Nährboden der „allmählichen Anhebung des Lebensstandards” zerstört und die Verarmung der Massen setzt sich fort.

3Zum anderen war es die Überzeugung, daß das allgemeine Wahlrecht als Sicherheitsventil, durch das sich die allgemeine Unzufriedenheit der Massen entladen kann, eine ruhige kapitalistische Entwicklung sicherstellt.

4Wenn hier von Organisation gesprochen wird, dann natürlich niemals im Sinne von Mitgliedschaft in einer Vereinigung, sondern allein im Sinne einer festen, unzerbrechlichen Einigkeit im Handeln.

5[ED] „Gelb” bezeichnet die Arbeiter und Arbeiterorganisationen, die die Idee des Klassenkampfes und seine Notwendigkeit bestreiten. Zum Teil von Seiten der „Kommunistischen Internationale” für die Sozialdemokratie verwandt, teilweise auch für Streikbrecher, wie in dem vorliegenden Zusammenhang.

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(1920) Anton Pannekoek, Weltrevolution und kommunistische Taktik https://panopticon.blackblogs.org/2023/08/08/1920-anton-pannekoek-weltrevolution-und-kommunistische-taktik/ Tue, 08 Aug 2023 10:40:27 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5107 Continue reading ]]> (1920) Anton Pannekoek, Weltrevolution und kommunistische Taktik

Ein paar Wörter von uns, wir haben diesen Text von Anton Pannekoek, samt der Einleitung von der Internationalistischen Kommunistischen Gruppe veröffentlicht, im Falle von IKG um den ganzen nochmals einen historischen Blick zu geben, weil der von Anton Pannekoek 1920 veröffentlichte Text viele Fragen aufwirft die für alle Anarchistinnen, Anarchisten und sämtliche Revolutionäre die den Staat-Kapital zerstören wollen noch heutzutage von Bedeutung sind.

Nicht nur dass mit diesem Text Anton Pannekoek mit seiner sozialdemokratischen Vergangenheit komplett bricht und schon, bewusst oder unbewusst, den neue radikale Form der Sozialdemokratie seiner Zeit anfangen würde zu kritisieren, nämlich den Leninismus, sondern er erkennt mehrere Punkte die von enormer Bedeutung sind, wenn auch die Einleitung von IKG mehr darauf eingeht, hier ein paar Punkte. Die Herrschaft des Kapitalismus ist international, und genauso international muss seine Zerstörung sein, daher seine Analyse des Kapitals auf Weltebene. Dass die Demokratie die beste Herrschaftsform für den Kapitalismus ist und diese genauso angegriffen werden muss. Dass die Aufgaben aller Feinde des Kapitals-Staates immer praktischer Natur sein werden, dass diese niemals im Opportunismus und Reformismus verfallen darf. Dies uns vieles mehr kommt in diesem Text zur Sprache.

Soligruppe für Gefangene


Einleitung von GCI-IKG

Dieser Text stellt die zur Zeit beste Gesamtdarstellung des Standpunkts der kommunistischen Linken zu allen entscheidenden Problemen (vor allem in der unmittelbaren Zukunft) dar, die in der internationalen kommunistischen Bewegung bestehen: Opportunismus in der KI, Parlamentarismus, Frontismus, Gewerkschaftswesen/Syndikalismus, Arbeiterkontrolle, Arbeiterregierung…. Leider können wir ihn aus Platzgründen nicht in einer einzigen Ausgabe von Comunismo veröffentlichen, aber der zweite Teil wird in einer der nächsten Ausgaben erscheinen1. Obwohl dieser Artikel als Antwort auf Radeks Text „Die Entwicklung der Weltrevolution und die Taktik der kommunistischen Parteien im Kampfe um die Diktatur des Proletariats“ geschrieben wurde, einen Artikel, den Pannekoek als „die programmatische Schrift des kommunistischen Opportunismus“ bezeichnet, erhält dieser Text in dem Maße, in dem Radeks (und Levys) Politik von Lenin und allgemein von der Führung der KI übernommen wird, eine viel allgemeinere Gültigkeit. Die Lesenden sollten bedenken, dass dieser Text zeitgleich mit Lenins Text „Die Kinderkrankheit“ verfasst wurde und dass Pannekoek noch nicht wusste, dass die Führung der Bolschewiki die opportunistischen Positionen einnehmen würde, die er hier kritisiert, was erst auf dem Zweiten KI-Kongress und auf der Grundlage der Veröffentlichung von Lenins Pamphlet deutlich werden wird. Deshalb gibt es hier keine explizite Kritik an der bolschewistischen Führung, sondern fast eine Entschuldigung für sie, obwohl er in Wirklichkeit von A bis Z kritisiert, was später als marxistisch-leninistische Politik2 bekannt sein wird.

Es besteht kein Zweifel daran, dass man diesen Text am besten liest, wenn man immer den historischen Kontext im Auge behält (wofür es zum Beispiel sehr wichtig ist, die Chronologie nachzulesen, die wir in früheren Ausgaben veröffentlicht haben) und um zu wissen, worum es ging, Lenins Artikel über „Die Kinderkrankheit“ als parallelen und widersprüchlichen Text liest.

Im Allgemeinen wurde in der internationalen kommunistischen Linken der Artikel „Antwort auf Lenin“ von Herman Gorter als Gegenpol zu Lenins „Die Kinderkrankheit“ betrachtet, in dem der Autor erklärt, dass der Artikel „Die Kinderkrankheit des Kommunismus“ …. „für das revolutionäre kommunistische Proletariat das ist, was Bernsteins Buch für das vorrevolutionäre Proletariat war“. Der Artikel von Gorter, der zu einer Zeit geschrieben wurde, als die ersten katastrophalen Ergebnisse der von Lenin vertretenen opportunistischen Politik in Westeuropa bereits verifiziert waren, wird jedoch, obwohl er sehr wichtige Elemente beisteuert, von einer völlig falschen Idee beherrscht, nämlich dass die leninistische Politik, die in Westeuropa in eine Sackgasse führte, auch anderswo gültig sein könnte und Lenin zugestanden wird, dass sie in Russland gültig war. Das öffnet natürlich die Tür für die Ideologie von verschiedenen Revolutionen in verschiedenen Ländern, von nationalen Revolutionen, von der Gültigkeit demokratischer Aufgaben in dem einen oder anderen Land, vom Bündnis der Arbeiter und Bauern (Hammer und Sichel) für die Entwicklung des Kapitalismus? Dies wird sogar dazu führen, dass Teile der „kommunistischen Linken“ die Einzigartigkeit der Weltrevolution des Proletariats völlig aus den Augen verlieren und sogar den proletarischen Charakter der Revolution in Russland leugnen (Assimilierung der Bewegung an ihre Banner und ihre Führer), um wie Gorter sie als eine doppelte Revolution, teils proletarisch und teils bourgeois-demokratisch, zu betrachten. Die Krönung dieser Auffassung ist eine bis zur Absurdität getriebene, totale Reduzierung des geografischen Raums und des Subjekts der kommunistischen Revolution. Ein paar Jahre später wird Gorter im Manifest der „Kommunistischen Arbeiter-Internationale“ sagen: „Die wirklichen Länder der proletarischen Revolution sind England, Deutschland und ein Teil des östlichen Teils der Vereinigten Staaten“ (!!!).

Es liegt auf der Hand, dass diese Art von Material trotz dieser Fehler für verschiedene informative, methodische und konzeptionelle Aspekte wichtig ist, die die Stärken und Schwächen der internationalen kommunistischen Linken gut oder schlecht zum Ausdruck bringen, die es nie geschafft hat, sich angesichts der Degeneration der KI als echte alternative revolutionäre Führung des Avantgardeproletariats zu konstituieren.

Aber wenn wir Pannekoeks Artikel den Vorrang geben, dann nicht zufällig, sondern gerade weil die zentrale Achse des Textes (trotz dieses und jenes Punktes) die des Weltkapitalismus und der kommunistischen Weltrevolution ist. Und dass diese oder jene Taktik in Russland gültig und daher auch anderswo anwendbar war, was das starke Argument für das Manövrieren in der KI und die Anwendung aller taktischen Mittel des Opportunismus war, haben die kommunistische Linke im Allgemeinen und Pannekoek im Besonderen immer bestritten, aber es scheint uns, dass die beste Antwort von der russischen kommunistischen Linken selbst gegeben wurde, denn es waren die Protagonisten selbst, die die historische Falschheit von Lenins Argument anprangerten.

So behaupteten die Besten der bolschewistischen Partei gemeinsam mit Miasnikow, dass die Revolution in Russland nicht dank der Einheitsfront mit den Menschewiki, Populisten und Sozialrevolutionären gesiegt habe, sondern durch den Kampf gegen sie. Siehe Miasnikovs Manifest, das wir, wie du verstehen kannst, nicht zufällig veröffentlicht haben (A.d.Ü., erschien in derselben Ausgabe wie der Text von Pannekoek).

Das heißt, dass alles, was in diesen Artikeln besprochen wird, „die Weltrevolution und die Taktik des Kommunismus“ betrifft und keinesfalls auf ein regionales, westliches oder nationales Problem reduziert werden kann…

In dieser Darstellung, in der wir uns nicht damit aufhalten können, alle positiven oder negativen Punkte von Pannekoeks Beitrag aufzuzählen, wollen wir hervorheben, dass er nicht nur methodisch nie das weltweite Wesen des Kapitals aus den Augen verliert, sondern sogar so weit geht, die Umkehrung/Verwechslung von Zielen und Mitteln eingehend zu analysieren, die das Schlüsselelement ist, um die leninistische Peroration des Gegensatzes zwischen Taktik und Prinzipien aufzulösen. So stellt Pannekoek zum Beispiel im Gegensatz zu dem, was Lenin der kommunistischen Linken zuschreibt, keinen platonischen Gegensatz zwischen dem bourgeoisen Parlament und den Arbeitersowjets auf und leitet daraus ab, dass das Parlament nicht auf revolutionäre Weise genutzt werden sollte, sondern er geht der parlamentarischen Struktur auf den Grund, analysiert ihre Funktionsweise und die Folge, die sie hat, indem sie die Masse der Proletarier in Zuschauer verwandelt, denn unabhängig von jedem parlamentarischen Diskurs,3 wenn ihre Vertreter im Parlament sitzen, wird ihnen gesagt, dass es einem Zweck dient. So können sie erklären, dass das Parlament zwar als Mittel, als Taktik gilt und das theoretische Ziel der Partei die kommunistische Revolution bleibt; in Wirklichkeit ist der Kommunismus aber nur der Köder, das Mittel, um Arbeiterinnen und Arbeiter zur Unterstützung einer parlamentarischen Politik zu rekrutieren.

Dieser allgemeine Grundsatz, den Pannekoek aufstellt, gilt für alle opportunistischen Taktiken und wird in allen Parteien der bourgeoisen Linken bestätigt: Sie sagen, sie gehen ins Parlament, in die Gewerkschaften/Syndikate, in die Ministerien…, um die Revolution zu machen, in Wirklichkeit rekrutieren sie mit der zukünftigen Revolution, um ins Parlament, in die Gewerkschaften/Syndikate, in die Ministerien zu gehen.…

Dies hängt mit einem weiteren Punkt zusammen, der die Aufmerksamkeit des Lesers verdient. Um seine „infantilistischen“ Gegner lächerlich zu machen, nimmt der Leninismus den Gegensatz Massen/Bosse, der in sehr vielen Äußerungen der kommunistischen Linken auftaucht, vor allem in der deutsch-holländischen und ausdrücklich in diesem Text von Pannekoek. Es stimmt, dass es eine klassische, für die anarchistische Ideologie typische Auffassung dieses Problems gibt, nach der die Massen von Natur aus immer im Recht und sogar revolutionär wären, das Problem aber die Bosse wären, die die Bestrebungen der Massen systematisch verraten würden. Eine solche Auffassung ist – wie Marx bereits dargelegt hat – absurd, weil sie nicht erklären kann, warum sich die revolutionären Massen immer von Konterrevolutionären anführen lassen. Wäre dieser vereinfachende Gegensatz, der typisch für die vulgäre Logik ist, tatsächlich gültig, wäre die Revolution extrem einfach, die revolutionären Massen würden den Anführern die Köpfe abschlagen und es gäbe kein Problem. Wenn Letzteres gar nicht so einfach ist, liegt das daran, dass es etwas in den Massen gibt, das sie dazu bringt, „Verräter“ zu wählen, oder das sie dazu bringt, immer von den „Massen“ verteidigt zu werden, bzw. es muss eine Reihe von Mechanismen geben, die dafür sorgen, dass die Bosse nicht auf die Interessen der Massen eingehen. Während die idealistische Masse-Bosse-Opposition zu einer Forderung nach mehr Demokratie für die Massen führt, die weiterhin Bosse wählen werden, die sie bescheißen, macht der revolutionäre Marxismus deutlich, dass es gerade die Demokratie ist, die es der herrschenden Klasse ermöglicht, bestimmte Elemente unter den soziologischen Mitgliedern des Proletariats für die Verteidigung ihrer Interessen zu kooptieren, und dass diese Kooptation durch eine Reihe demokratischer Mechanismen (Vollversammlungen, Abstimmungen, Kongresse…) sichergestellt wird, in der nicht die Gemeinschaft des Kampfes gegen das Kapital vorherrscht, sondern der atomisierte einzelne Arbeiter, der nach seinen (notwendigerweise bürgerlichen) Vorstellungen entscheidet. Das heißt, es ist nicht notwendig, dass die Bourgeoisie manövriert oder sich in einer geheimen Sekte trifft, um Mitglieder der gegnerischen Klasse zu kaufen und sie in ihren Dienst zu stellen, sondern der eigentliche Inhalt der bourgeoisen Herrschaft – die Demokratie – bringt atomisierte Individuen hervor – ob sie nun Arbeiter sind oder nicht – die ihre Macht an andere Individuen delegieren, die diese demokratische Herrschaft objektiv verteidigen. Dieser Teufelskreis wird nur durch direkte Aktionen durchbrochen, gegen die Ware und die Demokratie, durch die Bejahung und Entwicklung der Kampfgemeinschaft, die das Individuum zerschlägt und damit die Grundlage der Demokratie unterdrückt. Unter diesen Umständen wird die Führung des Proletariats nicht von einem oder mehreren Anführern übernommen, an die die Massen die Macht delegiert haben, denn eine solche Delegation hat im Rahmen der Kampfgemeinschaft, die die Trennung von Notwendigkeit/Handlung/Entscheidung überwindet und zusammen mit dem Individuum hinweggefegt wird, keine Daseinsberechtigung, sondern von der historischen kommunistischen Perspektive, die sich in der Aktionsgemeinschaft konkretisiert (natürlich in globalen und nicht in unmittelbaren historischen Begriffen gedacht). Natürlich wird diese Führung von den konsequentesten Militanten verkörpert, aber anstatt eine Macht gegenüber denen zu sein, die sie delegiert haben (ein Produkt der Demokratie), sind sie echte Organe der Zentralisierung der Kampfgemeinschaft (ein Produkt des Kommunismus).

Pannekoek ging wie kein anderer Revolutionär seiner Zeit so weit, die allgemeine Kritik an der Demokratie explizit weiterzuentwickeln, die Karl Marx ein halbes Jahrhundert zuvor begonnen hatte, als er unter Überwindung der gängigen Auffassung, die die Demokratie mit einer einfachen Form der Herrschaft gleichsetzte, zeigte, dass sie die wahre Grundlage der Herrschaft des Kapitals ist, und demonstrierte, dass sie untrennbar mit dem Warenzyklus und der Produktion des Einzelnen verbunden ist. Doch Pannekoek war keineswegs der luzideste Kritiker Kautskys und einer der ersten, der die Theorie von der Besetzung des bourgeoisen Staates am klarsten und deutlichsten darlegte und die Notwendigkeit seiner Zerstörung argumentierte4. Seine Analyse der Massen/Bosse zielt auf die Kritik des Reformismus, also des Kapitalismus unter sozialistischer Kontrolle (Arbeiterkontrolle, Arbeiterregierung).

Die Sozialdemokratie als Partei im traditionellen Sinne des Begriffs, d. h. als Partei des bourgeoisen Staates, als Partei der Klientel, für die die Massen und ihre Banner nur das Rohmaterial sind, um ihre Beteiligung am Staat zu erhöhen, hatte kein Interesse an der Entwicklung der autonomen Initiative der Massen. Für die Revolution ist sie im Gegenteil unverzichtbar. Parlamentarismus, Gewerkschaftswesen/Syndikalismus, Bündnisse zwischen Parteien zur Beteiligung an Regierungen… entsprechen nicht nur dem Zusammenspiel zwischen den Teilungen des Staates, den Parteien, in die die Nation gespalten ist, sondern halten das Proletariat objektiv im Schlaf, als passive und amorphe Masse. Mit anderen Worten: Pannekoek begnügte sich nicht mit einer Kritik der „Taktik“ oder der Strukturen, auf die sich die Sozialdemokratie stützte, sondern versuchte, die tief sitzenden Mechanismen zu erfassen, die es ermöglichten, die bourgeoise Vorherrschaft inmitten der ökonomischen/sozialen Zersetzung des Kapitalismus aufrechtzuerhalten, d.h. die Mechanismen, die das Proletariat in seinem Bruch mit der Sozialdemokratie zurückhielten.

Wir sollten uns vor Augen halten, wie sehr diese Auffassung im Gegensatz zu der vorherrschenden Auffassung der Parteien stand, die sich der Dritten Internationale angeschlossen hatten und gerade dadurch ihren fehlenden Bruch mit der Sozialdemokratie demonstrierten. Für sie – wie auch für Kautsky – war alles eine Frage der politischen Kontrolle; was zu verurteilen war, war nicht der Parlamentarismus, sondern der Verrat der Parlamentarier; es war nicht der Gewerkschaftswesen/Syndikalismus, sondern das, was die Gewerkschaftsführer verkauft hatten (die „Arbeiteraristokratie“) und die Alternative war die Eroberung der Führung der Gewerkschaften/Syndikate durch Revolutionäre. … und grundsätzlich sei der Kapitalismus nicht zu verurteilen, sondern es komme darauf an, wer ihn kontrolliere, daher die Politik der „Arbeiterkontrolle“, der „Arbeiterregierung“, die (von der gesamten KI beklatschte) bolschewistische Politik der Entwicklung der kapitalistischen Produktion und Kommerzialisierung unter der Regie des „Arbeiterstaates“ (siehe Comunismo Nr. 15-16) usw. Pannekoeks Position ist glasklar: Es ist der Parlamentarismus selbst, in welcher Form auch immer, der die revolutionäre Aktion der Massen lähmt, und es ist genau der Mechanismus des Parlamentarismus, der die Bosse zu Verrätern macht: Wenn sie „Revolutionäre“ an die Stelle von „Reformisten“ setzen, werden sie am Ende selbst zu Reformisten. Das Gleiche gilt für die Gewerkschaften/Syndikate, denn im Gegensatz zu dem, was die vorherrschende Position in der KI glaubt (was sie sein wird). Die Gewerkschaften/Syndikate sind nicht die Gesamtheit der Gewerkschaften/Syndikate (in diesem Fall würde es ausreichen, wenn sie ihre Aktionen und ihre Führung ändern, um „revolutionäre“ Gewerkschaften/Syndikate zu machen), sondern eine Struktur, die den Proletariern fremd ist und die Ausbeutung reproduziert. Ein solches Verständnis erlaubt es Pannekoek, eine Kritik der Arbeiterkontrolle zu skizzieren und das revolutionäre Proletariat vor der Bildung sozialistischer Regierungen („die letzte Zuflucht des Kapitalismus“) zu warnen; vor allem aber führt er die Kritik an der damals vorherrschenden sozialdemokratischen Konzeption des Übergangs zum Sozialismus (siehe Comunismo 15-16) fort, indem er „Ökonomismus“ und „Politismus“ kritisiert und bekräftigt, dass die Revolution weder die einfache Übernahme der politischen Macht durch die Partei des Proletariats plus eine Reihe von ökonomischen Reformen ist, noch die Kontrolle der Fabriken durch die Arbeiter, sondern ein sozialer, ökonomischer und politischer Prozess der Zerstörung aller bisherigen gesellschaftlichen Verhältnisse („Auflösung der alten bestehenden Verhältnisse“, „aller Kräfte der alten Welt“), „bevor man vom eigentlichen Aufbau des Kommunismus sprechen kann“. .. Natürlich haben wir es hier nur mit den ersten Andeutungen oder Intuitionen einer Theorie des revolutionären Übergangs im Bruch mit der Sozialdemokratie zu tun, aber es muss bedacht werden, dass dies die Achillesferse der gesamten revolutionären Avantgarde ist. In Russland zum Beispiel wird keine der linken Oppositionen einen vollständigen Bruch mit Lenins politischer und verwaltungstechnischer Konzeption vollziehen, und so werden sie sich, anstatt für die effektive Zerstörung der Produktionsverhältnisse, der Ware, des Lohnarbeiters, der Rentabilität … zu kämpfen, der Forderung nach einer stärkeren Verwaltung der Produktion und der Gesellschaft durch die Arbeiter widmen, wie wir es bei Ossinski oder bei den anderen Arbeiteroppositionen gesehen haben (siehe Comunismo 18), und wie wir jetzt sehen werden, entgeht auch Miasnikovs Arbeitergruppe nicht dieser Entwicklung.

Das heißt, Pannekoek übt eine tiefgreifende Kritik am Reformismus und an der Demokratie, die bis zu den Wurzeln der Gegenposition Reformismus/Revolution geht, und das, obwohl er die Passivität der von den Bossen manipulierten Massen fast als einzige Achse der Frage ansieht, im Gegensatz zu einer echten sozialen Revolution, in der das Proletariat selbst durch Aktion revolutioniert wird. Natürlich war dies für diejenigen, für die „Revolution einfach eine Frage der Übernahme der politischen Macht, der Führung, des Austauschs korrupter Führer gegen revolutionäre Führer, der Arbeiterkontrolle oder „revolutionärer“ Parteien, die die Entwicklung des Kapitalismus lenken, war, entweder völlig unverständlich oder eine verallgemeinerte Denunziation, eine Kriegserklärung, die auf die Führung der KI und des russischen Staates anspielte (und einige Monate später noch deutlicher werden sollte). Aus dem einen oder anderen Grund, aus Unverständnis oder wegen eines Kampfmanövers, oder sicherlich aus beidem, haben sich die Reformisten der KI und des russischen Staates nie die Mühe gemacht, dem auf den Grund zu gehen, was Pannekoek oder andere Militante der kommunistischen Linken vorbrachten, und in allen Texten, in denen darauf Bezug genommen wird, werden sie als Gegner jeglicher Führung, als parteifeindlich, als Gegner der Parteidisziplin usw. dargestellt. Das ist objektiv und absolut falsch, wie der Leser in Pannekoeks Text sehen kann und noch mehr, wie wir zeigen können, wenn wir eine allgemeinere Arbeit über die Praxis der kommunistischen Linken in Deutschland machen, die immer die Konstituierung eines „ultrageformten Minderheitskerns“ im Bruch mit aller reformistischen, syndikalistischen und parlamentarischen Praxis in den Mittelpunkt ihres Handelns stellte, der „nicht nur durch Worte, sondern durch Taten“ weiß, wie man die wirkliche Führung des Proletariats ist.

Fraglich ist jedoch, ob in diesem oder anderen früheren Texten von Pannekoek Elemente zu finden sind, die Vorläufer der verrotteten räteorientierten und/oder antisubstitutionistischen Konzeption sind, die Pannekoek Jahre später annehmen wird. Natürlich gibt es Elemente, die in diesem Sinne interpretiert werden können, aber man darf nicht vergessen, dass alle revolutionären Militanten jener Zeit von der Sozialdemokratie beschuldigt wurden, Substitutionisten, Putchisten, Antidemokraten, Avantgardisten … zu sein, und alle von ihnen, selbst die formellsten „Parteigänger“ unter solchen Umständen, wie Sinowjew, Bela Chun, Trotzki … schienen das Gegenteil zu sagen.

Es scheint uns wichtiger, als nach individueller Kontinuität in diesem Sinne zu suchen, zu bedenken, dass mit der Niederlage des Proletariats, das objektiv wieder zu einer Manövriermasse der Konterrevolution wird, wieder zu sektiererischen Gruppierungen werden wird, zwei Theorien wieder auftauchen, die das Ergebnis dieser Tragödie sind: der Rätekommunismus und die „Parteilichkeit“, beides formalistische Theorien, die natürlich nichts mit der Konstituierung des Proletariats zu einer Klasse (in Bezug auf die die Räte nichts anderes sind als die Form, die eine solche Organisation in der letzten revolutionären Welle angenommen hat) und seiner Organisation zu einer revolutionären Partei zu tun haben.

Auf jeden Fall wäre es sträflich, den Beitrag von Pannekoek oder anderen Militanten der deutschen kommunistischen Linken für ihre späteren Fehler oder sogar für die, die sie im entscheidenden Moment gemacht haben, zu entwerten.


Anton Pannekoek, Weltrevolution und kommunistische Taktik (1920)

Auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.
Die Theorie ist fähig, die Massen zu ergreifen … sobald sie radikal wird.
Marx.

I

Zwei Kräfte, von denen eine aus der anderen entspringt, eine geistige und eine materielle, bewirken die Umwälzung des Kapitalismus zum Kommunismus. Die materielle Entwicklung der Wirtschaft schafft die Erkenntnis und diese bewirkt den Willen zur Revolution. Aus den allgemeinen Entwicklungstendenzen des Kapitalismus ist die marxistische Wissenschaft entstanden, die die Theorie zuerst der sozialistischen, dann der kommunistischen Partei bildete und der revolutionären Bewegung eine tiefe einheitliche geistige Kraft gibt. Während diese Theorie nur langsam einen Teil des Proletariats durchdringt, muss aus der eigenen Erfahrung in den Massen die praktische Erkenntnis der Unhaltbarkeit des Kapitalismus emporwachsen. Der Weltkrieg und der rasche wirtschaftliche Zusammenbruch bringt nun die objektive Notwendigkeit der Revolution, bevor noch die Massen geistig den Kommunismus erfasst haben – dieser Widerspruch bedingt die Widersprüche, die Hemmungen und Rückschläge, die die Revolution zu einem langen und qualvollen Prozess machen. Allerdings kommt nun auch die Theorie in einen neuen Schwung und ergreift die Massen in raschem Tempo; aber trotzdem muss beides bei den auf einmal riesengroß wachsenden praktischen Aufgaben zurückbleiben.

Für Westeuropa wird die Entwicklung der Revolution hauptsächlich durch zwei Triebkräfte bestimmt: durch den Zusammenbruch der kapitalistischen Wirtschaft und durch das Beispiel von Sowjetrussland. Die Ursachen, weshalb in Russland das Proletariat relativ rasch und leicht siegen konnte – die Schwäche der Bourgeoisie, das Bündnis mit den Bauern, die Revolution während des Krieges – brauchen hier nicht erörtert zu werden. Das Beispiel eines Staates, wo das arbeitende Volk herrscht, wo es den Kapitalismus beseitigte und damit beschäftigt ist, den Kommunismus aufzubauen, musste mächtig auf das Proletariat der ganzen Welt einwirken. Natürlich hätte das Beispiel allein nicht genügt, die Arbeiter in anderen Ländern zur proletarischen Revolution anzustacheln. Der menschliche Geist wird am stärksten durch die Einwirkung der eigenen materiellen Umgebung bestimmt; wenn also der heimische Kapitalismus in alter Kraft geblieben wäre, hätte die Kunde aus dem fernen Russland schwerlich dagegen aufkommen können. „Voll ehrfurchtsvoller Bewunderung, aber kleinbürgerlich-furchtsam, ohne den Mut, durch Taten sich selbst, Russland und die Menschheit zu retten“, so fand Rutgers bei seiner Rückkehr in Westeuropa die Massen. Als der Krieg zu Ende ging, hoffte man hier überall auf den baldigen Aufschwung der Wirtschaft, während die Lügenpresse Russland als eine Stätte des Chaos und der Barbarei ausmalte; daher warteten die Massen ab. Aber seitdem hat sich umgekehrt das Chaos in den alten Kulturländern verbreitet, während die neue Ordnung in Russland ihre wachsende Kraft zeigt. Nun kommen auch hier die Massen in Bewegung. Der wirtschaftliche Zusammenbruch ist die wichtigste Triebkraft der Revolution. Deutschland und Österreich sind wirtschaftlich schon völlig vernichtet und pauperisiert, Italien und Frankreich befinden sich im unaufhaltsamen Niedergang, England ist schwer erschüttert – und es ist fraglich, ob die kräftigen Rekonstruktionsversuche seiner Regierung den Untergang abwenden können – und in Amerika treten schon die ersten drohenden Symptome der Krise auf. Und überall – ungefähr in dieser Reihenfolge – fängt es an, in den Massen zu gären; in großen Streikbewegungen, die die Wirtschaft noch mehr erschüttern, wehren sie sich gegen die Verelendung; diese Kämpfe wachsen allmählich zu einem bewussten revolutionären Kampf aus, und ohne Kommunisten zu sein, folgen die Massen stets mehr dem Weg, den der Kommunismus ihnen zeigt. Denn die praktische Notwendigkeit treibt sie dorthin.

Mit dieser Notwendigkeit und dieser Stimmung, gleichsam von ihnen getragen, wächst in diesen Ländern die kommunistische Vorhut, die die Ziele klar erkennt und sich in der Dritten Internationale sammelt. Das Symptom und das Merkmal dieser wachsenden Revolutionierung bildet die scharfe geistige und organisatorische Trennung des Kommunismus von der Sozialdemokratie. In den Ländern Zentraleuropas, die durch den Versailler Vertrag sofort in eine scharfe wirtschaftliche Krise gestoßen wurden und wo eine Regierung von Sozialdemokraten notwendig war, um den bürgerlichen Staat zu retten, ist diese Trennung am längsten vollzogen. So unheilbar und tief ist dort die Krise, dass die Masse der radikal-sozialdemokratischen Arbeiter (USP), trotzdem sie noch im hohen Grade an den alten sozialdemokratischen Methoden, Traditionen, Losungen und Führern festhalten, auf Anschluss an Moskau drängen und sich für die Diktatur des Proletariats erklären. In Italien hat sich die ganze sozialdemokratische Partei der Dritten Internationale angeschlossen; eine kampfbereite revolutionäre Stimmung der Massen, die sich im fortwährenden Kleinkrieg mit Regierung und Bourgeoisie betätigt, lässt über die theoretische Mischung von sozialistischen, syndikalistischen und kommunistischen Anschauungen hinwegsehen. In Frankreich haben sich erst neulich kommunistische Gruppen aus der sozialdemokratischen Partei und der Gewerkschaftsbewegung losgelöst und schreiten zur Bildung einer kommunistischen Partei. In England ist aus der tiefen Einwirkung des Krieges auf die traditionellen Verhältnisse der Arbeiterbewegung eine kommunistische Bewegung entstanden, die noch aus mehreren Gruppen und Parteien verschiedenen Ursprungs und neuen Organisationsbildungen besteht. In Amerika haben sich zwei kommunistische Parteien von der sozialdemokratischen Partei losgelöst, während diese selbst sich auch für Moskau erklärt hat. Die unerwartete Widerstandskraft Sowjetrusslands gegen die reaktionären Angriffe, wodurch die Entente zum Verhandeln gezwungen ist – so wirkt immer der Erfolg – hat eine neue starke Anziehungskraft auf die westlichen Arbeiterparteien ausgeübt. Die Zweite Internationale bricht zusammen; eine allgemeine Bewegung der Mittelgruppen nach Moskau hat eingesetzt, durch die wachsende revolutionäre Stimmung der Massen getrieben. Indem sie sich den neuen Namen der Kommunisten beilegen, ohne dass sich an ihren überlieferten Grundauffassungen viel änderte, bringen sie Anschauungen und Methoden der alten Sozialdemokraten in die neue Internationale über. Als Symptom, dass solche Länder reifer zur Revolution geworden sind, tritt nun gerade die umgekehrte Erscheinung auf wie zuerst; mit ihrem Eintritt oder mit ihrem Bekenntnis zu den Prinzipien der Dritten Internationale (wie bereits für die USP erwähnt wurde) wird die scharfe Trennung von Kommunisten und Sozialdemokraten wieder abgeschwächt. Mag man auch versuchen, solche Parteien formell außerhalb der Dritten Internationale zu halten, um nicht alle Prinzipienfestigkeit zu verwischen, so drängen sie sich doch in die Leitung der revolutionären Bewegung in jedem Lande und durch die neuen Losungen, zu denen sie sich äußerlich bekennen, behalten sie ihren Einfluss auf die in Aktion tretenden Massen. So handelt jede herrschende Schicht: statt sich von den Massen abschneiden zu lassen, wird sie selbst „revolutionär“, damit unter ihrem Einfluss die Revolution möglichst verflacht wird. Und viele Kommunisten sind geneigt, hier nur das Wachstum an Kraft, nicht auch das Wachstum an Schwäche zu sehen.

Die proletarische Revolution schien durch das Auftreten des Kommunismus und das russische Beispiel eine einfache zielklare Gestalt gewonnen zu haben. In Wirklichkeit treten jetzt mit den Schwierigkeiten auch die Kräfte hervor, die sie zu einem höchst verwickelten und mühsamen Prozess machen.

II

Die Fragen und Lösungen, die Programme und die Taktik entspringen nicht abstrakten Grundsätzen, sondern werden nur durch die Erfahrung, durch die reale Praxis des Lebens bestimmt. Die Anschauungen der Kommunisten über das Ziel und den Weg mussten und müssen sich an der bisherigen revolutionären Praxis ausbilden. Die russische Revolution und der bisherige Verlauf der deutschen Revolution bilden das praktische Tatsachenmaterial, das uns bis jetzt über die Triebkräfte, die Bedingungen und Formen der proletarischen Revolution zu Gebote steht.

Die russische Revolution hat dem Proletariat die politische Herrschaft in einem so erstaunlich raschen Aufschwung gebracht, dass sie die westeuropäischen Beobachter schon damals völlig überraschte und jetzt, angesichts der Schwierigkeiten in Westeuropa, immer wunderbarer erscheint, trotzdem die Ursachen klar erkennbar sind. Die erste Wirkung musste notwendig diese sein, dass in der ersten Begeisterung die Schwierigkeiten der Revolution in der übrigen Welt unterschätzt wurden. Die russische Revolution hat die Prinzipien der neuen Welt in ihrer strahlenden, reinen Kraft dem ganzen Weltproletariat vor Augen gestellt: die Diktatur des Proletariats, das Sowjetsystem als die neue Demokratie, die Neuorganisation der Industrie, der Landwirtschaft, der Erziehung. Sie hat in mancher Hinsicht ein so einfaches, klares, übersichtliches, fast idyllisches Bild des Wesens und des Gehaltes der proletarischen Revolution gegeben, dass nichts einfacher erscheinen konnte, als diesem Beispiel nachzufolgen. Dass dies aber nicht so einfach war, hat die deutsche Revolution gezeigt und die dabei hervortretenden Kräfte gelten größtenteils auch für das übrige Europa.

Als der deutsche Imperialismus November 1918 zusammenbrach, war die Arbeiterklasse für eine proletarische Herrschaft völlig unvorbereitet. Geistig und moralisch zerrüttet durch den vierjährigen Krieg, befangen in sozialdemokratischen Traditionen, konnte sie nicht in den ersten wenigen Wochen verschwundener Regierungsgewalt eine klare Erkenntnis ihrer Aufgabe gewinnen; die intensive, aber kurze kommunistische Propaganda konnte diesen Mangel nicht ersetzen. Besser als das Proletariat hatte die deutsche Bourgeoisie aus dem russischen Beispiel gelernt; während sie sich mit Rot schmückte, um die Arbeiter einzuschläfern, begann sie sofort ihre Machtorgane wieder aufzubauen. Die Arbeiterräte legten ihre Macht freiwillig aus den Händen zugunsten der sozialdemokratischen Parteiführer und des demokratischen Parlaments. Die noch als Soldaten bewaffneten Arbeiter entwaffneten nicht die Bourgeoisie, sondern sich selbst; die aktivsten Arbeitergruppen wurden von den neugebildeten weißen Garden niedergeworfen, und die Bourgeoisie wurde in Bürgerwehren bewaffnet. Mit Hilfe der Gewerkschaftsleitungen wurden die jetzt wehrlos gemachten Arbeiter allmählich aller durch die Revolution gewonnenen Verbesserungen in den Arbeitsbedingungen beraubt. So wurde der Weg zum Kommunismus mit Stacheldrahtverhauen gesperrt, damit der Kapitalismus sich ausleben, d.h. stets tiefer in das Chaos hinabsinken könnte.

Zweifellos darf nun diese Erfahrung der deutschen Revolution nicht ohne weiteres auf die anderen Länder Westeuropas übertragen werden; dort wird die Entwicklung wieder anderen Linien folgen. Dort wird die Herrschaft nicht plötzlich durch einen politisch-militärischen Zusammenbruch den unvorbereiteten Massen in die Hände fallen; das Proletariat wird schwer darum kämpfen müssen und daher nach der Eroberung einen höheren Reifegrad erworben haben. Was in Deutschland im Fiebertempo nach dem Novemberumsturz geschah, findet in den anderen Ländern schon in Ruhe statt: Die Bourgeoisie zieht ihre Konsequenzen aus der russischen Revolution, rüstet sich militärisch für den Bürgerkrieg, während sie zugleich den politischen Betrug des Proletariats mittels der Sozialdemokratie inszeniert. Aber trotz dieser Verschiedenheiten zeigt die deutsche Revolution einige allgemeine Züge und bietet einige Lehren allgemeiner Bedeutung. Sie stellt uns klar vor Augen, dass und durch welche Kräfte die Revolution in Westeuropa ein langsamer, langwieriger Prozess sein muss. Die Langsamkeit der revolutionären Entwicklung Westeuropas wenn sie auch nur relativ ist – hat einen Gegensatz von einander bekämpfenden taktischen Richtungen hervorgerufen. In Zeiten schneller revolutionärer Entwicklung werden taktische Differenzen durch die Praxis rasch überwunden oder kommen nicht zum Bewusstsein; intensive prinzipielle Agitation klärt die Köpfe auf, während zugleich die Massen zuströmen und die Praxis der Aktivität die alten Anschauungen umwälzt. Wenn aber eine Zeit der äußeren Stagnation eingetreten ist, wenn die Massen regungslos alles über sich ergehen lassen und die hinreißende Kraft der revolutionären Losungen gelähmt scheint; wenn die Schwierigkeiten sich auftürmen und der Gegner nach jedem Kampfe sich riesiger zu erheben scheint; wenn die Kommunistische Partei noch schwach bleibt und nur Niederlagen erleidet – dann entzweien sich die Anschauungen, werden neue Wege gesucht und neue taktische Mittel. Der Hauptsache nach treten dann zwei Tendenzen hervor, die in allen Ländern trotz lokaler Abweichungen zu erkennen sind. Die eine Richtung will durch Wort und Tat die Köpfe revolutionieren, aufklären und sucht dazu die neuen Prinzipien möglichst scharf den alten überlieferten Anschauungen gegenüberzustellen. Die andere Richtung versucht, die Massen, die noch abseits stehen, für praktische Tätigkeit zu gewinnen, will dazu möglichst vermeiden, was sie abstoßen könnte, und hebt statt des Gegensatzes vor allem das Verbindende hervor. Erstere erstrebt die scharfe klare Scheidung, die zweite die Vereinigung der Massen; die erstere wäre als die radikale, die zweite als die opportunistische Tendenz zu bezeichnen. Bei der jetzigen Lage in Westeuropa, da einerseits die Revolution auf kräftige Widerstände stößt, andererseits die feste Kraft Sowjetrusslands gegenüber den Niederwerfungsversuchen der Entente-Regierung auf die Massen einen gewaltigen Eindruck macht und deshalb auf einen starken Zustrom bisher zögernder Arbeitergruppen zu der Dritten Internationale zu rechnen ist, wird zweifellos der Opportunismus eine starke Macht in der kommunistischen Internationale werden.

Der Opportunismus schließt nicht notwendig eine sanfte, friedfertige, entgegenkommende Haltung und Sprache im Gegensatz zu einer dem Radikalismus gehörenden schärferen Tonart ein; im Gegenteil verbirgt sich der Mangel an prinzipieller klarer Taktik nur zu oft hinter rabiaten kräftigen Worten; und es gehört gerade zu seinem Wesen, in revolutionären Situationen auf einmal alles von der großen revolutionären Tat zu erwarten. Sein Wesen ist, immer nur das Augenblickliche, nicht das Weiterabliegende zu berücksichtigen, an der Oberfläche der Erscheinungen zu haften, statt die bestimmenden tieferen Grundlagen zu sehen. Wo die Kräfte zur Erreichung eines Zieles nicht sofort ausreichen, ist es seine Tendenz, nicht diese Kräfte zu stärken, sondern auf anderem Wege, auf Umwegen das Ziel zu erreichen. Denn das Ziel ist der augenblickliche Erfolg, und dem opfert er die Bedingungen künftigen, bleibenden Erfolges. Er beruft sich darauf, dass es doch oft möglich ist, durch Verbindungen mit anderen „fortschrittlichen“ Gruppen, durch Konzessionen an rückständige Anschauungen die Macht zu gewinnen oder wenigstens den Feind, die Koalition der kapitalistischen Klassen zu spalten und damit günstigere Kampfbedingungen zu bewirken. Es stellt sich dabei jedoch immer heraus, dass diese Macht nur eine Scheinmacht ist, eine persönliche Macht einzelner Führer, nicht die Macht der proletarischen Klasse, und dass dieser Widerspruch nur Zerfahrenheit, Korruption und Streit mit sich bringt. Eine Gewinnung der Regierungsgewalt, hinter der nicht eine völlig zur Herrschaft reife Arbeiterklasse steht, muss wieder verlorengehen oder muss der Rückständigkeit so viele Konzessionen machen, dass sie innerlich zermürbt wird. Eine Spaltung der feindlichen Klasse – die viel gepriesene Losung des Reformismus – hindert die Einheit der innerlich zusammengehörigen Bourgeoisie doch nicht, während das Proletariat dabei betrogen, verwirrt und geschwächt wird. Zweifellos kann es vorkommen, dass die kommunistische Vorhut des Proletariats die politische Herrschaft übernehmen muss, bevor die normalen Bedingungen erfüllt sind; aber nur was dann an Klarheit, an Einsicht, an Geschlossenheit, an Selbstständigkeit der Massen gewonnen wird, hat einen bleibenden Wert als Fundament der weiteren Entwicklung zum Kommunismus.

Die Geschichte der Zweiten Internationale ist voll der Beispiele für diese Politik des Opportunismus, und in der Dritten fangen sie schon an sich zu zeigen. Damals bestand er in dem Bestreben, das sozialistische Ziel erreichen zu wollen mit Hilfe der Massen der nichtsozialistischen Arbeitergruppen oder anderer Klassen. Dies führte zur Korruption der Taktik und schließlich zum Zusammenbruch. Bei der Dritten Internationale liegen die Verhältnisse nun wesentlich anders; denn die Zeit der ruhigen kapitalistischen Entwicklung, da die Sozialdemokratie im besten Sinne nichts anderes tun konnte als durch eine prinzipielle Politik aufzuklären zur Vorbereitung späterer Revolutionszeiten, ist vorüber. Der Kapitalismus bricht zusammen; die Welt kann nicht warten, bis unsere Propaganda die Mehrheit zur klaren kommunistischen Einsicht gebracht hat; die Massen müssen sofort eingreifen und möglichst rasch, um sich selbst und die Welt vor dem Untergang zu retten. Was soll dann eine kleine, noch so prinzipielle Partei, wenn Massen nötig sind? Ist hier der Opportunismus, der die breitesten Massen rasch zusammenfassen will, nicht Gebot der Notwendigkeit?

Ebensowenig wie von einer kleinen radikalen Partei kann eine Revolution von einer großen Massenpartei oder einer Koalition verschiedener Parteien gemacht werden. Sie bricht spontan aus den Massen hervor; Aktionen, die von einer Partei beschlossen werden, können bisweilen den Stoss geben (das geschieht jedoch nur selten), aber die bestimmenden Kräfte liegen anderswo, in den psychischen Faktoren, tief im Unterbewusstsein der Massen und in den großen weltpolitischen Ereignissen. Die Aufgabe einer revolutionären Partei besteht darin, dass sie im voraus klare Erkenntnisse verbreitet, sodass überall in den Massen die Elemente vorhanden sind, die in solchen Zeiten wissen, was zu tun ist, und selbständig die Lage beurteilen können. Und während der Revolution hat die Partei die Programme, Losungen und Direktiven aufzustellen, die die spontan handelnde Masse als richtig erkennt, weil sie darin ihre eigenen Ziele in vollkommenster Gestalt wiederfindet und sich an ihnen zur größeren Klarheit emporhebt; dadurch wird die Partei zur Führerin im Kampfe. Solange die Massen untätig bleiben, mag es scheinen, dass dies erfolglos bleibt; aber innerlich wirkt das klare Prinzip auch bei vielen, die zuerst fernbleiben, und in der Revolution zeigt sich seine aktive Kraft, ihr eine feste Richtung zu geben. Hat man dagegen zuvor durch Verwässerung des Prinzips, durch Koalitionen und Konzessionen eine größere Partei zu sammeln gesucht, so bietet das in Zeiten der Revolution unklaren Elementen die Gelegenheit, Einfluss zu gewinnen, ohne dass die Massen ihre Unzulänglichkeit durchschauen. Die Anpassung an die überlieferten Anschauungen ist ein Versuch, Macht zu gewinnen ohne deren Vorbedingungen, die Umwälzung der Ideen; sie wirkt also dahin, die Revolution in ihrem Lauf aufzuhalten. Sie ist außerdem eine Illusion, da nur die radikalsten Ideen die Massen ergreifen können, wenn diese in die Revolution treten, gemäßigte dagegen nur, solange die Revolution ausbleibt. Eine Revolution ist zugleich eine Zeit tiefer geistiger Umwälzung der Ideen der Massen; sie schafft dazu die Bedingungen und wird durch sie bedingt; es fällt daher, durch die Kraft ihrer weltumwälzenden klaren Prinzipien, der kommunistischen Partei die Führung in der Revolution zu.

Im Gegensatz zu der starken, scharfen Hervorhebung der neuen Prinzipien (Sowjetsystem und Diktatur), die den Kommunismus von der Sozialdemokratie trennen, lehnt der Opportunismus in der Dritten Internationale sich möglichst an die aus der Zweiten Internationale überkommenen Kampfformen an. Nachdem die russische Revolution den Parlamentarismus durch das Sowjetsystem ersetzt und die Gewerkschaftsbewegung auf den Betrieben aufgebaut hatte, war das erste Streben in Westeuropa, diesem Beispiel nachzufolgen. Die Kommunistische Partei Deutschlands boykottierte die Wahlen für die Nationalversammlung und propagierte den sofortigen oder allmählichen organisierten Austritt aus den Gewerkschaften. Als aber die Revolution 1919 zurücklief und stagnierte, leitete die Zentrale der KPD eine andere Taktik ein, die auf die Anerkennung des Parlamentarismus und die Unterstützung der alten Gewerkschaftsverbände gegen die Unionen hinauskam. Das wichtigste Argument dabei ist, dass die Kommunistische Partei die Führung mit den Massen nicht verlieren darf, die noch völlig parlamentarisch denken, die durch den Wahlkampf und durch Parlamentsreden am besten zu erreichen sind und die durch massenhaftes Eintreten in die Gewerkschaften deren Mitgliederzahl auf 7 Millionen gesteigert hatten. Der nämliche Grundgedanke tritt in England in der Haltung der BSP zum Vorschein: Sie will sich nicht von der „Labour Party“ trennen, trotzdem diese der Zweiten Internationale angehört, um nicht den Kontakt mit den Massen der Gewerkschaftler zu verlieren. Diese Argumente sind am schärfsten formuliert und zusammengestellt von unserem Freund Karl Radek, dessen in der Berliner Gefangenschaft verfasste Schrift: Die Entwicklung der Weltrevolution und die Aufgabe der Kommunistischen Partei als die Programmschrift des kommunistischen Opportunismus anzusehen ist. Hier wird dargelegt, dass die proletarische Revolution in Westeuropa ein lang andauernder Prozess sein wird, in welchem der Kommunismus alle Mittel der Propaganda benutzen soll, in welchem Parlamentarismus und Gewerkschaftsbewegung die Hauptwaffen des Proletariats bleiben werden, und daneben als neues Kampfobjekt die allmähliche Durchführung der Betriebskontrolle.

Inwieweit dies richtig ist, wird eine Untersuchung der Grundlagen, Bedingungen und Schwierigkeiten der proletarischen Revolution in Westeuropa zeigen.

III

Wiederholt ist hervorgehoben worden, dass in Westeuropa die Revolution lange dauern wird, weil die Bourgeoisie hier soviel mächtiger ist als in Russland. Analysieren wir das Wesen dieser Macht! Liegt sie in der größeren Kopfzahl dieser Klasse? Die proletarischen Massen sind verhältnismäßig noch viel größer. Liegt sie in der Beherrschung des ganzen wirtschaftlichen Lebens durch die Bourgeoisie? Zweifellos war dies ein starkes Element der Macht; aber diese Herrschaft schwindet dahin, und in Mitteleuropa ist die Wirtschaft völlig bankrott. Liegt sie schließlich in ihrer Verfügung über den Staat mit allen seinen Gewaltmitteln? Gewiss, damit hat sie die Masse immer niedergehalten, und deshalb war Eroberung der Staatsgewalt das erste Ziel des Proletariats. Aber im November 1918 fiel die Staatsgewalt in Deutschland und Österreich machtlos aus ihren Händen, die Gewaltmittel des Staates waren völlig gelähmt, die Massen waren Meister. Und trotzdem hat die Bourgeoisie diese Staatsgewalt wieder aufbauen und die Arbeiter aufs Neue unterjochen können. Dies beweist, dass noch eine andere verborgene Machtquelle der Bourgeoisie vorhanden war, die unangetastet geblieben war und die ihr gestattete, als alles zusammengebrochen schien, ihre Herrschaft wieder neu zu errichten. Diese verborgene Macht ist die geistige Macht der Bourgeoisie über das Proletariat. Weil die proletarischen Massen noch völlig durch eine bürgerliche Denkweise beherrscht wurden, haben sie nach dem Zusammenbruch die bürgerliche Herrschaft mit eigenen Händen wieder aufgerichtet. Diese deutsche Erfahrung stellt uns gerade vor das große Problem der Revolution in Westeuropa. In diesen Ländern hat die alte bürgerliche Produktionsweise und die damit zusammenhängende hochentwickelte bürgerliche Kultur vieler Jahrhunderte dem Denken und Fühlen der Volksmassen völlig ihren Stempel aufgeprägt. Dadurch ist der geistige und innere Charakter der Volksmassen hier ganz anders als in den östlichen Ländern, die diese Herrschaft bürgerlicher Kultur nicht kannten. Und darin liegt vor allem der Unterschied in dem Verlauf der Revolution im Osten und im Westen. In England, Frankreich, Holland, Italien, Deutschland, Skandinavien lebte vom Mittelalter her ein kräftiges Bürgertum mit kleinbürgerlicher und primitiv kapitalistischer Produktion; indem der Feudalismus zerschlagen wurde, wuchs auf dem Lande ein ebenso kräftiges, unabhängiges Bauerntum empor, das auch Meister in der eigenen kleinen Wirtschaft war. Auf diesem Boden entfaltete sich das bürgerliche Geistesleben zu einer festen nationalen Kultur, vor allem in den Küstenstaaten England und Frankreich, die voran in der kapitalistischen Entwicklung schritten. Der Kapitalismus im 19. Jahrhundert hat mit der Unterwerfung der ganzen Wirtschaft unter seine Macht und mit der Hineinziehung der fernsten Bauernhöfe in seinen Kreis der Weltwirtschaft diese nationale Kultur gesteigert, verfeinert und mit seinen geistigen Propagandamitteln, Presse, Schule und Kirche, fest in die Köpfe der Massen eingehämmert, sowohl jener Massen, die er proletarisierte und in die Städte zog, als auch jener, die er auf dem Lande ließ. Das gilt nicht nur für die Stammländer des Kapitalismus, sondern ähnlich, sei es auch in verschiedenen Formen, für Amerika und Australien, wo die Europäer neue Staaten gründeten, und für die bis dahin stagnierenden Länder Zentraleuropas: Deutschland, Österreich, Italien, wo die neue kapitalistische Entwicklung an eine alte, steckengebliebene, kleinbäuerliche Wirtschaft und kleinbürgerliche Kultur anknüpfen konnte. Ganz anderes Material und andere Traditionen fand der Kapitalismus vor, als er in die östlichen Länder Europas eindrang. Hier, in Russland, Polen, Ungarn, auch in Ostelbien, war keine kräftige bürgerliche Klasse, die von altersher das Geistesleben beherrschte; die primitiven Agrarverhältnisse mit Großgrundbesitz, patriarchalischem Feudalismus und Dorfkommunismus bestimmten das Geistesleben. Hier standen daher die Massen primitiver, einfacher, offener, empfänglich wie weißes Papier, dem Kommunismus gegenüber. Westeuropäische Sozialdemokraten sprachen oft höhnisch ihre Verwunderung darüber aus, wie die „unwissenden“ Russen die Vorkämpfer der neuen Welt der Arbeit sein könnten. Ihnen gegenüber drückte ein englischer Delegierter auf der kommunistischen Konferenz in Amsterdam den Unterschied ganz richtig aus: Die Russen mögen unwissender gewesen sein, aber die englischen Arbeiter sind so vollgepfropft mit Vorurteilen, dass die Propaganda des Kommunismus unter ihnen viel schwieriger ist. Diese „Vorurteile“ sind nur die erste äußerliche Seite der bürgerlichen Denkweise, die die Masse des englischen und des ganzen westeuropäisch-amerikanischen Proletariats erfüllt.

Der ganze Inhalt dieser Denkweise in ihrem Gegensatz zur proletarisch-kommunistischen Weltanschauung ist so vielseitig und verwickelt, dass sie schwerlich in wenigen Sätzen zusammengefasst werden kann. Ihr erster Zug ist der Individualismus, der aus den früheren kleinbürgerlich-bäuerlichen Arbeitsformen stammt und nur langsam dem neuen proletarischen Gemeinschaftsgefühl und der notwendigen freiwilligen Disziplin weicht – in den angelsächsischen Ländern ist dieser Zug bei Bourgeoisie und Proletariat wohl am stärksten ausgeprägt. Der Blick ist auf die Arbeitsstätte beschränkt und umfasst nicht das gesellschaftliche Ganze; befangen in dem Prinzip der Arbeitsteilung sieht man auch die „Politik“, die Leitung der ganzen Gesellschaft, nicht als die eigene Angelegenheit eines jeden, sondern als ein Monopol der herrschenden Schicht, als ein spezielles Fach besonderer Fachleute, der Politiker. Die bürgerliche Kultur ist durch einen jahrhundertelangen Verkehr materieller und geistiger Natur, durch Literatur und Kunst, fest in die proletarischen Massen eingepflanzt und schafft ein Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit – tiefer im Unterbewusstsein wurzelnd, als es nach äußerer Gleichgültigkeit oder äußerlichem Internationalismus erscheint – das sich in einer nationalen Klassensolidarität äußern kann und die internationale Tat erschwert.

Die bürgerliche Kultur lebt im Proletariat erstens als geistige Tradition. Die darin befangenen Massen denken in Ideologien statt in Realitäten; bürgerliches Denken war immer ideologisch. Aber diese Ideologie und Tradition ist nicht einheitlich; aus den zahllosen Klassenkämpfen früherer Jahrhunderte sind die geistigen Reflexe als politische und religiöse Gedankensysteme überliefert worden, die die alte bürgerliche Welt und daher auch noch die ihr entstammenden Proletarier in nach ideologischen Anschauungen getrennten Gruppen, Kirchen, Sekten, Parteien, verteilen. So besteht die bürgerliche Vergangenheit im Proletariat zweitens als organisatorische Tradition, die der zu der neuen Welt gehörenden Einheit der Klasse im Wege steht; in diesen überlieferten Organisationen bilden die Arbeiter den Nachtrab und die Gefolgschaft einer bürgerlichen Vorhut. Die unmittelbaren Führer in diesen ideologischen Kämpfen gibt die Intelligenz ab. Die Intelligenz – die Geistlichen, Lehrer, Literaten, Journalisten, Künstler, Politiker – bildet eine zahlreiche Klasse, deren Aufgabe die Pflege, Ausbildung und Verbreitung der bürgerlichen Kultur ist; sie übermittelt diese den Massen und spielt den Vermittler zwischen Kapitalherrschaft und Masseninteressen. In ihrer geistigen Führerschaft über die Massen liegt die Kapitalherrschaft verankert. Denn wenn die unterdrückten Massen auch oft rebellierten gegen das Kapital und seine Organe, so nur unter ihrer Führung; und der in diesem gemeinsamen Kampfe gewonnene feste Zusammenhang und Disziplin erweist sich nachher, wenn diese Führer offen auf die kapitalistische Seite übergehen, als die stärkste Stütze des Systems. So zeigt sich die christliche Ideologie niedergehender kleinbürgerlicher Schichten, die als Ausdruck ihres Kampfes gegen den modernen kapitalistischen Staat eine lebendige Kraft geworden war, später oft als reaktionäres, staatserhaltendes Regierungssystem äußerst wertvoll (so der Katholizismus in Deutschland nach dem Kulturkampf). Ähnliches gilt für die Sozialdemokratie, trotzdem sie in theoretischer Hinsicht vieles Wertvolle geleistet hat, in der zeitgemäßen Zerstörung und Ausrottung alter Ideologien in der emporkommenden Arbeiterschaft. Sie ließ dabei die geistige Abhängigkeit der proletarischen Massen von politischen und anderen Führern bestehen, denen diese Massen als Spezialisten die Leitung aller großen allgemeinen Klassenangelegenheiten überließen, statt sie in die eigenen Hände zu nehmen. Der feste Zusammenhalt und die Disziplin, die sich in dem oft scharfen Klassenkampf eines halben Jahrhunderts ausbildeten, hat den Kapitalismus nicht untergraben, denn sie bedeutete eine Macht der Organisation und des Führertums über die Massen, die diese Massen im August 1914 und im November 1918 zu machtlosen Werkzeugen der Bourgeoisie, des Imperialismus und der Reaktion machte. Die geistige Macht der bürgerlichen Vergangenheit über das Proletariat bedeutet in vielen Ländern Westeuropas (so in Deutschland und Holland) eine Spaltung des Proletariats in ideologisch getrennte Gruppen, die die Klasseneinheit verhindern. Die Sozialdemokratie hatte ursprünglich diese Klasseneinheit verwirklichen wollen, aber – zum Teil durch ihre opportunistische Taktik, die die rein-politische Politik an die Stelle der Klassenpolitik setzte – ohne Erfolg: Sie hat die Zahl der Gruppen bloß um eine vermehrt.

Die Herrschaft bürgerlicher Ideologie über die Massen kann nicht verhindern, dass in Zeiten der Krise, die diese Massen zur Verzweiflung und zur Tat bringen, die Macht dieser Tradition zeitweilig zurückgedrängt wird – wie im November 1918 in Deutschland. Aber dann tritt die Ideologie neuerlich hervor und wird zur Ursache, dass der zeitweilige Sieg wieder verlorengeht. An dem deutschen Beispiel zeigen sich die konkreten Kräfte, die wir hier als Herrschaft bürgerlicher Anschauungen zusammenfassen: die Ehrfurcht vor abstrakten Losungen wie die „Demokratie“; die Macht alter Denkgewohnheiten und Programmpunkte, wie Verwirklichung des Sozialismus durch parlamentarische Führer und eine sozialistische Regierung; Mangel an proletarischem Selbstvertrauen, erkennbar in dem Einfluss des ungeheuren Schlammstromes der Lügennachrichten über Russland; Mangel an Glauben in die eigene Kraft; aber vor allem das Vertrauen in die Partei, die Organisation, die Führer, die während vieler Jahrzehnte die Verkörperung ihres Kampfes, ihrer Revolutionsziele, ihres Idealismus gewesen waren. Die gewaltige, geistige, moralische und materielle Macht der Organisationen, dieser von den Massen selbst in emsiger langjähriger Arbeit geschaffenen riesigen Maschinen, die die Tradition der Kampfformen einer Periode verkörperten, in der die Arbeiterbewegung ein Glied des emporsteigenden Kapitalismus war, zerdrückte jetzt alle revolutionären Tendenzen, die neu in den Massen aufflammten.

Dieser Fall wird nicht der einzige bleiben. Der Widerspruch zwischen der geistigen Unreife der Macht bürgerlicher Tradition im Proletariat und dem raschen wirtschaftlichen Zusammenbruch des Kapitalismus – kein zufälliger Widerspruch, da in einem blühenden Kapitalismus das Proletariat die geistige Reife zur Herrschaft und Freiheit nicht erwerben kann – kann nur gelöst werden durch den revolutionären Entwicklungsprozess, in dem spontane Erhebungen und Ergreifungen der Herrschaft mit Rückschlägen abwechseln. Er macht einen Verlauf der Revolution, bei dem das Proletariat lange Zeit immer vergebens mit allen alten und neuen Mitteln des Kampfes gegen die Kapital-Burg stürmt, bis sie schließlich und dann endgültig erobert wird, wenig wahrscheinlich. Und damit fällt auch die Taktik der langwierigen, kunstvollen Belagerung, die in Radeks Ausführungen dargelegt wird. Das Problem der Taktik ist nicht, wie möglichst rasch die Macht zu erobern, wenn sie nur erst eine Scheinmacht sein kann – sie wird den Kommunisten früh genug zufallen –, sondern, wie in dem Proletariat die Grundlagen für die dauernde Macht der Klasse auszubilden. Keine „entschlossene Minorität“ kann die Probleme lösen, die durch die Aktivität der ganzen Klasse gelöst werden können; und wenn die Bevölkerung scheinbar gleichgültig eine solche Machtergreifung über sich ergehen lässt, so bildet sie doch nicht eine wirklich passive Masse, sondern ist, soweit nicht für den Kommunismus gewonnen, zu jedem Augenblicke fähig, als aktive Gefolgschaft der Reaktion über die Revolution herzufallen. Eine „Koalition mit dem Galgen daneben“ wäre auch nur eine notdürftige Verdeckung einer solchen unhaltbaren Parteidiktatur. Wenn das Proletariat in einer gewaltigen Erhebung die bankrotte Herrschaft der Bourgeoisie zerschlägt und seine klarste Vorhut, die kommunistische Partei, die politische Leitung übernimmt, dann hat sie nur eine Aufgabe, alle Mittel anzuwenden, die Ursache der Schwäche des Proletariats fortzuschaffen und seine Kraft zu steigern, damit es den revolutionären Kämpfen der Zukunft im höchsten Grade gewachsen ist. Dann gilt es, die Massen selbst zur höchsten Aktivität zu bringen, ihre Initiative anzustacheln, ihr Selbstvertrauen zu heben, damit sie selbst die Aufgaben ins Auge fassen, die in ihre Hand gelegt werden, denn nur so können diese gelöst werden. Dazu ist nötig, das Übergewicht der überlieferten Organisationsformen und der alten Führer zu brechen – also auf keinen Fall mit ihnen eine regierungsfähige Koalition bilden, die nur das Proletariat schwächen kann –, die neuen Formen auszubauen, die materielle Macht der Massen zu festigen; nur dadurch wird es möglich sein, die Produktion neu zu organisieren, sowie die Verteidigung gegen die Angriffe des Kapitalismus von außen, und dies ist die erste Vorbedingung zur Verhinderung der Konterrevolution.

Die Macht, die die Bourgeoisie in der jetzigen Periode noch besitzt, ist die geistige Abhängigkeit und Unselbständigkeit des Proletariats. Die Entwicklung der Revolution ist der Prozess der Selbstbefreiung des Proletariats aus dieser Abhängigkeit, aus der Tradition vergangener Zeiten – was nur durch die eigene Kampferfahrung möglich ist. Wo der Kapitalismus schon alt ist und daher auch der Kampf der Arbeiter gegen ihn schon einige Generationen umfasst, musste das Proletariat in jeder Periode Methoden, Formen und Hilfsmittel des Kampfes aufbauen, der jeweiligen Entwicklungsstufe des Kapitalismus angepasst, die bald nicht mehr in ihrer Realität, als zeitlich beschränkte Notwendigkeiten gesehen, sondern als bleibende, absolut gute, ideologisch verhimmelte Formen überschätzt und daher später zu Fesseln der Entwicklung wurden, die gesprengt werden müssen. Während die Klasse in stetiger rascher Umwälzung und Entwicklung begriffen ist, bleiben die Personen der Führer auf einer bestimmten Stufe stehen, als Exponenten einer bestimmten Phase, und ihr mächtiger Einfluss kann die Bewegung hemmen; Aktionsformen werden zu Dogmen und Organisationen werden zum Selbstzweck erhoben, wodurch eine neue Orientierung und Anpassung an neue Kampfbedingungen erschwert wird. Das gilt auch jetzt noch; jede Entwicklungsstufe des Klassenkampfes muss die Tradition voriger Stufen überwinden, um ihre eigenen Aufgaben klar erkennen und lösen zu können – nur dass jetzt die Entwicklung in viel rascherem Tempo vor sich geht. So wächst die Revolution im Prozess des inneren Kampfes. Aus dem Proletariat selbst wachsen die Widerstände auf, die es überwinden muss. Indem sie es überwindet, überwindet das Proletariat seine eigene Beschränktheit und wächst auf zum Kommunismus.

IV

Der Parlamentarismus und die Gewerkschaftsbewegung waren die beiden hauptsächlichen Kampfformen in dem Zeitalter der Zweiten Internationale.

Die erste internationale Arbeiterassoziation hat auf ihren Kongressen die Grundlagen zu dieser Taktik gelegt, indem sie (entsprechend der Marxschen Gesellschaftslehre) gegenüber den primitiven Anschauungen aus vorkapitalistischer, kleinbürgerlicher Zeit den Charakter des proletarischen Klassenkampfes als ununterbrochenen Kampf gegen den Kapitalismus um die Lebensbedingungen des Proletariats bis zur Eroberung der politischen Gewalt bestimmte. Als das Zeitalter der bürgerlichen Revolutionen und bewaffneten Aufstände abgeschlossen war, konnte dieser politische Kampf nur im Rahmen der alten oder neu entstandenen Nationalstaaten geführt werden, der gewerkschaftliche oft noch in engerem Rahmen. Daher musste die Erste Internationale auseinanderfallen; und der Kampf um die neue Taktik, die von ihr selbst nicht durchzuführen war, sprengte sie, während in dem Anarchismus die Tradition der alten Anschauungen und Kampfmethoden lebendig blieb. Als Erbschaft hinterließ sie die neue Taktik denjenigen, die sie praktisch durchführen mussten, den überall entstehenden sozialdemokratischen Parteien mit den Gewerkschaften. Als aus ihnen die Zweite Internationale als lose Föderation entstand, hatte sie sich zwar noch in dem Anarchismus mit der Tradition auseinanderzusetzen; aber das Vermächtnis der Ersten Internationale bildete schon ihren selbstverständlichen taktischen Boden. Jeder Kommunist kennt heute die Gründe, weshalb diese Kampfmethoden während jener Zeit notwendig und nützlich waren. Wenn die Arbeiterklasse mit dem Kapitalismus emporkommt, ist sie noch nicht imstande und kann nicht einmal den Gedanken fassen, die Organe zu schaffen, durch die sie die Gesellschaft beherrschen und regeln könnte. Sie muss sich zuerst geistig zurechtfinden und den Kapitalismus und seine Klassenherrschaft begreifen lernen. Ihre Vorhut, die sozialdemokratische Partei, muss durch ihre Propaganda das Wesen der Regierung enthüllen und durch das Aufstellen der Klassenforderungen den Massen ihre Ziele zeigen. Dazu war es notwendig, dass ihre Wortführer in die Parlamente, die Zentren der Bourgeoisherrschaft, eindrangen, dort ihre Stimme erhoben und sich an den politischen Parteikämpfen beteiligten.

Anders wird es, wenn der Kampf des Proletariats in ein revolutionäres Stadium tritt. Wir reden hier nicht über die Frage, weshalb der Parlamentarismus als Regierungssystem nicht zur Selbstregierung der Massen taugt und dem Sowjetsystem weichen muss, sondern über die Benutzung des Parlamentarismus als Kampfmittel für das Proletariat. Als solche ist der Parlamentarismus die typische Form des Kampfes mittels Führer, wobei die Massen selbst eine untergeordnete Rolle spielen. Seine Praxis besteht darin, dass Abgeordnete, einzelne Personen, den wesentlichen Kampf führen; es muss dies daher bei den Massen die Illusion wecken, dass andere den Kampf für sie führen können. Früher war es der Glauben, die Führer könnten für die Arbeiter wichtige Reformen im Parlament erzielen; oder gar trat die Illusion auf, die Parlamentarier könnten durch Gesetzbeschlüsse die Umwälzung zum Sozialismus durchführen. Heute, da der Parlamentarismus bescheidener auftritt, hört man das Argument, im Parlament könnten die Abgeordneten Grosses für die Propaganda des Kommunismus leisten5. Immer fällt dabei das Hauptgewicht auf die Führer, und es ist selbstverständlich dabei, dass Fachleute die Politik bestimmen – sei es auch in der demokratischen Verkleidung der Kongressdiskussionen und Resolutionen –; die Geschichte der Sozialdemokratie ist eine Kette vergeblicher Bemühungen, die Mitglieder selbst ihre Politik bestimmen zu lassen. Wo das Proletariat parlamentarisch kämpft, ist das alles unvermeidlich, solange die Massen noch keine Organe der Selbstaktion geschaffen haben, also, wo die Revolution noch kommen muss. Sobald die Massen selbst auftreten, handeln und dadurch bestimmen können, werden die Nachteile des Parlamentarismus überwiegend.

Das Problem der Taktik ist – wir führten es oben aus – wie in der proletarischen Masse die traditionelle bürgerliche Denkweise auszurotten ist, die ihre Kraft lähmt; alles, was die überlieferte Anschauung neu stärkt, ist von Übel. Der zäheste, festeste Teil dieser Denkweise ist ihre Unselbständigkeit Führern gegenüber, denen sie die Entscheidung allgemeiner Fragen, die Leitung ihrer Klassenangelegenheiten überlässt. Der Parlamentarismus hat die unvermeidliche Tendenz, die eigene, zur Revolution notwendige Aktivität der Massen zu hemmen. Mögen da schöne Reden zur Weckung der revolutionären Tat gehalten werden, so entspringt das revolutionäre Handeln nicht solchen Worten, sondern nur der harten, schweren Notwendigkeit, wenn keine andere Wahl mehr bleibt.

Die Revolution erfordert auch noch etwas mehr als die massale Kampftat, die ein Regierungssystem stürzt und von der wir wissen, dass sie nicht von Führern bestellt, sondern nur aus dem tiefen Drang der Massen emporspringen kann. Die Revolution erfordert, dass die großen Fragen der gesellschaftlichen Rekonstruktion in die Hand genommen, dass schwierige Entscheidungen getroffen werden, dass das ganze Proletariat in schaffende Bewegung gebracht wird – und das ist nur möglich, wenn zuerst die Vorhut, dann eine immer größere Masse sie selbst zur Hand nimmt, sich selbst dafür verantwortlich weiß, sucht, propagiert, ringt, versucht, nachdenkt, wägt, wagt und durchführt. Aber das ist alles schwer und mühsam; solange daher die Arbeiterklasse glaubt, einen leichteren Weg zu sehen, indem andere für sie handeln – von einer hohen Tribüne Agitation führen, Entscheidungen treffen, Signale für die Aktionen geben, Gesetze machen – wird sie zögern und durch die alten Denkgewohnheiten und die alten Schwächen passiv bleiben.

Während die Bedeutung des Parlamentarismus einerseits das Übergewicht der Führer über die Massen stärkt, also konterrevolutionär wirkt, hat sie andererseits die Tendenz, diese Führer selbst zu verderben. Wenn persönliche Geschicklichkeit ersetzen muss, was aktiver Massenkraft fehlt, tritt eine kleinliche Diplomatie auf; die Partei, mag sie mit anderen Absichten hineingegangen sein, muss sich einen legalen Boden, eine parlamentarische Machtstellung zu erwerben suchen; so wird schließlich das Verhältnis zwischen Zweck und Mittel umgekehrt, und es dient nicht das Parlament als Mittel zum Kommunismus, sondern der Kommunismus als werbende Losung steht im Dienste der parlamentarischen Politik. Damit bekommt aber auch die kommunistische Partei selbst einen anderen Charakter. Aus der Vorhut, die die ganze Klasse zum revolutionären Handeln hinter sich sammelt, wird sie zu einer parlamentarischen Partei, mit derselben legalen Position wie die anderen, gleichartig sich mit den anderen herumzankend, eine Neuauflage der alten Sozialdemokratie unter neuen radikalen Losungen. Während im inneren Wesen zwischen der revolutionären Arbeiterklasse und der kommunistischen Partei kein Unterschied besteht, kein Gegensatz denkbar ist, da die Partei gleichsam das zusammengefasste klarste Klassenbewusstsein des Proletariats und seine wachsende Einheit verkörpert, zerbricht der Parlamentarismus diese Einheit und schafft die Möglichkeit eines solchen Gegensatzes: Statt die Klasse zusammenzufassen, wird der Kommunismus eine neue Partei mit eigenen Parteihäuptern, die sich zu den anderen Parteien fügt und so die politische Spaltung des Proletariats verewigt; und die Fälle werden vorkommen, wo die Partei nach Macht strebt, durch Konzessionen, Kompromisse und andere Mittel, die der Macht und Geschlossenheit der Klasse schaden. Alle diese Tendenzen werden zweifellos durch die revolutionäre Entwicklung der Wirtschaft wieder aufgehalten werden; aber auch die ersten Ansätze können der revolutionären Bewegung nur schaden, indem sie die geistige Entwicklung zum klaren Klassenbewusstsein hemmen; und wo die wirtschaftliche Lage zeitweilig in konterrevolutionärer Richtung zurückläuft, wird diese Politik den Weg der Ablenkung der Revolution ins Fahrwasser der Reaktion bahnen.

Das große, wirklich Kommunistische der russischen Revolution liegt vor allem darin, dass sie die eigene Aktivität der Massen geweckt hat und eine psychische und physische Energie in ihnen entfachte, die sie befähigte, die neue Gesellschaft zu bauen und zu tragen. Dieses Aufwachen der Massen zu solchem Kraftbewusstsein und zu solcher Kraft geht nicht in einem, sondern in Etappen; eine Etappe auf diesem Weg zur Selbständigkeit und Selbstbefreiung ist die Ablehnung des Parlamentarismus. Als die neuentstandene Kommunistische Partei Deutschlands, Dezember 1918, die Boykottierung der Nationalversammlung beschloss, entsprang dies nicht der unreifen Illusion eines leichten, raschen Sieges, sondern dem Bedürfnis, sich aus der geistigen Abhängigkeit von Parlamentsvertretern zu befreien – als Reaktion gegen die sozialdemokratische Tradition notwendig – da man jetzt den Weg zur eigenen Aktion in dem Aufbau des Rätesystems vor sich sah. Allerdings hat von den damals Vereinigten die eine Hälfte, die in der KPD Gebliebenen, nach dem Zurückfluten der Revolution den Parlamentarismus wieder adoptiert – mit welchen Folgen, wird sich noch herausstellen und hat sich zum Teil schon herausgestellt. Auch in anderen Ländern sind die Anschauungen unter den Kommunisten geteilt, und es wollen viele Gruppen sogar vor dem Ausbruch der Revolution den Parlamentarismus nicht anwenden. So wird während der nächsten Zeit der innere Streit über den Parlamentarismus als Kampfmethode voraussichtlich einer der hauptsächlichsten Streitpunkte der Taktik innerhalb der Dritten Internationale sein.

Allerdings sind alle darin miteinander einig: Er bildet nur einen untergeordneten Punkt unserer Taktik. Die Zweite Internationale konnte sich so weit entwickeln, bis sie den Kernpunkt der neuen Taktik hervorgehoben und klargestellt hatte: Das Proletariat kann den Imperialismus nur besiegen mit der Waffe der Massenaktionen. Selbst konnte sie sie nicht mehr anwenden; sie musste zugrundegehen, als der Weltkrieg den revolutionären Klassenkampf auf eine internationale Basis stellte. Das Resultat der vorigen war die selbstverständliche Grundlage der neuen Internationale; die Massenaktionen des Proletariats bis zum Massenstreik und zum Bürgerkrieg bildet den gemeinsamen taktischen Boden der Kommunisten. In der parlamentarischen Aktion ist das Proletariat national geteilt und ist ein wirklich internationales Auftreten nicht möglich; in den Massenaktionen gegen das internationale Kapital fallen die nationalen Trennungen fort und ist jede Bewegung, auf welche Länder sie sich ausbreiten oder beschränken mag, Teil eines gemeinsamen Weltkampfes.

V

So wie der Parlamentarismus die geistige, so verkörpert die Gewerkschaftsbewegung die materielle Macht der Führer über die Arbeitermassen. Die Gewerkschaften bilden unter dem Kapitalismus die natürlichen Organisationen für den Zusammenschluss des Proletariats; und als solche hat Marx schon in frühester Zeit ihre Bedeutung hervorgehoben. Im entwickelten Kapitalismus und noch mehr in dem imperialistischen Zeitalter sind diese Gewerkschaften stets mehr zu riesigen Verbänden geworden, die die gleiche Tendenz der Entwicklung zeigen wie in älterer Zeit die bürgerlichen Staatskörper selbst. In ihnen ist eine Klasse von Beamten, eine Bürokratie entstanden, die über alle Machtmittel der Organisation verfügt: die Geldmittel, die Presse, die Ernennung der Unterbeamten; oft hat sie noch weitergehende Machtbefugnisse, so dass sie aus Dienern der Gesamtheit zu ihren Herren geworden ist und sich selbst mit der Organisation identifiziert. Und auch darin stimmen die Gewerkschaften mit dem Staat und seiner Bürokratie überein, dass trotz der Demokratie, die darin herrscht, die Mitglieder nicht imstande sind, ihren Willen gegen die Bürokratie durchzusetzen; an dem kunstvoll aufgebauten Apparat von Geschäftsordnungen und Statuten bricht sich jede Revolte, bevor sie die höchsten Regionen erschüttern kann. Nur mit zäher Ausdauer gelingt es einer Opposition bisweilen, nach Jahren einen mäßigen Erfolg zu erzielen, der meist nur auf einen Personenwechsel herauskommt. In den letzten Jahren, vor dem Krieg und nachher, kam es daher – in England, Deutschland, Amerika – öfters zu Rebellionen der Mitglieder, die auf eigene Faust streikten, gegen den Willen der Führer oder die Beschlüsse des Verbandes selbst. Dass dies als etwas Natürliches vorkommt und als solches hingenommen wird, bringt schon zum Ausdruck, dass die Organisation nicht die Gesamtheit der Mitglieder ist, sondern gleichsam etwas ihnen Fremdes; dass die Arbeiter nicht über ihren Verband gebieten, sondern dass er als eine äußere Macht, gegen die sie rebellieren können, über ihnen steht, obgleich doch diese Macht aus ihnen selbst entsprießt – also wieder ähnlich wie der Staat. Legt sich dann die Revolte, so stellt sich die alte Herrschaft wieder ein, trotz des Hasses und der machtlosen Erbitterung in den Massen weiß sie sich zu behaupten, weil sie sich stützt auf die Gleichgültigkeit und den Mangel an klarer Einsicht und einheitlichem, ausdauerndem Willen dieser Massen und von der inneren Notwendigkeit der Gewerkschaft als einzigem Mittel der Arbeiter, in dem Zusammenschluss Kraft gegen das Kapital zu finden, getragen wird.

Kämpfend gegen das Kapital, gegen die verelendenden absolutistischen Tendenzen des Kapitals, sie beschränkend und dadurch der Arbeiterklasse die Existenz ermöglichend, erfüllte die Gewerkschaftsbewegung ihre Rolle im Kapitalismus und war dadurch selbst ein Glied der kapitalistischen Gesellschaft. Aber erst mit dem Eintritt der Revolution, als das Proletariat aus einem Glied der kapitalistischen Gesellschaft zum Vernichter dieser Gesellschaft wird, tritt die Gewerkschaft in Gegensatz zum Proletariat.

Sie wird legal, offen staatserhaltend und staatlich anerkannt, sie stellt den „Aufbau der Wirtschaft vor der Revolution“ als ihre Losung auf, also die Erhaltung des Kapitalismus. In Deutschland strömen nun viele Millionen Zahlen von Proletariern, die es bisher durch Terrorismus von oben nicht wagten, in sie hinein in der Mischung von Furchtsamkeit und beginnender Kampfstimmung. Jetzt wird die Verwandtschaft der fast die ganze Arbeiterklasse umfassenden Gewerkschaftsverbände mit einem Staatswesen noch größer. Die Gewerkschaftsbeamten kommen nicht nur darin mit der staatlichen Bürokratie überein, dass sie zu Gunsten des Kapitals durch ihre Macht die Arbeiterklasse niederhalten, sondern auch darin, dass ihre „Politik“ immer mehr darauf hinauskommt, die Massen mit den demagogischen Mitteln zu betrügen und für ihre Abkommen mit den Kapitalisten zu gewinnen. Und auch die Methode wechselt mit den Verhältnissen: roh und brutal in Deutschland, wo die Gewerkschaftsführer den Arbeitern mit Gewalt und schlauem Betrug die Akkordarbeit und die verlängerte Arbeitszeit aufhalsten, mit raffinierter Schlauheit in England, wo dieses Beamtentum – ähnlich wie die Regierung – sich den Anschein gibt, sich durch die Arbeiter widerwillig fortschieben zu lassen, während es in Wirklichkeit die Forderungen der Arbeiter sabotiert.

Was Marx und Lenin für den Staat hervorhoben: dass es seine Organisation trotz der formellen Demokratie unmöglich macht, ihn zu einem Instrument der proletarischen Revolution zu machen, muss daher auch für die Gewerkschaftsorganisationen gelten. Ihre konterrevolutionäre Macht kann nicht durch einen Personenwechsel, durch die Ersetzung reaktionärer durch radikale oder „revolutionäre“ Führer vernichtet oder geschwächt werden. Die Organisationsform ist es, die die Massen so gut wie machtlos macht und sie daran hindert, die Gewerkschaft zum Organ ihres Willens zu machen. Die Revolution kann nur siegen, indem sie diese Organisation vernichtet, d. h. die Organisationsform so völlig umwälzt, dass sie zu etwas ganz anderem wird. Das Sowjetsystem, der Aufbau von innen, ist nicht nur imstande, die staatliche, sondern auch die gewerkschaftliche Bürokratie zu entwurzeln und zu beseitigen; es wird nicht bloß die neuen politischen Organe des Proletariats gegenüber dem Parlament bilden, sondern auch die Grundlage der neuen Gewerkschaften. In den Parteistreitigkeiten in Deutschland ist darüber gespöttelt worden, als könne eine Organisationsform revolutionär sein, da es doch nur auf die revolutionäre Gesinnung der Menschen, der Mitglieder ankomme. Wenn aber der wichtigste Inhalt der Revolution darin besteht, dass die Massen selbst ihre Angelegenheiten – die Leitung der Gesellschaft und der Produktion – in die Hand nehmen, dann ist jede Organisationsform konterrevolutionär und schädlich, die den Massen nicht gestattet, selbst zu herrschen und zu leiten; daher soll sie ersetzt werden durch eine andere Form, die deshalb revolutionär ist, weil sie die Arbeiter selbst aktiv über alles bestimmen lädst. Das soll nicht bedeuten, dass in einer noch passiven Arbeiterschaft diese Form zuerst geschaffen und fertiggestellt werden soll, in der sich dann nachher der revolutionäre Sinn der Arbeiter betätigen könnte. Diese neue Organisationsform kann selbst nur im Prozess der Revolution von den revolutionär auftretenden Arbeitern geschaffen werden. Aber die Erkenntnis der Bedeutung der heutigen Organisationsform bestimmt die Stellung, die die Kommunisten zu den Versuchen einzunehmen haben, die jetzt schon auftreten, diese Form zu schwächen oder zu sprengen.

In den syndikalistischen und noch mehr in der „industriellen“ Gewerkschaftsbewegung trat schon das Bestreben hervor, den bürokratischen Apparat möglichst klein zu halten und alle Kraft in der Aktivität der Massen zu suchen. Daher haben sich die Kommunisten zumeist für die Unterstützung dieser Organisationen gegen die zentralen Verbände ausgesprochen. Solange der Kapitalismus aufrechtsteht, können allerdings diese Neubildungen keinen großen Umfang gewinnen – die Bedeutung der amerikanischen IWW ist dem besonderen Umstand eines zahlreichen ungelernten Proletariats meist fremden Ursprungs außerhalb der alten Verbände entsprungen. Dem Sowjetsystem vielmehr verwandt ist die Bewegung der Shop-Committees und Shop-Stewards in England, die in der Kampfpraxis geschaffene Organe der Massen gegenüber der Bürokratie sind. Noch absichtlicher der Sowjetidee nachgebildet, aber schwach durch das Stagnieren der Revolution, sind die „Unionen“ in Deutschland. Jede Neubildung solcher Art, die die zentralisierten Verbände und ihre innere Festigkeit schwächt, räumt ein Hemmnis der Revolution aus dem Wege und schwächt die konterrevolutionäre Macht der Gewerkschaftsbürokratie. Allerdings wäre es eine verlockende Idee, alle oppositionellen und revolutionären Kräfte innerhalb dieser Verbände zusammenzuhalten, damit sie schließlich als Majorität diese Organisation erobern und umwälzen könnten. Aber erstens ist dies eine Illusion – ähnlich wie es der verwandte Gedanke wäre, die SD-Partei zu erobern –, da die Bürokratie schon weiß, mit einer Opposition umzugehen, bevor sie zu gefährlich wird. Und zweitens läuft eine Revolution nun einmal nicht nach einem glatten Programm ab, sondern spielen elementare Ausbrüche leidenschaftlich aktiver Gruppen darin immer eine besondere Rolle als vorwärts treibende Kraft. Sollten aber Kommunisten, aus opportunistischen Rücksichten auf Augenblickserfolge, sich solchen Erstrebungen entgegenstellen zu Gunsten der Zentralverbände, so würden sie die Hemmnisse verstärken, die sich ihnen später am mächtigsten in den Weg stellen werden.

Die Bildung ihrer eigenen Macht- und Aktionsorgane, der Sowjets, durch die Arbeiter, bedeutet schon die Zersetzung und Auflösung des Staates. Die Gewerkschaft als eine viel jüngere, moderne, selbstgeschaffene Organisationsform wird sich viel länger erhalten, da sie in einer frischeren Tradition selbsterlebter Verhältnisse wurzelte und daher in der Anschauungswelt des Proletariats noch einen Platz behauptet, wenn es die staatlich-demokratischen Illusionen schon abgestreift hat. Da die Gewerkschaften aber aus dem Proletariat selbst hervorgekommen sind, als Produkte ihres eigenen Schaffens, werden sich hier am meisten Neubildungen zeigen als Versuche, sie jedes Mal neuen Verhältnissen anzupassen; hier werden dem Prozess der Revolution folgend, sich nach dem Muster der Sowjets neue Formen seines Kampfes und seiner Organisation in stetiger Umbildung und Entwicklung aufbauen.

VI

Die Vorstellung, die proletarische Revolution in Westeuropa sei einer geregelten Belagerung der kapitalistischen Festung zu vergleichen, in der das Proletariat, durch die kommunistische Partei in eine wohlorganisierte Armee zusammengefasst, sie mittels seiner altbewährten Methoden in wiederholten Stürmen angreift, bis der Feind sich ergibt, während es zugleich die Betriebskontrolle Schritt für Schritt erobert, ist eine neureformistische Vorstellung, die den Kampfbedingungen der altkapitalistischen Länder sicher nicht entspricht. Revolutionen und Eroberungen der Macht können da vorkommen, die wieder verloren gehen; die Bourgeoisie wird die Macht zurückgewinnen können, aber dabei die Wirtschaft noch hoffnungsloser zerrütten; politische Zwischenformen können auftreten, die durch ihren Mangel an Kraft das Chaos nur verlängern. Der Prozess der Revolution besteht zuerst in einer Loslösung der alten Bedingungen, die in jeder Gesellschaft vorhanden sein müssen, weil sie den gesellschaftlichen Gesamtprozess der Produktion und des Zusammenlebens erst ermöglichen und die durch die lange geschichtliche Praxis die feste Kraft spontaner Sitten und sittlicher Normen (Pflichtgefühl, Fleiß, Disziplin) bekommen haben. Ihr Zerfall ist eine notwendige Begleiterscheinung der Auflösung des Kapitalismus, während zugleich die neuen Bindungen, die zur kommunistischen Neuorganisation der Arbeit und der Gesellschaft gehören – deren Entstehung wir in Russland beobachteten – noch nicht kräftig genug sind. Daher wird eine Zeit des gesellschaftlichen und politischen Chaos als Übergangszeit unvermeidlich. Wo das Proletariat rasch die Herrschaft erobert und sie fest in der Hand zu behalten weiß, wie in Russland, kann die Übergangszeit kurz sein und rasch durch den positiven Aufbau beendet werden. Aber in Westeuropa wird der Zerstörungsprozess viel langwieriger sein. In Deutschland sehen wir die Arbeiterklasse gespalten in Gruppen, in denen diese Entwicklung verschieden weit gediehen ist und die deshalb noch nicht zur aktiven Einheit kommen können. Die Symptome der letzten Revolutionsbewegungen weisen darauf hin, dass das ganze Reich, wie Zentraleuropa überhaupt, sich auflöst, dass die Volksmassen nach Schichten wie nach Regionen auseinanderfallen, deren jede zuerst auf eigene Faust vorgeht, hier sich zu bewaffnen weiß und die politische Gewalt mehr oder weniger an sich zieht, da in Streikbewegungen die bürgerliche Gewalt lähmt, dort sich als eine Bauernrepublik abschließt, anderswo zum Stützpunkt von weißen Garden wird oder in elementaren agrarischen Revolten die feudalen Reste sprengt – die Zerstörung der Kräfte muss offenbar erst gründlich sein, bevor von einem wirklichen Aufbau des Kommunismus die Rede sein kann. Die Aufgabe der kommunistischen Partei kann dabei nicht sein, diese Umwälzung zu schulmeistern und vergebliche Versuche anzustellen, sie in eine Zwangsjacke überlieferter Formen zu pferchen, sondern überall die Kräfte der proletarischen Bewegung zu unterstützen, die spontanen Aktionen zusammenzufassen, ihnen das Bewusstsein ihres Zusammenhanges im großen Rahmen zu geben, dadurch die Vereinheitlichung der zersplitterten Aktionen vorzubereiten und sich so an die Spitze der Gesamtbewegung zu stellen.

Die erste Phase der Auflösung des Kapitalismus, gleichsam ihre Einleitung, sehen wir in den Ententeländern, wo seine Herrschaft noch unerschüttert ist, als ein unaufhaltsames Zurücklaufen der Produktion und der Valuta, ein Überhandnehmen des Streiks und eine starke Arbeitsunlust im Proletariat. Die zweite Phase, die Zeit der Konterrevolution, d. h. der politischen Herrschaft der Bourgeoisie im Zeitalter der Revolution, bedeutet den völligen wirtschaftlichen Zusammenbruch; wir können sie am besten in Deutschland und im übrigen Zentraleuropa studieren. Wäre sofort nach der politischen Umwälzung ein kommunistisches System aufgetreten, so hätte, sogar trotz der Friedensverträge von Versailles und St. Germain, trotz Erschöpfung und Armut, ein organisierter Aufbau beginnen können. Aber Ebert-Noske dachten so wenig wie Renner-Bauer an den organisierten Aufbau; sie ließen der Bourgeoisie die freie Hand und sahen es nur als ihre Aufgabe an, das Proletariat niederzuhalten. Die Bourgeoisie handelte, d.h. jeder Kapitalist handelte, wie es seiner Natur als Bourgeois entspricht; jeder hatte nur diesen einen Gedanken, möglichst viel Profit machen, für sich persönlich aus dem Zusammenbruch zu retten, was zu retten war. Es wurde zwar in Zeitungen und Manifesten von der Notwendigkeit geredet, das ökonomische Leben durch geordnete Arbeit wieder aufzubauen, aber das war bloß für die Arbeiter gemeint, um den harten Zwang zur intensivsten Arbeit trotz ihrer Erschöpfung mit schönen Phrasen zu verkleiden. In Wirklichkeit kümmerte sich selbstverständlich kein einziger Bourgeois um den wirtschaftlichen Aufbau als allgemeines Volksinteresse, sondern nur um seinen persönlichen Gewinn. Zuerst wurde der Handel wieder, wie in der Urzeit, das wichtigste Mittel zur Bereicherung; das Sinken der Valuta bot die Gelegenheit, alles ins Ausland zu verkaufen – Rohstoffe, Lebensmittel, Produkte, Produktionsmittel – was für den wirtschaftlichen Aufbau oder die bloße Existenz der Massen nötig gewesen wäre, und weiter die Fabriken selbst und die Eigentumsmittel. Das Schiebertum beherrscht alle bürgerlichen Schichten, von einer zügellosen Korruption des Beamtentums unterstützt. So wurde alles, was vom alten Besitz übrig geblieben war und nicht als Kriegsentschädigung abgegeben werden musste, von den „Leitern der Produktion“ ins Ausland verschoben. Und ähnlich trat auf dem Gebiet der Produktion die private Profitsucht auf, die durch ihre völlige Gleichgültigkeit für das Gemeinwohl das Wirtschaftsleben herunterbringt. Um den Proletariern die Akkordarbeit und verlängerte Arbeitszeit aufzwingen zu können oder die rebellischen Elemente unter ihnen los zu werden, wurden sie ausgesperrt und die Betriebe stillgelegt, unbekümmert um die Stagnation, die dadurch in der übrigen Industrie entstand. Dazu kam die Unfähigkeit der bürokratischen Leitung der Staatsbetriebe, die zur völligen Bummelei wurde, da die kräftige Hand der Regierung von oben fehlte. Beschränkung der Produktion, das altprimitive Mittel zur Steigerung der Preise, aber unter einem blühenden Kapitalismus infolge der Konkurrenz undurchführbar, kam wieder zu Ehren. In den Börsennachrichten scheint der Kapitalismus wieder aufzublühen, aber die hohen Dividenden sind ein Aufzehren des letzten Besitzes und werden selbst in Luxus verjubelt. Was wir in Deutschland in dem letzten Jahr beobachteten, ist nicht etwas Auffälliges, sondern die Wirkung des allgemeinen Charakters der Bourgeoisie als Klasse. Ihr einziges Ziel ist und war immer der persönliche Profit, im normalen Kapitalismus hält dieser Trieb die Produktion im Gang, im untergehenden Kapitalismus bewirkt er die völlige Zerstörung der Wirtschaft. Und daher wird es mit anderen Ländern denselben Weg gehen; ist einmal die Produktion bis zu einer gewissen Höhe zerrüttet und ist die Valuta stark gesunken, dann wird, wenn der privaten Gewinnsucht der Bourgeoisie freie Bahn gelassen wird – und das ist die Bedeutung der politischen Herrschaft der Bourgeoisie unter der Larve irgendwelcher nichtkommunistischen Partei – auch der völlige Untergang der Wirtschaft das Resultat sein.

Die Schwierigkeiten des Neuaufbaues, vor die sich das westeuropäische Proletariat unter solchen Umständen gestellt sieht, sind ungeheuer viel größer, als sie in Russland waren – die nachherige Verwüstung der industriellen Produktivkräfte durch Koltschak und Denikin gibt eine schwache Ahnung davon. Er kann nicht warten, bis eine neue politische Ordnung hergestellt ist, er muss schon im Prozess der Revolution begonnen werden, indem überall, wo das Proletariat die Macht ergreift, sofort eine Ordnung der Produktion durchgeführt wird, und die Verfügungsgewalt der Bourgeoisie über die materiellen Elemente des Lebens aufgehoben wird. Die Betriebskontrolle kann dazu dienen, in den Werkstätten die Verwendung der Waren zu überwachen; aber es ist klar, dass damit nicht alle gemeinschädlichen Schiebungen der Bourgeoisie erfasst werden. Dazu ist die volle bewaffnete politische Gewalt und ihre schärfste Handhabung nötig. Wo die Wucherer rücksichtslos ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl das Volksgut verschleudern, wo die bewaffnete Reaktion blindlings mordet und zerstört, muss das Proletariat rücksichtslos eingreifen und kämpfen, das Gemeinwohl, das Leben des Volkes zu schützen.

Die Schwierigkeiten der Neuorganisation einer völlig vernichteten Gesellschaft sind so groß, dass sie von vornherein unüberwindlich erscheinen, so dass es auch absolut unmöglich ist, im Voraus ein Programm für die Rekonstruktion aufzustellen. Aber sie müssen überwunden werden, das Proletariat wird sie überwinden durch die grenzenlose Selbstaufopferung und Hingabe, durch die unendliche Kraft der Seele und des Geistes, durch die ungeheuren psychischen und moralischen Energien, die die Revolution in seinem geschwächten und gemarterten Leib zu wecken vermag.

Ein paar Fragen mögen andeutungsweise erörtert werden. Die Frage der technischen Industriebeamten wird nur zeitweilig Schwierigkeiten geben, trotzdem sie absolut bürgerlich denken und einer proletarischen Herrschaft in tiefster Feindschaft gegenüberstehen, werden sie sich schließlich doch fügen. Das Ingangbringen von Verkehr und Industrie wird vor allem eine Frage der Zufuhr von Rohstoffen sein; und diese Frage fällt mit der Frage der Lebensmittel zusammen. Die Lebensmittelfrage ist die Kernfrage der westeuropäischen Revolutionen, da die stark industrialisierte Bevölkerung schon unter dem Kapitalismus nicht ohne fremde Zufuhr auskommen konnte. Die Lebensmittelfrage der Revolution ist aber aufs engste mit der ganzen Agrarfrage verknüpft, und die Prinzipien einer kommunistischen Regelung der Landwirtschaft müssen schon auf die Maßnahmen zur Steuerung des Hungers während der Revolution von Einfluss sein. Die Junkergüter, der Großgrundbesitz ist reif zur Enteignung und kollektiven Bewirtschaftung; das Kleinbauerntum wird von aller kapitalistischen Ausbeutung befreit und durch Unterstützung mit allen Mitteln der Staatshilfe und Kooperation auf den Weg intensiver Kultur geleitet werden; das mittlere Bauerntum, das zum Beispiel in West- und Südwestdeutschland die Hälfte des Bodens besitzt, das stark individualistisch, also antikommunistisch denkt, aber eine noch unerschütterliche wirtschaftliche Stellung einnimmt, also nicht zu expropriieren ist, wird man durch Regelung des Produktenaustausches und Förderung der Produktivität in den Kreis des gesamten Wirtschaftsprozesses einzufügen haben – erst der Kommunismus wird in der Landwirtschaft die Entwicklung zur höchsten Produktivität und die Aufhebung der Individualwirtschaft einleiten, die der Kapitalismus in der Industrie gebracht hat. Daraus ergibt sich, dass die Arbeiter die Gutsbesitzer als feindliche Klasse, die Landarbeiter und Kleinbauern als ihre Verbündeten in der Revolution anzusehen haben, während sie keinen Anlass haben, sich die Mittelbauern zu Feinden zu machen, wenn diese im voraus auch feindlich gesinnt sein mögen. Das bedeutet, dass, solange ein Austausch von Gütern noch nicht geregelt ist – in der ersten chaotischen Zeit – eine Requisition von Lebensmitteln bei diesen Bauernschichten nur als Notmaßnahme, als absolut unvermeidlicher Ausgleich des Hungers zwischen Stadt und Land, stattfinden kann. Der Kampf gegen den Hunger wird vor allem durch die Einfuhr von außen geführt werden müssen. Sowjetrussland wird mit seinen reichen Hilfsquellen an Lebensmitteln und Rohstoffen der Retter und Ernährer der westeuropäischen Revolution sein. Deshalb vor allem ist die Erhaltung und die Unterstützung Sowjetrusslands für die westeuropäische Arbeiterklasse das allerhöchste und ureigenste Lebensinteresse.

Der neue Aufbau der Wirtschaft, so ungeheuer schwierig er sein wird, ist nicht das erste Problem, das die Kommunistische Partei zu beschäftigen hat. Wenn die proletarischen Massen ihre höchste geistige und sittliche Kraft entfalten, werden sie es lösen. Die erste Aufgabe der Kommunistischen Partei ist, diese Kraft zu wecken und zu fördern. Sie hat alle überkommenen Ideen, die das Proletariat ängstlich und unsicher machen, auszurotten, allem, was in den Arbeitern Illusionen über leichtere Wege weckt und sie von den radikalsten Maßnahmen zurückhält, entgegenzusetzen, alle Tendenzen, die auf halbem Wege oder bei Kompromissen stehen bleiben, energisch zu bekämpfen. Und solche Tendenzen gibt es noch viele.

VII

Der Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus wird nicht nach dem einfachen Schema: Eroberung der politischen Gewalt, Einführung der Rätesysteme, Aufhebung der Privatwirtschaft, stattfinden, wenn dies auch die große Entwicklungslinie abgibt. Das wäre nur möglich, wenn man gleichsam im Leeren aufbauen könnte. Aber aus dem Kapitalismus sind Betriebs- und Organisationsformen entstanden, die ihren festen Boden im Bewusstsein der Massen haben und selbst erst in einem Prozess politischer und wirtschaftlicher Revolution umgewälzt werden können. Von den Betriebsformen erwähnten wir schon die agrarischen Formen, die eine besondere Entwicklung durchmachen. In der Arbeiterklasse sind unter dem Kapitalismus Organisationsformen entstanden – nach den Ländern in Einzelheiten verschieden –, die eine starke Macht darstellen, die nicht sofort zu beseitigen sind und die daher eine bedeutsame Rolle im Verlauf der Revolution spielen werden.

Das gilt zuerst von den politischen Parteien. Die Rolle der Sozialdemokratie in der heutigen Krise des Kapitalismus ist genügend bekannt, aber in Zentraleuropa bald ausgespielt. Auch ihre radikalsten Teile (wie die USP in Deutschland) wirken nicht nur dadurch schädlich, dass sie das Proletariat spalten, sondern vor allem, weil sie durch ihre sozialdemokratischen Ideen – die Herrschaft politischer Führer, die durch ihre Taten und Verhandlungen die Geschicke des Volkes lenken – immer wieder die Massen verwirren und von der Aktion zurückhalten. Und wenn eine Kommunistische Partei sich als parlamentarische Partei konstituiert, die statt der Klassendiktatur die Diktatur der Partei, das heißt die Diktatur der Parteiführer verwirklichen will, so kann sie auch zu einem Hemmnis werden der Entwicklung. Die Haltung der Kommunistischen Partei Deutschlands während der revolutionären Märzbewegung, als sie erklärte, das Proletariat sei noch nicht reif zur Diktatur und sie werde deshalb, wenn eine „rein sozialistische Regierung“ zustande käme, zu ihr als „loyale Opposition“ auftreten, also das Proletariat vom schärfsten revolutionären Kampf gegen eine solche Regierung zurückhalten, hat auch schon von verschiedenen Seiten Kritik erfahren.6

Eine Regierung sozialistischer Parteiführer kann im Verlaufe der Revolution als Zwischenform auftreten; in ihr kommt dann das augenblickliche Verhältnis der revolutionären und bürgerlichen Kräfte zum Ausdruck, und sie hat die Tendenz, das augenblickliche Verhältnis der Zerstörung des Alten und der Ausbildung des Neuen als das Ergebnis der Revolution festzuhalten und zu verewigen. Sie wäre so etwas wie eine radikalere Neuauflage der Ebert-Haase-Dittmann-Regierung. Was von einer solchen Regierung zu erwarten ist, ergibt sich aus ihrer Grundlage: ein scheinbares Gleichgewicht der feindlichen Klassen, aber unter einem Übergewicht der Bourgeoisie, eine Mischung von parlamentarischer Demokratie mit einer Art Rätesystem für die Arbeiter, Sozialisierung, durch das Veto des Entente-Imperialismus beschränkt, unter Erhaltung des Kapitalprofits, vergebliche Versuche, das scharfe Aufeinanderprallen der Klassen zu verhindern. Die dabei geprellt werden, sind immer die Arbeiter. Eine solche Regierung kann nicht nur nichts zum Aufbau tun, sie versucht es nicht einmal, da ihr einziges Ziel ist, die Revolution auf halbem Wege in ihrem Lauf aufzuhalten. Da sie sowohl den weiteren Abbruch des Kapitalismus zu verhindern sucht, wie die Ausbildung der vollen politischen Gewalt des Proletariats, wirkt sie direkt konterrevolutionär. Die Kommunisten können nicht anders, als in der rücksichtslosesten Weise eine solche Regierung bekämpfen.

Sowie in Deutschland die Sozialdemokratie die führende Organisation des Proletariats war, hat in England die Gewerkschaftsbewegung durch eine fast hundertjährige Geschichte die tiefsten Wurzeln in der Arbeiterklasse. Hier ist es schon lange das Ideal der jüngeren radikalen Gewerkschaftsführer – Robert Smillie mag als ihr Typus gelten –, dass die Arbeiterklasse mittels der Organisation der Gewerkschaften die Gesellschaft beherrscht. Auch die revolutionären Syndikalisten und die Wortführer der IWW in Amerika – obgleich der Dritten Internationale angeschlossen – denken sich die künftige Herrschaft des Proletariats vorwiegend in solcher Gestalt. Die radikalen Gewerkschaftler betrachten das Sowjetsystem nicht als die reinste Form proletarischer Diktatur, sondern vielmehr als eine Regierung von Politikern und Intelligenzlern, die auf einer aus Arbeiterorganisationen bestehenden Grundlage aufgebaut ist. Dagegen ist die Gewerkschaftsbewegung für sie die natürliche selbstgeschaffene Klassenorganisation des Proletariats, das sich darin selbst regiert und die ganze Arbeit beherrschen soll. Ist das alte Ideal der „industriellen Demokratie“ verwirklicht und die Gewerkschaft Meister in der Fabrik, dann wird ihr gemeinsames Organ, der Gewerkschaftskongress, die Funktion der Leitung und Verwaltung des wirtschaftlichen Gesamtprozesses übernehmen. Er ist dann das wirkliche „Parlament der Arbeit“, das an die Stelle des alten bürgerlichen Parteienparlaments tritt. Allerdings schreckt man in diesen Kreisen oft noch vor einer einseitigen und „ungerechten“ Klassendiktatur als Verstoß gegen die Demokratie zurück; die Arbeit soll herrschen, aber die anderen sollen nicht rechtlos sein. Dementsprechend könnte neben dem Arbeitsparlament, das die Grundlage alles Lebens, die Arbeit, verwaltet, ein durch allgemeines Wahlrecht gewähltes zweites Haus als Vertretung des ganzen Volkes kommen und seinen Einfluss auf öffentliche, kulturelle und allgemein politische Fragen ausüben.

Diese Auffassung einer Regierung von Gewerkschaften soll nicht mit dem „Laborism“ verwechselt werden, der Politik der „Labourparty“, die die Gewerkschaftler jetzt führen. Dies ist ein Eindringen der Gewerkschaften in das heutige bürgerliche Parlament, indem sie eine „Arbeiterpartei“ bilden auf gleichen Fuß mit den anderen Parteien und danach streben, an ihrer Stelle Regierungspartei zu werden. Diese Partei ist völlig bürgerlich, und zwischen Henderson und Ebert ist nicht viel Unterschied. Sie wird der englischen Bourgeoisie die Gelegenheit bieten – sobald es durch den drohenden Druck von unten nötig ist – auf breiterer Basis ihre alte Politik fortzusetzen, die Arbeiter dadurch schwach zu halten und irrezuführen, dass ihre Führer in die Regierung aufgenommen werden. Eine Regierung der Arbeiterpartei – die vor einem Jahr bei der revolutionären Stimmung der Massen nahe schien, die aber die Führer selbst seitdem durch die Niederhaltung der radikalen Strömung wieder in weite Ferne gerückt haben – wäre ähnlich wie die Ebertregierung in Deutschland nur eine Regierung für die Bourgeoisie. Aber es muss sich noch zeigen, ob die weitblickende kluge englische Bourgeoisie sich selbst nicht viel besser als diesen Arbeiterbürokraten die Einseifung und Niederhaltung der Massen zutraut.

Eine reine Gewerkschaftsregierung nach radikaler Auffassung steht gegenüber dieser Arbeiterparteipolitik, diesem „Laborism“, wie Revolution gegenüber Reform steht. Nur eine wirkliche Revolution der politischen Verhältnisse – ob gewaltsam oder nach alten englischen Mustern – kann sie herbeiführen; und im Bewusstsein der breiten Massen wäre dies dann die Eroberung der Herrschaft durch das Proletariat. Aber dennoch ist sie von dem Ziel des Kommunismus durchaus verschieden. Sie beruht auf der beschränkten Ideologie, die sich im Gewerkschaftskampf entwickelt, wo man nicht das Weltkapital als Ganzes in allen seinen verschlungenen Formen, nicht das Finanzkapital, nicht das Bankkapital, das agrarische Kapital, das Kolonialkapital, sondern nur seine industrielle Form sich gegenüber sieht. Sie stützt sich auf die marxistische Ökonomie, wie sie jetzt in der englischen Arbeiterwelt eifrig studiert wird, die die Produktion als Ausbeutungsmechanismus zeigt, aber ohne die tiefere marxistische Gesellschaftslehre, den historischen Materialismus. Sie weiß, dass die Arbeit die Grundlage der Welt bildet und will daher, dass die Arbeit die Welt beherrscht; aber sie sieht nicht, wie alle abstrakte Gebiete des politischen und geistigen Lebens durch die Produktionsweise bedingt werden, und sie ist deshalb geneigt, diesen der bürgerlichen Intelligenz zu überlassen, wenn diese nur die Vorherrschaft der Arbeit anerkennt. Eine solche Arbeiterregierung wäre in Wirklichkeit eine Regierung der Gewerkschaftsbürokratie, die sich ergänzt durch den radikalen Teil der alten Staatsbürokratie, denen sie als Sachverständigen die Spezialgebiete der Kultur, der Politik und dergleichen überlässt. Ihr wirtschaftliches Programm wird voraussichtlich auch nicht mit der kommunistischen Enteignung zusammenfallen, sondern nur auf die Enteignung des Großkapitals, des Wucher-, Bank- und Bodenkapitals gerichtet sein, während der „redliche“ Unternehmerprofit der von diesem Großkapital gerupften und beherrschten kleineren Unternehmer geschont wird. Es ist auch fraglich, ob sie in der Kolonialfrage, diesem Lebensnerv der herrschenden Klasse Englands, den Standpunkt völliger Freiheit für Indien einnehmen wird, der wesentlich zum kommunistischen Programm gehört.

In welcher Weise, in welchem Maße und in welcher Reinheit sich eine solche politische Form verwirklichen wird, ist nicht vorauszusägen; wir können nur die allgemeinen Triebkräfte und Tendenzen, die abstrakten Typen erkennen, aber nicht die überall verschiedenen konkreten Formen und Mischungen, in denen sie realisiert werden. Die englische Bourgeoisie hat immer die Kunst verstanden, durch partielle Konzessionen im richtigen Moment von revolutionären Zielen zurückzuhalten, inwieweit sie auch in Zukunft diese Taktik befolgen kann, wird vor allem von der Tiefe der wirtschaftlichen Krise abhängen. Wird in ungeregelten industriellen Revolten die Gewerkschaftsdisziplin von unten zerrieben, während der Kommunismus die Massen ergreift, dann werden die radikalen und reformistischen Gewerkschaftler sich auf einer mittleren Linie zusammenfinden; geht der Kampf scharf gegen die alte reformistische Führerpolitik, dann werden radikale Gewerkschaftler und Kommunisten Hand in Hand gehen.

Diese Tendenzen sind nicht auf England beschränkt. In allen Ländern bestehen Gewerkschaften als die mächtigsten Arbeiterorganisationen; sobald durch einen politischen Zusammenstoß die alte Gewalt stürzt, wird sie naturgemäß der bestorganisierten und einflussreichsten Macht zufallen, die dann vorhanden ist. In Deutschland bildeten die Gewerkschaftsvorstände im November 1918 die konterrevolutionäre Garde hinter Ebert; und bei der letzten Märzkrise traten sie auf die politische Bühne, mit dem Versuch, einen direkten Einfluss auf die Bildung der Regierung zu erwerben. Bei diesen Stützen der Ebert-Regierung handelte es sich dabei nur darum, durch den Trug einer „Regierung unter Kontrolle der Arbeiterorganisation“ das Proletariat noch schlauer einzuseifen. Aber es zeigt, dass hier die gleiche Tendenz vorhanden ist wie in England. Und wenn auch die Legien und Bauer zu sehr konterrevolutionär kompromittiert sind, neue radikalere Gewerkschaftler der USP-Richtung werden an ihre Stelle treten – so wie im vorigen Jahr die Unabhängigen unter Dissmann schon die Leitung des großen Metallarbeiterverbandes eroberten. Wenn eine revolutionäre Bewegung die Ebert-Regierung stürzt, wird zweifellos – neben der KP oder gegen sie – diese festorganisierte Macht von sieben Millionen Mitgliedern dabei sein, die politische Gewalt zu ergreifen.

Eine solche „Regierung der Arbeiterklasse“ mittels der Gewerkschaften kann nicht stabil sein, wenn sie sich bei einem langsamen ökonomischen Zersetzungsprozess auch lange wird behaupten können, so wird sie in einer akuten Revolution nur als schwankender Übergangszustand bestehen können. Ihr Programm, wie oben skizziert; kann nicht radikal sein. Eine Richtung aber, die solche Maßnahmen, nicht wie der Kommunismus, höchstens als zeitweilige Zwischenform zulässt, die er bewusst in der Richtung einer kommunistischen Organisation weiterentwickelt, sondern als definitives Programm betrachtet, muss notwendig im Gegensatz zu und in Streit mit den Massen kommen. Erstens, weil sie die bürgerlichen Elemente nicht völlig machtlos macht, sondern ihnen in der Bürokratie und vielleicht im Parlament eine gewisse Machtposition überlässt, von der aus sie den Klassenkampf weiter führen können. Die Bourgeoisie wird trachten, diese Machtpositionen zu stärken, während das Proletariat, weil es in solcher Weise die feindliche Klasse nicht vernichten kann, versuchen muss, das reine Sowjetsystem als Organ seiner Diktatur durchzuführen, in diesem Kampfe zweier kräftiger Gegner wird der ökonomische Aufbau unmöglich.7 Und zweitens, weil eine solche Regierung von Gewerkschaftsführern die Probleme, die die Gesellschaft stellt, nicht lösen kann. Denn diese sind nur zu lösen durch die eigene Initiative und Aktivität der proletarischen Masse, die durch eine so opferwillige, grenzenlose Begeisterung getrieben wird, wie sie nur der Kommunismus mit seinen Perspektiven völliger Freiheit und höchster geistiger und sittlicher Erhebung wecken kann. Eine Richtung, die die materielle Armut und Ausbeutung aufheben will, sich aber bewusst darauf beschränkt, den bürgerlichen Überbau nicht antastet und nicht zugleich den ganzen geistigen Ausblick, die Ideologie des Proletariats umzuwälzen weiß, kann diese mächtigen Energien in den Massen nicht auslösen; aber daher wird sie auch unfähig sein, das materielle Problem, den wirtschaftlichen Aufbau, zu lösen und das Chaos zu heben.

Ähnlich wie die „rein sozialistische“ Regierung wird die Gewerkschaftsregierung das augenblickliche Ergebnis des Revolutionsprozesses festzuhalten und zu stabilisieren versuchen – nur in einem viel weiteren Entwicklungsstadium, wenn die Vorherrschaft der Bourgeoisie zerstört ist und ein gewisses Gleichgewicht der Klassen unter Vorherrschaft des Proletariats eingetreten ist; wenn nicht der ganze Kapitalprofit mehr zu erhalten ist, sondern nur seine weniger anstößige kleinkapitalistische Form; wenn nicht mehr der bürgerliche, sondern der sozialistische Aufbau ernsthaft versucht wird, sei es auch mit ungenügenden Mitteln. Ihre Bedeutung ist also die einer letzten Zuflucht der bürgerlichen Klasse. Wenn die Bourgeoisie sich gegen den Ansturm der Massen auf der Linie Scheidemann-Henderson-Renaudel nicht mehr halten kann, zieht sie sich auf ihre letzte Rückzugslinie Smillie-Dissmann-Merrheim zurück. Kann sie durch „Arbeiter“ in einer bürgerlichen oder sozialistischen Regierung das Proletariat nicht mehr betrügen, so kann sie nur noch durch eine „Regierung von Arbeiterorganisationen“ das Proletariat von seinen fernsten radikalen Zielen zurückzuhalten suchen, um so einen Teil ihrer Vorzugsstellung zu erhalten. Der Charakter einer solchen Regierung ist konterrevolutionär, insoweit sie die notwendige Entwicklung der Revolution zur völligen Zerstörung der bürgerlichen Welt und zum völligen Kommunismus von dem Verfolgen seiner größten und klarsten Ziele zurückzuhalten sucht. Der Kampf der Kommunisten mag jetzt oft mit dem der radikalen Gewerkschaftler parallel laufen; aber es wäre eine schädliche Taktik, dabei die Gegensätze in Prinzip und Ziel nicht scharf hervorzuheben. Und diese Betrachtungen haben auch eine Bedeutung für das Verhalten der Kommunisten den heutigen Gewerkschaftsverbänden gegenüber; alles, was dazu beiträgt, ihre Geschlossenheit und ihre Kraft zu stärken, stärkt die Macht, die sich künftig dem Fortschreiten der Revolution in den Weg stellt. Wenn der Kommunismus einen starken und prinzipiellen Kampf gegen diese politische Übergangsform führt, ist er der Vertreter der lebendigen revolutionären Tendenzen im Proletariat. Dieselbe revolutionäre Aktion des Proletariats, die dadurch, dass sie den bürgerlichen Machtapparat bricht, die Bahn für die Herrschaft der Arbeiterbürokratie öffnet, treibt die Massen zugleich zur Schaffung ihrer eigenen Organe, der Räte, die sofort die bürokratische Maschinerie der Gewerkschaften in ihren Grundlagen untergraben. Der Aufbau des Sowjetsystems ist zugleich der Kampf des Proletariats, die unvollkommene Form der Diktatur durch die vollkommene Diktatur zu ersetzen. Aber bei der intensiven Arbeit, die alle nie aufhörende Versuche zur „Neuorganisation“ der Wirtschaft erfordern, wird eine Führerbürokratie noch lange eine große Macht behalten können und die Fähigkeit der Massen, sich ihrer zu entledigen, nur langsam wachsen. Diese verschiedenen Formen und Phasen der Entwicklung folgen einander auch nicht in der abstrakt-regelmäßigen Weise, wie wir sie logisch als Ausdruck verschiedener Reifegrade der Entwicklung hintereinander setzen, sondern laufen nebeneinander her, vermischen und durchkreuzen sich als ein Chaos sich ergänzender, bekämpfender und ablösender Tendenzen, in deren Kampf sich die Gesamtentwicklung der Revolution entzieht. „Proletarische Revolutionen“, sagte schon Marx, „kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihre Gegner nur niederzuwerfen, damit es neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte …“. Die Mächte, die aus dem Proletariat selbst aufwachsen als Ausdruck seiner unzulänglichen Kraft, müssen im Prozess der Entwicklung dieser Kraft – einer Entwicklung in Gegensätzen, also katastrophal, durch Kampf – überwunden werden. Im Anfang war die Tat, aber sie bildet nur den Anfang. Eine Herrschaft zu stürzen, erfordert einen Augenblick einheitlichen Willens, aber nur die bleibende Einheit – die nur möglich ist durch die klare Einsicht – vermag den Sieg festzuhalten. Sonst kommt der Rückschlag, der keine Rückkehr der alten Herrscher ist, sondern eine neue Herrschaft in neuen Formen, mit neuen Personen und neuen Illusionen. Jede neue Phase der Revolution bringt eine neue Schicht noch unverbrauchter Führer als Vertreter bestimmter Organisationsformen an die Oberfläche, deren Überwindung wieder eine höhere Stufe der Selbstbefreiung des Proletariats verkörpert. Die Kraft des Proletariats ist nicht nur die forsche Kraft der einmaligen gewaltigen Tat, die den Feind niederschlägt, sondern die geistige Kraft, die die alte geistige Abhängigkeit überwindet und so mit starkem Griff festzuhalten weiß, was im Sturmangriff erobert wurde. Das Wachstum dieser Kraft im Auf- und Niedergang der Revolution ist das Wachstum der proletarischen Freiheit.

VIII

Während in Westeuropa der Kapitalismus immer mehr zusammenbricht, wird in Russland mit ungeheuren Schwierigkeiten die Produktion unter einer neuen Ordnung aufgebaut. Die Herrschaft des Kommunismus bedeutet nicht, dass die Produktion völlig kommunistisch geordnet ist– dies ist erst durch einen längeren Entwicklungsprozess möglich – sondern dass die Arbeiterklasse mit bewusster Absicht die Produktion in der Richtung zum Kommunismus entwickelt.8 Diese Entwicklung kann zu jeder Zeit nicht weiter gehen, als die vorhandenen technischen und gesellschaftlichen Grundlagen zulassen, sie muss daher Übergangsformen zeigen, in denen Reste der alten bürgerlichen Welt hervortreten. Nach dem, was wir in Westeuropa über die russischen Zustände erfahren, sind diese auch in der Tat vorhanden.

Russland ist ein riesiges Bauernland, die Industrie hat sich nicht, wie in Westeuropa, zu dem unnatürlichen Umfang einer „Werkstätte“ der Welt entwickelt, die Ausfuhr und Expansion zu einer Lebensfrage machte, aber gerade genug, um eine industrielle Arbeiterklasse zu bilden, die fähig war, als eine entwickelte Klasse die Leitung der Gesellschaft in die Hand zu nehmen. Die Landwirtschaft beschäftigt die Volksmasse, und darin bilden die modernen Grossbetriebe eine, obgleich für die kommunistische Entwicklung wertvolle, Minderheit. Den Hauptteil bilden die Kleinbetriebe, nicht die elenden ausgebeuteten Kleinbetriebe Westeuropas, sondern Betriebe, die den Bauern Wohlfahrt sichern und die die Sowjetregierung durch materielle Versorgung mit Hilfsstoffen und Werkzeugen sowie durch intensiven, kulturellen und fachwissenschaftlichen Unterricht in immer festere Verbindung mit dem Ganzen zu bringen sucht. Dennoch ist es selbstverständlich, dass diese Betriebsform einen gewissen individualistischen, dem Kommunismus fremden Geist erzeugt, der bei den „reichen Bauern“ zu einer feindlichen, regelrecht antikommunistischen Gesinnung wird. Darauf hat zweifellos die Entente mit ihrem Projekt des Handels mit Genossenschaften spekuliert, um dadurch, dass sie diese Schichten in den Kreis bürgerlicher Profitsucht zu ziehen versuchte, eine bürgerliche Gegenbewegung zu entfachen. Weil aber doch ein zu großes Interesse, die Furcht vor der feudalen Reaktion, sie mit der heutigen Regierung verbindet, müssen solche Versuche fehlschlagen, und wenn der westeuropäische Imperialismus untergeht, so verschwindet diese Gefahr völlig.

Die Industrie ist vorwiegend zentral geregelte, ausbeutungslose Produktion, sie ist das Herz der neuen Ordnung, auf das industrielle Proletariat stützt sich die Leitung des Staates. Aber auch diese Produktion befindet sich in einem Übergangszustand; die technischen und Verwaltungsbeamten in Fabrik und Staatswesen üben eine größere Macht aus, als zum entwickelten Kommunismus passt. Die Notwendigkeit, rasch die Produktion zu heben, und noch mehr die Notwendigkeit, eine gute Armee gegen die Angriffe der Reaktion zu schaffen, nötigte dazu, im raschesten Tempo dem Mangel an führenden Kräften abzuhelfen; der drohende Hunger und die feindlichen Angriffe gestatten nicht, alle Kraft auf die Hebung – im langsameren Tempo – der allgemeinen Fähigkeit und Entwicklung aller als Basis eines kommunistischen Gemeinwesens zu verwenden. So musste aus den neuen Führern und Beamten eine neue Bürokratie entstehen, die die Reste der alten Bürokratie in sich aufnahm und deren Vorhandensein bisweilen als eine Gefahr der neuen Ordnung mit Besorgnis betrachtet wird. Diese Gefahr kann nur durch eine breite Entwicklung der Massen beseitigt werden, daran wird mit Feuereifer gearbeitet, aber ihre dauernde Grundlage wird erst von dem kommunistischen Überfluss gebildet werden, wodurch der Mensch aufhört, Sklave seiner Arbeit zu sein. Nur der Überfluss schafft die materielle Bedingung für Freiheit und Gleichheit; solange der Kampf gegen die Natur und gegen die Kapitalmächte noch ein schwerer Kampf ist, wird eine übermäßige Spezialisierung nötig bleiben.

Es ist bemerkenswert, dass nach unserer Untersuchung die verschiedene Entwicklung in Westeuropa – wo wir sie erst im weiteren Fortgang der Revolution voraussehen – und in Russland dieselbe politisch-wirtschaftliche Struktur hervorbringt: eine kommunistisch geregelte Industrie, in der Arbeiterräte das Element der Selbstverwaltung bilden, unter technischer Leitung und politischer Herrschaft einer Arbeiterbürokratie, während daneben die Landwirtschaft in dem vorherrschenden Klein- und Mittelbetrieb einen individualistischkleinbürgerlichen Charakter behält. Aber diese Übereinstimmung ist doch nicht sonderbar, da eine solche soziale Struktur nicht durch die politische Vorgeschichte, sondern durch technisch-wirtschaftliche Grundbedingungen bestimmt wird – die Entwicklungsstufe der industriellen und landwirtschaftlichen Technik sowie der Massenbildung – die da wie dort die gleichen sind.9 Aber bei dieser Übereinstimmung besteht ein großer Unterschied in Bedeutung und Ziel. In Westeuropa bildet diese politisch-ökonomische Struktur einen Übergangszustand, auf dem in letzter Linie die Bourgeoisie ihren Untergang aufzuhalten sucht, während in Russland versucht wird, die Entwicklung bewusst in die Richtung des Kommunismus weiterzusteuern. In Westeuropa bildet sie eine Phase im Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie, in Russland eine Phase in dem neuen wirtschaftlichen Aufbau. Unter gleichartigen äußeren Formen befindet sich Westeuropa auf der niedergehenden Linie einer untergehenden Kultur, Russland in der aufsteigenden Bewegung einer neuen Kultur.

Als die russische Revolution noch jung war und schwach und ihre Rettung von dem baldigen Ausbruch der europäischen Revolution erwartete, herrschte eine andere Auffassung über ihre Bedeutung. Russland ist, so hieß es damals, nur ein Außenposten der Revolution, wo durch eine zufällige Gunst der Umstände das Proletariat so früh die Macht ergreifen konnte; aber dieses Proletariat ist schwach und ungebildet und verschwindet beinahe in den endlosen Bauernmassen. Das Proletariat des wirtschaftlich rückständigen Russland kann nur zeitweilig voranschreiten; sobald die Riesenmassen des westeuropäischen Proletariats aufstehen werden, mit ihren Kenntnissen und ihrer Durchbildung, mit ihrer technischen und organisatorischen Schulung, und die Herrschaft über die entwickeltsten Industrieländer mit alter reicher Kultur übernehmen, dann wird man ein Aufblühen des Kommunismus erleben, neben dem der dankenswerte russische Anfang doch nur schwach und dürftig erscheinen würde. Wo der Kapitalismus seine höchste Kraft entfaltet – in England, in Deutschland, in Amerika – und die neue Produktionsweise vorbereitet hatte, da lag der Kern und die Kraft der neuen kommunistischen Welt.

Diese Auffassung hielt keine Rechnung mit den Schwierigkeiten der Revolution in Westeuropa. Wo das Proletariat nur langsam zu einer gefestigten Herrschaft kommt und die Bourgeoisie dann und wann die Macht oder Teile der Macht zurückzugewinnen weiß, dort kann von einem Aufbau der Wirtschaft nichts kommen. Ein kapitalistischer Aufbau ist unmöglich; jedes Mal, wenn die Bourgeoisie freie Hand bekommt, schafft sie ein neues Chaos und vernichtet die Grundlagen, die zum Aufbau einer kommunistischen Produktion dienen könnten. Durch blutige Reaktion und Zerstörung verhindert sie immer wieder die Festigung der neuen proletarischen Ordnung. Auch in Russland fand dies statt: die Zerstörung der Industrieanlagen und Bergwerke im Ural und im Donezbecken durch Koltschak und Denikin sowie die Notwendigkeit, die besten Arbeiter und den Hauptteil der Produktionskraft auf den Kampf gegen sie zu verwenden, hat die Wirtschaft tief zerrüttet und den kommunistischen Aufbau schwer geschädigt und zurückgeworfen – und wenn auch die Eröffnung der Handelsbeziehungen mit Amerika und dem Westen den Anfang eines neuen Aufschwungs erheblich fördern kann, so wird doch die größte, aufopferndste Anstrengung der Massen in Russland nötig sein, den Schaden völlig zu beheben. Aber – und darin liegt der Unterschied – in Russland blieb die Sowjetrepublik selbst unerschüttert, als ein organisiertes Zentrum kommunistischer Kraft, das schon eine große innere Festigkeit erworben hatte. In Westeuropa wird nicht weniger zerstört und gemordet werden, da werden auch die besten Kräfte des Proletariats im Kampfe vernichtet werden, aber hier fehlt die Kraftquelle eines schon gefestigten, organisierten, großen Sowjetstaates. Im verheerenden Bürgerkrieg erschöpfen sich die Klassen gegeneinander, und solange kann vom Aufbau nichts kommen, solange bleiben Chaos und Elend herrschend. Das wird das Los der Länder sein, wo das Proletariat nicht sofort mit klarem Blick und einheitlichem Willen seine Aufgabe erkannte, der Länder also, wo die bürgerlichen Traditionen die Arbeiter schwächen und spalten, ihre Augen trüben und ihre Herzen verzagt machen. Jahrzehnte werden nötig sein, um in den alten kapitalistischen Ländern den verpestenden lähmenden Einfluss der bürgerlichen Kultur auf das Proletariat zu überwinden. Und inzwischen bleibt die Produktion brach liegen und wird, wirtschaftlich, das Land zu einer Wüste werden.

Zur selben Zeit, als Westeuropa mühsam sich aus seiner bürgerlichen Vergangenheit emporringt, wirtschaftlich stagniert, blüht im Osten, in Russland, die Wirtschaft in der kommunistischen Ordnung empor. Was die Länder des entwickelten Kapitalismus vor dem rückständigen Osten auszeichnete, war ihr ungeheurer Besitz an materiellen und geistigen Produktionsmitteln – ein dichtes Netz von Eisenbahnen, Fabriken, Schiffen, eine dichte, technisch ausgebildete Bevölkerung. Aber im Zusammenbruch des Kapitalismus, im langen Bürgerkrieg, in der Zeit der Stagnation, wenn zu wenig produziert wird, geht dieser Besitz verloren, wird verbraucht oder zerstört. Die unzerstörbaren Produktivkräfte, die Wissenschaft, die technischen Fähigkeiten, sind nicht an diese Länder gebunden; ihre Träger finden in Russland eine neue Heimat, wohin auch ein Teil des materiellen, technischen Besitzes Europas durch den Handelsverkehr hinübergerettet werden mag. Das Handelsabkommen Sowjetrusslands mit Westeuropa und Amerika, wenn ernsthaft und kräftig durchgeführt, hat die Tendenz, diesen Gegensatz zu stärken, weil es den wirtschaftlichen Aufbau Russlands fördert, während es in Westeuropa den Zusammenbruch verzögert, den Ruin aufhält, dem Kapitalismus eine Atempause verschafft und die revolutionäre Tatkraft der Massen lähmt – auf wie lange und im welchem Maße, steht noch dahin. Politisch wird sich das in einer scheinbaren Stabilisierung einer bürgerlichen oder einer der oben behandelten Regierungsformen zeigen und in einem gleichzeitigen Überhandnehmen des Opportunismus in dem Kommunismus; durch die Anerkennung der alten Kampfmethoden, durch die Teilnahme an der parlamentarischen Arbeit und loyale Opposition in den alten Gewerkschaften werden sich die kommunistischen Parteien in Westeuropa eine legale Position erwerben, ähnlich wie früher die Sozialdemokratie, und wird sich demgegenüber die radikale, revolutionäre Richtung in die Minderheit gedrängt sehen. Ein wirkliches neues Aufblühen des Kapitalismus ist aber durchaus unwahrscheinlich; das Privatinteresse der mit Russland handelnden Kapitalisten wird sich um die Gesamtwirtschaft nicht kümmern und des Profits wegen wichtige Grundelemente der Produktion nach Russland verschleudern; das Proletariat ist auch nicht wieder in die Abhängigkeit zu bringen. Damit wird die Krise schleppend; eine bleibende Besserung ist unmöglich und wird stets wieder aufgehalten; der Prozess der Revolution und des Bürgerkrieges wird aufgeschoben und verlängert, die volle Herrschaft des Kommunismus und der Anfang neuen Aufblühens in eine weitere Zukunft verschoben. Inzwischen erhebt sich im Osten die Wirtschaft unbehindert im kräftigen Aufschwung, eröffnet neue Wege, sich stützend auf die höchste Naturwissenschaft – die der Westen nicht zu gebrauchen weiß – vereint mit der neuen Sozialwissenschaft, der neugewonnenen Herrschaft der Menschheit über ihre eigenen gesellschaftlichen Kräfte. Und diese Kräfte, hundertfach gesteigert durch die neuen Energien, die aus der Freiheit und Gleichheit entsprießen, werden Russland zum Zentrum der neuen kommunistischen Weltordnung machen.

Das wird ja nicht der erste Fall in der Weltgeschichte sein, dass bei dem Übergang zu einer neuen Produktionsweise – oder einer ihrer Phasen – das Zentrum der Welt nach anderen Gegenden der Welt verlegt wurde. Im Altertum wanderte es von Vorderasien nach Südeuropa, im Mittelalter von Süd- nach Westeuropa; mit dem Aufkommen des Kolonial- und Handelskapitals wurde zuerst Spanien, dann Holland und England, mit dem Aufkommen der Industrie wurde England das führende Land. Die Ursachen dieser Wandlungen sind auch in einem allgemeinen Gesichtspunkt zusammenzufassen: Wo die frühere Wirtschaftsform zur höchsten Entfaltung kam, sind die materiellen und geistigen Kräfte, die politisch-rechtlichen Institutionen, die ihre Existenz sichern und zu ihrer vollen Ausbildung nötig sind, so fest ausgebaut worden, dass sie einer Entwicklung zu neuen Formen fast unüberwindliche Widerstände in den Weg legen. So hemmte das Institut der Sklaverei am Ausgang des Altertums die Entwicklung einer feudalen Ordnung; so bewirkten die Zunftgesetze in den großen reichen Städten des Mittelalters, dass die spätere kapitalistische Manufaktur sich nur in anderen, bis dahin unbedeutenden Orten entwickeln konnte; so hemmte die politische Ordnung des französischen Absolutismus, die unter Colbert die Industrie förderte, im späteren 18. Jahrhundert die Einführung der neuen Großindustrie, die England zum Fabrikland machte. Es besteht sogar ein dem entsprechendes Gesetz in der organischen Natur, das als Gegenstück zu Darwins „das Überleben der Passendsten“ mitunter als „survival of the unfitted“, das „Überleben der Nichtangepassten“ bezeichnet wird. Wenn ein Tiertypus – wie zum Beispiel die Saurier im sekundären Zeitalter – sich spezialisiert und differenziert hat zu einem Reichtum an Formen, die allen besonderen Lebensbedingungen jener Zeit völlig angepasst sind, so ist er unfähig zur Entwicklung zu einem neuen Typus geworden: Allerhand Anlagen und Entwicklungsmöglichkeiten sind verloren gegangen und kommen nicht zurück. Die Ausbildung eines neuen Typus geht von den primitiven Urformen aus, die, weil sie undifferenziert sind, alle Entwicklungsmöglichkeiten bewahrt haben, und der anpassungsunfähige alte Typus stirbt aus. Als besonderer Fall dieser organischen Regel ist die Erscheinung zu betrachten – die die bürgerliche Wissenschaft mit der Phantasie einer „Erschöpfung der Lebenskraft“ einer Nation oder Rasse abtut –, dass im Laufe der Geschichte der Menschheit die Führung in der wirtschaftlichen, politischen, kulturellen Entwicklung fortwährend von einem Volke oder Land auf ein anderes übergeht.

Wir sehen jetzt die Ursachen, wodurch die Vorherrschaft von Westeuropa und Amerika – die die Bourgeoisie so gerne einer geistigsittlichen Überlegenheit ihrer Rasse zuschreibt – verschwinden wird und wohin sie voraussichtlich gehen wird. Neue Länder, wo die Massen nicht durch den Qualm einer bürgerlichen Weltanschauung vergiftet sind, wo durch einen Anfang industrieller Entwicklung ihr Geist aus der alten unbeweglichen Ruhe emporgetrieben wurde und ein kommunistisches Gemeinschaftsempfinden erwachte, wo die Rohstoffe vorhanden sind, um die vom Kapitalismus ererbte höchste Technik zu einer Erneuerung der überlieferten Produktionsformen anzuwenden, wo der Druck von oben kräftig genug ist, zum Kampf und zur Ausbildung der Kampftugenden zu zwingen, wo aber keine übermächtige Bourgeoisie diese Erneuerung verhindern kann solche Länder werden die Zentren der neuen kommunistischen Welt sein. Russland, mit Sibirien selbst ein halber Weltteil, steht schon an erster Stelle. Diese Bedingungen sind aber auch mehr oder weniger vorhanden in anderen Ländern des Ostens, in Indien, in China. Wenn hier auch wieder andere Ursachen der Unreife vorhanden sind, so dürfen diese Länder Asiens doch bei einer Betrachtung der kommunistischen Weltrevolution nicht übersehen werden.

Man sieht diese Weltrevolution nicht in ihrer vollen universellen Bedeutung, wenn man sie nur vom westeuropäischen Gesichtspunkt betrachtet. Russland ist nicht nur der östliche Teil Europas, sondern – nicht nur geographisch, sondern auch ökonomisch-politisch – in viel höherem Maße der westliche Teil Asiens. Das alte Russland hatte mit Europa wenig gemeinsam: es war das am weitesten nach Westen liegende jener politisch-wirtschaftlichen Gebilde, die Marx als „Orientalische Despotien“ bezeichnete und zu denen alle großen alten und neuen Riesenreiche Asiens gehörten. In ihnen erhob sich auf der Grundlage des Dorfkommunismus eines überall nahezu gleichartigen Bauerntums eine unbeschränkte Fürsten- und Adelsmacht, die sich außerdem auf einen relativ geringen, aber wichtigen Handelsverkehr mit einfachem Handwerk stützte. In diese, sich durch Jahrtausende – trotz Herrscherwechsel an der Oberfläche – immer wieder in derselben Weise reproduzierende Produktionsweise ist das westeuropäische Kapital von allen Seiten auflösend, umwälzend, unterwerfend, ausbeutend, verelendend eingedrungen; durch Handel, durch direkte Unterwerfung und Ausplünderung, durch Ausbeutung der Naturschätze, durch das Bauen von Eisenbahnen und Fabriken, durch Staatsanleihen an die Fürsten, durch die Ausfuhr von Lebensmitteln und Rohstoffen – was alles unter dem Namen Kolonialpolitik zusammengefasst wird. Während Indien mit seinem ungeheuren Reichtum früh erobert, ausgeraubt und dann proletarisiert und industrialisiert wurde, gerieten die anderen Länder erst später durch die moderne Kolonialpolitik in die Fänge des entwickelten Finanzkapitals. Auch Russland wurde – obgleich es äußerlich seit 1700 als eine der europäischen Großmächte auftrat – zu einer Kolonie des europäischen Kapitals: Durch seine unmittelbare kriegerische Berührung mit Europa ging es früher und rascher den Weg, dem Persien und China später folgten. Vor dem letzten Weltkrieg waren 70% der Eisenindustrie, die Mehrzahl der Eisenbahnen, 90% der Platinproduktion, 75% der Naphthaindustrie in den Händen europäischer Kapitalisten, die außerdem mittels der enormen Staatsschulden des Zarismus die russischen Bauern bis über die Hungergrenze hinaus ausbeuteten. Während die Arbeiterklasse in Russland in gleichartigeren Verhältnissen arbeitete als in Westeuropa, wodurch eine Gemeinschaft revolutionärer, marxistischer Anschauungen entstand, so war dennoch in seiner ganzen ökonomischen Situation Russland das westliche der asiatischen Reiche.

Die russische Revolution ist der Anfang der großen Revolte Asiens gegen das in England konzentrierte westeuropäische Kapital. Man achtet hier in der Regel nur auf ihre Einwirkung auf Westeuropa, wo die russischen Revolutionäre durch ihre hohe theoretische Schulung die Lehrer des zum Kommunismus emporstrebenden Proletariats geworden sind. Aber noch wichtiger ist ihr Wirken nach Osten; und daher beherrschen die asiatischen Fragen die Politik der Sowjetrepublik fast noch mehr als die europäischen Fragen. Von Moskau, wo die Delegationen asiatischer Stämme nacheinander eintreffen, geht der Ruf nach Freiheit und der Selbstbestimmung aller Völker und des Kampfes gegen das europäische Kapital über ganz Asien.10 Von der Turanischen Sowjetrepublik gehen die Fäden nach Indien und den mohammedanischen Ländern, in Südchina suchten die Revolutionäre dem Beispiel der Sowjetverfassung nachzufolgen; die in Vorderasien aufkommende panislamitische Bewegung unter türkischer Führung sucht sich an Russland anzulehnen. Hier liegt der große Inhalt des Weltkampfes zwischen Russland und England als den Exponenten zweier Gesellschaftssysteme; und daher kann dieser Kampf trotz zeitweiliger Pausen nicht mit einem wirklichen Frieden enden, denn der Gärungsprozess in Asien geht weiter. Englische Politiker, die etwas weiter blicken als der kleinbürgerliche Demagoge Lloyd George, sehen sehr gut die Gefahr, die hier die englische Weltherrschaft und damit den ganzen Kapitalismus bedroht; sie sagen mit Recht, dass Russland viel gefährlicher ist, als Deutschland je war. Aber sie können nicht energisch auftreten, da die beginnende Revolutionierung des englischen Proletariats eben keine andere Regierung als die der kleinbürgerlichen Demagogie zulässt. Die Sache Asiens ist die eigentliche Sache der Menschheit. In Russland, China und Indien, in der sibirisch-russischen Ebene und den fruchtbaren Tälern des Ganges und Jangtsekiang wohnen 800 Millionen Menschen, mehr als die Hälfte der ganzen Bevölkerung der Erde, fast dreimal so viel wie im übrigen kapitalistischen Europa. Und überall traten, außerhalb Russlands, auch schon die Keime der Revolte hervor; einerseits kräftig auflodernde Streikbewegungen, wo industrielle Proletarier zusammengepfercht sind, wie in Bombay und Hankau, andererseits nationalistische Bewegungen unter der noch schwachen emporkommenden nationalen Intelligenz. Soviel hier aus den spärlichen Nachrichten der ziemlich schweigsamen englischen Presse zu entnehmen ist, hat der Weltkrieg die nationalen Bewegungen stark angefacht, sie dann aber gewaltsam unterdrückt, während die Industrie sich in so kräftigem Aufschwung befindet, dass das Gold massenhaft aus Amerika nach Ostasien abfließt. Wenn die Welle der Wirtschaftskrise diese Länder erreicht – Japan scheint von ihr schon erfasst zu sein – wäre daher auf neue Kämpfe zu rechnen. Die Frage kann aufgeworfen werden, ob rein nationalistische Bewegungen, die in Asien ein national-kapitalistisches Regiment erstreben, unterstützt werden sollen, da sie sich doch feindlich zu der eigenen proletarischen Freiheitsbewegung verhalten werden. Aber voraussichtlich wird die Entwicklung nicht diesen Weg nehmen. Zwar hat sich bisher die aufkommende Intelligenz nach dem europäischen Nationalismus orientiert und als Ideologen der entstehenden einheimischen Bourgeoisie eine national-bürgerliche Regierung nach westlichem Muster propagiert. Aber mit dem Zerfall Europas verblasst dieses Ideal, und sie wird zweifellos stark unter den geistigen Einfluss des russischen Bolschewismus kommen und darin das Mittel finden, sich mit der proletarischen Streik- und Aufstandsbewegung zu verschmelzen. So werden vielleicht rascher, als jetzt nach dem äußeren Schein zu erwarten wäre, die nationalen Freiheitsbewegungen Asiens auf dem festen materiellen Boden eines Klassenkampfes der Arbeiter und Bauern gegen die barbarische Unterdrückung durch das Weltkapital eine kommunistische Gedankenwelt und ein kommunistisches Programm annehmen.

Dass diese Völker überwiegend agrarisch sind, braucht ebensowenig wie in Russland ein Hindernis zu sein: Kommunistische Gemeinwesen bestehen nicht in einer dichtgedrängten Menge von Fabrikstädten – da hier die kapitalistische Trennung von Industrieländern und Agrarländern aufhört – sondern die Landwirtschaft wird in ihnen einen großen Raum einnehmen müssen. Allerdings wird der vorwiegend agrarische Charakter die Revolution erschweren, da die geistige Disposition dabei geringer ist. Zweifellos wird in diesen Ländern auch eine längere Periode geistiger und politischer Umwälzung nötig sein. Die Schwierigkeiten sind hier anders als in Europa: weniger aktiv als passiv; sie liegen weniger in der Kraft der Widerstände als in der Langsamkeit des Erwachens zur Aktivität, nicht in dem Überwinden des inneren Chaos, sondern in der Bildung einheitlicher Kraft zur Vertreibung des fremden Ausbeuters. Auf die speziellen Unterschiede dieser Schwierigkeiten – die religiöse und nationale Zersplitterung Indiens, den kleinbürgerlichen Charakter Chinas – gehen wir hier nicht ein. Wie sich auch weiter die politischen und wirtschaftlichen Formen entwickeln werden, das Hauptproblem, das zuerst gelöst werden muss, ist die Vernichtung der Herrschaft des europäisch-amerikanischen Kapitals.

Der schwere Kampf zur Vernichtung des Kapitalismus ist die gemeinsame Aufgabe, die die Arbeiter Westeuropas und der USA Hand in Hand mit den Millionenvölkern Asiens zu lösen haben. Wir stehen jetzt erst in seinen ersten Anfängen. Wenn die deutsche Revolution eine entscheidende Wendung nimmt und sich Russland anschließt, wenn in England und Amerika revolutionäre Massenkämpfe ausbrechen, wenn in Indien die Aufstände auflodern, wenn der Kommunismus seine Grenzen zum Rhein und zum Indischen Ozean vorschiebt, dann tritt die Weltrevolution in die nächste gewaltigste Phase. Mit ihren Vasallen des Völkerbundes und ihren japanischen und amerikanischen Bundesgenossen wird die weltbeherrschende englische Bourgeoisie, von innen und außen angegriffen, durch koloniale Aufstände und Befreiungskriege in ihrer Weltmacht bedroht, durch Streik und Bürgerkrieg im Innern gelähmt, alle Kräfte anstrengen müssen und Söldnerheere gegen beide Feinde auf die Beine bringen müssen. Wenn die englische Arbeiterklasse, im Rücken gestärkt durch das übrige europäische Proletariat, ihre Bourgeoisie angreift, kämpft sie in doppelter Weise für den Kommunismus, indem sie dafür in England die Bahn selbst freimacht, und indem sie hilft, Asien zu befreien. Und umgekehrt wird sie auf die Unterstützung der kommunistischen Hauptmacht rechnen können, wenn bewaffnete Mietlinge der Bourgeoisie ihren Kampf im Blut zu ertränken suchen – denn Westeuropa mit den vorgelagerten Inseln ist nur eine aus dem großen russisch-asiatischen Länderkomplex hinausragende Halbinsel. Der gemeinsame Kampf gegen das Kapital wird die proletarischen Massen der ganzen Welt zu einer Einheit machen. Und wenn endlich am Ende des schweren Ringens die europäischen Arbeiter, tief erschöpft, im klaren Morgenlicht der Freiheit stehen, grüssen sie im Osten die befreiten Völker Asiens und reichen sie sich die Hände in Moskau, der Hauptstadt der neuen Menschheit.

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Anhang

Die vorstehenden Ausführungen wurden im April geschrieben und auf den Weg nach Russland abgeschickt, damit sie womöglich als Material zu den taktischen Entscheidungen des Exekutiv-Komitees und des Kongresses dienen könnten. Inzwischen haben sich die Verhältnisse dahin weiter entwickelt, dass das Exekutiv-Komitee in Moskau und die führenden Genossen in Russland sich völlig auf die Seite des Opportunismus gestellt haben und damit dieser Richtung das Übergewicht auf dem zweiten Kongress der Kommunistischen Internationale verschafften.

Zuerst trat diese Politik in Deutschland auf, in dem Bestreben Radeks, den deutschen Kommunisten mit allen geistigen und materiellen Mitteln, worüber er mit der Leitung der KPD verfügte, seine Taktik des Parlamentarismus und der Unterstützung der Zentralverbände aufzuzwingen, wodurch die kommunistische Bewegung gespalten und geschwächt wurde. Seitdem Radek als Sekretär des Exekutiv-Komitees auftrat, ist diese Politik zur Politik des ganzen Exekutiv-Komitees geworden. Die bis dahin vergeblichen Versuche, die deutschen Unabhängigen zum Anschluss an Moskau zu bringen, wurden eindringlich fortgesetzt; die antiparlamentarischen Kommunisten der KAPD dagegen, die, wie wohl keiner bezweifeln wird, ihrer Natur nach zur KI gehören, wurden frostig behandelt: Sie hätten sich, hieß es, in allen wichtigen Fragen der Dritten Internationale gegenübergestellt, und nur unter besonderen Bedingungen könnten sie zugelassen werden. Das Amsterdamer Subbüro, das sie als gleichwertig aufgenommen und behandelt hatte, wurde kaltgestellt. Mit den Delegierten des Zentrums der französischen SP wurde über den Anschluss verhandelt. Den englischen Kommunisten erklärte Lenin, dass sie nicht nur an den Parlamentswahlen teilnehmen sollten, sondern sich auch der zur Zweiten Internationale gehörenden „Labour Party“ – dem politischen Verein zumeist reaktionärer Gewerkschaftsführer – anschließen sollten. In allen diesen Stellungnahmen tritt das Bestreben der führenden russischen Genossen hervor, eine Verbindung mit den großen, noch nicht kommunistischen Arbeiterorganisationen Westeuropas herzustellen. Während die radikalen Kommunisten die Aufklärung und Revolutionierung der Arbeitermassen durch den schärfsten prinzipiellen Kampf gegen alle bürgerlichen, sozialpatriotischen und schwankenden Richtungen und deren Vertreter betreiben, sucht die Leitung der Internationale sie massenhaft zum Anschluss an Moskau zu gewinnen, ohne dass ihre überlieferten Grundanschauungen sich völlig umzuwälzen brauchen. Der Gegensatz, in dem die russischen Bolschewiki, ehemals durch ihre Taten die Lehrer der radikalen Taktik, in solcher Weise zu den radikalen Kommunisten Westeuropas geraten sind, tritt klar hervor in der eben erschienenen Broschüre Lenins „Der Radikalismus als Kinderkrankheit des Kommunismus“. Ihre Bedeutung liegt nicht in ihrem Inhalt, sondern in der Person ihres Verfassers. Denn die Argumente bieten kaum etwas Neues; es sind zumeist dieselben, die auch schon von anderen benutzt wurden; aber das Besondere ist, dass sie jetzt von Lenin gebraucht werden. Es kann sich deshalb auch nicht darum handeln, sie zu bekämpfen – ihre Fehler beruhen zumeist auf der Gleichsetzung der westeuropäischen Verhältnisse, Parteien, Organisationen, Parlamentspraxis u. d. mit den russischen gleichen Namens – und andere Argumente ihnen gegenüberzustellen, sondern die Tatsache, dass sie hier auftreten, als Ausfluss einer bestimmten Politik zu verstehen.

Die Grundlage dieser Politik ist in den Bedürfnissen der Sowjetrepublik unschwer zu erkennen. Durch die reaktionären Aufstände Koltschaks und Denikins sind die Grundlagen der russischen Eisenindustrie zerstört, während die Anstrengungen für den Krieg die kräftige Entfaltung der Produktion lähmten. Für den wirtschaftlichen Aufbau braucht Russland dringend Maschinen, Lokomotiven, Werkzeuge, die nur die intakt gebliebene Industrie der kapitalistischen Länder liefern kann. Daher braucht es den friedlichen Handelsverkehr mit der übrigen Welt, namentlich den Ententeländern, die umgekehrt zur Verhinderung des kapitalistischen Zusammenbruches auf die Rohstoffe und Lebensmittel Russlands angewiesen sind. Die russische Sowjetrepublik muss also – durch die Langsamkeit der revolutionären Entwicklung in Westeuropa gezwungen – einen modus vivendi mit der kapitalistischen Welt suchen, einen Teil ihrer Naturschätze als Kaufpreis hergeben und auf die direkte Förderung der Revolution in anderen Ländern verzichten. Gegen ein solches Übereinkommen, von beiden Seiten als Notwendigkeit anerkannt, ist an sich nichts einzuwenden; aber es wäre nicht sonderbar, wenn aus der Empfindung der Notwendigkeit und der beginnenden Praxis eines Übereinkommens mit der bürgerlichen Welt eine geistige Disposition der Mäßigung in den Anschauungen entstände. Die Dritte Internationale, als Bund der kommunistischen Parteien, die in allen Ländern die proletarische Revolution vorbereitet, steht formell außerhalb der Regierungspolitik der russischen Republik und sollte völlig unabhängig davon ihre eigenen Aufgaben erfüllen. Aber in Wirklichkeit ist diese Trennung nicht vorhanden; so wie die KP das Rückgrat der Sowjetrepublik ist, ist durch die Personen ihrer Mitglieder das Exekutivkomitee mit dem Vorstand der Sowjetrepublik aufs engste verknüpft und bildet so ein Instrument, mittels dessen dieser Vorstand in die westeuropäische Politik eingreift. So wird es verständlich, dass die Taktik der Dritten Internationale – wenn sie von einem Kongress für alle kapitalistischen Länder einheitlich festgelegt und zentral geleitet wird – nicht bloß durch die Bedürfnisse der kommunistischen Propaganda in jenen Ländern, sondern auch durch die politischen Bedürfnisse Sowjetrusslands bestimmt wird. Nun brauchen zwar die feindlichen Weltmächte des Kapitals und der Arbeit, England und Russland, beide den friedlichen Güteraustausch zum Aufbau der Wirtschaft. Aber nicht nur diese direkt-wirtschaftlichen Bedürfnisse bestimmen ihre Politik, sondern auch der tiefere ökonomische Gegensatz von Bourgeoisie und Proletariat, die Frage der Zukunft, die darin hervortritt, dass mächtige kapitalistische Gruppen in ihrer richtigen prinzipiellen Feindschaft jedes Übereinkommen zu verhindern suchen. Die Sowjetregierung weiß, dass sie sich nicht auf die Einsicht Lloyd Georges und das Friedensbedürfnis Englands verlassen kann; diese wurden einerseits durch die unbesiegbare Kraft der Roten Armeen erzwungen, andererseits durch den Druck, den die englischen Arbeiter und Matrosen auf ihre Regierung ausübten. Sie weiß, dass die Drohung des Ententeproletariats eine ihrer wichtigsten Waffen ist, die imperialistischen Regierungen zu lähmen und zum Verhandeln zu nötigen. Daher muss sie diese Waffe möglichst kräftig machen. Was sie dazu braucht, ist nicht eine radikale kommunistische Partei, die eine gründliche Revolution für die Zukunft vorbereitet, sondern eine große organisierte proletarische Macht, die für Russland eintritt und der die eigene Regierung Rechnung tragen muss. Sie braucht sofort größere Massen, mögen sie auch nicht völlig kommunistisch sein. Gewinnt sie diese für sich, so ist deren Anschluss an Moskau ein Zeichen für das Weltkapital, dass Vernichtungskriege gegen Russland nicht mehr möglich, also Frieden und Handelsbeziehungen unvermeidlich sind.

Daher muss in Moskau eine kommunistische Taktik für Westeuropa verfochten werden, die den überlieferten Anschauungen und Methoden der großen ausschlaggebenden organisierten Arbeitermassen nicht scharf widerspricht. In derselben Weise musste versucht werden, möglichst rasch in Deutschland an die Stelle der Ebert-Regierung, die sich als Werkzeug der Entente gegen Russland gebrauchen ließ, eine nach Osten orientierte Regierung zu bekommen; und dazu waren, da die KP selbst zu schwach war, nur die Unabhängigen brauchbar. Eine Revolution in Deutschland würde die Position Sowjetrusslands der Entente gegenüber enorm stärken. Allerdings könnte eine solche Revolution in ihrer weitesten Entwicklung für die Politik des Friedens und des Einvernehmens mit der Entente sehr unbequem werden, da eine radikale proletarische Revolution die Zerreißung des Versailler Vertrages und die Erneuerung des Krieges bedeuten würde – die Hamburger Kommunisten wollten sich auf diesen Krieg schon im voraus aktiv vorbereiten. Dann würde auch Russland in den Krieg gezogen werden, und wenn auch seine äußere Kraft dabei wüchse, so wäre doch der wirtschaftliche Aufbau und die Hebung der Not auf eine weitere Zukunft verschoben. Diese Konsequenzen könnten verhindert werden, wenn die deutsche Revolution sich innerhalb solcher Grenzen halten Messe, dass sie zwar die Macht der verbündeten Arbeiterregierungen dem Ententekapital gegenüber stark vergrößerte, aber es doch nicht unabweisbar zum sofortigen Krieg nötigte. Nicht die radikale Taktik der KAPD, sondern eine Regierung von Unabhängigen, KPD und Gewerkschaften, in der Form einer Räteorganisation nach russischem Muster wäre dazu nötig. Diese Politik hat aber noch weitere Aussichten als bloß die Gewinnung einer günstigeren Position für die augenblicklichen Verhandlungen mit der Entente. Ihr Ziel ist die Weltrevolution; aber es ist klar, dass dem besonderen Charakter dieser Politik auch eine besondere Auffassung der Weltrevolution entsprechen muss. Die Revolution, die jetzt durch die Welt schreitet, die bald Zentraleuropa und dann Westeuropa überziehen wird, wird getrieben von dem wirtschaftlichen Zusammenbruch des Kapitalismus; wenn es dem Kapital nicht gelingt, einen Aufschwung der Produktion herbeizuführen, müssen die Massen zur Revolution greifen, wollen sie nicht tatenlos zugrunde gehen. Aber während sie die Revolution machen müssen, befinden sich die großen Massen noch in der geistigen Abhängigkeit von den alten Anschauungen, den alten Organisationen und Führern, und diese werden zunächst die Macht in die Hände nehmen. Daher muss unterschieden werden zwischen der äußeren Revolution, die die Herrschaft der Bourgeoisie vernichtet und den Kapitalismus unmöglich macht, und der sich in einem längeren Prozess vollziehenden, die Massen innerlich umwälzenden kommunistischen Revolution, in der die sich von allen Fesseln befreiende Arbeiterklasse den Aufbau des Kommunismus fest in die Hand nimmt. Es ist die Aufgabe des Kommunismus, die Kräfte und Tendenzen, die die Revolution auf halbem Wege festhalten wollen, zu erkennen, den Massen den Weg darüber hinaus zu zeigen und durch den schärfsten Kampf für die fernsten Ziele, für die volle Macht, gegen jene Tendenzen, die Kraft im Proletariat zu wecken, die Revolution weiterzutreiben. Das kann er nur, wenn er jetzt schon diesen Kampf gegen die hemmenden Führertendenzen und die Führermacht führt. Der Opportunismus will sich mit ihnen verbinden und teil an der neuen Herrschaft nehmen; indem er glaubt, sie in den Weg des Kommunismus lenken zu können, wird er durch sie kompromittiert. Indem die Dritte Internationale diese Taktik zu der offiziellen kommunistischen Taktik erklärt, prägt sie der Besitzergreifung der Macht durch die überkommenen Organisationen und ihre Führer den Stempel der „Kommunistischen Revolution“ auf, festigt sie die Herrschaft dieser Führer und erschwert die Weiterführung der Revolution.

Vom Standpunkt der Erhaltung Sowjetrusslands ist diese Auffassung vom Ziele der Weltrevolution gewiss unanfechtbar. Wenn in den anderen Ländern Europas ein ähnliches politisches System besteht als in Russland: Herrschaft einer Arbeiterbürokratie, die sich stützt auf ein Rätesystem als Grundlage, dann ist die Macht des Welt-Imperialismus besiegt und gestürzt, wenigstens in Europa. Dann kann in Russland, umgeben von befreundeten Arbeiterrepubliken, ohne Furcht vor reaktionären Angriffskriegen der wirtschaftliche Aufbau zum Kommunismus ungestört vor sich gehen. So wird verständlich, dass, was wir als zeitweilige, ungenügende, mit aller Macht zu bekämpfende Zwischenform betrachten, für Moskau die Verwirklichung der proletarischen Revolution, das Ziel der kommunistischen Politik ist.

Daraus ergeben sich auch die kritischen Bedenken, die vom Standpunkt des Kommunismus gegen diese Politik zu erheben sind. Sie liegen zuerst in ihrer geistigen Rückwirkung auf Russland selbst. Wenn die in Russland herrschende Schicht mit der westeuropäischen Arbeiterbürokratie – die durch ihre Stellung, ihren Gegensatz zu den Massen, ihre Anpassung an die bürgerliche Welt korrumpiert ist – fraternisiert und sich deren Geist aneignet, so kann die Kraft, die Russland auf dem Wege zum Kommunismus weiterführen muss, verloren gehen; stützt sie sich gegen die Arbeiter auf das landbesitzende Bauerntum, so wäre eine Ablenkung der Entwicklung zu bürgerlichagrarischen Formen und damit eine Stagnation der Weltrevolution nicht unmöglich. Sie liegen weiter darin, dass dasselbe politische System, das für Russland als praktische Übergangsform zur Verwirklichung des Kommunismus entstand – und nur durch besondere Verhältnisse zu einer Bürokratie erstarren konnte – in Westeuropa von vornherein eine reaktionäre Hemmung der Revolution bedeutet. Wir hoben schon hervor, dass eine solche „Arbeiterregierung“ die Kräfte zum kommunistischen Aufbau nicht wird auslösen können. Da aber nach dieser Revolution die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Massen (zusammen mit den Bauern) noch eine ungeheure Macht darstellen – anders als in Russland nach der Oktoberrevolution – wird das Versagen des Aufbaues nur zu leicht die Reaktion wieder in den Sattel bringen, während zugleich die proletarischen Massen sich zu neuen Anstrengungen zur Beseitigung dieses Systems erheben müssten.

Es ist aber auch noch fraglich, ob diese Politik einer verflachten Weltrevolution zu ihrem Ziel gelangen kann und nicht vielmehr umgekehrt, wie jede opportunistische Politik, die Bourgeoisie neu stärken würde. Denn es ist nie eine Förderung der Revolution, wenn die radikalste Opposition sich im voraus mit der gemäßigten zwecks Teilung der Herrschaft verbindet, statt sie durch unerbittlichen Kampf vorwärtszutreiben; dabei wird die Gesamtangriffskraft der Massen so sehr geschwächt, dass der Sturz des herrschenden Systems verzögert und erschwert wird.

Die wirklichen Kräfte der Revolution liegen anderswo als in der Taktik der Parteien und der Politik der Regierungen. Trotz aller Verhandlungen kann es keinen wirklichen Frieden zwischen der imperialistischen und der kommunistischen Welt geben: Während Krassin in London verhandelte, zerschmetterten die Roten Armeen die polnische Macht und erreichten die Grenzen Deutschlands und Ungarns. Damit wird der Krieg auf Zentraleuropa übertragen; und die hier bis zur Unerträglichkeit gesteigerten Gegensätze der Klassen, der völlige innere wirtschaftliche Zusammenbruch, die die Revolution unabwendbar machen, die Not der Massen, das Wüten der bewaffneten Reaktion, sie werden den Bürgerkrieg in diesen Ländern hoch auflodern lassen. Wenn aber die Massen hier in Bewegung kommen, wird sich ihre Revolution nicht in die Grenzen bannen lassen, die die opportunistische Politik kluger Führer ihr vorschreibt; sie muss radikaler, tiefer werden als in Russland, weil viel gewaltigere Widerstände zu überwinden sind. Gegen die wilden chaotischen Naturkräfte, die aus der Tiefe dreier zerrütteter Völker hervorbrechen und der Weltrevolution einen neuen Schwung geben werden, fällt den Kongressbeschlüssen in Moskau nur eine untergeordnete Bedeutung zu.


1Diese Publikation wird mit der Veröffentlichung anderer spezifischerer Texte über die deutsche kommunistische Linke und insbesondere über die KAPD und ihre Polemik mit der Dritten Internationale verbunden sein.

2Angesichts dieser Situation wird Pannekoek ein „Postskriptum“ anfügen, das bei späteren Veröffentlichungen dieses Textes hinzugefügt wird und in dem er den Opportunismus der Führung der Bolschewiki offen kritisiert (dieses Postskriptum wird zusammen mit dem zweiten Teil dieses Textes in einer der nächsten Ausgaben von Comunismo veröffentlicht).

3Einige Ausdrucksformen der kommunistischen Linken in Italien kamen zu den gleichen Schlussfolgerungen. So hatte die Fraktion der Abstentionisten des PSI einige Monate zuvor (10.11.1919) in einem Brief an den ZK der KI erklärt: „…Es wird nicht möglich sein, eine rein kommunistische Partei zu gründen, wenn sie nicht auf Wahlen und parlamentarische Arbeit verzichtet“. Trotzdem gaben Bordiga und die Gruppe seiner Anhänger später der KI-Führung nach und akzeptierten die Wahl- und Parlamentsarbeit, was, um das zu paraphrasieren, was sie ein wenig früher geschrieben hatten…. den „Verzicht auf die Gründung einer rein kommunistischen Partei“.

4In der von Bordiga und seinen Gefährten in Italien herausgegebenen Zeitung Il Soviet (die trotz des Zusammenschlusses, den Lenin in „Die Kinderkrankheit“ vornimmt, eine ganz andere Linie als die von Pannekoek vertritt) wird bei der Veröffentlichung dieses Artikels von Pannekoek Folgendes betont: „…. halten wir es für angebracht, daran zu erinnern, dass Pannekoek Ende 1912, also noch vor Lenin, klar formulierte, was später der entscheidende programmatische Punkt des internationalen Kommunismus wurde, nämlich die Zerstörung des parlamentarisch-demokratischen Staates als erste Aufgabe der proletarischen Revolution. Wir erinnern uns auch daran, dass ein kompetenter und unverdächtiger Zeuge, Karl Radek, Pannekoek als ‚den klarsten Geist des westlichen Kommunismus‘ bezeichnete“ (Il Soviet Nr. 22 von 1920).

5In Deutschland wurde neulich der Grund angegeben, die Kommunisten müssen ins Parlament gehen, um die Arbeiter von der Nutzlosigkeit des Parlaments zu überzeugen. Aber man geht doch nicht einen falschen Weg, um anderen zu zeigen, dass er falsch ist, sondern geht lieber sofort den richtigen Weg.

6Wir verweisen zum Beispiel auf die eingehende Kritik des Genossen Koloszvary in der Wiener Wochenzeitschrift Kommunismus.

7Das Fehlen äußerlich sichtbarer imponierender Gewaltmittel der Bourgeoisie in England weckt mitunter die pazifistische Illusion, eine gewaltsame Revolution sei hier nicht nötig und ein friedlicher Aufbau von unten (wie in der Guildbewegung und den Shop Committees) werde alles besorgen. Sicher ist, dass bisher die mächtigste Waffe der englischen Bourgeoisie nicht die Gewalt, sondern der schlaue Betrug war; wenn es aber nötig ist, wird diese weltbeherrschende Klasse noch ungeheure Gewaltmittel aufzubieten wissen.

8Diese Auffassung der allmählichen Umwälzung der Produktionsweise steht im scharfen Gegensatz zu der sozialdemokratischen Auffassung, die den Kapitalismus und die Ausbeutung allmählich, in langsamen Reformen beseitigen wollen. Die unmittelbare Aufhebung alles Kapitalsprofits und aller Ausbeutung durch das siegreiche Proletariat ist die Vorbedingung, damit die Produktionsweise den Weg zum Kommunismus einschlagen kann.

9Ein bekanntes Beispiel für eine solche konvergente Entwicklung findet man in der sozialen Struktur am Ende des Altertums und zu Beginn des Mittelalters, vgl. Engels, Der Ursprung der Familie, Kap. VIII.

10Hier liegt der Grund zu der Haltung, die Lenin in 1916, zur Zeit Zimmerwalds, gegenüber Radek, der den Standpunkt der westeuropäischen Kommunisten vertrat, zum Ausdruck brachte. Diese betonten, dass die Losung des Selbstbestimmungsrechtes aller Völker – die die Sozialpatrioten mit Wilson anstimmten – nur Volksbetrug sei, da unter dem Imperialismus dieses Recht immer nur Schein und Trug sein kann, und dass daher diese Losung von uns bekämpft werden müsse. Lenin sah in diesem Standpunkt die Tendenz westeuropäischer Sozialisten, die nationalen Befreiungskriege der asiatischen Völker abzulehnen, wodurch sie sich dem radikalen Kampf gegen die Kolonialpolitik ihrer Regierungen entziehen könnten.

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Klassenkampf und Nation – Anton Pannekoek, 1912 https://panopticon.blackblogs.org/2023/07/11/klassenkampf-und-nation-anton-pannekoek-1912/ Tue, 11 Jul 2023 10:58:36 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5068 Continue reading ]]>

Vom Antonie Pannekoek Archiv, von uns transkribiert. Es gab viele Gründe diese Schrift Anton Pannekoek zu transkribieren, wenn auch man sich die Frage stellen kann warum ein Text aus dem Jahr 1912 auf irgendeiner Art und Weise noch relevant sein kann.

1912, in Antwort auf die Schrift von Otto Bauer: „Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie“ sagte Pannekoek ganz klar dass die Interessen des Proletariats sich niemals mit denen der herrschenden Klasse, also der Bourgeoisie decken können. Wenn auch diese die Welt aus ihren Fugen heben wird, um dies zu erreichen. Ein Vehikel dafür sind die Nation und der Nationalismus. Wenn sich auch viele mit diesen Fragen auseinandergesetzt haben, scheint die Frage um diese Kategorien immer noch nicht geklärt zu sein, zumindest für viele, die nach Belieben sie hier und da zwar ablehnen, um sie danach doch wieder aufzugreifen.

Beispiele dafür gibt es wie Sand am Meer, siehe nationale Befreiungskämpfe, sogenannte antiimperialistische Kämpfe, et cetera. Ob Katalonien, Kurdistan, der Krieg in der Ukraine, die Mapuches, der Kampf gegen Kolonialismus, Palästina usw. am Ende bezieht man sich auf die unterdrückte Nation und deren Kollektiv, das Volk.

Weltweit beziehen sich Anarchistinnen und Anarchisten positiv, soweit das Narrativ passt, auf die Kategorien/Konzepte der Nation, des Nationalismus und des Volkes. Zum Glück nicht alle, aber wenige sind es trotzdem nicht.

Über die möglichen wieso´s und weshalb´s dazu werden wir uns in einen kommenden Text auseinandersetzen, bis dahin dient dieser Text fabelhaft zur Diskussion, zumindest was diese Fragen angehen, denn wenn auch sich bei Pannekoek schon bei diesem Text kommende Brüche mit der Sozialdemokratie aufzeigen, würden sie erst später kommen, dass heißt er verteidigt Positionen die wir nicht teilen, dies sollte aber niemanden daran hindern diesen Text zu lesen.


Klassenkampf und Nation

von Dr. Anton Pannekoek 1912


Vorwort

Es bedarf vielleicht der Entschuldigung, dass ein Nichtösterreicher es unternimmt, zur Nationalitätenfrage das Wort zu ergreifen. Wäre sie eine rein österreichische Frage, so würde ich auch sicher keiner einmischen, der nicht die praktischen Verhältnisse genau kennt und durch die Praxis genötigt ist, sich damit zu befassen. Sie bekommt aber immer mehr auch für andere Länder Bedeutung. Und durch die Schriften der österreichischen Theoretiker, vor allem durch das wertvolle Werk von Otto Bauer: „Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie“, ist sie aus einer Frage der österreichischen Praxis zu einer der allgemeinen sozialistischen Theorie geworden. Jetzt muss diese Frage, ihre Behandlung und ihr Ergebnis das höchste Interesse jedes Sozialisten werden, der die Theorie als den Leitfaden unserer Praxis betrachtet; jetzt ist auch Beurteilung und Kritik möglich, die von der speziellen österreichischen Praxis absieht. Weil wir hier einige Schlussfolgerungen Bauers bekämpfen müssen, wollen wir schon im Voraus bemerken, dass damit der Wert seines Werkes nicht im Geringsten geschmälert werden soll; seine Bedeutung liegt nicht darin, dass es auf diesem Gebiete endgültige und unanfechtbare Ergebnisse feststellt, sondern dass es erst die Grundlage zu einer vernünftigen Erörterung und Diskussion dieser Fragen schafft.

Eine solche Diskussion erscheint jetzt besonders angebracht. Die separatistische Krise stellt die Nationalitätenfrage wieder auf die Tagesordnung der Partei und zwingt zu einer neuen Orientierung, zu einer Selbstverständigung in diesen Fragen von Grund auf. Da mag eine Erörterung der theoretischen Grundlagen nicht wertlos sein, zu der wir durch diese Schrift den österreichischen Genossen einen Beitrag zu liefern hoffen. Zu ihrer Veröffentlichung war wesentlich die Tatsache mitbestimmend, dass Genosse Strasser in seiner Schrift: „Der Arbeiter und die Nation“, auf ganz anderen Wege, aus der österreichischen Praxis heraus – wenn auch durch die gleiche marxistische Grundanschauung geleitet – zu denselben Schlussfolgerungen gelangte, wie wir. Unsere Arbeiten könnten jetzt in der Begründung dieses gemeinsames Standpunktes einander als Ergänzung dienen.

A.P.

I. Die Nation und ihre Wandlungen

Bürgerliche und sozialistische Anschauung.

Der Sozialismus ist eine neue wissenschaftliche Auffassung der Menschenwelt, die sich im tiefsten Grund von allen bürgerlichen Auffassungen unterscheidet. Die bürgerliche Auffassungsweise betrachtet die verschiedenen Gebilde und Institutionen der Menschenwelt entweder als Produkte der Natur, und lobt oder verurteilt sie, je nachdem sie ihr in Übereinstimmung oder in Widerspruch mit der „ewigen menschlichen Natur“ erscheinen, – oder sie sieht sie als Produkte des Zufalls oder der menschlichen Willkür an, nach Belieben durch zu künstliche Gewaltmaßnahmen umzuändern. Die Sozialdemokratie betrachtet sie dagegen als natürlich entstandene Produkte der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft. Während die Natur praktisch unveränderlich ist – die Entstehung der Tierarten aus einander hat sich erst in ungeheuren Zeiträumen vollzogen , zeigt die menschliche Gesellschaft eine unaufhörliche rasche Entwicklung. Denn ihre Grundlage, die Arbeit zur Gewinnung des Lebensunterhalts, hat durch die stetige Vervollkommnung der Werkzeuge immer neue Formen annehmen müssen; das Wirtschaftsleben wälzte sich um, neue Anschauungen und Ideen, neues Recht, neue politische Institutionen wuchsen daraus empor. Darin liegt also der Gegensatz der bürgerlichen und der sozialistischen Auffassung: dort Unveränderlichkeit von Natur wegen und zugleich Willkür; hier ein ewiges Werden und Wandeln, nach festen Gesetzen, auf der Grundlage der Arbeit, der Wirschaftsweiße.

Das gilt auch für die Nation. Die bürgerliche Auffassung sieht in der Verschiedenheit der Nationen natürliche Unterschiede der Menschen; die Nationen sind Gruppen, die durch Gemeinsamkeit der Rasse, der Abstammung, der Sprache zusammengehören. Zugleich glaubt sie aber auch durch politische Zwangsmaßnahmen hier Nationen unterdrücken, dort ihr Bereich auf Kosten anderen Nationen vergrößern zu können. Die Sozialdemokratie sieht in den Nationen Menschengruppen, die durch gemeinsame Geschichte zu einer Einheit geworden sind. Die geschichtliche Entwicklung hat die Nationen in ihrer Abgrenzung und ihrer Eigenart hervorgebracht; sie bewirkt auch, das Bedeutung und Wesen der Nation überhaupt mit der Zeit und den ökonomischen Verhältnissen wechselt. Nur aus den wirtschaftlichen Verhältnissen ist die Geschichte und die Entwicklung der Nationen und des Nationalprinzips zu verstehen.

Am gründlichsten ist diese Untersuchung vom sozialistischen Standpunkte von Otto Bauer in seinem Werke: „Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie“ ausgeführt worden; seine Darlegungen bilden den notwendigen Ausgangspunkt zu jeder weiteren Behandlung und Diskussion der nationalen Fragen. In diesem Werke wird der sozialistische Standpunk in folgenden Worten niedergelegt: „So ist uns die Nation kein starres Ding mehr, sondern ein Prozess der Werdens, in ihrem Wesen bestimmt durch die Bedingungen, unter denen die Menschen um ihren Lebensunterhalt und um die Erhaltung ihrer Art kämpfen.“ (S. 120) Und etwas weiter: „Die materialistische Geschichtsauffassung kann die Nation als das nie vollendete Produkt eines stetig vorsichgehenden Prozesses begreifen, dessen letzte Triebkraft die Bedingungen des Kampfes des Menschen mit der Natur, die Wandlungen menschlicher Produktivkräfte, die Veränderungen menschlicher Arbeitsverhältnisse sind. Diese Auffassung macht die Nation zu dem historischen in uns.“ (S.122) Der Nationalcharakter ist „erstarrte Geschichte“.

Die Nation als Schicksalsgemeinschaft.

Bauer bezeichnet ganz treffend die Nation als „die Gesamtheit der durch Schicksalsgemeinschaft zu einer Charaktergemeinschaft verknüpften Menschen“. Diese Darstellung ist oft angegriffen worden, aber mit Unrecht, denn sie ist vollkommen richtig. Das Missverständnis liegt immer darin, dass Gleichartigkeit und Gemeinschaft verwechselt werden. Schicksalsgemeinschaft bedeutet nicht Unterwerfung unter gleiches Schicksal, sondern gemeinsames Erleben desselben Schicksals in stetigem Verkehr, in fortwährender Wechselwirkung miteinander. Die Bauern in China, in Indien und in Ägypten, stimmen durch die Gleichheit ihrer Wirtschaftsweise stark überein; sie haben denselben Klassencharakter, aber trotzdem fehlt jede Spur von Gemeinschaft. Dagegen mögen die Kleinbürger, die Großkaufleute, die Arbeiter, die adligen Grundbesitzer, die Bauern Englands infolge ihrer verschiedenen Klassenlage noch so viel Verschiedenheiten im Charakter aufweisen, sie bilden trotzdem eine Gemeinschaft; die gemeinsam erlebte Geschichte, die stetige Wechselwirkung, die sie, sei es auch in Form gegenseitiger Kämpfe, auf einander ausübten, alles vermittelt durch die gemeinsame Sprache, machen sie zusammen zu einer Charaktergemeinschaft, einer Nation. Der geistige Inhalt dieser Gemeinschaft, die gemeinsame Kultur, wird durch die Schriftsprache zugleich von den früheren Geschlechtern auf die Späteren vererbt.

Das soll also nicht besagen, dass innerhalb der Nation Charaktergleichheit herrscht. Im Gegenteil können sehr große Charakterunterschiede, nach Klasse oder nach Wohnort bestehen. Der deutsche Bauer und der deutsche Großkapitalist, der Bayer und der Oldenburger weisen auffallende Verschiedenheiten des Charakters auf; und doch gehören sie alle zur deutschen Nation. Auch soll es nicht besagen, dass es keine anderen Charaktergemeinschaften gibt, als eben die Nationen. Natürlich sind hier nicht zeitweilige Vereinsbildungen zu besonderen Zwecken gemeint, wie zum Beispiel Aktiengesellschaften oder Gewerkschaften. Aber jede Organisation der Menschen, die sich von Geschlecht auf Geschlecht als bleibender Verband vererbt, bildet eine aus Schicksalsgemeinschaft entstehende Charaktergemeinschaft.

Ein anderen Beispiel bieten die Religionsgemeinschaften, Sie sind auch „erstarrte Geschichte“. Sie sind nicht einfach eine Gruppe von Personen desselben Glaubensbekenntnisses, die sich für religiöse Zwecke zusammengefunden haben. Denn man wird in seine Kirche gleichsam hineingeboren und Übertritte von der einen zur anderen sind verhältnismäßig selten. Ursprünglich aber umfasste die religiöse Gemeinschaft alle, die in irgend einer Weise gesellschaftlich zusammen gehörten – als Stammesgenossen, Dorfgenossen oder Klassengenossen – ;die Gemeinschaft der Lebenslage und der Interessen schuf zugleich eine Gemeinschaft der Grundanschauungen, die eine religiöse Form hatten. Sie schuf auch das Band der gegenseitigen Pflichten, der Treue und der Schutzes zwischen Organisation und Mitgliedern. Die Religionsgemeinschaft war der Ausdruck gesellschaftlicher Zusammengehörigkeit – so was es bei den urwüchsigen Stammesgemeinschaften, so gut wie bei der mittelalterlichen Kirche. Die in der Reformationszeit entstehenden Religionsgemeinschaften, die protestantischen Kirchen und Sekten waren Organisationen des Klassenkampfes gegen die herrschende Kirche und gegeneinander, stimmten also einigermaßen mit den heutigen politischen Parteien überein. Damals drückten also die verschiedenen Religionsbekenntnisse etwas Lebendiges aus, wirkliche, tief empfundene Interessen; man konnte für ein anderes gewonnen werden, wie man jetzt von einer Partei zur anderen übertritt. Seitdem sind diese Organisationen zu Glaubensgemeinschaften versteinert, in denen nur die führende Schicht, die Geistlichkeit, über die ganze Kirche in Verkehr miteinander steht. Die Gemeinsamkeit der Interessen ist dahin; innerhalb jeder Kirche haben sich durch die gesellschaftliche Entwicklung zahlreiche neue Klassen und Klassengegensätze gebildet. Die religiöse Organisation ist immer mehr zu einer toten Hülle, das Glaubensbekenntnis zu einer abstrakten, gesellschaftlich inhaltslosen Formel geworden. Andere Organisationen sind als lebendige Interessenverbände an ihre Stelle getreten. So bildet die Religionsgemeinschaft eine Gruppe, deren Schicksalsgemeinschaft weit zurück liegt und heute immer mehr aufgelöst wird. Auch die Religion ist ein Niederschlag des historischen in uns.

Die Nation ist also nicht die einzige aus Schicksalsgemeinschaft entstandene Charaktergemeinschaft, sondern nur eine ihrer Formen, und sie lässt sich gar nicht immer unzweideutig von anderen unterscheiden. Es ist auch eine müßige Frage, welchen Organisationseinheiten der Menschen, vor allem aus alter Zeit, der Name Nation beizulegen ist. Die ursprünglichen kleinen oder großen Stammeseinheiten der Menschen waren solche Schicksals- und Charaktergemeinschaften, innerhalb deren sich Eigenschaften, Sitten, Kultur und Mundart vererbten. Ähnlich die Dorfgemeinden oder die Gaue des mittelalterlichen Bauerntums. Otto Bauer findet im Mittelalter, in der Hohenstaufenzeit, die „deutsche Nation“ vorhanden in der politischen und Kulturgemeinschaft des deutschen Adels. Anderseits hatte auch die mittelalterliche Kirche viele Züge, die sie zu einer Art Nation machten; sie war die Gemeinschaft der europäischen Völker, mit einer gemeinsamen Geschichte und gemeinsamen Anschauungen, sogar mit einer gemeinsamen Sprache, der lateinischen Kirchensprache, die die Wechselwirkung zwischen den Gebildeten, dem herrschenden Intellekt ganz Europas vermittelte und sie zu einer Kulturgemeinschaft verband. Erst in den letzten Teil des Mittelalters tauchen aus ihr die Nationen im modernen Sinne, mit einer Nationalsprache, nationaler Einheit und Kultur, allmählich empor.

Die gemeinsame Sprache ist als lebendiges Bindemittel des Menschen das wichtigste Merkmal der Nation; aber darum sind Nationen noch nicht einfach dasselbe wie die Menschengruppen gleicher Sprache. Engländer und Amerikaner sind trotz der gleichen Sprache zwei Nationen mit getrennter Geschichte, zwei verschiedene Schicksalsgemeinschaften, die einen erheblichen Unterschied im Nationalcharakter aufweisen. So ist es auch zweifelhaft, ob die deutschen Schweizer zu einer gemeinsamen deutschen Nation zu rechnen sind, die alle deutsch redenden Menschen umfasst. Mögen dank der Gleichheit der Schriftsprache noch so viel Kulturelemente herüber- und hinüberfliegen, das Schicksal hat Schweizer und Deutsche schon seit mehreren Jahrhunderten getrennt. Dass die einen freie Bürger einer demokratischen Republik sind, die anderen hintereinander unter der Tyrannei kleiner Potentätchen1, unter Fremdherrschaft und unter dem Druck des neudeutschen Polizeistaats lebten, musste ihnen notwendig, trotzdem sie dieselben Dichter lesen, einen sehr verschiedenen Charakter geben, und von einer Schicksals- und Charaktergemeinschaft kann kaum mehr die Rede sein. Noch offensichtlicher tritt das politische Moment bei den Holländern hervor; der rasche wirtschaftliche Aufschwung der Seeprovinzen, die sich an der Landseite mit einem Wall abhängiger Landprovinzen umgaben, zu einem mächtigen Handelsstaat, zu einer politischen Einheit, machte aus dem Niederdeutschen eine eigene moderne Schriftsprache, aber nur für einen kleinen, aus der Masse der niederdeutsch redenden Menschen abgesonderten Teil; alle übrigen blieben durch die politische Trennung davon ausgeschlossen und haben als Teile Deutschlands durch die gemeinsame politische Geschichte die hochdeutsche Schriftsprache und die hochdeutsche Kultur angenommen. Wenn die Deutschösterreicher, trotz der langen Selbstständigkeit der eigenen Geschichte und trotzdem sie die neusten wichtigsten Schicksale der Reichsdeutschen nicht mitmachen, doch ihr gemeinsames Deutschtum stark betonen, so liegt der Grund dazu wesentlich in der Kampfstellung gegenüber den anderen Nationen Österreichs.

Die bäuerliche und die Moderne Nation

Man bezeichnet oft die Bauern als die unerschütterlichen treuen Bewahrer der Nationalität. Aber zugleich bezeichnet Otto Bauer sie als die Hinterfaffen2 der Nation, die an der nationalen Kultur keinen Anteil haben. Dieser Widerspruch weist schon darauf hin, dass das „Nationale“ im Bauerntum etwas ganz anderes ist, als das, was die modernen Nationen bildet. Die moderne Nationalität ist zwar aus der bäuerlichen hervorgegangen, aber trotzdem sind sie in ihrem Wesen völlig verschieden.

In der früheren Naturalwirtschaft der Bauern ist die wirtschaftliche Einheit auf das kleinste Maß reduziert; über Dorf oder Tal geht das Interesse nicht hinaus. Jeder Bezirk bildet eine Gemeinschaft die mit den anderen kaum in Verkehr steht, eine Gemeinschaft mit eigener Geschichte, eigenen Sitten, eigener Mundart, eigenem Charakter. Diese alle mögen denen der benachbarten Bezirke verwandt sein, aber sie stehen mit ihnen nicht mehr in Wechselwirkung. An dieser besonderen Eigenart seiner Gemeinschaft hält der Bauer zähe fest. Weil seine Wirtschaft nichts mit der Außenwelt zu tun hat, weil sein Säen und Mähen vom Wechsel der politischen Ereignisse nur ausnahmsweise berührt sind, gehen alle Einwirkungen von außen über ihn hinweg, ohne eine Spur zu hinterlassen. Denn er verhält sich dabei völlig teilnahmslos und passiv; sie dringen nicht in sein Inneres ein. Nur das, was der Mensch aktiv ergreift, was ihn selbst zur Änderung treibt und woran er aus eigenem Interesse mit eigener Teilnahme mitarbeitet, vermag seine Natur umzuändern. Daher bewahrt der Bauer seine Eigenart gegen alle Einwirkungen der übrigen Welt, und bleibt er „geschichtslos“, solange seine Selbstwirtschaft für den eigenen Gebrauch intakt bleibt. Sobald er aber in das Getriebe des Kapitalismus hineingezogen und in neue Verhältnisse gebracht wird – sei es, dass er Bürger oder Arbeiter wird, oder dass er als Bauer von dem Weltmarkt abhängig wird und mit der übrigen Welt in Verkehr tritt – , sobald er neue Interessen bekommt, geht auch die Unzerstörbarkeit der alten Eigenart verloren. Er tritt in die moderne Nation ein; er wird Mitglied einer größeren Schicksalsgemeinschaft, einer Nation im modernen Sinne.

Es wird oft über dieses Bauerntum in dem Sinne geredet, als ob auch die früheren Geschlechter schon zu derselben Nation gehört hätten, der ihre Nachkommen unter dem Kapitalismus angehören. In dem Wort von den „geschichtslosen Nationen“ ist die Auffassung enthalten, dass von altersher schon die Tschechen, die Slowenen, die Polen, die Ruthenen, die Russen ebenso viele bestimme verschiedene Nationen bildeten, aber lange als Nationen gleichsam schließen. In Wirklichkeit konnte man zum Beispiel von den Slowenen nur als einer Anzahl Gruppen oder Gaue mit verwandten Mundarten reden, ohne dass diese Gruppen eine wirkliche Einheit oder Gemeinschaft gebildet hätten. Was Richtiges in dem Namen steckt, ist dies, dass die Mundart in der Regel darüber entscheidet, in welche Nation die Nachkommen sich eingliedern werden. Die tatsächliche Entwicklung muss jedoch darüber entscheiden, ob Slowenen und Serben, ob Russen und Ruthenen zu einer Nationsgemeinschaft mit gemeinsamer Schriftsprache und Kultur, oder zu zwei Nationen werden. Nicht die Sprache, sondern der politisch-ökonomische Entwicklungsgang entscheidet. So wenig der niedersächsische Bauer der treue Bewahrer der deutschen Nationalität ist, oder – je nach der Seite der Grenze wo er wohnt – der holländischen (er bewahrt nur seine eigene dörfliche oder provinziale Eigenart), so wenig der Ardennenbauer zähe eine belgische, eine wallonische oder eine französische Nationalität hütet, indem er an Mundart und Sitte seines Tales festhält, so wenig kann man auch von einem karinthischen Bauer aus der vorkapitalistischen Zeit sagen, dass er zu der slowenischen Nation gehört. Die slowenische Nation entsteht erst mit den modernen bürgerlichen Klassen, die sich als besondere Nation konstituieren, und der Bauer tritt in sie erst ein, wenn er durch tatsächliche Interessen mit dieser Gemeinschaft verknüpft wird.

Die modernen Nationen sind völlig das Produkt der bürgerlichen Gesellschaft; sie sind aufgekommen mit der Warenproduktion, namentlich mit dem Kapitalismus, und ihre Träger sind die bürgerlichen Klassen. Die bürgerliche Produktion mit ihrem Warenverkehr braucht große Wirtschaftseinheiten, große Gebiete, deren Bewohner sie zu einer Gemeinschaft mit einheitlicher staatlicher Verwaltung vereinigt. Der entwickelte Kapitalismus stärkt die zentrale Staatsgewalt immer mehr; er schließt den Staat fester zusammen und von den anderen Staaten ab. Der Staat ist die Kampforganisation der Bourgeoisie. Weil die Wirtschaft der Bourgeoisie auf Konkurrenz, auf Kampf gegen ihresgleichen beruht, müssen auch die Verbände, in denen sie sich organisiert, miteinander kämpfen; je mächtiger die Staatsgewalt, umso größere Vorteile verspricht sie ihrer Bourgeoisie zu bringen. Die Abgrenzung dieser Staaten wurde nun vorwiegend durch die Sprache bestimmt; die Gegenden mit verwandten Mundarten waren hier, soweit nicht andere Kräfte eingriffen, auf den politischen Zusammenschluss angewiesen, weil die politische Einheit, die neue Schicksalsgemeinschaft, eine einheitliche Sprache als Verkehrsmittel erfordert. Aus irgend einer der Mundarten wird die Schrift- und Verkehrssprache geschaffen, die also in gewissen Sinne ein künstliches Gebilde ist. Denn, wie Otto Bauer richtig sagt: „mit den Menschen, mit denen ich im engsten Verkehr stehe, mit denen schaffe ich mir eine gemeinsame Sprache.“ (S. 113) So sind die Nationalstaaten entstanden, die Staat und Nation zugleich sind.3 Sie sind nicht einfach politische Einheiten geworden, wie sie schon eine Nationsgemeinschaft bildeten; die Grundlage des festen Zusammenschlusses der Menschen zu solchen großen Gebilden ist das neue wirtschaftliche Interesse, die ökonomische Notwendigkeit; dass aber gerade diese Staaten und keine anderen entstanden, dass nicht zum Beispiel Süddeutschland und Nordfrankreich zusammen eine politische Einheit gebildet haben, sondern Süd- und Norddeutschland, liegt hauptsächlich an der ursprünglichen Verwandtschaft der Mundarten.

Innerhalb eines Nationalstaates besteht infolge der kapitalistischen Entwicklung und der Ausdehnung eine bunte Mannigfaltigkeit von Klassen und Volksarten; daher wird bisweilen bezweifelt, ob man ihn wirklich eine Schicksals- und Charaktergemeinschaft nennen kann, da sie nicht alle direkt aufeinander einwirken. Aber die Schicksalsgemeinschaft der deutschen Bauern und Großkapitalisten, der Bauern und der Oldenburger besteht darin, dass sie alle Mitglieder des Deutschen Reiches sind, dass sie innerhalb dieses Rahmens ihre wirtschaftlichen und politischen Kämpfe führen, dieselbe Politik erleiden, zu denselben Gesetzen Stellung nehmen müssen und dadurch aufeinander einwirken; so bilden sie eine tatsächliche Gemeinschaft, trotz aller Verschiedenheit innerhalb dieser Gemeinschaft.

Anders, wo die Staaten unter dem Absolutismus als dynastische Einheiten entstanden, ohne direkte Mitwirkung der bürgerlichen Klassen, und daher durch Eroberung Stämme der verschiedenen Mundarten umfassten. Dringt dort der Kapitalismus immer weiter ein, so entstehen mehrere Nationen innerhalb des einen Staates, und er wird zum Nationalitätenstaat, wie Österreich. Die Ursache der Entstehung neuer Nationen neben dem alten liegt wieder darin, dass die Konkurrenz die Grundlage der Existenz der bürgerlichen Klassen ist. Wenn aus einer zuvor rein bäuerlichen Volksgruppe moderne Klassen entstehen, wenn größere Massen als Industriearbeiter in die Stadt ziehen, bald von Kleinhändlern, Intelligenz und Unternehmern gefolgt, so müssen diese letzteren von selbst versuchen, sich durch die Betonung ihrer Nationalität die Kundschaft der gleichsprachigen Massen sichern. Die Nation als solidarische Gemeinschaft bildet für ihre Angehörigen einen Kundenkreis, einen Absatzmarkt, ein Ausbeutungsgebiet, wo sie vor den Konkurrenten anderer Nationen einen Vorsprung haben. Als Gemeinschaft moderner Klassen müssen sie eine gemeinsame Schriftsprache ausbilden, die als Verkehrsmittel nötig ist und zur Kultur- und Literatursprache wird.

Die fortwährende Berührung der Klassen einer bürgerlichen Gesellschaft mit der Staatsgewalt, die bisher nur das Deutsche als offizielle Verkehrssprache kannte, zwingt zum Kampfe um die Anerkennung der Sprache, um Schule und Amt, wobei die nationale Intelligenz die direkt materiell interessierte Klasse ist. Weil der Staat das Interesse der Bourgeoisie zu vertreten hat und sie materiell unterstützen kann, muss jede nationale Bourgeoisie sich einen möglichst großen Einfluss auf den Staat sichern. Um diesen Einfluss muss sie mit den Bourgeoisien der anderen Nationen kämpfen; je mehr es ihr gelingt, die ganze Nation in diesem Kampf geschlossen um sich zu scharen, um so mehr Macht kann sie ausüben. Solange die führende Rolle der Bourgeoisie im Wesen der Wirtschaft begründet liegt und als selbstverständlich anerkannt wird, wird sie auch auf die anderen Klassen, die sich in diesem Punkte mit ihr durch Gleichheit der Interessen verbunden fühlen, rechnen können.

Auch hier ist die Nation völlig ein Produkt der kapitalistischen Entwicklung, und zwar ein notwendiges Produkt; wo der Kapitalismus einzieht, muss sie als Schicksalsgemeinschaft der bürgerlichen Klassen entstehen. Der Kampf der Nationalitäten in einem solchen Staate ist nicht eine Folge irgendwelcher Unterdrückung oder rückständiger Gesetzgebung, sondern eine natürliche Äußerung der Konkurrenz als Grundbedingung der bürgerlichen Wirtschaft; der gegenseitige Kampf ist Sinn und Ziel der schroffen Absonderung der verschiedenen Nationen gegeneinander.

Menschengeist und Tradition

Das Nationale im Menschen ist ein Stück seiner Natur, aber vor allem ein Stück geistiger Natur. Die durch Abstammung vererbten körperlichen Eigenschaften mögen die Völker unterscheiden, aber sie trennen sie nicht, sie bringen sie noch weniger zueinander in Gegensatz. Die Völker sind getrennt als verschiedene Kulturgemeinschaften. Die Nation ist vor allem eine Kulturgemeinschaft, die durch die gemeinsame Sprache vermittelt wird; in der Kultur einer Nation, die man ihre geistiger Natur nennen kann, ist ihre ganze Lebensgeschichte niedergeschlagen. Der Nationalcharakter beseht nicht in der körperlichen Merkmalen, sondern in der Gesamtheit ihrer geschichtlichen gewordenen Sitten, Anschauungen und Denkformen. Will man das Wesen der Nation erfassen, so ist es also zuerst nötig, klar zu sehen, wie das Geistige sich im Menschen aus der Einwirkung der Lebensverhältnisse herausbildet.

Alles was den Menschen in Bewegung setzt, muss durch seinen Kopf hindurch. Die unmittelbare bewegende Kraft seines Handelns liegt in seinem Geiste. Sie kann in Gewohnheiten, in unbewussten Trieben und Instinkten bestehen, die ein Niederschlag der immer gleichartigen Wiederholungen der gleichen Lebensnotwendigkeiten unter denselben äußeren Lebensverhältnissen sind. Sie kann den Menschen auch bewusst werden als Gedanke, Idee, Beweggrund, Prinzip. Woher kommen diese?

Die bürgerliche Auffassung sieht darin Einwirkungen einer höheren, übernatürlichen Welt, die sie uns einprägt, Äußerungen eines ewigen sittlichen Prinzips in uns, oder sie lässt sie ursachlos aus sich selbst durch den Geist erzeugen. Dagegen erklärt die marxistische Lehre, der historische Materialismus, dass alles Geistige in dem Menschen ein Produkt der ihn umgebenden materiellen Welt ist. Diese ganze wirkliche Welt dringt von allen Seiten mittels der Sinnesorgane auf den Geist ein und prägt sich in ihn ein: unsere Lebensbedürfnisse, unsere Erfahrung, alles was wir sehen und hören, was andere uns als ihre Gedanken mitteilen, so gut wie das, was wir selbst beobachten4. Also wird jede Einwirkung einer unwirklichen, bloß vorgestellten, übernatürlichen Welt ausgeschaltet. Alles, was im Geiste ist, ist aus der Außenwelt gekommen, die wir hier als die materielle Welt bezeichnen – wobei materiell also nicht bedeutet: aus wägbarer physischer Materie gebildet, sondern alles, was wirklich ist, auch die Gedanken selbst. Aber der Geist wirkt hier nicht, wie eine beschränkte mechanische Auffassung es bisweilen darstellt, als ein passiver Spiegel, der die Außenwelt spiegelt, oder ein totes Fass, das alles aufnimmt und bewahrt, was hineingeworfen wird. Der Geist ist aktiv, tätig, ändert alles, was von außen auf ihn eindringt, zu etwas Neuem um. Um wie er es umändert, hat Dietzgen am meisten klargemacht. Die Außenwelt fließt wie ein endloser, ewig wechselnder Strom am Geist vorbei; der Geist hält ihre Einwirkungen fest, sammelt sie, fügt sie seinem bisherigen Besitze hinzu und verbindet sie miteinander. Er bildet aus dem Strom unendlich mannigfaltiger Erscheinungen beharrende feste Begriffe, in denen die fließende Wirklichkeit wie fest geronnen und erstarrt, und ihre Vergänglichkeit aufgehoben ist. In dem Begriff „Fisch“ liegt eine Vielfalt von Beobachtungen über schwimmende Tiere, in dem Begriff „gut“ eine Unzahl von Stellungnahmen zu verschiedenen Handlungen, in dem Begriff „Kapitalismus“ ein ganzes Leben von oft qualvollsten Erfahrungen. Jeder Gedanke, jede Überzeugung, jede Idee, jeder Schluss – wie z.B.: die Bäume sind im Winter kahl; die Arbeit ist schwer und unangenehm; mein Arbeitgeber ist mein Wohltäter; der Kapitalist ist mein Feind; die Organisation gibt Macht; für seine Nation kämpfen ist gut; – ist die Zusammenfassung eines Stückes der lebendigen Welt, einer vielgestaltigen Erfahrung in eine kurze, Schroffe, man möchte sagen starre und leblose Formel. Je größer und vollkommener die Erfahrung, die als Material in sie aufgenommen ist, umso begründeter und fester, umso wahrer der Gedanke, die Überzeugung. Aber jeder Erfahrung ist beschränkt, die Welt wird immer anders, immer neue Erfahrungen häufen sich zu den alten, gliedern sich den alten Ideen ein, oder treten zu ihnen in Widerspruch. Dann muss der Mensch seine Ideen umbilden, einige als unrichtig aufgeben – wie die des Kapitalisten als Wohltäters , bestimmten Begriffen einen neuen Sinn beilegen – wie dem Begriff Fisch, indem man die Wale davon trennt -, für neue Erscheinungen neue Begriffe aufstellen, – wie den des Imperialismus -, neue ursächliche Zusammenhänge zwischen ihnen finden – die Unerträglichkeit der Arbeit stammt aus dem Kapitalismus -, sie anders bewerten als bisher – der nationale Kampf schädigt die Arbeiter -. kurz, er muss immerfort umlernen. Darin besteht alle geistige Tätigkeit und Entwicklung der Menschen, dass sie die Begriffe, Ideen, Urteile und Prinzipien immerfort umgestalten, um sie der immer reicheren Erfahrung der Wirklichkeit möglichst angepasst zu halten. Bewusst geschieht das in der Entwicklung der Wissenschaft.

Damit tritt auch die Bedeutung der Bezeichnung Bauers, dass die Nation das Historische in uns ist und der Nationalcharakter erstarrte Geschichte, besser hervor. Die gemeinsame materielle Wirklichkeit erzeugt in den Köpfen der Mitglieder einer Gemeinschaft gemeinsames Denken. Die besondere Natur der Wirtschaftseinheit, die sie zusammen bilden, bestimmt ihre Gedanken, Sitten und Anschauungen; sie erzeugt in ihnen ein zusammenhängendes System von Ideen, eine Ideologie, die ihnen gemeinsam ist und zu ihrer materiellen Lebenslage gehört. Die gemeinsamen Erlebnisse haben sich ihrem Geist eingeprägt, gemeinsame Kämpfe für die Freiheit gegen äußere Feinde, gemeinsame Klassenkämpfe im Innern. Sie stehen in den Geschichtsbüchern beschrieben und werden als nationale Erinnerungen der Jugend mitgeteilt. Was das emporkommende Bürgertum gemeinsam ersehnte, erhoffte und wollte, wurde von Dichtern und Denkern verherrlicht und zum klaren Ausdruck gebracht, und als Literatur blieben diese Gedanken der Nation, geistiger Niederschlaf aufbewahrt. Die stetige gegenseitige geistige Einwirkung festigt und verstärkt das alles; indem sie aus dem Denken der einzelnen Nationsgenossen das Gemeinsame, für die Gesamtheit Wesentliche, Charakteristische, d.h. das Nationale absondert, bildet sie den Kulturbesitz der Nation. Was im Geiste einer Nation lebt, ihre nationale Kultur, ist die abstrakte Zusammenfassung ihrer gemeinsamen Lebenserfahrung, ihres materiellen Seins als Wirtschaftseinheit.

Alles Geistige im Menschen ist also ein Produkt der Wirklichkeit; aber nicht bloß der heutigen Wirklichkeit; die ganze Vergangenheit lebt darin mehr oder weniger stark nach. Der Geist ist träge dem Stoff gegenüber; er nimmt immerfort von außen die Einwirkungen auf, während sein alter Bestand langsam in den Lethestrom der Vergessenheit sinkt. Erst allmählich passt sich also der Inhalt des Geistes der immer neuen Wirklichkeit an. Beides, Gegenwart und Vergangenheit, bestimmen seinen Inhalt, aber in verschiedener Weise. Was fortwährend in derselben Weise auf den Geist einwirkt als lebendige Wirklichkeit, prägt sich darin immer fester und stärker aus. Was aber in der heutigen Wirklichkeit seine Nahrung mehr findet, zehrt nur von der Vergangenheit; es kann vor allem durch die gegenseitige Einwirkung der Menschen, durch künstliche Belehrung und Propaganda noch lange erhalten bleiben, aber da es den materiellen Boden verloren hat, aus dem es aufwuchs, muss es immer mehr verkümmern. Es hat dann einen traditionellen Charakter bekommen. Eine Tradition ist auch ein Stück Wirklichkeit, die in den Köpfen der Menschen lebt, auf andere wirkt und daher oft eine große und gewaltige Macht besitzt. Aber sie ist eine Wirklichkeit geistiger Natur, deren materielle Wurzeln in der Vergangenheit liegen. So ist die Religion in einem modernen Proletarier eine Ideologie rein traditioneller Natur geworden; sie mag noch sehr mächtig sein handeln bestimmen, aber diese Macht wurzelt nur in der Vergangenheit, in der früheren Bedeutung der Religionsgemeinschaft für sein Leben; aus seiner heutigen Wirklichkeit, aus seiner Ausbeutung durch das Kapital, aus seinem Kampf gegen das Kapital, zieht sie keine Nahrung mehr. Daher wird sie in ihm immer mehr absterben. Dagegen wird das Klassenbewusstsein immer stärker durch die heutige Wirklichkeit herangezüchtet und nimmt daher in seinem Geiste einen immer breiteren Raum ein, bestimmt sein Handeln immer mehr.

Unsere Aufgabe.

Damit ist auch die Aufgabe für unsere Untersuchung gestellt. Die Geschichte hat die Nationen in ihrer Abgrenzung und ihrer Eigenart erzeugt. Aber damit sind sie noch nicht etwas Fertiges, womit man einfach wie mit einer endgültigen Tatsache zu rechnen hat. Denn die Geschichte läuft weiter. Jeder Tag baut weiter und baut um, was frühere Tage aufbauten. Es genügt also nicht, wenn wir feststellen, dass die Nation das Historische in uns ist, fest geronnene Geschichte. Ist sie nicht mehr als erstarrte Geschichte, so ist sie rein traditioneller Natur, ähnlich wie auch die Religion. Für unserer Praxis, für unsere Taktik ist aber die Frage, ob sie noch mehr ist, von allergrößter Wichtigkeit. Natürlich muss mit ihr, wie mit jeder großen geistigen Macht im Menschen auf jeden Fall gerechnet werden; aber es macht doch einen großen Unterschied, ob die nationale Ideologie bloß als eine Macht der Vergangenheit auftritt, oder mit ihren Wurzeln in der heutigen Welt haftet. Die wichtigste und bestimmende Frage ist für uns diese: Wir wirkt die gegenwärtige Wirklichkeit auf die Nation und das Nationale ein? In welchem Sinne ändern sie sich jetzt um? Und die Wirklichkeit, um die es sich hier handelt, ist der hochentwickelte Kapitalismus mit seinem proletarischen Klassenkampf.

Hier ergibt sich also folgende Stellung zu Bauers Untersuchung: Früher spielte die Nation in der Theorie und der Praxis der Sozialdemokratie keine Rolle. Dazu fehlte auch jeder Anlass; in den meisten Ländern braucht man für den Klassenkampf auf das Nationale gar nicht zu achten. Bauer hat, durch die österreichische Praxis genötigt, diesen Mangel verbessert. Er hat nachgewiesen, dass die Nation nicht die Einbildung einiger Literaten oder ein künstliches Produkt nationaler Propaganda ist; er hat mit dem Werkzeug des Marxismus ihre materiellen Wurzeln in der Geschichte nachgewiesen und aus dem emporkommenden Kapitalismus die Notwendigkeit und die Macht der nationalen Ideen erklärt. So steht die Nation als eine machtvolle Wirklichkeit vor uns, die wir auch in unserem Kampf zu berücksichtigen haben; sie bietet erst den Schlüssel zum Verständnis der modernen Geschichte Österreichs, und daher muss auch die Frage beantwortet werden: Wie wirkt die Nation, das Nationale auf den Klassenkampf ein? Wie muss man ihr im Klassenkampf Rechnung tragen? Dies ist die Grundlage und der Leitfaden der Arbeit Bauers und der anderen österreichischen Marxisten. Aber damit ist die Aufgabe nur zur Hälfte erledigt. Denn die Nation ist nicht einfach eine fertige Erscheinung, deren Wirkung auf den Klassenkampf zu untersuchen ist: Sie ist selbst dem Einfluss der heutigen Kräfte unterworfen, und unter ihnen nimmt der revolutionäre Befreiungskampf des Proletariats immer mehr die erste Stelle ein. Wie wirkt nun der Klassenkampf, der Aufstieg des Proletariats, umgekehrt auf die Nation ein? Diese Frage hat Bauer nicht oder nur ungenügend untersucht; ihre Erörterung führt in vielen Fällen zu Urteilen und Schlussfolgerungen, die von den seinigen abweichen.

II. Die Nation und das Proletariat.

Der Klassengegensatz

Die heutige Wirklichkeit, die Geist und Wesen der Menschen am gewaltigsten bestimmt, ist der Kapitalismus. Er wirkt aber nicht einheitlich auf die zusammenlebende Menschen; für den Kapitalisten ist er etwas ganz anderes, als für den Proletarier. Für den Angehörigen der Bourgeoisklasse ist der Kapitalismus die Welt der Reichtumserzeugung und der Konkurrenz; ein steigender Wohlstand, wachsende Kapitalmassen, von denen er sich in individualistischem Wettkampf mit Seinesgleichen möglichst viel zu gewinnen sucht, und die ihm den Weg zu Luxus und verfeinertem Kulturgenuss öffnen, fließen ihm aus dem Produktionsprozess zu. Für die Arbeiter ist er die Welt der harten, endlosen Sklavenarbeit, der ständigen Lebensunsicherheit, der ewigen Armut, ohne Hoffnung, etwas mehr als einen dürftigen Lebensunterhalt zu gewinnen. Daher muss der Kapitalismus auf den Geist der Bourgeoisie ganz anders einwirken als auf den der ausgebeuteten Klasse. Die Nation ist eine wirtschaftliche Einheit, eine Arbeitsgemeinschaft, auch von Arbeitern und Kapitalisten. Denn Kapital und Arbeit sind beide nötig und müssen zusammenkommen, damit die kapitalistische Produktion stattfinden kann. Aber es ist eine Arbeitsgemeinschaft eigenartiger Natur; Kapital und Arbeit treten in dieser Gemeinschaft als gegensätzliche Pole; auf sie bilden eine Arbeitsgemeinschaft in ähnlichen Sinne, wie Raubtiere und ihre Beutetiere eine Lebensgemeinschaft bilden.

Die Nation ist eine aus Schicksalsgemeinschaft entstandene Charaktergemeinschaft. Aber zwischen Bourgeoisie und Proletariat desselben Volkes herrscht mit der Entwicklung des Kapitalismus in steigendem Maße Schicksalsverschiedenheit. Von dem gemeinsamen Erleben desselben Schicksals kann hier kaum geredet werden. Bauer spricht (S.113) zur Erläuterung der Schicksalsgemeinschaft über „die Beziehungen, die den englischen Arbeiter mit dem englischen Bourgeois dadurch verknüpfen, dass sie beide in derselben Stadt leben, dieselben Plakate an den Mauern, dieselben Zeitungen lesen, an denselben politischen oder Sport-Ereignissen Anteil nehmen, dass sie selbst gelegentlich miteinander oder doch beide mit denselben Personen – den verschiedenen Mittelspersonen zwischen Kapitalisten und Arbeitern – sprechen“. Aber das „Schicksal“ der Menschen besteht nicht in dem Lesen derselben Plakate an den Mauern, sondern in den großen wichtigen Lebenserfahrungen, die für die beiden Klassen völlig verschieden sind. Jedermann kennt den Ausspruch des englischen Ministers Disraeli von den zwei Nationen, die in unserer modernen Gesellschaft in demselben Lande nebeneinander wohnen, ohne einander zu verstehen. Was bedeutet er anders, als dass keine Schicksalsgemeinschaft die beiden Klassen mehr verbindet?

Natürlich ist dieser Ausspruch nicht im modernen Sinne wörtlich zu nehmen. Denn die frühere Schicksalsgemeinschaft wirkt noch in der heutigen Charaktergemeinschaft nach. Solange dem Proletarier seine besondere Lebenserfahrung nicht klar bewusst geworden ist, solange sein Klassenbewusstsein nicht oder kaum erwacht ist, bleibt er im überlieferten Denken befangen, lebt er geistig von den Abfällen der Bourgeoisie und bildet noch eine Art Kulturgemeinschaft mit ihr, allerdings in ähnlicher Weise, wie die Dienstboten in der Küche eine Tischgemeinschaft mir ihrer Herrschaft bilden. Diese geistige Gemeinschaft ist durch die besondere Geschichte in England noch sehr stark, während sie in Deutschland äußerst schwach ist. Überall wo der Kapitalismus in jungen Nationen emporkommt, wird der Geist der Arbeiterklasse durch die Traditionen der früheren kleinbürgerlichen und bäuerlichen Zeit beherrscht. Erst allmählich geht dann, mit dem Erwachen des Klassenbewusstseins und des Klassenkampfes, unter dem neuen gegensätzlichen Lebensinhalt die Charaktergemeinschaft der beiden Klassen immer mehr verloren.

Gewiss besteht noch ein Verkehr zwischen ihnen. Aber er beschränkt sich immer mehr auf das Kommando der Fabriksordnung und des Arbeitsauftrages, wozu – wie die Anwendung fremdsprachiger Arbeiter beweist – eine Gemeinsamkeit der Sprache nicht mehr nötig ist. Je mehr die Arbeiter sich ihrer Lage, ihrer Ausbeutung bewusst werden und wiederholt mit den Unternehmern um Verbesserung der Arbeitsbedingungen kämpfen, umso mehr wird der Verkehr der beiden Klassen von Feindschaft und Kampf erfüllt. Eine Gemeinschaft besteht da ebenso wenig zwischen ihnen, wie zwei Völker in stetigem Grenzkampf zu einer Gemeinschaft zusammenwachsen. Und je mehr die Arbeiter die gesellschaftliche Entwicklung erkennen und der Sozialismus als notwendiges Ziel ihres Kampfes vor ihren Augen aufleuchtet, umso mehr empfinden sie die Herrschaft Kapitalistenklasse als eine Fremdherrschaft – in diesem Worte, hört man, wie die Charaktergemeinschaft völlig erlischt.

Bauer bezeichnet den Nationalcharakter als „die Verschiedenheit der Willensrichtungen, die Tatsache, dass derselbe Reiz verschiedene Bewegungen auslöst, dieselbe äußere Lage verschiedene Entschließung hervorruft“. (S.111) Kann man sich etwas Gegensätzlicheres denken, als die Willensrichtungen von Bourgeoisie und Proletariat? Die Namen Bismarck, Lassalle, 1848, lösen bei den deutschen Arbeitern und der deutschen Bourgeoisie nicht nur verschiedene, sondern sogar entgegengesetzte Empfindungen aus. Die reichsdeutschen Arbeiter, die zu deutschen Nation gehören, bewerten fast alles am Deutschen Reich anders und entgegengesetzt, als die Bourgeoisie. Alle anderen Klassen schwärmen gemeinsam für die äußere Größe und Macht ihres Nationalstaates – das Proletariat bekämpft alle dazu dienenden Maßnahmen. Die bürgerlichen Klassen reden über den Krieg gegen andere Staaten, um die eigene Macht zu vergrößern – das Proletariat denkt daran, wie es den Krieg verhindern oder aus der Niederlage der eigenen Regierung Gelegenheit zur eigenen Befreiung finden kann.

Es ergibt sich also, dass von einer Nation als Einheit nur vor der stärkeren Entfaltung des Klassenkampfes geredet werden kann, da die Arbeiterklasse noch unter dem Banne der Bourgeoisie steht. Der Klassengegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat bewirkt, dass ihre nationale Schicksals- und Charaktergemeinschaft immer mehr verschwindet. Die Kräfte, die die Nation bilden, müssen daher für beide Klassen getrennt untersucht werden.

Der Wille zur Nation.

Es ist vollkommen richtig, wenn Bauer die Verschiedenheit der Willensrichtung als das wesentliche Element des verschiedenen Nationalcharakters anführt. Wo alle Willen gleichgerichtet sind, bleibt man als eine Masse zusammen; wo die Ereignisse und Wirkungen der Außenwelt verschiedene und entgegengesetzte Entschließungen hervorrufen, wo der Willen verschieden gerichtet ist, führt das zur Trennung und Absonderung. Die Willensverschiedenheit hat die Nationen voneinander abgesondert; aber von wessen Willen ist hier die Rede? Von dem Willen der aufsteigenden Bourgeoisie. Ihr Wille zur Nation ist – wie sich aus der früheren Darlegung der Entstehung der modernen Nationen ergibt – die wichtigste Kraft, die die Nation konstituiert hat.

Was bildet eigentlich die tschechische Nation als eine besondere Gemeinschaft im Gegensatz zu der deutschen? Der Vorrat an gemeinsamen Erlebnissen, der Inhalt der Schicksalsgemeinschaft, die praktisch im Nationalcharakter nachwirkt, ist äußerst dürftig. Der Inhalt ihrer Kultur ist fast völlig den älteren modernen Nationen, also vor allem den Deutschen entnommen; daher sagt Bauer auch (S.118): „Es ist gewiss nicht ganz unrichtig, wenn man sagt, die Tschechen seien tschechisch sprechende Deutsche“. Einige bäuerliche Traditionen kommen hinzu, ergänzt durch aus der Geschichte ausgegrabene Reminiszenzen an Hus, Zizfa und die Schlacht am Weißen Berge, die sonst ohne praktischen Einfluss auf die Gegenwart sind. Wie konnte daraus nun auf der Grundlage der besonderen Sprache eine eigene „nationale Kultur“ werden? Weil die Bourgeoisie eine Trennung braucht, weil sie eine scharfe Grenze will, weil sie sich gegenüber den Deutschen als Nation konstituieren will. Sie will es, weil sie muss, weil die kapitalistische Konkurrenz sie dazu zwingt, sich eine Absatz- und Ausbeutungsgebiet möglichst zu monopolisieren. Der Interessengegensatz zu den anderen Kapitalisten schafft die Nation, wo ein notwendiges Element dazu, die besonderen Sprache, vorhanden ist. Das wird vor allem aus der vorzüglichen Darstellung der Entstehung der modernen Nationen von Bauer und Renner klar, dass es der Wille der aufsteigenden bürgerlichen Klassen war, der die Nationen schuf. Natürlich nicht im Sinne von bewussten Willen oder von Willkür, sondern von einem Wollen, das zugleich ein Müssen ist, eine notwendige Wirkung wirtschaftlicher Faktoren. Die „Nationen“ über die im politischen Kampf geredet wird, die miteinander um Einfluss auf den Staat, um Macht im Staate kämpfen (Bauer §19) sind nichts als Organisationen der bürgerlichen Klassen, des Kleinbürgertums, der Bourgeoisie, der Intelligenz – der Klassen, deren Existenz auf Konkurrenz beruht – wobei Proletarier und Bauern die Rolle von Hintersassen spielen.

Mit diesem Konkurrenzbedürfnis der bürgerlichen Klassen, mit ihrem Willen zur Nation, hat das Proletariat nichts gemein. Ein Privilegium an Kunden, Stellen oder Arbeitsgelegenheit kann ihm die Nation nicht bedeuten. Die Kapitalisten haben ihm das durch Einfuhr fremdsprachiger Arbeiter schon von Anfang an klargemacht. Der Hinweis auf diese kapitalistische Praxis ist nicht in erster Linie eine Entlarvung nationaler Heuchelei, sondern soll vor allem den Arbeitern zu Gemüte führen, dass unter der Herrschaft des Kapitalismus die Nation für sie nie ein Arbeitsmonopol bedeuten kann. Und nur ausnahmsweise hört man bei rückständigen Arbeitern – wie bei den alten amerikanischen Gewerkschaftlern – von einem Streben, die Einwanderung beschränken zu wollen. Zeitweilig kann allerdings das Nationale auch für das Proletariat eine eigene Bedeutung haben. Wenn der Kapitalismus zuerst in eine bäuerliche Gegend eindringt, gehören die Fabrikanten der kapitalistische fortgeschritteneren, die aus dem Bauerntum stammenden Arbeiter einer anderen Nation an. Dann kann das Nationalempfinden für die Arbeiter ein erstes Mittel sein, sich ihrer Interessengemeinschaft gegen den fremdsprachigen Kapitalisten bewusst zu werden Der nationale Gegensatz ist da die primitive Form des Klassengegensatzes, ähnlich wie in Rheinland-Westfalen zur Zeit des Kulturkampfes der religiöse Gegensatz zwischen katholischen Arbeitern und liberalen Fabrikanten die primitive Form des Klassengegensatzes war. Sobald aber eine Nation sich so weit entwickelt hat, dass in ihr eine nationale Bourgeoisie entstanden ist, die die Ausbeutung betreibt, verliert dieser proletarische Nationalismus seine Wurzeln. In dem Kampf um bessere Lebensverhältnisse, um geistige Entwicklung, um Kultur, um ein menschenwürdiges Dasein, sind die anderen Klassen seiner Nation die erbitterten Feinde der Arbeiter, seine anderssprachigen Klassengenossen seine Freunde und Helfer. Der Klassenkampf schafft eine internationale Interessengemeinschaft im Proletariat. Von einem in den wirtschaftlichen Interessen, in der materiellen Lebenslage begründeten Willen, sich als Nation gegenüber anderen Nationen zu konstituieren, kann also beim Proletariat keine Rede sein.

Die Kulturgemeinschaft.

Im Klassenkampf findet Bauer jedoch eine andere nationbildende Kraft für das Proletariat. Nicht in dem wirtschaftlichen Inhalt des Klassenkampfes, sondern in seinen kulturellen Wirkungen. Die Politik der modernen Arbeiterklasse bezeichnet er (S.160 bis 161) als die evolutionistisch-nationale Politik, die das gesamte Volk erst zur Nation machen will. Das soll mehr sein, als eine primitiv-populäre Weise, unsere Ziele in der Sprache des Nationalismus auszudrücken, und sie Arbeitern mundgerecht zu machen, die, in der nationalen Ideologie befangen, den Sozialismus noch nicht in seiner großen weltumwälzenden Bedeutung erfassen. Denn Bauer fügt hinzu: „Da das Proletariat notwendig um den Besitz der Kulturgüter kämpft, die seine Arbeit schafft und möglich macht, so ist die Wirkung dieser Politik notwendig die, das gesamte Volk zur Teilnahme an der nationalen Kulturgemeinschaft zu berufen und dadurch die Gesamtheit des Volkes erst zur Nation zu machen.“

Auf den ersten Blick erscheint das ganz richtig. Solange die Arbeiter tief heruntergedrückt durch die kapitalistische Ausbeutung, im physischen Elend verkommen und ohne Hoffnung, ohne geistige Betätigung dahin vegetieren, haben sie an der Kultur der bürgerlichen Klassen – deren Grundlage durch ihre Arbeit geschaffen wird – keinen Anteil. Sie gehören so wenig zur Nation, wie das Vieh im Stalle, sie bilden nur ein Besitztum, sind nur Hintersassen der Nation. Der Klassenkampf weckt sie zum Leben; sie erkämpfen sich freie Zeit und höheren Lohn und damit die Möglichkeit, sich geistig zu entwickeln. Ihre Energie wird geweckt, ihr Geist angestachelt durch den Sozialismus; sie fangen an zu lesen, zuerst sozialistische Broschüren und politische Zeitungen, aber bald drängt sie die Sehnsucht und das Bedürfnis, ihren Geist weiter auszubilden, zu Werken der Literatur, der Geschichte, der Naturwissenschaft zu greifen – die Bildungsausschüsse der Partei beeifern sich sogar besonders, ihnen die klassische Literatur mundgerecht zu machen. So treten sie in die Kulturgemeinschaft der bürgerlichen Klassen ihrer Nation ein. Und wenn der Arbeiter nicht mehr, wie heute, in spärlichen freien Stunden nach abrackernder Arbeit nur mühsam ein paar kleine Brocken davon gewinnen kann, sondern unter dem Sozialismus, befreit von der endlosen Arbeitsqual, sich frei und ungehemmt dieser geistigen Entwicklung hingeben kann, dann wird er erst die ganze Nationalkultur in sich aufnehmen und im echtesten Sinne Mitglied der Nation werden.

Aber bei dieser Betrachtung wird ein Wichtiges übersehen: Eine Kulturgemeinschaft zwischen Arbeitern und Bourgeoisie kann nur oberflächlich, in der äußeren Form und zeitweilig bestehen. Die Arbeiter mögen teilweise dieselben Bücher lesen wie die Bourgeoisie, dieselben Klassiker und dieselben naturgeschichtlichen Bücher; trotzdem entsteht daraus keine Kulturgemeinschaft; die Arbeiter lesen etwas ganz anderes in diesen Werken, als die Bourgeoisie, weil das Fundament ihres Denkens, ihre Weltanschauung grundverschieden ist. Die nationale Kultur hängt, wie oben schon dargelegt wurde, nicht in der Luft; sie ist der Ausdruck der materiellen Lebensgeschichte der Klassen, deren Aufstieg die Nation schuf. In Schiller und Goethe kommen nicht abstrakte Schönheitsphantasien zum Ausdruck, sondern die Empfindungen und Ideale des jungen Bürgertums, sein Sehnen nach Freiheit und Menschenrecht, seine besondere Art und Weise, die Welt und ihre Probleme anzusehen. Der klassenbewusste Arbeiter von heute hat andere Empfindungen, andere Ideale und eine andere Weltanschauung; liest er vom Individualismus Tells oder von den ewigen unveräußerlichen Menschenrechten, die im Himmel hängen, so ist der Geist, der sich darin ausspricht, nicht sein Geist, der durch eine tiefere gesellschaftliche Einsicht gereift ist und weiß, dass nur eine Organisation der Massen sich Menschenrechte erkämpfen kann. Er steht der Schönheit der alten Literatur nicht gefühllos gegenüber; gerade durch seine historische Einsicht kann er die Ideale früherer Geschlechter aus ihrer Wirtschaft verstehen, ihre Kraft mitempfinden und daher die Schönheit der Werke verstehen, worin sie zum vollkommensten Ausdruck gelangten. Denn schön ist, was das Allgemeine, das Wesentliche, den tiefsten Kern einer Wirklichkeit vollkommen erfasst und darstellt. Es kommt hinzu, dass Vieles in den Empfindungen des revolutionären Bürgertums ein starkes Echo in ihm auslöst; aber was bei ihm ein Echo findet, findet es gerade nicht bei der modernen Bourgeoisie. Noch mehr gilt das für die radikale und proletarische Literatur; was in Heine und Freiligrath den Proletarier begeistert, davon will die Bourgeoisie nichts wissen. Die beiden Klassen lesen etwas völlig Verschiedenes in der ihnen gemeinsam zur Verfügung stehenden Literatur; ihre gesellschaftlichen und politischen Ideale sind völlig entgegengesetzt, ihre Weltanschauung hat nichts gemein. Für die Geschichte gilt das in noch viel höherem Masse: was darin der Bourgeoisie die Schönsten, erhabensten Erinnerungen der Nation sind, stößt bei dem klassenbewussten Proletariat auf Hass, Abneigung oder Gleichgültig; hier fehlt jede Spur einer Gemeinsamkeit in dem Kulturbesitz. Naturwissenschaft allerdings findet bei beiden Klassen Bewunderung und Verheerung; ihr Inhalt ist für beide gleich. Aber mit wie anderen Gefühlen als die bürgerlichen Klassen betrachtet sie doch auf der Arbeiter, der sie als die Grundlage seiner völligen Herrschaft über die Natur und über sein Schicksal in der kommenden sozialistischen Gesellschaft erkannt hat! Diese Naturanschauung, diese Geschichtsbetrachtung, diese Literaturempfindung sind für den Arbeiter nicht Bestandteile einer nationalen Kultur, an der er teil hat, sondern sie sind für ihn Bestandteile seiner sozialistischen Kultur.

Der wesentliche Geistesinhalt, die bestimmenden Gedanken, die wirkliche Kultur der deutschen Sozialdemokraten, sie wurzeln nicht in Schiller und Goethe, sondern in Marx und Engels. Und diese Kultur, aus klarer sozialistischer Einsicht in Geschichte und Zukunft der Gesellschaft, aus dem sozialistischen Ideal einer klassenlosen freien Menschheit und aus der proletarischen Gemeinsamkeitsmoral zusammengesetzt, also in allen wesentlichen Zügen der bürgerlichen Kultur entgegengesetzt, ist international. Mag sie bei verschiedenen Völkern eine verschiedene Färbung ausweisen – wie die Anschauungsweise der Proletarier ja auch nach Lebenslage und Wirtschaftsform einen verschiedenen Charakter ausweist – mag sie vor allem bei wenig entwickelten Klassenkämpfe noch stark durch die besondere nationale Vorgeschichte beeinflusst sein, ihr wesentlicher Inhalt ist überall derselbe. Die Form, die Sprache, in der sie ausgedrückt wird, ist verschieden; aber alle anderen Unterschiede lässt die Entwicklung des Klassenkampfes, das Wachstum des Sozialismus immer mehr zurücktreten, auch die nationalen. Dagegen wird die Trennung zwischen der Kultur der Bourgeoisie und der Kultur des Proletariats immer größer.

Es ist also nicht richtig, dass das Proletariat um den Besitz der nationalen Kulturgüter kämpft, die es durch seine Arbeit schafft. Es kämpft nicht um die Kulturgüter der Bourgeoisie, es kämpft um die Herrschaft über die Produktion, um auf dieser Grundlage seine eigene sozialistische Kultur aufzubauen. Was wir die kulturellen Wirkungen des Klassenkampfes nennen, der Aufstieg der Arbeiter zum Selbstbewusstsein, zum Wissen und Wissensdrang, zu höheren geistigen Ansprüchen, hat nichts mit einer nationalen bürgerlichen Kultur zu tun, sondern ist das Wachsen der sozialistischen Kultur. Sie ist ein Produkt des Kampfes, der ein Kampf gegen die ganze bürgerliche Welt ist. So wie im Proletariat jetzt schon die neue Menschheit aufwächst, stolz, siegesbewusst, ohne die Sklavenlaster der Vergangenheit, trotzige Kämpfer, ohne Aberglauben das Weltbewegen verständnisvoll durchschauend, durch festeste Solidarität mit den Genossen zu einer festen Einheit verbunden – so blüht jetzt in diesem Proletariat auch der Geist der neuen Menschheit, die sozialistische Kultur empor, zuerst schwach, getrübt und gemischt mit bürgerlichen Traditionen, aber dann immer klarer, reiner, schöner und reicher.

Natürlich soll das nicht besagen, dass auch die bürgerliche Kultur nicht oft und lange noch mächtig vom Geiste der Arbeiter Besitz ergreift. Zu viele Einflüsse wirken aus jener Welt auf das Proletariat ein, absichtliche und unabsichtliche; nicht nur Schule, Kirche und bürgerliche Presse, sondern die ganze vom bürgerlichen Denken durchgetränkte Schöne und wissenschaftlichen Literatur. Aber immer wieder und in stets fortschreitendem Maße wird die bürgerliche Weltanschauung in den Köpfen der Arbeiter von dem Leben selbst, von der eigenen Erfahrung überwunden. Und dass muss auch sein. Denn in dem Maße, wie sie die Arbeiter ergreift, werden diese dadurch kampfunfähiger; unter ihrem Einfluss werden sie mit Ehrfurcht vor den herrschenden Gewalten erfüllt, zu ideologischem Denken erzogen, in ihrem klaren Klassenbewusstsein getrübt, national gegeneinander verhetzt, zersplittert, also im Kampfe geschwächt und ihres Selbstvertrauens beraubt. Aber unser Ziel erfordert ein stolzes, selbstbewusstes Geschlecht, kühn im Denken wie im Handeln. Daher treiben die Anforderungen des Kampfes selbst jene lähmenden bürgerlichen Kultureinflüsse immer wieder aus den Arbeitern hinaus.

Es ist also unrichtig, dass die Arbeiter durch ihren Kampf in eine „nationale Kulturgemeinschaft“ emporsteigen. Die Politik des Proletariats, die internationale Klassenkampfpolitik, erzeugt in ihm eine neue internationale sozialistische Kultur.

Die Gemeinschaft des Klassenkampfes.

Bauer stellt der Nation als Schicksalsgemeinschaft die Klasse gegenüber, in der die Gleichartigkeit des Schicksals gleichartige Charakterzüge entwickelt hat. Aber die Arbeiterklasse ist nicht einfach eine Menschengruppe gleichen Schicksals und daher gleichen Charakters. Der Klassenkampf schmiedet das Proletariat zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammen. Das gemeinsam erlebte Schicksal ist der gemeinsam geführte Kampf gegen denselben Feind.

Im gewerkschaftlichen Kampfe stehen Arbeiter verschiedener Nationalität demselben Unternehmer gegenüber. Sie müssen als eine geschlossene Einheit den Kampf führen, sie erleben all seine Wechselfälle und Wirkungen in engster Schicksalsgemeinschaft. Aus ihrer verschiedenen Heimat haben sie mit dem urwüchsigen Individualismus des Bauern oder Kleinbürgers ihre nationalen Verschiedenheiten, mit anderen bürgerlichen Traditionen vielleicht auch etwas Nationalbewusstsein mitgebracht. Aber all ihre Verschiedenheit ist Tradition der Vergangenheit gegen die Notwendigkeit, jetzt als eine einzige geschlossen Masse zusammen zu stehen, gegen die lebendige Kampfgemeinschaft von heute. Nur eine Verschiedenheit hat hier eine praktische Bedeutung, die der Sprache; alle Aufklärung, alle Vorschläge und Mitteilungen müssen jedem in seiner eigenen Sprache übermittelt werden. Während der letzten großen Streikbewegungen in Amerika (wie in den Stahlwerken in Mc. Kees Rocks, oder in der Textilindustrie in Lawrence) vereinigten sich die Streikenden, die eine bunte Mischung der verschiedensten Nationalitäten, Franzosen, Italien, Polen, Türken, Syrier usw. bildeten, zu sprachlich getrennten Sektionen, deren Ausschüsse immer zusammen waren, jeder Sektion gleichzeitig die Vorschläge in ihrer Sprache mitteilten und so die Einheit des Ganzen bewahrten – ein Beweis, wie trotz der Schwierigkeit der sprachlichen Verschiedenheit eine enge proletarische Kampfgemeinschaft zu verwirklichen ist. Hier eine Organisationstrennung vornehmen zu wollen zwischen dem, was Leben und Kampf, was das wirkliche Interesse zusammenbindet, wie es der Separatismus will, verstößt so sehr gegen die Wirklichkeit, dass es nur zeitweilig gelingen kann.

Das gilt aber nicht nur für die Arbeiter derselben Fabrik. Um ihren Kampf erfolgreich durchführen zu können, müssen sich die Arbeiter des ganzen Landes in einer Gewerkschaft vereinigen; und alle Mitglieder betrachten da das Vordringen einer örtlichen Gruppe als ihren eigenen Kampf. Noch notwendiger wird das, wenn der gewerkschaftliche Kampf im Laufe der Entwicklung gewaltigere Formen annimmt. Die Unternehmer schließen sich in Kartellen und Unternehmerverbänden zusammen; diese sind nicht für die tschechischen und deutschen Unternehmer verschieden, sondern umfassen alle Unternehmer des ganzen Staates – gehen sogar schon über die Grenzen des Staates hinaus. Alle Arbeiter desselben Berufes, die in demselben Staat wohnen, führen die Streiks und erleiden die Aussperrungen gemeinsam, bilden also eine Gemeinschaft des wichtigsten Lebensschicksals, die über alle nationalen Verschiedenheiten hinweggeht. Und in der letzten Lohnbewegung der Seeleute im Sommer 1911, die einem internationalen Reederverein gegenüberstanden, sehen wir schon eine internationale Schicksalsgemeinschaft als reale Wirklichkeit vor unseren Augen auftauchen.

Dasselbe gilt auch für den politischen Kampf. Das „Kommunistische Manifest“ von Marx und Engels führt darüber aus: „Obgleich nicht dem Inhalt, ist der Form nach der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie zunächst ein nationaler. Das Proletariat eines jeden Landes muss natürlich zuerst mit seiner eigenen Bourgeoisie fertig werden“. Es ist klar, dass in diesem Satz das Wort „national“ nicht im österreichischen Sinne gebraucht wird, sondern den westeuropäischen Verhältnissen entstammt, wo Nation und Staat als gleichbedeutende Worte gelten. Dieser Ausspruch bedeutet einfach, dass der englische Arbeiter nicht gegen die französische, der französische Arbeiter nicht gegen die englische Bourgeoisie den Klassenkampf führen kann, sondern dass die englische Bourgeoisie und die englische Staatsgewalt nur vom englischen Proletariat angegriffen und besiegt werden kann. Für Österreich sind Staat und Nation verschiedene Gebilde. Die Nation ist eine natürliche gewachsene Interessengemeinschaft der bürgerlichen Klassen. Aber die eigentliche feste Organisation der Bourgeoisie zum Schutze ihrer Interessen ist der Staat. Der Staat schützt das Eigentum, sorgt führ die Verwaltung, richtet Armee und Flotte ein, erhebt Steuern und hält die Volksmassen nieder. Die „Nationen“, oder besser noch: die aktiven Organisationen, die in ihrem Namen auftreten, die nationalen bürgerlichen Parteien, dienen nur dazu, sich einen entsprechenden Einfluss auf den Staat, einen Anteil an die Staatsgewalt zu erkämpfen. Für die Großbourgeoisie, deren wirtschaftliches Interessengebiet den ganzen Staat umfasst, und noch darüber hinaus geht, die direkte Begünstigungen, Zölle, Lieferungsaufträge und Schutz im Ausland braucht, ist von vornherein nicht die Nation, sondern der größere Staat die natürliche Interessengemeinschaft. Die scheinbare Unabhängigkeit, die die Staatsgewalt sich durch den Streit der Nationen lange zu wahren wusste, kann doch die Tatsache nicht verdecken, dass sie auch hier ein Instrument im Dienste des Großkapitals ist.

Daher verschiebt sich auch das Schwergewicht des politischen Kampfes der Arbeiterklasse immer mehr zum Staate hin. Solange der Kampf um die politische Macht noch im Hintergrunde steht und die Aufklärung, die Belehrung, der Ideenkampf, die natürlich in jeder Sprache für sich stattfinden müssen, an erster Stelle stehen, sind die politisch kämpfenden Proletarierarmeen noch national getrennt. In diesem ersten Stadium der sozialistischen Bewegung gilt es, die Proletarier aus der Macht der kleinbürgerlichen Ideologie zu befreien, sie von der bürgerlichen Parteien loszureißen und mit Klassenbewusstsein zu erfüllen. Dann sind die bürgerlichen Parteien, die national gesondert sind, die eigentlichen Gegner, die man bekämpft. Der Staat erscheint als die gesetzgebende Macht, von dem man Gesetze zum Schutze des Proletariats verlangt; Einfluss auf den Staat für proletarische Interessen zu gewinnen erscheint den eben erwachenden, noch bescheidenen Proletariern als das nächste Ziel der politischen Aktion. Und das Endziel, der Kampf für den Sozialismus, erscheint als ein Kampf um die Staatsgewalt, gegen die bürgerlichen Parteien.

Wenn aber die sozialistische Partei zu einem wichtigen Faktor im Parlament aufwächst, wird das anders. Im Parlament, wo über alle wesentlichen politischen Fragen entschieden wird, steht das Proletariat Vertretern der bürgerlichen Klassen des ganzen Staates gegenüber. Der wesentliche politische Kampf, dem sich die Aufklärungsarbeit immer mehr angliedert und unterordnet, spielt sich auf dem Boden des Staates ab. Er ist allen Arbeitern dieses Staates, welcher Nation sie sind, gemeinsam. Er erweitert die Kampfgemeinschaft auf das gesamte Proletariat des Staates, für das der gemeinsame Kampf gegen denselben Feind, gegen die Gesamtheit der bürgerlichen Parteien aller Nationen und ihrer Regierung zum gemeinsamen Schicksal wird. Nicht die Nation, sondern der Staat begrenzt für das Proletariat die Schicksalsgemeinschaft des politisch-parlamentarischen Kampfes. Solange für die Ruthenen Österreichs und die Ruthenen Russlands die sozialistische Aufklärung die wichtigste Betätigung ist, bleiben sie eng verbunden. Sobald aber die Entwicklung so weit gediehen ist, dass der wirkliche politische Kampf gegen die Staatsmacht – bürgerliche Mehrheit und Regierung – geführt wird, müssen sie sich trennen, an verschiedenen Orten und nach oft völlig verschiedenen Methoden kämpfen. Der eine tritt in Wien im Reichsrat zusammen mit tirolischen und tschechischen Arbeitern auf, der andere kämpft bald illegal im Stillen, bald auf den Straßen Kiews gegen die Zarenregierung und ihre Kosaken. Ihre Schicksalsgemeinschaft ist gebrochen.

Das tritt umso stärker hervor, je gewaltiger das Proletariat sich erhebt, je mehr sein Kampf die ganze Geschichte erfüllt. Die Staatsgewalt mit all ihren gewaltigen Machtmitteln ist die Hochburg der besitzenden Klasse; das Proletariat kann sich nur befreien, kann den Kapitalismus nur beseitigen, wenn es zuerst diese mächtige Organisation besiegt. Die Eroberung der politischen Herrschaft ist nicht einfach ein Kampf um die Staatsgewalt, sondern ein Kampf gegen die Staatsgewalt. Die soziale Revolution, die den Sozialismus bringen wird, besteht im Wesentlichen in der Überwindung der Staatsgewalt durch die Macht der proletarischen Organisation. Sie muss daher von dem Proletariat des ganzen Staates zusammen gemacht werden. Dieser gemeinsame Befreiungskampf gegen denselben Feind ist das wichtigste Erlebnis, gleichsam die ganze Lebensgeschichte des Proletariats von seinem ersten Erwachen bis zu seinem Sieg. Er macht eine Schicksalsgemeinschaft aus der Arbeiterklasse, nicht derselben Nation, sondern desselben Staates. Nur in Westeuropa, wo Nation und Staat ziemlich zusammenfallen, führt der auf staatliche-nationalem Boden geführte Kampf um die politische Herrschaft zu Schicksalsgemeinschaften im Proletariat, die sich mit den Nationen decken.

Aber auch hier entwickelt sich immer mehr der internationale Charakter des Proletariats. Die Arbeiter verschiedener Länder übernehmen Theorie und Taktik, Kampfmethoden und Anschauungen voneinander und behandeln sie als eine gemeinsame Angelegenheit. Allerdings war das auch der Fall mit der aufsteigenden Bourgeoisie; in ihren allgemeinen wirtschaftlichen und philosophischen Anschauungen haben Engländer, Franzosen und Deutsche durch den Austausch der Ideen einander aufs Tiefste beeinflusst. Aber trotzdem erwuchs daraus keine Gemeinschaft, da ihr wirtschaftlicher Gegensatz sie zu einander feindlichen Nationen organisierte; gerade als die französische Bourgeoisie die bürgerliche Freiheit erkämpfte, die die englische schon besaß, erwuchsen daraus die erbitterten napoleonischen Kriege. Ein solcher Interessengegensatz fehlt bei dem Proletariat vollkommen, und daher kann die gegenseitige geistige Beeinflussung der Arbeiterklasse verschiedener Länder ungehemmt ihre Wirkung zur Bildung einer internationalen Kulturgemeinschaft entfalten. Aber darauf beschränkt sich die Gemeinschaft nicht. Die Kämpfe, die Siege und die Niederlagen in einem Lande über eine starke Rückwirkung auf den Klassenkampf in den anderen Ländern aus. Die Kämpfe, die unsere Klassengenossen im Auslande gegen ihre Bourgeoisie führen, sind nicht nur ideell sondern auch materiell unsere eigene Angelegenheit; sie sind Teile unseres eigenen Kampfes und wir empfinden sie als solche. Das wissen gerade die österreichischen Arbeiter am besten, für die die russische Revolution eine entscheidende Episode ihres eigenen Wahlrechtskampfes war. Das Proletariat aller Länder fühlt sich als eine einzige Armee, ein großer Verband, der sich nur zum praktischen Zwecke – weil die Bourgeoisie staatlich organisiert ist und daher viele Zwingburgen zu nehmen sind – in mehreren Heerhaufen teilen muss, die sich getrennt mit den Feinden schlagen. Unsere Presse übermittelt uns die Kämpfe im Ausland auch in dieser Form: die englischen Hafenstreiks, die belgischen Wahlen, die Budapester Straßendemonstrationen sind alle Angelegenheiten unserer eigenen großen Klassenorganisation. So wird der internationale Klassenkampf zu einem gemeinsamen Erlebnis der Arbeiter aller Länder.

Die Nation im Zukunftsstaat.

In dieser Auffassung des Proletariats spiegeln sich schon die Verhältnisse der kommenden Gesellschaftsordnung, in der die Menschen keine staatlichen Gegensätze mehr kennen werden. Mit der Überwindung der festen Staatsorganisationen der Bourgeoisie durch die Organisationsmacht der proletarischen Massen verschwindet der Staat als Zwangsgewalt und als scharf nach außen sich abgrenzendes Herrschaftsgebiet. Die politischen Organisationen bekommen eine neue Funktion; „aus der Herrschaft über Personen wird eine Verwaltung von Sachen“, wie Engels im Anti-Dühring ausdrückte. Die bewusste Regelung der Produktion erfordert Organisation, ausführende Organe und Verwaltungstätigkeit; aber dafür ist eine Zentralisation, wie sie der heutige Staat möglichst schroff durchführt, nicht nötig und nicht möglich. Eine weitgehende Dezentralisation und Selbstverwaltung tritt an ihre Stelle. Je nach dem Umfange eines Produktionszweiges werden die Organisationen größere oder geringere Gebiete umfassen; während z.B., Brotproduktion wohl lokal stattfinden wird, erfordert die Eisenproduktion und der Eisenbahnverkehr schon Wirtschaftseinheiten von der Größe eines Staates. Produktionseinheiten des verschiedensten Umfanges werden vorkommen, von Werkstatt und Gemeinde bis zum Staat oder gar für einige Betriebszweige bis zur ganzen Menschheit. Werden hier nun nicht die natürlich entstandenen Gruppen der Menschheit, die Nationen, sich an die Stelle der verschwundenen Staaten als Organisationseinheiten durchsetzten? Zweifelslos wird das der Fall sein, aus dem einfachen praktischen Grunde, aber auch nur aus diesem Grunde, dass sie die Gemeinschaften gleicher Sprache sind, und alle Beziehungen zwischen den Menschen durch die Sprache vermittelt werden.

Bauer legt aber den Nationen in der Zukunftsgesellschaft noch eine ganz andere Bedeutung bei: „Die Tatsache, dass der Sozialismus die Nation autonom, ihr Geschick zum Erzeugnis ihres bewussten Willens macht, bewirkt nun aber steigende Differenzierung der Nationen in der sozialistischen Gesellschaft, schärfere Ausprägung ihrer Eigenart, schärfere Scheidung ihrer Charaktere voneinander“ (S.105). Zwar übernehmen sie den Inhalt der Kultur, die Ideen vielfach voneinander, aber diese werden erst in Verbindung mit der nationalen Kultur aufgenommen. „Darum bedeutet die Autonomie im Sozialismus notwendig, trotz der Ausgleichung der materiellen Kulturinhalte, doch steigende Differenzierung der geistigen Kultur der Nationen“ (S.108)…. So „trägt die auf Erziehungsgemeinschaft beruhende Nation in sich die Tendenz der Einheit; alle ihre Kinder unterwirft sie gemeinsamer Erziehung, alle ihre Genossen arbeiten zusammen an der Bildung des Gesamtwillens der Nation, genießen miteinander die Kulturgüter der Nation. So trägt der Sozialismus in sich auch die Gewähr der Einheit der Nation“ (S.109). Jetzt liegt schon im Kapitalismus die Tendenz, die Massen national schärfer voneinander zu sondern und die Nation innerlich einheitlicher zu machen. „Aber erst die sozialistische Gesellschaft wird (dieser Tendenz) zum Siege verhelfen. Sie wird die gesamten Völker durch die Verschiedenheit nationaler Erziehung und Gesittung so scharf gegeneinander abgrenzen, wie heute nur die Gebildeten der verschiedenen Nationen gegeneinander abgegrenzt sind. Wohl wird es auch innerhalb der sozialistischen Nation engere Charaktergemeinschaften geben; aber es wird in ihrer Mitte keine selbstständigen Kulturgemeinschaften geben können, da fehlt jede örtliche Gemeinschaft unter dem Einflusse der Kultur der Gesamtnation, im kulturellen Verkehr, im Austausch der Vorstellungen mit der Gesamtnation stehen wird“ (S.135).

Die Auffassung, die sich in diesen Sätzen ausspricht, ist nichts als eine ideologische Übertragung der österreichischen Gegenwart auf die sozialistische Zukunft. Sie erteilt den Nationen unter dem Sozialismus dieselbe Rolle, die heute den Staaten zufällt, sich nach außen immer schärfer gegeneinander abzusondern, nach innen alle Unterschiede ausmerzen; sie gibt den Nationen unter den vielen Stufen von Wirtschafts- und Verwaltungseinheiten einen besonderen Vorrang, ähnlich wie sie dem Staate in der Vorstellung unserer Gegner zukommt, die über die „Staatsallmacht“ unter dem Sozialismus zetern – sogar wird hier von den „Werktätigen der Nation“ geredet. Während sonst in sozialistischen Schriften immer von Werkstätten und Produktionsmitteln der „Gemeinschaft“ geredet wird, als Gegensatz zum Privatbesitz, ohne dass näher angegeben werden kann, welchen Umfang die Gemeinschaft aufweist, wird hier die Nation als die einzige Gemeinschaft der Menschen betrachtet, autonom nach außen, undifferenziert nach innen.

Eine solche Auffassung ist nur möglich, weil der materielle Boden, aus dem die gegenseitigen Beziehungen und die Ideen der Menschen aufwachsen, völlig außer Acht gelassen und nur auf die geistigen Kräfte als bestimmende Potenzen geachtet wird. Denn die nationalen Unterschiede haben dann die wirtschaftlichen Wurzeln völlig verloren, die ihnen heute eine so gewaltige Kraft geben.

Die sozialistische Produktionsweise entwickelt keine Interessengegensätze zwischen den Nationen, wie die bürgerliche. Die Wirtschaftseinheit ist nicht der Staat oder die Nation, sondern die Welt. Diese Produktionsweise ist mehr als eine durch kluge Verkehrspolitik und internationale Abmachungen vermittelte Verbindung nationaler Produktionseinheiten, wie Bauer sie S.519 darstellt; sie ist eine Organisation der Weltproduktion zu einer Einheit, eine gemeinsame Angelegenheit der ganzen Menschheit. In dieser Weltgemeinschaft, zu der die Internationalität des Proletariats jetzt schon einen Anfang bildet, kann von einer Autonomie z.B. der deutschen Nation so wenig die Rede sein, wie von der Autonomie Bayerns, der Stadt Prag oder der Poldihütte. Alle regeln zum Teil ihre eigenen Angelegenheiten, und alle sind als Teile des Ganzen von dem Ganzen abhängig. Der ganze Begriff der Autonomie entstammt dem kapitalistischen Zeitalter, in dem Herrschaftsverhältnisse auch ihren Gegensatz, Freiheit von bestimmter Herrschaft mit sich bringen.

Dieser materielle Grundlage der Gemeinsamkeit, die organisierte Weltproduktion, macht aus der zukünftigen Menschheit eine einzige Schicksalsgemeinschaft. Für die großen Aufgaben, die ihrer warten, die wissenschaftliche und technische Eroberung der ganzen Erde, ihre Ausstattung zum herrlichen Wohnsitz eines glücklichen, siegesstolzen Geschlechtes von Herrenmenschen, die die Natur und ihre Kräfte als Meister beherrschen – Aufgaben, die wir heute erst eben ahnen können -, sind die Grenzen der Staaten und Völker zu eng und beschränkt. Die Schicksalsgemeinschaft wird die ganze Menschheit auch zu einer Anschauungs- und Kulturgemeinschaft vereinigen. Die Verschiedenheit der Sprachen kann darin kein Hindernis sein, denn jede Gemeinschaft von Menschen, die in tatsächlichem Verkehr miteinander stehen, wird sich eine gemeinsame Sprache schaffen müssen. Ohne hier die Frage einer Weltsprache berühren wollen, verweisen wir nur darauf, dass es heute schon jedem, der über den Volksschulunterricht hinauskommt, eine Leichtes ist, sich einige Fremdsprachen zu eigen zu machen. Die Frage, in welchem Maße die heutigen sprachlichen Abgrenzungen und Verschiedenheiten bleibender Natur sind, kann dabei unerörtert bleiben. Für die ganze Menschheit gilt dann, was Bauer in dem letzten der angeführten Sätze über die Nation sagt: Wohl wird es auch innerhalb der sozialistischen Menschheit engere Charaktergemeinschaften geben, aber es wird in ihrer Mitte keine selbständigen Kulturgemeinschaften geben können, da selbst jede örtliche (und nationale) Gemeinschaft unter dem Einfluss der Kultur der Gesamtmenschheit im kulturellen Verkehr, im Austausch der Vorstellungen mit der Gesamtmenschheit stehen wird.

Die Wandlungen der Nation.

Unsere Untersuchung hat ergeben, dass unter der Herrschaft des entwickelten Kapitalismus mit seinem Klassenkampf keine einzige nationbildende Kraft für das Proletariat zu finden ist. Mit den bürgerlichen Klassen bildet es keine Schicksalsgemeinschaft, weder eine Gemeinschaft der materiellen Interessen, noch eine solche der geistigen Kultur; was davon in den ersten Anfängen des Kapitalismus entsteht, muss der entwickelte Klassenkampf wieder verschwinden machen. Während in den bürgerlichen Klassen mächtige ökonomische Kräfte die nationale Absonderung, einen nationalen Gegensatz und die ganze nationale Ideologie erzeugen, fehlen sie im Proletariat; da erzeugt der Klassenkampf, der wichtigste Inhalt seines Lebens, eine internationale Schicksals- und Charaktergemeinschaft, in der die Nationen nur als Gruppen gleicher Sprache eine praktische Bedeutung haben. Und da das Proletariat die werdende Menschheit ist, bildet diese Gemeinschaft die Morgenröte der wirtschaftlichen und kulturellen Gemeinschaft der ganzen Menschheit unter dem Sozialismus.

Die Frage, die wir anfangs gestellt haben, muss also mit ja beantwortet werden: das Nationale hat für das Proletariat nur die Bedeutung einer Tradition; seine materielle Wurzeln liegen in der Vergangenheit, und in den lebendigen Verhältnissen des Proletariats findet es keine Nahrung. Mit der Nation verhält es sich also für das Proletariat ähnlich wie mit der Religion. Natürlich ist neben dieser Verwandtschaft auch der Unterschied wohl zu beachten. Die materiellen Wurzeln der religiösen Gegensätze liegen weit in der Vergangenheit zurück und sind den heutigen Menschen kaum mehr bekannt; diese Gegensätze selbst sind daher völlig losgelöst von allen materiellen Interessen und erscheinen als rein abstrakte Differenzen über übernatürliche Fragen. Dagegen liegen die materiellen Wurzeln der nationalen Gegensätze unmittelbar hinter uns, in der modernen bürgerlichen Welt, mit der wir fortwährend in Berührung stehen; sie haben daher noch die Frische und Kraft der Jugend, reißen gewaltiger mit, da wir die Interessen, die sie ausdrücken, unmittelbar mitempfinden können; wie sie weniger tief wurzeln, fehlt ihnen dafür aber die nur mühsam anzutastende Härte der durch ein Alter von Jahrhunderten versteinerten Ideologie.

Unsere Untersuchung führt uns also zu einer ganz anderen Auffassung als die Bauersche. Bauer nimmt im Gegensatz zum bürgerlichen Nationalismus eine stetige Wandlung der Nation zu neuen Formen und Charakteren an; so erschien z.B. die deutsche Nation in der Geschichte in immer neuen Gestalten, von den Ur-Germanen anfangend bis zu dem künftigen Glieder der sozialistischen Gesellschaft. Aber unter diesen wechselnden Formen bleibt die Nation selbst; auch wenn bestimmte Nationen untergehen oder entstehen mögen, bleibt die Nation überhaupt doch immer das Grundgebilde der Menschheit. Nach unserem Ergebnis dagegen ist die Nation nur ein zeitweiliges und vergängliches Gebilde in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit, eine unter den vielen Organisationsformen, die einander ablösen oder nebeneinander auftreten: Stämmen, Völkern, Weltreichen, Kirchen, Dorfgemeinden, Staaten. Unter ihnen ist die Nation in ihrer Eigenart wesentliche ein Produkt der bürgerlichen Gesellschaft, und mit der bürgerlichen Gesellschaft wird sie verschwinden. In allen früheren und späteren Gemeinschaften immer die Nation wiederfinden zu wollen, ist genau so künstlich, als wenn man, wie bürgerliche Ökonomen es machen, alle vergangenen und künftigen Wirtschaftsformen als verschiedene Formen des Kapitalismus auffasst und die Weltentwicklung als eine Entwicklung des Kapitalismus betrachtet, vom „Kapital“ des Wilden, seinem Bogen, an, bis zum „Kapital“ der sozialistischen Gesellschaft.

Hier tritt nun der Mangel des von uns anfangs zitierten Grundgedankens in Bauers Werk hervor. Wenn er sagt, dass die Nation kein starres Ding ist, sondern ein Prozess des Werdens, so ist dabei schon vorausgesetzt, dass die Nation selbst bleiben und ewig ist. Für Bauer ist die Nation „das nie vollende Produkte eines steigt vor sich gehenden Prozesses“, für uns ist sie eine Episode in dem endlos fortschreitenden Prozess der menschlichen Entwicklung. Für Bauer ist die Nation das bleibende Grundelement der Menschheit; seine Theorie ist eine Betrachtung der ganzen menschlichen Geschichte unter dem Gesichtswinkel des Nationalen. Wirtschaftsformen wandeln sich um, Klassen entstehen und gehen zu Grunde, aber das sind alles Umwandlungen der Nation, innerhalb der Nation. Die Nation bleibt das Primäre, dem die Klassen und ihre Wandlungen nur einen wechselnden Inhalt geben. Daher drückt er auch die Ideen und Ziele des Sozialismus in der Sprache des Nationalismus aus, und spricht von Nation, wo andere von Volk und Menschheit redeten: die „Nation“ hat durch das Sondereigentum an Arbeitsmitteln ihr Schicksal aus der Hand gegeben; die „Nation“ hat nicht bewusst darüber beschlossen; die Kapitalisten bestimmen das Schicksal der „Nation“; die „Nation“ der Zukunft wird sich ihr Schicksal selbst zimmern; oben führten wir schon die Werkstätten der Nation an. So kommt er auch dazu, die beiden entgegengesetzten Richtungen der Politik, die sozialistische, vorwärts gerichtete, und die kapitalistische, die die heutige Wirtschaftsordnung erhalten will, mit den Namen evolutionistisch-nationale und konservativ-nationale Politik zu bezeichnen. Man könnte in ähnlicher Weise nach dem oben angeführten Vergleich den Sozialismus als evolutionistisch-kapitalistische Politik bezeichnen.

Bauers Behandlung der Nationalitätenfrage ist eine spezifisch österreichische Theorie; sie bildet eine Lehre der Entwicklung der Menschheit, die nur in Österreich entstehen konnte, wo die nationalen Fragen das ganze öffentliche Leben beherrschen. Es ist gewiss kein Makel, wenn man feststellt, dass ein Forscher, der mit so vielem Erfolg die Methode der marxistischen Geschichtsauffassung handhabt, selbst zum Dokument dieser Lehre wird, indem er dem Einfluss seines Milieus unterliegt – denn nur durch diesen Einfluss war er befähigt, unsere wissenschaftliche Einsicht so bedeutend zu fördern. Wir sind eben keine logischen Denkmaschinen, sondern lebendige kämpfende Menschen innerhalb einer Welt, wo wir mittels Erfahrung und Nachdenken die Probleme bewältigen müssen, die die Praxis des Kampfes uns vorlegt.

Aber es kommt uns vor, dass in der Verschiedenheit der Resultate auch noch eine Verschiedenheit der philosophischen Grundanschauung mitspielt. Worauf kam unsere Kritik der Auffassungen Bauers immer hinaus? Auf eine verschiedene Bewertung der geistigen und materiellen Kräfte. Während er auf die unzerstörbare Macht des Geistigen, der Ideologie als selbständiger Kraft baute, betonen wir immer ihre Abhängigkeit von den wirtschaftlichen Verhältnissen. Es liegt nahe, mit dieser Abweichung vom marxistischen Materialismus die Tatsache in Zusammenhang zu bringen, dass Bauer wiederholte als Verfechter der Philosophie Kants auftrat und zu den Kantianern gezählt wird. So bewährt sich in seinem Wert die Vorzüglichkeit und Unentbehrlichkeit des Marxismus als wissenschaftliche Methode in doppelter Hinsicht. Nur mit ihrer Hilfe konnte er zu den vielen vorzüglichen Ergebnissen gelangen, womit er unsere Einsicht bereichert; wo sich verbesserungsbedürftige Mängel ergeben, ist es gerade dort, wo seine Methode sich von der materialistischen Grundanschauung des Marxismus entfernt.

III. Die sozialistische Taktik.

Die nationalen Forderungen.

Die sozialistische Taktik beruht auf der Wissenschaft von der gesellschaftlichen Entwicklung. Die Art und Weise, wie eine Arbeiterklasse ihre Interessen wahrnimmt, wird bestimmt durch ihre Auffassung der zukünftigen Entwicklung der Verhältnisse. Nicht alle Wünsche und Ziele, die in dem unterdrückten Proletariat aufkommen, nicht alle Ideen, die seinen Geist beherrschen, dürfen seine Taktik beeinflussen; stehen sie zu der tatsächlichen Entwicklung in Widerspruch, so sind sie nicht zu verwirklichen, alle darauf verwendete Kraft und Mühe ist nutzlos vergeudet oder gereicht sogar zum Schaden. So war es mit allen Versuchen und Bestrebungen, den Siegeszug der Großindustrie zu hemmen und die alten Zunftordnungen wieder herzustellen. Das kämpfende Proletariat hat das alles von sich gewiesen; durch seine Einsicht in die Unvermeidlichkeit der kapitalistischen Entwicklung geleitet, hat es sein sozialistisches Ziel aufgestellt. Was tatsächlich werden wird und werden muss, bildet die Richtlinie für unsere Taktik. Daher war es von erster Wichtigkeit, festzustellen, nicht welche Rolle das Nationale jetzt in irgend einem Proletariat spielt, sondern welche Rolle es auf die Dauer, unter dem Einfluss des steigenden Klassenkampfes, im Proletariat spielen wird. Unsere Anschauungen über die künftige Bedeutung des Nationalen für die Arbeiterklasse müssen unsere Anschauungen über die Taktik in nationalen Fragen bestimmen.

Bauers Anschauungen über die Zukunft der Nation bilden die theoretische Grundlage zur Taktik des nationalen Opportunismus. Die opportunistische Taktik ergibt sich von selbst aus dem Grundgedanken seines Werkes: die Nationalität als machtvolles, bleibendes Resultat der ganzen geschichtlichen Entwicklung zu begreifen. Wenn die Nation nur nur heute, sondern mit dem Aufschwung der Arbeiterbewegung immer mehr, und vollends unter dem Sozialismus das natürliche Einheits- und Trennungsprinzip der Menschheit ist, dann ist es vergeblich, die Macht des nationalen Gedankens im Proletariat bekämpfen zu wollen; dann muss vielmehr auch der Sozialismus im Lichte des Nationalismus gesehen und sein Ziel in der Sprache des Nationalismus ausgedrückt werden. Dann müssen wir die nationalen Forderungen voran stellen und die gut nationalen Arbeiter damit zu gewinnen suchen, dass der Sozialismus der beste und wirklichste Nationalismus ist.

Ganz anders muss die Taktik sein, wenn man zu der Einsicht kommt, dass das Nationale nur eine bürgerliche Ideologie ist, die im Proletariat keine materiellen Wurzeln findet, und daher mit der Entwicklung des Klassenkampfes immer mehr verschwindet. Dann ist das Nationale im Proletariat nicht nur eine vorübergehende Erscheinung, dann ist es wie jede bürgerliche Ideologie ein Hemmnis des Klassenkampfes, dessen schädliche Macht möglichst beseitigt werden muss; und ihre Überwindung liegt auch in der tatsächlichen Entwicklungslinie. Die nationalen Losungen und Ziele lenken die Arbeiter von ihren eigenen proletarischen Zielen ab. Sie trennen die Arbeiter verschiedener Nation von einander, stellen sie einander feindlich gegenüber und brechen damit die notwendige Einheit des Proletariats. Sie stellen Arbeiter und Bürgertum in einer Kampffront nebeneinander, verdunkeln damit ihr Klassenbewusstsein und machen das Proletariat zu Handlangern bürgerlicher Politik. Die nationalen Kämpfe verhindern, dass die sozialen Fragen und die proletarischen Interessen in der Politik zur Geltung kommen und schlagen diese wichtigste Kampfmethode des Proletariats mit Unfruchtbarkeit. Das alles wird gefördert, wenn die sozialistische Propaganda den Arbeitern die nationalen Losungen als etwas Wertvolles neben ihrem eigenen Kampfziel hinstellt und die Sprache des Nationalismus in der Darstellung unserer sozialistischen Ziele übernimmt. Gerade umgekehrt ist es nötig, dass Klassenempfinden und Klassenkampf sich tief in den Köpfen der Arbeiter festsetzen; dann wird ihnen die Unwirklichkeit und die Wertlosigkeit der nationalen Losungen für ihre Klasse allmählich klar bewusst werden.

Solche staatliche-nationale Ziele, wie z.B. die Wiederherstellung eines unabhängigen polnischen Nationalstaats haben deshalb in der sozialistischen Propaganda nichts zu suchen. Nicht aus dem Grunde, weil ein eigener Nationalstaat für das Proletariat völlig bedeutungslos wäre. Denn es ist für die Ausbildung eines klaren Klassenbewusstseins von Übel, wenn durch die russische Fremdherrschaft, die die polnischen Kapitalisten schützt, der Hass gegen die Ausbeutung und Unterdrückung leicht die Form eines nationalen Hasses gegen die fremden Bedrücker annimmt. Sondern aus dem Grunde, dass die Wiederherstellung Polens als eines unabhängigen Staates im Zeitalter des Kapitalismus utopisch ist. Dasselbe gilt auch für Bauers Lösung der polnischen Frage: die nationale Autonomie der Polen im Rahmen des russischen Reiches. Mag dieses Ziel für das polnische Proletariat noch so erwünscht oder notwendig sein, solange der Kapitalismus herrscht, wird die reale Entwicklung nicht bestimmt durch das, was das Proletariat für sich nötig glaubt, sondern durch das, was die herrschende Klasse will. Ist das Proletariat aber mächtig genug, seinen Willen durchzusetzen, dann ist der Wert einer solchen Autonomie unendlich klein im Vergleich zu dem Werte seiner zum Sozialismus führenden Klassenforderungen. Der Kampf des polnischen Proletariats gegen die tatsächliche politische Gewalt, unter deren Druck es leidet – je nachdem die russische, die preußische oder die österreichische Regierung – ist als nationaler Kampf mit Unfruchtbarkeit geschlagen; nur als Klassenkampf führt er zum Ziele. Das einzig erreichbare und daher notwendige Ziel ist, zusammen mit den anderen Arbeitern dieser Staaten die kapitalistische Staatsgewalt zu besiegen und den Sozialismus zu erkämpfen. Unter dem Sozialismus hat aber das Ziel der Selbstständigkeit Polens keinen Sinn mehr, da dann der Freiheit aller polnisch redenden Menschen, sich zu einer Verwaltungseinheit zusammenzuschließen, nichts im Wege steht.

In der Stellung zu den beiden polnischen sozialistischen Parteien5 tritt also der Unterschied der Beurteilung klar hervor. Bauer legt den Nachdruck darauf, dass sie beide ihre Berechtigung haben, da jede eine Seite im Wesen des polnischen Arbeiters verkörpert, die P. P. S. das nationale Empfinden, die S. D. Polens und Litauens den internationalen Klassenkampf. Das ist richtig; aber es ist unvollständig. Mit der allzu objektiven Geschichtsmethode, die nachweist, wie jede Erscheinung oder Richtung begreiflich ist und aus natürlichen Ursachen entspringt, sind wir nicht fertig. Wir müssen hinzufügen, dass die eine Seite dieses Wesens durch die Entwicklung an Kraft wächst, die andere abnimmt. Das Prinzip der einen Partei wurzelt in der Zukunft, das der anderen in der Vergangenheit; das eine ist die große Kraft des Fortschritts, das andere ist eine hemmende Tradition. Daher sind die beiden Parteien uns nicht gleich; als Marxisten, die in der Wissenschaft der realen Entwicklung, als revolutionäre Sozialdemokraten, die im Klassenkampf ihr Prinzip finden, müssen wir der einen Partei recht geben und ihren Standpunkt unterstützen gegen die andere.

Wir redeten oben von der Wertlosigkeit der nationalen Losungen für das Proletariat. Gibt es aber unter den nationalen Forderungen nicht viele, die auch für die Arbeiter von höchster Wichtigkeit sind und wofür sie also mit der Bourgeoisie zusammen kämpfen sollen? Sind zum Beispiel nationale Schulen, wo die Proletarierkinder in der eigenen Sprache lernen können, nicht etwas Wertvolles? Sie sind für uns keine nationalen, sondern proletarische Forderungen. Die nationalen Forderungen der Tschechen sind gegen die Deutschen gerichtet und werden von den Deutschen bekämpft. Wenn aber tschechische Schulen, tschechische Gerichtssprache usw. im Interesse der tschechischen Arbeiter liegen, weil sie ihre Bildungsgelegenheit und ihre Unabhängigkeit gegenüber Unternehmern und Behörden vergrößern, dann sind sie zugleich ein Interesse der deutschen Arbeiter – denn diese haben alles Interesse daran, dass ihre tschechischen Klassengenossen möglichst stark im Klassenkampfe werden. Schulen für tschechische Minoritäten werden daher nicht nur von den tschechischen, sondern zugleich von den deutschen Sozialdemokraten gefordert, und es kann den Vertretern des Proletariats dabei völlig gleichgültig sein, ob damit die Macht der deutschen oder der tschechischen „Nation“, d. h. die Macht des deutschen oder des tschechischen Bürgertums im Staate gestärkt oder geschwächt wird. Das proletarische Interesse ist immer maßgebend. Wenn die Bourgeoisie aus nationalen Gründen eine gleichlautende Forderung ausstellt, meint sie damit in der praktischen Verwirklichung meist etwas ganz anderes, da sie eben andere Ziele hat. Die Arbeiter werden in den tschechischen Minoritätsschulen zugleich die Kenntnis der deutschen Sprache fördern, da das den Kindern im Lebenskampf hilft; die tschechische Bourgeoisie wird das Deutsche möglichst von ihnen fernhalten. Die Arbeiter fordern die weitherzigste Vielheit der Sprachen im Amt, die Nationalen wollen die fremde Sprache beseitigen. Nur dem Scheine nach stimmen also die sprachlichen und kulturellen Forderungen der Arbeiter mit den nationalen Forderungen überein; sie sind proletarische Forderungen, die vom gesamten Proletariat aller Nationen gemeinsam erhoben werden.

Ideologie und Klassenkampf

Die marxistische Taktik der Sozialdemokratie beruht auf der Erkenntnis der wirklichen Klasseninteressen der Arbeiter. Sie lässt sich nicht durch Ideologien betören, wenn diese auch noch so fest in den Köpfen der Menschen zu haften scheinen. Sie weiß durch ihre marxistische Anschauungsweise, dass Ideen und Ideologien, die scheinbar keinen materiellen Boden haben, doch nichts Übernatürliches sind, mit einer vom Körperlichen völlig losgelösten geistigen Existenz, sondern der festgeronnene überlieferte Ausdruck früherer Klasseninteressen. Daher sind wir sicher, dass gegen die Allgewalt der heutigen realen Klasseninteressen und Notwendigkeiten, wenn sie einmal erkannt sind, auf die Dauer keine noch so mächtige in der Vergangenheit wurzelnde Ideologie standhält. Diese Grundanschauung bestimmt auch die Art und Weise, wie wir ihre Macht bekämpfen.

Wer die Ideen als selbständige Mächte in den Menschenköpfen betrachtet, die dort von selbst oder durch fremde geistige Einwirkung entstehen, hat zwei Möglichkeiten, die Menschen für seine neuen Ziele zu gewinnen. Entweder er muss die alten Ideologien direkt bekämpfen, ihre Unrichtigkeit durch abstrakt theoretische Erörterungen beweisen und ihnen so ihre Macht über die Menschen zu nehmen suchen. Oder er kann auch versuchen, die Ideologie in seinen Dienst zu stellen, indem er sein neues Ziel als die Konsequenz und die Verwirklichung der alten Ideen darstellt. Nehmen wir als Beispiel die Religion.

Die Religion ist die mächtigste Ideologie der Vergangenheit, die das Proletariat beherrscht und es vom einheitlichen Klassenkampf zurückzuhalten sucht. Unklare Sozialdemokraten, die dieses gewaltige Hemmnis gegen den Sozialismus vor sich sahen, konnten entweder versuchen, die Religion direkt zu bekämpfen und die Unrichtigkeit der religiösen Lehren zu beweisen – ähnlich wie es die bürgerliche Aufklärung früher machte –, um dadurch ihren Einfluss zu brechen. Oder sie konnten umgekehrt den Sozialismus für das bessere Christentum, für die wahre Erfüllung der religiösen Lehren ausgeben und so die gläubigen Christen für den Sozialismus gewinnen. Wo sie aber versucht wurden, haben beide Methoden einen Fehlschlag gebracht; die theoretischen Angriffe auf die Religion konnten ihr nichts anhaben und stärkten das Vorurteil gegen den Sozialismus; und mit dem Umhängen des christlichen Mäntelchens hat man auch keinen Menschen gewonnen, weil die Tradition, an der die Menschen fest haften, nicht irgendein Christentum überhaupt, sondern eine bestimmte christliche Lehre ist. Und es ist klar, dass sie auch fehlschlagen mussten. Denn durch die theologischen Erörterungen und Diskussionen, die solche Versuche mit sich brachten, wird der Geist gerade den abstrakten religiösen Fragen zugewandt, von der Wirklichkeit des Lebens abgewandt und wird das ideologische Denken gestärkt. Der Glaube ist im Allgemeinen für theoretische Beweise unangreifbar; erst wenn sein Boden, die alte Lebenslage, verschwunden ist und eine neue Weltanschauung in dem Menschen aufwächst, kommt auch der Zweifel an den alten Lehren und Dogmen. Nur die neue Wirklichkeit, die sich immer deutlicher in den Geist einprägt, kann einen überlieferten Glauben umstoßen; natürlich muss sie dazu dem Menschen zuerst klar zum Bewusstsein kommen. Nur durch die ständige Berührung mit der Wirklichkeit wird der Geist von der Macht überkommener Ideen befreit.

Daher denkt die marxistische Sozialdemokratie nicht daran, die Religion mit theoretischen Argumenten zu bekämpfen, oder sie in ihren Dienst zu stellen. Damit würden die abstrakten überlieferten Ideen künstlich wachgehalten werden, anstatt allmählich zu verblassen. Unsere Taktik besteht darin, die Arbeiter immer über ihre wahren Klasseninteressen aufzuklären, ihnen die Wirklichkeit der Gesellschaft und ihres Lebens vor Augen zu führen, damit sich ihr Geist immer mehr auf die Realitäten der heutigen Welt richtet. Dann schlafen die alten Ideen, die in der Wirklichkeit des proletarischen Lebens keine Nahrung mehr finden, von selbst ein. Was die Menschen über theologische Fragen denken, ist uns egal, wenn sie nur zusammen für die neue Wirtschaftsordnung des Sozialismus kämpfen. Daher redet und diskutiert die Sozialdemokratie nie über die Existenz Gottes oder über religiöse Streitfragen; sie redet immer nur über Kapitalismus, über Ausbeutung, über Klasseninteressen, über die Notwendigkeit, dass die Arbeiter zusammen den Klassenkampf führen. Damit lenkt sie den Geist von den unwesentlichen Ideen der Vergangenheit auf die Wirklichkeit von heute; damit nimmt sie diesen Ideen die Macht, die Arbeiter vom Klassenkampf und von der Verfolgung ihrer Klasseninteressen abzuhalten.

Natürlich nicht mit einem Schlage. Was fest versteinert im Geiste haftet, kann erst durch lange Einwirkung der neuen Kraft allmählich zerfetzt und aufgelöst werden. Wie lange hat es gedauert, bis die christlichen Arbeiter Rheinland-Westfalens in großen Scharen die Zentrumsfahne verließen und zur Sozialdemokratie herüberkamen. Aber die Sozialdemokratie hat sich dadurch nicht beirren lassen; sie hat nicht versucht, die christlichen Arbeiter durch Konzessionen an ihre religiösen Vorurteile rascher zu gewinnen; sie hat sich nicht, durch die Geringfügigkeit ihrer Erfolge ungeduldig gemacht, zu antireligiöser Propaganda verführen lassen. Sie hat den Glauben an den Sieg der Wirklichkeit über die Tradition nicht verloren, sie hat am Prinzip festgehalten, sie hat sich nicht auf taktische Irrwege begeben, die raschere Erfolge vortäuschen; sie hat immer der Ideologie den Klassenkampf entgegengesetzt. Und jetzt sieht sie die Früchte ihrer Taktik immer mehr reifen.

Ähnlich steht es mit dem Nationalismus, nur mit dem Unterschied, dass hier, weil er eine jüngere, weniger versteinerte Ideologie ist, vor dem Fehler der abstrakten theoretischen Bekämpfung kaum, vor dem Fehler des Entgegenkommens umso mehr gewarnt werden muss. Auch hier haben wir nur den Klassenkampf zu betonen und das Klassenempfinden zu wecken, damit die Aufmerksamkeit von den nationalen Fragen abgelenkt wird. Auch hier wird es oft scheinen, als ob gegen die Macht der nationalen Ideologie all unsere Propaganda vergeblich wäre;6 zuerst scheint der Nationalismus in den Arbeitern der jungen Nationen nur mächtiger anzuschwellen. So erstarkten auch die christlichen Gewerkschaften im Rheinland zugleich mit der Sozialdemokratie; mit ihnen ist der nationale Separatismus zu vergleichen, der gleichfalls ein Stück Arbeiterbewegung darstellt, der eine bürgerliche Ideologie mehr gilt, als das Prinzip des Klassenkampfes. Dadurch, dass solche Bewegungen in der Praxis nichts anderes sein können als Schleppträger der Bourgeoisie, und so das Klassenempfinden der Arbeiter gegen sich wachrufen, werden sie immer mehr ihre Macht verlieren.

Es wäre also eine durchaus falsche Taktik, Arbeitermassen für den Sozialismus gewinnen zu wollen, indem man ihrem nationalen Empfinden entgegenkommt. Mit einem solchen nationalen Opportunismus können sie äußerlich, dem Scheine nach für die Partei gewonnen werden, aber für unsere Sache, für die sozialistische Einsicht sind sie nicht gewonnen; bürgerliche Anschauungen werden nach wie vor ihren Geist beherrschen. Und wenn dann eine Stunde der Entscheidung kommt, wo zwischen nationalen und proletarischen Interessen gewählt werden muss, offenbart sich auf einmal die innere Schwäche dieser Arbeiterbewegung – wie jetzt in der separatistischen Krise. Wie können wir auch die Massen unter unserer Fahne sammeln, wenn wir diese vor der Fahne des Nationalismus sinken lassen? Unser Prinzip des Klassenkampfes kann nur herrschen, wenn die anderen Prinzipien, die die Menschen anders einordnen und trennen, wirkungslos werden; wenn wir aber durch unsere Propaganda die anderen Prinzipien zu höherem Ansehen bringen, untergraben wir unsere eigene Sache.

Natürlich wäre es, wie sich aus obiger Darlegung ergibt, ebenso verkehrt, direkt die nationalen Empfindungen und Losungen bekämpfen zu wollen. Wo sie in den Köpfen haften, können sie nicht durch theoretische Argumente, sondern nur durch eine stärkere Wirklichkeit, die man auf die Köpfe einwirken lässt, beseitigt werden. Fängt man erst darüber zu reden an, so ist der Geist der Hörer sofort auf das Nationale gerichtet, und denkt nur in der Sprache des Nationalismus. Man redet daher überhaupt nicht über diese Dinge, geht nicht auf sie ein. Auf alle nationalen Schlagwörter und Argumente antwortet man mit: Ausbeutung, Mehrwert, Bourgeoisie, Klassenherrschaft, Klassenkampf. Reden sie über die nationale Schulforderung, so weisen wir auf den dürftigen Unterricht für die Arbeiterkinder hin, die nicht mehr lernen, als sie nötig haben, um später im Dienste des Kapitals schuften zu können. Reden sie über Straßentafeln und Ämter, so reden wir über die Not, die die Proletarier zum Auswandern treibt. Reden sie über die Einheit der Nation, so reden wir über Ausbeutung und Klassenunterdrückung. Reden sie über die Größe der Nation, so reden wir über die Solidarität des Proletariats der ganzen Welt. Erst wenn die große Realität der heutigen Welt, die kapitalistische Entwicklung, die Ausbeutung, der Klassenkampf mit seinem Endziel des Sozialismus den ganzen Geist des Arbeiters immer mehr erfüllt, werden die kleinen bürgerlichen Ideale des Nationalismus in ihm verblassen und verschwinden. Die Propaganda des Sozialismus und des Klassenkampfes bildet das einzig aber auch sicher erfolgreiche Mittel, die Macht des Nationalismus zu brechen.

Der Separatismus und die Parteiorganisation

In Österreich ist seit dem Wimberger Parteitag die sozialdemokratische

Partei nach Nationen gespalten, und jede nationale Arbeiterpartei ist autonom und arbeitet mit denen der anderen Nationen föderalistisch zusammen. Diese nationale Spaltung des Proletariats bot keine großen Unzuträglichkeiten und wurde vielerseits als das naturgemäße Organisationsprinzip der Arbeiterbewegung in einem national zerklüfteten Lande angesehen. Als aber diese Spaltung sich nicht mehr auf die politische Organisation beschränkte, sondern unter dem Namen Separatismus auf die Gewerkschaften übergriff, wurde auf einmal die Gefahr handgreiflich. Die Widersinnigkeit des Verfahrens, dass Arbeiter derselben Werkstatt sich in verschiedenen Verbänden organisieren und damit den gemeinsamen Kampf gegen die Unternehmer erschweren, liegt auf der Hand. Solche Arbeiter bilden eine Interessengemeinschaft, sie können nur als eine geschlossene Masse kämpfen und siegen und gehören daher in eine einzige Organisation zusammen. Die Separatisten, die die Spaltung der Arbeiter nach Nationen in die Gewerkschaft hineintragen, brechen, genauso wie die christlichen Gewerkschaftszersplitterer, die Kraft der Arbeiter und hemmen den Aufstieg des Proletariats in hohem Maße.

Die Separatisten wissen und sehen das genauso gut wie wir. Was treibt sie also zu ihrem arbeiterfeindlichen Vorgehen, trotzdem es vom internationalen Kongress in Kopenhagen mit erdrückender Einstimmigkeit missbilligt wurde? In erster Linie die Tatsache, dass sie das nationale Prinzip als etwas viel Höheres betrachten, als das materielle Interesse der Arbeiter und das sozialistische Prinzip. Aber sie berufen sich dabei auf den Ausspruch eines anderen internationalen Kongresses, des Stuttgarter Kongresses (1907), dass Partei und Gewerkschaften in einem Lande aufs Engste in stetiger Arbeits- und Kampfgemeinschaft zusammengehören. Wie aber ist das möglich, wenn die Partei nach Nationen gegliedert und zugleich die Gewerkschaftsbewegung international über den ganzen Staat zentralisiert ist? Wo findet die tschechische Sozialdemokratie die Gewerkschaftsbewegung, an die sie sich eng angliedern kann, wenn sie nicht eine besondere tschechische Gewerkschaftsbewegung schafft?

Es heißt also geradezu die allerschwächste Stellung auswählen, wenn viele deutsch-österreichischen Sozialdemokraten in ihrem theoretischen Kampf gegen den Separatismus als wichtigstes Argument immer die völlige Verschiedenheit des politischen und des gewerkschaftlichen Kampfes anführen. Allerdings bleibt ihnen nichts anderes übrig, wenn sie zu gleicher Zeit die internationale Einheit in den Gewerkschaften, die nationale Trennung in der Partei verfechten wollen. Aber Erfolge können mit diesem Argument nicht erzielt werden.

Es stammt aus den Verhältnissen im Anfange der Arbeiterbewegung, da beide sich erst langsam gegen die Vorurteile der Arbeitermassen emporkämpfen müssen und jede sich ihren eigenen Weg sucht; dann sieht es aus, als ob die Gewerkschaften nur für die unmittelbare Verbesserung der materiellen Lage da wären, während die Partei den Kampf für eine Zukunftsgesellschaft, für allgemeine Ideale und erhabene Ideen führt. In Wirklichkeit kämpfen sie beide für unmittelbare Verbesserungen und bauen sie beide zugleich an der Macht des Proletariats, die den Sozialismus bringen wird. Nur, weil der politische Kampf der allgemeine Kampf ist gegen die ganze Bourgeoisie, muss man sich dort über die weitesten Konsequenzen und die tiefsten Grundlagen der Weltanschauung klar werden, während im Gewerkschaftskampf, wo die Argumente und die unmittelbaren Interessen handgreiflich vor Augen liegen, dieses Herbeiholen allgemeiner Prinzipien nicht nötig ist und für die augenblickliche Einheit bisweilen sogar schädlich sein kann. Aber in Wirklichkeit sind es dieselben Arbeiterinteressen, die beide Kampfformen bestimmen; in der Parteibewegung liegen sie bloß in der Form der Ideen und Prinzipien etwas mehr versteckt. Je mehr sich nun aber die Bewegung entwickelt, umso enger rücken sie zusammen, umso mehr müssen sie gemeinsam kämpfen. Die großen Gewerkschaftskämpfe werden Massenbewegungen von gewaltiger politischer Wirkung, die das ganze Gesellschaftsleben erschüttern. Umgekehrt wachsen die politischen Kämpfe zu Massenaktionen aus, die die aktive Mithilfe der Gewerkschaften erfordern. Die Stuttgarter Resolution verkörpert diese immer stärker hervortretende Notwendigkeit. Daher müssen alle Versuche, den Separatismus mit dem Argument der völligen Verschiedenheit von Gewerkschafts- und Parteibewegung zu schlagen, an der Wirklichkeit abprallen.

Der Fehler des Separatismus liegt also nicht darin, dass er für Gewerkschaft und Partei dieselbe Organisation will, sondern darin, dass er zu diesem Zwecke die Gewerkschaft zerschlägt. Denn die Wurzel des Widerspruchs liegt nicht in der Einheit der Gewerkschaftsbewegung, sondern in der Spaltung der politischen Partei. Der Separatismus in der Gewerkschaftsbewegung ist nur die unvermeidliche Konsequenz der nationalen Autonomie der Parteiorganisation: ja, er ist in seiner Unterordnung des Klassenkampfes unter das Nationalprinzip die äußerste Konsequenz der Theorie, die die Nationen als die natürlichen Gebilde der Menschheit betrachtet und den Sozialismus im Lichte des Nationalprinzips, als die Verwirklichung der Nation ansieht. Daher ist eine wirkliche Überwindung des Separatismus nur möglich, wenn überall, in der Taktik, in der Agitation, in dem Bewusstsein aller Genossen der Klassenkampf als das einzige proletarische Prinzip herrscht, gegen das alle nationalen Verschiedenheiten bedeutungslos sind. Die Vereinigung der sozialistischen Parteien ist der einzige Ausweg, den Widerspruch, aus dem die separatistische Krise mit ihrer Schädigung der Arbeiterbewegung entstand, zu lösen.

In dem Kapitel: „Die Gemeinschaft des Klassenkampfes“, wurde schon dargelegt, dass der politische Kampf sich auf dem Boden des Staates abspielt und die Arbeiter aller Nationen des ganzen Staates zu einer Einheit verbindet. Zugleich ergab sich dort, dass in den Anfängen der sozialistischen Partei das Schwergewicht noch in die Nationen fällt. Daraus erklärt sich die historische Entwicklung, dass die Partei, sobald sie in ihrer Agitation die Massen zu erfassen begann, in national getrennte Einheiten zerfiel, von denen jede sich ihrem Milieu, den besonderen Verhältnissen und Denkweisen ihrer Nation anpassen musste – dabei natürlich zugleich mit nationalen Ideen mehr oder weniger infiziert wurde. Denn jede emporkommende Arbeiterbewegung steckt voll bürgerlicher Ideen, die erst durch die Entwicklung selbst, durch die Praxis des Kampfes und die wachsende theoretische Einsicht, allmählich überwunden werden. Diese bürgerliche Beeinflussung der Arbeiterbewegung, die in anderen Ländern als Revisionismus und Anarchismus auftritt, musste in Österreich notwendig die Form des Nationalismus annehmen, weil der Nationalismus nicht nur die mächtigste bürgerliche Ideologie ist, sondern hier auch in Opposition gegen Staat und Bürokratie steht. Die nationale Autonomie ist nicht einfach ein fehlerhafter Beschluss irgendeines Parteitages, der hätte vermieden werden können, sondern eine natürliche Entwicklungsform, die sich von Stufe zu Stufe durch die Verhältnisse selbst ausgebildet hat.

Als aber durch die Eroberung des allgemeinen Wahlrechtes der parlamentarische Kampfboden eines modernen kapitalistischen Staates geschaffen war und das Proletariat zu einer wichtigen politischen Macht geworden war, konnte dieser Zustand nicht bestehen bleiben. Jetzt musste sich zeigen, ob die autonomen Parteien, noch eine wirkliche Gesamtpartei bildeten. Jetzt kam man nicht mehr aus mit platonischen Erklärungen der Zusammengehörigkeit; jetzt war eine festere Einheit notwendig, in der Weise, dass die sozialistischen Fraktionen der verschiedenen nationalen Parteien sich praktisch und tatsächlich einem gemeinsamen Willen unterordneten. Diese Probe hat die politische Bewegung nicht bestanden; in einzelnen ihrer Teile hatte der Nationalismus schon so tief Wurzel gefasst, dass sie sich nicht nur mit den anderen sozialistischen Fraktionen, sondern genauso oder noch mehr mit den bürgerlichen Parteien ihrer Nation verwandt fühlten. So erklärt sich der scheinbare Widerspruch, dass die Gesamtpartei gerade in dem Augenblick zugrunde ging, als die neuen Bedingungen des politischen Kampfes eine wirkliche Gesamtpartei, eine feste Einheit des gesamten österreichischen Proletariats erforderten – der lose Zusammenhang der nationalen Gruppen wurde zerbrochen, als die Anforderung an sie herantrat, sich zu einer festen Einheit zu vereinigen. Aber dadurch wird zugleich klar, dass dieses Fehlen einer Gesamtpartei nur ein Übergangszustand sein kann. Aus der separatistischen Krise muss notwendig die neue Gesamtpartei als geschlossene politische Organisation der ganzen österreichischen Arbeiterklasse emporkommen.

Die autonomen nationalen Parteien sind Gebilde der Vergangenheit, die den neuen Kampfbedingungen nicht mehr entsprechen. Der politische Kampf wird für alle Nationen zusammen in einem einzigen Parlament in Wien geführt; dort kämpfen nicht tschechische Sozialdemokraten gegen die tschechische Bourgeoisie, sondern mit allen anderen Arbeitervertretern gegen die ganze österreichische Bourgeoisie. Man hat demgegenüber gesagt, dass der Wahlkampf innerhalb der Nation geführt wird und dass nicht Staat und Bürokratie, sondern die bürgerlichen Parteien der eigenen Nation dabei die Gegner sind. Das ist richtig; aber der Wahlkampf ist gleichsam nur eine Verlängerung des parlamentarischen Kampfes. Nicht die Worte, sondern die Taten unserer Gegner bilden das Material im Wahlkampf, und diese Taten sind im Reichsrat verübt, gehören der Tätigkeit des österreichischen Parlaments an. Daher rückt auch der Wahlkampf die Arbeiter aus der kleinen nationalen Welt heraus und weist sie auf das größere Herrschaftsgebilde hin, das als die mächtige Zwangsorganisation der Kapitalistenklasse ihr Leben beherrscht.

Umso mehr, als der Staat, der früher gegen die Nationen schwach und machtlos erschien, infolge der großkapitalistischen Entwicklung immer mächtiger hervortritt. Die Entwicklung des Imperialismus, der auch die Donaumonarchie mitreißt, legt immer gewaltigere Machtmittel zum Zwecke der Weltpolitik in die Hände des Staates, legt einen immer größeren militärischen und Steuerdruck auf die Massen, dämmt die Opposition der bürgerlichen, nationalen Parteien ein und geht über die sozialpolitischen Forderungen der Arbeiter einfach hinweg. Der Imperialismus muss den gemeinsamen Klassenkampf der Arbeiter gewaltig anstacheln; und gegen seine weltbewegenden Kämpfe, die Kapital und Arbeit in den schroffsten Gegensatz gegeneinanderstellen, sinken die Objekte des nationalen Haders zu völliger Bedeutungslosigkeit herab. Und es ist gar nicht ausgeschlossen, dass die gemeinsamen Gefahren, womit die Weltpolitik die Arbeiter bedroht, vor allem die Kriegsgefahr, schneller als man denkt, die jetzt getrennten Arbeitermassen zum gemeinsamen Kampf zusammenführen werden.

Natürlich muss die Propaganda und die Aufklärung in jeder Nation wegen der besonderen Sprache besonders betrieben werden. Die Praxis des

Arbeiterkampfes hat mit den Nationen als Gruppen verschiedener Sprache zu rechnen; das gilt für die Partei genauso gut, wie für die Gewerkschaftsbewegung. Als Kampforganisationen müssen beide, Partei und Gewerkschaft, staatlich international einheitlich organisiert sein. Zum Zwecke der Propaganda, der Aufklärung, der Bildungsbestrebungen, die sie in gleicher Weise und gemeinsam angehen, ist eine nationale Unterorganisation und Gliederung dieser Einheiten nötig.

Die nationale Autonomie

Wenn wir auf die Schlagwörter und Losungen des Nationalismus nicht eingehen und immer mit den Losungen des Klassenkampfes und des Sozialismus antworten, so soll das nicht bedeuten, dass wir den nationalen Fragen gegenüber eine Art Straußpolitik befolgen. Denn sie sind reale Fragen, die die Köpfe der Menschen beschäftigen und ihrer Lösung harren. Wir bringen den Arbeitern zum Bewusstsein, dass nicht diese Fragen, sondern Ausbeutung und Klassenkampf für sie die wichtigen, alles beherrschenden Lebensfragen sind; aber damit sind die anderen Fragen nicht aus der Welt verschwunden und wir müssen zeigen, dass wir sie lösen können. Denn die Sozialdemokratie vertröstet die Menschen nicht einfach auf den Zukunftsstaat, sondern zeigt in ihrem Programm der Augenblicksforderungen, wie sie jede Einzelfrage, um die heute gekämpft wird, lösen will. Wir suchen nicht nur die christlichen Arbeiter mit allen anderen ohne Rücksicht auf die Religion zum gemeinsamen Klassenkampfe zu vereinigen; sondern in unserem Programmsatz: „Erklärung der Religion zur Privatsache“, zeigen wir ihnen auch den Weg, ihr religiöses Interesse besser zu wahren, als durch religiöse Kämpfe und Streitigkeiten. Gegen die Machtkämpfe der Kirchen, die zu ihrem Charakter als Herrschaftsorganisationen gehören, stellen wir das Prinzip der Selbstbestimmung und der Freiheit aller Menschen auf: ihre religiöse Überzeugung ohne fremde Beeinträchtigung zu betätigen. Dieser Programmsatz gibt nicht die Lösung jeder Einzelfrage, sondern enthält ihre allgemeine Lösung, da sie den Boden schafft, auf dem sie die Einzelfragen nach freiem Belieben regeln können. In dem aller staatlicher Zwang aufgehoben wird, fällt jede Notwendigkeit der Abwehr und des Streites weg; die religiösen Fragen werden aus der Politik ausgeschaltet und den Organisationen überlassen, die die Menschen sich nach freiem Willen bilden.

In ähnlicher Weise stehen wir auch zu den nationalen Fragen. Das sozialdemokratische Programm der nationalen Autonomie bietet hier die praktische Lösung, die die Kämpfe der Nationen gegenstandslos machen würde. Die Nationen werden, durch die Anwendung des Personalprinzips an Stelle des Territorialprinzips, als Organisationen anerkannt, denen im Rahmen des Staates die Sorge für alle kulturellen Interessen der Nationsgemeinschaft zufällt. Jede Nation bekommt dadurch die rechtliche Macht, auch wo sie Minderheit ist, ihre Angelegenheiten selbständig zu regeln; keine Nation ist genötigt, sich diese Macht im Kampfe um Einfluss auf den Staat immer wieder zu erobern und zu behaupten. Damit wäre dem Machtkampf der Nationen, der durch die endlose Obstruktion das ganze parlamentarische Leben lähmt und jede Beschäftigung mit sozialen Fragen verhindert, völlig ein Ende bereitet. Als die bürgerlichen Parteien blind gegeneinander tobten, ohne weiterzukommen und ratlos vor der Frage standen, wie aus dem Chaos herauszukommen, hat die Sozialdemokratie den praktischen Weg gezeigt, wie die berechtigten nationalen Wünsche zu erfüllen sind, ohne dass man sich gegenseitig zu schädigen braucht.

Damit ist aber nicht gesagt, dass dieses Programm nun auch Aussicht auf Verwirklichung hat. Wir sind alle überzeugt, dass unsere Forderung der Erklärung der Religion zur Privatsache, wie die meisten unserer Augenblicksforderungen, vom kapitalistischen Staate auch nicht verwirklicht werden wird. Unter dem Kapitalismus ist die Religion nicht, wie den Leuten vorgetäuscht wird, eine freie persönliche Überzeugung – wäre sie das, so müssten die Wortführer der Religion unseren Programmsatz übernehmen und durchführen –, sondern ein Herrschaftsmittel in den Händen der besitzen- den Klasse; und dieses Mittel wird sie nicht aus den Händen geben. Etwas Ähnliches liegt nun auch bei unserem Nationalprogramm vor, das die Nationen als das zu verwirklichen sucht, wofür sie ausgegeben werden. Die Nationen sind nicht einfach Gruppen von Menschen, die dieselben Kulturinteressen haben und sich daher friedlich mit anderen Nationen vertragen wollen; sie sind Kampforganisationen der Bourgeoisie, zum Zwecke der Gewinnung von Macht im Staate. Jede nationale Bourgeoisie hofft ihr Machtgebiet auf Kosten des Gegners zu erweitern; dass sie daher aus eigenem Antrieb diese kraftverzehrenden Kämpfe einstellen werden, ist in derselben Weise fraglich, wie es ausgeschlossen ist, dass die kapitalistischen Weltmächte durch eine vernünftige Regelung ihrer Streitobjekte den ewigen Weltfrieden herbeiführen werden. Allerdings liegt hier die Sache insoweit anders, als es in Österreich eine höhere Instanz gibt, die eingreifen könnte, den Staat, die regierende Bürokratie. In der Regel wird auch darauf gerechnet, dass die zentrale Staatsgewalt aus Selbsterhaltungstrieb zur Lösung der nationalen Streitigkeiten schreiten wird, weil sie den Staat auseinanderzureißen drohen und den regelmäßigen Gang der Staatsmaschine verhindern. Aber der Staat hat schon gelernt, mit den nationalen Kämpfen auszukommen, nutzt sie sogar zur Stärkung der Regierungsmacht gegenüber dem Parlament aus, sodass eine absolute Notwendigkeit, sie zu schlichten, nicht vorliegt. Und was das Wichtigste ist: die Durchführung der nationalen Autonomie, wie die Sozialdemokratie sie fordert, hat zur Grundlage die demokratische Selbstverwaltung. Davor aber haben die feudal-klerikal-großkapitalistisch-militaristischen Kreise, die Österreich regieren, einen nur allzu begründeten und gesunden Schrecken.

Hat aber die Bourgeoisie wirklich nur ein Interesse daran, die nationalen Kämpfe einzustellen? Gerade umgekehrt hat sie das allergrößte Interesse, diese Kämpfe nicht einzustellen, und umso mehr, je stärker der Klassenkampf emporkommt. Denn ähnlich wie die religiösen, bilden die nationalen Gegensätze ein vorzügliches Mittel, das Proletariat zu spalten, durch ideologische Schlagwörter seine Aufmerksamkeit vom Klassenkampf abzulenken und seine Klasseneinheit zu verhindern. Das instinktive Streben der bürgerlichen Klassen, das Proletariat nicht zur Einheit, Klarheit und Macht kommen zu lassen, wird immer mehr zu einem Hauptmoment der bürgerlichen Politik. Wir sehen in Ländern, wie England, Holland, Amerika, sogar in Deutschland (wo die konservative Junkerpartei als ausgesprochene Klassenpartei eine Ausnahmestellung einnimmt), dass die Kämpfe zwischen den beiden großen bürgerlichen Parteien – in der Regel eine liberale“ und eine „konservative“ oder „klerikale“ Partei – umso schärfer und die Kampfrufe umso tönender werden, je mehr der reale Interessengegensatz zwischen ihnen verschwindet und ihr Gegensatz also in ideologischen, aus der Vergangenheit stammenden Schlagwörtern besteht. Wer den Marxismus schematisch auffasst, und daher in den politischen Parteien reine Interessenvertretungen bürgerlicher Gruppen sieht, steht hier vor einem Rätsel: wo man erwarten sollte, dass sie gegenüber dem drohenden Proletariat zu einer reaktionären Masse zusammenschmelzen sollten, scheint die Kluft gerade umgekehrt tiefer und breiter zu werden. Diese Erscheinung erklärt sich einfach aus dem instinktiven Empfinden, dass mit Gewalt allein gegen das Proletariat nichts zu machen ist, und dass es unendlich viel wichtiger ist, das Proletariat mit ideologischen Losungen zu verwirren und zu spalten. Daher werden in Österreich die nationalen Kämpfe der verschiedenen Bourgeoisien umso gewaltiger auflodern, je mehr sie gegenstandslos werden; je mehr die Herren sich in der Teilung der Staatsmacht hinter den Kulissen zusammenfinden, umso wütender pauken sie wegen nationaler Bagatellen in den öffentlichen Debatten aufeinander los. Früher suchte jede Bourgeoisie das Proletariat ihrer Nation geschlossen hinter sich zu scharen, um mit größerer Macht den nationalen Gegner bekämpfen zu können; heute muss umgekehrt immer mehr der Kampf gegen den nationalen Gegner dazu dienen, das Proletariat hinter den bürgerlichen Parteien zu scharen, damit seine internationale Einheit verhindert wird. Dieselbe Rolle, die in anderen Ländern die Kampfrufe: hie Christentum! hie Gewissensfreiheit! erfüllen sollen, die Aufmerksamkeit der Arbeiter von den sozialen Fragen, in denen ihre Klassengemeinschaft und ihr Klassengegensatz gegen die Bourgeoisie hervortreten würde, abzulenken, dieselbe Rolle werden in Österreich immer mehr die nationalen Kampfrufe spielen.

Wir dürfen also kaum darauf rechnen, dass die praktische Lösung der nationalen Streitigkeiten, die wir vorschlagen, je verwirklicht werden wird, gerade aus dem Grunde, dass sie die Kämpfe gegenstandslos machen würde. Wenn Bauer sagt: „Nationale Machtpolitik und proletarische Klassenpolitik sind logisch schwer vereinbar; psychologisch schließen sie einander aus; die proletarische Armee wird durch die nationalen Gegensätze in jedem Augenblicke gesprengt, der nationale Streit macht den Klassenkampf unmöglich. Die zentralistisch-atomistische Verfassung, die den nationalen Machtkampf unvermeidlich macht, ist darum für das Proletariat unerträglich“ (S. 313—314) – so mag das teilweise, soweit es zur Begründung unserer Programmforderung dient, richtig sein. Soll es aber bedeuten, dass zuerst der nationale Kampf aufhören muss, bevor der Klassenkampf sich entfalten kann, so ist es unrichtig. Denn dass es in unserem Interesse liegt, die nationalen Kämpfe zu beseitigen, ist für die Bourgeoisie gerade ein Grund, sie möglichst zu erhalten. Aber damit wird sie uns doch nicht aufhalten können. Die proletarische Armee wird durch die nationalen Gegensätze nur so lange gesprengt, als das sozialistische Klassenbewusstsein schwach ist. Schließlich geht der Klassenkampf einfach über den nationalen Streit hinweg. Nicht durch unseren Vorschlag der nationalen Autonomie, dessen Verwirklichung nicht in unserer Hand liegt, sondern nur durch die Stärkung des Klassenbewusstseins wird die verhängnisvolle Macht des Nationalismus in Wirklichkeit gebrochen werden.

Daher wäre es falsch, wollten wir all unsere Kraft auf eine „positive nationale Politik“ verwenden, und alles auf diese eine Karte, auf die Verwirklichung unseres Nationalitätenprogramms als Vorbedingung der Entfaltung des Klassenkampfes setzen. Diese Programmforderung dient nur, wie die meisten unserer praktischen Augenblicksforderungen, dazu, zu zeigen, wie leicht wir diese Fragen lösen würden, wenn wir erst die Macht hätten, und an der Vernunft unserer Lösungen die Unvernunft der bürgerlichen Losungen umso schroffer hervortreten zu lassen. Aber solange die Bourgeoisie herrscht, wird unsere vernünftige Lösung wohl auf dem Papier stehen bleiben. Unsere Politik und unsere Agitation können nur darauf gerichtet sein, immer und nur den Klassenkampf zu führen, das Klassenempfinden zu wecken, damit die Arbeiter durch klare Einsicht in die Wirklichkeit gegen die Schlagworte des Nationalismus unempfindlich werden.


1Anm. d. Red., Potentant, Potentantin sind Herrscher und Herrscherin.

2Anm. d. Red., der oder ein Hinterfaff ist ein Untertan, oder Lehnsmann, in engerer Bedeutung diejenigen Bauern, welche so wenig Acker besitzen, dass sie kein Zugvieh darauf halten können.

3In West-Europa werden daher Staat und Nation als gleichbedeutend gebraucht. Die Staatsschuld heißt nationale Schuld und die Interessen der Staatsgemeinschaft heißen immer die nationalen Interessen.

4Am Klarsten ist dieses Verhältnis von Geist und Materie in den Schriften von Joseph Dietzgen auseinandergesetzt, der durch seine Darlegung der philosophischen Grundlagen des Marxismus mit Recht den Namen verdient, womit Marx ihn einmal bezeichnete, den des Philosophen des Proletariats.

5Seitdem sind in den Parteien Neubildungen und Umwandlungen vorgekommen, auf die wir hier nicht eingehen, da es sich nur um das Beispiel zur Erläuterung der theoretischen Stellungnahmen handelt.

6So bezweifelte neulich Otto Bauer in seiner Besprechung der Strasser’schen Broschüre: „Der Arbeiter und die Nation“ im „Kampf“ (5, 9), ob gegen den mitreißenden Glanz der nationalen Ideale die Hervorhebung der Klasseninteressen des Proletariats irgendwelche Wirkung ausüben könnte.

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