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Alfredo M. Bonanno, Anarchistischer Wahlabstentionismus

Bemerkungen: Übersetzt aus dem Italienischen. Original: Alfredo M. Bonanno, Astensionismo elettorale anarchico. Arma del proletariato per la rivoluzione sociale, als Broschüre bei La Fiaccola, Ragusa 1974. Meccanismo elettorale e repressione. Per un astensionismo sovversivo, publiziert in „Crocenera” Nr. 26, Juni 1983, S. 1-2. Costruzione delle strutture astensioniste, publiziert in „Crocenera”, Ebd., S. 1-2. Le possibilitä di una struttura organizzativa astensionista, in „Crocenera“, Ebd., S. 5-6. Documento organizzativo delle strutture astensioniste zonalit publiziert in „Provocazione“ Nr. 5, Mai 1987, S. 5. Auch publiziert in: Anfügung zur zweiten Edition von Alfredo M. Bonanno, Movimento e progetto rivoluzionario, bei Edizioni Anarchismo, Triest 2013. Zitate wo möglich abgeglichen und aktualisiert. Zürich, Oktober 2015


Vorwort

Der anarchistische Abstentionismus kann nicht bloss die Bekräftigung von einer Verweigerung, sich am demokratischen Betrug der Wahlen zu beteiligen, sein. Die Verweigerung, nicht nur anlässlich der periodischen Wahlen, sondern als Haltung gegenüber allen partizipativen Mechanismen, die sich über die verschiedenen gesellschaftlichen Verwaltungsbereiche erstrecken, ist sicherlich ein unerlässlicher Ausgangspunkt der Bewusstwerdung und Verantwortlichmachung des Einzelnen, aber nicht ausreichend. Der anarchistische Wahlabstentionismus muss ein konkreter Angriff auf diese Mechanismen zur Konsensbeschaffung sein, worauf der demokratische Staat seine Legitimität aufbaut, und die nicht von den repressiven Mechanismen zu trennen sind. Denn erstere sind, letztlich, schlicht die Sondierungen, um letztere in geregelte Bahnen zu lenken.

In diesem Sinne bietet uns die Frage des Abstentionismus Anlass, um die anarchistische Analyse und Kritik des demokratischen Regierungsmechanismus zu vertiefen, und um über konkrete Interventionsperspektiven zu reflektieren, die über eine regelmässige Wiederpräsentation unserer Thesen und einen generischen Verweis auf die Möglichkeit der Selbstorganisation und der Revolte hinausgehen. Dies ist der Grund, weshalb wir diese Broschüre publizieren. In ihr wird, neben einer ausführlichen und organischen Analyse des Autoritäts- und Delegationsbegriffe, der Verteidigungsthesen der Demokraten, dem Problem der Mehrheit und der Minderheit, sowie der Position der autoritären Revolutionäre gegenüber dem Abstentionismus, im ersten Teil, in einem zweiten Teil der Vorschlag des Aufbaus von zonalen abstentionistischen Strukturen entwickelt, welche zum Ziel haben, ihre Entscheidungen, durch die direkte Aktion, an Stelle jener der politischen Führungen zu setzen.

Sicher, die Umstände haben sich seit der Verfassung von diesem Pamphlet, im Jahr 1974 in Italien, verändert. In der Tat kann man sagen, dass der Abstentionsimus heute, global gesehen, ein generalisiertes Phänomen ist. Auch die Schweiz, mit ihrer Heuchelei von demokratischer Tugend, bildet dabei keine Ausnahme. Die zahlreichen Initiativen, um, insbesondere die Jugend, zum Wählen zu animieren, sind ein verzweifeltes Zeugnis davon. Im Grunde steht es schlecht um die repräsentative Politik, darin sind sich alle Parteien einig. Aber bedeutet dieses Phänomen, für uns, die wir die Verweigerung des demokratischen Wahlmechanismus verbreiten wollen, eine wachsende Bewusstwerdung und eine entschiedene Ablehnung? Wohl kaum.

Vielmehr haben die generalisierten Bedingungen von Ungewissheit und flexibler Anpassung, in denen sich die neuen Generationen wiederfinden, das starre Modell der Parteien allmählich zum erodieren gebracht. Sich zwischen den Falten der tausend Opportunitäten arrangierend, um sich in der kapitalistischen Wirtschaft über Wasser zu halten, bilden die politischen Programme der Parteien, ob links oder rechts ist im Grunde beliebig austauschbar, für die meisten keinen Orientierungspunkt mehr.

Eines der Mittel, um dieser Tendenz abzuhelfen, und das wir heute allmählich aufkommen sehen, sind die Systeme zur elektronischen Stimmabgabe. In der Tat scheint es, dass sich Systeme wie jenes der sogenannten „Liquid Democracy“ sehr gut in die heutigen Ansprüche der kapitalistischen Verwaltung einfügen liessen, die immer mehr auf einem allumfassenden Sammeln, Vernetzen und Verwalten von Daten basiert, um permanent eine möglichst schnelle und flexible Anpassung des Systems zu ermöglichen.

Aber was würde eine Entwicklung in diese Richtung bedeuten? Die Tatsache, dass nahezu jedes Mitglied einer Gesellschaft mit einem Endgerät ausgestattet ist, das über ein Netz mit allen anderen verbunden ist, beseitigt, im Grunde, einige Hürden, die von den Verfechtern der repräsentativen Demokratie gegen das Modell der direkten Demokratie vorgehalten wurden. So beispielsweise das Problem, simultan eine derart grosse Anzahl von Menschen über jeweilige Entscheidungen und Gesetzestexte zu befragen, ein Problem, das schon Rousseau anführte, der selber ein heftiger Kritiker des repräsentativen Systems war. Die Möglichkeit, zu jedem Zeitpunkt die aktuelle Meinungslage in der Bevölkerung zu erfassen, kombiniert mit den immer grösseren Möglichkeiten, diese Meinungen durch die Masseninformationsmittel zu beeinflussen und zu steuern, wäre, tatsächlich, die perfekte Grundlage für eine totalitäre Demokratie. Schliesslich, auch wenn sich alle Einzelnen permanent über Beschlüsse und Gesetzestexte äussern könnten, so bleibt es noch immer der Staat, der den Rahmen der möglichen Alternativen festlegt, welche, selbstverständlich, seine Grundlagen von Eigentum und Autorität niemals in Frage stellen können. Das, was wir allenfalls werden selbstverwalten können, wird nichts anderes als unser eigenes Elend sein.

Der anarchistische Abstentionismus bleibt, gerade in diesem Kontext, fundamentaler Ausgangspunkt für den Kampf gegen die Herrschaft in ihrer demokratischen Form.

Aber die Möglichkeit, sich unabhängig von den politischen Strukturen zusammenzuschliessen, und Entscheidungen, die autonom getroffen werden, durch die direkte Aktion an Stelle von jenen zu setzen, die uns von oben auferlegt werden, muss konkret werden, muss sich in konkreten Kämpfen realisieren, muss auf einer präzisen Kenntnis des, auch politischen, Kontexts basieren, in dem wir agieren. Eine vertieftere Analyse der demokratischen Mechanismen ist Grundlage, um ein solches Projekt zu entwickeln.

Ein Ansatz dazu wird uns in dieser Broschüre gegeben.

Zürich, 14. Oktober 2015


Einleitende Notiz zur ersten italienischen Ausgabe

Die Anarchisten kämpfen gegen das sogenannte demokratische Wahlsystem und in periodischen Abständen schlagen sie erneut ihre abstentionistischen Thesen vor. Oft werden diese Thesen bei präzisen Anlässen wie den politischen oder administrativen Wahlkampagnen entwickelt, manchmal, seltener, als Zweck für sich, das heisst als Klärung dessen, was eines der prinzipiellen Fundamente der anarchistischen Lehre ist: der Abstentionismus.

Unserer Ansicht nach gibt es zwei Wege, das Argument auf erschöpfende Weise anzugehen, von diesen zwei Wegen werden wir den zweiteren verfolgen. Der eine geht von Betrachtungen von subjektivistischer Art aus, sich über die unheilvollen Einflüsse auslassend, die die Institutionen auf alle Menschen haben, über die Degeneration, die die Institution Parlament, im spezifischen Fall, beim gewählten Abgeordneten bewirkt, und sei dieser letztere auch ein Arbeiter oder ein Bauer. Der andere geht von einer umfangreicheren Klassenbetrachtung aus, einen breiten Diskurs führend und die Gründe untersuchend, weshalb die Institution nicht akzeptiert werden kann, da sie Produkt eines präzisen Ausbeutungssystems ist, das in Widerspruch steht mit den Charakteristiken von Verantwortlichmachung, die jeder einzelne Mensch bestrebt sein muss, zu erlangen, wenn er nicht aufhören will, sich als Mensch zu definieren.

Diese zweite Art und Weise, die Analyse vom Problem des anarchistischen Abstentionismus zu entwickeln, ist diejenige, die von Malatesta in diversen Schriften von grosser Wichtigkeit angewendet wurde, darunter all jene, welche er anlässlich der Polemik mit Merlino verfasste und welche wir dieses Jahr ebenfalls bei ”La Fiaccola” von Ragusa, im Band Anarchismo e Democrazia herausgegeben haben.

Die erste Art und Weise ist die klassische der zahlreichen Galleanis, Molinaris, Faures, usw., welche, unserer Beurteilung nach, auch wenn vom unmittelbar propagandistischen Standpunkt aus gültig, die zwei wesentlichen Punkte des Problems nicht anrührt: die Klassenanalyse und die Grenzen der Verantwortlichmachung des Einzelnen.

Noch ein anderer Zweck hat uns dazu angetrieben, diese kleine Broschüre zu verfassen: jener, die allzu häufige Verwirrung zu klären, die zwischen dem anarchistischen Abstentionismus und dem revolutionären kommunistischen Abstentionismus verläuft, welcher manchmal präsent ist in der Propaganda der kommunistischen Gefährten und manchmal abwesend. Das Problem sollte nicht unterschätzt werden, besonders in Hinblick auf die häufigen Beziehungen, die wir dennoch gezwungen sind, mit solchen Gruppierungen zu bewahren.

Wir müssen schliesslich hinzufügen, dass wir uns bemüht haben, der schwierigen Materie eine möglichst einfache Gliederung zu geben. Wir wissen nicht, ob uns das gelungen ist.

Catania, 27. Juli 1974 Alfredo M. Bonanno


Anarchistischer Wahlabstentionismus

Autonomie und Verantwortung

Der Mensch hat die fundamentale Pflicht, vor sich selber, seine Verantwortungen zu übernehmen. Nicht nur weil er im Stande ist, vernünftig zu denken, und somit Entscheidungen zu treffen, sondern weil er erst durch seine Verantwortlichmachung wirklich frei sein kann.

Diese grundlegende philosophische Formulierung hat natürlich keinen präzisen Sinn, wenn sie eingetaucht in die dunkle Nacht der Metaphysik gelassen wird. Es stimmt nämlich nicht ganz, dass der Mensch sich ständig in einem Reflexions- und Entscheidungsprozess befindet: meistens, was den grössten Teil der Handlungen betrifft, die er in seinem Leben begeht und die die allgemeine Regel des alltäglichen Lebens bilden, handelt er aus Gewohnheit, überlässt er sich dem „Sichlebenlassen”, in einer Form, die ihn nicht authentisch als Mensch verwirklicht.

Dem muss hinzugefügt werden, dass die Tatsache, auf verantwortlich gemachte Weise zu leben, an und für sich, keine Gewähr dafür darstellt, in der Wahrheit zu sein, sie stellt lediglich eine Lebensmethodologie dar, die den Menschen hin zu einer freiheitlichen Dimension führt, worin ihm seine Erfahrungen und seine Fehler jene konkrete Konstruktion gewährleisten können, die wir „Freiheit” nennen und die sich der Wahrheit als mehr oder weniger nahe erweisen mag.

Ein Mensch, der seine Verantwortungen übernehmend lebt, ist kein aussergewöhnlicher Mensch, noch kann er an sich als Anarchist definiert werden, er ist bloss ein Mensch, der die moralische Pflicht des Frei-Lebens anerkennt und die fundamentalen Regeln davon akzeptiert.

Auf diese Weise konstruiert er Tag für Tag seine „Autonomie”, sie auf Gesetze stützend, die er durch seine „Erfahrungen” und jene von anderen experimentiert, aber ohne dass diese obligatorische Referenzpunkte, zwingende Annahmen oder Gesetzesnormen bilden. Meistens, folglich, realisiert sich sein verantwortlich gemachtes Handeln darin, zu tun, was die anderen tun, aber dies ist dennoch stets ein Entscheiden, zu tun, was die eigene moralische Verantwortung für richtig hält, da nicht unbedingt ein Qualitätssprung stattfindet, wenn die eigene moralische Verantwortung für etwas anderes entscheidet als das, was alle tun.

Es ist wichtig, klarzustellen, dass ein Mensch, der blindlings die Befehle eines anderen Menschen akzeptiert, und sie ausführt, ohne sie einer verantwortlich machenden Kritik zu unterziehen, nicht autonom ist, aber deswegen nicht aufhört, für die Handlungen, die er infolge des erhaltenen Befehls begeht, verantwortlich zu sein. Dieses Alibi, das von so vielen Kriegsverbrechern verteidigt wird, entbehrt offensichtlich jeglicher Grundlage. Wer einen Befehl ausführt, ohne ihn einer Kritik zu unterziehen, ist ein Mensch, der seine Autonomie verloren hat, da er aufgehört hat, sich selber verantwortlich zu machen, aber er ist trotzdem vollumfänglich für seine Handlungen verantwortlich.

Es ist logisch, dass es viele Handlungen des menschlichen Lebens gibt, die auf eine andere Ebene übertragen werden als die der persönlichen Verantwortlichmachung, und es ist auch sehr vernünftig, dass dem so ist. Wenn wir zum Doktor gehen und seine Verschreibungen befolgen, wenn wir uns einem Architekten anvertrauen für das Projekt einer Brücke oder eines Hauses, und in vielen anderen Situationen delegieren wir unsere Autonomie in die Hände einer ganz anderen Person, weil wir sie technisch für befähigter halten als uns, gewisse Entscheidungen zu treffen: aber diese Delegation muss infolge des Verlaufs der vollbrachten Taten und der von unserem Delegierten ergriffenen Massnahmen jederzeit widerrufbar sein.

Für einen autonomen Menschen gibt es keine Entscheidungen von anderen, die die Form von „Befehlen” annehmen können. Jedenfalls, wenn ein Polizist, der mit einem blossen Handzeichen meinen Wagen auf der Strasse anhält, gedenkt, mir damit einen Befehl zu erteilen, so lässt mich das völlig gleichgültig, denn ich bin es, der entscheidet, ob ich anhalte oder nicht, da ich mir darüber bewusst bin, dass es um vieles vorteilhafter ist für mich, dies zu tun, anstatt aus keinem triftigen Grund die Konsequenzen einer Verfolgungsjagd, einer Verhaftung oder was sonst noch allem einzugehen. Wenn ich aber triftige Gründe habe, um nicht anzuhalten, dann wird es gewiss nicht jene erhobene Hand sein, die mich davon abhält, und ich werde mich all den Risiken stellen. Letztendlich auferlegt mir diese erhobene Hand nichts, was nicht der gründlichen Prüfung meiner selektiven Kritik unterzogen wurde, nichts, was nicht unmittelbar, im einen oder anderen Sinne, von meinem Bewusstsein beschlossen und vor das Gericht meiner Verantwortlichmachung gebracht wurde. In einem gewissen Sinne ist diese erhobene Hand ein Strassensignal wie ein anderes, dem ich mir gewiss nicht erträume, irgendeine „Autorität” beizumessen.

Der Autoritätsbegriff

Autorität ist die Möglichkeit, die jemand hat, anderen ein gewisses aktives oder passives Verhalten zu befehlen. Sie setzt demnach das Vorhandensein von einer Macht voraus, die eine Befehlsgewalt ermöglicht. Dies ist, weshalb es nicht immer einfach ist, zwischen Macht und Autorität zu unterscheiden. Im Prinzip besteht die Macht aus allen Mitteln, die jemand besitzt, um eine Autorität (sprich eine Möglichkeit, aktive oder passive Verhaltensnormen zu diktieren) auszuüben.

Die politischen Philosophen haben eine etwas andere Unterscheidung zwischen Macht und Autorität gemacht, und die Dinge damit unglaublich verworren. Sie sagen: wenn ein Dieb eine Waffe auf mich richtet und mich zum sofortigen Aushändigen des Geldbeutels auffordert, dann gehorche ich, weil ich einen grösseren Schaden fürchte (den Verlust des Lebens), aber ich gestehe dem Dieb keine Autorität über mich zu, ich gestehe ihm lediglich eine Macht zu (begründet, eben, auf der Waffe, die er in der Hand hält). Wenn mich aber der Staat zum Militärdienst aufruft, oder dazu, Steuern zu bezahlen, oder mir die Pflicht eines Reisepasses auferlegt, um ins Ausland zu gehen, so gehorche ich, weil ich ihm das Recht zugestehe, zu tun, was er tut, sprich, weil ich ihm eine Autorität zugestehe.

Die Überlegung ist falsch. Die Unterscheidung zwischen Macht und Autorität ist von methodologischer und nicht von substanzieller Natur. Ich gehorche dem Staat, der mir vorschreibt, Steuern zu bezahlen, zum Militärdienst zu gehen oder mir einen Reisepass zu machen, weil ich einen grösseren Schaden fürchte (geldlich, persönlich, Gefängnis, usw.), richtig ist also, dass ich dem Staat eine ganz gleiche Macht zugestehe wie dem Dieb, der im Dunkel der Nacht eine Pistole in der Hand hält, und eine nicht andere Autorität als jene, die dem Dieb von seiner Pistole zukommt.

Auf diese Weise haben wir zwei Resultate erhalten: zuerst haben wir die Bedeutungen von Autorität und Macht verschmolzen, indem wir den Sinn des ersteren Wortes nutzlos machten, wenn es nicht von der Anwesenheit des zweiteren begleitet wird, dann haben wir die Bedeutung von Macht auf jene eines Instruments reduziert, das der Autorität zur Verfügung steht, damit sie realisieren kann, was, anderenfalls, toter Buchstabe bleiben würde.

Wenn wir unsere einfache Überlegung in den Bereich der Politikwissenschaft übertragen, dann resultiert daraus, dass der Staat nicht eine Organisation ist, welcher innerhalb von einem Territorium eine höchste Autorität „zugestanden” wird von jenen, über die diese Autorität ausgeübt wird, sondern diejenige Organisation, welche die geeigneten Mittel (die entsprechende Macht) besitzt, um in einem bestimmten Territorium die stärkste Autorität über jene auszuüben, die, um ein grösseres Übel zu vermeiden, darin enden, sie anzuerkennen.

Es ist nicht dies der Ort, um zu untersuchen, wie diese „höchste Autorität“ zustande kommt und welches die Bedingungen sind, die ihre mannigfachen Umgestaltungen im Verlaufe der Jahrhunderte regulieren, sprich, unter welchen realen Bedingungen die autoritären Institutionen gezwungen waren, sich umzugestalten, um zu überleben und die Autorität auffechtzuerhalten. Wir brauchen bloss zu sagen, dass in all den sogenannten demokratischen politischen Philosophien präexistente Begriffe aus den absolutistischen politischen Philosophien entliehen wurden. Der Begriff der „Volkssouveränität“, zum Beispiel, ist klar dem für die Monarchie typischen Begriff der Souveränität entliehen. Man ist, in anderen Worten, willentlich auf der falschen Seite der Barrikade geblieben. Das Volk ist auf die Strassen gegangen, hat unzählige Male die Tyranneien gestürzt, indem es seinen Blutzoll bezahlte, und unzählige Male haben die Diener der Macht, die Jakobiner und Demokraten, dieselbe Suppe wieder neu vermischt und Lösungen geliefert, die nur scheinbar neu waren. Das, was, vor allen Dingen, bewahrt werden musste, war die Ordnung und die Macht, die sich daraus ableitet, anschliessend wurde über Forderungen, über Verbesserungen usw. diskutiert.

Die andere Autorität, diejenige, die nicht an das repressive Instrument der Macht gebunden ist, die wahrhaft demokratische, von den assoziativen Basisorganismen elaborierte, diejenige, die aus den Diskussionen der Versammlungen hervorgeht, ist nicht berücksichtigt worden. Und sie ist es, worauf wir die Aufmerksamkeit legen müssen.

Ich kann nämlich, wenn ich vor einem neuen Problem stehe, von ausserhalb zwei „Mitteilungen” erhalten: eine, von autoritärer Art im traditionellen Sinn, die mir, in möglichst knapper Form, sagt, was ich zu tun habe, es vermeidend, mir zu erklären, weshalb ich etwas tun soll und was die Konsequenzen dessen sind, was ich tun soll, und eine andere, von assoziativer Art im neuen und revolutionären Sinn, die mir lediglich die Gelegenheit liefert, damit ich mit dem mir unbekannten Problem in Kontakt komme, mir gleichzeitig Erläuterungen erteilend über das Wieso und die Konsequenzen dessen, was ich tun soll. Die erstere Mitteilung entspräche dem autoritären Verhalten, die zweitere dem demokratischen. Es muss hinzugefügt werden, um einer leichten Kritik vorzubeugen, dass dieses letztere Verhalten, um wirklich demokratisch zu sein, nicht bloss in der Entscheidung bezüglich einem gewissen Problem, sondern auch was die Wahl des Problems selber betrifft, dasselbe Verfahren anwenden muss.

Interessante Studien in diesem Sinne sind während des letzten Weltkriegs vom Sozialpsychologen Kurt Lewin in den Vereinigten Staaten gemacht worden. Es handelte sich darum, die amerikanischen Hausfrauen davon zu überzeugen, Geflügelinnereien anstatt des Fleisches zu gebrauchen, welches, seinerseits, für die Rationen der Armee verwendet wurde. Es wurden erklärende Konferenzen organisiert und, zur gleichen Zeit, Versammlungen, zu welchen eine gewisse Anzahl von Frauen „demokratisch” eingeladen wurde, um über das besagte Problem zu diskutieren. Es zeigte sich, nach einer bestimmten Zeitspanne, dass die Resultate, die mit den demokratischen Versammlungen erlangt wurden, viel bedeutender waren als jene der „autoritären” Konferenzen, also derjenigen nach klassischer Art (ein Fachmann, der vom Rednerpult herab die Art und Wichtigkeit erklärt, die Geflügelinnereien zu verwenden). Eine interessante Kritik an diesen Studien besteht darin, dass es nicht die „demokratischen” Gruppen selber waren, die über das zur Diskussion stehende Argument entschieden, sondern das Argument von einer präexistenten Autorität vorgegeben wurde, was das demokratische Verfahren der Diskussion nichtig machte, auch abgesehen vom sehr korrekten Einwand von Karl Mannheim, der, diesbezüglich, darauf hinwies, wie einfach es auf diese Weise sei, die Leute davon zu überzeugen, die Produktion von Butter (beispielsweise) durch jene von Kanonen zu ersetzen, und dennoch äusserlich die demokratische Struktur aufrechtzuerhalten.

Mit dem demokratischen Verfahren befinde ich mich, in der Versammlung, mit dem Problem in Kontakt, während so noch immer ein Prozess von autoritärer Natur realisiert wird – mit dem Gefährten, der in diesem Problem bewanderter ist als ich aber von einer Autorität, die wir als „persuasiv” definieren könnten, und die nicht über ein Instrument verfügt, das fähig ist, sich in eine „zwingende” Autorität zu verwandeln, sie ist, demnach, ohne Macht im vorhin betrachteten Sinne.

Die Vertrautheit und die Erziehung zu dieser Art von Autorität werden mich in die Lage versetzen, die anfänglichen persönlichen Defizite zu beheben und auf immer aktivere Weise am Lösungsprozess der Probleme teilzunehmen.

Dieses Schema, das wir Umrissen haben, dient, offensichtlich, als Rahmenüberblick des politischen Verhaltens von einem Individuum, das in Gesellschaft lebt, doch in der Realität sieht sich der Mensch gezwungen, in spezifischen historischen Situationen zu kämpfen, die ihn in einen bestimmten Kontakt mit der Autorität stellen. Denn, auch die despotischste Autorität liefert der Welt Gründe, um ihre Befehle zu befolgen, und Gründe, um sie zu bekämpfen. Darin liegt die Schwierigkeit der Lösung des politischen Problems und des revolutionären Kampfes. Ja, wir können sogar hinzufügen, dass, während allmählich vom autoritären zum possibilistischen sozialdemokratischen Regime übergegangen wird, und die Gründe, um der staatlichen Autorität zu gehorchen, zunehmen, die Gründe, tun sie zu bekämpfen und zu zerstören, immer schwieriger auszumachen werden.

Das so abgeschundene Problem der politischen Philosophie, das darin besteht, was denn die Pflicht der Person begründet, der Autorität zu gehorchen, interessiert uns nicht. Das ist ein absurdes Problem. Wichtig ist, zu untersuchen, inwiefern die Gründe, die ein Mensch haben mag, um der Autorität zu gehorchen, begründet sind oder nicht, und dieses Problem haben wir in Zusammenhang mit demjenigen der Verantwortlichmachung gestellt. Die politischen Philosophen, angefangen bei Kant, haben sich mit dem sympathischen Mechanismus der „Deduktion” herausgezogen, sie sagen: wenn es einen Hund gibt, so kann der Begriff Hund verwendet werden, und aus demselben Grund kann, wenn es jemanden gibt, der einer gesetzlichen Autorität gehorcht, der Begriff der gesetzlichen Autorität verwendet werden. Eine absurde Argumentation, wie jeder sehen kann, gültig, um einen Sachverhalt zu veranschaulichen, aber sicherlich nicht gültig, um die Legitimität von dieser Autorität zu begründen und, was noch viel schlimmer ist, um diesen Begriff von Legitimität aus dem Geschlossenen der Bibliotheken heraustreten zu lassen und ihn auf die Strassen zu tragen, den Tod von Millionen von Menschen verursachend und an der Ausbeutung der anderen mitwirkend.

Autorität und Autonomie im assoziierten Leben

Der Mensch ist berufen, viel komplexere Probleme anzugehen als die spezifischen des individuellen Lebens, Probleme, die im Allgemeinen dem Leben in Gemeinschaft angehören, Probleme von politischem Charakter. Für die meisten Menschen präsentiert sich die „Gemeinschaft” als etwas Äusserliches und Feindliches, als etwas, das sich konkret unter dem Aspekt von Bürokratie und Tradition realisiert. Der Staat, mit all seinen mannigfachen Zwangsaspekten, die Kultur, mit all ihren auf der Tradition begründeten konservativen Aspekten, enden darin, vor dem Einzelnen ein – fast immer unüberwindliches – Hindernis aufzubauen, das ihn von einer Bewusstwerdung und somit von einer Verantwortlichmachung seiner selbst trennt. Auf diese Weise konstruiert sich jeder eine Binsenethik, meist zusammenfassbar in einem Konzept von Gehorsam gegenüber gewissen Vorschriften, gegenüber gewissen Personen, welche die Autorität in unmittelbarerer Form zur Gerinnung bringen, oder gegenüber gewissen Leitsätzen von allgemeiner Natur.

Bezüglich dem politischen Aspekt des Problems der moralischen Autonomie muss gesagt werden, dass er darauf hinausläuft, alle anderen Bereiche, alle anderen Sektoren für sich zu interessieren, weshalb die Möglichkeit eines Menschen, der sich in seinem tagtäglichen Leben verantwortlich macht und dem politischen Engagement völlig fremd bleibt, rein theoretisch wird.

Daraus leitet sich als Erstes ab, dass die politische Autonomie, und somit die politische Verantwortlichmachung des Einzelnen, eine Angelegenheit ist, die an die Bewusstwerdung über gewisse Tatsachen, an die Dokumentierung, an die Entwicklung gewisser kritischer Fähigkeiten und an die Aufrechterhaltung gewisser Umweltkontakte gebunden ist. Es ist, in der Tat, ziemlich deutlich, dass die moderne demokratische Macht, von parlamentarischer Form, auf der Unwissenheit und auf der Apathie der Massen beruht, Charakteristiken, die mit einer ganzen Reihe von Initiativen und Verdrehungen sorgfältig genährt werden. Es handelt sich dabei um die Tätigkeit zur Instandhaltung der tragenden Strukturen des Systems, welche durch sehr verschiedenartige Kanäle ausgeübt wird, die vom Sport bis zur journalistischen Information, von der schulischen Bildung bis zum Fernsehen, usw. reichen. Mit diesem schwerwiegenden Problem, das bisher kaum vertieft wurde, habe ich mich vor einigen Jahren beschäftigt. (Vgl. La distruzione necessaria, erste Ed. Catania 1968, zweite Ed. Triest 2003).

Die gegenwärtige Situation des fortgeschrittenen Kapitalismus erfordert derartige Informationslevels, die es, für den gewöhnlichen Menschen, ohne eine beträchtliche Anstrengung nicht einfach ist zu erlangen. Die bürokratische und technologische Struktur ist derart komplex, dass sie die Möglichkeit zur Autonomie des Einzelnen ernsthaft gefährdet. Schauen wir uns die demokratische Lösung an: die Menschen können nicht gedenken, autonom zu sein, solange sie sich nicht eine Regierung geben, die aus ihnen selbst besteht, eine Regierung, die nicht über dem Volk oder für das Volk steht, sondern eine Regierung, die aus dem Volk besteht. Auf diese Weise wären die Anordnungen von dieser Regierung legitim, denn es wäre das Volk selbst, welches sie gibt. Es würde sich dabei um einen Übergang vom Begriff der Autonomie des Einzelnen zum Begriff der kollektiven Autonomie von mehreren Einzelnen handeln.

Theoretisch müsste die demokratische Lösung von der direkten Demokratie ausgehen, jeder Einzelne äussert sich über jede Massnahme und jedes Gesetz, indem er sein Einverständnis oder sein Nichteinverständnis gibt. Aber in Wirklichkeit, einmal abgesehen von den theoretischen Fragen, die eine Anwendung von diesem Mittel auf breiter Skala unwahrscheinlich machen, bleibt die Tatsache, dass die Entscheidung des Einzelnen über das einzelne Gesetz im Moment abgeschnitten bleibt vom nachfolgenden Moment, demjenigen der zwingenden Anwendung des Gesetzes, welche einem Organismus übertragen wird, der, eigens dafür, mit einer Macht betraut wurde, die ganz anders ist als die Entscheidungsmacht, die zur Annahme der Zweckmässigkeit des Gesetzes führte.

Sicher, es könnte sich auch die Tatsache ereignen, dass sich der Einzelne, vor der Pflicht des Gesetzes stehend, autonom, aus dem schlichten Grund, dafür gestimmt zu haben, gebunden fühlt, auch wenn ihn die zwingenden Folgen des Gesetzes, im nachfolgenden Moment, aufgrund von unvermutet aufgetretenen Veränderungen in seinen persönlichen Interessen, schädigen anstatt begünstigen: aber dabei handelt es sich um eine nebensächliche Anmerkung.

Die wahrscheinlichste Lösung wäre hingegen ein beständiger Konflikt zwischen Pflicht und Interesse, welcher die Gemeinschaft in derartige Bedingungen stürzt, dass der Eingriff der Instrumente, welche zur zwangsmässigen Anwendung des Gesetzes geschaffen wurden, erforderlich wird. Von dem bis zur Ausformung des Gesetzes oberhalb der Autonomie der Einzelnen wäre der Schritt recht klein: die substanzielle Transformation eines Rechtsstaates in einen Gewaltstaat.

So sind wir also bei der Lösung der repräsentativen Demokratie. Mit ihr werden einige Hindernisse überwunden: jenes der Zeit, die es den politischen Angelegenheiten zu widmen gilt (nicht alle haben verfügbare Zeit dafür), jenes der erforderlichen technischen Kenntnis, jenes der ausserordentlich grossen Anzahl Personen, die über jede einzelne Massnahme befragt werden müssten. Es handelt sich dabei um Hindernisse, die in Wirklichkeit nicht existieren und die absichtlich aufgebauscht werden von denjenigen, die persönlich an der Realisierung der Delegation, der Macht interessiert sind. Im Grunde müssten alle die Zeit haben, um sich den politischen Problemen zu widmen, und das Leben von heute lehrt uns, wie – im Moment der Verantwortlichmachung – unsere ganze Existenz von der politischen Dimension gezeichnet ist, dasselbe liesse sich darüber sagen, was die erforderlichen technischen Kenntnisse betrifft, es sei denn man will die Dimension der kapitalistischen Gesellschaft berücksichtigen, welche von der klassischen Unterteilung in manuelle Arbeit und intellektuelle Arbeit gezeichnet ist. Was, letztendlich, das Problem der Zahl der zu befragenden Individuen betrifft, so ist auch dieses inexistent, wenn einmal vom assoziativen, föderativen und dezentralisierten Konzept der ökonomisch-sozialen Struktur der Gesellschaft der Zukunft ausgegangen wird.

Das Problem jedoch, das uns beschäftigt, ist folgendes: kann die repräsentative Demokratie die Autonomie des Einzelnen gewährleisten und, wiederum, kann sich ein verantwortlich gemachter Mensch verpflichtet fühlen, Gesetze zu respektieren, die von anderen verabschiedet wurden, wenn auch von ihm dazu delegiert?

Der Delegationsbegriff

Wenn sich eine Person ausserstande sieht, über ein Argument seines Interesses eine eigene Meinung auszudrücken oder irgendeine Entscheidung zu treffen, dann kann sie jemand anderen dazu delegieren, dies für sie zu tun, indem sie die Grenzen des übertragenen Mandats ausführlich darlegt.

Wir stehen vor dem Repräsentations- oder Delegationsbegriff, der, in seiner ursprünglichen Vorstellung, eben die Wahrung der Autonomie des Einzelnen gestatten sollte.

Aber die Grenzen der Prokura in der klassischen Form sind zu beschränkt, um uns zu erlauben, sie im parlamentarischen Mandat ausmachen zu können. Denn, was leitet meine Wahl eines Kandidaten ins Parlament? Gewiss nicht die präzisen Indikationen und die Details über alle zukünftigen Gesetze, die dieser Kandidat verabschieden wird, die ich nicht kenne und die auch er nicht kennt, einzig sein politisches Programm bildet die Grundlage für meine Entscheidung, eine sehr ungewisse und vage Grundlage, um mit den präzisen und umschriebenen Grenzen des Vertretungsmandats gleichgesetzt werden zu können. Wenn wir uns dann die nebulöse Inkonsistenz von allen politischen Programmen der Parlamentarier bewusst halten, so sehen wir, wie es eben diese Gehaltlosigkeit ist, welche den Mechanismus selbst der Wahlen ermöglicht, die Ideen der Menschen verwirrend, sie gewaltsam in starre Schemen (Parteien) kanalisierend, welche sich an ideologische Entscheide anlehnen, die so generisch sind, dass sie sich zu jeglicher Bekehrung im einen oder anderen Sinn bereit erweisen.

Nun, wenn dieses repräsentative System das war, was in einigen europäischen Ländern vor der französischen Revolution in mehr oder weniger klaren Formen herrschte (zum Beispiel wurden die „Generalstände” von 1789 auf Basis des repräsentativen Systems einberufen), so entwickelte sich mit der verfassungsgebenden Versammlung von 1791 das Prinzip der Volkssouveränität, welches noch heute den modernen demokratischen Staaten zugrunde liegt. Schauen wir uns an, was die direkten Folgen davon sind. Zunächst einmal war dieser Souveränitätsbegriff nicht der, der von Rousseau als Summe der einzelnen Souveränitätsparzellen, die jedem Staatsbürger individuell zustehen, theoretisiert wurde, sondern der der „Souveränität der Nation”, verstanden als etwas Einheitliches und Untrennbares, wenn auch Abstraktes. Tatsächlich liest man in der Erklärung der Menschenrechte von 1789 im Art. 3: «Der Ursprung jeder Souveränität ruht letztlich in der Nation.» Es soll also die Nation sein, die ein oder mehrere repräsentative und gewählte Organe delegiert, welche, auf diesem Weg, zwingende Macht erhalten, um dafür zu sorgen, dass die verabschiedeten Gesetze in allen Fällen und an allen Orten ausgeführt werden. Die traditionelle Konzeption, dass jeder Gewählte eine einzelne soziale Gruppe oder eine einzelne Gemeinschaft vertritt, wurde durch das Konzept ersetzt, dass es die ganze Nation sei, welche den Einzelnen wählt, und dass die Aufteilung in Wahlkreise und Distrikte lediglich eine technische Vorkehrung sei, um den Wahlmechanismus durchzuführen.

Hier liegt der Kern des Problems. Gesetzt die Unmöglichkeit eines ganz präzisen Mandats, gesetzt, dass die Beschlüsse im Parlament im Namen der Nation getroffen werden und somit für den Einzelnen, unabhängig von seiner persönlichen Meinung, zwingend sein werden, Einzelner, der sich dadurch seiner Autonomie und Verantwortung beraubt sehen wird, gesetzt, dass es keinen anderen Weg gibt, um jene moralische Verpflichtung zu gewährleisten, welche, erforderlich für das Leben in Gesellschaft, einzig in der Entscheidung des Einzelnen freiheitlichen Ursprung finden kann, so kann das demokratische Instrument, verstanden in Form von repräsentativ-parlamentarischer Delegation, nicht gebraucht werden, und muss es mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln kritisiert, angegriffen und boykottiert werden.

Daraus folgt, als direkte logische Ableitung, dass ich mich, da ich mich von den Parlamentariern, welche die Gesetze machen, nicht repräsentiert fühle, auch nicht moralisch verpflichtet fühle, diese Gesetze zu befolgen, denn sie wurden, in meinem Namen, von jemandem verabschiedet, der nicht in präziser Form delegiert wurde.

Es ist keine unbedeutende Tatsache, nämlich, dass das Parlament, in den modernen konstitutionellen Staaten, eine ihm eigene juristische Konsistenz, eine Persönlichkeit hat, die es ungeachtet seiner Zusammensetzung und der politischen Farbe, die es charakterisiert, als existent als Organ des Staates anerkennt. Ist die Delegation substanziell verschwunden, verabschiedet das Parlament die Gesetze derart, dass in den Gesetzen nicht die Allgemeinheit der Staatsbürger widergespiegelt wird, sondern bloss die Allgemeinheit der Komponenten des Parlaments selbst. Auf diese Weise ist der Staatsbürger verpflichtet, in rechtswidriger Form die Gesetze zu befolgen, ein wahrer Missbrauch, der mit Gewalt vonseiten des Parlaments mittels der Exekutivorganismen realisiert wird, denn das Parlament alleine müsste verpflichtet sein, sie zu befolgen.

Auf diese Weise werden die Staatsbürger zu Untertanen des Parlaments, das, in einem anderen Kleid und auf einem anderen Weg, dahin gelangt, dieselbe Position einzunehmen, wie sie der Monarch innehatte.

Zwischen einem Parlament, das Gesetze verabschiedet, über welche die einzelnen Wähler niemals eine Meinung bekundigt oder eine Wahl getroffen haben, und einer wohlwollenden Diktatur oder einer ebenso wohlwollenden Wahlmonarchie, die ihre Entscheidungen treffen, ohne die Staatsbürger zu befragen, existiert keinerlei Unterschied.

Kritik der politischen Repräsentanz

Die Diener des Systems haben rechtzeitig dafür gesorgt, Theorien auszuarbeiten, um die „besondere“ Art von Mandat zu rechtfertigen, welches jenes ist, das für die politische Repräsentanz typisch ist. Es gibt verschiedene Thesen. Sie alle gehen von der Voraussetzung aus, dass es sich um ein ganz anderes Mandat handelt als das „normale” der direkten Delegation. Schauen wir sie uns genauer an.

Eine erste Theorie behauptet, dass das Parlament nicht als ein passives Organ des Willens der Wähler betrachtet werden kann, sondern ein unabhängiges Leben haben muss, wie jenes der anderen Organe des Staates, weshalb es sich nicht als zusammengesetzt aus den Repräsentanten des allgemeinen Durchschnitts und der Kultur des Wählerkörpers erweist, sondern aus Menschen, die ihr bemerkenswert überlegen sind, sprich aus den besten Elementen, welche die Nation in einem bestimmten historischen Moment zu bieten hat. Auf diese Weise hätte man also nicht eine Entscheidung auf der Grundlage eines Mandats, das es zum Abschluss zu bringen gilt, sondern auf der Grundlage der Fähigkeit. Die Absurdität von dieser Theorie ist offenkundig. Zunächst einmal sagt sie uns nicht, weshalb denn jene Handvoll Menschen eine dem Rest der Gemeinschaft übergeordnete Macht haben sollte, gesetzt, dass die blosse These der Fähigkeit vom moralischen und juristischen Standpunkt aus nicht ausreicht. Nichts sagt uns diese Theorie über das Verhältnis zwischen Repräsentanten und Repräsentierten und über das Los der legitimen Erwartung von letzteren, welche sich offensichtlich, bloss aufgrund der simplen Tatsache (gehen wir ruhig davon aus), die besten Männer ausgelesen zu haben, nicht befriedigt fühlen können. Was schliesslich die Fähigkeit von diesen letzteren betrifft, so lohnt es sich nicht wirklich, darüber zu diskutieren, denn alle wissen sehr wohl, wie die Selektion erfolgt und was für Geschäftemacher und Intriganten die überwiegende Mehrheit von jenen ausmachen, die im Parlament sitzen, aber dabei handelt es sich um eine Kritik von individualistischer Natur, die unwichtig ist.

Eine zweite Theorie sagt uns, dass der Zweck des Parlaments darin besteht, das Volk mit dem Staat in Verbindung zu halten, weshalb das Mandat sui generis und ohne Vertretung sei. Diese Theorie beschränkt sich darauf, zu sagen, was in Wirklichkeit geschieht: das Volk wird auf dem Papier vertreten, die Verbindung zwischen Volk und Staat wird offiziell gewährleistet, aber alle Formen der Repression und der Ausbeutung sickern durch sie hindurch. Auch diese Theorie kümmert sich nicht um die Frage, wieso die Vertretenen von diesem Mandat sui generis verpflichtet sein sollten.

Eine andere Theorie behauptet, dass die Gewählten nicht Inhaber eines Organs „des Volkes”, sondern hingegen eines Organs „des Staates” sind, weshalb ihre Inhaberschaft ihren Ursprung in der Verfassung und nicht im Volkswillen findet. Letzterer stellt ein rein technisches Instrument dar, um die Formation des Organs zu ermöglichen. Der Wählerkörper, indem er seine Vertreter bestimmt, nominiert daher nicht Mandatare mit der Aufgabe, seine Rechte geltend zu machen, sondern übt, im Gegenteil, eine ihm vom Staat gegebene Befugnis aus, die gesetzgebenden Versammlungen zu formen. Diese Theorie, welche die durchgehend Akzeptierte ist, beseitigt mit einem Schlag jegliche Verbindungsmöglichkeit zwischen Wähler und seinem Vertreter, während sie den zwanghaften und despotischen Charakter der sogenannten Volksdemokratie vollumfänglich offenbart.

Die Vertretung des Willens, die alleine die Demokratie auf das wirkliche Recht gründen konnte, wird durch die Vertretung der Meinungen ersetzt, die im magischen Schmelztiegel der Parteien elaboriert werden. Der Einzelne verschwindet, um eingetaucht in die grossen Gezeiten der Ideologien und die von den Berufspolitikanten geschickt manövrierten Überbauten hervorzukommen.

Verteidigungsthesen der Unterstützer der parlamentarischen Demokratie

In den letzten Jahrzehnten wohnte man, infolge des Anwachsens der technologischen und militärischen Strukturen der modernen Staaten, insbesondere derjenigen, die sich mit dem Titel von demokratischen Staaten rühmen, einer Zunahme der „geheimen” Macht von jenen Organismen bei, welche Entscheidungen treffen, worin nicht einmal mehr die Fassade einer Befragung der Basis gewahrt wird. Nicht nur, aber die technische Komplexität selbst der anzugehenden Probleme hat die Schlüsselentscheide in die Hände von wenigen Personen reduziert, Entscheide, die Millionen von Individuen einbeziehen und sie dazu verpflichten, bestimmte Akte zu begehen, wozu ihre Meinung niemals gefragt worden ist.

Die Verteidiger dieses Zustands der Dinge schlagen grosso modo drei Theorien vor: a) es findet eine regelmässige Wahl statt, die vom Volk ausgeübt wird, b) es ist nicht denkbar, dass die Regierenden Zwecke verfolgen, die in Kontrast zum Wohl der Kollektivität stehen, c) es besteht jederzeit die Möglichkeit, das Mandat in der nächsten Legislaturperiode zu widerrufen.

Wie man sieht, der Diskurs beginnt, sich im Kreis zu drehen. Nichts wird gesagt bezüglich der effektiven Möglichkeiten des Einzelnen, in die parlamentarischen Entscheide im Laufe der Lebenszeit des Parlamentes einzugreifen, er kann sich bloss, am Schluss, einen anderen Kandidaten und eine andere politische Linie suchen, aber diese Möglichkeit muss er wirklich haben, ansonsten wird alles wieder wie vorher, es ändern sich die Personen, aber das System bleibt dasselbe.

Betrachten wir nun, inwiefern es unmöglich ist, einen Kandidaten zu finden, der die Ideen des Einzelnen über eine gewisse Anzahl Probleme, die grösser ist als zwei, und seien es auch noch so kleine, vollumfänglich zum Ausdruck bringt. Das, was nämlich in den Wahlkampagnen zählt, ist die politische Linie, die von der Partei des Kandidaten festgelegt wurde, seine Versprechen zur Lösung von gewissen Problemen sehen nur in Abhängigkeit von jener Parteilinie Licht. So hat man also, dass sich, wer abstimmt, weniger dafür interessiert, die einzelnen Probleme auszumachen, wie sie von dem einzelnen Kandidaten vorgenommen werden, sondern sich viel mehr dafür interessiert, wie diese Probleme in der Strategie der Partei Platz finden. Wenn wir im Wähler ad absurdum, was schliesslich keineswegs der Wahrheit entspricht, eine klare Vorstellung des Parteiprogramms annehmen, so resultiert daraus, dass dieser letztere in seinen Entscheidungen eine Wahl getroffen hat, dass er seine Urteilsautonomie, und somit seine Verantwortlichmachung, an die von der Partei festgelegte Linie abgegeben hat. Zu einem Parteimensch geworden, hört er auf, autonom zu sein. Auf diese Weise stellt er sich in Abhängigkeit der Partei und, durch diese letztere, aufgrund der Entscheidungen, die an jenem Ort in Mehrheitsform getroffen werden, wird er sich in Abhängigkeit des Parlaments stellen.

Wir haben also eine doppelte Abhängigkeit. Die erste, von der Partei, aufgrund der Unmöglichkeit, die Meinung der einzelnen Kandidaten über alle Probleme, die den Einzelnen betreffen, zu evaluieren, die zweite, vom Parlament, aufgrund der Tatsache, dass es die Abgeordneten sein werden, welche die definitiven Entscheide über die verschiedenen Probleme treffen, während sie den Einzelnen nicht mehr befragen.

Sicher, viele Militante der sogenannten revolutionären Parteien, oder Pseudo-Solchen, mögen diesen Diskurs merkwürdig finden, mögen zum Beispiel eine unpräzise Trennung zwischen Parteien des Volkes und reaktionären Parteien finden, mögen den rechten Flügel und den linken Flügel des parlamentarischen Lagers zusammengelegt finden, mit all den theoretischen und praktischen Konsequenzen, die das mit sich bringt. Es ist hier nicht unsere Absicht, das Problem der Ideologien und davon, was geschieht, wenn diese letzteren einmal in den parlamentarischen Possibilismus eingetaucht werden, zu vertiefen. Wir müssen, dennoch, über das Problem, das aufgeworfen wurde, Rechenschaft ablegen.

Die proletarische revolutionäre Ideologie, diejenige, die von der Erwägung ausgeht, dass die ausgebeutete Masse, auf autonome Weise, über ihre Ausbeutung Bewusstsein erlangen und sich emanzipieren muss, ist ein gültiges Instrument zum Zusammenhalt der Massen und führt das revolutionäre Proletariat zu den letzten Entscheidungen seines emanzipatorischen Schicksals, aber sie hat, als intrinsische Komponente, nicht das offizielle Kleid einer Partei, und umso weniger das offizielle Kleid einer Partei, die sich am Wahlwettkampf beteiligt. Die emanzipatorische revolutionäre Ideologie, als Element zum Zusammenhalt und zur Ausrichtung hin zur Bewusstwerdung der Massen, bleibt, falls sie von einer Bande von Schwindlern (oder von Illusionisten) als Leitfaden einer Partei übernommen wird, die an die bourgeoise Reaktion verkauft wurde, nur auf dem Papier, in der leeren Bedeutung der Worte eine solche, in der Substanz verliert sie jene präzise Aufgabe, während sie sich im grenzenlosen Meer des Possibilismus und des Opportunismus verflüssigt.

Der Basismilitante der revolutionären Partei mag noch immer in gutem Glauben sein, doch die bürokratischen Kader seiner Partei sind es mit Sicherheit nicht. Es ist diese Machtelite, welche, das ideologische Schild voranstellend, die Unterstützungen der Basis einsammelt, um die revolutionären Kräfte ins Meer der Vergessenheit zu geleiten.

Die Reaktion, insbesondere in den demokratischen Staaten, ist nicht bloss die scheele Figur des Faschisten, sondern auch die sympathische Figur des Reformisten, der, sich in die Worte des üblichen revolutionären Vokabulars hüllend, im Grunde die Ausbeutung auf sehr viel effizientere Weise unterstützt als es der Faschist in der Stumpfsinnigkeit seiner Position tut.

Was nach einer eitlen Polemik schien, geführt im Namen von einer Autonomie und einer Freiheit des Einzelnen, welche als individualistische und folglich gegenüber den Erfordernissen der Massen zu verurteilende Tatsachen betrachtet werden, tritt hier, in der Klassenüberlegung, in makroskopischer Form zutage. Die Aberkennung der Bewusstwerdung, der Autonomie, und der Verantwortlichmachung des Einzelnen, gekoppelt mit der Praxis der Delegation der Macht und der Entscheidungen, mit der Verweigerung von jeglicher Anstrengung, die politische Realität zu verstehen, führen gemeinsam zur Unmöglichkeit der Emanzipation, zum Scheitern aller revolutionären Versuche, und zur Wiederbekräftigung der reaktionären Grundlage des Reformismus.

Sich zu weigern, beim Menschen zu beginnen, bedeutet, den Begriff selbst von Klasse verschwinden zu sehen, während man mit einem – wenn man so will für gewisse Zwecke effizienten – Instrument zurückbleibt, welches jenes der einsamen Avantgarde ist, die früher oder später darin endet, im eigenen ausschliesslichen Interesse und auf dem Rücken der Ausgebeuteten zu arbeiten.

Über die Möglichkeiten einer modernen direkten Demokratie

Die Verfechter der repräsentativen Demokratie gestehen oft ein, dass diese politische Form viele Beschränkungen hat, aber dass es keine andere Möglichkeiten gibt, eine demokratische Organisation zu konstituieren. Die Hypothese der direkten Demokratie müsse schlichtweg verworfen werden, weil sie unmöglich zu realisieren ist.

In dieser Behauptung gibt es zwei Aspekte, ein erster Aspekt hält sich die Situation als das vor Augen, wie sie heute ist, eine Situation, worin grosse bürokratische Konstruktionen, die man Staaten nennt, die untätige Komplizenschaft der Massen brauchen, um die Herrschaft der wenigen über viele fortzusetzen, und diese Komplizenschaft, die finden sie eben im Wahlsystem. In der Tat ist ein moderner Staat, von reformistisch-sozialdemokratischer Natur, der auf der direkten Demokratie beruht, undenkbar, gesetzt den Fall, dass letztere unter diesen Bedingungen technisch möglich wäre. Man hätte ein absolutes Chaos. Heute würde ein Gesetz mit einer gewissen Ausrichtung verabschiedet, und nächste Woche würde ein anderes mit einer diametral entgegengesetzten Ausrichtung verabschiedet. Heute wäre man glühende Militaristen, und morgen überzeugte Antimilitaristen, heute würde man einem breiten Programm für den Bau von Spitälern zustimmen, und morgen müsste das Programm gestoppt werden, weil diese Gelder zur Fabrikation von militärischen Geräten storniert werden.

Doch es gibt einen anderen Aspekt, derjenige der künftigen Gesellschaften, einer Gesellschaft, worin die Entscheide von allen getroffen werden, mit der Methode von eben der direkten Demokratie. In dieser Perspektive gibt es, laut den Verfechtern der repräsentativen Demokratie, einzig das technische Hindernis. Doch, auch dies ist nichts anderes als ein falsches Problem. Die Produzentenverbände, föderiert in breiteren Organisationen, werden über alle Probleme ihre Ansichten ausdrücken können, was, in den Einzelnen, eine genaue Evaluierung der diversen günstigen und ungünstigen Möglichkeiten erlaubt. Es stimmt durchaus nicht, dass die meisten sich nicht für Politik interessieren. So ist es heute, weil die Politik für die meisten etwas Konfuses und Fremdes ist, weil sie von Spezialisten gemacht wird, die das, was sie tun, undurchsichtig halten wollen, um ihre Herrschaft besser fortzuführen. Wenn alles durchsichtig wird, würde jeder nicht nur sein Interesse an der Politik finden, sondern sich als das entdecken, was er tatsächlich ist: das Mitglieder einer Kollektivität der Probleme, für die er sich unmöglich nicht interessieren kann. Der Platz, welcher heute von den verschiedenartigen Zeitvertreiben und Sportveranstaltungen von passiver Art besetzt wird (siehe zum Beispiel der Fussball), würde, in einer anderen Gesellschaft, von der Diskussion und der Vertiefung der politischen Thematiken besetzt.

Auch der technische Aspekt, davon, simultan eine grosse Anzahl von Antworten über verschiedene Argumente zu haben, um es den föderalen Organisationen zu erlauben, die Entscheidungen der einzelnen Assoziierten zu kennen, ist heute, beim gegenwärtigen Entwicklungsstand der Elektronik [1974], kein Problem.

Nur dass die föderalen Entscheide auf diese Weise nicht zwingenden Charakter haben werden, weil von der zentralisierten Organisation erlassen, sondern verpflichtenden Charakter von moralischer Natur haben werden, weil den Entscheidungen entsprechend, die von den Einzelnen getroffen wurden, mit einem Einwand, den wir sogleich betrachten werden.

Das Problem der Mehrheit und der Minderheit

Dieses Problem ist sehr tiefgreifend, und wenn es nicht sorgfältig untersucht wird, läuft es Gefahr, die ganze theoretische und praktische Konstruktion des Anarchismus zu verunmöglichen.

Die Anarchisten verneinen den politischen Nutzen der Abstimmung, wenn sie ein Mittel ist, um jemanden dazu zu delegieren, zu handeln, um eine Macht über dem Volk zu bilden, sich auf das Alibi stützend, dass es das Volk selbst war, welches sie, mittels der Abstimmung, legitimiert hat. Aber sie halten die Abstimmung für unabdingbar, wenn sie nicht dazu dient, Bosse zu ernennen, sondern die eigene Meinung zum Ausdruck zu bringen.

Sicher, wie Malatesta darauf hinweist, es gibt Anarchisten, die «die Form mit der Substanz verwechseln», sie sind gegen die Abstimmung im Generellen und somit auch gegen diese zweitere Art, die Abstimmung zu verstehen. Aber dadurch blockiert man jegliche Initiative der Basis, ausser im Grenzfall der Einstimmigkeit. Eine kleine Gruppe von Individuen, auch ein einzelner Mensch, kann alles blockieren, und Jahre der Anstrengung und Aufopferung zerstören.

Malatesta schreibt: «Ich behaupte, dass kein soziales Leben möglich wäre, wenn tatsächlich nie etwas zusammen getan werden dürfte, ausser wenn alle einstimmig einverstanden sind. Dass die Ideen und Ansichten sich in ständiger Evolution befinden und sich durch unmerkbare Variationen unterscheiden, während die praktischen Realisierungen sich in ruckartigen Sprüngen verändern, und dass, wenn ein Tag kommen sollte, an dem sich alle vollkommen einig wären über die Vorteile von einer gewissen Sache, dies bedeuten würde, dass jeder mögliche Fortschritt in dieser bestimmten Sache erschöpft ist […]. Bei all jenen Dingen, die nicht mehrere gleichzeitige Lösungen zulassen, oder in welchen die Meinungsunterschiede nicht von solcher Wichtigkeit sind, dass es die Mühe wert ist, sich zu spalten und jede Fraktion auf ihre Weise zu handeln, oder in denen die Pflicht der Solidarität die Einigung aufdrängt, ist es also vernünftig, richtig, notwendig, dass die Minderheit gegenüber der Mehrheit nachgibt. Aber dieses Nachgeben der Minderheit muss Auswirkung des freien Willens sein, ausgelöst vom Bewusstsein über die Notwendigkeit, es darf nicht ein Prinzip, ein Gesetz sein, das folglich in allen Fällen angewandt wird, auch wenn die Notwendigkeit real nicht besteht.»

Es ist wichtig, einige Dinge über diese Bekräftigungen von Malatesta zu klären, welche die einzige logische Lösung des Problems darstellen. Die zugrundeliegende Situation, die vor Augen gehalten wird, ist nicht diejenige, worin ein ökonomischer Kampf, ein Klassenkampf im Gange ist, ist nicht diejenige, worin es einen politischen Gegenpart gibt, der fähig ist, all die niederträchtigsten Formen der Ausbeutung einzusetzen, es ist im Gegenteil eine Situation, die Divergenzen berücksichtigt über die beste Art und Weise, das Gemeinwohl zu erreichen. Also eine Situation, die sich heute in den Organisationen von Gefährten ereignet und die sich morgen, in der Gesellschaft der Zukunft, wenn der Klassenkampf beendet ist, in der ganzen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit realisieren wird. Wir haben vor uns nicht das Modell der Konflikte zwischen diskordanten Interessen, sondern einzig Divergenzen über die unterschiedlichen Möglichkeiten, das Gemeinwohl zu realisieren. Wo dem nicht so wäre, hätte man keine moralische Sorge über das Schicksal der Minderheit, im Gegenteil würde man diese letztere (die schliesslich simpler der Klassenfeind wäre) leicht in der fundamentalen Abweichung von ihren Konfliktinteressen ausmachen.

Diese Präzisierung lässt all die Probleme, die von den Theoretikern der Demokratie vorgebrachten werden über das Recht der Mehrheit, die Minderheit zu regieren, hinfällig werden. In einer freiheitlichen Gesellschaft gibt es diese deformierte Vorstellung des Zusammenlebens nicht, demnach können all die Sorgen über das Schicksal, welches der Minderheit Vorbehalten wird, nicht gültig sein.

Man könnte einwenden, dass so die Minderheit ihre Autonomie verloren hat und dass die der Minderheit angehörenden Einzelnen sich moralisch verpflichtet fühlen werden, eine Entscheidung zu befolgen, die nicht die ihre gewesen ist, sondern im Gegenteil diejenige war, die von der Mehrheit getroffen wurde. Ein korrekter Einwand, aber nur formal. Wenn wir die Untersuchung in substanzieller Form vertiefen, wird ersichtlich, wo das Missverständnis liegt. Zunächst einmal können die fundamentalen Entscheide, diejenigen, welche die essenziellen Zwecke der Gesellschaft betreffen, nicht auf diese Art von Überlegung zurückgeführt werden, das heisst, sie können nicht mit Mehrheit getroffen werden. Nicht, dass es sich dabei um eine Vorkehrung oder um einen Kunstgriff handeln würde, das ist etwas Natürliches und Fundamentales, etwas, das strikt zum revolutionären Kampf gehört und das, von selbst aus, die fundamentalen Ziele der neuen Gesellschaft klärt. Es ist logisch, dass jemand, der für die soziale Revolution kämpft, sich nachher nicht zu einem Befürworter des Privateigentums, oder der kapitalistischen Organisation der Arbeit, oder des traditionellen bürokratischen Systems, oder aller anderen fundamentalen Ziele machen kann, die ihre Logik aus einem System der Dinge ableiten, gegen welches man gekämpft und gesiegt hat. Die Klärung der revolutionären Ziele wird in einem die Ausmachung der Ziele der künftigen Gesellschaft bestimmen, die aus der Zerstörung der vorangehenden Gesellschaft hervorgeht. Über dieses Argument ist es nicht legitim, von Mehrheit oder Minderheit zu sprechen.

Ist ausgemacht, was wir als „Gemeinwohl” definiert haben, bleibt ein zweiter Aspekt, der ebenso wichtig ist, der strukturelle, methodologische, organisatorische Aspekt, der, wie der erstere, nicht einem Mehrheitsentscheid unterstellt werden darf. Wir stehen nämlich vor einem Problem, das primär den Zielen dienlich ist, welche von der Revolution festgelegt wurden. Hier verortet sich der Konflikt mit den Autoritären, ein Konflikt, der eben von methodologischer und substanzieller Natur zugleich ist. Auch wenn die Autoritären dieselben Ziele wollen würden, die wir wollen, so wollen wir sie in anderen Formen, denn wir sind der Ansicht, dass die organisatorische Struktur, mit welcher diese Ziele verfolgt werden, die Möglichkeit, sie zu erreichen, in grossem Masse beeinflussen wird. Dabei handelt es sich um einen formellen Aspekt (Struktur, die es der post-revolutionären Phase zu geben gilt), der sich unverzüglich in einen substanziellen Aspekt verwandelt, der keinesfalls auf die Bank der Mehrheit und der Minderheit geführt werden darf.

Bleiben schliesslich die verschiedenen Arten und Weisen, um, innerhalb der organisatorischen Struktur selbst, gemeinsame Ziele zu erreichen. Hier wird die Anwendung der mehrheitlichen Demokratie möglich sein. Es ist logisch, dass der Einzelne, der einer Minderheit angehört, die eine andere Art und Weise verfechtet, das Ziel zu erreichen, aber noch immer Teil von einer Organisation ist, die eine libertäre Methodologie als Vehikel zur Annäherung an das Ziel gewählt hat, sich weniger gegenüber der von der Mehrheit gewählten Art und Weise, sondern gegenüber dem Ziel und der Organisation, der er angehört, verpflichtet fühlen muss. Auf diese Weise ist seine substanzielle Autonomie unbeschadet, ist seine Verantwortlichmachung als freier Mensch unbeschadet, da beide an die Substanz (Ziel und Methode) und nicht an die Form gebunden sind, die man gewählt hat.

Manche haben behauptet, dass das Prinzip der Rechte der Minderheit bewahrt werden muss, in dem Sinne, dass letztere in Stand gesetzt werden muss, ihre Dissensposition im Konkreten experimentieren zu können, denn auch im Dissens, und oft gerade in ihm, liegt jene Kraft, welche zu den besten Errungenschaften des Menschen führt.

Tatsächlich scheint uns diese Prinzipienbekräftigung durch unsere Formulierung selbst an und für sich gelöst. Als Erstes müssen wir hinzufügen, dass die blosse These, dass der Minderheit die Möglichkeit gegeben werden muss, zu experimentieren, was von ihr bekräftigt wird, wenigstens schwammig ist und keine präzisen praktischen Indikationen gibt. Es darf nämlich nicht vergessen werden, dass, unter Ausschluss, wie wir es getan haben, der fundamentalen Fälle des „Gemeinwohls“ (der Gegenpart wäre also konterrevolutionär) und der unterschiedlichen Methodologie (der Gegenpart bestände aus Autoritären, mit welchen ein Einverständnis unmöglich ist), unter Ausschluss dieser Fälle, noch präzise Tatsachen, bestimmte, unwiederholbare historische Ereignisse übrig bleiben, gegenüber denen eine Entscheidung getroffen werden muss. Nun, alle historischen Ereignisse sind, wie einleuchtet, unwiederholbar, einzigartig, weshalb die abstrakte Formulierung „der Minderheit muss die Möglichkeit gegeben werden, ihre These zu experimentieren“ absurd wird. Nehmen wir an, wenn man über den Bau von einer Brücke, über die Produktmenge, die für einen gewissen Zeitraum in Voranschlag gestellt werden muss, über die Form eines Manifests, über die Zusammensetzung eines Quartierkomitees oder über die Kampfkomponenten einer Konfrontation entscheiden muss, so müssen die Diskussionen zwangsläufig auf die Ebene der Mehrheit und der Minderheit zurückgeführt werden. Es nützt nichts, zu wiederholen, dass diese letztere geschützt werden muss, keine Gewalt wird gegen sie verübt, kein Gesetz – auch nicht das eigene der Mehrheit – wird ihr auferlegt, die Minderheit wird lediglich, basierend auf dem Grad an Bewusstsein und Verantwortlichmachung, den ihre Komponenten erreicht haben, auf autonome Weise entscheiden, die Mehrheitslösung, als technischen Notbehelf, zu akzeptieren, im Bewusstsein über die Absurdität von jeglicher anderen Erwägung. Neben dieser Akzeptierung wird die Minderheit dafür sorgen, die Anwendung des von der Mehrheit angenommenen und unterstützten Kriteriums zu befolgen, während sie nach und nach etwaige mögliche Modifikationen vorschlägt, sich der konstruktiven Kritik nicht enthaltend, ohne deswegen zur Absurdität zu gelangen, zwei Brücken zu bauen, zwei Komitees zu machen, zwei Konfrontationen zu organisieren, zwei unterschiedliche Mengen von derselben Ware zu produzieren, bloss weil der Minderheit das Recht zusteht, ihre These zu „experimentieren”. Da der Akt der Anfertigung der Brücke, der Konfrontation, des Manifests, usw., an sich, unwiederholbar ist, weil sich danach, zu einem nachfolgenden Zeitpunkt, die allgemeinen Bedingungen verändern, welche den Akt mit diesen Charakteristiken denkbar und realisierbar machten, wird die Minderheit in Praxis nie die Möglichkeit haben, ihre These über einen präzisen und eingegrenzten Akt zu „experimentieren”, sie wird die zugrundeliegende Idee experimentieren können, welche die Dissensposition stützte, freilich innerhalb der Grenzen des „Gemeinwohls” und der antiautoritären methodologischen Eigenheiten.

Wie wir gleich anschliessend demonstrieren werden, ist das Mehrheitssystem intrinsisch absurd, weshalb es nur beschränkt auf Entscheidungen angewendet werden kann, die das Gemeinwohl und die Struktur, um es zu erlangen, nicht involvieren, über seine intrinsische Absurdität hinwegsehend und gebrauchend, was es an Gutem liefern kann: die Überwindung der Dichotomien, das heisst der Situationen, die zwei gegensätzliche Lösungen vorweisen.

Absurdität des Mehrheitssystems

Eine Person trifft eine Wahl, weil sie sich autonom im einen oder im anderen Sinne entscheidet. In unserer ganzen Problematik unterlassen wir es absichtlich, über die – für uns heute normale – Situation zu sprechen, in der die Wahlen infolge von Anregungen und Konditionierungen getroffen werden, die von oben gewollt sind, sondern beziehen wir uns im Gegenteil auf eine Situation, in welcher die Notwendigkeit aufkommt, die Minderheit zu schützen, und somit auf eine Situation, in der die Gesamtheit, fern davon, Konditionierungen zu erhalten, unter die besten Bedingungen gestellt wird, um einen möglichst breiten Einblick in die Probleme zu haben, welche die Gemeinschaft bedrücken.

Eine Person, haben wir gesagt, trifft eine Wahl, weil sie in dieser ihre Autonomie realisiert. Es ist logisch, dass diese kritische Tatsache, für diese Person, nicht eine isolierte Tatsache sein kann, sondern ein Moment von einer Reihe von Wahlen ist, die alle durch eine gemeinsame Charakteristik verbunden sein müssen: die Kohärenz. Dies ist, weshalb die direkte Demokratie die mit Abstand beste Lösung ist, denn sie überträgt die Kohärenz der Einzelnen auf Gemeinschaftsebene, und lässt die Aktion der Gemeinschaft selbst, im Kundtun ihrer Wahlen, kohärent werden.

Im Falle der mehrheitlichen Demokratie hingegen ist es leicht, zu demonstrieren, wie, auch wenn die Wahlen der Einzelnen kohärent bleiben, die Aufeinanderfolge der Wahlen der Gemeinschaft inkohärent werden kann, eine Aufeinanderfolge, die aus der arithmetischen Berechnung der Stimmen resultiert.

Dieses Paradox, das von den Mathematikern viel studiert wurde, ist vom englischen Mathematiker Charles Dodgson (welcher unter dem Namen Lewis Carroll Alice im Wunderland schrieb) ausgiebig ausgeführt worden. Stellen wir uns vor, dass drei Personen über ein Problem entscheiden müssen, und dass dieses drei Lösungen vorweist. Ein jeder wird unverzüglich eine Wertskala in Hinblick auf die drei Alternativen festlegen. Es spielt an dieser Stelle keine Rolle, die Art und Weise oder die Motivationen festzulegen, welche aufgewendet werden, um diese Wertskala festzulegen, was zählt, ist, dass diese Skala zwangsläufig vorhanden sein muss, da die drei Alternativen nicht völlig identisch sind. Die drei Personen werden also eingeladen, gemäss ihren Präferenzen für die möglichen Alternativen zu stimmen, in Zweierpaaren. Von diesen gibt es, wie klar ist, drei. Wenn wir die drei Alternativen A, B und C nennen, können die Abstimmungen folgende sein: A gegen B, dann A gegen C und schliesslich B gegen C.

Unter den verschiedenen Kombinationsgruppen gibt es einige, die den Übergang von der Kohärenz der Wahl der Einzelnen zu derjenigen der Gemeinschaft gewährleisten, und andere, die ihn nicht gewährleisten.

Beispiel Nr. l

Individuum 1Individuum 2Individuum 3
AAB
CBC
BCA

In diesem Beispiel haben wir, dass die Individuen l und 2 den Vorrang A gegenüber B geben und somit das Individuum 3 in Minderheit stellen. Dasselbe geschieht ausserdem für die Individuen 2 und 3, die das Individuum 1 in Minderheit stellen, indem sie B vor C wählen. Nun, wenn die Gemeinschaft A vor B und B vor C wählt, dann muss daraus folgen, um eine Kohärenz auf Gemeinschaftsebene zu haben, dass A gegenüber C bevorzugt wird. Diese Kohärenz ist, im obengenannten Beispiel, in der Tat vorhanden, da die Individuen 1 und 2 A vor C wählen und das Individuum 3 in Minderheit stellen.

Beispiel Nr. 2

Individuum 1Individuum 2Individuum 3
ABC
BCA
CAB

Auch hier hat man eine Mehrheit von A gegenüber B infolge der von den Individuen 1 und 3 gemachten Abstimmungen, und dasselbe bezüglich B gegenüber C aufgrund der Abstimmungen der Individuen l und 2. Hingegen, jedoch, und hier zeigt sich die Inkohärenz der Gemeinschaft im Vergleich zur Kohärenz der Einzelnen, besteht keine Mehrheit von A gegenüber C, da die Individuen 2 und 3 für C anstatt für A stimmen.

Es gab auch Kritiken, an dieser Argumentation, aber sie ist, wie Kenneth Arrow belegt hat, mathematisch exakt und negiert der sogenannten demokratischen Mehrheitsmethode jegliche Gültigkeit.

Wenn wir unseren Diskurs vertiefen wollen, so kann man sehen, wie sich die Inkohärenz von dieser Methode auch ergeben würde, wenn die Abstimmungsmethode geändert wird.

Nehmen wir an, dass die Personen, die dazu aufgerufen werden, zu entscheiden – noch immer in der Zahl von drei, um die Rechnungen zu vereinfachen –, sich über die Alternativen aussprechen sollen, eine auf einmal, solange, bis eine, natürlich mit Mehrheit, als die für die Gemeinschaft gültige angenommen wird. Auf diese Weise ist es leicht, zu demonstrieren, dass die siegreiche Alternative ausschliesslich von der Reihenfolge abhängig ist, wie die unterschiedlichen Alternativen den Wählern unterbreitet werden (eine offensichtlich absurde Lösung). Wenn wir noch immer von A, B und C ausgehen, so liefern diese nämlich sechs Reihenfolgen von Alternativen, worüber die Gesamtheit der Abstimmenden sich aussprechen soll: ABC, ACB, BAC, BCA, CAB, CBA. Nun, ein jeder Abstimmender stimmt gegen einen Vorschlag, wenn es in der Skala seiner Präferenzen noch Alternativen gibt, wobei ein Vorschlag, einmal nicht angenommen, aus der Perspektive ausgeschieden und somit der Gesamtheit der Wähler unbekannt ist. Unter Berücksichtigung der Präferenzen, die wir beim Beispiel 2 hatten, ergeben sich folgende 6 Fälle:

  • I) A wird den Wählern unterbreitet und wird nicht angenommen, da zwei Personen entweder B oder C bevorzugen. Dann ist B an der Reihe, der angenommen wird, weil zwei Personen ihn gegenüber der verbleibenden Alternative C bevorzugen. Es gewinnt also B.
  • II) A wird den Wählern unterbreitet und verliert, ebenso C, demnach bleibt noch B. Es gewinnt B.
  • III) B wird den Wählern unterbreitet und verliert, auch A verliert, es bleibt noch C, der gewinnt.
  • IV) B wird den Wählern unterbreitet und verliert, C gewinnt.
  • V) Dasselbe für C, der verliert, A gewinnt.
  • VI) A gewinnt.

Schliesslich haben wir das an Irrationalem, dass die Kollektivität jedes Mal andere Alternativen wählt, wenn sie sich in einer anderen Reihenfolge mit ihnen befasst: die Kohärenz der Basis überträgt sich nicht in die mehrheitliche Wahl der Gemeinschaft. (Vgl. über dieses Argument: R. P. Wolff, Eine Verteidigung des Anarchismus, dt. Üb., Wetzlar 1979, S. 66-67).

Abgesehen von Grenzfällen werden diese Absurditäten des mathematischen Gesetzes, in unseren Parlamenten, durch die Existenz von einer „unimodalen” Linie, die von der Partei ausgeht, auf eine Kohärenz reduziert, die künstlich und nicht real, weil nicht den Meinungen der einzelnen Abgeordneten entsprechend ist. In anderen Worten, ein Abgeordneter stimmt in Abhängigkeit von seiner Position innerhalb von der Partei. Zum Beispiel, wenn die seine eine Partei des Zentrums ist, so werden seine Wahlen mit denjenigen seiner Parteikollegen umso weniger diskordant sein, je näher die Alternativen einer politischen Position des Zentrums kommen. Entfernen sie sich nach links oder rechts, wächst die Möglichkeit der Inkohärenz, sofort begradigt von der Treue zur Partei und ihrer Linie. Dies erklärt, unter anderem, die Existenz der sogenannten „Freischärler“ bezüglich Problemen, die subtile Nuancierungen oder parallele Allianzen involvieren.

Ein weiteres Mal bleibt bewiesen, dass es nicht die arithmetische Summe der Stimmen ist, und die mathematische Mehrheit, die sich daraus ableitet, was den parlamentarischen Initiativen und Entscheiden das Charisma der Legitimität verleiht, sondern, im Gegenteil, die Machtentscheide der einzelnen Parteien. Wo dem nicht so wäre, würde das schlichte Gesetz der Mehrheit das Parlament in Inkohärenz stürzen. Daraus folgt, dass die Kohärenz, die es im Laufe der verschiedenartigen Gesetze, die es verabschiedet, manifestiert, ein weiteres Mal, eine Kohärenz der Macht ist und keinerlei Zusammenhang hat mit den Delegationen, die von der Basis erteilt wurden, denn sie hat keinen mit den Entscheidungen der einzelnen Abgeordneten.

Parlamentarismus und Autoritarismus

Es ist möglich, einen präzisen Zusammenhang zwischen parlamentaristischer Lehre und Autoritarismus auszumachen. Diese Behauptung ist belegt durch den logischen Faden, welcher die verschiedenen Positionen der Autoritären in Bezug auf die Beteiligung am Wahlkampf vereint.

Im Juli 1920, am Kongress von Moskau, wohnte man einer Konfrontation zwischen Abstentionisten und Parlamentaristen bei: die ersteren vertreten von Bordiga, die zweiteren gebunden an die Thesen von Lenin.

Versuchen wir, den bordigistischen Abstentionismus genauer zu verstehen, denn er unterscheidet sich sehr stark vom anarchistischen Abstentionismus. So schrieb Bordiga: «Für die bessere Entwicklung der kommunistischen Propaganda und der revolutionären Vorbereitung in den westlichen demokratischen Ländern sollten sich die Kommunisten, in der gegenwärtigen Periode von revolutionärer universeller Krise, nicht an den Wahlen beteiligen.» („Elezioni”, in „L’Ordine Nuovo” vom 14. April 1921). Wir haben vor uns eine umstandsbedingte These, die sich morgen, unter veränderten Bedingungen, in eine These zur Beteiligung am Wahlkampf verwandeln könnte.

Die Konklusion des Artikels von Bordiga ist dennoch für die Beteiligung, denn so wurde in Moskau entschieden und die italienischen Kommunisten konnten nicht anders handeln, als es die sowjetischen Direktiven verordneten. Auf derselben Position wie die Italiener (das heisst mit abstentionistischer Mehrheit innerhalb der Partei) befanden sich auch die Deutschen und die Holländer, doch alle beteiligten sich an den Wahlen.

Es ist der zugrundeliegende Autoritarismus, der Bordiga hier eine logische Konsequenz verhindert. Der Abstentionismus kann nur gültig sein unter der Bedingung, mit sich selber kohärent zu sein, er kann nicht eine opportunistische Praxis sein: entweder er geht davon aus, dass das Parlament eine Gültigkeit hat, und sei es auch nur als Instrument, oder er geht absolut nicht davon aus, andersherum wäre es unlogisch, dass ihm diese Gültigkeit auf einmal angesichts des Wandels der Bedingungen zukommt. Denn, wenn das Parlament eine spezifische Produktion der demokratischen Bourgeoisie (oder Pseudo-Solchen) ist, dann ist es eine historische Kreation, die zu jedem Zeitpunkt (es ist hier nicht zuträglich, zu bewerten, ob von innen oder von aussen) bekämpft werden muss, aber mit präzisen Zielen und mit einer einheitlichen Taktik, da der Despotismus, der die Existenz selbst des Parlaments als bourgeoise Institution stützt und ermöglicht, sich selbst immer treu ist.

Für die italienischen, deutschen und holländischen Kommunisten galten die Direktiven des internationalen Zentrums mehr als die Prinzipien- und Kohärenzfragen. Noch 1924 schrieb Bordiga: «Es gehört sich nicht für Kommunisten, glauben zu machen, dass unter einem Regime von Demokratie und Freiheit die Wahlen den effektiven Willen der Massen übersetzen. Unsere ganze Lehre erhebt sich gegen jene kolossale bourgoise Lüge, unser ganzer Kampf richtet sich gegen ihre Anhänger, Verleugner der revolutionären Methode der proletarischen Aktion. Der liberale Wahlmechanismus ist nur dafür gemacht, eine notwendige und konstante Antwort zu geben: „bourgeoises Regime”, „bougeoises Regime”…». („L’unità”, Mailand, 27. Februar 1924). Und doch, weit über das fundamentale Prinzip hinaus, galt für den kommunistischen Revolutionär die autoritäre Regel des Gehorsams gegenüber den von oben kommenden Direktiven.

Versuchen wir, nun, die Position von den Parlamentaristen zu untersuchen, also von jener Linie, welche sich beim erwähnten Kongress von Moskau an Lenin anlehnte. Es ist nicht so, dass man hier den Fehler begehen darf – der heute gewissen Kommunisten von unserem Hause so lieb ist –, die leninistische These mit derjenigen zu verwechseln, welche lediglich dem Reformisten Kautsky zuzuschreiben ist. Auf diese Weise wird das Parlament – klassische Kautsky-These – zu etwas Metahistorischem, das es schon immer gegeben hat und das es immer wird geben müssen, etwas, das sich merkwürdigerweise als weit jenseits vom Klassenkampf erweist. Mit dieser These, und mit derjenigen von ihren Imitatoren von heute, wird die klassische These und Analyse von Marx von Grund auf zerstört.

Tatsächlich befindet sich die Kommunistische Partei heute [1974], sagen wir in Italien, auf der reformistischen Linie der Sozialdemokratie, da sie sich an die Direktiven angepasst hat, welche ihr den Aufbau von einer grossen parlamentarischen Partei auferlegten, die These Lenins von der kleinen revolutionären Avantgardepartei zum Schweigen bringend. Abgesehen vom Diskurs über die autoritären Mängel der leninistischen These, bleibt, dass die opportunistische Anpassung an die Nachkriegssituation die Partei in der Praxis auf bourgoiese Positionen gebracht hat.

Mit Lenin von Staat und Revolution entwickelt sich diese typisch marxistische Kritik – am Klassencharakter des Parlaments und an seiner wesentlichen Antidemokratizität, und über die Möglichkeit, eine auf den Sowjets begründete Demokratie aufzubauen.

Dies ist, was Lenin schreibt: «Der Ausweg aus dem Parlamentarismus ist natürlich nicht in der Aufhebung der Vertretungskörperschaften und der Wählbarkeit zu suchen, sondern in der Umwandlung der Vertretungskörperschaften aus Schwatzbuden in „arbeitende” Körperschaften.» (Lenin Werke, dt. Üb., Berlin 1974, S. 436).

Und dies sind die Hauptthesen des Kongresses von Moskau von 1920. «Der Parlamentarismus als Staatssystem ist eine „demokratische” Herrschaftsform der Bourgeoisie geworden, die auf einer bestimmten Entwicklungsstufe der Fiktion einer Volksvertretung bedarf, die äusserlich als eine Organisation eines ausserhalb der Klassen stehenden „Volkswillens” erscheint, in Wirklichkeit aber eine Maschine zur Unterdrückung und Unterjochung in den Händen des herrschenden Kapitals ist.»

«Die bourgeoisen Parlamente, einer der wichtigsten Apparate der bourgeoisen Staatsmaschine, können als solche nicht auf die Dauer erobert werden, wie das Proletariat überhaupt nicht den bourgeoisen Staat erobern kann. Die Aufgabe des Proletariats besteht darin, die Staatsmaschine der Bourgeoisie zu sprengen, sie zu zerstören, und zugleich mit ihr die Parlamentsinstitutionen, mögen es republikanische oder konstitutionell-monarchistische sein.» (Der zweite Kongress der Kommunistischen Internationale, dt. Üb., Hamburg 1921, S. 469,470).

Aber trotz all dieser Kritik, wird der taktische Moment der Beteiligung akzeptiert. Das Instrument „Parlament” wird als Klasseninstrument und als Instrument der Bosse erkannt, man ist jedoch der Ansicht, dass die Beteiligung am Wahlkampf gewisse Resultate erlauben kann. In der Tat, man versucht, den Regierungsapparat von innen her zu zerstören, die parlamentarische Tribüne für die revolutionären Zwecke zu benutzen, mit der Wahlkampagne nicht so sehr das Maximum an Mandaten, sondern das Maximum an Mobilisierung der Massen über die Losung der proletarischen Revolution zu erreichen. In einem Wort – und von daher unsere Analyse, die darauf ausgerichtet ist, das autoritäre Fundament dieser These zu erfassen –, man versucht, einen möglichst breiten Raum für die agierende Minderheit, für die Parteiführung zu finden, ungeachtet der Methodologie, die im Kampf von den Massen angewandt wird. Es sind nicht letztere, die in einem revolutionären und direkten Kampf Bewusstsein erlangen sollen, sondern sie können auch eingetaucht in die Benutzung des Wahlinstruments bleiben, es gibt ja stets Führungskader der Partei, die die Angeln des Parlaments von innen her zu sprengen wissen werden, wenn man das Vertretungsmandat in direkte Aktion verwandeln können wird.

Nun, wenn die reformistische These – die wir auf Kautsky zurückgehen sahen – auf einer Analyse basiert, die von einem Klassenstandpunkt aus falsch ist, auf einer Analyse, die wahrhaftig interklassistisch ist, so basiert die autoritäre „revolutionäre” These, die für die Bolschewisten typisch ist, auf einer Analyse, die von einem propädeutischen Standpunkt aus korrekt ist (Bildung und Zusammensetzung des Parlaments), aber von einem programmatischen Standpunkt aus falsch (Möglichkeit, aus dem Innern zu agieren), während sie zur merkwürdigen Schlussfolgerung gelangt, dass die Demokratie der Zukunft (eine Demokratie der Sowjets und somit eine Demokratie der Basis) aufgebaut werden kann, indem die Massen dazu erzogen werden, für die Demokratie der Bosse zu stimmen. Die Resultate sind heute [1974] in Italien sehr offenkundig, wo eine (zahlenmässig) starke kommunistische Partei dem reformistischen Weg von Kautsky folgt, während sie zu verstehen gibt, dass sie auf diese Weise an der marxistischen Lehre und am Aufbau von einer zukünftigen Volksdemokratie festhalten will.

Der blinde Autoritarismus der kommunistischen Partei bewirkt die Möglichkeit, dass offenkundige Inkongruenzen, wie die eben untersuchte, die sich den Augen, sagen wir, von Bordiga klar zeigten, zum Schweigen gebracht werden, während in den Massen eine pragmatische Ausrichtung bewirkt wird, die sich im negativen Fall (Scheitern der Machtziele, wie es im Westen geschehen ist) in einem qualunquistischen Reformismus konkretisiert, und sich im positiven Falle (Erfolg in der Eroberung der Macht, wie es im Osten geschehen ist) in einem Absolutismus Stalinscher Art konkretisiert, mit möglichen sozial-imperialistischen Modifikationen nach kapitalistischer Imitation.

Von einer Verwendung des Parlaments in revolutionärer Form auszugehen, während die reformistische These aus offensichtlichen Gründen ausgeschlossen wird, ist nur möglich, wenn man als revolutionäres Projekt die Eroberung der Macht durch eine Minderheit hat, die sich, eben, im Falle der kommunistischen Partei nach leninistischem Ansatz, generisch auf die Prinzipien des Marxismus berufen mag. Im gegenteiligen Fall, was schliesslich die anarchistische These wäre, ist die Verwendung nicht mehr möglich. Die zum demokratisch-bourgeoisen Wahlkampf erzogene Basis, nämlich, wird sich niemals stehenden Fusses jene Strukturen von direkter oder Basisdemokratie aneignen können, welche die Form der freiheitlichen (assoziationistischen und föderalistischen) Gesellschaft charakterisieren. Die bourgeoise Degeneration wird auch nach dem revolutionären Ereignis fortbestehen, die neuen Meister des Dampfes dazu zwingend, einen Rückzieher zu machen und die Herrschaft von einer Partei über das Proletariat durchzusetzen: die folgerichtige Metamorphose der „Diktatur des Proletariats”. Deshalb beharren die Anarchisten auf dem Abstentionismus. Lasst uns, im Detail, die Endthese betrachten.

Der anarchistische Abstentionismus

Es gibt zwei Arten und Weisen, das Problem des Abstentionismus innerhalb des anarchistischen Lagers zu betrachten. Die erste, die wir als „subjektivistisch” definieren könnten, welcher es nicht gelingt, die organische und komplette Betrachtungsweise der Institution „Parlament” zu erfassen, die zweite, die wir als „klassistisch” definieren könnten, welche hingegen zu einer ganz anderen Analyse von dieser Institution gelangt und deren Konfliktkomponenten aufzeigt.

Trotz der Schärfe der Analyse des zweiteren Typs, die hauptsächlich Malatesta zu verdanken ist, bedarf es unserer Meinung nach einer Ergänzung in Bezug auf die Beziehung zwischen Einzelnem und Institution Parlament und in Bezug auf den Einzelnen zu sich selber, das heisst auf Ebene der Autonomie und der Verantwortlichmachung. Da wir den ersten Teil von unserem Diskurs diesem letzteren Problem gewidmet haben, bleibt uns jetzt nur noch, in kurzen Worten, über die Analyse von subjektivistischer Art und von klassistischer Art Rechenschaft abzugeben, um das Argument auszuschöpfen.

Zum Beispiel sind die antielektoralen Schriften von Molinari, von Galleani, von Faure, und bis zu einem gewissen Punkt von Merlino selbst aus der abstentionistischen Periode, an eine Polemik gebunden, die, wenn man so will, nützlich und interessant ist, aber die völlig einer konkreten Analyse der Institution entbehrt und letztlich der revolutionären Aktion keine konkrete Ausrichtung liefert.

Nehmen wir als Modell die Kritik von Faure (S. Faure, La putredine parlamentare, it. Üb., Ragusa 1968). Er beginnt damit, dass er das ganze Problem des Parlamentarismus in vier Worten zusammenfasst: Absurdität, Ohnmacht, Korruption, Schädlichkeit. Die Absurdität wird aus der Tatsache abgeleitet, dass wir in einer Gesellschaft leben, worin sich alle Interessen in Konflikt befinden (Boss gegen Arbeiter), daher werden derart gegensätzliche Interessen nie von einer einzigen Institution vertreten werden können, welche nie wird unparteiisch allen Befriedigung verschaffen können. Andere Elemente, die zugunsten der Absurdität angeführt werden, sind: die Unmöglichkeit einer Dokumentierung über so viel Materie und die Tatsache, dass die Masse (angeschuldigt, unwissend zu sein und eine Führung zu brauchen) nicht plötzlich fähig werden kann, sich die Führung zu wählen, die sie braucht. Das sind Widersprüche, die das Parlament absurd machen. Was die Ohnmacht betrifft, so greift Faure mit vollen Händen zur Kritik, die wir als subjektivistisch definiert haben: er erzählt uns von den Personen, die – in der Regel – die Parlamente zusammenstellen (Ärzte ohne Patienten, Anwälte ohne Fälle, usw.). Die Korruption ist nicht der Rede wert, da offensichtlich ist, dass das Parlament alle korrumpiert, die gewählt werden. Bleibt noch die Schädlichkeit. Das Parlament ist schädlich für die Arbeiterklasse und vorteilhaft für die kapitalistische Klasse. Ein Büigerlicher lebt im Parlament wie ein Fisch im Wasser, ein Arbeiter wird dort korrumpiert.

Die Analyse von Faure ist komplett, aber ermangelt einer klar definierten Konfliktvorstellung.

Schauen wir uns die These von Malatesta an. Die Anarchisten sind und bleiben Gegner des Parlamentarismus, da sie glauben, dass sich der Sozialismus durch freie Föderationen von Produktions- und Konsumverbänden realisieren muss, während jegliche Art von Regierung, auch die parlamentarische, keinerlei Absicht hat, etwas Konkretes bezüglich der sozialen Frage zu unternehmen.

Das Volk daran zu gewöhnen, die Eroberung und Verteidigung seiner Rechte an andere zu delegieren, ist eine sichere Methode, um es in der Gewalt der Regierung zu lassen.

Die Anarchisten streben nicht nach der Macht, und somit gibt es keinen Grund, weshalb sie denjenigen helfen sollten, die nach ihr streben. Ausserdem, wenn sie heute beginnen würden, die Notwendigkeit zu verfechten, für jemanden zu stimmen, so würden sie morgen raten, für sich selber zu stimmen, während sie gänzlich in die Logik der Macht eintauchen.

Auch die Protestkandidaturen1 können nicht verteidigt werden, denn, wenn sie uns einen Gefährten zurückgeben, so nehmen sie uns jene Kampfeinheit, welche das Kennzeichen der Anarchisten gegenüber der Wahlfarce bildet.

Der Wahl- und Parlamentswettkampf erzieht zum Parlamentarismus und verwandelt letztlich diejenigen, die ihn praktizieren, in Parlamentaristen. Aufgabe der Anarchisten besteht darin, die Massen dazu zu erziehen, durch Zusammenschlüsse jeglicher Art zu kämpfen, um auf diese Weise die eigenen Angelegenheiten regeln zu können, und nicht darin, sie dazu anzutreiben, ihre Verantwortungen an andere zu delegieren.

Das Wesen des Parlamentarismus ist es, dass die Parlamente die Gesetze machen und auferlegen, die anarchistischen Kongresse hingegen beschränken sich darauf, Resolutionen zu diskutieren und vorzuschlagen, welche keine exekutive Geltung haben ausser nach der Zustimmung der Mandanten. Dies bedeutet nicht, dass eine Minderheit, eine Handvoll dissidenter Personen, oder ein einziger Mensch, jede anarchistische Initiative blockieren kann, denn manchmal ist es erforderlich, dass die Minderheit gegenüber der Mehrheit nachgibt, aber nicht als Ergebnis eines Gesetzes, das jederzeit unabhängig von den objektiven Bedingungen von Notwendigkeit angewandt wird, sondern als Entscheidung, die sich aus dem freien Willen ableitet.

Die These von Malatesta, die wir in kurzen Worten zusammengefasst haben, ist sehr deutlich und abschliessend. Ihr Bezugspunkt ist die Klassenaktion, der Kampf der Basis gegen die Ausbeuter und die Organisation dieses Kampfs auf eine Weise, dass ab heute schon das Lebensmodell der Zukunft vorbereitet wird. Eine autoritäre Organisation hingegen, welche die Leute zu den Urnen treibt, wird niemals jene Gesellschaft der Zukunft vorbereiten können, nach der jede revolutionäre Handlung strebt, sondern wird darin enden, diese letztere in das Vorzimmer einer neuen Reaktion zu verwandeln. In der Erziehung zum Abstentionismus sehen wir eine Bewusstwerdung des Einzelnen und der Massen, einen Fortschritt in Richtung jener Verantwortlichmachung der Basis, welche die einzige Bedingung für das Gelingen der Revolution von morgen ist.

Für einen subversiven Abstentionismus

Wahlmechanismus und Repression

Der Wahlmechanismus ist keine blosse Anpassung der Regierungsstrategie. Er ist, im Gegenteil, einer der bedeutendsten Momente der repressiven Strategie in ihrer Gesamtheit.

In der Praxis hat die immer grössere Intervention des Staates in die Angelegenheiten des Kapitals, mit dem Ziel, Ordnung in die Widersprüche von diesem letzteren zu bringen, als Effekt eine Rationalisierung der Herrschaft, aber, auf lange Sicht, auch die Konsequenz, eine andere Reihe von Widersprüchen sowohl im Staat selbst wie auch im Kapital zu eröffnen. Beispielsweise, etwas, das uns hier besonders interessiert, die Reduzierung der Mächte des Parlaments und das enorme Anwachsen der Mächte der Exekutive. Das ist mehr denn logisch, da der Staat, an erster Stelle, ein Exekutivinstrument ist, und dann, auf Massenebene, als Verschlussmoment der Macht, ist er auch ein Instrument zur Konsensbeschaffung. Der Staat kann sich nämlich nicht aufrecht halten ohne Konsens, aber auch nicht ohne Exekutive. Das verleitet ihn, oft, dazu, diesen zweiteren Aspekt zu privilegieren, und dies generiert einige Widersprüche, darunter jene, welche beanspruchen, die Regierung weiter am Funktionieren zu erhalten, wenn es zwischen den verschiedenen Delegationsprozessen (parteilichen, gewerkschaftlichen, wirtschaftlichen, ideologischen, etc.) kein Einverständnis mehr gibt.

Der Verlust des Kontakts zwischen Basis und Instrumenten, welche die Entscheidungen der Exekutive filtern (an erster Stelle das Parlament), ist scheinbar verfehlten politischen Übereinkünften, einem nicht ausreichenden Gleichgewicht der Parteikräfte zu verschulden, während er, in den Tatsachen, der Verschlechterung der Grundbedingungen zu verschulden ist (Preisniveau, Arbeitslosigkeit, Verringerung der Investitionen, Unmöglichkeit, die Nachfrage zu stützen, Unausgeglichenheit zwischen ungleichen Entwicklungszonen, unkontrollierbare soziale Spannungen, übermässige Repression, Wiederaufkommen von autoritären Methoden, Unzulänglichkeit der assemblearen Kontrollsysteme, usw.). Diese Bedingungen von Unbehagen übertragen sich auf die Exekutive mittels der Repräsentationsstrukturen, die somit den Charakter von Umlenkrollen der Ineffizienz oder von Kontrollinstrumenten der Unzulänglichkeit der Programme annehmen, eben in dem Moment, in dem sie, als Instrumente, ihre ursprüngliche Bedeutung von Verwaltung des Konsens verlieren. Es tritt auf diese Weise der paradoxe – und widersprüchliche – Fall ein, dass die Präsenz selbst des Filtermechanismus (Parteien und Gewerkschaften, an erster Stelle) eine Art Induktionseffekt verursacht, der letztlich die Anwandlungen von Flucht nach Vorne der Exekutive blockiert.

Im Grunde laufen die Dinge schlecht und dies trägt dazu bei, einen Kontrollmechanismus zu blockieren, der, wenn er seiner rationalen Logik überlassen würde, sie für wenige auf Kosten von vielen besser laufen lassen könnte, indem diese Vielen einer engmaschigen Kontrolle und einer weitreichenden Repression unterstellt werden. Dies ist nicht möglich, eben weil nicht ein Aspekt der Beziehung zwischen Herrschenden und Beherrschten (der repressive Aspekt) optimiert werden kann, ohne auch den anderen Aspekt (die Grundbedingungen, die ein gewisses Wohlbefinden gewährleisten müssen, ohne welches der Konsens ausfallt) zu kurieren. Die elektorale Wahl wird somit zu einem Element der unmittelbaren Repression, da sie es erlaubt, einen Kurs der Exekutive zu perfektionieren, der ohne eine Überprüfung des Konsenses Gefahr läuft, nirgendwohin zu führen. Der Krieg der Dekrete hat eine gewisse Glaubwürdigkeit, solange die Umlenkrollen der Gewerkschaften und der Parteien funktionieren, und solange Abtragungsräume für den allesfressenden kapitalistischen Mechanismus zugrunde liegen. Wenn diese Räume schwinden, drehen die Umlenkrollen durch und die Exekutive schlittert auf die schlicht und einfache Repression zu, ein Schlittern, das tragisch enden kann, mit einem Ausbrechen von Kämpfen, die nicht mehr zu kontrollieren sind. Um dies zu verhindern, greift man zu den Wahlen. Die Repression perfektioniert sich, die realen Kampfantriebe werden auf künstliche Ziele umgeleitet, und der Auslass der Meinung setzt sich an Stelle des realen Bedürfnisses nach Verweigerung und Negierung. Dem Ausgebeuteten wird der Staatsbürger aufgesetzt.

Aufbau der abstentionistischen Strukturen

Sich der Beteiligung an der repressiven Instandsetzung zu enthalten, ist sicherlich ein Moment der Bewusstwerdung, aber es ist bloss ein Ausgangsmoment. Die soziale Subversion involviert den Abstentionismus von seiner defensiven Phase bis zu seiner aktiven, konstruktiven Phase von Beschleunigung der Widersprüche des Kapitals und des Staates. Die Konsensverweigerung ist also nicht bloss eine Enthaltung von der Abstimmung, sondern ist eine aktive Überwindung des Einbeziehungsmechanismus auf diversen Ebenen. Eine Negierung des politischen Moments und eine Negierung der Ausbeutungsverhältnisse, die sich ausgehend vom politischen Moment entwickeln. Der Staat kann eine gewisse Ordnung in die Widersprüchlichkeit des Kapitals bringen, unter der Voraussetzung, ein allumfassend kontrolliertes Regime zu errichten, ein Regime, worin die unabhängigen Variablen der Produktionsgleichung (die nie vollständig eliminiert werden können) auf ein Minimum reduziert werden, und worin folglich auch der Konsens mit Rationalität programmiert und verfolgt wird. Jede Störung in der Realisierung von diesem letzteren Teil des repressiven Projektes überträgt sich, stark vergrössert, in das gesamtheitliche Projekt, und verschärft die Widersprüche der Herrschaft.

Aber die Konsensverweigerung kann nicht schlicht als der fehlende Teil des Gesamtkonsenses betrachtet werden. Wenn die Gesamtheit der Personen ihre Meinung bezüglich der Abstimmung ausdrückt, sich demokratisch in einem Bogen von Wahlen orientierend, die sich von links bis rechts erstrecken, so vereinheitlicht sich jener gewisse Prozentsatz, der diese Wahl nicht äussert, nicht bloss aufgrund von einer solchen ausgebliebenen Äusserung, sondern braucht es etwas mehr. Das heisst, wer abstimmt, verteilt sich gemäss einem ganz präzisen Raster und liefert folglich Konsens (es hat letztlich geringe Wichtigkeit, für welche Partei er stimmt), wer nicht abstimmt, von dem kann nicht gesagt werden, dass er sich, einzig aufgrund der Tatsache, nicht abzustimmen, einheitlich auf der Seite von jenen verortet, die nicht einverstanden sind, und zwar, weil es viele Arten und Weisen gibt, „nicht abzustimmen”, die sich oft in einer Gleichgültigkeit und sicherlich nicht in einer Bewusstwerdung zusammenfassen lassen. Dies alles erlaubt es, zum Schluss zu gelangen, dass die Tatsache, abzustimmen, ein Beitrag zur Instandsetzung und zur Perfektionierung der Repression ist, die Tatsache, nicht abzustimmen, ist nicht ein Angriff gegen die Repression, zumindest solange sie nicht organisatorisch um etwas zur Gerinnung kommt, was es gestattet, die Negierung des Konsenses, in den Tatsachen, vor Augen zu führen.

Wir sind hier nicht dabei, von der möglichen Konstituierung einer sogenannten „abstentionistischen Bewegung” zu sprechen, die sich durchaus auf beträchtlicher Ebene entwickeln könnte, aber die, früher oder später, als Instrument in den Händen von politischen Machenschaften enden würde, die eigens von den Zentrumsparteien gelenkt werden, welche Interesse daran haben, den sogenannten Linken Stimmen zu rauben. Wir beziehen uns hingegen auf die Möglichkeit, minimale und an die verschiedenen lokalen Realitäten angepasste, abstentionistische Organisationsstrukturen aufzubauen, fähig, die verschiedenartigen abstentionistischen Phänomene zu koordinieren, die sich gegenüber jeder Art von Versammlungsmoment der Verwaltung der Macht entwickeln. Vergessen wir nämlich nicht, dass die regulative Tendenz des Staates noch immer die sozialdemokratische ist, und dass diese Tendenz die intermediären autoritären Entscheide allmählich durch Versammlungsentscheide ersetzen will, vorausgesetzt, dass die Entscheidungsmacht der diversen Führungsspitzen unangetastet bleibt. Die abstentionistischen Strukturen, von denen wir am sprechen sind, könnten die Verweigerung des Wahlmechanismus, sowie die Verweigerung der Versammlungsmechanismen auf Ebene der Fabrik, der Schule, des Quartiers, der Gesundheitseinrichtung usw. koordinieren.

Eine abstentionistische Propaganda, die bestrebt ist, bloss den Moment der Verweigerung der Delegation zu betonen, um dann auf einen hypothetischen, aber praktisch nicht spezifizierbaren positiven Moment der Verweigerung selbst zu verweisen, scheint uns also nicht ausreichend. Es würde sich dabei um eine Neuverortung der Verweigerung in der beschränkten Optik des Defensivismus handeln, den es nunmehr Zeit ist, endgültig zu verlassen. Die Verweigerung ist nur eine solche, wenn sie zu einem ersten Moment einer Angriffsstrategie wird, und nicht, wenn sie als stellvertretende Äusserung von irrationalen Gefühlen entsteht und endet, die vom Subjekt selbst, das sie empfindet, schlecht wahrgenommen werden. Aus dieser Verwirrung gelangt man einzig zu einer Befriedigung des eigenen falschen Bewusstseins, zur Illusion, das man getan hat, was es möglich war, zu tun, und zum ewigen Aufschub dessen, was man vage die Notwendigkeit verspürt, zu tun.

Der Aufbau von einer zonalen abstentionistischen Struktur erscheint uns also möglich, während sich ab jetzt schon die potenzielle Kapazität, die eine solche Organisation besitzt, was die Verschärfung der Widersprüche des Feindes betrifft, deutlich zeigt, auch ausgehend von der Tatsache, dass die Formen der Enthaltung auf diese Weise einen unmittelbaren aggregativen Referenzpunkt für eine Reihe von Aktionen finden würden, die begrenzt und provisorisch sein mögen, aber fähig, die Zerstreuung in der Beliebigkeit und in der Inkonsistenz einer schlichten Weigerung davon, abstimmen zu gehen, zu vermeiden.

Die Möglichkeit einer abstentionistischen Organisationsstruktur

Die positive Funktion einer solchen Struktur besteht darin, als Referenzpunkt zu dienen für die „abstentionistischen Absichten”, als persönliche oder kollektive Entscheide, nicht abzustimmen, sich nicht an den nationalen, administrativen, regionalen, schulischen, Quartiers-, Fabrik-, und jeder anderen Art von Abstimmungen zu beteiligen.

Mittels dieser Struktur könnte man die Möglichkeit von einer Aktion nach aussen haben, die fähig ist, den schlichten Moment der abstentionistischen Absicht zu überwinden, ein Moment, der auch dann nicht als überwunden bezeichnet werden kann, wenn sich praktisch die Tatsache realisiert, nicht abzustimmen.

Diese Struktur präsentiert sich als eine Massenorganisation, die zum Ziel hat, die Leute in Hinblick darauf zusammenzubringen, einen Druck auf die Versammlungsaktivität der Organe des Staates auszuüben für eine Anwendung, die näher an dem ist, was die realen Bedürfnisse der Leute selbst sind. Dabei handelt es sich um ein Konzept, das sofort geklärt werden muss, denn es droht, die Grenzen und die Möglichkeiten der Struktur, wovon wir sprechen, nicht verständlich zu machen.

In der Praxis besteht das Ziel des anarchistischen Revolutionärs darin, dazu anzutreiben, dass sich eine Umwandlung des Abstentionismus von einer schlichten Manifestiening des Dissens in eine konkrete Revolte realisiert. Dies hat keine Möglichkeit, realisiert zu werden, wenn nicht durch ein organisatorisches Instrument, das, seinerseits, sich nicht eine schlicht und einfache Organisation der Revolte vornehmen kann, was etwas ist, das einem unmittelbaren und greifbaren Verständnis vonseiten der Ausgebeuteten entgeht. Das Instrument, wovon wir sprechen, präsentiert sich unabänderlich als Mittel, um die Macht zu einer angemesseneren Anwendung der assemblearen öffentlichen Aktion zu zwingen, im Sinne von einer grösseren Annäherung von ihr an die realen Interessen der Ausgebeuteten selbst. Das Projekt der Revolte wird im Verlaufe des Kampfes zutage treten, in der Wahl der Mittel, die eingesetzt werden, und in den Arten und Weisen, wie man, über das anfängliche Ziel eines Druckes auf die Organismen der Macht hinaus, voranschreitet.

Der Referenzpunkt (die zonale Struktur) wirkt als Ansporn zur Aggregation. In seinem Innern können Analysen und Klärungen angeregt werden sowohl über die repressive Funktion des sogenannten demokratischen oder assemblearen Mechanismus, wie auch über die Perspektiven, welche die Macht hat, eine Ausbeutung auch auf pseudo-selbstverwalterischen Grundlagen zu realisieren.

Im Laufe der Arbeit reift die Struktur, sie gibt sich die ersten Kampftermine: Demonstrationen, Diskussionen, Vorträge, Kundgebungen, Flugblattverteilungen, Plakate, Wanderausstellungen, das alles mit dem Ziel, den abstentionistischen Standpunkt und die Art und Weise, wie sich dieser letztere – als Verweigerung – unterscheidet von den Versprechen der Parteien, der Gewerkschaften, der Fabrik-, Instituts-, Quartier-, Gesundheitseinrichtungsräte, usw.f bekannt zu machen. Diese Unterschiede einmal denunziert, kann man zu einer spezifischen Prüfung all dessen übergehen, was von den Übertragungsrollen des Konsenses versprochen und nicht gehalten wurde, und dies zu dem Zweck, jenes klientelare und Delegationsfundament anzutasten, worauf sich die Stärke der Parteien und der Gewerkschaften stützt. An diesem Punkt wird eine ganze Reihe von anderen Aktionen hypothetisierbar: von der Besetzung des Rathauses bis zu jener der Schule, von der Blockierung der Fabrik bis zu jener der Quartierräte, von der Besetzung des Sitzes einer Partei oder einer Gewerkschaft bis zur Demonstration gegen das Parlament oder gegen die Regionalversammlungen. Ein immenses Arbeitsfeld eröffnet sich vor dem subversiven Abstentionismus.

Eben in diese vielfältige Aktivität fügt sich die Arbeit des anarchistischen Revolutionärs ein, der bestrebt sein muss, die einzelnen Kampfmomente der zonalen abstentionistischen Struktur, von Mal zu Mal, in Richtung von Zielen von aufständischem Charakter zu verschieben: Besetzung des Rathauses und Vorschlag von Entscheidungen, die jene des Rates ersetzen, Besetzung der Schule und Vorschläge von anderen Lehrplänen, von anderen Lehrbüchern, usw., Besetzung der Fabrik und Vorschlag von anderen Lösungen als denjenigen, die von den Gewerkschaften vorgeschlagen und in der Versammlung durchgebracht werden. Dasselbe für die Besetzungen der Sitze der Parteien oder der Gewerkschaften. Auch die Demonstrationen gegen das Parlament oder die Regionalversammlungen können Träger von anderen Weisungen sein als jene, die von der nationalen oder regionalen Politik widergespiegelt werden.

Einzeln betrachtet haben diese Kämpfe alle eine symbolische Bedeutung (Ersetzung einer Prozedur, die als ineffizient oder von Klientelismus verseucht betrachtet wird) und eine Bedeutung als Kritik an einem unkorrekten Ansatz der Tätigkeit des Staates und seiner Organe. Aber wenn man genau darüber nachdenkt, so haben diese Kämpfe auch ein beträchtliches Potenzial, welches, von Mal zu Mal, in einem aufständischen Sinne ausgerichtet werden kann. Jede einzelne Besetzung, jede Demonstration, kann ständig weiter vorangetrieben werden, sowohl, weil es sich um Kämpfe handelt, die von einer Struktur (oder von einer Reihe von Strukturen) organisiert werden, worin die anarchistische Minderheit ab dem ersten Moment aktiv präsent ist (ansonsten stünden wir vor den frommen Absichten eines realitätsfremden Entrismus), wie auch, weil im Verlaufe selbst der Kämpfe ein immer deutlicheres soziales Bewusstsein über jene anfänglichen Formen von Dissens heranreift, welche die Leute zu einer unbestimmten Zustimmung zum Abstentionismus angetrieben haben mögen.

Ein Kapitel für sich würde die Betrachtung der politischen Widersprüche verdienen, die eine organisatorische und Kampfaktion wie die oben umrissene innerhalb der Strukturen des Staates auslösen kann, mit besonderer Bezugnahme auf die Parteien der sogenannten Linken. Das, was mit dem Einsatz der aufständischen Methode angegriffen wird, ist eben der Mechanismus zur Konsensbeschaffung, ein Mechanismus, der es erlaubt, die Herrschaft zu verschnüren und zu versiegeln. Ein verfehltes oder mangelhaftes Funktionieren von diesem Mechanismus, egal wie eingegrenzt und beschränkt, ist stets ein grosser Angriff auf den Staat und auf das Kapital und ein grosses Hindernis, das sich vor ihren repressiven Absichten erhebt.

Organisationsdokument der zonalen abstentionistischen Strukturen

In einer modernen Demokratie ist das partizipative Wahlsystem die Grundlage der Konsensbeschaffung.

Dieses System besteht nicht bloss aus den periodischen Aufrufen an die „Meinungen” der Leute, ersucht auf Basis der nebulösen politischen Programme der Parteien, Aufrufe, die die grosse Masse der Untertanen dazu verleiten, sich an den politischen und administrativen Wahlen zu beteiligen, sondern weitet sich engmaschig über das ganze Leben des demokratischen Staates aus.

In den Fabriken, in den Schulen, in den Quartieren, in den Gesundheitsstrukturen, usw., gibt es Versammlungsmechanismen, die durch Wahlmethoden Konsens beschaffen.

Dem Staat gelingt es auf diesem Weg, die Situation unter Kontrolle zu haben, während er zu kleinen periodischen Anpassungen, Kontrollen und Sanierungen greift, die jedoch nichts anderes tun, als die Ausbeutung und die Unterwerfungsbedingungen aller Ausgebeuteten fortdauem zu lassen.

Der Wahlvorschlag – auf egal welcher Ebene – ist eine Art Gesuch um Komplizenschaft, damit eine beschränkte Machtclique, die an politische Parteiinteressen gebunden ist, mit Billigung der Abstimmungen, weiterhin tun kann, was sie vorher tat, während sie lediglich bescheidene Änderungen vornimmt, welche Reformen genannt werden.

In den letzten Jahren ist immer konsistenter eine Schicht von Personen aufgetaucht, die sich weigern, sich an den Abstimmungen zu beteiligen. Von einem Minimum von achtzehn Prozent in den politischen und administrativen Wahlen [1983] gelangt man zu einem Maximum von ungefähr siebzig Prozent bei den peripheren Wahlen (schulische, insbesondere).

Dieser Abstentionismus weist auf eine immer tiefer verwurzelte Teilnahmslosigkeit gegenüber einer Praxis hin, die nunmehr deutlich vor Augen führt, was die Absichten von denjenigen sind, die sie in Gang setzen.

Aber als solche, das heisst als schlichte Verweigerung, abstimmen zu gehen, ist sie nicht ausreichend.

Es muss mehr getan werden.

Es müssen zonale abstentionistische Strukturen organisiert werden.

A) Charakteristiken.

  • Die zonale abstentionistische Struktur ist eine autonome Kampforganisation, die all diejenigen versammelt, die effektiv die Absicht haben, über eine schlichte Enthaltung von der Abstimmung auf allen Ebenen hinaus zu gehen.
  • Sie ist keine bürokratische Organisation. Sie hat keine Statuten, Vereinsregeln, Gründungsdokumente, etc. (Auch dieses Dokument muss als eine schlichte Grundsatzschilderung betrachtet werden). Sie kann auch keinen permanenten Sitz haben.
  • Die einzelnen, auf dem Gebiet verstreuten zonalen abstentionistischen Strukturen entstehen spontan, auf Basis einer Übereinkunft zwischen wenigen Personen, und haben als einzigen gemeinsamen Punkt die allgemeinen Prinzipien, die gleich anschliessend genauer ausgeführt werden.
  • Die zonale abstentionistische Struktur ist ein Kampforganismus, der die Delegation ablehnt, nicht nur nach aussen, indem eben all diejenigen versammelt werden, die sich nicht an den Abstimmungen auf jeglicher Ebene beteiligen, sondern auch nach innen. Sie lehnt es also ab, ihren Vertretern permanente Delegationen zu erteilen, und aberkennt damit dieser Vertretung jegliche Professionalität.
  • Die zonale abstentionistische Struktur setzt sich konstant im Kampf gegen die Wahlen ein, auf allen Ebenen.
  • Jedes Mitglied der Struktur betrachtet sich als im Kampf gegen die Wahlmethode auf allen Ebenen und gegen die politischen Kräfte, die beabsichtigen, sie durchzusetzen, um Konsens zu erlangen, es erkennt daher, dass diese Methode einzig die Interessen der Ausbeuter und ihrer Diener unterstützt.
  • Die zonale abstentionistische Struktur ist keine Verteidigungsorganisation der Interessen von dieser oder jener Arbeiterkategorie. Sie ist also keine gewerkschaftliche oder para-gewerkschaftliche Organisation.
  • Die Propaganda- und Kampfaktivität von jeder einzelnen zonalen abstentionistischen Struktur wird bevorzugt mit jener der anderen zonalen Strukturen koordiniert, während die Möglichkeit von auch unabhängigen Initiativen, welche lokale Charakteristiken haben, stets bestehen bleibt, aber immer mit dem Ziel, die Verweigern der Wahlen auszuweiten und den Staat und seine Organe, auf allen Ebenen, zu einer Respektierung der Interessen der Verwalteten zu zwingen. Dies geschieht selbstverständlich, als Tätigkeit der einzelnen Strukturen, in der Perspektive der gemeinsamen Prinzipien.
  • Die Beteiligung an der zonalen abstentionistischen Struktur ist der logische Schluss von denjenigen, welche die Methode der Komplizenschaft nicht akzeptieren, die der Staat, auf allen Ebenen, durch die Wahlen jeder Art realisieren will.

B) Allgemeine Prinzipien.

Permanente Konfliktualität:

  • Der abstentionistische Kampf kann nur unter der Bedingung positive Ergebnisse zeigen, dass er konstant und nicht bloss auf den Vorabend der Wahlen beschränkt ist. Denn der Einsatz der elektoralen Methode, vonseiten des Staates und seiner Organe, ist konstant, und somit muss auch der Kampf, der beabsichtigt, sich dieser Methode entgegenzustellen, konstant sein.

Selbstverwaltung:

  • Die zonalen abstentionistischen Strukturen sind selbstverwaltet, das heisst, sie sind unabhängig von jeglichen Organisationen, Parteien, Gewerkschaften, Klientelen, usw. Sie erhalten keine Gelder ausser jene, die von den freiwilligen Beiträgen der Mitglieder selbst kommen. Auf dieser Autonomie beruht ihre Stärke.

Angriff:

  • Die zonalen abstentionistischen Strukturen verfechten die Notwendigkeit, die schlichte Nicht-Beteiligung an der Abstimmung mit einem Angriff gegen die Aspekte, worin diese Abstimmung sich realisiert, zu konkretisieren, mit dem Ziel, die abstentionistischen autonomen Entscheidungen an die Stelle der delegierten zu setzen, die auf dem Konsens beruhen, welcher durch den elektoralen und demokratischen Betrug beschafft wurde.

C) Methoden.

  • Die elektorale Aktivität ist konstant. Sie strebt danach, eine Verbindung zwischen Staat und Untertanen zu optimieren, um die Herrschaft so effizient wie möglich zu machen. Sie ist daher ein Element von unmittelbarer Repression. Sich der Abstimmung zu enthalten, ist sicherlich ein Anfang von Bewusstwerdung, und dieses Element ist die Grundlage, worauf man sich an der zonalen abstentionistischen Struktur beteiligt. Aber anschliessend muss weiter gegangen werden. Auf konstante elektorale Aktivität antworten die Strukturen mit konstantem Abstentionismus.
  • Alle Kategorien der Arbeit haben ein Interesse am abstentionistischen Kampf und an der Ersetzung der Entscheidungen von oben, gestützt auf die elektorale Delegation, durch die Entscheidung von unten, gestützt auf die direkte Aktion. Dies bringt eine notwendige Erweiterung der Kampffront mit sich.
  • Ein abstentionistischer Kampf muss aus dem schlichten Moment der Verweigerung, der nur defensive Charakteristiken hat, heraustreten, um zum Angriff überzugehen. Aber um dies zu tun, muss er die realen Bedingungen der Klassenkonfrontation kennen, die konkreten Aktivitäten, die von den verschiedenen staatlichen Organismen, die auf dem Wahlmechanismus basieren, entwickelt werden. Die Struktur wird also ein Aggregationselement. In ihrem Innern werden Analysen und Klärungen über die repressive Funktion der demokratischen und assemblearen Institutionen entwickelt, während die faustdicken Nebel, welche die Ideologie über die wirkliche Realität des demokratischen Staates herabsinken lässt, vertrieben werden. Dieser Teil des Kampfes erfordert einen sehr breitgefächerten gegeninformativen Aufwand.
  • Es müssen schliesslich jene Schichten erreicht werden, die über das Problem in Unkenntnis bleiben, obwohl es substanziell abstentionistische Schichten sind: die proletarischen Frauen, die Hausfrauen, die Kinder, die Alten. Sie alle haben das Recht, Bescheid darüber zu wissen, was der Staat mit ihrer unfreiwilligen Komplizenschaft und mit ihrem Schweigen realisiert.
  • Die Intümer des schlichten Abstentionismus, desjenigen, der von leeren Stimmzetteln spricht, zu akzeptieren, ist eine weitere Billigung des repressiven Verhaltens des Staates. Es sind nämlich nicht die nichtigen Stimmen, die die operative Fähigkeit des Staates stoppen, sondern die von unten organisierten Kämpfe, welche in jedem Moment des öffentlichen Lebens intervenieren, während sie versuchen, sich mit Basisvorschlägen an Stelle der Führungsentscheide zu setzen.
  • Eine jede Entscheidung, von jenen, die im Parlament getroffen werden, bis zu jenen der Gemeinderäte, von den Entscheidungen der Fabrikräte bis zu jenen der Instituts- und Universitätsräte, etc., wird getroffen, weil wir den Mund halten und nicht handeln, weil wir es zulassen, weil wir an andere delegieren, was wir selber kontrollieren, entscheiden und direkt tun müssten.
  • Die Methode, welche die zonalen abstentionistischen Strukturen verfechten, und welche sie für die einzige halten, die fähig ist, die schlichte Verweigerung in eine wirksame Kraft zu verwandeln, ist die ersetzende Methode. Wir müssen unsere überlegte Verweigerung an Stelle der Führungsentscheide setzen, die als Wahl- oder Versammlungsentscheide getarnt werden.
  • Jede einzelne abstentionistische Struktur kann sich mit all ihren Mitgliedern, in einer Massendemonstration, an jedem einzelnen Gemeinderat, an jeder Versammlung der Fabrikräte, der Instituts-, der Quartierräte, etc., beteiligen. Die meisten von diesen Versammlungstreffen erlauben eine Teilnahme von Elementen, die dem Organ selbst aussenstehend sind. Wenn die Teilnahmen nicht erlaubt werden, kann mit Demonstrationen, Umzügen, Kundgebungen, fliegenden Reden, Plakaten, Flugblättern und allen anderen erlaubten Mitteln ein externer Druck ausgeübt werden.
  • Die ersetzenden Vorschläge, welche die zonale abstentionistische Struktur vorbringen wird, müssen von einer perfekten Kenntnis der Tatsachen ausgehen, von einer Denunziation der klientelaren und Parteiinteressen, die sich oft an Stelle der Interessen der grossen Masse der Ausgebeuteten setzen, und müssen wirksam abgeschlossen werden, während Forderungen vorgebracht – wenn auch beschränkte – und Realisierungsfristen festgelegt werden, die nicht sehr lange und auch nicht unmittelbar sein können.
  • Im Falle von einer mehrmaligen Weigerung vonseiten des verantwortlichen Organs, die ersetzenden Vorschläge zu akzeptieren, kann man auch bis zur Besetzung von den Gebäuden gehen, worin die Funktion ausgeübt wird, solange, bis man erhält, was gefordert wird.
  • Mehrere zonale abstentionistische Strukturen können eine Demonstration initiieren, die, indem sie auf dieselbe oben beschriebene Vorgehensweise zurückgreift, auf regionaler und nationaler Ebene in die Versammlungen und ins Parlament intervenieren kann.
  • Jede einzelne Struktur versammelt sich wann und wie es ihr beliebt, mit der Regelmässigkeit, die sie für angemessen hält, und an dem Ort, der sich für die operativen Zwecke, die man erreichen will, am besten eignet. Die ergriffenen Initiativen werden – falls die Struktur es für zweckdienlich hält – den anderen zonalen abstentionistischen Strukturen bekannt gemacht.
  • Es können periodisch Treffen einberufen werden, um mit allen gemeinsam über die Kampfperspektiven und über die analytischen Vertiefungen zu diskutieren.
  • Die erste Aufgabe jeder zonalen abstentionistischen Struktur besteht in der Intervention nach aussen, um das grösstmögliche quantitative Wachstum zu realisieren.
  • Die zonale abstentionistische Struktur ist eine Massenorganisation, sie kann also, als solche, entweder die Form einer sektoriellen Struktur (Struktur von Arbeitern, Studenten, Lastwagenfahrem, Professoren, Krämer, usw.), oder die Form einer intersektoriellen Struktur annehmen (Struktur einer Stadt, eines Dorfes, eines Ortsteils, eines Quartiers, zonenübergreifende Struktur, usw.)
  • Die Wahl des Kampfes, den es zu führen gilt, wird von den einzelnen zonalen abstentionistischen Strukturen in den Versammlungstreffen entschieden. Jede Struktur kann Vertreter ernennen, die an den periodischen Treffen teilnehmen können, um die Massenorientierungen zu vertiefen.

D) – Perspektiven.

  • Die zonalen abstentionistischen Strukturen sind keine korporativen Organismen. Sie verteidigen nicht die Interessen von einer Kategorie, von einer Ortschaft oder von einer Personengruppe. Auch wenn es sektorielle oder intersektorielle Strukturen sind, beziehen sie sich auf eine gemeinsame Strategie und haben sie die Perspektive, Interessen zu schützen, die allen Ausgebeuteten gemeinsam sind.
  • Sie sind Massenstrukturen, die das Ziel haben, die Basisentscheide an Stelle der Führungsentscheide zu setzen, während sie den Betrug der Wahlen und der Versammlungen, in den Tatsachen, demaskieren.
  • Jeder externe oder interne Versuch, die zonalen abstentionistischen Strukturen in Richtung von Klientel-, Gewerkschafts-, Macht- oder schlicht passiven Widerstandszielen zu kanalisieren, muss verhindert werden.
  • Nur auf Massenebene können die zonalen abstentionistischen Strukturen ihr Gewicht spüren lassen, und auf diese Weise andere Entscheide als die Machtorganismen bewirken, Entscheide, die den Interessen der Ausgebeuteten näher sind.
  • Jedes andere Ziel bleibt ausserhalb der Reichweite der zonalen abstentionistischen Strukturen.

E) – die Koordination.

  • Im Verlaufe der ersten Treffen muss das Problem angegangen werden, eine nationale Koordination ins Leben zu rufen.
  • Die Koordination ist ein technisches Büro, das für alle zonalen abstentionistischen Strukturen, sowohl für jene, die bereits gegründet sind, wie auch für jene, die im Entstehen begriffen sind, als Referenzpunkt dient.
  • Die Koordination ist imstande, Angaben über die Gesamtsituation des Kampfes zu machen, über die Interessen, die sich um ihn herum entwickeln, über die Ziele der Bosse, über die erlangten Resultate.
  • Die Koordination muss imstande sein, auch minimale Propagandaindikationen und -instrumente zu liefern, aber sie darf, auf keinste Weise, in die Entscheidungen und in die Aktionen der einzelnen zonalen abstentionistischen Strukturen eingreifen.
  • Die Koordination sollte ein regelmässiges Bulletin verfassen, das die verschiedenen Kämpfe, die Analysen und die Vorschläge der einzelnen Strukturen, sowie auch Angaben über ihr Entstehe und ihre Entwicklung enthält.
  • Die Koordination muss sich darum kümmern, regelmässige Treffen zu organisieren.
  • Die Koordination wird abwechselnd von den Mitgliedern der verschiedenen zonalen abstentionistischen Strukturen realisiert und ist somit ein Organismus, der von den Strukturen selbst gebildet wird, welche sich um die Spesen zu kümmern haben, die an ihr Funktionieren gebunden sind.

Schlussfolgerung.

Die zonale abstentionistische Struktur ist ein Kampforganismus, der beabsichtigt, die Führungsentscheide durch die Basisentschiede zu ersetzen, indem die Massenkräfte organisiert werden, welche generisch gegen die Beteiligung an den Wahlen sind, auf jeglicher Ebene, parlamentarisch, administrativ und konsiliarisch (Fabrik, Schule, Quartier, etc.).

Sie beruht auf dem Prinzip der Autonomie des Kampfes und auf der permanenten Konfliktualität. Die Methode, die sie wählt, ist jene des Angriffs gegen die Versammlungsorgane, welche in der Praxis den demokratischen Betrug organisieren, um den Konsens zu gewinnen, während dieser letztere als Alibi benutzt wird für ihre Vormachtstellung zu Schaden der Ausgebeuteten.


1Solche wurden in Italien vorgeschlagen, um Gefährten in Haft, Hausarrest oder Verbannung, mittels ihrer Wahl zu Abgeordneten, durch deren politische Immunität, von den Sanktionen zu befreien. (Anm. d. Ü.)

]]> Alfredo M. Bonanno, Aufhebung und Überwindung https://panopticon.blackblogs.org/2024/07/10/alfredo-m-bonanno-aufhebung-und-ueberwindung/ Wed, 10 Jul 2024 11:14:43 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5930 Continue reading ]]> Gefunden auf Edizioni Anarchismo, die Übersetzung ist von uns. Originaltitel, Oltrepassamento e superamento, Opuscoli provvisori N. 64, erste Ausgabe Mai 2015. Wir haben diesen Text nach dem freundlichen und aufmerksamen Hinweis auf einige Übersetzungsfehlern runtergeladen. Diese wurden nun aufgehoben.


Alfredo M. Bonanno, Aufhebung und Überwindung


Einleitung

Das Problem der Qualität ist kein philosophisches Problem, es gehört zum Leben und aus diesem heraus, und aus dem wilden Durcheinander von Zweideutigkeiten, die sich daraus ergeben, findet es dann in der Reflexion eine Unterbringung und eine Besänftigung.

Das Leben ist also ein qualitatives Problem. Wenn man es nicht in dieser Perspektive sieht, was ist dann der Sinn des Lebens? Es wäre ein Tod auf Raten, eine Annäherung an etwas, das man für die Zukunft hält und das stattdessen bereits eingetreten ist, fast ohne irgendein Gefühl zu wecken. Wer in der Alltäglichkeit des Quantitativen versunken bleibt und von Zeit zu Zeit die verschiedenen Probleme aufzuheben, die ihn lebendig erscheinen lassen, ist ein Geist, ohne es zu wissen.

Jede Mauer ist ein Schutz und jeder Schutz ist eine Ankündigung des Todes. Die Angst vor dem Sterben treibt einen dazu, Mauern und fantastische Gewissheiten zu errichten, man denke nur an die Religion, und versucht, den Erwerbsprozess, den Besitz, zu überwinden, der mir zwar einerseits Trost gegen den Tod gibt, mich aber andererseits dem Tod selbst immer näher bringt. Das Ergebnis ist eine Akzeptanz der Eroberung als kleineres Übel und des Verlusts als größeres Übel. Eine Umkehrung dieser Abwägung ist nicht möglich, es sei denn, man setzt die Welt auf Null zurück.

Ich bin misstrauisch gegenüber dem Bestimmten und Endgültigen; diejenigen, die sich hinter der Norm verschanzen, tragen Roben und halten ihre persönlichen Erfahrungen für absolut. Das Leben selbst ist unvollkommen und quantitativ, selbst wenn es sich als Vorgabe präsentiert, bleibt es wenn nicht unvollkommen, was es ohnehin ist, so doch zumindest unvollendet. Wer an Exaktheit glaubt, ist ein Diktator in der Macht und oft auch in der Tat. Die Mathematik, die zu Unrecht auf ihre Determiniertheit stolz ist, ist, wenn sie nicht gerade eine vereinfachende Tautologie und eine Annäherung und Tendenz ist. Ich bewege mich auf immer intensivere Ebenen dieser Überzeugung zu und übersetze mich in die qualitative Unwahrscheinlichkeit, die mich dem Leben ebenso nahe bringt wie dem Tod. Das ist das Spiel der Vielfalt.

Ungenügend, um ich selbst zu werden, das ist das Todesurteil, das mich manchmal an der Kehle packt und mich mit seinen alten Beweisen erstickt. Kritische Versuche sind ein frischer Wind, aber es muss ihnen gelingen, die Entmutigung zu überwinden, und das kann nicht ihre Aufgabe sein, sie können den Tod nicht leugnen, und mein Leben kann nicht als trivialer Prozess auf den Tod hin akzeptiert werden, es wäre nicht lebenswert. Jenseits, die Klippe der Aufhebung, die meine totale Präsenz verlangt, das Delirium, das keine Skrupel kennt, das die Traurigkeit des Leichnams nicht berücksichtigt, sondern auf die aktive Verwandlung, vor allem meiner selbst, hinweist. Es ist schwer, sich die Intensität eines Kampfes mit sich selbst vorzustellen, der darauf abzielt, den Willen aufzugeben, zu umschiffen. Ein wahnsinniges Unterfangen, das mich vor der Tat sprachlos macht, das aber in der Tat nichts anderes ist als operante Vielfalt, die wirkliche Zerstörung der Welt des Scheins. Ich kann weder Kompromisse noch negative Interpretationen akzeptieren, die mir geholfen haben, das Doppelgesicht des Tuns zu entlarven, aber jetzt bin ich allein, entweder ich selbst zu werden oder in die Fesseln zurückzukehren, eine Niederlage, die eine Eroberung sein muss, um das zu werden, was ich bin, und nicht ein Verzicht aus Angst.

Angesichts der Spezifikation fühle ich mich gefangen und wie ein Sklave vor die Beweise gestellt. Aber ich bin in der Lage, mit der gleichen Logik auf die Dinge hinzuweisen, die ich auch in der ganzen Konstruktion erkennen würde. Also schließe auch ich mich dem weisen und gemäßigten Chor an, der Ungenauigkeiten produziert und sie als Vollständigkeit ausgibt. Ich akzeptiere die Herrschaft derjenigen, die die absurdesten Regeln aufstellen, indem sie sie auf eine Logik stützen, deren Tricks und Verkleidungen ich kenne. Mit ihnen zu brechen bedeutet, das Risiko einzugehen, ins Chaos zu stürzen und sofort den Wunsch zu verspüren, eine noch heftigere Neuordnung vorzunehmen. Bei diesem Bruch lerne ich jedoch, dass der Tod kein Ereignis der Welt ist, das mit denselben Methoden programmiert ist wie das Produzieren, sondern ein Hinweis des Schicksals, der durch mein qualitatives Handeln verändert werden kann. Diese Andeutung stellt mein Leben auf den Kopf.

Konfrontiert mit der Trostlosigkeit rufe ich Kräfte auf, von denen ich nicht dachte, dass ich sie besitze. Ich dehne mich aus, mein Körper reagiert positiv, die widrigen Umstände stärken und essentialisieren mich, die Abneigung gegen Äußerlichkeiten verschwindet und an ihre Stelle tritt exzessives Verlangen. Die Wüste ist eine Freude, die die Gegenwart der Abwesenheit ankündigt, aber sie ist ein Risiko. Wehe dem, der in der Wüste wohnt und meint, sein Gepäck mitnehmen zu können, vor allem das von Gott, das vom Himmel auf die Erde gestohlen wurde. Die Aktion trennt uns vom Leben und auch vom Tod, alles Zählen, wenn es denn stattfinden würde, wäre nur noch Erinnerung. Jahrhunderte und Jahrtausende werden in einem Augenblick zusammengefasst, Projekte und Träume werden nicht verwirklicht, sie verbrennen auf der Spitze einer Stecknadel.

Die Qualität teilt eine naive Allwissenheit, die mich gerade deshalb fasziniert, weil sie nicht erklärt und nicht will, dass ich sie verstehe. Sie packt mich an den Haaren, bietet mir keine parfümierten Madeleines an. In ihr steckt der ganze mögliche Schrecken der Wahrheit, das, was der Mensch ist, wenn seine fauligen Eingeweide aus seinem aufgerissenen Bauch kommen, um einer Welt, die nicht die seine ist, guten Tag zu sagen. Und die Welt will ihn nicht sehen und versteckt ihn unter dem Anschein einer Haut, die mal prächtig und symmetrisch, mal ausgetrocknet und geschwollen ist, das Behältnis der Leiche, die gut versteckt liegt. Aber die Wahrheit beginnt mit dieser delirierenden, formlosen Masse, die ich nicht als Teil des Lebens und des Todes akzeptieren will.

Ich begreife die Qualität unvernünftig, ich kann sie nicht einer Argumentation unterwerfen, die sie identifiziert. Diejenigen, die das tun, fragen nach Licht, fragen nach dem Licht, das die Qualität tötet und sie wieder von der Quantität trennt. Indem ich die Qualität ergreife, habe ich den Eindruck, sie aufzulösen, sie mir zu eigen zu machen, aber ich verliere die Distanz, die nötig ist, um sie zu verstehen, ich ergreife sie, indem ich eine Intimität zulasse, die keine Schranken duldet. Ich gebe mich dieser Intuition hin, die mich ergreift, und dann spüre ich ein unwirkliches Gefühl, das durch alle meine Adern fließt, ein Herzklopfen, das ich nicht regulieren kann und will. In der Qualität spricht die Stimme des Einen, aber sie sagt kein Wort, sie weist mich auf das Universelle hin, sie benennt nicht das Besondere, ich erweitere so eine Unbestimmtheit, die mich schon von dem Moment an durchdringt, in dem ich mich darauf einlasse, alle Konkordanzen und Parameter, alle meine Bezüge verschwimmen zum Nichts, während ich selbst, meine absolute Individualität, zum Zentrum und Bezugspunkt dieser unglaublichen Intensivierung wird. Qualität ist alles, also lässt sie keine Vorgaben zu. Selbst mein neues Stottern versucht, sich einen Weg zu bahnen und die Intensitäten, die sich mir nach und nach präsentieren, anders zu erfassen. Aber selbst die kleinsten Andeutungen von Intensität umfassen die maximale Intensität des Einen, sie sind nicht sein Symbol, sondern die Möglichkeit seiner vollen Entfaltung. Das Wesen der Totalität des Einen, das ist, sagt mir diese Teilhabe, auch wenn diese Aussage für mich ein bloßer Schauer im Rücken ist, ein exzessiver Paroxysmus, der keine stabilen Bezüge zulässt. Der Exzess dieser Intensivierung ist die Intensivierung selbst, nicht ein Moment, der auf einen anderen folgt. All dies um der Spezifizierung willen zu blockieren, bedeutet, den exzessiven Paroxysmus zu töten, der es belebt, die Bizarrheit der Vielfalt, die sich in unzugänglichen Schimmern ausbreitet, in kostbaren, aber nutzlosen Ebbe- und Flutwellen, die nicht in einer verschließenden Vorstellung des Einen eingeschlossen werden können. Diese Beziehung zur Qualität wird von mir vollkommen erlebt, sie ist keine Bewegung der Seele, sondern eine fantastische Spiritualisierung. Mein Körper erfährt sie und nimmt sie auf, sie bleibt nicht unversehrt, die Qualität wird in meinem Fleisch intensiviert, nicht in einem Phantom, das geschaffen wurde, um die Welt zu ersetzen. Der Exzess lässt meinen Körper erbeben, nicht nur einen Teil von ihm, er lässt mich am ganzen Körper erbeben, nicht nur ein Stück meiner Seele, und ich werde mit der Totalität fruchtbar, gerade weil ich in mein kultiviertes Wesen die Quantität aufnehme, zu der ich wieder zurückkehren werde, um mich an all dies zu erinnern.

Der Exzess ist eine Reise zurück, zu den Anfängen der Welt, als alles möglich war, und im Exzess ist alles möglich, absolut alles. Er lebt darin die ständige Aufhebung und geht weiter zu unzugänglichen Ufern, die nur er kennt, und noch darüber hinaus, Zonen, zu denen nur der Paroxysmus den Zugang erlaubt, wo Spannungen nicht gebrochen werden können, weil sie sich ohne jede Rücksicht endlos weiter ausdehnen, wo es keine Worte gibt, die neue Wege eröffnen, weil die Wege alle offen sind und die Worte alle schweigen. Die höchste Qual des Tuns ist ein zu kleiner Exzess im Vergleich zu dem, was ich meine. Freude ist nur ein Stückchen Zucker auf dem Kuchen. Das Spiel des Übermaßes ist nicht greifbar, da es keine Proportionen oder Maße hat, daher ist es so disharmonisch wie Naivität und Verzweiflung. Es erlaubt mir nicht, das Motiv des ständigen Neuanfangs zu verstehen, und das liegt daran, dass dieses Motiv fehlt, und es wäre absurd, es zu erbitten oder mit Gewalt des Scheins aufzudrängen, es bliebe das Motiv des Tuns und würde jene kleinen Verrücktheiten der Welt rechtfertigen, jene süßlichen Sammler-Manien, die mich schon zu lange erstickt haben.

Da ist eine unbekannte Kraft in mir, die mich zur Aufhebung drängt, ein Dämon, der nicht zu mir sprechen kann und dessen Sprache ich nicht kenne. Ich löse mich von der Prozession, die die Menschen verschlingt, und werde von diesem Verlangen eingeholt, ich löse mich, weil ich nicht durch Worte, sondern durch intuitive Triebe gerufen werde. Das untergräbt meine Sicherheit, meine Gewissheit, während ich die schrecklichen Bedingungen der Aktion erreiche, die nahe an der Verödung des Einen sind. Die Aktion ist schöpferisch, denn sie ist Abwesenheit, die zur Anwesenheit wird und Risiko und Verlust ins Spiel bringt, indem sie die Garantie eines scheinbaren und unvollständigen Besitzes, eines Phantoms und einer als Realität ausgegebenen Unruhe, durch sie ersetzt. Die Garantie, die die Herrschaft über die Welt zurückgewinnen könnte, ist jetzt weit entfernt, auch wenn ein einziger Gedanke des Zweifels sie vollständig wiederherstellen könnte.

Ich bin weniger denn je bereit, an der Trennungslinie zu verweilen. Ich weiß nicht, wo sie ist, und ich habe auch nie nach ihr gesucht. Ich bin ein Blinder und kann mich nicht einmal daran erinnern, jemals Augen zum Sehen gehabt zu haben. Trotzdem bin ich über sie hinausgegangen. Über all das hinaus, sogar über diese Zeilen, die ich wie ein Leichentuch auf mich nähen werde.

Triest, 22. April 2014

Alfredo M. Bonanno


Aufhebung und Überwindung

Der Titel meines Vortrags [Individualismus und Kommunismus. Eine Realität und zwei falsche Probleme] verdient eine kleine Einleitung: Es geht um eine angebliche Antithese zwischen Individualismus und Kommunismus. Das meiste von dem, was ich versuchen werde zu sagen, wird ein wenig seltsam klingen, denn es gehört zum traditionellen Gepäck des gesunden Menschenverstands, Individualismus und Kommunismus als radikal unterschiedliche Dinge zu behaupten. Selbst in der heutigen Zeit haben der Regen und die Ablagerung politisch-journalistischer Verurteilungen, die auf das Konzept des Kommunismus gehäuft wurden, jede Diskussion über dieses Thema mit einem Grabstein besiegelt. Und da diejenigen, die sich mit diesen Dingen beschäftigen, Kleriker, die dafür bezahlt werden, gerne dazu übergehen, über andere Dinge zu sprechen, hat sich herausgestellt, dass unter diesen anderen Dingen auch der Diskurs über die Aufwertung der absoluten und heiligen, im Stirnerschen Sinne, Unabhängigkeit des Individuums ist.

Das ändert natürlich nichts an der Tatsache, dass es einen Unterschied zwischen Individuum und Kollektivität, Individuum und Gemeinschaft, Individuum und Gruppe von Individuen geben kann, die zusammenleben, in gegenseitigem Kontakt, mit wechselseitigen Beziehungen, um zu sehen, was diese Unterschiede sind, welche eine konkrete, operativ transformative Bedeutung haben und welche nur dazu dienen, kleine Orte, kleine Ghettos der illusorischen Selbstgenügsamkeit abzusiedeln.

Deshalb schlage ich vor, dass wir uns ein wenig Zeit nehmen, um die Dinge zu durchdenken und auch an die Geduld zu appellieren, die bei vielen anarchistischen Gefährten Mangelware ist, um diese Probleme anzugehen, die zwangsläufig gewisse Schwierigkeiten mit sich bringen, da es sich unweigerlich auch um einen Aspekt der philosophischen Debatte handelt, der diskutiert werden muss.

Gestern sah ich Löwen in Käfigen durch den Saal streifen, die widersprüchlichen Gefühlen ausgeliefert waren und sich nicht trauten, unanfechtbare Formulierungen von ebenso unanfechtbaren Spezialisten zu hören, die unanfechtbare Dinge sagten. Doch das störte das revolutionäre Gleichgewicht vieler von uns, die aus irgendeinem Grund vielleicht einen klärenden Beitrag aus der Quelle des offiziellen Wissens erwarteten, der auf uns herabregnen würde für die aktive Praxis der Veränderung, die jeder anarchistische und aufständische Revolutionär im Leben zu konkretisieren hat.

Hier sind wir mit einem grundlegenden Missverständnis konfrontiert, das sofort geklärt werden muss. Nichts, ich sage nichts, kann von der Akademie zu uns kommen, nichts von der kultivierten Ausarbeitung der Orte des Wissens. Das ist kein Vorurteil. Nichts kann zu uns kommen im Sinne von operativ anwendbar und transformierbar. Aber das Wenige, das zu uns kommen kann, sei es wenig oder viel, und das hier in weiser Voraussicht dargelegt wurde, macht nur dann Sinn, wenn es durch unsere Fähigkeit zur Anwendung gefiltert wird, wenn es in uns selbst erfahren und somit umgewandelt wird, im Namen jenes autonomen und bedeutungsvollen Labors, in dem diese Umwandlung stattfinden kann, nämlich des Individuums.

Das Buch von Stirner ist sicherlich ein Klassiker der Philosophie, und hier wurde es sehr gelehrt in die philosophische Debatte der letzten hundertfünfzig Jahre eingeordnet, mit einer unglaublichen wiederkehrenden Aktualität, und das ist sicher eine Tatsache. Aber wie alle Klassiker, wie alle Äußerungen des menschlichen Gefühls, des menschlichen Denkens, die sich in Werken verwirklicht haben, die ihre eigene individuelle Vollständigkeit und Originalität haben, ist nicht nur Stirners Buch einzigartig, denn jeder Klassiker an sich ist ein einzigartiges Buch, das sich als bedeutendes Zeugnis präsentiert, das aus der Vergangenheit zu uns kommt und das wir lesen und interpretieren müssen. Interpretieren, wohlgemerkt, in jenem Übergangsprozess, der sich einer transformativen Phase nähert, in der diese Interpretation gedeihen und die tatsächlichen transformativen Fähigkeiten des Einzelnen hervorbringen muss, nicht des Buches. Wir lesen ein einzigartiges Buch, denn alle Bücher sind einzigartig, und das von Stirner ist genauso einzigartig wie alle anderen einzigartigen Bücher, solange wir es so lesen, dass es zu unserem eigenen Material wird, dass wir es uns zu eigen machen, dass wir es in Besitz nehmen, dass es nur dann unser Eigentum wird, wenn wir durch diesen Beitrag in der Lage sind, unser Leben zu verändern und die Realität zu verändern.

Wenn wir dazu nicht in der Lage sind, können wir die Weisen im klassischen Elfenbeinturm sein, die verächtlich auf das gemeine Pöbel und das unwissende Pöbel herabblicken und nicht in der Lage sind, diese Veränderung in sich selbst vorzunehmen, eine Veränderung, die unweigerlich dazu führt, dass sie ihr eigenes Leben in Frage stellen. Denn der Unterschied zwischen dem Prozess der Verwandlung und dem Prozess der Befreiung – ohne an die Marxsche These über Feuerbach zwischen Interpretation und Verwandlung zu erinnern – besteht meiner Meinung nach darin, dass die Lektüre, die wir tun – und Stirners Buch ist eine der vielen Lektüren, die wir tun -, die Fähigkeit haben muss, uns in die Lage zu versetzen, unser Leben zu verwandeln, denn nur diese mögliche, nicht sichere Verwandlung kann dazu beitragen, die gegebenen Bedingungen, von denen Stirner spricht, zu verändern. Nur dadurch, dass wir uns selbst aufs Spiel setzen, nur durch unsere unmittelbare Beteiligung, haben wir tatsächlich die Möglichkeit, die gegebenen Verhältnisse zu verändern. Andernfalls bleiben die gegebenen Verhältnisse, was sie sind, die Rebellion des Individuums gehört zu jenem dialektischen Moment im Sinne des schlimmsten Hegelismus, der typisch für jede intellektuelle Selbstauflösung ist, also für jene klassischen Widersprüche, die im Geist des Klerikers geboren werden, gedeihen und sterben.

Nun frage ich mich: Wie viele Leser von Der Einzige, das ist eine Frage, die mich in den letzten dreißig Jahren beschäftigt hat, sind tatsächlich mit einer transformativen Absicht an dieses Werk herangegangen (nicht, dass sie das Werk transformieren mussten, sondern sich selbst durch die Lektüre des Werks transformieren wollten)? Wie viele Leser von Der Einzige sind mit der Absicht an den Text herangegangen, dass er eine von vielen Möglichkeiten sein könnte – und sicher nicht die beste oder privilegierteste -, ihr Leben zu verändern, die Bedingungen der Unterwerfung, der Mitwirkung und der Kollaboration in einer Machtstruktur zu verändern, die uns erdrückt und die die Grundlage und die Bedingungen des Privilegs darstellt, durch die viele von uns an Der Einzige herangehen konnten? Denn das Lesen eines Buches, egal welchen Buches, ist ein privilegierter Zufall. Viele Menschen, die vielleicht mehr wert sind als wir, konnten es sich aufgrund objektiver Bedingungen nicht leisten, Der Einzige zu lesen.

Millionen von Menschen haben dieses Buch gelesen, aber was haben sie davon gehabt? Banalitäten, in denen die Macht gepriesen wurde, Banalitäten, in denen die absolute Konstruktion des Individuums gepriesen wurde, ein unausweichliches Erbe, durch das man vielleicht die Welt erobern könnte. Auch das waren Lesarten von Der Einzige. Und dann gab es noch diejenigen, die auf raffinierte Weise unglaubliche Entwicklungen autoritärer, faschistischer oder gewalttätiger Art hervorheben wollten, und zwar im überflüssigen Sinne des Wortes.

Nach dieser Prämisse, die vielleicht deplatziert erscheinen mag, die aber unabdingbar ist, weil es menschlich absurd wäre, von der Einzigartigkeit des Individuums zu sprechen und daran zu denken, dass man sich außerhalb des Prozesses der Konstruktion der Einzigartigkeit des Individuums befindet, möchte ich zunächst einen Widerspruch erwähnen, der mir als altem Stirner-Leser – oberflächlich wohlgemerkt, denn ich bin kein Stirner-Spezialist – in Stirners Text immer präsent erschien. Meiner Meinung nach gibt es einen merkwürdigen Widerspruch, und zwar folgenden: Wenn man Stirner liest (ich habe hier im Bericht die Passagen transkribiert, die am meisten mit dem zu tun haben, was ich – vielleicht etwas fälschlicherweise – für einen möglichen Widerspruch halte), scheint es, als ob die Idee, das Bild, einer perfekten Konstruktion des Individuums möglich ist. An einem bestimmten Punkt stellt sich Stirner vor, dass der Individualist – denn Stirner sagt dieses Wort und es liegt nur an uns, „Stirnerianer“ hinzuzufügen – sich vollständig definieren kann, und zwar mit einer Reihe von Errungenschaften. Wenn wir nun den historischen Moment untersuchen, in dem dieses Konzept – scheinbar selbstverständlich, denn Rom wurde nicht an einem Tag erbaut, die Dinge werden immer nach und nach getan – wenn wir es im Kontext des damaligen europäischen philosophischen Denkens untersuchen, nicht nur philosophisch, sondern vor allem wissenschaftlich, dann sehen wir, wie das der Moment war, in dem die Konstruktion einer fortschrittlichen Zukunft für möglich gehalten wurde, die Geschichte in Richtung der Verwirklichung der Philosophie in Gang gesetzt wurde. Denn es ist nicht wahr, dass nur Stirner schrieb und dachte, er würde ein einzigartiges Buch schreiben, ein für alle Mal, zu dem er nie mehr zurückkehren würde, sondern vor ihm hatte sein Meister diese berühmten Worte gesagt: „Ich lehre keine Philosophie, ich bin Philosophie“, das heißt, Hegel hatte gedacht, er sei der einzige Philosoph und Stirner ist einzig, weil er immer noch Hegelianer bleibt, weil er denkt, er könne das Individuum Stück für Stück konstruieren. Meiner Meinung nach können wir heute sagen, dass dies nicht möglich ist, es gibt keine mögliche Konstruktion, die auf dem Prozess des „Stück für Stück“ basiert. Zweifelsohne hat Marx dazu beigetragen, die philosophischen Gründe für diese Unmöglichkeit in bestimmten Kreisen bekannt zu machen. In der Einleitung zum Kapital, ich glaube aus dem Jahr ’56 [1857], ich erinnere mich nicht mehr genau an das Datum – und ich bin auch kein Marx-Spezialist – wird dieses Konzept sehr deutlich entwickelt: Nichts kann nach und nach aufgebaut werden, wenn wir es nicht schon in seiner Gesamtheit besitzen. Wir können, wie Nietzsche später sehr gut sagen würde, nur unter äußerst bedauernswerten und schwierigen Bedingungen zu dem werden, was wir sind; wenn wir es nicht sind, können wir es nicht werden, wenn man nicht den Mut hat, sagte Don Abbondio, kann ihn einem niemand geben.

Das Erfassen der Gesamtheit dessen, was man sein will, der Gesamtheit des Individuums, das fähig ist, die Welt zu verändern, ist also nur auf einmal möglich. Denn nur innerhalb der Gesamtdimension ist es möglich, die einzelnen Stufen der Veränderung zu erkennen. Denken wir daran, dass dies die Zeit war, in der das physikalische Denken, die Naturwissenschaft, sagen wir, die Geometrie, die politische Ökonomie, in Gewissheit ertrank. Die Gleichungen von Léon Walras stammen aus dieser Zeit und sind die Gleichungen, die das mögliche Gleichgewicht eines sich entwickelnden Wirtschaftssystems aufzeigen. Frédéric Bastiat, der Theoretiker des französischen Liberalismus, d.h. der stärksten Bourgeoisie in Europa zu dieser Zeit, sagt das Gleiche: Aufbau der möglichen perfekten Gesellschaft, Schritt für Schritt.

Und die Anarchisten sind tragischerweise manchmal in dieses Missverständnis verfallen.

Ich glaube, dass dies einer von Stirners Widersprüchen ist, und zwar nicht so sehr, weil er keine objektiven Instrumente vorschlägt, um diesen Widerspruch zu durchschauen, sondern weil dieser Widerspruch nicht vollständig verstanden werden kann, wenn man das Buch aus der Perspektive von „Stück für Stück“ liest.

Zu den Werkzeugen, die Stirner uns anbietet, gehört zweifelsohne der Hinweis zur Macht, zur Fähigkeit des Individuums, sich gegen die Widersprüche zu wehren, die es unterdrücken. Daher die schönen Seiten über den wichtigen Unterschied zwischen dem Befreiten und dem Freien, dem Befreiten als Befreiung von der Macht und auf der anderen Seite dem Selbstbefreiten, der seine eigene Zukunft, seine eigene Wirklichkeit aufbaut. Und sicherlich ist dieser Aufruf zur Macht wichtig, aber – und hier müssen wir uns an die Worte erinnern, die ich eingangs gesagt habe – die Lektüre des Textes erhält eine besondere Konnotation und Bedeutung, wenn man sie in Bezug auf die Dinge betrachtet, die der Leser und insbesondere der revolutionäre Anarchist erreichen will.

Oft hat dieser Text bei vielen Gefährten zu einer Überbewertung der Stärke beigetragen, ohne dass sie, die meiner Meinung nach leider uninformierten Leser von Stirner, begriffen haben, dass Stärke das andere Gesicht der Schwäche ist. Und wie das andere Gesicht von allem, gehört sie zu der widersprüchlichen Einheit, die es zu verstehen gilt. Wir werden später sehen, wie und unter welchen Bedingungen. Diejenigen, die sich nur auf die Ausübung von Macht beschränken würden, um die Autonomie des Individuums zu konstruieren, würden erkennen, dass es keine ausreichende Macht gibt, um diesen Widerspruch zu beseitigen, sondern dass es immer das Bedürfnis gibt, sich eine größere Macht anzueignen, weil die Grenze der verwirklichten unzureichenden Konstruktion gespürt wird und sich das Bedürfnis und damit der quälende Mangel an größerer Macht ständig weiterentwickelt.

Der starke Mensch existiert nicht als etwas Absolutes, der stärkste Mann der Welt existiert nicht.Jeder von uns kämpft innerhalb bestimmter Grenzen, und das ist auch etwas bei Stirner, dieser Begriff der Gewalt, diese Analyse, die von diesen Grenzen ausgeht, und niemand kann sie mit dem Begriff der Macht allein überwinden, denn diese Grenzen gehören zu den Eigenschaften des Individuums, zu seinem natürlichen menschlichen Wesen. Sie gehören also zu den Widersprüchen, von denen Stirner meiner Meinung nach bitter spricht, und zwar innerhalb eines Schemas, das unausweichlich in die Sackgasse führt, da es dem scheinbar erschöpfenden Mechanismus der Hegelschen Triade anvertraut ist. Ich beziehe mich hier nicht auf die Verwendung von „Mongolen“ und all diesen Dingen, oder auf die Verwendung der drei Phasen usw. Das sind formale Aspekte, die zur Schule gehören und auf jeden Fall Teil des Problems sind, aber ich beziehe mich im Grunde auf die Illusion, die Stirner kultiviert und die zur Möglichkeit dieser Aufhebung gehört. Aber diese Aufhebung ist genau die Dimension der Hegelschen´ Aufhebung, in der die Widersprüche überwunden, aufgehoben, einer Wirklichkeit untergeordnet werden, in der sie völlig verschwinden.

Spätere Denker haben über diesen Punkt nachgedacht, und zwar nicht nur Arthur Schopenhauer, wie gestern zu Recht und sehr gelehrt gesagt wurde, sondern vor allem Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, der nach Hegels Tod und nach der Aufhebung des gegen ihn verhängten Verbots zur Lehre zurückkehrte. Und was sagt das aus? Die Vernunft reicht nicht aus, der Widerspruch kann nicht allein mit dem Verstand überwunden werden, und der nous reicht nicht aus – man denke daran, dass ein Philologe wie Giorgio Colli den nous als die Frau des Herzens bezeichnete – das ist sicherlich ein faszinierendes Konzept und wichtig, aber es reicht nicht aus. Man muss sich auch darüber im Klaren sein, dass das Territorium der Trostlosigkeit, das jenseits des scheinbar organisierten und autarken Territoriums der Vernunft liegt, nur durch das eigene Leben, durch das eigene Engagement, das eigene Sich-auf-die-Linie-Stellen, erreicht werden kann. Es ist nicht nur die Intuition, die den Übergang zur nächsten Stufe ermöglicht, und das ist die Grenze eines Philosophen wie Schelling. Deshalb löst Søren Kierkegaard seine Beziehung zu Regina Olsen auf dramatische Weise auf und löst sie im Namen einer Transformation seines eigenen Lebens auf, denn ein wirklicher Widerstand gegen die Herrschaft der Vernunft ist nicht denkbar, ohne sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen.

Es reicht nicht aus, eine Intuition zu haben, d.h. die vage (oder sogar sentimentale, oder in diesem speziellen Kontext romantische, oder einfach angenehme, oder was auch immer) Intuition von „etwas anderem“ zu haben. Es ist notwendig, dass wir dieses „Andere“ entdecken, identifizieren und uns zu eigen machen, und es ist notwendig, dass wir bei dieser Begegnung unser Leben aufs Spiel setzen. Denn wenn wir an all den spezifischen Bedingungen festhalten, die dem Anerkennungsstatut des offiziellen Hegelismus entsprechen – Hegel war der offizielle Philosoph des preußischen Staates -, wenn wir an all dem festhalten, wenn wir an dem garantierten Monatsende festhalten, das uns eine Institution mit siebenundzwanzig garantiert, stehen wir vor einer unwiederbringlichen Tragödie. Wohlgemerkt, das sage ich nicht nur dir, das habe ich selbst erlebt, auch ich war jahrelang ein Sklave von siebenundzwanzig, aber an einem bestimmten Punkt brauchen wir eine Zäsur, einen radikalen Schnitt, weil wir sonst über bestimmte Dinge nicht reden können. Nun, das sind persönliche Angelegenheiten, lassen wir sie beiseite.

Ich möchte noch eine Sache zum Thema Aufhebung, Aufhebung der Vernunft, Aufhebung der Grenzen der Vernunft hinzufügen. Denn es ist nicht wahr, dass der Schlaf der Vernunft Monster hervorbringt, meiner Meinung nach ist das Gegenteil der Fall. Die Monster von z.B. Hitler, die heute überall ein wenig zu erwachen scheinen, waren das Produkt der deutschen Vernunft, und sie waren nur in ein Seidenpapier des Irrationalismus eingewickelt, das von der germanischen Akademie mit der spezifischen Organisations- und Verwaltungskapazität der ‚Deutschen Ordnung‘ hergestellt wurde. Meiner Meinung nach geht es also nicht um Aufhebung im Hegelschen Sinne, sondern von Überwindung. Das Konzept ist wichtig und ich komme darauf zurück, wenn auch nur für einen Moment. Überwindung bedeutet, dass wir Widersprüche mitnehmen und nicht davon träumen, dass wir sie endgültig beiseite schieben können. Denn nicht einmal, wenn man diese Zäsur im eigenen Leben macht, wenn man sich selbst zum völlig Anderen erklärt, ist es möglich, dieses Andere dauerhaft zu fixieren.

Ich schlage nicht vor, den Status des Universitätsprofessors durch den Status des Revolutionärs zu ersetzen, ich schlage nicht vor, den bewaffneten Raubüberfall praktisch an die Stelle des Gehalts des 27ten zu setzen, ich schlage das nicht vor, denn Status ist das eine und Status ist das andere: Die endgültige unglaubliche Sedimentierung der Vernunft ist das eine und auch das andere.

Ich schlage vor, die beiden Bedingungen kritisch zu erfahren und sie zu überwinden und immer wieder ins Spiel zu bringen, denn wenn man beim bewaffneten Raubüberfall anstelle des Gehalts des 27ten stehen bleiben würde, wie es Fälle gegeben hat, würde man was schaffen? Die Ideologie des Spezialisten, der im Namen seiner eigenen vermeintlichen Überlegenheit den Anspruch erhebt, anderen die endgültige Lösung des Problems aufzuzwingen. Mit anderen Worten, eine Aufhebung im Hegelschen´ Sinne, bei der die Vernunft durch die über die Augen gezogene Strumpfhose wieder den Beamten in Schlips und Jackett darstellen würde.

Überwindung hingegen bedeutet, Widersprüche mit sich herumzutragen und das Bewusstsein zu haben, dass es nie möglich ist, Monster endgültig auszutreiben, weil sie mit uns leben, weil sie immer präsent sind.

Was gibt es also nach der Überwindung? Offensichtlich das Individuum, das sich dieser radikalen Veränderung seines Lebens bewusst wird und sieht, wie es die objektiv gegebenen Bedingungen verändert, und das nimmt, wie gestern sehr gut gesagt wurde, die Form einer Suche nach Unterschieden an.

Wir erkennen dann, dass die Wirklichkeit aus anderen Individuen besteht, anderen Individuen, die sich von uns unterscheiden, anderen Wirklichkeiten, die sich von uns unterscheiden. Und wie ist es möglich, sich diesen Unterschieden zu nähern? Wieder entsteht eine Dichotomie der Möglichkeiten: die, die auf der urteilenden Vernunft, auf der Analyse, basieren, und die, die stattdessen auf der Teilnahme beruhen, nicht auf der Intuition allein, sondern auf der Vernunft, die teilnimmt und gleichzeitig zu etwas anderem als sich selbst wird, da der Unterschied die Wirklichkeit selbst ist, da es in der Wirklichkeit keine Identität gibt. Selbst die aristotelische Formel: „A ist nicht nicht A“ ist eine Banalität, wie Martin Heidegger in einem berühmten Seminar deutlich gemacht hat. Hinter dem Anspruch, Unterschiede endgültig zu katalogisieren, verbirgt sich also ein taxonomischer Betrug. Der Katalog ist unendlich, wir können lange, sehr lange Listen mit den Unterschieden erstellen und davon träumen, sie zu beherrschen, sie einordnen zu können, aber in dem Moment, in dem wir sie sammeln und vor uns hinstellen, verschwinden sie, werden sie annulliert.

Was könnte also, meiner Meinung nach und nach meiner Lektüre von Stirner, der Unterschied sein? Eine kontinuierliche, wiederholte und stets veränderte Erfindung des Anderen. Das heißt, das andere Individuum in seinen möglichen Gemeinsamkeiten, in seinen Beständigkeiten zu suchen. Das Konzept ist nicht einfach, das ist mir klar, deshalb bitte ich um ein wenig Geduld in dieser Frage.

Es ist in der Tat einfach, Unterschiede zu erkennen, denn keine zwei Dinge sind gleich, aber wenn wir in die Unterschiede hinabsteigen, brauchen wir einen weiteren Abstieg. Und es ist die gleiche tragische, ungelenke Angelegenheit der Gewalt. Um Unterschiede zu erkennen, wenden wir Gewalt an, wir dringen in sie ein. Das ist die maskuline Art, sich den Geschlechtsverkehr vorzustellen: das Eindringen in die Differenz.

Dieser Weg hat keinen Ausweg, denn er ist endlos. Wenn wir hingegen einen Moment lang darüber nachdenken und bei der möglichen Überlegung stehen bleiben, uns von der Differenz durchdringen zu lassen und zuzulassen, dass dieses unausweichlich unterschiedliche Wesen der Realität uns einen möglichen Code der Gemeinsamkeit, der Affinität bringt, dann erfassen wir die bedeutsamen Unterschiede, d.h. die Unterschiede, die für uns, für unser Sein als Individuen, eine Bedeutung haben, nicht alle möglichen Unterschiede.

Die Auswahl dieser Unterschiede konstruiert und verwirklicht in Wirklichkeit die begrenzte, umschriebene, unangenehme – wie du willst – mögliche Identifizierung von Unterschieden. Was wissen wir also letztendlich? Nur „Individuen“, und damit beschränken wir uns auf dieses Problem, denn wir könnten zur Identifizierung der natürlichen Realität, als Unterschied usw. kommen. Aber damit würden wir uns sehr weit aus dem Fenster lehnen, und das sind Überlegungen, die ich schon an anderer Stelle angestellt habe und die ich hier nicht aufgreifen möchte. In diesem Zusammenhang identifizieren wir also ein Individuum, das genauso anders ist als wir, genauso individuell wie wir, genauso bestrebt, sein eigenes Leben, seine eigene Vielfalt zu konstruieren. Nur wenn wir die möglichen Gemeinsamkeiten dieser Person mit uns erkennen, können wir sie kennenlernen, denn es ist nicht möglich, Gemeinsamkeiten zu erkennen, ohne die Unterschiede zu berücksichtigen und ohne diese Unterschiede zu kennen, um Gemeinsamkeiten zu erkennen.

Mir ist klar, dass diese Überlegungen wie triviales Geschwätz erscheinen, das im Grunde nur Zeit verschenkt, aber ich glaube, das ist nicht ganz so.

Dieser Vorgang, der mir so vorkommt, als würde ich in Stirners innerste Absichten hineinlesen, da ich vielleicht nicht in der Lage bin, die objektiven Erscheinungsformen des Buches zu erfassen (aber ich war schon immer unfähig, ein Buch objektiv zu lesen, wobei ich mich dann übrigens fragte, welche Dinge auf objektive Weise möglich wären? – aber das ist ein anderes Thema), wie kann das erreicht werden, wenn nicht durch die Konstruktion eines Maskierungsprozesses? Und genau das meint Stirner, wenn er von der Künstlichkeit der Konstruktion des Anderen und damit der Konstruktion des Selbst spricht. Es handelt sich nicht um einen natürlichen Prozess. Die Ablehnung der Natürlichkeit, die Ablehnung dessen, was als naturalistische Rechtsauffassung bezeichnet wurde, ist nichts anderes als die Ablehnung der Möglichkeit, einen bestimmten Platz in der Natur zu identifizieren, so wie ich es verstehe, wohlgemerkt, mit all meinen Einschränkungen. Es ist also immer eine Fiktion, diese Struktur der Identifikation. Es ist immer eine Fiktion, die dann das gleiche Konzept ist, das, von Nietzsche überarbeitet, in der schönen Figur der Maske Gestalt annimmt.

Das heißt, wir können uns dem anderen in einem doppelten Prozess der Maskierung nähern: indem wir uns selbst maskieren, indem wir unsere wahren Absichten verschleiern, um den anderen – im Stirnerschen Sinne, also im positiven Sinne – benutzen zu können. Um dies zu tun, können und müssen wir die Nutzung des Anderen durch eine Maskierung seiner Objektivität realisieren.

Im Grunde bin ich fertig, aber zuerst möchte ich noch eine letzte Sache sagen.

Die Tatsache, dass wir uns nicht selbst ausrufen können, habe ich am Anfang erwähnt (hier, in meinem Beitrag, wurde sie ans Ende gesetzt). Wir können uns nicht selbst ausrufen, da wir versuchen müssen, Selbstbesitz zu konstruieren, das heißt, wir müssen versuchen, Autonomie von uns selbst zu konstruieren, und das ist – zumindest meiner Meinung nach – nur in einer Dimension möglich, in der die Gemeinschaft mit anderen nicht ausgeschlossen wird, in der der andere in eine Beziehung zu unserer Einzigartigkeit gebracht wird.

Hier wird Stirners „Vereinigung der Egoisten“ – auf die gestern angedeutet wurde und die im Übrigen nicht zufällig die einzige Andeutung war – als ob dieser Aspekt dem Randbereich der Diskussion anvertraut wäre, was er meiner Meinung nach nicht ist. Allerdings ist dieser Aspekt – und meine Aussage wird einige Gefährten die Stirn runzeln lassen – für mich zentral. Ich denke, dass das Individuum sich nicht nur selbst konstruieren muss, denn das ist in gewissem Sinne die Bereitstellung von Werkzeugen, ich bin ein Instrument meiner selbst, um mich zu realisieren. Aber, wenn ich mich selbst nicht realisiere, besitze ich keinerlei Werkzeug der Realisierung. Die Sache ist zeitgenössisch: ich realisiere mich in dem Moment in dem ich mich selbst als Werkzeug realisiere, insofern ich der Zweck von mir selbst bin, und das ist gewiss so. Aber im Moment in dem ich an dieser Realisierung von mir selbst arbeite, muss ich ein Projekt haben, dass nicht ich selbst sein kann: das Projekt ist etwas das mich selbst überwindet. Das heißt, dass es die Widersprüche, die in mir und in den gegebenen objektiven Bedingungen außerhalb von mir waren, mit mir, durch mich und außerhalb von mir bringt. Nur das ist als Bedingung für das Projekt möglich.

An diesem Punkt beginnt der Weg, von dem viele sagen, dass er mit den flammenden Steinen des Autoritarismus gepflastert ist, denn der Prozess des Aufbaus eines Projekts ist immer ein autoritäres Projekt. Gestern wurde hier ein Vergleich zwischen Michail Bakunin und Stirner gezogen. Ein Vergleich, der meiner Meinung nach ins Leere läuft, weil es unter anderem keine gesicherten Lesarten von Bakunin durch Stirner gibt, obwohl Bakunin im Deutschland der 30er Jahre ein philosophisch wichtiger Name war, so sehr, dass die heimliche Veröffentlichung eines Pamphlets von Engels Bakunin zugeschrieben wurde, wie Recherchen vor einigen Jahrzehnten zeigten. Obwohl Bakunin unter all denen ist, die an den Vorlesungen des zweiten Schelling teilgenommen haben, ist Bakunin anders, denn es ist nicht so, dass Bakunin autoritärer ist oder einem anderen Aspekt des Anarchismus angehört, was gestern gesagt wurde und was meiner Meinung nach nicht stimmt: Stirner hat einen bestimmten Anarchismus, Bakunin hat einen anderen, Pjotr Kropotkin hat noch einen anderen. Nein! Der Anarchismus ist ein äußerst heterogenes und komplexes Phänomen, das sich artikuliert, denn er ist eine Vision des Lebens, der Realität und er ist auch eine Art, das Leben in all seinen Aspekten, in seiner Komplexität zu sehen, und nicht eine einfache politische Konzeption der Beziehung zur Macht. Daher gehört Stirner ebenso zum Anarchismus wie Bakunin. Der Unterschied liegt in der Konstruktion des Individuums, in der Anwendbarkeit dieser Konstruktion, in der Bereitstellung des Instruments, in der Anwendung auf ein Projekt.

Wenn wir uns einige von Bakunins Projekten ansehen, wie zum Beispiel das Projekt, das er Ende 1870, am Vorabend der Pariser Kommune, angesichts der Niederlage der französischen Armeen durchführte, erkennen wir die genauen Arbeitsanweisungen eines aufständischen, revolutionären Anarchisten, der innerhalb einer gegebenen Bedingung agiert, in der er praktisch untersucht, was die politisch-sozialen Kräfte im Feld sind, und nach dem Weg sucht, die laufende Bewegung zu beeinflussen, um sie in Richtung der Verwirklichung bestimmter Liberalisierungsprozesse zu bewegen. Man steigt sozusagen vom Empyrean möglicher, philosophisch unantastbarer Realisierungen hinab in das, was ein Gefährte gestern, aus dem Herzen gesprochen, als „sich die Hände schmutzig machen“ bezeichnet hat.

Das ist ein Thema, das mir sehr wichtig ist, denn Anarchisten, Gefährten gleichermaßen, die mir zuhören, bewohnen nicht zwei verschiedene Universen, sie sind nicht wie Kunigunde in Candide, der drei Tage der Woche mit dem Alten Testament und drei Tage mit dem Neuen Testament verbrachte und als Liebhaber einen Rabbi und einen Kardinal hatte.

Anarchisten können nicht wie Kunigunde sein. Anarchisten müssen eine Wahl treffen, aber sie müssen die Fähigkeit und die unglaubliche Beweglichkeit des Denkens und der Aktion haben, diese Wahl in einer sich ständig verändernden Art und Weise und unter wechselnden Bedingungen zu treffen. Anarchisten müssen in der Lage sein, sich in der konkreten Realität den Verwirklichungen der Macht zu widersetzen, d. h. jenen Strukturen, die sie auf die Spitze treiben, den schlimmsten Rationalisierungen, um dieses Projekt in Grenzen zu halten, auch wenn sie teilweise akzeptabel sind. Aber sie müssen dies tun, nachdem sie die vorherigen Bedingungen der absoluten Konstruktion des autonomen, selbstgenügsamen, selbstverwaltenden Individuums überwunden haben. Denn was würde passieren, wenn sie beides getrennt voneinander tun würden? Wenn sie nur den ersten Teil machen würden, wären sie dumme Diener sozialer und politischer Kräfte, die objektiv stärker sind als sie selbst, wie es in der Geschichte schon so oft passiert ist: Das spanische 36er, das russische 17er, die mexikanische Situation sind Zeugnisse für dieses Versagen, die Dinge in ihrer extrem dehnbaren Vielfalt zu sehen. Wenn sie nur den zweiten Teil konstruieren würden, das Individuum, das sich in sich selbst verschanzt und sich im Namen der Stärke des Individuums für autark hält, würden sie sich in ihrem eigenen kleinen Garten verschließen. Diese beiden Perspektiven müssen wir durchdringen, und wir müssen sie durchdringen, auch auf Kosten einer möglichen und ausnahmslosen Lesart von Stirner, und wir müssen sie verwirklichen – hier ist die Verwendung des Begriffs „Pflicht“ ein sprachlicher Gemeinplatz – wir müssen sie verwirklichen, auch wenn wir in unserer revolutionären Entwurfstätigkeit am Ende jedes Mal wieder von vorne anfangen, wie Sisyphos.

[Veröffentlicht in Individuo e insurrezione. Stirner e le culture della rivolta, Atti del Convegno promosso dalla Libera Associazione di Studi Anarchici (Firenze 12-13 dicembre 1992), Firenze 1993, S. 145-156. Transkription einer Tonbandaufnahme. Auch veröffentlicht in Alfredo M. Bonanno, Teoria dell’individuo. Stirner e il pensiero selvaggio, terza ed., Trieste 2012, pp. 149-165]


Individualismus und Kommunismus: eine Realität und zwei falsche Probleme

Deshalb ist alles kontinuierlich: Denn was ist, ist mit dem verbunden, was ist

(Parmenides)

In diesem Beitrag werden wir uns mit einigen aktuellen philosophischen Überlegungen befassen. Einerseits das Individuum, das im Begriff ist, durch die allgemeine Verflachung der Gesellschaft dauerhaft unterzugehen, und andererseits das Bedürfnis nach einer Gesellschaft, die in verschiedenen Formen vorgestellt und angestrebt wird und von vielen Revolutionären oft verwirrend unter dem deformierenden Banner der „kommunistischen Gesellschaft“ angegeben wird. Bei dieser Analyse lassen wir uns weder von der Entartung einschüchtern, die der bittere Untergang des „Realsozialismus“ in der Idee des Kommunismus selbst verursacht hat, noch von den interessierten Versuchen des Liberalismus aller Art, das Gespenst des Individuums vorzuschieben, um ihre eigenen Projekte der realen Herrschaft zu verschleiern.

Den Anlass für diese Überlegungen liefert uns die x-te Wiederlektüre von Stirners Buch, die, soweit es mich betrifft, mehr als zehn Jahre zurückliegt, eine Wiederlektüre, die, wie es mir in der Vergangenheit ergangen ist, pünktlich dazu beiträgt, neue kritische Anlässe und neue philosophische Entwicklungen anzuregen. Schließlich lässt sich die Aktualität eines Buches wie Stirner nicht mehr an der Debatte zwischen verschiedenen, oft unverständlich gegensätzlichen philosophischen Schulen messen, die in eine fiktive, zerrissene Atmosphäre eingetaucht sind, aber auf jeden Fall bereit sind, sich gegenseitig zu unterstützen, um den Fortbestand des gegenwärtigen Standes der Dinge zu garantieren, solange die illegitimen Interpretationen einer Philologie, die in ihrem eigenen, aktiv gehüteten Sumpf verblendet ist, unangetastet bleiben.

Abgesehen von diesen Bedenken werden die folgenden Überlegungen bei den aufmerksamen Zuhörern und hoffentlich auch bei den Lesern vielleicht mehr als nur ein paar Enttäuschungen hervorrufen. Noch größere Enttäuschungen werden diejenigen erwarten, die wie selbstverständlich eine Diskussion über das „heilige“ Buch erwartet haben, das ich nie als solches betrachtet habe, auch wenn es „einzig“ ist. Wie jede Gelegenheit, die „klassische“ Texte bieten, war auch diese, zumindest für mich und meine erwarteten fünfzehn Leser, nur eine Gelegenheit, weiter vorzudringen, in jenes unentdeckte Gebiet der Forschung, in dem alles unsicher und annähernd bleibt, mit der ständigen Gefahr, Legitimität und Kohärenz zu verlieren, wenn man sich von der Wörtlichkeit des Ausgangstextes entfernt und sich auf eine Reflexion verlässt, die der Handlung nicht nur vorauseilt, sondern ihr oft folgt.

Ein ganz und gar Stirnerscher Widerspruch. In dem Text habe ich immer einen hartnäckigen Widerspruch erfasst, der für diejenigen, die eine geschlossene und fest autarke Vorstellung von anarchischem Individualismus haben, wenig Bedeutung hat, sehr wohl aber für alle anderen, für diejenigen, die dieses Territorium des Lebens als einen der möglichen Orte der Authentizität betrachten, nicht als die Absolution von jedem zwischenzeitlichen Wirrwarr, die Kennzeichnung, das Wirrwarr und die Umsicht, auf Gedeih und Verderb, die Schlauheit derer, die sich selbst zu verwalten wissen, statt des Mutes derer, die sich stattdessen auf einmal ausgeben.

Als Individualisten seid ihr frei von allem, sagt Stirner, aber ihr seid es nicht, wenn ihr frei sein wollt, wenn ihr als Freie nur die „Wahnsinnigen“ der Freiheit seid, Erhabene und Träumer. Erst wenn die Freiheit zu deiner eigenen Stärke wird, ist diese Freiheit vollkommen, aber dann bist du nicht mehr frei, sondern individualistisch. ‚Die Freiheit kann nur die ganze Freiheit sein: Ein Stück Freiheit ist nicht die Freiheit‘. (Der Einzige und sein Eigentum, Leipzig 1893, S. 189). Freiheit kann nur die totale Freiheit sein; ein Stück Freiheit ist nicht die Freiheit“. (L’Unico e la sua proprietà, tr. it., Catania 2001, S. 121).

Das ist alles sehr gut, zumindest als methodischer Vorschlag, und in der Tat bestätigt die illustrative Gegenüberstellung von „Emanzipation“ und „Selbstbefreiung“ in ihrer Allgemeinheit die programmatische Absicht. Der Mensch, der sich selbst befreit hat, der Selbstbefreite, steht im Gegensatz zu dem Menschen, der befreit wurde, der Freigegebene. Der Widerspruch liegt jedoch darin, dass er in so vielerlei Hinsicht reduktiv und Vorbote einer alles andere als revolutionären Lesart ist, dass er eine mögliche schrittweise Anpassung in Bezug auf den Abbau von Barrieren vorschlägt, um sich mit einem begonnenen Prozess zu begnügen, da es offensichtlich nicht möglich ist, alle Barrieren abzubauen. Aber steht das nicht im Widerspruch zu der Gleichsetzung von Individualismus und echter Freiheit von allem? Mir scheint, dass diese mögliche totale Freiheit, die in den starken Händen des Individualisten liegt, die in der Lage sind, den Rachen des Unternehmenslöwen zu öffnen, schlecht mit einem entgegenkommenden Progressivismus vereinbar ist, der den Individualisten in Wirklichkeit zu einem Menschen mit Aufgaben wie alle anderen macht, der sich oft unter dem Vorwand seiner eigenen Stärke so anpasst, wie er kann, indem er sich auf ein Stück Freiheit legt und Gefahr läuft, sich seine eigenen Schwächen, seine eigenen Grenzen als Beweis dafür vorzuschlagen, dass er das Leben, sein eigenes Leben, genossen hat.

Tatsächlich, und hier beginne ich meine Überlegungen, die ich vorhin erwähnt habe, scheint der Weg viel komplexer und schwieriger zu sein. Das philosophische Denken der letzten fünfzig Jahre hat sicherlich dazu beigetragen, diese Komplexität aufzudecken und alle Beteiligten aus der maximalistischen Naivität einer Herrschaft des Willens starker Menschen herauszuführen. Aber oft haben diese Einsichten viele Anhänger eines missverstandenen Stirnerismus, darunter auch einige Neulinge, in ihrer stillen Unwissenheit gelassen. Die Empörung ist ein großes Lebensmoment des Menschen, des einzelnen Menschen, und zwar auch (und ich würde sagen vorläufig) im Zustand der inneren Unzufriedenheit der Menschen, aber sie kann auch ein weiteres zu erreichendes Ziel darstellen, ein Ziel und damit eine Sakralisierung. Der von Stirner selbst erdachte Korrekturmechanismus funktioniert immer, unfehlbar. Wir können ihn nicht aufhalten, wie sein Autor selbst es sich gewünscht hätte, aber wir müssen ihn bis zu seinen äußersten Konsequenzen führen. Und die sind unter anderem die Verweigerung jeglicher stabiler, endgültig bewahrter und sorgfältig gehüteter Eroberung, auch der eigenen. Der Individualist ist nicht ein für alle Mal ein solcher, aber wenn er es ist, dann deshalb, weil er sich ständig selbst aufs Spiel setzt, er geht in seiner Verweigerung jeder endgültigen Platzierung, selbst der des ein für alle Mal festgelegten Rebellen, in seiner eigenen geistigen Uniform des Rebellen, sklerotisiert und mumifiziert, zum Äußersten. Und die Beschränkung der Stirnerianer, die heute sichtbarer ist als je zuvor, und das sagen wir, auch wenn wir mit dieser Aussage viele Enthusiasten skandalisieren werden, besteht darin, dass sie genau diese weitere und abschließende Möglichkeit der Katalogisierung nicht in Betracht ziehen. Der Widerspruch des Textes wird so zu einer Anpassung der Existenz, einer Wahl des Besitzes am Rande des geringsten Risikos, wenn sich das Wachstum in sich selbst zusammenzieht und auf die Verteidigung vorbereitet.

Im Gegenteil, sich selbst als Kriterium des Lebens zu benutzen, ist der einzige Maßstab, den der Individualist anwenden kann. In seiner absoluten Einzigartigkeit wird dieses Kriterium zu einem Kriterium der Wahrheit. So stellte Nietzsche mit entscheidender Kraft fest: „Das Individuum ist etwas ganz Neues und Neuschaffendes, etwas Absolutes, alle Handlungen ganz sein eigen“. («L’individuo è qualcosa di assolutamente nuovo, che crea ex novo, qualcosa di assoluto, tutte le azioni sono assolutamente sue». Frammenti postumi [1882-1884], in Opere complete, tr. it., VII, I, Mailand 1982, S. 34).

Die Schwäche der Macht. Jede Lehre von der Macht (und das ist bei Stirner nur für seine schlechten Leser der Fall) ist hoffnungslos schwach. Das gilt nicht nur für die Lehre vom Staat, sondern auch für die vom Individuum. Hinter der Macht steht immer eine Notwendigkeit, und diese verschwindet oder verblasst zumindest nur angesichts der Vorherrschaft des Individuums, das sich auflehnt und durch sein Aufbegehren nicht nur die Mächte überwindet, die es unterdrücken, sondern auch das Schicksal. Deshalb kann Stirner schreiben: „Möglichkeit und Wirklichkeit fallen immer zusammen“. (Der Einzige. op. cit., S. 385). «La possibilità e la realtà coincidono sempre». (L’unico. op. cit., p. 244).

Aber Rebellion lässt sich nicht einfach als Macht messen und bewerten, sonst käme man nie aus dem Binom heraus, das aus der Macht des Unterdrückers und der Macht der Unterdrückten besteht. Dieses Aufeinanderprallen hat nicht nur eine quantitative, sondern auch eine qualitative Bedeutung, und in dieser letzteren Bedeutung findet der Bruch statt, der die Kraft an sich selbst und das freie Individuum über seine eigene Machtkapazität hinaus befördern kann. Stirner hat diesen Punkt gut erkannt, als er vom Zweck der Freiheit sprach, der am Ende in sich selbst heilig wird und so das Freie verzerrt, indem er es auf den Grad des Befreiten reduziert, aber seine Leser haben nicht immer die gleiche Feinheit des Verstandes.

Die Macht hat schon immer den gemeinen Meschen-verstand fasziniert, der die unmittelbare Nützlichkeit des erzielten Ergebnisses, die kleine befreiende Eroberung, zu seinem eigenen Gesetz gemacht hat, und der Stirnersche Text eignet sich manchmal für Missverständnisse, die bald durch einen interessierten Aspekt des kathedralen Individualismus überhöht werden. So wird die wirkliche Schwäche hinter einem aufkochenden Wirbelwind von Behauptungen versteckt, ein ständiges Verstecken der eigenen Not, des tragischen Bedürfnisses nach Schutz und Sicherheit, hinter der Ablehnung aller Konformität (Richtigkeit).

Heute wissen wir endlich, dass das Erkennen der eigenen Grenzen, der eigenen inneren Not, der wichtigste Schritt ist, um sich auf den Weg der Rebellion zu begeben, die nicht nur als Aufruhr, sondern als Wendung verstanden wird, d.h. als radikale Veränderung, die die Not erkennt und nach Abhilfe sucht.

Die Überwindung der Mehrdeutigkeit bei der Anwendung von Macht entspricht nicht so sehr einer echten Überwindung im Hegelschen Sinne (Aufhebung), sondern einer Überwindung im nietzscheanischen Sinne, da nichts endgültig abgeschafft und nichts endgültig überwunden wird. Diese Überwindung ist ein Sieg über menschliche Schwächen, Grenzen und Ängste, gerade weil sie das Hindernis mit sich zieht, es in den Prozess der Verwandlung einbezieht, und dieses Hindernis, das zunächst als etwas Objektives betrachtet wird, entpuppt sich am Ende als das Individuum selbst, in der Gesamtheit seiner Überzeugungen, nicht zuletzt der über die Allmacht des Willens. „Wahr ist, was mein ist, unwahr das, was ich eigen bin“. (Der Einzige. op. cit., S. 416). «Vero è ciò che è mio, non vero ciò a cui appartengo». (L’Unico. op. cit., p. 263).

Die Entstehung von Unterschieden. Es gibt nichts Offensichtlicheres als den Unterschied. Wenn man sie jedoch nicht trivialisieren und damit jede Reflexion, die sich an ihr orientiert, zurückwerfen will, muss man sich auf ein Terrain begeben, das alles andere als einfach ist.

Das Individuum kann nicht autark sein. Diejenigen, die sich vormachen, dass sie an dieser Grenze gescheitert sind, markieren die vom Nihilismus gesetzte Unüberwindbarkeit, die absolute Konformität des bereits Gegebenen und Erworbenen ein für alle Mal. Jede Verschließung verschließt die Macht, die sie hervorgebracht hat, so dass selbst der reichste Konatus der Effektivität seine eigenen Voraussetzungen verrät und kläglich verblasst. Eine vollendete Sinnlosigkeit, eine vollkommene Absurdität.

Aber der Beitrag der Außenwelt und vor allem der anderen Individuen, die richtig aufgestellt sind, erzeugt eine endlose Reihe von Problemen, die individuell nicht einfach und oft nicht einmal vorschlagbar sind. Die reine und einfache Differenz wird so zu einer unaussprechlichen Abstraktion (unsagbar), unbedeutend insofern, als ihr die menschliche Konkretheit, die aktive Realität, fehlt, die von ihrem eigenen Gegenstand verzerrt wird. Natürlich gäbe es ein Gegenmittel, und das wurde schon oft veranschaulicht, es ist das taxonomische Alibi, eine lange empirisch verfälschbare Liste, aus der man durch aufeinanderfolgende Negationen den positiven Rest ableitet, was der andere ist und nicht was er sein könnte. Jede Erfahrung, und sei sie noch so minimal, führt in diesem Sinne zum absoluten Nullpunkt. Genau das, was uns hilft, ist die antike Erkenntnis von Heraklit (Fragment 41 [spätes 6. Jahrhundert v. Chr.]): „Eines ist die Weisheit, zu verstehen, wie das Ganze durch alles regiert wird“.

Noch wichtiger ist der Unterschied, der durch kulturelle Vermittlung entsteht. Die Interpretation der Realität. Der Einfluss der Intelligenz auf die Fakten, der Fantasie und des Gefühls auf die vermeintliche „Wahrheit“ des objektiven Kontextes. Eine Erfindung, kurz gesagt, aber zumindest konkret plausibel und daher identifizierbar, wenn auch nur vorläufig.

Der Unterschied, auf dessen Grundlage wir den anderen aufwerten und den wir um jeden Preis zu verteidigen versuchen, ist also unser eigenes Produkt, Heraklits‘ „Ich habe mich selbst erforscht“, d.h. eine gebildete und verdrehte Reflexion unserer Individualität, verstanden in der extremen Komplexität ihres zusammengesetzten Seins, in dem gegensätzliche Elemente ihre gemeinsame Zugehörigkeit aufkündigen. Und diese Gemeinsamkeit ist die persönliche Situation, die die unvermeidliche gemeinsame Situation vorwegnimmt, die auch als Gefängnis erlebt werden kann, aber nicht allein durch einen frommen Willensakt beseitigt werden kann.

Wir sind es also, die sich in der uns kennzeichnenden vitalen Handlung konkretisieren, indem wir vollständig in unser eigenes Leben eintauchen, es manchmal durchleben, in sehr seltenen Fällen umgestalten und es öfter und schlechter interpretieren, als wir denken. Ohne diesen kontinuierlichen Prozess der Verformung, ohne das, was Heraklit „Harmonie der gegensätzlichen Spannungen wie beim Bogen und der Leier“ nannte, würde das Individuum nicht existieren, ohne diese kontinuierliche Produktion von beispielhaften Ergänzungen bliebe das Individuum in seiner eigenen leeren Bedeutungslosigkeit gefangen. Leider gibt es die scholastischen Überlegungen – und der Individualismus hat wie jede andere Ideologie seine „Schule“ -, die das Denken so und nicht anders vorschreiben, was zu einer Werkstattbetrachtung führt, bei der sich winzige Jünger an den großen Leichen ihrer Meister abmühen. Kakophonien.

Das Individuum begreift die Wirklichkeit nur aus sich selbst heraus. Indem es über das nachdenkt, was um sein individuelles Wesen herum ist, überträgt es nicht nur seine eigenen Verstehensmöglichkeiten, sondern auch seine Ängste. Daraus folgt, dass es vergeblich wäre, sich auf die Suche nach einer objektivierten Differenz zu machen. Sie wird in dem Maße objektiviert, wie es ihr gelingt, sich in das durch die Situation konstituierte Ganze einzufügen, das auch den individuellen Schöpfer der Differenz beherbergt.

Daraus ergibt sich die große Schwierigkeit der Entdeckung, der Forschung. Jede taxonomische Oberflächlichkeit entlarvt sich sofort als lächerliche Farce. Im Gegenteil, Illusion, Kunstgriff und Fiktion sind sehr nützliche Werkzeuge für die intellektuelle Ausbildung, die bei der Suche nach dem Unterschied notwendig ist. Die Wahrheit vermittelt uns nichts weiter als eine stumme, katalogisierte Existenz, die sich auf eine stumpfe Identität zurückführen lässt. Wenn wir uns unter diese Wahrheit graben und immer weiter in die Irre gehen, können wir endlich echte Unterschiede entdecken, die uns vorher entgangen sind. Und das sind unsere Unterschiede, die sich im anderen konstituieren, ich würde fast sagen, implantiert werden.

Aber ist eine Suche nach Unterschieden überhaupt möglich? In diesem Zusammenhang ergibt es keinen Sinn, von einer Suche nach Unterschieden zu sprechen. Diese erscheinen nämlich, wenn man sie einzeln aufspürt, nur als leblose Listen, als entblößte Knochen auf dem anatomischen Tisch der objektiven Wahrheit, als taxonomische Übungen. Keine selbstbewusste Suche erreicht das Gebiet der wirklichen Vielfalt, ja sie verliert früher oder später den Unterschied und endet damit, dass die ideale Vollständigkeit des Katalogs besiegelt wird. Was wir brauchen, ist der Ansporn eines verlorenen Projekts, das Bedauern über etwas, das gefunden hätte werden können und nicht gefunden wurde, in unzähligen Suchen, die Summe aller vergangenen Misserfolge, die tausend und ein ausgetrocknetes Rinnsal einer Flut, die war und von der wir nicht sicher sind, dass wir sie wiederholen können. Es gibt keinen abgegrenzten Weg, der von mir zu dir führt, eine dialogische Tragikomödie, die sich in allen Soßen abspielt.

Jenseits des aristotelischen Schematismus, der Berührung und Empfindung als identisch ansieht, sogar in der ursprünglichen Logik selbst, an die alle anderen Versuche, das menschliche Denken zu organisieren, mit Ausnahme von Hegels, angepasst wurden, finden wir die Funktion der unmittelbaren Intuition, die jeder Erkenntnistheorie, die sich nicht selbst schematisiert, andere Perspektiven eröffnet. Auf diese Weise begibt sich sogar Aristoteles, der weit davon entfernt ist, derartige Zugeständnisse zu machen, auf das Terrain des Parmenides, wo das Sein, das nach der antiken Lehre der dionysischen Narrheiten als Sphäre vorgestellt wird, etwas ist, das sich der Darstellung unwiederbringlich entzieht. Die individualistische Untersuchung erhält damit eine völlig neue Bedeutung. Die Reflexion beschränkt sich nicht darauf, das Bekannte zu katalogisieren, sondern beansprucht, das Dargestellte zu beleuchten, das eine Maske annimmt und wie ein Kind spielt.

Die reine und einfache Differenz ist ein Ideal, das uns nicht faszinieren kann. Die Natur bringt sie gerade deshalb hervor, um das Fehlen jenes einzigartig menschlichen Merkmals zu bekräftigen, das es ermöglicht, echte Unterschiede zu erkennen. Jede Zelle unterscheidet sich von der anderen, aber genau aus diesem Grund ergibt es keinen Sinn, von der Differenz einer Zelle zur anderen zu sprechen. Die Möglichkeit eines wirklichen Unterschieds ergibt sich erst, nachdem Konstanten, Gleichförmigkeiten identifiziert wurden, die zwar nicht absolut sind, d. h. es gibt nichts absolut Identisches, aber ausreichend, um Orientierung und Planung zu ermöglichen. Das ist der wesentliche Punkt in meinem Diskurs.

Das Individuum, das nicht in der Lage ist, diese Konstanten zu begreifen, weiß nicht, worauf es seine absolute Individualität gründen soll, es hat keine Möglichkeit, die Einzigartigkeit zu verstehen, die sich ihm in der sich gleichermaßen verändernden Vielfalt der Realität entzieht. Auf diese Weise stellt er sich vor, in einer stabilen, kulturell definierten Struktur zu leben, kurz gesagt, in dem, was man einst eine „reife Zivilisation“ nannte. Eine Zivilisation, in der die Beziehung zwischen der Norm und der Physikalität der Natur der Vernunft eine andere Normativität vorschlägt, eine, die, indem sie auf der Überlegenheit der Natur über die Vernunft selbst besteht, letztere auf die Offensichtlichkeit der Realität zurückführt und dazu bringt, nie etwas wirklich „Neues“ zu erwarten, schockierend, da wir alle zurückgezogen werden und schließlich in einer hierarchischen Position und einer angenommenen wesentlichen Funktion gefangen sind.

Stirners Geheimnis liegt gerade in der Ablehnung all dessen, allerdings begleitet von einem hinreichend einheitlichen Grund, auf dem das Einzige beruht, und diese Einheitlichkeit findet sich nicht nur im Streben nach der Vereinigung der Egoisten, sondern gerade im jungen Lächeln des Kindes, im entweihenden Spielraum des Individuums und seinem absoluten und wohlbegründeten Anspruch, sich selbst zu genießen, ohne Grenzen und ohne nach außen gesetzte Ziele. Stirner schlägt keine Rückkehr zur Natur vor, was dann ein mehr oder weniger hegelianisierter Neuvorschlag von Jean-Jacques Rousseau gewesen wäre. Er geht über die Natur hinaus, und zwar gerade deshalb, weil er nicht die Absicht hat, die sogenannten objektiven Unterschiede zu berücksichtigen, die die Natur unweigerlich vor aller Augen stellt. Seine Arbeit ist eine kultivierte Vertiefung, eine programmierte und interessante Verzerrung der Daten der Realität, die die Konstitution einer künstlichen Welt hervorbringt, in der die Lebensbedingungen durch die Fähigkeit des Individuums bestimmt werden, Möglichkeiten zu eröffnen, und nicht einfach durch eine mühelose und unbeabsichtigte Vegetation. Die Kunst des Individualisten besteht darin, das Leben aus seiner berstenden Differenzierung, die völlig sinnentleert ist, in einen sinnvollen Rahmen der Einheitlichkeit zurückzubringen, in dem die eigenen Unterschiede und die der anderen gelesen werden können, aber nicht, um weitere Veränderungen auszulöschen, sondern im Gegenteil, indem immer größere Verformungen vorgeschlagen werden.

Das Modell des Stirnerschen Individuums wird auf etwas Nichtexistentes projiziert, nicht auf eine mythische Gesellschaft der Vergangenheit, die nach Belieben verwildert. Und diese Abwesenheit erlaubt es uns, das zu bekräftigen, was wir sagen: keine Absicht, Unterschiede zu suchen (geschweige denn zu verteidigen oder zu garantieren), sondern im Gegenteil eine Suche nach Einheitlichkeit. Schließlich hat der Stirnerismus seine Regeln, über die man zwar streiten kann, die aber deswegen nicht weniger streng sind. Und sein großes Interesse lag, zumindest für mich, immer genau in der Unmöglichkeit der beispielhaften Welt, die er sich vorstellt, eine Unmöglichkeit, die Aktionshorizonte eröffnet, das heißt, für all die Versuche, die Welt, in der wir leben, zu verändern, die sich an diesem Modell orientieren, oft ohne es überhaupt zu verstehen. Der stirnersche Individualismus mit all seinen veralteten und manchmal irreführenden Appellen ist eine brillante Lüge, eine Fiktion, die wahrer ist als die tragischen Wahrheiten, die die historischen Errungenschaften der sogenannten befreiten Gesellschaften überschatten. In ihrer Gegenwart ist die von den herrschenden Ideen destillierte Wahrheit ein schändlicher und ungesunder Reflex, ein empirisches Mittel, um Zepter und Tiara zu stützen. Und von der Maskerade gegenüber dem Wissen, das nur allzu schmerzhaft real ist, wird Nietzsche sprechen: „[…] und bisweilen ist die Narrheit selbst die Maske für ein unseliges allzugewisses Wissen“. («[…] e talvolta la follia stessa è la maschera per un sapere infelice troppo certo». Al di là del bene e del male [1886], in Opere complete, tr. it., VI, II, Milano 1976, p. 194).

Auf unterirdische Weise (also auf eine Weise, die alles andere als freiwillig plausibel ist) arbeitet das Individuum auf einem langsamen und quälenden Weg, durch tausend schmerzhafte Versuche, ohrenbetäubend und anonym, jene kleinen Stücke des Lebens heraus, die wirklich lebenswert sind. Stirner schlägt vor, diesen Prozess nach und nach auf immer größere Teile und schließlich auf die gesamte Gesellschaft auszuweiten. Ich persönlich glaube nicht an diesen Prozess der sukzessiven Annäherung, und die Erfahrungen der letzten hundert Jahre sprechen für mein Misstrauen. Um auf revolutionäre Weise in die Realität einzugreifen, sind andere Methoden nötig, die sich aber nicht gegenseitig ausschließen. Und das ist eindeutig eine andere Sache.

Die Suche nach Affinität. Der ganze Stirner wäre bedeutungslos oder zumindest unwichtig für uns, wenn er sich in der Illusion einer einfachen Suche nach Unterschieden, seinen eigenen wie auch denen anderer, erschöpfen würde. Seine große Bedeutung, die über die Zeit hinweg konstant geblieben ist, wie wir unschwer erkennen können, beruht genau auf dem komplementären Aspekt, der Suche nach Gemeinsamkeit. Die Tatsache, dass Stirner diesen Begriff nicht verwendet, spielt keine Rolle. Versuchen wir, das Problem tiefer zu ergründen.

Auf welche Weise wird die Suche nach Affinität komplementär zur Suche nach Differenz? Die Antwort ist nicht einfach.

Zunächst einmal muss gesagt werden, dass keine Identifizierung von Unterschieden möglich ist, ohne die Komplexität des Anderen, d.h. seine vielfältigen Lebensmöglichkeiten, genau zu kennen. Es geht nicht um Gleichberechtigung, es geht nicht darum, dem anderen einen Dialog zu gewähren, der in jedem Fall eine weitere Form der Kontrolle und Beherrschung darstellen würde. Es geht im Gegenteil und in seiner radikalsten Form darum, in sich selbst hineinzugehen, in die Tiefen der Individualität, es geht darum, von den Fundamenten aus jenen Individualismus aufzubauen, der andernfalls reiner rhetorischer Konatus bleiben würde. Nun, nach dem Beginn der philosophischen Reflexion auf der Grundlage von Platon, erscheint dieses Andere als das, was selbst selbst ist, das, was mit sich selbst identisch ist. Platon erörtert im Sophisten [nach 369 v. Chr.] die Unterscheidung (Differenz) zwischen Stillstand und Bewegung und zeigt, wie der Unterschied zwischen diesen beiden Momenten der Wirklichkeit darin besteht, dass sie getrennt voneinander mit sich selbst identisch sind und dass ihr gegenseitiges Verstehen nicht möglich wäre, wenn man nicht mit hinreichender Genauigkeit genau diese anhaltende Gleichförmigkeit identifizieren würde.

Es ist also nicht möglich, die eigene Individualität zu finden, wenn nicht alles, was zu dieser Individualität gehört, was Stirner ihre Eigenschaft nennt, in sich selbst zurückgeführt wird, genau das, was Platon sagte, als er sagte: „Jedes ist mit sich selbst identisch“. Wobei der Gebrauch des Dativs, wie Heidegger bemerkte, alles in sich selbst und für sich selbst zurückgibt. Jede Eigenschaft im Stirner’schen Sinne ist uns verwehrt und reduziert uns nur auf passive Besitzer von Gegenständen, die wir nicht verstehen, obwohl wir sie hervorbringen, wenn wir diese Differenz nicht durchdringen und nicht die Fähigkeit haben, diese Differenz in den großen Strom der Einheitlichkeiten einzuordnen.

Eine Gemeinsamkeit der Elemente. Wir können nur dann ein Ganzes bilden und so mit dem anderen zusammen sein, wir können ihn nur dann wirklich kennen und im Stirnerschen Sinne nutzen, wenn wir uns weigern, ihn auf eine bloße Objektivität zu reduzieren, ein bloßes Instrument zur Beruhigung unserer Ängste. Und um das zu erreichen, dürfen wir uns nicht darauf beschränken (und können es auch nicht), ihm und uns seine Unterschiede zu garantieren, sondern wir müssen weiter gehen und Interventionen skizzieren, die uns die Landkarte der Verwandtschaft liefern, ein möglichst detailliertes Wissen, das nie vollständig verwirklicht wird, das aber, wenn es vertieft wird, die Grundlage bildet, auf der wir die Beziehung zum anderen aufbauen können. Unsere Arbeit beruht also auf der Gemeinsamkeit der Elemente und der Identifizierung derjenigen Teile der Differenz, die auf diese Weise erkannt und in der Zugehörigkeit aufgegeben werden, jener Zugehörigkeit oder, wenn man mit Heidegger will, einfach jener Gehörigkeit, von der wir gesprochen haben.

Man darf diese Erkenntnisprozesse nicht mit der generisch abstrakten Katalogisierung des Besonderen und des Allgemeinen verwechseln und dabei der ungenauen Angabe Kants folgen. Hier haben wir es mit einem starken Selektionsprozess zu tun, der darauf ausgerichtet ist, ein organisches Ganzes zu bilden, das nach dem gemeinsamen Element der Erkenntnis strukturiert ist, und nicht mit einer taxonomischen Definition der möglichen Pluralität der Ereignisse. Aristoteles sagte: „Definition ist die Äußerung des Wesens“, aber der Akt des Definierens ist nicht die Anwendung eines abstrakten Prinzips auf die Konkretheit der Realität, die Überlagerung einer logischen Pyramide, sondern vielmehr die Konstruktion der Grundlagen des Wissens, das oft einfache, manchmal komplexe Verfahren, mit dem der andere untersucht wird, um mögliche Affinitäten, Konstanten zu identifizieren, auf denen man etwas zusammen aufbauen kann.

Die Negation der Unterschiede ist also das heilsame Verfahren, durch das eben diese Unterschiede dazu beitragen, die Wirklichkeit zu definieren und zu erkennen, indem sie sich in der kognitiven Individualität widerspiegeln, sie vergrößern und sie befähigen, als Individuum zu handeln, bis zum Äußersten ihrer Möglichkeiten. Omnis determinatio est negatio et omnis negatio est determinatio.1

Wenn Beständigkeit notwendig ist und als solche die Gefängnismauern intakt halten könnte, ist Veränderung nur möglich, und als solche würde sie die Grenzen unendlich verändern, könnte sie aber weder überwinden noch aufheben. In Wirklichkeit gibt es aber keine Trennung zwischen diesen beiden Polen, wie es bei allem, was existiert, der Fall ist. Platons Transzendenz ist lediglich ein methodisches Hilfsmittel, eine ordnende Abtrennung. Aristoteles hebt sie zu Recht auf, indem er das „Dazugehören“ einführt, also einfach die reine Möglichkeit, die von der Notwendigkeit getrennt ist, als wahrscheinlich betrachtet und die beiden Begriffe „Akt“ und „Potenz“ so miteinander verbindet, dass sie ineinander fließen und umgekehrt, und so den Begriff des Werdens konstruiert.

Wir können uns nicht in Unterschiede aufteilen, genauso wenig wie wir uns von der Welt isolieren und uns ausschließlich eigene Territorien erträumen können. Aus demselben Grund sind die Ungeheuerlichkeiten der Welt, selbst die extremsten und unbegreiflichsten, auch die unseren und können uns nie völlig fremd sein, wir können sie nie endgültig isolieren und sagen, dass der Sinn, auf den wir zusteuern, der richtige ist, der Sinn von Geschichte und Fortschritt. „Die Wüste wächst“, schrieb Nietzsche, „weh Dem, der Wüsten birgt.“ «Il deserto cresce, guai a chi alberga deserti». (Ditirambi di Dioniso [1885-1888], in Opere complete, tr. it., VI, IV, Milano 1983, p. 17).

Was bedeutet es, ein Individualist zu sein? Mit dieser letzten Frage, die wir am Ende unseres Vortrags stellen, wollen wir zunächst kurz darüber nachdenken, welche Bedeutung das Wort „bedeutet“. Oft stellen wir uns diese Frage nicht, aber gerade bei dem vorliegenden Thema ist das Nachdenken unerlässlich. Eine falsche Art und Weise, sich die „Bedeutung“ von etwas vorzustellen, wird in dem alten Buch von Charles Kay Ogden und Ivor Armstrong Richards, The Meaning of Meaning [1923], veranschaulicht, in dem sich das Problem auf den Einfluss von Wörtern auf das Denken und damit auf die gedachte Sache beschränkt. Wieder einmal kommt uns die deutsche Sprache zu Hilfe. Es heißt bedeuten, im Sinne von „meinen“, und das ist die gängige Bedeutung des Begriffs, aber es gibt noch ein anderes Wort mit einer anderen Modulation: heißen, das den Sinn von „herbeirufen“, „hinschicken“ betont. In der Tat bedeutet Individualität nur etwas im Sinne von Bewegung auf die Wirklichkeit zu, nicht im Sinne eines statischen Besitzes von etwas, das mit mehr oder weniger Sorgfalt bewacht wird.

Grundsatzformulierungen und das Bekenntnis zum Individualismus bleiben bis zum Beweis des Gegenteils bloße Notationen, die sich nur dann materialisieren, wenn sie auf eine bestimmte Realität zurückverweisen, und dieses Zurückverweisen enthält nur dann einen Sinn, wenn es die tatsächliche Eroberung der eigenen individuellen Autonomie demonstrieren (beweisen) kann. Auf diese Weise ist der hinweisende Akt der wahre und einzige Unterschied, das Eigentum, das benutzt und nicht bewacht, sondern bis zum Äußersten verbraucht, verbrannt und somit gelebt werden soll. So Nietzsche: «Man muß seine Leidenschaft in Dingen haben, wo sie heute Niemand hat». «Si deve riporre la propria passione nelle cose in cui oggi non la ripone alcuno». (Il Caso Wagner [1888], in Opere complete, tr. it., VI, III, Milano 1975, p. 46).

Das Leben wird so zur einzigen Bewegung, die den Individualismus mit Sinn erfüllt, und nicht umgekehrt, der bedeutungsgebende Akt wird gegen die sich selbst konstituierende Affinität ausgetauscht und wird zum verifizierenden Akt, dem Fundament des individualistischen Prinzips, das jedoch wieder in die Irre geht, sobald das individuelle Engagement versagt und Angst am Horizont auftaucht.

Nichts garantiert uns von außen, am wenigsten alles, was sich institutionell auf die Garantie beruft. Weder die künstliche Gemeinschaft, die uns beherbergt, noch die Einheit, die wir im Erkenntnisprozess des anderen nicht übersehen können, das Zusammen, von dem wir gesprochen haben, garantiert uns. Aber wir werden auch nicht dadurch garantiert, dass wir uns zu Individualisten erklären. Wir gehören nicht zu uns selbst, wenn wir uns nicht so oft wie möglich (und deshalb auch notwendig) selbst spielen. Wenn wir uns zurückziehen, wenn wir einen Rückzieher machen (und davon träumen, uns „herauszurufen“), verlieren wir uns in der Äußerlichkeit, die uns wie ein Gefängnis beherbergt, mit Vorschriften und Zeitplänen, Nummern und Erkennungen. Nur so können wir uns selbst gehören und ausgehend von diesem fraglos privilegierten Zustand, von diesem Gehören in Bewegung, können wir die Einheit der Welt um uns herum aufbauen, unsere sinnvolle Einheit, das Zusammen, das die Unterschiede wegfallen lässt und so, auf diesen Unterschieden aufbauend, den Prozess der Verbundenheit.

Der Besitz von uns selbst, die wahre Eigenheit, unsere Unterscheidungskraft, das wahre „Eigentum“, von dem Stirner spricht, muss uns (wieder) gehören, und das kann nur geschehen, nachdem wir es in die Einheit mit uns selbst gebracht haben, jenseits aller möglichen Unterschiede, und nur, nachdem wir es in uns übereignet haben, nachdem wir es in Besitz genommen haben. Und dann, innerhalb dieser neuen Einheit, spricht die Vielfalt der Unterschiede zu uns, bekommt eine neue Bedeutung für uns, und wir hören zu, und es ist nicht unbedeutend zu bemerken, dass gehören im Deutschen genau von hören abgeleitet ist, was zuhören bedeutet.

Der Individualist wohnt auf einer hellen Lichtung, er hat keine Angst vor der Dunkelheit. Er hat vor nichts Angst. Ein sehr anstrengender Zustand, den nicht jeder ertragen kann. Die Freiheit verbrennt sehr schnell, man sollte weniger reden (und schreiben). «Schreibt man nicht gerade Bücher, um zu verbergen, was man bei sich birgt?». («Non si scrivono forse libri al preciso scopo di nascondere quel che si custodisce dentro di sé?». Al di là del bene e del male. op. cit., p. 201).

[Bericht veröffentlicht inIndividuo e insurrezione. Stirner e le culture della rivolta, Atti del Convegno promosso dalla Libera Associazione di Studi Anarchici (Firenze 12-13 dicembre 1992), Florenz 1993, S. 157-171. Auch veröffentlicht in Alfredo M. Bonanno, Teoria dell’individuo. Stirner e il pensiero selvaggio, terza ed., Trieste 2012, pp. 123-148]


1A.d.Ü., Jede Bestimmung ist (eine) Negation und jede Bestimmung ist (eine) Negation.

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(Edizioni Anarchismo) Der Anarchismus in der Russischen Revolution https://panopticon.blackblogs.org/2024/07/05/edizioni-anarchismo-der-anarchismus-in-der-russischen-revolution/ Fri, 05 Jul 2024 20:23:32 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5921 Continue reading ]]>

L’anarchismo nella rivoluzione russa, veröffentlicht von Edizioni Anarchismo im Jahr 2015, Opuscoli provvisori N. 77, die Übersetzung ist von uns. Mit einer Einleitung von Alfredo Maria Bonanno.


Der Anarchismus in der Russischen Revolution

Einleitende Anmerkung

Für die Lektüre der hier veröffentlichten Texte ist es notwendig, einige Hinweise zu beachten. Paul Avrich war Historiker und als solcher mit einem enormen Wissen über das Problem (Anarchismus in der russischen Revolution) ausgestattet, außerdem war er russischer Muttersprachler. Aber leider war er ein Historiker und nicht mehr.

Die italienische Übersetzung, die viel umfangreicher ist als die hier veröffentlichten Auszüge, wurde 1976 von La Salamandra angefertigt und enthält daher neben anderen, weniger wichtigen Texten auch die Klarstellungen und Kommentare des Historikers. Nicht zu veröffentlichen. Als Beispiel haben wir hier seine (positiven) Überlegungen zu dem von der Sowjetmacht für das Kropotkin-Museum reservierten Bestimmungsort, einer Schule für Kinder, wiedergegeben, eine Wahl, die den alten Anarchisten laut Avrich glücklich gemacht hätte. Und was ist mit dem Konzept der Rekuperation? Und davon, dass man auch nur die geringsten Spuren einer Hartnäckigkeit auslöschen wollte, die 1967, dem Jahr von Avrichs Besuch, offensichtlich immer noch störend war? Nicht ein Wort.

Eine weitere Perle, über die nicht berichtet wurde, ist das Urteil, Bakunins aufständische Entscheidungen in Lyon mit Kropotkins interventionistischen Entscheidungen im Manifest der Sechzehn zu vergleichen. Ein unangemessenes Urteil.

Abgesehen von all dem und den unangebrachten Tiraden, die typisch für diejenigen sind, die sich an etwas erinnern, es aber sorgfältig vermeiden, etwas Neues vorzuschlagen, ist Avrichs Einleitung eine nützliche Lektüre.

Vor kurzem habe ich während einer öffentlichen Debatte unter Gefährtinnen und Gefährten, ich glaube in Mailand, die Notwendigkeit bekräftigt, im passenden Moment zuerst auf autoritäre Kommunisten zu schießen, bevor man vielleicht auf Polizisten schießt. Ich sah eine gewisse Unsicherheit im Publikum. Ich bin sicher, dass dieses Pamphlet auch heute noch eine wichtige Lektüre sein kann.

Triest, 17. Mai 2014 Alfredo M. Bonanno


Einleitung von Paul Avrich

Die Oktoberrevolution

„Die Leidenschaft zu zerstören ist auch eine schöpferische Leidenschaft“. Michail Bakunin, der Vater des russischen Anarchismus, schrieb diese berühmten Worte im Jahr 1842 und von da an sehnten sich seine Jünger nur noch nach einer sozialen Revolution, die das zaristische Regime stürzen und den Beginn eines goldenen Zeitalters ohne jede Regierung markieren würde. Im Februar 1917 schien dieser langgehegte Traum endlich Wirklichkeit zu werden. Als der Aufstand in St. Petersburg ausbrach, der die Monarchie in den Staub stürzte, feierten die Anarchisten ihn als den spontanen Aufstand, den Bakunin fünfundsiebzig Jahre zuvor vorausgesagt hatte. Obwohl sie sich nur wenig an dem Aufstand beteiligten, der im Wesentlichen ein spontanes Phänomen war und weder von einer politischen Gruppe organisiert noch gelenkt wurde, überzeugte sie der völlige Zusammenbruch der Autorität davon, dass das goldene Zeitalter angebrochen war, und sie machten sich daran, die Reste des Staates zu beseitigen und das Land und die Fabriken in die Hände des Volkes zu überführen.

Innerhalb weniger Wochen wurden in St. Petersburg und Moskau anarchistische Föderationen gegründet, um die beiden Hauptstädte in egalitäre Kommunen nach dem Idealbild der Pariser Kommune von 1871 zu verwandeln – eine Episode, die von den Anarchisten zur Legende erklärt wurde. Ihre Parole lautete: „Durch soziale Revolution zur anarchistischen Kommune“ – eine Revolution, die Regierung und Eigentum, Gefängnisse und Kasernen, Geld und Profit abschaffen und eine Gesellschaft ohne Regierung einführen würde, die auf der freiwilligen Zusammenarbeit freier Individuen beruht. „Es lebe die Anarchie! Lasst die Schmarotzer, Herrscher und Priester erzittern – alle Verräter!“ („Vol’nji Kronštadt“, 12. Oktober 1917, S. 4).

Als der Schwung der Revolution zunahm, breitete sich die Bewegung schnell auf andere Dörfer und Städte aus. Fast überall gab es anarchistische Gruppen, die sich in drei Kategorien einteilen ließen: Anarcho-Kommunisten, Anarcho-Syndikalisten und individualistische Anarchisten. Die Anarcho-Kommunisten, die sich von Bakunin und Kropotkin inspirieren ließen, stellten sich eine freie Föderation von Gemeinschaften vor, in der jedes Mitglied nach seinen Bedürfnissen belohnt wurde. Sie stellten das Goldene Zeitalter romantisch als Spiegelbild eines vorindustriellen Russlands dar, das auf landwirtschaftlichen Kommunen und Handwerksgenossenschaften basierte, und wussten nicht, was sie mit der Großindustrie und der bürokratischen Arbeitsorganisation anfangen sollten. Im Zuge der Unruhen nach der Februarrevolution konfiszierten sie eine Reihe von Privathäusern – die wichtigsten waren die Villa von P. P. Durnovo in St. Petersburg und der alte Kaufmannsclub in Moskau (der in Haus der Anarchie umbenannt wurde) – und machten sie zum Sitz der egalitären Kommunen. Die Anarcho-Syndikalisten hingegen setzten ihre Hoffnungen auf die Fabrikkomitees, die in der frühen revolutionären Periode entstanden waren, als Keimzellen der zukünftigen libertären Gesellschaft. Die Aussicht auf eine neue, auf industrieller Produktion basierende Welt war für sie keineswegs abstoßend. Im Gegenteil, manchmal zeigten sie eine fast futuristisch anmutende Hingabe an den Kult der Maschine. Sie bewunderten den technologischen Fortschritt nach westlichem Vorbild und standen damit im Gegensatz zur slawophilen Nostalgie der Anarcho-Kommunisten für eine unwiederbringliche Welt, die es vielleicht nie gegeben hat. Die Syndikalisten hielten jedoch nicht an einem unkritischen Kult der Massenproduktion fest. Tief beeinflusst von Bakunin und Kropotkin erkannten sie die Gefahr, dass der Mensch in den Rädchen und Hebeln einer zentralisierten Industriemaschine gefangen ist. Auch sie suchten nach einem Ausweg in der Vergangenheit, in einer dezentralisierten Gesellschaft, die auf einer Organisation der Arbeit basierte, in der die Arbeiter wirklich Herr über ihr eigenes Schicksal sein konnten. Das unmittelbare Ziel der Syndikalisten war die Einführung einer umfassenden Arbeiterkontrolle über die Produktion, was bedeutete, dass Fabrikkomitees in Fragen wie Einstellung und Entlassung, Festlegung von Vorschriften, Löhnen, Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen mitbestimmen sollten. Bis zum Herbst 1917 hatte sich in den meisten russischen Fabriken eine Form der Arbeiterkontrolle durchgesetzt, und in einigen Fällen gingen die Fabrikkomitees sogar so weit, dass sie die Bosse, Abteilungsleiter und Techniker selbst auswiesen und versuchten, die Fabriken selbst zu verwalten, indem sie Delegationen auf der Suche nach Brennstoffen, Rohstoffen und finanzieller Unterstützung zu Arbeiterkomitees in anderen Fabriken schickten. Allerdings hatte die Arbeiterkontrolle, zumindest in ihren extremsten Formen, ausgesprochen negative Auswirkungen auf die Produktion. Die Arbeiter mussten nicht nur gegen ein kaputtes Transportsystem und einen ernsthaften Mangel an Treibstoff und Rohstoffen ankämpfen, um den Betrieb aufrechtzuerhalten, sondern konnten mit ihren unzureichenden technischen und administrativen Kenntnissen kaum die Probleme beheben, die durch die Vertreibung der Ingenieure und Manager aus den Fabriken entstanden waren. Die anarchistische Anführerin Emma Goldman machte in diesem Zusammenhang eine aufschlussreiche Aussage: Eine große Fabrik in Petersburg sei während des Bürgerkriegs nur deshalb funktionsfähig geblieben, „weil der alte Besitzer und der Manager selbst in der Verantwortung geblieben waren“. (Living My Life, New York 1931, Bd. II, S. 791).

Mit ihrem Slogan „Arbeiterkontrolle“ übten die Syndikalisten jedoch schließlich einen Einfluss auf die Arbeiterbewegung aus, der proportional weit größer war als ihre zahlenmäßige Größe. Besonders erfolgreich waren sie bei den Bäckern, Bergarbeitern, Schiffern und Postarbeitern und spielten eine wichtige Rolle auf der nationalen Konferenz der Fabrikkomitees, die am Vorabend der Oktoberrevolution in Petersburg tagte. Da sie jedoch eine zentralisierte Parteiorganisation ablehnten, waren sie nie in der Lage, die Führung der Arbeiterbewegung in großem Umfang zu übernehmen. Dies wurde schließlich den Bolschewiki überlassen, die nicht nur über eine ordentliche Parteiorganisation verfügten, sondern, was den Syndikalisten fehlte, bewusst nach der Macht strebten und das Bündnis der Industriearbeiter in Fabrikkomitees und Gewerkschaften/Syndikaten suchten.

Die individualistischen Anarchisten lehnten sowohl die Landkommunen der Anarcho-Kommunisten als auch die Arbeiterorganisationen der Syndikalisten ab. Sie glaubten, dass nur Individuen, die keiner Organisation unterworfen sind, frei von Zwang und autoritärer Herrschaft sind und somit den anarchistischen Idealen treu bleiben können. In den Fußstapfen von Nietzsche und Max Stirner erhoben sie das Ego über alle kollektiven Ansprüche und legten in einigen Fällen einen ausgesprochen aristokratischen Handlungs- und Denkstil an den Tag. Die individualistischen Anarchisten hatten eine kleine Schar von Anhängern, die sich aus bohèmehaften Künstlern und Intellektuellen und gelegentlich aus einsamen Banditen zusammensetzten, die ihre soziale Entfremdung in Gewalt und Verbrechen ausdrückten und für die der Tod die ultimative Form der Selbstbehauptung war, der letzte Weg, um dem unterdrückenden Gefüge der organisierten Gesellschaft zu entkommen. Im Gegensatz dazu predigten hier und da Gruppen von Tolstojanern das christliche Evangelium der Gewaltlosigkeit – man sagte ihnen sogar nach, dass sie sich weigerten, die Läuse zu töten, die sie sich aus ihren Bärten zogen – und obwohl sie nur wenig Verbindung zu den revolutionären Anarchisten hatten, war ihr moralischer Einfluss auf die Bewegung beträchtlich.

Obwohl sie keine sehr große Anhängerschaft hatten, war der Einfluss der Anarchisten in der Revolution und im Bürgerkrieg unverhältnismäßig groß im Vergleich zu ihrer zahlenmäßigen Größe. Aus den lückenhaften Daten, die zur Verfügung stehen – Anarchisten verteilten natürlich keine „Parteibücher“ und mieden im Allgemeinen jeden formellen Organisationsapparat – geht hervor, dass es in der Blütezeit der Bewegung etwa 10.000 anarchistische Aktivisten in Russland gab, nicht mitgezählt die Tolstojaner, die Machno-Bauernbewegung in der Ukraine und die mehreren tausend Sympathisanten, die regelmäßig anarchistische Literatur lasen und die Aktivitäten der Bewegung aufmerksam verfolgten, ohne sich direkt daran zu beteiligen.

Anarchisten und Bolschewiki

Für alle anarchistischen Gruppen endeten die großen Hoffnungen, die die Februarrevolution geweckt hatte, mit einer bitteren Enttäuschung. Die Monarchie war zwar gestürzt worden, aber der Staat war stehen geblieben. Was war im Februar passiert, fragte sich eine anarchistische Zeitung in Rostow am Don? „Nichts Besonderes. Anstelle von Nikolaus dem Blutigen kam Kerenski der Blutige auf den Thron“. Die Anarchisten konnten nicht ruhen, bis die provisorische Regierung wie ihre zaristische Vorgängerin hinweggefegt war. Schon bald machten sie gemeinsame Sache mit ihren ideologischen Gegnern, den Bolschewiki, der einzigen anderen radikalen Gruppe in Russland, die für die sofortige Zerstörung des bourgeoisen Staates eintrat.

Die seit langem bestehende tiefe Feindschaft der Anarchisten gegenüber Lenin löste sich noch vor Ende 1917 auf. Beeindruckt von einer Reihe ultraradikaler Äußerungen, die Lenin nach seiner Rückkehr nach Russland machte, glaubten einige Anarchisten, dass der bolschewistische Führer das enge Gewand des Marxismus abgelegt hatte und eine revolutionäre Theorie vertrat, die ihrer eigenen ähnelte. Lenins „Aprilthesen“ zum Beispiel enthielten eine Reihe von ikonoklastischen Thesen, auf die sich anarchistisches Gedankengut schon lange bezog: die Umwandlung des „imperialistischen Raubkriegs“ in einen revolutionären Kampf gegen die kapitalistische Ordnung; der Verzicht auf eine parlamentarische Regierung zugunsten eines Sowjetregimes nach dem Vorbild der Pariser Kommune; die Abschaffung von Polizei, Armee und Bürokratie; die Angleichung der Einkommen. (Siehe V. I. Lenin, Socinenia [Opere complete], in 55 volumi, V edizione, Mosca 1958-1965, vol. XXXI, pp. 103-112).

Obwohl Lenins Wunsch, die Macht zu ergreifen, für einige ein Grund zum Zögern war, hielten nicht wenige Anarchisten seine Ideen für ausreichend übereinstimmend mit ihren eigenen, um als Grundlage für eine Zusammenarbeit zu dienen. Wenn sie noch einen Verdacht hegten, wurde dieser vorerst beiseite geschoben. Lenins Aufruf zu „einer Spaltung und einer Revolution, die tausendmal mächtiger ist als die vom Februar“ (ib., XXXII, S. 441), klang eindeutig bakuninistisch und war genau das, was die meisten Anarchisten hören wollten. Einer der anarchistischen Anführer in Petersburg war sogar davon überzeugt, dass Lenin beabsichtigte, Anarchie zu schaffen, indem er den Staat „wegfegt“, sobald er ihn in Besitz genommen hat. (Siehe B. D. Wolfe, Introduzione a I dieci giorni che sconvolsero il mondo, di J. Reed, New York, 1960, p. XXXI).

So kam es, dass in den acht Monaten zwischen den beiden Revolutionen von 1917 die Anarchisten und die Bolschewiki ihre Bemühungen auf dasselbe Ziel richteten, nämlich die Zerstörung der provisorischen Regierung. Obwohl beide Seiten immer noch mit einer gewissen Vorsicht agierten, stellte ein bekannter Anarchist fest, dass es in Bezug auf die wichtigsten Probleme eine „perfekte Parallelität“ zwischen den beiden Gruppen gab. (Volin, La rivoluzione sconosciuta, tr. it., Edizioni Franchini, Carrara 1976). Ihre Slogans – „Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der provisorischen Regierung! Kontrolle der Fabriken an die Arbeiter! Land an die Bauern!“ – waren oft identisch und das gemeinsame Ziel trug sogar dazu bei, dass sich zwischen den beiden ewigen Antagonisten eine gewisse Kameradschaft entwickelte. Als ein marxistischer Redner vor einem Publikum von Arbeitern in Petersburg sagte, dass die Anarchisten die Solidarität der Arbeiterklasse in Russland zerstörten, rief einer der Zuhörer in einem wütenden Ton: „Es reicht! Die Anarchisten sind unsere Freunde!“ Eine zweite Stimme hörte man jedoch murmeln: „Gott schütze uns vor solchen Freunden!“ (Vgl. „Novaia Zhizn“, 15. November 1917, S. 1).

Obwohl sich Anarchisten und Bolschewiki in ihrer Entschlossenheit, die provisorische Regierung zu stürzen, einig waren, kam es zwischen ihnen zu Meinungsverschiedenheiten über den Zeitpunkt. Im Frühjahr und Sommer 1917 drängten die anarcho-kommunistischen Militanten in der Hauptstadt und in Kronstadt auf einen sofortigen Aufstand, während das bolschewistische Komitee in Petersburg argumentierte, dass die Zeit noch nicht reif sei und dass ein undisziplinierter Aufstand der anarchistischen und bolschewistischen Basis leicht niedergeschlagen werden könnte und damit der Partei und der Revolution irreparablen Schaden zufügen würde. Die Anarcho-Kommunisten wollten jedoch von keiner politischen Gruppierung, auch nicht von den Bolschewiki, etwas von Hinhaltetaktik hören. In ihrer Vorfreude auf das Goldene Zeitalter verfolgten sie das Projekt eines bewaffneten Aufstandes. Die Agitatoren forderten ihren Zuhörern auf, sich unverzüglich zu erheben, und versicherten ihnen, dass die Unterstützung politischer Organisationen nicht nötig sei, „weil schon die Februarrevolution ausgebrochen war, ohne dass eine Partei die Führung übernommen hatte“. (L. Trotsky, Storia della rivoluzione russa).

Die Anarchisten brauchten nicht lange zu warten. Am 3. Juli begann eine Menge von Soldaten, Kronstädter Matrosen und Arbeitern einen offenen Aufstand in der Hauptstadt und forderte die Machtübernahme durch den Petersburger Sowjet (obwohl die Anarchisten unter ihnen mehr an der Zerstörung des Staates als an der Übergabe der Macht in die Hände der Sowjets interessiert waren). Der Petersburger Sowjet weigerte sich jedoch, diese verfrühte Rebellion zu unterstützen, und nach ein paar Tagen sporadischer Unruhen wurde der Aufstand niedergeschlagen. Es wäre übertrieben, die Julitage als eine „anarchistische Schöpfung“ zu bezeichnen, wie es ein Redner auf der anarchistischen Konferenz 1918 tat. (Siehe „Burevestnik“, 11. April 1918, S. 2). Andererseits sollte die Rolle der Anarchisten nicht unterschätzt werden. Gemeinsam mit der militanten bolschewistischen Basis und den unabhängigen Radikalen übernahmen sie die Rolle des Provokateurs, der die Soldaten, Matrosen und Arbeiter zu dem zum Scheitern verurteilten Aufstand anstachelte.

Die Revolution

Nach den Julitagen bewahrheiteten sich die Befürchtungen des bolschewistischen Komitees teilweise, da die Parteiführer verhaftet wurden oder untertauchen mussten. Die Bolschewiki waren jedoch weit davon entfernt, vernichtet zu werden. Tatsächlich hatten sie im Oktober immer noch genug Kraft, um den Aufstand gegen das Kerenski-Regime erfolgreich voranzutreiben, an dem sich die Anarchisten erneut aktiv beteiligten. (In dem von den Bolschewiki dominierten revolutionären Militanten Komitee, das den Staatsstreich vom 25. Oktober organisierte, saßen mindestens vier Anarchisten). Ungeachtet der Predigten von Bakunin und Kropotkin gegen politische Putsche beteiligten sich die Anarchisten an der Machtergreifung in dem Glauben, dass diese, einmal erobert, irgendwie verbreitet und beseitigt werden könnte.

Aber es verging noch kein Tag, an dem sie es sich anders überlegten. Als die Bolschewiki am 26. Oktober eine neue „Regierung der Sowjets“ ausriefen und einen zentralen Rat der Volkskommissare (Sovnarkom) schufen, der sich ausschließlich aus Mitgliedern ihrer Partei zusammensetzte, wurden viele Anarchisten an Bakunins und Kropotkins Warnungen erinnert, dass die „Diktatur des Proletariats“ in Wirklichkeit die „Diktatur der sozialdemokratischen Partei“ bedeuten würde. („Svobodnaia Kommuna“, 2. Oktober 1917, S. 2). Sie protestierten sofort mit der Behauptung, dass eine solche Konzentration der politischen Macht die im Februar begonnene soziale Revolution zerstören würde. Der Erfolg der Revolution, so betonten sie, hänge von der Dezentralisierung der politischen und ökonomischen Macht ab. Die Sowjets und Fabrikkomitees sollten dezentralisierte Einheiten bleiben, die nicht der Kontrolle von Parteiführern oder sogenannten Volkskommissaren unterworfen sind. Sollte eine politische Gruppe versuchen, sie zu Zwangsinstrumenten zu machen, musste das Volk bereit sein, wieder zu den Waffen zu greifen.

In anarchistischen Kreisen in Petersburg sprach man bald von einer „dritten und letzten revolutionären Phase“, einem entscheidenden Kampf zwischen „Autorität und Freiheit … zwischen zwei ewig widerstreitenden sozialen Idealen: dem marxistischen und dem anarchistischen“. Die Matrosen in Kronštadt begannen bedrohlich zu murmeln, dass die gleichen Kanonen, die das Winterpalais eingenommen hatten, auch Smolny (den Sitz der bolschewistischen Regierung) einnehmen würden, wenn der Sovnarkom es wagte, die Revolution zu verraten. „Wo die Autorität beginnt, endet die Revolution!“ („Golos Truda“, 4. November 1917, S. 1). Die Anarchisten hatten bald mehr und mehr Grund zur Beschwerde. Am 2. November veröffentlichte die neue Regierung eine Erklärung der Rechte des russischen Volkes, in der das „unveräußerliche Recht jeder Nation, sich selbst zu regieren, indem sie einen unabhängigen Staat errichtet“, festgehalten wurde. Für die Anarchisten bedeutete dies einen Rückschritt, den Verzicht auf ein internationalistisches und staatenloses Ideal.

Im Frühjahr 1918 war eine neue politische Polizei, die Tscheka, geschaffen worden, Land wurde verstaatlicht, Fabrikkomitees wurden der Kontrolle eines Netzwerks staatlicher Gewerkschaften/Syndikate unterstellt – kurzum, es war eine „Kommissarkratie, das Geschwür unserer Zeit“ geschaffen worden, wie die anarcho-kommunistische Vereinigung in Charkow es bissig nannte. („Bezvlastie“, März 1918, S. 1). Einem anarchistischen Pamphlet jener Zeit zufolge hatte die Konzentration der Macht in den Händen des Sovnarkom, der Tscheka und des Vesenkha (Oberster ökonomischer Rat) jeder Hoffnung auf ein freies Russland den Gnadenstoß versetzt: „Tag für Tag, Schritt für Schritt, beweist der Bolschewismus, dass die Staatsmacht unveräußerliche Eigenschaften besitzt; sie mag ihr Gewand, ihre „Theorie“ und ihre Diener wechseln, aber im Kern bleibt sie despotische Macht in neuer Form“. („Velikii opyt“, 1918).

Die Pariser Kommune, die einst als soziales Ideal beschworen wurde, um die provisorische Regierung zu ersetzen, wurde nun die anarchistische Antwort auf Lenins Diktatur. Die Arbeiter wurden aufgefordert, „die Worte, Befehle und Dekrete der Kommissare zurückzuweisen“ und ihre eigenen freiheitlichen Kommunen nach dem Vorbild von 1871 zu gründen. („Burevestnik“, 9. April 1918, S. 2). Gleichzeitig verachteten die Anarchisten den „Parlamentsfetischismus“ der Kadetten, revolutionären Sozialisten und Menschewiki gleichermaßen, und es war kein Zufall, dass ein anarchistischer Matrose aus Kronstadt, Anatoli Zhelezniakov, die Gruppe anführte, die die konstituierende Versammlung im Januar 1918 auflöste und ihre kurze Lebensdauer von nur einem Tag beendete.

Die Flut von Beschimpfungen gegen die Sowjetregierung erreichte im Februar 1918 ihren Höhepunkt, als die Bolschewiki die Friedensverhandlungen mit den Deutschen in Brest-Litowsk wieder aufnahmen. Die Anarchisten schlossen sich den anderen linken „Internationalisten“ – linken revolutionären Sozialisten, menschewistischen Internationalisten und linken Kommunisten – an und protestierten gegen jedes Abkommen mit dem deutschen „Imperialismus“. Lenin argumentierte, dass die Rote Armee zu erschöpft sei, um weiter zu kämpfen, und die Anarchisten entgegneten, dass eine Berufsarmee ohnehin fehl am Platz sei, da die Verteidigung der Revolution nun dem Volk obliege, das in Partisanenkernen organisiert sei. Einer der führenden Vertreter des Anarcho-Kommunismus, Alexandr Ge, sprach sich mit feurigen Worten gegen den Friedensvertrag aus: „Kommunistische Anarchisten verkünden Terror und Partisanenkrieg an zwei Fronten. Es ist besser, für die sozialistische Weltrevolution zu sterben, als durch ein Abkommen mit dem deutschen Imperialismus zu leben“. („Prava“, 25. Februar 1918, S. 2). Die Anarcho-Kommunisten und ihre syndikalistischen Gefährten argumentierten, dass spontan organisierte Guerillabanden in jedem Bezirk die Invasoren stören und demoralisieren würden, bis hin zu ihrer Vernichtung, wie es 1812 mit Napoleons Armee geschehen war. Volin, einer der einflussreichsten Syndikalisten, beschrieb diese Strategie kurz und bündig: „Was ihr tun müsst, ist durchhalten. Widerstand leisten. Gib nicht nach. Führt einen unerbittlichen Partisanenkrieg – hier, dort, überall. Rückt vor. Oder, wenn du dich zurückziehst, zerstöre. Quält, schikaniert und plündert den Feind.“

Doch der Appell der Anarchisten stieß auf taube Ohren. Der Vertrag von Brest-Litowsk, der noch härter war, als Ge und Volin befürchtet hatten, wurde von der bolschewistischen Delegation am 3. März 1918 unterzeichnet. Lenin bestand darauf, dass das Abkommen, so hart es auch war, eine dringend benötigte Atempause gewährte, die es seiner Partei ermöglichen würde, die Revolution zu konsolidieren und später voranzutreiben. Es war wirklich ein „dunkler Frieden“, wie sie ihn in Anlehnung an Lenins Worte nannten. (Bol’shevistkaia diktatura v svete anarkhizma, Paris 1928, S. 10). Als der Vierte Sowjetkongress am 14. März zusammentrat, um den Vertrag zu ratifizieren, stimmten Alexandr Ge und seine Gefährten (es waren vierzehn) alle gegen den Vertrag. („Izvestiia“, 17. März 1918, S. 2).

Der Streit um den Vertrag von Brest-Litowsk beseitigte alle Hemmungen, die aufkeimende Zwietracht zwischen den Anarchisten und der bolschewistischen Partei. Mit dem Sturz der provisorischen Regierung im Oktober 1917 hatte ihre Ehe ihren Zweck erfüllt. Im Frühjahr 1918 war die Enttäuschung über Lenin bei den meisten Anarchisten so groß, dass sie sich zweifellos einen endgültigen Bruch mit ihm wünschten, während die Bolschewiki ihrerseits über die Beseitigung ihrer ehemaligen Verbündeten nachdachten, die ihnen nicht mehr nützlich waren und deren unablässige Kritik das neue Regime nicht dulden konnte. Abgesehen von ihrer lästigen verbalen Aggression stellten die Anarchisten außerdem allmählich eine greifbarere Gefahr dar. Teilweise in Vorbereitung auf einen zukünftigen Guerillakrieg gegen Deutschland, teilweise um feindliche Manöver der sowjetischen Regierung abzuschrecken, organisierten anarchistische Kreise Kerne von „Schwarzen Wachen“ (die schwarze Flagge war das Banner der Anarchisten), die mit Gewehren, Pistolen und Granaten bewaffnet waren. Im April 1918, als die Tscheka eine Kampagne startete, um Moskau und Petersburg von den gefährlichsten anarchistischen Zellen zu befreien, kam es zum offenen Bruch. Die schwerste Aktion fand am 11. April statt, als nachts sechsundzwanzig anarchistische Hauptquartiere in Moskau überfallen wurden, wobei vierzig Anarchisten getötet oder verwundet und mehr als fünfhundert verhaftet wurden. Die Anarchisten protestierten und beschuldigten die Bolschewiki, eine Kaste von individualistischen Intellektuellen zu sein, die Verräter an den Massen und der Revolution seien.

Die politische Macht, so erklärten sie, korrumpiert immer diejenigen, die sie an sich reißen, und betrügt das Volk um seine Freiheit. Doch auch wenn ihnen das goldene Zeitalter entglitt, ließen sich die Anarchisten nicht entmutigen. Sie klammerten sich hartnäckig an den Glauben, dass ihre Vision einer Utopie jenseits des Staates am Ende triumphieren würde. „Lasst uns weiterkämpfen“, verkündeten sie, „und unser Motto wird sein: ‚Die Revolution ist tot! Es lebe die Revolution!’“ (G. P. Maksimov, The Guillotine at Work, Chicago 1940, S. 23).

Der Bürgerkrieg

Als die ersten Schüsse des russischen Bürgerkriegs fielen, standen die Anarchisten wie die anderen linken Oppositionsparteien vor einem schweren Dilemma. Auf welcher Seite sollten sie stehen? Als gute Libertäre waren sie mit der diktatorischen Politik von Lenins Regierung nicht einverstanden. Aber die Aussicht auf einen weißen Sieg schien noch schlimmer. Aktiver Widerstand gegen das Sowjetregime könnte den Ausschlag zugunsten der Konterrevolutionäre geben. Andererseits konnte die Unterstützung der Bolschewiki dazu dienen, ihre Macht so weit zu festigen, dass sie nicht mehr untergraben werden konnten, sobald die Gefahr der Reaktion vorüber war. Die Lösung war nicht einfach. Nach vielen Diskussionen und Grübeleien nahmen die Anarchisten verschiedene Positionen ein, die vom aktiven Widerstand gegen die Bolschewiki über passive Neutralität bis hin zur aktiven Kollaboration reichten. Die Mehrheit jedoch verband ihr Schicksal mit dem des bedrohten Sowjetregimes. Im August 1919, auf dem Höhepunkt des Bürgerkriegs, war Lenin von dem Eifer und dem Mut dieser „Anarchistinnen und Anarchisten der Sowjets“, wie ihre antibolschewistischen Gefährten sie verächtlich nannten, so beeindruckt, dass er sie zu den „treuesten Anhängern der Sowjetmacht“ zählte. (Lenin, Opere complete, vol. XXXIX, p. 161).

Ein besonders bemerkenswerter Fall in dieser Hinsicht war der von Bill Shatov, einem ehemaligen IWW-Agitatoren in den USA, der nach der Februarrevolution in seine Heimat Russland zurückkehrte. Als Offizier der 10. Roten Armee verteidigte Shatov im Herbst 1919 Petersburg mit aller Kraft gegen den Vormarsch von General Judenič. Im folgenden Jahr wurde er nach Čita berufen, wo er Verkehrsminister der fernöstlichen Republik wurde. Vor seiner Abreise versuchte Shatov, seine kollaborative Haltung gegenüber seinen libertären Freunden Emma Goldman und Alexandr Berkman zu rechtfertigen. „Ich will euch nur sagen“, erklärte er, „dass der gegenwärtige kommunistische Staat genau so ist, wie wir Anarchisten ihn immer beschrieben haben – eine stark zentralisierte Macht, die durch die Gefahren der Revolution noch stärker wird. Unter solchen Bedingungen kannst du nicht tun, was du willst. Du kannst nicht einfach auf einen Zug aufspringen und losfahren oder auf Puffern sitzend reisen, wie ich es in den USA getan habe. Du musst um Erlaubnis bitten. Aber glaube nicht, dass ich meine amerikanischen „Glücksfälle“ vermisse. Ich habe mein Leben Russland gewidmet, der Revolution und ihrer glorreichen Zukunft“. Die Anarchisten, so Schatow, waren die „Romantiker der Revolution“, aber man konnte nicht nur mit Idealen kämpfen. Zu dieser Zeit war das Hauptziel, die Reaktionäre zu besiegen. „Wir Anarchisten müssen unseren Idealen treu bleiben, aber in dieser Zeit dürfen wir nicht kritisieren. Wir müssen arbeiten und helfen, etwas aufzubauen.“ (Siehe A. Berkman, The Bolshevik Myth, New York 1925, S. 35-36).

Schatow war einer von vielen Anarchisten, einer regelrechten Armee, die im Bürgerkrieg gegen die Weißen zu den Waffen griffen. Andere nahmen kleinere Posten in der sowjetischen Regierung an und stachelten ihre Gefährten dazu an, dies ebenfalls zu tun oder zumindest von Aktivitäten Abstand zu nehmen, die der bolschewistischen Sache feindlich gegenüberstanden. Iuda Roshchin, ein ehemaliger Terrorist und unerbittlicher Feind der Marxisten, überraschte alle, als er Lenin als eine der größten Persönlichkeiten der Neuzeit begrüßte. Laut Victor Serge versuchte Roshchin sogar, eine „libertäre Theorie der Diktatur des Proletariats“ zu entwerfen. (Victor Serge, Memorie di un rivoluzionario 1901-1904, tr. it., La Nuova Italia, Firenze 1974). 1920 forderte er seine Gefährten in einer Rede vor einer Gruppe Moskauer Anarchisten auf, mit Lenins Partei zusammenzuarbeiten. „Es ist die Pflicht eines jeden Anarchisten“, erklärte er, „in herzlicher Zusammenarbeit mit den Kommunisten zu arbeiten, die die Avantgarde der Revolution sind. Lasst eure Theorien beiseite und leistet einen praktischen Beitrag zum Wiederaufbau Russlands. Es besteht ein großer Bedarf und die Bolschewiki erwarten euch mit offenen Armen“. (Ebd.).

Die Zuhörer, die Roshchin ansprach, waren nicht beeindruckt. Sie begrüßten seine Rede mit Buhrufen und Beschimpfungen und strichen ihn als Verräter der Sache des „sowjetischen Anarchismus“ und als Verräter an der Sache von Bakunin und Kropotkin von der Liste. Selbst in dieser prekären Zeit wollte ein großer und kämpferischer Teil der anarchistischen Bewegung kein Pardon mit den bolschewistischen Gegnern geben. Die anarchistische Föderation von Brjansk zum Beispiel forderte den sofortigen Sturz der „sozialen Vampire“ des Kremls, die das Blut des Volkes aussaugen würden. Als Reaktion auf diesen Aufruf verbündete sich eine Moskauer Terrororganisation, die so genannten „Geheimen Anarchisten“, mit dem linken Flügel der revolutionären Sozialisten und warf eine Bombe in die Zentrale des Kommunistischen Parteikomitees, wobei zwölf seiner Mitglieder getötet und fünfundfünfzig weitere verletzt wurden, darunter auch Bucharin. Im Süden, wo die Autorität des Staates völlig zerbrochen war, fand die anarchistische Gewalt den fruchtbarsten Boden. Überall tauchten bewaffnete Banden von Marodeuren auf, die unter Namen wie „Hurrikan“ und „Tod“ agierten und bei jeder sich bietenden Gelegenheit Städte und Dörfer überfielen. Die Partisanen von Bakunin aus Jekaterinoslaw sangen von einem neuen „Dynamit-Zeitalter“, das Unterdrücker aller Richtungen, ob rot oder weiß, willkommen heißen würde. Und in Charkow verkündete ein Kreis fanatischer Anarcho-Futuristen „Tod der Weltzivilisation!“ und stachelte die Massen dazu an, ihre Äxte zu ergreifen und alles um sie herum zu zerstören.

Friedlichere Anarchisten prangerten diese Gruppen an und nannten sie „sizilianische Banditen“, die die räuberische Natur ihrer Aktivitäten unter dem Deckmantel der Anarchie verbargen. Für die Gemäßigten waren Raubüberfälle und Terrorismus groteske Karikaturen der anarchistischen Doktrin, die nur dazu dienten, die wahren Anhänger der Bewegung zu demoralisieren und den Anarchismus in den Augen der Öffentlichkeit zu diskreditieren. Die gemäßigteren Anarchisten verzichteten auf gewaltsame Aktionen und griffen die sowjetische Diktatur nur mit Feder und Tinte an. Eines der Hauptargumente ihrer Kritik lautete, dass die bolschewistische Revolution nichts anderes getan habe, als den Privatkapitalismus durch einen „Staatskapitalismus“ zu ersetzen, und dass ein Großgrundbesitzer an die Stelle vieler kleiner Kapitalisten getreten sei, so dass die Bauern und Arbeiter nun unter der Fuchtel einer „neuen Klasse von Verwaltern – die hauptsächlich aus der Intelligenzija stammen“ – stünden. Ihrer Meinung nach erinnerte das, was in Russland geschah, stark an frühere Revolutionen, die in Westeuropa ausgebrochen waren: Sobald die Bauern und Handwerker in England und Frankreich den Landadel von der Macht verdrängt hatten, sprang die ehrgeizige Bourgeoisie in die Bresche und errichtete eine neue Klassenstruktur, in der sie sich selbst an die Spitze setzte; nicht anders waren die Privilegien und die Macht, die einst zwischen dem russischen Adel und der Bourgeoisie aufgeteilt waren, in die Hände einer neuen herrschenden Klasse übergegangen, die sich aus Parteifunktionären, Regierungsbürokraten und technischen Spezialisten zusammensetzte.

Als sich der Bürgerkrieg zuspitzte, wurde die Regierung immer weniger tolerant gegenüber Kritik und begann, anarchistische Gruppen in Moskau und Petersburg zu verfolgen. Zeitungen wurden verboten, Vereine und Organisationen gezwungen, ihre Türen zu schließen oder in die Klandestinität zu gehen. Um sich zu rechtfertigen, argumentierten die Regierungssprecher, dass sich das Land in einem tödlichen Kampf befand, bedroht von einer taumelnden ökonomischen Krise und mächtigen Feinden, die von allen Seiten auf die bolschewistische Macht eindrangen und sie stürzen wollten. Das bolschewistische Russland, so betonten sie, war trotz seiner Mängel der erste sozialistische Staat in der Geschichte, das erste Land, in dem Grundbesitzer und Kapitalisten ihrer jahrhundertealten Macht beraubt worden waren. Ein Sieg der Weißen hätte eine Rückkehr zu Ungerechtigkeit und Ausbeutung, zu der sterilen und anachronistischen Politik der Vergangenheit bedeutet; er hätte auch eine neue Diktatur bedeutet, aber eher eine antiproletarische als eine antibourgeoise. Die Bolschewiki hatten nicht die Absicht, Drohungen von irgendeiner Gruppe zu dulden, schon gar nicht von einer, die sich aktiv gegen den Vertrag von Brest-Litowsk ausgesprochen und Abordnungen von „Schwarzen Wachen“ organisiert hatte, die in der Hauptstadt schwere Unruhen auslösen konnten. In der Tat hing das Schicksal der Revolution, wie Trotzki sagte, jeden Tag an einem seidenen Faden.

Die Repressionen gingen also weiter. Infolgedessen begann ein Exodus von Anarchisten in die Ukraine, die schon immer eine Anlaufstelle für diejenigen war, die vor der Verfolgung durch die Zentralregierung flohen. 1918 entstand in der Stadt Charkow eine neue anarchistische Organisation, die Nabat (Alarm) Konföderation, die bald in allen großen Städten des Südens blühende Sektionen hatte. Wie zu erwarten war, standen die Nabat-Anhänger der Sowjetdiktatur äußerst kritisch gegenüber, doch sie waren der Meinung, dass die vordringlichste Aufgabe der anarchistischen Bewegung die Verteidigung der Revolution gegen die weiße Aggression sei, auch wenn dies ein vorübergehendes Bündnis mit den Kommunisten bedeuten könnte. Um die Revolution zu retten, setzten sie ihre Hoffnungen auf eine „Partisanenarmee“, die spontan von den revolutionären Massen selbst organisiert wurde.

Nestor Machno

Die Nabat- Anführer sahen in der Guerillagruppe von Nestor Machno, den seine Anhänger für einen neuen Sten’ka Razin oder Pugačëv hielten, der geschickt wurde, um ihren langjährigen Traum von Land und Freiheit zu verwirklichen, den Kern einer solchen Armee. Machno und seine Männer zogen zu Pferd in leichten Karren (Tachanki), auf denen sie Maschinengewehre montierten, schnell von einem Ende der Steppe zum anderen, zwischen dem Dnepr und dem Asowschen Meer, verwandelten sich unterwegs in eine kleine Armee und verbreiteten Angst und Schrecken in den gegnerischen Reihen. Banden von Guerillas akzeptierten Machnos Kommando und versammelten sich unter seiner schwarzen Flagge. Die Dorfbewohner versorgten sie bereitwillig mit Lebensmitteln und frischen Pferden, so dass die Machnowisten problemlos große Entfernungen zurücklegen konnten. Sie tauchten plötzlich dort auf, wo man sie am wenigsten erwartete, griffen Landbesitzer und Militärgarnisonen an und verschwanden dann so schnell, wie sie gekommen waren. In gestohlenen Uniformen drangen sie in die Reihen der Feinde ein, um deren Pläne zu stehlen oder sie aus nächster Nähe zu erschießen. Wenn sie mit dem Rücken zur Wand standen, vergruben die Machnowisten ihre Waffen, kehrten in ihre Dörfer zurück und nahmen ihre Arbeit auf den Feldern wieder auf, um auf das nächste Signal zu warten, ein weiteres Arsenal auszugraben und an den unerwartetsten Orten aufzutauchen. Victor Serge zufolge bewiesen Machnos Rebellen „eine wahrhaft epische Fähigkeit zur Organisation und zum Kampf“. (Op. cit.). Ein großer Teil ihres Erfolgs war jedoch auf die außergewöhnlichen Fähigkeiten ihres Anführers zurückzuführen. Machno war ein mutiger und einfallsreicher Befehlshaber, der einen eisernen Willen mit einem ausgeprägten Sinn für Humor verband und die Liebe und Ergebenheit seiner bäuerlichen Gefolgsleute gewann. Als er im September 1918 die weitaus zahlreicheren österreichischen Truppen im Dorf Dibrivski besiegte, gaben ihm seine Männer den liebevollen Spitznamen „Batko“, ihr „kleiner Vater“. (P. Aršinov, La rivoluzione anarchica in Ucraina, Tr. it., Sapere Edizioni, Mailand 1972).

Eine Zeit lang blieben die Beziehungen zwischen Machno und den Bolschewiki recht freundschaftlich und die sowjetische Presse pries ihn als „mutigen Partisanen“ und großen Revolutionsanführer. Die beste Zeit war im März 1919, als Machno und die Kommunisten einen Pakt schlossen, um gemeinsam militärisch gegen die Weiße Armee von General Denikin vorzugehen. Doch diese Haltung der guten Harmonie konnte nicht über die grundlegende Feindschaft zwischen den beiden Gruppen hinwegtäuschen. Den Kommunisten gefiel weder der unabhängige Charakter von Machnos aufständischer Armee noch die starke Anziehungskraft, die sie auf ihre Anhänger auf dem Lande ausübte; die Machnowisten ihrerseits befürchteten, dass die Rote Armee früher oder später versuchen würde, die Bewegung wieder in die Schranken zu weisen. Als die Spannungen zunahmen, hörten die sowjetischen Zeitungen auf, die Machnowisten zu loben und beschuldigten sie, Kulaken und „anarchistische Banditen“ zu sein. Im Mai wurden zwei Tscheka-Agenten, die ein Attentat auf Machno verüben sollten, gefangen genommen und hingerichtet. Im folgenden Monat ächtete Trotzki, der Oberbefehlshaber der bolschewistischen Streitkräfte, Machno und kommunistische Truppen führten einen Blitzangriff auf sein Hauptquartier in Gulyai-Polje durch.

Im Sommer wurde das unsichere Bündnis jedoch wiederhergestellt, als Denikins massive Offensive gegen Moskau sowohl die kommunistischen als auch die machnowistischen Kräfte ins Wanken brachte. Am 26. September 1919 startete Machno plötzlich einen erfolgreichen Gegenangriff auf das Dorf Peregonovka in der Nähe der Stadt Uman‘, wodurch der Nachschub für den Weißen General unterbrochen wurde und Unordnung und Panik in seinem Rücken entstand. Dies war die erste große Niederlage, die Denikin während seines dramatischen Vormarsches ins Herz Russlands erlitt, und eine der Hauptursachen, die seine Offensive gegen die bolschewistische Hauptstadt zum Stillstand brachte. Gegen Ende des Jahres zwang eine Gegenoffensive der Roten Armee Denikin zu einem raschen Rückzug an die Küste des Schwarzen Meeres.

Der Machnowismus erreichte in den Monaten nach dem Sieg bei Peregonowka den Höhepunkt seines Ruhms. Im Oktober und November besetzte Machno für mehrere Wochen Jekaterinoslaw und Alexandrowsk und hatte zum ersten Mal die Gelegenheit, die Konzepte der Anarchie auf das Stadtleben anzuwenden, was er bereits auf dem Land mit der Gründung der libertären Kommunen getan hatte. Machno strebte die Zerstörung aller Formen von Herrschaft und die Förderung der Selbstbestimmung im ökonomischen und sozialen Bereich an. Als zum Beispiel die Eisenbahner in Alexandrowsk protestierten, weil sie seit mehreren Wochen nicht bezahlt worden waren, riet er ihnen, die Kontrolle über die Eisenbahnlinien zu übernehmen und den Passagieren und Güterwagen den Tarif aufzuerlegen, der ihnen eine gerechte Entlohnung für ihre Leistung zu sein schien. Utopische Projekte dieser Art hatten jedoch keinen Erfolg, außer bei kleinen Minderheiten von Arbeitern, denn im Gegensatz zu den Bauern und Dorfhandwerkern, unabhängigen Produzenten, die es gewohnt waren, ihre eigenen Unternehmen zu führen, arbeiteten Fabrikarbeiter und Bergleute als voneinander abhängige Teile eines komplexen industriellen Mechanismus und waren ohne die Anleitung von Superintendenten und erfahrenen Technikern verloren. Außerdem konnten Bauern und Handwerker die Produkte ihrer Arbeit tauschen, während das Überleben der Stadtarbeiter von einem regelmäßigen Lohn abhing. Andererseits sorgte Machno für noch mehr Verwirrung, indem er alle von seinen Vorgängern – ukrainischen Nationalisten, Weißen und Bolschewiken – ausgegebenen Papiergelder als gleichwertig anerkannte. Er hat die komplexe Natur der städtischen Ökonomie nie verstanden, und es war ihm auch egal. Er verabscheute das „Gift“ der Städte und liebte vor allem die natürliche Einfachheit der bäuerlichen Umgebung, in der er geboren wurde. Dennoch fand Machno wenig Zeit, um seine ungewissen ökonomischen Pläne zu entwickeln. Er war immer in Bewegung und gönnte sich keine Ruhepause. In den Worten eines Gefährten des Batko war der Machnowismus eine „Republik in Tatschanka…. Wie immer erlaubte die instabile Situation keine endgültige Verpflichtung zur Arbeit“. (Volin, op. cit.).

Ende 1919 erhielt Machno von der Führung der Roten Armee die Anweisung, seine Armee an die polnische Front zu verlegen. Der Befehl zielte offensichtlich darauf ab, die Machnowisten aus ihrem Gebiet zu vertreiben, damit die bolschewistische Regierung dort eingesetzt werden konnte. Machno weigerte sich, sich zu bewegen. Trotzkis Antwort war hart und entschlossen: Er verbot die Machnowisten und schickte seine Truppen gegen sie. Es folgten acht Monate harter Kämpfe, mit schweren Verlusten auf beiden Seiten. Eine schwere Typhusepidemie erhöhte die Zahl der Opfer. Auf eine Minderheit reduziert, vermieden Machnos Partisanen offene Kämpfe und griffen auf die Guerillataktik zurück, die sie in mehr als zwei Jahren Bürgerkrieg perfektioniert hatten.

Die Feindseligkeiten wurden im Oktober 1920 abgebrochen, als Baron Wrangel, Denikins Nachfolger an der Südfront, von der Halbinsel Krim aus eine Großoffensive in Richtung Norden startete.

Erneut nahm die Rote Armee Machnos Hilfe in Anspruch. Im Gegenzug versprachen die Kommunisten allen Anarchisten in russischen Gefängnissen Amnestie und garantierten ihnen Propagandafreiheit, sofern sie nicht den gewaltsamen Umsturz der Sowjetregierung predigten. Nach nicht einmal einem Monat hatte die Rote Armee jedoch genug Gewinne erzielt, um den Sieg im Bürgerkrieg zu erringen, und die Sowjetführung kündigte ihre Vereinbarungen mit Machno. Die Machnowisten hatten nicht nur ihre Funktion als militärische Verbündete erschöpft, sondern solange die Batko frei blieb, würden der Geist des primitiven Anarchismus und die Gefahr einer bäuerlichen Jacquerie das instabile bolschewistische Regime weiterhin bedrohen. So wurden am 25. November 1920 die Kommandeure von Machno auf der Krim, die von ihrem Sieg über Wrangels Armee zurückkehrten, von der Roten Armee gefangen genommen und sofort erschossen. Am nächsten Tag befahl Trotzki den Angriff auf Machnos Hauptquartier in Gulyai-Polje, während die Tscheka gleichzeitig Mitglieder der Konföderation Nabat in Charkow verhaftete und im ganzen Land Razzien gegen anarchistische Zentren und Organisationen durchführte. Während des Angriffs auf Gulyai-Polye wurden die meisten von Machnos Mitstreitern gefangen genommen und inhaftiert oder einfach auf der Stelle getötet. Batko gelang es jedoch, mit den angeschlagenen Überlebenden einer Armee, die einst Zehntausende zählte, seinen Verfolgern zu entkommen. Nachdem er ein ganzes Jahr lang durch die Ukraine gewandert war, überquerte der erschöpfte Partisanenanführer, der unter seinen Wunden litt, den Fluss Dnestr, durchquerte Rumänien und fand schließlich in Paris Unterschlupf.

Repression

Der Fall von Machno bedeutete den Anfang vom Ende für den russischen Anarchismus. Drei Monate später, im Februar 1921, erlitt die Bewegung einen weiteren schweren Schlag, als Pjotr Kropotkin, fast 80 Jahre alt, an Tuberkulose erkrankte und starb. Die Familie Kropotkin lehnte das von Lenin angebotene Staatsbegräbnis ab und ein Komitee von Anarchisten wurde organisiert, um die Zeremonie durchzuführen. Lew Kamenew, der Präsident des Moskauer Sowjets, gewährte einer Gruppe von inhaftierten Anarchisten einen Tag Freiheit, damit sie an der Beerdigung teilnehmen konnten. Zehntausende Anarchisten trotzten dem eisigen Moskauer Winter und zogen zum Nowodewitschi-Kloster, der Grabstätte der Kropotkin-Fürsten. Sie hissten Fahnen und Plakate, auf denen sie die Freilassung aller Anarchisten forderten, und trugen Mottos wie „Es gibt keine Freiheit, wo es Autorität gibt“ und „Die Befreiung der Arbeiterklasse gehört nur den Arbeitern“. Sie skandierten im Chor „Ewiges Gedenken“. Als der Zug am Butyrsky-Gefängnis vorbeikam, rüttelten die Insassen an den Gitterstäben ihrer Zellen und sangen eine anarchistische Hymne zu Ehren der Toten. Emma Goldman hielt eine Ansprache an Kropotkins Grab, Studenten und Arbeiter legten Blumen neben seinem Grab nieder. Das Geburtshaus Kropotkins, eine große Villa im alten Adelsviertel Moskaus, wurde seiner Frau und seinen Gefährten geschenkt, die es in ein Museum umwandelten, in dem seine Bücher, Papiere und persönlichen Gegenstände aufbewahrt werden. Es wurde von einem Komitee anarchistischer Gelehrter geleitet und dank der Beiträge von Freunden und Bewunderern aus der ganzen Welt erhalten. Nach dem Tod von Kropotkins Witwe im Jahr 1938 wurde das Museum geschlossen. Im Jahr 1967 besuchte der Autor das Gebäude und entdeckte, dass es für einen Zweck genutzt wurde, den Kropotkin selbst gutgeheißen hätte: Es wurde als Schule für die Kinder von Beamten der britischen und amerikanischen Botschaften genutzt, mit einem Spielplatz im Garten und einem Innenraum voller Kinderbücher und deren Kunstwerke.

Bei Kropotkins Beerdigung wehte die Fahne der Anarchie zum letzten Mal durch die Straßen von Moskau. Zwei Wochen später brach der Aufstand in Kronštadt aus und eine neue Welle politischer Verhaftungen wurde im Land ausgelöst. Buchläden, Druckereien und anarchistische Zentren wurden geschlossen und die wenigen Kreise zerstört. Sogar Tolstois pazifistische Anhänger – von denen einige während des Bürgerkriegs erschossen worden waren, weil sie sich geweigert hatten, in der Roten Armee zu dienen – wurden inhaftiert oder verbannt. In Moskau wurde eine Gruppe bekannter „Anarchisten der Sowjets“, die so genannten „Universalisten“, unter fadenscheinigen Anschuldigungen wie „Banditentum und klandestine Aktivitäten“ verhaftet und ihre Organisation durch eine neue Gruppe, die so genannten „biokosmistischen Anarchisten“, ersetzt, die versprachen, die Sowjetregierung entschieden zu unterstützen, und feierlich ihre Absicht bekundeten, eine soziale Revolution „im interplanetarischen Raum, aber nicht auf sowjetischem Territorium“ durchzuführen. (Maksimov, op. cit., S. 362).

Die Repression ging in den folgenden Monaten unvermindert weiter. Im September 1921 ließ die Tscheka zwei bekannte Anarchisten – Fanja Baron und Lev Černyj, den Dichter – ohne Gerichtsverfahren und ohne formelle Anklage hinrichten. Emma Goldman war darüber so empört, dass sie daran dachte, eine theatralische Geste nach dem Vorbild der englischen Suffragetten zu machen, indem sie sich im Atrium des Saals, in dem der dritte Kongress der Komintern tagte, an eine Bank kettete und den Delegierten ihre Empörung ins Gesicht brüllte. Ihre Freunde rieten ihr davon ab, aber kurz darauf beschlossen sie und Alexandr Berkman, die vom Weg der Revolution zutiefst desillusioniert waren, das Land zu verlassen. „Dies sind graue Tage“, schrieb Berkman in ihr Tagebuch, „nach und nach ist jede Spur von Hoffnung verblasst. Terror und Despotismus haben das Leben, das im Oktober geboren wurde, vernichtet. Die Slogans der Revolution sind verraten worden, ihre Ideale im Blut des Volkes erstickt. Die Diktatur trampelt auf den Massen herum. Die Revolution ist tot; ihr Geist schreit in der Wildnis…. Ich habe beschlossen, Russland zu verlassen“.

Fazit

Fünfzig Jahre sind seit der Unterdrückung der russischen Anarchisten vergangen, und aus historischer Sicht erscheint die Rolle, die sie in der Revolution von 1917 spielten, rätselhafter denn je. Wenn man die Schriften aus der Revolutionszeit liest, ist man immer wieder erstaunt über die Schärfe ihrer Kritik am autoritären Sozialismus, den prophetischen Charakter ihrer Warnung vor der Gefahr einer zentralisierten Macht und die Relevanz ihrer Ideen für die Gegenwart. Mit ihrem Ideal einer dezentralisierten Gesellschaft und ihrem Programm der direkten Aktion haben die Anarchisten einen nachhaltigen Einfluss ausgeübt. Mit ihrer Kritik an der „neuen Klasse“, ihrem glühenden Antimilitarismus, ihrem Kampf für die Befreiung der Frau, der Gründung „freier Universitäten“ und ihrem ökologischen Anliegen eines Gleichgewichts zwischen Stadt und Land, zwischen Mensch und Natur, ganz zu schweigen von ihrem bombastischen Terrorismus und ihrem verächtlichen Verhalten vor Gericht, erscheinen sie auch heute noch erstaunlich aktuell. Das erklärt auch das erneute Interesse am Anarchismus in den letzten Jahren, vor allem unter jungen Menschen. Die Vitalität des anarchistischen Ideals ist heute deutlicher als je zuvor. Für eine wachsende Zahl junger Rebellen stellt der libertäre Sozialismus eine Alternative zum gescheiterten autoritären Sozialismus dar, insbesondere zu dem, der sich in Russland unter der kommunistischen Herrschaft entwickelt hat. Der Traum von einer dezentralisierten Gesellschaft mit autonomen Gemeinden und Gewerkschafts- und Syndikatsverbänden zieht immer mehr Menschen an, die einer zentralisierten, konformistischen und künstlichen Welt entfliehen wollen. Kein Wunder also, dass bei Demonstrationen an Universitäten in Berkeley und Paris hin und wieder die schwarze Flagge entrollt wird.

Die Betonung des Natürlichen, Spontanen und Nicht-Systemischen, der Wunsch nach einem einfacheren und gerechteren Leben, das Misstrauen gegenüber Bürokratie und zentraler Macht und die Überzeugung, dass die gesellschaftliche Emanzipation mit freiheitlichen und nicht mit autoritären Methoden erreicht werden muss – all das ist das Ergebnis der Erfahrungen der Anarchisten in der russischen Revolution. Denn Sozialismus ohne Freiheit ist, wie sowohl Proudhon als auch Bakunin feststellten, die schlimmste Form der Tyrannei. Das war vielleicht die wichtigste Lektion der Revolution.


Atheismus

Erhebt euch!

Erhebt euch! Erhebt euch, Leute! Ruft mit mächtiger Stimme: Genug! Ich will kein Automat sein. Keine Despoten und Parasiten mehr. Ich bin ein Mensch! Ich will leben und mein eigenes Leben gestalten. Ich habe das Recht zu leben und glücklich zu sein. Ich will, dass mein Glück auch das Glück der anderen ist. Ich will nicht länger ein Spielball in den Händen von despotischen himmlischen oder irdischen Göttern sein. In diesem Moment, in dieser Stunde, nehme ich mein Schicksal selbst in die Hand und lehne jede weitere Berufung auf sichtbare oder unsichtbare Gottheiten ab. Ihr unsichtbaren Himmelsgötter! Ihr nennt euch selbst Götter der Gerechtigkeit. Aber wo ist eure Gerechtigkeit? Ihr nennt euch Götter der Wahrheit. Aber wo ist eure Wahrheit? Ihr behauptet, dass ihr die Bösen bestraft. Aber was ist eure Bestrafung? Ihr seid omnipotent. Aber wo ist eure Macht? Du hast die Gabe der Allgegenwärtigkeit. Aber wo bist du dann? Ihr seid allwissende Götter – ihr wusstet von diesen Verbrechen und habt sie zugelassen. Und jetzt, wo die Menschen zu Tausenden umkommen und die ganze Welt in Blut ertrinkt, versagt ihr, die allmächtigen Götter, diesem dramatischen Albtraum der Menschheit ein Ende zu setzen. Ihr habt die Gabe der Allgegenwärtigkeit – und ihr starrt schweigend auf das Meer der Tränen und die Flüsse des Blutes. Ihr habt nicht einen Funken Mitgefühl für die Menschen, die ihr geschaffen habt. Ihr segnet diese Orgie der tierischen Leidenschaften. Ihr lebt vom Blut. Ihr lebt vom Tod. Ihr freut euch über das Unglück der Menschen. Ihr seid Götter nicht des Lebens, sondern des Todes, nicht des Glücks, sondern des Elends, nicht der Freiheit, sondern der Unterdrückung. Ihr seid Despoten, Verbrecher, Tyrannen. Blutdürstige Götter. Eure göttlichen Machenschaften offenbaren sich in diesen törichten Wünschen: – Ich will – also schaffe ich. Ich will – also nehme ich. Ich will – für mich allein. Ich will – damit er im Nebel bleibt.

Erhebt euch! Steht auf, Leute! Verscheucht den Albtraum, der euch umgibt. Ergreift die Stimme der Wahrheit. Macht Schluss mit den törichten Begierden der irdischen und himmlischen Götter. Sagt: „Genug, ich bin aufgestanden!“ Und du wirst frei sein.

[Selitsky, „Prosnis“, in „Vol’nyi Kronštadt“, 12. Oktober 1917, S. 2].  

Atheistisches Manifest

Es ist schwer zu sagen, wann das menschliche Denken zum ersten Mal die Existenz Gottes erkannt hat. Aber nachdem er sie erkannt hatte, lehnte er sie ab. Wahrscheinlich folgte die Ablehnung Gottes unmittelbar auf seine Vorstellung, auf die erste Erkenntnis seiner Existenz. Auf jeden Fall ist sie sehr alt, und die Saat des Unglaubens geht schon sehr früh in der Menschheitsgeschichte auf. Viele Jahrhunderte lang wurden diese bescheidenen Triebe des Atheismus jedoch von der giftigen Brennnessel des Theismus erstickt. Aber das Bedürfnis und die Vorstellung von Freiheit im menschlichen Denken sind zu stark, um sich nicht durchzusetzen. Und tatsächlich haben sie sich durchgesetzt. Unter ihrem Druck erweiterten alle Religionen ihren Horizont, gaben allmählich an allen Fronten nach und verwarfen, was noch eine Generation zuvor unverzichtbar schien. Im Kampf um das eigene Überleben ist die Religion viele Kompromisse eingegangen, hat Absurditäten akkumuliert und das Unvereinbare miteinander kombiniert.

Die naiven Legenden über den Ursprung der Erde, Legenden, die von einem Hirtenvolk zu Beginn des Lebens geschaffen wurden, wurden aufgegeben und in die Mythologie der „heiligen Texte“ verbannt. Unter dem Druck der Wissenschaft lehnte die Religion den Teufel und die Inkarnation der Gottheit ab. Gott offenbarte sich uns nun als Vernunft, Gerechtigkeit, Liebe, Frieden usw. Da es unmöglich war, den Inhalt der Religion zu retten, bewahrten die Menschen ihre Form, wohl wissend, dass sie jeden Inhalt, der ihr aufgezwungen wurde, formen würde.

Der sogenannte Fortschritt der Religion ist nichts anderes als eine Reihe von Zugeständnissen, um den Willen, das Denken und das Fühlen zu emanzipieren. Ohne ihre hartnäckigen Angriffe hätte die Religion noch heute ihren ursprünglichen, rohen und naiven Charakter. Das Denken hat jedoch andere Siege errungen. Sie zwang die Religion nicht nur auf den Weg des Progressivismus, oder genauer gesagt, sie zwang sie zu neuen Formen, sondern machte einen eigenständigen kreativen Schritt, indem sie sich immer mutiger auf einen offenen, militanten Atheismus zubewegte.

Und unserer ist ein militanter Atheismus. Wir glauben, dass es an der Zeit ist, offen und rücksichtslos gegen alle religiösen Dogmen zu kämpfen, egal welche Konfession sie haben und welches philosophische System sich hinter ihrem religiösen Kern verbirgt. Wir werden jeden Versuch bekämpfen, die Religion zu reformieren oder anachronistische Konzepte aus der Vergangenheit in das geistige Gepäck der heutigen Menschheit zu schmuggeln. Für uns sind alle Götter gleichermaßen abstoßend, blutrünstig oder menschlich, neidisch oder gütig, rachsüchtig oder vergebend. Entscheidend ist nicht, was für Götter sie sind, sondern die Tatsache, dass sie Götter sind – also unsere Herren, unsere Herrscher – und dass wir unsere geistige Freiheit zu sehr lieben, um uns vor ihnen zu verneigen.

Deshalb sind wir Atheisten. Wir werden den Atheismus mutig unter den arbeitenden Massen propagieren, die ihn mehr als alle anderen brauchen. Wir haben keine Angst vor dem Vorwurf, dass wir den Menschen durch die Zerstörung ihres Glaubens auch die moralische Grundlage entziehen, auf der sie ihre Existenz aufbauen – ein Vorwurf, der von jenen selbsternannten „Freunden des Volkes“ erhoben wird, die Religion und Moral für untrennbar halten. Wir behaupten im Gegenteil, dass die Moral frei von jeder Verbindung mit der Religion sein kann und muss, und diese unsere Überzeugung beruht auf den Lehren der modernen Wissenschaft. Nur durch die Zerstörung alter religiöser Dogmen werden wir das große, positive Ergebnis erzielen, das Denken und Fühlen von ihren alten, rostigen Ketten zu befreien.

Und was kann am besten dazu dienen, diese Fesseln zu sprengen?

In diesem Universum oder in der Geschichte der Völker gibt es keine objektiven Ideen. Eine objektive Welt ist ein Unsinn. Wünsche und Bestrebungen gehören ausschließlich zur Persönlichkeit des Individuums und es ist das freie Individuum, das wir über alles stellen. Wir wollen die alte, abstoßende religiöse Moral zerstören, die verkündet: „Sei gut, oder Gott wird dich bestrafen“. Wir widersetzen uns dieser Erpressung und verkünden: „Tu, was sich für dich richtig anfühlt, ohne dich mit irgendjemandem abzusprechen und nur weil es sich für dich richtig anfühlt“. Ist das wirklich nur ein zerstörerisches Werk?

Unsere Liebe für die menschliche Persönlichkeit ist so groß, dass wir zwangsläufig die Götter hassen müssen. Deshalb sind wir Atheisten. Der uralte und schwierige Kampf der Arbeiterklasse, um in Freiheit arbeiten zu können, kann noch länger dauern als bisher. Die Arbeiter müssen vielleicht noch härter schuften als bisher und ihr Blut opfern, um ihre Errungenschaften durchzusetzen. Auf ihrem Weg werden die Arbeiter zweifellos weitere Niederlagen und – noch schlimmer – Enttäuschungen erleiden müssen. Deshalb müssen sie ein Herz aus Stahl und einen starken Geist haben, der den Schlägen des Schicksals standhalten kann. Aber kann ein Sklave ein Herz aus Stahl haben? In den Augen Gottes sind alle Sklaven nur Nullen. Und kann man einen starken Geist besitzen, wenn man auf die Knie fällt und sich niederwirft, wie es die Gläubigen tun?

Deshalb werden wir unter den Arbeitern gehen und versuchen, die Reste ihres Glaubens an Gott zu zerstören. Wir werden sie lehren, aufrecht und stolz als Menschen zu stehen, die der Freiheit würdig sind. Wir werden ihnen beibringen, keine Hilfe zu suchen, außer in sich selbst, in ihrem eigenen Geist und in der Kraft der freien Organisationen. Es ist eine Verleumdung zu behaupten, dass unsere besten Gefühle, Gedanken, Wünsche und Handlungen nicht unsere eigenen sind, nicht von uns erlebt werden, sondern von Gott sind, von Gott bestimmt werden und dass wir nicht wir selbst sind, sondern nur ein Vehikel für den Willen des Herrn oder des Teufels. Wir wollen alle Verantwortung übernehmen. Wir wollen frei sein. Wir wollen keine Marionetten oder Hampelmänner sein. Deshalb sind wir Atheisten. Die Religion erkennt ihre eigene Unfähigkeit, das Bild des Teufels im Menschen lebendig und glaubwürdig zu halten, und lehnt es nun selbst ab, weil es diskreditiert ist. Aber das ist absurd, denn die Existenz des Teufels ist genauso plausibel wie die Existenz Gottes – nämlich gar nicht. Einst war der Glaube an den Teufel sehr stark. Der Teufel hatte Einfluss auf die Seele des Menschen, doch heute ist aus dieser bedrohlichen Figur, diesem Versucher der Menschheit, ein Operettenteufel geworden, der eher komisch als furchterregend ist. Das gleiche Schicksal ist für seinen Blutsbruder reserviert: Gott.

Gott, der Teufel, der Glaube. Die Menschheit hat für diese schrecklichen Worte mit einem Meer von Blut, einem Fluss von Tränen und endlosem Leid bezahlt. Genug von diesem Albtraum! Der Mensch muss dieses Joch endlich abschütteln, muss die Freiheit erobern. Früher oder später werden die Arbeiter den Sieg davontragen. Aber der Mensch muss bereit und geistig frei sein, um die egalitäre Gesellschaft zu betreten, oder er muss sich zumindest von dem göttlichen Müll befreit haben, den er tausend Jahre lang mitgeschleppt hat. Wir haben diesen giftigen Staub von unseren Füßen geschüttelt und deshalb sind wir Atheisten. Kommt mit uns, alle, die ihr die Menschen und die Freiheit liebt und die Götter und die Sklaverei hasst. Ja, die Götter sind am sterben! Es lebe der Mensch!

Union der Atheisten

[Sojus Ateistow, „Atheisticheskii manifest“, in „Nabat“, Kharhov, 12. Mai 1919, S. 3].

Mein Gott

Ich verneige mich nicht vor dem Götzen Vor dem die Verwahrlosten der Erde, Die Kinder der Welt, zertrampelt und versklavt, Gaben bringen und Belohnungen erflehen. Ich finde keinen Trost bei einem Gott der die Reichen gegen die Armen ausspielt, Der den Menschen Leid und Mühsal zufügt und aus dem Leid einen Kult macht. Sein strenger Blick, Die Blässe seiner traurigen Stirn entflammen nicht meine Brust Noch erwärmen sie nachts meinen Geist. Mein Gott ist eine Idee: ein neues Leben, Die Morgendämmerung heiterer und glücklicher Tage, Zum Kampf, zu einem harten Kampf, ruft er alle Tapferen. Bringt den Unterdrückern Rache entgegen Die die Menschen behandeln, indem sie ihr Blut vergießen! Mein Gott ist die Freiheit, groß und glorreich, Selbstbewusstsein, Stärke und Liebe!

[E. Zaidner-Sadd, „Moi Bog“, in „Ekaterinoslavskii Nabat“, 7. Januar 1920, S. 3]


Antimilitarismus

Antwort auf das Manifest der Sechzehn

Fast zwei Jahre sind seit dem Beginn dieses schrecklichen Krieges vergangen, eines Krieges, wie ihn die Menschheit noch nie erlebt hat, dem Millionen namenloser Gräber, Millionen von Krüppeln, Millionen von Witwen und Waisen zum Opfer gefallen sind. Waren im Wert von Milliarden, das Produkt jahrelanger menschlicher Arbeit, wurden in die Flammen geworfen und von einem bodenlosen Abgrund verschluckt. Unmenschlicher Schmerz, furchtbares Leid, tiefe Verzweiflung über die Menschheit – das ist die Folge.

Jetzt, wo überall die Schreie der Verzweiflung zu hören sind – „Kein Blutvergießen mehr! Keine Zerstörung mehr!“ – blicken wir mit großer Traurigkeit auf diejenigen, die einst unsere Gefährten waren, P. Kropotkin, J. Grave, C. Cornelissen, P. Reclus, C. Malato und andere Anarchisten und Antimilitaristen, die in ihrem jüngsten Manifest erklärten: „Nein, es hat zu wenig Blutvergießen, zu wenig Zerstörung gegeben. Es ist noch zu früh, um von Frieden zu sprechen!“.

Im Namen welcher Prinzipien und zu welchem Zweck halten sie es für möglich, die Notwendigkeit des Brudermordes zu verkünden? Was hat diese glühenden Verfechter des Friedens dazu gebracht, bewaffnete Konflikte zu unterstützen? Wir können das nicht verstehen, denn wenn man ihr Manifest liest, wird man von der Erbärmlichkeit der Idee überrascht, in deren Namen sie die Fortsetzung des Krieges bis zum Ende fordern.

Die Autoren des Manifests erklären, dass die Schuld für den Konflikt bei Deutschland liegt, das Belgien und die nördlichen Departements Frankreichs annektieren will und von letzterem hohe Reparationszahlungen verlangt hat und beabsichtigt, ihm in Zukunft seine Kolonien zu entziehen. Sie beschuldigen das deutsche Volk, der Regierung zu gehorchen, und erklären, dass von Frieden keine Rede sein kann, solange Deutschland die Eroberungspläne seiner Herrscher nicht ablehnt. Im gesamten Manifest wird die einseitige Haltung gegenüber der Entente deutlich. Diese Voreingenommenheit, die auf einer groben Überschätzung der zweifelhaften Überlegenheit der demokratischen Regime beruhte, führte zwangsläufig dazu, dass die Verfasser des Manifests viele Dinge nicht erwähnten, die den alliierten Mächten ernsthaft schadeten, dass sie bei der Bewertung derselben Aktionen der Kriegsparteien unterschiedliche Kriterien anwandten und schließlich die Wünsche des Volkes mit denen der Regierung, der es unterworfen war, verwechselten.

Die Unterzeichner des Manifests waren der Ansicht, dass die germanische Regierung die größte Verantwortung für den Konflikt trug. Es ist jedoch kein Geheimnis, dass sich alle Großmächte seit geraumer Zeit auf einen europäischen Krieg vorbereitet hatten. Und zwar nicht zu einem einfachen Verteidigungskrieg, nicht nur um sich vor einer deutschen Invasion zu schützen. Vielmehr bereiteten sie sich auf einen Eroberungskrieg, die Eroberung neuer Gebiete oder die ökonomische Beherrschung von Nachbarstaaten vor. War es nicht schon immer der Traum Englands, Deutschland als Rivalen auf den Meeren loszuwerden? Und ist der Wunsch Russlands, seine Souveränität an den Ufern des Bosporus auszuüben, nicht inzwischen allgemein bekannt? Blickt Russland nicht mit gierigem Blick auf Galizien? Und ist Frankreichs Traum, eine große Kolonialmacht zu werden, verflogen?

Alle Staaten bereiteten sich auf den Krieg vor. Und wenn er nicht vor 1914 ausbrach, dann nur, weil das Mordsprogramm in Deutschland noch nicht verbreitert, der Bau der britischen Flotte noch nicht abgeschlossen, die französische Armee noch nicht perfektioniert und in Russland noch keine neuen Divisionen aufgestellt worden waren. Und falls die deutschen gekrönten Piraten dank ihres organisatorischen Geschicks in der Lage waren, sich vor den anderen vorzubereiten, bevor diese beschlossen, Europa in Brand zu setzen, so schmälert dies in keiner Weise die moralische Verantwortung der englischen, russischen und anderen gekrönten Piraten für die hohe Zahl der Opfer, die auf dem Altar des Militarismus geopfert wurden.

Die Verfasser des Manifests protestierten gegen die mögliche Angliederung besetzter Gebiete an Deutschland ohne die Zustimmung der einheimischen Bevölkerung. Aber warum protestierten sie nicht gegen die Annexion Ägyptens, die England bereits während des Konflikts ohne die Zustimmung der ägyptischen Bevölkerung durchgeführt hatte? Warum haben sie kein Manifest gedruckt, das die Arbeiter zum Aufstand gegen das sklavenhaltende England aufruft? Liegt es nicht daran, dass ein solcher Akt den Anarcho-Militaristen den Boden unter den Füßen wegziehen würde? Müssten sie nicht deutlich machen, dass dieser Krieg ein Krieg zwischen zwei Gruppen von Raubtieren ist, die gleichermaßen Feinde der Freiheit sind? Die Verfasser des Manifests sind sich sicher, dass es den Plänen der germanischen Kriegspartei Vorschub leisten würde, zu diesem Zeitpunkt von Frieden zu sprechen, was die Invasion der benachbarten Nationen einschließen würde, eine Invasion, die jede Hoffnung auf menschliche Befreiung und Fortschritt zunichte machen würde. Wir hingegen sind der Meinung, dass nicht die germanische Invasion, sondern der Krieg selbst, für den alle Nationen, die direkt oder indirekt an ihm beteiligt sind, gleichermaßen verantwortlich sind, eine Bedrohung für alle Hoffnungen auf Befreiung und menschlichen Fortschritt darstellt. Und wir fordern die Menschen auf, nicht nur gegen die germanische Regierung zu kämpfen, sondern sich gegen alle zu erheben, die sie versklaven wollen. Wir begrüßen mit Freude die Demonstration von Frauen vor dem Reichstagsgebäude zur Verteidigung von Frieden und Brot. Alles, was gesund und rein ist, hat sich in diesen, wenn auch schwachen, Protesten manifestiert. Wir rufen die Arbeiter aller Länder zu einem stürmischen Protest, zu einem populären Aufstand auf, denn nur so können wir hoffen, die Menschheit zu regenerieren, und nicht durch die Fortsetzung des Krieges. Die Verfasser des Manifests rufen nur das germanische Volk zum Aufstand auf und rufen gleichzeitig die Völker der verbündeten Staaten in die Schützengräben. Sie sollen konsequent sein und Antimilitarismus und Revolution gleichzeitig ablehnen. Denn der Antimilitarismus in Frankreich oder revolutionäre Entwicklungen in Russland oder England werden Deutschland nur begünstigen. Und jede Form von Antimilitarismus oder Revolution außerhalb Deutschlands wird die Pläne der germanischen Nation begünstigen. Doch genau das hat Kropotkin getan. Zu unserem Entsetzen mussten wir feststellen, dass er schon vor dem Krieg ein Gegner des Kampfes gegen das Gesetz zur Einführung der dreijährigen Wehrpflicht in Frankreich war.

Aber können die Verfasser des Manifests wirklich nicht verstehen, dass nicht nur in diesem Krieg, sondern in allen Kriegen – rein formal gesehen – ein vermutlich mehr oder weniger großer Prozentsatz der Demokratie schuld ist? So werden sie immer an die Unschuldigsten appellieren, sich zu verteidigen; sie werden immer Sklaven der schändlichen Parole bleiben: „Baut die Kanonen und stellt sie wieder an ihren Platz!“ Selbst jetzt, wo sie von allgemeinen Phrasen über den Fortschritt und die germanische Bedrohung zu konkreten Aussagen über die möglichen Folgen eines deutschen Sieges übergehen, befürchten sie nur, dass Deutschland sich der französischen Kolonien bemächtigt und seinen Nachbarn durch Handelsabkommen ökonomisch unterjocht. Und nach all dem bezeichnen sich Kropotkin und die anderen Autoren des Manifests immer noch als Anarchisten und Antimilitaristen! Diejenigen, die das Volk zum Krieg auffordern, können weder Anarchisten noch Antimilitaristen sein.

Sie verteidigen eine Sache, die den Arbeitern fremd ist. Sie wollen die Arbeiter nicht im Namen ihrer Emanzipation an die Front schicken, sondern zum Ruhme des fortschrittlichen nationalen Kapitalismus und des Staates. Sie möchten den Geist der Anarchie zerstören und seine Überreste den Dienern des Militarismus überlassen.

Wir bleiben jedoch auf unserem Posten. Wir fordern die Arbeiter der Welt auf, ihre ärgsten Feinde anzugreifen, wer auch immer ihre Anführer sein mögen – der Kaiser von Deutschland oder der türkische Sultan, der russische Zar oder der französische Präsident. Wir wissen, dass Demokratie und Autokratie einander in nichts nachstehen, wenn es darum geht, den Willen und das Gewissen der Arbeiter zu korrumpieren. Wir machen keinen Unterschied zwischen akzeptablen und inakzeptablen Kriegen. Für uns gibt es nur eine Art von Krieg, den sozialen Krieg gegen den Kapitalismus und seine Verfechter. Und wir wiederholen unsere Slogans, die die Verfasser des schändlichen Manifests verleugnet haben: Nieder mit dem Krieg!

Nieder mit der Macht der Autorität und des Kapitals! Es lebe die Bruderschaft des freien Volkes!

Gruppe der kommunistischen Anarchisten von Genf

(Otvet, in „Put’k Svobode“, Genf, Mai 1917, S. 10-11)


Anti-Intellektualismus

Proklamation

Sohn der Straße, obdachlos und heimatlos, fasziniert von der Glut des Herdes, der Wärme und Behaglichkeit eines Zuhauses, den weichen Teppichen unter deinen Füßen, den wohlklingenden Tönen eines Klaviers. Alle Tore sind für dich verschlossen. Die Türen werden dir vor der Nase zugeknallt. Steine und Eis schneiden sich in deine nackten Füße, das Heulen des Wachhundes und die Schreie der Pfleger zerren an deinen Ohren. Während andere sich auf seidenen Kissen hinlegen, streift der Wind scharf unter deinen Lumpen hindurch. Brennende Leidenschaften toben zwischen den warmen Decken – aber deine Lippen gefrieren, dein Herz wird zu Asche, deine Hände werden zu Eis. Resigniert kauerst du in irgendeiner Ecke an der Wand und döst vor Schmerzen. Nicht weit entfernt schlendert eine Prostituierte hin und her. Sie ist deine Tochter und verkauft ihre junge Leidenschaft an alte Herzen, die mit Gold bedeckt sind.

Blöde Bettlerin! Gleich da drüben ist ein Haus, Wärme, Komfort. Tritt ein und lass dich nieder. Lass die Besitzer von Häusern und Palästen durch die Straßen ziehen und mit den Zähnen klappern. Lass ihre Töchter diejenigen sein, die sich verkaufen, weil sie sich weigern, eine neue Ordnung auf der Erde aufzubauen. Schaffe Anarchie! Unterdrückte und Verwahrloste, schürt die Flammen der Anarchie. Lasst euer Blut, das jetzt gefroren ist, sich in Feuer verwandeln. Verbrennt alles um euch herum. Entfacht kühn die Flammen der Anarchie. Erschafft die Anarchie!

Ausgestoßene, Gefallene, Verachtete, erhebt euch und zerstört diese Gesellschaft der „Edlen“ und „Niedrigen“. Erhebt euch und zeigt uns, dass ihr über uns steht, dass wir eurer Gesellschaft nicht würdig sind, dass wir nicht einmal eurer Verachtung würdig sind. Alles, was über euch war, wird unter euch sein. Schafft Anarchie! Sklaven, öffnet eure Augen, um eure Freiheit zu sehen! Die Verräter fesseln euch mit neuen Ketten. Wirf sie dem Teufel zu! Gehorcht niemandem. Erniedrigt euch nicht vor irgendjemandem. Schafft euch eure eigene Freiheit, euer eigenes Glück. Erschafft die Anarchie!

Analphabeten, zerstört diese berüchtigte Kultur, die die Menschen in „Gebildete“ und „Ungebildete“ unterteilt. Sie wollen euch in der Dunkelheit halten. Sie haben euch die Augen ausgerissen. In dieser Dunkelheit, in der dunklen Nacht der Kultur, haben sie euch beraubt.

Die Menschen, die Priester und Wissenschaftler haben euch beraubt, sie haben euch all eurer Gedanken, eurer Einfachheit, eurer Spontaneität und eurer Gefühle beraubt. Die Religion belügt euch, Leute, die schlaue Wissenschaft belügt euch. Das Himmelreich verhöhnt euch; die Priester täuschen euch; die zukünftige Ordnung, der zukünftige Sozialismus, von dem sie zu euch sprechen, ist nur ein Trick. Wissenschaftler und Professoren täuschen euch. Glaubt ihnen nicht. Sie hypnotisieren euch und entkleiden euch. Sie überzeugen euch mit dem schillernden Glanz ihres Intellekts.

Leute, euer Glück liegt nicht im Himmelreich, sondern hier auf der Erde, nicht in der Zukunft, sondern in der Gegenwart. Es liegt in euren Händen. Schafft Anarchie – vollständig, überall und jetzt. Zerstört die Kirchen, Nest der aristokratischen Lügen; zerstört die Universitäten, Nest der bourgeoisen Lügen. Vertreibe die Priester, die Wissenschaftler! Zerstört das falsche Paradies der Aristokraten und der Bourgeoisie. Stürzt ihre Peruns [Donnergott der slawischen Völker], ihre Götter, ihre Götzen. Es gibt nur einen Gott auf der Erde: Das bist du, das Volk, du, der Mensch. Menschen, ihr könnt glücklich sein, ihr müsst glücklich sein. Erschafft die Anarchie!

[Aus „Burevestnik“, Petersburg, 27. Januar 1918, S. 1]  

Pan-anarchistisches Manifest

Wörtlich bedeutet Pan-Anarchismus allumfassender Anarchismus, denn „pan“ bedeutet im Griechischen „alles“. Der Pan-Anarchismus ist eine allumfassende und artikulierte Form des Anarchismus. Neben dem Ideal der Abschaffung der Regierung, also dem eigentlichen Anarchismus, umfasst er vier weitere Ideale: den Kommunismus, demzufolge „alles allen gehört“; den Pädismus, d.h. die Befreiung von Kindern und Jugendlichen vom Laster der unterwürfigen Erziehung; den Kosmismus (Nationalkosmopolitismus), d.h. die vollständige Emanzipation der unterdrückten Nationen; und schließlich den Gyneanthropismus, d.h. die Emanzipation und Humanisierung der Frauen. Zusammengenommen bilden diese fünf Ideale die Essenz des so genannten Pan-Anarchismus.

Der Pan-Anarchismus setzt eine Synthese (Vereinigung) aller wichtigen Ideale, Bestrebungen und sozialen Aktionen voraus, die grundsätzlich auf den Umsturz und den ganzheitlichen Wiederaufbau der Gesellschaft abzielen – die Wirtschaft, die Familie, die Schule, die internationalen Beziehungen und die staatlichen Institutionen. Im ökonomischen Bereich zielt der Pan-anarchismus darauf ab, den Kapitalismus durch den Kommunismus zu ersetzen und das Privateigentum an Land, Produktionsmitteln und Konsumgütern abzuschaffen. Im Bereich der Familie strebt er die Wiedereinführung der Polygamie und des Frauentauschs auf der Grundlage wahrer Liebe zwischen männlichen und weiblichen Individuen an sowie die Abschaffung der männlichen Vorherrschaft in der Familienstruktur im Allgemeinen, sowohl rechtlich als auch de facto, die freie Teilnahme von Frauen in allen Arbeits- und Kunstbereichen und die gleiche Möglichkeit, die Vorteile der Gesellschaft zu genießen. Was die Schulbildung betrifft, so soll die heutige Indoktrination, die unsere Kinder mit religiösen und wissenschaftlichen Vorurteilen füllt, durch eine praktische Ausbildung auf technischer Grundlage ersetzt werden, die sich im Alltag als nützlich erweist und ihnen Freiheit, Selbstvertrauen und die Fähigkeit, selbst etwas Originelles zu schaffen, garantiert. Sie zielt auch darauf ab, das gegenwärtige territoriale System mit seinen Grenzen, Heimatländern, nationalem und privatem territorialem Eigentum durch eine national-kosmopolitische Ordnung ohne Heimatländer oder Grenzen zu ersetzen, sondern nur durch freie Zusammenschlüsse freier Völker, denen das ganze Land gemeinsam gehört. „Die ganze Erde gehört der ganzen Menschheit“ – das ist das Motto des Pan-anarchismus, im Gegensatz zum Territorialismus und Imperialismus der räuberischen Nationen, die erklären: „Die ganze Erde gehört mir“.

Im Bereich der staatlichen Organisation und ihrer Beziehung zum Individuum kämpft der Pan-anarchismus für die Abschaffung aller Formen von der Autorität, des Staates und des Zwanges – Gerichte, Gefängnisse, Armee usw. – und für die Verwaltung der Gesellschaft durch freiwillige Vereinbarungen und Konsultationen.

Der Pan-Anarchismus ist das Ideal der Union der Fünf Unterdrückten. Er ruft alle Unterdrückten dazu auf, eine weltweite Organisation zu gründen, eine Internationale der Unterdrückten, eine Weltunion der Fünf Unterdrückten zur Zerstörung der bestehenden Ordnung, die auf den fünf Formen der Unterdrückung beruht. Der Pan-anarchismus setzt sich für den Zusammenschluss aller fünf unterdrückten Gruppen in der heutigen Gesellschaft zu einer Internationale der Gelegenheitsarbeiter, einer Internationalen der Jugend, einer Internationalen der unterdrückten Nationalitäten, einer Internationalen der Frauen und einer Internationalen der Individuen sowie für die letztendliche Bildung einer einzigen Internationalen der Unterdrückten ein, die auf dem Prinzip der Gleichheit aller Unterdrückten beruht.

Der Pan-Anarchismus strebt nach Pan-Zerstörung, nach der Beseitigung aller fünf Arten von Unterdrückung in der Gesellschaft. Daher zielt der Pan-anarchismus nicht auf die Befreiung einer Gruppe von Unterdrückten durch die Unterdrückung anderer, wie z. B. durch die Errichtung der Diktatur des Proletariats, sondern auf die Befreiung aller Unterdrückten, der gesamten Menschheit, aller Ausgebeuteten. Außerdem steht der Pan-anarchismus für die Befreiung der Menschheit von den Fesseln des Kapitalismus, des Staates, der formalen Bildung, der Monotonie des häuslichen Lebens und des Nationalismus.

Der Pan-anarchismus wird alle fünf Formen der Unterdrückung in der heutigen Gesellschaft zerstören: (1) ökonomische, (2) politische, (3) nationale, (4) erzieherische und (5) häusliche. Vereinfacht ausgedrückt besagt der Pan-anarchismus, dass es weder Reiche noch Arme, weder Herrscher noch Untertanen, weder Sklavenlehrer noch Sklavenschüler, weder männliche Herrscher noch weibliche Sklaven geben sollte. Für den Pan-Anarchismus ist jede dieser Forderungen gleich wichtig. Jede Überlegenheit eines unterdrückten Elements über ein anderes, ob sie nun als Führung oder Herrschaft realisiert wird, ist für uns nichts anderes als eine Ausbeutung der Menschen durch eine bestimmte Klasse oder Gruppe.

Pan-Anarchismus bedeutet aber nicht nur die Emanzipation von den fünf Formen der Unterdrückung. Er bedeutet auch die Emanzipation der Menschheit, die durch zwei Formen der Täuschung unterdrückt wird: die Täuschung durch die Religion und die Täuschung durch die Wissenschaft, die im Grunde genommen nur zwei Varianten derselben Art von Täuschung sind, nämlich die der Unterdrückten durch die Unterdrücker. Der Pan-Anarchismus behauptet, dass Religion und Wissenschaft als Mittel erfunden wurden, um von der Unterdrückung und der realen, greifbaren Welt abzulenken und sie durch eine nicht greifbare Welt zu ersetzen, die entweder übernatürlich (Religion) oder abstrakt (Wissenschaft) ist. Der Pan-Anarchismus betrachtet die Wissenschaft als eine reformierte Religion und die Natur als einen reformierten Gott. Die Wissenschaft ist die Religion der Bourgeoisie, so wie die Religion die Wissenschaft des Adels und der Sklavenhalter war.

Der Pan-Anarchismus verkündet die universelle Abschaffung des Staates, kosmische Anarchie, Anarchie überall. Alle Formen von Religion und Wissenschaft sind nicht nur Instrumente der bourgeoisen Unterdrückung, Netze und Fanfaren, Trugbilder und Köder für die Unterdrückten. Sie sind auch betrügerisch und barbarisch, begrenzt und dumm, naiv und komisch, verwirrend und widersprüchlich. Die Wissenschaft ist ein Aspekt der Dummheit des europäischen Wilden, so wie die Religion ein Aspekt der Dummheit des asiatischen Wilden ist. Beide bilden ein und dasselbe Netz aus Verwirrungen und Widersprüchen: Gott und Nicht-Gott, Ursache und Nicht-Ursache; Gott, der wahre Schöpfer, und Gott, der aus dem „Nichts“ erschafft, was bedeutet, dass er selbst das absolutste „Nichts“ ist, ein Nicht-Gott; die Ursache, die auf die Hauptursache zurückgeführt wird und zur Ursache ihrer selbst wird oder ganz aufhört, sie selbst zu sein.

Gott und die Natur sind nach dem Bild des Menschen geschaffen, sie sind anthropomorph. Der Eskimojäger stellt sie in Form des weißen Bären dar (die Welt ist aus dem weißen Bären entstanden); der Jude identifiziert sie mit den Berufen (Gott Zimmermann, Schneider). Newton, Kant und Laplace stellen die Natur nach der europäischen Mechanik dar, Darwin und Spencer nach der Pferdezucht in Großbritannien (die natürliche Auslese folgte dem Muster der künstlichen Auslese in der Pferdezucht in Großbritannien). Die himmlische Ordnung und die natürliche Ordnung – Engel, Geister, Dämonen, Moleküle, Atome, Äther, göttliche/himmlische Gesetze und die Gesetze der Natur, Kräfte, der Einfluss eines Körpers auf einen anderen – all das sind Erfindungen, Formen, Schöpfungen der Gesellschaft (soziomorph).

Gott ist das Abbild des absoluten asiatischen Monarchen. Die himmlischen Gesetze, die astralen Gesetze, die Astrologie der Assyrer und Babylonier – das sind die Gesetze der Herrscher. Die Naturgesetze sind die Gesetze des Staates; Naturgewalt ist Zwang. Die Kräfte der Natur erinnern an die konstitutionelle Monarchie und die Bürokratie, und manchmal erinnert die Natur sogar an den Präsidenten einer demokratischen Republik!

Der Pan-Anarchismus lehrt, dass das Universum weder Mensch noch Gesellschaft ist. Es hat weder Anfang noch Ende, weder Ursprung (Kosmogonie) noch Ursache, weder Gesetze noch rachsüchtige Kräfte. Das Universum ist, wie alle natürlichen Phänomene, immer „selbst“, anarcho-individualistisch oder anarcho-kommunistisch, wenn du so willst. Das Universum und alle seine Phänomene sind spontan. Im Universum und allen Phänomenen gibt es nichts Fremdes, es gibt keine Zwangsordnung, sondern Anarchie, d. h. eine innere (immanente), unabhängige und spontane Ordnung. Es gibt keine natürliche Kraft, sondern nur Handlungen und Affinitäten; und Dinge, Handlungen und Affinitäten sind identisch. Für den Pan-Anarchismus besteht der grundlegende Fehler von Religion und Wissenschaft darin, dass erstere ein Produkt der Vorstellungskraft und letztere ein Produkt des Intellekts (mentale Konfigurationen oder Abstraktionen) sind. Deshalb betrachtet der Pan-Anarchismus nur Gefühle, oder besser gesagt Muskeln und technische Fähigkeiten, als echt. Der Pan-Anarchismus behauptet, dass nur technische Fähigkeiten die Kultur des Volkes, der Arbeiter, der Unterdrückten ausmachen, technische Fähigkeiten im weitesten Sinne des Wortes, d. h. einschließlich aller Berufe, praktischen Künste usw., die er als pan-technisch bezeichnet.

Was die Analyse der Gesellschaft angeht, lehnt der Pan-Anarchismus alle soziologischen Gesetze oder die soziale Evolution und Entwicklung ab und ersetzt sie durch die Soziotechnik, den Aufbau der Gesellschaft mit dem ausdrücklichen Recht auf Experimentieren, Improvisation und soziale Erfindung. Der Pan-Anarchismus, der sich in Technizismus hüllt, bedeutet nicht nur universelle und totale Anarchie, sondern Anarchie jetzt. Statt sozialdemokratischer Evolution und Reform gibt er die Parole der sozialen Revolution aus und berücksichtigt dabei vor allem die goldene anarchistische Regel: Direkt auf das Ziel!

Und deshalb:

Es lebe der Pan-Anarchismus!

[A. L. und V. L. Gordin, Pananarchistisches Manifest, Moskau 1918, S. 3-6].  

Anarcho-Futuristisches Manifest

Ah-ah-ah, ha-ha, ho-ho!

Geht auf die Straße! Diejenigen, die noch frisch und jung und nicht entmenschlicht sind, auf die Straße! Der dickbäuchige Mörser des Lachens ist auf die Straße gegangen, trunken vor Freude. Lachen und Liebe sind gepaart mit Melancholie und Hass, gegeneinander gepresst in der mächtigen, krampfhaften Leidenschaft der bestialischen Lust. Lang lebe die Psychologie der Gegensätze. Berauschte und glühende Geister haben die flammende Fahne der geistigen Revolution gehisst. Tod den Kreaturen der Routine, den Philistern, den Gichtkranken! Zerschmettert mit ohrenbetäubendem Lärm den Kelch der rächenden Stürme! Reißt die Kirchen und Museen, ihre Verbündeten, nieder! Sprengt die zerbrechlichen Götzen der Zivilisation in die Luft! Hey, ihr dekadenten Architekten des Sarkophags des Denkens, Hüter des universellen Bücherfriedhofs: Tretet zur Seite! Wir sind gekommen, um euch aus dem Weg zu räumen! Alles Alte muss begraben werden, die staubigen Archive mit der vulkanischen Fackel des kreativen Genies verbrannt werden. Vor der flatternden Asche der Verwüstung der Welt, vor den verbrannten Leinwänden pompöser Gemälde, vor den großen, dickbäuchigen Bänden der Klassiker, die nun verbrannt sind, marschieren wir, die Anarcho-Futuristen! Stolz entrollen wir das Banner der Anarchie über der riesigen, verwüsteten Fläche unseres Landes. Die Schrift hat keinen Wert! Es gibt keinen Markt für Literatur! Es gibt keine Gefängnisse, keine Grenzen für subjektive Kreativität! Alles ist erlaubt! Nichts ist verboten!

Die Kinder der Natur empfangen mit freudiger Verzückung den ritterlichen goldenen Kuss der Sonne und den fetten, nackten, lasziven Bauch der Erde. Die Söhne der Natur, die aus der schwarzen Erde hervorgehen, verkörpern die Leidenschaften der nackten, lüsternen Körper. Sie komprimieren sie alle in einen generativen, schwangeren Kelch! Tausende von Armen und Beinen verschlingen sich zu einem erstickenden, erschöpften Haufen! Die Haut entzündet sich in warmen, unersättlichen, beißenden Liebkosungen. Zähne versenken sich hasserfüllt in das lauwarme, saftige Fleisch der Liebenden! Weit aufgerissene, staunende Augen verfolgen den brennenden, trächtigen Tanz der Lust! Alles ist fremd, ungehemmt, elementar. Erregung, Fleisch, Leben, Tod, alles! Alles! Das ist die Poesie unserer Liebe! Mächtig, unsterblich und schrecklich sind wir in unserer Liebe! Der Nordwind wütet in den Köpfen der Söhne der Natur. Etwas Schreckliches ist erschienen – ein Vampir der Melancholie! Das Verderben – die Welt liegt im Sterben! Fangt ihn! Töte ihn! Nein, warte! Verzweifelte, durchdringende Schreie zerreißen die Luft. Wartet! Melancholie! Schwarze, gähnende Geschwüre der Agonie bedecken das bleiche, erschrockene Gesicht des Himmels. Die Erde zittert vor Angst unter den mächtigen, hasserfüllten Schlägen ihrer Söhne! Oh verfluchte, verachtenswerte Dinge! Sie zerreißen ihr zartes und fettes Fleisch und begraben ihre eigene erschöpfende und hungrige Melancholie im Strom von Blut und frischen Wunden ihres Körpers. Die Welt liegt im Sterben! Ah! Ah! schreien Millionen von Giftstoffen. Ah! Ah! brüllt die riesige Kanone des Alarms! Zerstörung! Chaos! Melancholie! Die Welt liegt im Sterben!

Das ist die Poesie unserer Melancholie! Wir sind frei von Hemmungen! Die klagende Sentimentalität der Humanisten ist nichts für uns. Vielmehr wollen wir die triumphale geistige Bruderschaft der Völker schaffen, geschmiedet mit der ironischen Logik der Widersprüche, des Hasses und der Liebe. Wir werden unsere freie Union von Afrika bis zu den beiden Polen mit den Zähnen gegen jede sentimentale Freundschaft verteidigen. Alles gehört zu uns! Außerhalb von uns gibt es nur den Tod! Wir hissen die schwarze Fahne der Rebellion und rufen alle Menschen auf, die nicht vom giftigen Atem der Zivilisation entmenschlicht und betäubt wurden! Alle auf die Straße! Vorwärts! Zerstören! Tötet! Nur der Tod lässt keine Rückkehr zu! Löscht alles aus, was alt ist! Donner, Blitz, die Elemente – alle gehören uns! Vorwärts!

Es lebe die internationale intellektuelle Revolution!

Freie Bahn für Anarcho-Futuristen, Anarcho-Hyperboreaner und Neo-Nihilisten!

Tod der Weltzivilisation!

Gruppe der Anarcho-Futuristen

(„Shturmovoi, opustoshaiushchii manifest anarkho-futuristov“, in „K Svetu“, Kharkov, 14. März 1919, S. l)


Individualismus

Nichts ist vergessen worden und nichts ist gelernt worden

Die Tatsache, dass das gemeine Volk nur ungern über andere herrscht und im Gegenteil die Autorität abschaffen will; seine Weigerung zu gehorchen oder sich unterzuordnen; sein instinktiver Hang zur Anarchie, eine echte Diktatur des Proletariats zu errichten, statt einer fiktiven in Form des Exekutivkomitees der Sowjets, eine Diktatur, das heißt, des Volkes selbst, in der jeder Herr über sich selbst ist – das ist die wahre Diktatur des Individuums. Ich bin Minister, Gesetzgeber, Diktator, Autorität über mich selbst. Das ist die wahre Diktatur des Volkes, eine normale, natürliche, physiologische Diktatur. Für einen Menschen ist es die natürlichste Sache der Welt, eine Macht auszuüben, eine physiologische Diktatur über die Teile seines eigenen Körpers, über seine Arme und Beine, sein eigenes Verhalten durch die Macht zu bestimmen, frei zu handeln, zu tun, was er für notwendig hält. Das ist die physiologische Diktatur, die einzig gerechte, natürliche und wahre Diktatur der Aktionsfreiheit. Das ist das Ideal der Anarchie. Ich bin eine Person – und es gibt keine höhere Autorität als mein „Ich“!

[A. L. und V. L. Gordin, „Nichego ne zabyli i nichemu ne nauchilis“, in „Anarkhist“, Rostov am Don, 22. Oktober 1917, S. 1-2]  

Anarchistisches Manifest

Revolution und Freiheit sind immer aus Blut und Leid entstanden. Sie haben viele Opfer gefordert, sowohl bei den heldenhaften Kämpfern für eine neue Gesellschaft als auch bei den verzweifelten Verteidigern der alten. Aber diese Opfer dürfen nicht umsonst gefallen sein. Es wartet eine Aufgabe von solchen Ausmaßen auf uns, wie sie die Menschheit noch nie erlebt hat. Das Land muss von Grund auf neu aufgebaut werden, denn es wurde durch die Korruption des vergangenen Regimes, den Krieg und die „von oben nach unten“ durchgeführten Experimente der verschiedenen politischen Parteien zerstört. Dieser Wiederaufbau darf nicht die alte Routine, den anachronistischen Dogmatismus derjenigen etablieren, die sich von Berufs wegen gegen das Glück der Menschen verschworen haben, sondern etwas Neues und Kreatives, das direkt vom Leben inspiriert ist und den Wünschen und Interessen derjenigen entspricht, von denen und für die die Revolution gemacht wurde.

Es ist an der Zeit, jeder Art von Überwachung ein Ende zu setzen, ganz gleich wie gut sie gemeint ist. Es ist an der Zeit, sich nicht mehr vertreten zu lassen, egal von wem. Jedes Individuum muss für seine eigene Sache einstehen. Das ist es, wozu uns die Anarchie aufruft!

Der Anarchismus ist die Lehre des Lebens! Der Anarchismus wurde geboren und lebt in jedem von uns, aber er wird durch Armut, Ängstlichkeit und Unterwürfigkeit gegenüber Männern und Theorien erstickt, die zu einem gewalttätigen und korrupten Leben tendieren. Was wir brauchen, ist ein wenig Mut, Aufklärung und Aktionsdrang, damit der Geist der Anarchie in jedem von uns geweckt wird, egal wie groß oder klein.

Anarchismus ist die Lehre von der Freiheit! Keine abstrakte, illusorische Freiheit, sondern lebendige, echte Freiheit. Alle anarchistische Kreativität wurzelt in der freien Persönlichkeit, frei vom Spiel der Institutionen und der Autorität der von anderen erfundenen Gesetze. Die Freiheit des Anarchisten ist die Freiheit für alle. Wenn es auch nur einen Sklaven gibt, ist der Anarchist nicht frei. Der Anarchist muss dafür kämpfen, dass alle frei sind. Für den Anarchismus gibt es keine Idole, nichts Absolutes außerhalb des Menschen, seiner Freiheit und seines Rechts, sich ohne Einschränkungen zu entwickeln. Unabhängig von der bestehenden Gesellschaftsordnung wird der Anarchist weiterhin nach einer neuen, vollkommeneren, vollständigeren und reineren Ordnung streben, die ihm von seinem freiheitlichen Gewissen diktiert wird.

Der Anarchismus ist die Lehre der Gleichheit! Jeder ist in seiner Freiheit gleich. Jeder ist der Architekt seines eigenen Schicksals. Und die Sphäre der individuellen Freiheit ist unantastbar.

Der Anarchismus ist die Lehre von der Kultur! Denn er lehrt nicht nur, sich selbst und die eigene Freiheit zu lieben, sondern auch die anderen und die Freiheit für alle. Er ist ein Aufruf zur Aktion, um sicherzustellen, dass seine Früchte nicht nur von unseren Zeitgenossen, sondern auch von unseren Brüdern in einer noch fernen Zukunft genossen werden. Es ist eine Aufforderung, für die Zerstörung des Zwangssystems zu kämpfen, aber keine Aufforderung zu Rache oder Gewalt gegen eine bestimmte Person.

Der Anarchismus ist die Doktrin des Glücks! Denn er glaubt an den Menschen und seine unendlichen Möglichkeiten. Er glaubt daran, dass er durch sein Handeln zum Wohle aller alle Zeitalter und alle Menschen verbrüdern wird. So ist die Freude an der Schöpfung entstanden – die größte Freude, die ein Mensch erleben kann!

[A. A. Borovoi, „Anarkhistskii manifest“, in seinem Anarkhizm, Moskau 1918, S. 168-169]

  Die Anarchistische Jugend

Gefährten!

Mittwoch, 16. April 1919

Gefährten!

Die revolutionären Horizonte weiten sich. Die Unterdrückten werden auf ihrem Marsch zur Befreiung immer stärker. Ihre Ketten fallen, alle Fesseln werden gesprengt, alles, was veraltet und für das neue Leben untauglich ist, wird weggefegt.

Auf der Fahne der Befreiung steht geschrieben:

Kämpft gegen alle Unterdrücker.

Kämpfe gegen alle, die Bildung zu einem Privileg der Wenigen gemacht haben und sie mit Lügen zum Nutzen der Mächtigen durchtränkt haben.

Kämpfe gegen alle Institutionen, die uns in der Kindheit und Jugend verkrüppeln, die uns zu blutarmen, blassen und wackeligen Kreaturen machen, die sich an Körper und Geist niederwerfen.

Kämpfe gegen die Gesellschaft, die uns in Fabriken und Schulen gefangen hält.

Kämpfe gegen die heutige Familie, die uns zu heuchlerischen Lügnern gemacht hat, die mit dem Gift der Korruption gefüttert wurden.

Kämpfe gegen die Autorität des Staates, die Unterdrückung und Ungleichheit fördert.

Dies sind die grundlegenden Punkte des Aufrufs, den wir jungen Anarchisten machen. Viele junge Menschen, die vom Gift des bourgeoisen Philistertums genährt werden, halten ihre Situation für normal. Es ist unsere Pflicht, sie aus ihrem Winterschlaf zu wecken, damit sie sich uns bei der kreativen Arbeit anschließen können. Lasst uns daher unverzüglich mit der produktiven Arbeit beginnen. Wenden wir ohne zu zögern diese Ideale an, die das Leben selbst uns vorschlägt!

Wir, die in Kreisen organisierte Jugend der Ukraine, müssen uns zusammenschließen, um effizient und produktiv zu arbeiten. Im Namen der gegenseitigen Hilfe und der Solidarität – mächtige Motoren des menschlichen Fortschritts – ist diese Einigkeit unabdingbar. Und um sie zu erreichen, müssen wir einen Kongress aller anarchistischen Jugendgruppen in der Ukraine einberufen. Der Kongress wird sich mit einer Reihe von lebenswichtigen Problemen befassen müssen, deren Dringlichkeit keinen Aufschub duldet.

Möge die schwarze Flagge, unter der wir kämpfen, für die Zerstörung und den Tod all der alten und verrotteten Institutionen stehen, die uns versklavt haben! Mögen die Kraft unserer Worte und unsere gemeinsamen Bestrebungen alle jungen Menschen vereinen, die heute verstreut und isoliert von revolutionärer Kreativität sind.

Unser Weg soll der der kulturellen und sozialen Kreativität sein. Unsere Parole wird lauten: Junge Menschen auf der ganzen Welt, vereinigt euch in revolutionärem und kulturellem Engagement!

Tritt mit Begeisterung in Aktion!

Organisationsgruppe für die Einberufung eines pan-ukrainischen Kongresses der anarchistischen Jugend

[„Tovarishchi!“ in „Biulleten‘ Initsiativnoi gruppy anarkhistov molodezhi Ukrainy ‚Nabat’“, Kharkov, April 1919, S. 1]


Bildung

Thesen zur kulturellen Organisation Russlands

Im Bereich Bildung und Kultur schlug die zweite pan-russische Konferenz der Anarcho-Syndikalisten vor:

A. In den proletarischen Massen ein Interesse an Kunst, Studium und kulturellen Themen zu wecken.

B. Nach Mitteln und Wegen zu suchen, um die Initiative und Kreativität der Massen zu entwickeln und so dazu beizutragen, ihre Bedingungen innerhalb der derzeitigen Struktur des bourgeoisen sozialistischen Staates zu verbessern. Außerdem soll das Proletariat die Möglichkeit erhalten, seine eigene sozialistische Kultur und Kunst – im Gegensatz zur bourgeoisen – zu schaffen, die die strahlende Schönheit und Großartigkeit des Sozialismus außerhalb des Staates widerspiegelt und der menschlichen Seele die weitesten Perspektiven und Möglichkeiten eröffnet.

C. Die Entwicklung der individuellen Persönlichkeit in all ihren verschiedenen Ausprägungen in jeder Hinsicht zu fördern, indem Vorurteile und vorgefasste Meinungen beseitigt werden und Fakten präsentiert werden, die dem Individuum helfen, sich seine eigene Meinung über die Dinge zu bilden.

D. Den proletarischen Massen den Gedanken eintrichtern, dass sie sich bei jeder Tätigkeit ausschließlich auf ihre eigene Kraft verlassen müssen, indem sie sich gewissenhaft an die denkwürdige und wertvolle Aussage der Ersten Internationale halten: „Die Befreiung der Arbeiter ist die einzige Aufgabe der Arbeiter“.

E. Alle Mittel einsetzen, um den proletarischen Massen die Gewohnheit zu vermitteln, unabhängig zu denken, denn die stärksten Überzeugungen sind die, zu denen wir aus eigener Kraft kommen.

F. Den Arbeitern zu helfen, sich selbst zu respektieren und von anderen respektiert zu werden, und zwar nicht nur ohne Gesetze, sondern trotz der Gesetze und trotz des „Universums der Macht“, das uns umgibt.

G. In der proletarischen Armee einen starken Willen und eine feste Intelligenz heranzuziehen; in den Arbeitern den Geist der Revolte zu nähren und sie zu bewussten, treuen, unermüdlichen und furchtlosen Kämpfern zu machen, im wahren Geist des Klassenkampfes ohne Rücksicht für eine großartige Zukunft, für den Anarchismus.

H. Alle proletarischen Organisationen zu vereinen und ihre Entwicklung auf jede Weise zu fördern.

I. Jeden Bedarf auf dem Gebiet der Kunst und Kultur durch die Organisation wahrhaft proletarischer Einrichtungen zu decken – Universitäten, Theater, Bibliotheken, Lesesäle, Schulen verschiedener Art, proletarische Paläste, Museen und Konservatorien usw.

J. Das Ziel des Anarcho-Syndikalismus muss daher die Abschaffung der Macht, aller Verpflichtungen und Autoritäten sein.

K. Die Entwicklung der oben genannten Institutionen zu fördern, durch die das Proletariat alle Bildungs- und Kulturfunktionen aus den Händen der Kirche und des Staates nehmen und zu seinen eigenen machen muss.

Folglich wird jede kulturelle und erzieherische Aktivität des Anarcho-Syndikalismus darauf beruhen:

A. Auf der Selbstdisziplin des Proletariats und nicht auf einer Disziplin, die durch Lügen und Verstellung vermittelt wird.

B. Auf der Abschaffung jedes obligatorischen Lehrplans, der individuelle Eigenschaften und persönliche Merkmale nivelliert und jeden Geist der Initiative, Selbstständigkeit und Verantwortung erstickt.

Bildung wird daher:

1. Vielfältig, aber ganzheitlich, da sie die Möglichkeit bietet, eine harmonische Entwicklung der gesamten Persönlichkeit zu erreichen und eine umfassende, vollständige Bildung zu garantieren, die alle Bereiche von Kunst und Wissenschaft abdeckt.

2. Rational, d. h. auf der Grundlage der Vernunft und der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse und nicht auf blindem Glauben; auf der Entwicklung der persönlichen Würde und Unabhängigkeit und nicht auf dem Gefühl der Unterwerfung und des Gehorsams; auf der Abschaffung von Fabeln über Gott, die falsch und schädlich für die Sache der Befreiung der Bauern und Arbeiter sind.

3. Koedukation, eine einheitliche Erziehung für beide Geschlechter, um alle groben Vorstellungen zu beseitigen und eine höhere Moral zu gewährleisten, die die Sache der Frauen mehr voranbringen wird als alle Gesetze zusammen, Gesetze, die nie einen anderen Zweck hatten, als sie zu Sklaven zu machen.

4. Libertär, weil sie alle Machtideale zugunsten des Prinzips der Freiheit aufgeben wird. Das Ziel der kulturellen und erzieherischen Tätigkeit ist nichts anderes als die Entwicklung des freien Menschen, der nicht nur seine eigene Freiheit, sondern auch die der anderen will.

Damit dieses große Bildungs- und Erziehungswerk gelingt, damit es wirklich revolutionär ist und nicht nur kultureller Dilettantismus, ist es notwendig, allen bäuerlichen und arbeiterschaftlichen Kultur- und Bildungsorganisationen in ihrem Zuständigkeitsbereich volle Freiheit und Autonomie zu geben. Aber sie müssen ihrerseits offen sein für einen freien Zusammenschluss von städtischen, bezirklichen und provinziellen Zentren, die sich mit technischen, kulturellen und erzieherischen Problemen befassen, die aufgrund ihrer Bedeutung über die Reichweite des kleinen Kreises lokaler Organisationen hinausgehen und bäuerliche und Arbeiterbildungsorganisationen auf jeder Ebene betreffen: Stadt, Bezirk, Provinz, regional und national.

Diese Organisationen und Zentren müssen den derzeitigen Staatsapparat ersetzen, der alle Kultur- und Bildungsaktivitäten monopolisiert.

[Vmesto programmy: rezoliutsii I i II Vserossiiskikh konferentskii anarkho-sindikalistov, Berlin 1922, S. 23-25]


Die zukünftige Gesellschaft

Die freie Kommune und die freie Stadt

Jeden Tag gibt es neue Beweise für die kontinuierliche Zunahme von Bauernkommunen. Das ist völlig verständlich. In der Tat wurde das soziale Leben der Menschen bis heute von der Regierung und dem Kapitalismus gewaltsam und künstlich zerschlagen. Diese Tatsache, die durch die Zerstörungen, die durch die Massaker an den Völkern auf der ganzen Welt verursacht wurden, noch verstärkt wurde, hat die ärmsten Bauern gezwungen, Zuflucht in der gemeinsamen Ausbeutung des Landes zu suchen. Indem wir die Struktur der Agrarkommunen analysieren, die in einzelnen Bezirken zur Deckung der lebensnotwendigen Bedürfnisse geschaffen wurden, möchten wir den Arbeitern unsere Vorstellung von der anarchistischen freien Kommune in der zukünftigen Gesellschaft erläutern.

Die freie Kommune ist ein Zusammenschluss von Produzenten, Verbrauchern und Vertreibern, der durch ökonomische Bedürfnisse und manchmal auch durch gegenseitige Sympathien bestimmt wird. Darüber hinaus wird dieser Zusammenschluss, der sich durch unabhängige Aktivität und organisierte Kreativität auszeichnet, durch gegenseitige Bedürfnisse anderer Art bestimmt. Die anarchistische Kommune als autonome, selbstverwaltete Einheit der Arbeit und als Einheit der gesellschaftlichen Produktion geht enge Verbindungen mit den anderen freien Arbeitsgemeinschaften ein. Gemeinsam bilden sie in einem vertikalen Sinne eine Föderation von Kommunen. Alle Gemeinden, die zu diesem Verband gehören, organisieren einen Warenaustausch, bei dem jede Gemeinde die Produkte erhält, die sie im Austausch für ihre Überproduktion benötigt. All dies geschieht in freier Vereinbarung und gegenseitigem Einverständnis. Von einer Legislative für die Gemeinden oder ihren Verband kann keine Rede sein, denn das würde unweigerlich zum Niedergang und Bankrott der Gemeinden selbst führen.

Wir sind keine Sozialisten, keine Anhänger des Staates und auch keine bolschewistischen Kommunisten, die die Macht an sich reißen und von oben herab mit Gesetzen und Dekreten gewaltsam und künstlich den Kommunismus einführen und jede ihrer Entscheidungen (ob gut oder schlecht) mit allen Mitteln, auch mit Waffengewalt, untermauern. Die Kommunisten, die den Staat unterstützen, entgegnen: „Ja, das ist alles schön und gut. Aber wir kümmern uns wenig darum, was in der Zukunft passieren wird. Das ist eine Angelegenheit für zukünftige Generationen. Zeig uns, wie eine anarchistische Kommune heute, in der heutigen Zeit, organisiert werden kann, und sei es auch nur in begrenztem Umfang“. Darauf entgegnen wir, dass die anarchistische Kommune im wahrsten Sinne des Wortes heute unvorstellbar ist. Was jedoch möglich ist, ist, dass die Arbeiterorganisationen für den anarchistischen Kommunismus kämpfen, indem sie alle staatlichen Hindernisse für seine Verwirklichung niederreißen.

Sobald der Kampf beginnt, können wir damit beginnen, die freie Kommune zu organisieren, wenn auch nur rudimentär. Wir sagen, dass der Staatskommunismus nichts mit dem anarchistischen Kommunismus gemein hat, und behaupten daher kategorisch, dass die Verwirklichung der Freiheit durch den Staatssozialismus (wie die Sozialisten behaupten) undenkbar ist. Denn der Staatskommunismus ist autoritär und der Weg dorthin ist der der Verstaatlichung, was bedeutet, dass alle Produktions- und Tauschmittel nicht den autonomen Gewerkschaften/Syndikate der Arbeiter gehören, sondern dem Staat. Der Staat übernimmt alles, nicht nur die Unternehmen, sondern auch die Arbeiterorganisationen. Er monopolisiert alles auf die vollständigste Art und Weise, einschließlich Kunst und Literatur, und zielt nicht auf die Errichtung des Sozialismus, sondern des Staatskommunismus ab, der die kapitalistischen Ausbeuter durch eine gigantische, zerstörerische Faust, den Staat, ersetzt. Der Staatskommunismus will das staatliche Gewalt- und Zwangssystem nicht abschaffen, sondern nur umstrukturieren, indem er die alten Formen des bourgeoisen Staates durch eine neue Form, die einer kommunistischen Staatsordnung, ersetzt.

Wir Anarcho-Syndikalisten stellen dem Kollektivismus (Staatskommunismus) den freien anarchistischen Kommunismus gegenüber, der das Recht des Menschen auf sein eigenes Leben und die volle Befriedigung seiner Bedürfnisse anerkennt. Dieses Recht wird nicht als vulgäres Verhandlungsobjekt oder als Belohnung für ein bestimmtes Maß an geleisteter Arbeit gesehen, sondern als Teilhabe jedes Individuums entsprechend seiner Fähigkeiten am produktiven Leben. Dieser Anspruch kommt in der Formel zum Ausdruck, die der anarchistische Kommunismus zur Grundlage der freien Organisation macht: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“. Kommunismus außerhalb des Staates bedeutet, dass alle Produkte und alle Produktions- und Tauschmittel in das gemeinsame Eigentum von Produktionsverbänden und Bauern- und Arbeitergemeinschaften übergehen.

Der anarchistische Kommunismus schafft alle Formen der Zentralgewalt ab und strebt eine Dezentralisierung an, indem er den Staat in eine Vielzahl von autonomen und unabhängigen Arbeitsgruppen und Kommunen zerschlägt, die bisher durch die Autorität des Staates künstlich zusammengehalten wurden. Für die Lösung von Problemen, die mehrere Gemeinden betreffen, wird die freie Gemeinde eine Delegation von Fachleuten ernennen, die Anweisungen von der gesamten Kommune erhalten. Die Kommune selbst wird die notwendigen Entscheidungen auf der Grundlage der Ergebnisse der Sitzungen dieser Spezialisten treffen.

Was die freie Stadt betrifft, so sind wir der Meinung, dass sie sich für die Zwecke der Produktion und Verteilung in Form einer kommunalen Vereinigung organisieren muss. In der freien Stadt wird sich eine Masse von Kommunen bilden, die sich in den Gewerkschaften/Syndikaten der nach den verschiedenen gewerblichen Tätigkeiten organisierten Produzentengruppen zusammenschließen werden. Diese Gruppen werden über alle enteigneten Produktions- und Tauschmittel verfügen und in enger Harmonie miteinander arbeiten. Zum Zeitpunkt des entscheidenden Bruchs und während des Übergangs von der kapitalistischen Gesellschaft zum freien Kommunismus werden die Bauern- und Fabrikkomitees, flankiert von den Gewerkschaften/Syndikate, eine grundlegende Rolle bei der Organisation von Produktion und Vertrieb auf der Grundlage neuer Kriterien spielen. Wir Syndikalisten sehen in den revolutionären Gewerkschaften/Sydikat die Keimzelle der ersten Produzentengruppen. Zur Zeit des sozialen Aufstands (syndikalistische Revolution) und der Ausrufung der freien Stadt wird ihr Leben und ihre Tätigkeit durch die Neuorganisation der Produktion wesentlich erleichtert werden. Die Verteilung von Lebensmitteln wird von Genossenschaften und Organisationskomitees übernommen, die sich zu Straßenkomitees, Blockkomitees, Nachbarschaftskomitees und schließlich zu Stadtkomitees zusammenschließen werden. Diese organisieren die Verteilung der Grundbedürfnisse und lösen alle Probleme in Bezug auf Lebensmittel, Kleidung und Wohnraum.

In der Kommune oder freien Gruppe wird es keine Disziplin geben, die von irgendjemandem auferlegt wird, sondern bewusste Selbstdisziplin. Die Kommunen müssen lebendige Gebilde sein. Alle ihre Mitglieder müssen sich mit Begeisterung der produktiven Arbeit widmen, sich mit vollem Einsatz einsetzen und andere durch ihr Beispiel beeinflussen. Das Hauptziel jeder Kommune muss die volle und freie Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit sein. Innerhalb der Kommune muss jeder Aspekt des Lebens von gegenseitiger Solidarität geprägt sein: in der Produktion, bei der Verteilung, bei der Verteidigung gegen äußere Angriffe usw.

Die anarchistische Kommune ist völlig frei und wählt ohne Einfluss von außen ihren eigenen Rat oder ihre eigene Verwaltung, die als Exekutivkommission der Kommune dient, aber mehr nicht. Jede Kommune wird sich natürlich auf eigene Faust und unter Berücksichtigung der spezifischen Bedingungen ihres Standorts organisieren und gegebenenfalls die Entscheidung treffen, sich aufzulösen.

[N. I. Pavlov, „Svobodnaia kommuna i vol’nyi gorod“, in „Vol’nyi Golos Truda“, Moskau, 16. September 1918, S. 2-3]  

Anarchistischer Kommunismus

Ihre Gegner werfen den Anarchisten vor, utopisch und abstrakt zu sein. Sie definieren das anarchistische Ideal als eine Utopie, die auf einer Rückkehr zur Produktion und zur natürlichen Ökonomie beruht. Zugegebenermaßen sind es oft die Anarchisten selbst, die den Vorwand für solche Angriffe liefern, Anarchisten, die die sozialen und ökonomischen Prinzipien noch nicht ganz verstanden haben, die die Grundlage für den Aufbau einer libertären Gesellschaft bilden. Aus den geflügelten Worten des Rebellen Bakunin – dass die Leidenschaft zu zerstören auch eine schöpferische Leidenschaft ist – haben viele Anarchisten von heute nur eine oberflächliche, zweidimensionale Vorstellung abgeleitet. Sie sind der Meinung, dass das derzeitige Produktionssystem mit seiner gigantischen Industrie und Millionen von Arbeitern – Sklaven der Maschine – zerstört und völlig erneuert werden muss. Aus ihren Angaben geht jedoch nicht hervor, inwieweit die mechanisierte Produktion, die sich in den Großstädten konzentriert, beseitigt werden soll und was in Zukunft an ihre Stelle treten wird. Wir werden versuchen, etwas Licht in diese Fragen zu bringen.

In der Sphäre der politischen Ideale bedeutet Anarchismus einfach Anarchie oder das Fehlen von Autorität. In der sozialen und ökonomischen Sphäre gehört dieses Ideal einer staatenlosen Gesellschaft zum Kommunismus. Die soziale und ökonomische Zelle, auf die sich die anarchistische Gesellschaft stützt, ist die freie und unabhängige Kommune. Aber was bedeutet es, die gesamte zukünftige Gesellschaft auf die Kommune zu gründen? Das erste Missverständnis, auf das man bei der Diskussion dieser Frage stößt, selbst bei Anarchisten selbst, ist die Identifizierung der Idee der „Kommune“ mit der einer sozialen Einheit, die an ein genau definiertes Territorium mit genau abgegrenzten territorialen Grenzen gebunden ist. Die Kommune ist also gleichbedeutend mit dem ländlichen Dorf, mit einer bestimmten landwirtschaftlichen oder ökonomischen Einheit, die von einer Gruppe von Menschen nach kommunistischen Kriterien organisiert wird.

Das zweite Missverständnis, das eng mit dem ersten zusammenhängt, besteht darin, die so territorial definierte Kommune als unabhängigen und autarken ökonomischen Organismus zu betrachten, der in der Lage ist, alle Bedürfnisse seiner Mitglieder (so weit wie möglich) selbständig zu befriedigen.

Das Ergebnis ist ein Bild der anarchischen Gesellschaft, in der die Menschheit – je nach den individuellen Eigenheiten der verschiedenen Bevölkerungsgruppen – in größere oder kleinere Gemeinschaften aufgeteilt ist, die völlig unabhängig voneinander sind und sich so weit wie möglich selbst versorgen. Eine solche Vorstellung des anarchistischen Ideals impliziert jedoch die Ablehnung bestehender Produktions- und Tauschformen, die Rückkehr zu einer natürlichen Ökonomie und einer parzellierten handwerklichen Produktion sowie die Beendigung der Verteilung von Industriegütern innerhalb der sozialen Struktur als Ganzes. Es ist kaum nötig zu sagen, dass eine solche Vorstellung von der anarchistischen Gesellschaft völlig falsch ist. Genau darauf beziehen sich die Gegner des Anarchismus, wenn sie den Anarchisten vorwerfen, Utopisten oder gar bourgeoise Idealisten zu sein. Es lässt sich jedoch nicht leugnen, dass diese Interpretation der anarchistischen Gesellschaft zum Teil die Schuld der anarchistischen Theoretiker selbst ist, die das Problem der Rolle der Anarchisten in der postkapitalistischen Gesellschaft nicht ausreichend entwickelt haben. Eine besonders ungenaue Einschätzung der Bedeutung des kapitalistischen Erbes in einer zukünftigen Gesellschaft findet sich in Kropotkins Werk, in dem er vor allem die Tendenz zur Dezentralisierung des derzeitigen Produktionssystems betont. Was als Tatsache akzeptiert wurde, ist lediglich eine Tendenz. Die Tendenz zur Dezentralisierung wurde in der Industrie vorschnell erkannt und übertrieben, so dass der Eindruck entstand, dass in der zukünftigen Gesellschaft alles, was die Mitglieder der Kommune brauchen, vor Ort von der Kommune selbst produziert werden könnte. Der erste Irrglaube – die Bindung der Kommune an ein bestimmtes Gebiet – wird in anarchistischen theoretischen Werken häufig verwendet. Doch die Kommune, die die Grundlage der zukünftigen Gesellschaft bildet, ist nicht unbedingt an ein bestimmtes Gebiet gebunden. Die Kommune ist einfach ein Zusammenschluss von Individuen, die zusammenarbeiten, um gemeinsame Ziele zu erreichen. Jeder solche Zusammenschluss, egal wie groß oder unbedeutend er sein mag, wie umfangreich oder begrenzt seine Aktivitäten sind, stellt eine Kommune dar. Diese Gemeinschaft, die nicht durch eine genaue territoriale Grenze abgegrenzt ist, wird als extraterritoriale Gemeinschaft bezeichnet. Und es ist die extraterritoriale Kommune, die die soziale und ökonomische Grundlage der anarchistischen Gesellschaft bildet. Die Beziehungen dieser Kommunen zueinander sind komplex und eng miteinander verflochten, so dass die Kommunen in jedem Bereich miteinander in Beziehung stehen und ein einziges, unteilbares soziales Gefüge bilden.

Der zweite Irrglaube, der den oberflächlichen Kritikern des Anarchismus Auftrieb gegeben hat – die Verbindung zwischen dem anarchistischen sozialen Ideal und dem handwerklichen Produktionssystem – ist eng mit dem ersten verknüpft, aber um ihn zu klären, müssen wir ihn aus einem etwas anderen Blickwinkel analysieren. Um die Frage zu definieren, müssen wir das Problem unserer Haltung gegenüber der Autorität in einer postkapitalistischen Gesellschaft offen und klar diskutieren. Ist es wahr, dass Anarchisten durch die Zerstörung des bourgeoisen Systems auch das industrielle System der heutigen Gesellschaft verändern werden? Werden Anarchisten nach ihrem Sieg das Erbe des Kapitalismus berücksichtigen oder werden sie ihm den Rücken kehren und neue und andere Formen der Ökonomie schaffen? Werden sie diese menschlichen Ameisenhaufen, Fabriken und gigantischen Fabriken unangetastet lassen? Wird es in der anarchistischen Gesellschaft Unternehmen geben, in denen Zehntausende von Arbeitern unter einem Dach arbeiten? Werden diese städtischen Giganten weiterhin ihre Verführungskraft behalten und die Bevölkerung in ihre magnetischen Tentakel ziehen? Werden wir in der anarchistischen Gesellschaft die Arbeitsteilung und die mechanisierte Produktion in großem Maßstab beibehalten?

Das sind die Fragen, deren Antworten eine genaue Vorstellung von der zukünftigen Gesellschaft liefern werden. Zunächst einmal sei gesagt, dass es eine für den Anarchismus fatale Utopie wäre, alles, was der Kapitalismus im Bereich der Produktion und Verteilung geschaffen hat, pauschal abzulehnen. Im Bereich der Produktion und des Austauschs müssen wir die Fortsetzer des Kapitalismus sein. Wir dürfen das kapitalistische Erbe nicht ablehnen, sondern müssen es uns vollständig zu eigen machen. In dem vom Kapitalismus geschaffenen Produktionssystem gibt es viele positive, fortschrittliche Aspekte im Hinblick auf die Entwicklung der Menschheit. Wir werden unseren Sieg nicht dazu nutzen, die Menschheit in einen primitiven Zustand zurück zu versetzen. Wenn wir die Produktion übernehmen, werden wir keine einzige Maschine zerstören und keinen einzigen Hebel beschädigen. Wir werden weder unsere Fabriken und Anlagen aufgeben, noch werden wir sie durch ein idyllisches Leben in Hütten auf Wiesen und in Wäldern unter freiem Himmel ersetzen.

Im Gegenteil, wir werden unsere befreite Energie in die Fabriken bringen. Wir werden unseren Maschinen neue Kraft geben. Wir werden mit Beton, mit Glas und mit Stahl bauen wie Giganten, die es bisher noch nicht gegeben hat. Wir werden die Industrie zu neuen, noch nie dagewesenen Höhen führen. Unsere Städte werden nicht zertrümmert und verstreut sein. Stattdessen werden sie mit blühenden Gärten gefüllt sein und Millionen von Menschen werden sich freudig in den sonnigen Straßen tummeln.

Die anarchistische Gesellschaft wird die Produktion nicht zertrümmern, sondern zunehmend konsolidieren. Mit Stahlschienen und Dampfschiffen werden wir die entlegensten Winkel der Erde miteinander verbinden und dem Handel neue Ausdehnung und neuen Schwung verleihen. Wir werden neue Fabriken bauen, in denen Tausende von Arbeitern untergebracht werden können. So müssen diejenigen, die die Richtung der Gegenwart richtig erkannt und sich aus den Fängen der Vergangenheit befreit haben, die zukünftige Gesellschaft sehen. Aber welche Rolle wird die Kommune in der zukünftigen Gesellschaft spielen? Was wird sie werden? Welche Art von Organisation wird die Aufgabe übernehmen, die Bedürfnisse einer solchen Gesellschaft zu erfüllen? Liegt es nicht auf der Hand, dass die Produktionsgenossenschaften in einer solchen Gesellschaft eine entscheidende Rolle spielen werden, indem sie nach vorne marschieren und nicht in die Vergangenheit? Das Fundament der gesamten Gesellschaft werden starke Produktionsgenossenschaften sein, die durch ökonomische Zwänge gebunden sind, die von den Bedürfnissen der Produktion selbst diktiert werden.

Die vage Vorstellung von der Kommune als sozialer und ökonomischer Grundlage der Gesellschaft erhält so einen klar definierten Inhalt. Die Kommune der zukünftigen Gesellschaft ist ein Zusammenschluss von Arbeitern zur Produktion oder Verteilung. Deshalb dürfen Anarcho-Kommunisten bei ihrer Arbeit die Tatsache nicht aus den Augen verlieren, dass die Produktionsgenossenschaften der Arbeiter das Wesen eben jener Kommunen darstellen, auf denen das zukünftige Gebäude des Anarcho-Kommunismus errichtet werden wird.

[A. Grachev, „Anarkhicheskii kommunizm“, in „Golos Truda“, Petersburg, 15. September 1917, S. 3-4]

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Artikel aus „Canenero“ (1994-1997) https://panopticon.blackblogs.org/2024/07/01/artikel-aus-canenero-1994-1997/ Mon, 01 Jul 2024 21:30:50 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5911 Continue reading ]]>

Entnommen von lib.anarhija.net, die Übersetzung ist von uns.Hier eine Selektion von mehreren Artikeln die in der anarchistischen Publikation „Canenero“ erschienen sind. Einige sind immer sehr aktuell. Ursprünglich von Wolfi Landstreicher übersetzt.


Verschiedene Autoren

Artikel aus „Canenero“ (1994-1997)

Einleitung des Übersetzers

Canenero war eine wöchentliche Publikation von Anarchistinnen und Anarchisten, die mit einer Unterbrechung zwischen Ende 1994 und Anfang 1997 in Italien erschien. Zu dieser Zeit begannen die Marini-Ermittlungen gegen Anarchistinnen und Anarchisten ihre faulen Früchte zu tragen, bei denen Dutzende von Anarchistinnen und Anarchisten wegen „subversiver Assoziation“ oder Mitgliedschaft in einer „bewaffneten Bande“ inhaftiert wurden.1 Eine der Ideen hinter Canenero war es, angesichts dieser repressiven Maßnahmen des Staates ein Mittel zur kontinuierlichen Kommunikation und Diskussion zu bieten. Ein Großteil des Materials in der Zeitung befasste sich mit der Situation und den verschiedenen Reaktionen der Anarchistinnen und Anarchisten auf sie.

Die Herausgeber von Canenero wollten jedoch nicht zulassen, dass die Repression des Staates die Grenzen der Diskussion in der von ihnen herausgegebenen Zeitung festlegt. So konnte man auf den Seiten der Zeitung zugespitzte, aber kurze theoretische Artikel, soziale und historische Analysen und bissig-witzige Blicke auf die Nachrichten der Woche finden.

Wie es sich für eine Wochenzeitschrift gehört, sind die meisten Artikel natürlich auf die Zeit bezogen, in der sie geschrieben wurden, und für die unmittelbare Verwendung in der Hitze des Gefechts gedacht. Aber es gab auch genug Artikel von allgemeinem Interesse, so dass es sich für mich lohnte, einige von ihnen für die Veröffentlichung in dieser Form zu übersetzen. Einen Teil dieses Materials habe ich bereits in More, Much More, einer Sammlung von Schriften von Massimo Passamani, dessen Ideen ich besonders anregend finde, und in The Fullness of a Struggle Without Adjectives veröffentlicht, Texte, die ursprünglich eine Diskussion über bewaffnete Kampfgruppen anregen sollten und in den letzten Ausgaben von Canenero erschienen sind.

In diesem Heft habe ich eine Reihe von Artikeln gesammelt, die ich besonders anregend finde. Ich stimme sicherlich nicht mit jedem Wort überein. Aber ich habe sie alle als Anregung empfunden, mein eigenes Denken über die aufgeworfenen Fragen zu vertiefen. Wenn mir zum Beispiel Mario Cacciscos Beschreibung der zwischenmenschlichen Beziehungen als „Sphären, die aneinander abprallen“ und seine konsequente Ablehnung der Idee von Liebe und Freundschaft ziemlich düster vorkommen, dann ist das genau der Grund, warum mich sein Artikel dazu anregt, die Natur der alltäglichen Beziehungen genauer zu untersuchen, insbesondere die, die wir „Liebe“ und „Freundschaft“ nennen. Eines der Dinge, die mir an diesen Artikeln auffallen, ist die Art und Weise, wie sie in so wenigen Worten wichtige Fragen aufwerfen, oft über Dinge, die wir als selbstverständlich ansehen.

Ich habe mich entschieden, das Material in chronologischer Reihenfolge abzudrucken. Der erste Artikel war eine Einführung in das Projekt und der letzte war die Erklärung der Herausgeber, warum das Projekt zu Ende geht. In diesem letzten Beitrag werden die Probleme deutlich, mit denen jedes anarchistische Verlagsprojekt konfrontiert ist. Als Anarchistinnen und Anarchisten veröffentlichen wir hoffentlich nicht nur, um etwas zu tun zu haben. Es muss einen Zweck geben, der mit unserem allgemeinen Lebensprojekt der Revolte zusammenhängt. Wenn wir keine Anführer oder Evangelisten sein wollen, die ein vermeintlich revolutionäres Evangelium zu irgendwelchen imaginären „Massen“ tragen, dann scheint mir der Gedanke, Beziehungen der Verbundenheit und Komplizenschaft zu entwickeln, in denen bedeutsame Diskussionen eine zentrale Rolle spielen, ein Hauptgrund für die Veröffentlichung zu sein. Andernfalls scheint das Publizieren ein bedeutungsloses Ausspucken von Wörtern zu sein, das in die Degradierung der Sprache hineinspielt, die diese Gesellschaft durch ihre eigene einseitige „Kommunikation“ auferlegt. Und eine echte Diskussion besteht nicht nur darin, Positionen zu vertreten und sie von der Festung unserer verschiedenen Ideologien aus zu verteidigen. Sie muss eine echte Begegnung zwischen verschiedenen und gegensätzlichen Ideen sein.

Auch wenn die Herausgeber von Canenero nicht das Gefühl hatten, dass die Zeitschrift die von ihnen gewünschte Diskussion anregt, hoffe ich, dass die Veröffentlichung dieser Artikel in englischer Sprache die Diskussion hier anregen wird. In diesen kurzen Texten gibt es eine Menge zum Nachdenken. Vielleicht regt es ja etwas an.

Wolfi Landstreicher
Februar 2006


Vagabundierende Zerstörung

Canenero.

Ein Wort neben dem anderen. Ein Klang, der in dem ständigen ohrenbetäubenden Lärm untergeht, den sie immer noch Sprache nennen. Ein Wort, das sich von den anderen unterscheidet. Ein Zischen inmitten von Schreien. Ein Seufzer, mit dem man sich auf die Suche nach neuen Bedeutungen in einer Welt macht, in der schon alles gesagt wurde.

Ein Wort, das sich von den anderen abhebt, ein Wort, das sich von den Wörtern abhebt, das nicht den Raum des Gegensatzes zwischen den Begriffen bewohnt, sondern den der Stille, die ihm vorausgeht und ihn begleitet.

Ein Wort schließlich, das sich nicht auf sich selbst bezieht, sondern uns die Region spüren lässt, in der in der Stille, in der sich die Gedanken frei bewegen können, die Bedeutung unserer Einzigartigkeit und der Wunsch nach Revolte gegen alles, was sie erstickt, wachsen.

Ein Papier für all diejenigen, die in dieser Zivilisation der kollektiven Identität und der gegenseitigen Zugehörigkeit ihre Natur als „Fremde überall“, als Widerspenstige gegen jedes Vaterland (die „ganze Welt“ eingeschlossen) bekräftigen wollen.

Vagabunden wie die Kyniker, die griechischen Philosophen, die sich in ihrer Verachtung für die königliche Bedingung einer an die Macht gerichteten Philosophie mit dem Bild des Hundes (Kýon, auf Griechisch) symbolisierten, als Zeichen der Ablehnung von Hierarchie, sozialer Verpflichtung und der angeblichen Notwendigkeit von Gesetzen. Wie es sich für alle freien Geister gehört, wurde er mit Tadel und Mystifizierung entschädigt. In unserer Sprache – die als neutral ausgegeben wird, aber ihren christlichen Charakter nicht verbergen kann – ist „Zynismus“ zum Synonym für wollüstige Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid anderer geworden. So hat die Ideenpolizei, die sich durch die Jahrhunderte im Untergrund bewegt, das beseitigt, was den Göttern und Gesetzen völlig egal war.

Damit der Wunsch, draußen zu sein, nicht zur resignierten Verstümmelung wird, sondern sich bewaffnet, wappnet man sich gegen jede Form von Autorität und Ausbeutung.

Damit man von der Macht des Dialogs (mit der man glaubt, alles lösen zu können) und vom Dialog der Macht (der jeden zu vernünftigen Verhandlungen einlädt) zu einem Gefühl radikaler Feindseligkeit gegenüber dem Existierenden übergeht, zur Zerstörung jeder Struktur, die das Leben der Individuen entfremdet, ausbeutet, programmiert und reglementiert. Canenero (Schwarzer Hundes) (dieses Tier, das allgemein mit der Vorstellung von Unterwerfung, von unterwürfiger Sanftmut assoziiert wird) ist genau der Wunsch, aus der Herde der freiwilligen Knechtschaft herauszutreten und sich der Freude an der Rebellion zu öffnen.

Nicht das Schwarze, in dem alle Kühe gleich sind (auch wenn es in ihrem Dagegen- oder Draußen-Sein liegt), sondern das, in dem die Grenzen zwischen Zerstörung und Schöpfung, zwischen extremer Selbstverteidigung und dem Aufbau von Beziehungen der Gegenseitigkeit mit anderen, verschwinden.

Ein Papier – um ein Mosaik aus tausenden von möglichen Bedeutungen zusammenzusetzen – der vagabundierenden Zerstörung, womit die Möglichkeit gemeint ist, zum Angriff gegen Staat und Herrschaft in all ihren Erscheinungsformen überzugehen, ohne sich, um einen bekannten Ausdruck zu verwenden, einer Flagge oder Organisation zu verschreiben.

Als Individuum, immer, auch wenn der unerschütterliche Wunsch nach dem anderen uns dazu bringt, den Weg der Vereinigung zu wählen.


Die Technik der Gewissheit von Marco Beaco

„Ich war erschrocken, als ich mich
in der Leere, ich selbst eine Leere.
Ich fühlte mich, als würde ich ersticken,
Ich dachte und fühlte
dass alles Leere ist,
feste Leere.“

Giacomo Leopardi

Die Metapher der „Geisteskrankheit“ entzieht dem Individuum das Einzigartige und Persönliche in seiner Lebensweise, in seiner Art, die Realität und sich selbst darin wahrzunehmen; dies ist einer der gefährlichsten Angriffe auf das Singuläre, denn dadurch wird das Individuum immer wieder auf das Soziale, das Kollektiv, die einzige „gesunde“ Dimension der Existenz, zurückgeführt.

Die Verhaltensnormen, die die menschliche Masse regeln, werden absolut; eine „abweichende“ Handlung, die einer anderen Logik folgt, wird nur dann toleriert, wenn sie ihrer besonderen „Bedeutung“ und der ihr zugrunde liegenden „Rationalität“ beraubt wird. Gründe verbinden sich nur mit kollektiven Handlungen, die, wenn nicht auf die Codes der dominanten Kultur, so doch auf die der verschiedenen ethnischen, antagonistischen und kriminellen Subkulturen zurückgeführt werden können. Das Teilen von Bedeutungen, Symbolen und Interpretationen der Realität erscheint somit als das beste Gegenmittel gegen den Wahnsinn.

Wer also plötzlich seine Familie tötet, ist ein Verrückter oder besser ein „Monster“, wer eine Unterkunft für Ausländer in Brand steckt, erscheint als Fremdenfeind (von der Methode her höchstens etwas voreilig, aber noch im Rahmen) und wer in der Situation eines erklärten Krieges mordet, ist nichts anderes als ein „guter Soldat“.

Nach der klassifizierenden Verallgemeinerung, die sie alle gleich macht und sie ihrer gelebten Einzigartigkeit beraubt, sind Verrückte also „gefährlich für die Gesellschaft“. Dem kann man eigentlich nur zustimmen, und zwar nicht wegen der vermeintlichen und vorgeschobenen Aggressivität und Gewalttätigkeit, die denjenigen zugeschrieben wird, die unter einer psychiatrischen Diagnose leiden (die Psychiater und Pädagogen jeder Art sind zweifellos viel gefährlicher), sondern weil sie, wissentlich oder unwissentlich, gegen die im Wesentlichen quantitativen Codes verstoßen haben, die Normalität ausmachen. Erstaunlich ist, dass es nach langen Jahren der Domestizierung überhaupt noch jemanden gibt, der nicht, wenn auch nicht ganz automatisch, so doch zumindest in einer sehr vorhersehbaren Weise auf kulturelle Reize reagiert. Unberechenbarkeit ist die Quelle der größten Angst für jede Gesellschaft und ihre Hüter, denn sie ist oft die Eigenschaft des Individuums; kein Motiv, kein Wert, kein Zweck, der gesellschaftlich nachvollziehbar ist, nur eine individuelle Logik, die notwendigerweise abnormal ist.

Die Verteidigung vor dieser Gefahr wird den Erklärungen der Wissenschaft anvertraut. Mit anderen Worten: Die „ungesunde“ Geste, für die der Schöpfer nicht verantwortlich ist, bleibt die Folge eines äußeren Unglücks, das Tausende von Menschen wie ihn treffen und hervorbringen könnte. Der Mechanismus ist also gut durchdacht: Eine Geste, die ihres Sinns und Willens beraubt ist, wird harmlos, und es ist leicht, sie zusammen mit ihrem Urheber hinter dem ebenfalls „sozialen“ Alibi der Heilung zu neutralisieren.

Die psychiatrische Diagnose fällt wie eine Axt über das Individuum her und amputiert seine Sprache, seinen Sinn, seine Lebenswege; sie behauptet, sie als irrational, sinnlos zu eliminieren; der Psychiater verhält sich ihnen gegenüber mit der liquidierenden Haltung eines Menschen, der die Erfahrungen des Lebens in Fehlfunktionen der Psyche verwandelt, die Gefühle in einen bösartigen Tumor, der entfernt werden muss.

Psychiater sind als Techniker der Gewissheit die effizienteste Polizei der sozialen Ordnung. Die Realität hat für diese Priester in weißen Hemden ebenso wie der Sinn des Daseins klare und eindeutige Grenzen; ihre Aufgabe: diejenigen, die sich auf den verschlungenen Pfaden des Unsinns verirrt haben, „wieder zur Vernunft zu bringen“.

Wenn sich die Polizei, wie behauptet wird, darauf beschränkt, dich zu schlagen, verlangt der Psychiater, dass du auch sagst: „Danke, jetzt geht es mir gut“.

Der Brennpunkt der Diskussion liegt nicht in den vier Wänden und den Gittern der Anstalt, auch nicht in den Elektroschock- und Zwangsbetten, auch nicht in der schlechten im Gegensatz zur guten Psychiatrie, sondern im „psychiatrischen Denken“ selbst, in der Denkform eines jeden, der sich mit dem klinischen Auge der Diagnose an verschiedene Subjekte wendet, immer auf der Suche nach den Symptomen einer Pathologie in ihnen, um den Unterschied mit einer „Therapie“ aufzuheben, die sie dazu bringt, wieder mehr wie wir zu sein.

Wenn der wahre Zweck der „neuen Orte“ der Psychiatrie darin bestünde, Kreativität, individuelles Wachstum, befreiende Kommunikation und die Entwicklung der Beziehungsfähigkeit anzuregen, wären sie keine „psychiatrischen“ oder „therapeutischen/rehabilitativen“ Orte, sondern wahrscheinlich ideale Orte für alle, Orte der Freiheit. Das Problem ist, dass diese Orte nichts anderes als Ghettos sind, in denen man keine Individuen vorfindet, die auf der Ebene der Gegenseitigkeit interagieren, sondern zwei „Kategorien“ von Personen in asymmetrischen Positionen: die Fachleute und die Klienten, die Gesunden und die Kranken, die Helfenden und die Geholfenen; an diesen Orten versuchen die Gesunden, die Kranken davon zu überzeugen, dass das, was sie bisher getan und gedacht haben, falsch oder vielmehr „ungesund“ war, und durch die „freudige“ Methode der Begegnungsgruppe, des Tanzes, des Theaters und der Musik. … sie an die Binarität der Normalität heranführen.

Die „Autonomie“ und „Selbstverwirklichung“, über die diese demokratischen Akteure mit der Zunge schnalzen, gehören ausschließlich ihnen selbst, und für sie ist es notwendig, sich anzupassen, um das heilende Gehege verlassen zu können. Die psychiatrische Medizin selbst, als Analgetikum (Betäubungsmittel) für den Geist, ist das Zeichen für den Versuch, jede Entwicklung, jeden noch so schmerzhaften Weg zu blockieren, den ein Individuum als Reaktion auf das, was es unterdrückt, in Aktion setzt. Ohne diesen Prozess, diesen Moment der „Krise“, der nicht unbedingt ein Weg zur Befreiung ist, zu mystifizieren, bleibt die Tatsache bestehen, dass die Antwort der Macht eine allgemeine Narkose ist, eine kollektive Betäubung, die uns statisch und ruhig macht, verankert in unserem ruhigen Elend.


Die obskure Klarheit der Worte von Alfredo M. Bonanno

Derjenige, der schreibt, ist vielleicht noch mehr als derjenige, der spricht, dazu berufen, zu klären, Licht ins Dunkel zu bringen. Es stellt sich ein Problem – das Problem von etwas, mit dem sich derjenige, der schreibt, befassen sollte, denn sonst wäre sein Respekt sinnentleert. Dieses Problem wird durch den Gebrauch von Wörtern erhellt, durch einen spezifischen Gebrauch, der im Rahmen bestimmter Regeln und im Hinblick auf eine zu erreichende Perspektive organisiert werden kann.

Derjenige, der liest, vielleicht sogar mehr als derjenige, der zuhört, erfasst nicht die einzelnen Wörter, sondern ihre Bedeutung innerhalb der Sphäre der Regeln, die sie organisieren, und der Perspektive, von der sie behaupten, sie erreichen zu wollen.

Wie schwach die Bedeutung dessen, was jemand schreibt (oder sagt), auch sein mag, derjenige, der liest (oder zuhört), nimmt nicht die Rolle des passiven Empfängers ein. Die Beziehung nimmt oft den Anschein eines Konflikts an, in dem zwei verschiedene Universen aufeinander prallen. Aber dieser Konflikt beruht nicht auf einer aktiven Absicht des Schreibenden (oder Sprechenden) und einer passiven Absicht des Hörenden (oder Lesenden). Die beiden Bewegungen sind nur zum Schein gegensätzlich. Der Lesende nimmt an der Anstrengung des Schreibenden teil und der Schreibende an der des Lesenden. Auch wenn die beiden Bewegungen voneinander getrennt sind, so sind sie es doch nicht, denn die schreibende Person ist immer (gleichzeitig) Leserin oder Leser des Textes, den sie schreibt, und die lesende Person ist auch selbst (gleichzeitig) die Autorin oder der Autor des Textes, den sie liest.

Hier werden zwei Fehler begangen. Der erste besteht darin, dass der Schreiber denkt, dass er versteht, was er schreibt, wenn er liest, während er schreibt, und nicht merkt, dass sein Verständnis oft nicht auf die Klarheit des Textes zurückzuführen ist, sondern auf die Verbindung zwischen Leser und Schreiber, die in dem präzisen Akt der Organisation des Wortes nach einem Projekt die höchste Stufe erreicht. Das zweite ist das, was dem Leser passiert, der sich vorstellt, den Text, den er liest, selbst zu schreiben, und sich weigert, Wortwahlen zu akzeptieren, die für ihn undenkbar sind.

Das, was sich dieser binären Beziehung zu entziehen scheint, ist das dritte Element, nämlich das Thema, über das gesprochen wird. Die Realität, die mit Wörtern untersucht wird, ist eine Barriere, die einerseits dazu beiträgt, die Wörter auf eine bestimmte Art und Weise zu ordnen (einige zu akzeptieren und andere abzulehnen), andererseits aber auch einen verzerrenden Prozess in Bezug auf die Verwendung der akzeptierten Wörter durchführt. Kein Wort ist neutral, aber jedes einzelne trägt durch seine Einordnung in Begriffe dazu bei, dem Leser (und auf noch andere Weise dem Zuhörer) eine Vorstellung von der Beugung der untersuchten Realität (über die man schreibt oder spricht) zu vermitteln.

Daher ist kein Wort als solches klar oder unklar; es gibt keine Möglichkeit, ein endgültiges Licht auf die Realität zu werfen und sie ein für alle Mal zu klären. Sobald das Wort von der Realität, auf die es sich bezieht, und damit von der Wahl, die der Schreiber (oder Sprecher) auf der Grundlage der Vorschläge der untersuchten Realität getroffen hat, losgelöst ist, bedeutet es nichts mehr. Es verschwindet und mit ihm auch seine Möglichkeit, etwas zu sein, ein Mittel zum Denken oder Handeln, ein Element, das Menschen verbindet oder trennt. Das Wörterbuch ist wie ein Lagerhaus voller Wörter. Sie sind dort in den Regalen aufgereiht, einige werden ständig benutzt, andere nur selten, alle sind gleichermaßen verfügbar, aber nur wenige von ihnen können miteinander koordiniert werden, je nach den Absichten desjenigen, der sie auswählt, und den Vorschlägen der Realität, die sie in Worte kleiden will.

Wir können Wörter nur dann verstehen und entscheiden, ob sie für uns „klar“ sind, wenn wir mit diesem Vorgang des Verkleidens vertraut sind. Es gibt nicht nur Wörter auf der einen Seite, tote Objekte, die in Wörterbüchern eingeschlossen sind, und die Realität auf der anderen Seite, in der die Individuen neben den Wörtern existieren, die selbst auch Objekte sind, aber alle auf zufällige Weise, ohne Beziehung. Es gibt Bedeutungsströme, d.h. Arbeitsabläufe, in deren Verlauf die Elemente der Realität (die wir hier der Einfachheit halber „Objekte“ nennen können). Sie erhalten ihre Bedeutung durch uns, indem wir ihnen ein sprachliches Gewand anlegen. Es gibt keinen Stuhl, der von dem Wort, das ihn bedeutet, getrennt ist, und die verschiedenen Wörter, auf die verschiedene Sprachen zurückgreifen, bestätigen dieses Bestreben als einen Bedeutungsfluss, indem sie philologische Nuancen vorschlagen, die in der Geschichte der Jahrtausende oft unglaubliche Wege, außergewöhnliche Abenteuer, entstehen lassen.

Das Anziehen der Realität ist also die primäre Tätigkeit des Menschen, die Voraussetzung für das Handeln und selbst eine Aktion, die wesentliche Form der Aktion, insofern, als das Denken selbst der Prozess des Anziehens der Realität ist (eine Tatsache, die nicht viel beachtet wird). Was könnten wir „tun“, wenn wir nicht in der Lage wären, die Realität zu „lesen“. Wir würden uns vor einer dunklen Masse aus Vorahnung und Angst wiederfinden. Die wichtigste Frage ist nicht die nach der größten Klarheit (einfachste Wörter, die am bescheidensten gekleidet sind, Linearität in den Entsprechungen), sondern vielmehr, und vielleicht im Gegensatz dazu, die nach dem größten Reichtum (verschiedene Wörter, die die Gemeinplätze kontrastieren, in den lebendigsten Farben gekleidet, Unbestimmtheit der Entsprechungen). Das Wort ist auch Verzauberung, Wunder, freudige Erfindung, Phantasie, Beschwörung von etwas anderem, nicht das Siegel des bereits Gesehenen, die Bestätigung der eigenen Gewissheiten.

Das Ziel des Sprechens und Schreibens ist also nicht die „Klärung“, sondern die „Bereicherung“ der Realität, die Einladung des Unerwarteten, des Unvorhersehbaren. Derjenige, der kommuniziert, ist nicht verpflichtet, uns Rezepte für Reparaturen, Allheilmittel für unsere Ängste oder Bestätigungen unseres Wissens zu geben, sondern kann sich sogar frei fühlen, schwierige Wege vorzuschlagen, Unsicherheit und Gefahr aufflackern zu lassen.

Und wer sich in seinem Haus sicher fühlen will, dem steht es frei, seine Lektüre einzustellen oder sich die Ohren zuzuhalten.


Der umgekehrte Weg von Alfredo M. Bonanno

Es sind Zeiten des Zweifels und der Unsicherheit angebrochen. Neue und alte Ängste treiben die Suche nach Garantien an. Auf dem Markt, auf dem die menschlichen Angelegenheiten verwaltet werden, wird eifrig um neue Modelle des Komforts gefeilscht. Madonnen weinen, Politiker machen Versprechungen; überall herrschen Krieg und Elend, Grausamkeit und Horror, so dass wir nicht einmal mehr in der Lage sind, Empörung zu empfinden, geschweige denn zu rebellieren.

Die Menschen haben sich schnell an das Blut gewöhnt. Sie riechen kaum noch den Geruch der Massaker, und jeden Tag erwartet sie etwas Neues und Unglaublicheres: Tokio, Gaza, das unveränderliche Bosnien, Burundi und noch mehr Orte, weit entfernt und doch so nah. Was sie wollen, ist, dass man sie da rauslässt. Sie wollen informiert werden, selbst über die kleinsten Massaker im Haushalt, wie zum Beispiel die Massaker am Samstagabend, bei denen jede Woche Dutzende von Menschen sterben, nur um zu wissen, dass sie vergessen werden.

In einer Welt, in der es immer weniger wirkliche Bedeutungen gibt, keine Motivationen, die dem Leben einen Inhalt geben, keine Projekte, die es wert sind, gelebt zu werden, geben die Menschen ihre Freiheit für Gespenster auf, die leicht zu erreichen sind, Gespenster, die aus den Ateliers der Macht kommen. Die Religion ist eines dieser Gespenster. Nicht irgendeine Religion, die in fernen und verkrusteten Praktiken objektiviert ist, die von Priestern und sinnlosen Simulationen beherrscht wird, sondern eine Religion, die die Leere in ihren Köpfen erreicht und sie mit der Zukunft, d.h. mit Hoffnung, füllen kann.

Ich weiß sehr wohl, dass es eine solche Religion nicht gibt, aber es gibt viele Menschen, die sich bemühen, das Bedürfnis danach auszunutzen. Gegen dieses Bedürfnis sind die rationalistischen Behauptungen der kartesianischen Veteranen, durch die sie die Welt erobert und zerstört haben, wertlos. Ihr Geschwätz von wissenschaftlicher Gewissheit bezaubert niemanden mehr. Niemand, außer einer kleinen Gruppe unerbittlicher Intellektueller, ist bereit, an die Fähigkeit der Wissenschaft zu glauben, alle Probleme der Menschheit zu lösen und eine Antwort auf alle Fragen zu geben, die die ewige Angst vor dem Unbekannten betreffen.

Nun kommt es vor, dass sogar wir Anarchistinnen und Anarchisten uns diese außergewöhnliche Lücke erlauben, der wir lieber fernbleiben sollten, wenn wir einen Weg für Aktionen finden wollen, einen Weg, der uns die Realität verstehen lässt und uns so in die Lage versetzt, sie zu verändern. Auch wir wissen nicht so recht, was wir tun sollen.

Auf der einen Seite ziehen wir uns entsetzt zurück angesichts der immer wahnwitzigeren und ekelerregenderen Erscheinungsformen des Glaubens in all seinen Formen. Manchmal haben wir Mitleid mit dem Menschen, der sich bückt, der unter Schmerzen leidet und so das Bild des unglaublichen Gespenstes annimmt und hofft und weiter leidet und hofft. Aber mehr als das können wir nicht für ihn empfinden. Unmittelbar danach nimmt die Verachtung überhand, und mit der Verachtung die Ablehnung, die Distanzierung, die Zurückweisung.

Andererseits, wenn wir noch genauer hinschauen, was finden wir dann? Wir finden ein ebenso verachtenswertes Elend, aber eines, das es versteht, sich mit dem Gewand der Kultur und der schönen Worte zu schmücken. Dieses Elend glaubt an die Wissenschaft und an die Welt, die systematisiert werden kann, an die Welt, die sich auf ihre höchsten Ziele zubewegt. Aber es verschließt die Augen und hält sich die Ohren zu und wartet darauf, dass sich der Sturm legt, ohnmächtig und erbarmungslos gegenüber dem Schmerz und dem Elend der übrigen Welt. Dieses Universum von Spezialisten und respektablen Menschen ekelt uns in vielerlei Hinsicht genauso oder noch mehr an als das andere, das zumindest die Ignoranz und die leidenschaftliche Kraft der Emotionen auf seiner Seite hatte.

Aber wir, was machen wir? Wir schlagen uns nicht auf die Brust und laufen auch nicht mit einem Rechenschieber in der Tasche herum. Wir glauben weder an Gott noch an die Wissenschaft. Weder Arbeiterinnen und Arbeiter noch weise Männer in weißen Kitteln interessieren uns. Aber sind wir dann wirklich über all das hinaus?

Das glaube ich nicht. Wenn wir nur darüber nachdenken, stellen wir fest, dass wir immer noch Kinder unserer Zeit sind. Aber als Anarchistinnen und Anarchisten sind wir es auf eine umgekehrte Weise. Wir glauben naiverweise, dass es ausreicht, die Fehler anderer wie einen Handschuh umzuwerfen, um die schöne Wahrheit schaufelweise aufgetischt zu bekommen. Das ist nicht so.

Deshalb setzen wir auf die Gewissheiten einer anderen Wissenschaft, einer Wissenschaft, die wir von Grund auf selbst aufbauen müssen, die sich aber wie die andere auf Vernunft und Willen stützen wird. Gleichzeitig lehnen wir das Funktionale und Nützliche in der Wissenschaft ab und suchen nach Gefühlen und Emotionen, Intuitionen und Wünschen, von denen wir Antworten auf alle Fragen erwarten, Antworten, die wir nicht bekommen können, wenn diese Reize in unseren allzu rauen Händen zerbröseln.

So taumeln wir, mal in die eine, mal in die andere Richtung. Wir haben nicht mehr die ideologischen Gewissheiten von vor ein paar Jahrzehnten, aber die Kritiken, die wir entwickelt haben, sind immer noch nicht in der Lage, uns mit dem geringsten Maß an Vertrauenswürdigkeit zu sagen, was wir tun sollen. In dem Moment, in dem wir uns fragen, was wir tun sollen, denken wir, dass wir in der Lage sind, jenseits jedes Wertes, jeder Grundlage zu handeln, aber wir wissen nicht, wie wir uns eine sichere Antwort geben sollen.

In anderen Zeiten hatten wir weniger Angst, uns lächerlich zu machen, wir waren sturer und kohärenter in unserem Tun, weniger besorgt um Stilfragen. Ich fürchte, dass wir zu sehr in Feinheiten, in Nuancen verliebt sind. Wenn wir so weitermachen, verlieren wir vielleicht sogar den Sinn des Ganzen, an dem es nie gemangelt hat, den projektbezogenen Sinn, der uns das Gefühl gab, in der Realität verwurzelt zu sein, Teil von etwas zu sein, das sich im Wandel befindet, keine bloßen Monaden zu sein, die in ihrem eigenen Licht leuchten, aber für einander dunkel sind.


Rationalisierte Produktion von Alfredo M. Bonanno

Unter den verschiedenen Merkmalen der letzten Jahre muss das Scheitern der globalen Automatisierung in den Fabriken (im engeren Sinne) hervorgehoben werden, ein Scheitern, das durch das Scheitern der Perspektiven und, wenn man so will, der Träume von der Massenproduktion verursacht wurde.

Das Zusammentreffen von telematischer und traditioneller stationärer Produktion (harsche Fließbänder, die später mit der Einführung von Robotern bis zu einem gewissen Grad automatisiert wurden) hat sich nicht zu einer Perfektionierung der Automatisierungslinien entwickelt. Das liegt nicht an technischen Problemen, sondern an ökonomischen und marktbedingten Problemen. Die Sättigungsschwelle für Technologien, die manuelle Arbeit ersetzen können, wurde nicht überschritten; im Gegenteil, es eröffnen sich immer neue Möglichkeiten in dieser Richtung. Vielmehr wurden die Strategien der Massenproduktion übertroffen, so dass sie für das ökonomische Modell der maximalen Profitabilität nur noch eine geringe Bedeutung haben.

Die Flexibilität, die die Telematik gewährleistete und in der Phase des Aufstiegs der postindustriellen Transformation stetig ermöglichte, führte an einem bestimmten Punkt zu so tiefgreifenden Veränderungen in der Ordnung des Marktes und damit der Nachfrage, dass die Öffnung, die die Telematik selbst ermöglicht bzw. in Reichweite gebracht hatte, nutzlos wurde. So wird die Flexibilität und Leichtigkeit der Produktion aus der Sphäre der Fabrik in die Sphäre des Marktes verlagert, was zu einem Stillstand in der telematischen Entwicklung der Automatisierung führt und neue Perspektiven für eine extrem diversifizierte Nachfrage eröffnet, die bis vor wenigen Jahren noch undenkbar war.

Liest man die Aktionärsberichte einiger großer Industrien, wird deutlich, dass die Automatisierung nur mit steigenden Kosten aufrechtzuerhalten ist, die schnell unökonomisch werden. Nur die Aussicht auf soziale Unruhen von großer Intensität könnte den finanziell belastenden Weg der globalen Automatisierung noch antreiben.

Aus diesem Grund wird die Senkung der Produktionskosten jetzt nicht nur den Arbeitskosten anvertraut, wie es in den letzten Jahren als Folge des massiven telematischen Ersatzes geschehen ist, sondern auch einem rationalen Management der sogenannten produktiven Redundanz. Kurz gesagt, eine rücksichtslose Analyse der Verschwendung, egal unter welchem Gesichtspunkt, und vor allem unter dem Aspekt der Produktionszeiten. Auf diese Weise wird mit einer Vielzahl von Mitteln erneut produktiver Druck auf den Produzenten in Fleisch und Blut ausgeübt und die Ideologie der Eindämmung demontiert, auf deren Grundlage der Telematik eine Erleichterung der Leidens- und Ausbeutungsbedingungen, die für die Lohnarbeit seit jeher charakteristisch sind, zugeschrieben wurde.

Die Verringerung der Verschwendung wird somit zum neuen Ziel der rationellen Produktion, die auf der bereits konsolidierten Flexibilität der Arbeit und der durch die telematische Kopplung garantierten Produktionsmöglichkeiten basiert. Und diese Verringerung der Verschwendung fällt ganz auf den Rücken des Produzenten. In der Tat kann die mathematische Analyse, die durch komplexe Systeme realisiert wird, die in den großen Industrien bereits weit verbreitet sind, die technischen Probleme der Auftragnehmer, d.h. die der Kombination von Rohstoffen und Maschinen, im Hinblick auf die Wartung leicht lösen. Aber die Lösung dieser Probleme bliebe für die Produktion als Ganzes eine Randerscheinung, wenn nicht auch die Nutzung der Produktionszeit unter ein Kontrollregime gestellt würde.

So kommt der alte Taylorismus wieder in Mode, auch wenn er jetzt durch die neuen psychologischen und computergestützten Technologien gefiltert wird. Die umfassende Flexibilität der Großindustrie basiert auf einer sektoralen Flexibilität der verschiedenen Komponenten sowie auf der Flexibilität der kleinen Hersteller, die die produktive Einheit des Kommandos am Rande unterstützen. Die Arbeitszeit ist somit die grundlegende Einheit für die neue Produktion; ihre Kontrolle, ohne Verschwendung, aber auch ohne stupide repressive Irritationen, bleibt die unverzichtbare Verbindung zwischen dem alten und dem neuen Produktionsmodell.

Diese neuen Formen der Kontrolle haben einen durchdringenden Charakter. Mit anderen Worten: Sie neigen dazu, in die Mentalität des einzelnen Produzenten einzudringen und allgemeine psychologische Bedingungen zu schaffen, so dass die externe Kontrolle durch einen Produktionsplan nach und nach durch die Selbstkontrolle und Selbstregulierung der Produktionszeiten und -rhythmen in Abhängigkeit von der Wahl der Ziele ersetzt wird, die immer noch von den Organen bestimmt wird, die die produktive Einheit verwalten. Aber diese Entscheidungen können später einer demokratischen Entscheidung von unten unterworfen werden, indem die Meinung der in den verschiedenen Produktionseinheiten beschäftigten Individuen eingeholt wird, um den Prozess der Selbstverwaltung zu verankern.

Wir sprechen von einer „angemessenen Synchronität“, die nicht ein für alle Mal verwirklicht wird, sondern immer wieder, für einzelne Produktionsperioden oder bestimmte Produktionskampagnen und -programme, mit dem Ziel, eine Interessenkonvergenz zwischen Arbeiterinnen und Arbeitern und Arbeitgebern zu schaffen, eine Konvergenz, die nicht nur auf dem technischen Terrain der Produktion, sondern auch auf der indirekten Ebene des Einforderns eines Anspruchs auf die Nachfrage, also auf der Ebene des Marktes, verwirklicht werden muss.

In der Tat sind auf dem Markt zwei Bewegungen innerhalb der neuen produktiven Flexibilität miteinander verbunden. Die alte Fabrik betrachtete sich selbst als Zentrum der produktiven Welt und ihre Strukturen als stabiles Element, von dem aus sie immer größere Teile des Konsums erobern und befriedigen konnte. Dies musste indirekt eine auf die Arbeiterinnen und Arbeiter ausgerichtete Ideologie hervorbringen, die durch die Führung einer Partei, die sich proletarisch nannte, gesteuert wurde. Der Niedergang dieser ideologisch-praktischen Perspektive könnte heute nicht deutlicher sein, und zwar nicht so sehr wegen des Zusammenbruchs des Realsozialismus und all der direkten und indirekten Folgen, die daraus folgten und weiterhin erwachsen, sondern in Realität aufgrund der produktiven Veränderungen, über die wir hier sprechen. Es gibt also keinen Unterschied mehr zwischen der Starrheit der Produktion und der chaotischen und unvorhersehbaren Flexibilität des Marktes. Beide Aspekte werden nun auf den gemeinsamen Nenner von Variabilität und Rationalisierung gebracht. Die größere Fähigkeit, in den Konsum einzudringen, sei es durch Vorhersehen und Anwerben oder durch Zurückhaltung, ermöglicht es, das alte Chaos des Marktes in eine akzeptable, wenn auch nicht völlig vorhersehbare Flexibilität zu verwandeln. Gleichzeitig hat sich die alte Starrheit der Produktionswelt in eine neue produktive Geschwindigkeit verwandelt. Diese beiden Bewegungen vereinen sich zu einer neuen, verbindenden Dimension, auf der die ökonomische und soziale Herrschaft von morgen aufbauen wird.


Eine Lobrede auf die Meinung von Alfredo M. Bonanno

Die Meinung ist eine riesige Ware, die jeder besitzt und nutzt. Ihre Produktion nimmt einen großen Teil der Ökonomie in Anspruch, und ihr Konsum beansprucht einen Großteil der Zeit der Menschen. Ihr Hauptmerkmal ist Klarheit.

Wir beeilen uns zu betonen, dass es keine unklare Meinung gibt. Alles ist entweder ja oder nein. Verschiedene Ebenen des Denkens oder Zweifelns, Widersprüche und schmerzhafte Eingeständnisse der Unsicherheit sind ihr fremd. Daher die große Stärke, die die Meinung denjenigen verleiht, die sie bei ihren Entscheidungen nutzen und verbrauchen oder sie den Entscheidungen anderer aufzwingen.>

In einer Welt, die sich mit hoher Geschwindigkeit auf eine positiv/negative binäre Logik zubewegt, vom roten Knopf zum schwarzen, ist diese Reduzierung ein wichtiger Faktor für die Entwicklung des zivilen Zusammenlebens selbst. Was würde aus unserer Zukunft werden, wenn wir uns weiterhin auf die ungelöste Grausamkeit des Zweifels stützen würden? Wie könnten wir benutzt werden? Wie könnten wir produzieren?

Klarheit entsteht, wenn die Möglichkeit einer echten Wahl reduziert wird. Nur wer klare Vorstellungen hat, weiß, was zu tun ist. Aber Ideen sind nie klar, also gibt es diejenigen, die sie für uns klären, indem sie einfache, verständliche Instrumente bereitstellen: keine Argumente, sondern Quizfragen, keine Studien, sondern alternative Binaritäten. Einfach Tag und Nacht, kein Sonnenuntergang oder Morgengrauen. So fordern sie uns auf, uns für dieses oder jenes auszusprechen. Sie zeigen uns nicht die verschiedenen Facetten des Problems, sondern lediglich eine stark vereinfachte Konstruktion. Es ist eine einfache Angelegenheit, sich für ein Ja oder Nein auszusprechen, aber diese Einfachheit versteckt die Komplexität, anstatt zu versuchen, sie zu verstehen und zu erklären. Keine Komplexität, die richtig verstanden wird, kann tatsächlich erklärt werden, außer durch den Verweis auf andere Komplexitäten. Es gibt keine Lösung, auf die man stoßen könnte. Die Freuden des Verstandes und des Herzens werden durch binäre Sätze aufgehoben und durch den Nutzen „richtiger“ Entscheidungen ersetzt.

Aber niemand ist so dumm zu glauben, dass die Welt auf zwei logischen positiven und negativen Binaritäten ruht. Sicherlich gibt es einen Ort der Verständigung, einen Ort, an dem Ideen wieder die Oberhand gewinnen und Wissen verlorenen Boden zurückgewinnt. Deshalb entsteht der Wunsch, das alles an andere zu delegieren, die scheinbar die Antworten auf die Ausarbeitung der Komplexität haben, weil sie uns einfache Lösungen vorschlagen. Sie stellen diese Ausarbeitung als etwas dar, das anderswo stattgefunden hat, und präsentieren sich deshalb als Zeugen und Bewahrer der Wissenschaft.

So schließt sich der Kreis. Die Vereinfacher stellen sich selbst als diejenigen dar, die die Gültigkeit der abgefragten Meinungen und ihre kontinuierliche korrekte Erstellung in binärer Form garantieren. Sie scheinen sich vor der Tatsache zu hüten, dass die Meinung – diese Manipulation der Klarheit – jede Fähigkeit zerstört hat, das komplizierte Gewebe zu verstehen, das ihr zugrunde liegt, die komplexen Entfaltungen der Probleme des Gewissens, die fieberhafte Aktivität der Symbole und Bedeutungen, der Referenzen und Institutionen, sie zerstört das Bindegewebe der Unterschiede. Es vernichtet sie im binären Universum der Kodifizierung, in dem es für die Realität nur zwei mögliche Lösungen zu geben scheint: Licht an oder Licht aus. Das Modell fasst die Realität zusammen, löscht ihre Nuancen aus und stellt sie in konsumfertigen Formeln dar. Lebensentwürfe gibt es nicht mehr. Stattdessen treten Symbole an die Stelle von Wünschen und duplizieren Träume, so dass sie zu doppelten Träumen werden.

Die unbegrenzte Menge an Informationen, die uns potenziell zur Verfügung steht, erlaubt es uns nicht, über den Bereich der Meinung hinauszugehen. Genauso wie die meisten Waren auf einem Markt, auf dem jede mögliche, nutzlose Variante desselben Produkts nicht Reichtum und Überfluss, sondern lediglich merkantile Verschwendung bedeutet, führt eine Zunahme der Informationen nicht zu einem qualitativen Wachstum der Meinung. Sie führt nicht zu einer echten Fähigkeit zu entscheiden, was wahr oder falsch, gut oder schlecht, schön oder hässlich ist. Sie reduziert lediglich einen dieser Aspekte auf eine systematische Darstellung eines vorherrschenden Modells.

In Realität gibt es weder das Gute auf der einen noch das Schlechte auf der anderen Seite. Vielmehr gibt es eine ganze Reihe von Bedingungen, Fällen, Situationen, Theorien und Praktiken, die nur mit der Fähigkeit zu verstehen erfasst werden können, einer Fähigkeit, den Intellekt mit der notwendigen Präsenz von Sensibilität und Intuition einzusetzen. Kultur ist keine Masse von Informationen, sondern ein lebendiges und oft widersprüchliches System, durch das wir Wissen über die Welt und uns selbst erlangen. Das ist ein manchmal schmerzhafter und fast nie befriedigender Prozess, mit dem wir die Beziehungen erkennen, die unser Leben und unsere Fähigkeit zu leben ausmachen.

Wenn wir all diese Nuancen auslöschen, haben wir wieder eine statistische Kurve in der Hand, einen illusorischen Verlauf, der von einem mathematischen Modell erzeugt wird, und nicht eine gebrochene und überwältigende Realität,

Die Meinung gibt uns einerseits Gewissheit, andererseits verarmt sie uns und beraubt uns der Fähigkeit zu kämpfen, weil wir am Ende überzeugt sind, dass die Welt einfacher ist, als sie ist. Das ist ganz im Interesse derer, die uns kontrollieren. Eine Masse zufriedener Untertanen, die davon überzeugt sind, dass die Wissenschaft auf ihrer Seite ist, ist das, was sie brauchen, um ihre Herrschaftsprojekte in der Zukunft zu verwirklichen.


Das Gespenst, das beruhigt, während es tötet von Alfredo M. Bonanno

Alle Autorität kommt von Gott, sagte der Apostel, und er hatte Recht. Aber nicht in dem Sinne, dass er der Autorität aufgrund ihres göttlichen Ursprungs Legitimität zuspricht, sondern in dem Sinne, dass Autorität ohne die Idee Gottes nicht möglich ist.

Das Konzept der höchsten Sicherheit, von etwas, das über die Teile hinausgeht, und damit auch das Konzept der heiligen und unantastbaren Funktion von Regierung und Justiz, kommt von der Idee Gottes. Das „Unveränderliche“, das sich die Menschen zum Schutz vor der Angst vor der Zukunft und dem Unbekannten ausgedacht haben, ist Gott, das Gespenst, das beruhigt, während es tötet.

Aber damit die Autorität in der Sphäre der menschlichen Angelegenheiten ausgeübt werden kann, d.h. zu Staat und Regierung wird und sich in jede Faser, aus der sich die Gesellschaft zusammensetzt, einschleicht, braucht sie nicht nur die Unterstützung durch die Idee Gottes; sie braucht auch Gewalt, echte Gewalt, die den Zeiten und Bedingungen des Konflikts mit all jenen angemessen ist, die sich ihr widersetzen, weil sie die Autorität erdulden und die Konsequenzen in Form von Repression und Freiheitsbeschränkungen dafür bezahlen.

Und diese Kraft besteht aus Waffen und Armeen, Regierungen und Parlamenten, Bullen und Spionen, Priestern und Gesetzen, Richtern und Professoren, kurz gesagt, aus dem gesamten Apparat im Dienste der Macht, ohne den sie ein toter Buchstabe bleibt.

Aber die Macht basiert auf Reichtum, d.h. auf der Möglichkeit, Geld zu akkumulieren oder sich die Kontrolle über die Ströme zu sichern, in denen die Geldzirkulation realisiert wird. Mit der Entwicklung von Handel und Industrie, von der Antike über die industrielle Revolution bis hin zu der Epoche, in der wir zu Beginn des dritten Jahrtausends leben, in der sich der Reichtum in eine krampfhafte Essenzialisierung seiner selbst verwandelt und von der alten, statischen Form der Akkumulation zur neuen, dynamischen Form des Flusses und der Hochgeschwindigkeitszirkulation übergeht, hat sich seine Funktion als Grundlage der Autorität nicht verändert.

Wir können also sagen, dass eine Autorität ohne Reichtum ein Widerspruch ist. Alle Tyrannen der Vergangenheit, wie auch alle Politiker von heute, die die öffentliche Sache verwaltet haben und weiterhin verwalten, hatten immense Mengen an Reichtum in ihren Händen.

Ein armer Mensch kann niemals Autorität ausüben, weshalb eine Autorität, der der Reichtum fehlt, der sie zu Institutionen formen und sie als solche in der konkreten Ausübung ihrer Funktionen garantieren könnte, dazu neigt, in Autorität und damit in etwas ganz anderes zu schwächeln. Ein armer Mensch mag aufgrund seines Wissens, seiner Kohärenz und seiner Genauigkeit verbindlich (in Form von einer Autorität) sein, aber er würde niemals eine Autorität darstellen.

Deshalb durchlief die Kirche, die sich ihrer historischen Aufgabe bewusst war, eine theoretische und praktische Quälerei, die drei Jahrhunderte dauerte und sie von der anfänglichen Kritik am Reichtum (die in allen Texten des Urchristentums ausgeführt wurde) zur Rechtfertigung und Akzeptanz des Reichtums führte, und die Zeit, in der diese Reise vollendet wurde, entspricht genau der philosophischen Reife des heiligen Augustinus und der Eroberung der Macht durch Konstantin, fast gleichzeitige Ereignisse.

Aus diesem Grund verwirrt uns der Papst in der Enzyklika Evangelium Vitae, indem er sich darauf beschränkt, nur die Hälfte des Zitats zu zitieren und es so zweckentfremdet, um das „Evangelium des Lebens“, wie er es nennt, zu rechtfertigen (oder vielmehr zu etablieren).

Die Fabel erzählt von einem jungen Mann, der den Meister fragte, was er tun solle, um das ewige Leben zu erlangen. Der Meister sagte ihm, er solle die Gebote befolgen und ging eine Liste durch, die mit „Du sollst nicht töten“ beginnt. Daraus leitet der Papst seinen Auftrag ab, das „Evangelium des Lebens“ zu verkünden, indem er einen Akt der Verwirrung vollzieht, anstatt zu argumentieren. Mit anderen Worten: Die Vermischung der Reihenfolge der Gebote, die hier im Evangeliumstext ins Spiel gebracht wird und die „Du sollst nicht töten“ an die erste Stelle setzt, ist der Beweis für den Willen, das Leben als das wichtigste wesentliche Gut zu verteidigen. Aber der Text der Geschichte bei Matthäus geht noch weiter. Er erzählt uns nämlich, dass der reiche junge Mann antwortet, dass er all diese Gebote befolgt habe, aber noch etwas wissen wolle, und die Antwort war ziemlich präzise: „Wenn du vollkommen sein willst, dann geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib es den Armen, und du wirst einen Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach.“ Als ob er damit sagen wollte, dass Reichtum ein Hindernis ist und dass die Kirche ihn nicht akzeptieren kann.

Aber Reichtum abzulehnen hätte bedeutet, dass die Kirche sich selbst zum Ausschluss von der Macht verurteilt und ihre Teilhabe an der irdischen Autorität für ungültig erklärt hätte, die sie immer als einen vorläufigen Weg zur totalen Eroberung der Macht und der Beherrschung der Welt betrachtet hat, natürlich zur größeren Ehre Gottes.

Deshalb hat sie diese Ablehnung nie akzeptiert, sondern immer mit Gewalt und Tod, mit Feuer und Schwert all diejenigen verfolgt, die dafür eintraten, dass die Kirche arm sein müsse, um zu den Armen zu sprechen und sich nicht mit den Reichen über die Themen zu unterhalten, die sie im Zusammenhang mit der Verwaltung der Macht interessieren, oder mit ihnen gemeinsam um die Macht zu streiten. Deshalb hat die Kirche alle, die die Verweigerung des Reichtums unterstützen, und alle, die gegen die Reichen der Erde kämpfen wollen, immer als Ketzer betrachtet.

Hätte sie die konkrete Kraft, die vom Reichtum und vom Handel mit den Mächtigen ausgeht, genommen, hätte die Kirche der Idee von Gott die Möglichkeit genommen, als praktische Grundlage der Autorität zu fungieren, und hätte die Autorität gezwungen, zu einer unverhohlenen Tyrannei zu werden, die für jeden klar und sichtbar ist.


Sprich weiter zu mir von Alfredo M. Bonanno

Wenn wir uns mit dem Verständnis von uns selbst und anderen auseinandersetzen, werden häufig ungeahnte Aspekte des Bewusstseins entdeckt. Wenn wir uns einem Problem nähern, über das wir wenig wissen, oder einer Person, die wir noch nie getroffen haben, verspüren wir ein Gefühl der Panik (oder der Freude, ein feiner Unterschied, der nie ganz klar ist). Werden wir es schaffen, der Sache auf den Grund zu gehen? fragen wir uns. Und die Antwort ist nicht immer positiv.

Meistens betrachten wir den „Fremden“ mit Misstrauen, dem Misstrauen, das immer vor dem Unterschied besteht, der noch nicht kodifiziert ist. Wohin wird uns dieser „Fremde“ führen? Sicherlich zu neuen Dingen, und wie werden diese aussehen? Sie können gut oder schlecht sein, aber sie stören unser Gleichgewicht, den Schlaf (und die Träume), den wir oft zwischen einem harten Erwachen und dem nächsten erzeugen.

Umso wichtiger ist es, dass wir uns nicht zu erkennen geben. Da unsere persönliche Welt, unsere eigene Welt, auf dem Spiel steht, wenn wir uns ins Unbekannte wagen, sind wir geneigt, sie bis zum Tod zu verteidigen; ihre Grenzen verhärten sich und bieten ein Interpretationsschema an. Das „Fremde“, sei es eine Person oder ein Problem, wird so in die Sphäre unserer Schemata katalogisiert; wir verdünnen die Form in der Struktur, unterdrücken sie mit Gewalt und erwarten, dass das Andere sich unseren Bedürfnissen anpasst. Nachdem wir es auf rituelle Art und Weise und im Rahmen unserer Fähigkeiten als Mörder getötet haben, reproduzieren wir es, angepasst an unsere Ziele, und fahren sogar fort, unsere Wünsche, Träume und unseren Schlaf zu nähren.

Auf diese Weise hüllen sich einige von uns, und das sind sicher nicht die Schlimmsten, in den Kokon der Kodifizierung ein und urteilen oder setzen das Urteil aus, ohne sich dessen bewusst zu sein. Aber in der täglichen Praxis drückt sich diese Aussetzung immer darin aus, dass wir darauf vertrauen, dass der andere von selbst in der Sphäre unserer Perspektive bleibt, ohne dass wir ihm Gewalt antun müssen. In diesen Fällen hilft der gesunde Menschenverstand des Spottes dabei, Abstimmungen zu finden, die sonst als nicht existent entlarvt werden würden.

Bitte schrei nicht nach deiner Verachtung für die Ordnung; es reicht, wenn du mir zeigst, dass deine Lebensweise einer lebendigen, tanzenden qualitativen Logik folgt und nicht der Verpflichtung der Routine der Ruhe und des Kodex. Aber zeige mir das mit logischen, genauen Zusammenhängen. Bitte, sag mir, dass du verrückt bist, genau wie ich, aber sag es mit Klarheit. Bitte, sprich zu mir von dem schrecklichen Schauder der Dunkelheit, aber erzähle es mir im Licht der Sonne, damit ich es hier und jetzt in der deutlichen Sprache, in der ich erzogen wurde, dargestellt sehe.

Ermutige mich mit deinen Gesängen über die Zerstörung – sie sind süße Wiegenlieder für die Bedürfnisse meines Herzens – aber sprich in einer geordneten Art und Weise von ihnen, damit ich sie verstehen kann und dank ihnen begreife, was Zerstörung ist. Kurz gesagt, ich möchte, dass mich die Worte in einer gut geordneten Form erreichen. Wenn du anfängst zu schreien, werde ich leider nicht mehr zuhören. Es ist gut, zu zerstören, aber mit der Ordnung, die die Logik vorschreibt. Sonst geraten wir in das Chaos des Unwiederholbaren, wo alles im Unverständlichen verschwindet. Ja, zugegeben, etwas könnte mich sogar durch die verwirrenden Schreie eines algerischen Marktplatzes an einem Festtag erreichen, aber ich bin dieses Leben nicht gewohnt, diesen unvorhersehbaren und flüchtigen Tanz, das unvorhergesehene Erscheinen des „Fremden“. Es ist notwendig, dass du mir den Kodex der Gewohnheit vor Augen führst, dass die Sprache voll von Unmittelbarkeit ist. Sprich zu mir, ich bitte dich, damit das Wort zur Nabelschnur zwischen mir und der Welt des bereits Geschehenen wird, damit sich nichts so darstellt, als würde es plötzlich in die dunkle Dimension des Chaos geworfen werden.

Sprich zu mir von der Liebe, von deiner Liebe zu mir, von jeder möglichen Liebe, selbst von der entferntesten und am schwersten zu verstehenden, von der Gewalt, die aus der Hüfte kommt, von Gewalt und Tod, aber, damit ich sie mit den Augen des Verstandes sehen kann, sprich zu mir von ihr gefangen, gefangen im schleimigen und verderblichen Netz der Worte. Sprich vorsichtig mit mir darüber, ich bitte dich, damit mein Herz die Auswirkungen ertragen kann. Dann werde ich es mir zur Gewohnheit machen. Und wirklich, da du mit mir darüber gesprochen hast, wird mir die Liebe vertraut werden und ich werde sie überall mit mir tragen, so wie man ein Messer in der Tasche trägt, einen schweren Gegenstand, der Sicherheit bietet. Was die andere Möglichkeit angeht, was die „Fremde“ angeht, die sich plötzlich vor meinen Augen präsentierte, wie ein Dieb in der Nacht, so winkt sie mir dort nicht mehr zu, sondern gibt das hohe Heulen auf, das in der Nacht noch zu mir sprechen könnte.

Sprich zu mir von der zukünftigen Gesellschaft, von der Anarchie, an die du und ich glauben, beschreibe mir ihre Bedingungen der Ungewissheit, die Unberechenbarkeit der Beziehungen zwischen den Menschen, die endlich von jedem Zwang befreit sind; erzähle mir mit deinen ruhigen, überzeugenden Worten von der Gärung der Leidenschaften, die losbrechen, dem Hass und dem Wunsch nach Zerstörung, die nicht von einem Tag auf den anderen verschwinden, der Angst und dem Blut, die nicht aufhören, sich auszubreiten und in den Adern einer Gesellschaft zu fließen, die endlich anders ist als jeder Alptraum der Vergangenheit. Sag es mir, ich bitte dich, aber tu es auf eine Weise, die mir keine Angst macht. Sprich mit mir auf eine ordentliche Art und Weise darüber, sprich mit mir über das, was wir tun, du und ich und die anderen und die Gefährten und Gefährtinnen und diejenigen, die nie welche waren, aber die von einem Moment zum anderen zu verstehen beginnen, alle zusammen, aufbauend, ein bisschen hier, ein bisschen da, Stück für Stück, während alles im Leben, ich meine das wahre Leben, wieder zu blühen beginnt. Aber sprich mit mir darüber mit verständlicher Logik. Schrei mir nicht das ins Ohr, was in dir schreit und mich erschreckt. Behalte es für dich. Behalte die Schwierigkeit, deine Bedürfnisse und Vorstellungen mit meinen zu koordinieren, für dich. Behalte die unbezwingbare Stärke für dich, die dich weit davon entfernt, meinen Willen zu akzeptieren, denn schließlich ist dein eigener genauso unerbittlich gegen jede Kodifizierung wie meiner. Wenn du mir all diese Dinge nicht erzählst, würdest du aufhören, mir Angst zu machen.

Ich flehe dich an, mach mir keine weiteren Sorgen.


Anarchismus und Kritik des Bestehenden von Benedetto Gallucci

In einem historischen Kontext wie dem, in dem wir leben (der Zusammenbruch ideologischer Dogmen, institutioneller Gewissheiten usw.) ist es eine Tatsache, dass immer mehr Menschen beginnen, sich für den Anarchismus zu interessieren und libertäre Ideen in Betracht zu ziehen. Die anarchistischen Gruppen und Kreise sowie die libertären Kollektive wachsen.

An dieser Stelle wäre es meiner Meinung nach nicht unangebracht, über den Unterschied zwischen der individuellen Gefährtin und Gefährten, die ein anarchistisches Bewusstsein entdeckt und deshalb beginnt, ihre anarchistischen Ideen zu verbreiten, und dem klassischen Militanten einer politischen Organisation zu sprechen. Als Anarchistinnen und Anarchisten konzentrieren wir uns auf die Kritik an der Existenz, die uns umgibt, aber wir vergessen nicht, uns Zeit für individuelle Selbstkritik zu nehmen, die dazu dient, mit den Füßen ganz fest auf dem Boden zu bleiben. Aber den militanten Politikern fehlt es an Selbstkritik, und das führt unweigerlich dazu, dass sie sich selbst auf ein Podest der Arroganz und Anmaßung stellen. Mit Selbstkritik meine ich den individuellen Prozess der Selbstanalyse, der zum Leben eines jeden Libertären gehört und durch den er seine Art zu denken, zu handeln, zu sprechen und mit anderen umzugehen ständig in Frage stellt.

Dabei geht es nicht darum, den eigenen Charakter oder das eigene Temperament zu untersuchen. Im Gegenteil, es geht darum, den ganzen Scheiß auszutreiben, den die Macht und die Kirche (sowie die heutige Konsumgesellschaft) uns von Geburt an eintrichtern. Bestimmte innere Mechanismen, mit denen wir von klein auf geprägt wurden, lassen sich nur schwer zerstören, selbst wenn man die Klarheit hat zu erkennen, dass sie in klarem Widerspruch zu libertären Prinzipien stehen. Man neigt immer dazu zu denken: „Ich bin doch so gemacht…“. Es ist sicher ein wenig demütigend, Menschen zu entdecken, die von Selbstbestimmung, Anarchie und Revolution sprechen, aber völlig unfähig sind, eine innere Revolution durchzuführen, die notwendig ist, um den Autoritarismus zu zerstören, egal in welcher Form er sich manifestiert.

Für jedes zukünftige kollektive Projekt der Befreiung ist eine individuelle Reise zum Bewusstsein anarchistischer Ideen unerlässlich, ein Projekt, das nicht von einer tiefgreifenden Kritik an den pathogenen Keimen der Macht, die in jedem von uns vorhanden sind, getrennt werden kann.


Eine gelbe Rose von Alfredo M. Bonanno

Aber haben wir wirklich damit abgeschlossen, die Welt zu interpretieren? Mir war nicht klar, dass irgendjemand sie transformiert. Das absolut „andere“ Ereignis zeichnet sich nicht am Horizont ab, während die Mechanismen des Marktes sich auf den alten Codes organisieren und sich selbst reproduzieren, indem sie Armut und Reichtum rechtfertigen, die absurden Polarisierungen von „die Welt geht so“.

In Eine gelbe Rose zeigt uns Borges, wie der Dichter Marino, der Fürst der schönen Rede, der italienische Meister der menschlichen Buchstaben des siebzehnten Jahrhunderts, an der Schwelle des Todes erkannte, dass das Sprechen (oder Tun, was eigentlich dasselbe ist) als Wiedergabe und Spiegel der Welt, als großes interpretierendes Bild, nicht möglich ist. Er schließt bescheidener mit dem Tun (und damit auch dem Sprechen) als Exzess, als überflüssiges Hinzufügen zu einer Komposition, die bereits vollständig ist, auch wenn es für uns unwillkommen und unerträglich ist.

Gedanken und Aktionen, wie dies und jenes, werden niemals einfach projiziert, d.h. sie haben nicht „nur“ eine Bedeutung in Abhängigkeit von dem, was sie mitbestimmen oder was man als bestimmend voraussehen könnte. Zunächst einmal sind sie eine Vorgeschichte, d. h. sie sind selbst Ereignisse, die in ihrer Eigenständigkeit bedeutsam sind, voller Bedeutung und somit Träger der Markierung, die der Mensch ihnen auferlegt hat.

Mit anderen Worten: Sie sind charakterisierte Botschaften, bewegte Teile der Menschen, die sie gedacht und getan haben, als Gedanken und Aktionen. Als solche haben sie keine eindeutigen Entsprechungen in dem Ziel, das sie erreichen wollen, d.h. sie erschöpfen sich nicht in den Zwecken, die sie scheinbar bestimmt haben. Die Untersuchung dieser „Differenz“ führt direkt zum Inneren des absolut „Anderen“.

Wenn wir mit dem einzigen Ziel denken und handeln, uns an die Realität anzupassen, vielleicht wild ins eigene Horn zu stoßen, um uns besser Gehör zu verschaffen, und mehr Abstand zu gewinnen, haben wir keine Zeit für Zwischentöne, für das, was im Übermaß hinzukommt, von dem ich hier spreche. Wir produzieren, was notwendig ist, weil die Welt auch ohne unsere Beiträge weitergeht, und die Regeln des Marktes schreiben uns die Codes dieser Produktion vor. Sie sagen uns (in groben Zügen, aber hinreichend deutlich), was wir tun müssen, damit wir nie unter oder über dem liegen, was für die Verwirklichung des Projekts erforderlich ist. Und wenn wir bei der von uns geforderten Kapitulation versagen, spüren wir genau, dass wir versagt haben, dass wir Versager sind, und wir schauen auf unsere unfähigen Hände und weinen verzweifelt.

Vielleicht müssen wir noch heißere Tränen weinen, wenn sich der Erfolg gerade durch die große Fähigkeit einstellt, das, was wir tun, an die zu erreichenden Ziele anzupassen. Vielleicht haben wir gerade in diesem Fall, den uns die immer intensivere Effizienz der modernen Techniken jeden Tag suggeriert, unseren kleinen Beitrag zu den großen Konstruktionen der Macht geliefert. Und das selbst dann, wenn das Projekt den Charakter einer Revolution, eines Umsturzes von Institutionen und Werten, Sitten und Traditionen angenommen hat.

In diesem Fall sind wir in kleinen und großen Dingen als Zulieferer des zukünftigen Vollstreckers aufgestellt, wir haben unsere Bemühungen in der Perfektion dessen abgeschlossen, was wir gedacht hatten. Eine größere Anzahl von abschließenden Details, die mit der Ausgangshypothese übereinstimmen, wird immer als ein höherer Grad an Erfolg angesehen. Die Ziele wurden erreicht, die Ziellinie überschritten und die Hoffnungen erfüllt. Jetzt haben die Menschen ihre freien Regeln, alte Tyranneien sind tot, neue Freiheiten sind auf glänzenden neuen Tafeln eingraviert. Wir können die Rechnung präsentieren. Wir sind die Befreier: Wir sind die Schöpfer des Projekts und seiner Details. Wir haben die hohe gesellschaftliche Bedeutung ausgebrütet wie ein Pfauenei, und jetzt erleben wir das Glänzen der goldenen Federn der Sonne.

Die Kraft des zu erreichenden Ziels hat den ursprünglichen Charakter der Aktion und des Denkens getötet. Und dieser Charakter war das Festhalten an der konkreten Tätigkeit desjenigen, der dachte und handelte, eine Manifestation der Kraft, die ihr Zeichen hinterlassen wollte, um sich in der Welt zu behaupten und die Welt zu verändern, nicht mit dem Zeichen der Unterordnung unter etwas Äußeres, sondern mit der eigenen Überschwänglichkeit, mit dem Exzess, den eben dieses Denken und Handeln erzeugt. Die Sorge desjenigen, der handelt und denkt und der aus seinem Denken und seiner Aktion ein einziges Ding macht, besteht also nicht darin, ein Maß außerhalb seiner selbst zu finden, in der Effizienz, mit der das Projekt verwirklicht wurde, in der Vollständigkeit des Ergebnisses, sondern vielmehr darin, in dem Projekt selbst, das ein Moment des Tuns und Denkens war und bleibt, die ganze Überfülle des absolut „Anderen“ zu finden. Was bedeutet das?

Es bedeutet, nicht darauf zu warten, dass die Ziele die Entscheidungen, Ideen und Mittel begründen, um zu handeln. Nicht darauf zu warten, dass man von außen, von anderen oder von dem, was man zu erreichen hofft, eine praktische Erlaubnis oder eine moralische Grundlage erhält. Wenn das Projekt in uns nicht klar ist, wenn wir also nicht bereit sind, die Risiken einzugehen, die unsere Ideen und Aktionen mit sich bringen, können wir nicht erwarten, dass ein bloßes positives Ergebnis uns mit dem versorgt, was uns fehlt. Indem wir diese Vorstellung akzeptieren, stellen wir uns als Gläubiger dar; wir wollen ein konkretes Ergebnis, aber nur für uns selbst, eben weil wir uns dieses anfänglichen Mangels immer bewusst waren und immer auf der Suche nach einer Vollständigkeit waren.

Wenn wir jedoch sicher sind, was wir denken und welche Gründe uns zum Handeln bewegen, sind wir von Anfang an vollständig. Und wenn wir vollständig sind, können wir uns dem anderen schenken, können wir uns dem Ziel schenken, das wir erreichen wollen. Und diese Selbsthingabe wird sich sofort als das herausstellen, was sie ist: der Austausch einer Gabe zwischen uns und dem anderen, zwischen uns und der Realität, die vor uns steht, unbekannt, aber erwünscht, und die wir verändern wollen. Unsere Gabe ist keine Wiedergutmachung, sie gleicht nicht aus, sie bringt keine Gerechtigkeit, sie glättet keine Fehler. Sie zerstört und schafft, fügt den unermesslichen Exzess hinzu, über den hinaus jede Berechnung unmöglich wird. Sie füllt unsere Herzen jenseits jeder ökonomischen Berechnung.


Die beharrliche Verweigerung des Paradieses von Penelope Nin

Es wird gemunkelt, dass wir (ein nicht genau definiertes „wir“, dessen Undefiniertheit den Gerüchten entgegenkommt) nichts mit dem Anarchismus zu tun haben, sondern in Wirklichkeit Nihilisten sind, die mit schlechten Absichten in das Heiligtum der Anarchie eindringen wollen. Es ist bekannt, dass jemand, der die Aufgabe übernimmt, den Tempel zu bewachen, am Ende überall Diebe sieht, und vielleicht ist die Stunde gekommen, „unsere“ besorgten Verleumder zum Schweigen zu bringen.

Zuallererst müssen sie erklären, was sie mit Nihilismus meinen. Ich persönlich betrachte jeden, der mir die Freuden des Nihilismus anpreist, mit Misstrauen, denn ich halte den Nihilismus als Begründung für das Nichts für eine Täuschung. Wenn die Unvollständigkeit von allem mit einem Gefühl der Fülle kultiviert wird, fällt es schwer, der Versuchung zu widerstehen, das alte Absolute durch sein abstraktestes Moment zu ersetzen, in dem sich das Nichts sofort in alles verwandelt und somit totalisiert wird. Letztlich scheint mir der Nihilismus eine listige Form der Argumentation zu sein, die die gesamte Struktur des Wissens in die Dunkelheit des Nichts treibt, nur um durch diese spektakuläre, radikale Negation noch mehr vom Licht des Alls zu erhalten.

Aber wahrscheinlich besteht der vermeintliche „Nihilismus“ aus etwas viel Einfacherem, nämlich aus einer angeblichen Abwesenheit von Vorschlägen. Mit anderen Worten: Man ist nihilistisch, wenn man sich beharrlich weigert, ein zukünftiges irdisches Paradies zu versprechen, sein Funktionieren vorauszusehen, seine Organisation zu studieren und seine Vollkommenheit zu preisen. Man ist nihilistisch, wenn man, anstatt alle Momente relativer Freiheit, die diese Gesellschaft bietet, zu nutzen und zu schätzen, sie radikal negiert und die drastische Schlussfolgerung zieht, dass nichts von ihr zu retten ist. Und schließlich ist man nihilistisch, wenn man, anstatt etwas Konstruktives vorzuschlagen, seine Aktivitäten auf einen „zwanghaften Jubel über die Zerstörung dieser Welt“ hinauslaufen lässt. Wenn dies das Argument ist, dann ist es in der Tat ein dürftiges.

Zunächst einmal ist der Anarchismus – die Idee – eine Sache, und die anarchistische Bewegung – die Gruppe von Männern und Frauen, die diese Idee unterstützen – eine andere. Es ergibt für mich keinen Sinn, über die Idee zu sagen, was in der Realität nur wenige Anarchistinnen und Anarchisten behaupten. Die Idee des Anarchismus ist die absolute Unvereinbarkeit von Freiheit und Autorität. Daraus folgt, dass man völlige Freiheit genießen kann, wenn es keine Macht gibt. Da die Macht existiert und nicht die Absicht hat, freiwillig zu verschwinden, muss man in der Tat einen Weg finden, um sie zu beseitigen. Korrigiere mich, wenn ich falsch liege.

Ich verstehe nicht, warum eine solche Prämisse, die kein Anarchist und keine Anarchistin je zu leugnen und zu unterdrücken gedachte, zwangsläufig dazu führen muss, dass neue soziale Regeln aufgestellt werden. Ich verstehe nicht, warum man, um „Teil“ der anarchistischen Bewegung zu sein, erst eine Doktorprüfung in der Architektur der neuen Welt ablegen muss und warum es nicht ausreicht, die Freiheit zu lieben und jede Form von Autorität mit allem, was dazu gehört, zu hassen. All das ist nicht nur aus theoretischer Sicht absurd, sondern auch aus historischer Sicht falsch (und die Anarchistinnen und Anarchisten zeigen so viel Eifer für die Geschichte). Einer der Punkte, über den Malatesta und Galleani regelmäßig aneinander gerieten, war genau die Frage, ob es notwendig war, zu planen, was nach der Revolution geschaffen werden würde oder nicht. Malatesta vertrat die Ansicht, dass Anarchistinnen und Anarchisten sofort damit beginnen müssen, Ideen zu entwickeln, wie das gesellschaftliche Leben organisiert werden kann, weil es keine Unterbrechung zulässt; Galleani hingegen argumentierte, dass die Aufgabe der Anarchistinnen und Anarchisten in der Zerstörung dieser Gesellschaft besteht und dass künftige Generationen, die gegen die Logik der Herrschaft immun sind, herausfinden werden, wie man sie wieder aufbauen kann. Trotz dieser Differenzen beschuldigte Malatesta Galleani nicht, Nihilist zu sein. Ein solcher Vorwurf wäre unnötig gewesen, denn ihre Meinungsverschiedenheiten betrafen nur den konstruktiven Aspekt der Frage; in Bezug auf den destruktiven Aspekt waren sie sich völlig einig. Auch wenn dies von vielen seiner Exegeten verschwiegen wird, war Malatesta in der Tat ein Aufständischer, ein überzeugter Befürworter eines gewaltsamen Aufstandes, der den Staat zerstören könnte.

Heute muss man jedoch nur darauf hinweisen, dass jeder, der die Macht innehat, seine Privilegien nicht freiwillig aufgibt, und die entsprechenden Konsequenzen ziehen, um des Nihilismus bezichtigt zu werden. Innerhalb der Anarchistinnen und Anarchisten ändern sich, wie überall, die Zeiten. Während sich die Debatte unter Anarchistinnen und Anarchisten einst um die Art und Weise drehte, wie man die Revolution konzipieren kann, scheint sich heute alles um die Art und Weise zu drehen, wie man sie vermeiden kann. Welchen anderen Zweck könnten all diese Abhandlungen über Selbstverwaltung, libertären Munizipalismus oder die gesegnete Utopie des gesunden Menschenverstands haben? Es ist klar, dass die zerstörerische Hypothese erschreckende Konturen annimmt, sobald man das aufständische Projekt als solches ablehnt. Was für Malatesta nur ein Irrtum war – sich auf die Zerstörung der sozialen Ordnung zu beschränken -, ist für viele heutige Anarchistinnen und Anarchisten ein Horror.

Wenn fromme Seelen das Bellen eines Hundes hören, denken sie immer, dass ein böser Wolf kommt. Für sie wird das Wehen des Windes zu einem herannahenden Tornado. Genauso ist das Wort Zerstörung für jeden, der die Aufgabe, die Welt zu verändern, allein der Überzeugung anvertraut hat, verstörend und ruft schmerzhafte und unangenehme Bilder hervor. Diese Dinge machen einen schlechten Eindruck auf die Menschen, die, wenn sie bekehrt werden und sich schließlich in die Reihen der Vernunft scharen sollen, eine Religion brauchen, die einen Eden des Friedens und der Brüderlichkeit verspricht. Ob es sich dabei um das Paradies, das Nirwana oder die Anarchie handelt, ist von geringer Bedeutung. Und jeder, der es wagt, eine solche Religion in Frage zu stellen, kann nicht einfach als Ungläubiger betrachtet werden. Im Laufe der Dinge muss eine solche Person als gefährlicher Gotteslästerer dargestellt werden.

Und deshalb werden „wir“ (aber wer ist dieses „wir“?) „Nihilisten“ genannt. Aber was hat es mit dem Nihilismus auf sich?


Gefangene einer einzigen Welt von Gruppo Anarchico Insurrezionalista „E. Malatesta“

„Tatsache ist, dass der Staat nicht so verderblich wäre, wenn diejenigen, die es wollen, ihn ignorieren und ihr Leben auf ihre eigene Art und Weise leben könnten, zusammen mit denen, mit denen sie auskommen. Aber er ist in jede Funktion des gesellschaftlichen Lebens eingedrungen, steht über allen Aktivitäten unseres Lebens und wir werden sogar daran gehindert, uns zu verteidigen, wenn wir angegriffen werden.
Man muss sich ihn unterwerfen oder ihn zu Fall bringen.“ Errico Malatesta

Wenn wir nicht zutiefst unzufrieden mit dieser Welt wären, würden wir nicht auf diesem Papier schreiben und du würdest diesen Artikel nicht lesen. Es ist daher sinnlos, weitere Worte zu verschwenden, um unsere Abneigung gegen die Macht und ihre Erscheinungsformen zu bestätigen. Was uns vielmehr sinnvoll erscheint, ist der Versuch festzustellen, ob eine Revolte, die sich nicht offen und entschlossen gegen den Staat und die Macht richtet, möglich ist.

Die Frage sollte nicht seltsam erscheinen. Tatsächlich gibt es diejenigen, die im Kampf gegen den Staat nichts anderes als eine weitere Bestätigung dafür sehen, wie sehr er in uns eingedrungen ist und es geschafft hat, unsere Aktionen zu bestimmen – und sei es nur im Negativen. Mit seiner lästigen Präsenz würde der Staat uns von dem ablenken, was unser eigentliches Ziel sein sollte: das Leben auf unsere Art zu leben. Wenn wir daran denken, den Staat auszuschalten, ihn zu behindern, ihn zu bekämpfen, haben wir keine Zeit, darüber nachzudenken, was wir selbst tun wollen. Anstatt zu versuchen, unsere Träume hier und jetzt zu verwirklichen, folgen wir dem Staat, wohin er auch geht, werden zu seinem Schatten und verschieben die Verwirklichung unserer Projekte ins Unendliche. In dem Bestreben, ein Gegner zu sein, enden wir damit, dass wir nicht mehr für etwas eintreten. Wenn wir also wir selbst sein wollen, sollten wir aufhören, uns dem Staat zu widersetzen und ihn nicht mit Feindseligkeit, sondern mit Gleichgültigkeit betrachten. Anstatt zu versuchen, seine Welt – die Welt der Autorität – zu zerstören, ist es besser, unsere eigene, die der Freiheit, aufzubauen. Wir müssen aufhören, über den Feind nachzudenken, darüber, was er tut, wo er zu finden ist und was wir tun können, um ihn zu bekämpfen, und uns stattdessen auf uns selbst konzentrieren, auf unser „tägliches Leben“, auf unsere Beziehungen, auf unsere Räume, die wir immer weiter ausbauen und verbessern müssen. Sonst werden wir nie etwas anderes tun, als den Neigungen der Macht zu folgen.

Die Anarchistinnen und Anarchisten von heute sind voll von dieser Art von Argumentation, der ständigen Suche nach Rechtfertigungen, die als theoretische Analysen getarnt sind und die absolute Untätigkeit entschuldigen. Es gibt diejenigen, die nichts tun wollen, weil sie skeptisch sind, diejenigen, die niemandem etwas aufzwingen wollen, diejenigen, die die Macht für zu stark halten und diejenigen, die ihren Rhythmen und Zeiten nicht folgen wollen; jede dieser Ausreden ist gut. Aber haben diese Anarchistinnen und Anarchisten einen Traum, der ihre Herzen entflammen kann?

Um das Feld von diesen miserablen Ausreden zu räumen, lohnt es sich, sich an ein paar Dinge zu erinnern. Es gibt keine zwei Welten, die unsere und die ihre, und selbst wenn es sie gäbe – was absurd wäre – wie könnte man sie dazu bringen, nebeneinander zu existieren? Es gibt nur eine Welt, die Welt der Autorität und des Geldes, der Ausbeutung und des Gehorsams: die Welt, in der wir alle gezwungen sind zu leben. Es ist unmöglich, so zu tun, als stünden wir außerhalb. Deshalb können wir es uns nicht erlauben, gleichgültig zu sein, deshalb können wir es nicht schaffen, sie zu ignorieren. Wenn wir uns dem Staat widersetzen, wenn wir immer schnell die Gelegenheit ergreifen, ihn anzugreifen, dann nicht, weil wir indirekt von ihm geformt werden, nicht, weil wir unsere Wünsche auf dem Altar der Revolution geopfert haben, sondern weil unsere Wünsche nicht verwirklicht werden können, solange der Staat existiert, solange irgendeine Macht existiert. Die Revolution lenkt uns nicht von unseren Träumen ab, sondern ist die einzige Möglichkeit, die die Bedingungen für ihre Verwirklichung ermöglicht. Wir wollen diese Welt hier und jetzt so schnell wie möglich umstürzen, denn hier und jetzt gibt es nur Kasernen, Gerichte, Banken, Beton, Supermärkte und Gefängnisse. Hier und jetzt gibt es nur Ausbeutung, während Freiheit, wie wir sie verstehen, nicht wirklich existiert.

Das bedeutet nicht, dass wir es aufgeben, eigene Räume zu schaffen, in denen wir mit den Beziehungen experimentieren können, die wir bevorzugen. Es bedeutet nur, dass diese Räume, diese Beziehungen, nicht die vollständige Freiheit darstellen, die wir uns für uns selbst und für alle anderen wünschen. Sie sind ein Schritt, aber nicht der letzte und schon gar nicht der endgültige. Eine Freiheit, die an der Schwelle unseres besetzten Hauses, unserer „freien“ Kommune endet, reicht nicht aus, sie stellt uns nicht zufrieden. Eine solche Freiheit ist illusorisch, denn sie befreit nur so lange, wie wir zu Hause bleiben und die uns auferlegte Enge nicht verlassen. Wenn wir es nicht als notwendig erachten, den Staat anzugreifen (und es gibt vieles, was wir über dieses Konzept des „Angriffs“ sagen könnten), dann können wir per definitionem nur das tun, was er uns nach seinem Gutdünken erlaubt, und zwar für immer, indem wir uns darauf beschränken, in der kleinen „glücklichen Insel“ zu überleben, die wir uns selbst bauen. Sich vom Staat fernzuhalten bedeutet, das Leben zu erhalten, ihm zu begegnen bedeutet, zu leben.

Unsere Kapitulation liegt in der Gleichgültigkeit gegenüber dem Staat begründet. Es ist, als würden wir zugeben, dass der Staat stärker, unbesiegbar und unanfechtbar ist und man genauso gut die Waffen niederlegen und seinen Gemüsegarten pflegen könnte. Kann man das als Revolte bezeichnen? Es scheint uns eher eine ganz innere Haltung zu sein, die von einer Art Misstrauen, Unvereinbarkeit mit und Desinteresse an dem, was uns umgibt, geprägt ist. Aber Resignation ist in einer solchen Haltung implizit enthalten. Verächtliche Resignation, wenn du so willst, aber dennoch Resignation.

Es ist, als würde man Schläge austeilen, die sich darauf beschränken, Schläge abzuwehren, ohne jemals zu versuchen, den Gegner, den man hasst, zu Fall zu bringen. Aber unser Gegner gibt uns keinen Aufschub. Wir können nicht einfach den Ring verlassen und uns weiter zum Gespött machen. Wir müssen unseren Gegner zu Fall bringen; ausweichen und unsere Enttäuschung über ihn ausdrücken reicht nicht aus.


Camomillo von Penelope Nin

In diesen Tagen strömen viele Anarchistinnen und Anarchisten aus ganz Italien nach Rom.

Vor einem Monat wurden auf Anordnung eines Staatsanwalts, der auf der Suche nach dem schnellen Ruhm war, etwa dreißig Feinde der Obrigkeit in Gewahrsam genommen und in Rebibbia, einem Gefängnis in den Außenbezirken, eingesperrt. Um gegen die Arroganz und den rachsüchtigen Geist der Richter zu protestieren, die beschlossen haben, ihnen die Freiheit zu nehmen, hat einer von ihnen einen Hunger- und Durststreik bis zum Tod begonnen.

Doch am vergangenen Samstag waren diese Anarchistinnen und Anarchisten nicht die einzigen, die die Luft der ewigen Stadt atmeten. Andere schlossen sich ihnen an, diesmal Gäste der internationalen Buchhandlung Il Manifesto, wo sie gemeinsam mit Kommunistinnen und Kommunisten, Marxistinnen und Marxisten sowie Historikerinnen und Historikern über Camillo Berneri, „einen Anarchist zwischen Gramsci und Gobetti“, wie der Titel der Konferenz lautete, diskutierten. Sie wurde von der Tageszeitung Via Tomacelli2, vom Zentrum für libertäre Studien in Mailand und von der Historischen Zeitschrift für Anarchismus in Pisa in Zusammenarbeit mit der römischen Buchhandlung Anomolia veranstaltet.

Es ist gut, dass es Anarchistinnen und Anarchisten gibt, die bereit sind, den guten Namen der Anarchie reinzuwaschen und den schrecklichen Ruf wegzuwaschen, den einige Hitzköpfe ihr gerne anhängen würden. Als Il Manifesto vor einem Monat die Nachricht von den Verhaftungen abdruckte, hatte es sich nicht nehmen lassen, darauf hinzuweisen, dass die Ermittler den Aktionen, die wie die einer Bande gewöhnlicher Krimineller wirken, „etwas zu leicht eine einzige ideologisch-politische Motivation zugestehen“. Aber eine schöne, gemeinsam organisierte Versammlung war genau das Richtige, um die letzten Zweifel zu zerstreuen und endlich wieder ein bisschen Gelassenheit zu verbreiten.

Als Antwort auf diesen Vorschlag wurde sofort gesagt, dass man kein besseres Thema hätte wählen können. Welcher Anarchist mehr als Camillo Berneri hätte Anarchistinnen und Anarchisten sowie Persönlichkeiten wie Valentino Parlato, Goffredo Fofi (der eine Anthologie von Berneris Schriften herausgibt) und Enzo Santarelli auf ein gemeinsames Terrain bringen können? Solche Persönlichkeiten konnten sich der Faszination nicht entziehen, die von dem führenden Vertreter des anarchistischen Revisionismus und seinen beunruhigenden Definitionen von Anarchie – „die Gesellschaft, in der die technische Autorität, die von jeder Funktion politischer Herrschaft befreit ist, eine Hierarchie bildet, die als System der Arbeitsteilung konzipiert und verwirklicht wird“ – und von Freiheit – „die Kraft, der Vernunft zu gehorchen“ – ausgeht.

„Anarchistinnen und Anarchisten sui generis3“ – so beschrieb er sich selbst gerne – Berneri kämpfte wie ein Löwe, um den Anarchismus aus den Nebeln der Utopie herauszuholen und mit der Realität zu konfrontieren. „Besser das gegenwärtige Übel als etwas Schlimmeres“ war der Schlachtruf, der ihn sein ganzes Leben lang begleitete und dem er immer treu blieb. Dieses Gefühl für das Maß führte dazu, dass er 1918 das bolschewistische Regime begrüßte, den Abstentionismus4 verachtete, den er als „Kretinismus“ abtat, mit Liberalen wie Gobetti zusammenarbeitete und sympathische Gesten gegenüber einem Teil der katholischen Welt machte, mit dem er die Vorstellung von der Frau als Ehefrau, Zeugerin und ideale Haushälterin teilte. Und das tiefe Pflichtgefühl, das Camillo mit Gott identifizierte, ließ ihn Worte voller vorsichtigem gesunden Menschenverstand über die Notwendigkeit von Geld und die Unvermeidlichkeit von Gefängnis schreiben, mit dem Bewusstsein, dass es immer notwendig ist, einen „Kompromiss zwischen der Idee und der Tatsache, zwischen morgen und heute“ zu finden.

Berneri wurde in den Tagen des Mai 1937 in Barcelona in der Hitze der spanischen Revolution getötet. Sein Märtyrertod brachte ihm die Heiligsprechung durch einen Teil der ehrwürdigen Anarchistinnen und Anarchisten ein. Dass seine Mörder genau die Kommunisten waren, die Parlato, Fofi und ihre Gefährten und Gefährtinnen bis vor kurzem noch so hoch gelobt haben, ist eine Besonderheit, die völlig unbedeutend ist.

Es bleibt die Tatsache, dass nur Camillo Berneri – der Anarchist, der einst freimütig behauptete, dass „ein Minimum an Autorität unverzichtbar ist“ – zur Verbindungslinie zwischen Stalinisten und Anarchistinnen und Anarchisten werden konnte, den Ungläubigen, die – wie Gobetti und Gramsci – nichts anderes tun, als das Dogma mit ihrer Häresie zu füttern.

Aber, okay, sagen wir es so: Soweit es geht, haben diese Richter vollkommen Recht. Es gibt Anarchistinnen und „Anarchisten“. Einige sind schlecht und sitzen zu Recht im Gefängnis. Aber andere – darunter, daran sei erinnert, einige der Antragsteller dieser Konvention, Claudio Venza, Gianni Carrozza, Giampietro Berti – sind gut. So gut, dass sie die Wertschätzung aller angesehenen Menschen dieser Welt genießen können.

Ein Toast also auf Camomillo. Und zur Hölle mit den „Anarchistinnen und Anarchisten“ im Gefängnis.


Er scherzt mit den Menschen von Penelope Nin

„Aber Enteignungen und gewaltsame Aktionen, die das Leben von Menschen gefährden, und ganz allgemein die Theorie und Praxis der Illegalität um jeden Preis sind weit entfernt von unserem Anarchismus. Solche Aktionen stehen in klarem Gegensatz zu dem antigewalttätigen malatestianischen Geist, den wir uns zu eigen gemacht haben.“

(aus Germinal, Nr. 71/72, S. 26)

Das größte Unglück, das einem Menschen, der mit irgendeiner Eigenschaft ausgestattet ist, widerfahren kann, ist, von Anhängern umgeben zu sein. Solange er lebt, ist er gezwungen, ständig darüber zu wachen, dass in seinem Namen nichts Dummes gesagt oder getan wird – eine Arbeit, die sich jedoch als nutzlos erweisen wird, wenn sich die Eingeweihten nach seinem Tod darüber streiten, wie sie den Weg seines Strebens weitergehen sollen. Die Anhänger sind nie auf dem Niveau ihres „Lehrers“, denn nur wer keine eigenen Ideen hat, übernimmt die der anderen – und wird eben zu deren Anhängern. So erweisen sich Nachfolger nicht nur als unfähig, etwas, das bereits begonnen wurde, voranzubringen, sondern da ihnen die Eigenschaften ihres Vorgängers fehlen, kommen sie leicht an den Punkt, an dem sie die Ideen, die sie zu unterstützen vorgeben, verzerren und verraten.

Das an sich schon verwerfliche Phänomen nimmt lächerliche und sogar amüsante Züge an, vor allem, wenn es sich bei dem unglücklichen „Lehrer“ um einen Anarchisten handelt, also um ein Individuum, das jeder Autorität feindlich gesinnt ist und sich daher grundsätzlich gegen die Herdenmentalität stellt. Doch wer kann leugnen, dass es auch innerhalb der Anarchistinnen und Anarchisten solche Fälle gegeben hat? Um nicht zu weit zu gehen, genügt es, an Errico Malatesta, den berühmten italienischen Anarchisten, zu denken.

Alle Freunde und Gelehrten der Gedanken von Malatesta sind sich über eine Tatsache einig. Sein einziges Anliegen, sein einziger Wunsch, war zeitlebens die Revolution. Für Malatesta gab es keinen Zweifel: Anarchistinnen und Anarchisten sind so, weil sie Anarchie wollen, und es ist nur möglich, Anarchie zu verwirklichen, indem man eine Revolution macht, eine Revolution, die notwendigerweise gewaltsam sein würde und deren erster Schritt der Aufstand ist. Das scheint eine Banalität zu sein, und das ist es auch. Und doch ist es eine Banalität, von der sich viele Anarchistinnen und Anarchisten mit einem Gefühl des Ekels distanzieren.

Luigi Fabbri schrieb: „Der Aufstand ist das notwendige und unausweichliche Ereignis jeder Revolution, das konkrete Ereignis, durch das sie für jeden zur Realität wird. Aus dieser Tatsache rührt Malatestas Abneigung gegen jede Theorie und Methode, die direkt oder indirekt dazu neigt, ihn zu diskreditieren, die Aufmerksamkeit der Massen und die Aktivität der Revolutionäre von ihm abzulenken, ihn durch scheinbar bequemere und friedlichere Mittel zu ersetzen.“

Nicht nur revolutionär, denn „jeder kann sich revolutionär nennen, während er die Klugheit besitzt, die gewünschte Veränderung auf weit entfernte Zeiten zu verschieben (wenn die Zeit reif ist, wie man sagt)“, Malatesta war vor allem insofern ein Aufständischer, als er die Revolution sofort machen wollte – eine Revolution verstanden „im Sinne einer gewaltsamen Veränderung, die mit Gewalt gegen die erhaltenden Mächte durchgeführt wird; und impliziert somit den materiellen Kampf, den bewaffneten Aufstand, mit dem Gefolge von Barrikaden, bewaffneten Gruppen, der Beschlagnahmung von Gütern der Klasse, gegen die man kämpft, der Sabotage der Kommunikationsmittel usw. „ – nicht in einer fernen und unbestimmten Zukunft, sondern sofort, so schnell wie möglich, sobald sich die Gelegenheit ergab, eine Gelegenheit, die von Anarchistinnen und Anarchisten absichtlich geschaffen werden musste, wenn sie nicht von selbst durch natürliche Ereignisse kam.

Ja, ich weiß; wer kennt nicht bestimmte Kritiken Malatestas an der Gewalt und Polemiken, die er über Emile Henry oder Paolo Schichi geschrieben hat? Doch Malatesta leugnete nicht die Legitimität und sogar die Notwendigkeit der Gewaltanwendung als solche; er wandte sich nur gegen eine Gewalt, die „blindlings zuschlägt, ohne zwischen Schuldigen und Unschuldigen zu unterscheiden.“ Es ist kein Zufall, dass er als Beispiel für blinde Gewalt meist die Bombe anführt, die in Barcelona während einer religiösen Prozession explodierte und vierzig Tote und zahlreiche Verletzte forderte. Das liegt daran, dass er angesichts von rebellischen Aktionen gegen präzise Ziele, die keine Folgen für Außenstehende haben, keine Kritik üben wollte. In einem seiner berühmten Interviews mit Le Figaro, in dem der Interviewer versuchte, ihn zu drängen, die Bomben von Ravachol und den Anschlag auf dem Boulevard Magenta zu missbilligen, antwortete Malatesta: „Deine Schlussfolgerungen sind voreilig. In der Angelegenheit in der Rue Clichy scheint mir ganz klar zu sein, dass ein Richter in die Luft gesprengt werden sollte; aber ich bedaure, dass dies – ich glaube, ganz unfreiwillig – auf eine Art und Weise geschah, bei der Menschen zu Schaden kamen, die er nicht bedacht hatte. Was die Bombe auf dem Boulevard Magenta angeht – oh! da habe ich keine Vorbehalte! Lherot und Very waren zu Komplizen der Polizei geworden, und es war ein schöner Akt des Kampfes, sie in die Luft zu jagen.“

Es scheint klar zu sein, dass all die Diskussionen und Polemiken, die in jenen fernen Jahren stattfanden – und die einige heutige Anarchistinnen und Anarchisten wieder durchspielen, um uns das Bild eines gewaltlosen Malatesta zu verkaufen – in Wirklichkeit nicht auf die Anwendung von Gewalt an sich abzielten, sondern nur auf die Grenzen, die man nicht überschreiten konnte, ohne die Grundsätze des Anarchismus selbst in Frage zu stellen, oder höchstens auf die Grenzen, die durch Überlegungen taktischer Art nahegelegt wurden.

Aber lassen wir „das dunkle Ende eines früheren Jahrhunderts“ und die Polemik, die damals in der anarchistischen Bewegung tobte, hinter uns und kehren wir in die Gegenwart zurück. Keine der explosiven Aktionen, die Anarchistinnen und Anarchisten in den letzten Jahren durchgeführt haben, konnte als „blind“ und „unsensibel“ bezeichnet werden. Vielmehr könnte man sagen, dass sie sich alle gegen die Strukturen der Herrschaft richteten, ohne „das Leben von Menschen zu gefährden“. Wie kann man also die Ablehnung dieser Aktionen durch bestimmte Anarchistinnen und Anarchisten rechtfertigen? Sicherlich nicht, indem man sich auf die Gedanken von Malatesta beruft, denn zu sagen, dass es eine Grenze für den Einsatz von Gewalt gibt, ist nicht dasselbe wie zu sagen, dass man niemals auf sie zurückgreifen darf.

Der Rückgriff auf die Toten dient nicht dazu, die eigene Trägheit zu rechtfertigen.


Die Verbindung, die nicht da ist von Mario Cacciucco

Zusätzlich zum Erklären wird der Sprache in ihrer Funktion, die Kommunikation zwischen Individuen, Situationen und Materie zu ermöglichen, die fehlgeleitete Aufgabe gestellt, Emotionen, mentale Zustände und Beziehungen zwischen Individuen und anderen in Silben zu fassen.

Meiner Meinung nach ist die Mystifizierung von Liebes- und Freundschaftsbeziehungen ein Irrglaube. Beispiele aus der Praxis wären eine große Hilfe, um meine Reflexion zu erklären, aber ich möchte versuchen, sie auf meine Weise mit dem geschriebenen Wort zu verdeutlichen.

Ich gehe von der Annahme aus, dass jedes Individuum in seinen Einstellungen, Bestrebungen, körperlichen Aspekten und Freuden unterschiedlich ist. Die Beziehungen zwischen den Individuen sind wie Sphären, die in einem Strudel von Kontakten aneinander abprallen, ohne dass es zu einer Verschmelzung kommt. Sie verändern sich, aber sie verschmelzen nicht. Ich mit dem anderen, der andere mit mir. In jedem Fall bewahrt jede Kugel ihre Einzigartigkeit. Ausgehend von meiner eigenen Einzigartigkeit beschließe ich also, mich auf eine unbegrenzte Suche nach Kontakten und Situationen zu begeben, die mir ähnlich sind, um mich übermäßig zu verwirklichen, indem ich die Unterschiede der anderen genieße. Und ich tue dies, indem ich meinen Willen bekräftige, meine Entscheidungsfähigkeit zu bewahren, egal wie und wann. Im Allgemeinen erkenne ich die Andersartigkeit anderer, ich fühle mich davon angezogen, wie ein Kind, das einen Clown Pirouetten drehen sieht und von der Neuartigkeit und Sympathie, die er ihm vermittelt, angezogen wird. Ich erkenne den Reiz all dessen, was mir fremd ist, das Bekannte, das weniger Bekannte und das Unbekannte.

Die Kontakte, die ich knüpfe, können mehr oder weniger dauerhaft sein. Die Umstände tragen einen großen Teil dazu bei. Aber sie enden immer mit der Möglichkeit, sich neu zu öffnen.

Wenn ich von der Suche nach Affinität spreche, spreche ich davon, mir eine Reihe von Kontakten mit anderen Individuen zu gönnen, die meiner Handlungsfähigkeit keinen Schaden zufügen, sondern vielmehr in der Lage sind, mir neue Kraft, neue Fähigkeiten zu geben, das Aufprallen meiner Sphäre auf die der anderen zu vervielfachen, etwas, das für die Suche nach mir selbst und meiner Zufriedenheit unerlässlich ist. Die gängigen Bedeutungen von „Liebe“ und „Freundschaft“ lassen mich daher ratlos zurück.

Wenn Beziehungen beginnen, kann man nicht von vornherein festlegen, wie sie sich ausweiten oder enden werden. Beziehungen sind nun mal da und das ist alles. Die Zufälligkeit der Ereignisse und die Manifestation des individuellen Willens tragen dazu bei, ein bestimmtes Etwas zu schaffen. Und wenn ich sage, ein bestimmtes Etwas, dann meine ich alles. Von den hitzigsten Leidenschaften bis hin zur Fleischeslust, zum Verbrechen, zur Sinnesekstase, zur Wertschätzung, zur Gleichgültigkeit und zum Ärgernis.

Ausgrenzen ist ein bisschen so, als würde man Gesetze machen und sich selbst der Bewegungsmöglichkeiten berauben. Verschiedene Ereignisse zu vereinen kann dazu führen, dass der Sinn für ihre Originalität und Einzigartigkeit verloren geht. Wenn für manche ein Kuss Liebe ist, ist er für mich ein Gefühl der Lippen, mit dem ich jedes Mal aufs Neue experimentiere.

Die Individuen, mit denen ich Momente teile, unterscheiden sich zutiefst voneinander. Jeder Kuss hat seine eigenen Merkmale und hat nichts mit den anderen Küssen zu tun. Es gibt keinen Zweifel.

Was ist also Liebe und was ist Freundschaft, wenn man von Beziehungen spricht? Sind sie Orakel, an die wir uns wenden können, um uns vor Hindernissen zu schützen? Wer ist die Person, die wir mit Gewissheit in eine dieser Kategorien einordnen können? Und wäre diese Gewissheit nicht eine fehlgeleitete und irreführende Kühnheit? Wäre sie nicht immer zu klein? Wenn es der „zerbrechliche Käfig der Sprache“ ist, der uns immer noch diese Probleme bereitet, warum dann nicht ein bisschen mehr in Kontakt mit sich selbst treten und auf diese ach so geheimnisvollen und ungreifbaren Worte verzichten, die die Frucht unserer persönlichen Gefühle und unserer Zustimmung auf etwas zurückführen, das nicht existiert? Warum sich selbst zum Sprecher von Begriffen machen, die definieren und festlegen sollen, wenn ein unbedingter Ausbruch unseres Begehrens all dies aufheben könnte, um es in den Abgrund des Möglichen, des Denkbaren zu führen? Und warum nicht klar, entschieden und gewaltsam die Beziehung zerstören, wenn sie uns verhasst wird, denn die Vergangenheit ist eine Sache, die in dem Maße fremd wird, wie man sie nicht mehr in die Hand nehmen kann. Und Erinnerungen sind mehr als alles andere nützlich für diejenigen, die momentan fernab ihres Willens leben.

Gefährtinnen und Gefährten, Freundinnen und Freunde, Geliebte – für mich vereint die Auflösung all diese Beschreibungen. Ich liebe, ich bevorzuge, ich wähle auf meine Weise, als Gesetzloser. Ich weiß nicht, was Liebe ist, und ich weiß nicht, was Freundschaft ist, vielleicht, weil es sie nicht gibt oder vielleicht, weil ich diese Worte nicht benutzen muss, weil ich eine mehr oder weniger klare Vorstellung davon habe, was die Dynamik des Kennenlernens und des Zusammenstehens mit anderen, in Übereinstimmung oder Uneinigkeit, ist.

Beziehungen ohne die beunruhigende und unerträgliche Präsenz von Autorität sind die einzigen, die ich ertrage, und ich verlasse mich auf sie, um mein grenzenloses Ich auszudrücken. Wenn eine dieser Beziehungen dazu neigt, ein bisschen Unruhe oder Aufopferung oder dieses schmierige Ding, das man Toleranz nennt, hervorzurufen, dann halte ich die Zeit für gekommen, mich von ihr zu lösen, um in einer anderen der unendlichen Situationen, die die Existenz mir vorschlägt, neu zu beginnen.

Ich beginne wieder mit einer erfreulichen Loslösung.


Ein kleiner, kleiner Riesevon Il Panda

[Es gibt Momente, in denen es scheint, als ob sich alles auftun könnte, als ob alle Möglichkeiten im Spiel sind. Das sind die Momente, die wir ergreifen müssen, um unsere rebellischen Träume zu verwirklichen. In diesen Momenten gibt es keine Garantien, nur Möglichkeiten. Der folgende Artikel wurde inmitten eines solchen Moments geschrieben, der sich vor einigen Jahren in Frankreich ereignete. – Übersetzer]

Es ist nicht nur eine Frage der Proportionen. Wir erscheinen immer so klein angesichts dieser Welt, die uns überwältigt und die mit ihrem unendlichen und verschlungenen Netz von Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen endlosen Ursachen und Wirkungen nicht nur unverständlich, sondern auch unangreifbar erscheint.

Ja, natürlich würden wir diese Welt gerne auf den Kopf stellen, wir würden diese Beziehungen gerne zerstören, aber wir wissen nicht, wo wir anfangen sollen; alles erscheint uns nutzlos, all unsere Zerstörungswut scheint sich auf ein fast harmloses Kitzeln gegen einen teilnahmslosen Riesen zu reduzieren. Unsere Herzen sind zur Revolte gerührt, aber wie oft sind wir schon gegen die vermeintliche Unveränderlichkeit des Riesen, der uns unterdrückt, angerannt? Der Topf kocht, denken wir, aber wir wissen nicht, wie wir den Deckel dieses gesegneten Topfes heben sollen, wir verstehen weder Sinn noch Verstand. Und auch wenn uns die Dringlichkeit der Dinge immer wieder zu Aktionen antreibt, scheint es uns nicht zu gelingen, den Mechanismus in Gang zu setzen, der das Bestehende in die Schranken weisen könnte. Unsere anhaltenden Auseinandersetzungen mit der Welt schaffen es nicht, sich selbst zu reproduzieren und die Leidenschaften, die wilden und kollektiven Feste, die Revolutionen zu wecken, die wir uns wünschen. Und doch ist der Riese, wie wir wissen, weder so groß noch so passiv, wie wir ihn uns vorstellen. Das Fest ist immer gleich um die Ecke, denn wenn die Wege der Herrschaft unendlich sind, sind es die Wege der Revolte auch: Der Riese, den wir in unseren Köpfen haben, ist in Wirklichkeit ein Netzwerk von Beziehungen, zwar riesig, aber ganz konkret, und diese Beziehungen nutzen bestimmte Kanäle, bestimmte Wege. Und diese Wege könnten tatsächlich blockiert werden und unvorhersehbare Mechanismen in Gang setzen.

Eine solche Möglichkeit sorgt seit einigen Wochen für schwierige Momente im Leben der Franzosen. Die Lkw-Fahrer – jene Lohnarbeiter, die quer durch Frankreich und Europa fahren und für die Profitabilität des Kapitals Waren transportieren – befinden sich im Streik. Nicht nur, dass all diese Waren nicht gekauft und verkauft werden, mit all den daraus resultierenden Problemen für die französischen Städte und die Ökonomie; mit dem Streik meinen die französischen Lkw-Fahrer nämlich nicht nur eine bloße Arbeitsniederlegung. Nein, sie parken ihre Sattelschlepper an den Stadteingängen und auf den Autobahnen und blockieren den Verkehr; oder sie umzingeln Raffinerien, um den Nachschub an Treibstoff zu verhindern.

Bordeaux ist bereits komplett blockiert, wie eine ganze Reihe von Städten im Westen und Südosten, und in Paris beginnt die Belagerung. Überleg mal, was eine solche Blockade auslösen kann: Schon jetzt, nur wenige Tage nach Beginn der Proteste, fahren einige Fabriken die Produktion merklich herunter. Ohne Rohstoffe kann die Industrie nicht arbeiten, da ihre Produkte nicht transportiert und verkauft werden können. Und zusammen mit den Fabriken werden auch die Büros und Ministerien erschüttert.

Was kann in einer blockierten Stadt passieren? Alles und nichts, es ist eine Frage der Zeit. Städte sind um Arbeit und ihre Zeit herum gebaut. Die Zeit der Stadt wird von den Zeigern einer Uhr abgetastet, deren Ticken unser Leben bestimmt und unsere Tage mit Feuer brennt. Das Büro, die Familie, die Sonntage, die Abende, das Überleben ist ohne das Ticken der Uhren nicht möglich.

Doch in einer blockierten Stadt braucht die Zeit vielleicht keine Zifferblätter und Zeiger mehr. Sie ist von der Arbeit befreit; sie kann sich unwahrscheinlich ausdehnen und zusammenziehen, bis hin zum Verschwinden.

Das könnte für den Riesen gefährlich sein. Du wirst sehen, dass ohne Zeit seltsame Ideen in die Köpfe der Menschen eindringen, seltsame Laster geboren werden, die unvorhersehbare Mechanismen freisetzen – und zwar so sehr, dass sie die engen Grenzen der Forderungen verdrängen, jenseits derer es keine Rolle mehr spielt, was die Lkw-Fahrer aushandeln wollten, ob Löhne, Renten oder Arbeitszeiten, denn es geht um etwas ganz anderes, etwas für alle.

Andernfalls könnte in einer blockierten Stadt nichts passieren. Es könnte ein großer, sehr trauriger Sonntag werden.

Der Topf kocht und der Riese ist nie zu groß für uns; er kann nicht einmal friedlich schlafen. Seine Arterien – das sind Straßen, Stromleitungen und Computernetzwerke – liegen frei und können durchtrennt werden, wodurch eine unendliche und unvorhersehbare Reihe von Möglichkeiten entsteht.


Jenseits des Gesetzes von Penelope Nin

Um ehrlich zu sein, verstehe ich nicht ganz, was heute gemeint ist, wenn man von „Illegalität“ spricht. Ich dachte, dieses Wort sei nicht mehr in Gebrauch, dass es nicht mehr aus den Geschichtsbüchern der Anarchistinnen und Anarchisten herausrutschen könnte, für immer eingeschlossen mit der ebenso alten „Propaganda der Tat“. Wenn ich es in letzter Zeit wieder in solch schamlos kritischen Tönen gehört habe, konnte ich mir ein Gefühl des Erstaunens nicht verkneifen. Ich finde diese Manie, alte Argumente abzustauben, um neuen Diskussionen aus dem Weg zu gehen, langsam unerträglich, aber es gibt so viel davon.

Eine Sache scheint mir jedoch klar zu sein. Der Illegalismus, von dem heute (schlecht) gesprochen wird, ist nicht das Konzept, das von den Anarchistinnen und Anarchisten zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts mit so viel Herzblut debattiert wurde. Damals bezeichnete man mit diesem Begriff alle gesetzlich verbotenen Praktiken, die zur Lösung der ökonomischen Probleme der Gefährten und Gefährtinnen nützlich waren: Raub, Diebstahl, Schmuggel, Geldfälschung und so weiter. Mir scheint, dass einige Anarchistinnen und Anarchisten heute in Ermangelung eines konkreten Diskussionsgegenstandes viel zu leicht dazu neigen zu behaupten, dass Illegalismus eine raffinierte Verherrlichung aller gesetzlich verbotenen Verhaltensweisen um ihrer selbst willen bedeutet, nicht nur derjenigen, die durch die Erfordernisse des Überlebens diktiert werden. Kurz gesagt, der Illegalismus würde zu einer Art theoretischem Rahmen für die Errichtung der Illegalität als System, als Lebenswert.

Manche gehen sogar noch weiter und tadeln einen nicht näher definierten „Illegalismus um jeden Preis“ und sehnen sich nach Gefährten und Gefährtinnen, die gegen das Gesetz verstoßen würden, auch wenn sie es anders könnten, nur um den Nervenkitzel des Verbotenen auszukosten oder vielleicht, um ein ideologisches Dogma zu erfüllen. Aber ich frage: Wo sind diese Gefährten und Gefährtinnen auf diesen Illegalismus um jeden Preis gestoßen, wer hat davon gesprochen? Wer wäre so dumm, die Strenge des Gesetzes herauszufordern, wenn sie es anders könnte? Offensichtlich niemand.

Aber es gibt wahrscheinlich noch einen anderen Punkt, über den es sinnvoll wäre, nachzudenken. Können Anarchistinnen und Anarchisten es vermeiden, das Gesetz herauszufordern? Unter vielen Umständen ist das sicherlich möglich. Im Moment schreibe ich zum Beispiel für eine Zeitung, die legal veröffentlicht wird; macht mich das vielleicht zu einer legalistischen Anarchistin? Wenn ich andererseits heute Abend heimlich Flugblätter aufhängen würde, wäre ich dann eine illegalistische Anarchistin? Aber was würde diese beiden Kategorien von Anarchistinnen und Anarchisten überhaupt voneinander unterscheiden?

Die Frage nach der Beziehung zwischen Anarchistinnen und Anarchisten und dem Gesetz kann nicht auf eine so voreilige und irreführende Weise geklärt werden. Meiner Meinung nach können die Aktionen von Anarchistinnen und Anarchisten weder im positiven noch im negativen Sinne vom Gesetz beeinflusst werden. Ich meine damit, dass es weder der ehrfürchtige Respekt vor den Leitnormen der Zeit noch die Freude an der Übertretung als Selbstzweck sein kann, die sie antreibt, sondern vielmehr ihre Ideen und Träume, die sich mit ihren individuellen Neigungen verbinden. Mit anderen Worten: Eine Anarchistin und ein Anarchist können nur alegalistisch sein, also ein Individuum, das jenseits des Gesetzes das tun will, was ihm am meisten Spaß macht, ohne sich an dem zu orientieren, was das Strafgesetzbuch erlaubt oder verbietet.

Natürlich gibt es das Gesetz und man kann nicht so tun, als würde man es nicht sehen. Ich bin mir durchaus bewusst, dass auf dem Weg zur Verwirklichung unserer Wünsche immer ein Knüppel bereitsteht, aber diese Bedrohung sollte unsere Entscheidung darüber, welche Mittel wir einsetzen, um das zu verwirklichen, was uns am Herzen liegt, nicht beeinflussen. Wenn ich es für wichtig halte, eine Zeitung zu veröffentlichen – eine Sache, die als legal angesehen wird – kann ich leicht versuchen, die Bestimmungen des Pressegesetzes zu befolgen, um unnötigen Ärger zu vermeiden, da dies den Inhalt dessen, was ich mitteilen will, überhaupt nicht ändert.

Wenn ich es jedoch für wichtig halte, eine Aktion durchzuführen, die als illegal gilt – wie der Angriff auf die Strukturen und Personen der Macht -, werde ich meine Meinung nicht ändern, nur weil jemand mit der roten Fahne der Risiken winkt, die ich vor meinen Augen eingehen werde. Wenn ich anders handeln würde, würde mir das Strafgesetzbuch vorschreiben, wie ich mich zu verhalten habe, und meine Handlungsmöglichkeiten und damit meine Meinungsfreiheit stark einschränken.

Doch so absurd es ist, eine Anarchistin und einen Anarchisten als „Illegalisten“ zu bezeichnen, so lächerlich wäre es, ihr die Eigenschaft des „Legalisten“ zuzuschreiben. Wie könnte eine Anarchistin und ein Anarchist, ein Individuum, das sich eine Welt ohne Autorität wünscht, erwarten, seinen Traum verwirklichen zu können, ohne jemals gegen das Gesetz zu verstoßen, das der unmittelbarste Ausdruck von Autorität ist, d.h. ohne die Normen zu übertreten, die absichtlich aufgestellt und geschrieben wurden, um die soziale Ordnung zu verteidigen? Wer diese Welt radikal verändern will, muss sich früher oder später zwangsläufig gegen das Gesetz stellen, das sie bewahren soll.

Es sei denn… Es sei denn, der Wunsch, diese Welt zu verändern, der immer noch in den Herzen dieser Anarchistinnen und Anarchisten schwelt, wird in gewisser Weise den Sorgen über die Risiken untergeordnet, denen sie sich aussetzen könnten, darüber, von der Polizei verfolgt zu werden, darüber, dass gegen sie ermittelt wird, darüber, dass sie die Wertschätzung von Freunden und Verwandten verlieren. Es sei denn, die absolute Freiheit, die den Anarchistinnen und Anarchisten so viel bedeutet, wird zwar als etwas Großartiges und Schönes angesehen, aber hauptsächlich im Bereich der Theorie – die sich in dem harmlosen Geplänkel manifestiert, das nach einem erstickenden Arbeitstag auf den Sesseln ausgetauscht wird -, weil die Kraft der Herrschaft aus praktischer Sicht keine Hoffnung bietet. Dann ist es ratsam, aus der Utopie etwas Konkretes zu machen, das mit beiden Beinen auf dem Boden steht, und sie mit dem gesunden Menschenverstand zu verbinden, denn eine Revolution könnte nach keinem Strafgesetzbuch als legal angesehen werden.

Genug davon, das Unmögliche zu träumen; lass uns versuchen, das Erträgliche zu erreichen. Die Beschimpfungen einiger Anarchistinnen und Anarchisten gegen den Mythos der Illegalität haben einen ganz bestimmten Sinn: Sie rechtfertigen damit ihre eigennützige Neigung, sich dem Diktat des Gesetzes zu beugen und jedes törichte und maßlose Bestreben beiseite zu schieben.

Im Namen des Realismus, versteht sich.


Die Rudimente des Terrors

Die herrschende Ordnung und ihre Herausforderer stehen sich gegenüber. Ersterer hat alles: eine Organisation – den Staat – ökonomische Macht, militärische Macht, Kontrolle über die gesamte Nation. Die zweite hat nur wenig zur Verfügung. Nur eine bestimmte Anzahl von Menschen, die voller Verzweiflung sind und über ein paar rudimentäre Waffen verfügen. Aber diese wenigen sind von einer schrecklichen Triebkraft beseelt, dem Streben nach Dominanz, das groß genug ist, um sie dazu zu bewegen, ihre Herausforderung anzunehmen. Sie wissen, dass sie schwächer sind als ihr Gegner, also müssen sie zuschlagen und rennen, zuschlagen und rennen. Und wenn eine Macht – selbst im Keim – zuschlagen muss, kennt sie nur ein Mittel: Terrorismus, die Anwendung von absichtlich blinder und wahlloser Gewalt. So wie am 3. Dezember 1996 in Paris, als zwei Menschen durch die Explosion einer Bombe in einem U-Bahn-Wagen getötet und fünfzig weitere verletzt wurden.

Der Terrorismus ist zurückgekehrt – die Massenmedien auf der ganzen Welt haben begonnen, es zu schreien. Er ist zurück? Aber wann ist er jemals verschwunden?

Natürlich ist der Terrorismus der herausfordernden Macht unverhohlen und wird von den Medien des Gegners sofort als solcher angeprangert. Aber wer hat die Kühnheit, den Terrorismus der amtierenden Macht anzuprangern, den Terrorismus des Staates, insbesondere der mächtigen Staaten, die die globale Ordnung aufrechterhalten? Die Bilder der verstümmelten Leichen sind um die Welt gegangen und haben das Entsetzen aller geweckt, vielleicht so sehr, dass die Menschen vergessen haben, dass das „gemeine Volk“ für die Machthaber (und die, die es suchen) schon immer als Kanonenfutter galt. Ob sie in einer U-Bahn oder auf einem Schlachtfeld abgeschlachtet werden, macht keinen Unterschied.

Diese Toten und Verletzten sind genauso wie die Toten und Verletzten, die durch Luftangriffe verursacht werden, wie die, die das ganze Jahr über an Arbeitsplätzen, in Kasernen, auf Polizeistationen, in Krankenhäusern und in Gefängnissen auftreten. Wie die, die durch das Zupflastern wilder Landstriche, durch Atomkraftwerke, durch die Verunreinigung unserer Lebensmittel, durch die Luftverschmutzung oder durch die psychosomatischen Krankheiten verursacht werden, die durch die Lebensweise, die uns in dieser Welt aufgezwungen wird, verursacht werden.

Hier ist sie also, die Gewalt, die jeden blind und wahllos angreift. Hier ist er, der Terrorismus des Staates.


Arme Helden

„Sein Tod löste eine wilde Propaganda über den Helden Durruti aus. Jede Diskussion endete mit der Erwähnung seines Namens. Und jedes Mal, wenn er genannt wurde, wurde ein Stück seines Denkens und Wirkens getötet.“

Abel Paz, „Buenaventura Durutti“

Durutti ist wahrscheinlich der bekannteste Anarchistinnen und Anarchisten der Welt. Sein Name ist mit der spanischen Revolution verbunden, mit dem Sommer 1936, als sich das iberische Proletariat mit den Waffen in der Hand gegen die Macht erhob und die Armeekasernen angriff, die Kirchen niederbrannte und die Fabriken besetzte. Es ist dieser Kampf, in dem er zusammen mit den Leuten seiner Kolonne an der Front kämpfte, an den sich jeder erinnert. Das ist der Kampf, in dem er am Morgen des 20. November 1936 sein Leben verlor und durch den er für alle zum Helden wurde.

Und ein Held hat immer Recht. Niemand wagt es jemals, seine Aussagen oder seine Aktionen in Frage zu stellen. Keiner. Die dunklen Seiten von Helden müssen nie zur Schau gestellt werden; sie sind gerechtfertigt. Und Durutti hatte seine dunklen Seiten, wie jeder Mensch sie hat. Zu denen, die mit seinem Charakter verbunden sind, wie zum Beispiel sein Hass auf Homosexuelle, dazu gibt es nichts weiter zu sagen. Jeder Mensch ist so, wie er ist, und außerdem ist seither so viel Wasser unter den Mühlen der Geschichte geflossen. Aber was ist mit den Entscheidungen, die er in seinem Leben getroffen hat? Was kann man darüber sagen? Was kann zum Beispiel über seine Vergangenheit als Bankräuber gesagt werden? Heute, wo Anarchistinnen und Anarchisten im Gefängnis sitzen, die beschuldigt werden, Banken ausgeraubt zu haben, muss etwas darüber gesagt werden. Kann man den fernen anarchistischen Räuber loben, ihm ein schönes Gedenkbuch widmen und über die anarchistischen Räuberinnen und Räuber unserer Zeit schweigen? Eine Antwort darauf ist notwendig; der Vergleich ist viel zu offensichtlich. Und wie üblich findet sich die Antwort in seiner Zeit, in seinen unerbittlichen Raubzügen, in seiner Fähigkeit, Kontexte und Situationen „objektiv“ zu verändern. Und dann ist da noch der Mann, Buenaventura Durutti. War er nicht derjenige, der sagte – und das Wort eines Helden ist heilig – dass „ich damals diese Methode verfolgte, weil die Umstände anders waren als heute“, und „Banditentum, nein. Kollektive Enteignung, ja! Das Gestern wird durch den Weg der Geschichte selbst übertroffen. Und jeder, der sie wiederbeleben will und sich auf das ‚Recht zu leben‘ beruft, kann das tun, aber außerhalb unserer Reihen, indem er auf den Titel militant verzichtet und die individuelle Verantwortung für seine Aktion übernimmt, ohne das Leben der Bewegung oder ihr Ansehen bei der Arbeiterklasse zu gefährden“? Ja, er war wirklich derjenige, der das gesagt hat, und wir alle müssen uns daran erinnern. Jeder von uns.

Nur auf diese Weise kann man vergessen. Vergiss, dass diese Worte 1933 gesagt wurden, als es, um noch einmal Durutti zu zitieren, „eine Million Syndikalisten“ gab und „eine Bevölkerung, die auf den günstigen Moment wartete, um die große Revolution durchzuführen.“ Zu vergessen ist, dass Sabate, Facerias und andere Anarchistinnen und Anarchisten, die für individuelle Aktionen eintraten und dafür von anderen Anarchistinnen und Anarchisten verleumdet wurden, weil sie Angst hatten, dass ihre Organisation ihren guten Ruf verlieren könnte, diesen Kampf wieder aufnehmen würden, nachdem der günstige Moment, in dem er zu kollektiven Aktionen aufrief, vorbei war.

Aber sind wir heute in einem günstigen Moment für eine Revolution? Und außerdem: Beziehen sich Duruttis Gedanken nicht ausschließlich auf die Mitglieder der FAI/CNT? Sollten nicht gerade die Militanten dieser Organisationen auf ihre „Titel“ verzichten, wenn sie sich entschließen, eine Bank anzugreifen? Und was ist mit denjenigen, die nie Teil einer solchen Organisation waren und immer die Verantwortung des Individuums für ihre Aktionen bekräftigt haben? Wurde Duruttis Bedeutung ausgelöscht, um seine Worte gegen diese Menschen zu verwenden? Diejenigen, die etwas zu sagen haben, sind nur seine eigennützigen Interpreten, die damit beschäftigt sind, zum millionsten Mal zu bestätigen, dass es außerhalb der Kirche keine Erlösung gibt.

Armer Durutti. Sein Name – wenn er nicht gerade eine Feierabendkneipe für Gefährten und Gefährtinnen tauft – wird zu einem bloßen Mittel der Polemik degradiert.


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Die nächsten vier Texte wurden in Canenero abgedruckt, um eine laufende Diskussion anzuregen. Leider ging diese Diskussion nie über das hinaus, was hier abgedruckt ist, und über einige sehr kurze Erklärungen, die lediglich darauf hinausliefen, Partei zu ergreifen, anstatt die Debatte voranzubringen. Obwohl ich mir durchaus bewusst bin, dass sich die Situation in Italien 1996-7 im Detail von unserer heutigen Situation unterscheidet, bin ich dennoch der Meinung, dass die in diesen Texten dargelegten Ideen auch in Bezug auf die hiesige Praxis diskussions- und debattierenswert sind. Ich hoffe, dass sich einige dazu bewegen lassen, diese Diskussion in Bezug auf unsere Situation hier und jetzt weiterzuführen. – der übersetzer

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Kommuniqué aus dem Gefängnis

An dem Tag, an dem das Staat-Kapital in seiner doppelten Funktion als Richter und Unterdrücker seinen Racheprozess (im Occorsio-Saal des Gerichts in Rom am 10. Dezember, 1996) gegen die anarchistische Bewegung – ein archaischer Ritus der Beleidigung und Kriminalisierung der Übertreter der bourgeoisen Gesellschaft – in dem Versuch, jede Form von individuellem oder organisiertem revolutionärem Antagonismus im Kampf gegen die Ausbeutung des Menschen auszulöschen, bejahen wir furchtlos die kämpferische revolutionäre Aktion, ohne unrealistische Aphorismen oder Anathema werden wir unsere Identität als bewaffnete Organisation gegen den Staat behaupten.

An diesem hallenartigen Ort, der die Legitimität des bourgeoisen Rechts formal repräsentiert, werden wir militanten anarchistischen Antijudaismus praktizieren, indem wir uns der Farce der Prozessdebatte enthalten. Wir werden die mythische „de jure“-Justizdoktrin, das uralte normative Erbe von Staaten, die auf den uralten Usurpationen von Sklaverei, Folter und der Ausbeutung der Arbeitskraft anderer Menschen beruhen, nicht gutheißen. Sie garantiert die Verteidigung derjenigen, gegen die ermittelt wird, indem sie ihnen das juristische Instrument der Erwiderung anbietet, eine Möglichkeit, die „demokratische“ Form des staatsanwaltschaftlichen Prozesses zu garantieren, eine scharfe, korrupte und trügerische Methode, um von vornherein das Vorurteil gegen die Angeklagten zu verschleiern, die nicht vor Gericht erscheinen. Wir werden die Richter nicht anerkennen!

Die industrielle Zivilisation ist das höchste der Fortschrittsbestrebungen, die die staatlich-kapitalistische Gesellschaft anstrebt. Sie zwingt Millionen von Menschen auf der Welt dazu, die alte einheimische Kultur der Bevölkerung aufzugeben, um die moderne Kultur der Fabrik anzunehmen. Die großen Mittel, die der bourgeoise kapitalistische Staat einsetzt, sind nicht nur funktionale Produktionsmittel, sondern auch mächtige Organisatoren der Kultur, der Kultur, die sich in den Symbolen der Ware als Vermittler zwischen Produktion und Konsum niederschlägt.

Die Globalisierung der Ausbeutung, die jetzt so extrem normal ist, ist intellektuell. Die Verflachung des Gehirns auf die vorgegebenen Schemata der intelligenten Maschinen, die Homogenisierung der Kulturen der Völker auf die neuen Sprachen der Kommunikation und der Produktion sind das Ziel des neuen imperialistischen Kolonialismus. Der kybernetische Universalismus oder die multimediale Kommunikation ist ein Instrument der systematischen und quantitativen Reorganisation der neuen Weltordnung in den Bereichen des Marktes, des Kapitals, der institutionellen Ordnung und der territorialen Infrastruktur, der Repression von Widersachern, die sich der Homogenisierung des neuen Szientismus, des intellektuellen Standardisierers, widersetzen.

Indem wir uns kritisch mit den Erfahrungen der bewaffneten antagonistischen Bewegung der 1970er Jahre und insbesondere mit dem anarchistischen Erbe inspirieren, mit den Kämpfen für regionale Unabhängigkeit, stabilen Referenzen für unseren Weg des Konflikts mit dem Staat-Kapital, der darauf abzielt, sie durch aufständische Mittel auszulöschen, spielen wir daher auf der Grundlage dieses historischen Erbes auf den Aufbau einer kommunistischen Gesellschaft in anarchistischer Produktion im anti-legalistischen Sinne an, ohne Gerichte und Gefängnisse, durch den Kampf gegen jede Form von Regierung und Macht, die durch die Anstrengungen der Ausgebeuteten realisiert wird; eine ikonoklastische Gesellschaft, die durch freie Zusammenarbeit zwischen den Menschen und durch freie Bildung inspiriert wird.

Wir erkennen in diesem Gericht die kriecherische Rolle des Staatsdieners, der wie ein Höfling vom Schweiß der produktiven Arbeit der Arbeiterinnen und Bauern lebt und dafür sorgt, dass die ausgebeutete Bevölkerung weiterhin unterwürfig der bourgeoisen Justiz dient.

Jede revolutionäre Aktion gegen den Staat und die bourgeoisen Institutionen wird als Zeichen des Beginns und der Fortsetzung eines präzisen antagonistischen Weges beansprucht, den wir als kämpferische revolutionäre Aktion bezeichnen und für den wir die Verantwortung vor der Macht übernehmen werden.

Keinerlei Anspruch – zumindest von unserer Seite – auf Aktionen gegen den Staat mit dem A im Kreis, denn das setzt die anarchistische Bewegung ständigen Provokationen aus, während es richtig ist, spezifische Gruppen zu bilden, die die politische Verantwortung für ihre Aktionen übernehmen.

Unser kämpferischer Weg ist die Bildung einer kämpferischen, internationalistischen, antiimperialistischen anarchistischen Organisation im revolutionären Sinne, in Beziehung zu allen revolutionären Kräften, die beabsichtigen, die Ordnung des bourgeois-kapitalistischen Staates in seiner Phase der Globalisierung zu untergraben, um uns als einzigartiges produktives und organisatorisches Modell für die Beziehungen zwischen den Menschen vorzustellen.

Auf die vielgestaltige und getarnte Formation der kybernetisch-industriellen Macht werden wir mit breit angelegten und gezielten Aktionen reagieren, um sie sowohl auf dem Territorium als auch im urbanen Raum zu untergraben, in dem die organisatorischen und informationellen Infrastrukturen ihrer Herrschaft angesiedelt sind.

Lebendige Kraft für alle revolutionären Gefangenen und alle Kämpferinnen und Kämpfer, für eine neue freie, anarchistische und kommunistische antiautoritäre Gesellschaft.

Erinnern wir uns daran, alle Gefährten und Gefährtinnen zu rächen, die vom Feuer der Repression des Staatskapitals getroffen wurden.

Es lebe die Anarchie, es lebe der bewaffnete Kampf.

Rom, 1. Dezember 1996

Pippo Stasi, Karechin Cricorian

(Garagin Gregorian)


Die Fülle eines Kampfes ohne Adjektive

Eine Kritik an einem Brief von Stasi und Gregorian, in dem die Gründung einer bewaffneten Organisation vorgeschlagen wird. Der Artikel ist teilweise spezifisch für Italien und die Debatte zwischen Stasi, Gregorian und Canenero. Dennoch ist er für seine Kritik an der bewaffneten Organisation nützlich. – Killing King Abacus

Kürzlich wurde ein Kommunique aus dem Gefängnis in Umlauf gebracht, das wahrscheinlich nicht nur einige Gefährten und Gefährtinnen beunruhigen wird und das wir deshalb auf diesen Seiten abdrucken wollen. Trotz des proklamatorischen Tons und der Zweideutigkeit bestimmter Behauptungen scheint es uns, dass sie eine Hypothese ausgelassen haben könnten, die uns zu Zeugen dieser Ankündigung der Gründung einer anarchistischen Organisation macht. Das wäre aus verschiedenen Gründen unlogisch. Zum Beispiel haben seit Anbeginn der Welt bewaffnete Gruppen die Höflichkeit, sich zu erklären, nachdem sie agitiert haben, und in unserem Fall stellt sich heraus, dass der Name: „Revolutionäre Kämpferische Aktion“, nie etwas behauptet hat. Außerdem, wenn die unterzeichnenden Gefährten und Gefährtinnen wirklich eine bewaffnete Organisation gegründet hätten, würde sich ihr Dokument als ausdrückliche Selbstverleugnung vor der Magistratur erweisen, noch bevor sie irgendwelche Feindseligkeiten begonnen haben. Wäre dies der Fall, wäre es völlig unsinnig.

Daraus folgern wir, dass dieser Text als bloßer Vorschlag zu verstehen ist. Leider birgt die missgestaltete Sprache, mit der er formuliert wurde, die Gefahr, Missverständnisse und Unverständnis zu provozieren, die es im Interesse aller zu vermeiden gilt. Einfacher ausgedrückt glauben wir, dass Pippo Stasi und Garagin Gregorian die anarchistische Bewegung dazu auffordern wollen, über die in ihren Erklärungen enthaltenen Argumente nachzudenken, wie z.B. die Notwendigkeit für Anarchistinnen und Anarchisten, den Weg des bewaffneten Kampfes einzuschlagen und deshalb eine spezifische bewaffnete Struktur zu schaffen. Und da diese Gefährten und Gefährtinnen nicht gezögert haben, ihre Meinung zu äußern und dabei alle Verantwortung übernommen haben, denken wir, dass niemand es ihnen übel nehmen wird, wenn wir das Gleiche tun.

Wie wir bereits mehrfach in diesem Papier zum Ausdruck gebracht haben, sind wir entschieden gegen jede bewaffnete Organisation, auch gegen die unwahrscheinliche bewaffnete Organisation der Anarchistinnen und Anarchisten. Hier geht es nicht um eine einfache Meinungsverschiedenheit, sondern um einen wesentlichen radikalen Unterschied, der über jede Erwägung von Gelegenheiten oder Umständen hinausgeht. Wir sind heute gegen eine bewaffnete Organisation, so wie wir es gestern waren und auch morgen sein werden. Und das ist unsere Abneigung, das bestätigen wir, sie beschränkt sich nicht auf eine formale Meinungsverschiedenheit. Wir werden eine bewaffnete Organisation nicht nur niemals unterstützen, sondern ihr auch mit scharfer Kritik entgegentreten. Wir sind sowohl gegen ihre Gründung als auch gegen ihre Ausbreitung, weil wir sie als unseren Feind betrachten und daher nicht in der Lage sind, Perspektiven zu schaffen, die für uns wünschenswert sind.

Für uns ist das Individuum, das rebelliert, das Individuum, das sich gegen diese Welt auflehnt, die zu klein ist, um seine Träume zu fassen, nicht daran interessiert, sein eigenes Potenzial zu begrenzen, sondern würde es, wenn möglich, ins Unendliche erweitern. Freiheitsdurstig und erfahrungsgierig ist der Revoluzzer ständig auf der Suche nach neuen Affinitäten, nach neuen Instrumenten, mit denen er experimentieren kann, um das Bestehende anzugreifen und es von Grund auf zu untergraben. Denn der aufständische Kampf sollte Anregung und Energie in unserer Fähigkeit finden, sein Arsenal immer wieder mit neuen Waffen zu füllen, außerhalb und gegen jede reduktive Spezialisierung. Die Waffenexperten sind wie die Bücherexperten oder die Experten für Hausbesetzungen oder andere: Sie sind langweilig, weil sie immer nur über sich selbst und ihre Lieblingsmittel reden. Deshalb bevorzugen wir kein Instrument gegenüber anderen, wir lieben und unterstützen unzählige Aktionen mit den unterschiedlichsten Mitteln, die sich täglich gegen die Herrschaft und ihre Strukturen richten. Denn Revolte ist wie Poesie: Sie sollte von allen gemacht werden, nicht nur von einer Person, die die meiste Erfahrung hat.

Die spezifische bewaffnete Organisation ist die Negation dieses Aufstandes, der Parasit, der das Blut vergiftet. Während der Aufstand Freude und die Erkenntnis hervorruft, wie viel wir in unseren Herzen haben, verspricht die bewaffnete Organisation nur Opfer und Ideologie. Während der Aufstand die Möglichkeiten des Individuums verherrlicht, verherrlicht die bewaffnete Organisation nur die Technik ihrer Soldaten. Während der Aufstand ein Gewehr oder eine Dynamitstange nur als eine der Waffen betrachtet, die ihm zur Verfügung stehen, macht die bewaffnete Organisation sie zum einzigen Instrument, das sie einsetzt („Es lebe der bewaffnete Kampf“). Während der Aufstand danach strebt, sich zu verallgemeinern und alle einzuladen, an seiner Partei teilzunehmen, ist die bewaffnete Organisation notwendigerweise geschlossen – außer den wenigen Militanten bleibt den anderen nichts anderes übrig, als für sie zu singen. Von dem großen Projekt der Subversion des Lebens, das keine Grenzen kennt, weil es die gesamte Gesellschaft erschüttern will, kann die bewaffnete Organisation nur den marginalen Aspekt einer militärischen Auseinandersetzung mit dem Staat sehen – und ihn gegen alles andere eintauschen. Und deshalb verliert diese Auseinandersetzung, auch der bewaffnete Angriff auf den Staat, jede befreiende Bedeutung, jeden Hauch von Leben, wenn ihr ganzes Aufbegehren auf die Förderung eines Programms und eines Akronyms reduziert wird, das auf dem Markt der Politik gekauft wird.

Umgekehrt verschwindet in der Anonymität jegliches politisches Kalkül und hinterlässt an seiner Stelle tausend individuelle Spannungen und Schwingungen und die Möglichkeit, sich zu treffen, zu vereinen und zu zerstreuen. Was nützen dem, der keine Waren zu verkaufen hat, leuchtende Schilder? Was ist mit den Vorwürfen gegen die Aktionen mit dem A im Kreis, die die gesamte anarchistische Bewegung den Provokationen der Polizei aussetzen? Diese Angst wird sicher auch von anderen Anarchistinnen und Anarchisten geteilt, die von der Vorstellung terrorisiert werden, dass jemand an ihre Tür klopfen könnte. Für sie und ihre Gefährtinnen und Gefährten, die dieses Dokument unterschreiben, wird ein mögliches Akronym die Situation also sicher nicht lösen. Anstatt die Anarchistinnen und Anarchisten zu verdächtigen, eine Aktion mit dem A im Kreis unterzeichnet zu haben, würde die Polizei sie verdächtigen, dass sie sich selbst zu dieser speziellen Gruppe gemacht haben.

Dass die anarchistische Bewegung in den 70er Jahren spezifische Erfahrungen mit dem Kämpfermodell gemacht hat, erscheint uns heute als leichtfertige Behauptung, dass der Archipel „Revolutionäre Aktion“ – von dem wir annehmen, dass Stasi und Gregorian ihn meinen – nur um den Preis einer makroskopischen ideologischen Verzerrung als anarchistisch definiert werden kann. In der Tat hat die „RA“, die sich aus verschiedenen Ursprüngen zusammengefunden hat und anfangs von einem libertären und antistalinistischen Geist beseelt war, für eine kurze Zeit ihre eigenen Erfahrungen als anarcho-kommunistisch definiert und als Summe der verschiedenen Positionen der Gefährten und Gefährtinnen betrachtet. Andererseits wurde vielen Anarchistinnen und Anarchisten klar, dass genau diese bewaffneten Organisationen in jenen Jahren zur Stagnation des gesellschaftlichen Umsturzes beitrugen. Und diese kritischen Reflexionen sind nicht von heute, sondern wurden von verschiedenen Anarchistinnen und Anarchisten zu verschiedenen Anlässen geäußert.

Wir wissen nicht, welche Gründe Stasi und Gregorian dazu bewogen haben, diese Schrift in Umlauf zu bringen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ihr Vorschlag für uns nicht von dieser Welt zu sein scheint, ein wenig wie eine Rhetorik, die direkt aus den Debatten der 70er Jahre zu stammen scheint und die Luft verpestet. Vor allem gefällt es uns nicht, dass die Gefährten und Gefährtinnen das von der Macht gestellte Ultimatum (Reformismus oder bewaffneter Kampf) annehmen und sich auf ein dummes Fangspiel einlassen: Wenn wir schon beschuldigt werden, einer bewaffneten Bande anzugehören, die es nicht gibt, warum dann nicht eine echte Bande gründen? Diese Versuchung, diese Verlockung zu einer bewaffneten Organisation, die nichts zu bieten hat, hat auch uns erfasst, und wir werden nicht müde, sie zu kritisieren, wo immer sie sich manifestiert. Aufstand hat Wünsche und Gründe, die keine militärische Logik jemals verstehen kann.


Eine fehlende Debatte

Als wir vor drei Wochen das Kommuniqué von Garagin Gregorian und Pippo Stasi aus dem Gefängnis veröffentlichten, dachten wir, dass es vielleicht eine interessante und lohnenswerte Diskussion auslösen könnte. Das Dokument hätte eine endlose Reihe von Reflexionen über Themen auslösen können, die immer aktuell sind (Spezialisierung, spezifische bewaffnete Organisation, Angriff, Gerechtigkeit) und über andere, die zwar nie wirklich verschwunden waren, aber nach vielen Jahren wieder auftauchen und unser Leben erschüttern (zum Beispiel die Frage, ob man auf die Straße gehen sollte). Wir sind der Meinung, dass all diese Themen im Zusammenhang betrachtet werden sollten. Damit meinen wir, dass sie nicht nur auf der Grundlage der viel zu offensichtlichen Logik „Gefährten und Gefährtinnen sind erwachsen, entwöhnt und entscheiden selbst, was sie tun“ angegangen werden sollten. Diesen Punkt haben wir alle erreicht und es scheint lächerlich, ihn zu wiederholen. Es ist nicht so notwendig zu sagen, welche Vorstellung uns mehr oder weniger kompatibel mit „anarchistischer Ethik und Tradition“ erscheint, sondern welche sich in unserer Perspektive bewegen könnte. Eine bewaffnete Bande könnte möglicherweise auf horizontale Weise organisiert sein, aber was hat das mit unserem Aufstand zu tun? In dem Artikel, der das Kommuniqué der Gefährten und Gefährtinnen begleitete, haben wir nichts weiter getan, als die grundlegenden Banalitäten zur Frage des bewaffneten Kampfes zu bekräftigen, die wichtigen Dinge, die Canenero immer gerne betont hat. Aber so viele andere Fragen bleiben offen, Fragen, die früher oder später gestellt werden müssen.

Ein Beispiel für alle: Die Polizei klopft mit einem Haftbefehl an unsere Tür. Was machen wir, wenn wir es schaffen, ihnen zu entkommen? Pass auf, das ist ein ernstes Problem, denn die erzwungene Klandestinität sollte nicht zur Unterbrechung unserer Projekte führen. Wir sollten uns in die Lage versetzen, der neuen Situation so zu begegnen, dass wir die herrschende Ordnung immer noch angreifen und in all den Räumen, die wir trotz allem erobern können, weiterhin voll und ganz und mit Leidenschaft leben können. Dazu brauchen wir klare Ideen und brauchbare Werkzeuge, die uns helfen, unser Leben nicht auf die Flucht zu reduzieren – noch vor dem Haftbefehl. Diese Werkzeuge sind auch die neue Art und Weise, sich angesichts der neuen Situation zu organisieren, die neue Art und Weise der Kommunikation mit den Kämpfen im Gang und mit den Gefährten und Gefährtinnen, die nicht verfolgt werden. Alles mit der gleichen Perspektive der völligen Umwälzung des Lebens, des Opfers und des Existierenden, die uns beseelt hat, bevor wir auf die Flucht gehen mussten. Und was hat das schon mit einer bestimmten Kampforganisation zu tun – auch wenn sie horizontal ist, aber trotzdem Akronyme, Programme und die daraus folgenden Grenzen hat?

Auf jeden Fall haben wir uns geirrt. Die Debatte kam nur schwer in Gang und nur ein einziger Diskussionsbeitrag hat uns bis jetzt erreicht […]. Alle anderen waren kollektive Verlautbarungen und Stellungnahmen […], die sich nicht ausreichend mit den fraglichen Themen auseinandersetzen. Im Gegenteil, wir haben den Eindruck, dass sie zumindest teilweise einige gemeinsame Fehler aufdecken und uns dazu bringen, einige Dinge zu überdenken. Das erste ist, dass man lesen können muss. Damit meinen wir, dass man, wenn jemand schreibt, dass eine bestimmte bewaffnete Organisation, auch wenn sie sich als anarchistisch deklariert, eine Struktur ist, die wir als unseren Feind betrachten – wie wir in der letzten Ausgabe geschrieben haben -, weil sie ganz im Gegensatz zu den von uns erhofften Perspektiven steht, nicht lesen sollte, dass diejenigen, die sie vorschlagen oder praktizieren, unsere Feinde sind. Wenn wir zum Beispiel sagen würden, dass die anarchosyndikalistische Perspektive uns nicht nur fremd, sondern auch feindlich gesinnt ist, würden unsere Worte sicher nicht missverstanden werden. Niemand würde denken, dass wir vor den Häusern von Gefährten und Gefährtinnen, die diese Perspektive teilen, warten würden, um ihnen etwas anzutun, oder dass wir ihnen unsere Solidarität verweigern würden, wenn sie von Repression betroffen sind. Was uns berührt, ist, dass in ihrer Vision auch für uns ein Platz bereitsteht, den wir aber nicht besetzen wollen. Und unsere Kritik rührt daher, dass sie uns an diesem Ort einschließen wollen und wir uns nicht einschließen lassen wollen. Und diese beiden Perspektiven, unsere und ihre, haben von einer gegenseitigen, ständigen und heftigen Kritik, die auch hart sein kann, wenn es nötig ist, nur zu gewinnen. Denn nur durch Kritik können Distanzen vergrößert oder überwunden und Methoden gefunden werden, die das Aufeinandertreffen von Projekten, die so unterschiedlich sind, dass sie sich feindlich gegenüberstehen, lohnenswert machen.

Zu wissen, wie man liest, bedeutet auch, dass man, wenn jemand schreibt, dass eine Erfahrung wie die Revolutionäre Aktion (Revolutionäre Aktion – Azione Rivoluzionaria) nur um den Preis einer enormen Verzerrung als anarchistisch bezeichnet werden kann, nicht lesen sollte, dass es keine Anarchistinnen und Anarchisten in der AR gab. Es gab viele Anarchistinnen und Anarchisten in der AR, aber es gab auch viele andere respektable Gefährtinnen und Gefährten, die – und das ist nicht unsere Schuld – keine Anarchistinnen und Anarchisten waren. Nicht umsonst halten wir die Debatte über die AR für interessanter als die über die Roten Brigaden oder andere kämpfende Parteien.

Und dann – um einen weiteren Makel anzusprechen – wenn derjenige, der bestimmte Perspektiven vorschlägt, das Pech hat, im Gefängnis zu sitzen, können wir ganz sicher nicht die Rolle von Rotkreuzschwestern spielen, die alles, was aus dem Knast zu uns kommt, mit einem willfährigen Lächeln oder Applaus akzeptieren, selbst wenn wir es für Unsinn halten. Solange wir die Gefährten und Gefährtinnen im Gefängnis als arme Schlucker betrachten, die wir immer für richtig halten müssen, um ihnen keine Schmerzen zu bereiten, oder als Helden, die wir für richtig halten, weil Gefangene immer Recht haben, wird das Problem ungelöst bleiben, neue Situationen werden uns wieder unvorbereitet treffen und – im Gegenzug – werden die Gefährten und Gefährtinnen im Gefängnis immer mehr isoliert sein. Am besten wäre es, die Guerillakriegs- oder politischen Medaillenmythen aus unseren Köpfen zu schütteln – die Mythen, nach denen man umso revolutionärer und damit richtiger sein muss, je länger man im Gefängnis war oder sein muss – und leidenschaftlich über unsere Probleme nachzudenken, die auch die Probleme der Inhaftierten sind, die ebenfalls zu Wort kommen. Deshalb widmet Canenero diese Seiten diesem Thema […]

Schließlich schimmert in einigen der Stellungnahmen noch etwas durch: das Anliegen, dass Canenero die repräsentative Zeitung „eines Bereichs“ sein soll oder will. Canenero repräsentiert einen kleinen Teil des Lebens derer, die es herausgeben. Denke also nicht schlecht von uns, wenn wir nicht alle (alle aus welchem Bereich?) konsultieren, bevor wir sagen, was wir von dem halten, was auf uns zukommt, oder wenn wir nicht so viele Experten sind, um die Lehre zu lehren, da wir nichts mit Doktrinen zu tun haben wollen.

die Herausgeber von Canenero


Brief über Spezialisierung

(Das eigene Schicksal nicht ins Spiel bringen, wenn man nicht bereit ist, mit all seinen Möglichkeiten zu spielen)

Heute habe ich darüber nachgedacht, wie traurig es ist, in die Gewohnheit zu verfallen, uns über eine der vielen Tätigkeiten zu definieren, in denen wir uns verwirklichen, als ob diese Tätigkeit allein die Gesamtheit unserer Existenz beschreiben würde. All das erinnert viel zu sehr an die Trennungen, die der Staat und die Ökonomie unserem Leben auferlegen. Nimm zum Beispiel die Arbeit. Die Reproduktion der Existenzbedingungen (d.h. die Tätigkeit, sich anzustrengen, um zu essen, zu schlafen, warm zu bleiben usw.) sollte völlig eins sein mit dem Gespräch, dem Spiel, der ständigen Veränderung der Umwelt, den Liebesbeziehungen, dem Konflikt, kurz mit den Tausenden von Ausdrucksformen unserer Einzigartigkeit. Stattdessen ist die Arbeit nicht nur zum Mittelpunkt aller Sorgen geworden, sondern sie drängt im Vertrauen auf ihre Unabhängigkeit auch der Freizeit, dem Vergnügen, den Begegnungen und der Reflexion ihr Maß auf. Kurz gesagt, sie wird als das Maß des Lebens selbst dargestellt. Da dies ihre soziale Identität ist, wird fast jeder über die Arbeit definiert, die er ausübt, d. h. über das Elend.

Ich beziehe mich insbesondere auf die Auswirkungen, die die Fragmentierung, die die Macht dem Leben aller auferlegt, auf die Theorie und Praxis der Subversiven hat. Nehmen wir zum Beispiel die Waffen. Es scheint mir klar zu sein, dass eine Revolution ohne Waffen unmöglich ist, aber es ist ebenso klar, dass Waffen nicht ausreichen. Im Gegenteil: Ich glaube, je revolutionärer eine Veränderung ist, desto weniger ist der bewaffnete Kampf ihr Maß. Je umfassender, bewusster und freudiger die Veränderung ist, desto größer ist der Zustand des Nicht-Wiederkehrens, der im Verhältnis zur Vergangenheit geschaffen wird. Wenn die Subversion in jeden Bereich der Existenz getragen wird, wird die bewaffnete Verteidigung der eigenen Zerstörungsmöglichkeiten vollständig eins mit der Schaffung neuer Beziehungen und neuer Umgebungen. Dann wäre jeder bewaffnet. Andernfalls entstehen Spezialisten – zukünftige Bosse und Bürokraten -, die „verteidigen“, während alle anderen ihre eigene Sklaverei abreißen und neu aufbauen….

Das ist besonders wichtig, denn es sind nicht „militärische“ Niederlagen, die den Niedergang und den anschließenden Triumph der alten Welt auslösen, sondern das Absterben von autonomer Aktion und Begeisterung, die durch die Lüge von den „harten Notwendigkeiten des Übergangs“ (Opfer vor Glück im Kommunismus, Gehorsam gegenüber der Macht vor Freiheit in der Anarchie) erstickt werden. Und historisch gesehen findet die brutalste Repression immer genau in diesem Niedergang statt, nie im Moment des weit verbreiteten und unkontrollierbaren Aufstands. Paradoxerweise sollten Anarchistinnen und Anarchisten mit der Waffe in der Hand darauf drängen, dass die Waffen so wenig wie möglich gebraucht werden und dass sie nie von der Gesamtheit der Revolte getrennt werden. Dann frage ich mich, was „bewaffneter Kampf“ überhaupt bedeuten kann. Ich verstehe es, wenn ein Leninist davon spricht, denn er besitzt nichts von der Revolution außer dem Elend, das er anrichtet – den Staatsstreich, die Einnahme des Winterpalastes. Aber für einen Antiautoritären? Vielleicht könnte es angesichts der allgemeinen Weigerung, den Staat und das Kapital anzugreifen, die Bedeutung haben, die Wirkungslosigkeit jeder partiellen Opposition und die Illusion einer Befreiung zu betonen, die versucht, die herrschende Ordnung abzuschaffen, indem sie sie einfach „delegitimiert“ oder sich selbst anderswo verwaltet. Das könnte es sein. Aber wenn es etwas gibt, das parteiisch ist, dann ist es genau die Guerilla-Mythologie mit ihrem gesamten Bestand an Slogans, Ideologien und hierarchischen Trennungen. Man ist also harmlos für die Macht, wenn man akzeptiert, die Wege zu gehen, die sie kennt, und so dazu beiträgt, alle zu behindern, die sie nicht kennt. Was die Illusionen angeht, wie soll man sonst die These nennen, nach der das tägliche Leben – mit seinen Rollen, Pflichten und seiner Passivität – durch bewaffnete Organisation kritisiert wird. Ich erinnere mich genau an die These: Das Bestreben war, eine libertäre und nicht-vanguardistische Alternative zu den stalinistischen Kampforganisationen zu liefern. Die Ergebnisse wurden bereits in den Methoden festgehalten. Um den Staat und das Kapital anzugreifen, bräuchte man Akronyme, langweilige Forderungen, unleserliche Kommuniqués und den ganzen Rest. Und immer noch hören wir das Gerede vom „bewaffneten Kampf“ und von „kämpfenden“ Organisationen. Sich inmitten von so viel eigennütziger Amnesie daran zu erinnern, dass auch Waffen einen Teil des Kampfes ausmachen, kann nur positiv sein. Aber was bedeutet das? Dass wir keine Zeitschriften mehr herausgeben, keine Debatten mehr führen, nicht mehr öffentlich zur Beseitigung des Papstes aufrufen, keine Richter mehr mit Eiern oder Journalisten mit Joghurt bewerfen, bei Aufmärschen nicht mehr plündern, keine Räume mehr besetzen oder die Redaktion irgendeiner Zeitung blockieren sollen? Oder bedeutet es – genau wie es sich manche Richterinnen und Richter erträumen – dass dieses „Niveau“ einigen überlassen werden soll, damit andere zu Spezialisten des „Angriffs“ werden können? Außerdem mit der Absicht, die nutzlose Einbindung der gesamten Bewegung für die Aktionen einiger weniger zu ersparen, als wären es nicht Trennungen, die schon immer das beste Terrain für Repression bereitet haben.

Es wäre notwendig, die Angriffspraktiken von jeglicher „kämpferischen“ Phraseologie zu befreien, um sie zum wirklichen Treffen aller Revolten werden zu lassen. Das ist der beste Weg, um zu verhindern, dass sie in einen Trott verfallen. Umso mehr, als die Ausgebeuteten manchmal selbst zum Angriff übergehen, ohne auf eine Anweisung von irgendeiner Organisation zu warten. Die Unzufriedenheit wappnet sich gegen das terroristische Spektakel der Macht und nährt manchmal das Spektakel. Und Anarchistinnen und Anarchisten sollten nicht diejenigen sein, die sie entwaffnen. Um jedes Anzeichen von Unzufriedenheit zu verbergen, um zu zeigen, dass niemand – außer den neuesten „Terroristen“ – gegen die Demokratie rebelliert, versucht der Staat, eine geheime anarchistische Organisation zu erfinden, der er Tausende von Ausdrucksformen der Revolte zuschreibt – eine Revolte, die über jede Bande, ob bewaffnet oder nicht, hinausgeht – um sie zu negieren. Auf diese Weise schafft sie Ruhe und einen gesellschaftlichen Konsens. Gerade weil die Herrschenden unsere Aktivitäten in eine militärische Struktur einschließen und sie in verschiedene „Ebenen“ unterteilen wollen, müssen wir sie so weit wie möglich ausdehnen und zu einem revolutionären Projekt vereinen, das die bewaffnete Mythologie durch Exzess übertrifft. Jeder mit seinen eigenen Neigungen und Wünschen. Und mehr als das, indem wir die Subversion in jeden Bereich der Existenz tragen. Die Waffe, die alle Waffen enthält, ist der Wille, mit all seinen Möglichkeiten zu leben, sofort.

Und was ist mit der These, dass man angesichts der Macht seine Verantwortung übernehmen muss, indem man seine Aktionen einfordert? Es scheint mir klar zu sein, dass Abkürzungen, die man unbequemen Individuen anheften kann, die Polizei glücklich machen. Wenn Verantwortung also keine Lüge oder ein Vorwand für Kontrolle sein soll, muss sie individuell sein. Jede Person ist in ihren Aktionen für sich selbst verantwortlich. Die gegenseitige Anerkennung von Verantwortung findet nur auf einer Ebene der Gegenseitigkeit statt. Deshalb gibt es keine Verantwortung gegenüber denjenigen, die sich durch Ausbeutung gegen jede Gegenseitigkeit stellen. Gegenüber der Autorität gibt es kein Terrain – weder im politischen noch im militärischen Konflikt – der gemeinsamen Anerkennung, sondern nur Feindschaft. Was bedeutet es also, im Angesicht der Macht seine Verantwortung zu übernehmen? Könnte es vielleicht bedeuten – in perfekter leninistischer Manier – von ihr als Organisation anerkannt zu werden? Hier endet die Verantwortung und ihr kollektiver Ersatz, das Spektakel des sozialen Krieges, beginnt.

Der linke Demokrat, der das Gesetz respektiert, ist der erste, der sich in die Ikonographie der Guerilla verliebt (vor allem, wenn sie exotisch ist), und sobald die Guerilla ihre Waffen niedergelegt hat, ist er der erste, der allmählich von der Linken zu Gesetz und Demokratie zurückkehrt. Aus dieser Sicht trägt derjenige, der die aufständische Perspektive in ihrer ganzen Bandbreite für geschlossen erklärt und mehr oder weniger direkt dem Reformismus anhängt, dazu bei, das falsche Bedürfnis nach kämpferischen Organisationen zu verstärken – umgekehrte Projektionen der politischen Ohnmacht. Linke Militante sind sogar in der Lage, den Subcommandante Marcos zu benutzen, um ihre Rolle gegen Rechts durch das Spiel der Aufschübe zu legitimieren. Der Subcommandante seinerseits wünscht sich nichts sehnlicher, als demokratisch für sein Vaterland handeln zu können.

Wenn wir die mehr oder weniger modernisierten Leninisten hinter uns lassen, kommen wir in die Sphäre der Anarchistinnen und Anarchisten. Selbst hier, unter den Spezialisten der Debatte, haben viele die „Aufständischen von Chiapas“ in ihr Herz geschlossen, vorausgesetzt, dass von Aufstand – dieser infantilen Störung des Anarchismus – von unserer Seite nie die Rede ist… Und solange man den gebührenden Abstand zu denen einhält, die weiterhin darüber reden.

Am Ende eines Treffens über selbstverwaltete Räume erzählte mir ein Freund einmal, dass in den 1970er Jahren die feste Überzeugung herrschte, dass jeder, der eine Waffe benutzte, allein aus diesem Grund im Recht war, während es jetzt so aussieht, als ob diese Vernunft auf diejenigen übertragen wurde, die Räume besetzen. Auswechselbare Spezialisierungen. An sich ist das Besetzen von Räumen eine wichtige Kampfmethode, die die Möglichkeit jeder Subversion in sich birgt: die Entschlossenheit, die Hand auszustrecken und sich den Raum zu nehmen. Das bedeutet natürlich nicht, dass eine solche Methode allein die Welt der Zwänge und Waren auslöschen kann. Wie immer machen die Ideen und Wünsche derer, die sie anwenden, den Unterschied aus. Wer in den besetzten Räumen auf schlaffe Art und Weise nach der Garantie des Überlebens sucht, wird sie dort finden, genauso wie er – indem er die Besetzung selbst ins Spiel bringt – dort den Ausgangspunkt für seine grenzenlosesten Forderungen finden könnte. Das Gleiche gilt für Bücher, Sprengstoff oder Liebesaffären. Das Wichtigste ist, sich keine Grenzen zu setzen – weder in die eine noch in die andere Richtung -, die von den herrschenden Kriterien (Gesetz, Zahl, Glück des Erfolgs) entlehnt sind.

Ich persönlich kenne keine „Aufständischen“; ich kenne nur Individuen, die die Notwendigkeit des Aufstands unterstützen, jeder mit seinen eigenen Gründen oder Methoden. Eine Notwendigkeit, die, wie einer unserer Freunde sagte, durch die Tatsache bestimmt wird, dass es innerhalb der gegenwärtigen Gesellschaft nur möglich ist, verschiedene Wege zur Beantwortung der bestehenden Fragen vorzuschlagen (vielleicht mit direkter Demokratie, Staatsbürger Komitees usw.), während sich mit dem Aufstand die Fragen selbst ändern.

Und wenn wir jede Spezialisierung ablehnen, warum sollten wir uns dann als „Hausbesetzerinnen und Hausbesetzer“ bezeichnen? Warum sollten wir uns nur durch eine Praxis beschreiben? Ist es vielleicht, weil wir öffentlich über diese Praxis sprechen können, weil sie sich weiter verbreiten kann als andere und weil sie eine kollektive Dimension impliziert? Schlechte Kriterien, meiner Meinung nach. Man kann auch öffentlich von Sabotage sprechen, solange man nicht sagen muss: „Ich habe dies getan“ oder „der da hat das andere getan“, um eine Frage zu diskutieren. Es könnten auch mehrere Personen gemeinsam eine Sabotageaktion durchführen, aber wenn nur eine Person sie in die Tat umsetzt, verliert die Aktion dadurch nicht ihre Bedeutung. Mir scheint, dass die Frage nach der Verbreitungsfähigkeit an sich ein Grund zur Reflexion sein sollte, auf jeden Fall aber keine Maßeinheit. Wenn jemand, der gerne die Scheiben von Banken oder Einkaufszentren einwirft, zu dir sagen würde: „Hallo, ich bin ein Vandale“, würdest du lachen. Genauso lächerlich wäre es, wenn sich ein Subversiver als „Schriftsteller“ bezeichnen würde, weil er es nicht verachtet, ein Buch oder einen Artikel zu veröffentlichen. Ich habe noch nie gehört, dass sich Anarchistinnen und Anarchisten als „Saboteure“ bezeichnen. Wenn ich das jemals hören würde, würde ich denken, ich treffe einen Kretin. Außerdem: Wer hat jemals die Besetzung als solche kritisiert? Wer hat jemals gesagt, dass Dynamit „revolutionärer“ ist als Brechstangen? Den Kampf in all seinen Formen zu einer unteilbaren Gesamtheit zu machen – das ist der Punkt. Ich würde das nicht über den Kampf, sondern über mein Leben sagen. Ohne „Propaganda“ und „die Waffen der Kritik“, „bewaffneter Kampf“ und „die Kritik der Waffen“, „Alltag“ und „Revolution“, „Individuum“ und „Organisation“, „Selbstverwaltung“ und „direkte Aktion“, und weg mit dem Schubladendenken.

Aber wie willst du ohne konkrete Vorschläge (Arbeitskampf, die Besetzung von Räumen oder etwas anderes) ein breiteres Engagement schaffen? Vorschläge sind möglich, auch wenn man sich erst einmal einigen muss, was und mit wem. Aber solche Vorschläge sind entweder Instanzen einer theoretischen Kritik und einer globalen Praxis, oder sie sind… akzeptierte Vorschläge.

Dennoch darf nicht alles zerstört werden. Die Möglichkeit der Zerstörung darf nicht zerstört werden. Das ist kein Wortspiel. Zerstörung wird gedacht, gewünscht, projiziert und organisiert. Dabei wird kein nützlicher Beitrag, ob theoretisch oder praktisch, verschwendet, keine Methode aufgegeben. Mit schönen Proklamationen der Subversion kann man sicher nicht zum Angriff auf die Welt übergehen. Auf diese Weise wird man nur zum Rentner der Revolte. Die Möglichkeit der Zerstörung muss völlig neu erfunden werden, und niemand kann sagen, dass man sich dabei viel Mühe gegeben hat. Oft mit dem Alibi, dass man nichts konstruieren will, geht jemand tief in die Überlegungen hinein, und ebenso oft fehlt ihr der Wille, so offen und schnell wie ihre Ideen zu sein, sich zu weigern, den Ereignissen ausgeliefert zu sein. Kurz gesagt, die Fähigkeit, die Gelegenheit zu wählen. „Im Herzen des Anlasses ist alles eine Waffe für den Menschen, dessen Wille nicht entwaffnet ist.“

Ich wiederhole: alles zusammen oder nichts. Wenn man behauptet, die Welt nur mit Diskussionen, Besetzungen, Büchern oder Waffen unterwandern zu können, endet es damit, dass man versucht, Vollversammlungen zu leiten, Baracken zu besetzen, schlecht zu schreiben und noch schlechter zu schießen. Tatsache ist, dass man durch die Wiederholung dieser Banalitäten, die die Grundlage für den Beginn einer echten Diskussion sein sollten, langweilig wird wie die Spezialisten der Wiederholung. Die abgenutzten Dialoge ändern sich, indem sie die Situation ändern.

Massimo Passamani


Ein Abenteuer ohne Reue

Liebe Leserinnen und Leser,

was ihr in euren Händen haltet, ist die letzte Ausgabe von Canenero. Verschiedene Gründe haben uns dazu bewogen, diese Ausgabe zu beenden. Sie alle gehen auf das zurück, was wir im Leitartikel von Nr. 33, der ersten Ausgabe der neuen Reihe, gesagt haben: „Canenero ist eine Wette, die nur dann einen Sinn hat, wenn es jemanden gibt, der mitspielen will.“ Und nun sind diejenigen, die bereit waren, diesen Einsatz zu spielen, nicht mehr so.

Wir stehen nicht mehr für Canenero zur Verfügung, weil seine Veröffentlichung zu viel von unserer Lebenszeit in Anspruch nimmt und uns nicht nur daran hindert, andere Projekte durchzuführen, die uns am Herzen liegen, sondern auch daran, das Instrument, dem wir Leben eingehaucht haben, voll zu nutzen. Wenn eine anarchistische Wochenzeitung nicht nur ein Bericht sein soll, muss sie auch genutzt werden, und paradoxerweise hatten wir, die wir diese Wochenzeitung gemacht haben, nicht die Möglichkeit, sie so zu nutzen, wie wir es uns gewünscht hätten.

Außerdem erlaubte uns die begrenzte Länge für Artikel in einer wöchentlich konzipierten Zeitschrift wie dieser (die berühmten anderthalb Seiten) sehr oft höchstens, bestimmte Diskussionen zu umreißen, um sie dann ungelöst zu lassen. Da es undenkbar ist, dass die anschließende Vertiefung der Diskussion in einer Wochenzeitung dieser Art stattfinden kann, konnte sie nur an andere, geeignetere Orte gebracht werden, an die bis jetzt niemand gedacht hat. Letztendlich wurde diese Situation für uns unerträglich, vor allem weil es derzeit keine anderen Hilfsmittel gibt, wie z. B. Zeitschriften, die weniger häufig erscheinen, oder Bücher, die uns interessieren.

Schließlich haben wir festgestellt, dass eine Wochenzeitung gerade in Zeiten wie diesen nur sehr schwer in der Lage ist, zur Reflexion und zu sinnvollen Diskussionen anzuregen. Unglaublich, dass Canenero gerade durch die Entscheidung, Fragen zu stellen, selbst zum Gegenstand von Debatten geworden ist und nicht zu einem derjenigen, die an Debatten beteiligt sind. Um es klar zu sagen: Eine Wochenzeitung ist lebendig, wenn sie so viele Individuen wie möglich einbeziehen kann, d.h. wenn die geäußerten Ideen Kettenreaktionen auslösen können, sogar gewalttätige, wenn du so willst, vorausgesetzt, sie finden unter Bedingungen der Gegenseitigkeit statt. Andernfalls fällt das Papier auf sich selbst zurück und es bleibt ihm nichts anderes übrig, als zu sterben, wenn es nicht als erbärmliches Denkmal der Idee überleben will. Und so fehlt diese Konfrontation. Diejenigen, die mit unseren Ideen nicht einverstanden waren, trugen nichts bei, sondern schickten nur Briefe mit Beleidigungen und Anschuldigungen, ohne auch nur ein bisschen zu argumentieren. Und diejenigen, die unsere Ideen – wenn auch nur teilweise – teilten, trugen nicht dazu bei. Schlimmer noch: Wir mussten feststellen, dass der Wochenzeitung eine repräsentative Aufgabe übertragen worden war: die Stimme derer zu sein, die keine haben. Und die einzigen Diskussionen, die Canenero anscheinend anstoßen konnte, sind die über seine Fähigkeit oder Unfähigkeit, eine Aufgabe zu erfüllen, die keiner von uns je wollte. In dieser Hinsicht sind die Stellungnahmen, die in der letzten Ausgabe in der „fadenscheinigen Beilage“ erschienen sind, ein bezeichnendes Beispiel. Eine breit angelegte, interessante Debatte, die viele erdenkliche Facetten und Nuancen zum Ausdruck bringen könnte, wurde nicht durch das Aufeinandertreffen zweier unterschiedlicher Perspektiven geboren. Alles, was dabei herauskam, war eine beunruhigende Reihe von Erklärungen dafür oder dagegen. Aber wofür oder wogegen, und warum? Schweigen. Alle schweigen.

Ein Schweigen, das uns in unseren Zweifeln an der aktuellen Gültigkeit von Canenero bestärkt und die Notwendigkeit verstärkt, ein Analyseinstrument wie eine Wochenzeitung aufzugeben, die vielleicht aufgrund ihres zu engen Zeitplans keine bessere Auseinandersetzung mit den darin enthaltenen Ideen zulässt und sich unweigerlich darauf beschränkt, Probleme und Fragen aufzutürmen, die noch offen bleiben.

Aus all diesen Gründen haben wir beschlossen, Canenero einzustellen.

Ohne Bedauern.

Die Herausgeberinnen und Herausgeber


1Der Verlag Venomous Butterfly Publications hat eine Broschüre veröffentlicht, die sich speziell mit diesen Ermittlungen und dem Prozess befasst und einfach The Marini Trial heißt.

2Auch Il Manifesto genannt . – Übersetzer.

3„seine eigene Art von Anarchistinnen und Anarchisten“. – Übersetzer.

4Weigerung, sich an den Wahlen zu beteiligen, oder auch sich vom Arbeitsplatz fern zu halten. – Übersetzer.

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Gefunden auf le maquis, die Übersetzung ist von uns.


ELEMENTE FÜR DIE WIEDERBELEBUNG EINER ANARCHISTISCHEN PRAXIS DES REVOLUTIONÄREN ANTIMILITARISMUS

Redaktion der Zeitschrift „Anarchismo“

Der Entwurf und die Veröffentlichung dieser Broschüre wurde gemeinsam von den Gefährtinnen und Gefährten der Edizioni Anarchismo aus Catania und der Redaktion der Zeitschrift „Anarchismo“ aus Forlì betreut.

Herausgegeben von Edizioni della Rivista Anarchismo, Catania-Forli, März 1982, 32 S.

Über einige häufige Gefahren des antimilitaristischen Kampfes

Wenn wir heute eine Broschüre über Antimilitarismus und Krieg herausgeben, laufen wir Gefahr, unsere Stimme unter den vielen anderen zu verlieren, die im Chor Klagen und ängstliche Exorzismen gegen das Wiederaufleben des Kriegsmolochs anstimmen und damit jede Bedeutung verlieren und vom Sumpf einer Meinungsbewegung mitgerissen werden, deren Fäden am Ende in den Händen von… wer weiß wem liegen.

Da wir um jeden Preis versuchen wollen, ein solches Risiko zu vermeiden, und um unser Ziel, innerhalb der anarchistischen Bewegung für mehr Klarheit in dieser Frage zu sorgen, zumindest teilweise zu erreichen, werden wir die Möglichkeit nicht scheuen, polemisch oder manchmal auch unangenehm aufzutreten, in der Hoffnung, dass unsere Gefährtinnen und Gefährten das Konstruktive und Proaktive an unserer Haltung begreifen können.

Das Argument der Opposition gegen den Krieg ist eines der klassischsten im theoretischen Erbe des Anarchismus und von einem bestimmten Standpunkt aus könnte man nicht zu Unrecht behaupten, dass Luigi Galleanis berühmter Aussage „Gegen den Krieg, gegen den Frieden, für die soziale Revolution!“ in dieser Hinsicht wenig Bedeutendes hinzugefügt werden kann. Da jedoch zwischen dem Sagen und dem Tun wie immer das Meer … unserer subjektiven Begrenzungen liegt, kann es nicht schaden, zunächst die Fehler zu untersuchen, in die anarchistische Gefährtinnen und Gefährten am häufigsten verfallen, wenn sie sich dem Thema Krieg und Antimilitarismus im Allgemeinen nähern.

Eine erste Einschränkung, die umso schwerwiegender ist, als sie oft die gesamte Herangehensweise an die Frage verfälscht, ist die, dass wir uns dem Thema Krieg nähern, indem wir ihn als eine Sache für sich behandeln, eine Art monströses Krebsgeschwür, das von der gesamten sozialen Situation, in die wir eingreifen, losgelöst ist, eine Art Bedrohung, die dermaßen so wie ein UFO wirkt, dass sie manchmal aus dem Vakuum des tiefen Weltraums auf unserem Radar erscheint.

Wenn wir auf dieser falschen Grundlage beginnen, sprechen wir bald von der Kriegshypothese als etwas, das nichts mit den „normalen“ Bedingungen der Unterdrückung zu tun hat, mit denen wir täglich konfrontiert sind, wie ein unglückliches, unvorhergesehenes Ereignis, das von wer weiß woher über uns hereinbricht, wie ein obskurer Fluch, der uns von wer weiß was für einem bösen metaphysischen Wesen entgegengeschleudert wird und angesichts dessen sich unsere üblichen Kampfmittel plötzlich als harmlos, nutzlos und unbrauchbar erweisen.

Sobald wir in diesen millenarischen Ansatz abrutschen, scheint jede vorherige analytische Anstrengung vereitelt zu werden, jede Handlungsmöglichkeit scheint angesichts des außergewöhnlichen Ereignisses zu zerfließen, jeder Versuch, sich dagegen zu wehren, erscheint unzureichend, so dass es ab einem bestimmten Punkt nichts Besseres zu tun gibt, als uns in den Arsch zu kriechen und uns von unseren Lieben zu verabschieden (wie es ein berühmtes amerikanisches Anti-Atomkraft-Manifest aus den 1960er Jahren ausdrückte).

Außerdem ist es nur allzu offensichtlich, dass wir, sobald wir aufhören, unsere Überlegungen und Vorschläge innerhalb der konstanten theoretischen und praktischen Bezugspunkte der anarchistischen Aktion zu formulieren, völlig entwaffnet und verloren dastehen und scheinbar gezwungen sind, unsere Hoffnungen den Instrumenten anzuvertrauen, die uns der Klassenfeind zur Verfügung stellt, und einer Art von frontalem Humanismus, in dem jede soziale, ideologische, klassenmäßige oder strategische Unterscheidung verblasst und sich in der unbedingten Notwendigkeit verliert, zu „retten, was zu retten ist“.

Glücklicherweise liegen die Fehler eines solchen Ansatzes auf der Hand, und man kann sich nur wundern, wie leicht manche Gefährtinnen und Gefährten sie aus den Augen zu verlieren scheinen: Krieg ist nichts anderes als die „übliche“ Realität der staatlichen Herrschaft über uns, im Gegenteil, wir leben jeden Tag mit ihm, mit den Waffen und Armeen, die ihn bekämpfen sollen, mit den Regierungen und Staaten, die ihn leiten, ja, wir selbst sind, gerade weil wir Revolutionäre sind, seine prädestinierten Opfer. Nicht nur das: Krieg ist die lebenswichtige, normale Bedingung für die Existenz der Macht, das einzige Instrument, mit dem sie sich seit Jahrhunderten gegen die Befreiungsforderungen der Bevölkerungen und ausgebeuteten Klassen durchsetzen kann. Es handelt sich also nicht um eine bedauerliche und mehr oder weniger ferne Möglichkeit, die es abzuwenden gilt, sondern um eine konkrete und greifbare Realität, die es zu beseitigen gilt, eine Realität, die sich mit allen anderen Instrumenten, mit denen uns die Klassenherrschaft aufgezwungen wird, verbindet und durchdringt.

Nur wenn wir dieses alltägliche Wesen des Krieges verstehen und ihn als Teil des Kampfes, den wir ständig und an allen Fronten führen, in die Komplexität unseres revolutionären Daseins einbeziehen, können wir uns auf die Besonderheit der Probleme vorbereiten, die er uns stellt.

Ist der Stolperstein, den dieses falsche Problem darstellt, erst einmal überwunden, ist der Einwand, der am leichtesten vorgebracht werden kann, dass es auch einen Unterschied gibt zwischen einer sozusagen schleichenden oder begrenzten Kriegssituation (mit der wir es bereits zu tun haben) und der Möglichkeit eines innerimperialistischen Konflikts im Weltmaßstab, dem sogenannten entfesselten Krieg, der von vielen Seiten droht. Es ist nicht schwer, sich darauf zu einigen, dass es eine Sache ist, im Corriere della Sera über die Geschehnisse in Palästina oder Indochina zu lesen und eine ganz andere, Bomben über das eigene Hausdach pfeifen zu hören, eine Sache, am Arbeitsplatz oder an einem Carabinieri-Kontrollpunkt Opfer eines Mordes zu werden und eine ganz andere, die eigene Stadt von Napalm verbrannt zu sehen.

Dieser scheinbar regionale Einwand stößt gerade dadurch an seine Grenze, dass wir als Anarchistinnen und Anarchisten die Fähigkeit und den Willen haben müssen, über das hinauszugehen, was in der wohligen Wärme unserer Lesesäle geschieht, ein Komfort, der vielleicht die überfütterte Bourgeoisie oder sogar den vom Reformismus verdummten Proletarier zufriedenstellt, aber sicher nicht uns, die erbitterten Gegner jedes Staates, jeder Unterdrückung und jeder Macht, in welcher Form und in welcher Situation sie sich auch immer manifestieren.

In Wirklichkeit beruht die scheinbare Konkretheit dieser Unterscheidung zwischen Krieg und Krieg auf nichts anderem als einem Paradoxon, demzufolge der Krieg heute zwar eine Realität ist, die die Iraker oder Afghanen oder, wenn du so willst, die Russen und Amerikaner direkt betrifft, aber noch nicht die Italiener oder die Europäer im Allgemeinen, die daher noch alles tun könnten, um ihn abzuwenden (vor einigen Monaten veröffentlichte eine italienische anarchistische Zeitschrift einen Artikel mit einer solchen Analyse!)

Wir werden den guten Geschmack haben, das Paradoxon, das uns vorgeschlagen wird, nicht weiter zu treiben, und unter dem Vorwand, alle anderen offensichtlichen Ungereimtheiten einer solchen These zu ignorieren, sagen, dass sie zeigt, dass sie die Merkmale der modernen Kriegsführung absolut ignoriert, so dass, wenn vor etwas mehr als einem halben Jahrhundert der Krieg zwischen Bolivien und Paraguay von den europäischen Militärmächten mühelos ignoriert werden konnte (wie es unsere Geschichtslehrbücher ja auch tun), heute führen die Komplexität der strategischen Gleichgewichte, die Ausdehnung des Waffenmarktes, das Netzwerk ökonomischer Interessen und die gegenseitige Durchdringung politischer und militärischer Strategien auf übernationaler Ebene dazu, dass es keinen Teil des Globus gibt, der nicht direkt in die „begrenztesten“ Konflikte zwischen den entferntesten Ländern der Welt verwickelt ist und sich dafür interessiert.

Außerdem fragt man sich, wozu diese Theorie, dass „das Schlimmste immer erst noch kommt“ und „das, was jetzt passiert, noch nichts ist“, führen kann, wenn nicht zu einer sturen Akzeptanz des Status quo, die einem „echten“ Krieg vorzuziehen scheint… Andererseits ist bekannt, dass Kriege nicht nur mit Waffen, sondern auch mit Propaganda geführt und gewonnen werden, und das gilt heute umso mehr, wie das Beispiel Vietnam und viele andere zeigen. Und was könnte es für eine bessere Propaganda geben als die, die uns zeigt, dass wir Glück haben, wenn wir das kleinere Übel erleiden müssen?

Es lohnt sich nicht, weiter auf der Tatsache zu beharren, dass der moderne Krieg überall ist (wie viele Satelliten schweben über unseren Köpfen, um Krieg zu führen?), sondern wir werden uns stattdessen mit dem größten Hindernis befassen, an dem die Versuche scheitern, dem Problem der Aktionen gegen den Krieg eine reale Dimension zu geben: Dieses Hindernis ist das nukleare Risiko.

Angesichts der Möglichkeit, dass ein Konflikt ausbricht, bei dem Atom-, Wasserstoff- und Neutronenbomben im großen Stil eingesetzt werden, ganz zu schweigen von den riesigen bakteriologischen Arsenalen in den Händen der Supermächte, und der als einzige mögliche Konsequenz das Verschwinden der menschlichen Zivilisation, wie wir sie bisher kannten, zur Folge hätte, hört man von vielen Seiten, dass es keinen Sinn mehr ergibt, sich weiterhin auf Klassenunterschiede oder Unterschiede in der revolutionären Strategie zu beziehen.

Leider gibt es keinen Mangel an anarchistischen Gefährtinnen und Gefährten, die bei der Behandlung von Fragen im Zusammenhang mit der Atomenergie auf solche Aussagen zurückgreifen, einerseits in der Absicht, die „soziale Basis“ zu verbreitern, in der sie Unterstützung sammeln können („es ist ein Problem, das die ganze Menschheit betrifft“), und andererseits in dem Versuch, bestimmte frontistische und klassenübergreifende Entscheidungen zu rechtfertigen, die in dem irrigen Glauben getroffen werden, dass es in einem solchen Fall keine andere Alternative gibt.

Argumente und Verhaltensweisen dieser Art beruhen nicht auf logischen oder stichhaltigen Argumenten, sondern appellieren einfach an eines jener Gefühle, die alle Menschen unabhängig von ihren Ideen oder ihrer Klasse vereinen sollten: So wie wir in anderen Fällen immer wieder die berühmte „Respekt vor dem menschlichen Leben“ zu hören bekamen (leider war es nicht nur Pertini, der dieses mysteriöse Gespenst heraufbeschwor…), ist es diesmal die Angst, die zur Rechtfertigung jeglichen Unsinns herangezogen wird.

Um es deutlicher zu sagen: Unserer Meinung nach geht es nicht so sehr um die Angst, ein sehr verbreitetes und nicht immer verwerfliches Gefühl, sondern vielmehr um den Schrecken, d. h. um den besonderen Angstzustand derjenigen, die darauf verzichtet haben, sich selbst durch Vernunft und Willen zu kontrollieren: Und dagegen haben wir kein Wundermittel, das die Gefährtinnen und Gefährten immunisieren könnte, und es wäre auch nicht sinnvoll, Anathema gegen diejenigen zu erheben, die sich von solchen Geisteszuständen einnehmen lassen.

Es scheint uns jedoch klar zu sein, dass eine solche Haltung zu nichts Positivem führen kann und dass das nukleare Risiko mit diesen „Massen verschiedener Menschen“ sicher nicht irgendwie abgewendet werden kann. Da die Entscheidung darüber, ob ein atomarer Konflikt entfesselt wird oder nicht, ausschließlich in den Händen der Machthaber auf höchster Ebene liegt, gibt es nur zwei Möglichkeiten, mit dem Problem umzugehen. Zum einen könnte man davon ausgehen, dass diese „Kriegsherren“ bereit sind, bei ihren Entscheidungen die Meinung genau der Menschen zu berücksichtigen, denen sie die Instrumente des Terrors oder des Todes in die Hand gegeben haben, oder dass es auf jeden Fall möglich ist, sie durch den sogenannten „öffentlichen Meinungsdruck“ in irgendeiner Weise zu beeinflussen. Selbst wenn wir bei einer solchen Hypothese die Schwierigkeiten bei der „Ansprache“ der öffentlichen Meinung ignorieren wollen, bei der der Feind über so viel mehr Überzeugungsinstrumente verfügt als wir (und das ist schließlich seine Aufgabe, nicht unsere!), könnten wir genauso gut eine explizit reformistische Politik konsequenter verfolgen, die genau auf der Behauptung beruht, dass es möglich ist, die obersten Ränge mit Hilfe von Delegationsmechanismen dazu zu bringen, nach den Wünschen der Basis zu handeln. Wie dem auch sei, das Ergebnis wäre genau das: Unsere Bemühungen würden von einer „fortschrittlichen“ Partei verschluckt, die nicht nur die Tricks und Tücken eines solchen Geschäfts viel besser kennt als wir, sondern auch über die notwendigen Instrumente und Apparate verfügt, um diese Art von Kampf zu führen. Sollten wir andererseits noch genügend Verstand haben, um zu erkennen (oder uns einfach nur daran zu erinnern…), dass man nur das bekommt, was man durch Kampf erobern kann, dann wissen wir auch, dass die „Kriegsherren“ nur mit denen rechnen, die es schaffen, es ihnen aufzuzwingen. In einem solchen Fall können wir sicherlich nicht darauf hoffen, dass die zusammengesetzten Reihen der „terrorisierten“ in der Lage sein werden, einen so harten und blutigen Kampf wie den, der in der gesamten Atomfrage angedacht ist, bis zum Ende zu führen, in dem so unterschiedliche und unvereinbare Interessen nebeneinander bestehen, dass es nicht nur unmöglich wäre, ein ernsthaftes Projekt in einem revolutionären und anarchischen Sinne zu verfolgen, sondern dass wir selbst am Ende die Orientierung verlieren und in einem Meer von Partikularismus und korporativen Bedürfnissen, von Kompromissen und Richtungswechseln untergehen würden.

Es ist daher offensichtlich, wie völlig sinnlos und gefährlich es ist, in den Chor derer einzustimmen, die das Gespenst des atomaren Holocausts heraufbeschwören, wahrscheinlich mit dem einzigen Ziel, die Aufmerksamkeit davon abzulenken, wie uns der Tod schon heute allmählich, aber unaufhaltsam aufgezwungen wird, und vor allem davon, was jetzt getan werden kann, um die Situation umzukehren.

Da es für jeden, der nicht böswillig ist, schon lange klar ist, dass „wir alle im selben Boot sitzen“, führt diese Art von Anti-Atom-Humanität nur dazu, dass alles so bleibt, wie es ist: die Mächtigen auf ihren Schlachtschiffen, die Glücklichen auf schnittigen Ozeandampfern und wir Elenden auf zerlumpten Rettungsbooten und Flößen.

Nur wenn wir die infantile Phase der „großen Angst“ überwinden, können wir uns auf die folgenden Fallstricke vorbereiten, die der Verwirklichung einer antimilitaristischen Praxis noch im Wege stehen, die, ausgehend von den Grundannahmen der libertären Praxis, das Fundament für das Wachstum einer echten Antikriegs-Klassenbewegung legt.

Die erste und offensichtlichste dieser Fallstricke ist das Risiko, gerade heute in den Sumpf des Pazifismus abzurutschen, dessen stagnierende Gewässer leider weite Teile der Bewegung, die sich um solche Themen gebildet hat, befallen. Eine korrekte anarchistische Kritik an jeder Art von Armee und Militarismus zu formulieren, bedeutet auch, sich nicht auf abstrakte Verallgemeinerungen einzulassen (und diese auch nicht zu entlarven), die die soziale Realität, die immer unser erster Bezugspunkt bleiben muss, aus den Augen verlieren und uns zwar faszinierende philosophische Reden halten lassen, uns aber im Kampf für die Zerstörung des bestehenden Militärapparats keinen einzigen Schritt weiterbringen.

Der Antimilitarismus ist leider ein bevorzugtes Jagdgebiet für die seltsamsten Exemplare der pseudorevolutionären Fauna oder Schlimmeres. Von Radikalen bis zu den Zeugen Jehovas, von Christen aller Sekten bis zu Intellektuellen im Rausch des Purismus scheint jeder einen guten Grund zu haben, seine Zeit damit zu verbringen, Proklamationen zu verfassen oder zu Kreuzzügen gegen die Rüstung aufzurufen. Das tragischste Beispiel für diese Art von Unternehmungen ist die Lega per il Disarmo Unilaterale (A.d.Ü., Unilaterale Abrüstungsliga), ein großer Hexenkessel, der durch die senilen Wahnvorstellungen von Carlo Cassola entstanden ist und der es nicht versäumt hat, selbst alte und ruhmreiche Militante unserer Bewegung zu verführen, zusammen mit anderen, die weniger mit Jahren und Ruhm beladen sind.

Wir sind der Meinung, dass Fehler dieser Art (und die L.D.U. ist nur der markanteste Fall) nicht einfach auf die Leichtgläubigkeit der Gefährtinnen und Gefährten geschoben werden können, die ihnen zum Opfer fallen, sondern vielmehr auf eine falsche Analyse der Situation, die sich nicht auf einen bestimmten Bereich beschränkt, sondern sich auf die Bewertung des gesamten gesellschaftlichen Panoramas erstreckt.

Wenn man davon überzeugt ist, dass es innerhalb des derzeitigen Herrschaftssystems noch möglich ist, Räume wirklicher Freiheit festzustellen, die „freundlich gewährt“ und möglicherweise verhandelbar sind, wenn man glaubt, dass der Anarchismus zu einer der vielen Ideologien werden kann, deren Brauchbarkeit der Kulturmarkt garantiert, und dass er vielleicht auch „modulierbar“ sein kann mit dem, was wir in den verschiedenen Untermarken des sozialdemokratischen Garantismus „annehmbar“ finden könnten, dann steht der Weg für jedes Abenteuer offen und es wird sehr schwierig, sich gegen die Irrtümer und Missverständnisse aller Art abzusichern. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass es für die Gefährtinnen und Gefährten immer schwieriger wird, ihre eigene ideologische und soziale Identität zu bewahren, wenn sie sich erst einmal unter diese bunten Wagen gemischt haben, und so zu vermeiden, dass diejenigen, an die sich unser Diskurs richten sollte, (nicht ohne Grund) alles über einen Kamm scheren und uns wie die Reisegefährten behandeln, die man unklugerweise ausgewählt hat. Bevor wir zum Schluss dieser zusammenfassenden Analyse der Risiken kommen, die eine oberflächliche Herangehensweise an den antimilitaristischen Kampf mit sich bringt, möchten wir die Aufmerksamkeit der Gefährtinnen und Gefährten auf eine letzte Gefahr lenken, die wir im Laufe unserer militanten Aktion immer im Hinterkopf behalten müssen.

Es gibt Zeiten, in denen bestimmte Themen eine breitere Aufmerksamkeit auf Massenebene erhalten und in denen es der Agitation zu bestimmten Themen gelingt, die Beteiligung von sozialen Schichten und Sektoren zu sichern, die bei anderen Gelegenheiten viel widerstandsfähiger gegen jeden Mobilisierungsversuch zu sein scheinen. Begünstigt wird diese Tatsache häufig durch eine akkurate, wenn auch manchmal falsch dargestellte Aufklärungskampagne des staatlichen Informationsapparats, die Ziele und Projekte verfolgt, die bei oberflächlicher Betrachtung nicht immer leicht zu durchschauen sind.

Zweifellos ist dies heute beim Thema Krieg der Fall, zu dem uns das Fernsehen, das Radio und die Zeitungen unablässig einhämmern, was sicherlich nicht ganz unabhängig von der Entwicklung der großen pazifistischen und antimilitaristischen Bewegungen zu sehen ist, die in letzter Zeit in ganz Europa ein wenig aufgekommen sind.

Unter solchen Bedingungen kann es leicht passieren, dass wir uns von der klassischen quantitativen Illusion leiten lassen und uns fast ausschließlich damit beschäftigen, die Situation auszunutzen, um unsere Präsenz künstlich aufzublähen und einen möglichst großen (aber gleichzeitig wahllosen) Konsensbereich um uns zu scharen. Das führt vor allem dazu, dass wir in Bezug auf die Positionen, die wir vertreten, manchmal übermäßig „elastisch“ sind, gerade um diese zweideutigen „Sympathien“ zu gewinnen und zu erhalten, die uns eine Art Verhandlungsmacht zu sichern scheinen, die wir nicht nur nicht haben, sondern die uns auch gar nicht interessieren sollte.

In Wirklichkeit hat dieser quantitative Mythos nichts mit der angemessenen Aufmerksamkeit zu tun, die wir immer der Möglichkeit widmen müssen, durch Agitation und Propaganda neue Militante heranzuziehen, die unseren Kampf verstärken werden, eine Arbeit, die uns nur möglich ist, wenn unsere Positionen klar und eindeutig genug sind, um das Risiko von Missverständnissen zu minimieren und uns genau gegenüber der großen Menge von mehr oder weniger aufrichtigen revolutionären Gruppen zu qualifizieren.

Das Schlimmste aber ist, dass wir mit einer solchen Haltung das verfehlen, was immer unser Hauptziel als spezifische anarchistische Minderheit bleiben muss, nämlich unseren eigenen persönlichen und originellen Beitrag zum Kampf zu leisten, mit Aktionen, die präzise Hinweise im Sinne der Radikalisierung und Ausweitung des Kampfes, im Sinne der aufständischen Perspektive, darstellen. Dies zu vergessen bedeutet, unserer Intervention jegliche Bedeutung in einem revolutionären Sinne zu nehmen und sie auf eine rein politische Präsenz im abschreckendsten Sinne des Wortes zu reduzieren, die nicht in der Lage ist, die bestehenden sozialen Beziehungen zu stören.
Abschließend möchten wir versuchen, aus dem bisher Gesagten einige Hinweise im proaktiven Sinne für unsere Praxis des revolutionären Antimilitarismus abzuleiten, die zwar kein Programm darstellen wollen, aber erste Anhaltspunkte für die Debatte und Intervention der Gefährtinnen und Gefährten liefern können.

Zuallererst ist es notwendig, das Problem von Krieg, Frieden und Militarismus in eine präzise soziale Vision der anarchistischen revolutionären Praxis einzubetten, die sich auf eine genaue Analyse der bestehenden Klassenbeziehungen bezieht und uns davor bewahrt, in jede Art von Bevorzugung von Teilinteressen, Humanitarismus, Interklassismus (A.d.Ü., klassenübergreifende Praxis) und emotionalem Katastrophismus abzugleiten. Unser Kampf gegen die Armeen muss daher Teil eines umfassenderen Kampfes sein, der in erster Linie darauf abzielt, diejenigen Klassen und sozialen Schichten zu ermutigen, die aufgrund ihrer spezifischen Situation der Ausbeutung und Unterdrückung eher bereit sind, sich auf das Terrain der direkten Konfrontation mit dem Staat und seinen Dienern zu begeben.

In Abgrenzung zu radikalem Pazifismus und intellektualistischem Antimilitarismus müssen wir unsere Kritik an allen Armeen und allem Bellizismus auf ein genaues Verständnis dessen stützen, was Krieg heute ist und wie es möglich ist, die militärischen Strukturen des Staates anzugreifen. Dabei geht es nicht so sehr um einzelne oder beispielhafte Handlungen (wie z. B. die Weigerung, die Uniform zu tragen), die vielleicht nützlich und zu unterstützen sind, sondern um eine nachhaltige Intervention im Laufe der Zeit, die darauf abzielt, neue Möglichkeiten für die Verallgemeinerung der antimilitaristischen Konfrontation und konkrete Hinweise für ihre mögliche zukünftige Entwicklung zur aufständischen Entwicklung zu schaffen.

Eine sorgfältige und detaillierte Untersuchung der verschiedenen Arten von Militärpräsenz auf dem Territorium und ihrer Funktion im antiproletarischen und repressiven Sinne (Kasernen, Gefängnisse, paramilitärische Korps und Einrichtungen, Kriegsindustrien oder solche, die mit diesem Sektor verbunden sind, Kriegspropagandaapparate usw.) wird es uns ermöglichen, unsere Gegeninformationsarbeit effektiv und rechtzeitig zu gestalten, um die Bedingungen für die Entwicklung einer Klassenbewegung zu schaffen, die in der Lage ist, den staatlichen Militärapparat abzulehnen, zu boykottieren, zu sabotieren und schließlich unzuverlässig und damit unschädlich zu machen.

Wir glauben, dass es in diesem Rahmen möglich ist, in einer vertieften Debatte unter den Gefährtinnen und Gefährten zur Ausarbeitung von Koordinierungsinstrumenten und Arbeitsvorschlägen zu gelangen, die es uns wirklich ermöglichen, unsere Aufgabe als anarchistische Revolutionäre zu verwirklichen: den Krieg ins Reich des Krieges zu holen!

Der Krieg, der Frieden und die anarchistische Aktion heute

Die letzten sechs Monate waren dadurch gekennzeichnet, dass das Thema Krieg in der Öffentlichkeit aller Art (auch in der anarchistischen Öffentlichkeit) ständig präsent war. Der Krieg rückt näher, er steht kurz vor dem Ausbruch, die beiden großen gegnerischen internationalen Blöcke bewegen sich auf einen Krieg zu: Lasst uns alles tun, damit er nicht ausbricht, lasst uns alles tun, damit die Welt nicht vor die Hunde geht und durch die verrückten Ambitionen unserer Herrscher von Grund auf zerstört wird.

Aber wie so oft, wenn wir uns mit einem Thema befassen, das tief in uns eine komplexe Reaktion von Gefühlen und Ängsten auslöst, sind wir – so scheint es uns zumindest – nicht in der Lage gewesen, das Problem angemessen zu untersuchen.

Aber wie so oft, wenn wir uns mit einem Thema befassen, das tief in uns eine komplexe Reaktion von Gefühlen und Ängsten auslöst, sind wir – so scheint es uns zumindest – nicht in der Lage gewesen, das Problem angemessen zu untersuchen.

Wenn wir einen Feind bekämpfen wollen, der uns bedroht, müssen wir uns fragen, was der Feind vorhat, denn nur wenn wir so viel wie möglich über seine Aktionen wissen, haben wir die Chance, ihn zurückzuschlagen, uns zu verteidigen und einen Gegenangriff zu starten. Es scheint uns, dass wir uns eine grundlegende Frage nicht klar gestellt haben: Was ist der Krieg? Wir haben uns diese Frage nicht gestellt, weil wir alle auf die eine oder andere Weise glauben, dass wir genau wissen, was Krieg ist, und dass wir daher in der Lage sind, das Notwendige zu tun, um diejenigen zu bekämpfen, die ihn führen wollen.

In Wirklichkeit haben wir aber keine klaren Vorstellungen. Dass diese Ideen auch in der Presse der Bosse nicht klar sind, ist von geringer Bedeutung, denn daraus können wir sicherlich nicht das Minimum an Analyse ziehen, das wir brauchen, um unserem Handeln einen Sinn zu geben.

Im Gegenteil, die Lektüre eines großen Teils der anarchistischen Presse kommt einem vor wie die Lektüre von „La Repubblica“ oder „L’Espresso“, die überarbeitet und korrigiert wurden, und nicht wie die Lektüre eines Magazins über internationales Recht mit ein paar sprachlichen Änderungen oder ein paar mehr Raffinessen.

Es ist klar, dass die mangelnde Klarheit der Ideen der Bosse durch die Tatsache gerechtfertigt ist, dass für diejenigen, die die Herrschaft führen, der Krieg ein Mittel darstellt, um innerhalb bestimmter Grenzen den Fortbestand der Herrschaft selbst zu garantieren. Aber was bedeutet Krieg für diejenigen, die sich gegen die Herrschaft stellen?

Für die Bosse ist Krieg nichts anderes als die Verschärfung des Einsatzes von Mitteln, die praktisch schon immer im Einsatz waren. Die Armeen existieren, die Bomben sind da, die Waffen auch, Kriege finden seit Menschengedenken ununterbrochen statt, brechen hier und da aus, nach einer Geografie und Logik, die in gewissem Sinne den Regeln der Entwicklung und des Überlebens des Kapitals entsprechen. Die Bosse haben keine großen Probleme zu lösen. Sie können keinen Krieg führen, aus dem einfachen Grund, weil sie nie aufgehört haben, ihn zu führen. Für diejenigen, die gegen den Krieg kämpfen wollen, sieht die Sache anders aus, denn ihr Kampf entfaltet sich durch eine Reihe von Interventionen und Aktionen, die je nach ihrem eigenen Verständnis des Phänomens Krieg auch möglich sind.

Diese Bandbreite wird wiederum von den eigenen Klasseninteressen, den eigenen begrenzten Vorstellungen von sozialen und politischen Phänomenen, der eigenen ideologischen Sicht der Realität usw. bestimmt, und das selbst in einer Situation wie der jetzigen, in der von der Möglichkeit eines Atomkriegs die Rede ist (wir wissen nicht, wie nah oder fern), der alles und jeden in wenigen Augenblicken vernichten kann.

Theoretisch sollten wir alle gegen Krieg sein, vor allem gegen den Krieg, der jetzt möglich geworden ist, da wir alle der Gefahr der Vernichtung ausgesetzt wären. Aber wie erklärst du dir dann, dass nicht alle gegen den Krieg sind? Wie erklärst du dir, dass die Herrschenden Anhänger und Umsetzer für ihren sogenannten Wahnsinn finden? Die Erklärung liegt in der einfachen und grundlegenden Tatsache der Klassenspaltung. Es ist klar, dass der Krieg nicht alle erschreckt, oder nicht alle gleichermaßen erschreckt. Es ist klar, dass viele, die nahe an den Hebeln der Herrschaft sitzen und mit der Ausbeutung der Herrschenden verbunden sind, wenn nicht sogar die Herrschenden selbst, ihre Angst vor dem Krieg mit der Aussicht auf die Stärkung ihrer eigenen privilegierten Situation abtun.

Daher können die Verlautbarungen, die diese Menschen in ihren Zeitungen und im Rundfunk verbreiten, nur ihren Wunsch widerspiegeln, den Krieg als eine unmittelbare Sache zu sehen. Nicht, dass dies nicht möglich wäre, aber im Gegenteil, wir sollten selbst zu diesem Schluss kommen, mit unseren eigenen Analysen, die in der Lage sind, die Täuschung zu entmystifizieren, die hinter den von den Machthabern gelieferten Informationen steckt.

Es stellt sich also die wichtige Frage: Was ist der Krieg? Die aktuellen Veröffentlichungen auf dem Markt – und unsere Blätter enden oft als dumme freiwillige Lakaien und passive Verstärker der realen Regimepropaganda – sagen uns, dass der Krieg nahe ist. Wir wiederholen, dass wir, da der Krieg nahe ist, alles tun müssen, um ihn fernzuhalten, um ihn zu verhindern, weil Anarchistinnen und Anarchisten schon immer gegen den Krieg waren und weil der Krieg eine schreckliche Katastrophe ist, die alle betrifft, die keine Sieger, sondern nur Opfer hat, die ein Verbrechen gegen die Menschheit darstellt.

Schöne und zutiefst humanitäre Argumente, die nur einen Fehler haben: Sie ändern die genozidalen Pläne der Mächtigen um kein bisschen und sagen den Menschen nichts Neues.

Lasst uns die Hypothese aufstellen, die in der Geschichte am häufigsten vorkommt und die in der Vergangenheit selbst blühende Anarchistinnen und Anarchisten von bester intellektueller Statur überwältigt hat. Wie bereits gesagt, sind wir alle gegen den Krieg (in Worten). Selbst die überzeugtesten Befürworter des bewaffneten Konflikts zwischen Staaten haben nie den Mut, dies offen auszusprechen, es sei denn in einem eitlen postprandialen Delirium, das sofort von gewitzteren und klügeren Kollaborateuren zurückgewiesen wird. Derjenige, der sich auf den Krieg vorbereitet, ist immer einer der eifrigsten Propagandisten für den Frieden. Mehr noch: Er baut seine Friedenspropaganda darauf auf, dass um jeden Preis alles getan werden muss, um die Werte der Zivilisation zu retten, Werte, die durch das, was im gegnerischen Lager geschieht, systematisch bedroht werden. (Das gegnerische Lager wiederum handelt und agiert im gleichen Sinne). Es muss alles getan werden, um einen Krieg zu verhindern, und oft sind die Menschen am Ende davon überzeugt, dass sie alles tun müssen, um eine größere Katastrophe zu verhindern. Bei Ausbruch des Krieges, der zuerst den Namen Weltkrieg trug, kamen Kropotkin, Grave, Malato und andere illustre Anarchisten zu dem Schluss, dass es notwendig sei, sich am Krieg zu beteiligen, um die Demokratien (in erster Linie Frankreich) zu verteidigen, die von den Mittelmächten (in erster Linie Deutschland) angegriffen wurden. Dieser tragische Fehler war möglich und wird immer möglich sein, weil damals derselbe Fehler gemacht wurde wie heute: Es wurde keine anarchistische Analyse entwickelt, sondern man verließ sich auf eine anarchistische Umarbeitung der Analysen, die von den Gelehrten und Verbreitern im Dienste der Bosse geliefert wurden. So konnte man leicht zu dem Schluss kommen, dass der Krieg zwar immer noch eine große und schreckliche Tragödie ist, dass er aber dem größeren Schaden vorzuziehen ist, der durch einen Sieg des teutonischen Militarismus entstehen würde. Sicherlich waren damals nicht alle Anarchistinnen und Anarchisten blind für die schwerwiegenden Abweichungen von Kropotkin und seinen Gefährten; Malatesta reagierte heftig, indem er aus London schrieb, aber der Schaden war angerichtet, und er hatte wiederum nicht unerhebliche Folgen für die gesamte anarchistische Bewegung weltweit.

In ähnlicher Weise machen heute viele anarchistische Gefährtinnen und Gefährten nicht vor den unentschuldbaren Oberflächlichkeiten halt, die in einigen unserer Zeitungen und Zeitschriften zu lesen sind und die wir weiter unten besprechen werden. Doch kehren wir für einen Moment zu den allgemeinen Aussagen zurück, die in unserer Analyse vorkommen. Mit Appellen an die universelle Brüderlichkeit, an die Menschlichkeit, an den Frieden und an den Wert der Zivilisation kann man sicherlich nicht die Kräfte mobilisieren, die wirklich bereit sind, gegen den Staat zu kämpfen. Warum sonst vermeiden wir bei Problemen, die mit der sozialen und ökonomischen Konfrontation im engeren Sinne zu tun haben (Arbeitslosigkeit, Wohnraum, Schulen, Krankenhäuser usw.), sorgfältig den Rückgriff auf Plattitüden wie diese? Dürfen wir jetzt, wo es um Krieg geht, unsere Analysen plötzlich auf das Niveau der Verallgemeinerungen radikaler Menschenrechtler senken?

Tatsache ist, dass wir auf diese Gemeinplätze zurückgreifen, deren Nenner das Konzept der Angst ist, weil wir nicht wissen, was wir tun oder sagen sollen oder was das Phänomen des Krieges eigentlich ist – heute, in der aktuellen Machtlage, in Italien oder in Europa oder in der Welt.

In Panik vor unserer Unfähigkeit und in dem Bewusstsein, dass uns weder unsere glorreiche antimilitaristische Tradition (mit den oben genannten Ausnahmen) noch das ebenso glorreiche Gepäck des anarchistischen Denkens retten können, greifen wir auf das analytische Labor der Macht zurück. Und so machen wir uns selbst zu Amateurwissenschaftlern für internationale Probleme. Unsere Seiten sind gefüllt mit – gelinde gesagt – komischen Überlegungen zu den Beziehungen zwischen den USA und der UdSSR, zwischen der NATO und dem Warschauer Vertrag, zwischen den Ländern des Nahen Ostens und Europas; ökonomische Probleme überschneiden sich mit militärischen Strategien; die technischen Daten der A-, H- und N-Bomben werden auf unseren Seiten (und in unseren Köpfen) mit den Auswirkungen psychologischer Propaganda vermischt. Das Ergebnis ist eine große Verwirrung, die das wahre Maß dafür ist, wie weit wir von der Realität des Zusammenstoßes entfernt sind und wie sehr jeder Versuch, uns ihr zu nähern, das Ziel verfehlt. Dann werden wir erbärmlich großspurig. Wir bestehen darauf, unsere Analysen mit immer mehr Daten aus den Handbüchern der Macht zu erstellen und den Menschen zu erklären, dass Angst neunzig, immer neunzig, ausschließlich neunzig ist. Dabei merken wir nicht, dass wir damit dem Teil der Bosse dienen, der mit der Angst spielt, um zwei grundlegende Ziele zu erreichen: die ausgebeuteten Massen von der immer stärkeren Ausbeutung abzulenken, die sie erwartet, und sie – warum auch nicht – auf den Krieg vorzubereiten. Vergessen wir nicht, dass der beste Weg, die Massen zur Akzeptanz des Krieges zu bewegen, darin besteht, Angst vor dem Krieg zu verbreiten. Mit ein paar geschickten Anpassungen in der Propaganda des Regimes wird sich diese Angst vor dem totalen Krieg leicht in den Wunsch verwandeln, einen begrenzten Krieg zu akzeptieren, um den totalen Krieg zu verhindern, und wer weiß, vielleicht finden wir einen neuen Kropotkin (unter den vielen Neo-Kropotkinianern, die unsere anarchistischen Blätter bevölkern), der in der Lage ist, die Notwendigkeit eines kleinen Krieges im Angesicht des totalen Krieges zu argumentieren (schließlich ist „klein auch schön“).

Natürlich sind wir Anarchistinnen und Anarchisten gegen alle Kriege, ob groß oder klein, aber wenn wir uns darauf beschränken, unseren Diskurs ausschließlich oder hauptsächlich auf Angst zu gründen, positionieren wir uns auf der extremen Linken des Kapitals und geben dieser den Schimmer, die sie braucht, um den Dissens zu dämpfen, der sich in der Masse der Ausgebeuteten von selbst ergibt.

Wenn wir unsere Kritik am totalen Atomkrieg ausbauen und als Sprecher der extremen Linken des Kapitals aufzeigen, wie schrecklich die Auswirkungen von Atombomben jeder Größenordnung sind, und wenn wir als einfache Konsequenz hinzufügen, dass wir nicht nur gegen den Atomkrieg, sondern gegen jede Art von Krieg zwischen Staaten sind, weil jeder Krieg ein Genozid, eine abscheuliche Untat, ein Verbrechen gegen die Menschheit ist, sind wir, wenn wir mit solchen Plattitüden weitermachen, widersprüchlich und schädlich. Tatsächlich liefern wir fundierte, wissenschaftliche und konkrete Elemente gegen den Atomkrieg (weil das Kapital selbst uns diese liefert), aber wir beschränken uns auf die üblichen humanitären Plattitüden, was die nicht-atomare Kriegsführung betrifft, und bringen die Menschen (die zu Recht eine Abneigung gegen humanitäre Plattitüden haben) ungewollt dazu, sich auf eine Ablehnung des Atomkriegs und eine wahrscheinliche Akzeptanz des „kleinen Kriegs“ einzustellen. Und wer weiß, vielleicht ist es genau das, was das Kapital von uns will.

Da unsere Gutgläubigkeit jedoch kaum angezweifelt werden kann, bleibt uns nichts anderes übrig, als das Thema genauer zu betrachten und uns zu fragen, ob wir unsere Antikriegspropaganda nicht besser ausbauen sollten.

Und hier kommen wir wieder auf das ursprüngliche Problem zurück. Wir wissen nicht wirklich, was Krieg ist. Wenn wir uns näher mit dem Problem befassen, erkennen wir, dass der Krieg nur ein besonderes Moment in der Strategie des Kapitals zur allgemeinen Ausbeutung ist.

Wir wollen das genauer erklären. Für Staaten gibt es formale Aspekte, die den Unterschied zwischen einem Kriegszustand und einem Friedenszustand im Sinne des Völkerrechts ausmachen. Es liegt auf der Hand, dass diese Art der Unterscheidung Anarchistinnen und Anarchisten nicht interessieren kann, denn um einen realen Kriegszustand zu begreifen, müssen sie sicherlich nicht darauf warten, dass Staat A durch seine Diplomatie eine Kriegserklärung an Staat B abgibt. Die Aufgabe der Anarchistinnen und Anarchisten besteht in erster Linie darin, den formalen Vorhang, den die Staaten vor die Augen der Völker legen, um sie auszubeuten, zu täuschen und zum Abschlachten zu führen, so weit und so lange wie möglich zu durchbrechen. Dazu können sie nicht warten, bis die Formalitäten des Völkerrechts erfüllt sind, sondern müssen der Zeit voraus sein und die reale Kriegssituation anprangern, auch wenn es keinen offiziell anerkannten Kriegszustand gibt.

Der Verdacht, dass es nicht möglich ist, eine klare Grenze zwischen Krieg und Frieden zu ziehen, kam, um die Wahrheit zu sagen, sogar den Machttheoretikern selbst. Clausewitz selbst sah sich zu seiner Zeit gezwungen, eine Analyse des Krieges als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln zu entwickeln. Auch zeitgenössische Gelehrte (Bouthoul, Aron, Sereni, Pomari usw.) wurden sich des Problems bewusst und versuchten, das Element zu erfassen, das eine, wenn auch minimale, Unterscheidung zwischen dem Kriegszustand und dem Friedenszustand ermöglicht. Nachdem sie die Elemente untersucht hatten, die für bewaffnete Konflikte, Massenphänomene und Spannungsprozesse in der öffentlichen Meinung charakteristisch sind – alles Elemente, die nicht spezifisch für den Kriegszustand sind – mussten diese Wissenschaftler zu dem Schluss kommen, dass das, was den Krieg charakterisiert, sein rechtlicher Charakter ist und dass sich dieser Charakter als atypisch für die rechtliche Struktur erweist, die kriegführende Staaten in „Friedenszeiten“ regelt. Mit anderen Worten: Der Krieg zeichnet sich durch die Legitimation zum Töten aus, eine Legitimation, die durch die Rechtssphäre realisiert wird, die in „Friedenszeiten“ in der Regel weder Mord noch Massaker schützt.

Es wird deutlich, dass die Kriterien, die den Krieg vom Frieden unterscheiden, nicht die sind, die von Anarchistinnen und Anarchisten als gültig angesehen werden können. Wir sind nicht bereit zuzugeben, dass der von der Staatsmacht formell erklärte Kriegszustand unerlässlich ist, um eine reale Kriegssituation zu erkennen, anzuprangern und anzugreifen. Und der Staat seinerseits weiß sehr wohl, dass der formale Aspekt der „Kriegserklärung“ nur ein einfaches juristisches Alibi für die Ausweitung der Todesprozesse ist, die er in der Regel als spezifisches Merkmal seines Wesens betreibt. Der Staat ist ein Instrument der Ausbeutung und des Todes, daher ist er ein Instrument des Krieges. Wer Staat sagt, sagt auch Krieg. Es gibt also keine Staaten im Krieg und keine Staaten im Frieden. Es gibt keine Staaten, die Krieg wollen, und keine Staaten, die Frieden wollen. Alle Staaten sind allein durch die Tatsache ihrer Existenz Instrumente des Krieges. Um sich davon zu überzeugen und den einfachen Einwand derjenigen zu überwinden, die uns des Maximalismus beschuldigen, und derjenigen, die unbedingt einen Unterschied sehen wollen, wo es nur Gleichförmigkeit gibt, genügt es, an die offensichtliche Tatsache zu denken, dass es ganz sicher nicht die Zahl der Toten, die Besonderheit der eingesetzten Mittel, das Terrain des Zusammenstoßes, das Ziel, das sich die Kriegführenden gesetzt haben, ist, die einen Unterschied zwischen einem Kriegszustand und einem Friedenszustand machen kann. Die systematische Tötung von einem Dutzend Arbeiterinnen und Arbeitern pro Tag am Arbeitsplatz ist ein Kriegsphänomen, das sich (soweit es uns betrifft) nur in der Anzahl der Toten von den Tausenden auf einem Schlachtfeld unterscheidet. In dieser Hinsicht gibt es keine Möglichkeit, eine reale Friedenssituation unter dem Regime des Kapitals zu erkennen, sondern nur einen fiktiven Friedenszustand, der in der Praxis mit einer realen Kriegssituation gleichzusetzen ist.

Der Krieg ist also eine Aktivität des Staates, die nicht nur eine vorübergehende und begrenzte Periode seiner Aktion kennzeichnet, sondern das eigentliche Wesen seiner Struktur ausmacht, soweit wir sie unter dem Aspekt der Aktion im Zuge der Ausbeutungsprozesse wahrnehmen. Damit fallen die sozialdemokratischen Illusionen von einseitiger Abrüstung, von respektablem Pazifismus, von bourgeoiser Gewaltlosigkeit. Wer nur die These des Pazifismus vertritt und damit dafür kämpft, dass der Staat keinen Krieg führt, ist im Grunde ein Kriegstreiber, ein Reaktionär, der den ständigen Krieg des Staates gegenüber einem anderen (für ihn anderen) Krieg unterstützt, der aber im Kern nicht anders ist, sondern praktisch eine Ausweitung des Konflikts in einem etwas oder weitaus größeren Maßstab darstellt.

Das erklärt die Tatsache, dass Regierungsparteien (PSI) und Parteien, die das Ideal der Arbeiterinnen und Arbeiter verraten haben (PCI), oder Parteien, die die humanitären Ambitionen der Bourgeoisie nähren (Radikale), mit großer Frechheit oder dummer Ignoranz der Realität Antikriegsreden halten können. In der Praxis sind es Reden, die die Kontinuität des realen Krieges garantieren und die Massen auf die Akzeptanz weiterer (immer möglicher) Ausweitungen des Krieges vorbereiten, um einen immer größeren Krieg zu vermeiden, der so auf unbestimmte Zeit verschoben wird, während sich der objektive Konfliktzustand entwickelt und aufrechterhalten wird.

Diese Konzepte sollten von allen Anarchistinnen und Anarchisten mehr oder weniger akzeptiert werden – und werden es tatsächlich auch. Wie aus vielen Artikeln und Reden hervorgeht, die in den letzten Monaten in unseren Zeitschriften veröffentlicht wurden, rutscht man jedoch zu leicht in das Thema Krieg als etwas, das vermieden werden kann und das an sich ein Ziel des Kampfes darstellt, das die revolutionären Kräfte bündeln kann.

Es wurde gesagt, dass wir uns in den letzten Monaten plötzlich einer viel größeren Gefahr eines Weltkonflikts gegenüber sehen, als vorher erkennbar war. Es wurde gesagt, dass jetzt etwas gegen den herannahenden Weltkrieg getan werden muss, gegen die zunehmende atomare Aufrüstung auf Seiten der USA und der UdSSR. Es wurde gesagt, dass es Zeiten im Leben eines Volkes oder eines Kontinents gibt, in denen soziale, ökonomische und politische Probleme von weitaus dringlicheren und höheren Forderungen überlagert werden, die sich auf absolute Kategorien berufen, wie z. B. Überleben, frontistischer Widerstand gegen rücksichtslose und mörderische Hegemonien usw. Diese letzte Aussage – die wir in „Umanità Nova“ (Nr. 30/1981) lesen, ist das Unglaublichste, was wir in letzter Zeit lesen mussten. Sie passt zu einer anderen Perle (wieder „Umanità Nova“ – 29/1981), die am Ende eines Alarmrufs gegen den Krieg feststellt, dass Anarchistinnen und Anarchisten nichts weiter tun können, als eine kulturelle Allianz (sic!) vorzuschlagen. Danach folgt eine sehr detaillierte Analyse der internationalen Politik, die einen zum Lachen bringen würde, wenn sie nicht an den Nerven zerren würde, um zu sehen, wie weit die italienische anarchistische Bewegung geschrumpft ist, wenn man ihre Effizienz an den Instrumenten der Information und Desinformation misst, die sie sich gibt. In anderen Blättern, anderen Analysen, die vielleicht ausgefeilter sind, aber immer voll von der Oberflächlichkeit, der in unserer Öffentlichkeit zu grassieren scheint; Blätter, die Alarmrufe gegen die Staaten ausstoßen, die sich auf einen Krieg vorbereiten, für den der Frieden eine Lüge ist. Zeitungen, die ihren Antimilitarismus entstauben, indem sie ihn auf einen platonischen Protest gegen Armeen, Waffen und Kriege beschränken und dabei nicht erkennen, dass der Diskurs, den sie führen, nichts anderes ist als eine verkleidete Form der Sozialdemokratie. Noch naiver spricht ein anderer Kolumnist von einem „Schimmer“ und bezieht sich dabei auf Comiso und die Entscheidung der italienischen Regierung, dort amerikanische Cruise Missiles zu stationieren. Aber ein „Schimmer“ für wen? Vielleicht für die anarchistische Bewegung?

Diese Bösartigkeit (aber ist sie wirklich eine solche?) eröffnet ein weiteres Problem, das wir für entscheidend halten. Gegen den Krieg zu kämpfen ist in Ordnung. Gegen den Militarismus, gegen Bomben, Armeen und Generäle zu kämpfen, ist in Ordnung. Gegen die Installation von Flugkörpern zu kämpfen, ist in Ordnung. Aber wenn dies die einzige Ebene der Intervention in die Realität wird, die die anarchistische Bewegung besitzt, wenn dies der einzige „Schimmer“ ist, der offen bleibt, während alle anderen Interventionen nun unmöglich sind und keinerlei Schimmer bieten, müssen wir uns fragen, was los ist, und es reicht nicht aus, uns kopfüber in die Aktivität zu stürzen, die als einzige möglich bleibt. Wenn wir in den anderen Bereichen der Intervention Schwierigkeiten haben, und niemand kann diese Schwierigkeiten leugnen. Wenn die anarchistische Bewegung selbst darum kämpft, ihre Strukturen, ihre Komponenten und ihre Militanten zu finden. Wenn der operative Dialog, der mit den anderen Teilen der wirklichen revolutionären Bewegung eröffnet wurde, trotz der Bemühungen und des hohen Preises, der dafür gezahlt wurde, stumm und taub zu sein scheint, und wir die Zurückhaltung der anderen und unsere eigene überwunden haben. Wenn das Niveau der anarchistischen Veröffentlichungen in Italien plötzlich und erschreckend gesunken ist und die absolute Bedeutungslosigkeit von „Umanità Nova“, die pseudo-intellektuelle Wiederholung von „A“, die stratosphärische Abwesenheit von „L’internazionale“, die Diskontinuität des monotonen „Anarchismo“ erreicht hat; wenn dieselben anarchistischen Bücher innerhalb der anarchistischen Bewegung immer weniger Verbreitung finden, während der Teil der revolutionären Bewegung im Allgemeinen, der sie früher kaufte und las, ihre Existenz jetzt sogar vergessen zu haben scheint. Wenn das so ist, ist es sinnlos, es zu leugnen oder uns etwas vorzumachen, indem wir uns in den Spiegeln unserer Sehnsüchte spiegeln, die für den Mikrokosmos unserer Konferenzen und Lerntage typisch sind. Man muss sich fragen: Ist die Akzentuierung des Kriegsthemas, auch bei uns, und das Versäumnis, dieses Thema in der spezifischen Logik des Staates zu verorten, nicht eine Folge unserer übergeordneten Unfähigkeit, uns mehr und mehr auf die Realität der Kämpfe auszurichten? Ist nicht die fortschreitende und schwindelerregende Verkümmerung der wenigen Interventionsinstrumente, die wir uns in den letzten Jahren nach so vielen Opfern und Kämpfen geben konnten, eines der Elemente, die dazu beitragen, dass wir das Problem des Krieges als zentral und vorrangig betrachten, als getrennt von den anderen Problemen, die unser Kampf gegen die Macht uns täglich vor Augen führt, und diese überlagern? Und wenn wir das tun, d.h. wenn wir den Kopf in den Sand unserer Schwächen stecken und das Problem des Kampfes gegen den Krieg ohne die minimale militante Struktur angehen, die wir früher besaßen und heute nicht mehr haben, laufen wir dann nicht Gefahr, wieder einmal die eitlen Träger einer maximalistischen Ideologie zu sein, die nur für das Kapital bequem ist?

Diese Fragen werden vielleicht nicht von vielen Gefährtinnen und Gefährten geteilt, aber sie bleiben als so viele Punkte vor uns, die vertieft und diskutiert werden müssen. Es reicht nicht aus, zu sagen: Das stimmt nicht und mit den Schultern zu zucken. Es reicht nicht zu sagen: Wenn wir unsere Karten richtig halten – und das tun der Kampf gegen den Krieg und die Propaganda sicherlich – dann ist alles in Ordnung und wir können so weitermachen.

Unserer Meinung nach ist es notwendig, die allgemeinen Bedingungen des Klassenkampfes in Italien heute zu untersuchen und die Funktion, die Anarchistinnen und Anarchisten innerhalb des Klassenkampfes selbst spielen können, zu überprüfen, sowohl als spezifische Bewegung, als die spezifische Organisationsfähigkeit, die sie zum Ausdruck bringen können, als auch als Bestandteil der breiteren allgemeinen Bewegung der Ausgebeuteten. Es ist dringend notwendig, dass wir unsere Schwächen sofort und unverblümt benennen, das Fortbestehen unserer alten Paranoia, die stagnierende Ideologisierung, die viele Sektoren unserer Bewegung verseucht, die sozialdemokratischen und respektablen Unterwanderungen, das Zögern in Bezug auf Aktionen, den Eifer, von vornherein zu urteilen, die kirchliche und manische Verschlossenheit, die Überbleibsel des Aristokratismus, der uns dazu gebracht hat, uns als monotone Träger der Wahrheit zu betrachten. Wenn wir neu anfangen müssen, und es ist sicher nicht die Dumpfheit des Sisyphos, die uns fehlt, dann lass uns auf die bestmögliche Weise neu anfangen, indem wir die alten Fehler ausräumen.

Indem wir die Analyse unserer tatsächlichen Kampfmöglichkeiten auf die Spitze treiben, distanzieren wir uns keineswegs vom Problem des Krieges und sind in der Lage, eine viel präzisere und aussagekräftigere Antwort, einen viel detaillierteren Hinweis und ein Projekt zur Intervention zu geben, als es im Moment der Fall ist, wenn wir nur theoretische Aufwärmungen der Bourgeoisie und billige Schwärmer eines humanitären Maximalismus sind, dem jeder zustimmen kann und den gerade deshalb niemand zu unterstützen bereit ist.

Wenn wir unsere Bemühungen auf die Reorganisation der Bewegung richten und das Notwendige tun, um diesen Moment des Rückflusses zu überwinden, werden wir außerdem vermeiden, unseren Diskurs auf die einzige (oder fast einzige) Motivation der Angst vor dem Krieg zu beschränken, eine Motivation, die aufgrund ihrer Unbestimmtheit und Allgemeinheit ständig Gefahr läuft, in den Interklassismus abzugleiten, wie aus verschiedenen Analysen hervorgeht, die von Genossinnen und Genossen durchgeführt wurden, die sich für das Problem der Cruise Missiles in Comiso interessiert haben.

Wir dürfen nicht vergessen, dass die Beurteilung eines Problems – und der Krieg ist da keine Ausnahme – sehr oft von den objektiven Bedingungen abhängt, in denen wir uns persönlich befinden, und von der Gesamtsituation, in der sich die Bewegung als Ganzes befindet.

Analytischer Beitrag zur Entwicklung des Kampfes gegen die Errichtung der Basis für Flugkörper in Comiso

Unter den vielen Äußerungen und Schriften aller politischen und revolutionären Kräfte, die sich gegen die Errichtung der Cruise Missile Base in Comiso ausgesprochen haben, haben wir nichts Eindeutiges über den Ansatz des Kampfes gehört oder gelesen.

Es gab einen großen Erguss an Analysen, sogar von der anarchistischen Bewegung, aber ohne ein ernsthaftes und fundiertes Konstrukt. Oft entsprachen die vorgetragenen Analysen als leere Hinweise den allgemeinen und unschlüssigen Aussagen der Parteien, die die fiktive Opposition organisierten.

Während die Diener des Staates sehr auf ihre eigene Machtposition bedacht sind und deshalb darüber schweigen, was wirklich gegen den Bau des Stützpunkts für Flugkörper unternommen werden sollte, sind die Oberflächlichkeit und Widersprüchlichkeit der Hinweise von revolutionärer Seite ein sehr schwerwiegendes Versäumnis und zeigen die tiefen Wunden auf, unter denen die revolutionäre Bewegung insgesamt und die anarchistische Bewegung im Besonderen heute leiden.

Handelt es sich um einen politischen Kampf?

Zu Beginn wurde der Fehler gemacht, in Comiso das alte Modell der politischen Intervention anzuwenden, das uns traditionell von den Gruppen und Grüppchen der jüngeren Vergangenheit überliefert wurde und in den verrottenden Überresten des alten Konzepts der revolutionären Bewegung immer noch grassiert. Comiso kann nicht als „politische Schlacht“ oder gar als „zu gewinnende politische Schlacht“ betrachtet werden. Die Auseinandersetzung hat von Anfang an einen sozialen und revolutionären Charakter und muss sofort auf kurz- und mittelfristige Lösungen mit aufständischem Charakter ausgerichtet werden. Jedes Einlenken in einen politischen „Dialog“ bedeutet, dass der Kampf selbst sofort in die Hände der Parteien übergeht, die die fiktive Opposition organisiert haben, mit der PCI an der Spitze.

Wenn der „Kampf gegen den Krieg“ politische Konnotationen annimmt, endet er im Beschreibenden, im Informativen, im pädagogischen Projekt mit einem so langen Zeithorizont, dass er nicht nur die angriffsbereiten Kräfte ermüdet, sondern auch jede Analyse illusorisch und jede Intervention zum Verlierer macht.

Warum sollten sich Proletarier „in den alternativen Kreisläufen zum kapitalistischen System (bestehend aus Büros, Radio, Zeitungen usw.) institutionalisiert haben“,1 eine Angelegenheit, die in einer Analyse als eines der Elemente des Scheiterns des Kampfes gegen Arbeitslosigkeit und Emigration angesehen wird, zusammen mit dem „Fehlen einer organischen revolutionären Präsenz… (was) den Verlust jener Bezugspunkte verursachte, die im proletarischen Bewusstsein die Forderung nach einem besseren Leben zusammenschweißten.“2

Wie wir sehen können, sind diese analytischen Ruinen nicht vollständig abgerissen worden und tragen weiterhin negative Früchte.

Überlassen wir den kohärenten dialogischen Ansatz der Intervention in Comiso den politischen Berufen und entwickeln wir so schnell wie möglich die Bedingungen für einen sozialen Kampf, soweit es möglich ist, und tun wir alles, um diese Grenzen zu erweitern und diese Möglichkeiten wachsen zu lassen.

Nutzlosigkeit der großen Fachanalysen

DIE PCI und ihre Lakaien haben blumige Spezialisten herangezogen, um das Problem der Installation amerikanischer Flugkörper in Comiso zu erklären. Universitätsprofessoren und großmäulige Demagogen haben uns Worte um die Ohren gehauen, die niemand richtig versteht und die eindeutig dazu dienen, den revolutionären Schwung, der in der Masse der Ausgebeuteten in Gang gesetzt werden könnte, zu betäuben.

Wir unsererseits haben dieses Verhalten lediglich nachgeahmt, indem wir – mit den besten Absichten der Welt – wissenschaftliche Analysen erstellt haben, die mit einer anderen Ausrichtung, anderen Zielen und anderen Schlussfolgerungen praktisch mehr zum Einschlafen beigetragen haben als die der PCI und ihrer Verbündeten, und das aufgrund der Tatsache, dass die Quelle, die sie ausgearbeitet hat, die einzige war, von der man einen echten und unmittelbaren Hinweis auf den Kampf erwartet hätte.

Analysen über den Imperialismus, die sich in Lektionen über Geopolitik verwandeln, sind entweder nutzlos, da sie Elemente liefern, die praktisch überflüssig sind, um die Ausgebeuteten zum Kampf anzuspornen, oder sie sind in ein paar Zeilen zusammenzufassen, indem jeder – mehr oder weniger – begreift, dass amerikanische Flugkörper als Gegengewicht zu anderen russischen Flugkörpern installiert werden und so weiter.

Diese Art von Analyse ist nur dann sinnvoll, wenn sie zwischen den Zeilen und auf intelligente Weise durchgeführt wird und nur ein Minimum an Daten liefert, um direkt zu Schlussfolgerungen zu gelangen: Andernfalls wird sie zu einem Hindernis, schüchtert den Anwender ein und weitet das objektive Problem des Kampfes so sehr aus, dass es am Ende in einem undeutlichen und unverständlichen Dunst verschwimmt.

Die gleiche Gefahr besteht, aus etwas anderen Gründen, bei den ausführlichen Informationshinweisen zu den Auswirkungen von Atombomben, Flugkörpern aller Art usw. Hier kommt der Diskurs über die Angst ins Spiel. Der Ausgang dieses Diskurses ist, für sich genommen, nur einer: der Interklassismus (A.d.Ü., die klassenübergreifende Praxis). Auch die Angst ist logischerweise Teil des Informationspakets, über das unsere Analysen verfügen müssen. Macht macht Angst, und es ist richtig, dass die Ausgebeuteten das wissen sollten. Aber dieses Thema in allen Schattierungen zu entwickeln, ist eine entmutigende und verlorene Initiative. Einerseits wirbt sie um die Beteiligung gesellschaftlicher Schichten (auch die Bourgeois haben Angst), die die revolutionäre Bewegung nicht braucht, andererseits liefert sie keine klare Grundlage für die Differenzierungen, die die Ausgebeuteten brauchen: Die Angst der Bourgeois ist nicht identisch mit der Angst des Proletariats.

Aber von welcher Ausplünderung sprechen wir?

Sizilien ist ein Feld der Spekulation und der kolonialen Ausplünderung. Darin sind wir uns alle einig. Auch in der Analyse, dass die Ansiedlung der neuen amerikanischen Stützpunkte diese Ausplünderung verstärken würde, sind wir uns alle einig. Aber zu welcher Schlussfolgerung führt das?

Vielleicht, dass die Zunahme der Ausplünderung uns über die Ausplünderung hinwegtrösten kann, die wir erlitten haben? Vielleicht, dass die „Ausnahme“, die das Gebiet von Comiso mit seinen Gewächshäusern und seinem „Land von gewissem Wert und hervorragender Qualität“ darstellt, ein Geschenk Gottes ist? Oder ist sie die logische Konsequenz früherer Ausplünderungen, die, um kapitalistisch aufgebaut zu sein, ungleich sein müssen? Wollen wir das Ergebnis der alten Ausplünderung verteidigen und es vor einer neuen Ausplünderung schützen, die dieses Mal die Partei treffen würde, die den Gewinn gezogen hat? Oder sollten wir konsequent gegen jede Ausplünderung sein, ob alt oder neu?

Ehrlich gesagt kann man keinen gemeinsamen Ausgangspunkt mit Analysen finden, bei denen es um den Schutz von „Interessen geht, die gestört werden, insbesondere in der Landwirtschaft, der grundlegenden Achse, um die sich das wirtschaftliche und soziale Leben in Ragusa dreht“.3 Und die Tatsache, dass diese Bedenken von anarchistischen Genossinnen und Genossen vorgebracht wurden, mindert die Ratlosigkeit keineswegs.

In einer anderen Analyse lesen wir deutlicher: „… die Wiederverwendung des bereits existierenden Flughafens für zivile und/oder landwirtschaftliche Zwecke, sieht uns neben einer sehr präzisen Forderung nach den Bedürfnissen der Landwirtschaft im Allgemeinen und einer angemessenen Antwort darauf.“4 Und an anderer Stelle: „… es gibt diejenigen, die mit wachsender Sorge die Aussicht sehen, ihr Land und ihre Kulturen, die jahrelang sorgfältig gepflegt wurden, aufgeben zu müssen, und damit auch lang erträumte Projekte.“5

Diese analytischen Perlen passen und ergänzen den gesamten „Angst“-Diskurs. Wie käme ein Anarchist und Revolutionär auf die Idee, sich Gedanken über die Bedürfnisse der Leibeigenen oder die Träume der Kleinbauern zu machen? Tatsache ist, dass man, wenn man den nebulösen, undeutlichen, verworrenen und klassenübergreifenden Begriff des „Volkes“ als Bezugspunkt wählt, gezwungen ist, einen Weg einzuschlagen, von dem man nicht wirklich weiß, wohin er führt. Man macht ein Zugeständnis nach dem anderen und vergisst dabei, sein revolutionäres Projekt richtig zu formulieren, so dass man sich beim besten Willen mit dem bewusst anti-revolutionären Programm der fiktiven Gegner verwechseln kann.

Auf diese Weise geht man so weit, dass man schreibt: „… 20 Tausend Milliarden Lire für 8 Atomkraftwerke bedeuten 2500 Milliarden Lire für jede Anlage: Stell dir vor, was diese 2500 Milliarden Lire für Sizilien bedeuten könnten, wenn man sie in Bereiche wie die Landwirtschaft investieren könnte…“6 Ehrlich gesagt, wissen wir nicht, was sie bedeuten könnten. Vielleicht neue Möglichkeiten der Ausbeutung, um neues und altes Kapital zu bereichern? Oder täuschen wir uns? Sicherlich streben diejenigen, die so einen Unsinn schreiben, nicht den Posten des Wirtschaftsministers an und schreiben ihn deshalb in gutem Glauben, aber das macht sie nicht weniger schuldig an dem, was die Massen von der revolutionären Bewegung erwarten: einen korrekten Hinweis auf den Kampf.

Ausrutscher durch Ausrutscher werden durch Aussagen wie die folgende berührt. „Angesichts des recht günstigen Klimas können wir zwei Produktionen pro Jahr mit Diversifizierung der Kulturen machen und uns mit ausländischen Märkten kompatibel machen, also ein in jeder Hinsicht autarkes Sizilien…“7 Diese autarke Schlussfolgerung braucht keine Kritik, sie denunziert sich selbst.

Und schließlich verdienen diese Genossinnen und Genossen, die für ihre Herzlichkeit und ihr partizipatorisches Bestreben alle Sympathien der Welt erhalten, keine tiefer gehende Kritik, die zwangsläufig streng und böse ausfallen würde. Es reicht, hier innezuhalten und auf die Gefahr hinzuweisen, damit wir alle gemeinsam nachdenken und versuchen können, einen ernsthaften Beitrag zum Kampf zu leisten und keine gefährlichen interklassischen Hinweise zu geben.

Allgemeinheit und Ungenauigkeit

Aber es geht nicht nur um (sehr schwerwiegende) theoretische Fehler, zu denen noch die Allgemeinheit und Ungenauigkeit der Schlussfolgerungen hinzukommen. Und es könnte gar nicht anders sein: Eine falsche Identifizierung des Referenten führt dazu, dass es unmöglich ist, präzise Kampfhinweise zu geben. Man ist gezwungen, vage zu bleiben, um nicht zu stören und um nicht den Eindruck eines Maximalismus zu erwecken, der Eindruck macht und die „Leute“ entfremdet.
Nun, es sind genau die Vagheit und die Ungewissheit, die die Saat der Niederlage in jeder sozialen Auseinandersetzung säen. Zum Abschluss seiner Analyse schreibt ein anarchistischer Gefährte: „Wir müssen so schnell wie möglich gegen die militaristische und kriegstreiberische Politik der Kriegsherren und gegen die von ihnen verbreiteten Mystifikationen intervenieren, in der Überzeugung, dass nur eine populäre direkte Aktion von unten die Umsetzung dieses tödlichen Vernichtungsplans verhindern kann“. Eine richtige Schlussfolgerung, aber nicht weniger vage und oberflächlich. Sogar die PCI ruft zur Mobilisierung von unten auf und wir sind uns nicht ganz sicher, ob die Ausgebeuteten unsere „Ungenauigkeiten“ von denen der PCI unterscheiden können und so die Spreu vom Weizen trennen können.

Es besteht kein Zweifel, dass wir präziser sein müssen.

Die Organisation des aufständischen Kampfes

Um die Wahrheit zu sagen, gab es in einigen Analysen und auch in einer Rede auf der Konferenz in Comiso eine Andeutung zwischen den Zeilen, die den Anschein einer historischen Neubewertung der Ereignisse vom Januar 1945 erweckte. Aber sie ging nicht über einen allgemeinen und etwas sentimentalen Hinweis hinaus.

Denn das war eine andere Situation und die Männer und Frauen, die den Aufstand unterstützten, waren anders. Man kann keine historischen Vergleiche anstellen und nicht auf Vorbilder verweisen, es sei denn aus rein rhetorischen Gründen.

Wenn wir die Füße auf den Boden stellen, sieht die Realität so aus. Es gibt zwei Elemente, die zur Organisation des aufständischen Kampfes in einer bestimmten Situation beitragen: die Masse der Ausgebeuteten und die revolutionäre Bewegung. In der sizilianischen Realität haben wir es heute mit einer widersprüchlichen Situation der Ausbeutung und einer Larvenstruktur der revolutionären Bewegung zu tun.

Die Ausgebeuteten sind auf tausendfache Weise mit einem Prozess der Enteignung verbunden, der sie in Klientelismus, in den Betrug der Schwarzarbeit, in die Illusion von Wohnraum, von Frührente, von Doppelarbeit, von den tausend Mitteln, aus denen die Beziehung zur herrschenden Klasse besteht, einhüllt. Sie identifizieren sich selbst nicht klar genug und schaffen es nicht, sich deutlich von den unzähligen zwischengeschalteten und parasitären Ablenkungsmanövern abzugrenzen, von denen die sizilianische Realität einen unglaublichen Katalog liefert. In besonderer Weise haben die sizilianischen Ausgebeuteten, das eigentliche Subproletariat, die marginalsten und erbärmlichsten Elemente, ein fast erloschenes subversives Potenzial, das nur unter der Bedingung neu entfacht werden kann, dass man ihnen wirklich hilft, sich von den anderen sozialen Schichten, die hinter ihnen leben, abzugrenzen. Jede Unsicherheit, jede Verwirrung wird hier bei uns teuer bezahlt. Den Gewächshausbesitzer, den Ladenbesitzer, den Bürokraten zusammen mit dem eigentlichen Unterproletarier Schulter an Schulter auf die Plätze zu bringen, ist eine selbstmörderische Operation, die nur die positive Seite der Menge an „Leuten“ präsentiert, die sich mobilisieren, aber nichts wirklich Revolutionäres hervorbringt, keinen Weg zur Schärfung des Niveaus des Kampfes eröffnet.

Die Identifizierung dieser Schicht des Subproletariats ist schwierig, aber nicht unmöglich. Am Anfang muss man hinreichend kritisch sein, auch auf die Gefahr hin, den potenziellen Referenten stark zu reduzieren. Doch so klein diese Basis auch sein mag, sie hat den großen Vorzug, homogen und kampfbereit zu sein.

Wenn die Analyse als Ganzes, sobald sie richtig aufgebaut ist, ein Element für die Auswahl des Referenten liefert, wird das andere Element durch die Werkzeuge und Methoden des Kampfes geliefert, die die Analyse selbst enthält. Wie wir bereits gesehen haben, stellen die im Umlauf befindlichen Analysen nicht nur keine eindeutige Beziehung zum revolutionären Referenten her, sie geben auch keine Hinweise auf die Methoden und Instrumente und beschränken sich auf einen allgemeinen Verweis auf den direkten Kampf an der Basis.

Bei der Organisation des aufständischen Kampfes ist die Methode, die angewandt werden soll, eindeutig die des Angriffs. Die Ziele, die es zu treffen gilt, sind die Verantwortlichen für die Entscheidungen über die Anlage, die Strukturen, in denen sich die amerikanischen ökonomischen Interessen in Sizilien materialisieren, das nationale und internationale Kapital, das in seinen sizilianischen Verwirklichungen unmittelbar mit den amerikanischen Interessen verbunden ist, usw. Diese Ziele können auf viele Arten erreicht werden, und nicht alle müssen unbedingt unter das Strafgesetzbuch fallen. Angriffe können auch in einer symbolischen Form beginnen und sich dann so entwickeln, wie es die Bedingungen der Konfrontationsebene erlauben.

Neben der Methode des Angriffs gibt es auch die Instrumente, die der Angriff selbst ermöglicht. Auch hier sind die begriffsstutzigen Gegner der aufständischen Methodik nur damit einverstanden, Mittel zu benennen, die von der kriminalisierenden Logik des Kapitals bestraft werden. Das muss nicht unbedingt von vornherein geschehen. Instrumente wie Besetzungen, Straßenblockaden, die plötzliche und symbolische Umwandlung von Objekten des Kapitals (Fahrzeuge, Häuser, Eisenbahnen usw.) usw. können durchaus einen Kampf in Gang setzen, der sich dann auf einer Ebene entwickeln kann, die dem Kampf als Ganzem angemessener ist.

Aber das andere Problem bleibt bestehen. Wie bereits gesagt, ist nicht nur der Referent die unverzichtbare Grundlage für die Organisation des aufständischen Kampfes. Das andere Element, das ebenso unverzichtbar ist, ist die revolutionäre Bewegung. Wenn diese die Unzulänglichkeiten hat, die wir heute kennen, wenn sie nichts zum Kampf in Comiso beiträgt, sondern von ihm jenen lebenswichtigen Atem, jenen „Spalt“ erwartet, der frische Luft in seine Lungen bringen kann, dann besteht die ernste Gefahr, dass sie keinen Bezugspunkt für das kämpfende Proletariat darstellt, sondern einen echten Klotz am Bein.

Und hier schließt sich der Kreis unserer Überlegungen. Wir dürfen uns nicht damit zufrieden geben zu sagen, dass in der gegenwärtigen Situation der revolutionären Bewegung die einzige Möglichkeit darin besteht, zu versuchen, so viele „Leute“ wie möglich zu mobilisieren, weil nichts anderes getan werden kann. Das wurde zwar schon auf unterschiedliche Weise gesagt, ist aber das Leitmotiv vieler Analysen. Wenn man von solchen Prämissen ausgeht, erklärt man sich schon im Voraus für besiegt.

Indem die revolutionäre Bewegung eine korrekte Analyse entwickelt, hilft sie nicht nur, den Kampf klar zu gestalten, sondern ordnet auch ihre eigene innere Ordnung, überwindet die größten Widersprüche und bereitet sich darauf vor, sich im Herzen des Kampfes neu zu formieren. Im Gegenteil, in der Angst, nicht tun zu können, was getan werden muss, und in der Suche nach einem quantitativen Konsens kann sie nicht vermeiden, dass ihre eigenen inneren Widersprüche, die ein Spiegelbild des Scheiterns des Kampfes sind, immer wieder auftauchen.
Würde man warten, bis man genügend Kraft hat, um anzugreifen, würde man nie angreifen, während man sein Leben mit dem vergeblichen Warten auf einen günstigeren Moment vergeudet. Und angesichts eines solchen Zögerns und dieser Ungewissheit können die Ausgebeuteten nichts anderes tun, als ihre Verachtung auszudrücken.


1„La pattumiera del Mediterraneo“, in „Contro la guerra“, Einzelheft herausgegeben von der Gruppo promotore contro l’installazione della base missilistica a Comiso, gedruckt in Catania im September 1981.

2Ebenda

3„Dal mito dei dollari al saccheggio dell’ambiente“, in „Contro la guerra“, cit.

4 „Disoccupati, inquinati, atomici“, in „Contro la guerra“, cit.

5„Non li vogliamo“, in „Contro la guerra“, cit.

6„Contro i criminali di guerra“, in „Contro la guerra“, cit.

7Ebenda

]]> Anton Pannekoek, der Syndikalismus https://panopticon.blackblogs.org/2024/05/13/anton-pannekoek-der-syndikalismus/ Mon, 13 May 2024 10:22:21 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5817 Continue reading ]]> Anton Pannekoek, der Syndikalismus

Erschien ursprünglich in der Nummer Zwei, Bd. II im Januar 1936 in „International Council Correspondence”. Hier und hier.

Die italienische Übersetzung erschien in der Nummer 12, November-Dezember 1976, von „Anarchismo“. Die spätere Veröffentlichung vom „Edizione Anarchismo“ im November 2013 als die Nummer 53, der Reihe „Opuscoli Provvisori“.


Einleitende Anmerkung zur zweiten Auflage

Ein weiterer paläontologischer Beitrag. Auf den ersten Blick scheint es eine naheliegende Bewertung zu sein, aber das ist sie nicht. Eine Kritik des Gewerkschaftswesens/Syndikalismus aus der Ferne und gerade deshalb offenkundig noch lange nicht alt.

Heute kämpfen die Ausgebeuteten in der Mitte derselben Furt, sie kommen nicht vorwärts und denken nicht einmal daran – sie können es nicht -, umzukehren. Und mit ihnen die Anarchistinnen und Anarchisten, zumindest diejenigen, die über das Problem nachdenken, wie man etwas tun kann, um sich in Richtung Revolution zu bewegen, die anarchistische Revolution natürlich, denn von anderen Revolutionen, ob groß oder klein, mit Guillotinen im Einsatz oder nicht, sind die Seiten der Illustrierten voll.

Pannekoeks Schrift ist prägnant, Pulsinellis Einleitung ist prägnant, und sogar meine kleine Anmerkung, die ich hier im Anhang platziere, ist gültig. Im Übrigen verweise ich auf meine Kritik des Syndikalismus (A.d.Ü., Critica del sindcalismo, die Übersetzung ist ein Arbeit), die immer mehr zu einer lästigen Parade von „Ich hab’s dir ja gesagt“ wird, deren Lektüre aber unfehlbar gültig bleibt.

Die Phänomenologie der Clowns in der Regierung ändert sich, die blutigen Auswirkungen, die sich auf dem Rücken der Sklaven materialisieren, die jetzt von Fußmatten vernarbt sind, ändern sich, aber das bronzene Gesicht der Gewerkschafter/Syndikalisten bleibt immer dasselbe. Teilnahmslose Mumien, die ihren eigenen kleinen Garten bewachen. Der letzte Gedanke, der durch die wenigen Gramm grauer Substanz (ein flüchtiges Herz, das versteht sich von selbst) in ihrer Schädelkiste fließt, gilt ihren eigenen Interessen und denen der Kapitalisten – die durch das raue Auf und Ab der internationalen Finanzbilanz auf die Probe gestellt werden – und ganz sicher nicht denen der Arbeiter.

Wann wird die Beerdigung dieser abscheulichen Bürokraten stattfinden?

Triest, 25. November 2011

Alfredo M. Bonanno


Einleitung zur ersten Auflage

Der folgende Text stammt aus der amerikanischen Zeitschrift „International Council Correspondence“, Bd. II, Nr. 2 vom Januar 1936; er wurde von Anton Pannekoek unter dem Pseudonym J. Harper verfasst. Die Zeitschrift ‚I.C.C.‘ war das Sprachrohr der Rätekommunisten, die nach der Niederlage der revolutionären Bewegung und dem Aufkommen des Nationalsozialismus nach Amerika geflüchtet waren. Karl Korsch, Paul Mattick, Otto Rühle und andere nicht-leninistische Marxisten, die die deutschen Räteerfahrungen miterlebt und unterstützt hatten, sowie die KAPD, die niederländische Partei, die nicht Mitglied der leninistischen Internationale war, arbeiteten ebenfalls mit der „I.C.C.“ zusammen. Gegen sie schleuderte Lenin polemische Donnerschläge in, Der „Linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus.

Der Text von Pannekoek – Autor von Arbeiterräte – enthält an sich nichts Außergewöhnliches oder absolut Neues, er ist aber wertvoll für das klare Verständnis der inneren Grenzen des Gewerkschaftswesens/Syndikalismus und schafft es, Tendenzen und Erscheinungsformen vorwegzunehmen, die der Gewerkschaftswesens/Syndikalismus in den folgenden Jahrzehnten tatsächlich annahm.

Es gibt auch Naivitäten und Ansätze feststellbar, die nicht ganz unsere sind, die wir hier aber nicht hervorheben wollen.

Bei der Bewertung dieses Textes dürfen wir nicht das Jahr vergessen, in dem er veröffentlicht wurde: 1936. Die kritische Bewertung des Gewerkschaftswesens/Syndikalismus im negativen Sinne ist eindeutig, und zwar genau zu der Zeit, als wir – zum Beispiel in Spanien – an theoretischen Positionen festhielten, die dazu tendierten, die Gewerkschaft/Syndikat zum Verwaltungsorgan der Ökonomie und der Betriebe zu machen, die von der Anwesenheit der Bosse befreit waren. Im Wesentlichen wollten sie die Ökonomie „gewerkschaftlich/syndikalistisch organisieren“, also nicht unmittelbar diese durch Arbeiterinnen und Arbeiter vereinnahmen und verwalten zu lassen, sondern die – vermeintlich „neutrale“ – Gewerkschafts-, Syndikatsstruktur vermitteln lassen.

Pannekoeks Position zur Gewerkschaft/Syndikat unterscheidet sich deutlich von der letzteren. Diese beiden Positionen verdeutlichen, wie damals – und heute – die Gewerkschafts-, Syndikatsfrage und die Lösung, die ihr gegeben wird, zwischen verschiedenen Positionen unterscheiden, die von der Mitbeteiligung an der Verwaltung der kapitalistischen Ökonomie bis hin zur Übernahme von Haltungen und dem Eintreten für eine Praxis reichen können, die der kapitalistischen Ökonomie eindeutig entgegengesetzt und antagonistisch ist.

Was wir heute betonen wollen, ist, dass die Gewerkschaft/Syndikat eine perfekt integrierte und funktionale Institution für die Verwirklichung der kapitalistischen Planung ist, mit der spezifischen Aufgabe, die Klasse zu „kontrollieren“ und zu chloroformieren.

Als „Vertreterin“ der Arbeiterklasse stimmt sie sich mit den Bedürfnissen des Kapitals ab und durchdringt sie, indem sie die Kräfte – Kapital und Arbeit -, die bei der Realisierung von Profiten zusammenwirken, neu zusammensetzt, um immer stabilere Gleichgewichte zu erreichen, natürlich unter dem Vorzeichen der Kontinuität der Lohnsklaverei.

Die Gewerkschaft/Syndikat ist das verzerrte Spiegelbild der ökonomischen Bedürfnissphäre des Lohnempfängers und bringt das Warenwesen des Lohnempfängers, der sich verkauft, um andere Waren zu realisieren, voll zum Ausdruck.

Als verdinglichter Ausdruck der Reduktion des Menschen auf die Ware und mit dem Anspruch, nur ökonomische „Interessen“ zu interpretieren, delegiert sie am Ende alles andere an die „Partei“: Sie wird darauf reduziert, den Verkaufs- (und Kauf-)Preis der Arbeitskraft auszuhandeln.

Ihr Ziel ist nicht die Abschaffung der Lohnarbeit, sondern die Angleichung ihrer Kosten. Eine Funktion, die dem Kapital völlig fremd ist und seine ständige Rationalisierung vorantreibt.

Das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus neigt dazu, die Funktion des Lohnarbeiters zu fixieren – und aufrechtzuerhalten – und arbeitet nicht im Geringsten daran, das Lohnarbeiterdasein zu überwinden und zu verleugnen, um die Identität, die Würde und das Bewusstsein des Proletariats anzunehmen, d.h. als praktischer Negator des Kapitalismus, seines gewerkschaftlichen Derivats und von sich selbst.

Es ist völlig sinnlos, über den Zustand des herzlichen Einvernehmens und der perfekten Kollaboration des heutigen Gewerkschaftswesens/Syndikalismus mit dem Staat und den Bossen in der Zunftkammer zu sprechen, denn er ist für alle sichtbar.

Vielleicht ist es wichtiger, sich damit zu beschäftigen, wie sie ihr kapitalistisches Wesen vollständig verwirklicht haben, indem sie sich – im wahrsten Sinne des Wortes – in rein kapitalistische Strukturen wie Banken verwandelt haben. Das ist in Deutschland und den Vereinigten Staaten der Fall, wo die Gewerkschaften/Syndikate eine Reihe von Banken betreiben und somit: Handel treiben, Kredite vergeben, Profitraten festlegen, investieren, spekulieren usw.

Ist es heute sinnvoll, eine gewerkschaftliche/syndikalistische Erneuerung vorzuschlagen, Anarcho-Syndikate zu gründen oder sich als linker Gewerkschafter/Syndikalist sich zu stellen? Das sind die Fragen, über die wir diskutieren müssen.

Wir sind der Meinung, dass die Wiederherstellung einer organisatorischen Trennung zwischen dem ökonomischen und dem politischen Moment einen Rückschritt gegenüber dem Niveau der proletarischen Autonomie der letzten Jahre bedeutet. Es kann keine Trennung reproduziert werden, nur weil man den fotogensten und vorzeigbarsten Teil des Kapitals, nämlich die linke Seite seines Gesichts (die Gewerkschaften/Syndikate), bevorzugt oder zu imitieren versucht. Stattdessen geht es darum, Basisorganisationen zum Leben zu erwecken, die, ausgehend von der Besonderheit der sozialen Struktur, aus der sie hervorgehen, dazu neigen, die Gesamtheit der Spannungen und Bedürfnisse zum Ausdruck zu bringen und dabei kristallisierte Organisationsformen und Interventionspraktiken zu vermeiden.

Sie überschreiten die Grenzen des produktiven Bereichs, in dem sie tätig sind, und vereinen das Territorium und die Probleme, mit denen das Proletariat dort konfrontiert ist, mit allen anderen unerfüllten sozialen Bedürfnissen. Der Versuch, das Geflecht der Bedürfnisse und die Konflikte, die sie hervorbringen, nachzuvollziehen, in einem Moment der Kontinuität der Intervention und der theoretisch-praktischen Komplexität Fabrik und Territorium, antiproduktivistisches Moment und Wiederaneignung der produzierten Waren zu verbinden, den abstrakt „politischen“ Angriff auf die dominante Achse von Partei, Gewerkschaft/Syndikat, Staat und Kapital mit der praktischen Konkretheit der Selbstbeschränkung, der Hausbesetzung mit der Ablehnung von Steuern und der Aushöhlung der Löhne, der Forderung nach Verallgemeinerung der Löhne, der Massifizierung des Einkommens mit der Entlohnung der weiblichen Hausarbeit, der Forderung nach Beschäftigung mit der Abschaffung paläokapitalistischer Formen (von Schwarzarbeit, Akkordarbeit, Heimarbeit), die die Schule mit dem Territorium verbindet, d.h. das Problem des Studenten mit dem der Arbeitslosen, in dem er oder sie aussteigen wird, usw.

In den Fluss der proletarischen Selbstorganisation zu kommen, bedeutet, Anti-Macht-Zellen zu gebären, die perfekt in das soziale Gefüge eingebettet sind und das Krebsgeschwür der praktischen Negation der kapitalistischen Verhältnisse und Werte verbreiten: die Ideologie der Arbeit, des Profits, der Akkumulation, der Arbeitsteilung usw. sowie die Immunisierung der Repressionsstrukturen und ihrer Prätorianer.

Proletarische Selbstorganisation bedeutet, vom Spezifischen der gegebenen Situation auszugehen, um den Bereich der praktischen Intervention auf die Universalität der Funktionen und Rollen auszuweiten, die die Proletarierinnen und Proletarier übernehmen müssen, um das Kapital (und ihre eigene Versklavung) im Austausch für einen Lohn, d. h. einen infinitesimalen Teil der produzierten Waren, zu reproduzieren.

In diesem Prozess, der zur Totalität tendiert, ist es höchst schädlich, Organisationsformen – wie die Gewerkschaft/Syndikat – neu vorzuschlagen, deren Existenzgrundlage auf einer Teilung und Begrenzung beruht: dem ökonomischen Moment und dem Bereich der Produktion, d.h. dem Proletariat nur in der Phase der Produktion.

Diese Verstümmelung zu vermeiden, würde bedeuten, seinen eigenen Platz im Netzwerk der Anti-Macht-Organismen zu finden und vor allem das Proletariat als ein Wesen zu begreifen, das nicht nur produziert, sondern auch konsumiert, das sich mit Kultur, Unterhaltung und Sport entfremdet, das das Kapital in seiner Familie reproduziert (wo er der „Herr“ ist und seine Frauen-Kinder die Proletarier der Situation), dessen Sexualität immer verzerrt und sublimiert ist, das Lebensmittel mit geringem Nährwert isst, wenn sie nicht völlig schädlich sind, das in Städten des Wahnsinns und der Umweltverschmutzung lebt usw. Es geht darum, eine enorme kritische Intervention – theoretisch und dann praktisch – zu entwickeln, die sich auf die Gesamtheit der bestehenden Bedingungen erstreckt. Es geht darum, das Proletarische in seiner Gesamtheit zu begreifen, ohne das Ökonomische, das Politische, das Militärische, die Stadtplanung usw. zu privilegieren.

Sich auf die ökonomische Sphäre zu beschränken und sich darin zu erschöpfen, ist der beste Weg, um sich selbst dazu zu zwingen, auf alles andere zu verzichten und Schemata und Formeln – ähnlich wie ausgestopfte Tiere – einer proletarischen Bewegung zu reproduzieren, die sich gegen einen alten, jetzt veränderten Kapitalismus stellte.

Ist der Anarchosyndikalismus erneuerbar?

Tito Pulsinelli

[Veröffentlicht in „Anarchismo“ Nr. 12, November-Dezember 1976, S. 353-355]


Syndikalismus, von Anton Pannekoek, 1936

Quelle: Trade-Unionism / J[ohn]. H[arper]. [=Anton Pannekoek]. – In: International Council Correspondence, Vol. II (1935-1936), Nr. 2 (Januar 1936)

Wie muss die Arbeiterklasse den Kapitalismus bekämpfen, um zu gewinnen? Das ist die alles entscheidende Frage, vor der die Arbeiterinnen und Arbeiter jeden Tag stehen. Welche effizienten Aktionsmittel, welche Taktiken können sie anwenden, um die Macht zu erobern und den Feind zu besiegen? Keine Wissenschaft, keine Theorie kann ihnen genau sagen, was sie tun sollen. Aber spontan und instinktiv, durch Ausprobieren, durch das Erspüren von Möglichkeiten, fanden sie ihre Handlungsmöglichkeiten. Und als der Kapitalismus wuchs, die Erde eroberte und seine Macht ausbaute, wuchs auch die Macht der Arbeiterinnen und Arbeiter. Neue Aktionsformen, die breiter und effizienter waren, kamen zu den alten hinzu. Es liegt auf der Hand, dass sich mit den veränderten Bedingungen auch die Aktionsformen und Taktiken des Klassenkampfes ändern müssen. Das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus ist die wichtigste Form der Arbeiterbewegung im starren Kapitalismus. Die isolierten Arbeiterinnen und Arbeiter sind gegenüber den kapitalistischen Arbeitgebern machtlos. Um dieses Handicap zu überwinden, organisieren sich die Arbeiterinnen und Arbeiter in Gewerkschaften/Syndikate. Die Gewerkschaft/Syndikat bindet die Arbeiterinnen und Arbeiter zu gemeinsamen Aktionen zusammen, wobei der Streik ihre Waffe ist. Dann ist das Kräfteverhältnis relativ ausgeglichen oder manchmal sogar am stärksten auf der Seite der Arbeiterinnen und Arbeiter, so dass der isolierte kleine Arbeitgeber gegenüber der mächtigen Gewerkschaft/Syndikat schwach ist. Daher stehen sich im entwickelten Kapitalismus Gewerkschaften/Syndikate und Arbeitgeberverbände (Verbände, Trusts, Unternehmen usw.) als kämpfende Kräfte gegenüber.

Das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus entstand zuerst in England, wo sich der Industriekapitalismus zuerst entwickelte. Später verbreitete sie sich in anderen Ländern als natürlicher Begleiter der kapitalistischen Industrie. In den Vereinigten Staaten herrschten ganz besondere Bedingungen. Zu Beginn sorgte der Reichtum an freiem, unbesetztem Land, das den Siedlern offenstand, für einen Mangel an Arbeiterinnen und Arbeitern in den Städten und für relativ hohe Löhne und gute Bedingungen. Die American Federation of Labour wurde zu einer Macht im Land und konnte den in ihren Gewerkschaften/Syndikaten organisierten Arbeiterinnen und Arbeitern einen relativ hohen Lebensstandard sichern.

Es ist klar, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter unter diesen Bedingungen nicht einen Moment lang auf die Idee kommen konnten, den Kapitalismus zu stürzen. Der Kapitalismus bot ihnen einen ausreichenden und ziemlich sicheren Lebensunterhalt. Sie fühlten sich nicht als getrennte Klasse, deren Interessen der bestehenden Ordnung feindlich gegenüberstanden; sie waren ein Teil von ihr; sie waren sich bewusst, dass sie an allen Möglichkeiten eines aufsteigenden Kapitalismus auf einem neuen Kontinent teilhatten. Es gab Platz für Millionen von Menschen, die hauptsächlich aus Europa kamen. Für diese wachsenden Millionen von Bauern war eine schnell wachsende Industrie notwendig, in der Arbeiterinnen und Arbeiter mit Energie und Glück zu freien Handwerkern, kleinen Geschäftsleuten und sogar reichen Kapitalisten aufsteigen konnten. Es ist nur natürlich, dass hier ein wahrer kapitalistischer Geist in der Arbeiterklasse herrschte.

Das Gleiche war in England der Fall. Hier lag es an Englands Monopol im Welthandel und in der Großindustrie, am Mangel an Konkurrenten auf den ausländischen Märkten und am Besitz reicher Kolonien, die England enormen Reichtum brachten. Die Kapitalistenklasse brauchte nicht um ihre Gewinne zu kämpfen und konnte den Arbeiterinnen und Arbeitern einen angemessenen Lebensunterhalt ermöglichen. Natürlich waren anfangs Kämpfe nötig, um ihnen diese Wahrheit klarzumachen, aber dann konnten sie Gewerkschaften/Syndikate zulassen und Löhne im Austausch für den Arbeitsfrieden gewähren. So wurde auch hier die Arbeiterklasse vom kapitalistischen Geist durchdrungen.

Dies steht in völligem Einklang mit dem innersten Charakter des Gewerkschaftswesens/Syndikalismus. Das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus ist eine Aktion der Arbeiterinnen und Arbeiter, die nicht über die Grenzen des Kapitalismus hinausgeht. Ihr Ziel ist es nicht, den Kapitalismus durch eine andere Produktionsform zu ersetzen, sondern gute Lebensbedingungen innerhalb des Kapitalismus zu sichern. Ihr Charakter ist nicht revolutionär, sondern konservativ.

Natürlich ist die gewerkschaftliche/syndikalistische Aktion Klassenkampf. Im Kapitalismus gibt es einen Antagonismus der Klassen – Kapitalisten und Arbeiterinnen und Arbeiter haben entgegengesetzte Interessen. Nicht nur in der Frage der Erhaltung des Kapitalismus, sondern auch innerhalb des Kapitalismus selbst, wenn es um die Aufteilung des Gesamtprodukts geht. Die Kapitalisten versuchen, ihre Gewinne, den Mehrwert, so weit wie möglich zu steigern, indem sie die Löhne senken und die Arbeitszeit oder die Arbeitsintensität erhöhen. Die Arbeiterinnen und Arbeiter hingegen versuchen, ihre Löhne zu erhöhen und ihre Arbeitszeit zu verkürzen.

Der Preis der Arbeitskraft ist keine feste Menge, auch wenn er ein bestimmtes Hungerminimum überschreiten muss; und er wird von den Kapitalisten nicht aus freien Stücken gezahlt. So wird dieser Antagonismus zum Gegenstand einer Auseinandersetzung, dem eigentlichen Klassenkampf. Es ist die Aufgabe, die Funktion der Gewerkschaften/Syndikate, diesen Kampf zu führen.

Das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus war die erste Schule für proletarische Tugenden, für Solidarität als Geist des organisierten Kampfes. Sie verkörperte die erste Form der proletarischen organisierten Macht. In den frühen englischen und amerikanischen Gewerkschaften/Syndikate versteinerte diese Tugend oft und entartete zu einer engen Handwerkskorporation, einer wahrhaft kapitalistischen Geisteshaltung. Anders war es jedoch dort, wo die Arbeiterinnen und Arbeiter um ihre Existenz kämpfen mussten, wo die äußersten Anstrengungen ihrer Gewerkschaften/Syndikate ihren Lebensstandard kaum aufrechterhalten konnten, wo die volle Wucht eines energischen, kämpferischen und expandierenden Kapitalismus auf sie einschlug. Dort mussten sie die Weisheit lernen, dass nur die Revolution sie endgültig retten kann.

Es gibt also eine Diskrepanz zwischen der Arbeiterklasse und dem Gewerkschaftswesen/Syndikalismus. Die Arbeiterklasse muss über den Kapitalismus hinausblicken. Der Gewerkschaftswesen/Syndikalismus lebt vollständig innerhalb des Kapitalismus und kann nicht über ihn hinausblicken. Der Gewerkschaftswesen/Syndikalismus kann nur einen Teil des Klassenkampfes darstellen, einen notwendigen, aber engen Teil. Und er entwickelt Aspekte, die ihn in Konflikt mit den größeren Zielen der Arbeiterklasse bringen.

Mit dem Wachstum des Kapitalismus und der Großindustrie müssen auch die Gewerkschaften/Syndikate wachsen. Sie werden zu großen Unternehmen mit Tausenden von Mitgliedern, die sich über das ganze Land erstrecken, mit Sektionen in jeder Stadt und jeder Fabrik. Es müssen Funktionäre ernannt werden: Vorsitzende, Sekretäre, Schatzmeister, die die Geschäfte führen und die Finanzen verwalten, sowohl auf lokaler als auch auf zentraler Ebene. Sie sind die Anführer, die mit den Kapitalisten verhandeln und durch diese Praxis eine besondere Fähigkeit erworben haben. Der Vorsitzende einer Gewerkschaft/Syndikats ist ein hohes Tier, so groß wie der kapitalistische Arbeitgeber selbst, und er verhandelt mit ihm auf Augenhöhe über die Interessen seiner Mitglieder. Die Funktionäre sind Spezialisten für die gewerkschaftliche/syndikalistische Arbeit, die die Mitglieder, die ganz mit ihrer Fabrikarbeit beschäftigt sind, nicht selbst beurteilen oder leiten können.

Eine so große Körperschaft wie eine Gewerkschaft/Syndikat ist nicht einfach eine Versammlung einzelner Arbeiterinnen und Arbeiter; sie wird zu einem organisierten Körper, wie ein lebendiger Organismus, mit einer eigenen Politik, einem eigenen Charakter, einer eigenen Mentalität, eigenen Traditionen und eigenen Funktionen. Sie ist ein Organ mit eigenen Interessen, die sich von den Interessen der Arbeiterklasse unterscheiden. Sie hat den Willen zu leben und für ihre Existenz zu kämpfen. Sollte es dazu kommen, dass die Gewerkschaften/Syndikate für die Arbeiterinnen und Arbeiter nicht mehr notwendig sind, dann würden sie nicht einfach verschwinden. Ihre Gelder, ihre Mitglieder und ihre Funktionäre: All das sind Realitäten, die nicht sofort verschwinden, sondern als Elemente der Organisation weiterbestehen werden.

Die Funktionäre der Gewerkschaft/Syndikats, die Anführer der Arbeiterinnen und Arbeiter, sind die Träger der speziellen Gewerkschafts-, Syndikatsinteressen. Ursprünglich waren sie Arbeiterinnen und Arbeiter aus dem Betrieb, aber durch ihre lange Tätigkeit an der Spitze der Organisation haben sie einen neuen sozialen Charakter bekommen. In jeder sozialen Gruppe, die groß genug ist, um eine spezielle Gruppe zu bilden, prägt und bestimmt die Art ihrer Arbeit ihren sozialen Charakter, ihre Denk- und Handlungsweise. Die Funktion der Beamten und Beamtinnen ist eine ganz andere als die der Arbeiterinnen und Arbeiter. Sie arbeiten nicht in Fabriken, sie werden nicht von Kapitalisten ausgebeutet, ihre Existenz ist nicht ständig von Arbeitslosigkeit bedroht. Sie sitzen in Büros, in ziemlich sicheren Positionen. Sie müssen sich um die Angelegenheiten der Unternehmen kümmern, auf Versammlungen der Arbeiterinnen und Arbeiter sprechen und mit den Arbeitgebern diskutieren. Natürlich müssen sie sich für die Arbeiterinnen und Arbeiter einsetzen und ihre Interessen und Wünsche gegenüber den Kapitalisten verteidigen. Das unterscheidet sich jedoch nicht sehr von der Position eines Rechtsanwalts, der als Sekretär einer Organisation für deren Mitglieder eintritt und deren Interessen nach seinen Fähigkeiten verteidigt.

Es gibt jedoch einen Unterschied. Da viele der Anführer aus den Reihen der Arbeiterinnen und Arbeiter stammen, haben sie am eigenen Leib erfahren, was Lohnsklaverei und Ausbeutung bedeuten. Sie fühlen sich als Mitglieder der Arbeiterklasse und der proletarische Geist wirkt oft wie eine starke Tradition in ihnen. Aber die neue Realität ihres Lebens neigt dazu, diese Tradition immer weiter zu schwächen. Ökonomisch gesehen sind sie keine Proletarier mehr. Sie sitzen in Konferenzen mit den Kapitalisten und verhandeln über Löhne und Arbeitszeiten, wobei sie ihre Interessen gegeneinander ausspielen, genauso wie die entgegengesetzten Interessen der kapitalistischen Konzerne gegeneinander abgewogen werden. Sie lernen, die Position des Kapitalisten genauso gut zu verstehen wie die der Arbeiterinnen und Arbeiter; sie haben ein Auge für die „Bedürfnisse der Industrie“; sie versuchen zu vermitteln. Natürlich gibt es persönliche Ausnahmen, aber in der Regel haben sie nicht das elementare Klassengefühl der Arbeiterinnen und Arbeiter, die die kapitalistischen Interessen nicht verstehen und gegen ihre eigenen abwägen, sondern für ihre eigenen Interessen kämpfen. So geraten sie in Konflikt mit den Arbeiterinnen und Arbeitern.

Die Anführer der Arbeiter im fortgeschrittenen Kapitalismus sind so zahlreich, dass sie eine besondere Gruppe oder Klasse mit einem besonderen Klassencharakter und besonderen Interessen bilden. Als Vertreter und Anführer der Gewerkschaften/Syndikate verkörpern sie den Charakter und die Interessen der Gewerkschaften/Syndikate. Die Gewerkschaften/Syndikate sind notwendige Elemente des Kapitalismus, also fühlen sich auch die Anführer als nützliche Staatsbürger in der kapitalistischen Gesellschaft notwendig. Die kapitalistische Funktion der Gewerkschaften/Syndikate besteht darin, Klassenkonflikte zu regeln und den Arbeitsfrieden zu sichern. Daher sehen es die Anführer der Gewerkschaften/Syndikate als ihre Pflicht an, sich für den Arbeitsfrieden einzusetzen und bei Konflikten zu vermitteln. Die Bewährungsprobe der Gewerkschaft/Syndikats liegt ganz und gar im Kapitalismus; deshalb blicken die Anführer der Gewerkschaften/Syndikate nicht über ihn hinaus. Der Selbsterhaltungstrieb, der Wille der Gewerkschaften/Syndikate, zu leben und um ihre Existenz zu kämpfen, verkörpert sich in dem Willen der Anführer, für die Existenz der Gewerkschaften/Syndikate zu kämpfen. Ihre eigene Existenz ist untrennbar mit der Existenz der Gewerkschaften/Syndikate verbunden. Das ist nicht in einem kleinlichen Sinne gemeint, dass sie nur an ihre persönlichen Arbeitsplätze denken, wenn sie für die Gewerkschaften/Syndikate kämpfen. Es bedeutet, dass primäre Lebensnotwendigkeiten und soziale Funktionen die Meinungen bestimmen. Ihr ganzes Leben konzentriert sich auf die Gewerkschaften/Syndikate, nur hier haben sie eine Aufgabe. Das notwendigste Organ der Gesellschaft, die einzige Quelle von Sicherheit und Macht sind für sie also die Gewerkschaften/Syndikate; deshalb müssen sie mit allen Mitteln erhalten und verteidigt werden, auch wenn die Realitäten der kapitalistischen Gesellschaft diese Position untergraben. Dies geschieht, wenn sich die Klassenkonflikte durch die Expansion des Kapitalismus verschärfen.

Die Konzentration des Kapitals in mächtigen Konzernen und ihre Verbindung zur Großfinanz machen die Position der kapitalistischen Arbeitgeber viel stärker als die der Arbeiterinnen und Arbeiter. Mächtige Industriemagnaten herrschen wie Monarchen über große Massen von Arbeiterinnen und Arbeitern; sie halten sie in absoluter Unterwerfung und erlauben „ihren“ Leuten nicht, in Gewerkschaften/Syndikate einzutreten. Ab und zu brechen die schwer ausgebeuteten Lohnsklaven in einem großen Streik aus. Sie hoffen, bessere Bedingungen, kürzere Arbeitszeiten, humanere Arbeitsbedingungen und das Recht auf gewerkschaftliche/syndikalistische Organisierung durchzusetzen. Gewerkschaftliche/Syndikalistische Organizer kommen ihnen zu Hilfe. Doch dann setzen die kapitalistischen Herren ihre soziale und politische Macht ein. Die Streikenden werden aus ihren Häusern vertrieben; sie werden von der Miliz oder angeheuerten Schlägern erschossen; ihre Sprecher werden ins Gefängnis gesteckt; ihre Hilfsaktionen werden per Gerichtsbeschluss verboten. Die kapitalistische Presse prangert ihre Sache als Unordnung, Mord und Revolution an; die öffentliche Meinung wird gegen sie aufgehetzt. Dann, nach monatelangem Durchhalten und heldenhaftem Leiden, erschöpft von Elend und Enttäuschung, unfähig, der eisernen kapitalistischen Struktur eine Delle zuzufügen, müssen sie aufgeben und ihre Forderungen auf günstigere Zeiten verschieben.

In den Branchen, in denen die Gewerkschaften/Syndikate als mächtige Organisationen existieren, wird ihre Position durch dieselbe Kapitalkonzentration geschwächt. Die umfangreichen Mittel, die sie zur Streikunterstützung gesammelt hatten, sind im Vergleich zur Geldmacht ihrer Gegner unbedeutend. Ein paar Aussperrungen (A.d.Ü., lock-outs) können sie völlig aufzehren. Egal, wie sehr der kapitalistische Arbeitgeber die Arbeiterinnen und Arbeiter durch Lohnkürzungen und Arbeitszeitverlängerungen unter Druck setzt, die Gewerkschaft/Syndikat kann keinen Kampf führen. Wenn Verträge erneuert werden müssen, fühlt sich die Gewerkschaft/Syndikat als die schwächere Partei. Sie muss die schlechten Bedingungen akzeptieren, die die Kapitalisten anbieten; da nützt kein Verhandlungsgeschick. Aber jetzt beginnt der Ärger mit den einfachen Mitgliedern. Sie wollen kämpfen; sie werden sich nicht unterwerfen, bevor sie gekämpft haben, und sie haben nicht viel zu verlieren, wenn sie kämpfen. Die Anführer hingegen haben viel zu verlieren – die Finanzkraft der Gewerkschaft/Syndikats, vielleicht sogar ihre Existenz. Sie versuchen, den Kampf zu vermeiden, den sie für aussichtslos halten. Sie müssen sie davon überzeugen, dass es besser ist, sich zu einigen. Letztendlich müssen sie also als Sprecher der Arbeitgeber auftreten, um den Arbeiterinnen und Arbeitern die Bedingungen der Kapitalisten aufzuzwingen. Noch schlimmer ist es, wenn die Arbeiterinnen und Arbeiter darauf bestehen, gegen die Entscheidung der Gewerkschaften/Syndikate zu kämpfen. Dann muss die Macht der Gewerkschaft/Syndikats als Waffe eingesetzt werden, um die Arbeiterinnen und Arbeiter zu unterdrücken.

So ist der Anführer der Gewerkschaften/Syndikate zum Sklaven seiner kapitalistischen Aufgabe geworden, den Arbeitsfrieden zu sichern – nun auf Kosten der Arbeiterinnen und Arbeiter, obwohl er ihnen doch so gut wie möglich dienen wollte. Er kann nicht über den Kapitalismus hinausblicken, und innerhalb des Horizonts des Kapitalismus mit einer kapitalistischen Sichtweise hat er Recht, wenn er meint, dass Kämpfen nichts bringt. Ihn zu kritisieren kann nur bedeuten, dass das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus hier an der Grenze seiner Macht steht.

Gibt es denn einen anderen Ausweg? Können die Arbeiterinnen und Arbeiter durch Kämpfe etwas gewinnen? Wahrscheinlich werden sie das unmittelbare Thema des Kampfes verlieren; aber sie werden etwas anderes gewinnen. Indem sie sich nicht unterwerfen, ohne gekämpft zu haben, wecken sie den Geist der Revolte gegen den Kapitalismus. Sie proklamieren ein neues Thema. Aber hier muss die gesamte Arbeiterklasse mitmachen. Der ganzen Klasse, allen Arbeiterinnen und Arbeitern, müssen sie zeigen, dass es im Kapitalismus keine Zukunft für sie gibt und dass sie nur gewinnen können, wenn sie kämpfen, nicht als eine Gewerkschaft/Syndikat, sondern als eine vereinte Klasse. Das bedeutet den Beginn eines revolutionären Kampfes. Und wenn die anderen Arbeiterinnen und Arbeiter diese Lektion verstehen, wenn in anderen Branchen zeitgleiche Streiks ausbrechen, wenn eine Welle der Rebellion über das Land schwappt, dann werden in den arroganten Herzen der Kapitalisten vielleicht Zweifel an ihrer Allmacht und eine gewisse Bereitschaft zu Zugeständnissen aufkommen.

Der Anführer der Gewerkschaften/Syndikate versteht diese Sichtweise nicht, denn die Gewerkschaften/Syndikate können nicht über den Kapitalismus hinausgehen. Er lehnt diese Art des Kampfes ab. Den Kapitalismus auf diese Weise zu bekämpfen, bedeutet gleichzeitig eine Rebellion gegen die Gewerkschaften/Syndikate. Der Anführer der Gewerkschaften/Syndikate steht an der Seite des Kapitalisten, weil sie gemeinsam die Rebellion der Arbeiterinnen und Arbeiter fürchten.

Als die Gewerkschaften/Syndikate gegen die Kapitalistenklasse für bessere Arbeitsbedingungen kämpften, hasste die Kapitalistenklasse sie, aber sie hatte nicht die Macht, sie vollständig zu zerstören. Wenn die Gewerkschaften/Syndikate versuchen würden, alle Kräfte der Arbeiterklasse in ihrem Kampf zu mobilisieren, würde die Kapitalistenklasse sie mit allen Mitteln verfolgen. Sie könnten erleben, dass ihre Aktionen als Rebellion unterdrückt werden, ihre Büros von der Miliz zerstört werden, ihre Anführer ins Gefängnis geworfen und mit Geldstrafen belegt werden und ihre Gelder beschlagnahmt werden. Wenn sie andererseits ihre Mitglieder vom Kampf abhalten, kann die Kapitalistenklasse sie als wertvolle Institutionen betrachten, die erhalten und geschützt werden müssen, und ihre Anführer als verdienstvolle Staatsbürger. Die Gewerkschaften/Syndikate befinden sich also zwischen dem Teufel und dem tiefen blauen Meer: auf der einen Seite die Verfolgung, die für Menschen, die eigentlich friedliche Staatsbürger sein wollten, schwer zu ertragen ist; auf der anderen Seite die Rebellion der Mitglieder, die die Gewerkschaften/Syndikate untergraben kann. Die Kapitalistenklasse wird, wenn sie klug ist, erkennen, dass ein bisschen Scheingefechte erlaubt sein müssen, um den Einfluss der Anführer der Gewerkschaften/Syndikaten auf die Mitglieder zu wahren.

Die Konflikte, die hier entstehen, sind niemandes Schuld; sie sind eine unvermeidliche Folge der kapitalistischen Entwicklung. Der Kapitalismus existiert, aber er ist gleichzeitig auf dem Weg in den Ruin. Er muss als etwas Lebendiges und gleichzeitig als etwas Vergängliches bekämpft werden. Die Arbeiterinnen und Arbeiter müssen einen ständigen Kampf um Löhne und Arbeitsbedingungen führen, während gleichzeitig kommunistische Ideen, mehr oder weniger deutlich und bewusst, in ihren Köpfen erwachen. Sie klammern sich an die Gewerkschaften/Syndikate, weil sie glauben, dass diese immer noch notwendig sind, und versuchen ab und zu, sie in bessere Kampfinstitutionen zu verwandeln. Aber der Geist des Gewerkschaftswesens/Syndikalismus, der in seiner reinen Form ein kapitalistischer Geist ist, steckt nicht in den Arbeiterinnen und Arbeitern. Die Divergenz zwischen diesen beiden Tendenzen im Kapitalismus und im Klassenkampf zeigt sich jetzt als Riss zwischen dem Geist der Gewerkschaften/Syndikate, der hauptsächlich von ihren Anführern verkörpert wird, und dem wachsenden revolutionären Gefühl der Mitglieder. Diese Kluft zeigt sich in den entgegengesetzten Positionen, die sie in verschiedenen wichtigen sozialen und politischen Fragen vertreten.

Die Gewerkschaften/Syndikate sind an den Kapitalismus gebunden; sie haben die besten Chancen, gute Löhne zu erzielen, wenn der Kapitalismus floriert. In Zeiten der Depression muss sie also hoffen, dass der Wohlstand wiederhergestellt wird, und sie muss versuchen, ihn zu fördern. Für die Arbeiterinnen und Arbeiter als Klasse ist der Wohlstand des Kapitalismus überhaupt nicht wichtig. Wenn dieser durch Krisen oder Depressionen geschwächt ist, haben sie die beste Chance, ihn anzugreifen, die Kräfte der Revolution zu stärken und die ersten Schritte in Richtung Freiheit zu unternehmen.

Der Kapitalismus dehnt seine Herrschaft über fremde Kontinente aus und reißt deren Naturschätze an sich, um große Profite zu machen. Er erobert Kolonien, unterjocht die primitive Bevölkerung und beutet sie aus, oft mit schrecklichen Grausamkeiten. Die Arbeiterklasse prangert die koloniale Ausbeutung an und wehrt sich dagegen, aber die Gewerkschaften/Syndikate unterstützen oft die Kolonialpolitik als Weg zum kapitalistischen Wohlstand.

Mit der enormen Zunahme des Kapitals in der heutigen Zeit werden Kolonien und fremde Länder als Orte genutzt, an denen große Kapitalsummen investiert werden können. Sie werden als Absatzmärkte für die Großindustrie und als Rohstoffproduzenten zu wertvollen Besitztümern. Zwischen den großen kapitalistischen Staaten entsteht ein Wettlauf um die Kolonien und ein erbitterter Interessenkonflikt um die Aufteilung der Welt. In dieser Politik des Imperialismus werden die Mittelklassen in einer gemeinsamen Verherrlichung nationaler Größe mitgerissen. Dann stellen sich die Gewerkschaften/Syndikate auf die Seite der Herrenklasse, weil sie den Wohlstand ihres eigenen nationalen Kapitalismus als abhängig von seinem Erfolg im imperialistischen Kampf betrachten. Für die Arbeiterklasse bedeutet der Imperialismus zunehmende Macht und Brutalität ihrer Ausbeuter.

Diese Interessenkonflikte zwischen den nationalen Kapitalismen explodieren in Kriegen. Der Weltkrieg ist die Krönung der Politik des Imperialismus. Für die Arbeiterinnen und Arbeiter bedeutet der Krieg nicht nur die Zerstörung all ihrer Gefühle von internationaler Brüderlichkeit, sondern auch die brutalste Ausbeutung ihrer Klasse für den kapitalistischen Profit. Die Arbeiterklasse, als die zahlreichste und am meisten unterdrückte Klasse der Gesellschaft, muss alle Schrecken des Krieges ertragen. Die Arbeiterinnen und Arbeiter müssen nicht nur ihre Arbeitskraft, sondern auch ihre Gesundheit und ihr Leben hergeben.

Die Gewerkschaften/Syndikate müssen im Krieg jedoch auf der Seite des Kapitalisten stehen. Ihre Interessen sind mit dem nationalen Kapitalismus verknüpft, dessen Sieg sie von ganzem Herzen wünschen müssen. Daher trägt sie dazu bei, starke nationale Gefühle und nationalen Hass zu wecken. Sie hilft der Kapitalistenklasse, die Arbeiterinnen und Arbeiter in den Krieg zu treiben und jeden Widerstand niederzuschlagen.

Die Gewerkschaften/Syndikate verabscheuen den Kommunismus. Der Kommunismus entzieht ihr die Grundlage ihrer Existenz. Im Kommunismus, wo es keine kapitalistischen Arbeitgeber gibt, ist kein Platz für die Gewerkschafts/Syndikats- und Arbeiterführer. Es stimmt, dass in Ländern mit einer starken sozialistischen Bewegung, in denen die Mehrheit der Arbeiterinnen und Arbeiter Sozialistinnen und Sozialisten sind, auch die Anführer der Gewerkschaften/Syndikate Sozialisten sein müssen, sowohl von ihrer Herkunft als auch von ihrem Umfeld her. Aber dann sind sie rechte Sozialisten; und ihr Sozialismus beschränkt sich auf die Idee eines Gemeinwohls, in dem statt gieriger Kapitalisten ehrliche Anführer der Arbeiter die industrielle Produktion leiten werden. Die Gewerkschaften/Syndikate hassen die Revolution. Die Revolution bringt alle gewöhnlichen Beziehungen zwischen Kapitalisten und Arbeiterinnen und Arbeitern durcheinander. In ihren gewaltsamen Zusammenstößen werden alle sorgfältigen tariflichen Regelungen hinweggefegt; im Kampf ihrer gigantischen Kräfte verliert das bescheidene Geschick der verhandelnden Arbeiterführer seinen Wert. Mit all ihrer Macht stellt sich das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus gegen die Ideen der Revolution und des Kommunismus.

Dieser Widerstand ist nicht ohne Bedeutung. Das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus ist eine Macht für sich. Sie verfügt über beträchtliche Mittel als materielles Element der Macht. Sie hat ihren geistigen Einfluss, den sie durch ihre Zeitschriften aufrechterhält und verbreitet, als geistiges Element der Macht. Sie ist eine Macht in den Händen der Anführer, die sie überall dort einsetzen, wo die besonderen Interessen der Gewerkschaften/Syndikate mit den revolutionären Interessen der Arbeiterklasse in Konflikt geraten. Obwohl die Gewerkschaften/Syndikate von den Arbeiterinnen und Arbeitern aufgebaut wurden und aus Arbeiterinnen und Arbeitern bestehen, sind sie zu einer Macht geworden, die über den Arbeiterinnen und Arbeitern steht, so wie die Regierung eine Macht ist, die über dem Volk steht.

Die Formen des Gewerkschaftswesens/Syndikalismus sind in den verschiedenen Ländern unterschiedlich, was auf die verschiedenen Entwicklungsformen des Kapitalismus zurückzuführen ist. Sie sind auch nicht immer in jedem Land gleich. Wenn sie langsam auszusterben scheinen, gelingt es dem Kampfgeist der Arbeiterinnen und Arbeiter manchmal, sie zu verändern oder neue Formen des Gewerkschaftswesens/Syndikalismus zu schaffen. So entstand in England in den Jahren 1880-90 aus den Massen der armen Hafenarbeiter und der anderen schlecht bezahlten, ungelernten Arbeiterinnen und Arbeiter das „neue Gewerkschaftswesen/Syndikalismus“, das den alten Handwerksgewerkschaften (A.d.Ü., sowas wie Zünfte) einen neuen Geist einhauchte. Es ist eine Folge der kapitalistischen Entwicklung, dass sie bei der Gründung neuer Industrien und der Ersetzung von Facharbeitern durch Maschinenkraft große Mengen ungelernter Arbeiterinnen und Arbeiter anhäuft, die unter den schlechtesten Bedingungen leben. Sie werden schließlich zu einer Welle der Rebellion, zu großen Streiks gezwungen und finden so den Weg zu Einheit und Klassenbewusstsein. Sie formen das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus in eine neue Form, die an einen höher entwickelten Kapitalismus angepasst ist. Wenn der Kapitalismus danach zu noch mächtigeren Formen heranwächst, kann dieses neue Gewerkschaftswesen/Syndikalismus natürlich nicht dem Schicksal aller Gewerkschaften/Syndikate entgehen, und dann produziert es die gleichen inneren Widersprüche.

Die bemerkenswerteste Form entstand in Amerika, in den „Industrial Workers of the World“. Die i.w.w. entstand aus zwei Formen der kapitalistischen Expansion. In den riesigen Wäldern und Ebenen des Westens erntete der Kapitalismus die natürlichen Reichtümer mit den Methoden des Wilden Westens, der wilden und brutalen Ausbeutung, und die Arbeiterinnen und Arbeiter wehrten sich ebenso wild und eifersüchtig dagegen. Und in den östlichen Staaten wurden neue Industrien gegründet, die auf der Ausbeutung von Millionen armer Einwanderer beruhten, die aus Ländern mit niedrigem Lebensstandard stammten und nun in Ausbeuterbetrieben oder unter anderen miserablen Arbeitsbedingungen arbeiten mussten.

Gegen den engstirnigen, handwerklichen Geist des alten Gewerkschaftswesens/Syndikalismus, der A.F. of L (A.d.Ü., American Federation of Labor)., der die Arbeiterinnen und Arbeiter eines Industriebetriebs in eine Reihe von getrennten Gewerkschaften/Syndikate aufspaltete, stellte die i.w.w. den Grundsatz: Alle Arbeiterinnen und Arbeiter einer Fabrik müssen als Gefährte und Gefährtinnen gegen den einen Meister eine Gewerkschaft/Syndikat bilden, um als starke Einheit gegen den Arbeitgeber zu agieren. Gegen die Vielzahl der oft eifersüchtigen und zänkischen Gewerkschaften/Syndikate stellte der i.w.w. die Parole auf: eine große Gewerkschaft/Syndikat für alle Arbeiterinnen und Arbeiter (A.d.Ü., One big union for all the workers). Der Kampf der einen Gruppe ist die Sache aller. Die Solidarität erstreckt sich auf die gesamte Klasse. Entgegen der hochmütigen Verachtung der gut bezahlten alten amerikanischen Facharbeiter gegenüber den unorganisierten Einwanderern, waren es diese am schlechtesten bezahlten Proletarier, die der i.w.w. in den Kampf führte. Sie waren zu arm, um hohe Beiträge zu zahlen und gewöhnliche Gewerkschaften/Syndikate zu gründen. Aber als sie ausbrachen und sich in großen Streiks auflehnten, war es der i.w.w., der ihnen beibrachte, wie man kämpft, der im ganzen Land Unterstützungsgelder sammelte und der ihre Sache in seinen Zeitungen und vor Gericht verteidigte. Durch eine glorreiche Reihe von großen Schlachten brachte sie den Geist der Organisation und des Selbstvertrauens in die Herzen dieser Massen. Im Gegensatz zum Vertrauen in die großen Kassen der alten Gewerkschaften/Syndikate setzten die Industriearbeiterinnen und -arbeiter auf die lebendige Solidarität und die Kraft des Durchhaltens, getragen von einer brennenden Begeisterung. Anstelle der schweren, gemauerten Gebäude der alten Gewerkschaften/Syndikate vertraten sie das Prinzip des flexiblen Aufbaus, mit einer schwankenden Mitgliederzahl, die in Friedenszeiten schrumpft und im Kampf selbst anschwillt und wächst. Im Gegensatz zum konservativen kapitalistischen Geist der Gewerkschaften/Syndikate waren die Industriearbeiterinnen und -arbeiter antikapitalistisch und standen für die Revolution. Deshalb wurden sie von der gesamten kapitalistischen Welt mit großem Hass verfolgt. Sie wurden ins Gefängnis geworfen und aufgrund falscher Anschuldigungen gefoltert; für sie wurde sogar ein neues Verbrechen erfunden: das des „kriminellen Syndikalismus“.

Industrieller Syndikalismus/Gewerkschaftswesen allein ist als Methode zum Kampf gegen die Kapitalistenklasse nicht ausreichend, um die kapitalistische Gesellschaft zu stürzen und die Welt für die Arbeiterklasse zu erobern. Sie bekämpft die Kapitalisten als Arbeitgeber auf dem ökonomischen Feld der Produktion, aber sie hat nicht die Mittel, um ihre politische Hochburg, die Staatsmacht, zu stürzen. Trotzdem ist der I.W.W. bisher die revolutionärste Organisation in Amerika gewesen. Mehr als jede andere hat sie dazu beigetragen, Klassenbewusstsein und Einsicht, Solidarität und Einheit in der Arbeiterklasse zu wecken, ihren Blick auf den Kommunismus zu richten und ihre Kampfkraft vorzubereiten.

Die Lehre aus all diesen Kämpfen ist, dass das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus gegen den Großkapitalismus nicht gewinnen kann. Und wenn es doch einmal gewinnt, dann sind diese Siege nur eine vorübergehende Erleichterung. Und doch sind diese Kämpfe notwendig und müssen geführt werden. Bis zum bitteren Ende? – Nein, bis zum besseren Ende.

Der Grund dafür ist offensichtlich. Eine isolierte Gruppe von Arbeiterinnen und Arbeitern mag einem Kampf gegen einen isolierten kapitalistischen Arbeitgeber gewachsen sein. Aber eine isolierte Gruppe von Arbeiterinnen und Arbeitern ist gegen einen Arbeitgeber, hinter dem die gesamte Kapitalistenklasse steht, machtlos. Und das ist hier der Fall: Die Staatsmacht, die Geldmacht des Kapitalismus, die öffentliche Meinung der Mittelklasse, angestachelt durch die kapitalistische Presse, greifen die Gruppe der kämpfenden Arbeiterinnen und Arbeiter an. Aber steht die Arbeiterklasse hinter den Streikenden? Die Millionen anderer Arbeiterinnen und Arbeiter betrachten diesen Kampf nicht als ihre eigene Sache. Sicherlich sympathisieren sie und sammeln oft Geld für die Streikenden, was eine gewisse Erleichterung bringen kann, sofern die Verteilung nicht durch eine richterliche Verfügung untersagt wird. Aber diese nachsichtige Sympathie überlässt den wirklichen Kampf der streikenden Gruppe allein. Die Millionen stehen abseits, passiv. So kann der Kampf nicht gewonnen werden (außer in einigen besonderen Fällen, wenn die Kapitalisten es aus geschäftlichen Gründen vorziehen, Zugeständnisse zu machen), weil die Arbeiterklasse nicht als eine ungeteilte Einheit kämpft.

Anders sieht es natürlich aus, wenn die Masse der Arbeiterinnen und Arbeiter einen solchen Kampf als etwas ansieht, das sie direkt betrifft; wenn sie merken, dass ihre eigene Zukunft auf dem Spiel steht. Wenn sie selbst in den Kampf ziehen und den Streik auf andere Fabriken, auf immer mehr Industriezweige ausweiten, dann muss die staatliche Macht, die kapitalistische Macht, geteilt werden und kann nicht vollständig gegen die einzelne Gruppe von Arbeiterinnen und Arbeitern eingesetzt werden. Sie muss sich der kollektiven Macht der Arbeiterklasse stellen.

Die Ausweitung des Streiks auf immer breitere Kreise bis hin zum Generalstreik ist oft als Mittel zur Abwendung der Niederlage empfohlen worden. Aber das ist natürlich kein wirklich zweckmäßiges Muster, auf das man zufällig stößt und das den Sieg garantiert. Wäre das der Fall, hätten die Gewerkschaften/Syndikate es sicherlich schon mehrfach als reguläre Taktik eingesetzt. Es kann nicht von den Anführern der Gewerkschaften/Syndikate nach Belieben als einfache taktische Maßnahme verkündet werden. Sie muss den tiefsten Gefühlen der Massen entspringen, als Ausdruck ihrer spontanen Initiative, und diese wird erst dann geweckt, wenn das Thema des Kampfes größer ist oder wird als ein einfacher Lohnkampf einer Gruppe. Nur dann werden die Arbeiterinnen und Arbeiter ihre ganze Kraft, ihren Enthusiasmus, ihre Solidarität und ihr Durchhaltevermögen in den Kampf einbringen.

Und all diese Kräfte werden sie brauchen. Denn auch der Kapitalismus wird stärkere Kräfte als bisher ins Feld führen. Vielleicht wurde er durch die unerwartete Demonstration proletarischer Kraft besiegt und überrumpelt und hat deshalb Zugeständnisse gemacht. Aber danach wird er neue Kräfte aus den tiefsten Wurzeln seiner Macht schöpfen und seine Position zurückerobern. Der Sieg der Arbeiterinnen und Arbeiter ist also weder dauerhaft noch sicher. Es gibt keinen klaren und offenen Weg zum Sieg; der Weg selbst muss unter immensen Anstrengungen durch den kapitalistischen Dschungel gehauen und gebaut werden.

Aber auch so wird er einen großen Fortschritt bedeuten. Eine Welle der Solidarität ist durch die Massen gegangen, sie haben die immense Kraft der Klasseneinheit gespürt, ihr Selbstvertrauen ist gestiegen, sie haben den bornierten Gruppenegoismus abgeschüttelt. Durch ihre eigenen Taten haben sie eine neue Weisheit erlangt: was Kapitalismus bedeutet und wie sie als Klasse gegen die Kapitalistenklasse stehen. Sie haben einen Blick auf ihren Weg in die Freiheit erhascht.

So weitet sich das enge Feld des gewerkschaftlichen/syndikalistischen Kampfes zum weiten Feld des Klassenkampfes. Aber jetzt müssen sich die Arbeiterinnen und Arbeiter selbst ändern. Sie müssen einen breiteren Blick auf die Welt werfen. Von ihrem Beruf, ihrer Arbeit innerhalb der Fabrikmauern, muss sich ihr Blick auf die Gesellschaft als Ganzes weiten. Ihr Geist muss sich über die unbedeutenden Dinge um sie herum erheben. Sie müssen sich mit dem Staat auseinandersetzen; sie betreten das Reich der Politik. Die Probleme der Revolution müssen angegangen werden.

J.H.


Anhang

Jenseits von Operaismus und Syndikalismus. Das Ende des Syndikalismus entspricht dem Ende des Operaismus

Für uns ist es auch das Ende der quantitativen Illusion der Partei und der spezifischen Syntheseorganisation. Die Revolte von morgen wird neue Wege gehen.

Die Gewerkschaft/Syndikat befindet sich auf dem Weg zu ihrem traurigen Untergang.

Auf Gedeih und Verderb geht mit dieser strukturellen Form des Kampfes eine Epoche, ein Modell und eine zukünftige Welt zu Ende, die als (verbesserte und korrigierte) Reproduktion der gegenwärtigen Welt gesehen wird.

Wir bewegen uns auf neue und tiefgreifende Umwälzungen zu. In der Produktionsstruktur, in der Sozialstruktur.

Auch die Methoden des Kampfes, die Aussichten und die mittelfristigen Pläne selbst werden verändert.

Die sich ausbreitende Industriegesellschaft eignete sich gut für das Instrument der Gewerkschaften/Syndikate, die von einem Kampfinstrument bald zu einem Instrument der Unterstützung der Produktionsstruktur selbst wurden.

Auch der revolutionäre Syndikalismus spielte eine Rolle: Er trieb die kämpferischsten Komponenten der Arbeiterbewegung voran, drängte sie aber gleichzeitig als Fähigkeit zurück, über die Gesellschaft der Zukunft, die kreativen Bedürfnisse der Revolution nachzudenken. Alles blieb in der Dimension der Fabrik verpackt.

Der Operaimsus war nicht nur ein Gemeinplatz des autoritären Kommunismus. Privilegierte Orte der Klassenkonfrontation zu lokalisieren, ist immer noch eine der tief verwurzelten Gewohnheiten, die sich nicht ändern lassen.

Das Ende des Gewerkschaftswesens/Syndikalismus also. Wir führen dieses Gespräch nun schon seit mehr als fünfzehn Jahren [1975-1986].

Früher ernteten wir Kritik und Erstaunen, vor allem, wenn wir den Anarchosyndikalismus in einen Topf mit derselben negativen Bewertung warfen. Heute werden wir leichter akzeptiert. Denn wer ist nicht kritisch gegenüber dem Gewerkschaftswesen/Syndikalismus? Jeder, oder fast jeder. Nur vergessen wir die Zusammenhänge. Unsere Kritik an dem Gewerkschaftswesen/Syndikalismus war auch eine Kritik an der „quantitativen“ Methode, die alle Merkmale der Partei in „nuce“ aufweist; sie war auch eine Kritik an den spezifischen Syntheseorganisationen (z.B. – in gewisser Hinsicht – an der F.A.I. von heute und gestern); sie war auch eine Kritik an der Respektabilität der Klasse (A.d.Ü., eigentliche Spießbürgertum der Klasse), die von der Bourgeoisie übernommen und durch die Gemeinplätze der so genannten proletarischen Moral auf uns übertragen wurde. All das kann nicht beiseite gelassen werden.

Auch wenn es heute viele Gefährtinnen und Gefährten gibt, die mit uns in unserer mittlerweile traditionellen Kritik am Gewerkschaftswesen/Syndikalismus übereinstimmen, gibt es immer noch wenige, die alle Konsequenzen teilen, die sich aus dieser Kritik ergeben.

In der Welt der Produktion können wir nur mit Instrumenten intervenieren, die sich nicht in die quantitative Perspektive einordnen und daher nicht behaupten können, dass hinter ihnen spezifische anarchistische Organisationen stehen, die an der Hypothese der revolutionären Synthese arbeiten.

Dies erfordert eine andere Methode der Intervention, eine, die „Kerne“ in den Fabriken oder in den Zonen aufbaut und sich darauf beschränkt, den Kontakt zu einer spezifischen Struktur zu halten, die ausschließlich auf Affinität beruht. Aus der Beziehung zwischen der spezifischen Struktur und den Basiskernen entsteht ein neues Modell des revolutionären Kampfes, das darauf abzielt, die Strukturen des Kapitals und des Staates mit einer aufständischen Methodik anzugreifen.

Dieser Ansatz ermöglicht es, die tiefgreifenden Veränderungen in der Produktionsstruktur besser zu verfolgen. Die Fabrik wird bald verschwinden, an ihre Stelle werden neue

Produktionsorganisationen treten, die hauptsächlich auf Automatisierung basieren. Die Arbeitenden von gestern werden (teilweise) in eine Unterstützungsrealität (Dienstleistungen) oder einfach in eine kurzfristige Wohlfahrtssituation und langfristig in ein einfaches Überleben integriert werden. Neue Formen der Arbeit zeichnen sich am Horizont ab. Die klassische Arbeiterfront gibt es schon jetzt nicht mehr. Die Gewerkschaft /Syndikat natürlich auch nicht. Zumindest existiert sie nicht mehr in den Formen, in denen wir sie bisher kannten. Sie wird zu einer Art Holdinggesellschaft, die einen gesellschaftlichen Konsens herstellt. Ein Unternehmen wie jedes andere.

Ein Netzwerk von sich ständig verändernden Beziehungen, die alle unter dem Banner von Partizipation, Pluralismus, Demokratie, Versammlungsrecht usw. stehen, wird sich über die Gesellschaft ausbreiten und (fast) alle Kräfte der Subversion zügeln. Die extremen Aspekte des revolutionären Projekts werden systematisch kriminalisiert. Aber die Revolte wird neue Wege einschlagen, durch tausend neue unterirdische Kanäle eindringen und in hunderttausend plötzlichen Ausbrüchen blinder Wut, scheinbar zweckloser Zerstörung und einer neuen, unverständlichen Symbolik zum Vorschein kommen.

Wir müssen aufpassen, dass wir, die wir oft schmerzhafte und schwere Hypotheken aus der Vergangenheit mit uns herumtragen, nicht von einem Phänomen abgeschnitten werden, das wir am Ende nicht verstehen und dessen Gewalt uns an einem schlechten Tag sogar Angst machen könnte. Und wir müssen zuerst darauf achten, dass wir unsere kritische Analyse ohne Vorspiegelung falscher Tatsachen voll entfalten.

Alfredo M. Bonanno

[Veröffentlicht in „Anarchismo“ Nr. 52, Mai 1986, S. 3].

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Zum Gedenken an Alfredo M. Bonanno https://panopticon.blackblogs.org/2024/04/13/zum-gedenken-an-alfredo-m-bonanno/ Sat, 13 Apr 2024 07:11:27 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5654 Continue reading ]]>

Gefunden auf portal oaca, die Übersetzung ist von uns.

Zum Gedenken an Alfredo M. Bonanno

(Catania 04/März/1937 – Triest 06/Dez/2023)

…niemand ist ganz die Frucht seiner selbst und jeder Mensch, Individuum, ist es sicher, dass er sich in einem Rahmen von Beziehungen befindet, die ihn provozieren und seine Reaktionen, Emotionen und sogar die Logik beeinflussen können, die ihn an diesen Punkt gebracht hat. Antonio Lombardo

Bevor ich über diese Zeilen nachdachte, hatte ich mir die Aufgabe gestellt, Daten zu suchen und zusammenzustellen, um – mit der Absicht, einen Hinweis zu hinterlassen – über eine der vielen aufständischen anarchistischen Aktionen im heutigen Mexiko zu schreiben, die, obwohl sie sporadisch vorkommen, von der „offiziellen“ Geschichtsschreibung, sei es aus „unseren Schützengräben“ oder von der Akademie, nicht erfasst wurden. Im Jahr 2023 jährte sich der sechzigste (60.) Jahrestag einiger kleinerer Anschläge in der Stadt, die von der Juventudes Libertarias de Méxiko (Libertären Jugend Mexikos) durchgeführt wurden, aber ich habe das Thema auf die lange Bank geschoben, weil ich von der Nachricht über den Tod des Gefährten Alfredo überrascht wurde.

Ich hatte keine Gelegenheit, mich mit ihm über Eindrücke auszutauschen; am nächsten dran war ich, als ich vor zehn (10) Jahren kurz an der Koordination der Jornadas Informales Anárquicas / Simposio Internacional in Mexiko-Stadt mitarbeitete.1 Ich hielt es nicht für nötig, ihn direkt anzusprechen – denn ich weigere mich, einer Persönlichkeit zu huldigen -, weil mir schien, dass alles, was über das „aufständische Projekt“ gesagt wurde (einschließlich der Debatte um den Insurrektionalismus), bereits seit Anfang 2000 in einigen anarcho-virtuellen Foren in unserer Sprache zirkulierte, und in geringerem Maße zirkulierten seine Ideen auch in gedruckter Form in einigen Publikationen, auch wenn nur kurze Artikel oder der eine oder andere Vortrag verbreitet wurden. Leider konnte kein vollständiger Text dieser Tendenz gefunden werden; aus diesem Grund habe ich 2005 mehrere Exemplare der Sammlung Cuadernillos Incendiarios aus dem chilenischen Raum erworben, um sie in diesen Breitengraden zu verbreiten.

Aufstand vs. Revolution

…es gibt Menschen, die so erbärmlich sind, dass man sich schon schmutzig macht, wenn man über sie spricht. Und dann gibt es in der Gesellschaft, in der wir leben und mit der wir es zu tun haben, noch viele andere, mächtigere (und noch ernstere) Feinde und Gegner, über deren „Biss“ man leicht hinwegsehen kann, wenn man einen „Fehler“ macht. Gianfranco Bertoli an Alfredo M. Bonanno

Trotz der geringen Verbreitung dieser Beiträge in unserer Region – die damals schon keine Neuheit mehr waren – begannen 2001 in verschiedenen Bundesstaaten des Landes informelle Aktionen. Damals hat für diese ersten Angriffe niemand die Verantwortung übernommen. Das zeigt, dass das „aufständische Projekt“ bereits in einem kleinen Komitee unter einigen Gefährt*innen diskutiert und in die Tat umgesetzt wurde. Das heißt, aus der Notwendigkeit der Aktion und den Erfahrungen, die in einer Reihe von Angriffen gesammelt wurden, wurde eine Theorie entwickelt, die wiederum in die Aktion einfloss und dann die neuen theoretischen Beiträge in gedruckter Form verbreitete und die Debatte durch den internationalen Austausch affiner Positionen festigte. Schließlich wurden einige bonnanistische Postulate aufgegeben und die Angriffe begannen, für die verschiedene informelle Gruppen die Verantwortung übernahmen.

Aus diesem Prozess ging Anfang 2006 die Coordinadora Informal Anarquista (CIA) hervor, die, wie ihr Name schon sagt, versuchte, die anarchischen Aktionen der verschiedenen Gruppen informell zu koordinieren – immer unter Wahrung der individuellen Autonomie -, um den Angriff auf das vom mexikanischen Staat kontrollierte Herrschaftssystem in dieser Region zu konkretisieren und auszuweiten.

Es ist erwähnenswert, dass es in den 1990er Jahren zumindest in Mexiko-Stadt einige direkte Angriffe auf Gebäude und Symbole der Macht gab, darunter die Einrichtungen von SEDENA und die Büros von Pro-Vida in Mexiko. Zu letzterer Aktion übernahm nach Angaben der Zeitung La Jornada das Red Anarquista Amor y Rabia (Anarchistisches Netzwerk Liebe und Wut) die Verantwortung. Am Ende des Jahrzehnts, kurz nach der Auflösung dieser Organisation nach ihrer zapatistischen Erfahrung, gab es einige aufständische Aktivitäten, für die keine Gruppe mit einem konkreten Namen die Verantwortung übernahm und die im Vertrauen auf diejenigen, die sich damals „Gefährten“ nannten, zu einem schrecklichen Ergebnis führten. Dies führte zu Reuen, Denunzianten, Gefährt*innen auf der Flucht und sogar zur Hinrichtung des Verräters.2 In jenen Jahren wussten die meisten von uns Gefährt*innen nichts von der „Konferenz von Triest“ von 1990, auf der ein Vorschlag auf der Grundlage des aufständischen Projekts vorgelegt wurde, wir wussten nichts von dem Aufruf zur „Insurrektionalistische Antiautoritäre Internationale. Vorschlag für eine Debatte“ von 1993, noch viel weniger wussten wir von der Konferenz „Anarchismo“, die im Oktober 1985 in Mailand zum Thema „Anarchismus und das aufständische Projekt“ stattfand; gerade in jenen achtziger Jahren beendete die Federación Anarquista de México – Anarchistische Föderation Mexikos (FAM) ihre nutzlose Existenz und würde dem Punk freien Lauf lassen.

1991 stellten Omar und Chantal von Ediciones Antorcha in ihrem Papier für das 1. Nationale Treffen der Anarchist*innen, das in Ocotepec Morelos stattfand, unter Punkt 6 fest:

Kennzeichnend für den Anarchismus in Mexiko sind feurige „revolutionäre“ Bekundungen, die selbst die ruhigsten Gemüter verwirren. So haben lapidare, aus dem Zusammenhang gerissene und an der Realität vorbeigehende Affirmationen eine berechtigte Angst bei denjenigen ausgelöst, die zwar mit unseren Ideen sympathisieren, es aber vorziehen, sich uns nicht zu nähern, weil sie durch diese in jeder Hinsicht nutzlosen Posen des Revolutionärseins verwirrt worden sind. Aussagen dieser Art erreichen nichts anderes als unsere eigene Isolation und sollten daher vermieden werden.

Offensichtlich gab es in diesen Breitengraden nicht nur keine eigenen Überlegungen, um diese Art von Kommentaren zu widerlegen, sondern es wurde auch absichtlich verhindert, dass die Ideen der Gefährt*innen, die das aufständische Projekt auf dem alten Kontinent ins Leben gerufen hatten, verbreitet wurden. Zu diesem Zweck blieben die Bücher von Alfredo Bonanno in einer vergessenen Schublade der Biblioteca Social Reconstruir unter der eifersüchtigen Obhut des Abtes Ricardo Mestre verschlossen.

Aufständische Aktionen (nur Aktionen, denn in Mexiko gab es bis Anfang der 2000er Jahre keine ernsthafte Debatte über den anarchischen Informalismus) haben in dieser Geografie eine lange Geschichte, auch wenn es ihnen an einer theoretischen Entwicklung fehlt, die eine Konsolidierung der anarchischen Aktion in Übereinstimmung mit unserer Zeit ermöglichen würde. In den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde in Italien die Wiederbelebung des anarchistischen Denkens und Handelns in Angriff genommen, wobei der Gefährte Alfredo zweifelsohne der entschiedenste Verfechter war. In Mexiko lassen sich einige Angriffe und Enteignungen bis in die frühen 1940er Jahre unter dem Einfluss des radikalsten Flügels des spanischen Anarchismus im Exil zurückverfolgen; hervorzuheben ist auch Verbo Rojo de San Luis Potosí, eine der aktivsten Affinitätsgruppen, die in jenen Jahren aus mexikanischen Gefährt*innen zusammengesetzt war3.

Es ist merkwürdig, dass es bis weit in die 1970er Jahre hinein in der lokalen anarchistischen Presse keine Replik auf das gab, was zum Beispiel in Italien in Bezug auf die Aktionen und Debatten des aufständischen Projekts geschah. Zweifellos trieb diese angeborene Unbeweglichkeit einige Anarchisten der damaligen FAM in den 1970er Jahren dazu, sich den marxistisch-leninistischen bewaffneten Gruppen anzuschließen und deren ganzes ideologisches Gepäck zu übernehmen.4

Wenn wir den Anarchismus in unserer Region nachverfolgen wollen, müssen wir bis ins 19. Jahrhundert zurückgehen, aber ich habe nicht vor, in diesen kurzen Zeilen darüber zu berichten. Ich bin kein Spezialist und es gibt viele historische Lücken, zusätzlich zu all dem Schlamm, den einige Historiker, oder sollte ich sie besser „Geschichtenerzähler“ nennen, wie eine Gefährtin vorschlägt, absichtlich ausgeschüttet haben.5

Doch zurück zum zeitgenössischen Anarchismus und der grundlegenden Rolle von Alfredo Bonanno bei der Entwicklung der informellen Thesen, lohnt es sich, an die „Vorschläge“ von Marcos Alcón – der in den 1940er Jahren in Mexiko zu den expropriatorischen Gefährt*innen gehörte – in seiner „Bibliographie“-Rubrik in Tierra y Libertad in den 1970er Jahren zu erinnern, wo er die Lektüre der Beiträge von Alfredo M. Bonanno empfahl.

Tierra y Libertad – Jahrgang XXVI – #337 – Juli 1971 – S. 3

Tierra y Libertad – Jahr XXVII – Nr. 338 – September 1971 – S. 4

Als verschiedene anarchistische Affinitätsgruppen begannen die Verantwortung für Aktionen zu übernehmen, begann der Rest der lokalen Fauna, die Aktionen abfällig als „die Bonanno-Mode“ zu bezeichnen, aber weit davon entfernt, eine Mode zu sein, dass die Beiträge des Gefährten und der aufständischen Tendenz im Allgemeinen, haben wir sie als Teil der Reflexion und Aktion eines kleinen Sektors des zeitgenössischen Anarchismus angenommen, der sich gegen die Wiederholung und Reproduktion von Formeln und Diskursen des klassischen Anarchismus wendet, die durch hohle Akronyme repräsentiert werden und deren Mitglieder sich nur an die Aktionen anderer erinnern, die in einer fernen Zeit durchgeführt wurden, während sie es vermeiden, ihre eigenen Aktionen heute durchzuführen.6

Zweifellos wurde eine ganze Generation von Anarchist*innen von Alfredos Texten beeinflusst, aber es war nicht das, was uns zum Handeln trieb, sondern die Erkenntnis der Stagnation, in der wir uns seit Jahren befinden und die er zu Recht anzuprangern wusste. Alfredo gab uns den theoretischen „Anstoß“, indem er uns durch sein Beispiel ermutigte, mit der Unbeweglichkeit zu brechen, obwohl uns vermeintliche „Gefährten“ den Stinkefinger zeigten, egal wie klein die Aktion auch sein mochte.7 Apropos Verräter: Toni Negri, der 1980 zu den Verrätern von Bonanno gehörte, starb ein paar Tage nach Alfredo, so dass er mit ihm in der Hölle abrechnen können wird.

Ich möchte diese Zeilen mit einem Kommentar des Gefährten Constantino Cavalleri abschließen:

Ich erinnere mich genau an die Intervention eines Gefährten, der am Ende der Initiative (er bezieht sich auf die Jornadas Informales Anárquicas/Simposio Internacional-Informellen Anarchistischen Tage/Internationales Symposium) feststellte, dass die teilnehmenden Gefährt*innen nach diesem Treffen vielleicht mehr verworrene Ideen gehabt hätten, anstatt klarere zu haben. Meiner Meinung nach ist dies ein grundlegender Punkt in der Entwicklung und Praxis einer neuen Art, den Anarchismus zu verstehen: Wir alle sind mit Interpretationsmodellen der Realität konfrontiert, die aus einer mehr oder weniger fernen Vergangenheit stammen und daher nicht mehr gültig sind.8

Sicherlich werden Alfredos Beiträge eher früher als später aktualisiert werden müssen. Wir sind nicht naiv; wir verstehen, dass wir uns in einem ganz anderem Moment befinden als in den 1970er Jahren, als Alfredo begann, seine Ideen zu entwickeln; in einer anderen Zeit als in den 1990er Jahren, als das „aufständische“ Konzept internationalisiert und verfeinert wurde; noch anders als in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts, als anarchistische Debatten und Aktionen in verschiedenen Gegenden wiederbelebt wurden und neue Beiträge entstanden, wie die des Gefährten Gustavo Rodriguez mit der informellen anarchistischen Tendenz und die anarchistisch-nihilistische Kritik der Verschwörung der Feuerzellen in Griechenland.

Und ich schließe mit Cavalleri:

Wir finden uns gleichzeitig dabei wieder, Organisationsmodelle oder auch nur Beziehungen auf Situationen anzuwenden, die für unsere historische Bewegung typisch sind, aber nicht mehr den Bedürfnissen des antiautoritären Kampfes entsprechen; und andererseits haben wir keine anderen Modelle parat, oder die niemand für uns vorbereitet, die uns im täglichen Kampf gegen die etablierte Macht nützlich sind. Das verwirrt uns zunächst, aber die Herausforderung besteht darin, dass es keine absoluten Modelle mehr gibt. Jeder von uns muss sich ausgehend von seiner täglichen Realität bemühen, Lösungen für bestimmte und allgemeine Lesarten des globalisierten Systems, für die Wechselbeziehungen mit anderen und für eine fließende Selbstorganisation zu finden, Dies verhindert eine ohnmächtige Sterilisierung, die Verankerung in Vorurteilen und Dogmen, die Kristallisierung von Energien und Spannungen, die im Gegenteil immer wieder durch neue und noch nie dagewesene Entwicklungen bereichert werden müssen. Der Reichtum des Neuen, das sich hier abzeichnet, besteht gerade in dem Bewusstsein, dass es keine Paradigmen mehr gibt, die unsere Seelen beruhigen, individuell und kollektiv.9

Wir sind also in ständiger Erneuerung und müssen innehalten, um festzustellen, wo wir jetzt stehen, unsere Energien wieder aufladen und auf der Suche nach neuen Paradigmen wieder angreifen. Jetzt verstehe ich, dass wir es nicht eilig haben, aber wir haben ein Herrschaftssystem zu zerstören.

DEN KAMPF FÜR DIE TOTALE BEFREIUNG FORTSETZEN!!!!!
WIR SIND NOCH NICHT FERTIG!!!!!
SOLIDARITÄT MIT ALL UNSEREN AFFINEN, GEFANGENEN GEFÄHRT*INNEN!!!!!

Nihil
Januar 2024
Von irgendwo aus dem Bajío, Mexiko.

1 Alfredo wurde an der Einreise gehindert, mehrere Stunden in der düsteren „Blase“ des Flughafens von Mexiko-Stadt festgehalten und nach Argentinien deportiert. Siehe das Kommuniqué des Gefährten Gustavo Rodríguez, der die Fakten erklärt: https://vozcomoarma.noblogs.org/?p=2237

2In jüngsten Gesprächen mit einigen Gefährten wurde angemerkt, dass es an der Zeit ist, darüber zu schreiben, da seitdem 30 Jahre vergangen sind und es notwendig ist, die Fakten von den Protagonisten zu erzählen und falsche Darstellungen zu verhindern.

3Nach Aussage einiger Gefährten aus der FAM in den 1970er Jahren (Victor García und Fernando Villanueva) war dies die einzige Aktionsgruppe, die aus mexikanischen Gefährten bestand. In Bezug auf den Gefährten Margarito Jiménez gibt uns der Gefährte Ulises Ortega einen weiteren Hinweis. Tatsächlich ist Margarito in die Enteignungen der 30er und 40er Jahre verwickelt, siehe Ortega Aguilar Ulises, „Entre la Expropiación y El Crimen. Un Estudio de Caso Sobre el Exilio Anarquista Español en México (1939-1941)“, Banderas Negras, Mexiko, Januar 2024.

4In einem persönlichen Gespräch mit dem Gefährten Arturo Rivas Mitte letzten Jahres, mit der Absicht, den Anarchismus der Aktion in unserer Region weiter aufzuspüren, sagte er: „In unserem Fall gibt es nichts, wir wurden mit marxistischer Ideologie verwässert und mehrere Gefährten sind gestorben, es gibt nur noch ein oder zwei Gefährten, aber als Anarchisten, nichts“. Ich kenne einige Geschichten von ehemaligen Anarchisten, die sich der Guerilla angeschlossen haben. Neben Arturo sind das Donaciano Reyes, Homero Larrazolo, El Gigo, einer, der in der FRAP registriert ist und dessen Name nicht bekannt ist, Fernando García, Heber Matus, ein weiterer aus der Gruppe Nezahualcoyotl, dessen Name ebenfalls nicht bekannt ist, und ein gewisser Rogelio, der der Arzt des Verräters Ricardo Mestre war.

51950 wurde zum Beispiel bei der Ankunft von Francos inoffiziellem Vertreter Gallostra eine Brandbombe auf dem Flughafen von Mexiko-Stadt gezündet; 1960 wurde kurz nach dem Tod von Quico Sabaté eine weitere Brandbombe in Francos inoffizieller Botschaft in Mexiko-Stadt gezündet; zwischen 59 und 62 machte Alberola mit den Juventudes Libertarias Schießübungen in La Marquesa; 63 gab es einige Anschläge in Mexiko-Stadt als Reaktion auf Francos Repression; 66 sprengte eine anarchistische Gruppe das Denkmal für Miguel Alemán vor der Zentralbibliothek der UNAM in Mexiko-Stadt; 1968 erklärte die CAOS-Gruppe in ihrem Manifest: „Wir sind bereit, bei einem ersten Angriff auf das Stadion einige Menschenleben zu verlieren, aber wir werden die Olympischen Spiele mit allen Mitteln verhindern“, und nicht umsonst hat die DFS seit ihrer Gründung 1947 und bis 1977 Dutzende von Berichten über die verschiedenen sozialen Bewegungen, einschließlich der Anarchisten, ausgearbeitet.

6Bei einem der Treffen vor der Gründung der Lokalen Libertären Föderation Ende 2007 kommentierte einer der Teilnehmer (angesichts des Geldmangels) in einem romantischen und absurden Ton: „Wir brauchen los Solidarios heute“, während er sich weigerte, diejenigen als Gefährt*innen anzuerkennen, die seit Jahren Enteignungen durchführten.

7So wie José Colín Alducín um 2002 in seinem Zine „La Rosa Negra“ eine Gruppe von Gefährtinnen und Gefährtin beschuldigte, „der bewaffnete Flügel“ eines anderen Kollektivs zu sein; genauso wie er Anfang der 1990er Jahre den Gefährten Gustavo Rodríguez beschuldigte, „ein Spitzel“ zu sein und unterstellte, dass die anarchistische Zeitung Amor y Rabia von der CIA finanziert wurde, um „Mexiko zu destabilisieren“.

8Brief von Constantino Cavalleri, 29. November 2016. Eigene Übersetzung.

9Ebenda

]]> Tschüss, Alfredo https://panopticon.blackblogs.org/2023/12/16/tschuess-alfredo/ Sat, 16 Dec 2023 11:48:45 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5358 Continue reading ]]>

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Tschüss, Alfredo

Am vergangenen Mittwoch ist Alfredo Bonanno im Alter von 86 Jahren gestorben.

Über fünfzig Jahre lang hat Alfredo einen sehr wichtigen Beitrag zum revolutionären Anarchismus geleistet, als Redakteur, als Theoretiker, als Mann der Tat, als Experimentator von Organisationsmethoden, die auf Affinität und Informalität basieren. Was ihn radikal von allen Intellektuellen unterschied, war nicht nur seine Ablehnung jeglicher akademischer Karrieren und medialer Repräsentation, sondern die Tatsache, dass die Analyse des Staates und des Kapitalismus für ihn nicht dazu diente, mit klareren Ideen einzuschlafen, sondern um konkrete Konsequenzen – ethische, praktische, organisatorische – für den Alltag zu ziehen. Innerhalb gewisser Invarianten des Anarchismus – allen voran Bakunin, den Alfredo nicht in gelehrten historischen Handbüchern mumifiziert, sondern in die Kämpfe der Gegenwart hineingezogen hat – bestand sein ständiges Bestreben darin, ein der Epoche der technologischen Umstrukturierung des Kapitalismus angemessenes aufständisches Modell zu erdenken und zu praktizieren. Aufstand nicht als Warten auf die Stunde X, sondern als Versuch, konkrete Machtprojekte hier und jetzt mit einer sehr präzisen Methodik anzugreifen: die Affinitätsgruppe als Antrieb, die informelle, von Parteien und Gewerkschaften/Syndikate autonome Struktur als Vorschlag. Vom Individuum über die Gruppe bis hin zu mehr oder weniger großen Teilen der ausgeschlossenen Klasse wurde für Alfredo in der anarchistischen revolutionären Intervention ein qualitativer Begriff von Macht (und Leben) artikuliert.

Aber wir wollen heute nicht über seinen theoretischen Beitrag sprechen, auch nicht über seine hartnäckige Entschlossenheit als Verleger, Organisator, Räuber, Gefangener, sondern über das, was es für einige von uns, damals sehr junge Gefährten, bedeutete, ihn zu kennen. Und ihn nicht nur in den Debatten und Initiativen des Kampfes kennenzulernen, sondern in seinem täglichen Engagement, wo neben seiner beeindruckenden Arbeitsfähigkeit, seiner Offenheit für Konfrontationen, seinem Übermaß an Leben auch sein donnerndes Lachen zum Vorschein kam. Heute denken wir nicht an die Wälzer, Flugblätter oder Kundgebungen, sondern an die Agnolotti, die Alfredo mitten in der Nacht zubereitete, nachdem wir mit dem Schreiben, Blättern und Drucken einer Wochenzeitung fertig waren, an das unwahrscheinliche Outfit – Schlafanzug, Lederschuhe, Schal und Mütze -, mit dem er sich den Technikern der Druckmaschinen oder den Agenten von Digos präsentierte, an die Art und Weise, wie er es verstand, ein zweifellos schwerfälliges Ego mit einer unverkennbaren Selbstironie in Einklang zu bringen.

Zwei Aspekte von Alfredo haben uns wirklich geprägt. Die Spannung nach Kohärenz und der Geist des Abenteuers der Projektualität. Im Gegensatz zur Langatmigkeit mancher seiner Texte waren einige seiner Formeln kurz und stark, wie es nur Lebensgründe sein können.

Warum Kohärenz? Weil wir uns scheiße fühlen, wenn wir nicht auf Ungerechtigkeit reagieren, und wir wollen nicht mit dem Gefühl leben, scheiße zu sein. Muss ich noch mehr sagen?

Und dann der wertvollste seiner Ratschläge, der gerade jetzt, wo wir Zeuge eines unsäglichen Grauens in seinem geliebten Palästina sind, bei uns nachhallt: Wir müssen uns als grenzenlos begreifen und uns von der Realität vor den Kopf stoßen lassen, was er nur allzu großzügig tut, ohne es je zu ahnen.

Denn die Qualität unseres Lebens ist stärker als alles andere. Sogar der Tod.

Ich danke dir, Alfredo.

]]> Für Alfredo https://panopticon.blackblogs.org/2023/12/16/fuer-alfredo/ Sat, 16 Dec 2023 11:47:27 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5356 Continue reading ]]>

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Für Alfredo

14.12.2023

Es schien, als würde dieser Moment nie kommen. Die Gespräche mit Alfredo gaben mir immer die Idee der Gegenwart, des Augenblicks, den es zu ergreifen gilt. Ich glaube, viele von uns verdanken der Lektüre seiner Texte und den langen Gesprächen, die uns immer eine neue Sichtweise vermittelten, so viel. Bei sich selbst anzufangen, ist das Wichtigste, was ich gelernt habe.

Die große Menge an Schriften und Überlegungen und die enorme Menge an Anekdoten und Erfahrungen werden dafür sorgen, dass Alfredo glücklicherweise unter uns bleiben wird, um Ratschläge und Anregungen zu geben, um Einblicke und Ausblicke zu eröffnen, aber auch um Zweifel zu wecken, um Anstrengungen des Nachdenkens und der Vorstellungskraft zu unternehmen, um Projekte aufzubauen, um Verpflichtungen aufrechtzuerhalten, um uns mit Werkzeugen auszustatten, um Käfige zu zerstören. Denn, wie er selbst sagte, „wir sprechen hier von einer Methode, der anarchischen und aufständischen Methode, aber letztendlich ist es eine Erfahrung, von der wir sprechen, nicht Theorien, die sich widersprechen und miteinander einhergehen. Eine Erfahrung, die sich mit der Zeit fortsetzt und sich in der Aktion niederschlägt“. Eine Erfahrung, für die es an einem bestimmten Punkt notwendig ist, „das Buch zu schließen“.

Es gäbe so viele Dinge zu sagen, so viele Dinge zu erinnern, typisch für jemanden, der sein Leben gelebt hat, der unablässig Projekte pflegte und Analysen vorschlug. Es bleibt das Bedauern, dass wir keine Fragen mehr stellen können. Aber jetzt sind wir an der Reihe, es wäre schön zu sagen, den Staffelstab weiterzugeben.

Du hast uns, wie viele andere Gefährten, den Skandal der Freiheit gelehrt, und das ist es, was wir heute wie damals hören und fühlen müssen. Du hast uns ein lebendiges Andenken hinterlassen, das wir eifersüchtig bewahren werden.

Auf Wiedersehen Alfredo!

]]> (Griechenland) Worte des Gefährten Nikos Maziotis zum Gedenken an Alfredo M. Bonanno https://panopticon.blackblogs.org/2023/12/16/griechenland-worte-des-gefaehrten-nikos-maziotis-zum-gedenken-an-alfredo-m-bonanno/ Sat, 16 Dec 2023 11:45:16 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5354 Continue reading ]]>

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(Griechenland) Worte des Gefährten Nikos Maziotis zum Gedenken an Alfredo M. Bonanno
14. Dezember 2023

Der Gefährte Alfredo M. Bonanno ist im Alter von 86 Jahren verstorben. Er lebte sein ganzes Leben in der Welt des Kampfes und der Anarchie. Er war einer der Hauptvertreter der aufständischen Tendenz der italienischen anarchistischen Bewegung, mit einem großen theoretischen Beitrag und redaktioneller Arbeit. Er war Herausgeber der Zeitschrift Anarchismo und anderer anarchistischer Publikationen. Für seine Aktivitäten wurde er zusammen mit anderen Gefährten in den 1990er Jahren wiederholt vom italienischen Staat verfolgt und inhaftiert, zum Beispiel für den Fall O.R.A.I. (1996), für die bewaffnete Enteignung der Cassa Rurale di Serravalle in der Gegend von Trient im Jahr 1994 und für andere Anschläge.

Er war mehrmals in Griechenland gewesen. Das erste Mal traf ich ihn im Januar 1993, als er mich nach einem 50-tägigen Hungerstreik im Militärkrankenhaus 424 in Thessaloniki besuchte. Ich war gerade aus dem Militärgefängnis in Thessaloniki entlassen worden, weil ich mich geweigert hatte, den Militärdienst abzuleisten. Im Jahr 1999 war er auch nach Griechenland gekommen und sagte als Zeuge der politischen Verteidigung in meinem Prozess wegen des Anschlags auf das Ministerium für Entwicklung im Dezember 1997 aus, der eine Geste der Solidarität mit dem Kampf der Bewohner der Dörfer des Golfs von Strymonikos im Norden Griechenlands auf der Halbinsel Chalkidiki (Olympiada, Varvara, Stavros, Asprovalta) gegen die Gründung des kanadischen Goldmultis TVX GOLD war, dem später Hellas Gold, eine Tochtergesellschaft von Eldorado Gold, folgte. Es war ein historischer politischer Prozess in den Annalen der griechischen anarchistischen Bewegung, in dem zum ersten Mal in Griechenland nach dem Sturz der Junta Formen der bewaffneten Aktion und des Kampfes verteidigt wurden. Bei diesem Prozess, der auf einen Aufruf zur internationalen Solidarität folgte, sagten neben den griechischen Gefährten Alfredo Bonanno auch Costantino Cavalleri, ein Gefährte der aufständischen Tendenz der italienischen anarchistischen Bewegung, und die Gefährtin Hellyette Bess aus, die Mitglied der französischen Guerillaorganisation Action Directe war und wegen ihrer Beteiligung an dieser Organisation mehrere Jahre im Gefängnis saß.

Drei damals inhaftierte Action-Directe-Mitglieder, Jean-Marc Rouillan, Joëlle Aubron und Nathalie Ménigon, hatten ebenfalls eine schriftliche Solidaritätsbotschaft an das Gericht geschickt.
Das letzte Mal, als ich den Gefährten Alfredo sah, war 2010-11 im Korydallos-Gefängnis, als wir wegen unserer Beteiligung am „Revolutionären Kampf“ inhaftiert waren. Er war auch im Gefängnis, weil ihm die Enteignung einer Bank in Griechenland vorgeworfen wurde. Mit dem Gefährten Alfredo verbindet uns trotz unserer unterschiedlichen Kampfansätze und Aktionsformen ein unsichtbarer Faden, wie so viele andere Gefährten auf der ganzen Welt, die ihr ganzes Leben dem Kampf zur Befreiung der Menschheit von den Fesseln des Staates und des Kapitals widmen.

GEFÄHRTE, DU BIST IN UNSEREM GEDENKEN UND IN UNSEREN KÄMPFEN NOCH LEBENDIG.

Nikos Maziotis,
verurteilt und inhaftiert für Aktionen, für die die Organisation der Revolutionären Kampf die Verantwortung übernommen hat.
Griechenland, Dez. 2023

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