Cajo Brendel – Soligruppe für Gefangene https://panopticon.blackblogs.org Für die Anarchie! Knäste, Staat, Patriarchat und Kapital abschaffen! Sat, 25 Jan 2025 12:14:10 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.1 https://panopticon.blackblogs.org/wp-content/uploads/sites/1233/2020/02/cropped-discharge-degenerik-blog-1-32x32.jpg Cajo Brendel – Soligruppe für Gefangene https://panopticon.blackblogs.org 32 32 Dritte-Weltismus und Sozialismus, Cajo Brendel https://panopticon.blackblogs.org/2025/01/18/dritte-weltismus-und-sozialismus-cajo-brendel/ Sat, 18 Jan 2025 21:03:10 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=6145 Continue reading ]]>

Gefunden auf archives autonomies, die Übersetzung ist von uns. Eine Kritik von Cajo Brendel an „nationalen Befreiungsbewegungen“.


Dritte-Weltismus und Sozialismus, Cajo Brendel

In den zwei Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg wurde die politische Bühne von den antiimperialistischen Kämpfen der kolonialisierten Völker beherrscht. Die chinesische Revolution ist nur der prominenteste Fall eines Kolonialvolkes, das in sehr harte Kämpfe gegen einen viel mächtigeren imperialistischen Feind verwickelt ist – Kuba, Algerien und Vietnam sind ebenfalls Beispiele unter vielen.

Während diese antiimperialistischen Kämpfe tobten, führte die metropolitane Arbeiterklasse nur wenige politisch bemerkenswerte Schlachten gegen ihre eigenen Herren; in keinem der Industrieländer erhob sich das Proletariat gegen die Bourgeoisie, um deren politische Macht in Frage zu stellen. Der ungarische Aufstand von 1956 war wie der Kronstädter Aufstand 1921 in Russland1 von politischer Bedeutung, aber da er in einem Land stattfand, in dem das Privateigentum an Produktionsmitteln bereits abgeschafft worden war, passte er nicht in die orthodoxe marxistische Analyse der gesellschaftlichen Dynamik, und seine tiefere Bedeutung blieb unbeachtet. Unter diesen Umständen entstanden die „Dritte-Weltismus“-Theorien.

Diese Theorien konzentrierten sich hauptsächlich auf die folgenden Punkte:

1.) Das Proletariat der Industrieländer revoltiert nicht, weil es von den Brosamen der Ausplünderung der kolonialen Welt gesättigt ist. Dieser Umstand erstickt seine revolutionäre Initiative. Das Proletariat in diesen Ländern ist korrupt und in die bourgeoise Ordnung integriert.

2.) Die Bevölkerung der kolonialen Länder, deren Arbeit die Rohstoffe liefert, die der Imperialismus benötigt, bildet ein Weltproletariat“ (auch wenn es sich um Bauern handelt, die nicht in eine industrielle Tätigkeit eingebunden sind). Im Weltmaßstab sind sie die revolutionäre Klasse. Und sie sind es, die sich in bewaffneten Aufständen gegen den Imperialismus erhoben haben. Die antikoloniale Revolution ist daher die sozialistische Revolution unserer Zeit.

3. Bauern auf der ganzen Welt werden den bewaffneten Kampf aufnehmen und die städtischen Zentren einkreisen (genau wie in China und Kuba). Außerdem werden diese Zentren in einer ökonomischen Krise zusammenbrechen (da ihnen die Rohstoffquellen, Märkte und Arbeitskräfte entzogen wurden). Das städtische Proletariat wird sich in dieser Phase der siegreichen Revolution der kolonialen Bauern anschließen.

Die drei oben genannten Punkte, die vielleicht bis zu einem gewissen Grad vereinfacht sind, stellen dar, was wir unter der Theorie des „Dritte-Weltismus“ verstehen. Wie jede andere Orthodoxie hat sie viele Varianten, von denen jede für sich beansprucht, die einzig authentische zu sein. Auf jeden Fall bilden diese drei Punkte den gemeinsamen Nenner derjenigen, die der „Dritte-Weltismus“-Ideologie anhängen.

Der „Dritte-Weltismus“-Marxismus ignoriert die grundlegenden Annahmen der marxistischen Gesellschaftsanalyse. Nach Marx ist eine Revolution nicht nur ein Aufstand gegen das Elend. Sie ist die Legitimation eines neuen Ensembles von sozialen Beziehungen, die vor der Revolution aufgrund einer neuen Produktionstechnologie entstanden sind. Nach Marx ist es nicht die Revolution, die eine neue Gesellschaft hervorbringt, sondern ein neues Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse, das eine Revolution hervorbringt und ihr dann die Möglichkeit gibt, sich zu entwickeln. So konnten die großen Revolutionen in England (1640) und Frankreich (1789) nur die Gesellschaftsordnung legitimieren, die die Bourgeoisie jahrzehntelang hervorgebracht hatte.

Welche Art von Gesellschaft reifte in den Kolonialländern vor ihrer Unabhängigkeit heran? Das Industrieproletariat in diesen Ländern war fast nicht existent und konnte keine entscheidende Rolle spielen. Der Kampf der Kolonialvölker war in erster Linie eine Bauernrevolte. Revolutionen, die von halbmilitärischen Parteien angeführt und durch militärische Kämpfe vollendet wurden, brachten Regime hervor, die zutiefst von ihren Ursprüngen geprägt waren. Die neuen politischen Strukturen sind ein Abbild der Formen des Machtkampfes: reglementiert, autoritär, doktrinär, bürokratisch. Neue Regime dieser Art können die Millionen von Menschen, die in den modernen Industrieländern leben, nicht inspirieren. Alle Revolutionen in einem unterentwickelten Land haben die absolute Herrschaft einer politischen oder militärischen Bürokratie hervorgebracht. Selbst wenn sie von ihrer eigenen Bevölkerung toleriert werden (oft nach der Inhaftierung oder Hinrichtung jeglicher Opposition – einschließlich der Linken), können diese Regime nicht als Modell oder Ziel für die Menschen in einer modernen Industriegesellschaft dienen.

Das bedeutet nicht, dass diese Revolutionen wertlos waren. Wo Tausende von Menschen verhungern, ist man fehl am Platz, wenn man sich über den Mangel an Demokratie beschwert. Selbst wenn die chinesischen, kubanischen oder algerischen Revolutionen nichts weiter getan hätten, als das Elend in diesen Kolonialländern zu verringern, wären sie nicht nutzlos gewesen. In Wirklichkeit haben sie mehr getan, als nur hungrige Bäuche zu füllen: Sie haben das Analphabetentum beseitigt, das Privateigentum an Land abgeschafft, die Industrialisierung eingeleitet und so weiter. Aber nichts davon kann weder implizit noch explizit so verstanden werden, dass es auch nur das Geringste mit Sozialismus zu tun hätte: Die fortgeschrittenen Länder haben viel mehr als das produziert, und wir kritisieren sie immer noch gnadenlos. Beim Sozialismus geht es um eine grundlegende Veränderung der Produktionsverhältnisse: die Abschaffung des Verhältnisses von Herrschenden und Beherrschten in den Produktionskräften und in allen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens. Die Revolten in der Dritten Welt bringen keine neue Art von Gesellschaftsordnung hervor, die für die Industriegesellschaft gültig ist.

Darüber hinaus ist der Spielraum für nationale politische Autonomie, der in solchen Staaten existiert, oft sehr begrenzt. Ökonomische und militärische Hilfe, allgegenwärtige „Berater“, das Erbe besonderer politischer Strukturen und etablierter Handelsströme neigen dazu, solche Staaten in einer Situation der Abhängigkeit von ihren früheren imperialistischen Herren zu belassen: siehe die Beziehungen Algeriens zu Frankreich. Wo die Revolte tiefer ging, entstehen neue politische Strukturen und neue Handelsströme, und in der Regel findet sich das Land zunehmend unter dem Einfluss anderer Supermächte wieder. Die kubanische Unterstützung für den russischen Einmarsch in die Tschechoslowakei zeigte, wie sehr Castro davon abhängig war, dass die Russen die Zuckerernte aufkauften – der Handel mit Prinzipien steht in direktem Zusammenhang mit dem Prinzip des Handels. Selbst wenn echte „politische“ Unabhängigkeit erlangt wird, wie im Fall Chinas, werden die Prinzipien den durch den Handel vermittelten Vorteilen geopfert. 1964 sabotierte die maoistische KP Japans einen Generalstreik im Zusammenhang mit ihren Bemühungen, den chinesisch-japanischen Handel zu fördern, und zwei Jahre später wurde bekannt, dass die Chinesen die USA mit Flach- und Rundstahl belieferten, der für ihre Kriegsanstrengungen in Vietnam unerlässlich war.

Auch wenn die „ökonomische Katastrophe“ der Ballungszentren nicht eintritt – wie jeder, der mit dem Primat des internen Marktes im modernen Kapitalismus vertraut ist, leicht hätte vorhersehen können – ist es so, dass die Industrieländer weniger von den unterentwickelten Ländern abhängig sind als diese von den Industrieländern. Nicht nur, dass Kunstfasern die Baumwolle ersetzen können, sondern auch, dass die baumwollproduzierenden Länder sehr arme Märkte für z.B. Autos oder Computer darstellen. Moderne Industrieländer sind im Vergleich zu früher immer weniger von ihren ehemaligen Kolonien abhängig, sowohl was Rohstoffe als auch was Märkte betrifft. Holland hat Indonesien verloren, Belgien den Kongo, die USA wurden aus Kuba hinausgeworfen, ohne dass ihre Ökonomien zusammengebrochen wären.

Dennoch haben die Kämpfe der Kolonialvölker etwas zur revolutionären Bewegung beigetragen. Die Tatsache, dass schlecht bewaffnete Bauernvölker den enormen Kräften des modernen Imperialismus entgegentreten konnten, erschütterte den Mythos der Unbesiegbarkeit der militärischen, technologischen und wissenschaftlichen Macht des Westens. Ihr Kampf hat auch Millionen von Menschen die Brutalität und den Rassismus des Kapitalismus vor Augen geführt und viele, vor allem junge Menschen und Studenten, dazu gebracht, den Kampf gegen ihre eigenen Regime aufzunehmen. Die Unterstützung der kolonialen Völker gegen den Imperialismus bedeutet jedoch nicht die Unterstützung irgendeiner der Organisationen, die an diesem Kampf beteiligt sind.

Unsere Weigerung, politische Organisationen zu unterstützen, die nationalistische, bourgeoise oder staatskapitalistische Programme verfolgen, ist nicht nur eine Frage der Treue zu revolutionären, moralischen und ideologischen Prinzipien. Es ist auch eine Frage der politischen Solidarität. In vielen Fällen kommt es vor, dass es in großen, reichen und lauten Organisationen kleine Gruppen von Militanten gibt, revolutionäre Internationalisten, die in einem sehr scharfen Konflikt nicht nur mit dem Imperialismus, sondern auch mit ihren eigenen nationalistischen „Partnern“ stehen. In China wurden z. B. sowohl Anarchisten als auch Trotzkisten auf dem Weg der KP zum Sieg zerschlagen. Die Anwälte des „Realismus“, die ihre Unterstützung mehr nach Größe als nach Programm, nach objektiven Bedingungen als nach subjektivem Bewusstsein gewähren, verraten nicht nur ihre revolutionären Prinzipien, sondern auch diejenigen, die in den betreffenden Ländern für dieselben Prinzipien kämpfen. Es ist die Politik derer, die sich den „objektiven Bedingungen“ anpassen, anstatt die Politik derer, die es wagen, sie herauszufordern und zu verändern.


1Vgl. Ungarn, 1956 von Andy Anderson; und Ida Mett, La Commune de Cronstadt, Crépuscule sanglant des Soviets (Die Kronstädter Kommune, Blutige Dämmerung der Sowjets), Spartacus Hefte. (A.d.Ü., Ida Mett, Kommune von Kronstadt, auch auf unseren Blog veröffentlicht)

]]> Cajo Brendel – Kritik des Leninschen Bolschewismus https://panopticon.blackblogs.org/2023/01/23/cajo-brendel-kritik-des-leninschen-bolschewismus/ Mon, 23 Jan 2023 10:20:18 +0000 http://panopticon.blackblogs.org/?p=4730 Continue reading ]]> Cajo Brendel – Kritik des Leninschen Bolschewismus

Kritik der Leninschen Revolutionstheorie

I.

Im August-September 1917, nur wenige Wochen bevor die Bolschewiki in Rußland am Ruder standen, verfaßte Lenin in Helsingfors anhand ausführlicher Aufzeichnungen, die er während seines Aufenthalts in der Schweiz gemacht hatte, seine berühmte Schrift „Staat und Revolution“. Im Untertitel war von „Aufgaben des Proletariats in der Revolution“ die Rede, was, mehr als irgend etwas anderes, den eigentlichen Gegenstand bildete, da von einer wirklichen systematischen, insbesondere auch methodischen Darlegung der Marxschen Staatstheorie doch wohl kaum gesprochen werden konnte. Gleich am Anfang, auf der ersten Seite des ersten Kapitels, liest man: „… angesichts der unerhörten Verbreitung, die die Entstellungen des Marxismus gefunden haben, besteht unsere Aufgabe in erster Linie in der Wiederherstellung und der wahren Marxschen Lehre vom Staat“1. Und gleich hier schon – die Auseinandersetzungen des Autors haben noch nicht einmal angefangen – gibt es von marxistischer Sicht aus einiges zu bemerken.

Wenn nämlich Lenin dort, wo er in den polemischen Teilen seines Buches sich näher mit den Entstellungen und deren Urhebern (wie Kautsky und Bernstein) beschäftigt, letzteren eine unrichtige Interpretation des Marxismus und dessen Fälschung vorwirft, so vergißt er, daß keine Kritik damit fertig wäre, diese Marx-Interpretation bloß als unrichtig und die Interpreten als „Verräter“ oder „Renegaten“ zu charakterisieren. Denn auf diese Weise begeht er denselben Fehler, den Marx in seiner „Deutschen Ideologie“ den Jung-Hegelianern vorwirft. Sie versäumten, nach dem Zusammenhang der deutschen Philosophie mit der deutschen Wirklichkeit, nach dem Zusammenhang ihrer Kritik mit ihren eigenen materiellen Verhältnissen zu fragen, und sie bekämpften die wirkliche Welt durchaus nicht, solange sie nur die Phrasen dieser Welt entlarvten. Worauf es ankommt ist, die jeweiligen Interpretationen dadurch zu erklären und somit zu verstehen, daß man ihre Ursachen darlegt. Lenin tut das nicht!

An sich besagt das Wort „Entstellungen“ nichts, trägt eine eventuelle Beweisführung, daß es sich tatsächlich darum handelte kaum zu einer tieferen Einsicht bei. Darauf hinzuweisen hat seine guten Gründe. Wir wollen hier den Beweis erbringen, daß Lenin, wenn nicht durch dieselben, dennoch durch ähnliche Ursachen ebenfalls die Marxschen Auffassungen, sei es auf ganz andere Weise als die von ihm angegriffenen Schriftsteller, falsch verstanden und daß seine Revolutionstheorie mit dem Marxismus nichts zu tun hat. Das aber liegt, ebenso wenig wie bei jenen, weder an etwa ungenügenden intellektuellen Fähigkeiten noch daran, daß auch er ein „Fälscher“ wäre. Es waren die gesellschaftlichen Verhältnisse Rußlands und die daraus hervorgehenden Probleme der russischen Revolution, die ihn und die bolschewistische Partei zu einer bestimmten Auffassung des Marxismus führten, die wir hier kritisieren möchten.

In schroffem Gegensatz zu der Behauptung Lenins, es gäbe „ohne revolutionäre Theorie keine revolutionäre Praxis“, haben die sozialen und politischen Ereignisse, nicht nur die in Rußland, die dort aber auf spezifische Weise eindeutig nachgewiesen, daß es keine ganz bestimmte revolutionäre Theorie gibt, ohne daß ihr eine ganz bestimmte revolutionäre Praxis zugrunde liege. Und weil es sich bei der menschlichen Praxis immer um entweder materielle oder geistige Bedürfnisse handelt, hat der junge Marx schon zu Beginn seiner Arbeit, als er verstand, daß Revolutionen eine materielle Grundlage nicht entbehren können, den Satz geprägt: „Die Theorie wird in einem Volke immer nur so weit verwirklicht, als sie die Verwirklichung seiner Bedürfnisse ist“2.

Was nun die Leninsche Theorie betrifft, so hat einst Pavel Axelrod, als sie noch Parteigenossen waren, ihm aber schon die Gegensätze ihrer Anschauungen dämmerten, Lenin in Bezug auf seine Theorie einen „Jakobiner“ gescholten. Er tat es, ohne daß er auch nur die geringste Ahnung davon oder das Verständnis dafür gehabt hätte, daß die herannahende russische Revolution eben Jakobiner brauche und diese somit heranwuchsen. Lenin seinerseits war weder beleidigt noch empört. Aus seiner im Jahre 1902 veröffentlichte Schrift „Was tun?“ geht klar hervor, daß er ein Jakobiner sein wollte und sich selbst als solcher und als einer, der den Geist des Volkstribunen in sich hatte, verstand. Und als er das Wort „Jakobiner“ oder „Volkstribun“ fallen ließ, da soll er wohl der Reihe nach an Robespierre und an Auguste Blanqui gedacht haben. Freilich wußte er genau anhand seiner Lektüre, daß Marx infolge weiter entwickelter gesellschaftlicher Verhältnisse, und infolge veränderten Bedingungen des Klassenkampfes, sich weit von diesem Blanqui entfernt hatte und über ihn hinaus gegangen war. Jedoch vermochte dieses rein theoretische Wissen, wie wir noch zeigen werden, nicht zu verhinderten, daß Lenin, was er selber auch geglaubt haben mag, praktisch mehr oder weniger bei ihm gerade stehengeblieben ist, und zwar deshalb weil im Anfang des Jahrhunderts in Rußland die Verhältnisse einigermaßen jenen ähnlich waren, die seinerzeit von Blanqui vorgefunden wurden. Zu ihrer weiteren Entwicklung war in Rußland eben eine Revolution eine unbedingte Voraussetzung.

II.

Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts war die bürgerliche Revolution in England (mit der Parlamentsreform von 1832) kaum, in Frankreich, trotz ihrer politischen Bedeutung, noch lange nicht vollendet. In den deutschen Ländern mußte sie erst noch anfangen. In Frankreich, von Deutschland ganz zu schweigen, waren die wirtschaftliche Lage und die Klassenverhältnisse höchstens die des Frühkapitalismus, keineswegs jene einer modernen Industriegesellschaft. Als 1848 das „Kommunistische Manifest“ erschien, trugen darin die Auseinandersetzungen – sei es direkt, sei es indirekt – von alledem deutlich die Spuren. Es hieß dort zum Beispiel: „… der erste Schritt in der Arbeiterrevolution (ist) die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie. Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staates, das heißt des als herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren“3.

Fast gleich darauf folgten die bekannten 10 Punkte eines nach heutigem Maßstab an sich durchaus nicht so radikalen Reformprogramms.

Daß Marx und Engels an dieser Stelle den Staat dem „als herrschende Klasse organisierten Proletariat“ gleichstellen, an einer anderen Stelle „die (moderne) Staatsgewalt“ als „Ausschuß“, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisieklasse verwaltet“4 definieren, muß nicht als ein Widerspruch verstanden werden. Der Staat, identisch mit einem die bürgerlichen Interessen verwaltenden Ausschuß, und der Staat, identisch mit dem „als herrschende Klasse organisierten Proletariat“, sind im „Kommunistischen Manifest“ ganz deutlich zwei unterschiedene Begriffe, zwei verschiedene Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung, welche von einander getrennt sind durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Ordnung. Und das versteht sich von selbst aus den Ansichten heraus, welche sie in dieser Schrift verkündeten.

Marx und Engels vertraten 1848 die Meinung, daß die Arbeiterklasse, nachdem sie die Macht erobert hätte, den Charakter des Staates ändern könnte, daß es ihr möglich wäre, ihn von einem Werkzeug der Bourgeoisie in ein Werkzeug der Proletarier umzuwandeln. Das ist eine, damals auch von Blanqui vertretene, jakobinische Auffassung, und das geht auch daraus hervor, daß sie die Erhebung der Arbeiterklasse und ihre Organisation als herrschende Klasse als die Erkämpfung der Demokratie betrachteten.

Die sozialdemokratischen Politiker, die von Anfang an gar nicht die Interessen der Arbeiter vertraten, aber in der politischen Arena auch nicht mehr die Wortführer des emporkommenden (jakobinischen) Bürgertums waren, sondern für einen moderneren Kapitalismus als den des 19. Jahrhunderts kämpften, bezogen ihren bürgerlichen Anschauungen gemäß, insofern auch sie eine Zentralisierung (gewisser) Produktionsinstrumente in den Händen des Staates anstrebten, das selbstverständlich auf den bürgerlichen Staat. Vom ‚Jakobiner‘ Lenin wurden sie deswegen getadelt, weil Lenin für den wesentlichen Charakter der westeuropäischen Sozialdemokratie überhaupt kein Verständnis hatte und deshalb ihre Politik als eine „falsche Politik verräterischer Renegaten“ betrachtete.

Lenin verstand seine ‚Kritik‘ an dieser Sozialdemokratie als eine Wiederherstellung des Marxismus. Das aber war ein Irrtum! Dieser Anspruch läuft nur darauf hinaus, daß er gewisse Teile des Marxismus von 1848, Teile, von denen Marx bereits kurz nach der Niederlage der französischen Februarrevolution sich zu distanzieren anfing und die er später völlig ablehnte, zum Kernpunkt seiner Revolutionstheorie machte. Was er wiederherstellte, war nicht der Marxismus, sondern; der ‚Marxismus‘ wie er ihn zu verstehen glaubte, wie er ihn aufgrund der ihm bekannten gesellschaftlichen Wirklichkeit verstehen mußte. Zwar wußte er ganz genau, daß Marx und Engels, als sie im Juni 1872 ein Vorwort zur unveränderten neuen deutschen Ausgabe des Kommunistischen Manifestes schrieben, darin nicht nur gewisse Stellen als veraltet bezeichneten, sondern auch nachdrücklich erklärten, daß „die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen kann“5. Jedoch konnte er damit nichts anfangen. Die Klassenkampferfahrungen, woraus diese Schlußfolgerung gezogen wurde, fehlten in Rußland, in dem, wie er selbst wiederholt bezeugt hatte, die bürgerliche Revolution, sei es eine bürgerliche Revolution, die „als Sieg der Bourgeoisie“ unmöglich war6, noch bevorstand.

Genau darum hat Lenin mit allen Stellen, an denen Marx und mit unter auch Engels von der „Zerschlagung“ der alten Staatsmaschine und vom „Absterben“ des Staates reden, immerfort die größten Schwierigkeiten und Probleme.

III.

Wo Lenin sich mit den betreffenden Stellen im Kommunistischen Manifest befaßt, weist er zwar darauf hin7, daß Marx und Engels den Staat dem „als herrschende Klasse organisierten Proletariat“ gleichstellen, aber er sieht nicht, daß daraus hervorgeht, daß sie 1848 noch auf dem später widerrufenen Standpunkt standen, daß die siegreiche Arbeiterklasse tatsächlich die gegebene Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und benutzen konnte; er sieht nicht, daß ihre damalige Ansicht eine Folge davon ist, daß sie 1848 die Eroberung der jakobinischen Demokratie immer noch als den ersten Schritt in der Arbeiterrevolution betrachteten; Lenin sieht es nicht, weil ihm der Unter schied zwischen Marxismus und Jakobinismus, wenn man will: zwischen Marxismus und Blanquismus, entgeht. Er hält seine blanquistischen oder jakobinischen Auffassungen für marxistische, interpretiert umgekehrt aus oben erwähnten Gründen den Marxismus als Jakobinismus. Lenin betrachtet also 1917 (!) das, was zu diesem Punkt im Kommunistischen Manifest steht, immer noch als die erste Aufgabe der Arbeiterklasse und behauptet, das sei die wahre Auffassung Marxens, trotz einer eindeutigen Erklärung von Engels, daß die Geschichte Marxens frühere Ansicht als eine Illusion entlarvt hat.

Es ist richtig, daß in „Staat und Revolution“ irgendwo bemerkt wird, daß Marx und Engels anläßlich der Erfahrungen der Pariser Kommune das Manifest korrigiert haben8. Trotzdem heißt es dort: „Das Proletariat braucht die Staatsgewalt, eine zentralisierte Organisation der Macht, eine Organisation des Zwanges, sowohl zur Unterdrückung des Widerstandes der Ausbeuter als auch zur Leitung der ungeheuren Masse der Bevölkerung: der Bauernschaft, des Kleinbürgertums, der Halbproletarier, um die sozialistische Wirtschaft ‚in Gang zu bringen’… ‚Der Staat, das heißt das als herrschende Klasse organisierte Proletariat‘ – diese Marxsche Theorie ist mit seiner ganzen Lehre von der revolutionären Rolle des Proletariats in der Geschichte unzertrennlich verbunden. Die Krönung dieser Rolle bildet die proletarische Diktatur, die politische Herrschaft des Proletariats“9.

Lenin versteht somit unter der Diktatur des Proletariats: den Staat, der das als herrschende Klasse organisierte Proletariat ist. So verstanden es auch Marx und Engels, aber … 1848! Wenn später Engels dem deutschen Philister klarmachen will, was denn eigentlich die proletarische Diktatur sei, so weist er auf die Pariser Kommune hin, die gerade zeigte, daß der bürgerliche Staat nicht ohne weiteres in ein Werkzeug der Arbeiterklasse verwandelt werden konnte. Weil sich die Diktatur des Proletariats so, wie sie 1848 verstanden wurde, als eine Illusion erwiesen hatte, bekommt dieser Begriff bei Marx und Engels 1848 einen anderen Inhalt. Von diesem Begriffswechsel hat Lenin nichts gemerkt, obwohl man paradoxerweise in „Staat und Revolution“, neben den manchmal etwas doppeldeutigen Darlegungen von Engels, die in reicher Fülle zitiert werden, dann und wann auch jene sehr klare von Marx findet. Mit dem Inhalt des neuen Begriffs hat Lenin gerungen, ohne die Sache bewältigen zu können.

IV.

Bei Lenin besteht der bürgerliche Staat vor, das was er den ‚proletarischen Staat‘ nennt, nach der proletarischen Revolution. Die von ihm angeführten Worte von Engels über das Absterben des Staates beziehen sich nach Lenin auf das Absterben des ‚proletarischen Staates‘ dort, wo Marx oder Engels von der Zerschlagung des Staates oder der Aufhebung des Staates sprechen, sei der bürgerliche Staat gemeint10.

Von diesem Unterschied zwischen einem bürgerlichen Staat, der zerschlagen werden soll, und einem an seine Stelle tretenden ‚proletarischen Staat‘, der absterben wird, ist bei den reiferen Marx und Engels keine Rede. Für sie ist die Zerschlagung des bürgerlichen Staates der Bourgeoisie zugleich eine Umänderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, nämlich die Verwandlung der Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum. Dort, wo es Privateigentum gibt, hat die Gesellschaft die bestimmte Form des Staates. Sind aber die Produktionsmittel gesellschaftliches Eigentum geworden, so wird – so sagt Engels – „das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse auf einem Gebiet nach dem anderen überflüssig und schläft dann von selbst ein“.

Unmittelbar danach heißt es: „An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht ‚abgeschafft‘, er stirbt ab“11.

Der Jakobiner Lenin hat keine Schwierigkeiten damit, daß Engels nur wenige Zeilen vorher davon geredet hat, daß „das Proletariat (bei seiner Umwälzung der Gesellschaft) die Staatsgewalt ergreift und die Produktionsmittel in Staatseigentum verwandelt“12. Das ist für ihn eine Selbstverständlichkeit. Probleme hat er, wenn Engels darauf in einem Atemzug folgen läßt: „Aber damit hebt es sich selbst als Proletariat, damit hebt es alle Klassenunterschiede und Klassengegensätze auf, und damit auch den Staat als Staat.“ Und Probleme hat er erst recht, wenn Engels das dann in dieser Weise präzisiert, daß „der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft (also nicht länger als Repräsentant der Bourgeoisklasse – C.B.) auftritt…, zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat ist“13.

Die Tatsache, daß Engels in diesem Zusammenhang den Staat „eine besondere Repressionsgewalt“ nennt, veranlaßt Lenin zu der Schlußfolgerung, daß die eine besondere Repressionsgewalt (der Bourgeoisie) ersetzt werden soll durch eine andere besondere Repressionsgewalt (der Arbeiterklasse). Das steht im Widerspruch mit der Engelsschen Ansicht, daß, sobald der Staat sich selbst „überflüssig“ gemacht hat, „es nichts mehr zu reprimieren gibt“14. Letzteres gibt Lenin dies übrigens an einer anderen Stelle zu, wo es bei ihm heißt: „Wenn… die Mehrheit des Volkes selbst ihre eigenen Bedrücker unterdrückt, so ist eine besondere Repressionsgewalt schon nicht mehr nötig“15. „In diesem Sinne beginnt der Staat abzusterben“, fügt er hinzu. Aber das Absterben bezieht sich bei ihm natürlich doch wieder auf den ‚proletarischen Staat‘, denn so etwas wie das Absterben des zerschlagenen bürgerlichen Staats bleibt für ihn das große Hindernis.

Dieses Hindernis zeigt sich ganz klar dort, wo Lenin auf „so eine interessante Erscheinung, – wie die Beibehaltung des ‚engen bürgerlichen Rechtshorizonts‘ während der ersten Phase des Kommunismus“16 hinweist. Im Lichte der Marxschen Auffassungen ist das leicht zu verstehen. Im Gegensatz zu jenen Juristen, die da behaupten, der Staat bestimme die Rechtsnormen, erklärt Marx, daß „sowohl die politische wie die bürgerliche Gesetzgebung nur das Wollen der ökonomischen Verhältnisse proklamieren und protokollieren“17. In seiner Verteidigungsrede im Kommunistenprozeß zu Köln im Jahre 1849 formulierte er seine Ansicht in dieser Weise, daß „die Gesellschaft nicht auf dem Gesetze beruht“, sondern das Gesetz auf der Gesellschaft.

Das heißt also, daß Änderungen in der Produktionsweise zu neuen sozialen Verhältnissen und diese ihrerseits zu neuen Rechtsformen führen. Einige alte Rechtsnormen, die zur früheren Gesellschaftsstruktur gehörten, verschwinden. Sie sind nicht mehr nötig zur juristischen Formulierung einer sozialen Beziehung, welche infolge der gesellschaftlichen Strukturänderung aufgehoben ist. Aber sie verschwinden nicht sofort! Sie bestehen öfters weiter inmitten der übrigen Normen, die schon ganz übereinstimmen mit den neuen Verhältnissen. So gibt es noch feudale Normen im Zeitalter des Kapitalismus, und so wird auch der Kommunismus während seiner ersten Entwicklungsstufe noch nicht alle Traditionen oder Spuren des Kapitalismus losgeworden sein. Aber das Gebiet, in dem diese bürgerlichen Rechtsschnurren im Zeitalter des Kommunismus noch wirken, wird immer kleiner, diese Normen bekommen immer weniger Gültigkeit. Das ist es, was man bei den Worten „der Staat stirbt ab“ zu verstehen hat.

Lenin weist auf diese Erscheinung hin, versteht sie aber nicht als das Absterben des bürgerlichen Staates. Er schreibt: „Das bürgerliche Recht…. setzt natürlich auch den bürgerlichen Staat voraus, denn das Recht ist nichts ohne einen Apparat, der imstande ist, die Einhaltung der Rechtsnormen zu erzwingen“18. Also hängt nach Lenin das Recht vom Staat ab, anstatt daß Recht und Staat beide aus der Gesellschaft abgeleitet werden. Keinen Moment gibt Lenin sich davon Rechenschaft, daß sich die juristischen Beziehungen der Menschen untereinander langsamer verändern als die sozialen Verhältnisse, die sie widerspiegeln. Das führt bei ihm zu einer merkwürdigen Konsequenz. Obwohl er verneint, daß es der bürgerliche Staat wäre, der abstirbt – weil dieser schon zerschlagen wurde -, heißt es: „Unter dem Kommunismus bleibt nicht nur das bürgerliche Recht eine gewisse Zeit bestehen, sondern sogar der bürgerliche Staat – ohne Bourgeoisie“19.

Für Marx und Engels ist die proletarische Revolution eine gesellschaftliche Umwälzung: die Verwandlung der Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum. Durch diese Umwälzung wird der Staat zerschlagen, indem die gesellschaftlichen Verhältnisse, deren Produkt der Staat ist, aufgehoben werden, und eben dadurch stirbt er ab.

Anders bei Lenin! Für ihn bedeutet die proletarische Revolution, daß der bürgerliche Staat in den ‚proletarischen Staat‘ verwandelt wird. Die Aufgabe des ‚proletarischen Staates‘ wäre „bis zum Eintritt der ‚höheren‘ Phase des Kommunismus“…. die strengste Kontrolle über das Maß der Arbeit und das „Maß der Konsumtion“, eine Kontrolle, die „beginnen muß mit der Expropriation der Kapitalisten und durchgeführt werden soll… durch den Staat der bewaffneten Arbeiter“20.

Nach Lenin soll, wie man sehen kann, die Enteignung der Kapitalisten durch den ‚proletarischen Staat‘ geschehen, und zwar nach der Revolution, die also ein rein politischer Akt ist. Das ist die alte, im Kommunistischen Manifest verkündete Auffassung, daß das Proletariat seine politische Herrschaft dazu benutzen soll, der Bourgeoisie „nach und nach alles Kapital zu entreißen“. In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts haben Marx und Engels eine ganz andere Auffassung entwickelt, die so zusammengefaßt werden kann, daß die Revolution die Aufhebung der Arbeiterklasse ist. Davon hat Lenin nichts verstanden, weil die russische, wesentlich vorkapitalistische Wirklichkeit, ihm dem Jakobiner, das Verständnis dafür erschwerte.

Wie weit er vom Marxismus entfernt war, das wird aus verschiedenen Stellen in „Staat und Revolution“ ersichtlich, obwohl viele gerade in dieser Schrift seine radikalsten Standpunkte gefunden zu haben glauben. Er macht da zum Beispiel einen Unterschied zwischen dem bürgerlichen Staat, „der nur durch die Revolution aufgehoben werden kann“ und „dem Staat überhaupt“, der nur absterben kann21, in Wirklichkeit besteht der Staat nur als die historische Erscheinungsform bestimmter Gesellschaften: der Staat der Sklavenhalter, des Feudaladels, der Bourgeoisie22.

Wenn man ein anderes Beispiel will: Lenin spricht mehrmals von der Lehre vom Klassenkampf, von der er weiß, daß sie „nicht von Marx, sondern vor ihm von der Bourgeoisie geschaffen worden“ ist23. Aber so eine Lehre vom Klassenkampf gibt es nicht, weder bei den intellektuellen Vertretern der emporkommenden Bourgeoisie, noch bei Marx. Der Klassenkampf wird nicht gelehrt, sondern es gibt ihn; er existiert als eine Tatsache sowohl in früheren Gesellschaften wie im Kapitalismus und ist dort eine unter unseren Augen vor sich gehende geschichtliche Bewegung.

An einer der betreffenden Stellen behauptet Lenin: „Die Lehre vom Klassenkampf ist, allgemein gesprochen, für die Bourgeoisie annehmbar“, die Diktatur des Proletariats aber sei für die Bourgeoisie unannehmbar. Das stimmt aber insofern nicht, als das Bestehen des Klassenkampfes nicht im allgemeinen, sondern nur solange von der Bourgeoisie anerkannt wurde, wie sie noch eine revolutionäre Klasse war. Weiter haben gewisse Vertreter der jungen Bourgeoisie, nämlich die Jakobiner, sehr wohl eine Diktatur anerkannt, die zwar keineswegs eine Herrschaft der Arbeiter darstellte, aber genau damit über einstimmte, was Lenin die „Diktatur des Proletariats“ nannte.

Hiermit sind wir wieder bei dem angelangt, worauf wir schon mehrfach hingewiesen haben: die unbestreitbare Tatsache, daß Lenin, wie er auch wollte, ein Jakobiner war, daß es sich in seiner Revolutionstheorie um eine rein politische Umwälzung drehte, in der nicht die Verwandlung der Produktionsmittel vom Privateigentum in gesellschaftliches Eigentum24 dasjenige ist, worauf es in erster Stelle ankommt, sondern worin „die Frage der Staatsgewalt die Hauptfrage einer jeden Revolution“25 bildet.

Völlig in Übereinstimmung hiermit ist es, daß Lenin 1917 mit einem radikal-demokratischen, wenn man will kleinbürgerlichen, immerhin kapitalistischen Wirtschaftsprogramm in die Oktoberrevolution hineingegangen ist, ein Programm26, das die Grundfragen einer nicht-kapitalistischen Gesellschaftsordnung überhaupt nicht berührt. Kurz vor dem Oktober schrieb er: „Außer dem hauptsächlich ‚unterdrückenden‘ Apparat des stehenden Heeres, der Polizei und der Beamtenschaft gibt es im modernen Staat einen Apparat, der besonders eng mit den Banken und Syndikaten verbunden ist, einen Apparat, der eine große Kontroll- und Registrierungsarbeit leistet…. Dieser Apparat darf und soll nicht zerschlagen werden. Man muß ihn seiner Unterordnung unter die Kapitalisten entreißen, die Kapitalisten und alle Fäden ihres Einflusses abschneiden …“27.

Etwas weiter heißt es: „Ohne die Großbanken wäre der Sozialismus nicht zu verwirklichen. Die Großbanken sind jener ’staatliche Apparat‘, den wir für die Verwirklichung des Sozialismus brauchen und den wir vom Kapitalismus fertig übernehmen…. Diesen ’staatlichen Apparat‘ (der im Kapitalismus nicht durchweg staatlich ist, der aber bei uns, im Sozialismus (!), durchweg verstaatlicht sein wird) können wir übernehmen und mit einem Schlag, mit einem Befehl ‚in Gang setzen‘ … Durch einen einzigen Erlaß der proletarischen Regierung können und müssen diese Angestellten in die Stellung von Staatsangestellten versetzt werden …“28. Mit anderen Worten: Wenn man nur das stehende Heer, die Polizei und das Beamtentum unschädlich macht, kann man den gegebenen Staatsapparat „für Zwecke der Arbeiter in Bewegung setzen“.

Alle Ausführungen von Lenin können nicht verwischen, daß es bei dem, was er ‚den bürgerlichen Staat‘ und den ‚proletarischen Staat‘ nennt, nicht um zwei, sondern um bloß einen Staat geht, dessen politische Führung, wie auch teilweise seine Beamten, seine ehemaligen Heerführer und seine militärische Disziplin man übernommen hat. Man kann fragen, inwiefern und bis zu welchem Zeitpunkt es sich dabei um Selbsttäuschung handelte und seit wann die Täuschung anderer, d. h. der immer noch ausgebeuteten und unterdrückten Arbeiterklasse, anfing. Aber wie die Antwort auch lauten mag, an dem gesellschaftlichen Charakter seiner Revolution ändert sie durchaus nichts!

1922 erklärte Lenin: „Wir haben den alten Staatsapparat übernommen. Das war unser Unglück!“ (29) Diese Worte stellen das unbeabsichtigte, aber deutlichste und vielleicht vernichtendste Urteil über seine Theorie und über die bolschewistische Praxis dar. Die Kritik aber soll darauf hinweisen, daß die rückständigen, feudalen oder halb-feudalen Verhältnisse in Rußland während der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, wie auch das Fehlen einer kräftigen und selbstbewußten Bourgeoisie sowohl für Lenins Revolutionstheorie als für die Praxis der Bolschewiki eine Erklärung bilden.


1Sperrungen sind Hervorhebungen im Originaltext. Wo es Unterstreichungen gibt, rühren sie vom Verfasser dieser Arbeit her.

2Marx, „Einleitung der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, MEW, Bd. 1, S.386

3MEW, Bd. 4, S. 481

4MEW, Bd. 4, S. 464

5MEW, Bd. 4, S. 574

6Lenin, Gesammelte Werke, Bd. XI, l. Teil, S. 28 ff.

7Lenin, Sämtliche Werke, Bd. XXI, S. 484

8Ebenda. S. 497

9Ebenda. S. 486

10Lenin, Sämtl. Werke, Bd. XXI, S. 485

11Engels, MEW, Bd. 20, S. 262

12MEW, Bd. 20, S. 261

13Ebenda, S. 262

14Ebenda, S. 262

15Lenin, Sämtl. Werke, Bd. 20, S. 502

16Lenin, Sämtl. Werke, Bd. 20, S. 554

17MEW, Bd. 4, S. 109

18Lenin, Sämtl. Werke, Bd. III, S. 554

19ebenda

20ebenda, S. 552

21Lenin, Sämtl. Werke, Bd. XXI, S. 479

22Auf die an sich berechtigte Frage, ob es nach so einer Revolution wie der russischen, in der die Produktionsmittel verstaatlicht wurden, der Kapitalismus also nicht aufgehoben wurde und anstatt der Bourgeoisie eine Bürokratie oder ein Managertum zur herrschenden Klasse wurde, noch von einem bürgerlichen Staat die Rede sein kann, qehen wir hier nicht ein. Sie gehört nicht zu unserem eigentlichen Gegenstand

23Lenin, Sämtl. Werke, Bd. XXI, S. 493

24Man achte darauf, daß Vergesellschaftung der Produktionsmittel etwas ganz anderes ist als deren Verstaatlichung!

25Lenin, Sämtl. Werke, Bd. XXI, S. 178

26wir meinen die Broschüre „Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten?“, Sämtl. Werke, Bd. XXI (ein Seitenangabe fehlt; Der Scanner)

27sämtl. Werke, Bd. XXI, S. 330

28Lenin, Sämtl. Werke, Bd. XXI, S. 330/331

29Der Autor gibt hier keine Quelle an. Das Zitat findet sich in Lenin Werke, Bd. 33, S. 414, Berlin 1962 (der Scanner).

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Cajo Brendel – Die „Antiautoritäre Bewegung“ und ihr Weg in die Sackgasse https://panopticon.blackblogs.org/2020/11/20/cajo-brendel-die-antiautoritaere-bewegung-und-ihr-weg-in-die-sackgasse/ Fri, 20 Nov 2020 16:08:08 +0000 http://panopticon.blackblogs.org/?p=1902 Continue reading ]]> Cajo Brendel – Die „Antiautoritäre Bewegung“ und ihr Weg in die Sackgasse

Der nachstehende Aufsatz ist schon vor geraumer Zeit verfaßt worden. Der unmittelbare Anlaß hat damals eine Abhandlung Klaus Hartungs gebildet, welche unter dem Titel „Versuch die Krise der antiautoritären Bewegung wieder zur Sprache zu bringen“ vor etwa einem Jahre im „Kursbuch“ Nummer 48 veröffentlicht wurde. Die auf der Hand liegende Schlußfolgerung, es handele sich also um einen Gegenstand geringfügiger Aktualität wäre trotzdem falsch. Denn die Krankheit welche der antiautoritären Bewegung seit ihrer Geburt angehaftet und die Hartung zu diagnostizieren versucht hat, ist keineswegs nur auf sie beschränkt. Es handelt sich um ein Übel, das viele Formen aufzeigt und sich immer wieder bei allerhand Gruppen, die auf eine Umänderung der Gesellschaft abzielen, manifestiert. Teilen sie doch fast alle die Ansicht, jene gesellschaftliche Revolution sei entweder von der Verbreitung dieser oder jener „Idee“, oder von der Provokation der gefestigten Ordnung zu erwarten, indem diese, gerade durch ihre Reaktion sich selbst als Unterdrückungsmacht entlarve.Es wird somit Übersehen, daß es sich dabei um die Unterdrückung einer bestimmten Klasse handelt, welcher man die Tatsache ihrer Unterdrückung nicht klarzumachen braucht und zwar deshalb nicht, weil sie den Inhalt ihrer täglichen Erfahrung stellt. Sie hat davon schon einen durchaus klareren Begriff als diejenigen die, trotz all ihres Geredes über die Wesenszüge der kapitalistischen Gesellschaft, bisher wenig Verständnis dafür gezeigt haben, daß die betreffende Unterdrückung auf gegensätzliche Interessen zurückzuführen ist und, daß nur der daraus hervorgehende Interessenkampf jene Unterdrückung aufzuheben vermag. Eine bestimmte Form von Unterdrückung hat in der Geschichte immer angehalten bis sie von dem Kampf der Unterdrückten gesprengt wurde.

Gewiß, alle die wir hier meinen, hören nicht auf von den Arbeitern zu reden nachdem sie diese einmal „entdeckt“ haben. Den Arbeitern wollen sie das Bewußtsein beibringen, daß die Gesellschaft umgewälzt werden soll. Sie können entweder nicht einsehen oder nicht akzeptieren, daß jene, die da nicht müde werden von einer „sozialen Revolution“ zu reden, die Gesellschaft nicht zu revolutionieren vermögen, die aber welche bloß ihre materiellen Interessen verteidigen ohne Oberhaupt eine Revolution zu beabsichtigen gerade die Gesellschaft revolutionieren.

Hieraus geht hervor, daß die studentischen oder politischen Gruppen nicht nur den Anspruch erheben, sie seien dazu berufen, den Arbeitern die Bedeutung des Klassenkampfes darzulegen, sondern sich dazu noch als dessen Führer aufwerten. Das geht darauf hinaus, daß sie die Arbeiter zu bevormunden versuchen und sich entweder empören oder sich enttäuscht abwenden, wenn die Arbeiter solch eine Bevormundung zurückweisen. Diese Gruppen glauben, der Klassenkampf könne erst „richtig“ geführt werden, wenn die Kämpfer sich „Einsicht“ angeeignet haben. Sie fassen es nicht, daß irgendeine Einsicht oder irgendein Bewußtsein keine Voraussetzung, sondern eine Folge des Kampfes darstellt, eines Kampfes der sich von dem, welchen die Gruppen zu führen behaupten, grundsätzlich unterscheidet.

Es geht den politischen und voluntaristischen Gruppen und Bewegungen das Verständnis dafür ab, daß die Arbeiter von den Naseweisen des Arbeiterkampfes die Nase voll haben. Sie verstehen erst recht nicht, daß ihr Benehmen den Interessenkampf der Arbeiterschaft hemmt und benachteiligt. Darauf hinzuweisen, den Ansprüchen dieser Art Gruppen Schranken zu setzen, ihre Illusionen aufzudecken, das eben ist das Ziel der nachfolgenden Betrachtungen, die, glauben wir, ihre Bedeutung solange beibehalten werden, als von außen her den Versuch unternommen wird, sich in den Klassenkampf einzumischen und die Arbeiter als politische Objekte zu manipulieren.

I.

Vor zehn Jahren etwa wurde eine Reihe moderner Industrieländer – die USA, die BRD, Frankreich, Japan, Italien und im kleineren Ausmaß auch England, Holland und Belgien – jedesmal auf eigene Weise mit einer radikalen, von den Studenten ausgehenden und von ihnen getragenen Bewegung konfrontiert. Friedrich Mager und Ulrich Spinnarke, die hinsichtlich der Bundesrepublik und Westberlin das Phänomen schon frühzeitig zu analysieren versucht haben, sprachen damals von einer durch Unbehagen geprägten Strömung, welche einer Kritik am Hochschulwesen entsprang und demnächst in einem moralisch-engagierten Protest gegen den vorgefundenen Staat und gegen die vielfach als Konsumgesellschaft definierte soziale Ordnung mündete. Mager und Spinnarke charakterisierten diese Bewegung als eine radikaldemokratische Opposition, welche die autoritären Züge in der Struktur der heutigen Gesellschaft bloßzulegen versuchte, indem sie die ihr innewohnende Unruhe ausbreitete und ihre Gegensätze exponierte. Kurz: mit einer antiautoritären, herausfordernden, außerparlamentarischen Bewegung hatte man es zu tun, welche nach beiden genannten, übrigens selbst nicht mehr der Studentenzeit angehörenden Forschern, „einen bisher verschleierten Tatbestand aufklärte und demzufolge notwendig eine Veränderung der Gesellschaft herbeiführte“1. Ähnliche Gedanken wurden auch von den Vertretern der Bewegung selbst entwickelt.

Heutzutage stellt diese ganze antiautoritäre Strömung kaum noch etwas vor. Ihr Glanz ist überall gelöscht; was sie zu versprechen schien, hat sich nicht bestätigt. Mager und Spinnarke hielten es durchaus für möglich, daß bestimmte Gruppen der Bevölkerung sich mit ihr solidarisieren würden. Das genaue Gegenteil hat sich ereignet. Sie ist eingeschrumpft und auseinandergerissen, einer tiefen Krise preisgegeben und völlig in die Sackgasse geraten, oder besser: es hat sich gezeigt, daß sie immer schon auf dem Holzweg war. Nirgendwo kann sie sich über einen Erfolg freuen. Sie liegt in den letzten Zügen, sofern sie nicht bereits gestorben ist.

Aus welchem Grund hat die antiautoritäre Bewegung Pleite gemacht? Dadurch, so antwortet Klaus Hartung im „Kursbuch“2, daß sie eine Bewegung von beschränktem Charakter war, eine Bewegung, die nicht imstande war, eine bestimmte Grenze, nämlich die Klassengrenze, zu überqueren.

Wäre diese Äußerung Hartungs die Schlußfolgerung seiner Darlegung, hätte er bei seinem Versuch die Krise der antiautoritären Bewegung3 zu erklären aufgezeigt, weshalb sie an der innerhalb der modernen Klassengesellschaft gegebenen Schranke notwendigerweis haltmachen mußte, und hätte er daraus die einzig mögliche Konsequenz gezogen, wir hätten seiner Ansicht ohne Weiteres zugestimmt. Jedoch, Hartung folgert nicht, sondern es handelt sich bei ihm um nichts weiteres als eine Behauptung, die abermals erläutert, daß übereinstimmende Thesen, zumal wenn es dabei um eine beiläufige wie jene von Hartung geht, nicht mit übereinstimmenden Standpunkten zu verwechseln sind.

Wir vertreten den Standpunkt, daß was Mager und Spinnarke sehr richtig als eine radikaldemokratische Opposition umschrieben haben, deshalb nicht zu einer gesellschaftlichen, die herrschende Ordnung umwälzenden Kraft werden konnte, weil diese Opposition keine materiellen Interessen vertritt, die so ausgeprägt waren, daß sie sich den materiellen Interessen widersetzen könnten, die der herrschenden Ordnung und deren Ideologie zugrunde liegen. Eine Opposition, die nicht auf materielle Interessen fußt, kann nie zu einer materiellen Macht werden und verliert früher oder später als Opposition ihre Bedeutung. Auch dann wenn sie sich aus „denkenden Menschen, die sich der bestehenden Gesellschaft gegenüber, kritisch verhalten“ zusammensetzt, so ändert das nichts an ihre gesellschaftlichen Hilflosigkeit. Weder ihre ehrliche Entrüstung, zum Beispiel über das, was sie als die „Auswüchse“ der „Konsumgesellschaft“ betrachten, noch die Aufrichtigkeit ihrer Proteste gegen Nebenerscheinungen wie Polizeiwillkür, Umweltverschmutzung, Atomkraftwerke oder Bewaffnung, braucht man anzuzweifeln. Dennoch müssen derartig Proteste ohne Wirkung bleiben, solange die Protestierenden sich nicht auf latente Macht stützen können, worüber aber nun die arbeitende Klasse verfügt, da das gesamte gesellschaftliche Gebäude auf der produktiven Arbeit beruht. Nur die Klasse der Industriearbeiter kann eine gesellschaftliche Umänderung zustande bringen. Die einzig mögliche Revolution welche den Kapitalismus stürzen kann, ist die proletarische. Der Glaube an eine andere Art Umwälzung ist eine Illusion.

Wodurch die antiautoritäre Bewegung sich von Anfang an gekennzeichnet hat, ist nicht die Abneigung gegen eine proletarische Revolution, wie man sie selbstverständlich in den Kreisen der eigentlichen Bourgeoisie vorfindet, sondern die Geringschätzung ihrer Möglichkeiten. Das Industrieproletariat, so ihre Meinung, weise eine immer geringere Zahl auf und hätte nur noch eine schwindende Bedeutung. Dazu wäre es eine apathische Masse von der ein revolutionärer Widerstand gegen die kapitalistischen Verhältnisse nicht oder nicht mehr zu erwarten sei.

Der vorherrschende Mythos der schwindenden gesellschaftlichen Bedeutung der Arbeiterklasse aber ist nur eine der vielen Erscheinungsformen bürgerlicher Ideologie. Infolge der Konzentration das Kapitals und dem Verschwinden des sogenannten Mittelstandes gibt es heute mehr Proletarier als je zuvor. Wie richtig es auch sein mag, daß jetzt mehr Arbeiter im nichtproduktiven, keinen Mehrwert erzeugenden Dienstleistungsbereich wirksam sind, ihre Stellung gegenüber dem Kapital ist dadurch unverändert. Auch sie verfügen, mangels Kontrolle über die Produktionsmittel, nicht über die eigene Existenz. Als Paul Mattick vor etwa zehn Jahren in seiner „Kritik an Herbert Marcuse“ darauf hinwies, fügte er hinzu, daß „Lohnarbeiter Proletarier sind, welche Tätigkeiten sie auch immer ausüben“4. Sie unterliegen, die herrschende Klasse trifft die Entscheidungen, welche das Leben aller anderen in jeder Hinsicht bestimmen.

Das alles bedeutet, daß trotz einer Verschiebung von produktiver nach unproduktiver Arbeit die latente Macht der arbeitenden Klasse gewachsen ist. Die Entwicklung der modernen Technik hat die Gesellschaft völlig von einem ununterbrochenen Produktionsvorlauf abhängig gemacht. Eine ungestörte Funktion der Dienstleistungen ist dafür eine der unentbehrlichen Bedingungen. Das erklärt, weshalb trotz des Geschwätzes von der verringerten Bedeutung der Arbeiterklasse, Personalvorstände, Soziologen und Psychologen, Wohlfahrtspfleger und Betriebsärzte, Historiker und Volkswirtschaftler, Juristen und Organisationsberater ihr mehr Aufmerksamkeit widmen, als in der Vergangenheit.

Was die vermeinte Apathie betrifft: daß dieselben Arbeiter, die unter bestimmten Umständen gleichgültig scheinen, unter anderen Umständen zu rebellieren anfangen, ist ohne Zweifel ganz richtig aber nicht das wichtigste, was in diesem Zusammenhang zu bemerken ist. Der Vorwurf, die Arbeiter seien nicht mehr imstande oder nicht mehr dazu geneigt „revolutionären Widerstand“ zu leisten, geht an der Tatsache vorbei, daß die Arbeiter nie kämpfen oder gekämpft haben, um eine Umänderung der Gesellschaft herbeizuführen, sondern nur um entweder ihre proletarische Lage zu verbessern oder deren Verschlechterung vorzubeugen. Womit man es bei diesem ungerechten Vorwurf zu tun hat ist ein doppelter Irrtum, ein Irrtum in Bezug auf das, was die Arbeiterklasse ist und ein Irrtum in Bezug auf das, was sie demzufolge zu tun gezwungen sein wird.

Der Kampf der Arbeiter – wofür diejenigen, die sich da irren, übrigens kaum einen Blick haben – ist zwar der Motor aller gesellschaftlichen Entwicklung, aber es wäre falsch, die objektive Folge des proletarischen Verhaltens als sein subjektives Ziel hinzustellen. Kritiker welche der Arbeiterklasse „Apathie“ vorwerfen unterschieben ihr faktisch eine Gleichgültigkeit für etwas, das sie nie angestrebt hat um nachher festzustellen, daß sie infolge ihrer „Verbürgerlichung“ darauf verzichtet habe. Von dieser sogenannten Verbürgerlichung der Proletarierklasse ist aber schon deshalb keine Rede weil, die Arbeiterschaft, auch wenn die Löhne steigen und das Arbeitsklima sich bessert, doch immer die Negation der bürgerlichen Gesellschaft bildet, und ihr angeblicher „Überfluß“ nichts ist im Vergleich zu dem „Überfluß“ der anderen Klassen, woneben er sich stetig als relativer Mangel abzeichnet. Unter kapitalistischen Verhältnissen, gleichviel ob sie durch Privatbesitz oder durch Staatseigentum geprägt werden, existieren die Herrschenden auf Kosten des Proletariats. Aus diesem Grunde vergegenwärtigt jede proletarische Aktion, wie unbedeutend sie immer scheinen könnte, eine wesentliche Bedrohung der gefestigten Ordnung, welche andererseits gar nicht in Frage gestellt wird von irgendeinem Benehmen, das aus der Idee, es gelte diese Ordnung zu stürzen, hervorgeht, eine Idee die nicht in proletarischen Bestimmungen wurzelt. Die Klassentrennung der kapitalistischen Gesellschaft, ist gleichzeitig die Trennung zwischen denjenigen die Revolution machen wollen, ohne es zu können, und denjenigen welche die gesellschaftlichen Verhältnisse revolutionieren, ohne es zu sollen.

II.

Was immer Klaus Hartung mit seiner Bemerkung, „die Grenze antiautoritärer Militanz war eine Klassengrenze“, auch gemeint haben soll, jedenfalls nicht, daß die antiautoritäre Bewegung, zwar begeistert von der antibürgerlichen Idee der sozialen Umwälzung, jedoch nicht auf dem Fundament antibürgerlicher Interessen gewachsen, zu einer Machtlosigkeit verdammt war, die ihr Mißlingen unumgänglich machte. Daß sie an der Klassengrenze haltmachte – für ihn, anders als für uns, keine logische Folge ihrer wesentlichen Züge -, betrachtet er daher nicht als eine Unvermeidlichkeit, sondern als einen der von ihr begangenen Fehler. Er gesteht offen ihren Mißerfolg, doch er stellt ihn gleich mit einer politischen Niederlage oder mit einer verlorenen Schlacht. Er spricht davon, als handele es sich um einen Mißerfolg bis jetzt und er schließt seine Auseinandersetzung mit der vertrauensseligen, denn unbegründeten Versicherung, die antiautoritäre Bewegung werde trotzdem siegen.

Für eine solche Vertrauensseligkeit gibt es in unserer Anschauung keinen Platz. Wir sehen keinen Ausweg aus der Sackgasse, in welcher die als „neue Opposition“ begrüßte, außerparlamentarische und antiautoritäre Bewegung sich befindet und sich nach unserer Meinung immer schon befunden hat. Nicht infolge ihrer sogenannten Fehler ist sie in diese Sackgasse geraten, sie wurde dort geboren. Die Keime der Zersetzung hat sie seitdem mit sich herumgetragen. Ihr endgültiger Untergang ist das unerbittliche Schicksal, dem sie nicht entrinnen konnte. Was Hartung und anderen als Fehler, daß heißt als vermeidbare Dinge, betrachten, das sind nur ebensoviele Merkmale ihrer wirklichen Position. Wenn man davon tatsächlich schon lernen kann, dann nicht was die Bewegung hätte tun sollen oder künftig unterlassen soll, sondern was sie ist.

Die antiautoritäre Bewegung nun ist das was sie von Anfang an war: eine Protestbewegung junger Leute aus bürgerlichen und kleinbürgerlichen Verhältnissen, die sich zwar gegen die bürgerliche Wirklichkeit auflehnten – und deshalb zu Unrecht für antibürgerlich gehalten wurden – aber keineswegs darüber hinausgingen. Sie überholten die bürgerlichen Verhältnisse nicht, es war ihnen faktisch darum zu tun, zu deren Anfang zurückzukehren. Sie waren sich allerdings dessen nicht bewußt und konnten sich das betreffende Bewußtsein kaum aneignen, weil ihre „sozialistische“ Ideologie sie daran hinderte. Indem sie, und nicht von ungefähr, Voluntaristen, das heißt politische Idealisten waren, unterhielten sie ein bestimmtes Zukunftsbild. Was sie aber für die Zukunft ansahen, war in Wirklichkeit die in die Zukunft projezerte Vergangenheit. Bernd Rabehl, einer der sich angestrengt hat, aus dieser „neuen Opposition“ eine, wie er es nannte, „sozialistische Opposition“ zu machen, hat bemerkt, daß „der Protest der Studenten gegen die Entwicklung der formierten Gesellschaft zunächst eine moralische Empörung war, die das Postulat der Demokratie gegen deren tatsächliche Verwirklichung in der Bundesrepublik kehrte“5. Das bedeutet soviel, als daß sie den erstarrten Formen der parlamentarischen Demokratie mit ihrem bürokratischen Machtapparat das Ideal einer echten und unmittelbaren Demokratie gegenüberstellten. Wir halten, ohne uns mit Rabehl zu identifizieren, die Charakteristik für richtig und möchten hinzufügen, daß hierbei die Ideale der jakobinischen Demokratie anstelle der heutigen demokratischen Wirklichkeit gesetzt wurden. An die Arbeiterdemokratie wurde einstweilen nicht gedacht. „Das Proletariat“, erklärt Klaus Hartung, „war uns zunächst gleichgültig“!

Anschließend schreibt Hartung, daß „nichts falscher wäre, als gerade darin die (klein)bürgerliche Herkunft der Studentenrevolte nachweisen zu wollen“. Die Bemerkung trifft nicht auf uns zu. Wir leiten den kleinbürgerlichen Charakter der „neuen Opposition“ nicht her von ihrer Gleichgültigkeit hinsichtlich der Arbeiterklasse, sondern wir erklären umgekehrt diese Gleichgültigkeit aus ihrem kleinbürgerlichen Charakter. Wenn Hartung behauptet, das Proletariat wurde ignoriert, weil es sich nicht rührte und „zum geschichtslosen Produzenten des Mehrwerts geworden war“, ohne an seinen Ketten zu zerren, so hat man es, im Gegensatz zu dem was er als seine Meinung äußert, nicht mit „einer richtigen geschichtlichen Wahrnehmung“ zu tun, sondern mit einem geradezu kleinbürgerlichen Zerrbild. Dessen Kleinbürgerlichkeit wird dadurch noch unterstrichen, daß Hartung hinzufügt, die neue Opposition glaubte nicht „daß der Arbeiter, wenn er der Spur seiner materiellen Interessen folgt, schon auf den revolutionären Weg stoßen wird“ und, daß sie sich eine revolutionäre Entwicklung nur vorstellen konnte als „der Ausbruch aus seiner Situation“, als „der Übertritt in das antiautoritäre Lager“.

Hier findet man genau alle Grundzüge des modernen Jakobinertums wieder: die Verkennung der wirklichen proletarischen Lage, die großartige Unterschätzung des Interessenkampfes und die ebenso großartige Überschätzung der (revolutionären) Idee. Keine Spur von der Erkenntnis, daß Ideen sich in der Geschichte immer nur blamiert haben, dafür aber das Mißverständnis, die Arbeiter könnten nur „auf den revolutionären Weg stoßen“, falls sie sich unter die Fahne einer von radikalen Ideen erfüllte Bewegung stellen würden, einer Bewegung also die sich selbst als revolutionäre Vorhut deutet.

III.

Die „neue Opposition“ – sie mag den Anspruch recht weniger klar erheben als die verschiedenen bolschewistischen Gruppen und Parteien -, betrachtet sich tatsächlich als revolutionäre Vorhut. Das wird auch von Klaus Hartung festgestellt. Er spricht in diesem Zusammenhang von der „historischen Krankheit der Studentenbewegung“. Wo er den Versuch unternimmt die Ursache dieser Krankheit aufzudecken, da meint er, sie wäre aus einer Enttäuschung über das, was er, mit charakteristischer jakobinischen Wortwahl, „das Volk“ nennt, zu erklären. Er geht jedoch nicht so weit, daß er die Enttäuschung selbst analysiert; er versteht sie nicht als einen Konflikt zwischen der jakobinischen Theorie und der gesellschaftlichen Praxis.

So einen Konflikt gibt es bei jeder Avantgarde, ob sie sich als Partei konstituiert hat oder nicht. Das ist Hartung insofern nicht entgangen, als er seine Kritik insbesondere auf diese Organisationsform verlegt. Er hat erkannt daß die Partei, das heißt jede Partei, ihre Theorie oder ihre Wahrheit als die Wahrheit hinstellt; er hat gleichfalls erkannt, daß eine Partei ihren Mitgliedern die Sicht auf die, immer komplizierte, Wirklichkeit benimmt. Aber er schweigt darüber, daß, wo immer die Kenntnis der Wirklichkeit beschränkt ist, diese oder jene besondere Wahrheit als die allgemeine Wahrheit hingenommen wird und somit ein geistiges Klima geschaffen wird, das für die Partei einen günstigen Nährboden bildet.

Um konkret zu werden: sobald die radikale jakobinische Wahrheit bezüglich der Unterdrückung des „Volkes“ bei großen Teilen davon, das heißt bei der Arbeiterklasse, keinen Widerhall findet, da wird das nicht der Tatsache zugeschrieben, daß die proletarische Realität und der Arbeiterkampf etwas ganz anderes sind, als als die jakobinische Studentenopposition glaubt, sondern es wird den Arbeitern fehlendes Bewußtsein und demnächst einen Mangel an revolutionärem Willen vorgeworfen. Der Avantgarde oder der Partei wird alsdann die Aufgabe zugeteilt, die Arbeiter bewußt zu machen. Ihren „Mangel an einem revolutionären Willen“ soll durch den revolutionären Willen einer sogenannten Vorhut kompensiert oder sogar ersetzt morden.

So stark ist diese Tendenz, so kräftig setzt diese Entwicklung sich jeweils durch, daß die gelegentlich dämmernde Ahnung, es komme doch weniger auf den revolutionären Willen als auf die soziale Eigengesetzlichkeit, die reellen Widersprüche und die wirklichen Kämpfe an, sie kaum abzuschwächen vermag. Der ehemalige Studentenführer Rudi Dutschke zum Beispiel hat mal an jene Kritik erinnert6 (6), welche Marx an der Fraktion Willich-Schapper im einstigen Bunde der Kommunisten geübt hat, nämlich daß sie „an die Stelle der kritischen Anschauung eine dogmatische setze, an die Stelle der materialistischen eine idealistische“ und, daß „ihr der bloße Wille zum Triebrad der Revolution“ werde7 (7). An der betreffenden Stelle erörtert Marx, daß die Arbeiter „15, 20, 50 Jahre Bürgerkriege und Volkskriege durchzumachen haben, nicht nur um die Verhältnisse zu ändern, sondern um sich selbst zu ändern“. Dutschke aber versteht die Änderung um die es hier geht trotzdem nicht sosehr als Selbständerung, jedoch vielmehr als eine die von außen her zustande gebracht werden soll. Das ergibt sich daraus, daß er den Klassenkampf nicht als einen sozialen, sondern als einen politischen Kampf versteht, den nicht die Arbeiter selbst, sondern die sogenannten Arbeiterparteien zu führen haben8 (8). Nach Dutschke wäre dieser „politische Klassenkampf“ mit einem „bewußten Klassenkampf“ identisch. Darüber hinaus behauptet er, daß „nur im bewußten Klassenkampf das (…) Selbstbewußtsein des Proletariats“ entstehe, das er späterhin als „revolutionäres Klassenbewußtsein“ definiert9 (9).

Buchstäblich heißt das nichts geringeres als, daß in einem bereits bewußt geführten Kämpfe abermals ein bestimmtes Bewußtsein erweckt würde. „Was für eins schon?“,könnte man da fragen. Die einzig vernünftige Antwort kann nur diese sein, daß hier das proletarische Bewußtsein der öffentlichen Wirkung einer politischen Avantgarde zugeschrieben, also als ein politisches Bewußtsein verstanden wird. Das ist tatsächlich exakt die Auffassung der neuen Opposition, welche – wie es auch Mager und Spinnarka getan haben – es von Anfang an für möglich gehalten hat, daß ihre Aktion andere Teile der Gesellschaft zur Erkenntnis bringe und somit zum Handeln veranlasse. Es wird damit völlig verkannt, daß man sich nie etwas anderem als der materiellen Wirklichkeit bewußt werden kann und, daß die Wirklichkeit der Studenten grundverschieden ist von jener der industriellen Arbeiterschaft, daß die erstere den politischen Verstand erzeugt, die letztere aber den sozialen Instinkt, der sich zwar anfangs noch vom politischen Verstand belügen läßt, nicht aber, wenn ein gewisser Entwicklungsgrad erreicht worden ist10 (10). Daraus erklärt sich das, was Hartung ohne Zurückhaltung als die Ablehnung der von den Studenten herangetragenen „Wahrheit“ beschrieben hat, ein Verhalten ihnen gegenüber, für welches eben von Arbeitern verwendete Wort wie „Euch müßte man mal …“ charakteristisch sind.

Die Studenten, die nicht am Produktionsprozeß teilnehmen, befinden sich der Gesellschaft gegenüber in einer besonderen Situation. Insofern manche von ihnen anerkennen, daß die Änderung der Umstände und die menschliche Tätigkeit oder Selbstveränderung zusammenfallen und nur als revolutionäre Praxis gefaßt werden können, handelt es sich bei ihnen um eine spezifische Anerkennung, die sich aus dieser, ihrer Situation erklärt. Mit „revolutionärer Praxis“ meinen sie, statt jener der tätigen Produzenten, die Praxis der Revolutionäre für die es, wie immer für Leute die sich als „Heerführer“ betrachten, in erster Linie auf eine Strategie ankommt11 (11). Falls so ein faustischer Revoluzzer einem, der täglich am Fließband steht, zu erkennen gibt: „Geschäftiger Geist, wie nah fühl‘ ich mich dir“, kann der Angeredete mit Maphistopheles erwidern: „Du gleichst dem Geist den du begreifst, nicht mir!“

IV.

Der lebensgroße Unterschied zwischen der Wirklichkeit der Studenten und jener der Arbeiter, wie auch dessen Folgen für das respektive Bewußtsein kann man eindeutig erläutern anhand das Verhältnisses der neuen Opposition zum Staatsapparat das – hier sind wir mit Hartung einverstanden – in der Geschichte der antiautoritären Bewegung eine zentrale Rolle gespielt hat. Die Tatsache ist leicht zu verstehen. Wenn die Studenten zu rebellieren anfangen, streben sie eine Hochschulreform an, damit sie nicht länger von professoralen Fachidioten zu Fachidioten ausgebildet werden12. Sie wollen die Chance haben, sich „als Staatsbürger“ zu entwickeln mittels politischer Information, politischer Meinungsäußerung und politischer Diskussion. Sie verlangen eine Demokratisierung der Universität. Diese hat jedoch nicht nur eine sehr bestimmte, jenem Verlangen wenig entgegenkommende Funktion innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, sie ist zugleich eine Anstalt der Obrigkeit. Hinter dem akademischen Senat, hinter dem Rektor und hinter allen universitären Instituten stehen das bürgerliche Gesetz und die bürgerlichen Behörden mit ihrem Machtapparat. Der Konflikt zwischen Studenten und Universität ist somit ein politischer Konflikt, weil es sich dabei um politische Freiheiten handelt, in erster Instanz um das Recht, Sondermeinungen zu äußern über politische Fragen über zum Beispiel den Vietnamkrieg. Daß gerade hinsichtlich des Vietnamkrieges moralische Gefühle stark mitgespielt haben, ändert den politischen Charakter der Sache nicht im geringsten.

Im Gegensatz nun zu den Arbeitern, die bei ihrem sozialen Widerstand an erster Stelle mit dem Unternehmertum, mit Betriebsverwaltungen, möglicherweise auch mit der Gewerkschaftsbürokratie konfrontiert werden und erst indirekt, in einer späteren Phase die Machtmittel der Obrigkeit zu spüren bekommen, haben es die rebellierenden Studenten bei ihrem politischen Widerstand sofort mit der Obrigkeitsgewalt zu tun. Das ist der Fall innerhalb der Universität, wenn die Polizei den Befehl bekommt, eins der Universitätsgebäude auszuräumen, wie in Berlin am 19, April 1967. Es ist genau so außerhalb der Universität, das heißt auf der Straße wohin der Streit auch dadurch je länger je mehr verlegt wird, daß vom 16. Februar 1966 an innerhalb der Universität keine politischen Zusammenkünfte oder Veranstaltungen mehr abgehalten werden dürfen. Somit wird der Zusammenstoß der neuen Opposition mit der Obrigkeit von früh an einen Zusammenstoß im buchstäblichen Sinne. Immer und immer wieder treffen die Studenten auf die bewaffnete Macht.

Für die Arbeiter ist der Klassengegensatz zum Unternehmertum die tägliche und vorherrschende Lebenserfahrung; für die Studenten aber ist es die Polizeigewalt. Nicht im Produktionsbereich begegnen sie der bürgerlichen Gesellschaft und dem bürgerlichen Staat, sondern auf der Straße, das heißt gerade dort wo der bürgerliche Staat ihnen gegenüber das strategische Übergewicht besitzt. Über Hartungs Bemerkung, daß die antiautoritäre Bewegung nicht auf der Straße geschlagen worden ist, kann man anderer Meinung sein. Unbestreitbar aber ist es, daß sie dort keineswegs gesiegt hat. Daher auch weist Hartung zwei Seiten weiter darauf hin, daß die Studenten einen Begriff vom Staatsapparat im Kopf haben, „der so umfassend und total ist, daß sich gegen ihn nichts machen läßt“. Daraus wird dann allerdings von den Studenten gefolgert, es käme darauf an, ihn „endgültig zu zerschlagen“. Das aber ist eine reine Phrase; was da vorhergeht ist genau die theoretische Abspiegelung von dem was die Studenten in ihrer Praxis erfahren haben.

Die Arbeiter machen eine ganz andere Erfahrung, wenn da zum Beispiel im Frühling 1969 in der bundesdeutschen Industrie ganz spontan „wilde“ Streiks losgehen und die BRD von einer Streikwelle getroffen wird welche schließlich in den Septembertagen ihren Höhepunkt erreicht, so ist nicht bloß das Unternehmertum, nicht bloß die Gewerkschaftsbewegung, sondern die ganze offizielle Gesellschaft einschließlich des Staatsapparats ihr gegenüber völlig hilflos.

Für die antiautoritäre Bewegung kamen, schreibt Hartung, die Septemberstreiks als ein Schock. Sie war, fügt er hinzu, „auf die spontanen Kämpfe des Proletariats nicht vorbereitet.“ Sie war es tatsächlich nicht, trotz ihrer anfänglichen Erwartung, die Universitätsrevolte könnte auf andere gesellschaftliche Bereiche und Klassen übertragen werden. Bernd Rabehl nannte etwa ein Jahr vor dem Ausbruch der Streikbewegung von 1969 den Gedanken an solch eine Übertragung „leichtfertig“, „den Ausdruck einer ‚ungestümen‘ Logik“ (mehr ungestüm als logisch soll er wohl gemeint haben) und er charakterisierte ihn als ein „Wunschdenken“13. Die Ereignisse vom Herbst 1969 – und spätere die eine Wiederholung derartigen spontanen Streikbewegungen verzeichneten – haben keineswegs den Nachweis gebracht daß Rabehl sich damals irrte. Denn die Septemberstreiks sind etwas ganz anderes als eine Übertragung der Studentenbewegung auf die Arbeiterklasse; sie bedeuten durchaus nicht, daß die Arbeiter sich unter die Fahne der neuen Opposition stellen. Die wesentliche Bedeutung dieser Streikwelle – das Vorgehen von unten auf, das Fehlen einer traditionellen Streikführung seitens der Gewerkschaften14 und viele andere Einzelheiten weisen es nach – ist diese, daß die Arbeiter selbst handelnd auf der Bildfläche erscheinen. Im September 1969 zeigen die Arbeiter nicht, daß sie die Studenten als ihre Vorhut akzeptieren, sie liefern im Gegenteil den Beweis, daß sie keine solche Vorhut brauchen.

Die Septemberstreiks von 1969 liegen als soziale Bewegung nicht auf der gleichen Längenachse wie die politische Studentenbewegung, sie stehen damit in geradem Widerspruch. Der Gedanke, die antiautoritäre Bewegung solle als eine Avantgarde der Arbeiterklasse funktionieren, sie verkörpere „den revolutionären Willen“, sie sei dazu berufen, dem Proletariat bewußt zu machen, daß es gegen die bestehenden Verhältnisse zu kämpfen habe, ist während der Septemberstreiks abermals als ein Mythos entlarvt worden, und zwar nicht mittels theoretischer Argumente, sondern vom Klassenauftritt der Arbeiter, der unmittelbar aus ihrer Situation hervorging, Also: die studentische Ideologie entspricht nicht der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Der Untergang der neuen Opposition findet eben darin seinen Grund.

V.

Hartung, wir haben schon darauf hingewiesen, spricht nicht vom Untergang der antiautoritären Bewegung. Er träumt noch immer von ihrem künftigen Sieg. Dennoch hat er einen Blick für ihre Mißerfolge, aber er sucht deren Ursache nicht dort wo er sie nach unserer Meinung suchen sollte. Deswegen faßt er sie als Mißerfolge, welche die antiautoritäre Beilegung überwinden könnte.

Was er zum Beispiel die „Dogmatisierung“ der neuen Opposition nennt, die Tatsache, daß sie unter Hochdruck seitens der wie Pilze emporgewachsenen bolschewistischen Gruppen gerät und dadurch zu einer bestimmten politischen Linie gezwungen wäre, verstehen wir ganz anders als er. Infolge des politischen und jakobinischen Charakters der neuen Opposition, den wir schon kennengelernt haben – und der sie weniger „neu“ macht als sie wohl scheinen mag – haben bolschewistische Theorien für sie eine unwiderstehliche Anziehungskraft. Denn der Bolschewismus ist nun einmal die konsequenteste Form des modernen Jakobinertums in der heutigen Gesellschaft. Nicht der Dogmatismus hat die Realität beiseite geräumt, wie es Hartung behauptet, sondern die reelle Gestalt der antiautoritären Bewegung macht sie zu einer leichten Beute des bolschewistischen Dogmas. Nicht die bolschewistischen Gruppen zwingen die antiautoritäre Bewegung auf eine politische Linie. Deshalb weil die neue Opposition naturgemäß eine politische Linie verfolgt, wird sie gleichsam von selbst zum Bolschewismus15 gedrängt.

Darüber zu streiten, ob damit ein künstlicher Nebel ringsum die politische Wirklichkeit erzeugt wird – wie Hartung behauptet – oder schon an einem früheren Zeitpunkt, hat kaum einen Zweck. Es kommt nicht sosehr darauf an wann, sondern darauf weshalb die politische Wirklichkeit sich vermischt und sie vermischt sich weil die neue jakobinische Opposition immer schon der gesellschaftlichen Wirklichkeit den Rücken zugekehrt hat. Nach Hartung hat sie „die Bühne der Klassengesellschaft gebaut“ auf der ihre Angehörigen sich bis jetzt „um die richtigen Kulissen streiten“. Das Bild trifft zu unter der Bedingung, daß dabei besonders betont wird, daß es sich um eine Bühne handelt auf der eine bestimmte Auffassung der Klassengesellschaft in jeweiliger Regie dargestellt wird. Auf diese Darstellung, nicht auf die soziale Realität, richtet die neue Opposition das Auge. Aber weder die lebensechteste Kulisse, noch selbst das fundierteste Kostüm können etwas daran ändern, daß solch eine Darstellung mit der wirklichen Klassengesellschaft und mit dem wirklichen Klassenkampf nicht identisch ist. Nachdem man sich vorher einem Wunschtraum hingegeben hat, vergafft man sich in einer Wunschvorstellung, in einer Illusion. Hartung mag daran nicht glauben, das Ende solcher Illusionen ist immer die Katastrophe!

Daß und wie der Bolschewismus immer kräftiger in die antiautoritäre Bewegung durchstößt, das geht sonnenklar aus Hartungs Schilderung hervor. In dieser Hinsicht ist sie besonders eindringlich. An gewisser Stelle spricht er von dem Bestreben der neuen Opposition, sich auf der Basis von „Was tun?“, das heißt den leninistischen Prinzipien gemäß, zu organisieren. An anderer Stelle ist die Rede von dem von uns auch bei Rabehl verzeichneten Versuch einer „Transformation der antiautoritären Beilegung in eine proletarische Bewegung“. Hartung bringt dazu ein Zitat in dem es sogar heißt „der studentische Kampf“ (Hervorhebung von mir – C.B,) sei „in einen proletarischen Kampf transformierbar“16. Wo er auf die durch den Versuch ausgelöste Diskussion eingeht, betrachtet er sie als „die Wende der Bewegung“. Sie kommt in eine Stromschnelle. Kaum ein halbes Jahr später ist der Spaltpilz an der Arbeit. Die Einheit der neuen Opposition gehört der Vergangenheit an. Aber, so immer noch Hartung, die Studenten schätzen das für Nichts „weil es das Proletariat zu organisieren galt“.

Hartung nennt das „eine Selbsttäuschung“, eine Qualifikation wogegen wir nichts einzuwenden haben. Er beschreibt diesen Gang der Ereignisse auch so, daß die Studenten anfangen „für andere, für den Arbeiter Politik zu entwerfen“. Wieder anderswo stellt er fest, daß „die radikale Bewegung sich in eine militante Minderheit verwandelt“, Aber es gelingt ihm nach unserer Überzeugung nicht, die Ursachen von alledem aufzudecken; er faßt die von ihm geschilderte Entwicklung nicht als eins natürliche Entwicklung. Wenn er sich schon kritisch über die Nachahmung der leninistischen Organisationsform äußert, dann nur, weil „Lenin die Organisationsprinzipien von ‚Was tun?‘ unter der historischen Bedingung der Allmacht der russischen Geheimpolizei entwickelt“ habe, also innerhalb einer Situation die es in Deutschland nicht gibt. Bei Hartung findet man nicht die geringste Spur jener anderen, doch schon längst bekannten Anschauung, daß die jakobinische Auffassung der Revolution, nach welcher das Proletariat nicht selbst das erforderliche „revolutionäre Bewußtsein“ erwerben kann17, für Lenin entscheidend gewesen ist. Dadurch, daß Hartung im jakobinischen Milieu gebildet worden und mit der jakabinischen Ideologie politisch aufgewachsen ist, legt er den Finger nicht auf die eigentliche Wunde, nicht auf Lenins Jakobinismus. Es leuchtet ihm nicht ein, daß gerade dieser Jakobinismus der verhängnisvolle Stern ist, unter dem die neue Opposition auf die Welt gekommen ist.

Tatsächlich: die Anschauung, den Arbeitern sollte man von außen her Bewußtsein beibringen, sie könnten – um die Worte Hartungs zu wiederholen – nicht von sich aus „auf den revolutionären Weg stoßen“, haben wir schon als ein Merkmal auch der frühen antiautoritären Bewegung zu unterscheiden gelernt. Wenn Hartung darauf etwas näher eingeht bemerkt er, das Proletariat profitiere „mittelbar von der Ausbeutung der Dritten Welt“. Das ist eine Ansicht die völlig übergeht, auf welche Weise im Kapitalismus ökonomische Kategorien wie Lohn, Preis und Profit überhaupt zustande kommen, und die faktisch nichts anderes ist, als die auch von Lenin verkündete Theorie der sogenannten „Arbeiteraristokratie“.

Der Zusammenhang dieser Theorie mit dem Jakobinertum der Bolschewiki kann ebensowenig verneint werden, wie der Zusammenhang der jakobinischen Auffassungen mit dem der neuen Opposition anhaftenden Voluntarismus. Hierüber äußert sich Hartung besonders unbestimmt. Bald scheint er dessen Vorhandensein zuzugeben, bald scheint er sich von einer Kritik daran zu distanzieren, zum Beispiel wenn er erwähnt, daß einer wie Jürgen Habermas den Studenten ihre voluntaristische Ideologie vorgeworfen hat. Jedoch, das Jakobinertum der Studentenbewegung, ihr von Haus aus politischer Charakter und ihr Voluntarismus, das heißt die Bedeutung, welche sie dem „revolutionären Willen“ zuschreibt, bilden ein unzertrennbares Ganzes, das sich aus ihrer Distanz von der Arbeiterklasse ergibt. Von dieser Distanz bringt Hartung treffende Beispiele ohne daran die nach unserer Meinung unentrinnbare Schlußfolgerungen zu verbinden. Er betrachtet die Klassengrenze, vor welcher die Studenten stehengeblieben sind als eine Kluft, die sie nach seiner Meinung hätten überbrücken sollen, nicht als ein Hindernis, woran sie zerschellt sind.

Nicht weil als antiautoritär oder nicht antiautoritär genug war ist die neue Opposition zugrunde gegangen, sondern weil sie glaubte, sie müsse die Arbeiter bevormunden. Aber die Arbeiter brauchen keine Bevormundung und sie lassen sich nicht länger bevormunden. Die antiautoritäre Bewegung hat es erfahren. Zu ihrem Verhängnis.

 

1Mager und Spinnarke, „Was wollen die Studenten?“, Frankfurt am Main/ Hamburg 1967, S. 152/153.

2Kursbuch 48: Klaus Hartung, „Versuch, die Krise der antiautoritären Bewegung wieder zur Sprache zu bringen“, weiterhin abgekürzt als Hartung.

3Bequemlichkeitshalber sprechen wir von der antiautoritären Bewegung. Wir sind uns bewußt, daß diese sich in mancherlei Formen darbietet und, daß es sich nicht um eine Bewegung handelt, die sich als solche konstatiert hat. Es gibt in der Gesellschaft eine Menge Erscheinungen die alle antiautoritäre Tendenzen aufweisen. Bald gehen sie in einander über, bald treten sie scharf getrennt auf und wie das mit den meisten sozialen Erscheinungen oder Bewegungen der Fall, ist, ihr Anfang kann des öfteren nur schwer festgestellt werden. Zu der antiautoritären Bewegung könnte man auch den autonomen Arbeitskampf rechnen, weil er die bürgerlichen Machtverhältnisse in Frage stellt. Wir tun das hier nachdrücklich nicht. Wo in diesem Aufsatz von der antiautoritären Bewegung die Rede ist, verstehen wir darunter jene Bewegung, die sich zwar gegen die existierende Ordnung richtet, dabei aber nicht über die Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft hinwegschreitet, sogar dann nicht wenn sie selbst vom Gegenteil überzeugt ist. Weil es sich bei alledem im Allgemeinen um Bewegungen oder Kundgebungen junger Intellektuelle handelt, steht im Mittelpunkt unserer Betrachtungen das, was man gewöhnlich die Studentenbewegung nennt.

4Paul Mattick, „Kritik an Herbert Marcuse“, Frankfurt am Main 1969, S. 60.

5Bernd Rabehl, „Von der antiautoritären Bewegung zur sozialistischen Opposition“ in: Uwe Bergmann, Rudi Dutschke, Wolfgang Lefèvre und Bernd Rabehl, „Rebellion der Studenten oder die neue Opposition“, Reinbek 1968. Dort S. 174. Weiterhin abgekürzt als Rebellion der Studenten.

6Rudi Dutschke, „Die Widersprüche des Spätkapitalismus, die antiautoritären Studenten und ihr Verhältnis zur Dritten Welt“ in: Rebellion der Studenten, S. 40

7Karl Marx, „Enthüllungen über den Kommunisten-Prozeß zu Köln“, MEW, Band 8, S. 41

8Dutschke, Rebellion der Studenten, S. 41

9Dutschke, Rebellion der Studenten, S. 40 und 41.

10 vgl. Karl Marx, „Kritische Randglossen zu dem Artikel ‚Der König von Preußen und die Sozialreform‘ von einem Preußen“, MEW, Bd. 1, S. 406

11Nicht von ungefähr liest man in der Einführung zum Büchlein von Bergmann, Dutschke usw.: „In diesem Buch soll versucht werden, eine mögliche Strategie für eine außerparlamentarische Oppositionsbewegung aufzuzeigen“,

12So buchstäblich in einem Flugblatt das am 26. November 1966 in der Berliner Universität verlesen wurde. Man sehe: Rebllion der Studenten, S. 22/23

13Bernd Rabehl, Rebellion der Studenten, S. 176

14Man sehe z, B. den Bericht „Die Septemberstreiks 1969“, herausgegeben vom Institut für Marxistische Studien und Forschungen, Frankfurt am Main 1969, worin auf S. 59 den Gang der Ereignissse bei den Stahlbetrieben „Union“ und „Phoenix“ geschildert wird. In einem Spiegel-Interview gab damals der inzwischen verstorbene IG Metall-Führer, Otto Branner, zu, daß er von den Septemberstreiks völlig überrascht wurde»

15Wenn wir in diesam Zusammenhang vom „Bolschewismus“ reden, dann meinen wir nicht irgendeine besondere politische Position, wie jene der DKP, der KP-ML oder sonstige entweder trotzkistischen oder maoistiachen Organisation, von welchen die antiautoritäre Bewegung sich immer, wenn auch nicht immer scharf genug, distanziert hat, sondern den Bolschewismus im allgemeinen. Wir beziehen uns auf eine Position, die wesentlich als bolschewistisch definiert werden kann.

16Hartung, S. 34.

17In „Was tun?“ behauptete Lenin, ein „sozialistisches Bewußtsein“ könne den Arbeitern „nur von außen her beigebracht werden“; aus derselben Zeit wie jener Broschüre stammt der Aufsatz „Die dringendsten Aufgaben unserer Bewegung“. Darin hieß es: „Ohne politische Partei…, ist das Proletariat nicht imstande, sich zum bewußten Klassenkampf emporzuschwingen“ (vgl. Lenin, „Ausgewählte Werke“, Wien/Berlin 1932, Band 2, S, 52 und S. 14). In seinem Aufsatz „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück“ (geschrieben 1904) nannte Lenin sich selbst nachdrücklich einen Jakobiner und er charakterisierte dort seine Gegner als Girondisten (vgl. Lenin, „Ausgewählte Werke“, Bd. 2 a.0. S. 436).

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Kritik des Bolschewismus anhand einer Analyse von Lenins Schrift über die sogenannte „Linke Kinderkrankheit“

I.

Die verhältnismäßig kleine Schrift von Lenin über den „linken Radikalismus“ als „die Kinderkrankheit im Kommunismus“1 nimmt einen – auf den ersten Blick merkwürdigen, bei näherer Betrachtung gar nicht so überraschenden – Sonderplatz in seinem ganzen Schrifttum ein. Viele Jahre hindurch wurde sie, namentlich in den westeuropäischen Ländern, häufiger zitiert und eifriger studiert und diskutiert als jedes andere Leninbuch. Zudem wurde sie auch heftiger angegriffen.Sie war weder die erste Arbeit Lenins, die außerhalb Rußlands eine Kritik am Bolschewismus auslöste, noch die letzte. Jedoch war sie diejenige, welche den größten Widerhall fand und das natürlich keineswegs zufällig, sondern aus bestimmten historischen und politischen, das heißt also gesellschaftlichen Gründen.

Lenin griff, als er sie schrieb, nicht in russische Fragen ein, sondern in solche, die damals in Westeuropa auf der Tagesordnung standen. Was er unternahm, war ein Versuch, die Strategie und Taktik der bolschewistischen Revolution als grundlegend für den proletarischen Klassenkampf im Kapitalismus darzustellen. Damit wurde praktisch eine Frage aufgerollt, die theoretisch schon um 15 Jahre früher eine Rolle gespielt hatte, als Rosa Luxemburg 1904 in den Spalten der „Iskra“ und der „Neuen Zeit“ das Leninsche Organisationsprinzip kritisierte2.

Worum es sich 1920 handelte war jene niemals mehr von der Bildfläche verschwundene Frage, inwiefern die russische Revolution „internationale Bedeutung“ habe.

„Ich spreche hier von internationaler Bedeutung nicht im weiten Sinne des Wortes: im Sinne der Einwirkung unserer Revolution auf alle Länder sind nicht einige, sondern alle ihre Grundzüge und viele ihrer sekundären Züge von internationaler Bedeutung. Nein, ich spreche davon im engsten Sinne des Wortes, d.h., versteht man unter internationaler Bedeutung, daß das, was bei uns geschehen ist, internationale Geltung hat oder sich mit historischer Unvermeidlichkeit im internationalen Maßstab wiederholen wird, so muß man einigen Grundzügen unserer Revolution eine solche Bedeutung anerkennen.“

Gerade so formulierte es Lenin selbst buchstäblich gleich am Anfang seiner Schrift (S. 393). Die Absichten, welche er beim Schreiben vor Augen hatte, waren damit aufs genaueste präzisiert. Seine Schrift sollte – wie die meisten seiner Publikationen – einen handgreiflichen Zweck erfüllen, einem Bedürfnis entgegenkommen, das vom faktischen, durch ihre Klassenlage bedingten Verhalten der westeuropäischen Arbeiter wachgerufen wurde. Deren Praxis vertrug sich schlecht mit den taktischen Schemata des Bolschewismus. Sie ließ bei westeuropäischen Marxisten Zweifel an der Allgemeingültigkeit dieser Schemata aufkommen3. Schon tauchte dahinter die Frage auf, ob denn die bolschewistischen, Ansprüche auf die Führung der „Weltrevolution“ – ob man sie nun in „nicht ferner Zukunft“ (Lenin, S. 394) zu erwarten habe, oder nicht – wirklich berechtigt seien.

Lenin machte es sich zur Aufgabe, jene Zweifel zu zerstören. Das Ergebnis seiner Bemühungen war gerade das Gegenteil. Nach der Veröffentlichung seiner Schrift brach in den Kreisen der europäischen Linken die Kritik am Bolschewismus – so dürftig sie damals auch nur sein konnte – erst recht los. Als Gorter die Schrift als einer der ersten angriff, warf er Lenin vor, er habe mit ihr – allerdings für Westeuropa – „sein erstes schlechtes Buch“ geschrieben4.

In seiner Gegenschrift verwirft Gorter die Leninsche Strategie deshalb, weil sie für die westeuropäischen Verhältnisse ungeeignet sei, keineswegs den Forderungen der westeuropäischen Praxis im allgemeinen, der deutschen Revolution insbesondere, entgegenkomme, von falschen Prämissen ausgehe und sodann zu unrichtigen Schlußfolgerungen gelange. Seine ganze Gegenargumentation basierte Gorter auf die damalige Lage, auf die vorhandene Situation. Lenin, so könnte man Gorters Standpunkt zusammenfassen, schätze sie falsch ein, weil er eine falsche, eine russische Brille aufgesetzt habe. Mit diesem Prädikat „russisch“ gab sich Gorter einstweilen zufrieden. An die Frage, was das denn eigentlich für eine Brille sei, kam er 1920 kaum heran.

Otto Rühle, auch einer von Lenins damaligen linken Gegnern, ging bedeutend weiter, als er sich fast zwanzig Jahre später abermals mit der Leninschen Schrift über die „Kinderkrankheit“ beschäftigte.

An der Leninschen Arbeit rügt er nicht nur die praktischen Ratschläge und die empfohlene Taktik – die sich später tatsächlich als völlig untauglich erwiesen hat – sondern auch die von Lenin angewandte Methode. Er wirft Lenin einen Mangel an Dialektik vor, eine Unfähigkeit, „Dinge und Prozesse in ihren historischen Zusammenhänge und in ihrer dialektischen Bedingtheit zu sehen“, eine Unfähigkeit „bürgerliche und proletarische Revolution als zwei historisch völlig verschiedene Kategorien auseinanderzuhalten.“

Nichtsdestoweniger schreibt Rühle in Bezug auf unseren Gegenstand: „So löst sich die Polemik Lenins in eitel Dunst auf. Seine Schimpferei und Polterei hat keinerlei Bezug zur Wirklichkeit. Er rennt gegen politische Gegner an, die nur in seinen Halluzinationen existieren. Er macht sich lächerlich durch einen Kampf gegen Windmühlen.5

Uns interessiert hier weniger die – schon längst entschiedene – Frage, ob Lenin damals die westeuropäischen Verhältnisse richtig eingeschätzt hat, als jene, wie er zu seiner Einschätzung gekommen ist, worauf sie eigentlich basierte. Nicht daß er eine andere Sprache führte als seine Opponenten – wie diese selbst schon festgestellt haben – ist für uns der Angelpunkt, sondern die Frage weshalb, und die worin denn der Unterschied bestanden hat. Nicht darum, ob er sich „lächerlich“ gemacht hat oder ob er „einen Kampf gegen Windmühlen“ führte, handelt es sich für uns, sondern darum, was seine Schrift bedeutet, was sie ist! Nicht – was an und für sich natürlich durchaus berechtigt wäre – von der damaligen Lage aus wollen wir sie beurteilen. Es geht uns um ihren theoretischen Gehalt. Daß Lenins Schrift der Kritik der Tatsachen erlag, ist selbstverständlich wichtig, aber leicht zu konstatieren. Es besagt jedoch weder, wie es dazu kommen mußte, noch was bei dieser tödlichen Kritik der Tatsachen wesentlich sich abgespielt hat und auf dem Spiele stand.

II.

Nach Georg Lukács6 hat Lenin „niemals örtlich oder zeitlich beschränkte, lokalrussische Erfahrungen verallgemeinert. Er hat aber“, so fährt Lukács fort, „mit dem Blick des Genies, bereits am Ort und im Zeltpunkt seiner ersten Wirksamkeit das Grundproblem unserer Zeit: die herannahende Revolution erkannt. Und er hat dann alle Erscheinungen, sowohl die russischen wie die internationalen, aus dieser Perspektive, aus der Perspektive der Aktualität der Revolution verstanden und verständlich gemacht.“

Was die Richtigkeit oder die Unrichtigkeit der Behauptung im ersten Satz dieser Stelle angeht – sie wird sich im Verlauf unserer Darlegungen genügend zeigen. Es ist uns hier um deren zweiten Teil zu tun, wo von der herannahenden Revolution als Grundproblem unserer Zeit die Rede ist, und woran unmittelbar auffällt, daß dort die Frage nach dem sozialen Charakter, nach dem sozialen inhalt dieser Revolution überhaupt nicht gestellt wird. Sie ist offenbar für Lukács gleich unbedeutend wie für Lenin selbst. Dennoch kommt dem zitierten Passus jeweils eine ganz andere Bedeutung zu, je nachdem, ob er sich auf eine Revolution dieses oder jenes Typus bezieht. Auch darauf kommen wir näher zurück. Wir möchten hier erst, und zwar anhand der Schrift, die uns beschäftigt, ein Beispiel dafür bringen, daß Lenin – trotz gelegentlicher Trennung derselben – die sozialen Merkmale ganz verschiedener Revolutionen kunterbunt durcheinanderwirft. Man findet es gleich im ersten Kapitel, und zwar dort, wo er (S.395) voller Begeisterung einen Aufsatz zitiert, den Karl Kautsky am 10.März 1902 in der russischen revolutionären Zeitung „Iskra“ unter dem Titel „Die Slawen und die Revolution“ publizierte.

Kautsky vertritt in den von Lenin angeführten Stellen die Ansicht, daß „der Schwerpunkt des revolutionären Denkens und Wirkens (sich) immer mehr nach den Slawen zu (verschiebe). Das revolutionäre Zentrum“, schreibt er, „wandert von West nach Ost. in der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts war es in Frankreich, zeitweise in England, 1848 trat auch Deutschland in die Reihe der revolutionären Nationen ein … Das neue Jahrhundert jedoch beginnt unter Erscheinungen, die den Gedanken nahe legen, daß wir einer weiteren Verschiebung des revolutionären Zentrums entgegengehen, und zwar einer Verschiebung nach Rußland hin … Rußland, das so viele revolutionäre Anregungen von dem Westen empfangen, ist vielleicht jetzt daran, auch seinerseits revolutionäre Anregungen zu geben.“ (S.394)

Das Kautsky-Zitat nimmt bei Lenin etwa 3 mal so viel Raum ein wie hier bei uns. Er führt es fort bis zu einem fast rührenden poetischen Schluß, in dem Kautsky die Slawen des Jahres 1846 vergleicht mit „einem eisigen Frost, der die Blüten des Völkerfrühlings tötete“, sodann aber die Hoffnung äußert, „es sei ihnen vielleicht beschieden, nun zum Föhnsturm zu werden, der das Eis der Reaktion zum Bersten bringt“ (S.395).

Für unsere Zwecke brauchen wir das alles nicht zu wiederholen. Zum Kerngedanken wird da weiter nichts hinzugefügt. Also können wir uns auf das Obige beschränken, das wir – einschließlich der von Lenin vorgenommenen Kürzungen – genau so wiedergegeben haben, wie man es in seiner Schrift findet. Lenin sagt dazu (S.394), Kautsky habe vorausgesehen, „daß eine Situation eintreten könne, in welcher der Revolutionismus des russischen Proletariats zum Vorbild für Westeuropa werden würde.“ Inwiefern das zutrifft, können wir, gerade der Kürzungen wegen, nicht beurteilen. Jedenfalls ist davon in dem Zitat, so wie es von Lenin gebracht wird, keine Rede, auch nicht in dem weiteren Teil, den wir vernachlässigt haben. Von den Slawen spricht Kautsky, oder von den russischen Revolutionären, nicht vom Proletariat oder von irgendeiner anderen Klasse.

Wovon die Rede ist, ist ganz etwas anderes als das, was Lenin da hineininterpretiert. Was ist das für ein revolutionäres Denken, für ein revolutionäres Wirken, dessen Schwerpunkt sich in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts in Frankreich befand, im Jahre 1848 in Deutschland? Damals erlebten die genannten Staaten entweder die Vollendung, oder – wie Deutschland – den Auftakt ihrer bürgerlichen Revolution. Was Kautsky behauptet, oder was jedenfalls Lenin ihn behaupten läßt, läuft darauf hin aus, daß die bügerlich-demokratische Revolution, welche die fortschrittlichen Länder im Westen (der Reihenfolge ihres gesellschaftlichen Fortschritts nach) im 19.Jahrhundert schon hinter sich oder begonnen hatten, nun auch im politisch zurück gebliebenen Rußland auf der Tagesordnung stehe. Darauf allein beschränkt sich die ganze Auffassung der „Verschiebung des revolutionären Zentrums“.

Lenin hätte den „Marxisten“ Kautsky7 fragen sollen, wie es denn eigentlich um den Klassencharakter der russischen Revolution bestellt sei, den Rosa Luxemburg sofort in den Vordergrund gerückt hat, als sie denselben Entwicklungsprozeß schilderte8. Lenin, falls er Kautsky dahingehend verstanden hätte, daß dieser vom proletarischen Charakter der russischen Revolution überzeugt sei, hätte Kautsky darauf aufmerksam machen können, daß es sich sodann doch wohl weniger um eine „Verschiebung“ des bürgerlich-demokratischen Sturmzentrums, als um die Entstehung eines neuen handele. Aber nichts davon!

Lenin hat die Schwäche Kautskys nicht durchschaut. Er übersieht ganz und gar die Leere von dessen Darlegung – die nur eine Binsenweisheit im scheinbar originellen Gewande enthält – und weiß nichts besseres als, entzückt von der Tatsache, daß von einem Abendländer die „revolutionäre Quelle“ Rußlands entdeckt wird, begeistert auszurufen: „Wie gut schrieb Karl Kautsky doch vor 18 Jahren!“ (S. 395).

Das bewußte Kautsky-Zitat, bemerkten wir schon, ist bei Lenin nicht wenig ausführlich. Es füllt in seiner Schrift genau ein Drittel jenes ersten Kapitels aus, in dem dargelegt werden soll, daß die russische Revolution das Vorbild aller übrigen herannahenden Revolutionen der Weit sei. Von irgendeiner Beweisführung dieser These, die eben von den linken Kritikern des Bolschewismus bestritten wurde, und die also bei der Diskussion untermauert werden sollte, gibt es bei Lenin keine Spur.

Er behauptet bloß, versteht den eigentlichen Inhalt jener Kritik so wenig, daß er ganz unsachlich mit einen Seitenhieb gegen eine Broschüre des Österreichischen Sozialdemokraten Otto Bauer losschlägt, die mit dem Standpunkt der radikalen europäischen Linken nichts zu tun hat, um sodann – wie ein Gaukler ein Kaninchen aus einem Zylinderhut hervorzaubert – gleich den Kautsky heraufzubeschwören. Das ist alles! Daß es recht wenig ist, geht daraus hervor, daß jenes Kautsky-Zitat alles andere als Belege für Lenins Behauptung bringt. Im Gegenteil: nicht von Rußland als Vorbild der übrigen Länder wird dort gesprochen, sondern von einem europäischen Vorbild (aus dem Jahre 1848 oder sogar noch früher!), dem – „weil sich das revolutionäre Zentrum verschiebt“ – endlich mal in Rußland nachgefolgt wird.

Die Grundfrage, um die es sich handelt – die Frage, ob die Zweifel an der Allgemeingültigkeit der bolschewistischen Revolutionsschemata berechtigt seien oder nicht; eine Frage, die über die Wichtigkeit aller übrigen zur Diskussion stehenden Fragen entscheidet und die Lösung dieser Fragen nichts weniger als vorbedingt – wird von Lenin einfach umgangen.

Mit Recht hat er sie – aber bloß im Titel – in seinem ersten Kapitel aufgeworfen. Wenn Rußland 1917 tatsächlich das Vorbild anderer Länder gewesen wäre, dann hätte es selbstverständlich einen Zweck, genau die verschiedenen Etappen des russischen Revolutionsprozesses zu verfolgen, genau jene Methoden zu beachten, welche den russischen Bolschewisten den Sieg brachten. Und so weiter, und so weiter! Mit Unrecht aber wird gerade diese Grundfrage von Lenin nicht behandelt, geschweige denn gelöst.

Mit Unrecht, aber nicht mit Unlogik. Was sich hier auf den ersten Blick als polemische Taschenspielerei auftut, ist in Wahrheit nichts anderes als Lenins Unfähigkeit, die „Revolution schlechthin“ von der Revolution eines bestimmten sozialen Typus zu unterscheiden. Er befindet sich da ganz in der Fußspur Kautskys, der gleichfalls, wo er über seine „Verschiebung des revolutionären Zentrums“ faselt – nur von der Revolution schlechthin spricht.

Es kann natürlich nicht geleugnet werden, daß Lenin – gelegentlich, wie wir schon sagten – vom Unterschied der proletarischen von der bürgerlichen Revolution geredet hat. In seiner Schrift „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution“ z.B. zeigt er sich vom bürgerlichen Charakter der russischen Revolution (im Gegensatz zu einem proletarischen Charakter) „unbedingt“ überzeugt. Er fügt hinzu, „daß diejenigen demokratischen Umwandlungen in der politischen Ordnung und diejenigen sozialökonomischen Umwandlungen, die für Rußland unabwendbar geworden sind … zum ersten Male die Herrschaft der Bourgeoisie als Klasse möglich machen werden“9. An einer an deren Stelle korrigiert er sich dahingehend, daß „der Sieg der bürgerlichen Revolution in Rußland unmöglich ist als Sieg der Bourgeoisie“ und daß dieser Umstand und andere Umstände „ihr einen besonderen Charakter verleihen“, der aber „den bürgerlichen Charakter der Revolution nicht beseitigt“10. Somit hat Lenin den eigentümlichen Charakter der russischen Revolution äußerst scharf erblickt. Er weiß ganz genau, daß sie, die da heraufsteigt, sich trotz ihrer Eigentümlichkeit von einer proletarischen unterscheidet. Aber formelles Wissen und praktisches Kennen ist nicht dasselbe.

In Westeuropa fußt das Wissen von den Bedingungen des proletarischen Befreiungskampfes auf der täglichen Kenntnis und Erfahrung eines klar sichtbaren gesellschaftlichen Gegensatzes innerhalb einer gegebenen, vollentwickelten Produktionsweise, bei welcher die Warenform das allgemeine Muster aller sozialen Verhältnisse, das heißt; aller menschlichen Beziehungen, geworden ist. Bei Lenin nicht, und zwar deshalb nicht, weil der kapitalistische Produktionsprozeß in Rußland noch nicht der vorherrschende geworden, weil das russische Proletariat – so kämpferisch es aus politischen Gründen auch auftrat – erst im Werden begriffen, sein Los noch nicht das allgemeine Los, weil der Gegensatz zwischen Kapital und Lohnarbeit noch keineswegs das allgemeine, alle übrigen Verhältnisse durchdringende Merkmal der russischen Gesellschaft geworden ist.

Wenn Lenin, trotz seines Wissens um jene Unterschiede, welche das gesellschaftliche Handeln und Auftreten der Arbeiter und der Bürger kennzeichnen, nichtsdestoweniger das Proletariat mit der revolutionären Demokratie verwechselt11, wenn er die Ereignisse von 1905 als eine „wirkliche Volksrevolution“ bezeichnet12, wenn er sämtliche Werktätige, einschließlich jener, die nicht zur Arbeiterklasse gehören, auf den gemeinsamen Nenner des Volkes bringt13, wenn er in einer Rede zum 4. Jahrestag der Oktoberumwälzung die russische Revolution eine proletarische heißt14, obwohl er an einem früheren Zeltpunkt schon hatte anerkennen müssen, daß auf den Staatskapitalismus losgesteuert wurde – dann deutet das auf eine Hilflosigkeit hin, die eben jene Schwäche, die wir in seiner Schrift über „die Kinderkrankheit“ festgestellt haben, in ein grelles Licht setzt.

Lenin vertuscht, ohne es selbst zu ahnen, jene klare Trennung von proletarischen und bürgerlichen Interessen, die sich im Westen begrifflich durchsetzt, nachdem sie sich als praktische Erfahrung durchgesetzt hat, das heißt; nachdem der sich breit entfaltende Kapitalismus allen vor- oder frühkapitalistischen Illusionen über die Einheit des Volkes oder eine Volksrevolution den Garaus gemacht bat.

Lenin handelt natürlich, um mal mit Hegel zu reden, als Sohn seiner Zeit, dessen Philosophie seine Zeit in Gedanken erfaßt. Aber nicht nur das. Zudem handelt er auch als Sohn Rußlands, der gedanklich die kommende russische Revolution vorwegnimmt. Wenn Lukács behauptet, „in der Leninschen Konzeption vom Charakter der russischen Revolution (kehre) der alte Gedanke der Narodniki dialektisch verwandelt wieder“15, dann hat er gewissermaßen recht. Jedoch nicht in dem Sinne, daß – wie er schreibt – „der unklare und abstrakte Begriff des ‚Volkes‘ beseitigt werden (mußte) …, um aus dem konkreten Verständnis der Bedingungen einer proletarischen Revolution den revolutionär differenzierten Begriff des Volkes, das revolutionäre Bündnis aller Unterdrückten entstehen zu lassen.“ Jener „revolutionär differenzierte Begriff des ‚Volkes‘ von dem hier Lukács spricht, war nichts anderes als eine eng-russische Variante des „unklaren“, deren Notwendigkeit dadurch hervorgerufen wurde, daß aus dem Begriff des „Volkes“, wie ihn die Narodniki verstanden, die bürgerliche Klasse auszuscheiden hatte aufgrund jener Eigentümlichkeit der russischen bürgerlichen Revolution, die Lenin klar erkannt hatte.

Was übrigblieb, das revolutionäre Bündnis aller Unterdrückten, war genau eingestellt auf die Forderungen der russischen Verhältnisse, war deren theoretischer Ausdruck, hatte aber mit dem Marxismus als dem theoretischen Ausdruck des proletarischen Klassenkampfes (vgl. Fußnote 3) nichts zu tun. Das „revolutionäre Bündnis aller Unterdrückten“, das später in Gestalt der „Smytschka“, des Klassenbündnisses zwischen Arbeitern und Bauern verabsolutiert wurde, ist eine Bedingung der bürgerlichen, nicht aber der proletarischen Revolution. Im Kapitalismus gibt es nicht jene Mannigfaltigkeit von unterdrückten Klassen, denen man in vorkapitalistischen oder frühkapitalistischen Verhältnissen begegnet. Die Bauern werden kapitalistische Unternehmer; was man als die „Dorfarmut“ bezeichnen könnte, wird von dar technischen Agrarentwicklung ins Proletariat gedrängt; der Kleinbetrieb weicht dem Druck neuer Formen der Distribution. Das gerade versucht die westeuropäische Linke Lenin vergeblich beizubringen, als die Diskussion um seine Schrift über die sogenannte „Kinderkrankheit“ aufflammte.

Die Leninsche Konzeption war also alles weniger als aus „dem konkreten Verständnis der Bedingungen einer proletarischen Revolution“ entstanden. Aber Rühle hatte natürlich Unrecht, als er der Haltung Lenins jeden Bezug zur Wirklichkeit absprach. Wenn sie schon keinen Bezug zur kapitalistischen Wirklichkeit Westeuropas hatte, zu der russischen umso mehr. Die Leninsche Konzeption vereinigte in sich die russische Vergangenheit und die russische Zukunft. Nicht ohne Grund hat der nichtbolschewistische Ökonom Boris Brutzkus, Lenin „den echten Nachfolger Stenka Razins“ genannt16. Mit Recht betrachteten sich die russischen Bolschewiki – wie auch Lukács bemerkt – als Erben der Narodniki. Gerade als solche aber waren sie den Fragen der proletarischen Revolution im Westen in keiner Weise gewachsen. Die Leninsche Schrift, die unseren Gegenstand bildet, trägt davon nicht nur im ersten Kapitel, sondern überall Spuren.

III.

Die bolschewistischen Anschauungen über die russische Revolution bildeten sich zu einer Zeit, da Rußland noch ein riesiges Agrarland war und die Morgenröte des Kapitalismus erst heran brach. Der wesentliche Charakter bestimmter, zur kapitalistischen Gesellschaft gehörender Erscheinungen war somit kaum sichtbar. Es fehlte die Erfahrung wiederholter Wirkungen auf sozialökonomischem Gebiete, anhand derer sich das menschliche Bewußtsein eine Einsicht in die Sozialgesetze der jungen Produktionsweise hätte bilden können. Im Westen war die Ökonomie als Wissenschaft nicht die Voraussetzung, sondern das Produkt der bürgerlichen Verhältnisse. Die Kritik, die vom proletarischen Standpunkt an ihr geübt wurde – indem ihre Entwicklungstendenzen mit Hilfe einer materialistischen Dialektik, die als Methode wiederum erst innerhalb jener Verhältnisse entstehen konnte, aufgezeigt wurden – war erst bei einer gewissen Reife ihrer inneren Gegensätze möglich. In Rußland gab es keine bürgerlichen Verhältnisse. Damit fehlte zugleich die Voraussetzung für ein richtiges Verständnis von deren Sozialgesetzlichkeit17.

Zwar wurde, als der westeuropäische Marxismus als geistige Waffe im notwendigen Kampfe gegen die Vorstellungen des Narodnikentums Anwendung fand, mit ihm eine Philosophie der gesellschaftlichen Entwicklungsgesetze nach Rußland geholt. Aber mit ihm geschah, was manchmal in der Geschichte vorgeht, wenn eine nicht aus der örtlichen Wirklichkeit selbst entwickelte Theorie an diese Wirklichkeit herangetragen wird. Er wurde, infolge einer unabdingbaren „Versöhnung“ mit jener Wirklichkeit, teils durch ihm fremde Konstruktionen vergewaltigt, teils durch die Notwendigkeit, die Gedankenbestimmungen an die oberflächlichen, bloß empirischen Daseinsformen der historischen Wirklichkeit anzupassen und diese – infolge der Anpassung – zu Kategorien zu erheben, verabsolutiert.

Infolge dieser „Versöhnung“ kam es bei den russischen „Marxisten“ nicht zu einer wirklichen Überwindung jener primitiven, vorkapitalistischen, idealistischen, die herrschenden Verhältnisse abspiegelnden Anschauung, daß der revolutionäre Wille die wichtigste Voraussetzung für die Umänderung der Gesellschaft sei. Die unmittelbare Konsequenz dieser als Voluntarismus zu definierenden Tendenz ist die Ansicht, daß ein Mißlingen der herbeigesehnten sozialen und politischen Änderungen entweder einem Mangel an diesem Willen oder etwa einer von einem „bösen“ Willen hervorgerufenen Gegenwirkung zuzuschreiben wäre.

Hier hat man es mit einem charakteristischen Merkmal der bolschewistischen Gesellschaftsauffassung zu tun. Der Kulak, ein gewisser Spekulant, ein Privatkapitalist; Verräter, Konterrevolutionäre, Philister und Spießbürger, Reformisten oder Dummköpfe, Versöhnler oder Liquidatoren, Feinde oder selbstzufriedene Bürokraten, sind, wie es gerade den Bolschewiki in den Kram paßt, nach Belieben für bestimmte soziale Erscheinungen verantwortlich zu machen; nie werden diese Erscheinungen als das Ergebnis einer sozialgesetzlichen Entwicklung verstanden.

Zur Probe nehme man nur die Schrift über „die Kinderkrankheit“ in die Hand. Wenn Lenin dort auf die von der europäischen Linken kritisierten Gewerkschaften eingeht und auf ihre Bürokratie zu sprechen kommt, erklärt er diese Bürokratie nicht aus der gewerkschaftlichen Struktur, sondern er erklärt umgekehrt die gewerkschaftliche Praxis aus dem (schlechten) Charakter der Bürokraten. Jene Auffassung, daß die Gewerkschaften die Gewerkschaftler bilden, liegt ihm fern. Lenin faßt die reale Gestalt der Gewerkschaften nicht als ein Ergebnis der Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Gesellschaft auf, sondern er glaubt allen Ernstes, sie sei vom „Willen“ der Gewerkschaftsführer gestaltet. Wenn da irgend etwas „nicht in Ordnung“ ist, das heißt, wenn der wirkliche Sachverhalt nicht mit dem Willen Lenins übereinstimmt, dann haben die Gewerkschaftsführer schuld: sie wollen „das Falsche“, weil sie „demoralisiert“ oder etwas noch schlimmeres sind (S.422).

Die europäische Linke gründete eine Kritik an den Gewerkschaften auf deren immanente Eigengesetzlichkeit als Organisation. Diese Kritik ging darauf hinaus, daß die Linke für – sich aufgrund der gewerkschaftlichen Erfahrungen schon darbietende – andere Organisationsformen der Arbeiterschaft eintrat.

Lenin, der sich den (westeuropäischen) Gewerkschaften gegenüber durchaus nicht mit Wohlwollen verhält, versteht, aus den Gründen, die wir erörtert haben, von dieser Kritik kein Jota! Wo er über die Gewerkschaften im Westen, auf welche die Linke zur Begründung ihrer Auffassungen hinweist, spricht, da sagt er: „…dort hat sich eine viel stärkere Schicht einer beruflichen beschränkten, bornierten, selbstsüchtigen, verknöcherten, eigennützigen, spießbürgerlichen, imperialistisch gesinnten und vom Imperialismus bestochenen, vom Imperialismus demoralisierten ‚Arbeiteraristokratie‘ herausgebildet als bei uns. Das ist unbestreitbar.“(S.422)

Bei Lenin also steht der frei nach eigenem Gutdünken (oder nach dem Gutdünken des ‚Imperialismus‘) handelnde Gewerkschaftsführer im Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Ganz folgerichtig gelangt er zu der Schlußfolgerung, daß der Kampf gegen diese schlechten Führer „rücksichtslos“ geführt werden solle bis zu ihrer „Vertreibung aus den Gewerkschaften“ (S.422). Macht man aber, wie es die von Lenin angegriffene marxistische Linke tat, den realen Sachverhalt durchaus nicht vom Willen schlechter oder tüchtiger Führer abhängig, so ist was er verlangt buchstäblich und figürlich ein „unmögliches“ Postulat.

Für Lenin handelt es sich darum, daß die Gewerkschaften in dem Moment „gewisse reaktionäre Züge zu offenbaren (begannen)“ „als die höchste Form der Klassenvereinigung der Proletarier, die revolutionäre Partei des Proletariats (…) sich herauszubilden anfing“ (S.420). Ganz abgesehen davon, daß jene Partei, von der er hier spricht, die Partei nach bolschewistischem Muster, sich außerhalb Rußlands nirgendwo gebildet hatte, als jene Züge, die er da meint, hervortraten und somit schon aus diesem Grunde seine Auseinandersetzung der westeuropäischen Wirklichkeit einfach widerspricht, ist wiederum die ihr zugrundeliegende Methode charakteristisch.

Lenin erklärt die „reaktionären Züge“, die er wahrzunehmen glaubt, nicht aus dem Charakter der Gewerkschaften, sondern er erklärt umgekehrt den Charakter der Gewerkschaften aus ihren „reaktionären Zügen“; ein Verfahren, bei dem letztere eben völlig ungeklärt bleiben. Die Frage, ob es sich denn wirklich um „reaktionäre Züge“ handelt, oder ob die Gewerkschaften aufgrund ihrer Funktion innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft (d.h. Verkauf der Ware Arbeitskraft nach ihrem jeweiligen Marktpreis18) als Institution die Fortbildung der kapitalistischen Produktionsweise sichern und deshalb, obgleich auf der anderen Seite der Barrikade, den Arbeitern gegenüberstehend, nichtsdestoweniger die herrschende Sozialordnung vervollkommnen, also dem historischen Fortschritt dienen – diese Frage liegt außerhalb von Lenins Blickfeld.

Daß die Gewerkschaftsbürokratie das regelrechte Gegenteil von „reaktionär“ sein, und trotzdem als Feind der kämpfenden Arbeiter sich verhalten kann, das ist eine Erfahrung, von der Lenin nichts weiß, weil er sie im Rahmen der russischen vor- oder frühkapitalistischen Verhältnisse noch nicht gemacht hat, weil gerade unter Voraussetzung der russischen Realität ein feindseliges Verhalten gegenüber den Arbeitern nur mit der Bezeichnung „reaktionär“ angedeutet werden kann, weil in Rußland ja die Arbeiterklasse als Vollstreckerin der bürgerlichen Revolution auftritt.

Hieraus ergibt sich, daß die marxistische Linke die Gewerkschaften ganz anders einschätzen mußte und tatsächlich auch anders einschätzte als Lenin; hieraus ergibt sich auch, weshalb Lenin ihre Einschätzung nicht verstehen konnte und sie als einen „Anti-Gewerkschaftsstandpunkt“ auffaßte, ein Ausdruck, dessen sich die hervorragendsten Theoretiker der damaligen Linken nicht bedienten und der ihre Auffassung ebenso unrichtig wiedergibt wie die Leninsche Behauptung, die Linke fürchte die reaktionären Züge der Gewerkschaften (S. 421)19.

Lenins Kritik an der Gewerkschaftsbewegung ist charakterisiert durch ein naives, instinktmäßiges revolutionäres Gefühl, aus dem man zwar einen tiefen Haß gegen den Kapitalismus folgern kann, nicht aber ableiten kann, daß er den wirklichen Charakter der bürgerlichen Einrichtungen verstehe. Anstatt deren Gesetze, werden von ihm bloß Fallstricke und Korruptionsquellen wahrgenommen.

Lenin, der – wie soeben dargelegt – an die empirischen Daseinsformen, in diesem Falle der Gewerkschaften, wie sie sich in Rußland darbieten, anknüpft und sie verabsolutiert, steht weit entfernt von jenem Gesichtspunkt, unter dem die historische Beschränktheit der Gewerkschaften in den Vordergrund gerückt wird, unter dem die Relativität ihrer Funktion betont wird, unter dem ihr doppelter Charakter – natürliche Organisation der sich eben bildenden Arbeiterklasse im Frühkapitalismus und Zwinger dieser Klasse im Hoch- oder Spätkapitalismus – nachgewiesen wird.

Rühle hatte natürlich vollkommen recht, als er in Bezug auf die Meinungsverschiedenheiten in der Gewerkschaftsfrage Lenin wegen Mangel an dialektischem Denken kritisierte. Wo Rühle aber schreibt, daß „Lenin absolut nicht begreifen wollte, um was es ging“20, da hätte er besser bemerkt, daß Lenin es nicht begreifen konnte. Zudem geht Otto Rühle unserer Meinung nach auf die falsche, das heißt auf die Leninsche Fährte, indem er in fast denselben Worten, derer sich sein Gegner bediente, die Gewerkschaftsbürokratie als „eine Korruptionsgilde, ein Gangsterführertum“, die „besonders während der deutschen Revolution auf Kosten der Massen ihre moderne Piraterie trieb“ bezeichnete.

Selbstverständlich urteilen wir über Gewerkschaftsführer wie damals Carl Legion und Theodor Leipart, in unseren Tagen Tarnow, Richter oder der vor kurzem verstorbene Otto Brenner, gleich ungünstig wie Rühle, aber darum gebt es eben nicht. Es geht darum, daß nicht nur völlig korrumpierte, sondern auch scheinbar „anständige“, gewissermaßen radikale, grundsatztreue oder „oppositionelle“ Gewerkschaften unter demselben Gestirn, das heißt unter demselben Entwicklungsgesetz antreten, und daß auch letztere aus diesem Grunde eines gewissen Tages gegen die Arbeiter vorgehen müssen, auch wenn ihre „ehrlichen“ und „aufrichtigen“ Führer das in ihrer keuschen Unschuld nicht glauben wollen.

Wo Lenin auf seine Weise vom Gangstertum der Gewerkschaftsführer redet, – da ruft ihm Rühle zu: „Na, siehst du?“, anstatt gerade an dieser zwar verständlichen, aber völlig unsachlichen „Kritik“ die methodologische Schwäche Lenins aufzudecken.

IV.

Alles was wir bis jetzt in Bezug auf Lenins Stellung zur Gewerkschaftsfrage und zu den Gewerkschaften selbst gesagt haben, trifft in fast gleicher Weise auf seine Stellung zur Frage des Parlamentarismus zu. Nicht vom Standpunkt der westeuropäischen Arbeiterklasse tritt er an sie heran, sondern von jener Position aus, die sich der russische Bolschewismus zu Anfang unseres Jahrhunderts mittels einer Analyse der Bedingungen und Voraussetzungen der kommenden russischen Revolution erobert hatte.

Der Unterschied kommt ihm gar nicht zu Bewußtsein und konnte von ihm auch nicht zu Bewußtsein kommen. Ein anderer Ausgangspunkt war ihn ebenso fremd wie eine reale Kenntnis jener Tatsache, die bei der Kontroverse mit der radikalen Linken im Hintergrund stand: des Funktionswechsels des Parlamentarismus innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft.

Daß dies keine leere Behauptung ist, geht z.B. hervor aus einer Mitteilung von seiner Witwe. in zweiten Band ihrer „Erinnerungen“ erzählt sie, wie der damals (1908) in Genf lebende Lenin „in halb verwundertem, halb verächtlichem Ton“ die Worte eines Schweizer Abgeordneten wiederholte, der gesagt hatte, die seit Jahrhunderten bestehende Schweizer Republik könne „niemals eine Verletzung des Eigentumsrechts zulassen“. Für die (halbe) Verwunderung Lenins gab es einen guten Grund, der auch gleich von der Verfasserin erwähnt wird. „Kampf für die demokratische Republik“, so fügt sie hinzu, „war ein Punkt unseres damaligen Programms“21.

Die Bedeutung ist klar: Lenin hatte offenbar bis zu diesem Zeitpunkt eine naive Auffassung von der „demokratischen Republik“. Es wäre wohl nicht in Widerspruch mit den Tatsachen, wenn man behauptete, sie stimmte etwa mit den naiven Vorstellungen der bürgerlichen französischen und deutschen Revolutionäre des Jahres 1848 überein, mit jenen Vorstellungen also, die – mit Hinwels auf Lenin/Kautsky – vorherrschten in einer Umwälzung, deren Zentrum sich „ostwärts verschoben“ hatte.

Daß für Lenin, wie die „Neue Züricher Zeitung“ mal behauptete, „auch in der Schweiz die demokratischen Einrichtungen nur als Instrumente der sozialistischen Revolution von Bedeutung“ wären22, stimmt wohl, sollte aber anders verstanden werden, als es: dieses Prachtstück der bürgerlichen Schweizerischen Journalistik gemeint hat. Lenin konnte die demokratischen Einrichtungen nur aus der Perspektive der russischen – d.h. einer bürgerlichen Revolution „von besonderem Typus“ – verstehen und beurteilen.

Daß Lenin von da an die bürgerliche Republik mit anderen Augen betrachtet haben soll, wie die Krupskaja fortfährt, überzeugt uns wenig, am allerwenigsten wegen seiner Äußerungen in jener Schrift, die wir hier zu analysieren versuchen.

In seiner Antwort auf die europäische Linke hatte Lenin sich zu beschäftigen mit der Frage, ob der Parlamentarismus überholt sei oder nicht. Als das Problem unter anderem von dem zur Linken gehörenden holländischen Marxisten Anton Pannekoek aufgeworfen wurde, da geschah dies in einem sehr bestimmten Sinne, der von Lenin völlig übersehen wurde. Bei Pannekoek handelt es sich um die Frage, ob der sogenannte „revolutionäre Parlamentarismus“, der als Kampfmethode von der radikalen Sozialdemokratie befürwortet wurde, und den Pannekoek in einer bestimmten historischen Phase des Kapitalismus für richtig hält, noch einen Zweck hat in jener Periode, die am Ende des Ersten Weltkrieges angefangen hatte.

Dort wo Lenin darauf eingeht, wirft er – abermals – die Begriffe durcheinander, und es zeigt sich, daß er die Probleme völlig mißversteht. Nicht vom „revolutionären“, sondern von dem bürgerlichen Parlamentarismus, nicht von einer Kampfmethode, sondern von einer politischen Institution spricht Lenin bei seiner Widerlegung der linken Auffassungen. Manchmal bekommt man dabei den Eindruck, daß er vom bürgerlichen Parlamentarismus redet, daß jedoch das Parlament gemeint ist.

Lenin stellt die merkwürdige These auf, daß dieser bürgerliche Parlamentarismus historisch überholt sei, politisch aber nicht. „Historisch“, schreibt Lenin (S. 426), „ist die Epoche des bürgerlichen Parlamentarismus … beendet“. Das behauptet die Linke im Jahre 1920 bestimmt nicht. Sie sagt etwas anderes. Sie versucht darzulegen, daß der „revolutionäre Parlamentarismus“ als Taktik nicht mehr paßt in einer Periode, in der zwischen der proletarischen und der bürgerlichen Klasse ganz andere Gegensätze in den Vordergrund treten als in der Vergangenheit, und in der ein ganz anderer Kampf als bis dahin auf der Tagesordnung steht.

Lenin richtet sich gegen diese Argumentation, ohne sie zu verstehen. Er spottet darüber, daß die Linke „Jede Rückkehr zu den … Kampfformen des Parlamentarismus … ablehnt“ (hier zitiert Lenin die Linke). Er nennt das „eine leere Phrase“ und fragt anläßlich dieses Wörtchens „Rückkehr“ ironisch, ob „es in Deutschland gar schon eine Sowjetrepublik gibt?“. Wenn er schon bemerkt hat, daß vom „Parlamentarismus als Kampfform“ die Rede ist, so verwechselt er trotzdem diesen „Parlamentarismus als Kampfform“ mit dem Parlamentarismus oder mit dem Parlament „schlechthin“, genau so wie er gleich zu Anfang seiner Schrift die proletarische Revolution mit der Revolution schlechthin verwechselt hat, und zwar aus demselben Grunde:

Die Auffassungen der Linken fußen auf dem geänderten Charakter der Klassengegensätze und auf den geänderten Verhältnissen in der Gesellschaft. Die aber zieht Lenin gar nicht in Betracht. Er geht bloß davon aus, daß es ein Parlament gibt, und er schreibt diesem Parlament wesentlich einen absoluten und unabänderlichen Charakter zu, ohne als sogenannter Dialektiker auch nur mit der Wimper zu zucken. Er setzt weiter voraus, daß noch immer Millionen Proletarier „für den Parlamentarismus schlechthin eintreten“ (S.427).

Daß das für Deutschland 1919/1920 gar nicht zutrifft – Gorter hat es in seinem Offenen Brief betont – können wir hier bei Seite lassen. Für uns handelt es sich vor allem darum, daß Lenins Ansichten nicht darauf fußen, was die Arbeiter infolge ihrer Klassenlage im Klassenkampf zu tun gezwungen sind oder zu tun gezwungen sein werden. Er geht davon aus, was sie an Vorstellungen in ihrem Kopf haben, also nicht von dem, was sie tun müssen. sondern von ihrem Willen. Nicht die objektiven Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung bilden Lenins Leitfaden, sondern die subjektiven Vorurteile der Individuen.

Vorurteile, Erwartungen, Hoffnungen oder Illusionen, sie bilden der Reihe nach für Lenin und seinesgleichen keine Folge jener Tatsache, daß die Ideen nun einmal hinter der sozialen Wirklichkeit zurückbleiben. Nichts findet sich bei ihm von der Auffassung, daß die Vorstellungen, welche die Menschen im Kopf haben, durch ihre Praxis, durch ihr soziales Handeln umgewälzt werden.

Im Gegenteil: es ist bei ihm gerade umgekehrt. Dasjenige, was er mit rein subjektiven Maßstab als „eine richtige Praxis“ begreift, erwartet er als Ergebnis des Verschwindens der Vorurteile und Illusionen. Und wo er von „Praxis“ redet, da meint er in den meisten Fällen nicht die Praxis der Massen, sondern die der Partei.

Nach Lenin soll die (bolschewistische) Partei, sich eine Vertrauensposition erwerben, eine derartige Position, daß sie stark genug sei, „um das bürgerliche Parlament … auseinanderzujagen“ (S.428). Diese Auffassung ist typisch für den Bolschewismus, der die proletarische Revolution als Staatsstreich versteht, nicht als Massenaktion, nicht als gesellschaftlichen Prozeß. Er inszeniert Revolutionen, denkt immerfort in Begriffen einer solchen Inszenierung, nicht in Begriffen des Klassenkampfes, deshalb, weil er die Traditionen bürgerlicher Umwälzungen weiterfuhrt.

Für Lenin ist ein solches Ende des Parlaments mittels einer von der Partei durchgeführten Art Staatsstreich gleichbedeutend mit den Ende des Parlamentarismus. Die Linke dagegen spricht über das Ende des Parlamentarismus als Kampfmethode, sobald jene Zeit hereinbricht, da die Massen selbst zu kämpfen anfangen. Die Linke betrachtet den autonomen Massenkampf als dasjenige, was die Massen von ihren Illusionen befreien wird, als das Merkmal der proletarischen Revolution im Unterschied zur bürgerlichen. Für die Linke gibt es keinen größeren Gegensatz als den zwischen diesem Kampf der Massen und dem sogenannten „Kampf“ der sogenannten „Führer“ im Parlament.

Für den autonomen Kampf der Proletariermassen bringt Lenin nicht das geringste Verständnis auf. Für ihn handelt es sich lediglich darum, „im reaktionären Parlament“ – der Ausdruck ist genauso bezeichnend wie jener der „reaktionären Gewerkschaftsbürokratie“ – über eine „gute Parlamentsfraktion …“ zu verfügen (S.434). Für ihn dreht sich die ganze Frage nicht um die sich ändernde Funktion des Parlaments in der sich ändernden Gesellschaft, sondern um die Gesinnung der Parlamentarier. Lenin glaubt, die Frage wäre gelöst, wenn auch hier „die schlechten Führer“ durch „gute und zuverlässige“ ersetzt wären. Er ist auch in Bezug auf diese Frage ganz und gar ein Voluntarist, dem es darum gebt, was die (parlamentarischen) Führer wollen, nicht was sie können.

Der Voluntarismus findet keine Stütze in der Marxschen materialistischen Dialektik. Die Frage ist also berechtigt, wie er Lenin immer wieder unterlaufen kann. Die Antwort ist, daß seine in marxistisches Gewand verkleidete Konzeption ein Produkt jener „Versöhnung“, jener „Vergewaltigung“ ist, auf die wir schon hingewiesen haben. Als Lenin, durch die Eigenart der russischen Verhältnisse dazu genötigt, an die Probleme der bürgerlichen Revolution mit Hilfe der Theorie der proletarischen Revolution heranging, da wurden zwar die Mysterien der ersteren aufgelöst, da wurde ihm aber zugleich letztere zum Mysterium.

Anders gesagt: der besondere Charakter der herannahenden Revolution in Rußland hat Lenin eine Rolle aufgezwungen, die rein äußerlich grundverschieden ist von jener, welche von früheren bürgerlichen Schauspielern auf der historischen Bühne vorgeführt wurde. Diese haben immer, eben wenn sie damit beschäftigt waren, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen in Epochen revolutionärer Krisen, zu ihrem Dienste ängstlich die Geister der Vergangenheit heraufbeschworen. Ihnen entlehnten sie, zu ihrer Legitimation, Namen, Schlachtparole und Kostüme, und mit erborgter Sprache (des Alten Testaments, der Römischen Geschichte oder der Griechischen Städtedemokratie) schrieben sie alsdann das neue Kapitel der Weltgeschichte.

Lenin dagegen – der Dagewesenes schuf – führte nicht die Sprache der Vergangenheit, sondern bediente sich mutig jener der Zukunft, jedoch ohne sich ihren Geist aneignen zu können und ohne die ihm angestammte Sprache in ihr zu vergessen. Er hat die Sprache der Zukunft rückübersetzt – „angepaßt“ um den von Lukács gewählten Ausdruck zu benutzen – in jene, die ihm vertraut war. Das heißt soviel als daß bei allen seinen „Übersetzungen“ geschichtliche Täuschungen, an erster Stelle natürlich Selbsttäuschungen, herauskommen.

Rühle, der in Bezug auf die Frage des Parlamentarismus Lenins Schwächen viel schärfer hervorhebt als in Bezug auf die Gewerkschaftsfrage, schreibt mit Recht, daß für Lenin Parlament eben Parlament war … „sich immer gleich bei allen Völkern, in allen Zonen, zu allen Zeiten“ und daß er „immer das junge Parlament aus der Zeit des bürgerlichen Aufschwungs dem alten Parlament aus der Zeit des bürgerlichen Verfalls gegenüberstellt“, das aber bloß in seiner Polemik23. Wir haben dagegen nichts einzuwenden, möchten aber für unsere Zwecke noch etwas genauer präzisieren.

Nicht irgendein junges Parlament aus den bürgerlichen Flitterwochen wird immer von Lenin aufgeführt, sondern entweder die russische Reichsduma oder jene russische Konstituante, die Januar 1918 durch ein Dekret der bolschewistischen Exekutive aufgelöst wurde. Zwar gibt Lenin zu, daß „selbstverständlich … von einer Gleichsetzung der Verhältnisse in Rußland und der Verhältnisse in Westeuropa keine Rede sein (kann)“ (S.429). Aber im selben Atemzug erklärt er sodann, daß bei der Lösung der Parlamentarismusfrage doch ganz entschieden die russische Erfahrung in Betracht gezogen werden müsse. Denn, so Lenin, „der Satz: ‚Der Parlamentarismus ist politisch erledigt !‘ …“ und ähnliche Aussprüche „verwandeln sich allzu leicht in hohle Phrasen, wenn die konkrete Erfahrung nicht in Betracht gezogen wird“ (S. 429).

Die Begründung ist wirklich köstlich. Als ob das kapitalistische Europa seine eigene konkrete Wirklichkeit eines Parlamentes im bürgerlich-revolutionären Sturme nicht schon längst hinter sich und daraus nicht seine Erfahrungen bezogen hätte, wird hier den Abendländern das Studium eines russischen Beispiels empfohlen, das – gerade seiner einzigartigen Umstände wegen – in die Probleme des proletarischen Klassenkampfes keinen tieferen Einblick gewährt.

Aber Lenin sieht das nicht und kann das nicht sehen, infolge jener „Übersetzungs- und Sprachschwierigkeiten“, jener geschichtlichen Täuschungen, die wir eben erwähnt haben. indem er die Schlachtparole einer künftigen Revolution für jene, die in Rußland auf der Tagesordnung steht, anwendet, ist er nunmehr außerstande, die spezifischen Probleme jener künftigen Revolution von denen der russischen Revolution zu unterscheiden. Nachdem er zuerst eine proletarische Theorie für die russische Praxis übersetzt hat, will er sodann ohne weiteres die russischen Erfahrungen übertragen auf die proletarische Praxis.

Natürlich ist namentlich die Geschichte mit der russischen Konstituante äußerst lehrreich. Die Forderung zu ihrer Einberufung im Programm der revolutionären russischen Sozialdemokratie war eine ganz logische, da es sich ja in Rußland um die bürgerliche Revolution handelte. Nicht weniger logisch war ihre Auflösung am 19.Januar 1918. Lenin hatte völlig Recht, als er in seinen „Thesen über die Konstituante“ feststellte, daß „es ein Mißverhältnis zwischen ihrer Zusammensetzung und dem Volkswillen geben mußte“24. Die Ursache war aber nicht, daß „in die Konstituante Parteien gewählt wurden, die sich schon bildeten zu einem Zeltpunkt, da die Bourgeoisie noch herrschte“, wie er schreibt, sondern das Fehlen einer wirklich bürgerlichen Herrschaft infolge des „besonderen“, auch von ihm nachdrücklich anerkannten, Charakters der russischen Revolution.

Nicht deshalb weil Menschewiki und Kadetten (Konstitutionelle Demokraten) in ihr vertreten waren, schwebte die Konstituante in der Luft, sondern weil es weder für sie, noch für diese Parteien einen wirklichen sozialen Boden gab. Der Umstand, daß die bürgerliche Revolution in Rußland gegen die Bourgeoisie und ohne sie vollzogen werden mußte, das beißt: die gesellschaftliche Schwäche jener Klasse, machte einfach die Errichtung ihrer traditionellen Institutionen zu einer Unmöglichkeit.

In der russischen bürgerlichen Revolution war ein Parlament also zum Scheitern verurteilt. Nicht die Bolschewiki haben das Todesurteil gefällt, um ihrer Monopolherrschaft den Weg zu bahnen; das Schicksal der Konstituante und der Weg, den die bolschewistische Partei zurückgelegt hat, wurden beide von sehr eigentümlichen Bedingungen vorgeschrieben, die erst anband der Praxis als Erfahrungstatsachen festgestellt werden mußten, ehe sie sich dem politischen Bewußtsein der unmittelbar Beteiligten als zwingend darstellten. Und auf das politische Bewußtsein kam es an, weil es sich um eine rein politische Frage handelte.

Die Auflösung der Konstituante hatte nichts zu tun mit einer Beseitigung bürgerlicher Herrschaftsformen infolge einer Auflösung der kapitalistischen Produktionsweise. Sie stand nicht am Ende, sondern am Anfang einer kapitalistischen Entwicklung. Nicht von einer Aufhebung der Lohnarbeit war die Rede. Für sie und für eine kapitalistische Produktionsweise machte die russische Revolution gerade den Weg frei, wenn auch einen anderen Weg, als er im Westen gegangen worden war. Das russische Proletariat war, trotz seiner hochentwickelten Kampfformen, trotz seiner spontan gebildeten Räte (Sowjets), nicht imstande, diese gesellschaftliche Entwicklung zu verhindern. Unter diesen Umständen bedurfte es einer politischen Macht, die an die Stelle jener traditionellen treten konnte, die sich zu entfalten nicht imstande war.

Auf die Beschleunigung dieses Prozesses zielte die Strategie der Bolschewiki ab, als sie sich an den Konstituantenwahlen beteiligten und als Fraktion in diesem politischen Körper arbeiteten, nachdem er gebildet war. Lenin hat das ausführlich auseinandergesetzt in seiner Schrift über „die Kinderkrankheit“ und in einer Betrachtung, auf die er dort einige Male hinweist25. Es war eine vorzügliche Strategie, deshalb, weil sie den Bedingungen der Revolution in konsequentester Weise angepaßt war. Man braucht sich aber nur ihre Voraussetzungen und ihre politischen Ziele zu vergegenwärtigen, um festzustellen, daß sie auf die Voraussetzungen des proletarischen Klassenkampfes in keiner Weise zugeschnitten war.

Noch viel klarer tritt das hervor, dort wo Lenin in seiner Schrift die verschiedenen Elemente dieser bolschewistischen Strategie bis hin zur geringsten Kleinigkeit entwickelt.

V.

Was wir bis jetzt anhand der Leninschen Schrift am Bolschewismus festgestellt haben – sein Voluntarismus; sein Mangel an Verständnis für soziale Eigengesetzlichkeit; die durch bestimmte Umstände hervorgerufene Verquickung der Parole einer künftigen mit den Aufgaben einer (1789; 1848) schon dagewesenen Umwälzung; seine Verwechslung der bürgerlichen mit der proletarischen Revolution; seine Unfähigkeit, verschiedene wirtschaftliche Bedingungen und verschiedene historische Situationen zu unterscheiden – das alles finden wir in nahezu überspitzter Weise wieder in jenen praktischen Ratschlägen und Empfehlungen, die Lenin, dort wo er sich mit dem Verhalten der kämpfenden Arbeiter dem Klassengegner gegenüber beschäftigt, nicht müde wird mit seiner Kritik an der europäischen Linken zu verflechten.

Mit dem Verhalten der kämpfenden Arbeiterklasse, schreiben wir. Davon handelten ja die Thesen und Erörterungen der Linken. Genauer betrachtet jedoch, rächt sich die eigentümliche Position, worin sich die Bolschewiki als Exponenten ihrer bürgerlichen Revolution von besonderem Charakter befinden, auch diesbezüglich sofort in der Hinsicht, daß sie nicht einmal imstande sind, den eigentlichen Inhalt der von ihnen kritisierten Auffassungen zu verstehen. Nicht von dem Verhalten der Arbeiter spricht Lenin, sondern vom Verhalten der Partei. Für die Linke handelt es sich gerade um diesen Unterschied; für Lenin ist die Identität beider Kategorien eine Selbstverständlichkeit.

Lenin substituiert, auf dem Wege immer weiterer Einschränkungen (S.443) – das Proletariat, sein klassenbewußtester Teil, seine Vorhut und so weiter – die Klasse durch die Kommunistische Partei. in einem am Vorabend der Oktoberrevolution geschriebenen Artikel „Über Kompromisse“, auf den wir noch zurückkommen werden, schreibt er: „Unsere Partei erstrebt wie jede andere politische Partei die politische Herrschaft für sich. Unser Ziel ist die Diktatur des revolutionären Proletariats26„. Infolge solcher Gleichsetzungen rückt die von der Linken erhobene Frage, ob es sich denn um die Diktatur der Partei oder um die Diktatur der Klasse bandele, außerhalb seines Gesichtskreises27.

Er vernimmt sie, er versteht sie jedoch nicht. Deshalb macht er sie lächerlich (S. 412), ohne die geringste Spur einer Argumentation.

Wenn man Lenin gegenüber von einem Gegensatz zwischen Führern und Massen spricht, denkt er (S.413) an das Verhalten der reformistischen Führer während des imperialistischen Krieges 1914-1918. Er „übersetzt“ in einer Weise, als ob da vom „tadelnswerten“ Benehmen „schlechter“ Führer die Rede wäre. Somit geht es bei ihm gleich wieder um die Frage des „Wollens“. Er versteht nicht, daß es sich um den grundsätzlichen Unterschied handelt zwischen einem Kampfe, bei dem die Massen geführt werden und einem solchen, in dem sie selbst ihre Entschlüsse fassen. Der erstgenannte Typus charakterisiert die bürgerliche, letzterer die proletarische Revolution; der erste Typus hat eine Strategie als Gegenstück, die beim zweiten Typus unvorstellbar ist!

Bei Lenin ist – mit Recht – die Frage der Strategie mit jener der Führung eng verbunden. Die Kombination einer „richtigen“ Führung mit einer „richtigen“ Strategie ist für ihn, wie er schreibt (S.396), „eine der Hauptbedingungen für den Sieg“, faktisch, weil er keine anderen Voraussetzungen behandelt, die einzige! Jene Führung hält er für richtig, die eine richtige politische Strategie und Taktik hat (S.390). Ganz ähnlich der Kriegführung, wo die Durchführbarkeit oder die Anwendungsmöglichkeit einer bestimmten militärischen Strategie von der Disziplin in den Reihen einer regulären Armee bedingt wird, so ist bei Lenin die politische Strategie von der Existenz einer „unbedingten Zentralisation und strengster Disziplin des Proletariats“ abhängig (S.396).

Die Begründung dieser seiner Ansicht findet sich dort, wo er (S.438) „die Bedeutung der Parteiorganisation und der Parteiführer“ darin erblickt, „daß man durch langwierige, hartnäckige, mannigfaltige, allseitige Arbeit aller denkenden Vertreter der gegebenen Klasse die notwendigen Kenntnisse, die notwendigen Erfahrungen, das – neben Wissen und Erfahrung – notwendige politische Fingerspitzengefühl erwirbt, um komplizierte politische Fragen schnell und richtig zu lösen.“ Es handelt sich hier um die Ansicht derjenigen, für welche der Gang der historischen Ereignisse bestimmt wird und nur bestimmt werden kann von einer Führerschicht, die fortwährend die Massen manipuliert, obgleich sie nie müde wird, „im Namen des Volkes“ zu reden. Mit einen Wort: man hat es mit der Ansicht der bürgerlichen Gesellschaft zu tun.

Diese zwingende Schlußfolgerung ergibt sich auch daraus, daß Lenin vom politischen Fingerspitzengefühl redet anstatt von sozialem Klasseninstinkt. Er hat diesbezüglich sein ganzes Leben hindurch jenes Mißverständnis gehegt, das schon zu Anfang seines publizistischen Wirkens in seiner Schrift „Was tun?“ hervortritt, das Mißverständnis nämlich, daß es deshalb einer Parteiführung bedürfe, weil die Arbeiter niemals in hinreichendem Maße ein politisches Bewußtsein entwickeln könnten, Lenin, der folglich sich keine proletarische Revolution ohne Eingriff der politisch „Wissenden“ vorstellen kann, hat keine Ahnung davon, daß ein politisches Bewußtsein ein Attribut einer wohlhabenden Klasse im allgemeinen, der bürgerlichen Klasse insbesondere ist, und daß die Arbeiterschaft desto mehr sich in nutzlosen, irrationellen Kämpfen verschwendet, je mehr politisches Verständnis in ihr vorbanden ist. Er hätte – wenn es ihm möglich gewesen wäre – sich in dieser Hinsicht von Marx belehren lassen können28. Was ihn jedoch daran hinderte, war eben jene „Brille“, die von Gorter als eine „russische Brille“ bezeichnet wurde, von uns bezeichnet wird als die „Brille“, die drüben getragen werden mußte von einer Gruppierung, die beim Mangel einer selbstsicheren bürgerlichen Klasse mit einem entwickelten politischen Bewußtsein diese Lücke auszufüllen und somit das fehlende politische Bewußtsein zu ersetzen hatte.

Ein Vergleich der politischen Strategie dieser Gruppierung mit einer militärischen Strategie ist unserer Meinung nach durchaus berechtigt. Für Lenin war ja, wie er 1905 bereits geschrieben hatte, „die Revolution … ein Krieg“29 und diese Auffassung kehrt in seiner Schrift über „die Kinderkrankheit“ auf fast jeder Seite wieder. „Nehmen wir“, sagte er 1915, „die moderne Armee. Sie ist eine mustergültige Organisation. Und diese Organisation ist nur deshalb gut, weil sie elastisch ist und zugleich Millionen von Menschen einen einheitlichen Willen verleihen kann“30.

Da hat man abermals, einschließlich des unentbehrlichen „einheitlichen Willens“, der nur von oben, vom Olympus der politischen Götter herabsteigt, genau den Standpunkt von 1920.

Bei einer solchen Analogie kommt man aber nicht daran vorbei, daß das Wesentliche jener mustergültigen Heeresorganisation: die Disziplin, unzertrennlich verbunden ist mit einer historisch und gesellschaftlich bedingten und somit beschränkten Form der Kriegskunst, und daß eine andere als die bürgerliche Gesellschaft und somit auch der Kampf um sie, eine ganz andere Form der Gewaltanwendung schaffen, die gar nicht mehr als eine von „wissenden“ Spezialisten des Generalstabs betriebene Armeeführung zu betrachten wäre und nicht mehr von einer traditionellen militärischen Kriegsmaschinerie praktiziert wird. Die Auflösung der militärischen Disziplin erscheint unter diesem Gesichtspunkt als die Bedingung des revolutionären Sieges zugleich aber auch als die Folge der Revolution.

Das Ergebnis der Analogie widerspricht also energisch der Leninschen Auffassung, daß gerade die Disziplin eine, sogar bedingungslose, Voraussetzung der Revolution sei. Friedrich Engels hat über die gänzliche Auflösung der militärischen Disziplin als Bedingung wie Resultat jeder bisher siegreichen Umwälzung gelegentlich mal bemerkenswerte Sätze niedergeschrieben31. Wenn wir hier darauf hinweisen, so nicht, um damit den – blödsinnigen – Versuch zu unternehmen, mit Hilfe von Marx und Engels die „Unrichtigkeit“ der Leninschen Stellungnahme aufzudecken. Es handelt sich für uns nicht um Lenins „Unrecht“ – das weder mit einem Engels- noch mit einem Marxzitat zu beweisen wäre,- sondern um die bloße Tatsache, daß er sich im Gegensatz zu Marx und Engels befindet, und um die Frage weshalb; um die Frage, wie man das erklären könne.

Was wir darzulegen versuchen ist nichts anderes, als daß die politische Strategie des Leninschen politischen Generalstabs eine Ähnlichkeit mit der militärischen Strategie eines militärischen Generalstabs einer regulären Armee der bürgerlichen Klassengesellschaft aufweist, und zwar aus dem Grunde, daß er sich keinesfalls auf den spezifischen Klassencharakter der proletarischen Kämpfe stützt. Wenn er zum Beispiel (S.406) über die Transformation der Massenstreiks, zuerst in politische, sodann in revolutionäre Streiks spricht, so zeigt sich ein ganz anderer Gedankengang als man bei Rosa Luxemburg an jener Stelle findet, wo sie einen preußischen Minister zustimmte, daß „hinter jedem Streik die Hydra der Revolution lauere“. Rosa Luxemburg betrachtet den Streik als solchen als das Muster jedes Konfliktes der proletarischen mit der bürgerlichen Klasse. Lenin bei weitem nicht. Für ihn soll, damit es eine wirkliche Kollision gebe, das politische Moment, das politische Bewußtsein, von außen herangetragen werden. Für ihn ist die Revolution (immer noch die Revolution schlechthin) ein politischer Akt, der nicht nur dem Willen, sondern auch der Fälligkeit ihrer notwendigen politischen Führer die Krone aufsetzt.

Diese Auffassung der Revolution und jene von der Unentbehrlichkeit einer Strategie sind unlöslich miteinander verbunden. Sie bedingen einander. So wie sich aus der bürgerlichen Revolutionstheorie Lenins seine Befürwortung einer Strategie folgern läßt, so kann man aufgrund seiner Befürwortung einer Strategie auf den bürgerlichen Charakter seiner Konzeption schließen.

VI.

Nachdem wir bis jetzt die Leninsche Strategie dahingehend kritisiert haben, daß sie ausschließlich als die politische Praxis einer Führerschicht, niemals als die soziale Praxis selbsthandelnder Massen verstanden werden kann, wollen wir nunmehr zur näheren Betrachtung ihres Inhalts schreiten.

Was beim Lesen seiner Schrift über „die Kinderkrankheit“ sofort die Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist der Umstand, daß man unwillkürlich fast fortwährend erinnert wird an jene frühkapitalistische Phase, in welcher – wie es Marx im Kommunistischen Manifest schrieb – das junge, erst im Werden begriffene Proletariat gemeinsam mit seinem künftigen Klassengegner gegen den Feudaladel oder gegen die absolute Monarchie kämpfte.

Damals herrschte in der eben sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft eine durchaus andere Situation als an der Schwelle der 20-er Jahre des XX. Jahrhunderts. Das Kleinbürgertum und die Parzellenbauernschaft hatten eine weit größere wirtschaftliche Bedeutung und spielten demzufolge auch politisch eine viel wichtigere Rolle. Dazu gab es inmitten der aufsteigenden Bourgeoisie zwischen ihren verschiedenen Fraktionen noch tiefe Gegensätze, die sich, zum Beispiel im Kampf um Freihandel oder Schutzzölle, aufs heftigste äußerten. Die politische Lage jener Gesellschaft war selbstverständlich mehr oder weniger die Abspiegelung ihrer materiellen Verhältnisse.

In Deutschland, wo viel länger als in Frankreich das Königtum von Gottes Gnaden und preußischer Signatur den Gipfel des feudalen Sumpfes bildete, stand das kapitalistische Bürgertum Schulter an Schulter mit den Mittelschichten und den Arbeitern im Kampfe um die Demokratie, welche die ungehinderte Entfaltung der modernen Produktionsweise sichern sollte. im französischen Nachbarland, wo zwar die Revolutionen von 1830 und 1848 das von der großen Revolution und dem Jakobinischen Terror angefangene Werk vollendet hatten, war nichtsdestoweniger die Frucht der bürgerlichen Umwälzung immer noch bedroht. Und sogar im kapitalistischen Musterland Großbritannien gab es immer noch einen schweren Kampf um die vollkommene Ausbildung jener Einrichtungen, welche die richtige Funktion der kapitalistischen Produktion politisch garantieren.

Innerhalb der geschilderten Verhältnisse boten sich politische Bündnisse, Abkommen und Kompromisse, die geschickt ausgenutzt werden sollten, gleichsam von selbst an. Zwar trat die britische Arbeiterklasse, im Kampfe um die „Charter“; zum ersten Male in der Geschichte für ihre eigenen Interessen an, aber nichtsdestoweniger unterstützte sie leidenschaftlich die Versuche des radikalen bürgerlichen Flügels zur Durchführung einer parlamentarischen Reform. In dem kontinentalen Westeuropa, wo der politische ebenso wie der wirtschaftliche Fortschritt hinter dem Englands zurückgeblieben war, lagen Verbindungen zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten und den verschiedenen politischen Parteien, die innerhalb der bürgerlichen Ordnung deren Exponenten bildeten, noch weit mehr auf der Hand als anderswo.

Diese Situation war einmalig. Im Laufe eines halben Jahrhunderts war sie in den wichtigsten Industriestaaten überall verschwunden. in England hörte sie nach der Erlassung des parlamentarischen Reformgesetzes, in Frankreich nach der endgültigen Niederlage des Boulangismus32, nach und nach zu bestehen auf. In Deutschland wurde sie nach der Bildung des Wilhelminischen Kaiserreichs faktisch bedeutungslos. Der wesentliche, für den Kapitalismus charakteristische und ihn als Gesellschaftsordnung voraussetzende Klassengegensatz drückte fortan allen politischen und sozialen Verhältnissen seinen Stempel auf. Interessen, wofür Lohnarbeiter und Kapitalisten gemeinsam hätten kämpfen können, gab es keine mehr. Nicht länger konnten sich Proletarier und radikale Bourgeois zusammenschließen gegen eine Gefahr von rechts. Im Gegenteil: gegen die für ihre Klasseninteressen kämpfenden Arbeiter schloß sich der ganze übrige Rest der Gesellschaft fest zusammen.

In Rußland aber kehrte zu Anfang unseres Jahrhunderts genau jene gesellschaftliche und politische Situation wieder, die es im vormärzlichen Deutschland oder im Frankreich am Vorabend der Revolutionen von 1830 und 1848 gegeben hatte. Bis Februar 1917 war Rußland eine absolute Monarchie. Adel und Klerus waren die Herrschenden. Die erst in den Kinderschuhen sich bewegende Arbeiterklasse, die ungeheure Masse der Bauernschaft und gewisse Intellektuellenkreise hatten ein gemeinsames Interesse an Sturz des Zarismus, an der Durchführung jener Revolution, die Westeuropa schon seit langem modernisiert hatte. Gerade von dieser verspäteten Situation aus beurteilte Lenin die westeuropäische Lage.

Auf diese Tatsache kann man nicht nur mittelbar aufgrund der Leninschen Argumentation schließen, sie wird von ihm selbst auch wiederholt nachdrücklich betont. „Kein anderes Land“, schreibt er (S. 396) in Bezug auf Rußland, „hatte in diesen fünfzehn Jahren (1903-1917) auch nur annähernd soviel durchgemacht an revolutionärer Erfahrung“. „Alles“, heißt es (S.401/402) „was wir jetzt über die Scheidemänner und Noske, über Kautsky und Hilferding, über … die Führer der Unabhängigen Arbeiterpartei in England lesen, alles das … haben wir schon bei den Menschewiki gesehen.“ (S.402) „Die Erfahrung hat bewiesen“, behauptet er (S. 402) ohne jede Zurückhaltung, „daß in einigen sehr wesentlichen Fragen der proletarischen Revolution alle Länder unvermeidlich dasselbe werden durchmachen müssen, was Rußland durchgemacht hat.“

Von welcher Erfahrung die Rede sein könnte, wird nicht von ihm erörtert, da es sich für ihn offensichtlich um ein Axiom handelt, für welches (bei der gegebenen Tatsache der russischen Revolution) etwaige Belege überflüssig sind. Stattdessen bezeichnet er unverfroren (S. 453) die britische Labourpartei (die auf die Modernisierung des Kapitalismus lossteuert) als die „englischen Kerenskis“ – nach jenem, von der Februarrevolution 1917 zum völligen Fiasko emporgehobenen Politiker also, der Exponent einer kläglich versagenden, keineswegs den Forderungen der kapitalistischen Produktionsweise gewachsenen Bourgeoisie war .

Lenin überträgt ganz einfach und ohne Bedenken die russischen auf die britischen Zustände, so wie er (S.441/442) den Standpunkt der deutschen Linken auch aufgrund russischer Ereignisse verwirft, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, dessen angebliche Unrichtigkeit anhand der vorhandenen deutschen Verhältnisse darzulegen.

„Die russischen revolutionären Sozialdemokraten haben vor dem Sturz des Zarismus wiederholt die Dienste der bürgerlichen Liberalen in Anspruch genommen, d.h. sie haben eine Menge praktischer Kompromisse mit ihnen geschlossen.“ So Lenin (S.440/441). Er glaubt damit den Widerwillen der Linken gegen Jene Art von Kompromissen, die in seiner Schrift immer wieder in den kräftigsten Farben als die einzig vernünftige Strategie geschildert werden, als durchaus sinnlos entlarvt zu haben. Was er tatsächlich entlarvt – indem er von dem redet, was sich „vor dem Sturz des Zarismus“ ereignet hat – ist der gesellschaftliche Rahmen seiner politischen Stickerei. Es ist ein Rahmen, den es allerdings auch in Westeuropa gab, jedoch ebenfalls nur vor dem Sturz der absoluten Monarchie.

Die Strategie der „vernünftigen“ und „zulässigen“ Kompromisse bildet einen der Hauptgegenstände der Leninschen Schrift. Dabei unterläßt es ihr Verfasser nicht, nachzuweisen, daß Marx und Engels dieselbe Strategie befürwortet hätten. Jedoch ohne hinzuzufügen: in Verhältnissen, die den russischen glichen. Indem er seinen „Nachweis“ ohne jede Berücksichtigung der historischen Umstände führt, hat Lenin es damit verhältnismäßig leicht.

Es ist unbestreitbar, daß die Autoren des „Kommunistischen Manifest“ um die Mitte des vorigen Jahrhunderts nicht nur jene Bündnisse und Kompromisse verteidigt haben, für die auch Lenin leidenschaftlich eintritt, sondern, daß sie darüber hinaus auch im Geiste einer Politik der – von ihnen gleichfalls als eine politische, untrennbar mit den Massen verbundene Vorhut betrachteten- kommunistischen Partei gesprochen haben33. In dieser Hinsicht bedarf unsere Darlegung am Anfang dieses Abschnitts, wo von Bündnissen der proletarischen Klasse mit ihrem Gegner die Rede war, einer, übrigens bloß formalen, Korrektur. Anscheinend ist somit Lenins Beziehung auf Marx und Engels ganz berechtigt. Wahrheitsgemäß aber verhält es sich anders damit.

Der Marxismus von 1848 war – selbstverständlich – Kind seiner Zeit, Ausdruck der damaligen sozialen und politischen Verhältnisse und der damaligen, der proletarischen Lage entsprechenden Gegensätze, ging aber zugleich, indem er die künftige Entwicklung sowohl der kapitalistischen Produktionsweise, als der mit ihr gegebenen Gegensätze ins Auge faßte, dialektisch darüber hinaus. Lenin war, von diesem Gesichtspunkt aus, unfähig, diese Gleichzeitigkeit im dialektischen Sinne zu erblicken. Seine Philosophie war, in völliger Übereinstimmung mit den Forderungen der herannahenden russischen Revolution, nicht der dialektische, sondern der bürgerliche, der mechanische Materialismus, derselbe, der etwa ein Jahrhundert früher die erprobte Waffe der gegen Adel und Kirche Kämpfenden gewesen war34.

Die gesellschaftlichen Verhältnisse, die proletarische Lage und der Charakter der sozialen Gegensätze bildeten 1848 überhaupt keine Voraussetzung, weder für ein selbständiges Handeln, noch für autonome Kämpfe der Arbeiterschaft. Die Tatsache wurde von dem zeitlich bedingten gesellschaftlichen Bedürfnis nach einer politischen Führung, welche für die proletarische Klasse auftritt und sich in ihrem Namen an die Öffentlichkeit wendet, zum Ausdruck gebracht. Lenin, der in Rußland derartig primitive Verhältnisse und noch keine entwickelten kapitalistischen Gegensätze vorfand, konnte nur da anknüpfen.

Lenin holte, ganz undialektisch, vom sogenannten Frühmarxismus eine bestimmte Seite heraus, die ihm gerade paßte. Deshalb kommt dem Verfasser dieser Zellen die Ansicht von Arthur Rosenberg, „der revolutionäre Marxismus von 1848 fände seine Fortsetzung im Rußland des Zaren“ und „Lenin habe den echten revolutionären Urmarxismus wieder zum Leben erweckt“, unrichtig vor35.

Mit den Auffassungen von Marx und Engels hatte das nichts zu tun. Es kehrten dabei vielmehr vormarxistische – idealistische – Auffassungen wieder, von welchen unter andern die Betonung des Willens – nicht einer Klasse, sondern des politischen Führers, eines Individuums also – im Gegensatz zur Berücksichtigung der sozialen Eigengesetzlichkeit ein Symptom bildet.

Lenin schreibt (S.408): „Ein Politiker, der dem revolutionären Proletariat nützlich sein möchte, muß es verstehen, die konkreten Fälle gerade solcher Kompromisse herauszugreifen, die unzulässig sind, in denen Opportunismus und Verrat ihren Ausdruck finden …“ Er sinkt damit zu einem bürgerlichen Politiker herab, der im Interesse einer noch völlig abhängigen Arbeiterklasse tätig sein möchte, aber, trotz seines Willens, nur Politik treiben kann und somit den sozialen Inhalt und damit auch die diesem gebührende Form des sich entwickelnden proletarischen Klassenkampfes mißverstehen muß.

Der Verrat, von dem er spricht, kann nur verstanden werden als Verrat am „Sozialismus“, der somit als eine politische Konzeption aufgefaßt wird, nicht als eine wirkliche Bewegung, welche die kapitalistischen Verhältnisse aufhebt. Das konnte auch nicht anders sein, da ja diese kapitalistischen Verhältnisse in ausgeprägter Form in Rußland noch nicht existierten und es folglich dort eine wirkliche Bewegung, welche sie auflösen könnte, gar nicht gab. So eine Bewegung kann nur als das Produkt kapitalistischer Verhältnisse entstehen, genau so wie die wirkliche Bewegung, welche die vorkapitalistischen Verhältnisse aufhebt, das Produkt vorkapitalistischer Verhältnisse ist. Wenn letztere, wesentlich bürgerliche, in der Geschichte manchmal verschwörerische Bewegung mit sogenannten sozialistischen idealen gerüstet wird, bekommt sie unvermeidlich jene schon dem Blanquismus anhaftenden Züge, die auch für den Bolschewismus charakteristisch sind.

Diese blanquistischen Züge fehlen dem Frühmarxismus von 1848 ganz und gar, weil er nicht auf der vormärzlichen deutschen, sondern zum Teil auf der Wirklichkeit in Frankreich, mehr noch auf der in England fußt. Lenin konnte da zwar anknüpfen, aber seine bolschewistische Partei stimmt doch keineswegs mit einer solchen Partei, wie sie im Kommunistischen Manifest definiert wird, überein. Vielmehr ähnelt sie, wie auch der Blanquismus, dem Jakobinertum.

Lenin hatte davon zu Anfang seiner Tätigkeit eine dunkle Ahnung36. In seiner Schrift über „die Kinderkrankheit“ ist er sich dessen überhaupt nicht mehr bewußt. Mit Hilfe einer von Engels am Blanquismus vorgenommenen Kritik geht er (S.436) gegen die Linke vor, bloß deshalb, weil Engels dort von „Zwischenstationen“ und „Kompromissen“ spricht und es „eine kindliche Naivität“ nennt, „die Ungeduld als einen theoretisch überzeugenden Grund anzuführen“37. Lenin glaubt mit Unrecht, er vertrete dieselbe Auffassung wie Engels. Er täuscht sich offenbar derart, daß er meint, eben die „Ungeduld“, von der Engels gesprochen bat, bei der Linken beobachten zu können. Er ist weit davon entfernt die Engelssche Kritik an Leuten, die „sich einbilden, sobald sie nur den guten Willen haben … sei die Sache abgemacht und wenn … sie nur ans Ruder kommen, so sei über morgen ‚der Kommunismus eingeführt’“ gerade als Kritik an der bolschewistischen Konzeption zu verstehen.

Es würde zu weit führen, hier aus der Engelsschen Kritik weitere Stellen anzuführen, die nicht nur den Blanquisten, sondern auch den Bolschewisten einen Stoß versetzen38. Worum es hier geht ist die Tatsache, daß sich die Linke nicht darin von Lenin unterscheidet, daß sie vor Ungeduld Kompromisse ablehnt, sondern darin, daß sie jenen historischen Rahmen, innerhalb dessen eine Strategie der politischen Führer mitsamt Kompromissen auf der Tagesordnung steht, in Westeuropa schon längst hinter sich hat.

Lenin kennt eben keinen anderen historischen Rahmen. Er vergleicht aus diesem Grunde Dinge, die unvergleichbar sind, so zum Beispiel (S.437) die Kompromisse, welche am Ende eines Streiks kämpfenden Arbeitern abgenötigt werden mit Parteibündnissen wie einem solchen, das die britischen Kommunisten dem Labourführer Arthur Henderson vorschlagen sollten in Form einer gewissen parlamentarischen Unterstützung (S.463).

Lenin versteht nicht, daß die strategischen Konstruktionen, die er in seiner historisch-paradiesischen Unschuld herstellt, auf die Kampfhandlungen der Arbeiterklasse und deren jeweiligen Ausgang nicht mehr zugeschnitten sind, sobald die Arbeiter die Früchte des Gartens Eden geprüft, wir meinen: sobald sie selbst den Inhalt ihrer Kämpfe und sodann auch deren Form, das heißt ihre Kampfmethoden zu bestimmen angefangen haben; sobald nicht länger die bürgerliche, sondern fortan die proletarische Revolution die gesellschaftliche Perspektive bildet.

Lenin sieht diese Perspektive nicht. Das hängt damit zusammen, daß nach seinen Vorstellungen die Revolution (schlechthin!) ein politischer Akt ist, welcher den politischen Verstand erfordert. Er hebt nachdrücklich als eine ihrer Voraussetzungen hervor, „daß die Mehrheit der Arbeiter (…) die Notwendigkeit des Umsturzes völlig begreift und bereit ist, seinetwegen in den Tod zu gehen …“(S.453/4). Er versteht nicht, daß die Arbeiter in ihrem täglichen Kampf nicht auf die Revolution abzielen, sondern auf die Verbesserung ihrer Klassenlage, und daß es zu den Eigentümlichkeiten der bürgerlichen Produktionsverhältnisse gehört, daß gerade jener Kampf zur Umwälzung dieser Verhältnisse führt.

Nach Lenin ist die Revolution nicht die Folge des täglichen Arbeiterkampfes, nicht ein gesellschaftlicher Prozeß, in dessen Verlauf erst das Bewußtsein sich ändert, sondern ein Ereignis, das eine bestimmte politische Reife des Bewußtseins im Voraus verlangt. Lenin versteht nicht, daß die proletarische Revolution aus den Kämpfen hervorgehen muß, zu denen die Arbeiter auf Grund ihrer Stellung im Produktionsprozeß immer wieder gezwungen werden, welche Vorstellungen sie auch im Kopfe haben. Daraus ergibt sich, daß für Lenin die Arbeiter nicht die Subjekte der Revolution sind, die durch ihre Selbsttätigkeit die materielle Grundlage ihrer Existenz umwälzen, sondern – weil ja ihre „politische Reife“ von der Partei als ihrer Erzieherin an sie herangetragen werden muß – ihre Objekte.

Lenin, der die Revolution für notwendig hält, betrachtet sie jedoch nicht als das Ergebnis einer gesellschaftlichen Tendenz, die aus der täglichen spezifischen Praxis der Arbeiter hervorgeht. Wenn er von der Notwendigkeit der Revolution spricht, so in einem moralischen, in einem idealistischen Sinne, analog dem Kantschen kategorischen Imperativ. Das imperative (politische) Gebot der Revolution muß, soll sie überhaupt möglich sein, von der Arbeiterschaft verstanden werden, aufgestellt aber wird es von der Partei, die die Führerin der Arbeiterschaft sein soll und zur erfolgreichen Führung eine Massenbasis braucht. Zur Sicherung dieser Massenbasis dient die gesamte Leninsche, der proletarischen Revolution völlig fremde Strategie. Das ist der Zweck aller von Lenin empfohlenen Kompromisse. Das geht eindeutig hervor aus allen seinen Erläuterungen.

Außerordentlich interessant ist es, die Erläuterungen in der „Kinderkrankheit“ mit jenen Betrachtungen zu vergleichen, die Lenin am Vorabend des Oktober der Taktik der Kompromisse gewidmet hat39. An keiner Stelle hat er sich so klar und so überzeugend geäußert; nirgendwo geht die Richtigkeit seiner Politik für die russischen Verhältnisse zu einem sehr bestimmten Zeitpunkt deutlicher hervor und nirgendwo zeigt sich auffälliger ihre eng-russische Beschränktheit. Er ist der meisterhafte Stratege jener, in Rußland verspäteten – deshalb in umgestalteter Form sich vollziehenden – Revolution, die sich im industrialisierten Teil Westeuropas längst vollzogen hatte. Wenn er andere, den seinigen entgegengesetzte Auffassungen, die sich auf andere gesellschaftliche Kämpfe als die in Rußland beziehen, als „Kinderkrankheit“ bezeichnet, so deshalb, weil er sie mit Unrecht wieder mit russischen Erscheinungen der historischen Vergangenheit verwechselt, mit denen sie nichts gemein haben. Es rächt sich hier seine Verwechslung der verschiedenen Arten der sozialen Revolutionen überhaupt.

„Was für ein alter, längst bekannter Plunder“, fährt er in Bezug auf den Standpunkt der Linken los (S. 412). Die Wahrheit ist, daß er nur deshalb in dieser Weise redete und reden konnte, weil ihm jener „Plunder“ völlig unbekannt war und unbekannt sein mußte. Trotzdem beabsichtigte er, mit seiner Kritik den Schlüssel zum weltrevolutionären Sieg zu liefern. Jedoch zeigte es sich sofort, daß dieser Schlüssel zu der Tür des proletarischen Kampfs jedenfalls nicht paßte. Daraus erklärt sich der Lärm, den damals seine Schrift hervorrief. Für Westeuropa klang Lenins Stimme wie eine Stimme aus dem Grab, dem Grab der bürgerlichen Revolutionen. Nur ein politischer Leichnam konnte von ihr verführt werden.

1N. Lenin, „Der ‚linke Radikalismus‘, die Kinderkrankheit im Kommunismus“. Die Arbeit wurde April 1920 geschrieben, Mai 1920 mit einem Anhang versehen. Die erste – russische – Ausgabe erschien im Juni desselben Jahres. in deutscher Übersetzung findet man sie heute im 31. Band der Lenin-Werke, herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED sowie in den „Ausgewählten Werken in drei Bänden“ in Band III, S.339-485. Hier wird nach der letztgenannten Ausgabe zitiert. Unterstreichungen rühren vom Verfasser dieser Arbeit her. Sperrungen sind Hervorhebungen im Originaltext.

2Rosa Luxemburg, „Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie“, „Die Neue Zeit“, Jahrgang 22, 1903/1904, Band 2, S. 492. Auf russisch wurde ihr Aufsatz am 10. Juli 1904 von der „Iskra“ veröffentlicht.

3Mit Grund: Was wäre ihr Marxismus, wenn nicht der begriffliche Exponent der reell vor sich gehenden proletarischen Klassenkämpfe?
„Herr Heinzen“, schrieb Engels an 7.Oktober 1847 in der „Deutschen-Brüsseler-Zeitung“ Nr. 80 „bildet sich ein, der Kommunismus sei eine gewisse Doktrin, die von einem bestimmten theoretischen Prinzip als Kern ausgebe und daraus weitere Konsequenzen ziehe. Herr Heinzen irrt sich sehr. Der Kommunismus ist keine Doktrin, sondern eine Bewegung: er geht nicht von Prinzipien, sondern von Tatsachen aus. Die Kommunisten haben nicht diese oder jene Philosophie, sondern die ganze bisherige Geschichte und speziell ihre gegenwärtigen tatsächlichen Resultate in den zivilisierten Ländern zur Voraussetzung. Der Kommunismus ist hervorgegangen aus der großen Industrie und ihren Folgen, aus der Herstellung des Weltmarkts, aus der damit gegebenen ungehemmten Konkurrenz, aus den immer gewaltsameren und allgemeineren Handelskrisen, die schon jetzt zu vollständigen Weltmarktkrisen geworden sind, aus der Erzeugung des Proletariats und der Konzentration des Kapitals, aus dem daraus folgenden Klassenkampfe zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Der Kommunismus, soweit er theoretisch ist, ist der theoretische Ausdruck der Stellung des Proletariats in diesem Kampfe und die theoretische Zusammenfassung der Bedingungen der Befreiung des Proletariats.“ (MEW. Band 4. S.321/322) Die Wichtigkeit dieser Worte, speziell der unterstrichenen, in Bezug auf die Leninsche Schrift wird sich noch zeigen.

4Gorter, „Offener Brief an den Genossen Lenin“, holländische Ausgabe, 1921, S.57

5Das geschah im Rahmen seiner Schrift „Brauner und roter Faschismus“. Sie wurde zu Ende der 30-er Jahre in der Emigration verfaßt, zum ersten Male aber 1971 veröffentlicht, als sie mit anderen Arbeiten aus seinem Nachlaß aufgenommen wurde in seine beim Rowohltverlag in Reinbek erschienenen „Schriften“. Siehe dort S. 49 ff., insbesondere S.50/51, 56 und 62

6Georg Lukács, „Lenin, Studie über den Zusammenhang seiner Gedanken“, geschrieben 1924; Neuauflage: Neuwied 1969, S.9

7Lenin, der vom Anfang des Ersten Weltkrieges an Karl Kautsky einen Renegaten nannte und ihn beschuldigte, daß er mit dem Marxismus gebrochen habe, „weil er davon nicht die revolutionären Kampfmittel und Kampfmethoden akzeptiert“ (Vgl. W. I. Lenin, „Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky“, Verlag für Literatur und Politik, Wien 1931, Vorwort des Verfassers, S.5), hatte keine Ahnung davon, daß Kautsky, auch wenn jene Kampfmittel eifrigst von ihm propagiert worden wären, mit dem Marxismus trotzdem auf Kriegsfuß gestanden hätte. Lenin nannte 1920 in seiner Schrift über die „Kinderkrankheit“ den Kautsky des Jahres 1902 nachdrücklich einen „Marxisten“, offenbar deshalb, weil er für die wirkliche Position Kautskys überhaupt kein Verständnis hatte. Der Grund dafür wird dem Leser auf den nächsten Selten klar werden.

8Rosa Luxemburg betrachtete (in einem Aufsatz, der Januar 1905 in der „Neuen Zeit“ veröffentlicht wurde, heute in ihren „Gesammelten Werken“, Dietz-Verlag, Ostberlin 1972, Band 1/2 S.477, vorliegt) die russische Revolution als eine Revolution „mit einem ganz besonderen Typus“. Für sie war jene „so rein proletarisch wie noch keine vorher“. Jedoch meinte sie mit diesem Ausdruck nichts mehr (aber auch nichts weniger), als daß das Proletariat auf der russischen Revolutionsbühne die Hauptrolle spielen würde, wie es das, nur wenige Wochen nach der Veröffentlichung ihres Artikels, tatsächlich tat. Daß trotzdem die russische Revolution „nur nachholen würde, was die Februar- und Märzrevolution (1848) für das westliche und mittlere Europa vollbracht hatte“, das war ihr besonders klar. Sie wußte, daß Rußland „vom Standpunkte der bürgerlichen Klassenentwicklung mit dem vormärzlichen Deutschland keinen Vergleich aushalten“ könne und sie schätzte – wie auch Paul Frölich in seiner Luxemburg-Biographie bemerkt (dort S.117) – das wahrscheinliche Ergebnis der russischen Revolution noch weit skeptischer ein als die Menschewiki. Von einer „Verschiebung des Revolutionszentrums“ ist bei ihr keine Rede. Was ihre Darlegung von derjenigen Kautskys unterscheidet, ist eben die klare Klassenanalyse und die damit zusammenhängende scharfe Begriffsdefinition, die bei dem „Marxisten“ Kautsky völlig fehlt. Aber ausgerechnet Kautsky wählt sich Lenin als Zeuge in seiner Schrift. Keineswegs von ungefähr!

9 Die Broschüre „Zwei Taktiken …“ wurde von Lenin im Sommer 1905 in Genf niedergeschrieben, unmittelbar nach Ende des III. (Londoner) Kongresses der russischen Sozialdemokratie (Bolschewiki). Wir zitieren Lenin nach dar holländischen Ausgabe „Verzamelde Werken“ („Gesammelte Werke“), Amsterdam 1938, Band 3, S.79. Der angeführte Passus bildet der Anfang vom 6.Kapitel.

10 Wir zitieren Lenin indirekt aus einem Artikel von N. Insarow, der September 1926 in der linkskommunistischen deutschen Zeitschrift „Proletarier“ veröffentlicht wurde. Insarow bediente sich der russischen Ausgabe von Lenins Gesammelten Werken, erschienen im russischen Staatsverlag. Die Stelle befindet sich dort, wie er angibt, Bd. XI, l.Teil, S. 78/79.

11„Verzamelde Werken“, Bd.3, S.311

12Lenin, „Staat und Revolution“, zit. aus: „Sämtliche Werke“, Verlag für Literatur und Politik, Wien 1931, Bd. XXI, S.499

13(13) Lenin, „Entwurf einer Resolution über die gegenwärtige Lage“, „Sämtliche Werke“, a.a.O., Bd. XXI, S.173

14Lenin, „Verzamelde Werken“ (holl.), Bd.6, S.523

15Lukács, a.a.O., S. 21

16Boris Brutzkus, „Agrarentwicklung und Agrarrevolution in Rußland“, Berlin 1926, S 147. Brutzkus war 1917 Professor der Landwirtschaftlichen Hochschule in Petrograd. Er gehörte zu den bürgerlichen Gegnern des Bolschewismus, denen es während des „Tauwetters“ der N.E.P. ermöglicht worden war, kurzfristig die nichtbolschewistische Zeitschrift „Ökonomist“ herauszubringen, bis Sinowjew 1922 einen „geistigen Kampf“ gegen sie ankündigte. Als dessen Ergebnis wurde Brutzkus zuerst verhaftet, sodann aufgefordert, das Land zu verlassen. Über seine Ideen äußerte sich die bolschewistische Presse in abgeschmacktester Weise, was die Bolschewisten nicht daran hinderte, sie gelegentlich eitrig zu plündern. Selbstverständlich sind wir nicht mit Brutzkus einverstanden. Nichtsdestoweniger betrachten wir seine Werke als interessant. An verschiedenen Stellen enthalten sie treffende Bemerkungen. Seine Schilderung der russischen Agrarentwicklung ist besonders aufschlußreich.

17Georg Lukács hat den hier nur sehr schematisch angedeuteten geschichtlichen Vorgang beschrieben am Beispiel der Entwicklung der philosophischen und sozialen Ansichten von Moses Hess und den „wahren Sozialisten“. Vgl. Georg Lukács, „Moses Hess und die Probleme der idealistischen Dialektik“, Leipzig 1926, S.9/10. Praktisch jedes Wort seiner Darlegung trifft auf das Schicksal des dialektischen Materialismus in Rußland zu. Das aber ist eine Konsequenz, die Lukács nicht gezogen hat.

18Vgl. Rosa Luxemburg, „Sozialreform oder Revolution“, Gesammelte Werke, Dietz-Verlag, Ostberlin 1972, Bd. 1/1, S.389

19Lenin behauptet (S. 421),daß „gewisse ‚reaktionäre Züge‘ der Gewerkschaften unter der Diktatur des Proletariats unvermeidlich“ wären. Das geht daraus hervor, daß in dem gerade hochkommenden Staatskapitalismus, welcher einer Diktatur bedarf, der Verkauf der Ware Arbeitskraft natürlich fortbesteht, die Gewerkschaften also ihre wesentliche Funktion ausüben werden. Weil es sich um Staatskapitalismus handelt, handelt es sich auch um staatliche Gewerkschaften. Der Form nach verschieden, ist ihr inhalt derselbe wie im Westen, mögen sich sowohl die Bolschewiki als die westlichen Gewerkschaftsführer darüber auch andere, ganz ideologische, Gedanken machen

20Otto Rühle, „Schriften“, a.a.O., S.53

21N.K. Krupskaja, „Erinnerungen an Lenin“, Ring-Verlag, Zürich, 1133, Bd. II, S.29/30

22„Neue Züricher Zeitung“ vom 24 .Januar 1954, Blatt 7, Artikel: „Lenin in der Schweiz“.

23Otto Rühle, „Schriften“, a.a.O., S.59

24W. I. Lenin, „Thesen über die Konstituante“, Verzamelde Werken (holl.), a.a.O., Bd. 6, S. 469 ff.

25V.l. Lenin, „Die Wahlen für die Konstituante und die Diktatur des Proletariats“, „Verzamelde Werken“ (holl.) a.a.O., Bd.6, S.485. Unser Hinwels bezieht sich insbesondere auf den VI. Abschnitt des Artikels.

26W. I. Lenin, „Über Kompromisse“, Sämtliche Werke, Bd. XII, S.164. Man vergleiche dazu seinen Ausspruch; „… wir kämpfen für die Eroberung der politischen Macht durch unsere Partei. Diese Macht wäre die Diktatur des Proletariats und der ärmsten Bauernschaft“ („Zur Revision des Parteiprogramms“ Sämtl. Werke, Bd. XXI, S.397). Oder seinen Ausspruch auf dem XI. Parteitag der Bolschewiki: „… der Staat, das sind die Arbeiter, ihr fortgeschrittenster Teil, die Avantgarde, das sind wir“ (d.h. die Bolschewiki!)

27Die Diktatur der Klasse, die in dieser Frage in klarer Weise der Parteidiktatur gegenübergestellt wird, ist natürlich die berühmte Diktatur des Proletariats. Der Begriff scheint geeignet, Mißverständnisse hervorzurufen. Aus diesem Grunde zieht der Verfasser dieser Zellen es vor, sich dieses Begriffs nicht zu bedienen. Nach seiner Meinung ist die Anwendung des Begriffes durch Marx und Engels aus historischen Gründen zwar verständlich, aber nichtsdestoweniger wären da, gerade vom Marxistischen Standpunkt aus, manche Bedenken zu erbeben. Diese wollen hier nicht erörtert werden. Wohl aber muß hier festgestellt werden, daß der Leninsche Begriff der Diktatur des Proletariats mit dem von Marx und Engels nichts zu tun hat.

Bei Lenin ist die Diktatur des Proletariats eine besondere Repressionsgewalt des Proletariats, die an die Stelle der Repressionsgewalt der Bourgeoisie getreten ist. In der Marschen Auffassung wird in der proletarischen Revolution die bürgerliche Repressionsgewalt, d.h. der Staat, zerschlagen! Dieser stirbt sodann ab, weil es unter den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen keiner Repression mehr bedarf. „Wird es“, schreibt Marx gegen Proudhon, „nach dem Sturz der alten Gesellschaft eine neue Klassenherrschaft geben, die in einer neuen politischen Gewalt gipfelt? Nein.“ (MEW, Bd. 4, S.181).

Jedoch tritt bei Lenin der „proletarische Staat“ an die Stelle des bürgerlichen Staates. Bei ihm (Lenin) stirbt nicht der bürgerliche, sondern der „proletarische Staat“ ab. Die Marxsche Auffassung vom Absterben des bürgerlichen Staates (der doch schon zerschlagen ist) bildet für Lenin das große Hindernis. Das zeigt sich unter anderem auch dort, wo er (in „Staat und Revolution“) über „die Beibehaltung des engen bürgerlichen Rechtshorizonts während der ersten Phase des Kommunismus“ spricht (Sämtliche Werke XXI, S.554). Somit wird nach Lenin das Recht vom Staate bedingt, anstatt daß er Recht und Staat beide aus der Gesellschaft heraus erklärt. Er achtet nicht darauf, daß die juristischen Beziehungen sich langsamer ändern, als die sozialen Beziehungen, deren Ausdruck sie bilden.

Das alles hat eine merkwürdige Konsequenz: Lenin, der verneint, es könne sich um das Absterben des bürgerlichen Staates handeln, schlußfolgert nichtsdestoweniger: „Unter dem Kommunismus bleibt nicht nur das bürgerliche Recht eine gewisse Zeit bestehen, sondern sogar der bürgerliche Staat – ohne Bourgeoisie“. in Rußland war das tatsächlich die wirkliche Lage, die aber am allerwenigsten mit Kommunismus bezeichnet werden konnte. Da haben wir es abermals mit den theoretischen Früchten jener „Versöhnung“ zu tun, von der schon die Rede war!

28Karl Marx, „Kritische Randglossen zu dem Artikel ‚Der König von Preußen und die Sozialreform’“, MEW 1, S. 406 und 407. Auf die Bedeutung des Marxschen Aufsatzes in Bezug auf die Leninschen Organisationsauffassungen wurde 1935 von Paul Mattick hingewiesen. Vgl. Paul Mattick, „Die Gegensätze zwischen Luxemburg und Lenin“, „Rätekorrespondenz“, Heft 12. Nachdruck im Sammelbändchen „Partei und Revolution“, Kramer Verlag, Berlin o.J.

29W. I. Lenin, „Sämtliche Werke“, Bd. VII, S.122

30N. Lenin, „Der Zusammenbruch der II. internationale“, geschrieben 1915; Erstveröffentlichung in der Zeltschrift „Der Kommunist“, die (nur einmal) 1910 in der Schweiz erschien. Nachdruck im Sammelwerk; N. Lenin und G.Sinowjew, „Gegen den Strom“, im Verlag der Kommunistischen internationale, Carl Hoym Nacht., Hamburg 1921. Dort siehe S. 165.

31Vgl. dazu den Brief von Engels an Marx vom 26.September 1851, MEW Bd.27, S.353. Wörtlich so wie Engels sich dort geäußert hat, hat er sich kurze Zeit danach geäußert in einer unvollendet gebliebenen Broschüre „Die Möglichkeiten und Voraussetzungen eines Krieges der Heiligen Allianz gegen Frankreich im Jahre 1852“. Die Broschüre wurde 1914 von N. Rjasanow in der „Neuen Zeit“ veröffentlicht (33.Jahrgang, l. Bd., S.265 u. 297). Exzerpte daraus wurden 1931 mitaufgenommen in ein Bändchen der Reihe „Elementarbücher des Kommunismus“ (Bd.15) mit dem Titel „Militärpolitische Schriften“ (internationaler Arbeiter-Verlag, Berlin, S.27ff.). Liest man dort die Auszüge aus der Engelsschen Arbeit, so wirken die Anstrengungen des bolschewistischen Herausgebers K.Schmidt, die klar hervortretenden Differenzen der Engelsschen und der Leninschen Auffassungen zu vertuschen, geradezu komisch. Wo Engels von der gänzlichen Auflösung der Disziplin redet, da fügt Schmidt in Klammern das Wörtchen „alten“ hinzu, um für die „neue“ Disziplin, wie sie von den Bolschewisten z.B. nach dem Oktober wieder in der Roten Armee eingeführt wurde, eine Ausnahme zu kreieren. Nachdem der Marxismus mit den russischen Verhältnissen „versöhnt“ war, sollte also von diesem „angepaßten“ Marxismus aus die Auffassung von Engels (bzw. Marx) „korrigiert“ werden! Ein erbauliches Schauspiel! übrigens sucht man die Engelssche Broschüre vergeblich in den MEW im Dietz-Verlag.

32Boulangismus – so genannt nach dem reaktionären französischen General Boulanger, der, als seine politischen Hoffnungen fehlschlugen, im Jahre 1891 Selbstmord beging.

33Vgl. „Das kommunistische Manifest“, MEW Bd.4, S.492 u.474

34Man sehe dazu: Anton Pannekoek, „Lenin als Philosoph“, Erste Auflage, Amsterdam 1938; Neuauflage Frankfurt 1969

35Arthur Rosenberg, „Geschichte des Bolschewismus“, Berlin 1932, S.26 u. 31. Rosenberg selbst ist an der Stelle wo er diese Behauptung aufstellt, gleich schon wieder gezwungen, sie beträchtlich einzuschränken. „Die mechanische Übertragung des Urmarxismus nach Rußland“, schreibt er, „war doch nicht ohne weiteres möglich.“ Also!

36Lenin, „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück“, AW, Verlag für Literatur und Politik, Wien 1932, 8.436

37F. Engels, „Programm der blanquistischen Kommuneflüchtlinge“ MEW Bd. 18, S.533

38Die wichtigste wäre wohl jene, wo Engels den Atheismus als Kampfansage an die Religion verspottet (MEW, a. a. 0. S. 5)2). Lenin, der ja im absolutistischen Rußland den Kampf gegen die Kirche als herrschende Macht zu führen hatte, hielt dagegen den Atheismus und den Kampf gegen die Religion immer für höchst wichtig und für einen Bestandteil des Marxismus, so wie er ihn auffaßte.

39W. I. Lenin, „Über Kompromisse“, Sämtliche Werke Bd. XXI, S.163 ff.

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Der Aufstand in Kronstadt I https://panopticon.blackblogs.org/2018/02/26/der-aufstand-in-kronstadt/ Mon, 26 Feb 2018 12:26:10 +0000 http://panopticon.blogsport.eu/?p=200 Continue reading ]]> Kronstadt: Proletarischer Ausläufer der Russischen Revolution

Von Cajo Brendel – 1971

Bemerkung der Soligruppe für Gefangene
Letztes Jahr feierten einige Dinosaurier und Zombies des Reformismus den 100 jährigen Jubliäum der russischen Revolution. Jene Revolution die die Arbeiter*innen das Paradies versprach, aber wo am Ende die „Diktatur des Proletariats“, die „Diktatur gegen das Proletariat“ wurde. Immerhin wurde sie aber in dessen Namen geführt. Der Aufstand in Kronstadt war einer der Ausdrücke in der der Verlauf der „Revolution“ kritisiert wurde.

Dieser fing am 1 März 1921 an und wurde ironischerweiße am 18 März blutig zerschlagen. Ironisch, weil am 18 März die Pariser Kommune ins Leben gerufen wurde und von vielen linken Gruppen in Deutschland, als „den Tag der politischen Gefangenen““feiern. Die stalinistische Geschichtsschreibung funktioniert nach wie vor, hervorragend, weil Geschehnisse nicht nur verschwiegen werden, sondern sie werden auch verdreht. Der folgende Text, ist ein Vortrag des Rätekommunisten Cajo Brendel, der auf dem Kronstadt Kongress in West-Berlin am 11.5.1971 gehalten wurde.

Leider haben wir den Text von Ida Mett (link für die englische Version) zu Kronstadt nur auf einen Buch und nicht in Textformat, sonst würde auch dieser veröffentlich werden. Nun im Sinne der Kronstädter*innen, alle Macht den Räten, nieder mit den Parteien, nieder mit den Gewerkschaften, gegen alle Avantgarden.

Die Soligruppe für Gefangene

Kronstadt: Proletarischer Ausläufer der Russischen Revolution

Von Cajo Brendel – 1971

I.

Die Deutung jener historischen Ereignisse, die vor mehr als fünfzig Jahren als „der Aufstand von Kronstadt 1921“ in die Geschichte eingegangen sind (bzw. krampfhaft daraus entfernt wurden), ist aufs engste verknüpft mit der gesellschaftlichen Position des jeweiligen Interpreten oder anders gesagt: sie wird von seiner Stellungnahme zu den in der Gesellschaft tobenden Klassenkämpfen geprägt und bedingt.

Wer die russische Revolution 1917 als eine sozialistische Umwälzung betrachtet, wer die, in den Jahren des Bürgerkrieges gefestigte, bolschewistische Herrschaft für eine proletarische Macht hält, der muß notwendigerweise das, was damals in jener Inselfestung am finnischen Meerbusen vor sich ging, als einen konterrevolutionären Versuch zur Stürzung des jungen „Arbeiterstaates“ auffassen. Wer umgekehrt gerade im Auftreten der Kronstädter einen revolutionären Akt erblickt, der gerät früher oder später zu ganz entgegengesetzten Ansichten über die russischen Entwicklungen und über die wirkliche Lage in Rußland.

Das alles scheint selbstverständlich zu sein. Aber es kommt noch etwas mehr hinzu. Der Bolschewismus ist nicht bloß eine Wirtschafts- oder Staatsform, dessen Existenz damals – nicht nur in Kronstadt, sondern auch in Petrograd, in der Ukraine und in großen Teilen Südrußlands – auf des Messers Scheide stand, er bildet gleichzeitig eine in den russischen Revolutionskämpfen gereifte, auf die russischen Verhältnisse zugeschnittene Organisationsform. Nach dem bolschewistischen Oktobersieg wurde und wird sie von den verschiedensten politischen Seiten den Arbeitern aller Länder aufgedrängt. Als sich die Bevölkerung von Kronstadt gegen die Bolschewiki erhob, da hat sie nicht nur die bolschewistischen Machtansprüche entschieden zurückgewiesen, sondern auch die traditionellen bolschewistischen Parteiauffassungen und die Partei als solche in Frage gestellt. Hier liegt der Grund, weshalb jeder Meinungsstreit über organisatorische Probleme der Arbeiterklasse nur allzuoft die Diskussion über Kronstadt miteinbezieht und weshalb jede Diskussion über Kronstadt unausweichlich auch die Differenzen über die Taktik und Organisationsfragen des proletarischen Klassenkampfes offenlegt. Das heißt also: der Aufstand von Kronstadt hat auch nach mehr als einem halben Jahrhundert immer noch eine brennende Aktualität. Wie kolossal auch seine historische Bedeutung sein mag, sie wird weit überragt von seiner praktischen Bedeutung für die heutigen Arbeitergenerationen, für alle, die am proletarischen Kampf teilnehmen. Leo Trotzki war einer derjenigen, der diese Bedeutung nicht verstand. Als er 1938 seinen Aufsatz „Viel Lärm um Kronstadt“ veröffentlichte1, seufzte er: „Man könnte glauben, der Aufstand von Kronstadt hat nicht vor 17 Jahren, sondern gestern stattgefunden.“ Gerade um jene Zeit, als er diese Worte schrieb, unternahm Leo Trotzki tagaus, tagein jede erdenkliche Anstrengung, die stalinistische Geschichtsfälschung und die stalinistischen Legenden zu entlarven. Daß er dabei niemals die Grenze der leninistischen Revolutionslegende überschritt, ist eine Tatsache, die wir hier beiseite lassen können.

II.

Der Aufstand von Kronstadt zerstörte einen sozialen Mythos: den Mythos, daß im bolschewistischen Staat die Macht in den Händen der Arbeiter liegt. Weil dieser Mythos unzertrennlich mit der ganzen bolschewistischen Ideologie verbunden war (und bis heute noch ist), weil in Kronstadt mit der Verwirklichung der echten Arbeiterdemokratie ein bescheidener Anfang gemacht wurde, deshalb bildete Kronstadt für die sich an der Macht befindenden Bolschewiki eine tödliche Gefahr. Nicht die militärische Stärke Kronstadts – zum Zeitpunkt des Aufstandes durch den zugefrorenen Meerbusen ohnehin stark beeinträchtigt –, sondern die entmystifizierende Wirkung des Aufstandes bedrohte die bolschewistische Herrschaft, und das sogar stärker, als es je von Seiten der Interventionsarmeen Denikins, Koltschaks, Judenitschs oder Wrangels hätte geschehen können. Aus diesem Grunde waren die bolschewistischen Führer von ihrem Standpunkt aus – oder besser gesagt: infolge ihrer gesellschaftlichen Position (die ihren Standpunkt natürlich bedingte) – einfach gezwungen, ohne Zaudern den Aufstand in Kronstadt niederzuschlagen2. Während die Aufständischen, wie Trotzki es ihnen angedroht hatte, „wie Fasane abgeknallt“ wurden, wurde von der bolschewistischen Führung in ihrer Presse der Kronstädter Aufstand als Konterrevolution bezeichnet. Dieser Schwindel wird seit jenen Tagen von Trotzkisten und Stalinisten gleich eifrig verbreitet und hartnäckig aufrecht erhalten.

Der Umstand, daß in bestimmten, sowohl menschewistischen als auch weißgardistischen, Kreisen Kronstadt offene Sympathie entgegengebracht wurde, verfestigte die trotzkistische und stalinistische Version3. Eine dürftigere Begründung der offiziellen Legende ist wohl kaum möglich. Hat sich nicht Trotzki selbst in seiner „Geschichte der russischen Revolution“ mit vollem Recht über die politischen Kenntnisse und über das gesellschaftliche Verständnis des reaktionären Kronstadtsympathisanten Professor Miljukow stark herablassend geäußert? Nur weil Miljukow und die ganze weißgardistische Presse mit Kronstadt sympathisierten, aus diesem Grunde soll der Aufstand von Kronstadt konterrevolutionär gewesen sein? Wie wäre, dieser Vorstellung entsprechend, die „Neue Ökonomische Politik“, die kurz nach Kronstadt in Rußland eingeführt wurde, zu beurteilen? Der Bourgeois Ustrialow gab ihr ganz offen seinen Segen! Aber das veranlaßte die Bolschewiki keineswegs dazu, die NEP als „konterrevolutionär“ zu verschreien. Diese Tatsache ist ebenfalls symptomatisch für die ganze demagogische Art bei der Legendenbildung. Von letzterer möchten wir uns nunmehr abwenden. Sie ist natürlich von Interesse, schon wegen ihrer sozialen Funktion, die jedoch nur aus dem tatsächlichen Verlauf der Ereignisse, aus dem gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß, aus dem sozialen Charakter der russischen Umwälzung heraus verstanden werden kann.

III.

Der Kronstädter Aufstand 1921 bildet den dramatischen Höhepunkt einer Revolution, die ihrem sozialen Inhalt nach kurzerhand als bürgerlich definiert werden muß. Er ist von dieser bürgerlichen Revolution der proletarische Ausläufer, genau so wie unter fast ähnlichen Umständen die Mai-Ereignisse in Katalonien 1937 den proletarischen Ausläufer der spanischen Revolution bilden, oder wie im Jahre 1796 die Verschwörung von Babeuf eine proletarische Tendenz in der großen bürgerlichen französischen Revolution darstellt4. Daß sie alle drei mit einer Niederlage endeten, hat die gleichen Ursachen; es fehlten jedesmal die Bedingungen und Voraussetzungen für einen proletarischen Sieg. Das zaristische Rußland nahm am ersten Weltkrieg als ein zurückgebliebenes Land teil. Es hatte zwar aus militärisch-politischen Bedürfnissen eine Industrialisierung vorangetrieben und damit die allerersten Schritte auf kapitalistischem Wege zurückgelegt, aber das in diesem Zusammenhang entstandene Proletariat war zahlenmäßig klein im Verhältnis zu der ungeheuren Masse der russischen Bauern. Gewiß, das politische Klima des zaristischen Absolutismus hatte den kämpferischen Geist der russischen Arbeiter außerordentlich gesteigert. Das ermöglichte ihnen, der heranreifenden Revolution ein bestimmtes Gepräge zu geben, konnte aber ihren Verlauf nicht ausschlaggebend bestimmen. Trotz der Existenz der Putilowwerke, der Erdölanlagen im Kaukasus, des Kohlenbergbaues im Donetzrevier und der Moskauer Textilfabriken bildete die Landwirtschaft die wesentliche wirtschaftliche Grundlage der russischen Gesellschaft. Zwar hatte es 1861 so eine Art Bauernbefreiung gegeben, aber trotzdem waren die Überreste der Leibeigenschaft bei weitem nicht verschwunden. Die Produktionsverhältnisse waren feudalistisch und entsprechend war der politische Oberbau; Adel und Klerus waren die herrschenden Klassen, die mit Hilfe der Armee, der Polizei und des Beamtentums ihre Macht in dem Riesenreich des Großgrundbesitzes ausübten.

Demzufolge hatte die russische Revolution des 20. Jahrhunderts die wirtschaftliche Aufgabe, den Feudalismus mit seinen sämtlichen Begleiterscheinungen – wie die der Leibeigenschaft – aufzuheben. Sie sollte die Landwirtschaft industrialisieren und unter die Bedingungen der modernen Warenproduktion stellen, sie hatte alle feudalen Ketten der bestehenden Industrie zu lösen. Politisch hatte diese Revolution die Aufgabe, den staatlichen Absolutismus zu zerschlagen, die Bevormundung durch den Feudaladel aufzuheben und eine Regierungsform und eine Staatsmaschine zu entwickeln, die die Lösung der wirtschaftlichen Aufgaben der Revolution politisch garantierten. Es ist klar, daß diese wirtschaftlichen und politischen Aufgaben mit jenen übereinstimmten, die im Westen die Revolutionen des 17., 18. und 19. Jahrhunderts zu erfüllen hatten5. Nur wurde die russische Revolution – wie später die chinesische – durch ihre besondere Eigentümlichkeit charakterisiert. In Westeuropa, vor allem in Frankreich, war die Bourgeoisie die Trägerin des gesellschaftlichen Fortschritts, die Vorkämpferin des Umsturzes gewesen. Im Osten war sie, aus dem schon erwähnten Grunde, schwach. Dazu waren ihre Interessen mit denen des Zarismus eng verbunden. Das heißt, die bürgerliche Revolution in Rußland mußte ohne die Bourgeoisie und sogar gegen sie vollzogen werden.

IV.

Lenin hat die Eigentümlichkeit der russischen Revolution sehr genau erkannt. „Die Marxisten“, schrieb er, „sind vom bürgerlichen Charakter der russischen Revolution unbedingt überzeugt. Was bedeutet das? Das bedeutet, daß jene demokratischen Umgestaltungen der politischen Ordnung und jene sozialökonomischen Umgestaltungen, die für Rußland notwendig geworden sind, an und für sich nicht nur keine Untergrabung es Kapitalismus, keine Untergrabung der Herrschaft der Bourgeoisie bedeuten, sondern daß sie umgekehrt zum ersten mal gründlich den Boden für eine breite und rasche … Entwicklung des Kapitalismus säubern …“6 Anderswo heißt es: „Der Sieg der bürgerlichen Revolution bei uns ist unmöglich (als) Sieg der Bourgeoisie. Das scheint paradox zu sein, ist aber so. Die vorherrschende Bauernbevölkerung, ihre fürchterliche Unterdrückung vom halbfeudalen Großgrundbesitz, die Kraft und das Bewußtsein des schon in der sozialistischen Partei organisierten Proletariats, alle diese Umstände verleihen unserer bürgerlichen Revolution einen besonderen Charakter. Diese Besonderheit beseitigt nicht den bürgerlichen Charakter der Revolution.“7

Seine Bemerkung haben wir hier allerdings hinzuzufügen: die Partei, von der hier Lenin spricht, war weder sozialistisch, noch konnte man behaupten, daß das Proletariat in ihr organisiert wäre. Es stimmt natürlich, daß sie sich von den sozialdemokratischen Parteien des Westens, die vom Boden des bürgerlichen Parlamentarismus aus loyale Opposition betrieben und die Umwandlung der kapitalistischen in die sozialistische Gesellschaft mit allen Mitteln zu verhindern suchten, in mancherlei Hinsicht unterschied, aber nicht im sozialistischen Sinne. Die Partei Lenins strebte in Rußland nach einer revolutionären Veränderung der Verhältnisse, aber es handelte sich dabei um eine Revolution, die sich, wie Lenin ja selbst auch zugibt, in anderer Form im Westen längst vollzogen hatte. Diese Tatsache blieb für die russische Sozialdemokratie im allgemeinen und für die bolschewistische Partei im besonderen nicht ohne Einfluß.

Lenin und die Bolschewiki waren der Auffassung, daß kraft der Klassen Verhältnisse in Rußland ihrer Partei die Rolle der Jakobiner zukomme. Nicht ohne Grund definierte Lenin den Sozialdemokraten als „einen mit den Massen verbundenen Jakobiner“; nicht ohne Grund schuf er seine Partei als ein Komitee von Berufsrevolutionären; nicht ohne Grund erblickte er in seiner Schrift „Was tun?“ ihre Aufgabe in dem Kampf gegen die Spontaneität.

Als Rosa Luxemburg zu Anfang dieses Jahrhunderts diese Auffassungen kritisierte, hatte sie recht, gleichzeitig jedoch auch unrecht. Recht hatte sie insofern, als die leninistische Verschwörerorganisation mit den natürlichen – d. h. aus dem, beim Kapitalverhältnis vorausgesetzten, Klassengegensatz emporwachsenden – Organisationsformen der kämpfenden Arbeiter nichts zu tun hatte. Was sie aber übersah – und damals wohl auch übersehen mußte – war, daß es einen solchen Kampf der Proletarier im modernen Sinne in Rußland entweder nur in sehr kleinem Ausmaß oder überhaupt nicht gab. In Rußland, wo die Aufhebung des Kapital Verhältnisses und der Lohnarbeit nicht auf der Tagesordnung stand, handelte es sich um einen anderen Kampf. Für diesen Kampf war gerade die bolschewistische Partei am meisten geeignet. Sie erfüllte ganz und gar die Bedürfnisse der Revolution, die ihr bevorstand. Daß die Organisationsform dieser Partei – der sogenannte demokratische Zentralismus – mit der Diktatur der Zentrale über die Masse ihrer Mitglieder enden würde (wie Rosa Luxemburg es vorhergesagt hatte), hat sich als durchaus richtig erwiesen, und das gerade war in jener „bürgerlichen Revolution mit ihrem besonderen Charakter“ erforderlich.

V.

Die bolschewistische Partei holte sich ihre geistigen Waffen beim Marxismus, der einzigen radikalen Theorie, bei der sie zur Zeit anknüpfen konnte. Dieser aber war der theoretische Ausdruck eines hochentwickelten Klassenkampfes, wie ihn Rußland nicht kannte und für den in Rußland auch das richtige Verständnis fehlte. So geschah es, daß das, was sich auf russischem Boden als „Marxismus“ entwickelte, mit dem Marxismus nur den Namen gemein hatte, in Wirklichkeit aber dem jakobinischen Radikalismus eines Auguste Blanqui zum Beispiel viel näher stand als den Auffassungen von Marx und Engels. Mit diesem Blanqui hatte Lenin u. a. – wie auch Plechanow – jenen, den dialektischen Materialismus fernstehenden naturwissenschaftlichen Materialismus gemein, der in Frankreich, am Vorabend der großen, klassischen Revolution, die Hauptwaffe im Kampf gegen Adel und Religion gewesen war. In Rußland herrschten eben ähnliche Verhältnisse wie im vorbürgerlichen Frankreich.

Der Marxismus, so wie Lenin ihn verstand – und verstehen mußte –, ermöglichte ihm einen tiefen Einblick in die wesentlichen Probleme der russischen Revolution. Derselbe Marxismus versah die russische bolschewistische Partei mit einem Begriffsapparat, der sowohl zu ihren Aufgaben als auch zu ihrer Praxis im krassesten Widerspruch stand. Das bedeutet, wie Preobraschenski 1925 auf einer Moskauer Gouvernementskonferenz öffentlich eingestand, daß der Marxismus in Rußland zu einer Ideologie geworden war. Selbstverständlich war die revolutionäre Praxis der russischen Arbeiterklasse – soweit es sie gab – mit der Praxis der, die Interessen der bürgerlichen russischen Revolution als ein Ganzes vertretenden, bolschewistischen Partei durchaus nicht im Einklang. Als sich 1917 die russischen Arbeiter erhoben, gingen sie, entsprechend ihrer Klassennatur, weit über die Schranken der bürgerlichen Umwälzung hinaus; sie versuchten, ihr eigenes Los zu bestimmen und ihren eigenen Willen als Produzenten mit Hilfe ihrer Sowjets, ihrer Räte, durchzusetzen. Die Partei, die „immer recht“ hat und der Arbeiterklasse den Weg zeigen soll, den diese selbst, wie die Führer behaupten, ohne die Partei nicht finden kann, hinkte hinterher. Sie war gezwungen, die Räte einstweilen ebenso anzuerkennen wie die Tatsache, daß eine breite Bauernschicht existierte. Weder das eine noch das andere entsprach ihrer Doktrin, die das Ergebnis sämtlicher revolutionärer Bedingungen war. Weder für die eine noch für die andere revolutionäre Praxis gab es in Rußland auf die Dauer die materiellen Voraussetzungen oder eine soziale Grundlage.

VI.

Was geschah, war folgendes: der Kapitalismus (kaum entwickelt) wurde nicht gestürzt; es blieb die Lohnarbeit, von der Marx bekanntlich gesagt hat, sie setze das Kapital voraus, wie umgekehrt seinerseits das Kapital die Lohnarbeit voraussetze. Nicht die russischen Arbeiter bekamen die Verfügung über die Produktionsmittel, sondern sie fiel der Partei (oder dem Staat) zu. Der russische Arbeiter blieb demzufolge Mehrwertproduzent. Daß der Mehrwert nicht einer Klasse von Privatkapitalisten zufloß, sondern dem Staate bzw. den den Staat bestimmenden Parteiinstanzen, bedeutete zwar, daß die wirtschaftliche Entwicklung Rußlands – infolge der Abwesenheit einer bürgerlichen Klasse – andere Wege ging als die im Westen, änderte aber nichts an der Position des russischen Arbeiters als Ausbeutungsobjekt oder Lohnsklave. Von einer Machtausübung durch die Arbeiterklasse kann keine Rede sein. Der zaristische Staat war zwar zerbrochen, aber an seine Stelle war nicht die Rätemacht getreten. Die von den Arbeitern Rußlands spontan gebildeten Räte wurden von der bolschewistischen Regierung so schnell wie möglich, d.h. bereits im Frühsommer 1918, entmachtet und zu völliger Bedeutungslosigkeit verurteilt. Die wirtschaftliche Grundlage des Landes bildete, anstelle der früheren Leibeigenschaft oder der Knechtschaft halbfeudaler Form, die ökonomische Sklaverei, von der Trotzki 1917 schrieb, sie sei „unvereinbar mit der politischen Herrschaft des Proletariats“. Diese These war richtig, jedoch bedienten sich die Bolschewiki – nachdem sie zu Unrecht ihre Herrschaft als die der Arbeiterklasse ausgaben – der politischen Herrschaft, um angeblich die Unterdrückung der russischen Proletarier aufzuheben. Aber aufgrund des Fehlens einer wirklichen Arbeitermacht entwickelte sich die politische Herrschaft nicht in ein Befreiungs-, sondern in ein Unterdrückungsinstrument. Im bolschewistischen Rußland herrschte zwischen dem Ausbruch8 {der Februar-Revolution und der gewaltsamen Eliminierung von Kronstadt und der Einführung der Neuen Ökonomischen Politk eine Situation, die der der Februar-Revolution von 1848 in Frankreich ähnelte. Marx kommentierte diese Revolution wie folgt: „In Frankreich tut der Kleinbürger, was normalerweise der industrielle Bourgeois tun müßte; der Arbeiter tut, was normalerweise die Aufgabe des Kleinbürgers wär, und die Aufgabe des Arbeiters, wer löst sie? Niemand. Sie wird nicht in Frankreich gelöst, sie wird in Frankreich proklamiert.“9 Auch in Rußland wird diese Aufgabe nur proklamiert. Mit dem Kronstädter Aufstand jedoch kam der revolutionäre Prozeß – für den der Oktober lediglich die Bühne lieferte – zu einem Abschluß. Kronstadt war der revolutionäre Moment, an dem das Pendel am weitesten nach links geschwungen war. In den vorhergehenden vier schicksalhaften Jahren hatte sich ein tiefer Riß offenbart zwischen der Bolschewistischen Partei und der Bolschewistischen Regierung einerseits und andererseits der russischen Arbeiterklasse. Dies wurde immer offensichtlicher, je mehr sich der Gegensatz zwischen dieser Regierung und den Bauern offenbarte. Zusätzlich gab es den Widerspruch zwischen den Arbeitern und Bauern, der unter dem Mantel der sogenannten Smytschka, das heißt dem Klassenbündnis zwischen beiden, zum Schweigen gebracht wurde. Für unsere Sichtweise kann der Widerspruch zwischen den Bauern und der bolschewistischen Regierung vernachlässigt werden. Wir erwähnen ihn beiläufig, weil die vielfältigen Widersprüche zwischen Arbeitern, bolschewistischer Regierung und Bauern die Notwendigkeit der Parteidiktatur erklären.

VII.

In der Zeitspanne zwischen dem Ausbruch der Revolution und den Ereignissen von 1921 war die russische Arbeiterklasse in einen ständigen Kampf verwickelt. Im Verlauf des Jahres 1917 entwickelte sich dieser Kampf weiter als die Bolschewiki beabsichtigten. Zwische März und Ende September 1917 gab es 365 Streiks, 38 Fabrikbesetzungen und 111 Entlassungen von Betriebsleitern10. Die bolschewistische Parole „Kontrolle der Produktion durch die Arbeiter“ mußte unter diesen Umständen scheitern. Die Arbeiter enteigneten die Produktionsmittel in Eigeninitiative, solange, bis das Dekret über die Arbeiterkontrolle, das am 14. November 1917 erlassen wurde, nur eine Woche nach der Machtergreifung der Bolschewiki (!), diese Aktivitäten beendete. Nach dem Mai 1918 konnten ‚Nationalisierungen‘ nur noch vom zentralen Wirtschaftsrat vorgenommen werden. Kurz zuvor, im April 1918, war die persönliche Verantwortung der Betriebsleiter wieder eingeführt worden: sie mußten nicht länger ihre Entscheidungen vor ‚ihren‘ Arbeitern rechtfertigen.

Die Fabrikräte waren im Januar 1918 liquidiert worden. Bald danach, sobald der sogenannte Kriegskommunismus überwunden worden war, machten sich die Gesetze einer warenproduzierenden Gesellschaft bemerk}bar11. Lenin seufzt: „Das Steuer entgleitet den Händen … der Wagen fährt nicht ganz so, und häufig ganz und gar nicht so, wie derjenige, der am Steuer sitzt, sich einbildet.“ Eine russische Gewerkschaftszeitung berichtet, daß es 1921 477 Streiks gegeben hat mit insgesamt 184.000 Streikenden. Einige andere Zahlen: 1922 – 505 Streiks mit insgesamt 154.000 Streikenden; 1924 – 267 Streiks, davon 151 in Staatsbetrieben; 1925 – 199 Streiks, davon 99 in Staatsbetrieben12.

Die Zahlen beweisen einen langsamen Rückgang der Aktivitäten. Die ganze Bewegung erreicht 1921, zur Zeit des Aufstandes von Kronstadt, ihren Höhepunkt. Am 24. Februar 1921 streiken die Petrograder Arbeiter. Sie fordern: Freiheit für alle Werktätigen; Aufhebung aller Sonderdekrete; freie Wahlen für die Sowjets. Es sind die gleichen Forderungen wie die, die nur wenige Tage später auch in Kronstadt erhoben werden. Eine allgemeine Unruhe hat das Land erfaßt. Um die Jahreswende 1920/21 ist das bolschewistische Rußland der Schauplatz einer tiefen Auseinandersetzung. Unmittelbar geht daraus die von zwei ehemaligen Metallarbeitern geführte „Arbeiter-Opposition“ hervor. Sie verlangt die Ausschaltung der bolschewistischen Partei, Aufhebung der Parteidiktatur und ihre Ersetzung durch die Selbstregierung der produzierenden Massen. Mit einem Wort: sie verlangt Rätedemokratie und Kommunismus!

Die allgemeine russische Lage wurde wenig später in dem schon erwähnten Kronstadtdokument ebenso knapp wie treffend charakterisiert: „Durch eine gerissene Propaganda wurden die Söhne des werktätigen Volkes in die Reihen der Partei gezogen und dort an die Kette einer strengen Disziplin gelegt. Als sich die Kommunisten dann stark genug fühlten, schalteten sie zuerst Schritt für Schritt die Sozialisten anderer Richtungen aus, und schließlich stießen sie die Arbeiter und Bauern selbst vom Ruder des Staatsschiffes weg, fuhren aber gleichzeitig fort, das Land in deren Namen zu regieren.“13 Februar 1921 kommt es in Petrograd zum handfesten Protest. Durch die Vororte der Stadt ziehen proletarische Demonstrationszüge. Die Rote Armee erhält den Befehl, sie auseinanderzujagen. Die Soldaten weigern sich, auf die Arbeiter zu schießen. Die, Parole heißt: Generalstreik! Am 27. Februar ist er eine Tatsache. Am 28. Februar treffen zuverlässige, regierungstreue Truppen in Petrograd ein. Die Streikführung wird verhaftet; die Arbeiter werden in die Fabriken getrieben. Der Widerstand ist gebrochen. Aber noch am selben Tag erklären sich die Matrosen des Panzerschiffes „Petropawlowsk“ auf der Reede von Kronstadt für freie Sowjetwahlen und für Presse- und Versammlungsfreiheit; für die Arbeiter, wohlbemerkt! Die Mannschaft des Panzerschiffes „Sewastopol“ schließt sich ihnen an. Am nächsten Tag bekunden 16.000 Menschen auf dem Hafenplatz in Kronstadt ihre Solidarität mit den Petrograder Streikenden.

VIII.

Die Bedeutung der Kronstadtrebellion kann kaum überschätzt werden. Sie leuchtet wie ein Fanal. In ihrer Zeitung schreiben die Aufständischen: „Wofür kämpfen wir? Die Arbeiterklasse hoffte, durch die Oktoberrevolution ihre Befreiung zu erringen. Als Resultat ist eine noch größere Unterdrückung der Menschen eingetreten. Das ruhmreiche Wappen des Arbeiterstaates – Hammer und Sichel – hat die bolschewistische Regierung mit dem Bajonett und dem Gitter vertauscht, um das ruhige und angenehme Leben der Kommissare und Beamten zu beschützen.“ Das alles heißt, daß damals für die bolschewistische Herrschaft in Kronstadt die Stunde der Wahrheit gekommen war, so wie die Juni-Insurrektion des französischen Proletariats 1848 die Stunde der Wahrheit für die radikale französische Republik war. Hier wie dort machte das Proletariat seine Leichenstätte zur Geburtsstätte einer rein kapitalistischen Entwicklung. In Frankreich zwang es damals die bürgerliche Republik, sogleich in ihrer wahren Gestalt aufzutreten, als der Staat, dessen eingestandener Zweck die Verewigung der Kapitalherrschaft war. In Kronstadt zwangen die Matrosen und Arbeiter die bolschewistische Partei gleichfalls, in ihrem wahren Gewande aufzutreten: als eine unverhüllt arbeiterfeindliche Institution, deren einziger Zweck die Errichtung des Staatskapitalismus war. Mit der Niederwerfung des Aufstandes wurde für ihn der Weg frei.
In den Straßen von Paris wurden damals die proletarischen Hoffnungen von General Cavaignac im Blute erstickt. Der Aufstand von Kronstadt wurde von Leo Trotzki niedergeschlagen. Er wurde im März 1921 zum Cavaignac, zum Gustav Noske der russischen Revolution. Er, der bekannteste und der angesehenste Vertreter der Theorie der permanenten Revolution, verhinderte – so wollte es die Ironie der Geschichte – den ernsthaftesten Versuch seit dem Oktober 1917, die Revolution in Permanenz zu machen. Dieser Verlauf aber war unvermeidlich. Es fehlte für einen Sieg der Kronstädter jede materielle Voraussetzung. Das einzige, was ihnen hätte helfen können, war eben jene Permanenz der Revolution, auf die wir hinwiesen. Das haben die Kronstädter selbst gewußt und verstanden. Deshalb richteten sie fortwährend Telegramme an ihre Klassengenossen auf dem russischen Festland, die zur tatkräftigen Unterstützung aufforderten.

Die Kronstädter setzten ihre Hoffnung auf „die dritte Revolution“, so wie tausende von Proletariern in Rußland auf Kronstadt hofften. Was aber als „die dritte Revolution“ bezeichnet wurde, war im agrarischen Rußland jener Tage, mit seiner verhältnismäßig geringen Arbeiterschaft und mit seiner primitiven Wirtschaft, nichts als eine Illusion. „In Kronstadt“, sagte damals Lenin zu einem Zeitpunkt, als der Aufbau der bolschewistischen Kronstadtlegende noch kaum begonnen hatte, „will man die Weißgardisten nicht, will man unsere Macht nicht – eine andere Macht gibt es aber nicht.“14

Lenin hatte insofern recht, als es sie tatsächlich in jenem Moment nicht gab, jedenfalls nicht in Rußland. Ihre Möglichkeit aber haben, wie es die deutschen Arbeiter taten, die Kronstädter doch aufgezeigt. Sie, nicht die Bolschewiki, haben mit ihrer Kommune und mit ihrem frei gewählten Sowjet das Vorbild einer proletarischen Revolution und einer Arbeitermacht gegeben.

Man lasse sich durch ihren Schlachtruf „Sowjets ohne Kommunisten“15 nicht irritieren. Als „Kommunisten“ bezeichneten sich dieselben Usurpatoren, die sich auch heute noch – zu Unrecht – als solche bezeichnen: die bolschewistischen Verfechter des Staatskapitalismus, die damals eben den Streik der Petrograder Arbeiter unterdrückt hatten. Der Name „Kommunist“ war 1921 den Arbeitern von Kronstadt ebenso verhaßt wie 1953 den ostdeutschen Arbeitern und 1956 den Arbeitern in Ungarn. Jedoch haben die Arbeiter von Kronstadt ebenso wie jene ihre Klasseninteressen beherzigt. Demzufolge sind ihre proletarischen Kampfmethoden bis heute von großer Wichtigkeit für alle ihre Klassengenossen, die – wo immer auch in der Welt – selbständig ihren Kampf führen und aus der Erfahrung wissen, daß ihre Befreiung nur ihr eigenes Werk sein kann.

 

1In englischer Sprache erschien der Aufsatz Trotzkis unter dem Titel: Hue and Cry over Kronstadt. A Peoples Front of Denouncers in „The New International“, April 1938, S. 104. {siehe Leon Trotsky, Hue and Cry Over Kronstadt; in: The New International, Vol. IV, No.4, April 1938, p. 103-106}Der deutsche Titel wurde von mir aus der holländischen trotzkistischen Presse jener Zeit rückübersetzt, in der, nur wenige Wochen nach der englischen Erstveröffentlichung, der Aufsatz gleichfalls publiziert worden war.
{deutsch: Leo Trotzki, Das Zetergeschrei um Kronstadt (15. Januar 1938); in: die internationale, 12. Jg., Nr. 4, Nov. 1967, S. 65-75}

2Von diesem Zwang spricht auch Trotzki in seiner Stalinbiographie, Es heißt dort (englische Ausgabe: Stalin. An appraisal of the man and his influence, edited and annotated from the Russian by Charles Malamuth, London 1947, S. 337): „Das, was die Sowjetregierung widerwillig in Kronstadt tat, war eine tragische Notwendigkeit.“ Nichtsdestoweniger ist schon im nächsten Satz, der Legende gemäß, wieder von „einer Handvoll reaktionärer Bauern und aufständischer Soldaten“ die Rede.

3In bestimmten menschewistischen und weißgardistischen Kreisen, d. h. nicht in allen! Es soll sich wohl hauptsächlich um jene gehandelt haben, die sich zur Zeit außerhalb Rußlands befanden. In einem zeitgenössischen Dokument wird erwähnt, wie die sich noch in Rußland befindlichen zerschlagenen Überreste der Weißgardisten mit solch sicherem Instinkt die von Kronstadt ausgehende proletarische Drohung spürten, daß sie sich zur Niederwerfung des Aufstandes den bolschewistischen Machthabern bedingungslos zur Verfügung stellten. {„Die Wahrheit über Kronstadt“, 1921. Vollständige Wiedergabe dieses Werkes in deutscher Übersetzung in: Frits Kool und Erwin Oberländer (Hrg.), Arbeiterdemokratie und Parteidiktatur. Eingeleitet von Oskar Anweiler. Dokumente der Weltrevolution Band 2, Olten 1967, S. 297 ff.}
{siehe auch Pravda o Kronshtadte (The Truth about Kronstadt) [komplette englische Übersetzung der Kronstadter „Iswestija“] }

4Die Beispiele wären nach Belieben zu vermehren. Man vergleiche auch die Bewegung der Levellers (d.h. Gleichmacher) in der englischen Revolution des 17. Jahrhunderts.
{siehe Gerrard Winstanley, Gleichheit im Reiche der Freiheit. Sozialphilosophische Pamphlete und Traktate. Auswahl. Herausgegeben und mit einem Anhang versehen von Hermann Klenner, Leipzig 1983 [Reclam] – Frankfurt/M 1988 [Fischer TB]}

5Vgl. den sozialen Charakter der russischen Revolution 1917 in „Thesen über den Bolschewismus“, Erstveröffentlichung in „Rätekorrespondenz“ Nr. 3, August 1934; Neuauflage im Kollektiv-Verlag, Berlin, o.J. {für die „Roten Kämpfer“ zusammengestellt von Helmut Wagner [1932] – die Autorenschaft Helmut Wagners bezeugt Olaf Ihlau, Die roten Kämpfer. Ein Beitrag zur Geschichte der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik und dem Dritten Reich, Meisenheim/Glan 1969 [Verlag Anton Hain]}

6W. I. Lenin, Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution. Ausgewählte Werke, Bd. l, S. 558, Dietz-Verlag, Berlin 1964.

7Wir zitieren Lenin indirekt aus einem Aufsatz von N. Insarow, der September 1926 in der Zeitschrift „Proletarier“ veröffentlicht wurde. Insarow bediente sich der russischen Ausgabe von Lenins Gesammelten Werken, die im russischen Staatsverlag erschienen. Die Stelle befindet sich dort, wie er angibt, Bd. 11, l. Teil, S. 28.

8{Beginn der Rückübersetzung.}

9Karl Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich von 1848 bis 1850 [1850]; in: MEW 7, S. S. 79

10Die Angaben wurden von F. Pollock (Die planwirtschaftlichen Versuche in der Sowjetunion 1917-1927, Leipzig 1929, S. 25) dem Werke von Y. G. Kotelnikow und V. L. Melier, Die Bauernbewegung 1917 (in dem auch Zahlen über Streiks und Arbeiteraktionen enthalten sind), entnommen.

11{Ende der Rückübersetzung.}

12Die Statistik der Streiks und Streikenden entstammt der russischen Gewerkschaftszeitung „Voprocy Truda“, 1924, Nr. 7/8. Die Redaktion bemerkt dazu, daß die Angaben noch nicht einmal vollständig seien. Wir zitieren abermals nach Pollock, a.a.O. In dem (historischen) ersten Teil ihres Buches Labour Disputes in Soviet Russia 1957-1965, Oxford 1969, S. 15, gibt auch Mary McAuley Angaben über die Zahl der russischen Streiks in den ersten Jahren nach der Revolution. Sie basieren auf Mitteilungen von Revzin in der „Vestnik Truda“ 1924, Nr.5-6, S. 154-60. Die Zahlen stimmen mit jenen Pollocks überein.

13„Die Wahrheit über Kronstadt 1921“, „Dokumente der Weltrevolution“, a.a.O., Bd. 2, S. 500 {Sozialismus in Anführungszeichen; in: Mitteilungen des Provisorischen Revolutionskomitees der Matrosen, Rotarmisten und Arbeiter der Stadt Kronstadt, Nr. 14, Mittwoch, 16. März 1921}

14„Dokumente der Weltrevolution“ Bd. 2, S. 288 {Oskar Anweiler, Einführung II. Kronstadt}. {siehe: W. I. Lenin, Referat über die Ersetzung der Ablieferungspflicht durch die Naturalsteuer, 15. März 1921 [auf dem X. Parteitag der KPR(b)]; Lenin, Werke, Bd. 32, S. 231}

15{Brendel irrt. Die Parole „Sowjets ohne Kommunisten“ (genauer: ohne Bolschewiki) stammte nicht von den Kronstadtern, wie etwa in dem berüchtigten Stalinschen „Kurzen Lehrgang“ [Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki). Kurzer Lehrgang [1938], reprint als J. W. Stalin, Werke, Bd. 15, Frankfurt/M 1972, S. 311] behauptet wird, sondern von dem im Pariser Exil sitzenden Führer der Partei der „Konstitutionellen Demokraten“ („Kadetten“) und ehemaligen Außenminister Kerenskis, Miljukow. Dies gibt Lenin übrigens zu: „Der kluge Führer der Bourgeoisie und der Gutsbesitzer, der Kadett Miljukow, setzt geduldig dem einfältigen Wiktor Tschernow direkt … auseinander, daß es keinen Sinn habe, sich mit der Konstituante zu überstürzen, daß man sich für die Sowjetmacht – nur ohne Bolschewiki – aussprechen könne und müsse.“ [W. I. Lenin, Über die Naturalsteuer [April-Mai 1921]; Lenin, Werke, Bd. 32, S. 373] Die Kronstadter forderten „die Macht der Sowjets, nicht der Parteien«.}

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