Chuǎng – Soligruppe für Gefangene https://panopticon.blackblogs.org Für die Anarchie! Knäste, Staat, Patriarchat und Kapital abschaffen! Tue, 07 May 2024 21:52:55 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.1 https://panopticon.blackblogs.org/wp-content/uploads/sites/1233/2020/02/cropped-discharge-degenerik-blog-1-32x32.jpg Chuǎng – Soligruppe für Gefangene https://panopticon.blackblogs.org 32 32 (Volksrepublik China) Die Scham teilen 与有耻焉 – ein Brief von Internationalisten vom chinesischen Festland 来自中国大陆国际主义者的一封信 https://panopticon.blackblogs.org/2022/03/10/volksrepublik-china-die-scham-teilen-%e4%b8%8e%e6%9c%89%e8%80%bb%e7%84%89-ein-brief-von-internationalisten-vom-chinesischen-festland-%e6%9d%a5%e8%87%aa%e4%b8%ad%e5%9b%bd%e5%a4%a7%e9%99%86-2/ Thu, 10 Mar 2022 18:21:22 +0000 http://panopticon.blackblogs.org/?p=2529 Continue reading ]]> Text gefunden auf der Seite der Gruppe Gruppe Chuang, aber nicht von ihnen, die Übersetzung ist aus dem Englischen von uns, wir haben das Wort „people“, welches uns persönlich missfällt, egal in welcher Sprache, mit „Volk“ übersetzt. Wir finden dass dieser Text interessant zum diskutieren ist, mit den jeweiligen Differenzen die man haben kann, weil an einigen Stellen wir anderer Meinung sind, aber vor allem finden wir es wichtig zu betonen dass es wichtig ist auch Texte zu übersetzten und veröffentlichen die aus dem anderen Ende der Welt stammen, in diesem Falle die Volksrepublik China, weil es auch wichtig ist solche Texte auch wahrzunehmen. 


(Volksrepublik China) Die Scham teilen 与有耻焉 – ein Brief von Internationalisten vom chinesischen Festland 来自中国大陆国际主义者的一封信

Wie in unserem letzten Beitrag erwähnt, haben der chinesische Staat und soziale Medienplattformen einige Inhalte zensiert, die die russische Invasion in der Ukraine kritisieren (auch wenn dies uneinheitlich war, da der Staat selbst noch keine klare Haltung zu diesem Thema eingenommen hat). In der Zwischenzeit haben wir den folgenden Brief von einer anonymen Gruppe erhalten, die sich als Internationalisten des chinesischen Festlandes bezeichnet. Er gibt einen guten Einblick, wie der jüngste Konflikt innerhalb der chinesischen Linken wahrgenommen wurde. Wie bei anderen Berichten und Übersetzungen, die wir veröffentlicht haben, ist die hier dargelegte Position diejenige der Autoren. Obwohl wir mit der Stimmung sympathisieren, sollte aus der Sprache und der Formulierung des Artikels klar hervorgehen, dass es sich nicht um eine Stellungnahme von Chuang handelt und nicht als solche dargestellt werden sollte. Eines unserer Ziele ist es, die Sichtbarkeit anderer Gruppen und Einzelpersonen in China zu erhöhen, die sich mit ähnlichen Anliegen auseinandersetzen. Daher freuen wir uns, den folgenden Brief veröffentlichen zu können.

中文原文见本页底部

1.

Als Internationalisten sind wir entschieden gegen die Invasion Russlands, genauso wie wir gegen die rücksichtslose Expansion der NATO sind. Wir unterstützen nicht die ukrainische Regierung, sondern das Recht des ukrainischen Volkes, frei von jeglicher imperialistischen Einmischung zu sein.

Putin hat die Unabhängigkeit der beiden Republiken im Donbass unterstützt und behauptet, er wolle die Menschen dort vor der ukrainischen Regierung schützen. Es ist unbestreitbar, dass die Bewohner des Donbass in den letzten acht Jahren in einem endlosen Krieg gelebt haben. Die Menschen dort sehnen sich nach Frieden und nicht nach dem, was Putin tut, nämlich den Krieg unendlich auszuweiten. Wir leugnen nicht die Verfolgung der Menschen vor Ort durch die ukrainische Regierung, wir leugnen auch nicht die Präsenz von Neonazis in der Ukraine (genau wie in Russland), und wir leugnen auch nicht die Existenz fortschrittlicher, antifaschistischer Bemühungen im bewaffneten Kampf der Menschen in der Donbass-Region. Aber wenn Putins Regime wirklich meint, die Menschen im Donbass zu schützen, wie er behauptet, müssen wir klarstellen: Wie viele derjenigen, die die Menschen im Donbass repräsentieren, sind durch die Hand der großrussischen Chauvinisten und Putins hinterhältiger Armee gestorben?

Die „De-Nazifizierung“ der Ukraine klingt eher wie ein Witz, wenn man bedenkt, dass Putin und seine Anhänger in den letzten zehn Jahren die stärksten Unterstützer der europäischen Rechtsextremen gewesen sind. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine wird den radikalen Nationalismus im Lande nur noch mehr anheizen und verstärken. Putin will die Idee verbreiten, dass die Ukraine ein von Lenin und der Sowjetunion geschaffenes Land ist. Wie andere fortschrittliche Gruppen jedoch bereits festgestellt haben, welcher bestehende Nationalstaat ist nicht das Produkt eines Konstrukts? Im Namen der „Dekommunisierung“ will Putin in Wirklichkeit die Souveränität der Ukraine und sogar ihre nationale Identität auslöschen und gleichzeitig sein Bestreben verbergen, ein monoethnisches russisches Imperium wiederaufzubauen. Es stimmt, dass die Ukraine ohne das leninistische Prinzip der nationalen Selbstbestimmung – einschließlich der Gleichheit der Nationalitäten und der Freiheit zur politischen Abspaltung – ihre heutigen Grenzen nicht gezogen hätte. Aber was Putin nicht zuzugeben wagt, ist, dass die Sowjetunion ohne ein solches Prinzip nicht von Anfang an das Vertrauen ihrer Teilrepubliken gewonnen hätte und die 70 Jahre währende Union der sozialistischen Republiken überhaupt nicht hätte existieren können.

Rhetorik ist heuchlerisch und brüchig angesichts der realen geopolitischen Kräfte. In den vergangenen Jahrzehnten wurden „Menschenrechte“ und „Genozid“ häufig als Rechtfertigung für vom Westen angezettelte Kriege angeführt. Hat nicht Russland, das scheinbar auf der anderen Seite steht, im Fall des Donbass genau dieselbe Rhetorik verwendet? Die Vereinigten Staaten waren schnell dabei, Sanktionen auf der Grundlage von Menschenrechtserwägungen zu verhängen, aber wo sind die Sanktionen gegen Israel, das Palästina besetzt hält und die Apartheid einführt? Wo sind die Sanktionen gegen Saudi-Arabien, das immer noch im Jemen einmarschiert und eine riesige humanitäre Katastrophe verursacht? Ganz zu schweigen davon, dass viele Analysen seit langem darauf hinweisen, dass ökonomische Sanktionen zwar die Fähigkeit des russischen Regimes, seine Kriegsmaschinerie zu finanzieren, schwächen können, sich aber stärker auf die einfachen Menschen auswirken als auf Russlands Machtelite. Es ist klar, dass es den Diktator nie kümmert, ob sein Volk leidet.

2.

Dies ist kein Krieg zwischen den Russen und den Ukrainern. Es ist ein Krieg zwischen Putin und Biden und den hinter ihnen stehenden Großmächten. Es ist ein Krieg, der keinen Sieger haben wird, der aber unzählige Opfer fordern wird.

Es ist ein Krieg zwischen den Menschen mit einfachem Gerechtigkeitsempfinden und einem Staat, der die Macht anbetet. In Russland gibt es unzählige Anti-Kriegs-Stimmen aus dem einfachen Volk. Sie sind nicht furchtlos. Jeder ist sich zutiefst bewusst, dass er Gefahr läuft, verhaftet zu werden, wenn er Transparente mit der Aufschrift „Kein Krieg“ hochhält, dass jede Äußerung einer abweichenden Meinung ihn ins Gefängnis bringen kann, dass das Regime den Ausnahmezustand ausnutzt, um die Unterdrückung Andersdenkender voranzutreiben, und dass mehr als 1.700 Menschen von der Polizei abgeführt wurden, weil sie am ersten Tag, als Putin die Invasion startete, protestiert hatten. Dennoch haben Scham und Wut zahllose Menschen in Russland immer wieder auf die Straße getrieben. Der Protest gegen Putins Regime beschränkt sich nicht auf diesen speziellen Krieg, wenn man bedenkt, dass die russische Bevölkerung bereits seit vielen Jahren einen unsichtbaren Krieg gegen ihre Regierung führt, bei dem es um die weit verbreitete Korruption in Moskau, die geheimen Absprachen mit den Energie-Oligarchen, die Manipulation der Demokratie und den Einsatz von Gangstern zur Bekämpfung der Opposition geht. Wie absurd ist es, dass ein Regime behauptet, es könne eine andere Nation retten, während es gleichzeitig sein eigenes Volk unterdrückt?

Es handelt sich nicht nur um einen Krieg vor Ort, sondern auch um einen Informationskrieg im Internet. Menschen werden von ihren Staaten vertreten, und ein und dieselbe Information oder ein und dasselbe Konzept kann für verschiedene Lager völlig entgegengesetzte Bedeutungen haben oder von unterschiedlichen Vorurteilen beherrscht werden. In der Aufregung und Angst werden diese verzerrten Ideen dann mit den Winden des Krieges über die Grenzen hinausgetragen. Wir leben in China und befinden uns in einer absurden Situation, die von den staatlichen Medien ironisch als „kognitive Kriegsführung“ bezeichnet wird. Die chinesische Regierung wurde von der internationalen Gemeinschaft für ihre zweideutige Haltung verurteilt: Einerseits setzt sie sich für den Frieden ein, während sie andererseits ihre Beziehungen zu Russland stärkt. Unter der Propaganda der Mainstream-Medien und der seit Jahren immer stärker werdenden Zensur werden die chinesischen Internetnutzer derzeit leider von der Welt als die größten und lautstärksten Befürworter des Krieges und Putins angesehen. Progressive Anti-Kriegs-Stimmen werden zum Schweigen gebracht, und Demonstranten werden bestraft. Wir schämen uns und verurteilen die Propagandamaschine, die wieder einmal „auf einen Hirsch zeigt und ihn ein Pferd nennt“ [siehe hier: https://roundingtheearth.substack.com/p/the-information-wars-part-i?s=r], aufs Schärfste. Zu der Zeit, als die russische Invasion gerade begonnen hatte, war unsere Regierung damit beschäftigt, die eigene Bevölkerung in einer der größten Meinungskrisen zu verfolgen, die China in den letzten Jahren erlebt hat. Die ganze Nation war schockiert von den Enthüllungen über unzählige Fälle von Frauenhandel, die jahrzehntelang gefoltert und als Sexsklavinnen behandelt worden waren. Diese Verbrechen hatten sich mit dem Einverständnis der lokalen Regierungen zu einer gesellschaftlichen Norm entwickelt.

3.

Das ukrainische Volk hat seinen eigenen Willen, und es hat das Recht, über sein eigenes Schicksal zu entscheiden, ohne Einmischung des westlichen oder östlichen Imperialismus. Es sollte von allem Schaden befreit werden, der im Namen des „Schutzes“ oder der „Rettung“ angerichtet wird. Gleichzeitig müssen wir aber auch die Komplexität und Grausamkeit der internationalen Politik verstehen, insbesondere wenn das ukrainische Volk zwischen zwei Imperien gefangen ist und sich einem Krieg gegen die Menschlichkeit, einer Invasion und sogar der Bedrohung durch Atomwaffen gegenübersieht.

Neutralität ist unter den drängenden Bedingungen der heutigen Zeit heuchlerisch. Der russische Angriffskrieg ist unaufhaltsam geworden. Sich dem Selbstverteidigungskrieg der Ukraine zu widersetzen, würde dem Anspruch der Kriegsgegner widersprechen, an der Seite der Opfer zu stehen. Wir müssen an der Seite des ukrainischen Volkes stehen, das sein Land verteidigt, an der Seite des russischen und des belarussischen Volkes, die ihr Leben riskieren, um gegen ihre jeweiligen Staaten zu protestieren, und an der Seite der Menschen auf der ganzen Welt, die sich nach Frieden sehnen und den Krieg verurteilen. Die internationale Gemeinschaft muss die Forderungen des ukrainischen Volkes respektieren und auf sie eingehen und praktische Hilfe anbieten, und das sollte auch uns einschließen. Wir sind der Meinung, dass die NATO-Truppen die Situation nicht ändern und nur die Gefahr eines Weltkriegs erhöhen werden – was das Letzte ist, was wir uns wünschen. Wir teilen die Ansicht unserer Vorgänger, verantwortungsbewusste Antiimperialisten, die in den Antikriegsbewegungen während des Vietnamkriegs nicht die Einmischung der Sowjetunion gegen die US-Streitkräfte forderten, sondern deren Waffenlieferungen an den vietnamesischen Widerstand unterstützten. Heute gibt es auch Cyberwaffen. Hackergruppen, die russische Regierungswebsites und Mainstream-Medien stören, Online-Mapping-Seiten, die den Vormarsch der russischen Bodentruppen behindern, und öffentliche Meinungsplattformen, die sich mit den Angegriffenen solidarisieren. Diese Bemühungen bilden zusammen das Cyber-Terrain des Progressivismus in diesem Krieg. Internationalisten haben die grundlegende Pflicht, diejenigen zu unterstützen, die in gerechte Widerstandskriege gezogen wurden, um gegen die Invasoren zu kämpfen.

Man kann Magie nicht mit Magie zerstören. Was wir fordern, ist keine flüchtige Anti-Kriegs-Leidenschaft oder eine Art Waffenstillstand, der tiefere und unsichtbare Konflikte verdeckt, sondern die Abkehr von der Logik des Kalten Krieges und von rhetorischen Vorstellungen. Es sollten praktische Anstrengungen unternommen werden, um den Frieden in der Ukraine und darüber hinaus wiederherzustellen, jegliche Politik der starken Männer und staatliche Hegemonie abzulehnen und jegliche Illusionen über den Krieg zu zerstören.

Eine Gruppe Internationalisten vom chinesischen Festland, 1. März 2022

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(Volksrepublik China) Smart, unzufrieden und ungesehen: Li Yifan über den Aufstieg und Fall einer proletarischen Subkultur https://panopticon.blackblogs.org/2021/12/22/volksrepublik-china-smart-unzufrieden-und-ungesehen-li-yifan-ueber-den-aufstieg-und-fall-einer-proletarischen-subkultur/ Wed, 22 Dec 2021 19:27:49 +0000 http://panopticon.blackblogs.org/?p=2432 Continue reading ]]> Quelle: Chuang, die Übersetzung ist von uns

Einleitung der Soligruppe für Gefangene

Wir wurden von Freunden auf dieses Interview aufmerksam gemacht, welches auf der Seite des Chuang Kollektivs, von denen wir bereits Texte übersetzt haben, zu finden ist und haben beschlossen es zu übersetzen. Bei diesem Interview wird ein Filmemacher interviewt, der einen Dokumentarfilm über die sogenannten Smarts, eine proletarische Subkultur unter Wanderarbeitern in der Volksrepublik China, die aus den ärmsten Teilen der Volksrepublik stammen, die aber von sich erzählen, als eine ausgebeutete Klasse, gedreht hat. Diese Subkultur definiert sich hauptsächlich über ästhetische Besonderheiten wie auffällige Frisuren und Kleidung, für uns persönlich steht diese aber nicht im Mittelpunkt, auch wenn sie natürlich nicht ignoriert werden kann. Was uns an der Doku sowie auch am Interview am meisten interessiert, ist das jene, die nie zu Wort kommen von ihrer Realität und ihrem Alltag sprechen. Was in einer klaren und direkten Sprache geschildert wird, ist die krude Realität des Fließbands, der Entfremdung (in seiner dreifachen Form: in der Lohnarbeit, zu sich selbst und gesellschaftlich), der rigiden Disziplinierung und Kontrolle in den Werkhallen. Kein Akademiker auf der Welt wird jemals so genau die Ausbeutung des Proletariats beschreiben wie es dieser selbst machen wird. Niemand arbeitet gerne in einer Fabrik, außer jenen, die sie romantisieren und nie drinnen waren und nie drinnen sein werden, außer als Gewerkschaftsvertreter oder als so ein Dulli von Anti-Diskriminierungs-Workshops. Alle anderen wollen die Fabriken niederreißen, wir wissen das aus eigener Erfahrung. Gezeigt wird in einem Harum Farocki Stil monotone und sich ewig wiederholende Arbeitsabläufe am Fließband, unterlegt mit den Schilderungen der Realität der Protagonisten des Films. Eine Realität geprägt von Armut und Einsamkeit, von dem Korsett der Monotonie der Lohnarbeit nach einem 12- bis 16-Stundentag, sechs bis sieben Tage die Woche, wo die meisten nur geistlos auf den Beginn der nächsten Schicht warten, während die Jugendlichen mit einer gewissen Disziplinierung brechen mit den extrovertierten, nicht-konformen Frisuren und Auftreten. Ein durchaus sehr sozialer Moment, weil sie gemeinsam so banal es auch sein mag über das Hier und Jetzt reden, da sie verstanden haben, dass die Zukunft ihnen nichts garantiert, denn sie sind eine Jugend ohne Zukunft, dass es sich nicht lohnt Träume zu haben, man könnte sagen, es handelt sich hier um einen universellen Ausdruck der Ablehnung gegenüber Lohnarbeit.


(Volksrepublik China) Smart, unzufrieden und ungesehen: Li Yifan über den Aufstieg und Fall einer proletarischen Subkultur

Von chuang | Am 22.09.21 veröffentlicht

Im Folgenden ist unsere Übersetzung eines Interviews mit Li Yifan über seinen Dokumentarfilm We Were Smart (杀马特我爱你) zu finden, zusammen mit einem neuen Vorwort unseres Freundes BG über die Bedeutung des Films für Chinas entstehende Bewegung der „autonomen Räume“. Das chinesische Interview, geführt von Zhao Jingyi (赵景宜) von NoonStory (正午), wurde ursprünglich im November 2020 auf Jiemian News (界面新闻) als „Li Yifan: The Pressures Facing ‚Smart‘ Workers Are Extremely Similar to Those Facing Urban White-Collar Workers“ (李一凡:杀马特工人和城市白领,两者的压抑非常类似) veröffentlicht. Das Vorwort von BG ist nirgendwo anders veröffentlicht worden. Der Film ist derzeit online mit englischen Untertiteln hier zu sehen. (Er wird wahrscheinlich aus den unten genannten Gründen bald wieder entfernt werden, also schaut ihn euch an, solange ihr noch könnt).

Vorwort von BG

Im Jahr 2020 stellte der Künstler und Filmemacher Li Yifan den Dokumentarfilm We Were Smart (杀马特,我爱你) fertig. Der Film löste in ganz China einen Sturm aus, da er die „Smart“ (shamate) Subkultur, die vor beinahe zehn Jahren fast in Vergessenheit geraten war, wieder ins Licht der Öffentlichkeit rückte und stark missverstanden und verunglimpft wurde. Li, der die Situation der Wanderarbeiter seit vielen Jahren verfolgt, vermittelte dem Publikum auch ein neues Verständnis dieser Subkultur, die in den Fabriken des Perlflussdeltas entstanden war: Die Smarts waren in erster Linie Wanderarbeiter vom Lande, deren Arbeitskraft an den Fließbändern brutal ausgebeutet wurde.

In dem Film führt Li Gruppeninterviews mit aktuellen und ehemaligen Mitgliedern der Smart-Subkultur, wobei er auch ihr eigenes Filmmaterial von Szenen in den Fabriken einbezieht, wie z. B. die sich wiederholenden Bewegungen der Fließbänder und einen Aufseher, der den Arbeitern verbietet, die Toilette zu benutzen. Die Smarts sind ängstlich und treiben in der ihnen unbekannten Metropole umher und werden von Anwerbern vom Bahnhof zum Industriegebiet geschleppt. In der Innenstadt sind sie von den Wolkenkratzern eingeschüchtert und verirren sich im Labyrinth der Straßen, so dass sie oft nicht in der Lage sind, im Dienstleistungssektor oder in der Plattformökonomie zu arbeiten, z. B. als Essenslieferant. Ihre einzige Freiheit ist die „Ästhetik“: Indem sie die Stile der smarten Subkultur übernehmen, finden sie einen Sinn in sich selbst und in der Abgrenzung zu anderen. Li betont, dass der Film keine „Geschichte der Smarts“ ist, sondern „Smarts, die über ihre eigene Geschichte sprechen“.

Ein weiteres Element, das den Film diskussionswürdig macht, ist die Art und Weise, wie er in Umlauf gebracht wurde. Ursprünglich war We Were Smart als Dokumentarfilm gedacht, aber die Verbreitung des Films wurde zu einem eigenständigen Ereignis. Der Filmemacher erhielt für die Produktion des Films eine Investition von Tencent und unterzeichnete einen Vertrag, der dem Unternehmen die exklusiven Ausstrahlungsrechte einräumte. Nach der Fertigstellung des Films befürchtete Tencent jedoch, dass der Film politisch heikel sein könnte, und weigerte sich, ihn auszustrahlen, so dass die Investition in „Schweigegeld“ umgewandelt wurde, das verhindern sollte, dass der Film jemals das Licht der Welt erblickte. Li begann daher, Einladungen zu Vorführungen in kleinem Rahmen an verschiedenen Orten in ganz China anzunehmen, wodurch eine Art Untergrundnetzwerk entstand, das sich bald verbreitete. Der Filmemacher besuchte Universitätsgelände, Buchläden, Bars und „autonome Räume“, diskutierte mit dem Publikum und lud Smarts aus dem Film ein, sich online zu beteiligen.

Das Netzwerk und das Konzept der „autonomen Räume“ (自治空间, auch bekannt als „alternative Räume“ 替代性空间) spielten bei diesen Untergrundvorführungen eine entscheidende Rolle. Da die etablierten Kunsträume mit einer immer strengeren Zensur konfrontiert sind, sind in ganz China immer mehr autonome Räume entstanden. Einige von ihnen haben kommerzielle Formen angenommen, wie z. B. profitorientierte Bars, Buchläden oder sogar einfache Tante-Emma-Läden, während andere Kunstateliers oder häusliche Räume nutzen, um eine Infrastruktur für Aktivitäten zu schaffen, die in den kommerziellen Räumen des Mainstreams nicht möglich wären, einschließlich, aber nicht beschränkt auf Filmvorführungen, Ausstellungen, Theater und Performance-Kunst. Diese Räume sind auch ein wichtiger Ort für die Verbreitung von Untergrundpublikationen, die von verschiedenen Gruppen gedruckt werden, darunter Zeitschriften mit Bezug zu Kunstausstellungen sowie einige Pamphlete mit einem gewissen politischen Inhalt. Die chinesische Übersetzung von A Guidebook for the Revolt of the Idiots of the World: How to Create Space with Fun (世界マヌケ反乱の手引書: ふざけた場所の作り方) des japanischen Anarchisten Hajime Matsumoto ist wahrscheinlich das am häufigsten in diesen Räumen zu sehende Buch, dessen Ideen dem Netzwerk als Inspiration dienen. Matsumotos Aufruf, den Kapitalismus herauszufordern, indem man sich zum Spaß trifft, und sich der Unterdrückung durch Kreativität zu widersetzen, ist wahrscheinlich der einzige Hoffnungsschimmer, den junge Menschen mit kritischem Bewusstsein in dieser luftdichten Gesellschaft finden können, in der die Risiken für jede Art von politischer Aktivität immer schlimmer geworden sind. In diesen Räumen kann man auch Spuren von selbstveröffentlichten Werken von Wanderarbeitern finden. Für junge Menschen auf dem chinesischen Festland, die weder auf die Straße gehen noch öffentlich demonstrieren dürfen, sind diese Räume zu einer seltenen Gelegenheit geworden, Gleichgesinnte (同温层) zu finden und das politische Leben zu erleben. Bemerkenswert ist auch, dass die Begeisterung für We Were Smart viele junge Leute dazu veranlasste, gewöhnliche kommerzielle Veranstaltungsorte in temporäre „autonome Räume“ umzuwandeln: Als der Filmemacher verlangte, dass die Vorführungen kostenlos sein sollten, ermöglichten einige gewinnorientierte Veranstaltungsorte in kleineren Städten allen Arten von Menschen den Besuch, ohne Geld ausgeben zu müssen. Diese Zirkulationserfahrung wurde so zu einem integralen Bestandteil des Films.

Während Li Yifans filmische Linse die „ästhetische Freiheit“ der Smarts als eine Form des kollektiven Widerstands hervorhob, brachten junge Linke mit Erfahrung im Arbeiteraktivismus bei einigen Vorführungen eher strukturelle Formen des Arbeiterwiderstands und der Selbstorganisation oder konkretere Veränderungen der sozialen Bedingungen zur Sprache, für die die Arbeiter gekämpft haben. Auf diese Kommentare reagierte der Filmemacher manchmal mit einer zynischen Haltung. Aber We Were Smart war bereits kein geschlossenes, auf passiven Konsum ausgerichtetes Werk mehr, so dass nach Abschluss des Schnitts kein Zeitraum mehr eingefügt werden konnte. Es war zu einer Bewegung geworden, in der jede Vorführung produktiv war, und jede Ausweitung des Netzes von Vorführungen im Untergrund reproduzierte das Werk auf eine andere Weise. Diese Veranstaltungen schufen neue Bedeutungen für das Verständnis der Proletarier, die an der smarten Subkultur teilnahmen, und gingen über die Absichten der Filmemacher hinsichtlich der ästhetischen Freiheit hinaus. Sie schufen eine Infrastruktur außerhalb des Mainstreams der Kunstproduktion und des Kunstkonsums. Obwohl der Hype um We Were Smart vorbei ist, bleibt diese Infrastruktur bestehen und bricht weiterhin Risse im System auf.

„Wenn man nicht smart ist, dann hat man keine Geschichte. Ein Leben am Fließband hat keinen Wert.“

Die Unterdrückung von „ smarten“ Arbeitern ähnelt derjenigen von städtischen Angestellten (White-Collar Workers)

Li Yifans jüngste Präsentationen seines Dokumentarfilms We Were Smart gingen Ende 2020 viral – das erste Mal, dass viele Menschen von dem Film oder der obskuren „smarten“ Subkultur Notiz nahmen. Hinter den übertriebenen Frisuren der „Smarts“ verbergen sich jedoch Teenager, die von Migranteneltern zurückgelassen wurden, Fließbandarbeiter und Jugendliche, die sich nach Anerkennung und Akzeptanz sehnen.

Der Douban-Nutzer „Looking Left“ schreibt in seiner Rezension: „Kein Dokumentarfilm hat mich so sehr bewegt wie We Were Smart. Während des gesamten Films habe ich immer wieder mein Handy in die Hand genommen, um mir Notizen zu machen. Die Stimme der Intelligenz ist ein starker philosophischer Ausdruck von Freiheit, Freude und Unterdrückung.“

Der Dokumentarfilm wurde bereits vor fast einem Jahr uraufgeführt. Am 13. Dezember 2019 veranstaltete Li Yifan eine Ausstellung mit dem Titel „The Heretical Light“ (意外的光芒) im Guangdong Times Museum. Mehrere hundert gebrauchte Smartphones waren auf dem Balkon eines Hochhauses im 19. Stock installiert und spielten über 900 von Arbeitern aufgenommene Videos in einer Schleife ab. Die Fließbandszenen verliehen der Ausstellung ein mechanisches und beklemmendes Gefühl. Li Yifan lud die Arbeiter, die an den Aufnahmen beteiligt waren, zur Eröffnung ein, aber am Ende waren die einzigen, die kamen, zwei Arbeiter, die gerade ihren Job verloren hatten.

Li Yifan begann 2017 mit den Dreharbeiten zum Thema „Smarts“ und interviewte insgesamt 78 Personen. Er begann in Shenzhen, bevor er durch ganz Guangdong reiste und schließlich in die „Heimatstadt“ der Subkultur in Guizhou und Teilen von Yunnan ging. Li sagt, dass dieser Dokumentarfilm nicht versucht, die Geschichte der Smarts aufzuzeichnen, sondern vielmehr die verschiedenen Smarts ihre eigene Geschichte erzählen lässt. Die Dokumentarfilme von Li folgen immer bestimmten Menschen und ihren spezifischen Situationen: Die früheren Dokumentarfilme Before the Flood (淹没) und Village Archive: Longwangcun 2006 Video Files (乡村档案) dokumentierten die Umsiedlung des Dorfes Taijie bzw. die leeren Tage eines gewöhnlichen westlichen Dorfes1. Li hat auch Aufnahmen zum Arbeitsgesetz, zu Schweinefleisch und zu gewalttätigen Auseinandersetzungen im Chongqing der 1960er Jahre gedreht, diese aber noch nicht zu einem vollständigen Spielfilm verarbeitet. Er ist nicht nur Regisseur, sondern auch Künstler und Professor für Ölmalerei an der Akademie der Schönen Künste von Sichuan und hat in Chongqing und Shanghai künstlerische Gemeinschaftsarbeiten durchgeführt, darunter Migrant Youth (外省青年) und The sixth ring is one more than the fifth ring (六环比五环多一环).

Die folgende Diskussion zwischen NoonStory (NS) und Li Yifan (LY) umfasst Themen wie die „smarte“ Subkultur und den Überlebensdruck, dem die heutige Jugend ausgesetzt ist, das Stadt-Land-Gefälle, die diaosi (屌丝)-Kultur und kurze Video-Apps. Li erklärt: „Wenn ich Dokumentarfilme drehe, bringe ich kein aufgeklärtes Motiv in das Projekt ein. Viel wichtiger ist es, Menschen zu zeigen, die noch nie gesehen wurden.“

Screenshots aus We Were Smart. Die meisten Smarts wurden in den 1990er Jahren geboren und gingen im Alter von fünfzehn oder sechzehn Jahren zur Arbeit.

NS: In letzter Zeit gab es in vielen Städten Vorführungen von We Were Smart. Was waren die interessantesten Publikumsreaktionen in den Diskussionen nach der Vorführung?

LYF: Bei fast jeder Vorführung sagt ein Zuschauer: „Eigentlich fühle ich mich ähnlich wie die Smarts, aber ich bin nicht so mutig, ich habe nicht den Mut, mich dieser extremen gesellschaftlichen Disziplin zu widersetzen – ich habe Angst, etwas zu tun, das auffällt.“ Das hat mein Interesse geweckt. Die meisten der Zuschauer gehören zur post-90er, post-95er Generation [die nach 1990 oder 1995 Geborenen], die in städtischen Angestelltenberufen (white-collar workers) arbeiten – es scheint, dass die Situation ihrer Familien nicht so schlimm ist.

Dennoch ist das Gefühl der Unterdrückung, das diese Zuschauer und Smarts empfinden, sehr ähnlich. Man könnte sagen, dass es sich um ein gemeinsames Generationenproblem handelt: Sie fragen sich: Was ist der Sinn des Lebens, das ich vor mir sehe? Die jungen Smarts haben das Gefühl, dass Geld verdienen keinen Sinn mehr hat. Die Generation ihrer Eltern kam in die Stadt, um zu arbeiten, und obwohl sie nicht viel verdienen konnten, waren ihre Ziele sehr klar – zum Beispiel genug zu verdienen, um nach Hause zu gehen und ein Haus zu bauen, zu heiraten und ein Kind aufzuziehen. Die jungen Smarts, obwohl…. Ihre Familie hatte bereits ein Haus in ihrer Heimatstadt, aber sie konnten nicht genug verdienen, um ein Haus in der Stadt zu kaufen. Vielleicht hatten sie nicht einmal genug Geld, um eine Hochzeit zu bezahlen und zu heiraten. Die jungen Angestellten (white-collar youth) wollen sich in der Stadt niederlassen, aber es ist auch für sie schwer. Letztendlich ist die städtische Angestelltenjugend (white-collar youth) in einer ähnlichen Lage wie die Smarts. Sie arbeiten hart, aber sie können kein Ziel erreichen, es sei denn, sie verkaufen sich völlig.

NS: Was ist deine Meinung zu den Angestellten (white-collar workers), die sich scherzhaft als „Arbeiter“ (dagongren) bezeichnen?

LYF: Darüber habe ich noch nicht genau nachgedacht. Vielleicht haben sie dasselbe Gefühl der Verzweiflung, was ihre Fähigkeit angeht, ihr Schicksal zu ändern, was die Klassenmobilität angeht. Angestellte (white-collar workers) sind auch Arbeiter, ihre Arbeit ist schwierig, aber im Vergleich zu den Smarts ist es eine andere Art von Schwierigkeit. Viele Angestellte (white-collar workers) wollen ein besseres Auto oder geben sich nicht mit einer 1.000-Yuan-Tasche zufrieden, sondern wollen eine, die 2.000 Yuan kostet – sie sind von der Konsumgesellschaft gekidnappt worden. Aber die Smarts haben in Wirklichkeit gar kein Geld. Nach der [Anfangsphase der] Pandemie [in China von Januar bis April 2020] konnten viele Smarts keine Arbeit finden und waren auf Kredite von mobilen Apps angewiesen, um zu überleben. Im Mai oder Juni konnten sie wieder anfangen zu arbeiten, um die Schulden abzuzahlen. Ein Mann, der Kampfhühner züchtet, verkaufte einen seiner wertvollsten Vögel als Fleisch: ein sieben Pfund schweres Huhn wurde für 300 Yuan verkauft. Diese Art von Armut können wir nicht wirklich verstehen.

Viele junge Smarts haben sich an mich gewandt, um sich Geld zu leihen, aber es waren alles Beträge unter 100 Yuan. Manchmal leihen sie sich auch nur 20 Yuan. Sie kommen nach Guangzhou und finden keine Arbeit, sie haben nichts zu essen oder müssen sogar auf der Straße schlafen. Die Smarts im Film sind nicht so verzweifelt, weil sie so jung sind. Aber die Beispiele, die sie gesehen haben, einige der Menschen um sie herum – sie haben wirklich keine Möglichkeiten, sie sind hoffnungslos. Ich frage die Smarts: Ist einer eurer Freunde reich geworden? Sie sagen alle: Nein, niemand ist reich geworden.

NS: Viele Leute fragen sich, warum es in Dongguans Stadtteil Shipai immer noch eine lebendige, smarte Jugendkultur gibt. Alle haben den falschen Eindruck, dass Smarts, der QQ Space und die Nicht-Mainstream-Kultur alle Teil einer Art verschwindenden Online-Lebens oder Subkultur sind.

LYF: Es gibt nicht mehr viele Orte, die wirklich offen und akzeptierend für Smarts sind. Es gibt nur noch ein paar letzte Hochburgen: Im Shipai-Bezirk in Dongguan, in Chenghai in Shantou und in einem kleinen Bezirk in Wenzhou gibt es noch ein paar aktive Smarts. Diese Orte weisen alle Ähnlichkeiten auf: Eine große Anzahl kleiner Fabriken und Werkstätten, von denen die meisten kleine Teile für eine große Elektronikfabrik herstellen, oder Sprühfarbe für Spielzeugfabriken produzieren, oder auf andere Weise sehr kleine, einfache Teile herstellen.

Das Management in dieser Art von kleinen Fabriken ist nicht so streng, und sie haben nicht viele kulturelle Anforderungen – es ist ihnen zum Beispiel egal, ob man sich die Haare wachsen lässt. Natürlich sind auch die Löhne niedrig. Es sind genau diese Orte, die es den Smarts ermöglichen, weiter zu existieren. Natürlich föhnen sich Smarts nicht jeden Tag die Haare – in der Regel warten sie damit bis zum Wochenende. Gutes Haarspray hält nur maximal drei Tage, und normalerweise hält es nur einen Tag, bevor es zusammenfällt. 2018 kamen einhundert Smarts zum Treffen in Shipai und die großen Friseursalons konnten nicht mithalten, sie frisierten vom frühen Morgen bis zum Nachmittag. An langen Wochenenden kostet das Frisieren 40 Yuan, an Wochentagen 20 Yuan.

Heute gibt es vielleicht nur noch ein paar hundert Menschen im Land, die an der Smart Kultur beteiligt sind. Auch die interne Definition der Kultur ist unterschiedlich: Viele Smarts tragen Kunsthaar, weil sie keine Arbeit finden, wenn sie sich die Haare wachsen lassen. Wenn sie eine Perücke tragen, um ein Video zu drehen oder durch die Straßen zu gehen, haben sie das Gefühl, dass sie genauso aussehen wie damals, als sie sich die Haare wachsen ließen. In diesem Moment haben sie das Gefühl, ein anderer Mensch geworden zu sein.

NS: Du hast über einen Monat lang in Shipai gelebt. Was hat dich dort am stärksten beeindruckt?

LYF: In Shipai gibt es immer noch einen ziemlich guten öffentlichen Raum: Es gibt zwei Eislaufbahnen und den Shipai Park. Ich finde die Gestaltung des Parks besonders gut – er ist nicht elitär, man hat das Gefühl, dass er niemanden abweist, diese Art von Gefühl. Der Park scheint ein Ort zu sein, an dem jeder einen Platz finden kann, um sich hinzusetzen und Spaß zu haben. Der Park befindet sich auch in der Nähe der Fabriken, so dass smarte Menschen hierher kommen können, um sich zu zeigen und dem Leben am Fließband zu entfliehen.

Einmal im Jahr 2018 war ich im Shipai-Park und die ganze Szene war großartig – es war ein langes Wochenende, und die Arbeiter hatten nichts zu tun. Zehntausende von Jugendlichen liefen durch den Park und zogen umher. Sie waren alle normale Arbeiter, die am wenigsten Geld verdienen, die unterste Stufe. Viele von ihnen waren Angehörige südlicher ethnischer Minderheiten. Die Smarts waren auch dabei, ein sehr kleiner Teil der Gruppe. Man konnte sehen, dass es Miao-Leute gab, die sangen, Zhuang-Leute, die duige (对歌) sangen, und Leute, die rangen, sehr förmlich, in ethnischen Ringertraditionen. Viele Leute saßen auf dem Boden, trafen sich mit Leuten aus der gleichen Heimatstadt, unterhielten sich und spielten mit ihren Handys.

Diese Art von Trubel ist an anderen Orten selten. In einigen großen Fabriken zum Beispiel wird der Schichtwechsel sehr genau eingehalten: Alle 15 Minuten kommen und gehen nur wenige Leute, so dass man diese Art von Menschenmenge nie sieht, sondern nur einen kontinuierlichen Strom von Leuten, die in einer langen Schlange ein- und ausgehen. Die meisten Leute halten ihr Handy in der Hand, scrollen endlos und warten darauf, dass ihre Schicht beginnt. Nachts, wenn alle aus den Fabriken kommen, wird es in Guangdong heiß, und die Leute wollen nicht in ihre Schlafsäle zurückkehren, also sitzen die müden Arbeiter am Straßenrand oder legen sich hin und spielen mit ihren Handys. Sie können sich nirgends amüsieren, also können sie nicht wie die Smarts sein, die vor Begeisterung fast platzen und alle hinter sich herziehen lassen.

NS: In einem deiner Vorträge hast du gesagt, dass es keine Smarts mit einem wunderbaren Leben gibt – das Leben der Smarts ist extrem arm. Sind normale Fabrikarbeiter im Vergleich zu Smarts noch ärmer?

LYF: Im Vergleich zu normalen Arbeitern in kleinen Fabriken sind die Smarts nur geringfügig anders. Smarts sind ein bisschen sensibler, oder ein bisschen künstlerischer. Sie achten ein wenig mehr auf ihren eigenen Körper und ihre Gefühle sowie auf die Reaktionen der Außenwelt. Das ist anders als bei den meisten anderen Arbeitern, die sich einfach an die sozialen Normen halten und ihnen folgen. Smarts können das im Allgemeinen nicht ausstehen und wollen etwas anderes machen.

Wenn wir Smarts interviewen, führen wir das Gespräch normalerweise in kleinen Hotels, nach 22 Uhr. In den Fabrikvierteln finden wir keinen anderen Ort, an dem wir sie durchführen können. Nach zehn oder zwölf Stunden Arbeit müssen diese Kinder erst nach Hause gehen, duschen, sich die Haare föhnen und sich besser aussehende Kleidung anziehen, bevor sie zum Interview kommen können. In dieser Hinsicht sind sie ein bisschen aufmerksamer. Aber sie haben denselben Stunden- oder Stücklohn, bei dem sie nie mithalten können. Wenn sich ihre Hände nicht mehr bewegen, haben sie plötzlich kein Geld mehr.

Bei der Migration zur Arbeit sind die meisten Arbeiter auf die Beziehungen in ihrer Heimatstadt angewiesen. Aber die Smarts haben die heimatlichen Netzwerke übersprungen. In Guangxi, Hunan, Guizhou, Hainan und anderen Orten nutzten sie ihr gemeinsames ästhetisches Empfinden und ihre Online-Verbindungen, um ihre eigenen Familien zu gründen. Innerhalb dieser Familie sind sie wie Brüder und Schwestern – „wenn du hierher kommst, um zu arbeiten, kannst du ein paar Tage bei mir bleiben, während du dich einrichtest.“

Einmal unterhielt sich ein smarter Mann mit mir, und ich habe es nicht aufgezeichnet, aber die Art und Weise, wie er es ausdrückte, war wie die eines Philosophen. Er sagte: „Wenn du kein Smart bist, dann hast du keine Geschichte. Ein Leben am Fließband hat keinen Wert.“

NS: Du hast 915 Kurzvideos in Auftrag gegeben und einige davon für deinen Dokumentarfilm ausgewählt. Was hat dich an diesen selbstgedrehten Videos von einfachen Arbeitern bewegt?

LYF: Die Videos, die ich gesammelt habe, lassen sich in drei Typen unterteilen. Bei den meisten handelt es sich um Videos von Arbeitsplätzen oder dem Fließband. Die zweite Art zeichnet das Leben in der Fabrik auf. Die dritte Art zeigt das Alltagsleben der Arbeitssuchenden in den Fabrikvierteln. Die Videos stammen aus Shipai, Dongguan, Shenzhen und anderen Gebieten mit einer hohen Konzentration von Fabriken.

Kein einzelnes Video aus der Arbeitsplatzsammlung hat einen besonders tiefen Eindruck bei mir hinterlassen, aber nachdem ich sie alle gesehen hatte, hinterließen sie insgesamt einen sehr starken Eindruck: Das Arbeitsumfeld, die Intensität der Arbeit, die Arbeitszeiten – all das übertraf meine Vorstellungen. Ich wusste, dass die Leute Überstunden machen, aber ich wusste nicht, dass sie so lange arbeiten. Viele Arbeitsumgebungen sind ziemlich schlecht, und die Arbeiter sehen so jung aus.

Einige der Arbeiter haben die Bedingungen in größeren Fabriken aufgezeichnet. Das ist wirklich schwierig, denn wenn man sein Handy herausnimmt, kann man eine Geldstrafe bekommen. In einem der Videos führt der Schichtleiter die Arbeiter an und sagt: „Hallo, wie geht es euch, mir geht es sehr gut.“ Aus dem Video kann man ersehen, in welche Lage die Arbeiter gebracht werden, indem sie beschimpft oder ausgepeitscht werden. In einem anderen Fall sind zwei Kinder arbeitslos und wollen sich um einen Job bewerben. Das Video, das sie gedreht haben, zeigt den gesamten Bewerbungsprozess, einschließlich eines Bluttests. Bei Bewerbungen werden die Hände und der Körper untersucht, wie auf einem Sklavenmarkt, und es wird geprüft, ob man seine Gelenke bewegen kann. Diese beiden Videos haben einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen.

Während sich die Diaosi-Kultur nach Anerkennung durch den Mainstream sehnt, ist die Smart-Kultur nur eine Art, zusammenzuhalten, um nicht unterzugehen.

NS: Bevor du Smarts getroffen hast, als du sie nur aus dem Internet kanntest, hast du gesagt, dass du glaubst, dass sie „einen Widerstand gegen den Konsumismus darstellen“. Wie bist du zu diesem Schluss gekommen?

LYF: Im Jahr 2010 habe ich mit einigen Künstlern in Chongqing ein Kunstprogramm für „Migranten-Jugendliche“ durchgeführt. Unsere Plakate warben für „Selbstdefinition“ und „ästhetische Autonomie“. In Wuhan habe ich zusammen mit Li Juchuan den Donghu Art Plan entwickelt.2

Beides waren Versuche, sich der Mainstream-Ästhetik und den Mainstream-Werten zu widersetzen. Zu dieser Zeit sah ich Smarts im Internet. Anhand ihrer Bilder und Texte hatte ich das Gefühl, dass Smarts ein paar drittklassige College-Studenten waren. Es fiel mir schwer zu verstehen, warum manche Leute die Initiative ergreifen, um sich selbst zu diffamieren, zu demütigen, hässlich zu machen, sich als dumm zu beschimpfen und sich über ihren eigenen „edlen“ Titel lustig zu machen. Aber sie haben so lange durchgehalten, und so viele Menschen haben mitgemacht – ist das nicht eine Art kultureller Widerstand?

Erst sehr spät wurde mir klar, dass ich im Internet nie wirkliche Smarts gesehen hatte – was ich gesehen hatte, waren Bewegungen zur Diffamierung der Smarts. Was auch immer für eine Art von Widerstand [ich sah], das war ein falscher Eindruck, den ich von Leuten bekommen hatte, die versuchten, sie zu diffamieren.

NS: In einem Vortrag hast du erwähnt, wie die Kluft zwischen Stadt und Land in der Nicht-Mainstream-Kultur um 2007 auftauchte. Um 2010 begann die Stigmatisierung der Smarts im Internet. Warum haben sich diese Veränderungen zu diesen Zeitpunkten vollzogen?

LYF: In der Zeit vor und kurz nach den Olympischen Spielen 2008 entstand eine große Kluft zwischen dem ländlichen und dem städtischen China. Informationen von außen strömten herein, und viele Menschen begannen auch, ins Ausland zu gehen – die Gesellschaft veränderte sich massiv. Dies hatte jedoch viel mehr Einfluss auf die Stadtbewohner: Ihre Gehälter stiegen, und die Menschen, die sich zuvor mit „nicht-mainstreamiger“ (非主流) Mode beschäftigt hatten, sogar mit „ketzerischen“ (异端) Frisuren, begannen, einen Sinn für anspruchsvolle Ästhetik zu entwickeln.

Für die Wanderarbeiter änderte sich das Umfeld jedoch nicht so stark. Sie arbeiteten weiterhin zu hart. Wenn du jeden Tag zehn bis fünfzehn Stunden arbeitest und nur nachschaust, wie viele Leute deinen QQ-Space jeden Tag besuchen, reicht es, wenn ein paar mehr Besucher kommen, um dir ein Gefühl der Erfüllung zu geben, damit du glücklich schlafen gehen kannst. Ein anderes Hobby war es, zu sehen, was der eine oder andere Star in letzter Zeit mit seinen Haaren gemacht hat, und herauszufinden, ob man dasselbe tun kann. Die meisten Menschen befanden sich genau in dieser Situation.

Bei einem so schnellen Arbeitstempo, unter extremem Druck und Depressionen, braucht man – die Arbeiter – etwas besonders Starkes, wie eine Frisur abseits des Mainstreams. Zu dieser Zeit gab es den Begriff „ländliche Gegenkultur“. Unter den Nicht-Mainstream, in den Subkulturen, gibt es viele verschiedene „Familien“ oder „Clans“, und die Smarts sind nur ein Teil davon. Zum Beispiel die Cruel Snow-Family, die hauptsächlich Dinge online verkauft, um dir dabei zu helfen, einen wirklich cool aussehenden QQ-Space einzurichten, oder die Buried Love-Family, die sich selbst als sehr deprimiert darstellt und Sprüche sagt wie: „Mein Herz ist gebrochen, ich kann seit zehn Jahren nicht mehr lieben“ oder „Meine Liebe ist seit drei Jahren begraben“ – diese Art von beziehungsbezogenem Zeug. Aber der Begriff „smart“ [shamate, übersetzt aus dem englischen Wort „smart“] schaffte es aus diesem speziellen Kreis [der Teilnehmer an „Nicht-Mainstream“-Mode] heraus, und die Leute im Internet begannen, diesen Begriff auf jeden mit dieser Art von Frisur anzuwenden.

Vor 2010 wusste niemand etwas über Smarts, sie waren nur in ihrem eigenen Kreis. Und die Smarts verstanden die Außenwelt nicht – sie hielten sich für die modischsten Menschen in China und posteten überall in den sozialen Medien Bilder. Sie sahen, dass das Li Yi-Forum auf Baidu sehr beliebt war, also posteten sie Bilder von Li Yi. Zu dieser Zeit waren allzu aufrichtige Accounts wie Sister Furong immer noch sehr beliebt – als die Leute also die Smarts entdeckten, hatten sie etwas anderes gefunden, über das sie sich lustig machen konnten, und ist das nicht ein angenehmer Ort?

NS: Etwa ab 2013 verschwand die Smart-Kultur allmählich. Warum gab es einen plötzlichen Anstieg von Leuten, die sich online über die Smart-Kultur lustig machten? Was ist aus deiner Sicht der Hintergrund dafür?

LYF: Zu dieser Zeit war die Diaosi-Kultur (屌丝) populär3. Eigentlich ist die Diaosi-Kultur keine klar definierte Gruppe, und ihr Selbstvertrauen war nicht allzu schlecht: Die Menschen in der Gruppe hatten das Gefühl, dass ihre Talente einfach noch nicht erkannt worden waren. Diaosi und smart sind nicht dasselbe: Die Diaosi erkennen die Kultur der Eliten immer noch an und billigen sie, nur die Eliten erkennen sie nicht an. Zu dieser Zeit hatten die Diaosi eine Welle von anderen Kulturen, denen es schlechter ging als ihnen selbst, aufkommen sehen, und es ist eine weit verbreitete Mentalität, auf [anderen] herumzuhacken.

Die gesamte Gesellschaft existiert innerhalb einer Elitenkultur oder eines rationalen Systems. Was nicht mit den Regeln übereinstimmt, muss immer unterdrückt werden. Außerhalb dieser [Unterdrückung] kann es keine andere Form der Beziehung geben; wir sind nicht einmal bereit, ein grundlegendes Verständnis dafür zu entwickeln, was etwas ist, das nicht mit den Regeln übereinstimmt. Was ich interessant finde, ist, dass so viele der Leute, die sich in QQ-Gruppen, die nicht dem Mainstream entsprechen, einschleichen, Leute aus der Gruppe werfen und ständig die [Online-]Familien der Leute auseinanderreißen, Diaosi sind.

Diaosi akzeptieren die Elitekultur: Die Elitekultur sagt, dass Smarts hässlich sind, dass ihre Ästhetik problematisch ist. Die Diaosi verstehen absolut nicht, dass Ästhetik ein kulturelles Konstrukt ist. Sie glauben, dass die Randkultur keine subjektive Angelegenheit ist. Wenn sie also einen einsamen Smart sehen, sehen sie das als eine Gelegenheit, sich abzureagieren. Das heißt, um zu beweisen, dass sie „elitär“ sind, schlagen sie auf die Smarts ein. Ist ein solches Verhalten in Ordnung?

Die gesamte Gesellschaft befindet sich in einem ständigen Prozess der Standardisierung, was es schwierig macht, Menschen wie Smarts zu tolerieren. Die Diaosi haben erwartet, dass sie von der breiten Masse anerkannt werden, wenn sie ihre Talente verwirklicht haben, aber Smarts wissen nicht einmal, was „Elite“ ist. Eigentlich hatte das Wort „Diaosi“ immer noch eine kleine Konnotation von Widerstand, einen Stolz, den es heute nicht mehr gibt, wenn [Angestellte – white collar youth] sagen, dass sie [nur] „einfache Arbeiter“ (dagongren) oder „996“ [die zwölf Stunden am Tag sechs Tage die Woche arbeiten] sind.

NS: Du hast gesagt, dass du bei den Dreharbeiten zu deinem Dokumentarfilm festgestellt hast, dass die Smarts Angst vor der Welt hatten, was es schwierig machte, Interviews zu führen. Was kannst du mir über die Schlägereien erzählen, die um 2013 herum stattfanden?

LYF: Es gab einige Leute, die dachten, dass die Frisur von Smarts und ihre Art, online zu sprechen, zu arrogant seien, also wollten sie sie einfach verprügeln. Als Luo Fuxing in der Mittelschule war und gerade im Internet berühmt geworden war, hatte er online seine eigene [smarte] „Familie“. Aus diesem Grund wurde er in der Schule geschlagen und beleidigt, was der Hauptgrund dafür war, dass er die Schule abbrach. Einige Smarts erwähnten auch, dass sie beim Essen in Kunming von Leuten an einem anderen Tisch zu Boden gedrückt wurden und ihnen die Haare abgefackelt wurden.

Früher, als Smart noch eine Art Mode war, hielt das niemand für schlimm. Aber als die öffentliche Meinung zu der Überzeugung kam, dass Smart schlecht sei, wurde Smart von Außenstehenden verteufelt. Ein Smart erzählte mir, dass er in einem Industriegebiet arbeitete und nicht wusste, dass zu Hause niemand mehr an der Smart-Kultur teilnahm. Als er nach Hause kam, sagten seine Freunde zu ihm: „Beeil dich und wasch dir die Haare. Immer wenn Leute mit einer schicken Frisur nach Hause kommen, werden sie verprügelt.“ Ein anderer Smart erzählte mir von einer ganz anderen Situation: Früher war er auch Smart, aber später wechselte er die Seiten und schlug die Smarts. Als ich ihn nach dem Grund fragte, sagte er: „Keiner von uns macht mehr mit, wir denken, es ist nichts Ernstes, aber du bist hier und spielst immer noch damit herum.“ In den Industrievierteln wird ein einsamer Smart oft verprügelt, nachdem er ein Mädchen nachts nach Hause begleitet hat. Die Wurzel all dessen ist eine blinde Gefolgschaft gegenüber der Ästhetik der Mainstream-Kultur.

NS: In der Vergangenheit waren Smarts und andere Nicht-Mainstream-Kulturen oft die Zielscheibe der Witze. Jetzt machen sich Netizens4 auch gerne über Mukbangs [Ess-Shows] und Videos mit ländlichen Themen lustig. Gibt es zwischen diesen beiden Trends irgendwelche Gemeinsamkeiten?

LYF: Es gibt hier eine Gemeinsamkeit. Wir können sehen, dass die urbane Popkultur eine Art „Gegenangriffskultur“ ist: Sie ist gegen die Mainstream-Kultur gerichtet. In den Städten sagen einige junge Leute zum Beispiel: „Wir sind so ’subkulturell'().“ Sie denken, das macht sie cool und sie fühlen sich bestätigt. Aber sie identifizieren sich nicht mit den Smarts oder den Livestream-Moderatoren auf Kuaishou [einer Online-Streaming-Plattform, die sich an junge Wanderarbeiter richtet], also akzeptieren sie sie nicht als Gegenkultur.

In dem Dokumentarfilm We Were Smart sagt eine Smart-Frau: „Selbst wenn diese Sache (die Teilnahme an der Smart-Kultur) falsch wäre, würde ich es trotzdem tun“. Und Luo Fuxing sagt: „Ich habe mich selbst zu einem schlechten Kind gemacht.“ Er hielt sich selbst nicht für beeindruckend und dachte sogar, dass er sich irren könnte. Sie betrachteten Smart als Mittel zum Selbstschutz. Bei Livestreamern ist es ähnlich: In ihrem Herzen denken sie: „Wenn du sagst, ich bin dumm, dann bin ich dumm. Aber ich muss einfach gesehen werden.“

Der Unterschied ist, dass du, wenn du „vulgäre“ Videos auf Kuaishou drehst, davon profitieren kannst: Es hat einen kommerziellen Aspekt. Wenn dein Video auf Kuaishou empfohlen wird, können sich die Belohnungen für Livestreaming komplett ändern. Dazu gehört auch ein Fake-Smart, der auf Sina Weibo zum „Big V“ [verifizierter Nutzer mit über 500.000 Followern] wurde: Das ist alles eine Art Fankultur. Aber Smarts haben keinen Nutzen, sie sind nichts weiter als Anzeigen, die beim Scrollen durch die QQ-Pinnwand auftauchen: gelbe Raute „Adel“, lila Raute „Adel“ und so weiter. Diese Elitestatus (gelbe Raute, violette Raute usw.) haben nichts mit der Rangordnung zu tun, sie dienen nur der Show (办家家). Sie bedeuten nicht, dass ich ein Herzog bin, sie bedeuten nur, dass ich mehr kann als du, ein Graf. Man kann höchstens 5 Yuan bezahlen, um einer smarten QQ-Gruppe beizutreten. In der Smart-Kultur geht es eher darum, in einer Gruppe zu bleiben, um sich gegenseitig zu trösten.

Persönliche Erfahrungen können die Blase der Online-Wahrnehmung der Realität durchstoßen.

NS: Manche sagen, dass man auf Kuaishou eine andere Seite Chinas sehen kann, eine andere Art von „Kulisse“: Dokumentarfilme, die diese Generation realistisch darstellen. Stimmst du als Dokumentarfilmer dieser Einschätzung zu?

LYF: Als ich meine Leute bat, Videos zu sammeln, war ich zunächst von dem Kurzvideoformat von Kuaishou inspiriert. Damals habe ich die Kuaishou-Videos nicht direkt verwendet. Es ging in erster Linie darum, die Veröffentlichungsrechte zu erhalten, aber auch technisch gesehen gab es keine Möglichkeit, sie zu verwenden. Die Videos, die die Mitarbeiter schickten, waren mit Spezialeffekten versehen und zu kurz: Die meisten waren nur ein paar Sekunden lang und liefen in einer Schleife. Einige Videos hatten nicht einmal den Originalton, sondern waren nur mit einem Lied überlagert.

Clips, die das echte Leben filmen, sind auf Kuaishou zu selten. Die meisten Aufnahmen auf Kuaishou sind zu Unterhaltungszwecken gemacht worden. Die meisten Leute, die Videos produzieren, kommen aus einer Art Fankultur, und sie stellen Videos ein, weil sie Leute anziehen und Likes bekommen wollen. Dokumentarfilme hingegen werden gemacht, um die Umgebung zu reflektieren. Einige Kuaishou-Videos entfernen sich gerade dann vom realen Leben, wenn sie es widerspiegeln sollen, und sie verwenden einen unterhaltsamen Stil oder Filter, um das Video zu bearbeiten.

NS: 2005 hast du dein erstes Werk Before the Flood (淹没) veröffentlicht, einen von dir und Yan Yu gedrehten Dokumentarfilm. Wie bist du von deinem früheren Beruf zum Dokumentarfilmer geworden?

LYF: Ich habe an der Central Academy of Drama studiert. Zu dieser Zeit lief das Theater nicht gut: Die meisten Leute wollten [Spiel-]Filme oder Fernsehsendungen drehen. Ich war nicht geeignet für kollektive Arbeit, kollektives Schaffen – man musste eine Menge Leute managen, Mut und Verstand mit der Crew messen, Sponsoren finden, Schauspieler suchen und so weiter – also gab ich diese Art von Arbeit auf. Ich konnte erwachsen werden, als ich das Sichuan Fine Arts Institute in Chongqing besuchte, wo es mehr Künstler gab.

Nach meinem Abschluss 1992 ging ich nach Guangzhou und war in einer Werbeagentur für das Fotografieren von Anzeigen zuständig. Noch bevor ich zwei Jahre in der Firma gearbeitet hatte, kündigte ich, um selbständig Werbung zu machen. Im Jahr 1994 ging ich nach Peking, um einen Werbefilm über die moderne Landwirtschaft zu drehen. Da ich nicht wirklich etwas von Landwirtschaft verstehe, habe ich ganz am Anfang angefangen und Bücher über Landwirtschaft und Soziologie gelesen. Ich verbrachte vierzig bis fünfzig Tage mit der Lektüre von Büchern im Gemeinschaftszentrum der Allchinesischen Gewerkschaftsföderation (职工之家).

Danach kehrte ich nach Guangzhou zurück und zog neben der Provinzbibliothek ein, wo ich viel mehr las. Damals fühlte ich mich im Zwiespalt: Bücher lesen und Geld verdienen standen im Widerspruch zueinander, und das Drehen von Werbespots empfand ich als sinnlos. Nach zwei Jahren kehrte ich nach Chongqing zurück. Ich habe nichts gemacht, bin nur zu Hause geblieben und habe gelesen oder bin durch die Stadt gelaufen, um zu sehen, was die verschiedenen Künstler machen. So ging es etwa fünf Jahre lang.

Im Jahr 2000 kam ein Klassenkamerad nach Chongqing und sagte, dass er in die Digitaltechnik einsteigen wolle. Jemand lieh ihm eine digitale Videokamera und er drehte einen Dokumentarfilm über altmodische Friseure. Ich hielt das für eine gute Idee, also kaufte ich eine Kamera und drehte meinen eigenen Dokumentarfilm. Während der Dreharbeiten zu Before the Flood habe ich gleichzeitig gelernt, gehandelt und gedacht. In diesen ersten Jahren drückte ich [beim Filmen] tatsächlich meine Wünsche aus. Nachdem ich so viele Jahre mit Lesen verbracht hatte, wollte ich es auch wissen: Was zum Teufel war mit China los?

Ich blieb 11 Monate lang in Fengjie, alle vier Jahreszeiten hindurch, und kehrte nur zweimal nach Chongqing zurück, um Kleidung zu holen. Jeden Tag verließ ich mein Zuhause früh und kehrte spät zurück. Viele Dinge, die ich erlebte, haben bis heute einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen. Das Erlebnis, das den stärksten Eindruck hinterließ, hat es nicht in den Film geschafft. Ich hatte einen Mitarbeiter eines Abbruchunternehmens gefilmt, der einen tödlichen Stromschlag erlitten hatte: Der Leichnam lag drei oder vier Tage lang da. Seine Frau stand daneben und weinte, aber niemand schenkte ihr Beachtung.

Was ist eine Umsiedlungsentschädigung (赔偿), und was ist eine Umsiedlungsrückerstattung (补偿)? Entschädigung ist, wenn jemand deine Schüssel kaputt macht, dann bekommst du eine Schüssel. Rückerstattung bedeutet, dass sie dir einen Löffel geben, wenn deine Schüssel kaputt geht. Die Wiederansiedlungspolitik ist eine Rückerstattung, keine Entschädigung. Gewöhnliche Menschen sagen: „Was Sie sagen, klingt gut, aber wo soll ich leben?“ Ich habe viele Dinge gesehen, darunter die Beziehung zwischen dem Kollektiv und dem Einzelnen, was auf den untersten Ebenen geschieht und wie bescheiden der Einzelne inmitten der großen Ereignisse ist.

NS: Beim Drehen von Dokumentarfilmen sprichst du oft von „leibhaftigen Erfahrungen“. Kannst du dieses Thema im Detail besprechen?

LYF: Wenn man einen Dokumentarfilm dreht, kann man vielleicht das Internet nutzen, um nach Material zu suchen oder die beteiligten Personen zu interviewen. Aber das ist nicht meine Erfahrung. Selbst wenn ich viele Informationen [online] bekomme, möchte ich immer noch in Shipai leben, in die Heimatstädte der Smarts gehen und das Land durchstreifen. Das kann die Herangehensweise bestimmen, die ich bei der Bearbeitung wähle, die Gewichtung, die ich den Ereignissen gebe: einige berührende Elemente betonen und andere minimieren. Dies ist das besonders wichtige Element der „leibhaftigen Erfahrung“.

Wenn wir heute Dinge online sehen, können wir nicht wissen, ob sie wahr oder falsch sind, wir müssen sie mit eigenen Augen sehen. Nur wenn man der betreffenden Person von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht, kann man ihren Standpunkt, ihre Logik und ihre Argumente kennen lernen.

Wenn man in der Heimatstadt eines smarten Menschen wohnt, stellt man fest, dass ihre Häuser extrem heruntergekommen sind, aber sie haben eine sehr schnelle Internetverbindung. Wenn du nicht hinfährst, hast du keine Möglichkeit, diese Art von Absurdität zu erleben. Wenn man nicht von Shanghai in die Bergregionen von Yunnan und Guizhou reist, bekommt man kein Gefühl für die zweihundertjährige Kluft [in der Entwicklung] zwischen den verschiedenen Regionen Chinas. Online könnte man den Eindruck gewinnen, dass es sich bei diesen Orten um kleine, friedliche Städte inmitten einer wunderschönen Landschaft handelt. Man kann nicht erkennen, dass diese schönen Orte einen Menschen nicht ernähren können, dass er sie verlassen muss, um zu arbeiten. Körperliche Erfahrungen können die Bilder der Realität, die Sie online oder durch Propaganda erhalten haben, durchbrechen und Ihre Eindrücke von der Realität verändern.

Wenn wir über Daten sprechen – zum Beispiel, dass Arbeiter zehn oder elf Stunden arbeiten – hinterlässt das keinen Eindruck bei Ihnen. Erst wenn man sieht, wie sie von der Arbeit kommen und wie erschöpft sie sind, wenn man sieht, wie die Arbeiter am Straßenrand sitzen, ohne dass jemand spricht – manche schauen auf ihr Telefon, andere schauen überhaupt nicht -, erst dann kann man diese Art von Erschöpfung begreifen.

NS: Du sprichst oft davon, dass die Methoden, die die heutigen Apps zur Verbreitung von Inhalten verwenden, einschließlich Algorithmen und KI, zu einer stärkeren Segmentierung der verschiedenen Gesellschaftsschichten führen können. Kannst du das genauer erläutern?

LYF: Bei den Wahlen in den USA pusht jede [Fraktion] ihre eigenen [Inhalte]; jeder sieht nur die Teile, die er verstehen will. Wenn man sich ständig mit einer Sache beschäftigt, wird das Gewicht, das das Gehirn ihr beimisst, noch stärker. Wenn andere Informationen auftauchen, ignorierst du sie vielleicht. Die Informationen, die du über dein Telefon erhältst, haben mehr Gewicht, viel mehr als Informationen aus dem wirklichen Leben. Viele Menschen vertrauen auch den Informationen, die sie über das Telefon erhalten und die damit zur Realität werden.

Bevor wir in Shipai ankamen, hatten wir keine Smarts auf Wechat oder Kuaishou hinzugefügt, wir hatten ihre Beiträge noch nicht gesehen. Wenn sie ihr Telefon einschalten, dann nur für die Arbeitssuche, für die Nutzung von Apps für die Arbeit, um zu überprüfen, wie viel Geld sie noch haben, und für diese Art von Informationen. Für diese jungen Leute ist dies das einzige Thema, mit dem sie etwas anfangen können – niemand interessiert sich für die US-Wahlen. Sie gehen nicht ins Kino, um Filme zu sehen, und die meisten können nicht nach Guangzhou oder Shenzhen fahren, da sie nicht genug Geld zusammenbekommen. Als wir den Klatsch und Tratsch über Unterhaltungsstars zur Sprache brachten, interessierte sie das auch nicht. Was sie besprachen, war etwas ganz anderes als wir. Handys haben diese Art von Kluft absolut nicht überbrückt.

Die Algorithmen und Empfehlungen von Handy-Apps haben einen größeren Einfluss auf die Städter. Sie können dazu führen, dass diese Generation, vor allem junge Städter, besonders engstirnig werden, weil sie mehr Zeit am Telefon verbringen. Arbeiter verbringen die meiste Zeit bei der Arbeit und den Rest der Zeit schlafend und sind im Alltag einem größeren Druck ausgesetzt.

Er kann nur im Fabrikviertel leben; in der Innenstadt und selbst in den Dörfern fühlt er sich unwohl.

NS: Der Protagonist von We Were Smart, Luo Fuxing, hat beim Dreh des Dokumentarfilms viel Hilfe geleistet. Er hat sich zum Beispiel die Slogans ausgedacht, mit denen er Smarts als Helfer für den Film rekrutieren wollte: „Keine Einzahlung erforderlich“ und „Ein Tageseinkommen von 1.000 Yuan ist zum Greifen nah“. Inwiefern hat er dich inspiriert, nachdem du schon so lange mit ihm in Kontakt bist?

LYF: Später wurde mir klar, dass die Logik der Arbeiter und unsere Logik nicht dieselbe ist. Als Luo Fuxing sagte, dass „keine Einzahlung erforderlich“ sei, lag das daran, dass viele Menschen online betrogen wurden, wobei der Betrug mit einer Einzahlung begann. Viele Kinder sind durch Schneeballsysteme betrogen worden. Eigentlich nicht, weil sie Geld verdienen wollen, sondern weil sie von Mädchen dazu verleitet wurden, mitzumachen. Ein Mädchen sagte: „Wenn du mitmachst, werde ich dich heiraten.“ Sie traten ein und konnten erst wieder aussteigen, als sie um ihr ganzes Geld betrogen worden waren.

Während der Zusammenarbeit geriet ich oft in Konflikt mit Luo Fuxing. Manchmal unterhielt ich mich mit Wu Ya, dem Kameramann, über Kaffee oder etwas, das auf internationaler Ebene passiert war, und Luo Fuxing wurde sehr wütend und ging am nächsten Tag nicht zur Arbeit. Er glaubte, man habe ihn übersehen; er dachte, wir wollten nur angeben.

Langsam lernte ich auch, meine Gesprächsmethoden mit den Arbeitern zu ändern und ihre Denkweise zu verstehen. Einmal kam zum Beispiel ein Journalist, um die Smarts zu interviewen, aber sie wollten bezahlt werden. Der Journalist sagte, dass dies gegen die journalistische Ethik verstoßen würde. Ich bin der Meinung, dass Ihre Ethik vielleicht richtig ist, aber Ihre Ethik beansprucht die Zeit anderer Leute. Die Arbeiter in der Fabrik messen ihre Zeit in Geld: Die Fabrik hat festgelegt, dass eine Stunde 20 Yuan wert ist.

Im Laufe des Gesprächs mit Luo Fuxing kam so etwas recht häufig vor. Langsam stellt man fest, dass die eigenen Gedanken nicht so klar sind wie die der Intellektuellen, und einige Dinge haben sich geändert.

NS: In dem Dokumentarfilm sagt Luo Fuxing, dass er sich besonders davor fürchtet, nach Shenzhen zu gehen. Ist dieses Phänomen unter Smarts und anderen jungen Arbeitern weit verbreitet?

LYF: Damals fand die Zhejiang-Show „Dreams Come True“ Luo Fuxing und wollte ihm helfen, einen Friseursalon in Shenzhen zu eröffnen. Ich begleitete ihn in die Stadt: Er sah sich Mietinformationen an und schaute sich die Ladenlokale in der Stadt an, aber am Ende kehrte er doch in das Fabrikviertel zurück. Er hatte das Gefühl, dass dies der einzige Ort war, an den er gehörte, der einzige Ort, an dem er bestehen konnte. In anderen Teilen der Stadt fühlte er sich unwohl, auch wenn es nur das Stadtviertel war. Die Menschen dort sprachen alle über Dinge, die ein Smart nicht verstehen konnte.

Die Segmentierung des Perlflussdeltas ist sehr offensichtlich. Städtische Dörfer, wohlhabende Gegenden und Angestelltenviertel (white-collar districts) sind unterschiedliche Räume. Stadtmenschen können in die städtischen Dörfer gehen, aber sie werden niemals in die weit entfernten Fabrikbezirke gehen. Das Leben der Smarts spielt sich in den Fabrikvierteln ab, und so verstehen sie auch das Leben in der Stadt nicht: Sie sind abgeschnitten [vom Rest der Welt] und segmentiert. In den Fabrikvierteln kann man sein ganzes Leben verbringen, ohne jemals ein Apple-Ladekabel zu kaufen. Die städtischen Dörfer in Shenzhen und Guangzhou haben alle unterschiedliche Merkmale, sind aber dem Leben in der Stadt selbst sehr ähnlich. Zum Beispiel sind Snacks wie der doppelschalige Milchpudding (双皮奶) im Stadtdorf vielleicht etwas billiger, aber die Qualität unterscheidet sich nicht so sehr von dem, was man in der Stadt isst. Im Fabrikviertel ist er zwar immer noch billiger, aber die Qualität hat sich völlig verändert: Er schmeckt überhaupt nicht mehr nach Pudding. Die Fabrikbezirke unterscheiden sich gar nicht so sehr voneinander, ganz gleich, ob sie in Guangdong, Fujian, Zhejiang oder Sichuan liegen. Die Fabrikbezirke bestehen ausschließlich aus Enklaven für Menschen, die nicht aus der Stadt kommen – sie sind eher wie auf dem Land.

NS: Was wissen wir sonst noch nicht über Smarts?

LYF: Auf dem Gipfel eines Berges in Guizhou traf ich einen Smart, der in seiner Heimatstadt 3500 Yuan im Monat verdiente. Er spendete gerne online (打赏) an andere Smarts und gab dafür bis zu 5000 Yuan im Monat aus. Ein anderer Smart hat sich zu diesem Zweck sogar Geld geliehen, weil er der Meinung war, dass dies seinen Stolz auf seinen Smart (A.d.Ü., Dasein) zeige und eine Atmosphäre der Zugehörigkeit schaffe. Die Erfahrungen der Smarts sind sehr ähnlich. Zum Beispiel die Erfahrung, ein zurückgelassenes Kind zu sein, oder dass einem die Tasche gestohlen wird, sobald man aus dem Zug [in die Stadt] steigt. Oder „als ich eine Mitfahrgelegenheit in einem Motorradtaxi bekam, wurde ich betrogen: Beim Einsteigen sagte mir der Fahrer, es würde zehn Yuan kosten, aber als ich ankam, sagte der Fahrer, ich müsse 100 bezahlen.“ Sie nutzen einen gemeinsamen ästhetischen Stil, eine gemeinsame Frisur und Erfahrung, um ein Gefühl der Gemeinsamkeit zu schaffen (同温层).

Außerdem sagen die Leute, dass das Lied „Smart Meets Wash, Cut, Dry“ (洗剪吹) gar nicht von ihnen stammt, Smarts hören sich das Lied gar nicht an. Als wir zusammen nach Yunnan und Guizhou fuhren, um die Smarts-Landschaft zu sehen, fuhren wir mit dem Auto. Ich hatte einen Bluetooth-Lautsprecher dabei, und auf der ganzen Fahrt hatte ich noch nie eines der Lieder gehört, die sie spielten. Ich konnte sie nicht ertragen, der Rhythmus war so repetitiv, dass es wie eine Gehirnwäsche war.

NS: We Were Smart handelt von vielen individuellen Lebenserfahrungen. Welche Lehren können diese Erfahrungen den heutigen jungen Menschen vermitteln?

LYF: Ich wage nicht zu sagen, wen es aufklären wird. Heutzutage diskutieren die Leute gerne darüber, wer Recht hat und wer nicht, wer wem mehr Aufklärung geben kann. Aber das, was mehr gebraucht wird, ist Ernüchterung (祛魅), um die Dinge im Schatten zu sehen. Manche Menschen könnten die Arbeiter in einem neuen Licht sehen, manche könnten sich selbst sehen. Manche wissen, was „Ketzerei“ wirklich ist, während andere sehen, dass es den Intellektuellen an Empirie fehlt. All das ist möglich, denn mein Versuch [im Film] war nicht im Geiste der Aufklärung gemacht. Das Wichtigste ist, dem Unsichtbaren zu helfen, gesehen zu werden.

Die Macher des Dokumentarfilms We Were Smart, von links nach rechts: Kameramann Wu Ya, Regisseur Li Yifan und der smarte Prominente Luo Fuxing.

 

1A.d.Ü., gemeint ist westliches China.

2Zu den Hintergründen des Donghu Art Plan im Kampf gegen die kommerzielle Entwicklung des East Lake Ecological Reserve in den Außenbezirken von Wuhan siehe „Gleaning the Welfare Fields“ in Ausgabe 1 der Zeitschrift Chuang. Dies wird auch in „When There’s a Fire, We Run“ aus unserem Buch Social Contagion and Other Material on Microbiological Class War in China (erscheint im Oktober 2020 bei Charles H. Kerr) erwähnt.

3Diaosi (wörtlich „Penishaar“) bedeutet so viel wie „Verlierer“. Um 2012 wurde der Begriff von jungen Angestellten (young white-collar ) übernommen, die frustriert darüber waren, dass sie die Ziele, die die Gesellschaft ihnen gesetzt hatte, nicht erreichen konnten – ähnlich wie in jüngster Zeit „flach liegen“ (tangping) von jungen Arbeitern übernommen wurde, die über ihre Erfahrung der „Rückentwicklung“ (neijuan) frustriert waren. Siehe „’’Diaosi’: Understanding China’s Generation X“ und „China’s underdog youth find success in ‘diaosi’ – or ‘loser’ – identity.“.

4A.d.Ü., so wie citizens (Staatsbürger) sind Netizens Bürger des Internets.

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(Chuang Kollektiv, China) Covid, Kapitalismus, Streiks und Solidarität: Ein Interview mit Asia Art Tours https://panopticon.blackblogs.org/2020/12/08/chuang-kollektiv-china-covid-kapitalismus-streiks-und-solidaritaet-ein-interview-mit-asia-art-tours/ Tue, 08 Dec 2020 08:58:48 +0000 http://panopticon.blackblogs.org/?p=1942 Continue reading ]]> Gefunden auf der Seite Chuangcn, die Übersetzung ist von uns

Einleitende Wörter, das Chuang Kollektiv leistet durch Übersetzungen, Reportagen und Kommentare einen wichtigen Beitrag zur Verbreitung des Wissens über den Kapitalismus in China und des dort stattfindenden Kampf gegen diesen, der von anarchistischen und kommunistischen Kräften geführt wird. Wir haben uns entschieden dieses Interview zu veröffentlichen, da wir denken, dass es neben den Einblicken zur Situation in China, wichtige Überlegungen zu der Frage wie die viel beschworene internationale Solidarität im Allgemeinen praktisch und wirkmächtig umgesetzt werden und somit mehr sein kann als nur ein leere Phrase. Eben nicht nur eine Phrase bleibt, die heute mehr denn je von den Herrschenden angeignet (rekuperiert) und komplett ihres Gehaltes beraubt wird, diesen Begriff von jeglichen inflationären ideologischen (falsches Bewusstsein) Ballast zu befreien und diesen Begriff aus der Sicht seines historischen Inhaltes und Erfahrungen zu verstehen und zu praktizieren.

Covid, Kapitalismus, Streiks und Solidarität: Ein Interview mit Asia Art Tours

von chuang | 20. November 2020

Asien Kunst-Touren: Wie ihr in eurem Artikel über Covid-19 (ähnlich wie die Werke von Mike Davis oder Achille Mbembe) umreißt, sind Pandemien und andere Umweltkatastrophen unter der Nekro-Politik des Kapitalismus unvermeidlich. Hat es innerhalb Chinas, das das Risiko eingehen musste (und bitte sagt mir, ob ich übertreibe), Wuhan zu „opfern“, um die Epidemie einzudämmen, Überlegungen der Regierung oder eine groß angelegte Umgestaltung der kapitalistischen Praktiken gegeben, die Covid-19 in China entfesselt haben? Darüber hinaus, was sagt uns die Behandlung von Nicht-Weißkragenarbeitern und Migranten darüber, wie China (und das globale Kapital) während der nächsten (unvermeidlichen) biologischen oder ökologischen Krise in der Zukunft mit Arbeit umgehen wird?

Chuang () : Es ist nicht klar, was du mit „opfern“ von Wuhan meinst. Als Epizentrum sollte es natürlich unter viel strengere Kontrollen gestellt werden, aber lasst uns hier keine hyperbolische Sprache verwenden, denn „opfern“ klingt, als hätte es eine Sci-Fi-Zombie-Plage gegeben, und die Regierung debattiert, ob sie einen Luftangriff durchführen soll. Die Situation war nie so ernst. Wenn du ein Beispiel für „Opfer“ haben möchtest, dann schlage ich vor, du schaust dir die Politik der USA an (die von allen großen industriellen Interessen vorangetrieben wird, mit Ausnahme der wenigen, die von Telearbeit oder elektronischem Handel profitieren), wo Hunderttausende von Menschen unverhältnismäßig arm sind, was in den USA auch ein rassisches Missverhältnis impliziert – sie sind buchstäblich geopfert worden, um den Bedürfnissen der Wirtschaft zu dienen. Die Zahl der Todesopfer ist enorm. Nimmt man all diejenigen, die in der gesamten Provinz Hubei am Covid-19 gestorben sind, so würden sie nicht einmal zehn Prozent der Sitzplätze in einem durchschnittlichen American-Football-Stadion ausfüllen. Selbst wenn man alle gemeldeten Todesfälle in ganz China mitzählen und die Zahl verdoppeln würde, weil man vermutet, dass sie zu gering ist, hätte man immer noch nicht einmal genug Leichen, um auch nur ein Drittel eines durchschnittlichen Stadions zu füllen. Nimmt man aber all diejenigen, die in Amerika an der Krankheit gestorben sind, dann könnte man jeden einzelnen Menschen in einer Stadt von der Größe von Richmond, Virginia, durch eine Leiche ersetzen und hätte immer noch tote Überreste. Das ist eine düstere Metapher, aber der Punkt ist, dass das, was in Wuhan passiert ist, in jeder Hinsicht ein großer Erfolg gewesen wäre, verglichen mit buchstäblich jeder amerikanischen Großstadt.Was die zweite Hälfte der Frage betrifft, so ist die Antwort im Grunde einfach: Nein. Erinnern wir uns zunächst daran, dass dies kein unschuldiger Fehler ist. Es ist nicht so, dass sich die großen Agrarkapitalisten des Problems nicht bewusst wären – schließlich müssen sie jede Saison Millionen für Impfstoffe, Antibiotika usw. für ihr Vieh ausgeben – oder dass die Regierung sich des Problems nicht bewusst ist oder es nicht regulieren will: SARS hat sie über das Problem aufgeklärt und ihnen sicherlich geholfen, die Methoden vorzubereiten, die schließlich im Hinblick auf diese jüngste Pandemie angewandt wurden. Aber all dies kann nichts an der grundlegenden Anforderung ändern, die in das System eingebaut ist: Rentabilität. Es gibt keine Möglichkeit, rentabel in einem Maßstab zu produzieren, der nicht diese ökologischen Gräben erzeugt: sowohl makroökologisch als auch mikrobiologisch. China ist eine kapitalistische Gesellschaft, die von einer kapitalistischen Klasse regiert und von kapitalistischen Imperativen getrieben wird, unabhängig davon, was rechte Politiker dagegen sagen mögen. Daher muss „die Regierung“, die in China ein ziemlich gut organisiertes Bündnis aller führenden Fraktionen der kapitalistischen Klasse bedeutet, in erster Linie den Bedürfnissen der Akkumulation dienen. Alles andere ist zweitrangig.

Abgesehen davon können wir hier natürlich einige wichtige Lehren daraus ziehen, wie der chinesische Staat mit seinen Problemen der mangelnden Leistungsfähigkeit umgegangen ist. In der Vergangenheit war es für den Staat äußerst schwierig, seine Autorität bis auf die lokale Ebene „durchzudrücken“. In vielen Fällen bedeutete dies eine ziemlich langfristige Dezentralisierung der Macht auf lokaler Ebene. Das traf insbesondere auf die Dörfer zu, wo die Vermarktung mit dem Rückzug der direkten Aufsicht sowie mit dem Aufkommen aller Arten neuer balkanisierter lokaler Regierungsbehörden einherging. Das bedeutete aber auch, dass in diesen Gebieten neue hybride lokale Regierungsmechanismen entstanden, wie das Dorfbewohnerkomitee (村委会), das zwar technisch gewählt wird, in der Praxis aber dazu neigt, von lokalen Eliten dominiert zu werden, die oft durch Erblinienverbände (家族) in Zusammenarbeit mit lokalen Zweigen der KPCh organisiert sind – oft begannen diese Verbände gleichzeitig in lokale Komitees und lokale KPCh-Zweige einzutreten. In städtischen Gebieten gibt es einen gleichwertigen Mechanismus, den so genannten Einwohnerausschuss (居委会), der offiziell die unterste Ebene der staatlichen Verwaltung in den Städten darstellt, obwohl er kein offizielles Regierungsorgan ist. In ähnlicher Weise begannen auch die lokalen KPCh-Zweige, sich etwas zu dezentralisieren, so dass mehr lokale Eliten in die Partei eintreten konnten und die lokalen Parteiführer durch ähnliche Wahlmaßnahmen ausgewählt wurden, bei denen es sich ebenfalls fast immer um Scheinwahlen handelte, die durch lokale Eliteinteressen verzerrt waren.

Unter all diesen neuen hybriden Organen der Kommunalverwaltung hatten die ländlichen Dorfkomitees tendenziell mehr Macht und erhielten mehr Aufmerksamkeit, weil sie in alle möglichen Konflikte über Landverkäufe, Investitionen usw. verwickelt sind. Aber im Zusammenhang mit der Pandemie sahen wir, dass die städtischen Bewohnerkomitees tatsächlich eine sehr wichtige Funktion spielten und im Wesentlichen dort eingriffen, wo breitere staatliche Kapazitäten fehlten. Diesen unzähligen kleinen Gruppen, die jeweils etwa vier- bis fünftausend Personen beaufsichtigten, wurde die Hauptverantwortung für die Steuerung des Zustroms von Menschen übertragen, die inmitten des Ausbruchs vom Frühlingsfest zurückkehrten. Diese Komitees waren (in vielen Städten) während der gesamten Tortur der primäre Kontaktpunkt der Menschen mit „dem Staat“, auch wenn diese Beziehung vielleicht indirekt gehandhabt wurde. Sie waren diejenigen, denen man bei der Ankunft in dem Gebiet Bericht erstattete, sie überwachten deine Quarantäne, du hast ihnen deine Gesundheitsdaten zur Verfügung gestellt und sie hatten auch die letztendliche Entscheidungsgewalt darüber, ob du in deine Heimat zurückkehren durftest oder nicht. Es bleibt abzuwarten, wie sich solche Organisationen in der Zukunft entwickeln werden, aber es kann gut sein, dass wir zurückblicken und auf diesen Moment als Markierung für den Zeitpunkt verweisen, an dem China trotz all seiner gegenwärtigen Inkonsistenzen begann, einen wirklich funktionierenden lokalen Staatsapparat aufzubauen. Gleichzeitig trifft es zu, dass diese Komitees in vergangenen Notfällen, wie während SARS oder im strengen Winter 2008, als Dorfkomitees bei der Koordinierung der Nothilfe in Gebieten halfen, die von jeglichem Zugang abgeschnitten waren, eine ähnliche Arbeit geleistet haben. Die aktuelle Pandemie zeigt einfach, dass sie sich in ihrem Umfang, ihrer Reichweite und ihrer Effizienz weiterentwickelt haben – vor allem aber, dass sie jetzt offenbar stärker in die Befehlsketten integriert sind, die etwas direkter mit dem Zentralstaat verbunden sind, auch wenn sie immer noch mit allen möglichen lokalen Eigenheiten operieren. Es handelt sich also weniger um eine plötzliche Veränderung als vielmehr um ein langes Projekt des Staatsaufbaus, das sich in den letzten zehn Jahren beschleunigt hat.

Aus dieser Erfahrung können wir also sagen, dass die Kapazitäten des chinesischen Staates, obwohl sie absolut gesehen schwach bleiben, viel, viel erfolgreicher darin geworden sind, diese Unfähigkeit durch die Übertragung von Macht bis hinunter zu den lokalen Behörden zu bewältigen. Im Allgemeinen können wir dies als ein Beispiel dafür anführen, dass der Staat seine Schwäche klar erkannt hat und versucht, eine von unten nach oben gerichtete Regierungsbasis aufzubauen, indem er viele scheinbar „basisnahe“ Aktivitäten in seine eigenen de facto lokalen Organe einbindet. Es ist hilfreich, dass es neben diesen Einwohnerkomitees auch viele ernsthafte Aktivitäten an der Basis gab, z.B. gegenseitige Hilfeleistungen, um medizinisches Personal mit PSA ( A.d.Ü., persönliche Schutzausrüstung) auszustatten oder die Einrichtung lokaler Quarantäne-Straßensperren zu unterstützen. Diese Aktivitäten zeigten die Unfähigkeit des Staates, aber sie verbargen sie auch, weil sie das Problem im Wesentlichen selbst lösten, wenn auch auf manchmal chaotische Weise (wie zum Beispiel als die Polizei und die Einwohner von Hubei und Jiangxi bei der Wiedereröffnung der Provinzgrenze Ende März zusammenstießen). Die Pandemie war eine wichtige Etappe in diesem Prozess und bewies im Wesentlichen, dass sich die ganze Arbeit des Aufbaus dieser seltsamen hybriden lokalen Verwaltungsorgane erfolgreich ausgezahlt hat und nicht nur (wie viele zum Zeitpunkt ihrer Einführung vorhersagten) zu einer weiteren Balkanisierung in zahlreiche Lehen der lokalen Elite führte (obwohl auch das nicht ganz unwahr ist).

Asia Art Tours: Die Arbeit von Verkaufsstellen wie Chuang, Reignitepress und Lausan, die Artikel aus mehreren Sprachen ins Chinesische übersetzt haben, hat mich sehr ermutigt. Von deinem Standpunkt aus betrachtet, welche globalen Techniken, Strategien oder theoretischen Linsen können Solidarität mit Aktivisten in China oder Nutzen für sie bringen? (All Cops are Bad? Be Water? Black Lives Matter? The Milk Tea Alliance?) Und welche Taktiken, Methoden oder Erkenntnisse von Linken/Kommunisten/Anarchisten in China haben das Potenzial, übersetzt, verbreitet und in anderen globalen Kämpfen eingesetzt zu werden?

Chuang () : Solidarität ist ein chaotischer Begriff, und wir stehen ihm recht kritisch gegenüber – auch wenn wir selbst eindeutig auf einer Ebene der direkten Interaktion mit chinesischen Aktivisten stehen, die weit über das hinausgeht, wozu andere in der Lage sind -, denn das Wort ist meist nur ein leerer Signifikant, mit dem versucht wird, verschiedene Niveaus linker Leistungen zu vergleichen und zu messen, was fast ausschließlich über soziale Medien geschieht und periodisch inszeniertes Schilderhalten beinhaltet. Daran ist nichts Politisches, denn es steckt nichts Materielles dahinter. Im schlimmsten Fall handelt es sich um Dinge wie diplomatische Druckkampagnen, Botschaftsproteste usw., die dazu tendieren, nichts weiter zu tun, als in die innenpolitischen Erzählungen der Rechten von einem neuen Kalten Krieg zwischen dem freiheitsliebenden Westen und den autoritären Chinesen einzuspeisen. Diese Kampagnen werden Schwierigkeiten haben, überhaupt als „links“ verstanden zu werden, da sie, um effektiv zu sein, alle Erwähnungen der sozialistischen, kommunistischen oder anarchistischen Tendenzen ihrer Anhänger verbergen müssen. Und selbst dann gelingt es ihnen nicht, sich sehr effektiv zu verbreiten. Das Ergebnis ist also, dass sie nicht nur unter all den schlimmsten Problemen der alten Strategie der Volksfront leiden (wo sich Radikale unter liberaler Führung mit Liberalen vereinen, um dem Faschismus entgegenzutreten), sondern in diesem Fall sind sie nicht einmal populär. Seien wir ehrlich: Wenn diese Kampagnen etwas Materielles bewirken, dann ist es die Legitimierung rechter Politiker, die neue protektionistische Maßnahmen für die nationale Sicherheit verabschieden, die dazu beitragen, die Macht einheimischer Monopole zu stärken – in der Regel solche, die direkt mit der Infrastruktur der nationalen Sicherheit verbunden sind, wie Oracle, das buchstäblich aus einem gleichnamigen CIA-Projekt ausgegliedert wurde, wobei die Firma gerade eine riesige Investition in TikTok aufgrund eines solchen Gesetzes in den USA belohnt hat. Wenn der Erfolg einer solchen Kampagne bedeutet, dass man sich mit Tom Cotton treffen kann, um bei der Ausarbeitung eines Anti-China-Gesetzes mitzuhelfen, dann ist das vielleicht ein Hinweis darauf, dass man selbst eine Strategie hat, die viel mehr Schaden als Nutzen anrichtet.

Gleichzeitig ist aber auch das Gegenteil der Fall, denn viele ernsthafte westliche Linke erkennen diese Tatsachen schließlich an und wenden sich ganz in die andere Richtung, indem sie Material von Wumao (Online-Trolle, die von der chinesischen Regierung bezahlt werden, um zu ihren Gunsten zu argumentieren) lesen, das den chinesischen Staat gegen jede Kritik verteidigt. Letztlich bieten sie eine Form der „Solidarität“ an, die einen Deckmantel der Legitimität für Dinge wie die Razzia in Hongkong und die Massenbestattung in Xinjiang bietet. Sogar recht prominente linke Kanäle wie der „Monthly Review“ sind in diese Falle getappt. Es ist, ehrlich gesagt, ziemlich ekelhaft zu sehen, wenn diese Publikationen dazu beitragen, Propaganda zu fördern, die darauf abzielt, die zweitgrößte Welle von Massenverhaftungen in der Welt (natürlich nach dem US-Gefängniskomplex) zu vertuschen und sogar ganz zu leugnen. Dies hat sicherlich nichts mit „Solidarität“ zu tun.

Wie kann man also in materieller Hinsicht Aktivisten in China „Solidarität entgegenbringen“? Gegenwärtig können die meisten Menschen dies im Grunde genommen auf keine materielle Weise tun. Auf individueller Ebene kann man natürlich über diese Kämpfe lesen und mehr über die Rolle Chinas im globalen Kapitalismus erfahren. Wir beabsichtigen nicht, diese Art von Aktivitäten abzulehnen. Ihr solltet es tun. Das ist schließlich ein Grund für unsere Existenz. Der Kommunismus ist von Natur aus internationalistisch, und das bringt natürlich die Notwendigkeit mit sich, über die Erfahrungen der größten nationalen Fraktion des globalen Proletariats zu lernen, die in den größten technologischen Komplexen der Welt arbeitet! Aber Bücher lesen ist leider nicht wirklich Solidarität. Wenn man wirklich sehr, sehr interessiert ist, kann man versuchen, einige der Dinge zu tun, die wir getan haben, die etwas materieller sind – das bedeutet, Chinesisch zu lernen, wenn man es noch nicht spricht, zu helfen, diese Erfahrungen zu übersetzen, nach China zu reisen, um direkt mit diesen Arbeitern zu sprechen, und diese Kommunikationslinien, an deren Aufbau wir und die anderen Gruppen, die ihr hier erwähnt (sowie zahlreiche andere) seit vielen Jahren arbeiten, weiter zu verbreitern. Vielleicht können man dies am besten als so etwas wie „Vor-Solidarität“ bezeichnen, denn dies sind notwendige Faktoren, die die Grundlage für das bilden, was sich in der Zukunft zu einer tatsächlichen materiellen Unterstützung und einem echten, praktischen Austausch zwischen den Bewegungen entwickeln könnte.

Zwei Beispiele könnten hier hilfreich sein, ein historisches und ein aktuelles. Das erste ist ein Beispiel dafür, dass chinesische Aktivisten aus Kämpfen außerhalb Chinas lernen, und das zweite ist ein Beispiel für das Gegenteil. Erstens das historische: Eine Sache, die oft vergessen wird, wenn man heute von „Solidarität“ und „Internationalismus“ spricht, ist die pragmatische Form, die diese Begriffe früher annahmen. Solidarität bedeutete nicht nur „Gedanken und Gebete“, oder unsere „Herzen und Köpfe“ sind bei euch! Es bedeutete: Ihr habt einen Aufstand? Großartig, wir schließen uns euch an! Oder, wenn wir keinen eigenen haben können, dann nehmt wenigstens diese Waffenlieferungen! Dies ist natürlich ein extremes Beispiel, aber es signalisiert den ultimativen Charakter dessen, worüber wir sprechen. Wie hat diese internationale Solidarität für chinesische Organisatoren in der Vergangenheit ausgesehen? Ein wesentlicher Bestandteil dieser Solidarität im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert war die Rolle der internationalen Arbeitsstudienprogramme: Chinesische Anarchisten aus etwas wohlhabenderen Verhältnissen nutzten ihre Ressourcen, um eine Infrastruktur für junge chinesische Radikale zu schaffen, damit sie von China aus an Orte wie Frankreich reisen konnten, wo sie inmitten des pulsierenden Lebens der französischen Gewerkschaften geworfen wurden, und dann diese Lektionen in den chinesischen sozialen Kontext zurückbringen konnten. Später würden ähnliche Austauschprogramme mit der Sowjetunion ebenso integraler Bestandteil sein. Es gibt viel zu kritisieren, was die Details solcher Programme betrifft, aber hier geht es darum, dass „Solidarität“ sehr praktisch, sehr materiell war. Diese Art des direkten internationalen Reisens, der Arbeit und des Studiums – und natürlich das Übersetzen, die Gründung von Zeitungen, Bibliotheken, Zeitschriften, all das gehört dazu – war das eigentliche Fleisch der Solidarität. Und das ist die Art von Dingen, für die wir versuchen, den Grundstein zu legen.

Dazu bedarf es nicht nur der direkten internationalen Interaktion, sondern auch der pragmatischen Verknüpfung von Kämpfen. Das zweite, zeitgenössische Beispiel ist hier also hilfreich: Wir können echte Fälle von Solidarität in der Art und Weise sehen, wie Straßen-Taktiken aus Hongkong diejenigen informiert haben, die an der jüngsten Rebellion in den Vereinigten Staaten beteiligt waren. Echte Solidarität bedeutet schließlich nicht nur, dass ich vor einer Botschaft mit einem Schild winken und die US-Regierung im Wesentlichen auffordern werde, die Niederschlagung zu verurteilen. Nein, es bedeutet, dass ich aus diesem Kampf auf Leben und Tod lernen und ihn direkt in meine eigenen Bedingungen umsetzen werde. Ich werde auf die Ungerechtigkeiten einschlagen, die für mich in Reichweite liegen, und nicht nur entfernte Schlachten anfeuern. Wenn du dich also zum Beispiel mit Hongkong „solidarisch“ zeigen willst, dann schreibe auf Twitter einige Artikel über den Kampf – und was noch wichtiger ist, über taktische Formationen oder die Anwendung guter Sicherheitspraktiken zum Beispiel in Telegram -, aber geh auch auf die Straße und tu etwas, wo du bist, pragmatisch informiert durch das, was du gelernt hast.

Es gibt viele Linke, die jahrelang im Wesentlichen damit verbracht haben, die Menschen über die Ähnlichkeit ihrer Kämpfe mit denen entfernter Genossen in China zu belehren und sich dabei vorzustellen, dass sie sich dabei „solidarisch“ verhalten. Aber in Wirklichkeit hilft es nicht viel, wenn man nur vage weiß, dass die Menschen in China streiken oder in Hongkong randalieren, und selbst das Wissen um die Gründe und die Geschichte dahinter ist nicht immer sehr hilfreich. Letzten Endes ist diese „Solidarität“ daher ziemlich billig. Aber dann gibt es diese Kinder – und wir sprechen hier wirklich von Teenagern -, die sich die Ausschreitungen in Hongkong live in sozialen Medien anschauen, die einige der Memes sehen, die wir zusammengetragen und übersetzt haben und die Dinge wie Schildformationen abdecken, und sie gehen einfach hinaus und reproduzieren sie auf den Straßen. Das ist echte Solidarität! Denn das ist natürlich mit Kosten verbunden und erfordert etwas Mut. Menschen über irgendeinen fernen Kampf zu belehren, der für ihr tatsächliches Leben nicht relevant zu sein scheint, aber alle Kästchen des richtigen „Verbinde-die-Punkte“-Internationalismus überprüft – das ist eine Wohlfühlvorstellung, die nur dazu dient, das Ego der Linken aufzufüllen. Es ist einfach. Sie erfordert keinen Funken Mut und kostet weder Schweiß noch Blut. Vielleicht ist es also letztlich das, was wir statt Solidarität von nun an sagen sollten: Schweiss und Blut.

Schließlich wollen wir noch einen Punkt ansprechen, wenn es um Kämpfe am Arbeitsplatz geht. Diese nehmen vielerorts nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch, der sich lange aufgebaut hatte und schließlich durch die Pandemie ausgelöst wurde, wieder zu. Wir haben im Laufe der Jahre zahlreiche Berichte über solche Kämpfe auf dem chinesischen Festland übersetzt und zwei längere Artikel verfasst, in denen der breitere Kontext und die tieferen Tendenzen untersucht werden. Auch wenn die Intensität solcher Aktionen in China seit einiger Zeit nachgelassen hat, bietet diese jüngste Geschichte immer noch eine Reihe äußerst praktischer Lehren für Arbeiter an Orten wie den USA oder Europa, die inmitten der Krise zunehmend unter Druck geraten. Einer der Gründe dafür, dass der chinesische Fall so viele praktische Lektionen enthält, liegt gerade darin, dass die De-facto-Illegalisierung der unabhängigen gewerkschaftlichen Organisierung dazu führte, dass alle größeren Streiks informelle wilde Streiks waren, die sich der direkten Aktionen bedienten. Dazu gehörten damals nicht nur direkte Produktionsstilllegungen, sondern auch eine Menge Eigentumszerstörung, die Entführung von Bossen und sogar einfach nur direkte Gewalt gegen missbrauchende Manager oder korrupte lokale Beamte. Solche Taktiken waren im Durchschnitt auch äußerst wirksam. All dies sind großartige Lehren für die Arbeiter in den westlichen Ländern und insbesondere in den USA, wo der gewerkschaftliche Organisationsgrad unglaublich niedrig ist und die bestehenden Gewerkschaften fast ausschließlich dazu dienen, Unruhen zu unterdrücken, die Arbeiter von wirklich wirksamen Taktiken abzulenken und bei Verhandlungen langsam den Bossen nachzugeben. Die amerikanischen Arbeiter könnten daraus eine Menge lernen: Traut zum Beispiel nicht blind den offiziellen, staatlich sanktionierten Gewerkschaftsvertretern. Und noch wichtiger: Ergreift möglichst direkte Maßnahmen, um die Geschäftsabläufe zu stören, einschließlich der Zerstörung von Eigentum. Verschlüsselt in der Zwischenzeit eure Kommunikation und seid bereit, euch gegen die Polizei zu verteidigen!

Asia Art Tours: Mit der Erweiterung der Grenzen, der Überwachung, der staatlichen Gewalt und der ethischen Vorherrschaft sowohl innerhalb Chinas als auch weltweit. Ich wollte fragen, wie stabil ihr China als einen funktionierenden Nationalstaat auf absehbare Zeit seht? Und hat die zunehmend brutale Regierung/ethnische Vorherrschaft weltweit CHUANGs Schlussfolgerungen über den Wunsch nach Nationalstaaten in einer kommunistisch/anarchistischen Zukunft beeinflusst?

Chuang(): Der Kontext ist hier wichtig. Wenn du sagst „zunehmend brutale Regierung/ethnische Vorherrschaft“, fragen wir: relativ zu wo und wann? In Wirklichkeit scheint es so zu sein, dass Dinge, die schon immer geschehen sind, erst seit kurzem für viele Menschen sichtbar gemacht werden. So könnte man zum Beispiel in den USA vielleicht das „Trump-Phänomen“ nennen, wo plötzlich Masseneinkerkerung, Zwangsarbeit, der Bau von Konzentrationslagern für Migranten, Familientrennung an der Grenze, zügellose Morde durch Polizisten, rechtsextreme Attentate und Massenerschießungen – all diese Dinge erscheinen plötzlich einem Haufen Menschen auf einmal nicht, weil es sie vorher nicht gab, sondern weil die Wahl von Trump die Augen solcher Menschen zum ersten Mal in ihrem Leben auf politische Themen gerichtet hat. Die Realität ist natürlich, dass alles, was oben aufgelistet ist, eine lange, lange Geschichte in Amerika hat. Tatsächlich ist diese Liste eine ziemlich gute Zusammenfassung der amerikanischen Geschichte im Allgemeinen!

Daher ist der richtige historische Rahmen eigentlich sehr wichtig. Stimmt es, dass du als Kommunist oder Anarchist, der sich für die Gleichberechtigung der Rassen in den USA organisiert, dass jetzt vielleicht deine Kommunikationen überwacht werden? Dass du von der Polizei geschlagen, ins Gefängnis geworfen oder von rechtsextremen Verrückten erschossen werden könntest? Natürlich ist das möglich. Aber dasselbe galt in den 1960er, 1930er, 1890er Jahren usw. Genau dasselbe könnte man übrigens auch für China sagen, wobei man die Jahre vielleicht ein wenig verfeinern könnte. In all diesen Sinnen neigen wir also dazu, zu übertreiben, was genau neu ist und was nicht, denn unsere unmittelbaren Bezugspunkte sind oft eine recht junge Geschichte, die mit Propaganda angefüllt war, die das Ende der Geschichte als solcher propagierte, das Ende des Klassenkampfes, wie die Wirtschaft wuchs, wie jeder zur Mittelklasse gehörte, all dieser Unsinn. Natürlich stimmte es schon damals nicht, wenn man der ganzen Welt Aufmerksamkeit schenkte, aber es ist diese falsche Fassade der jüngsten Geschichte, die gewöhnlich als unser spontaner Bezugspunkt fungiert, wenn wir versuchen, diese Periode zu verstehen, in der diese Fassade verschwindet. Das bedeutet nicht, dass der Staat heute nicht notwendigerweise über weitaus weitreichendere Befugnisse verfügt, es ist nur wichtig, genau zu messen, wie er dies tut und wie er es nicht tut. Es liegt auf der Hand, dass die Komplexität der Überwachung heute größer ist als beispielsweise in der Vergangenheit. Und die eigentliche Frage hier ist im Grunde genommen, ob diese Kapazitäten moderne Staaten widerstandsfähiger gegen interne Herausforderungen der Bevölkerung gegen ihre Macht machen oder nicht.

Sicherlich können wir auf die wirklich extreme Ungleichheit hinweisen, wenn es um die Fähigkeit geht, Macht und Gewalt zu mobilisieren. Auf technischer Ebene gemessen, ist die gegenwärtige kapitalistische Klasse, die in unzähligen Staaten organisiert ist, erschreckend in ihrer Fähigkeit, die Welt im wahrsten Sinne des Wortes zu zerstören. Gleichzeitig ist selbst die größte militärische Vorherrschaft offensichtlich nicht in der Lage, einen populären, asymmetrischen Kampf gegen sie leicht zu bewältigen. Wenn man dann noch die klassischen revolutionären Bedingungen in diese Gleichung einbezieht – Dinge wie Meuterei innerhalb der Streitkräfte, z.B. massenhaftes Überlaufen von der konservativen zur revolutionären Seite, Zusammenbruch des Produktionsapparates usw. – scheint es anzudeuten, dass dieses Ungleichgewicht vielleicht nicht so schwerwiegend ist, wie es auf den ersten Blick aussieht. Die revolutionäre Kapazität kann nicht nur durch das Zählen von Waffen gemessen werden. Stattdessen ist sie etwas Intensives, sie beinhaltet einen wirklichen Zusammenbruch der Hauptstromkreise der Weltwirtschaft, und das fügt der Macht der kapitalistischen Klasse eine ganz andere Art von Schaden zu als selbst viele historische Revolutionen (A.d.Ü., in der Lage waren). Das ist also ein Grund, warum der chinesische Fall für uns so interessant ist, wegen der einzigartigen Art und Weise, in der das globale industrielle System eine Reihe von absolut wesentlichen Knotenpunkten innerhalb Chinas konzentriert hat, und wegen der Frage, was passieren könnte, wenn eine lokale Rebellion diese Produktion zum Stillstand bringen würde.

Schließlich fragst du über die „Sehnsucht nach Nationalstaaten in einer kommunistisch/anarchistischen Zukunft“. Die Antwort ist hier sehr einfach: Es gibt keinen solchen Wunsch. Kein Kommunist, der etwas auf sich hält, kann dir ins Gesicht sehen und sagen, dass es im Kommunismus immer noch einen „Staat“ gibt. Wenn sie das tun, sind sie keine Kommunisten im wahrsten Sinne des Wortes. Und natürlich haben die Anarchisten kein Verlangen nach einem Staat. Inzwischen ist der Begriff „Nationalstaat“ immer mehr eine Propagandabemühung als eine Beschreibung irgendeiner grundlegenden Einheit gewesen. Wenn Staaten einen sprachlichen oder national-kulturellen Charakter haben, dann liegt das daran, dass sie bei ihrer Gründung und auch heute noch der Verwaltungsmechanismus bestimmter Fraktionen von Kapitalisten (und historisch gesehen natürlich von Landeliten, alten Aristokraten usw.) waren und sind, die eine grobe sprachliche oder kulturelle Affinität teilen und deshalb begannen, ihre Interessen gemäß diesen Zufällen der Geschichte, die sie zusammengebracht hatten, zu koordinieren. Es handelte sich dabei um kontingente Bündnisse unter Kapitalisten, die oft aus vorkapitalistischen Geographien ererbt wurden, die dann den Charakter allgemeinerer „nationaler“ Kulturen annahmen.

Aber auch die „Nation“ ist oft ein Witz, um ehrlich zu sein. Denn Tatsache ist, dass die homogensten Nationen fast immer (oft ziemlich gewaltsam) die Standardisierung und Assimilation in die vermeintlich gleiche nationale Kultur durchsetzen mussten. Betrachtet man zum Beispiel die frühmoderne Bildung dieser Nationalstaaten in Europa, so sind die historischen Dokumente voll von Versuchen, alle dazu zu zwingen, gegenseitig verständliche, standardisierte Versionen, zum Beispiel des Französischen, zu sprechen und eine bestimmte Teilmenge eindeutig nationaler kultureller Merkmale zu feiern. An vielen Orten bedeutete dies, selbst wenn man die ungeheuerlichsten Beispiele aus den Siedlerstaaten ignoriert, eine ziemlich substanzielle Unterdrückung der internen sprachlichen und kulturellen Vielfalt (man siehe, z.B. warum man auf den britischen Inseln Englisch und nicht etwa Walisisch spricht). Dies ist natürlich genau das, was der chinesische Staat auch heute noch verfolgt, was zum Beispiel den jüngsten Konflikt um den mongolischen Sprachunterricht verursacht hat.

In Wirklichkeit deuten fast alle Beweise auf ein viel größeres spontanes Niveau kultureller und sprachlicher Vielfalt hin, das immer dann auftritt, wenn gegenteilige Bemühungen gestoppt werden. Wir würden also erwarten, dass, selbst wenn es in einer solchen Gesellschaft starke Bemühungen um den Aufbau und die Aufrechterhaltung einer gegenseitig verständlichen Lingua franca (oder mehrerer) für den gesamten Globus gibt, wir auch ein beispielloses Aufblühen völlig neuer kultureller und sprachlicher Praktiken auf lokaler Ebene erwarten. Es wäre jedoch ein Fehler, solche Praktiken mit Begriffen wie „Nation“ zu beschreiben, genauso wie es ein Fehler wäre, das Wort „Staat“ für irgendeine Art von kollektiver, absichtlicher Koordination zwischen den Menschen in einer Gesellschaft zu verwenden. Dies sind Begriffe, die in ihrer modernen Konnotation Phänomene beschreiben, die spezifisch für den Bogen der Klassengesellschaften sind, von den frühen Agrarimperien bis zum zeitgenössischen Kapitalismus. Das kommunistische Projekt ist das Ende der Klassengesellschaft. Marx und Engels beschreiben dies als eine Art Rückkehr, in einem völlig neuen (technologischen, demographischen, ökologischen) Ausmaß, zu den kommunistischen Beziehungen, die während eines Großteils der Menschheitsgeschichte vorherrschten. Welche sprachliche, kulturelle oder geographische Vielfalt wir auch immer in einer kommunistischen Gesellschaft sehen würden, es bedürfte also neuer Begriffe, um sie zu beschreiben, oder zumindest würde sie besser mit Kategorien aus sehr unterschiedlichen sprachlichen Kontexten beschrieben werden – Sprachen, die in nomadischen Hirtengesellschaften oder unter Jägern und Sammlern entstanden sind, zum Beispiel. Und die Implikationen solcher Wörter wären sehr unterschiedlich.

Asia Art Tours: Schließlich erinnere ich mich immer daran, was mir der Gelehrte Eli Friedman in unserem Interview über den (damals inhaftierten) Gewerkschaftsaktivisten Xiangzi sagte, dass (ich umschreibe) wir nie wissen, welche internationalen Proteste, Meinungsverschiedenheiten oder direkten Aktionen China effektiv unter Druck setzen können, so dass wir einfach immer wieder versuchen müssen, neue Druckpunkte zu finden. Welche Ratschläge gibt es für Gewerkschaftsaktivisten, die in Xinjiang, Hongkong, Tibet oder anderen China-Fragen arbeiten, um diese Druckpunkte zu finden, und wie man sie nutzen kann, wenn sie gefunden werden?

Chuang(): Wir sind der Meinung, dass jede Politik, die darauf ausgerichtet ist, Staaten oder Unternehmen „unter Druck zu setzen“, damit sie besser handeln, ein verlorenes Spiel sein wird. Man denke zum Beispiel an die gigantischen globalen Proteste vor fast zwei Jahrzehnten, als die USA in den Irak einmarschierten. Es gab riesige Demonstrationen in Ländern auf der ganzen Welt. Alle Arten von diplomatischem Druck entstanden, viele Nationen weigerten sich, sich den von den USA geführten Bemühungen anzuschließen, Antikriegsgruppen entstanden überall in den USA selbst und organisierten sich kontinuierlich, während der Krieg begann und sich hinzog. Und sie taten absolut nichts. Staaten und die Kapitalisten, die hinter ihnen sitzen, sind einfach keinen anderen Etikette-Regeln unterworfen als denen, die sie sich selbst auferlegt haben. Also bedeutet ein „wirksamer“ Druckpunkt in diesem Sinne bestenfalls, dass man darum bettelt, dass eine Fraktion der kapitalistischen Klasse eine andere dafür bestraft, dass sie aus der Reihe tanzt. Diese Art von Appell an den Staat ist im Grunde das, was viele Aktivisten im Hinblick auf das harte Vorgehen Chinas in Hongkong und seine gewaltsamen Assimilationsprojekte in Xinjiang, Tibet und jetzt in der Mongolei verfolgt haben. Hoffentlich ist es zumindest einigen dieser Aktivisten ein wenig peinlich, dass diejenigen, die am ehesten bereit sind, China an ihrer Seite zu verurteilen, die berüchtigtsten konservativen Politiker und einheimischen Kapitalisten waren. Das sollte ein ausreichender Beweis dafür sein, dass die Idee der „Druckpunkte“ rundum eine verlustreiche Strategie ist.

Viele „Sozialisten“ fallen heute jedoch auch in diese Falle, und zwar vom entgegengesetzten Ende her: zu denken, dass „Antiimperialismus“ bedeutet, sich auf eine Seite zu stellen in dem, was in Wirklichkeit ein sich aufbauender interimperialistischer Konflikt ist. Sie weisen auf die Heuchelei vermeintlich linker Politiker hin, die Artikel von berüchtigten, verrückten Antikommunisten wie Adrian Zenz über Xinjiang z.B. teilen, oder sie teilen Bilder von Hongkong-Protestierenden, die amerikanische Flaggen schwenken. Dies sind leichte Ziele, aber es sind wirkliche Ziele, denn so viele Menschen machen diese grundlegenden Fehler und appellieren an konservative Kräfte, die sich auch aus wirtschaftlichem Interesse oder wegen ihrer rechtsextremen evangelikalen Ideologie gegen den „chinesischen Autoritarismus“ wenden – trotz der Tatsache, dass dies dieselben Leute sind, die auf die Verabschiedung von Gesetzen drängen, die die Organisation der extremen Linken in Europa und den USA illegalisieren! Aber es ist ebenso idiotisch, den gleichen Fehler in die entgegengesetzte Richtung zu machen, zur Verteidigung des chinesischen Staates überzuspringen, das harte Vorgehen gegen Feministinnen, Arbeiterzentren und marxistische Studentengruppen zu ignorieren oder ganz zu leugnen, was in Xinjiang vor sich geht.

Dagegen halten wir es für strategischer, zu fragen, wie und wo Kommunisten inmitten der andauernden globalen Aufstände echte Macht aufbauen können, und zwar auf eine Weise, die nicht einfach in einen allgemeinen Vorstoß für „fortschrittliche“ Sozialpolitik oder in die Unterstützung einer Fraktion in einem globalen interkapitalistischen Konflikt verwandelt wird. Ein wichtiger Teil davon ist es, Kommunikationslinien und gegenseitiges Verständnis zu schaffen und dabei unser Verständnis des globalen Kapitalismus und seiner unzähligen Konflikte zu schärfen. Wie bereits erwähnt, handelt es sich hierbei wirklich noch um ein Projekt, das sich noch in seinen frühesten Stadien befindet, aber es ist unerlässlich, die Grundlagen zu schaffen, und wir haben bereits einige großartige, inspirierende Ergebnisse gesehen, z.B. einige der Übergangseffekte zwischen dem Aufstand in den USA und dem Aufstand in Hongkong ein Jahr zuvor. Es bleibt zu hoffen, dass diese Art von Interaktionen mit der Zeit an Tiefe und Breite gewinnen können, zumal sich die Unruhen weltweit weiter ausbreiten.

Und dies ist ein weiterer wichtiger Teil des Projekts: die Teilnahme an diesen Zyklen von Unruhen, wo Sie sich gerade befinden. Wenn ihr wirklich „Solidarität“ mit China zeigen wollt, verschwendet ihr eure Zeit mit dem Versuch, an die bessere Natur der Regierungseliten zu appellieren. Wenn dies eure Vorstellung von Solidarität ist, dann werdet ihr letztlich durch die Ergebnisse in Verlegenheit gebracht werden. Ihr solltet euch lieber an die Front begeben und die Randalierer verteidigen, die die Polizeistation niederbrennen und den Target (A.d.Ü., ein Einkaufszentrum) in Minneapolis plündern; Tränengaskanister zurücktreten, während die Menge die Luxusgeschäfte auf den Champs-Élysées zertrümmert; Ziegelsteine in die sich zurückziehende Reihe der Bereitschaftspolizei in Bandung, Indonesien, schleudern; Bundesgebäude mit den Feministinnen in Mexiko-Stadt stürmen. Wo auch immer ihr seid, die beste Solidarität entsteht aus dem Blut und Schweiß, der dazu beiträgt, Gebiete zunehmend unregierbar zu machen, unabhängig davon, wie gut ihr intellektuell versteht, dass zum Beispiel der Kampf gegen Rassismus in den USA strukturell mit dem Kampf gegen strenge Arbeitsgesetze in Indonesien und dem Kampf für die so genannte „Demokratie“ in Hongkong verbunden ist. Verschwenden nicht eure Zeit damit, nach „Druckpunkten“ zu suchen oder Petitionen an eure Führer zu richten. Baut stattdessen Macht auf, wo und wie immer ihr könnt.

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Soziale Ansteckung Mikrobiologischer Klassenkampf in China https://panopticon.blackblogs.org/2020/03/26/soziale-ansteckung-mikrobiologischer-klassenkampf-in-china/ Thu, 26 Mar 2020 21:51:47 +0000 http://panopticon.blogsport.eu/?p=834 Continue reading ]]>

Wir haben diesen Text von Ende Februar vom Blog der Zeitschrift Chuang schnell übersetzt und online gestellt, um der ganzen Panik etwas Fundierteres entgegenzusetzen. Ein erster Kritikpunkt wäre, dass die Autoren die Industrialisierung als eine einzige Apokalypse beschreiben. Eine gute Grundlage für weitere Diskussionen ist der Text allemal!
Im englischen Original sind an vielen Stellen Links eingefügt, um Aussagen zu belegen. Wir haben sie nicht übernommen, ihr findet sie im Originaltext.

Der Hochofen

Umgangssprachlich gilt Wuhan als einer der »vier Hochöfen« Chinas. Den bedrückend feuchtheißen Sommer teilt es mit Chongqing, Nanjing und Nanchang (andere zählen Changsha auf), quirlige Städte mit einer langen Geschichte, am Yangtse gelegen oder nah an seinem Flusstal. Unter den Vieren glänzt Wuhan aber mit echten Hochöfen. Der massige urbane Komplex bildet so etwas wie einen Kern der Stahl-, Beton- und bauorientierten Industrie Chinas, sein Stadtbild gesprenkelt mit den langsamkühlenden Gebläsehochöfen der verbleibenden Stahl- und Eisenschmelzen im Staatseigentum, die geplagt von Überproduktion in eine weitere umstrittene Phase von Rückbau, Privatisierung und Umstrukturierung gezwungen werden – dies allein schon Ursache für mehrere große Streiks und Proteste in den letzten fünf Jahren. Auf den Punkt gebracht ist Wuhan die Hauptstadt der chinesischen Bauindustrie. Als solche hatte die Stadt eine besonders hervorgehobene Rolle in der Phase nach der (letzten) ökonomischen Krise, denn in dieser Zeit wurde das Wachstum durch Immobilien- und Infrastruktur-Projekte aufgebläht. Die Blase hat Wuhan nicht nur mithilfe seines Überangebots an Baumaterialien und Ingenieuren im Staatsdienst vergrößert, sondern wurde selbst zu einem Produkt des Immobilienbooms. Nach unseren Berechnungen hatten in den Jahren 2018-2019 die Baugrundstücke in Wuhan nach ihrem Umfang die Gesamtfläche der Insel Hongkong.

Inzwischen scheint dieser Antriebsofen der chinesischen Nach-Krisen-Ökonomie abzukühlen, ganz ähnlich denen der Stahl- und Eisenkocher. Obwohl der Vorgang schon seit einer Weile lief, stimmt das Bild neuerdings nicht nur im einfachen ökonomischen Sinn. Seit mehr als einem Monat ist die einst hektische Stadt abgeriegelt, sind ihre Straßen auf Regierungsanweisung entleert. »Der wichtigste Beitrag, den Sie leisten können, lautet: Versammeln Sie sich nicht, verursachen Sie kein Chaos« – so stand es groß gedruckt in der Guangmin-Tageszeitung, die unter der Leitung der Propaganda-Abteilung der KP Chinas steht. Die glitzernden Stahl- und Glasbauten in den neuen Prachtstraßen Wuhans liegen nun kalt und leer, während der Winter übers Neujahrsfest vergeht und die Stadt unter den Beschränkungen der Quarantäne stagniert. Sich zu vereinzeln ist ein kluger Ratschlag in China, wo das Ausbrechen des neuen Corona-Virus (kürzlich umbenannt in »SARS-CoV-2« und die von ihm ausgelöste Krankheit in »COVID-19«) bereits mehr als zweitausend Menschen das Leben gekostet hat – mehr als die SARS-Epidemie von 2003. Das ganze Land steht unter Ausgangssperre, wie schon bei SARS. Die Schulen sind geschlossen, und überall bleiben die Leute zusammengepfercht in ihren Wohnungen. Fast die gesamte Wirtschaftstätigkeit kam zum Neujahrsfest am 25. Januar zum Erliegen. Die Unterbrechung wurde auf einen Monat verlängert, um die Ausbreitung der Epidemie zu behindern. Es scheint, als hätten die Hochöfen Chinas aufgehört zu brennen, oder als würden sie nur noch schwach glühen. In einem anderen Sinn ist die Stadt selbst zu einem Ofen geworden, denn das Coronavirus brennt sich durch die Masse der Bevölkerung wie ein heftiges Fieber.

Das Ausbrechen der Krankheit ist fälschlich allem Möglichen zugeschrieben worden: vom verschwörerischen und/oder zufälligen Freisetzen einer Virengeneration aus dem Institut für Virologie in Wuhan – eine zweifelhafte Unterstellung, die durch soziale Netze, vor allem über paranoide Facebook-Posts aus Hongkong und Taiwan verbreitet, aber inzwischen von konservativen Pressestellen und militärischen Nutznießern aufgebläht wird – bis hin zur (angeblichen) Neigung der chinesischen Bevölkerung »unsaubere« oder »abartige« Nahrungsmittel zu verzehren. Dies Letztere, weil die Virenausbreitung auf Fledermäuse oder Schlangen zurückgeführt wird, die auf halblegalen, auf Wild und seltene Tiere spezialisierten wet markets1 angeboten werden (obwohl das nicht der tatsächliche Ursprungsort ist2). Diese beiden Themen rücken die offensichtliche Kriegstreiberei und den Orientalismus ins Blickfeld, die die Berichterstattung über China kennzeichnen, das haben schon einige kritische Medienartikel dargelegt. Doch auch diese Reaktionen tendieren zur Verengung auf die kulturellen Zusammenhänge des Virus – und beschäftigen sich weniger mit den weit brutaleren Kräften, die unterhalb des Medienzirkus im Verborgenen wirken.

Eine leicht abgewandelte Variante begreift wenigstens die ökonomischen Folgewirkungen, auch wenn die möglichen politischen Effekte in rhetorischer Absicht übertrieben werden. Hier begegnen uns die üblichen Verdächtigen, von den bekannten drachentötenden Kriegsfalken bis hin zu aufgeregten reichen Liberalen: Pressefirmen vom National Review bis hin zur New York Times orakeln bereits darüber, wie der Virenausbruch zur Legitimitätskrise der KP Chinas führen könnte, obwohl bisher kaum ein Hauch von Aufstand zu spüren ist. Doch der wahre Kern solcher Voraussagen liegt da, wo sie die wirtschaftlichen Dimensionen der Quarantäne erfassen – ein Aspekt, der Journalisten mit einem Aktien-Portfolio dicker als ihr Kopf schwerlich entgehen kann. Denn offenbar ist, dass die Leute trotz der Regierungsappelle zum Abstandhalten bald gezwungen sein werden, sich zu »versammeln«, um sich der Produktion zu widmen. Den letzten Schätzungen zufolge wird die Epidemie Chinas Wirtschaftswachstum auf fünf Prozent verlangsamen, unterhalb der bereits alarmierenden Wachstumsziffer von sechs Prozent im vergangenen Jahr, der niedrigsten in drei Jahrzehnten. Einige Analysten haben prognostiziert, das Wachstum im ersten Quartal könnte auf vier Prozent oder noch tiefer sinken, und es könnte hieraus eine weltweite Rezession entstehen. Eine bislang undenkbare Frage wurde gestellt: Was kommt eigentlich auf die Weltwirtschaft zu, wenn der chinesische Hochofen erkaltet?

In China selbst ist der Verlauf dieser Ereignisse schwer vorauszusagen, doch hat der Augenblick bereits einen raren Prozess des gemeinschaftlichen Fragens und der Besinnung auf die Gesellschaft ausgelöst. Die Epidemie hat (nach den vorsichtigsten Schätzungen) nahezu 80 000 Menschen direkt infiziert. Doch 1,4 Milliarden hat sie einen Schock vermittelt, der ihren Alltag unter dem Kapitalismus grell beleuchtete und sie in einem Augenblick der Verunsicherung zur Selbstbesinnung zwang. Zeitgleich stellten sich Alle eine Reihe tiefgreifender Fragen: Was wird mit mir? Mit meinen Kindern, meiner Familie, meinen Freunden? Wird es für uns genug zu essen geben? Wird mein Einkommen gezahlt? Wird mein Geschäft sich rentieren? Wer trägt hier für alles die Verantwortung? Auf ungewohnte Weise entspricht die Einzelerfahrung der eines Massenstreiks – aber eines solchen, der in seiner nicht-spontanen, von oben verordneten und insbesondere unfreiwilligen Total-Atomisierung die Grundrätsel unserer strangulierten politischen Gegenwart ebenso klar hervortreten lässt, wie die Massenstreiks des letzten Jahrhunderts die Widersprüche ihrer Ära erhellten. Die »Quarantäne« erscheint somit wie ein Streik, der seiner gemeinschaftsbezogenen Charakteristika beraubt aber gleichwohl geeignet ist, sowohl der Psyche als auch der Volkswirtschaft einen tiefgreifenden Schock zu versetzen. Schon dieser Umstand allein macht sie bedenkenswert.

Selbstverständlich handelt es sich bei Spekulationen über den bevorstehenden Sturz der KPCh, ein beliebter Zeitvertreib des ‘New Yorker’ und des ‘Economist’, um vorhersehbaren Unsinn. Inzwischen rollen die normalen Medienunterdrückungsrituale ab, in denen offenkundig rassistische Leitartikel in den Massenmedien gekontert werden von Kommentaren auf Web-Plattformen, die gegen Orientalismus und andere Ideologie-Facetten polemisieren. Doch fast die gesamte Diskussion bleibt auf dem Niveau der Abbildung ― oder bestenfalls dem der Eindämmungspolitik und der wirtschaftlichen Folgen der Epidemie ― ohne Auseinandersetzung mit den Fragen, wie solche Krankheiten produziert, noch weniger, wie sie verbreitet werden. Nicht einmal dies wäre jedoch genug. Überflüssig ist der »eins-zwei-drei«-Marxismus, der dem Schurken die Maske abreißt, um festzustellen: ja, es war wirklich der Kapitalismus, der das Coronavirus hervorgebracht hat. Das wäre auch nicht scharfsinniger als die Auslandskommentatoren, die hinter dem Regime-Wechsel herschnüffeln. Selbstverständlich ist der Kapitalismus schuld, aber wie, und zwar: genau wie findet die Verzahnung der sozial-ökonomischen Sphäre mit der biologischen statt, und welche Lehren sind im Einzelnen aus der Gesamterfahrung zu ziehen?

In diesem Sinn verstanden, bietet das Ausbrechen der Epidemie zwei günstige Anlässe für das Nachdenken: Zunächst öffnet sich ein lehrreicher Durchblick, in dem wir substanzielle Fragen hinsichtlich der kapitalistischen Produktion in ihrem Verhältnis zur nicht-menschlichen Welt auf einem grundlegenden Niveau neu bewerten können, weil nämlich, kurz gesagt, die »natürliche Welt« unter Einschluss ihrer mikrobiologischen Unterschichten ohne Bezug zur gesellschaftlichen Organisierung der Produktion unverständlich bleibt (da die beiden nämlich nicht getrennt von einander existieren). Zugleich werden wir daran erinnert, dass der einzige Kommunismus, der den Namen wert ist, das Potenzial für einen voll politisierten Naturalismus enthält. Zum Zweiten können wir diesen Augenblick der Isolation für unsere eigenen Überlegungen zum gegenwärtigen Zustand der chinesischen Gesellschaft nutzen. Manche Dinge werden erst deutlich, wenn Alles auf einen unvorhergesehenen Halt heruntergebremst wird. Eine Verlangsamung hilft zwangsläufig dazu, vorher verborgene Spannungen sichtbar zu machen. Weiter unten werden wir diesen beiden Fragen nachgehen und nicht nur zeigen, wie die kapitalistische Akkumulation solche Plagen hervorruft, sondern auch wie der Augenblick der Pandemie selbst ein widersprüchlicher Zustand politischer Krise bildet, die den Menschen die vorher ungesehenen Potenziale und Abhängigkeiten in der sie umgebenden Welt erkennbar machr, während sie zugleich einen weiteren Vorwand für die Ausdehnung der Kontrollsysteme in die Alltagsabläufe bietet.

Seuchenproduktion

Wie ihre Vorläufer Vogelgrippe und Schweinegrippe ist das Virus, welches die gegenwärtige Epidemie bestimmt (SARS-CoV-2), an einem Verknüpfungspunkt zwischen Ökonomie und Epidemiologie entstanden. Nicht zufällig führen so viele dieser Viren Tiernamen in ihren Bezeichnungen: Die Ausbreitung neuer Krankheiten auf die Humanbevölkerung ist fast durchweg das Ergebnis sogenannter ‚zoonotischer Übertragung‘, eine fachsprachliche Ausdrucksweise für das Springen solcher Infektionen von Tieren auf Menschen. Das Über-Springen von einer Spezies auf die nächste ereignet sich unter bestimmten Bedingungen von Nähe und regelmäßigem Kontakt. Zusammengefasst bilden diese Faktoren die Umgebung, in der sich die Krankheit entwickeln muss. Ändert sich diese Schnittstelle zwischen humaner und animalischer Welt, so ändern sich auch die Bedingungen, unter denen die Krankheit sich fortentwickelt. Unter den vier Hochöfen (am Yang-Tse) erhitzt sich ein tiefer gelegener Ofen, der die industriellen Zentren der Welt unterfüttert: der evolutionäre Dampfkochtopf der kapitalistischen Agrikultur und Urbanisierung. Er stellt das ideale Medium dar, in dem immer verheerendere Seuchen erzeugt, verändert und zu zoonotischen Sprüngen veranlasst werden, die dann auf aggressive Weise auf die Menschen übertragen werden. Hinzu kommen ähnlich tiefgreifende Abläufe in den Randzonen der Ökonomie, wo »Wildgebiete« dem Druck von Menschen ausgesetzt sind, die gezwungenermaßen immer umfangreichere agroökonomische Eingriffe in lokale Ökosysteme vornehmen. Mit seiner »wilden« Ursprungslegende und seiner blitzschnellen Verbreitung inmitten eines hochindustrialisierten, verstädterten Kernbereichs der Weltwirtschaft demonstriert das jüngste Coronavirus beide Dimensionen unserer neuen Ära politisch-ökonomischer Seuchen.

Der dargelegte Grundgedanke wurde am gründlichsten von linksgerichteten Biologen wie Robert G. Wallace entwickelt, dessen 2016 erschienenes Buch Big Farms Make Big Flu (»Große Farmen bringen große Grippe«) das Thema der Verbindung zwischen kapitalistischer Landwirtschaft und der Ursachenkette vorausgehender Epidemien von SARS bis Ebola erschöpfend behandelt.3 Diese Epidemien lassen sich vorläufig in zwei Gruppen unterteilen. Die erste umfasst solche, die sich in Kernbereichen der agroökonomischen Wertschöpfung entwickeln, die zweite in deren »Hinterland«. Im Nachweis der Ausbreitung von H5N5, bekannt als »Vogelgrippe«, fasst er bestimmte geografische Schlüsselfaktoren von Epidemien zusammen, die in produktiven Kernzonen entstehen:

Ländliche Flächen in vielen der ärmsten Länder tragen inzwischen die Kennzeichen von ungeregelter Agroökonomie, unmittelbar neben weiträumigen städtischen Slums. Die unüberwachte Übertragung in anfälligen Gegenden erhöht die genetische Variationsbereitschaft, unter der H5N5 humanspezifische Eigenschaften entwickeln kann. Bei seiner Verbreitung über drei Kontinente tritt H5N5 in Berührung mit einer wachsenden Anzahl sozioökonomischer Umfelder einschließlich ortstypischer Verbindungen von vorherrschenden Wirtsformen, Varianten der Massengeflügelhaltung und Maßnahmen der Veterinärmedizin.4

Solche Verbreitung folgt selbstverständlich den weltweiten Warenkreisläufen und den üblichen Wanderungsbewegungen der Arbeitskraft, welche die Geographie der kapitalistischen Ökonomie bestimmen. Als Ergebnis erscheint »ein Typus von eskalierender breiteninfektiöser Selektion« über welche das Virus sich auf einer größeren Anzahl evolutionärer Pfade in kürzerer Zeit positioniert, was die erfolgreichsten Varianten befähigt, die anderen im Wettbewerb zu verdrängen.

Dies jedoch lässt sich leicht beweisen und ist bereits Alltagsweisheit in der Berichterstattung: der Umstand, dass die »Globalisierung« die Ausbreitung solcher Krankheiten beschleunigt, wenn auch hier mit dem bedeutenden Zusatz, dass diese Verbreitung selbst das Virus zu lebhafterer Mutation anregt. Die entscheidende Frage stellt sich allerdings schon früher: Vor der Ausbreitung, welche die Vitalität solcher Krankheit(skeime) erhöht, intensiviert die kapitalistische Grundlogik die Tendenz, vorher abgeschottete oder harmlose Virenstämme in extrem selektionsfördernde Umfelder zu versetzen. Hier finden diese Stämme Bedingungen, die für epidemische Formen günstig sind: schnelle virale Lebenszyklen, die Spannkraft für zoonotische Sprünge zwischen Träger-Arten und die Fähigkeit, neue Übertragungshilfen zu generieren. Diese Virenstämme treten gerade wegen ihrer Virulenz hervor. Rein rechnerisch scheint es, als müsste die Entwicklung virulenterer Stämme die entgegengesetzte Wirkung haben, weil der schnelle Tod des Wirtes dem Virus weniger Zeit für die Verbreitung lässt. Die Alltagserkältung bietet ein gutes Beispiel für dieses Prinzip. Ihre niedrige Intensität erleichtert die Verbreitung in der Bevölkerung. Doch in bestimmten Umfeldern gewinnt die entgegengesetzte Logik an Wahrscheinlichkeit: Findet ein Virus zahlreiche Wirte in der nahen Umgebung vor, und besonders, falls solche Wirte bereits unter verkürzter Lebenserwartung stehen, so verwandelt sich die höhere Virulenz in einen Evolutionsvorteil.

Die Vogelgrippe liefert wiederum ein gutes Beispiel. Wallace erläutert Untersuchungsergebnisse: »…keine endemischen hoch pathogenen Stämme [von Grippe] bei Wildvogel-Populationen, dem absoluten Ursprungsreservoir nahezu sämtlicher Grippe-Unterarten.«5 Domestizierte Populationen hingegen, dicht gedrängt bei industrieller Haltung, scheinen in deutlicher Verbindung mit Ausbrüchen vorzukommen – und dies aus naheliegenden Gründen:

Aufzucht genetischer Monokulturen von Haustieren beseitigt jede Art von immunologischer »Brandmauer«, die Krankheitsübertragung verlangsamen könnte. Größere Populationen und höhere Belegungsdichte fördern wachsende Übertragungsquoten. Die Lebensbedingungen bei erhöhter Belegung vermindern Immunreaktionen. Hoher Durchsatz, wie er zu jeder industriellen Produktion gehört, stellt unablässig neue Infektionskandidaten bereit, Brennstoff für die Evolution der Virulenz.6

Selbstredend entsteht jedes dieser Merkmale aus der Logik des industriellen Wettbewerbs. Insbesondere hat der hohe Durchsatz in diesen Kontexten erhebliche biologische Dimensionen: »Sobald Tiere aus industrieller Haltung das richtige Gewicht erreichen, werden sie getötet. Vorhandene Grippeinfektionen müssen bei jedem Einzeltier den Schwellenwert für die Übertragung schnell erreichen […] Je schneller die Viren entstehen, desto größer der Schaden für das Tier.«7 Ironischerweise können Versuche, derartige Ausbrüche durch Massenschlachtung zu unterdrücken, eine unbeabsichtigte Folge haben. Sie verschärfen den Selektionsdruck weiter und verursachen die Evolution hypervirulenter Stämme. So war es jedenfalls bei der kürzlich aufgetretenen Schweinepest, die zum Verlust von ungefähr einem Viertel des Weltangebots an Schweinefleisch führte. Obwohl sich in der Geschichte solche (epidemischen) Ausbrüche bei domestizierten Tierarten oft nach Kriegszeiten oder Umweltkatastrophen ereignet haben, die vermehrte Forderungen an den Viehbestand zur Folge hatten, so gehen doch anschwellende Intensität und Virulenz derartiger Krankheiten unbestreitbar mit der Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsweise einher.

Geschichte und Entstehen von Krankheiten

Seuchen stellen in hohem Maße den Schlagschatten der kapitalistischen Industrialisierung dar und sind gleichzeitig deren Vorboten. Die offensichtlichen Fälle von Pocken und anderen Pandemien, die nach Nordamerika eingeschleppt wurden, sind ein zu einfaches Beispiel, da ihre Intensität durch die langfristige Separierung von Bevölkerungen durch die Geographie verstärkt wurde – und diese Krankheiten hatten ihre Virulenz ohnehin schon durch vorkapitalistische Handelsnetze und die frühe Urbanisierung in Asien und Europa erlangt. Wenn wir stattdessen nach England schauen, wo der Kapitalismus zuerst auf dem Land durch das massenhafte Abräumen der Bauern entstand, die durch monokulturelle Massentierhaltung ersetzt wurden, sehen wir die frühesten Beispiele für diese ausgesprochen kapitalistischen Seuchen. Im England des 18. Jahrhunderts traten drei verschiedene Pandemien auf, die von 1709-1720, 1742-1760 und 1768-1786 wüteten. Der Ursprung jeder dieser Pandemien war importiertes Vieh aus Europa, das von den normalen vorkapitalistischen Pandemien, die auf Kriege folgten, infiziert war. Aber in England wurde das Vieh bereits in neuen Haltungsarten konzentriert; die Einführung des infizierten Viehs konnte daher auf die Bevölkerung viel aggressiver durchschlagen als in Europa. Es ist also kein Zufall, dass sich die Ausbrüche auf die großen Londoner Molkereien konzentrierten, die ein ideales Umfeld für die Verstärkung des Virus boten.

Letztendlich wurden die Ausbrüche jeweils durch selektive, kleinere, frühzeitige Schlachtungen in Verbindung mit der Anwendung moderner medizinischer und wissenschaftlicher Praktiken eingedämmt – im Wesentlichen ähnlich wie bei der Bekämpfung solcher Epidemien heute. Hier zeigt sich zum ersten Mal das, was sich zu einem klaren Muster entwickelte und eine Wirtschaftskrise imitiert: immer intensivere Zusammenbrüche, die das gesamte System an den Abgrund zu bringen scheinen, die aber letztlich durch eine Kombination aus Massen-Opferung, die den Markt / die Bevölkerung räumt, und einer Intensivierung des technologischen Fortschritts überwunden werden. In diesem Fall moderne medizinische Techniken und neue Impfstoffe, die oft in zu geringen Mengen und zu spät eintreffen, aber nichtsdestotrotz dabei helfen, in der Nachfolge der Verwüstungen die Dinge wieder zu bereinigen.

Aber dieses Beispiel aus der Heimat des Kapitalismus sagt nichts ohne eine Erklärung der Auswirkungen kapitalistischer landwirtschaftlicher Praktiken an der Peripherie. Während die Rinderpandemien im frühkapitalistischen England eingedämmt wurden, waren ihre Folgen in anderen Ländern weitaus verheerender. Die größten Auswirkungen hatte wohl der Ausbruch der Rinderpest in Afrika in den 1890er Jahren. Der Zeitpunkt des Ausbruchs ist kein Zufall: Die Rinderpest hatte Europa mit einer Intensität geplagt, die dem Wachstum der großflächigen Landwirtschaft direkt entsprach; die Seuche wurde nur durch den wissenschaftlichen Fortschritt in Schach gehalten. Doch das Ende des 19. Jahrhunderts sah den Höhepunkt des europäischen Imperialismus, versinnbildlicht durch die Kolonisierung Afrikas. Die Rinderpest kam mit den Italienern nach Ostafrika, die durch die Kolonisierung des Horns von Afrika zu anderen imperialen Mächten aufzuschließen versuchten. Die militärischen Kampagnen zur Kolonisierung endeten meist mit einem Misserfolg. Aber die Seuche verbreitete sich über die einheimischen Rinderherden und fand schließlich ihren Weg nach Südafrika. Dort verwüstete die Seuche die frühe kapitalistische Agrarwirtschaft der britischen Kolonie und tötete sogar die Herde des berüchtigten weißen Rassisten Cecil Rhodes.

Der bedeutende historische Effekt war unbestreitbar: Die Pest, bei der bis zu 80-90 Prozent des Viehs getötet wurden, führte zu einer beispiellosen Hungersnot in den überwiegend von Viehzucht geprägten Gesellschaften in Subsahara-Afrika. Auf diese Entvölkerung folgte dann die invasive Besiedlung der Strauchlandschaften durch Dornenbüsche. Diese wiederum boten der Tsetsefliege passenden Lebensraum, die sowohl die Schlafkrankheit mit sich bringt als auch das Weiden des Viehs verhindert. Dadurch wurde die Wiederansiedlung in der Region nach der Hungersnot eingeschränkt – freie Bahn für die europäischen Kolonialmächte auf dem Kontinent.

Neben ihren Folgen wie periodischen Agrarkrisen und apokalyptischen Bedingungen, die dem Kapitalismus über seine frühen Grenzen hinaus zu expandieren halfen, haben solche Seuchen auch das Proletariat im industriellen Kern selbst getroffen. Zuerst sei noch einmal darauf hingewiesen, dass der Ausbruch des Coronavirus nichts einzigartig Chinesisches an sich hat. Warum so viele Epidemien in China zu entstehen scheinen, hat keine kulturellen Ursachen, sondern ist eine Frage der Wirtschaftsgeographie. Das wird überdeutlich, wenn wir China mit den USA oder Europa vergleichen, als diese Zentren der globalen Produktion und der massenhaften Industriearbeiterschaft waren.8 Das Ergebnis ist grundsätzlich identisch, mit allen Merkmalen: Dem Aussterben des Viehbestands auf dem Land entsprach in der Stadt schlechte Hygiene und weit verbreitete Verschmutzung. Die frühen liberal-progressiven Reformbemühungen in Arbeitergegenden nahmen diese Zustände in den Fokus – wie es auch die Rezeption von Upton Sinclairs Roman »Der Dschungel« zeigt: Ursprünglich geschrieben, um das Leiden der eingewanderten Arbeiter in der Fleischindustrie zu dokumentieren, wurde der Roman von reicheren Liberalen aufgegriffen, die sich über die Vorstöße gegen sanitäre Vorschriften und die allgemein unhygienischen Bedingungen Sorgen machten, unter denen ihre eigenen Lebensmittel hergestellt wurden.

Diese liberale Empörung über die »Unreinlichkeit« mit all ihrem impliziten Rassismus dürfte immer noch die fast schon automatische Reaktion der meisten Menschen beschreiben, wenn sie mit den politischen Dimensionen von Coronavirus oder SARS konfrontiert werden. Aber die Arbeiter haben wenig Kontrolle über die Bedingungen, unter denen sie arbeiten. Mehr noch: Zwar dringen unhygienische Bedingungen durch die Kontamination von Nahrungsmitteln auch aus der Fabrik heraus, aber dies ist wirklich nur die Spitze des Eisbergs. Solche Bedingungen sind die Norm für diejenigen, die in solchen Umgebungen arbeiten oder in nahe gelegenen Arbeitersiedlungen leben. Diese Bedingungen verschlechtern den Gesundheitszustand der Bevölkerung, wodurch noch bessere Bedingungen für die Verbreitung der vielen Seuchen des Kapitalismus geschaffen werden.

Ein berühmtes Beispiel: die Spanische Grippe, eine der tödlichsten Pandemien der Geschichte. Es war einer der frühesten Ausbrüche der H1N1-Grippe (ähnlich wie neuere Ausbrüche der Schweine- und Vogelgrippe). Lange ging man davon aus, dass die Spanische Grippe sich aufgrund der hohen Zahl der Todesopfer qualitativ von anderen Grippevarianten irgendwie unterscheidet. Dies scheint zwar zum Teil zu stimmen (aufgrund der Fähigkeit der Spanischen Grippe, eine Überreaktion des Immunsystems hervorzurufen). Aber aufgrund späterer Recherchen zu Analysen und epidemiologischen Untersuchungen ergab sich, dass die Spanische Grippe möglicherweise nicht viel virulenter war als andere Grippe-Viren. Stattdessen sorgten wohl in erster Linie die weit verbreitete Unterernährung, die Überbevölkerung der Städte und die allgemein unhygienischen Lebensbedingungen in den betroffenen Gebieten für die hohe Todesrate. Diese Bedingungen begünstigten zudem nicht nur die Ausbreitung der Spanischen Grippe selbst, sondern auch bakterielle Superinfektionen über die zugrundeliegende virale Infektion hinaus.9

Anders gesagt: Die Zahl der Todesopfer durch die Spanische Grippe wurde zwar als eine unvorhersehbare Abweichung im Charakter des Virus gesehen, sie erhielt aber durch die sozialen Bedingungen einen besonderen Auftrieb. Ermöglicht wurde die rasche Ausbreitung der Grippe durch den globalen Handel und die globale Kriegsführung der sich damals schnell verändernden Imperialismen, die den ersten Weltkrieg überlebt hatten. Und erneut ist es die bereits bekannte Geschichte, wie ein solch tödlicher Grippestamm überhaupt entstehen konnte: Obwohl der genaue Ursprung noch immer etwas unklar ist, nimmt man heute an, dass der Virus wahrscheinlich von domestizierten Schweinen oder Geflügel aus Kansas stammt. Zeit und Ort sind in diesem Fall bemerkenswert, da die Jahre nach dem Krieg ein Wendepunkt für die amerikanische Landwirtschaft waren. Mechanisierte, fabrikähnliche Produktionsmethoden verbreiteten sich zunehmend. Diese Trends verstärkten sich in den 1920er Jahren nochmals; die massenhafte Anwendung von Techniken wie dem Mähdrescher führte sowohl zu einer allmählichen Monopolisierung als auch zu einer ökologischen Katastrophe, die die Dust-Bowl-Krise10 und die darauf folgende Massenmigration auslöste. Die Konzentration des Viehbestands, die die späteren Fabrikbetriebe ausmachte, war noch nicht umgesetzt, aber die einfacheren Formen der Konzentration und intensiver Bewirtschaftung, die bereits zu Tierseuchen in ganz Europa geführt hatten, waren nun die Norm. Wenn die englischen Rinderepidemien des 18. Jahrhunderts der erste Fall einer eindeutig kapitalistischen Viehseuche waren und die Rinderpest im Afrika der 1890er Jahre der größte epidemiologische Genozid des Imperialismus, dann kann die Spanische Grippe als die erste kapitalistische Seuche für das Proletariat verstanden werden.

Vergoldetes Zeitalter

Die Parallelen zum aktuellen chinesischen Fall sind auffallend. Um COVID-19 zu verstehen, müssen wir uns ansehen, wie Chinas Entwicklung der letzten Jahrzehnte in und durch das globale kapitalistische System das Gesundheitssystem des Landes und den Zustand der öffentlichen Gesundheit im Allgemeinen geprägt hat. Die Epidemie mag neu sein, ähnelt aber anderen Gesundheitskrisen vor ihr. Sie werden mit fast derselben Regelmäßigkeit wie Wirtschaftskrisen produziert und in der Publikumspresse ganz ähnlich behandelt: als wären sie zufällige »Schwarzer-Schwan«-Ereignisse11, völlig unvorhersehbar und beispiellos. In Wirklichkeit aber folgen diese Gesundheitskrisen ihren eigenen chaotischen, zyklisch und mit steigender Wahrscheinlichkeit wiederkehrenden Mustern, denn dahinter stehen strukturelle, dem Wesen der Produktion und dem proletarischen Leben im Kapitalismus innewohnende Widersprüche. Ähnlich wie die Spanische Grippe konnte sich das Coronavirus ursprünglich durch eine allgemeine Verschlechterung der medizinischen Grundversorgung in der breiten Bevölkerung rasch durchsetzen und ausbreiten. Aber gerade, weil diese Verschlechterung inmitten eines spektakulären Wirtschaftswachstums stattfand, wurde sie verdeckt vom Prunk der glitzernden Städte und gewaltigen Fabriken. In Wirklichkeit sind die Ausgaben für öffentliche Güter wie Gesundheitsversorgung und Bildung in China nach wie vor extrem niedrig, während der Großteil der öffentlichen Ausgaben in die konventionelle Infrastruktur (Brücken, Straßen und billige Elektrizität für die Produktion) geflossen ist.

Gleichzeitig ist die Qualität der Produkte auf den einheimischen Märkten oft gefährlich schlecht. Seit Jahrzehnten produziert die chinesische Industrie hochwertige Exporte, die nach den höchsten globalen Standards für den Weltmarkt hergestellt werden. Dazu gehören beispielsweise fertige Geräte wie iPhones, aber auch Zulieferteile wie Computerchips. Die Waren jedoch, die für den Verbrauch auf dem heimischen Markt vorgesehen sind, sind von miserabler Qualität und rufen regelmäßig Skandale sowie tiefes öffentliches Misstrauen hervor. Die vielen Fälle sind ein deutliches Echo auf Sinclairs »Der Dschungel« und andere Geschichten aus dem Amerika des Vergoldeten Zeitalters12. Der größte Fall aus jüngster Zeit, der Melamin-Milch-Skandal von 2008, hinterließ ein Dutzend tote und Zehntausende kranker, in Krankenhäuser eingewiesene Kinder (obwohl möglicherweise Hunderttausende davon betroffen waren). Seitdem erschütterten eine Reihe von Skandalen die Öffentlichkeit: 2011, als in Restaurants im ganzen Land Abfall-Öl aus Fettabscheidern gefunden wurde, oder 2018, als fehlerhafte Impfstoffe mehrere Kinder töteten, und dann ein Jahr später, als Dutzende ins Krankenhaus eingeliefert wurden, weil gefälschte Impfstoffe gegen humane Papillomviren verabreicht worden waren. Weniger krasse Geschichten passieren noch viel häufiger und bilden eine vertraute Kulisse für jeden, der in China lebt: aus Kostengründen mit Seife verschnittene Tütensuppen; Unternehmer, die an mysteriösen Ursachen verendete Schweine in Nachbardörfer verkaufen; detaillierte Klatschgeschichten darüber, in welchen Imbissen man am ehesten krank wird.

Bevor das Land Stück für Stück ins kapitalistische Weltsystem integriert wurde, wurden Dienste wie die Gesundheitsversorgung in China über das danwei-System betrieblicher Sozialleistungen (vor allem in den Städten) oder von lokalen Gesundheitszentren mit ihren zahlreichen »Barfußmedizinern« (vor allem, aber nicht nur auf dem Land) kostenlos zur Verfügung gestellt. Die Erfolge der sozialistischen Gesundheitsfürsorge wie auch die Erfolge im Bereich der Bildung und Alphabetisierung waren so groß, dass selbst die schärfsten Kritiker des Landes sie anerkennen mussten. Die Wurmerkrankung Schistosomiasis, die das Land jahrhundertelang geplagt hat, war in Kernchina praktisch vollständig ausgemerzt, und kam mit Nachdruck zurück, als das sozialistische Gesundheitssystem abgebaut wurde. Die Kindersterblichkeit ging stark zurück, und trotz der mit dem »Großen Sprung nach vorn« verbundenen Hungersnot stieg die Lebenserwartung zwischen 1950 und den frühen 1980er Jahren von 45 auf 68 Jahre. Impfungen und allgemeine Hygienemaßnahmen setzten sich durch, grundlegende Informationen über Ernährung und Gesundheit sowie der Zugang zu elementaren Medikamenten waren kostenlos und für alle zugänglich. Gleichzeitig vermittelten die Barfuß-Mediziner einem großen Teil der Bevölkerung grundlegendes, wenn auch begrenztes medizinisches Wissen; sie trugen so zum Aufbau eines robusten, von unten nach oben aufgebauten Gesundheitssystems unter Bedingungen materieller Armut bei. Wir sollten nicht vergessen, dass China damals pro Kopf ärmer war als das durchschnittliche Land im subsaharischen Afrika heute.

Seitdem haben Nachlässigkeit und Privatisierung dieses System erheblich verschlechtert, und zwar genau zu dem Zeitpunkt, als die rasche Verstädterung und die unregulierte industrielle Produktion von Haushaltsgegenständen und Lebensmitteln eine umfassende Gesundheitsfürsorge erst recht notwendig gemacht hätten – ganz zu schweigen von Lebensmittel-, Drogen- und Sicherheitsvorschriften. Heute gibt China nach Angaben der WHO 323 USD pro Kopf für öffentliche Gesundheitsversorgung aus. Diese Zahl ist selbst im Vergleich zu anderen Ländern mit »oberem mittlerem Einkommen« niedrig: ungefähr die Hälfte von dem, was Brasilien, Belarus und Bulgarien ausgeben. Kontrollen gibt es praktisch keine, was zu den vielen Skandalen wie den oben erwähnten führt. Die Folgen bekommen dabei vor allem die Hunderte von Millionen von WanderarbeiterInnen zu spüren, die jedes Recht auf eine medizinische Grundversorgung verwirken, wenn sie ihr Heimatdorf verlassen – dort sind sie im Rahmen des Hukou-Systems13 unabhängig von ihrem tatsächlichen Aufenthaltsort gemeldet, öffentliche Ressourcen sind anderswo nicht zugänglich.

Angeblich wurde die öffentliche Gesundheitsversorgung Ende der 1990er Jahre durch ein stärker privatisiertes (aber vom Staat verwaltetes) System ersetzt, in dem Gesundheitsversorgung, Renten und Wohnraumversicherung durch Beiträge sowohl von Arbeitgebern wie von Arbeitnehmern bezahlt werden. Dieses Sozialversicherungssystem leidet aber an systematischem Geldmangel, so sehr dass die Arbeitgeber ihre »Pflichtbeiträge« oft einfach ignorieren und die allermeisten ArbeiterInnen den Arzt aus eigener Tasche zahlen müssen. Laut der jüngsten verfügbaren nationalen Schätzung haben nur 22 Prozent der WanderarbeiterInnen eine grundlegende Krankenversicherung. Dass die Beiträge zur Sozialversicherung nicht gezahlt werden, liegt aber nicht einfach daran, dass individuelle korrupte Chefs sich um ihre Verpflichtungen drücken, sondern vor allem daran, dass die Profitmargen dünn sind und keinen Raum für Sozialleistungen lassen. Laut unseren Berechnungen14 würde die Nachzahlung von unbezahlten Sozialversicherungsbeiträgen in einem Industriezentrum wie Dongguan die Profite in der Industrie um die Hälfte reduzieren und viele Firmen in den Konkurs treiben. Um die riesigen Lücken auszugleichen, hat China eine aufs Allernötigste reduzierte Krankenversicherung für Rentner und Selbständige eingeführt, die durchschnittlich nur Krankheitskosten von ein paar hundert Yuan pro Kopf und Jahr abdeckt.

Dieses belagerte Gesundheitssystem produziert selbst wiederum erschreckende soziale Spannungen. Jedes Jahr werden mehrere Krankenhausbeschäftigte getötet und Dutzende verletzt, wenn sie von wütenden Patienten oder öfter noch von Angehörigen von Patienten, die in ihrer Obhut gestorben sind, angegriffen werden. Der jüngste Angriff fand am Weihnachtsabend statt: In Peking wurde ein Arzt vom Sohn einer Patientin erstochen, der glaubte, seine Mutter sei an der schlechten Pflege in dem Krankenhaus gestorben. Laut einer Umfrage hatten 85 Prozent der ÄrztInnen schon Gewalt am Arbeitsplatz erlebt. Laut einer anderen Umfrage von 2015 waren 13 Prozent der chinesischen ÄrztInnen im Laufe des letzten Jahres körperlich angegriffen worden. Chinesische ÄrztInnen behandeln viermal so viele Patienten pro Jahr wie US-ÄrztInnen, verdienen aber mit 15.000 USD im Jahr weniger als das Durchschnittseinkommen (16.760 USD). Dagegen verdient eine durchschnittliche ÄrztIn in den USA mit 300.000 USD im Jahr fast fünfmal so viel wie das Durchschnittseinkommen (60.200 USD). Bevor das Blog-Projekt von Lu Yuyu und Li Tingyu zur Dokumentation von Unruhen geschlossen und seine Betreiber festgenommen wurden, verzeichnete es jeden Monat mindestens ein paar Streiks und Proteste von Krankenhausbeschäftigten15. 2015, im letzten vollen Jahr ihrer akribischen Datensammlung, gab es 43 derartige Vorfälle. Außerdem gab es jeden Monat Dutzende von »Protesten gegen medizinische Behandlungen« durch Angehörige von Patienten. 2015 wurden 368 solcher Vorfälle dokumentiert.

Angesichts eines derartig massiven Rückzugs des Staats aus dem Gesundheitssystem ist es kein Wunder, dass COVID-19 sich so schnell ausbreiten konnte. Zusammen mit der Tatsache, dass alle ein, zwei Jahre in China eine neue ansteckende Krankheit ausbricht, sorgt er dafür, dass die Epidemien weitergehen. Wie bei der Spanischen Grippe hat der allgemeine schlechte Zustand des öffentlichen Gesundheitswesens für die proletarische Bevölkerung dazu beigetragen, dass das Virus Fuß fassen und sich schnell ausbreiten konnte. Das ist aber wie gesagt nicht nur eine Frage der Verteilung. Wir müssen auch verstehen, wie das Virus selbst produziert wurde.

Es gibt keine Wildnis

Im Fall des jüngsten Ausbruchs verläuft die Geschichte weniger geradlinig als bei der Schweine- oder Vogelgrippe, die so klar mit dem Kern des agrarindustriellen Systems in Zusammenhang gebracht werden. Einerseits ist noch nicht völlig klar, wo das Virus herkommt. Es ist möglich, dass er von Schweinen stammt, die eine von vielen domestizierten und wilden Tierarten sind, die auf dem Wuhaner wet market gehandelt werden, der das Epizentrum des Ausbruchs zu sein scheint. In diesem Fall wäre der Kausalzusammenhang den obigen Fällen ähnlicher, als es sonst erscheinen mag. Wahrscheinlicher ist jedoch wohl, dass das Virus in Fledermäusen entstand oder möglicherweise in Schlangen, die beide gewöhnlich als Wildtiere gefangen werden. Selbst hier besteht jedoch ein Zusammenhang, da die abnehmende Verfügbarkeit und Sicherheit von Schweinefleisch durch den Ausbruch der Afrikanischen Schweinepest bedeutet, dass die steigende Nachfrage nach Fleisch oft durch diese wet markets gedeckt wird, die Fleisch vom »Wild« verkaufen. Aber kann denn ohne direkten Zusammenhang zur Agrarfabrik demselben ökonomischen Prozess eine Mitverantwortung für den aktuellen Ausbruch zugesprochen werden?

Die Antwort lautet ja, aber auf andere Weise. Wiederum verweist Wallace nicht auf eine, sondern auf zwei Hauptrouten, über die der Kapitalismus dazu beiträgt, immer tödlichere Epidemien auszubrüten und zu entfesseln: die erste und oben ausgeführte ist der direkte industrielle Fall, wo sich Viren in einem industriellen Ambiente entwickeln, das der kapitalistischen Logik vollständig unterworfen ist. Aber der zweite Fall ist der indirekte, über die kapitalistische Expansion und Extraktion im Hinterland, wo bis dahin unbekannte Viren im wesentlichen aus Wildbeständen geerntet und entlang weltweiter Kapitalkreisläufe verteilt werden. Die beiden Routen verlaufen natürlich nicht völlig voneinander getrennt, doch scheint es, als beschreibe der zweite Fall das Entstehen der aktuellen Epidemie am besten. Hierbei schafft die erhöhte Nachfrage nach den Körpern wilder Tiere für Konsum, medizinischen Gebrauch oder (wie im Fall der Kamele und MERS16) eine Vielfalt von Zwecken mit kultureller Bedeutung neue weltweite Lieferketten von »Wild«-Waren.17 In anderen Fällen weiten sich bereits bestehende agrarökologische Wertschöpfungsketten einfach in bis dahin »wilde« Bereiche aus. Dabei verändern sich die örtliche Ökologie und die Schnittstelle zwischen dem Menschlichen und dem Nichtmenschlichen.

Wallace selbst ist da ganz deutlich, indem er verschiedene Dynamiken erklärt, die schlimmere Seuchen schaffen, obwohl die Viren schon längst in »natürlicher« Umgebung existieren. Die Ausweitung der Industrieproduktion selbst »kann zunehmend kapitalisierte Wildtiere in die letzten Reste der ursprünglichen Landschaft treiben, wobei eine größere Bandbreite an Krankheitserregern mit Seuchenpotential erschlossen wird.« Anders gesagt werden Tiere, während die Kapitalakkumulation neue Gebiete erfasst, in schwerer zugängliche Gegenden gedrängt, wo sie mit vorher isolierten Seuchenerregern in Kontakt kommen. Wobei die Tiere selbst zu Waren werden, da »sogar die wildesten Gattungen in die landwirtschaftlichen Verwertungsketten hineingezogen werden.« Gleichermaßen drängt diese Expansion Menschen näher zu diesen Tieren und Umgebungen hin, was »die Schnittstelle (und Übertragung) zwischen wilden nichtmenschlichen Populationen und erst kürzlich urbanisiertem Landleben verbreitern kann.« Dies gibt dem Virus mehr Gelegenheiten und Möglichkeiten, auf eine Weise zu mutieren, die ihm erlaubt, Menschen zu infizieren, was eine Übertragung zwischen den Arten viel wahrscheinlicher macht. Und sowieso ist die Geographie der Industrie selbst nie so ganz sauber in städtisch und ländlich getrennt, wie etwa die monopolisierte industrielle Landwirtschaft sich sowohl riesiger Farmen als auch bäuerlicher Kleinbetriebe bedient: »Ein Nutztier kann sich auf einem am Waldrand gelegenen Kleinbetrieb, der als Sub für einen Großbetrieb arbeitet, einen pathogenen Keim einfangen, bevor es in eine fleischverarbeitende Fabrik am Rand einer Großstadt geliefert wird.« Tatsache ist, dass die Sphäre der »Natur« bereits von einem die ganze Welt umfassenden kapitalistischen System erfasst ist, dem es gelang, grundlegende klimatische Bedingungen zu verändern und dermaßen viele vorkapitalistische18 Ökosysteme zugrunde zu richten, dass die verbliebenen nicht länger so funktionieren, wie sie es in der Vergangenheit vielleicht getan haben. Hier liegt ein weiterer Kausalfaktor, denn laut Wallace verringern all diese Prozesse ökologischer Verheerung »die Art von Vielfalt in der Umwelt, mit der der Wald Übertragungsketten unterbricht.« In Wirklichkeit ist es also unzutreffend, sich solche Gebiete als die natürliche »Peripherie« eines kapitalistischen Systems vorzustellen. Der Kapitalismus ist bereits global und allumfassend. Er hat keinen Rand mehr oder eine Grenze mit einer natürlichen, nichtkapitalistischen Sphäre jenseits seiner selbst. Und daher gibt es auch keine große Kette der Entwicklung, in der »rückständige« Länder ihren Vorreitern beim Aufstieg in der Wertkette folgen, und keine wirkliche Wildnis, die man in einer Art reinen, unberührten Zustands erhalten könnte. Stattdessen hat das Kapital nur ein untergeordnetes Hinterland, das vollständig von weltweiten Wertketten erfasst ist. Die daraus entstehenden gesellschaftlichen Systeme – vom Tribalismus bis zu Neuauflagen antimoderner fundamentalistischer Religionen – sind vollständig Produkte der modernen Zeit. Und fast immer sind sie de facto an globale Märkte angeschlossen, oft ganz direkt. Dasselbe gilt für die daraus resultierenden biologisch-ökologischen Systeme, da die »wilden« Gebiete dieser globalen Ökonomie tatsächlich immanent sind. Und zwar sowohl im abstrakten Sinn einer Abhängigkeit vom Klima und damit verbundenen Ökosystemen als auch im direkten Sinn eines Anschlusses an diese selben globalen Wertschöpfungsketten.

Diese Tatsache schafft die notwendigen Voraussetzungen dafür, »wilde« Virenstämme in weltweite Pandemien zu verwandeln. Doch COVID-19 ist kaum deren schlimmste. Eine ideale Veranschaulichung für dieses grundlegende Prinzip – und die weltweite Gefahr – findet sich stattdessen in Ebola. Das Ebola-Virus19 ist ein klares Beispiel für ein bestehendes Reservoir an Viren, das sich in die menschliche Bevölkerung überträgt. Aktuelle Befunde legen nahe, dass seine ursprünglichen Wirte verschiedene Arten von Fledermäusen sind, die in West- und Zentralafrika vorkommen und als Träger fungieren, selbst aber durch das Virus nicht beeinträchtigt werden. Dies gilt aber nicht für die anderen wilden Säugetiere wie etwa Primaten und Antilopen, die sich das Virus periodisch einfangen und rasche Ausbrüche mit hohen Sterberaten erleiden. Jenseits seiner Wirtsarten hat Ebola einen besonders aggressiven Lebenszyklus. Durch Kontakt mit diesen wild lebenden Wirten können sich Menschen ebenfalls infizieren, mit verheerenden Ergebnissen. Es kam zu mehreren größeren Epidemien, und bei den meisten war die Sterblichkeitsrate außerordentlich hoch, fast immer über 50 Prozent. Der größte dokumentierte Ausbruch, der sich von 2013 bis 2016 sporadisch in mehreren westafrikanischen Ländern vollzog, verzeichnete 11 000 Tote. Bei Patienten, die es in ein Krankenhaus schafften, lag die Sterblichkeitsrate hier bei 57 bis 59 Prozent, und bei denen, die keinen Zugang hatten, lag sie noch wesentlich höher. In den letzten Jahren haben private Firmen verschiedene Impfstoffe entwickelt, aber langsame Zulassungsverfahren und strenge Gesetzgebungen zum Schutz geistigen Eigentums haben zusammen mit einer weitgehend mangelhaften Infrastruktur im Gesundheitswesen eine Situation geschaffen, in der Impfstoffe wenig dazu beitrugen, die jüngste Epidemie mit Schwerpunkt in der Demokratischen Republik Kongo zu stoppen, die jetzt der am längsten andauernde Ausbruch ist.

Oft wird die Seuche als eine Art Naturkatastrophe dargestellt – im besten Fall als Unglück, im schlimmsten als Folge »unreiner« kultureller Praktiken der im Wald siedelnden Armen. Doch der Zeitpunkt dieser beiden größeren Ausbrüche (2013-16 in Westafrika und 2018 bis heute in der DRK) ist kein Zufall. Beide traten genau dann auf, als die Expansion von Grundstoffindustrien im Wald siedelnde Bevölkerungen weiter vertrieb und örtliche Ökosysteme zum Erliegen brachte. Und tatsächlich scheint dies für mehr als nur die jüngsten Fälle zuzutreffen. Denn, wie Wallace erklärt, »jeder Ausbruch von Ebola scheint mit kapitalgetriebenen Verschiebungen bei der Nutzung von Land zusammenzuhängen, einschließlich des ersten Ausbruchs 1976 in Nzara im Sudan, wo eine aus Großbritannien finanzierte Fabrik regionale Baumwolle spann und verwob.« Ähnlich geschahen die Ausbrüche in Guinea 2013 kurz nachdem eine neue Regierung begonnen hatte, das Land für die Weltmärkte zu öffnen und riesige Gebiete an internationale Agrarkonzerne zu verkaufen. Eine besondere Verantwortung scheint der für ihre Rolle bei der weltweiten Entwaldung und ökologischen Zerstörung berüchtigten Palmölindustrie zuzukommen. Denn deren Monokulturen zerstören zum einen die robusten ökologischen Redundanzen, die dabei helfen, Übertragungsketten zu unterbrechen, zum anderen ziehen sie buchstäblich gerade die Fledermausarten an, die den Viren als natürliche Umgebung dienen.20

Derweil zieht der Verkauf von Land an Agroforstwirtschaftskonzerne sowohl die Enteignung der im Wald siedelnden Anwohner nach sich als auch die Zerrüttung ihrer von ihrem Ökosystem abhängigen örtlichen Formen von Produktion und Ernte. Oft bleibt den Landarmen dann keine andere Wahl, als noch tiefer in den Wald vorzudringen, während gleichzeitig ihre traditionelle Beziehung mit diesem Ökosystem unterbrochen wurde. Als Ergebnis hängt das Überleben zunehmend von der Jagd auf Wild ab oder von der Ernte örtlicher Pflanzen und von Holz, um es auf dem Weltmarkt zu verkaufen. Derartige Bevölkerungsgruppen werden dann zu den Sündenböcken für den Zorn globaler Umweltschutzorganisationen, die sie als »Wilddiebe« und »Waldfrevler« (illegale Holzfäller) anprangern und just für die Entwaldung und die ökologische Zerstörung verantwortlich machen, die sie erst in solche Gewerbe getrieben hatten. Oft nimmt dieser Prozess dann eine noch dunklere Wendung, wie in Guatemala, wo vom Bürgerkrieg im Land übrig gebliebene antikommunistische Paramilitärs zu »grünen« Sicherheitskräften gemacht wurden. Sie sollten den Wald »schützen« vor illegalem Holzeinschlag, Wilderei und Drogenhandel, was die einzigen Gewerbe waren, die den indigenen Einwohnern zugänglich waren – die in solche Aktivitäten durch eben die gewaltsame Repression getrieben worden waren, die sie vonseiten derselben Paramilitärs während des Kriegs erfahren hatten.21 Dieses Muster wiederholt sich seither auf der ganzen Welt, angefeuert durch Beiträge aus Hochlohnländern in den sozialen Medien, in denen die (oft buchstäblich live gefilmte) Exekution von »Wilderern« durch angeblich »grüne« Sicherheitskräfte gefeiert wird.22

Eindämmung: Übung in der Kunst der Staatsführung

COVID-19 hat wie nichts vorher globale Aufmerksamkeit erregt. Bei Ebola, Vogelgrippe und SARS gab es natürlich auch Aufregung in den Medien. Aber irgendwas an dieser neuen Epidemie zieht alle Augen weiter auf sich. Zum Teil liegt das höchstwahrscheinlich an der spektakulären Reaktion der chinesischen Regierung, die zu ebenso spektakulären Bildern von leergefegten Megastädten führt. Sie stehen in starkem Gegensatz zu den üblichen Medienbildern von China als überfüllt und verdreckt. Diese Reaktion war eine reiche Quelle für Spekulationen über den unmittelbar bevorstehenden politischen oder wirtschaftlichen Zusammenbruch des Landes – auch angesichts der zusätzlichen Spannungen durch den Handelskrieg mit den USA, der sich noch auf einer frühen Entwicklungsstufe bewegt. Zusammen mit der schnellen Ausbreitung des Virus entstand so das Bild einer unmittelbaren globalen Bedrohung, trotz seiner niedrigen Sterblichkeitsrate.23

Wenn man tiefer geht, ist das Faszinierendste an der staatlichen Reaktion, wie sie über die Medien als melodramatische Generalprobe für eine weitreichende innenpolitische Aufstandsbekämpfung inszeniert wurde. Wir erfahren dabei einiges über die repressiven Möglichkeiten des chinesischen Staates, aber auch über seine Unfähigkeit, die sich in seiner Abhängigkeit von Propagandamaßnahmen in allen Medien zeigt und in der freiwilligen Mobilisierung von Leuten vor Ort, die dazu eigentlich nicht verpflichtet sind. Die chinesische und die westliche Propaganda hat den tatsächlich repressiven Charakter der Quarantäne betont, die erste als effektive Regierungsmaßnahme in einer Notlage, die zweite als weiterer Fall totalitärer Überreaktion des dystopisch wirkenden chinesischen Staates. Die unausgesprochene Wahrheit ist aber, dass sein aggressive Durchgreifen eine tiefergehende Unfähigkeit des Staates zeigt, der sich selbst noch im Aufbau befindet.

Er entwickelt neue und innovative Techniken sozialer Kontrolle und Krisenreaktion, die auch dann eingesetzt werden können, wenn es nur wenige oder gar keine grundlegenden Staatsfunktionen gibt. Es ist interessant zu überlegen (wenn auch spekulativ), wie Regierungen egal in welchem Land reagieren würden, wenn Krise und Aufstand zu einem ähnlichen Zusammenbruch führen. Der Ausbruch des Virus ist in jeder Hinsicht durch die schlechte Verbindung der unterschiedlichen Regierungsebenen verschlimmert worden: Repression von »Whistleblower«-Ärzten durch Funktionäre vor Ort entgegen der Interessen der Zentralregierung, ineffiziente Berichtssysteme in Krankenhäusern und sehr schlechte medizinische Grundversorgung sind nur einige Beispiele. In der Zwischenzeit sind Regionalregierungen in unterschiedlicher Geschwindigkeit zur Normalität zurückgekehrt, fast völlig außerhalb der Kontrolle des Zentralstaats (abgesehen von Hubei, dem Epizentrum). Im Moment scheint es fast komplett zufällig, welche Häfen und Betriebe wieder laufen. Dieses Quarantäne-Puzzle führt dazu, dass Logistiknetzwerke unterbrochen bleiben, weil wohl jede Lokalregierung Züge und LKW durch ihr Gebiet stoppen kann.

Diese grundlegende Unfähigkeit des Staates hat ihn gezwungen, mit dem Virus wie mit einem Aufstand umzugehen, er spielt Bürgerkrieg mit einem unsichtbaren Gegner.

Die Staatsmaschinerie begann am 22. Januar so richtig zu laufen, als die Behörden die Notfallmaßnahmen auf ganz Hubei ausweiteten und der Öffentlichkeit mitteilten, dass sie das Recht hätte, Quarantäne-Einrichtungen aufzubauen und sich Personal, Fahrzeuge und Einrichtungen für die Eindämmung der Krankheit oder die Errichtung von Blockaden und Verkehrskontrollen anzueignen (und damit das legitimierte, was ohnehin passieren würde). Der volle Einsatz staatlicher Ressourcen begann also mit dem Aufruf zum freiwilligen Engagement der Menschen vor Ort. Einerseits wird ein derartiger Katastrophenalarm jeden Staat an die Grenzen seiner Möglichkeiten bringen (was man auch bei Hurricanes in den USA sieht). Andererseits ist das ein übliches Muster der chinesischen Staatsführung: Dem Zentralstaat fehlen effiziente Kommandostrukturen, die bis vor Ort reichen. Daher nutzt er auf eine Kombination von breit veröffentlichten Aufrufe an Funktionäre und BürgerInnen zum freiwilligen Einsatz vor Ort und Bestrafung für die, die schlecht reagiert haben (ausgegeben als Bekämpfung von Korruption). Die einzig effiziente Reaktion gibt es in bestimmten Gebieten, wo der Zentralstaat seine ganze Macht und Aufmerksamkeit konzentriert, in diesem Fall Hubei allgemein und vor allem Wuhan. Am Morgen des 24. Januar war die Stadt bereits vollständig abgesperrt, ohne jeglichen Zugverkehr, fast einen Monat, nachdem das Virus entdeckt worden war. Gesundheitsbeamte erklärten, dass die Gesundheitsämter jeden untersuchen und in Quarantäne schicken können. Dutzende andere Städte in ganz China, einschließlich Beijing, Guangzhou, Nanjing und Shanghai, haben auf unterschiedliche Art die Bewegung von Gütern und Menschen eingeschränkt.

Auf die staatlichen Aufrufe hin sind an manchen Orten seltsame, strenge Maßnahmen getroffen worden. Am erschreckendsten davon war die Ausgabe lokaler Pässe an 30 Mio. Bewohner von vier Städten in Zhejiang, wo nur eine Person pro Haushalt alle zwei Tage die Wohnung verlassen durfte. Städte wie Shenzhen und Chengdu haben die einzelnen Viertel abgeriegelt, und Hochhäuser für 14 Tage unter Quarantäne gesetzt, wenn es dort einen Krankheitsfalls gab. Hunderte wurden wegen der Verbreitung von »Gerüchten« über die Krankheit festgenommen oder bestraft, und manche, die der Quarantäne entflohen, wurden zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. In den Gefängnissen selbst gibt es gerade einen starken Ausbruch der Krankheit, weil die Aufseher unfähig sind, in einer für die Isolierung gemachten Umgebung kranke Gefangene zu isolieren.

Diese aggressiven, verzweifelten Maßnahmen spiegeln extreme Fälle von Aufstandsbekämpfung und erinnern an die militärisch-koloniale Besetzung etwa von Algerien und Palästina. Nie zuvor wurden sie in solch einem Ausmaß durchgeführt, schon gar nicht in den Megastädten, in denen ein Großteil der Weltbevölkerung heute lebt.

Wie der Staat hier durchgegriffen hat, ist eine Lehrstunde für alle, die sich für eine globale Revolution interessieren, weil es ein Probelauf der vom Staat angeführten Reaktion ist.

Unfähigkeit

Das staatliche Durchgreifen profitiert an dieser Stelle von seinem scheinbar humanitären Charakter, deshalb kann eine große Zahl Freiwilliger für die Bekämpfung des Virus rekrutiert werden. Aber wie zu erwarten geht eine solche Aktion auch nach hinten los. Aufstandsbekämpfung ist ein verzweifelter Krieg, zu dem es erst kommt, wenn stabilere Formen von Eroberung, Beschwichtigung oder wirtschaftlicher Unterwerfung unmöglich geworden sind. In einem teuren, gefährlichen Rückzugsgefecht demonstriert die jeweiligen Macht ihre Unfähigkeit – sei es der französische Kolonialstaat, das niedergehende amerikanische Imperium, oder andere. Das Ergebnis ist fast immer ein zweiter Aufstand, blutig gezeichnet von der Niederschlagung des ersten und noch verzweifelter. Hier endet die Parallele zwischen Quarantäne, Bürgerkrieg und Aufstandsbekämpfung. Aber auch dabei ging die Aktion zum Teil nach hinten los. Obwohl der Staat viel Aufwand mit der Kontrolle der Informationen und ständiger Propaganda über alle möglichen Medien betrieb, drückte sich über dieselben Kanäle Unmut aus.

Der Tod von Dr. Li Wenliang, ein früher Whistleblower des Virus, am 7.2.20 hat die in ihren Wohnungen eingeigelten BürgerInnen im ganzen Land erschüttert. Li war einer der acht Ärzte, die Anfang Januar wegen der Verbreitung »falscher Informationen« verhaftet worden waren, später zog er sich das Virus selbst zu. Im Netz äußerten Leute ihre Wut darüber, die Regierung von Wuhan äußerte ihr Bedauern. Die Leute fangen an zu sehen, dass der Staat aus stümperhaften Funktionären und Bürokraten besteht, die keine Ahnung haben, was sie tun, aber dennoch auf stark machen müssen.24 Das wurde besonders deutlich, als der Bürgermeister von Wuhan, Zhou Xianwang, im Fernsehen zugeben musste, dass seine Regierung die Veröffentlichung wichtiger Informationen über das Virus verzögert hatte. Die durch das Virus erzeugte Spannung und die totale Mobilisierung durch den Staat beginnen, den Leuten die Risse im Bild zu zeigen, das die Regierung auf hauchdünnem Papier von sich zeichnet. Die aktuelle Lage hat eine wachsende Zahl von Menschen, die bisher der Propaganda geglaubt haben, auf die grundlegende Unfähigkeit des chinesischen Staates gestoßen.

Fußnoten:

[1] Wet market: Markt für frische Lebensmittel, zum Teil werden Tiere lebend gehandelt bzw. frisch geschlachtet [A.d.Ü.]

[2] siehe »Research excludes Wuhan seafood market as origin of SARS-CoV-2: CAS«, China.org.cn, 23.2.2020;

[3] Vieles, was wir hier erklären, ist einfach eine zugespitzte Zusammenfassung von Wallace‘ Argumenten, für eine allgemeinere LeserInnenschaft formuliert und ohne die Notwendigkeit, andere Biologen durch penible Argumentation und ausführliche Belege zu überzeugen. Wir verweisen diejenigen, die das zugrundeliegende Material in Frage stellen, auf die Arbeit von Wallace und seiner Landsleute.

[4] Robert G. Wallace, »Big Farms Make Big Flu: Dispatches on Infectious Disease, Agribusiness, and the Nature of Science«. Monthly Review Press, 2016. p.52

[5] Ebd., S.56

[6] Ebd., S. 56-57

[7] Ebd., S. 57

[8] Das soll nicht bedeuten, Vergleiche zwischen den USA und China heute seien nicht informativ. Da die USA einen eigenen riesigen Agroindustrie-Sektor haben, tragen sie selbst zur Produktion gefährlicher neuer Viren bei, von antibiotikaresistenten Bakterien ganz zu schweigen.

[9] S. J.F. Brundage, G.D. Shanks, What really happened during the 1918 influenza pandemic? The importance of bacterial secondary infections”. The Journal of Infectious Diseases Bd. 196, Nr. 11, December 2007, S. 1717–1718, Antwort des Autors S. 1718-1719; und D.M. Morens, A.S. Fauci, »The 1918 influenza pandemic: Insights for the 21st century«. The Journal of Infectious Diseases. Bd. 195, Nr. 7, April 2007, S. 1018-1028.

[10] Dust Bowl: versteppte, von Sandstürmen heimgesuchte Landschaften in den Great Plains während der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren [A.d.Ü.]

[11] Sehr seltenes, unwahrscheinliches und unvorhersehbares Ereignis [A.d.Ü.]

[12] Vergoldetes Zeitalter: von Mark Twain geprägter Ausdruck für die Zeit ca. 1877-1900 in den USA, eine Zeit des Aufschwungs und Fortschritts verbunden mit Armut und Korruption. [A. d. Ü.]

[13] Hukou: offizielle staatliche Wohnsitzkontrolle in der VR China [A.d.Ü.]

[14] siehe »Picking Quarrels« in der zweiten Ausgabe unserer Zeitschrift

[15] siehe »Picking Quarrels« in der zweiten Ausgabe unserer Zeitschrift

[16] Middle East Respiratory Syndrom, durch das MERS-Coronavirus übertragene Erkrankung der Atemwege

[17] Auf ihr Art sind die zwei Arten der Produktion von Pandemien ein Spiegel davon, was Marx die »reelle« und »formelle« Subsumtion in der Produktion nennt. Bei der reellen Subsumtion wird der Produktionsprozess selbst durch die Einführung neuer Technologien verändert, die Geschwindigkeit und Umfang der Produktion intensivieren – so wie die Industrie die Bedingungen für die Evolution von Viren verändert, was dazu führt, dass neue Mutationen schneller entstehen und durchsetzungsfähiger sind. Bei der formellen Subsumtion, die der reellen vorausgeht, gibt es diese Technologien noch nicht. Stattdessen werden Produktionsarten an neuen Orten zusammengebracht, wo sie eine Schnittstelle zum Weltmarkt haben. So war es, als die WeberInnen in Betriebe gebracht wurden, die ihre Produkte verkauften. Und das ähnelt der Art, wie in einer »natürlichen« Umgebung entstandene Viren von wilden Populationen über den globalen Markt auf domestizierte Populationen übertragen werden.

[18] Es ist nicht richtig, diese Ökosysteme mit der vormenschlichen Welt gleichzusetzen. China ist das beste Beispiel, weil viele seiner scheinbar urzeitlichen Landschaften tatsächlich das Ergebnis sehr viel früherer Phasen menschlicher Expansion sind, die zum Aussterben von vorher in Ostasien verbreiteten Arten wie Elefanten führte.

[19] Technisch ist das nur eine allgemeine Bezeichnung für ca. fünf unterschiedliche Viren, von denen der tödlichste selbst einfach Ebola-Virus heißt, früher Zaire-Virus.

[20] Zu Westafrika, s. R.G. Wallace, R. Kock, L. Bergmann, M. Gilbert, L. Hogerwerf, C. Pittiglio, R. Mattioli, R. Wallace, »Did Neoliberalizing West African Forests Produce a New Niche for Ebola«, International Journal of Health Services, Bd. 46, Nr. 1, 2016; einen Überblick über die Verbindung zwischen ökonomischen Bedingungen und Ebola findet sich im Buch von Robert G. Wallace und Rodrick Wallace (Hg.); Neoliberal Ebola: Modelling Disease Emergence from Finance to Forest and Farm, Springer, 2016; die deutlichsten, aber weniger akademischen Aussagen zum Fall finden sich im Artikel von R.G. Wallace, »Neoliberal Ebola: the Agroeconomic Origins of the Ebola Outbreak«, Counterpunch, 29 July 2015.

[21] Siehe Megan Ybarra »Green Wars, Conservation and Decolonization in the Maya Forest«, University of California Press, 2017.

[22] Es ist sicherlich falsch zu implizieren, dass jede Wilderei von der armen ländlichen Bevölkerung betrieben wird, oder dass alle Ranger in den Wäldern der verschiedenen Länder frühere antikommunistische Paramilitärs sind, aber die gewalttätigsten Zusammenstöße und die aggressivste Militarisierung von Wald scheinen im Grunde diesem Muster zu folgen. Einen weitgefasstern Überblick über das Phänomen gibt es in der Sonderausgabe von Geoforum (69) zum Thema, das Vorwort ist online zu finden: Alice B. Kelly, Megan Ybarra, »Introduction to the med issue: ‘Green security in protected areas’«, Geoforum, Volume 69, 2016. S.171-175.

[23] COVID-19 hat die niedrigste Todesrate aller hier erwähnten Krankheiten; die relativ vielen Toten gehen vor allem auf die rasche Ausbreitung auf viele Menschen zurück, die zu höheren Todeszahlen führt, als ihrer Todesrate entspricht.

[24] In einem Podcast-Interview zitiert Au Loong Yu Freunde vom chinesischen Festland mit der Aussage, dass die Regierung von Wuhan durch die Epidemie gelähmt sei. Sie meint die Krise zerreiße nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die bürokratische Maschinerie der KPCh. Mit der Verbreitung des Virus werde das zu einer Krise lokaler Regierungen im ganzen Land.

Original:

Social Contagion

Deutsch 1:

http://www.wildcat-www.de/aktuell/a112_socialcontagion.html

Deutsch 2:

Soziale Ansteckung

Italiano 1:

Contagio sociale. Guerra di classe micro-biologica in Cina (Chuang)

Italiano 2

https://www.infoaut.org/global-crisis/contagio-sociale-guerra-di-classe-micro-biologica-in-cina

Espanhol:

Russisch:

https://zubynapolku.info/texts/social-contagion.html

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