CICA – Soligruppe für Gefangene https://panopticon.blackblogs.org Für die Anarchie! Knäste, Staat, Patriarchat und Kapital abschaffen! Sun, 27 Oct 2024 08:33:41 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.1 https://panopticon.blackblogs.org/wp-content/uploads/sites/1233/2020/02/cropped-discharge-degenerik-blog-1-32x32.jpg CICA – Soligruppe für Gefangene https://panopticon.blackblogs.org 32 32 (Roi Ferreiro, CICA) Kritik des Textes „Revolutionärer Anarchismus und die politischen Parteien“, erstellt von der Alianza Comunista Libertaria (26/11/04). https://panopticon.blackblogs.org/2024/08/28/roi-ferreiro-cica-kritik-des-textes-revolutionaerer-anarchismus-und-die-politischen-parteien-erstellt-von-der-alianza-comunista-libertaria-26-11-04/ Wed, 28 Aug 2024 16:49:08 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5986 Continue reading ]]>

Von uns übersetzt, hier eine weitere Kritik am Plattformismus, können ja nie zu wenige sein.


(Roi Ferreiro, CICA) Kritik des Textes „Revolutionärer Anarchismus und die politischen Parteien*, erstellt von der Alianza Comunista Libertaria (26/11/04).

Gegen alle Parteien, für die Selbstemanzipation der Klasse.

Schon Engels sagte in seinem – für Anarchistinnen und Anarchisten – umstrittenen Text „Über Autorität“ von 1873, dass nichts dadurch gelöst wird, dass man den Namen der Dinge ändert. Und diese Kritik ist auch im Fall der ACL mehr als zutreffend.

Um es auf den Punkt zu bringen, verzichte ich auf die Fragen, die für die Diskussion über die Parteiform und ihre Anwendung in der anarchistischen Strömung nicht zentral sind.

Die ACL beginnt damit, dass sie die Notwendigkeit einer Organisation bekräftigt, die „nur aus denjenigen Elementen besteht, die sich der revolutionären Sache verschrieben haben“. Warum die ACL diese Notwendigkeit a priori mit der Parteiform identifiziert, erklärt sie nicht, und das ausgerechnet in einem Dokument, das die Frage der Partei „ein wenig klären“ soll. Andererseits muss, auch wenn es ein oberflächliches Problem zu sein scheint, gesagt werden, dass wir unser Engagement für den Kampf für die kommunistische Umgestaltung der Gesellschaft nicht als Engagement für die „revolutionäre Sache“ verstehen, sondern für die wirklichen Arbeiterinnen und Arbeiter, für ihre Emanzipation als Individuen und als Kollektiv (d.h. als „konkrete Gesamtheit“, abstrakter ausgedrückt). Von einer „revolutionären Sache“ zu sprechen, bedeutet, „Emanzipation der Arbeiter“ und „revolutionäres Programm“ begrifflich gleichzusetzen, was an sich schon ein ideologisches Merkmal der Parteien ist: Sie identifizieren ihr eigenes Programm mit den allgemeinen Interessen der Klasse, die sie zu vertreten vorgeben.

Bakunin und Marx lebten zu einer Zeit, in der sich die Folgen der Parteiform – und allgemein der Organisations-, Aktions- und Denkformen, die für den Kampf um Reformen geboren wurden – erst teilweise entwickelt hatten und noch durch die fortschrittliche Rolle dieser reformistischen Organisationen aufgewogen wurden. Daher konnten diese Organisationsformen immer noch als fähig angesehen werden, einen revolutionären Inhalt zu erlangen. Das Problem wurde also als ein Problem der „Führung“ dargestellt, unabhängig davon, ob diese im Sinne einer Führung von unten oder von oben verstanden wird. Die Geschichte des Klassenkampfes im 20. Jahrhundert hat jedoch gezeigt, dass diese Einschätzung falsch war, das Ergebnis einer illusorischen Wahrnehmung, die an eine vorübergehende historische Situation gebunden war. Das letzte Jahrhundert der Klassenkämpfe hat gezeigt, dass diese traditionellen Organisationsformen der Arbeiterklasse nicht dazu dienen, die Revolution voranzutreiben: Im Gegenteil, sie werden eher zu Handlangern des Kapitalismus innerhalb des Proletariats, die es daran hindern, ihn zu zerstören, oder es vom Weg seiner Überwindung, dem Staatskapitalismus, ablenken.

Zu diesem letzten Punkt muss gesagt werden, dass es ebenso wie der „Staatssozialismus“ eine Illusion ist, ob es sich um einen „Staatssozialismus“ handelt, der von einer Partei angeführt wird, oder um einen Sozialismus, der von „libertären“ Gewerkschaften/Syndikate oder von einer bestimmten anarchistischen Organisation angeführt wird. In der Realität macht es keinen Unterschied, ob die „Revolutionäre“ das gesellschaftliche Leben von unten nach oben oder von oben nach unten führen, denn der Punkt ist, dass sie „führen“, dass die Trennung Führer/Geführte fortbesteht. Die Massen nehmen also weiterhin dieselbe untergeordnete Position in der gesellschaftlichen Praxis ein wie zuvor. Ideologische Autorität erzeugt also politische Autorität und umgekehrt; das politische Verhältnis, auf dem der Staat, wie wir ihn kennen, der Staat der Klassengesellschaft, beruht, wird neu konstituiert. Das Beispiel der Rolle der CNT und der FAI in der Spanischen Revolution ist bezeichnend (im Gegensatz zu den Behauptungen der ACL waren die Amigos de Durruti (Freunde von Durruti) eine beginnende Oppositionskraft sowohl gegen den Reformismus als auch gegen den Kollaborationismus der CNT und der FAI, denn die beiden Organisationen waren stark miteinander verflochten).

Wahre Arbeiterdemokratie kann keine bloße Form sein, sie muss gleichzeitig die lebendige Grundlage der Selbsttätigkeit der Klasse sein, der Ausdruck ihrer bewussten Aktion. Deshalb kann echte Massendemokratie nur das Ergebnis der quantitativen und qualitativen Steigerung der Selbstaktivität dieser Massen und der Entwicklung ihres revolutionären Bewusstseins sein, und das steht im Gegensatz zur Rolle der Partei und der „politischen Führung“ der Klasse durch eine spezialisierte Organisation.

Die ACL gibt sogar vor, Bakunin als den ersten Verfechter der revolutionären Partei darzustellen, im Gegensatz zu Marx, der ihrer Meinung nach – so wird angedeutet – auf jeden Fall eine Art „Nachahmer“ dieser Idee wäre. Doch nichts könnte weiter von der Realität entfernt sein. Marx verstand im Gegensatz zu Bakunin, dass der historische Trend nicht zum Niedergang des Kapitalismus, sondern zu seinem anhaltenden Aufstieg über einen langen Zeitraum hinweg ging. Deshalb orientierte er sich an der Beteiligung an den reformistischen Organisationen und versuchte, schrittweise das revolutionäre Programm in sie einzubringen – eine sehr fragwürdige Taktik, aber das geht uns jetzt nichts an.

Die ACL zitiert Bakunin genau dort, wo er in die jakobinisch-blanquistische-leninistische Tradition der revolutionären Partei fällt. Für Marx war die revolutionäre Partei der Ausdruck der Bildung des Proletariats als Klasse und seiner Fähigkeit, als Klasse für sich selbst zu handeln, in Form eines organisierten und selbstbewussten Zusammenschlusses. Sie war das Ergebnis eines historischen Reifungsprozesses des Proletariats durch den Klassenkampf. Das hat nichts mit der Theorie der Avantgarde zu tun, auf die sich Bakunin und mit ihm auch die Blanquisten und später die Bolschewiki stützen. Wir wollen hier auch nicht auf die Theorie der Avantgarde eingehen, sondern nur darauf hinweisen, dass in dieser politischen Tradition – die bourgeoisen Ursprungs ist – Avantgarde und revolutionäre Partei als Synonym betrachtet werden, d.h. die Rolle der Avantgarde wird damit identifiziert, „diesen Massen eine wirklich revolutionäre Führung zu geben“ (Bakunin). Dieser Satz hätte genauso gut von Lenin oder einem seiner Anhänger gesagt werden können.

Bakunin hat Recht, wenn er sagt, dass zwischen Avantgarde und Masse unterschieden werden muss, aber er macht die Sache nicht weiter klar. Außerdem spricht er in dem Zitat in der ACL von einem konkreten Fall, der nicht erklärt: 1) ob er diese Dichotomie Avantgarde-Masse als etwas Relatives und durch die reale Praxis im Klassenkampf Bestimmtes versteht, oder 2) ob er die Avantgarde nur in Funktion des intellektuellen Bewusstseins definiert und 3) ob er die Aufteilung Avantgarde-Masse als etwas Wasserdichtes betrachtet, anstatt diese Begriffe als relativ zu der zu analysierenden Bewegung zu verstehen (in einem konkreten Arbeiterkampf spielt z.B. ein Sektor eine Avantgarde-Rolle, die den Kampf vorantreibt und orientiert, aber das bedeutet nicht, dass sie „überzeugte Revolutionäre“ sind, ganz im Gegenteil). Die Identifizierung des Begriffs „Avantgarde“ mit „mit intellektuellem Bewusstsein ausgestatteten Revolutionären“ ist ebenfalls ein Überbleibsel des Blanquismus, der eindeutig und direkt auf den Jakobinismus und ganz allgemein auf die Praxis der bourgeoisen Revolution zurückgeht.

Für die ACL hat ihre spezifische „revolutionäre Organisation“ die Aufgabe, „der Arbeiterklasse ihre historische revolutionäre Rolle bewusst zu machen“. Ihre Ablehnung des Parteibegriffs ist nur dann wirklich gültig, wenn wir uns auf Parteien im herkömmlichen Sinne beziehen, d. h. auf explizit staatstragende Parteien. Denn die Machtausübung durch eine Partei, ob sie nun auf expliziter politischer Autorität oder auf moralischer/ideologischer Autorität beruht – letzteres wollen die Anarchistinnen und Anarchisten -, bedeutet in der Praxis dasselbe mechanische und einseitige Verhältnis zwischen Avantgarde-Massen, zivilgesellschaftlich organisierter politischer Macht und generell zwischen Praxis und Theorie.

Die Theorie wird einseitig als bestimmend für die Praxis angesehen, und so muss die „revolutionäre Organisation“ die Theorie zu den Massen bringen. Man sieht, dass Lenins Problem mit den typischen Anarchistinnen und Anarchisten darin besteht, dass er das Unglück hatte, offen auszusprechen, was sie bereits für sich selbst dachten: (um ihn umgangssprachlich zu paraphrasieren) „die Massen sind zu dumm, um von selbst zum Bewusstsein des Sozialismus zu kommen, deshalb muss das sozialistische Bewusstsein von außen kommen“.

Für uns hingegen ist es nicht die revolutionäre Theorie, die über die Existenz einer revolutionären Praxis entscheidet, und es ist auch nicht das Programm einer Organisation, das die revolutionäre Entwicklung des Klassenkampfes bestimmt. Im Gegenteil, es ist die Existenz einer revolutionären Praxis, die das Entstehen eines revolutionären Denkens bestimmt, und es ist der Klassenkampf, der die Programme der Organisationen bestimmt. Eine Theorie oder ein Programm kann nicht unabhängig von der Praxis existieren, es sei denn in Form einer überhistorischen „Salon“-Existenz oder in einer Bibliothek zusammen mit anderen Büchern, deren einziger Zweck das Vergnügen ist, sie zu lesen. Wenn es keine revolutionäre Praxis gibt, wird der Anspruch, auf ihrer Grundlage revolutionäre theoretische Ansätze zu vertreten, zwangsläufig zu einer Mystifizierung der Realität.

Die Arbeiterklasse wird sich ihrer sozialen Macht und revolutionären Fähigkeit nicht durch die Freiwilligkeit und Propaganda der ACL oder ähnlicher Organisationen bewusst, sondern durch die Erweckung und Entwicklung ihrer Selbstaktivität – also ihrer gesamten Energie und Fähigkeiten – durch den Klassenkampf und die damit verbundene kollektive Anstrengung.

Allen politischen Parteien ist gemeinsam, dass sie die „Bewusstseinsbildung“ der Arbeiterinnen und Arbeiter als Ergebnis der intellektuellen Vernunft begreifen, anstatt das rationale Denken auf der inhaltlichen Ebene als bloßes Derivat der Erfahrung zu betrachten. Der rettenden Rolle der „Intellektuellen der Revolution“ (seien es Berufsintellektuelle, Hobbyintellektuelle oder Autodidakten) entspricht die rettende Rolle des rationalen Denkens, d. h. der Göttin Vernunft der bourgeoisen Aufklärung, die ruft: Lass das Rationale wirklich werden! Doch die Realität lehnt sich auf und antwortet barsch: Ich bin derjenige, der das Rationale macht!

Die ACL sagt, dass sie es für „unangemessen“ hält, sich als „Arbeiterpartei“ zu präsentieren, aber sie sagt das nur aus taktischen Gründen und um sich von ihren Konkurrenten, den reformistischen und leninistischen Parteien, abzugrenzen. Wir Rätekommunisten hingegen wollen mit keiner anderen Organisation „konkurrieren“. Unsere Bemühungen zielen darauf ab, der Klasse zu helfen, sich selbst zu entwickeln, und nicht auf die Konfrontation mit anderen „Parteien“. Letzteres tun wir nur, wenn es für die Klärung der Klasse praktisch notwendig ist (beachte, dass wir, wenn wir von „Klärung der Klasse“ sprechen, immer von einem kollektiven Prozess sprechen, in dem die revolutionäre Avantgarde ihre spezifische Rolle hat, der aber dennoch ein „horizontaler“ Prozess ist). Kurz gesagt, die ACL kritisiert einerseits nur die Parteien, die die Illusionen in „Wahlen und Parlamente“ verstärken, und – wie sie später detailliert ausführt – andererseits die Leninisten (es ist nicht bekannt, warum sie eine so deutliche Unterscheidung trifft, wo es doch heute praktisch unbedeutende leninistische Parteien gibt, die nicht wahlkämpferisch und parlamentarisch sind).

Wenn die ACL die leninistische Auffassung von der Partei kritisiert, tut sie dies mit der Behauptung, dass sich ihre Position von der des Bolschewismus dadurch unterscheidet, dass sie der „Massenfront“ die gemeinsame Vertretung der Interessen der Arbeiterklasse zusammen mit der Avantgardeorganisation zuschreibt, während – ihrer Meinung nach – im Falle des Bolschewismus nur die Partei als Vertreterin der Interessen der Arbeiterklasse anerkannt würde. Das ist erstens falsch, denn der Bolschewismus begreift die Partei als „Trägerin“ des revolutionären Bewusstseins, er behauptet nicht, dass die Massen und ihre großen Organisationen absolut unbewusst sind. Was der Bolschewismus predigt, ist die Unterordnung der Massenorganisationen unter die Partei, im Namen der „revolutionären Sache“.

Nachdem dies geklärt ist, wird deutlich, dass es gar nicht so viele Unterschiede zwischen dem Bolschewismus und dem Bakuninismus der ACL gibt. Eine einzige Aussage der letzteren macht es ganz deutlich: Die Funktion der organisierten Avantgarde besteht nicht darin, der Klasse zu helfen, sich als autonomes Subjekt zu entwickeln, indem sie Elemente der Klärung liefert, den Kampf und die Organisation vorantreibt usw., sondern darin, die „Führung“ der anderen nicht-revolutionären Tendenzen „anzufechten“.

Der zweite von der ACL erwähnte Unterschied ist, dass für sie die leninistische Partei die Staatsmacht für sich selbst will und dafür ihre intellektuelle Überlegenheit auf den Tisch legt, während die „anarchistische politische Organisation“ (um nicht von „anarchistischer politischer Partei“ zu sprechen) die bestehende Staatsmacht zerstören will. Mit anderen Worten, hier hat die ACL nichts geklärt: Der Leninismus will die Macht vom bestehenden Staat oder von einem neuen Staat übernehmen; die ACL will die bestehende Staatsmacht zerstören? und was dann?

Die ACL klärt nichts von alledem, sie wiederholt nur die gleichen Klischees. Was mit der realen politischen Macht geschieht, ist ein Rätsel. Anstatt wenigstens zu versuchen, einen Hinweis zu geben, postuliert die ACL die Identität: „Ergreifung der politischen Macht“ = „Aufzwingen einer Minderheit auf die Masse“. Dann aber sagt sie, ihr Ziel sei „der Aufbau einer proletarischen Volksmacht, die sich von unten nach oben konstituiert, wobei die gesamte Macht in der Kollektivität des arbeitenden Volkes durch seine horizontalen, vollversammlungsbasierten Entscheidungsgremien verschmolzen ist“. Diese Ansätze sind nur für die Gläubigen einer Ideologie zufriedenstellend. Lenin wusste sehr gut, wie er mit praktischen Argumenten gegen diejenigen vorgehen konnte, die die leninistische Theorie kritisierten. Er würde ihnen sagen: „Werden alle Werktätigen alle Entscheidungen direkt treffen, werden alle Menschen die Fähigkeit haben, diese Entscheidungen zu treffen?“ Dann würde die Frage zumindest auf ein wirklich praktisches Terrain gestellt werden.

Die eigentliche Frage der Partei lautet: Selbstbestimmung der Massen oder Führung der Massen durch eine organisierte Minderheit?

In der Realität ist die Zweideutigkeit des Konzepts der ACL jedoch kein Fehler, sondern, wie in jeder anarchistischen „spezifischen Organisation“, Ausdruck ihrer realen praktischen Vorstellungen von „Führung“.

Wir verteidigen die „Selbstverwaltung“ des Proletariats. Wir wissen, dass dies unter den Bedingungen der Lohnsklaverei nicht vollständig möglich ist und sich nur mit der Zeit und kollektiver Anstrengung entwickeln kann. Deshalb sind wir der Meinung, dass es eine Tatsache der bourgeoisen Gesellschaft ist, wenn sich die Massen darauf beschränken, die Orientierungen einer Minderheit zu übernehmen, und dass dies überwunden werden muss, und zwar mit so viel Aufmerksamkeit und Anstrengung wie möglich, um dies zu vermeiden. Denn auch wenn diese Orientierungen fortschrittlich sind und die Klasse auf eine höhere Stufe der Organisation und des Bewusstseins führen, sind sie letztlich an einem bestimmten Punkt auch ein Hindernis für ihre effektive Emanzipation. Das heißt, sie sind gültig, solange sich der Klassenkampf auf reformistische Ziele beschränkt, aber sie sind der Vorbereitung des Proletariats auf den Kommunismus entgegengesetzt.

Es ist nicht nötig, den historischen Teil des Textes zu kommentieren, in dem von den russischen und ukrainischen Anarchistinnen und Anarchisten, den Freunden von Durruti usw. die Rede ist. Es ist nur erwähnenswert, dass die gleiche Idee wiederholt wird: „die Notwendigkeit, sich in einer bewussten revolutionären Führung zu konstituieren“. Zumindest dienen solche Phrasen nur dazu, die Hegemonie des bourgeoisen Revolutionismus innerhalb des Proletariats aufrechtzuerhalten. Die ACL will in den revolutionären Gruppen immer den Ausdruck des Willens sehen, eine Bewegung, die nicht revolutionär ist, in einem revolutionären Sinne zu führen.

In der Realität ist es so, dass die ACL eine Vorstellung hat, die dem leninistischen Avantgardismus viel näher ist, als sie glaubt, und das hindert sie daran, viele andere Nuancen zu sehen, die es in der anarchistischen Theorie gibt und die in eine andere Richtung weisen.

Ohne sehr weit zu gehen, betont die Theorie der Spontaneität gerade die Fähigkeit der Arbeiterklasse, ihre eigenen Organisationen zu schaffen und sich selbst zu revolutionärem Bewusstsein zu erheben, wobei die Rolle der Avantgarde nicht darin besteht, diese Spontaneität gemäß dem revolutionären Programm zu „lenken“, sondern diese spontane Erfahrung in rationale Begriffe zu übersetzen und mit allen historischen Erfahrungen, die die Klasse und die Menschheit angesammelt haben, eine möglichst weit entwickelte revolutionäre Theorie auszuarbeiten. Diese Theorie wird dann zu den Massen zurückgebracht, um ihnen in ihrem eigenen Prozess der Selbstentwicklung als bewusste Klasse zu dienen, und dort wird sie in der Praxis auf die Probe gestellt. Es geht also darum, die Spontaneität der Massen zum vollen Bewusstsein zu erheben.

Andererseits muss gesagt werden, dass nur wenige Anarchistinnen und Anarchisten die tiefere Bedeutung von Bakunins umstrittenem Satz verstanden haben, dass organisierte Revolutionäre wie eine „unsichtbare Diktatur sein sollten, die die Revolution steuert“ (ich zitiere aus dem Gedächtnis, aber das sind mehr oder weniger seine Worte. Hier ist Revolution im Sinne eines massenhaften revolutionären Prozesses zu verstehen). Was Bakunin zu erklären versucht, ist etwas, das man nur verstehen kann, wenn man in einer spontanen praktischen Bewegung war: dass es möglich ist, einen bestimmenden Einfluss auf die Ereignisse zu haben, ohne dass es besonderer Formen der Macht bedarf. Und zu dieser Kategorie zählen wir sowohl „zentralistische“ als auch „moralische“ Formen der Macht, die von unten wirken (in der Realität sind beide Formen der Macht immer miteinander verbunden: moralische Autorität unten impliziert potenziell Zentralismus oben und umgekehrt).

Für uns geht es darum, dass die Klasse, die zum aktiven Subjekt wird, sich die theoretische Ausdrucksform zu eigen macht, die ihrer Erfahrung und ihrem Willen am ehesten entspricht (und letztere sind oft widersprüchlich). Dafür brauchen wir weder eine politische noch eine intellektuelle Autorität, sondern nur die Möglichkeit, Teil der Klassengemeinschaft zu sein und unsere Ideen in Verbindung mit dieser Gemeinschaft zu verbreiten, die im Kapitalismus immer noch hauptsächlich eine Kampfgemeinschaft ist.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das, was die ACL tut, eine Wiederholung des Bakuninismus ist, anstatt den Anarchismus zu weiterführenden Positionen zu entwickeln. Man kann argumentieren, dass dies eine anmaßende Behauptung ist. Was ich jedoch in diesem Text zu zeigen versucht habe, ist, dass die eigene Theorie der ACL eine Ansammlung von Phrasen ist, die von Zweideutigkeiten umgeben sind, und keine umfassendere und höhere Entwicklung der ursprünglichen bakuninistischen Theorie; wenn also keine Anstrengungen unternommen werden, die ursprüngliche Theorie zu verstärken, wird es noch weniger Anstrengungen geben, sie im Lichte der historischen Ereignisse und der Schwierigkeiten des gegenwärtigen Klassenkampfes kritisch zu bewerten.

Die Schlussfolgerung der ACL ist nichts anderes als eine endgültige Bestätigung dessen, was sie ganz und gar zu leugnen versuchte: die Partei als autoritäres Element in der Klassenbewegung. Und das aus einem ganz einfachen Grund: Weil die Partei im Grunde ein autoritäres Element ist. Jede Organisation, die die wesentlichen Merkmale und Funktionen einer politischen Partei annimmt, muss eine autoritäre Organisation sein. Jeder Versuch, ihr eine emanzipatorische Rolle zuzuschreiben, kann nur zu einer Mystifizierung führen: Einer Organisation, die in der Praxis nicht revolutionär handelt, wird eine revolutionäre Ideologie übergestülpt, und das natürlich – daran zweifeln wir hier nicht – gegen den Willen ihrer Mitglieder, die ihre eigene Praxis aus einer Art Scheinbewusstsein heraus betrachten.

Wenn die ACL behauptet, ihr Ziel sei es, „unser libertäres sozialistisches Programm in [die Volksbewegungen] einzubringen und die Volkskämpfe auf einen antikapitalistischen Weg zu führen“, ist damit alles gesagt. Wer hier nicht nur eine weitere „revolutionäre Partei“ sieht, die sich nicht wesentlich von all den anderen unterscheidet, die das von sich behaupten, ist blind. Und es ist lächerlich, trotz aller guten Absichten zu glauben, dass irgendeiner der Mängel dieser Partei durch die „horizontale und vvollersammlungsbasierte Volksmacht“ ausgeglichen wird: Oh, gesegnete Vollversammlung! Oh, rettende Horizontalität!

Das ist nichts anderes als der vulgäre Fetischismus der direkten Demokratie, der bis zum Überdruss betrieben wird. Jeder ernsthafte Anarchist weiß, dass die direkte Demokratie delegative Organe erfordert; aber die ACL verschleiert hartnäckig die Realität und sagt „horizontale und vollversammlungsbasierte Macht“. Sind „horizontale Macht“ und „Vollversammlungsmacht“ zwei verschiedene Dinge? Um die Wahrheit zu sagen, geht die ACL mit ihrer Vagheit weiter als die frühen Bakunisten (was viel damit zu tun hatte, Vorurteile über den Anarchismus zu schaffen und die Anerkennung seiner wichtigen Beiträge zur revolutionären Theorie zu verhindern). Sie glauben nicht nur, dass es zur Lösung des Partei- und Machtproblems ausreicht, den Namen der Dinge zu ändern: Sie versuchen auch, die Begriffe immer wieder zu wiederholen, um die Illusion zu erzeugen, dass „alles horizontal“, „alles Vollversammlung“ usw. ist. So formuliert, ist diese Macht nicht nur „utopisch“ in Bezug auf die historischen Bedingungen, unter denen der Kampf um die Fortführung der proletarischen Revolution geführt werden muss, sie ist vielmehr „fantastisch“ unter allen Bedingungen.

Auf jeden Fall möchte ich dem Gefährten Daniel – der uns den Text geschickt hat – sagen, dass sein Beitrag im CICA-Forum mehr Klarheit zeigt als die ACL. Ich hoffe, dass dieser Beitrag dazu beitragen wird, die Debatte über die Parteifrage wieder in eine prägnantere Form zu bringen.

Roi Ferreiro, 04/08/2005.


Der Text ist oder war auf lahaine aufrufbar, die Übersetzung ist von uns (Soligruppe für Gefangene), auf diesen Text basiert die Kritik von Roi Ferreiro.


Revolutionärer Anarchismus und politische Parteien
Alianza Comunista Libertaria

Obwohl Anarchistinnen und Anarchisten die Notwendigkeit anerkennen, eine revolutionäre Organisation mit taktischer und ideologischer Einheit aufzubauen, deren Aufgabe es ist, der Arbeiterklasse ihre historische revolutionäre Rolle bewusst zu machen, um den Kapitalismus und alle Institutionen der Ungleichheit hinwegzufegen, lehnen wir die Verwendung des Begriffs „Partei“ zur Bezeichnung einer solchen Organisation ab.

Revolutionärer Anarchismus und politische Parteien.

Lange Zeit herrschte ein Missverständnis darüber, was Anarchistinnen und Anarchisten von Parteien halten. Wir revolutionären Anarchistinnen und Anarchisten wollen in diesem Papier etwas Licht in diese Frage bringen.

Wir beginnen damit, dass wir den Ursprung unserer Ideologie in den philosophischen und politischen Konzepten des russischen Revolutionärs Michail Bakunin sehen. Von hier aus erklären wir, dass Bakunin als aufopferungsvoller Kämpfer für die Sache der Arbeiter und als solcher ein Feind der bourgeois-kapitalistischen Ausbeutung und staatsfeindlichen Unterdrückung die historische Notwendigkeit einer revolutionären Partei, die nur aus den engagiertesten und aufopferungsvollsten Elementen besteht, die sich der revolutionären Sache verschrieben haben, vollkommen verstanden hat.

Bakunin erkannte nicht nur die Notwendigkeit einer solchen Organisation, sondern gründete sie auch 1868 unter dem Namen „Allianz der sozialistischen Demokratie“. Die Allianz wurde in der gleichen Zeit gegründet, in der auch die Internationale Arbeiterassoziation (Erste Internationale) existierte. Tatsächlich wurden die Allianzisten von den Marxisten zu Unrecht beschuldigt, „die Internationale schwächen zu wollen, indem sie eine neue innerhalb der Internationale bilden“. Die Realität sah jedoch ganz anders aus, denn Bakunin dachte keineswegs daran, die Internationale zu schwächen, sondern verstand richtig, dass die beste Ergänzung zur Arbeiterinternationale eine Organisation der bestausgebildeten und revolutionär gesinnten Elemente sein würde, die die große Zahl der in der Internationale organisierten Arbeiterinnen und Arbeiter auf einen wirklich sozialistischen und revolutionären Kurs führen könnte. So erklärt Michael Bakunin die Beziehung zwischen der revolutionären Avantgarde-Organisation (der Allianz) und der riesigen und gewaltigen proletarischen Massenfront, die die Internationale Arbeiterassoziation war:

„Die Allianz ist die notwendige Ergänzung der Internationale. Aber die Internationale und die Allianz verfolgen zwar dasselbe Endziel, haben aber gleichzeitig unterschiedliche Ziele. Die eine hat die Aufgabe, die Arbeitermassen, die Millionen von Arbeitern, über die Grenzen aller Staaten hinweg in einem einzigen riesigen und kompakten Körper zu vereinen; die andere, die Allianz, hat die Aufgabe, diesen Massen eine wirklich revolutionäre Führung zu geben. Die Programme der einen und der anderen unterscheiden sich, ohne sich in irgendeiner Weise zu widersprechen, durch den Grad ihrer jeweiligen Entwicklung. Das Programm der Internationale enthält, wenn es ernst genommen wird, nur im Keim, aber nur im Keim, das gesamte Programm der Allianz. Das Programm der Allianz ist die ultimative Erklärung für das Programm der Internationale.“ Michael Bakunin.

Obwohl wir Anarchistinnen und Anarchisten die Notwendigkeit anerkennen, eine revolutionäre Organisation mit taktischer und ideologischer Einheit aufzubauen, deren Aufgabe es ist, der Arbeiterklasse ihre historische revolutionäre Rolle bewusst zu machen, den Kapitalismus und alle Institutionen der Ungleichheit hinwegzufegen, lehnen wir die Verwendung des Begriffs „Partei“ für eine solche Organisation ab. Wir lehnen die Verwendung dieses Begriffs wegen der zwei Auffassungen ab, die sich aus dem fraglichen Wort ergeben. Die erste ist die Verwechslung mit bourgeoisen politischen Parteien und die zweite mit der Vorstellung von der marxistisch-leninistischen Partei. Genau diese beiden Vorstellungen werden wir in den folgenden Zeilen analysieren.

Das Konzept der „Partei“.

Unser Ziel als revolutionäre Organisation ist es, den Proletarierinnen und Proletariern ihre soziale Macht bewusst zu machen und ihnen zu zeigen, dass diese Macht die kapitalistische Gesellschaft stürzen kann. Deshalb ist es unsere Aufgabe, die Volkskräfte von der Basis aus zu organisieren, d.h. ihre Organisation unabhängig von der herrschenden Klasse, und wir halten es für unangebracht, uns den Arbeiterinnen und Arbeitern als „Arbeiterpartei“ vorzustellen, da unter einer Partei heute der bourgeoise Begriff von: Wahlen, Parlament, politischer Macht und einer ganzen Reihe von Konzepten verstanden wird, die der Emanzipation des Volkes entgegenstehen. Wir sind davon überzeugt, dass Parteien oder Individuen, die behaupten, die ausgebeutete Klasse und die Unterdrückten zu vertreten, und die in ihnen die Hoffnung auf ihre Emanzipation durch Wahlen und Parlamente sehen, nur die politischen Institutionen der Bourgeoisie stärken und als logische Konsequenz auch Despotismus, Ausbeutung, Tyrannei…

Die leninistische Partei und die anarchistische politische Organisation.

Aber wir würden nicht nur eine Verwechslung mit den bourgeoisen Parteien riskieren, sondern auch mit den leninistischen Parteien. Hier ergibt sich etwas Interessantes: Der Leninismus fördert die Gründung einer Partei, die die Interessen der Arbeiterklasse vertritt. Man könnte meinen, dass wir Anarchistinnen und Anarchisten hier mit dem leninistischen Ansatz übereinstimmen, aber wir erklären kategorisch, dass dies nicht der Fall ist. Und zwar aus zwei Gründen: Erstens, weil das Konzept einer Organisation der Avantgarde-Elemente nicht, wie viele denken, zuerst von Lenin vorgeschlagen wurde. Bakunin hatte schon Jahrzehnte zuvor verstanden, dass die Verteidigungs- und Widerstandsorganisationen der Massenfront (z. B. die Gewerkschaften/Syndikate oder die internationalen Arbeitervereinigungen) nicht ausreichen, um einen revolutionären Kampf zu führen, sondern dass es auch einen Kern der bewusstesten Revolutionäre braucht, der die Führung der Volksbewegungen gegen die reformistischen und offen bourgeoisen Tendenzen antreten wird. Der andere große Unterschied zur leninistischen Auffassung ist sogar noch wichtiger, denn er hat mit den Zielen zu tun, die jede der Tendenzen für sich selbst festgelegt hat. Die eine, die leninistische, befürwortet die Übernahme der Staatsmacht durch die Avantgardepartei, sobald die Revolution gewonnen ist, da die Mitglieder der Partei angeblich die bewusstesten und intelligentesten sind, die die Interessen des Proletariats perfekt vertreten können. Im Gegensatz zu den Leninisten wollen wir die Zerstörung des Staates, denn wir wissen, dass die Ergreifung der politischen und militärischen Macht durch eine Minderheit im Namen der Revolution der schädlichste Akt ist, der der Revolution selbst angetan werden kann.

Wenn eine Minderheit die politische Macht an sich reißt, d. h. wenn sie zu einem Kern von Berufspolitikern wird, die das Recht haben, Entscheidungen für sich selbst zu treffen und sie den Massen aufzuzwingen, dann ist das die Saat der Bürokratisierung, der Konterrevolution, und es wird die Grundlage dafür gelegt, die Gesellschaft erneut in eine privilegierte Minderheit und eine riesige unterdrückte und beherrschte Mehrheit zu spalten. Das Ziel der anarchistischen Organisation ist nicht die politische Macht, sondern der Aufbau einer proletarischen Volksmacht, die sich von unten nach oben konstituiert, d. h. die gesamte Macht ist in der Kollektivität der arbeitenden Menschen durch ihre horizontalen, vollversammlungsbasierten Entscheidungsgremien vereint.

Anarchismus und revolutionäre Organisation.

Doch der revolutionäre Anarchismus sah sein Programm nicht nur zu Bakunins Zeiten in einer homogenen Organisation ausgedrückt. Neben der Allianz der sozialistischen Demokratie gab es auch andere ähnliche Gruppierungen, die versuchten, die gleiche Rolle wie die Allianzisten zu erfüllen, wie die Gruppe „Dielo Trouda“ (Die Sache der Arbeiter), die sich hauptsächlich aus russischen und ukrainischen Anarchistinnen und Anarchisten zusammensetzte, die an der Seite des russischen Proletariats in der russischen Revolution gekämpft hatten, die später von den Bolschewiki in eine staatsähnliche Parteidiktatur umgewandelt wurde.

Die Gruppe Dielo Trouda veröffentlichte Ende der 1920er Jahre ein für die internationale libertäre Bewegung sehr wichtiges Dokument, das einen Keil zwischen die Linie des organisierten Anarchismus und die individualistischen Ausdrucksformen trieb, die sich weigerten, eine Avantgardeorganisation zu bilden. Die „Anti-Organisations“-Linie vertrat jene Elemente, die keine kämpferische Verpflichtung und Verantwortung übernehmen wollten, jene, die die revolutionäre Disziplin verweigerten, die, wie Nestor Makhno zu Recht feststellt, für die optimale Verwirklichung unserer Aufgaben notwendig ist. Diese kurzen Zeilen werden uns helfen, die Angelegenheit zu klären:

„Ohne Disziplin in der Organisation ist es unmöglich, eine ernsthafte revolutionäre Aktion zu unternehmen. Ohne Disziplin kann die revolutionäre Avantgarde nicht existieren, denn dann wäre sie in völliger praktischer Uneinigkeit, unfähig, die Aufgaben des Augenblicks zu formulieren, und unfähig, die von den Massen erwartete Initiativrolle zu erfüllen.“ Nestor Makhno, „Über die revolutionäre Disziplin“.

Die Organisationsplattform ist das Dokument, das die Gruppe Dielo Trouda mit der Perspektive veröffentlicht hat, die Allgemeine Anarchistische Union, eine Organisation der revolutionären anarchistischen Avantgarde, zu gründen, in dem die Argumente für die Notwendigkeit einer solchen Organisationsstruktur enthalten sind.

Ein weiteres Beispiel für einen Anarchismus, der sich als revolutionäre Organisation konstituiert hat, sind die „Los Amigos de Durruti“ in Spanien in den 1930er Jahren, mitten im spanischen Bürgerkrieg. „Los Amigos de Durruti“ waren eine Gruppe von Anarchosyndikalisten der CNT, die die Notwendigkeit erkannten, sich zu einer bewussten revolutionären Führung zu konstituieren, nachdem die CNT begann, historische Fehler zu machen, wie z. B. den Eintritt in die bourgeoise Regierung der Republik. „Los Amigos de Durruti“, die ihren Namen in Erinnerung an den anarchistischen Revolutionär Buenaventura Durruti (der am 20. November 1936 im Kampf starb) gewählt hatten, erkannten, dass es unter diesen Umständen dringend notwendig war, einen Kern zu bilden, der die richtigen Positionen für das spanische Proletariat aufzeigen und zu dem streng kollektivistischen und antistaatlichen Weg zurückkehren konnte, den Durruti und Ascaso vom ersten Tag der Spanischen Revolution an verteidigten.

Fazit

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wir Anarchistinnen und Anarchisten der bakuninistischen Linie für eine spezifische revolutionäre Organisation sind, die sich an den Volksbewegungen beteiligt und versucht, unser libertär-sozialistisches Programm in sie einzubringen und die Volkskämpfe auf einen antikapitalistischen Weg zu führen, um das Privateigentum an den Produktionsmitteln abzuschaffen und eine horizontale und auf Vollversammlungen basierende Volksmacht zu gründen, auf den Trümmern all dessen, was man politische Macht und Staat nennt.

Das ist die Organisation, die wir von der Alianza de los Comunistas Libertarios aufbauen wollen und für die wir Tag für Tag arbeiten, um die soziale Revolution und die weltweite Emanzipation zu erreichen.

www.comunismolibertario.cjb.net

—-

Vollständiger Text unter: https://www.lahaine.org/est_espanol.php/el-anarquismo-revolucionario-y-los

* Der Originaltext ist auf dieser Seite zu finden:http://www.geocities.com/juventuda/partidos.htm

]]> Roi Ferreiro, Jenseits der Demokratie https://panopticon.blackblogs.org/2023/09/07/roi-ferreiro-jenseits-der-demokratie/ Thu, 07 Sep 2023 09:39:14 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5170 Continue reading ]]>

Hier ein Text von Roi Ferreiro, ein Mitglied der aufgelösten Gruppe CICA, eine weitere Kritik und Auseinandersetzung mit der Demokratie. Der Text blickt auf die Thematik auf eine andere Art, ist auch sehr historisch, setzt sich aber auch sehr mit etymologische Entwicklungen auseinander und macht ihn daher lesenswert und diskussionswert, wenn auch wir einige Vorschläge die er macht klar ablehnen, ansonsten ein weiterer Beitrag für diese Debatte.


Roi Ferreiro, Jenseits der Demokratie

Geschrieben zwischen dem 18. März und dem 23. Mai 2009.

Einleitung

Die Moderne hat auf das klassische Griechenland und Rom als primitive Referenzen für ihre politische Kultur zurückgeblickt. Diese waren die ersten Klassengesellschaften im modernen Sinne, die sich durch die Entstehung von Staat und Handel auszeichneten – zum Nachteil der vorpolitischen Formen, die noch auf der Religion beruhten und in denen politische und priesterliche Macht eng miteinander verbunden waren. Aus diesen beiden grundlegenden Merkmalen lässt sich die Entstehung und Entwicklung der demokratischen politischen Formen des athenischen Griechenlands und der römischen Republik erklären.

Wenn die Befürworter der modernen Demokratie aus diesen beiden Quellen geschöpft haben, so taten sie dies, ohne ihre sozio-historischen Wurzeln kritisch zu betrachten, obwohl diese seit der Antike bekannt sind. Wie wir weiter unten sehen werden, ist der Grund dafür im Grunde offensichtlich. Ohne ein Verständnis dieser sozio-historischen Wurzeln ist es nicht möglich, die Grenzen genau zu erfassen, die demokratischen Formen immanent sind und die in abstrakter Form grundsätzlich zur modernen Formulierung des Konzepts der Anarchie als Auflösung oder Unterdrückung der politischen Macht geführt haben.

In Anlehnung an den Historiker Arthur Rosenberg können wir sagen, dass es die Demokratie „an sich“, als abstrakte Form, nicht gibt. Sie ist immer eine bestimmte sozio-politische Bewegung mit ihrer entsprechenden Klassenzusammensetzung. Aber auch das ist nicht ganz richtig. Meiner Meinung nach gibt es nämlich eine generische (A.d.Ü., allgemeine) Beziehung zwischen der demokratischen politischen Form „an sich“ und der Klassenzusammensetzung der Gesellschaft, und zwar jenseits von Schwankungen in der politischen Zusammensetzung aufgrund von Klassenkämpfen und der Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung und sogar jenseits von Schwankungen in den Produktionsformen. Das liegt vor allem daran, dass die soziale Grundlage und der Prototyp der demokratischen Formen der Warenaustausch ist, der sich historisch durch verschiedene Produktionsformen entwickelt hat. Das bedeutet nicht, dass wir die großen Unterschiede zwischen den politischen Regimen oder, anders gesagt, die großen Unterschiede im Grad der effektiven Demokratie, die auf der Grundlage bestimmter Produktionsformen möglich ist, ignorieren.

Die Idee der politischen Gleichheit, die die funktionale Grundlage der Demokratie ist, ist also historisch aus der Praxis der zivilen Gleichheit entstanden. Allerdings von einer zivilen Gleichheit innerhalb von Klassengesellschaften, in denen eine solche Gleichheit nur empirisch auf der Grundlage von Eigentum existiert. Und Eigentum ist der Ursprung des Rechts und insbesondere der Bedingung der Staatsbürgerschaft. Gleiche Freiheit, auch wenn sie nur als formale Realität existiert, entwickelt sich also auf der Grundlage einer Gesellschaft von Eigentümern, die ihre ökonomische Tätigkeit frei entfalten und deren Ergebnisse sie auf der Basis von Werten austauschen. In politischen Regimen kommen diese gesellschaftliche Zusammensetzung und ihr Entwicklungsgrad in der Machtverteilung zum Ausdruck. Eine Verteilung proportional zum ökonomischen Reichtum repräsentiert das Interesse der Großgrundbesitzer. Eine Gleichverteilung vertritt das allgemeine Interesse der kleinen Eigentümer und Kaufleute und bis zu einem gewissen Grad auch das des Proletariats.

Griechenland und die Degeneration der Demokratie

Die militärische Niederlage Athens gegen Sparta im Peloponnesischen Krieg brachte das athenische Regime der Demokratie in Verruf und die spartanische Oligarchie ins Rampenlicht. Für Platon kam erschwerend hinzu, dass es dieses Regime war, das seinen Lehrer Sokrates zum Tode verurteilt hatte. Daher nahmen zunächst Platon und dann in geringerem Maße auch sein Schüler Aristoteles eine kritische Haltung gegenüber der Demokratie ein und sprachen sich für eine aristokratische Regierungsform bzw. eine restriktivere Demokratie aus, die das Problem der Demagogie überwinden würde.

Für Platon war die Demokratie eine Entartung der Republik. Für Aristoteles war die Demokratie eine gute Regierungsform, aber sie musste durch aristokratische Formeln vor Demagogie geschützt werden. Der römische Historiker Polybius nannte diese entartete Form der Demokratie Ochlokratie.

(…) denn in den Demokratien, wo es nach dem Gesetze zugeht, entstehen keine Volksführer, sondern die Besten aus der Bürgerschaft haben da den Vorsitz; wo dagegen nicht die Gesetze die Herrschaft haben, da finden sich die Volksführer ein und da wird das Volk der Alleinherrscher, indem aus den Vielen sich Einer bildet; denn die Vielen sind nicht als Einzelne die Herren, sondern nur alle zusammen. Wenn Homer die Vielherrschaft tadelt, so ist es zweifelhaft, ob er darunter diese versteht, oder nicht vielmehr die, wo von Mehreren jeder Einzelne ein Herrscher ist. Ein solches Volk nun sucht, indem es als Monarch auftritt, auch allein zu herrschen, weil es von den Gesetzen nicht beherrscht wird. Es wird damit despotisch und die Schmeichler kommen zu Ehren. Dieser Zustand entspricht der Tyrannis bei den monarchischen Staaten. Deshalb ist auch der Charakter beider derselbe; beide herrschen despotisch über die besseren Bürger und was dort die Befehle sind, sind hier die Volksbeschlüsse; die Volksführer und die Schmeichler sind bei beiden dieselben und einander entsprechend; beide haben grossen Einfluss, die Schmeichler bei den Tyrannen und die Volksführer bei einem solchen Volke; sie sind die Ursache, dass die Volksbeschlüsse und nicht die Gesetze entscheiden, indem sie Alles an das Volk bringen und sie werden selbst hochmüthig, weil das Volk Herr über Alles ist und sie die Herren über die Beschlüsse des Volkes sind, da es ihnen folgt. Auch wenn sie die Beamten anklagen, verlangen sie, dass das Volk entscheiden solle, und dieses nimmt gern diese Berufung an, so dass alle Staatsämter sich dadurch auflösen. Mit Recht könnte man einer solchen Demokratie den Vorwurf machen, dass sie gar keine Verfassung habe; denn wo die Gesetze nicht herrschen, da giebt es auch keine Verfassung. Das Gesetz muss über Alle herrschen und über das Einzelne müssen die Beamten und die Verfassung entscheiden. Wenn also auch die Demokratie an sich zu den Verfassungen gehört, so ist doch ein solcher Zustand, wo Alles nur durch Volksbeschlüsse abgemacht wird, keine Demokratie im eigentlichen Sinne; denn der Volksbeschluss ist nicht allgemeiner Natur. Die Arten der Demokratie mögen auf diese Weise unterschieden sein.“ (Aristoteles, Politik, Buch VI, Kapitel IV)

Geschichtsschreiber und Denker wie Platon und Aristoteles bestanden darauf, zentralisierte politische Formen mit dezentralisierten Formen zu vergleichen, in denen die Machtverteilung egalitärer ist. Das gilt sogar für die Demokratie, wie aus dem obigen Zitat hervorgeht. Denn, wie wir weiter unten sehen werden, hatte die Demokratie ursprünglich eine sehr begrenzte Bedeutung, die in der Moderne in den Hintergrund getreten ist.

Meiner Meinung nach spiegeln solche Positionen die Entwicklung einer ideologischen Mystifizierung wider, die mit dem historischen Prozess der Autonomisierung der politischen Macht von der sozialen Masse zusammenhängt, der mit der wachsenden und konzentrierten Akkumulation des merkantilen Reichtums stattfand. Was ein Klassenregime als Entartung betrachtet, ist logischerweise das, was seine eigene Verfassung zerstört. So sprechen auch Platon, Aristoteles oder Polybius von Entartung im umgekehrten Sinne. Das heißt, nicht in Bezug auf einen relativen Rückgang der Zentralisierung der politischen Macht zugunsten der Masse, sondern in Bezug auf ein Übermaß an Zentralisierung oder eine willkürliche Verschiebung der Machtverteilung in der herrschenden Klasse, die zu einer Machtverteilung führen kann, die nicht der Verteilung des Reichtums entspricht (die Entartung der Monarchie zur Tyrannei oder der Aristokratie zur Oligarchie).

Es scheint klar zu sein, dass diese ideologischen Ansichten der Antike die moderne Demokratie stark geprägt haben. So entstand das moderne Modell der repräsentativen Demokratie in Anlehnung an die begrenzten Formen, deren Theoretisierung auf Aristoteles zurückgeht und deren Beispiel viel mehr mit der römischen Republik als mit der athenischen Demokratie zu tun hat. Eine Ausnahme, die sich erhalten hat, ist die Französische Revolution, die sich eher am athenischen Ideal orientierte. In der Praxis nahm sie jedoch eine repräsentative Form an, die im Widerspruch zu diesem Ideal stand und später die konterrevolutionäre Wende des Thermidor begünstigte. So war die Französische Revolution die groß angelegte praktische Manifestation des grundlegenden Widerspruchs der modernen Demokratie zwischen der Souveränität der Staatsbürger und dem repräsentativen System. Aber wie beim Kapital ist dieser Widerspruch dem modernen demokratischen System inhärent und funktional, er ist seine Quelle der Vitalität und kann es nicht überwinden, solange es sich innerhalb seiner Kategorien bewegt.

Der politische Meilenstein der Französischen Revolution besteht darin, dass sie trotz allem die athenische Demokratie zu einem idealen Modell erhob und sie als die kohärenteste Formulierung des demokratischen Systems hervorhob. Nachdem die Entwicklung des Kapitalismus und seine Regulierung durch einen institutionell moderierten Klassenkampf eine relativ stabile und kohärente sozioökonomische und kulturelle Basis geschaffen hatten, die die repräsentative Form als unvermeidliche Notwendigkeit ansah, war es kein Problem, das athenische Beispiel zur Legitimierung und Perfektionierung moderner Demokratien römischen Stils zu nutzen. Die moderne Demokratie wurde so zu einer Regierungsform, die sich besonders gut für den zeitgenössischen Klassenkampf eignete, während ihre sehr wirksame Grundlage – die Freiheit des Eigentums und des Austauschs – durch die historische Entwicklung der Konzentration und Zentralisierung des Kapitals nach und nach unterdrückt wurde.

Demokratie und Ochlokratie in Griechenland

Wir beginnen nun, die Bedeutung der antiken Polemik zu vertiefen, wofür wir zunächst die Etymologie von Demokratie und Ochlokratie untersuchen müssen.

Die berühmte Vorsilbe „demo“ im Wort Demokratie1 bedeutete ursprünglich und damit auch in der Praxis der griechischen Demokratie nicht „Volk“, wie es heute meist interpretiert wird. Die „Demo“ war eine kleine, umschreibende politische Form, ähnlich wie die Gemeinden. Es handelte sich zwar um eine Vollversammlung (Agora), an der die Staatsbürger direkt beteiligt waren, aber durch das Bürgerrecht war die Mehrheit der Bevölkerung praktisch ausgeschlossen – Frauen, Sklaven, Meteken (ansässige Ausländer), Schuldner der Stadt, deren Rechte ausgesetzt waren, und natürlich Kinder. Das mag anekdotisch erscheinen, wenn man die griechische Demokratie unter dem Gesichtspunkt ihrer formalen Ähnlichkeiten zur modernen Demokratie betrachtet, um ihre funktionalen Tugenden hervorzuheben.

Aus historisch-materialistischer Sicht müssen wir jedoch bedenken, dass die charakteristische ökonomische Grundlage der hellenischen und später der römischen Größe Sklaverei und Krieg waren. Die athenische Demokratie hatte in dieser Grundlage ihre Bedingung der Beständigkeit. Aus diesem Grund scheint es mir kein Zufall zu sein, dass sich die direkte Staatsbürgerdemokratie in Verbindung mit dem Sklavenexpansionismus entwickelte. Ich denke, dass sie als eine Form der Klassenzusammenarbeit interpretiert werden kann, mit dem erwähnten Expansionismus als zusätzliche Quelle des Reichtums, die offensichtlich die Reibungen zwischen den verschiedenen Schichten oder Klassen der athenischen Sttatsbürgerschaft verringern musste. Dies erlaubt uns auch, eine weitere Parallele zur modernen Demokratie zu ziehen.

Aus formaler Sicht ist es bemerkenswert, dass das Individuum nur politisch als Staatsbürger anerkannt wird. So wird seine Beteiligung in Übereinstimmung mit den vorherrschenden Interessen in der Polis vermittelt. Durch die Kategorie der Staatsbürgerschaft war das Individuum einem institutionellen System und einer Verfassung unterworfen, die für eine bestimmte Verteilung des Wohlstands funktional waren. Das Individuum als solches war nur unter diesen Bedingungen ein politisches Subjekt, wie es auch in den heutigen Demokratien der Fall ist. Einwanderer zum Beispiel hatten nicht den Status von Staatsbürgern und waren daher keine politischen Subjekte.

Damit ist klar, dass die Demokratie in ihren Ursprüngen nichts mit dem vulgarisierten Begriff der „Volkssouveränität“ zu tun hatte:

Die meisten, die sich mit der Methode der Politik befassen, ordnen drei Regierungsarten zu: die königliche, die aristokratische und die demokratische. (….) Sie sind auch nicht die einzigen: Wir sehen bestimmte monarchische und tyrannische Regierungen, die sich sehr von der königlichen unterscheiden, auch wenn sie mit ihr eine gewisse Ähnlichkeit haben, unter der alle Monarchen und Tyrannen so viel wie möglich versuchen, den Namen der Könige zu beschönigen und zu färben. Es gibt auch viele Staaten, die von einer kleinen Zahl regiert werden, die zwar eine gewisse Übereinstimmung mit der Aristokratie zu haben scheinen, sich aber unendlich voneinander unterscheiden. Das Gleiche gilt für die Demokratie. Zur Überzeugung dessen, was ich sage, sei angemerkt, dass nicht jede Monarchie ein Königreich ist, sondern nur die, die aus freiwilligen Vasallen besteht und mehr durch Vernunft als durch Furcht und Gewalt regiert wird; auch ist nicht jede Oligarchie eine Aristokratie, sondern die, in der die gerechtesten und klügsten Personen zur Herrschaft gewählt werden. Ebenso ist es keine Demokratie, wenn der Pöbel tut, was er will und was ihm gefällt, sondern wenn die patriotischen Sitten der Götterverehrung, des Respekts vor den Eltern, der Ehrfurcht vor den Älteren und des Gehorsams gegenüber den Gesetzen vorherrschen; in solchen Gesellschaften kann man nur dann von einer Demokratie sprechen, wenn die vorherrschende Meinung die der größten Zahl ist.

Wir gehen also davon aus, dass es sechs Arten von Regierungen gibt, drei, die der ganzen Welt bekannt sind und die wir gerade vorgeschlagen haben, und drei, die mit den Vorgängern in Verbindung stehen, nämlich die Regierung eines Einzelnen, die Regierung einiger weniger und die Regierung des Pöbels. Die Regierung eines Einzelnen oder die monarchische Regierung wurde ohne Kunst, nur durch den Impuls der Natur errichtet: Daraus leitet sich die königliche Regierung ab und hat ihren Ursprung, wenn Kunst und Korrektur hinzugefügt werden. Wenn die königliche Regierung in die ihr angeborenen Laster ausartet, endet sie in der Tyrannei, und aus den Trümmern der ersteren und letzteren entsteht die Aristokratie. Aus dieser, die von Natur aus zur Regierung einiger weniger neigt, entsteht, wenn das Volk gereizt wird und die Ungerechtigkeiten der Führer rächt, die Demokratie, und wenn es unverschämt wird und die Gesetze missachtet, die Ochlokratie oder die Regierung des Pöbels. Dass das, was ich sage, wahr ist, kann jeder leicht erkennen, wenn er über die natürlichen Prinzipien, den Ursprung und die Veränderungen jeder Art von Regierung nachdenkt. Nur wer die natürliche Beschaffenheit eines jeden Staates kennt, wird in der Lage sein, seine Entwicklung, seinen Aufstieg, seine Veränderung, seinen Untergang, wann und wie er eintritt und in welcher Form er verändert wird, genau zu erkennen.“ (Polybius, Universalgeschichte unter der römischen Republik, Band II, Kapitel III).

Ochlokratie2 kommt von „ochlos“, was so viel wie Menge oder Pöbel bedeutet. Das heißt, es bedeutet, wie bei Polybius ersichtlich, die Übernahme der Macht durch die Masse als Ganzes oder die Umwandlung der unorganisierten Masse in effektive politische Macht. So mystifizierten die Intellektuellen der herrschenden Klasse die Ochlokratie, erklärten sie als Ergebnis demagogischer Einflüsse auf die Massen und ächteten sie politisch, indem sie argumentierten, dass der Druck der Massen die wahre oder ideale Demokratie verzerrte, so dass der „allgemeine Wille“ durch den von unten aufgezwungenen Partikularwillen zerstört wurde.

Die Assoziation mit Demagogie und Manipulation im Sinne des Populismus kann nur ein historischer Sonderfall sein, der eigentlich dem Konzept der Ochlokratie selbst widerspricht. Wenn die Massen tatsächlich souverän sind, gibt es keinen Platz mehr für Demagogie. Das Konzept der Ochlokratie in der klassischen Literatur weist also zwei Widersprüche auf:

1) Eine Masse ohne die Fähigkeit zur Selbstorganisation und folglich ohne die Fähigkeit, ein politisches Subjekt zu werden, kann keine Macht ausüben;

2) Eine manipulierte Masse, die ihre Macht zum Vorteil einer Minderheit ausübt, hat selbst keine Macht.

Im ersten Fall handelt es sich um eine Projektion der herrschenden Klasse. Die „unorganisierte Masse“, der Pöbel (oder in Rom die Plebs) im abwertenden Sinne, der für die herrschenden Klassen charakteristisch ist, ist nur „unorganisiert“ in Bezug auf die herrschenden Organisationsmuster oder die geltenden Rechtsnormen. Gestern wie heute wird vorausgesetzt, dass es keine spontane Selbstorganisation gibt oder geben sollte; daher ist jede Aktion der „unorganisierten Masse“ selbst eine Gefahr und nicht in der Lage, zu einem erfolgreichen Abschluss zu kommen oder auch nur ein klares Bewusstsein für ihre Ziele zu entwickeln und mit ihnen im Einklang zu bleiben.3

Denn wenn eine Republik, nachdem sie sich von großen und furchtbaren Schwankungen befreit hat, ihre höchste Erhebung erreicht und eine unvergleichbare Macht erlangt hat, besteht kein Zweifel daran, dass sich, da der Überfluss lange Zeit seinen Sitz in ihr haben wird, Luxus in die Gewohnheiten einnisten wird und unmäßiger Ehrgeiz und andere ungeordnete Begierden von ihren Individuen Besitz ergreifen werden. Mit dem Fortschritt, den diese Unordnungen tagtäglich machen werden, wird die Leidenschaft zu befehlen und die Art der Bedrohung, die mit dem Gehorchen verbunden ist, die Unordnung der Regierung beginnen; Pracht und Stolz werden das, was begonnen wurde, weiterführen; und das Volk wird, wenn der Geiz der einen sich beleidigt und der Ehrgeiz der anderen geschmeichelt und befriedigt sieht, die letzte Hand geben. Dann werden sie sich nicht mehr nur weigern, den Magistraten zu gehorchen und die Macht gleichmäßig mit ihnen zu teilen, sondern sie werden sich wünschen, über alles oder den größten Teil davon zu verfügen. Dann nimmt die Regierung den schönsten Namen an, nämlich den eines freien und volkstümlichen Staates; in Wirklichkeit aber ist sie nur die Herrschaft eines Pöbels, des schlimmsten aller Staaten.“ (Polybius, Universal History under the Roman Republic, Bd. II, Kap. XVII)

Im zweiten Fall handelt es sich um eine verdeckte Form der Tyrannei. Für die praktizierenden Demokraten, die die Klassengesellschaft repräsentieren, sind die Tyrannei der „ungebildeten“ Mehrheit und die Tyrannei einer gebildeten Minderheit jedoch dasselbe, denn beide unterdrücken die Verteilung der politischen Macht. Aus demokratischer Sicht im engeren Sinne und wenn wir angemessen sprechen wollen, stellen also alle massenrevolutionären Prozesse in ihrer politischen Dimension eine Form der Ochlokratie dar. Wenn uns dieser Begriff heute so ungewohnt oder fremd vorkommt, sollte uns das nicht dazu veranlassen, seine Verwendung abzulehnen, sondern zu entdecken, inwieweit wir selbst noch völlig von der Klassen- und insbesondere der bourgeoisen Kultur umhüllt sind.

Rom: Macht und Tugend

Das römische politische System weist auch etymologische Parallelen zum griechischen Fall auf. Die Plebs (plebis) wurde vom Volk (populus) unterschieden, auch in Bezug auf das Staatsbürgerrecht/ Recht der Staatsbürger. Der Begriff vulgo (vulgus), der die gemeine Leute bedeutet, wurde auch für die Plebs verwendet. Plebs hatte also die gleiche Bedeutung wie das griechische „ochlos“: die Masse im Allgemeinen, die unorganisierte, entrechtete Menge oder außerhalb des Systems der herrschenden Hierarchie.

Der Kontext des Kampfes zwischen Plebejern und Patriziern in Rom ist auch der einer expandierenden Sklavengesellschaft. Die Plebejer waren eine heterogene Klasse, denn obwohl sie sich anfangs durch ihre Fremdheit gegenüber den Patriziern definierten, gehörten zu ihnen sowohl die Besitzer (adsidui) als auch die Enteigneten (proletarii), zu denen auch die Freigelassenen gehörten. Ihr Kampf um gleiche Rechte ist also eine Mischung aus Interessen und sie lassen sich nicht als eine soziale Klasse definieren, die durch Eigentum oder Nicht-Eigentum bestimmt wird, sondern durch ein überholtes politisches Recht, das mit der neuen merkantilistischen ökonomischen Basis in Konflikt steht. Die Patrizier definierten sich, wie ihr Name schon sagt, durch die Zugehörigkeit zu großen Familienverbänden um einen „pater familiae“, der anfangs enorme Macht hatte. Diese Familienverbände basierten auf einem gemeinsamen, nicht übertragbaren Grundbesitz (pater terra, also Land des Vaters) und Sklaven. Sie bildeten somit eine konzentrierte ökonomische und politische Macht, die durch ihre Vertreter die gesamte Gesellschaft regierte.

Zunächst waren die Plebejer vom Militärdienst und von der Besteuerung befreit. Das änderte sich jedoch mit der territorialen Ausdehnung Roms, die sie dazu zwang, sich den Plebejern zuzuwenden. Die Plebejer begannen für ihre Rechte zu kämpfen und bedrohten damit die Fähigkeit der Republik, sich zu verteidigen. Infolgedessen erlangten sie nach und nach erst die zivile und dann die politische Gleichberechtigung. Das bedeutete, dass das römische Recht, das bis dahin auf patrizische Bräuche und Auslegungen beschränkt war, neu formuliert und das Tribunat als eine Form der gleichberechtigten Vertretung der Plebs offiziell eingeführt wurde. Mit der Beteiligung wohlhabender Plebejer an der Militärvollversammlung begünstigte all dies schließlich die Bildung einer patrizisch-plebejischen Aristokratie (nobilitas) im Gegensatz zum städtischen Proletariat, da die Besetzung von Machtpositionen nicht mit einer Vergütung einherging. So blieb die politische Vorherrschaft auch in Zeiten der Instabilität in den Händen der wohlhabenden Klasse.

Die Römische Republik war weder eine direkte noch eine repräsentative Demokratie, so dass das Problem der Demagogie als Ursache für ein Abdriften in die Ochlokratie weniger präsent war. Aber das hatte auch seine Kehrseite: Wenn die populäre Rebellion durch eine konsequent autonomere Machtstruktur eingeschränkt wurde, musste gleichzeitig ihre Autonomisierung von der Gesellschaft durch die Gesellschaft selbst eingedämmt werden. Die Gründe dafür hat Polybius im letzten Zitat oben gut ausgedrückt, wenn er sagt, dass:

Denn wenn eine Republik, nachdem sie sich von großen und furchtbaren Schwankungen befreit hat, ihre höchste Erhebung erreicht und eine unvergleichbare Macht erlangt hat, besteht kein Zweifel daran, dass sich, da der Überfluss lange Zeit seinen Sitz in ihr haben wird, Luxus in die Gewohnheiten einnisten wird und unmäßiger Ehrgeiz und andere ungeordnete Begierden von ihren Individuen Besitz ergreifen werden. Mit dem Fortschritt, den diese Unordnungen tagtäglich machen werden, wird die Leidenschaft zu befehlen und die Art der Bedrohung, die mit dem Gehorchen verbunden ist, die Unordnung der Regierung beginnen…“.

Doch bevor wir mit dem Problem der politischen Formen fortfahren, ist es notwendig, auf eine andere etymologische Untersuchung einzugehen.

Laut Mariano Grondona4 gibt es zwei griechische Begriffe für Macht. Der erste ist arkhein, was „beginnen“ und „befehlen“ bedeutet – davon leiten sich arkhé (Ursprung) und arkhos (Chef) ab. Die ursprüngliche Macht ist also die des Chefs, weshalb Grondona eine despotische Entstehung der Macht feststellt. Andererseits leitet sich das heutige Wort Macht vom indogermanischen poti (Häuptling) ab, von dem die griechischen posis (Mann) und despotes (Herr) abgeleitet wurden. Laut Grondona hat sich die Bedeutung des Wortes Macht von dieser ursprünglichen Bedeutung auf „die allgemeine Fähigkeit, etwas zu tun“ ausgeweitet.

Dieser etymologische Ursprung in arkhein deutet also auf archaische Gesellschaftsformen hin, in denen die Macht nach einem überlieferten Brauch oder einer Tradition von Häuptling zu Häuptling weitergegeben wird. Diese Eigenschaft und nicht der vermeintliche Charakter eines „despotischen Befehls“, wie Grondona argumentiert, erklärt meiner Meinung nach, warum in Begriffen wie „Monarchie“ (Macht eines Individuums) oder „Oligarchie“ (Macht einiger Weniger) die Form arkhos (Häuptling) erhalten geblieben ist, während sie in anderen durch kratos ersetzt wurde, das den Sinn einer freiwillig eingerichteten Macht hat – weshalb es auch mit „Regierung“ übersetzt wird.

Das bringt uns zu dem anderen Teil des Wortes Demokratie. Dieser sollte daher wörtlich mit „Regierung des Demos“ oder allgemeiner mit „Regierung der Staatsbürgerschaft“ übersetzt werden. Aber das Wichtigste ist, dass sich die ursprüngliche Bedeutung von Demokratie, wie wir gesehen haben, auf eine Art von politischem System bezieht, in dem die Macht von den traditionellen Verbindungen mit dem Brauchtum, der Religion und so weiter getrennt ist. Das Konzept der Demokratie hat also ursprünglich nichts mit dem Konzept der „Souveränität“ zu tun – einer Macht, die „über allen“ anderen steht.

Das Konzept der Souveränität als solches taucht erst später in der klassischen Ära auf. Laut George Jellinek entstand er im Mittelalter als Ergebnis des Kampfes zwischen der Kirche, der kaiserlichen Macht und den großen Herren und Korporationen:

die Kirche, die den Staat in ihren Dienst stellen wollte; das Römische Reich, das den einzelnen Staaten keinen höheren Wert als den von Provinzen zugestehen wollte; und die großen Herren und Korporationen, die sich als unabhängige Mächte des Staates und vor ihm fühlten“. (Allgemeine Theorie des Staates, 1900)

Die Idee der Souveränität entsteht also, um „den Gegensatz der Staatsmacht zu anderen Mächten“ zu formulieren, und erreicht ihre Reife mit dem Prozess der Zentralisierung der politischen Macht, der zur Moderne führt.5 Nicht zufällig wird ein solcher Prozess durch die primitive Kapitalakkumulation angetrieben, die Marx so sehr untersucht hat. Aus diesem Grund bezieht sich die bourgeoise Vorstellung von Souveränität auf den Staat und setzt die Staatsbürgerschaft nur durch den Staat als souverän voraus. Das „Volk“ ist nur insofern souverän, als es den Staat konstituiert und durch ihn souverän ist, auch wenn theoretisch das erstere die Quelle der politischen Macht ist und andererseits die instituierte Macht ihre Emanation oder die Entfremdung der immanenten Macht des „Volkes“ (Rousseau) ist. Die bourgeoisen politischen Theorien rechtfertigten somit die Unterordnung der zentralisierten Staatsmacht, die sich unter dem Ancien Régime herausgebildet hatte, unter die neue aufstrebende Klasse, die Bourgeoisie, die auch die Unterstützung der populären Massen brauchte, um an die Macht zu kommen (daher Demokratie). Souveränität als effektive Macht des Volkes ist ein anderes Konzept, das einen klaren Bezug zu den Kämpfen gegen die bourgeoise Staatsmacht hat. Aber wie wir gesehen haben, ist die Verwendung des Begriffs Souveränität zur Bezeichnung der Macht der Massen im Allgemeinen unzureichend, da er immer noch in die Grenzen der Demokratie eingeschrieben ist.

Fahren wir nun mit der etymologischen Untersuchung fort.

Laut Grondona begann die Entwicklung zur Demokratie in Athen mit der Unterscheidung zwischen Naturgesetzen und den Gesetzen der Stadt (nomos). Das bedeutete, dass die Macht nicht mehr nur befahl, sondern auch legislierte (A.d.Ü., Gesetze erließ). Es bedeutete, dass die Regierung auf Regeln basierte, die freiwillig geändert werden konnten und gleichzeitig in einen bestimmten Rahmen eingeschrieben waren: die Politeia. Dies eröffnete die Möglichkeit, dass auch der Gegenstand des politischen Willens freiwillig bestimmt werden konnte. Dies schuf den geeigneten Rahmen für die Bildung der Deme oder des Demos, jener Wahlkreise, in denen die Menschen lebten, die so zu Polites (Politikern) wurden.

Außerdem kann ich Grondonas Interpretation der Entwicklung des Begriffs „Macht“ als „die allgemeine Fähigkeit, etwas zu tun“ nicht zustimmen.

Aus dem oben Gesagten folgt, dass traditionelle Macht (arkhos) und institutionelle Macht (kratos) ganz bestimmte Bedeutungen haben. Der Begriff poti, von dem sich das lateinische potere ableitet, hat die Bedeutung von Besitz, die im griechischen posis hervorgehoben wird, und gleichzeitig auch die Bedeutung von Befehl in despotes, die dem griechischen kratos ähnelt. Aber alle diese Begriffe beziehen sich auf soziale oder kollektive Formen der Macht, so dass sie Macht nicht wirklich als eine generische (A.d.Ü., allgemeine) individuelle Fähigkeit definieren. Diese zugrundeliegende Dualität erklärt sich aus der Entwicklung der Entfremdung zwischen sozialer Macht und individueller Macht, zwischen der politischen Organisation der Gesellschaft und der Handlungsfähigkeit des Individuums, die sich in Gruppenkämpfen manifestiert und zu den verschiedenen Formen der Regierung führt.

Dieses Problem wird durch die Untersuchung des römischen Falles noch deutlicher.

Das Wort für die Handlungsfähigkeit des Individuums war im Lateinischen virtus und im Griechischen andreia – deren Bedeutung identisch ist6. Beide stammen von einer Wurzel indogermanischen Ursprungs (vir/aner), die Mann (männlich) bedeutet und von der virile abgeleitet ist.7 Es gibt aber auch eine ähnliche indogermanische Wurzel, vis, die Stärke bedeutet. Soweit man weiß, wurden die beiden Wurzeln vir und vis in der Antike nicht unterschieden. Vis hat die Bedeutung von Lebenskraft, was auch Gewalt einschließt. Beide Wurzeln scheinen sich also zu ergänzen und bringen uns einer gemeinsamen Grundbedeutung näher: Der Mensch definiert sich durch seine immanente Kraft, die er durch seine vitale Tätigkeit in der Gesellschaft nach außen trägt. Diese gemeinsame Grundbedeutung wird auch durch die Entwicklung zu virtus, vita (Leben) oder vitium (Fehler oder Laster) belegt.

Virtus selbst ist eine Verbindung mit dem Suffix tut, das anscheinend Zustand oder Qualität bedeutet. Aber virtus bezieht sich nicht auf einen äußeren Zustand oder eine Eigenschaft, sondern auf eine innere. Damit ist seine Beziehung zum Leben oder zur Lebenskraft klar. Aber noch deutlicher wird es in seiner ursprünglichen lateinischen Bedeutung, nämlich Mut oder Tapferkeit.

Interessant ist hier, dass der Begriff virtus eine komplexe Entwicklung durchgemacht hat, bis er heute die breite Bedeutung des Wortes Tugend (A.d.Ü., im spanischen virtud) hat. Das bedeutet, dass diese Entwicklung das Ergebnis komplexer sozio-historischer Veränderungen war (zu denen bereits in der Neuzeit die allgemeine Tendenz zur Abstraktion des Menschlichen und seine Unterordnung unter die Technik gehört, was sich sehr gut daran zeigt, dass der Begriff heute nicht mehr verwendet wird, oder dass er als Adjektiv – „tugendhaft“ – verwendet wird, um auf bestimmte technische Fähigkeiten hinzuweisen).

In der römischen Gesellschaft, in der Männlichkeit, Militarismus und Moral die grundlegenden Werte waren, war das Konzept der virtus praktisch unverzichtbar, um das Verhalten der Individuen zu bestimmen. So sagt Lucilius: „Virtus … ist die Fähigkeit, in jedem Geschäft des Lebens den richtigen Preis zu zahlen, … ist zu wissen, was gut und gewinnbringend und ehrenhaft für den Menschen ist und auch, was nutzlos und schändlich ist … zuerst an das Vaterland (A.d.Ü., Patria), dann an die Eltern und an dritter und letzter Stelle an die eigenen Interessen zu denken“ (zitiert von Balmaceda). Im Gegensatz zu den Griechen hatten die Römer eine pragmatische Mentalität, was implizit bedeutete, dass sie die virtus als praktische Eigenschaft betonten, die sich vom bloßen intellektuellen Wissen unterschied, dessen Spaltung zu der Praxis, sie als eine der Minderwertigkeiten der Griechen betrachteten. So entstand die Idee der virtutes als eine Reihe von „guten Eigenschaften“.

Virtus wurde mit einer irdischen oder göttlichen Belohnung in Verbindung gebracht, vor allem mit militärischem Ruhm, der auch als etwas Vererbbares verstanden wurde, um das man wetteifern musste, um die virtus seiner Vorgänger zu erreichen oder zu übertreffen. Dies warf jedoch das Problem des Wettbewerbs um irdischen Ruhm in Form von dignitas – politischer Macht und Reichtum – auf. Partikulare Interessen wurden gegen allgemeine Interessen gestellt, weshalb Cicero verkündete, dass Politik als Lebens- und Verhaltensform verstanden werden sollte. Gleichzeitig hatten die sozio-historischen Bedingungen virtus zu einem Ideal gemacht, das zunächst mit nobilitas verbunden war. Doch mit der expansiven Entwicklung der Republik bewirkte die ostentative Bereicherung dieser Oberschicht eine universalisierende Verschiebung des Konzepts, das sich von der Tradition der Vorfahren löste und die Sozialethik zu seiner eigentlichen Achse machte. Dadurch wurden die Fähigkeiten und das Verhalten des Individuums als die Wurzeln der virtus hervorgehoben. Diese beiden Faktoren, der politische und der ökonomische, bestimmten also die Erhebung der virtus zu einer ethischen Qualität, die zwar eine individuelle Verantwortung darstellt, aber gleichzeitig objektiv sozial ist und es erlaubt, individuelle Handlungen auf das kollektive Interesse zu beziehen. So kommen wir zu einer Definition des römischen Ideals des sozialen Individuums.

Tugend als psycho-soziale Selbstmacht

Als vorläufige Schlussfolgerung der etymologischen und historischen Studie glaube ich, dass die Universalisierung des Konzeptes der Macht als „allgemeine Fähigkeit, etwas zu tun“ durch ein Phänomen der entfremdenden Transposition erklärt wird, durch die ein Begriff sein Gegenteil annimmt. Da aber nichts, auch keine Entfremdungen, absolut ist, konnte der Begriff der Tugend (Virtus) nicht vollständig mit dem der Macht assimiliert werden.

Macht hat immer den Sinn einer instrumentellen Fähigkeit, während Tugend (Virtus) den Sinn einer vitalen, immanenten Fähigkeit hat. „Gut leben“ ist tugendhaft (virtuosus). „Etwas gut zu machen“ bezieht sich auf eine Form der technischen Tätigkeit, auf die Manipulation von Gegenständen. Selbst wenn wir sagen: „Ich kann mich bewegen“, beziehen wir uns unbewusst auf unseren Körper als Objekt, auf das unsere Willenskraft einwirkt, die in diesem Moment als eine vom Körper losgelöste Kraft oder als außerhalb seiner organischen Funktionsweise stehend gedacht wird.

Die Trennung zwischen potere und virtus, wenn auch die Entfremdung des Letzteren im Ersteren, muss daher als symbolischer Ausdruck einer gegebenen sozio-historischen Realität gesehen werden, nicht als zufälliger Gegensatz oder zufälligen Überlagerung. Unterscheidungen in der Sprache sind immer eine kognitive Darstellung praktischer Unterscheidungen, und die Beibehaltung von Begriffen, deren Bedeutung assimiliert wird, ohne identifiziert zu werden (und die zu partiellen Synonymen werden), setzt voraus, dass diese praktischen Unterscheidungen eine dauerhafte und konfliktreiche sozio-historische Grundlage haben.

Ich möchte das Problem des üblichen Sprachgebrauchs, der in der heutigen Gesellschaft eine praktische Grundlage hat, nicht ausklammern. Der Schlüssel liegt meiner Meinung nach darin, den Begriff der Tugend (Virtus) zu rekuperieren (A.d.Ü., hier im umgedrehten Sinne) und ihm seine volle Bedeutung zurückzugeben, damit er die Macht als instrumentelle Handlungsfähigkeit untermauert und ergänzt.

Im Gegensatz zur etablierten Macht ist die Tugend (Virtus) die Selbstmacht8 des Individuums und nicht die autonome Macht der Institutionen. Wenn wir also im Konzept der Ochlokratie die arkhé (Anfang oder ursprüngliche Quelle) der kollektiven Selbstmacht finden, finden wir im Konzept der virtus die arkhé der individuellen Selbstmacht. Die komplementäre und harmonische Entwicklung von Ochlokratie und Virtus würde bedeuten, dass es keine Unterschiede zwischen der Macht der Gemeinschaft und der Macht der Regierung oder zwischen dem Alltagsleben und dem politischen Leben gibt. Kurz gesagt würde dies die Verwirklichung der Anarchie bedeuten, die wir nun auf einer tieferen Ebene definieren können: Sie würde die Abschaffung von Formen der Macht bedeuten, die gegenüber den Individuen autonom sind, seien sie traditionell oder rechtlich, um an ihre Stelle eine neue Form der Macht zu setzen, die, wie der Begriff selbst sagt, „keinen Anfang“ oder „keinen Befehl“ hat, weil ihre Quelle zeitlos und den Menschen immanent ist. Diese Macht ist der direkte Ausdruck ihrer Menschlichkeit durch Kooperation. Aber Anarchie als politisches System setzt eine Menschheit voraus, die die Eigenschaft der Selbstverwaltung entwickelt hat: ihre soziale Tugend. Eine solche Eigenschaft ist für die Menschheit erst durch die Entwicklung des psychologischen und sozialen Selbstbewusstseins einerseits und durch die Entwicklung der menschlichen Zusammenarbeit zu immer komplexeren Formen andererseits zu einer konkreten Möglichkeit geworden.

Wir können Macht und Tugend auch auf der psychologischen Ebene gegenüberstellen.

Macht ist die instrumentelle Nutzung der Lebenskraft, um sie zu bewegen oder zu lenken. Sie ist die wesentliche Eigenschaft der egoischen Psychologie, denn das Ego ist das autonome Selbstkonzept gegenüber dem gesamten psychophysischen Wesen. Die Tätigkeit des Ego setzt eine instrumentelle Beziehung zu den psychischen Energien und Trieben voraus, deren Objektivierung es durch die Festlegung von Zielen bestimmt – wofür es zunächst funktionale Daten aus der sinnlichen Welt abstrahiert, daraus Repräsentationen konstruiert, mit denen es die Bedürfnisse des Seins identifiziert, und schließlich auf dieser Grundlage Hierarchie- oder Prioritätsbeziehungen zwischen den Trieben im Inneren und zwischen Handlungsformen im Äußeren herstellt, von denen ein Teil als Verhaltens- oder Denkgewohnheiten festgeschrieben ist und ein Teil gelegentlich auftritt. So bezieht sich das Ego nur in Form des instrumentellen Objekts auf die Realität als Ganzes, und somit ist das Gefühl der Macht (Aneignung, Besitz, Kontrolle) ein wesentlicher Aspekt allen egoischen Verhaltens, auch des intellektuellen Verhaltens.9

Tugend (Virtus) hingegen ist der Einsatz der Lebenskraft, um das zu tun, was unserer Natur entspricht, d.h. Selbstverwirklichung – menschliche Erfüllung, menschliches Gut und Schönheit. Sie setzt also eine psychologische und psychosomatische Integration im Allgemeinen und eine Überwindung der Ego-Autonomisierung im Besonderen voraus. In dem Maße, in dem dies erreicht wird, hört der innere Zustand auf, sich zwischen ständigen Konflikten zu bewegen, und die der Psyche innewohnende, bewusst gemachte Fähigkeit zur Selbstorganisation ermöglicht eine Selbstbestimmung ohne all die mechanischen Vermittlungen, die das Ego kennzeichnen, aber auch ohne in blindes Spontanverhalten abzudriften.

Aber wie ich schon sagte, müssen sich die historischen Bedingungen für Anarchie erst noch entwickeln. Andererseits müssen sie sich auf der Grundlage der gegenwärtigen gesellschaftlichen Totalität und im radikalen und integralen Bruch mit ihr entwickeln. Deshalb bedeuten alle oben genannten Einschätzungen nicht, dass eine sofortige Überwindung der Demokratie möglich ist, was uns zum Problem der politischen Übergangsformen bringt.

Jenseits der Demokratie

Mit den oben erwähnten Unterschieden zwischen Demokratie und Ochlokratie als politischen Organisationssystemen kann die Ochlokratie dennoch als eine Form der direkten Demokratie verstanden werden, obwohl sie in Wirklichkeit mehr als das ist. Sie ist eine „Demokratie“ in Bezug auf ihre interne Funktionsweise, aber nicht in Bezug auf ihre Verfassung:

1.) Sie setzt die Abschaffung der Staatsbürgerschaft voraus und das Individuum wird als immanente Quelle der Macht anerkannt – obwohl dies in der proletarischen Demokratie auf die besitzende Klasse beschränkt ist, d.h. sie gilt nur innerhalb der Gemeinschaft der freien und gleichen Produzenten;

2. ihre Grundeinheit ist keine „Demo“, sondern die Gemeinschaft, die in ihren lebendigen Kooperationseinheiten (die Fabrik, die Nachbarschaft, die Gemeinde…) zusammengefasst ist, d.h. die politische Form und die Lebensform sind strukturell identisch, es gibt keine Trennung zwischen ökonomischer oder materieller Macht und politischer Macht und keine Unterscheidung zwischen dem individuellen und dem politischen Subjekt;

3) die auf diese Weise selbstorganisierte „Menge“ hat dauerhaft die tatsächliche Macht inne, so dass es keinen Sinn macht, von „Ochlokratie“ als einer Verzerrung des populären Willens zu sprechen: Die einzigen Verzerrungen, die möglich sind, sind unpassende Entscheidungen der populären Massen selbst. Das Problem der Demagogie wird durch das Problem der kollektiven Intelligenz beiseite geschoben.

Das Konzept der Ochlokratie ist heute von besonderem Interesse, denn auf der Suche nach neuen Konzepten für politische Formen sind Begriffe wie „Holokratie“, „Pluriarchie“, „Demarchie“ … aufgetaucht. Die Holokratie wäre eine einzige Weltregierung als Lösung für alle Probleme der heutigen Gesellschaft. Es ist unnötig zu erwähnen, dass die Holokratie in der Realität nichts an den gesellschaftlichen Verhältnissen ändert und dass sie an sich auch nicht grundlegend ist, um eine solche Änderung herbeizuführen. Pluriarchie wird als ein System definiert, in dem die Entscheidungsfindung nicht binär (ja/nein) ist, sondern in dem die Parteien ohne Zwang eigenständig handeln können und der gemeinsame Wille nur durch Konsens festgelegt wird. Der erste Aspekt steht nicht unbedingt im Widerspruch zu Demokratie oder Ochlokratie. Aber der zweite ist tatsächlich ein Risiko, denn er setzt voraus, dass der Wille der Parteien nicht durch den Willen des Ganzen begrenzt werden kann, was eine Projektion des bourgeoisen Individualismus ist. Die Teile können nur als Formationen des Ganzen bestehen, auch wenn dies in der Phase der konstituierenden Entstehung von Bewegungen oder Gemeinschaften nicht der Fall ist, wenn sie von der Zerstreuung ausgehen. Dennoch sind diese Teile Ausprägungen des gesellschaftlichen Ganzen und können nur dank der relativen Homogenität des Ganzen gleichzeitig entstehen. Demarchie ist ein Zwischenbegriff zwischen Demokratie und Ochlokratie. Es bedeutet, dass das organisierte Volk die Grundlage der politischen Macht ist, dass das Volk das „Prinzip“ der politischen Macht ist, aber in diesem Sinne ist es nur eine andere Form der direkten Demokratie und behält die formalen Merkmale der Demokratie bei.

Zusammenfassend können wir sagen, dass Demokratie dort existiert, wo sich nicht die Gemeinschaft direkt selbst organisiert, sondern wo es eine formale Strukturierung gibt, die die tatsächliche Konstituierung der sozialen Gemeinschaft zu einer politischen Gemeinschaft vermittelt und bedingt. Dies geschieht in allen dauerhaften Organisationen, die eine Struktur, Regeln, ein Programm, Gewohnheiten usw. voraussetzen. Gleichzeitig setzen diese Organisationen innerhalb des Kapitalismus die generelle Trennung zwischen politischer Macht und Alltagsleben, Lebenseinheiten und organisatorischen Machteinheiten voraus – sie können die Gesamtstruktur der kapitalistischen Gesellschaft nicht überspringen. Die Teilnahme an ihnen und damit die Macht der Individuen, die ihre Mitglieder sind, ist an die Einhaltung dieser Muster und Trennungen gebunden. Externe Personen haben also keine direkte Macht über diese stabilen Organisationen.

Aus diesen drei Gründen sind die dauerhaften proletarischen Organisationen im Kapitalismus immer demokratisch im oben beschriebenen Sinne. Die Ochlokratie des Proletariats kann nur als politischer Ausdruck des revolutionären Prozesses entstehen, daher wäre dies die passende Bezeichnung für die uneingeschränkte Demokratie, die die radikalen Revolutionäre als Form der revolutionären Massenmacht wollten und deren Struktur in der Vergangenheit durch das Modell des Systems der Sowjets oder Räte veranschaulicht wurde. Die Akratie wäre ein weiterer Schritt, denn sie setzt das vollständige Verschwinden der politischen Macht mit der Unterdrückung der Reste der in der Klassengesellschaft entstandenen Ungleichheit und der entsprechenden Form der Subjektivität voraus.

Das Problem der Dezentralisierung

In jüngerer Zeit hat sich die Diskussion über die politischen Formen auf konkretere Formen verlagert.

So wurde zum Beispiel das Konzept der „verteilten Netzwerke“ postuliert, im Gegensatz zu dem typischen Konzept von Netzwerken als dezentralisierte Einheiten, in denen jedoch in der Praxis einige Knotenpunkte dominant oder zentral sind. Jede Dezentralisierung ist immer relativ, und deshalb ist die Schlüsselfrage nie die formale Dezentralisierung, sondern die effektive Dezentralisierung. Eine echte Dezentralisierung der Macht muss bedeuten, dass die Macht gleichmäßig unter den Knotenpunkten „verteilt“ wird (die in der Cyberpunk-Bewegung die Individuen selbst sind; ein Beispiel im Internet ist die Blogger-Bewegung).

Direkte Demokratie impliziert natürlich immer eine formale Dezentralisierung, aber sie geht in der Regel nicht auf das Problem der effektiven Dezentralisierung ein. Formale Dezentralisierung ist hier gleichbedeutend mit einer Dezentralisierung der Entscheidungsfindung. Die wirksame Beteiligung des Individuums an der Vorbereitung, Entwicklung und Umsetzung des politischen Willens bleibt im Hintergrund und ist eher ein abgeleitetes als ein organisches Element. Es gibt keine wirksame Verbindung zwischen Entscheidung und Umsetzung, da die Entscheidungsinstanz nicht mit der Umsetzungsinstanz identisch ist. Das Individuum, das das Recht hat, zu entscheiden, erwirbt nicht gleichzeitig die Pflicht, zu realisieren. Kurz gesagt: Es wird davon ausgegangen, dass die direkte Demokratie bei der Entscheidungsfindung gleichbedeutend ist mit der Errichtung eines Regimes der Freiheit. Der Inhalt wird mit der Form gleichgesetzt.

Die politische Form, die wir brauchen, muss auf einer umgekehrten Argumentation beruhen. Was in der politischen Form nicht organisch sein darf, was instrumentell sein muss, ist nicht die effektive Beteiligung, sowohl in Quantität und Qualität (Raum) als auch in Kontinuität und Dauerhaftigkeit (Zeit). Was instrumental10 sein muss, ist der rein politische Moment, die Beratung und Entscheidung, mit ihren Modalitäten. Zum einen muss dieser Moment eine Form annehmen, die mit der Art der angestrebten Beteiligung kohärent ist. Das liegt auf der Hand: Mittel und Zweck müssen übereinstimmen. Aber es ist eine ganz andere Sache, zu glauben, dass die Form der Entscheidung selbst eine entsprechende Art der Beteiligung hervorbringen kann. Das ist eine rein praktische Angelegenheit: Die meisten kollektiven Aktivitäten bestehen nicht darin, Entscheidungen zu treffen, sondern darin, sie vorzubereiten oder durchzuführen, also ist es die Dynamik der Umsetzung, die die Dynamik des kollektiven Lebens bestimmt.

In diesem Sinne ist das Konzept der Demokratie selbst unzureichend, so nuanciert es auch sein mag. Andererseits ist das Konzept der Ochlokratie durchaus angemessen. Denn er verweist auf die Tatsache, dass das politische Subjekt keine formale Struktur (Demo) oder eine Gruppe von Individuen ist, die mit ihr verbunden sind: Es ist die Kollektivität als solche, in und aus sich selbst. Das heißt, die Ochlokratie impliziert eine Art der Partizipation, die nicht durch eine formale Struktur oder eine individuelle Verbindung zu ihr bestimmt – also nicht angetrieben oder begrenzt – wird, sondern durch dieselbe Subjektivität und Form der Aktivität, die die Masse auszeichnet. Mit anderen Worten: Sie ist eine Masse, die ihre individuellen Selbstmächte bewusst in eine soziale Macht umwandelt, die dauerhaft sowohl als konstituierende als auch als instituierende Macht wirkt. Ohne diese wichtige Voraussetzung ist die Ochlokratie unmöglich, aber auch das, was gemeinhin als direkte Arbeiterdemokratie bezeichnet wird, da ihr dann die Partizipation oder die Inhalte fehlen, die sie braucht, um eine lebendige Form zu sein (oder einfach, dass Partizipation und Inhalte nicht von Dauer sind). Nur die Privilegierung von Entscheidungs- und Beratungsmomenten, die mit dauerhaften Formen (Vollversammlungen usw.) ausgestattet sind, erlaubt es uns, die Illusion aufrechtzuerhalten, dass die direkte Demokratie irgendeinen Wert an sich haben kann oder dass sie ohne die effektive und konkrete Beteiligung von Individuen existieren kann.

Wenden wir uns nun der konkreteren funktionalen Ebene zu. Es kommt nicht darauf an, dass Entscheidungen nach Verfahren getroffen werden, die darauf abzielen, einen ausgewogenen kollektiven Willen zu bilden, das heißt, ohne die Freiheit von Minderheiten anzugreifen oder zu missachten, aber auch ohne sie über die Mehrheiten zu stellen. Entscheidend ist, dass die Entscheidungen durch die bewusste Beteiligung aller Personen getroffen werden, die an ihrer Vorbereitung und Umsetzung beteiligt sind. Auf dieser Ebene darf die Demokratie nur als Verfahrensform existieren, nicht als starres institutionelles System. Der Fehler der traditionellen anarchistischen Sichtweise besteht darin, dass sie sich hauptsächlich auf die Verfahrensform konzentriert und das oben genannte Problem der effektiven Beteiligung aus den Augen verliert.

Es ist nicht das verfahrenstechnische Problem, das wichtig ist. Ob Entscheidungen im Konsens oder per Mehrheitsbeschluss getroffen werden. Oder ob das Individuum, der sich an der Entscheidungsfindung beteiligt, mit diesem Recht auch die Pflicht erwirbt, sich an der Vorbereitung und Durchführung von Entscheidungen zu beteiligen, ganz nach dem Motto der Satzung der ersten Internationale: „Keine Pflichten mehr ohne Rechte, keine Rechte mehr ohne Pflichten“.

In der Praxis ist die Unterordnung von Mehrheiten unter den Konsens mit Minderheiten nicht weniger autoritär als die Entscheidung durch die Mehrheit. Die „freie“ Unterordnung unter den Konsens überwindet den Autoritarismus nicht, sondern verinnerlicht ihn. Sie schafft eine Vergegenständlichung der kollektiven Macht in einem abstrakten und dominanten Gebilde – der Vollversammlung als politischer Gemeinschaft. Jedes Individuum oder jede Partei muss sich dieser Institution zwangsläufig unterordnen, wenn sie weiterhin an der realen Gemeinschaft teilhaben will. Folglich haben sie keine wirkliche Autonomie, sondern die Autonomie wird entfremdet und als Eigentum der Vollversammlung als einer formalen Struktur festgelegt.

Diese Art von Starrheit macht die Demokratie zu einem politischen System, auch wenn es sich um eine direkte Demokratie handelt. Deshalb müssen wir sie so weit wie möglich abbauen, wie es der aufständische Anarchismus zu Recht fordert – ein gutes Ziel, auch wenn ich seine Lösungen für unzureichend halte.

Die Lösung für das Problem des Bürokratismus besteht nicht darin, die Komitees zu untergeordneten Strukturen der Vollversammlungen zu machen. Sie besteht darin, in Anlehnung an den Ansatz von Marx und Engels die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Autonomisierung der Komitees nicht stattfinden kann,11 wofür die formale Abhaltung von Vollversammlungen unzurreichend ist – selbst wenn diese selbst einberufen werden.

Ebenso besteht die Lösung des Problems des Autoritarismus nicht darin, dass sich jemand jemandem aufdrängen kann. Sie besteht darin, jedem die Möglichkeit zu geben, wirksam gegen die Autorität zu kämpfen, die er oder sie ablehnt. Da das Problem des Autoritarismus in den direkten Beziehungen zwischen den Menschen liegt, kann es nicht durch „antiautoritäre“ Normen unterdrückt werden, die das Problem nicht an der Wurzel packen, sondern es nur beschönigen. Und wie ich bereits erklärt habe, begünstigen formale Maßnahmen allein einen mystifizierenden demokratischen Formalismus, der zu einem Hindernis für das Verständnis des Problems der Entwicklung individueller Autonomie und ihrer Unerlässlichkeit für die volle Entfaltung der kollektiven Autonomie wird.

Demokratie, die auf eine Verfahrensform reduziert ist, um eine ständige Debatte und die volle Beteiligung der Individuen zu entwickeln sowie über ihre konkreten Handlungen zu entscheiden, überwindet die formalistische Starrheit, ohne in ihr Gegenteil – eine informalistische Starrheit – zu verfallen, und konzentriert ihre Aufmerksamkeit auf das Wichtigste: die Entwicklung freier und gleichberechtigter Zusammenarbeit und deren Verstärkung. Das bedeutet, dass die Demokratie als solche nicht mehr stabil ist, dass sie sich im Übergang zu einer Ochlokraite befindet. Vielleicht ist der Begriff „Demarchie“ zutreffend, um diese Übergangsform zu beschreiben, in der demokratische Formen prozedural fortbestehen, aber als instrumentelles Element dem direkten Willen selbstbewusster und selbstmotivierter Individuen untergeordnet wurden – „beginnt“ (arkhé) in ihnen und kehrt zu ihnen zurück – was die Grundlage der Ochlokratie ist.

Populismus und rechte Rhetorik

Das klassistische Verständnis der Ochlokratie schreibt ihr, wie wir gesehen haben, einen an sich perversen Charakter zu, während es die Demokratie und andere Regierungsformen als „rein“ betrachtet. Deshalb wird das Konzept auch heute noch verwendet, um z. B. populistische Regierungen in Lateinamerika zu kritisieren, vor allem wenn sie die Massenmobilisierung zu ihrem Vorteil nutzen. In einigen Fällen wird der Begriff explizit verwendet, aber meistens wird das alte Thema der Demagogie wiederholt, das gleichbedeutend ist.

Dies verstärkt die Assoziation zwischen Demagogie – und generell dem Fehlen von einer selbstbewusstem populären Aktion – und angeblich „sozialistisch“ ausgerichteten politischen Programmen: ein offensichtlich rechter Ansatz, der nichts anderes ist als die Kehrseite des links angehauchten Populismus, den er bekämpft.

Die Tragfähigkeit seiner Argumentation hängt vor allem von der Figur der populistischen Führer oder Parteien ab, die, ob sie nun explizite Lügen verwenden, um die Massen zu manipulieren oder nicht, zahlreiche Beispiele dafür haben, wie sie die beliebige Nutzung von Informationen betonen, um eine für ihre Interessen oder Programme günstige Massenreaktion zu erreichen. Dies ist ein inhärenter Merkmal jeder populistischen bourgeoisen Politik – d. h. jeder bourgeoisen Politik, die die aktive Suche nach Unterstützung durch die Massen beinhaltet – und hängt nicht davon ab, ob die Partei oder ihre Führer die Staatsmacht innehaben. In jedem Fall kann ihre politische Position ihre Neigung zur Demagogie und ihren Einfluss auf die Massen verstärken oder vermindern.

In der Regel ist es in der kapitalistischen Gesellschaft politisch nicht profitabel, die Wahrheit zu sagen. Nicht unbedingt, weil es Interessen zu verbergen gibt. Sondern weil die Massen selbst die Wahrheit nicht wissen wollen. Sie halten ihre entfremdende Existenz nur aus, indem sie sich an die Erwartungen klammern, die mit dem kapitalistischen Fortschritt verbunden sind, und genau diese Existenz führt dazu, dass sie sich angesichts der allgemeinen historischen Dynamik ohnmächtig fühlen und nicht in der Lage sind, ein anderes Gesellschaftssystem zu errichten. Sie neigen daher dazu, dem Diskurs, den sie gerne hören würden, mehr Aufmerksamkeit zu schenken als dem, der an die Tatsachen appelliert und sie wirklich zu erklären versucht. Sie zieht den Diskurs, der ihre Illusionen nährt, dem Diskurs vor, der sie leugnet.

Angesichts dieses Teufelskreises ist die Existenz der Masse selbst in eine Lüge gehüllt. Und es ist genau diese Lüge, die sie erträglich macht. Alle sozialen Lügen im Zeitalter des Kapitalismus basieren auf dem Axiom, dass die merkantile gesellschaftliche Entwicklung, wenn sie richtig ausgerichtet ist, die gegenwärtigen Leiden und Einschränkungen lösen oder schrittweise verringern wird. Dieses Axiom hat, das ist nicht zu übersehen, eine sehr präzise subjektive Grundlage, die die Quelle seines großen Widerstands gegen alle revolutionären Diskurse oder Versuche ist. Es handelt sich um eine Form der Subjektivität, die ihre Bedürfnisse in die Aneignung von Objekten projiziert; die bereit ist, ihr Sein, ihr Leben, in ein Mittel zum Haben zu verwandeln, und die damit voll und ganz für die Entwicklung der Warenproduktion funktional ist. Selbst wenn sie sich dabei gegen die Bourgeoisie auflehnt. Tatsächlich lehnt sie sich nur deshalb gegen den Kapitalismus auf, weil der Kapitalismus solche Erwartungen an den Besitz enttäuscht, nicht weil sie ihre geistige Selbstentfremdung überwunden hat. Mit anderen Worten: Es vertritt die Interessen des variablen Kapitals und nicht die Interessen der Befreiung der Menschheit. Wenn sich das Proletariat zu diesem Zweck als Klasse konstituiert und als Klasse handelt, erreicht es dies jedoch nur auf einer formalen Ebene; es wird nicht tatsächlich zur Klasse für sich selbst im Marx’schen Sinne, sondern bleibt in Wirklichkeit Klasse für das Kapital. Und dann werden Klassenaufstände oder Klassenkämpfe zu einem Ansporn für die weitere Entwicklung oder Perfektionierung des Kapitalismus.

Es herrschen immer noch typische soziale Verhaltensweisen vor, die sich lediglich durch den Grad der Passivität/Aktivität in Bezug auf die kapitalistische Entwicklung unterscheiden: Die einen lehnen sich zurück und warten ab, die anderen kämpfen, um sie herbeizuführen. Aber sie alle teilen die gleiche Erwartung, sie projizieren in ihrer Praxis die gleiche Endgültigkeit, die ihr elendes Leben sinnvoll macht. Genauer gesagt, der der vorherrschenden Form der Subjektivität innewohnende Glaube, dass die komplexe psychische Dynamik, die das menschliche Leben kennzeichnet, in Zukunft schrittweise erweitert und verwirklicht werden kann, da der Kapitalismus eine Form der Erfüllung für alle Triebe bietet.

Diese konformistische Erwartung hat sich jedoch nicht bestätigt. Weder durch die Entwicklung der Konsumgesellschaft, die mit den Grenzen des Kapitals kollidiert, noch durch den Zugang zu einem höheren Niveau und einer größeren Vielfalt dieses Konsums. Denn die psychische oder vitale Dynamik des Menschen kann per definitionem nur durch uneingeschränkte Selbsttätigkeit, durch die freie Entfaltung all seiner Bedürfnisse und Fähigkeiten eine zufriedenstellende Erfüllung finden. Und das ist in der heutigen Gesellschaft nicht nur wegen der Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise unmöglich, sondern auch, weil jede materielle Produktion ökonomisch, technologisch und ökologisch endlich ist. Als wäre das nicht genug, wird auch immer deutlicher, dass die Steigerung des Konsumniveaus an sich nicht zum Glück oder zur Entwicklung menschlicher Qualitäten beiträgt. Dieses Phänomen hat eine sehr tiefe Wurzel. Das Sein ist Aktivität. Die menschliche Natur ist im Wesentlichen selbsttätig und kann daher nur in der Selbsttätigkeit Selbstverwirklichung finden. Der Besitz, das Haben, ist eine Form, die Selbstaktivität als solche zu stoppen oder zu reduzieren und die Selbstaktivität im Allgemeinen auf diese besondere Art der Selbstaktivität zu beschränken oder ihr unterzuordnen. Deshalb kann er weder zu einem glücklichen Leben führen, noch ist er für die Entwicklung menschlicher Qualitäten förderlich. Im Gegenteil, er erzeugt ein Gefühl der Leere und Ohnmacht, weil das Haben von der Selbsttätigkeit als solcher entfremdet ist, anstatt eine Funktion davon zu sein. Man lebt, um zu haben, anstatt zu haben, um zu leben, und das Selbst wird dafür geopfert. Die materielle Produktion dient also nicht dazu, die Selbsttätigkeit, das Leben, zu bereichern und zu verstärken, sondern verarmt sie durch entfremdeten Konsum und entfremdete Arbeit. Und das kann sie gar nicht anders, denn diese Form der Arbeit ist ihre effektive Grundlage und enthält in sich selbst bereits das Prinzip der Unterordnung des Lebens unter das Haben: in der allgemeinen Form der Unterordnung der lebendigen Arbeit unter die akkumulierte Arbeit und in der besonderen Form der Verwandlung des Lebens des Arbeiters in ein bloßes Mittel zur Erzielung eines Lohns.

Auf dieser psychosozialen Grundlage hat der Kapitalismus die Subjektivität als Begehren und als Schöpfung vollständig untergeordnet und den Kreislauf des Kapitals vollendet. Damit wird die gesamte materielle und geistige Dynamik der Gesellschaft als Funktion des Kapitalzyklus vollständig unterdrückt. Proletarier können nicht mehr „leben“, es sei denn als Elemente dieses allumfassenden Prozesses des Kapitals, der sich durch die Produktion, die Zirkulation und den Konsum zieht und das Netz der alltäglichen sozialen Beziehungen als funktionales Ganzes gestaltet.

Doch kommen wir nun zurück zum Problem des Populismus.

Es ist klar, dass auf der oben beschriebenen sozialen Grundlage jeder Populismus fast zwangsläufig einen gewissen caudillistischen12 Charakter hat. Allerdings ist dieser in einigen Fällen stärker ausgeprägt als in anderen. Wenn wir dies vom Standpunkt der klassischen Antike aus betrachten, ist diese Art von autoritärer Politik, die auf populistischer Demagogie beruht, vom Standpunkt der Regierungsformen oder politischen Systeme aus gesehen eine für die Tyrannei typische Aktivität.13 Denn in diesen Fällen ist die populäre Unterstützung, so aktiv sie auch sein mag, instrumentell, entfremdet. Wir haben es hier also nicht mit einer entarteten Demokratie zu tun, sondern mit einer Demokratie, die so verletzt wurde, dass sie den Aufstieg einer illegitimen herrschenden Klasse an die Macht ermöglicht hat. Was als Entartung der Demokratie für einen Teil der herrschenden Klasse dargestellt wird, ist in Wirklichkeit nur ein Wechsel von der Oligarchie zur Tyrannei.

Dies zeigt, dass die bourgeoise Politik im Allgemeinen zutiefst demagogisch ist, wenn sie sich auf die Geschichte beruft, um ihre Argumente vorzubringen. Schon der Begriff der Demokratie selbst wird demagogisch verwendet: Die gute Demokratie ist immer diejenige, die formal in Übereinstimmung mit der Klassenstruktur der Gesellschaft und ihrer Entwicklung konstituiert ist; die Demokratie, an die das „Pöbel“ glaubt, ist immer eine pervertierte Demokratie. Wenn Beispiele auftauchen, die zeigen, dass dies nicht zwangsläufig so ist, sondern dass die Masse eine revolutionäre und nicht nur eine konservative Selbstorganisationsfähigkeit besitzt, dann greift man auf die falsche Identität <populistische Regierung=Regierung des Pöbles> und den daraus folgenden Syllogismus zurück: Wenn A (die populistische Regierung ist die Regierung des Pöbels) und B (die Regierung des Pöbels ist pervers, irrational, von Unwahrheiten beherrscht etc. ), dann C (die populistische Regierung ist pervers – und ihr Ursprung liegt in der Macht des Pöbels, wie in A impliziert). Dies hat eine doppelte Funktion: einerseits als oppositionelles Argument der bourgeoisen Fraktionen gegen die populistische Regierung, aber vor allem als mystifizierendes Argument dieser Fähigkeit der Massen. Im Fall von Venezuela lässt sich dies deutlich erkennen. Die Fraktion der Bourgeoisie, die den Chavismus bekämpft, weiß genau, dass die Macht des Chavismus mehr von der Selbstaktivität der proletarischen Massen abhängt, wie begrenzt sie auch sein mag, als von den bourgeoisen Sektoren, die ihn unterstützen.

Die populistische Degeneration der proletarischen Politik

Der obige Syllogismus ist jedoch ungeheuer „populär“, und zwar genau in dem pejorativen Sinne, den die klassischen Denker dem „Vulgären“, der „Plebs“ oder dem „Pöbel“ als politischem Subjekt gaben. Die Schlussfolgerung C wird zur mehr oder weniger unbewussten Prämisse aller Arten von Gefangenen der liberal-demokratischen Mentalität, einschließlich vieler Anarchistinnen und Anarchisten, die solche Regierungen als autoritär kritisieren und nicht weiter sehen. Das wichtigste Ergebnis ist, dass populistische Regierungen in den Begriffen der bourgeoisen Politik in Frage gestellt werden, als Agenten, die der individuellen Freiheit, den legitimen Interessen usw. abträglich sind. Selbst wenn sie sozialistische Demagogie betreiben, werden sie später der Inkohärenz beschuldigt, anstatt ihren kapitalistischen Charakter von Anfang an anzuprangern.

Es ist nicht so schwer zu erkennen, dass es in Wirklichkeit um die Interessen geht, auf die populistische Politik reagiert und die in der Regel ihr ständiger Inhalt sind, trotz der Unterschiede in der konkreten Regierungspolitik. Dieser Aspekt ist für die bourgeoisen politischen Kräfte natürlich nicht von Interesse. Denn er hebt die konkreten Klasseninteressen hervor, und wenn es eine Kombination verschiedener oder sogar widersprüchlicher Klasseninteressen gibt, führt er logischerweise dazu, dass wir ihr effektives Gewicht bei der Festlegung der Regierungspolitik einschätzen.

Andererseits sind dieselben bourgeoisen Kräfte daran interessiert, die heteronome Mobilisierung der Massen mit autonomen Aktionen der Massen zu verschmelzen. Denn wenn konsequent von der „Volksmacht“ ausgegangen wird, dann wird sie nur in dem Maße verwirklicht, in dem sie die gesellschaftliche Entwicklung effektiv lenkt und die konkrete Regierungspolitik bestimmt, was nur selten der Fall ist. Die rechten Kräfte sind sehr darauf bedacht, diesen Widerspruch des Populismus gegenüber den Massen nicht so darzustellen. Das Gleiche gilt aber auch für die Linke des Kapitals, sofern sie an der Entwicklung des Populismus beteiligt ist (z. B. viele leninistische Parteien). In diesem Fall können sie die Mystifizierung der Macht der Massen nicht angreifen, ohne ihre eigenen Positionen anzugreifen, und das ist der Grund, warum jede Unterstützung des Populismus am Ende zu einer Kapitulation führt, zunächst programmatisch und dann auch theoretisch.

Der Fall des Bolschewismus ist paradigmatisch. Er veranschaulicht sehr gut, wie die populistische Logik in der Lage ist, die Opposition zu integrieren und so eine mystifizierte Geschichte der revolutionären Aktionen der Massen zu schaffen. Unter der Annahme, dass die vom Volk unterstützte Regierung mit der politischen Hegemonie des wirklichen Volkes gleichzusetzen ist, ist jede Opposition gegen diese Regierung illegitim. Unter der Annahme, dass diese Regierung den Fortschritt repräsentiert, ist jeder Widerstand gegen sie reaktionär. Andererseits sind die Aktionen der Massen, die diese Regierung unterstützen, legitim und fortschrittlich, während die Aktionen, die sich gegen sie auflehnen, das Ergebnis von Manipulation sind. So hält auch heute noch ein großer Teil der „marxistischen“ Linken an der mystifizierten Geschichte fest, die seit 90 Jahren von den Epigonen des Leninismus verteidigt wird, vor allem in ihrer „kritischen“ antistalinistischen Version. Sie erkennen weder den konterrevolutionären Charakter des Bolschewismus in Bezug auf proletarische Aktionen von seinen Ursprüngen an, noch erkennen sie die Mystifizierung der bolschewistischen Regierung als Ausdruck des Proletariats oder ihre Politik und Ideologie als Mystifizierung des marxistischen Denkens. Und wie ich bereits erwähnt habe, gehören zu dieser Mehrheit der bestehenden Linken auch diejenigen, die das Problem des Bolschewismus vom Anarchismus her auf das Problem des Autoritarismus reduziert haben – verstanden als Problem der Subjektivität, der Perversion für und durch die Macht – und die Anfänge der bolschewistischen Regierung folgerichtig als legitim verstanden haben, da sie in den ersten Jahren der Revolution von den Massen unterstützt wurden – Anfänge, die natürlich durch die Anwendung autoritärer Ideen pervertiert wurden.14

Der Antiautoritarismus als solcher basiert immer auf einem Fetischismus der formalen Organisation und hat daher mit dem Populismus eine abstrakte Betrachtung der Aktivität der Massen gemeinsam. Für beide ist eine populäre oder proletarische Aktion eine Aktion, die von der Masse des Volkes oder des Proletariats durchgeführt wird. Wenn diese Aktion also in einer Form von Despotismus endet, wird dies dem (bewussten oder getäuschten) Willen eben dieser Massen zugeschrieben. Bei einigen wird dieser Wille direkt auf die autoritäre Mentalität der Massen zurückgeführt. Für andere ist er auf den Einfluss der autoritären Mentalität ihrer Anführer zurückzuführen. Vom historisch-materialistischen Standpunkt aus betrachtet, ist die populäre oder proletarische Aktion hingegen diejenige, die nicht nur von dem betreffenden Subjekt ausgeführt wird, sondern auch die Art von sozialen Interessen verwirklicht, die die materielle Organisation der Gesellschaft und die gesamten historischen Bedingungen für diese Subjekte bestimmen. Mit anderen Worten: „die Aktion der Proletarier“ (Form) und „die Aktion mit proletarischem Charakter“ (Inhalt) sind nicht dasselbe, und sie implizieren sich auch nicht notwendigerweise gegenseitig.15 Auf der konkreten Ebene ist die proletarische Aktion nur insofern mit ihren sozio-historischen Bestimmungen kohärent, als sie eine Bewegung der Selbstbefreiung, der Selbstbefreiung der Entfremdung durchführt. Solange es jedoch seine Selbstentfremdung akzeptiert und nur vorgibt, sie formal zu verändern, indem es beispielsweise seinen Kampf auf Lohnerhöhungen oder Sozialpolitik beschränkt, handelt das Proletariat nur als Klasse-für-das-Kapital.


1https://de.wikipedia.org/wiki/Demos

2(in der altgriechischen Staatsphilosophie) Herrschaft durch den Pöbel (als eine entartete Form der Demokratie); Pöbelherrschaft, https://de.wikipedia.org/wiki/Ochlokratie

3Polybius selbst gibt jedoch auch einen Hinweis auf das Gegenteil: „Die Bevölkerung, empört über dieses Vorgehen, begnügte sich nicht mehr damit, heimlich zu murmeln, sondern einige hängten nachts Zettel an die öffentlichen Pfosten, andere versammelten sich tagsüber in Gruppen und äußerten öffentlich ihren Hass gegen die Anführer“ (III, Kap. XII). (Band III, Kapitel XII)

4Mariano Grondona, Historia de la democracia, Sept. 2000.

http://www.cema.edu.ar/publicaciones/download/documentos/175.pdf

5Siehe: http://www.soberania.es/

6Catalina Balmaceda, Virtus romana en el siglo I a.C., 2007. Im Folgenden werde ich die Daten zur Entwicklung des Konzepts der virtus aus dieser Arbeit übernehmen, wenn auch mit einem anderen Fokus.

7Obwohl nicht „männlich“, was das Ergebnis einer Verwechslung der Schreibweisen mit dem Begriff Baron zu sein scheint, wahrscheinlich verwandt mit dem germanischen baro (kampffähiger Mann, Krieger) und dem skandinavischen beriask (kämpfen). Er wurde im 13. Jahrhundert eingeführt, hat also nichts mit vir zu tun.

8Ich entnehme den Begriff der Selbstmacht (self-power, atma-sakti) dem philosophischen Vokabular von Aurobindo Ghose.

9Unter diesem Gesichtspunkt hat die These von Marx, dass es nicht darauf ankommt, die Welt zu verstehen, sondern sie zu verändern (Thesen über Feuerbach, 1845), auch eine psychologische Tragweite. Wenn wir an unseren Vorstellungen von der Welt festhalten und die Welt ein Werden ist, steht unsere intellektuelle Haltung unweigerlich im Konflikt mit dem Ziel, sie zu verändern. Die richtige Haltung ist daher die der uneigennützigen Aufmerksamkeit, um die konkrete Wirklichkeit zu erfassen, und dann die Unterordnung unserer intellektuellen Tätigkeit unter den allgemeinen praktischen Zweck – ohne dabei in eine psychische Fixierung auf bestimmte Interpretationen dieses Zwecks zu verfallen, denn auch unser Intellekt ist dem Werden unterworfen. Es geht darum, in einem Zustand des schöpferischen Flusses zu leben und nicht in dem der ideologischen Sicherheit.

10Man beachte, dass ich hier von politischen Formen spreche. Aus der Sicht der effektiven Praxis, der konkreten menschlichen Tätigkeit, ist die Entscheidungsfindung nicht instrumentell, sondern organisch mit der Tätigkeit verbunden, die eine dynamische Einheit von Sein und Bewusstsein ist. Wir sprechen hier von den formalen Richtlinien, die die institutionelle Dynamik und ihre Auswirkungen bestimmen. Im Rahmen der gesellschaftlichen Tätigkeit ist die Autonomisierung der Entscheidungsfindung von der praktischen Umsetzung nur durch die Arbeitsteilung möglich.

11„Die Existenz des Kommunismus [-in dem, was er besteht-], das, was der Kommunismus hervorbringt, ist gerade die wirksame Grundlage, um alles, was unabhängig von den Individuen existiert, unmöglich zu machen, insofern das, was existiert, doch nur ein Produkt des vorherigen Handelns der Individuen selbst ist.“ (Die deutsche Ideologie, 1846).

12A.d.Ü., aus dem Spanischen caudillo, Anführer, bzw., der Titel den sich Franco selbst gab.

13„Der Tyrann geht aus dem Volk und den Massen gegen die Notablen hervor, damit das Volk kein Unrecht von ihnen erleidet. Aus den Tatsachen geht hervor, dass die meisten Tyrannen sozusagen aus Demagogen hervorgegangen sind, die durch die Verleumdung der Anständigen Vertrauen gewonnen haben.“ (Aristoteles, Politik, V, 10, 3-5).

14Andere haben darauf bestanden, dass die bolschewistische Regierung durch einen Putsch errichtet wurde und nicht das direkte Ergebnis von Aktionen der Massen oder der Entwicklung des Sowjetsystems war. Doch damit lässt sich das Problem nicht aus der Welt schaffen, dass die bolschewistische Regierung in den ersten Jahren die breite Unterstützung des Proletariats genoss.

15Ich werde nicht auf die Zweideutigkeit und Widersprüchlichkeit der Kategorie „Volk“ eingehen, die selbst eines der ideologischen Bollwerke des Populismus ist.

]]> Warum wir gegen Parteien sein müssen, Roi Ferreiro https://panopticon.blackblogs.org/2021/09/22/warum-wir-gegen-parteien-sein-muessen-roi-ferreiro/ Wed, 22 Sep 2021 16:52:21 +0000 http://panopticon.blackblogs.org/?p=2316 Continue reading ]]> Einleitung von der Soligruppe für Gefangene,

zu unseren kommenden Text – KEIN ANARCHISTISCHES PROGRAMM, Eine Kritik ananarchistischemIdealismus, Ideologien und Reformismus – setzen wir fort mit der Reihe an Texten, alles Übersetzungen, die sich mit der Thematik des Reformismus auseinandersetzen.

Dieser Text ist die Erweiterung oder Ergänzung von Warum wir keine revolutionäre Partei brauchen, hier der Link zu unserer Übersetzung. Genauso wie bei allen Texten, die wir veröffentlichen, sind wir nicht mit allem einverstanden, aber genauso wie beim Vorgänger, denken wir, dass diese ein interessante Grundlage für Debatten sind, dass solche Texte einen enormen Beitrag leisten können, zumindest um den gegenwärtigen geistigen Zustand vieler Anarchisten und Anarchistinnen, irgendwo zwischen Nirvana und Limbus, zu überwinden.


Roi Ferreiro

Warum wir gegen Parteien1 sein müssen

Theoretische Kritik an den Positionen der Izquierda Revolucionaria (Revolutionären Linken).


Präsentation

Welche Art von Organisation braucht die Arbeiterklasse?

Die praktischen Wurzeln der Form der Partei

Partei, Avantgarde und Macht

Die Eigenschaften, die die revolutionäre Avantgardeorganisation haben muss

Die Deformation der revolutionären Theorie, bzw. der Partei als kollektiver Intellektueller

Die revolutionären Parteien sind nicht anders als die anderen Parteien

Die Partei als politischer Technologe

Der Aufbau revolutionärer Gruppierungen und zukünftige Perspektiven


Präsentation

Ermutigt durch den Gefährten Ricardo Fuego und seine Kritik des Textes „Warum wir eine revolutionäre Partei brauchen“, der spanischen trotzkistischen Gruppe Izquierda Revolucionaria, beschloss ich, diesen Text gründlich zu lesen und einen Beitrag dazu zu leisten.

Meine Arbeit war darauf gerichtet, die theoretischen Grundlagen des Textes zu klären, in Anbetracht der Tatsache, dass die Kritik, was ihre praktische Transzendenz betrifft, bereits vollständig von Ricardo in seinem Artikel „Warum wir KEINE revolutionäre Partei brauchen“ entwickelt worden ist. Daher werde ich versuchen, nicht auf diese eher praktischen Aspekte einzugehen, sondern mich darauf konzentrieren, andere, eher theoretische Perspektiven zu diesem Thema zu vermitteln.

 

Welche Art von Organisation braucht die Arbeiterklasse?

Die Frage nach der „Notwendigkeit, sich zu organisieren“ (in dem Sinne, wie die IR sie stellt), stellt sich in den Kämpfen als Ausdruck der Schwäche oder des Scheiterns der Kämpfe, nicht als Ausdruck ihrer Stärke.

Die wirkliche Notwendigkeit, sich zu organisieren, entsteht nicht, wenn Kämpfe „stattgefunden haben oder stattfinden“, sondern wenn sie sich in einem fortgeschrittenen Stadium der Vorbereitung befinden. Die Kämpfe, die „stattgefunden haben“ oder „stattfinden“, haben oder hatten bereits eine Organisation, bessere oder schlechtere. Organisation ist eine inhärente Dimension des Handelns. Absolute oder reine Spontaneität gibt es nicht. Die Frage ist also, welche Art von Organisation notwendig ist.

Wenn wir uns in die Perspektive bereits abgeschlossener oder laufender Kämpfe versetzen, wird die wirkliche Frage nicht lauten: „Wir müssen die Kräfte gegen das Kapital vereinen“, sondern: „Unsere Schwierigkeiten und Niederlagen kommen (ausschließlich oder nicht) aus dem Mangel an Organisation“; oder: „Um eine Ausweitung des Kampfes zu erreichen, brauchen wir mehr und bessere Organisation“ (in beiden Fällen zu lesen: Arbeitsteilung und Delegation).

Die Behauptung, dass die Organisation als Voraussetzung für den Kampf notwendig und relativ unabhängig von ihm ist, stammt von einem Standpunkt, der außerhalb des Kampfes selbst steht und der die Kontinuität zwischen der spontanen Organisation der Klasse im Kampf und der Schaffung von Organisationsformen leugnet, die für vorbereitende Funktionen (im weitesten Sinne des Begriffs) für die kommenden Kämpfe bestimmt sind.

Andererseits stellt sich im Kampf selbst und während seiner Vorbereitung, wenn das Proletariat seine Energie einsetzt, soziale Beziehungen für die Diskussion und den Austausch der am Kampf beteiligten Proletarier schafft, die Organisation immer als ein konstitutives Element der Praxis des Kampfes, der proletarischen Selbsttätigkeit dar, die ihr Produkt ist und von ihren immanenten Zielen bestimmt wird.

Das Wesen der proletarischen Organisation ist nicht die Technik, d.h. die Schaffung einer Arbeitsteilung in der proletarischen Bewegung, sondern die Zusammenarbeit der Proletarier selbst. Diese Zusammenarbeit erzeugt, je nach Intensität, Breite und Bewusstsein ihrer Interessen, eine Arbeitsteilung, die zu verschiedenen Organisationsformen führt. Das technische Wissen der Organisation ist nur nützlich, wenn es den Eigenschaften untergeordnet wird, die die Selbsttätigkeit der Proletarier annimmt. Die Trennung von dieser Selbsttätigkeit bedeutet, den Standpunkt eines Spezialisten für Organisation einzunehmen und das Problem vom Feld des Klassenkampfes und der Entwicklung der Selbsttätigkeit der proletarischen Massen auf das Feld der Kämpfe der Parteien und der Entwicklung dieser Parteien zu verlagern.

Was der IR-Text tatsächlich vorbringt, ist, dass die Arbeiterklasse eine Organisationsform braucht, die nicht rein unmittelbar auf den Prozess des Kampfes bezogen ist, und die nicht als eine einfache momentane Verlängerung (für die Dauer des Kampfes) der Selbstaktivität der kämpfenden Proletarier konzipiert ist. Aber diese Herangehensweise an die Frage ist idealistisch. Sie begreift die Organisation nicht als inhärenten Bestandteil des Kampfes und führt die aufgezeigte Interdependenz2 zwischen Kampf und Organisation in ihren unmittelbaren Formen auf die Unwissenheit des Proletariats zurück (das nicht wüsste, wie man mehr als das tun könnte). Seine Herangehensweise an die Frage muss also dazu führen, Organisation als etwas zu betrachten, das angesichts des Klassenkampfes autonom existieren kann, das als bestimmende Kraft im Verlauf der Kämpfe fungieren kann, anstatt von ihnen bestimmt zu werden.

Letztlich besteht der Bedarf an Organisation, daran besteht kein Zweifel. Die Frage ist der Charakter der Organisation. Selbst diejenigen, die die Klassenorganisation leugnen mögen, bejahen die Notwendigkeit der vom Kapitalismus geschaffenen sozialen Organisation.

 

Die praktischen Wurzeln der Form der Partei

Im Allgemeinen organisiert sich die Arbeiterklasse für den Kampf. Nur durch ihre kollektive Einheit werden ihre individuellen Fähigkeiten zu einer Macht, die in der Lage ist, ihre praktische Situation – also mehr oder weniger die Gesellschaft – zu verändern. Die Organisation existiert nicht als etwas, das vom Kampf und vom Bewusstsein der Notwendigkeit desselben getrennt ist. Dies scheint nur so, weil bestimmte Organisationen, einmal geschaffen, als Entitäten weiterbestehen können, die scheinbar mit einem Eigenleben ausgestattet sind. Diese Illusion ist die praktische Grundlage des Fetischismus der Organisation.

Die Partei als Organisationsform ist ein Strukturtyp, der per Definition nur in Opposition zu anderen Parteien und zum Kampf gegen sie existiert. Es handelt sich nicht um eine kollektive Einheit, die darauf abzielt, die Situation (objektiv oder subjektiv) zu verändern, sondern um eine Einheit, um gegen andere politische Kräfte zu kämpfen, für die Adhäsion des Willens der Individuen.

Selbstverständlich besteht die Rechtfertigung für ihre Existenz darin, dass diese anderen Kräfte der Veränderung der Situation3 entgegenstehen und dass das Festhalten von Individuen zu diesem Zweck notwendig ist. Aber in Wirklichkeit ist die Funktion der Partei nicht die soziale Veränderung. Das ist der Punkt. Ihre Funktion ist es, Machtverhältnisse zu verändern. Es geht um Vermittlungen, nicht um die menschliche Tätigkeit als Ganzes. Sie ist die politische Reflexion der Trennung zwischen Arbeit und Produktionsmitteln (A.d.Ü., Hand- und Kopfarbeit) und ihrer entfremdenden Beziehung, die die lebendige Arbeit der blinden Dynamik der Akkumulation unterordnet.

Es besteht also ein Widerspruch zwischen der Form der Partei und dem Anspruch, dass sie revolutionäre Funktionen entwickelt. Da ihr Gegenstand die Machtverhältnisse sind, kann die Partei keine Organisation sein, die direkt aus dem Klassenkampf hervorgeht. Ihr Ursprung liegt nicht in der Praxis des Kampfes, sondern in einer bestimmten Form des Bewusstseins über diesen Kampf, das einen Standpunkt einnimmt, der außerhalb des Kampfes liegt. Dieser theoretische Ursprung ist das vorherrschende Bewusstsein, da es die Bourgeoisie ist, die die politischen Parteien erschaffen hat, aber sein praktischer Ursprung liegt in der geringen Entwicklung der proletarischen Selbsttätigkeit, die den falschen Schluss zulässt, dass die Klasse selbst nicht in der Lage ist, über ein bestimmtes Niveau von Kampf, Bewusstsein und Organisation hinauszugehen. Ausgehend von diesem falschen Bewusstsein ist die Arbeiterpartei eine Organisation, die in Wirklichkeit vorgibt (oder zumindest möchte), zu existieren, ohne den Kampf und das Bewusstsein des Proletariats zu berücksichtigen, und die in ihren Genen die Unterschätzung der Fähigkeiten der Klasse als Ganzes trägt.

 

Partei, Avantgarde und Macht

Wenn die Arbeiterpartei sich als Organisation des „fortschrittlichsten Sektors“ der Klasse proklamiert, definiert sie diesen letzteren auf implizite Weise als den „politisch fortschrittlichsten Sektor“. In der Sprache der Partei heißt das: die am weitesten Fortgeschrittenen im Kampf um die Macht. Es handelt sich nicht um den am weitesten fortgeschrittenen im realen Klassenkampf, den am weitesten fortgeschrittenen Sektor praktisch im Kampf. Dieser Sektor ist nicht das, was die Partei wirklich interessiert.

Was die Partei braucht, sind nicht bewusste Kämpfer für die Emanzipation der Klasse, sondern tüchtige Arbeiter für die praktische Umsetzung des Programms der Partei. Indem die Partei für die Veränderung der Machtverhältnisse kämpft, kämpft sie implizit dafür, einen Platz in diesen veränderten Machtverhältnissen einzunehmen – auch wenn sie theoretisch einen Machtverzicht in Betracht ziehen könnte. Sie verstrickt sich in den Kampf um die Macht, weil das die Logik ihrer Funktion und ihrer Struktur ist, und die Individuen, die sie bilden, werden zu Gefangenen dieser Dynamik der Aktivität.

Wenn die Struktur der revolutionären Partei durch die Gruppierung der politisch fortgeschrittensten Individuen gebildet wird, derjenigen, die am fähigsten sind, die Macht auszuüben; dann besteht ihr grundlegender Unterschied im Vergleich zu den anderen Parteien darin, dass ihr Hauptziel nicht – vorausgesetzt, sie ist eine aufrichtig „revolutionäre“ und „proletarische“ Partei – die Macht des bestehenden Staates ist, sondern die Macht eines zukünftigen Staates, eine Macht, die in der Existenz des Proletariats selbst latent vorhanden ist. Mit anderen Worten, ihr Ziel ist es, die Macht des Proletariats auszuüben. Dabei stützt sie sich auf die pseudo-logische Annahme/Vorraussetzung, dass das Proletariat, wenn es sich seiner selbst nicht bewusst ist, folglich auch nicht die Macht ausüben kann, die es aufgrund seiner Stellung in der Produktion bereits besitzt (daher das Beharren darauf, dass das revolutionäre Potenzial des Proletariats sich aus seiner „Stellung in der Produktion“ ableitet, anstatt seine Fähigkeit zur spontanen Selbstorganisation und seine durch sein gesellschaftliches Wesen bedingte Tendenz zur praktischen Verleugnung des Privateigentums zu betonen).

Die Partei ist das exekutive Subjekt der Klassenmacht. Darin sind all die pseudorevolutionären Reden über die Notwendigkeit der Führung, der Leitung, einer revolutionären Theorie usw. zusammengefasst, die nichts zur Klärung der Fragen beitragen, die sie vorgeben zu lösen, weil ihr Standpunkt über den Klassenkampf und die Entwicklung des Proletariats als revolutionäres Subjekt im Wesentlichen abstrakt ist. Die Abstraktion des Kampfes, die der Einrahmung der eigenen Tätigkeit in der Form der Partei, die eine Organisation außerhalb des Kampfes ist, innewohnt, führt wiederum zur Reproduktion dieser Abstraktion auf mentaler Ebene, zur Entwicklung von Parteiideologien. Natürlich sind diese Ideologien für den Parteianhänger der ultimative Ausdruck des Klassenbewusstseins, gerade weil für ihn das Klassenbewusstsein im Wesentlichen ein politisches Bewusstsein ist, nicht ein totales soziales Bewusstsein.

Die Vorstellung von der Partei als dem effektiven Subjekt der Klassenmacht bedeutet praktisch, dass die Klasse umso weniger reale Macht hat, je mehr sich die Macht der Partei entwickelt. Die Führung der Partei ist die Selbstentfremdung der Klasse als politisches Subjekt, sie ist die Macht der Klasse, die außerhalb von ihr steht und als selbst existierende Entität autonom wird. Das Bewusstsein der Notwendigkeit der Partei und ihre politische Ideologie haben nichts mit dem Kampf der Arbeiterklasse und ihrem Bedürfnis nach Organisation zu tun. Die Auffassung, dass die Organisation dem Kampf vorausgeht, ist die ideologische Rechtfertigung für ihre Existenz, ebenso wie der undialektische Gegensatz zwischen Spontaneität und Organisation. In dem Moment, in dem verstanden wird, dass die proletarischen Aufstände ihre eigene Organisation und ihr eigenes Denken hervorbringen, und ihre Unzulänglichkeit als ein Problem der Entwicklung der Totalität und nicht der politischen Führung gesehen wird, bricht die gesamte Konzeption der Partei zusammen.

 

Die Eigenschaften, die die revolutionäre Avantgardeorganisation haben muss.

Andererseits stehen die revolutionären Gruppen, die sich der Selbstaufklärung der Klasse durch die theoretische Entwicklung und den Kampf widmen, nicht im Widerspruch zur Selbstentwicklung des Proletariats als praktisches politisches Subjekt, zur Ausübung der ihm innewohnenden verändernden Macht durch die Klasse. Ihre spezifische Gruppenpraxis hat als immanentes Ziel das Wachstum der Selbsttätigkeit und des Bewusstseins der Klasse bis zu dem Punkt, an dem die Funktionen der Gruppen vollständig von den Massen selbst übernommen werden. In ihrer Beziehung zur Klasse fungieren sie als Meinungsgruppen und politische Impulsgeber, d.h. sie handeln so, wie es die Arbeiter selbst im Allgemeinen tun, nur auf bewusste, kollektive und selbstdisziplinierte Weise. Auf diese Weise ist das immanente Ziel ihrer Tätigkeit kein anderes als die Veränderung der kollektiven Situation, nur indem sie auf die Klasse als Ganzes einwirken, um ihre Selbstentwicklung zu stimulieren.

Die Militanz in einer politischen Partei wird durch ihr Festhalten an einer Ideologie, einem Programm und interner Disziplin definiert. Militanz in einer revolutionären Gruppe definiert sich durch eine praktische Verpflichtung für die Entwicklung von Theorie und Programm, und es ist dieselbe interne und externe praktische Arbeit, die die Disziplin definiert, die im Wesentlichen immer eine Selbstdisziplin ist, ein Aspekt der bewussten und freien Praxis.

Die Theorie, die die Partei ausarbeitet, ist eine Selbstrechtfertigung ihrer Existenz; ihr Ziel ist nicht, die Erfahrung der Klasse als zusammenhängendes Ganzes zu verstehen, sondern sie im Lichte der Erfordernisse ihrer eigenen Parteifunktion zu verstehen. Ihre „Lektionen“ über den Klassenkampf handeln nicht davon, was die Arbeiterklasse braucht, sondern was die Arbeiterklasse von der Partei braucht. Der Totalitätsansatz ist ausgeschlossen, weil die Betrachtung der Totalität der Arbeiterklasse als bewusstes und handelndes Subjekt in der Entwicklung etwas ist, was der Überzeugung von der Notwendigkeit der Partei entgegensteht. Die einzige Lösung wäre, die Partei als „provisorische Notwendigkeit“ zu betrachten, aber die anderen Widersprüche würden immer noch bestehen bleiben und dann müsste diese „provisorische“ Notwendigkeit begründet werden. Im Grunde ist dies die Rolle von Lenins Argument, dass die Arbeiterklasse nicht von selbst sozialistisches Bewusstsein erreichen kann.

Der Militante der Partei zielt auf die Verbreitung der Ideen der Partei, der Militante ohne Partei4 auf die Entwicklung des allgemeinen Bewusstseins. Der Militante der Partei sieht in der Entwicklung der Partei den Ausdruck der Reifung der Klasse, der Militante ohne Partei in der Entwicklung der bewussten Selbsttätigkeit der Massen.

Das Streben des Militanten der Partei ist die Macht, die formal von der Klasse geschaffen wird, die aber in Wirklichkeit in den Händen der Partei liegt; eine Macht, die sich zwar in der Revolution direkt als politische Macht äußert, aber in der vorherigen Entwicklung, innerhalb des Kapitalismus, die Form der „politischen Führung“ und der „ideologischen Autorität“ der Partei über die Bewegung des Kampfes annimmt. Das Streben des Militanten ohne Partei ist die Wahrheit; aber nicht eine theoretische Wahrheit, die nur durch begriffliches Wissen begreifbar ist, sondern eine praktische Wahrheit und eine, die auf praktische Weise verwirklicht wird. Folglich ist der erste der Meinung, dass das Wichtigste die Qualitäten der Macht sind: Effizienz, Ordnung, Stabilität der Organisation, Einheit des Ziels, etc. Der zweite hält die praktischen Qualitäten der Wahrheit für am wichtigsten: Kohärenz mit dem Zweck, Kreativität, Dynamik, Integrität des Zwecks.

Wenn also Kohärenz mit dem Ziel bedeutet, vorübergehend keine Errungenschaften zu haben; wenn die Schaffung neuer Formen menschlicher Tätigkeit bedeutet, eine Periode relativer Unordnung zu durchlaufen; wenn Dynamik die Schwächung organisatorischer Strukturen bedeutet; wenn Integrität das Aufbrechen der Einheit erfordert – da all dies auch Teil der Realität ist, ist der revolutionäre Militante ohne Partei in der Lage, es aufzunehmen, zu analysieren, zu bewerten und den Weg zu suchen und entsprechend zu handeln (auch wenn er natürlich seine theoretischen Fähigkeiten dafür entwickeln muss). Diejenigen aber, die ihr Objekt in eine Form der Macht stellen, müssen die Vision der Totalität aufgeben oder sie vielmehr jenem Teilaspekt der Totalität unterordnen, indem sie sie gemäß ihren subjektiven Bestrebungen deformieren (Bestrebungen, die sie andererseits nicht anerkennen können, da die Konzeption der Partei als Träger des Bewusstseins nur gerechtfertigt werden kann, indem man das Bewusstsein des subjektiven Elements entkleidet und es als eine rein objektive „Widerspiegelung“ der Realität betrachtet, die nur von der theoretischen Methode abhängig ist, die in diesem Fall Teil der Ideologie der Partei ist).

Da das Proletariat sich nicht befreien kann, ohne die Totalität der gesellschaftlichen Verhältnisse bewusst umzugestalten, verlangt seine eigene Klassenbedingung von ihm die Suche nach einem wahren Verständnis der Gesellschaft, das alle Aspekte der Gesellschaft in ihrer objektiven gegenseitigen Beziehung umfasst. Und sie verlangt auch, dass die subjektive Dimension ihres Bewusstseins ausschließlich durch die Determinationen konstituiert wird, die aus ihrer Klassenbedingung und aus ihren – realen oder potentiellen – Bedürfnissen und Fähigkeiten als menschliche Wesen hervorgehen, wobei alles beiseite gelassen wird, was von dem engen Egoismus, der der bourgeoisen Gesellschaft eigen ist, vorhanden sein mag. Folglich muss auch die Theorie, die die Partei ausarbeitet, im Widerspruch zur Emanzipation des Proletariats stehen, und je mehr sich die Partei als reale Macht entwickelt, desto mehr werden ihre Deformation der revolutionären Theorie und der bourgeoise Charakter ihres Verhaltens offenbar.

Macht hingegen verlangt Einheitlichkeit, um zu existieren. Die Wahrheit verlangt im Gegenteil nach Vielfältigkeit. Der demokratische Zentralismus als Ideal bedeutet auf einer theoretischen Ebene die Unterwerfung der Bedingung der Wahrheit (die Vielfalt der Einzelmeinungen und ihre größtmögliche Entfaltung) unter die Macht (die Einheitlichkeit der Meinung). Anstatt die Zentralisierung als notwendiges Element der kollektiven Praxis zu betrachten und sie auf die Erfordernisse der gelebten Praxis zu beschränken, funktioniert die Partei als Mechanismus zur Uniformierung ihrer Militanten. Das Parteiprogramm ist nicht das synthetische Ergebnis der gemeinsamen Meinungen aller oder der meisten ihrer Mitglieder, sondern impliziert die autoritäre Unterdrückung der Vielzahl abweichender Meinungen, da die Partei ein einheitliches Kriterium benötigt, um zu funktionieren. Die Wirksamkeit der Macht hängt von dieser erzwungenen Einheitlichkeit der Ziele ab. Wenn hingegen die Wahrheit gesucht wird, ist es notwendig, die Einheit mit der Vielheit zu verbinden, nicht die letztere unter die erstere zu subsumieren, so dass die Einheit des Ziels mit der Vielheit der Meinungen verbunden wird. In dieser Sichtweise ist Wahrheit etwas, das nur kollektiv bestimmt werden kann, durch die Praxis der Klasse und die ständige Demokratie und Debatte. Daher kann keine Form von kollektiver oder individueller Autorität, vollversammlungsartig oder delegiert, die theoretischen Kriterien aufzwingen. Die Notwendigkeit der Arbeiterklasse besteht nur darin, praktische Kriterien zum Zeitpunkt der Aktion durchzusetzen, praktische Entscheidungen zu treffen. Und ihre Einheit schließt die subjektive Vielheit nicht aus und hat sie auch nie ausgeschlossen, wie ja auch im Text der Izquierda Revolucionaria (A.d.Ü., Revolutionären Linken) anerkannt wird.

Aus diesen Gründen funktionieren die theoretischen revolutionären Gruppen, auch intern, als Meinungsgruppen. Sie fordern nur dann eine demokratische Zentralisierung, wenn es darum geht, Aktionen zu definieren, auch wenn diese eine theoretische Einheit voraussetzen, die in dieser unmittelbaren Form Minderheitenmeinungen bis zu einem gewissen Grad ausschließt (die jedenfalls nicht der Freiheit beraubt werden, sich öffentlich zu äußern). Die Parteien hingegen sind im Kern zentralistisch, und daraus leitet sich auch ihr im Wesentlichen hierarchischer Charakter ab. Die Tatsache, dass die delegierte Autorität mit der festen Überzeugung delegiert wird, dass diese Form der politischen Führung notwendig ist und dass sie die Interessen der Basis vertritt, ändert nichts an der Frage. Im Gegenteil, es ist offensichtlich, dass das interne Machtverhältnis innerhalb der Partei im Wesentlichen dasselbe sein muss wie das externe Machtverhältnis, gegen das die Partei kämpft, da dies eine Voraussetzung für die Wirksamkeit der Partei als politische Kraft, die mit anderen konkurriert, und als Anwärter auf die Macht über die Gesellschaft gegen den bestehenden Staat ist, der für sie nichts anderes ist als die große allgemeine Partei der Bourgeoisie.

Andererseits ist in der Arbeiterklasse die wirkliche revolutionäre Macht, die wirkliche Einheit der verändernden Fähigkeiten der Individuen in einer Totalität – die damit alle Machtformen der Klassengesellschaft übertrifft, die nur eine Minderheit der Gesellschaft an ihrer Basis haben -, nicht das Ergebnis einer organisatorischen Zentralisierung. Sie resultiert aus einem Prozess der kollektiven Selbstbefreiung, der sich durch die Entfaltung der Selbsttätigkeit der Proletarier im Klassenkampf entwickelt und sich auf das gesamte gesellschaftliche und persönliche Leben erstreckt. Ohne diese Selbstbefreiung haben die Formen der Macht, die es geben mag, keinen revolutionären Charakter, außer im bourgeoisen Sinne. Das Gleiche gilt für Organisationsformen im Allgemeinen.

Die revolutionären Parteien beklagen immer, dass der größte Teil des Proletariats nicht revolutionär handelt oder denkt. Aber die Parteien selbst existieren in der Tat, weil nicht einmal ihre Mitglieder echte proletarische Revolutionäre sind. Sie verstehen die Notwendigkeit der Revolution, aber nicht ihren notwendigen Inhalt. Ihre Annahme und Entschuldigung für die Notwendigkeit der Partei ersetzt die Anstrengung für ihre Selbstbefreiung und für die Selbstbefreiung der Klasse als Ganzes. Sie sind es, die die Partei brauchen, als Ausdruck ihres Niveaus der Selbsttätigkeit und ihres Bewusstseins, das heißt, ihrer Praxis; nicht die Revolution.

Die revolutionäre Partei ist nicht die Lösung für das Dilemma zwischen dem Bedürfnis nach Organisation und der Ablehnung der bestehenden Parteien. Alle revolutionären Parteien haben für sich in Anspruch genommen, „eine Organisation zu sein, die auf den täglichen Kämpfen, auf dem Aktivismus ihrer Mitglieder und auf einer klaren und ehrlichen Politik hinsichtlich der Notwendigkeit, den Kapitalismus zu beenden, basiert“. Aber die Form der Partei steht im Widerspruch zu dieser Basis und muss sie bis zur Unkenntlichkeit deformieren. Sie ist schließlich die Partei, die zur Grundlage für die täglichen Kämpfe und Aktivitäten der Mitglieder wird; die ihre eigene Existenz zum Maßstab für die Klarheit und Ehrlichkeit ihrer Politik macht und die die Notwendigkeit der Beseitigung des Kapitalismus durch die Notwendigkeit ihrer eigenen Selbstentwicklung als autoritäre Organisation ersetzt.

 

Die Deformation der revolutionären Theorie bzw. der Partei als kollektiver Intellektueller.

Die Partei macht die Theorie zur Grundlage des Handelns. Für das Proletariat aber ist die Grundlage des Handelns nur die Erfahrung und das praktische Bewusstsein, das aus dem langsamen erfahrungsbezogenen Lernen stammt. Die Funktion der Theorie ist es, Schlussfolgerungen zu verallgemeinern, um die Erweiterung des Klassenbewusstseins durch Kommunikation zu ermöglichen, nicht um das Bewusstsein des Proletariats zu homogenisieren.

Da die Partei sich nicht auf das praktische Bewusstsein, auf den am weitesten fortgeschrittenen Sektor des realen Klassenkampfes stützt und danach strebt, ihm klar zu machen, dass die revolutionäre Theorie die Verallgemeinerung seiner eigenen Erfahrung ist, muss sie diese Rolle der Theorie als lebendige Vermittlung zerstören und sie in eine Ideologie verwandeln. Gleichzeitig nimmt die Partei durch die theoretische Normierung ihrer Mitglieder und ihre klassenunabhängige Organisation eine immer größere Abstraktion der Theorie in Bezug auf das praktische Bewusstsein an, bis zu dem Punkt, an dem sie dazu dient, alles zu rechtfertigen, und Begriffe ihre ursprüngliche praktische Bedeutung verlieren, um eine andere, rein abstrakte und ideologische Bedeutung zu erlangen. Die Emanzipation des Proletariats vom Kapital wird in den Köpfen der Parteianhänger zur Emanzipation der Partei von der Unterdrückung durch den kapitalistischen Staat.

Indem die Partei ihre eigene Theorie als revolutionäres Bewusstsein begreift, agiert sie als idealistische Kraft, die sich im Namen der intellektuellen Autorität der Klasse aufdrängen will. Sie agiert also de facto als geistiger Vertreter der Bourgeoisie. Anstatt den Proletariern zu helfen, ihre Erfahrungen theoretisch auszudrücken – und damit, wenn sie die nötige Erfahrungsreife haben, sich von den bourgeoisen Ideologien lösen zu können -, wollen die Parteien die von ihnen als „unwissend“ oder dumm angesehenen Proletarier mit den theoretischen Waffen für ihre Selbstbefreiung „aufklären“. Und wenn untheoretische Proletarier die Theorie verleugnen, kann das nur daran liegen, dass sie ihrer Meinung nach in der bourgeoisen Ideologie gefangen sind oder unfähig sind, hochtrabende theoretische Vorstellungen zu begreifen (die alle dazu neigen, zu opportunistischen Wendungen zu führen). Die Komplexität der geistigen Entfremdung und ihre Überwindung sind nicht wichtig. Die Passivität oder Aktivität der Klasse als revolutionäres Subjekt wird an ihrer Annäherung an oder Loslösung von der Parteitheorie und -tätigkeit gemessen.

Die Bemühungen der Partei sollten nicht darauf gerichtet sein, die Entwicklung der intellektuellen Fähigkeiten der Arbeiterklasse zu fördern und zu unterstützen. Es geht darum, dass die Arbeiterklasse ihre Vorschläge aufgreift. Stattdessen, so die IR, muss die Partei „der Ort werden, an dem die Geschichte debattiert wird und die Lehren des Kampfes gelernt werden“. Es stellt sich dann heraus, dass das, was die Arbeiterklasse durch Diskussionszirkel und andere offene Mittel für sich selbst tun kann, zum Monopol der Partei gegenüber der „unwissenden Masse“ wird.

 

Revolutionäre Parteien sind nicht anders als andere Parteien.

Politische Parteien sind also bourgeoise Formen der Organisation. Innerhalb des Kapitalismus unterscheiden sich eine Avantgardepartei und eine Massenpartei nur in dem Sektor der Arbeiterklasse, den sie repräsentieren wollen – bzw. die erste zu der Minderheit, die beginnt, das bestehende System in Frage zu stellen, und die zweite zu der Mehrheit, die es mehr oder weniger akzeptiert -, was wiederum mit ihrem Ziel zusammenhängt: der gewaltsamen oder der friedlichen Umwandlung. Ihre Eigenschaften sind im Wesentlichen die gleichen, auch wenn sie sich in unterschiedlichem Maße manifestieren.

Für IR basiert die Kritik an den traditionellen Parteien auf einem Kriterium der Effizienz: der Fähigkeit zum Kampf. Eine Massenpartei kann, wenn sie eine heterogene Masse und mit widersprüchlichen Meinungen gruppiert, ihre Aktion nicht „adäquat“ entwickeln (in der Tat ist die Form bereits adäquat zu ihrer Aktion, denn die pazifistische Veränderung erfordert nichts mehr). Eine Avantgardepartei hat gegenüber dieser den Vorteil der Homogenität und „Kohärenz“. Die erste, so sagen sie, basiert auf Passivität, während die revolutionäre Partei „nur aufgrund der Aktivität ihrer Mitglieder handeln kann“. Die Frage ist jedoch nicht Aktivität oder Passivität, sondern der Inhalt von Aktivität oder Passivität. Genauso verhält es sich mit dem theoretischen Bewusstsein und dem praktischen Bewusstsein.

Die Tatsache, dass Aktivität der Passivität überlegen ist (das Leben ist dem Tod überlegen), oder dass das theoretische Bewusstsein eine überlegene Entwicklung des praktischen Bewusstseins ist, deutet keineswegs darauf hin, dass auf der Ebene seines Inhalts und seiner realen Wirkungen die Aktivität besser ist als die Passivität und dass eine Form des theoretischen Bewusstseins weiter fortgeschritten ist als eine andere Form des praktischen Bewusstseins.

Wir müssen zwischen Passivität im Sinne von Trägheit und Passivität im Sinne von Untätigkeit unterscheiden; erstere ist etwas rein Negatives, letztere aber ein notwendiger Bestandteil der subjektiven Entwicklung. Die Assimilation von Niederlagen, wie z. B. Einstellungsänderungen angesichts veränderter Umstände usw., erfordern überwiegend Reflexionsphasen, in denen äußere Untätigkeit vorherrscht.

Andererseits ist das theoretische Bewusstsein nur in Bezug auf die praktische Dimension des Verstehens, auf das konkrete praktische Bewusstsein, von Wert. Allgemeine Ansätze implizieren nicht notwendigerweise eine praktische Vision, die mit ihnen kohärent ist, noch ist andererseits das praktische Bewusstsein immer von einer übereinstimmenden theoretischen Vision begleitet. So gibt es, um ein synthetisches Beispiel zu geben, einen fortgeschrittenen Sektor der Arbeiterklasse, der die organisierte Aktivität und die alten reformistischen Ideologien aufgibt und in eine Übergangsphase der Inaktivität eintritt, in der die Trägheit stärker werden kann (da sie durch die bestehenden sozialen Beziehungen bestimmt wird). Aber dieser Sektor, der nach leninistischen Kriterien rückständiger wäre als der in den bestehenden Gewerkschaften und Parteien organisierte Sektor, ist im Gegenteil fortschrittlicher. So sehr, dass sie sich nicht mehr mit den bestehenden Alternativen identifiziert und sich nur noch verwirrt den Illusionen und falschen Erwartungen zuwendet: denen, die von der extremen Linken über die Veränderung der Gewerkschaften, der vollversammlungsartigen und des kämpferischen Gewerkschaftswesens oder der „wirklich“ revolutionären Parteien erzeugt und gefördert werden.

Was eine konkrete Organisation ausmacht, ist nicht ihre soziale Zusammensetzung, sondern ihre Praxis. Die Massenparteien sind bourgeoise Parteien, weil ihre Praxis auf die Verbesserung des Kapitalismus gerichtet ist. Avantgardeparteien sind auch bourgeoise Parteien, weil ihre Praxis weiterhin die Position des Proletariats als der beherrschten Klasse reproduziert und sich ihre praktische Tätigkeit in Wirklichkeit auf die Verteidigung einer anderen Form des Kapitalismus, eines Staatskapitalismus, reduziert. Ihre Elitenstruktur ist eine Bedingung für ihren Anspruch, als führender Akteur einer gewaltsamen Veränderung der bestehenden Gesellschaft zu agieren. Die Besonderheit der Izquierda Revolucionaria in diesem Punkt liegt in ihrer einzigartigen Variante des Trotzkismus, die den Stalinismus als eine Form des Staatskapitalismus betrachtet und gleichzeitig leugnet, dass diese Definition auf den Bolschewismus im Allgemeinen ausgedehnt werden kann, trotz aller historischen Beweise für den konterrevolutionären Charakter der bolschewistischen Politik unter dem Gesichtspunkt der Emanzipation des Proletariats.

Ihnen zufolge stand die bolschewistische Partei im Gegensatz zu den „alten ’sozialistischen‘ Parteien“, weil deren Absicht „immer darin bestand, die bestehenden Institutionen zu übernehmen, ohne die grundlegenden Machtverhältnisse im Kapitalismus zu verändern. Mit anderen Worten, (…) sie dachten, dass sie, und nicht die Arbeiterklasse selbst, die kapitalistische Klasse vertreiben könnten.“ Es ist klar: dass sie „die kapitalistische Klasse“ AUS DER MACHT werfen.

Aber was das Proletariat zu tun hat, ist nicht nur, „die bestehenden Institutionen zu zerstören, indem es das grundlegende Machtverhältnis zwischen den Klassen verändert“, um seine eigenen Begriffe zu verwenden, sondern das Machtverhältnis selbst zu zerstören. Das Proletariat kann sich nicht zur herrschenden Klasse erheben, ohne gleichzeitig seinen Status als ausgebeutete Klasse, als Lohnarbeiter, zu zerstören. Andernfalls ist es nicht das Proletariat, das wirklich herrscht, sondern eine Minderheit, die behauptet, seine Interessen zu vertreten. Die Arbeiterklasse kann von sich aus „die Kapitalisten raus werfen“, aber das bedeutet nicht, dass es die Arbeiterklasse ist, die wirklich die politische und wirtschaftliche Macht innehat. Es wird die Partei an ihrer Stelle sein: „Die Notwendigkeit, den kapitalistischen Staat zu konfrontieren und zu zerschlagen, muss ausreichen, um eine revolutionäre Partei aufzubauen.“ Der Schatten des Bolschewismus hängt immer noch über diesem ganzen Geschwätz.

Wichtig ist auch nicht der militante Aktivismus oder die politische intellektuelle Schulung. Wir stimmen zu, dass revolutionäre Gruppierungen unter den normalen Bedingungen des Kapitalismus, nicht einmal im vorrevolutionären Aufschwung, keine Massenorganisationen oder mit einem relevanten zahlenmäßigen Gewicht in den Klassenkämpfen sein können. Entscheidend ist aber, dass die theoretische Entwicklung wirklich kontinuierlich und lebendig ist; dass der Aktivismus eine wirkliche bewusste und selbstdisziplinierte Selbsttätigkeit ist, dass er ein Denken und Handeln ist und nicht eine blinde Kapitulation vor sich wiederholenden und propagandistischen Aktivitäten, die nur dazu dienen, Militante zu dummen Menschen zu machen, die nur wissen, wie man ein paar „klügeren“ Führern folgt. Nur dann werden wir einen überlegenen Typus von Organisation haben, der die Funktionen übernimmt, die die „revolutionären Parteien“ jetzt in Bezug auf die Selbstentwicklung der Klasse und ihrer eigenen Mitglieder zu erfüllen beanspruchen.

 

Die Partei als politischer Technologe

Wenn die IR die Rolle des Bolschewismus in der Russischen Revolution von 1917 verteidigt, argumentieren sie, dass das Entscheidende für den Sieg der Revolution die „Fähigkeit einer revolutionären Partei in Russland, der bolschewistischen Partei, war, die Arbeiterklasse zur Machtergreifung zu führen“. Genauer gesagt, die „Fähigkeit, die Situation zu untersuchen, intensiv zu diskutieren und zu einer einheitlichen Schlussfolgerung zu kommen, die in die Praxis umgesetzt werden kann“.

All dies ist historisch falsch. Die bolschewistische Partei führte die Arbeiterklasse nicht an, um die Macht zu ergreifen, sie ergriff sie aus eigener Kraft und verließ sich auf die Unterstützung der Arbeiterklasse für ihre politischen Positionen „hinter verschlossenen Türen“. In Wirklichkeit nutzte sie die Macht für ihre eigenen Zwecke. Außerdem zeichnete sich die bolschewistische Partei keineswegs durch ihr theoretisches „Geschick“ aus. Wenn überhaupt, dann war es Lenins theoretische und politische Fähigkeit, seine Taktik über Nacht zu ändern, um die Partei an die Macht zu führen, was sehr wenig für und sehr viel gegen die leninistische Konzeption der Partei sagt.

Ein wenig weiter haben wir ein theoretisches „Juwel“. Darin heißt es: „Ein Kernstück der marxistischen Theorie der revolutionären Partei ist der Begriff der Führung“. Das bedeutet, dass „jedes Mitglied sich als Führungskraft sehen muss, sei es am Arbeitsplatz, in der Schule oder in der Nachbarschaft“. Und die „Fähigkeit“, die Positionen der Partei in jeder konkreten Situation darzulegen, ist das, „was Revolutionären das Recht gibt, in der Partei und in der Arbeiterklasse zu führen“. Aber das Beste ist: „Die Leute, die das Wissen, die Erfahrung und die Fähigkeit haben, Streiks, Proteste und Kampagnen zu führen, sind der bewussteste Teil der Arbeiterklasse und der Partei.“

Grundlegend für die Partei ist demnach die fachpolitische Qualifikation im Führen und Ausführen und natürlich die Überzeugung ihrer Mitglieder, dass dies gut und notwendig ist. Außerdem muss sich jedes Mitglied als dazu bestimmt sehen, seine „rückständigeren“ Genossen zu befehligen. Dass dies so formuliert ist, dass der Eindruck entsteht, ihre Autorität gegenüber den anderen entspringt einer freiwilligen Überzeugung von ihrer theoretischen und praktischen Überlegenheit, ändert an der Frage überhaupt nichts und klärt auch nicht, wie die praktischen Methoden der Führung aussehen werden – was auch immer, wir stellen sie uns sowieso schon vor… -. Wenn es auf die Fähigkeit zur Führung ankommt, dann sind diejenigen, die die Klassenbewegung führen sollten, die im praktischen Klassenkampf ausgebildeten Gewerkschafts- und Parteiführer, die noch „an der Basis“ sind. Das ist die Lösung aller Probleme, die alten reformistischen Führer, die jetzt zu eingefleischte Bürokraten geworden sind, durch andere mit revolutionärer Ideologie gut ausgebildete Führer zu ersetzen!

Diese Auffassung von Politik als Technik, als ein vom Zweck losgelöstes Mittel, ist den Parteien immanent. Sie sind unfähig, zwischen ihrer Politik als Chef und der Klassenpolitik, zwischen der Praxis der Partei und der revolutionären kommunistischen Praxis zu unterscheiden. Diese ganze Theorie der Führung ist nicht nur dem Marxismus, sondern auch der Intelligenz des wenig bewussten Proletariats völlig fremd. Sie setzt in der Praxis voraus, dass sich die Parteimitglieder als unabhängig von der Masse der Klasse sehen (genau wie die Partei) und ihr Handeln entsprechend ihrer eigenen besonderen theoretischen Vision dessen, was getan werden sollte, definieren.

Aber, es wird gesagt werden: das ist das Normalste der Welt, jeder handelt nach seinem eigenen Bewusstsein, usw., usw…. Was wir jedoch bekräftigen, ist einfach und klar: Nur die Klasse als Ganzes kann ein kollektives Bewusstsein ausarbeiten; nur das kollektive Bewusstsein kann die Unendlichkeit der zu berücksichtigenden Aspekte berücksichtigen; nur durch kollektive Überlegungen und Reflexionen innerhalb des Kampfes kann die Fähigkeit des Proletariats, selbständig zu denken, befreit werden und sich zu entwickeln beginnen, sowie seine maximale aktive Beteiligung an den zu beschließenden Aktionen anregen. Die andere besteht lediglich darin, andere dazu zu bringen, das zu wiederholen, was man selbst sagt, und provoziert entweder die Hemmung der Initiative der Klasse oder ihre sklavische Gefolgschaft. In jedem Fall ist es keine revolutionäre Praxis.

Eine weitere Notwendigkeit besteht laut IR darin, dass „durch ideologische Debatte und praktische Arbeit“ die Partei „ständig beweisen“ muss, dass ihre Politik „grundlegend ist, um den Sieg zu erreichen“. Aber eine ideologische Debatte ist nur dann von Wert, wenn praktisches Wissen und die Bereitschaft zu aktiver, kritischer Reflexion vorhanden sind, was ziemlich schwer zu finden ist. Und wenn es sie gibt, können „normale“ Arbeiter kaum mit dem intellektuellen Jargon der Parteiführer umgehen.

Und wenn die Partei einerseits keine wirkliche intellektuelle Selbsttätigkeit fördert, stimuliert sie andererseits auch nicht die Entwicklung des praktischen Bewusstseins. Vielmehr ersetzt die Ideologie das praktische Bewusstsein, und so kommt es, dass Parteimitglieder bestimmte Praktiken nicht aus eigener Erfahrung, sondern aus schlichter ideologischer Überzeugung heraus verteidigen. Darin liegt der grundlegende Antagonismus zwischen der Reifung der Arbeiterklasse und den bourgeoisen Ideologien, und das erklärt, warum ein sehr großer Teil der Militanz der „revolutionären Parteien“ mit äußerst dürftigen oder oberflächlichen praktischen Erfahrungen in den Kämpfen zu ihnen gekommen ist. So kommen wir zu dem Fall, in dem der vermeintliche „Führer“ in Wirklichkeit eine rückständigere praktische Vision hat als die fortgeschrittenen Sektoren der Klasse und folglich ein reaktionäres (oder zumindest refraktäres) theoretisches Bewusstsein. Ihre organisatorischen Vorschläge werden von den bewussten Proletariern nicht akzeptiert, nicht weil sie ideologisch reformistisch sind, sondern weil ihre Erfahrung ihnen die Undurchführbarkeit und Falschheit solcher Vorschläge gezeigt hat (auch wenn sie noch nicht in der Lage sind, positive Schlussfolgerungen zu ziehen oder ihre Erfahrung rational zu erklären). Aber natürlich betrachtet der Militante der Partei das „Unverständnis“ der „Massen“ als ein Symptom der Rückständigkeit; es ist für ihn undenkbar, dass die Arbeiterklasse „weiter links“ sein kann als er und seine Partei. Anstatt also ihre Dogmen aufzugeben und ihr fortgeschrittenes praktisches Bewusstsein zu vertiefen, neigt der Militante der Partei dazu, daran zu denken, seine eigene „Einheitsfront“ von Gefolgsleuten zu bilden, um Klassenpräsenz zu gewinnen und die Parteimitgliedschaft zu erhalten.

 

Der Aufbau von revolutionären Gruppierungen und Zukunftsperspektiven

Man kann nicht auf einen Moment des Aufschwungs im Kampf warten, um dann diese Partei zu gründen“. Dieses Postulat scheint völlig selbstverständlich zu sein, wenn der Grundgedanke ist, dass das Problem die Führung des Kampfes ist und nicht die Selbstentfaltung der einzelnen Proletarier als revolutionäre Subjekte.

Für uns ist im Gegenteil gerade die Entfaltung der Selbsttätigkeit, die sich in den aufsteigenden Phasen des Kampfes vollzieht, das Entscheidende. Erst dann können sich die Proletarier für ein fortgeschritteneres Verständnis und eine radikalere Praxis öffnen. Dies ist jedoch nur eine Möglichkeit. Man muss darauf warten, dass ihre Notwendigkeit existiert, und dass sie nicht abstrakt existiert, sondern von der Arbeiterklasse empfunden wird.

Die vulgäre Betrachtung der Perioden von Ebbe und Flut des Klassenkampfes berücksichtigt nicht seinen historischen Inhalt. Was die IR bekräftigen, ist, dass „es wichtig ist, eine revolutionäre Partei heute und jetzt aufzubauen“, „sich Tag für Tag an den stattfindenden Kämpfen zu beteiligen“, auch wenn „der Klassenkampf jahrelang von geringer Intensität ist“. Dann, so sagen sie, werden revolutionäre Parteien klein sein, aber sie werden wachsen, wenn es eine aufwärts gerichtete Dynamik gibt. (In der Praxis bedeutet das: revolutionäre Parteien werden zunächst sektiererisch sein, aber dann werden sie immer opportunistischer werden).

Für uns Rätekommunisten ist der Aufbau von revolutionären Gruppierungen keine Frage der Aufwärts- oder Abwärtsdynamik des Klassenkampfes. Dies ist wichtig, aber nicht entscheidend. Der Aufstieg und Fall des Klassenkampfes wird von den kapitalistischen ökonomischen Zyklen von Wachstum und Rezession beeinflusst; aber seine Form, sein Rhythmus, seine Qualität hängen vom Verlauf des Klassenkampfes, den historischen Bedingungen und der Reifung des Proletariats ab.

Die vulgäre Sichtweise schreibt dem Wachstum des Klassenkampfes revolutionäre Potentiale zu, weil ihre Konzeption des Klassenkampfes reformistisch ist: dass die Anhäufung von Kämpfen um Reformen zur Revolution führen wird. Im Grunde ist es eine gradualistische und ahistorische Vision. Sie spricht von der Revolution als einem qualitativen Sprung im Kampf, begreift aber den Übergang zwischen dem Kampf um Reformen und der Revolution als einen bloß akkumulativen Prozess. Dies ist die typisch leninistische praktische Sichtweise. Seine ganze Taktik läuft darauf hinaus, den Kampf um Reformen so lange zu entwickeln, bis er für den Kapitalismus unerträglich wird und eine revolutionäre Situation ausgelöst wird. Dann muss die Partei da sein, um der Arbeiterklasse erklären zu können, dass der Reformismus keinen Sinn mehr macht und dass sie die Revolution machen muss. Das ist die Vorstellung des Lehrers.

Die Realität ist sehr unterschiedlich. Die Arbeiterklasse schreitet nicht durch den Kampf um Reformen voran, sondern durch die immer radikalere und totale Konfrontation mit dem Kapital, ein Prozess, der sukzessive Niederlagen, Spaltungen und Rückschläge mit sich bringt, und der nicht dank des Willens oder der rationalen Überzeugung der Klasse zustande kommt, dass der Kapitalismus ein „schlechtes“, unangenehmes, irrationales, begrenztes usw. Gesellschaftssystem ist. Sie kann nur entstehen, weil die Bedingungen, unter denen die Proletarier leben, immer unerträglicher werden, ohne dass der Kapitalismus in der Lage ist, diese Situation zu ändern, was dazu führt, dass der Klassenantagonismus extrem wird und sich sofort als ein absolut unversöhnlicher Konflikt darstellt. Dann, wenn es keinen anderen Ausweg mehr gibt, wird der Prozess entfesselt, der in der Revolution seinen Höhepunkt findet. In dem Maße, wie der Kapitalismus in seinem historischen Niedergang fortschreitet und die menschliche Existenz immer mehr erniedrigt, wird die Grundlage dafür geschaffen, dass der Klassenkampf einen immer radikaleren Charakter annimmt und die Arbeiterklasse für revolutionäre Ideen empfänglich wird.

Wir müssen die falsche Vorstellung aufgeben, dass der Aufschwung des Kampfes gut und das Abebben des Kampfes schlecht ist. Beide haben ihre Funktion. Die Frage ist die Tendenz, revolutionär oder nicht, die die gesellschaftlichen Verhältnisse als Ergebnis der Entwicklung des Widerspruchs zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen bestimmen. Wenn also die aufschwingenden Perioden des Kampfes ihre positiven Elemente enthalten, so auch die abebbenden, in denen die Klasse über ihre Erfahrungen und ihre Perspektiven nachdenken muss. In einem Kontext, der für die revolutionäre Perspektive nicht günstig ist, führen die aufschwingenden Perioden zur größeren Integration der Arbeiterbewegung in den Kapitalismus, nicht zum Bruch mit ihm, und die abebbenden Perioden des Klassenkampfes werden zu Perioden der Verdummung und des Konformismus, statt zu Perioden der kritischen Reflexion über die Gesellschaft.

Man kann nicht so tun, als ob man revolutionäre Organisationen aufbaut, wenn die Bedingungen dafür nicht vorhanden sind. Die Illusion des Aufbaus der revolutionären Partei besteht darin, dass es sich in Wirklichkeit nicht um eine Gruppierung von Revolutionären handelt, die durch die Verpflichtung zur theoretischen Arbeit vereint sind, sondern um eine Gruppierung von Anhängern einer bestimmten Theorie der Revolution, d.h. einer politischen Ideologie. In dem Maße, in dem die alten reformistischen Organisationen in ihrer Krise fortschreiten, in dem Maße, in dem der Kapitalismus Anzeichen – vorübergehender oder anhaltender – Erschöpfung zeigt und diese Organisationen in das Räderwerk des Kapitals und des Staates eingebunden sind, dienen diese Parteien daher als Kanal für die Unzufriedenheit mit diesen Organisationen und hemmen den revolutionären Bruch mit dem Reformismus und die Tendenzen zur autonomen Organisation und zum Kampf der Klasse.

Das ist grundsätzlich so, weil diese Parteien in ihrer tatsächlichen Praxis nichts anderes sind als der linke Flügel des linken Reformismus, die extreme Linke des Kapitals. Andernfalls würden sie mit der harten Realität konfrontiert werden: dass die „Unzufriedenen“ der reformistischen Organisationen zum größten Teil deshalb so sind, weil diese mit ihren eigenen reformistischen Zielen so inkohärent geworden sind, dass die Unzufriedenen sich nicht mehr mit ihnen identifizieren und nach einem neuen ideologischen Referenten suchen, der den geringsten Anpassungsaufwand (intellektuell, psychologisch und physisch) mit sich bringt und der es ihnen erlaubt, den Kampf für Reformen weiterzuführen. Es handelt sich also um einen Transfer von Militanten und eine ideologische Metamorphose, nicht um eine wirkliche Reifung als revolutionäre Subjekte. Wenn dieses Phänomen nicht offen als das gezeigt wird, was es ist, dann deshalb, weil es sich um Proletarier handelt, die noch immer von sich selbst entfremdet sind. In Wirklichkeit glauben sie vielleicht aufrichtig, dass sie Revolutionäre sind, trotz der Tatsache, dass ihre gesamte tägliche Praxis dies widerlegt. Es ist ganz einfach. Es genügt, nicht kritisch über die eigene Praxis nachzudenken, und ganz allgemein, die Vorurteile und Dogmen, die zur Rechtfertigung einer bestimmten Praxis dienen, dem Einsatz von Intelligenz und dem Kampf gegen alle Vorstellungen vorzuziehen, die sich der Entwicklung einer neuen Praxis entgegenstellen.

Was den Unterschied in zukünftigen Kämpfen, in der Entwicklung des Klassenkampfes in einem revolutionären Sinne ausmachen wird, ist die allgemeine Reifung der Klasse und die Verschärfung des Klassenantagonismus, bis er immer unerträglicher wird. Dann wird es immer deutlicher werden, wie es schon immer war, dass die Revolution keine Angelegenheit der Partei ist, sondern eine Angelegenheit der Arbeiterklasse als Ganzes. Je höher das Niveau der materiellen und kulturellen Entwicklung ist, von dem man ausgeht, desto schwieriger wird es sein, die Arbeiterklasse, wenn sie einmal aus historischer Notwendigkeit heraus gehandelt hat, davon zu überzeugen, ihre Macht freiwillig an eine ideologisierte Minderheit abzugeben. In solchen Momenten zeigen sich die revolutionären Parteien sofort als das, was sie sind: eine Organisation von ideologisierten Proletariern als politische Avantgarde der Bourgeoisie.

 

Roi Ferreiro,

06/11/05

 

1A.d.Ü., der Originaltitel des Textes ist Por qué necesitamos ser anti-partido, was auch als Warum wir Anti-Partei sein müssen übersetzt werden kann, es klang uns zu holprig, der Transparenz halber diese Erklärung.

2A.d.Ü., eine Abhängigkeit untereinander.

3A.d.Ü., gemeint ist die allgemeine, gegenwärtige Situation.

4A.d.Ü., nicht so zu verstehen, dass dieser noch nicht in einer Partei ist, quasi auf die richtige wartet, sondern auch gegen diese, also die Parteien, ist. Im Originaltext: el militante no partidista“. Zwischen den Militanten der Partei und den Militanten ohne Partei gibt es ein antagonistisches Verhältnis.

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Warum wir keine revolutionäre Partei brauchen, Ricardo Fuego https://panopticon.blackblogs.org/2021/09/02/warum-wir-keine-revolutionaere-partei-brauchen-ricardo-fuego/ Thu, 02 Sep 2021 15:15:51 +0000 http://panopticon.blackblogs.org/?p=2298 Continue reading ]]> Einleitung von der Soligruppe für Gefangene,

zu unseren kommenden Text – KEIN ANARCHISTISCHES PROGRAMM, Eine Kritik an „anarchistischem“ Idealismus, Ideologien und Reformismus – veröffentlichen wir vorher eine Reihe an Texten, alles Übersetzungen, die sich mit der Thematik des Reformismus – ja sogar dem dialektischen Verhältnis, wenn nicht sogar der falschen Dichotomie zwischen beiden – lang vor unserer Zeit, oder vor kurzem, auseinandergesetzt haben.

Die Übersetzung ist von uns und die kursiven Stellen wurden so vom Originaltext übernommen, außer einer, nämlich der Titel eines Buches von Lenin, die Zitate wurden auch aus den Originaltexten übernommen, ansonsten spricht das Thema für sich, ein weiterer Text, der die Rolle der Partei, ob sich diese als revolutionär oder nicht betitelt, ist nebensächlich, kritisiert und angreift. Wir haben diesen Text ausgesucht, weil er die Grundlage für wichtige Debatten darstellt, auch wenn wir nicht mit allem einverstanden sind.

Zu den Verfassern und der Gruppe die damals diesen Text veröffentliche können wir nicht viel sagen, außer dass es sich um (anti-autoritäre) Kommunist*innen handelt, die sich mit allen möglichen Fragen und Debatten auseinandergesetzt haben, dass sie sich auf alle möglichen revolutionären Strömungen bezogen hatten, sowie rätekommunistische, anarchistische und der Geschichte der Arbeiterautonomie ab den 1960ern.


Ricardo Fuego

Warum wir keine revolutionäre Partei brauchen

 

Einleitung 1

I – Das revolutionäre Subjekt von Garganté

II – Die wahre marxistische Konzeption des Proletariats

III – Vom abstrakten Proletariat zur Partei

IV – Die klassischen sozialdemokratischen Argumente über die Partei

V – Der historische Kontext des Kautskyismus-Leninismus

VI – Der wahre Weg zur Revolution, die proletarische Autonomie

VII – Das Verhältnis zwischen Kommunisten und Proletariern

VIII – Schlussfolgerung

 

Einleitung

Im Forum La Liga Comunista (http://elforo.de/laligacomunista) wurden wir gebeten, den Text „Warum wir eine revolutionäre Partei brauchen“ von Josep Garganté zu kritisieren. Josep Garganté ist ein Gründungsmitglied der Gruppe Socialismo Internacional. Der Originaltext ist unter http://www.enlucha.org/folletos/porque%20un%20partido.doc zu finden.

Der kritisierte Text hat das einzige Interesse, weiterhin die Notwendigkeit der leninistischen Partei zu rechtfertigen. Ich werde weder auf die Kritik an dem von Lenin vorgeschlagenen Parteimodell noch auf die Einseitigkeit der „Analyse“ der revolutionären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts (insbesondere der russischen Revolution) und auch nicht auf die Führung und den demokratischen Zentralismus eingehen.

Wenn ich eine allgemeine Bewertung des Textes vornehme, würde ich sagen, dass er die im Titel gestellte Frage nicht beantwortet. Er beginnt mit einer Analyse der politisch-ökonomischen Situation in der Welt und in Spanien, um dann zu bekräftigen, dass das revolutionäre Subjekt die Arbeiterklasse ist und dass die Arbeiterklasse eine Partei mit einer korrekten theoretischen Vision braucht, um über spontane Aufstände zu transzendieren. Der Rest des Artikels, mit Ausnahme des Absatzes „Wie wächst die revolutionäre Organisation?“, ist dem Gespräch über die vorgeschlagene Art der Partei (leninistisch) gewidmet.

Aber die Antwort auf die Frage „Warum brauchen wir eine revolutionäre Partei“ wird nicht einmal im Entferntesten beantwortet. Zwischen der Behauptung, dass das revolutionäre Subjekt die Arbeiterklasse ist, und der Notwendigkeit einer Partei klafft eine ganze argumentative Lücke. Diese Lücke ist das Hauptziel meiner Kritik, und ich wähle, sie aus der Perspektive „Warum wir keine revolutionäre Partei brauchen“ anzugehen, da ich sie als die Hauptfrage sowohl für den Artikel als auch für das wirkliche Bedürfnis der Arbeiterklasse, die sozialdemokratische Praxis zu überwinden, betrachte.

 

I – Das revolutionäre Subjekt von Garganté

In dem Abschnitt Das revolutionäre Subjekt stellt Garganté fest:

„Die Arbeiterklasse ist nach der marxistischen Auffassung die einzige Klasse, die in der Lage ist, eine sozialistische Revolution durchzuführen. Und zwar grundsätzlich wegen der Position, in der sie sich innerhalb des Produktionsprozesses des Kapitalismus befindet.

Die Arbeiterklasse ist diejenige, die im Wesentlichen den gesamten Reichtum dieser Gesellschaft schafft und daher die einzige, die potenziell die Fähigkeit hat, die Gesellschaft von Grund auf zu verändern.“

Erstens, eine methodische Kritik. Anstatt von der Arbeiterklasse selbst auszugehen, wie sie heute existiert, zieht es Garganté vor, von einer abstrakten Definition auszugehen, die nie mit der Praxis kontrastiert wird, da er seine Autorität in Marx legitimiert. Ich spreche von „der marxistischen Konzeption“. Das ist an sich schon sehr bedenklich, denn eine vermeintlich revolutionäre Praxis auf abstrakte Definitionen zu gründen, die durch die Autorität des Autors selbst legitimiert sind, dient nicht dazu, die reale Welt zu verändern. Um die reale Welt zu verändern, müssen wir von ihr ausgehen, nicht von abstrakten Definitionen oder Doktrinen (wie „kohärent“ sie auch erscheinen mögen). Aber später werden wir sehen, dass Gargantés „marxistische Konzeption“ sich stark von Marx‘ eigener Konzeption der proletarischen Klasse unterscheidet.

Zweitens, eine inhaltliche Kritik an dieser Behauptung. Garganté sagt uns, dass die „marxistische Konzeption“ der Arbeiterklasse diese zum einzigen revolutionären Subjekt macht, weil sie „im Wesentlichen den gesamten Reichtum dieser Gesellschaft schafft“.

Wenn dies die Bedingung dafür wäre, eine revolutionäre Klasse zu sein, dann hätten auch Sklaven und Leibeigene revolutionäre Klassen sein müssen, da es ihre Arbeit war, die den Reichtum der Sklaven- und Feudalgesellschaften produzierte. Sie erwiesen sich jedoch als nicht zutreffend.

Man könnte auch sagen, dass jede ausgebeutete Klasse revolutionär ist. Und wieder würden wir sehen, dass dies ein Fehler ist. Die Sklaven und Leibeigenen waren ausgebeutete Klassen und waren nicht revolutionär. In Abwesenheit einer revolutionären Klasse und einer Revolution in der Sklavengesellschaft zerfiel die Sklavengesellschaft und ihr Niedergang war die Folge. Aus diesem Niedergang wurde die feudale Gesellschaft geboren. In der Feudalgesellschaft gab es eine revolutionäre Klasse, aber es waren nicht die Leibeigenen, sondern die Bourgeoisie. Lasst uns sehen, warum.

Die Bourgeoisie war eine revolutionäre Klasse, weil sie Produktionsverhältnisse vertrat, die den feudalen überlegen waren. Wir beziehen uns auf das kapitalistische Eigentum an den Produktionsmitteln. Dies ermöglichte eine viel größere Entwicklung der Produktion als das Monopol des Adels. Das Feudalregime wurde für die meisten Gesellschaftsschichten immer unerträglicher, weil es der Entwicklung von Industrie und Handel im Wege stand. Schließlich ergriff die Bourgeoisie, in einigen Fällen als Avantgarde des Volkes, in anderen widerstrebend gedrängt, in allen Ländern die politische Macht und beseitigte die letzten Hindernisse für Handel und Industrie. So gelang es ihr, ihr soziales Regime im Weltmaßstab zu etablieren. Der Kapitalismus ermöglichte eine gigantische Entwicklung der Produktivkräfte (und auch der destruktiven Kräfte). Die revolutionäre Rolle des Kapitalismus bestand darin, die Bedingungen für das Ende der Klassengesellschaft geschaffen zu haben, indem er einerseits einen großen Reichtum an Ressourcen und andererseits die ultimative revolutionäre Klasse schuf: das Proletariat oder die Arbeiterklasse.

Die Arbeiterklasse oder das Proletariat ist die revolutionäre Klasse der kapitalistischen Gesellschaft, weil sie in sich die Fähigkeit trägt, eine neue Gesellschaft zu schaffen, die eine größere Entwicklung der Produktivkräfte ermöglicht1. Aber wir sagen auch, dass sie die ultimative revolutionäre Klasse ist, weil sie die Fähigkeit in sich trägt, neue gesellschaftliche Verhältnisse ohne Ausbeutung zu schaffen, (A.d.Ü., um) die Klassengesellschaft ein für alle Mal zu überwinden.

Diese Fähigkeit, durch seine autonome Tätigkeit eine neue, der gegenwärtigen überlegene Gesellschaft zu schaffen, macht das Proletariat zur revolutionären Klasse der kapitalistischen Gesellschaft. Und das ist es, was Leninist*innen nicht verstehen können und wollen, wie wir später sehen werden.

 

II – Die wahre marxistische Auffassung des Proletariats

Bevor wir fortfahren, wollen wir sehen, was die wahre marxistische Konzeption des Proletariats ist.

„Das Proletariat ist umgekehrt als Proletariat gezwungen, sich selbst und damit seinen bedingenden Gegensatz, der es zum Proletariat macht, das Privateigentum, aufzuheben. (…) Wegen des Widerspruchs, der zwischen seiner menschlichen Natur und seiner Situation besteht, die die offene, klare und absolute Verneinung dieser Natur darstellt. (…) Vielmehr umgekehrt. Weil die Abstraktion von aller Menschlichkeit, selbst von dem Schein der Menschlichkeit, im ausgebildeten Proletariat praktisch vollendet ist, weil in den Lebensbedingungen des Proletariats alle Lebensbedingungen der heutigen Gesellschaft in ihrer unmenschlichsten Spitze zusammengefaßt sind, weil der Mensch in ihm sich selbst verloren, aber zugleich nicht nur das theoretische Bewußtsein dieses Verlustes gewonnen hat, sondern auch unmittelbar durch die nicht mehr abzuweisende, nicht mehr zu beschönigende, absolut gebieterische Not – den praktischen Ausdruck der Notwendigkeit – zur Empörung gegen diese Unmenschlichkeit gezwungen ist, darum kann und muß das Proletariat sich selbst befreien. Es kann sich aber nicht selbst befreien, ohne seine eigenen Lebensbedingungen aufzuheben. Es kann seine eigenen Lebensbedingungen nicht aufheben, ohne alle unmenschlichen Lebensbedingungen der heutigen Gesellschaft, die sich in seiner Situation zusammenfassen, aufzuheben. Es macht nicht vergebens die harte, aber stählende Schule der Arbeit durch. Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird. Sein Ziel und seine geschichtliche Aktion ist in seiner eignen Lebenssituation wie in der ganzen Organisation der heutigen bürgerlichen Gesellschaft sinnfällig, unwiderruflich vorgezeichnet.“ Karl Marx und Friedrich Engels, Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik

„Wo also die positive Möglichkeit der deutschen Emanzipation?

Antwort: in der Bildung einer Klasse mit radikalen Ketten, einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist, eines Standes, welcher die Auflösung aller Stände ist, einer Sphäre, welche einen universellen Charakter durch ihre universellen Leiden besitzt und kein besondres Recht in Anspruch nimmt, weil kein besondres Unrecht, sondern das Unrecht schlechthin an ihr verübt wird, welche nicht mehr auf einen historischen, sondern nur noch auf den menschlichen Titel provozieren kann, welche in keinem einseitigen Gegensatz zu den Konsequenzen, sondern in einem allseitigen Gegensatz zu den Voraussetzungen des deutschen Staatswesens steht, einer Sphäre endlich, welche sich nicht emanzipieren kann, ohne sich von allen übrigen Sphären der Gesellschaft und damit alle übrigen Sphären der Gesellschaft zu emanzipieren, welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann. Diese Auflösung der Gesellschaft als ein besonderer Stand ist das Proletariat. (…) Wenn das Proletariat die Auflösung der bisherigen Weltordnung verkündet, so spricht es nur das Geheimnis seines eignen Daseins aus, denn es ist die faktische Auflösung dieser Weltordnung. Wenn das Proletariat die Negation des Privateigentums verlangt, so erhebt es nur zum Prinzip der Gesellschaft, was die Gesellschaft zu seinem Prinzip erhoben hat, was in ihm als negatives Resultat der Gesellschaft schon ohne sein Zutun verkörpert ist.“ Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie

Wir sehen also, dass Gargantés Text, abgesehen davon, dass er von einer abstrakten Definition des Proletariats ausgeht, die er als „die marxistische Konzeption“ identifiziert, mit der von Marx2 nichts zu tun hat. Wenn also das Angehen einer „revolutionären“ Tätigkeit von abstrakten Definitionen aus schon ein schwerwiegender Umstand an sich ist, so ist das Angehen von falschen abstrakten Definitionen ein monumentaler Fehlschlag.

Das bedeutet nicht, dass Gargantés „marxistische Konzeption“ falsch ist, weil sie nicht mit der von Marx übereinstimmt. Warum die Definition von Garganté falsch ist, wurde im vorherigen Punkt bewiesen. Dieser Punkt meiner Kritik soll nur darauf hinweisen, dass, wenn Garganté und andere Leninist*innen von der „marxistischen Konzeption“ der Arbeiterklasse sprechen, sie einfach die sozialdemokratisch-bolschewistische Konzeption meinen.

 

III – Vom abstrakten Proletariat zur Partei

Nachdem er seine Theorie der Partei auf falsche Abstraktionen gegründet hat, fährt Garganté fort, über den Unterschied zwischen dem revolutionären Potenzial der Arbeiterklasse und ihrer tatsächlichen reformistischen Praxis zu sprechen.

Er führt diesen Unterschied auf die Unkenntnis oder das fehlende Bewusstsein der Arbeiter über ihre Rolle in der Produktion, über die gesellschaftliche Struktur und über ihr Potenzial als revolutionäre Klasse zurück. Es scheint, dass für Garganté das Problem der reformistischen Aktivität der Arbeiterklasse mit ideologischen Mitteln, mit Propaganda, gelöst wird.

Garganté spricht an keiner Stelle von Entfremdung, dem Produkt der alltäglichen entfremdeten Arbeit. Er erwähnt auch nicht, dass diese Entfremdung durch eine Praxis überwunden wird, in der die Arbeiterklasse mit traditionellen Handlungs- und Denkweisen bricht (Unterordnung unter die Hierarchie und Delegation der eigenen Angelegenheiten an „Spezialisten“ sind einige Beispiele).

Deshalb lässt Garganté all diese Fragen unbeantwortet:

„Wie können Revolutionäre diese Situation überwinden? Wie können Arbeiter von der Passivität, alle vier Jahre durch Wahlen auf Veränderungen zu hoffen, dazu übergehen, aktive Teilnehmer an ihrer eigenen Emanzipation zu sein?

Wie werden sich die Arbeiter der Möglichkeiten bewusst, die Dinge zu verändern, bis zu dem Punkt, an dem sie sich ihrer Interessen als soziale Klasse bewusst werden?“

Um dann zu sagen:

„Die Geschichte zeigt immer wieder, dass sich die Arbeiter spontan erhoben haben und im Prozess der Durchführung einer Revolution zu einer Klasse geworden sind, die sich ihres Gewichts und ihrer Macht innerhalb des Kapitalismus bewusst ist.“

Zum ersten Mal im Text wendet sich Garganté der in der Geschichte existierenden Arbeiterklasse zu, doch anstatt dieses Phänomen (den spontanen Aufstand der Arbeiter und ihre Selbstkonstituierung zu einem Subjekt, zu einer „Klasse für sich“) untersuchen zu wollen, versucht er, es mit seiner Ideologie in Einklang zu bringen. Ohne die beiden Punkte miteinander zu verbinden, geht Garganté also von der Rede über spontane Aufstände (die er nicht erklärt) zur Notwendigkeit „einer kohärenten Theorie und einer geeigneten Organisation, um über einen einfachen Aufstand hinausgehen zu können“ über.

Das heißt, anstatt den Prozess zu untersuchen, der die Arbeiter dazu bringt, sich spontan zu erheben, um zu sehen, was ihre Mängel sind und um den Weg zu finden, den Prozess zu beschleunigen und den Kampf so bewusst wie möglich zu machen; anstatt zu untersuchen, was in den früheren revolutionären Bewegungen fehlte, um siegreich zu sein und diese Analyse auf die Praxis der Klasse zu zentrieren, fährt Garganté fort, uns von der Notwendigkeit einer Theorie und einer Organisation zu verzaubern, „um über einen einfachen Aufstand hinausgehen zu können“. Mit dieser willkürlichen Arbeitsteilung rechtfertigt Garganté die Partei.

Und ohne Umschweife fährt er fort, darüber zu sprechen, welche Art von Partei: die leninistische Avantgardepartei. Aber für uns ist die Frage nicht, welche Art von Partei die Klasse braucht, sondern zu zeigen, warum die Klasse keine Art von Partei braucht und zu analysieren, warum das Gegenteil noch gedacht wird.

 

IV – Die klassisch sozialdemokratischen Argumente über die Partei

Die Sicherheit der Sozialdemokrat*innen und ihres radikalen Flügels, der Leninist*innen, dass die Arbeiterklasse eine politische Partei braucht, die sie führt, um für die Revolution zu kämpfen, liegt in ihrer Skepsis, dass die Arbeiterklasse sich selbst führen kann. Für sie kann die autonome Tätigkeit des Proletariats ohne die Führung einer revolutionären Partei nur zum Scheitern oder Reformismus führen. Worauf stützen sie diese letzte Behauptung?

In Was tun? zitiert Lenin seinen Meister Karl Kautsky:

„Manche unserer revisionistischen Kritiker nehmen an, Marx hätte behauptet, die ökonomische Entwicklung und der Klassenkampf schüfen nicht bloß die Vorbedingungen sozialistischer Produktion, sondern auch direkt die Erkenntnis (hervorgehoben von K.K.) ihrer Notwendigkeit, und da sind die Kritiker gleich fertig mit dem Einwand, daß das Land der höchsten kapitalistischen Entwicklung, England, von allen modernen Ländern am freiesten von dieser Erkenntnis sei. Nach der neuen Fassung könnte man annehmen, daß auch die österreichische Programmkommission den auf diese Weise widerlegten angeblich „orthodox-marxistischen“ Standpunkt teile. Denn es heißt da: „Je mehr die Entwicklung des Kapitalismus das Proletariat anschwellen macht, desto mehr wird es gezwungen und befähigt, den Kampf gegen ihn aufzunehmen. Es kommt zum Bewußtsein“ der Möglichkeit und Notwendigkeit des Sozialismus etc. In diesem Zusammenhang erscheint das sozialistische Bewußtsein als das notwendige direkte Ergebnis des proletarischen Klassenkampf es. Das ist aber falsch. Der Sozialismus als Lehre wurzelt allerdings ebenso in den heutigen ökonomischen Verhältnissen wie der Klassenkampf des Proletariats, entspringt ebenso wie dieser aus dem Kampfe gegen die Massenarmut und das Massenelend, das der Kapitalismus erzeugt; aber beide entstehen nebeneinander, nicht auseinander, und unter verschiedenen Voraussetzungen. Das moderne sozialistische Bewußtsein kann nur erstehen auf Grund tiefer wissenschaftlicher Einsicht. In der Tat bildet die heutige ökonomische Wissenschaft ebenso eine Vorbedingung sozialistischer Produktion wie etwa die heutige Technik, nur kann das Proletariat beim besten Willen die eine ebensowenig schaffen wie die andere; sie entstehen beide aus dem heutigen gesellschaftlichen Prozeß. Der Träger der Wissenschaft ist aber nicht das Proletariat, sondern die bürgerliche Intelligenz (hervorgehoben von K.K.); in einzelnen Mitgliedern dieser Schicht ist denn auch der moderne Sozialismus entstanden und durch sie erst geistig hervorragenden Proletariern mitgeteilt worden, die ihn dann in den Klassenkampf des Proletariats hineintragen, wo die Verhältnisse es gestatten. Das sozialistische Bewußtsein ist also etwas in den Klassenkampf des Proletariats von außen Hineingetragenes, nicht etwas aus ihm urwüchsig Entstandenes. Dem entsprechend sagt auch das alte Hainfelder Programm ganz richtig, daß es zu den Aufgaben der Sozialdemokratie gehöre, das Proletariat mit dem Bewußtsein (hervorgehoben von K.K.) seiner Lage und seiner Aufgabe zu erfüllen. Das wäre nicht notwendig, wenn dies Bewußtsein von selbst aus dem Klassenkampf entspränge.“

Nachdem er seinen Meister (später ein Renegat) zitiert hatte, sagt uns Lenin:

„Kann nun von einer selbständigen, von den Arbeitermassen im Verlauf ihrer Bewegung selbst ausgearbeiteten Ideologie keine Rede sein3, so kann die Frage nur so stehen: bürgerliche oder sozialistische Ideologie.“

Mit anderen Worten: Entweder führt die in einer Partei organisierte sozialistische Intelligenz das Proletariat, oder das Proletariat wird von der Bourgeoisie geführt. Die Sozialisten/Kommunisten müssen sich in einer Partei organisieren, um die sozialistische Ideologie unter dem Proletariat zu verbreiten und es im Kampf gegen die Bourgeoisie zu führen. Sie müssen dafür kämpfen, die Bewegung nach ihren speziellen Prinzipien, nach ihrem Programm zu formen. Je mehr Führungspositionen die Partei einnimmt und je tiefer ihre Ideologie in den Massen verwurzelt ist, desto näher wird sie der Revolution sein.

Die Aufgabe der Partei ist es, die versprengten Truppen zu sammeln und sie bei ihren Angriffen gegen die Bourgeoisie zu führen. Die revolutionäre Partei ist der Generalstab der Revolution. Ohne eine revolutionäre Partei gibt es keine Revolution. Auf diese Weise wird das Proletariat zur Truppe des eigentlichen revolutionären Subjekts der sozialdemokratischen Theorie: der Partei. Nach der sozialdemokratischen Theorie ist das Verhältnis zwischen Kommunisten und Proletariern das von Lehrern und Schülern, Führern und Geführten.

 

V – Historischer Kontext des Kautskyismus-Leninismus

Aber was ist der historische Kontext der kautskyanisch-leninistischen Konzeption der Beziehung zwischen Kommunisten und Proletariern? Der Kontext war die reformistische Phase der Arbeiterbewegung im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts bis kurz vor dem ersten imperialistischen Krieg. Um die Zeit der Niederschlagung der Pariser Kommune (1871) begann ein wirtschaftlicher Aufschwung des Kapitalismus, in dem die Bourgeoisie in der Lage war, den Arbeitermassen wirtschaftliche und politische Forderungen zuzugestehen. Die Bourgeoisie lernte schließlich – gezwungen durch den Kampf der Arbeiter -, dass es besser war, diesen Forderungen nachzugeben, um dem permanenten Konflikt zwischen den Klassen ein Ende zu setzen und die Gefahr eines revolutionären Proletariats zu vermeiden. Zu dieser Zeit wurden die Gewerkschaften legalisiert und wuchsen in ihrer Zahl, bis sie sich zu Arbeiterzentralen zusammenschlossen. Durch die Legalisierung der Arbeiterparteien und deren Einzug in das parlamentarische System wurde die Sozialdemokratie zum Vertreter der Arbeiterklasse im Parlament schlechthin. Und ich sage repräsentativ schlechthin, weil der Parlamentarismus und der theoretische Opportunismus der Sozialdemokratie treue Vertreter des Reformismus der Arbeiterklasse waren. In jenen Jahren ging die „spontane Arbeiterbewegung“ nicht über die Gewerkschaftsbewegung hinaus, weil das Hauptziel der Arbeiterklasse darin bestand, sich in die bourgeoise Gesellschaft zu integrieren. Die kautskyanisch-leninistische Prämisse von der Notwendigkeit der Partei beruhte auf der Naturalisierung dieser vergänglichen Wahrheit (dem reformistischen Charakter der „spontanen Arbeiterbewegung“).

Diese Prämisse wurde, 2 Jahre nachdem Lenin Was tun? schrieb, dementiert. Im Jahr 1905 schufen die aufständischen russischen Massen die Sowjets (Räte) der Arbeiterabgeordneten4. Sie begannen als Erweiterung von Streikkomitees und wurden zu Organen der Arbeitermacht, um den politischen und wirtschaftlichen Kampf gegen das zaristische Regime zu koordinieren. Obwohl sie aus den nicht-sozialdemokratischen Massen hervorgingen, gingen die Sowjets eindeutig über das gewerkschaftliche Bewusstsein hinaus. Die russischen Massen zeigten der Welt die Form der revolutionären Organisation des Proletariats, indem sie auf einem anderen Terrain und in einem größeren Maßstab die Glanzleistung des Pariser Proletariats von 1871 wiederholten.

Aber das war nicht das letzte Mal, dass das Proletariat durch seine autonome Aktivität die Gewerkschaftsbewegung überwunden hat. Das Proletariat hat im 20. Jahrhundert mehrfach in der Praxis bewiesen, dass die kautskyanisch-leninistische Prämisse falsch ist, und aus eigener Kraft seine Machtorganismen aufgebaut, die den politischen und ökonomischen Kampf vereinigten. Die Prämisse der Unfähigkeit der Arbeiterklasse, syndikalistisches (A.d.Ü., gewerkschaftliches) Bewusstsein zu überwinden, bleibt jedoch, obwohl sie von der Geschichte widerlegt wurde, bis heute der Kern der Argumente der Linken.

Worauf ist das zurückzuführen?

Nochmals, zum aktuellen Reformismus der Arbeiterklasse.

So wie die alte Sozialdemokratie in ihrer politischen und theoretischen Praxis das reformistische Proletariat ihrer Zeit repräsentierte, so tut es die heutige Linke. Damals wurde der theoretische Opportunismus der Sozialdemokratie von einigen wenigen Revolutionären bekämpft und angeprangert. Aber die Sozialdemokratie war nicht wegen ihres „Revisionismus“ der marxistischen Theorie reformistisch, sondern wegen ihres Charakters als politische Partei und ihrer Anpassung innerhalb des bourgeoisen Regimes. Die Sozialdemokratie konnte angesichts der radikalen Kritik behaupten, die Realität gebe ihr Recht. Und heute kann die Linke dasselbe sagen, denn die Praxis der Arbeiterklasse ist heute immer noch reformistisch, und nach Ansicht der Linken hat nur ein revolutionärer Prozess, der von einer Partei geführt wird, den Sieg errungen, auch wenn er später „degeneriert“5 ist.

Aber wenn wir uns auf die Geschichte stützen und nicht auf die zirkuläre Logik der Linken, werden wir sehen, dass in den revolutionären Bewegungen des 20. Jahrhunderts (in Deutschland und Spanien können wir es sehr deutlich sehen) gezeigt wurde, dass die Aktionen der Parteien -und Gewerkschaften- der Selbstemanzipation der Arbeiter zuwiderliefen. Die „spontane Arbeiterbewegung“, die vom Klassenkampf selbst angetrieben wurde, überwand nicht nur die Gewerkschaftsbewegung, sondern hatte auch die sozialdemokratischen und leninistischen Parteien auf der gegenüberliegenden Seite der Straße. Das Interesse des Proletariats war die Selbstemanzipation. Das Interesse der Parteien war und ist, es zu führen. Und noch heute wird die Bilanz, die die Linke über diese Prozesse zieht, in einem Satz zusammengefasst: „Es fehlte an revolutionärer Führung“.

 

VI – Der wahre Weg zur Revolution, die proletarische Autonomie

„Und dann?“ – Wird das sozialdemokratische Denken als letztes Mittel des Pragmatismus angesichts der Sturheit der Geschichte sagen: „Sollen wir uns zurücklehnen und warten, bis die Revolution sich selbst macht?“

Da die Sozialdemokratie keine Bewegung kennt, die nicht führt, kennt sie auch keine Aktivität, die nicht darauf abzielt, „die Führung“ der Bewegung der Ausgebeuteten zu gewinnen. Lenin selbst sagte, dass es nur wenige Kräfte gibt, die mächtiger sind als die Gewohnheit, und die Gewohnheit, wie bourgeoise Revolutionäre zu denken, ist in der Linken zu stark, als dass sie von einem Tag auf den anderen verschwinden könnte, nicht einmal mit den besten Argumenten der Welt. In dieser Epoche, in der der Klassenkampf noch nicht genug radikalisiert ist, werden nur wenige in der Lage sein, die sozialdemokratische Vision der proletarischen Revolution und des Sozialismus zu bekämpfen und zu überwinden, denn aufgrund des geringen Niveaus der Selbstaktivität der Arbeiterklasse wird die Mehrheit der linken Militanz das kautskyanisch-leninistische Prinzip „bestätigt“ sehen, wonach die Arbeiterklasse keine andere Möglichkeit hat, als von ihrer Klassenpartei angeführt zu werden.

Aber die Lösung dafür kommt nicht aus der Hand von revolutionären Gruppen für die Autonomie der Arbeiter (obwohl ihre Bildung wünschenswert und notwendig ist). Die Gegentendenz zur Autonomie der Arbeiter, die sowohl von der Linken als auch von der Gewerkschaftsbewegung vertreten wird, kann nur durch die Selbstaktivität der Klasse selbst überwunden werden. Wir denken, dass das Proletariat das revolutionäre Subjekt ist, deshalb geht der Mittelpunkt unserer Reflexion und unserer Praxis durch seine Praxis und nicht durch die Führungen oder Kandidaten, die es sein wollen. Unsere ist eine materialistische Analyse, keine idealistische, und deshalb konzentriert sie sich auf die Praxis der Ausgebeuteten, nicht auf ihr Bewusstsein6. Und so wie wir sagen, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse das Werk der Arbeiterklasse selbst sein wird, sagen wir, dass die Gründe für das Scheitern der Arbeiterklasse in ihrer Selbstemanzipation in ihrer eigenen Praxis gesucht werden müssen. Wir sagen, dass, wenn in der proletarischen Bewegung die gewerkschaftliche und parteiliche Organisation und das Denken vorherrschen, dies eine Manifestation des reformistischen Charakters dieser Bewegung, eines niedrigen Stadiums der Selbstaktivität der Klasse ist.

Erst wenn das Proletariat durch seine autonome Tätigkeit die Gewerkschafts- und Parteipraktiken überwindet und seine Machtorganismen durch direkte Demokratie konstituiert, kann man von einer revolutionären Praxis sprechen. Das Proletariat braucht dazu keine Partei, es wird es spontan tun, sobald die Lebensbedingungen im Kapitalismus unerträglich werden und es die Nutzlosigkeit von Partei- und Gewerkschaftsorganisationen in der Praxis bewiesen hat. Diese Schlussfolgerung wird das Produkt nicht einer „revolutionären Theorie“ sein, die wie Manna vom Himmel fällt, sondern der kollektiven Auseinandersetzung mit der gelebten Erfahrung. Kollektive Debatte, zu der wir revolutionären Gruppen für die Selbstemanzipation der Klasse mit unseren Meinungen beitragen können.

Wir Kommunist*innen müssen diesen Lernprozess auf der Grundlage von Erfahrungen beschleunigen und so bewusst wie möglich machen, und dafür müssen wir ihn als erstes nicht durch entfremdende Praktiken behindern. Dies erfordert eine Beziehung zwischen Kommunist*innen und Proletariern, die nicht die von Partei/Massen, Führern/Leitern, Lehrern/Schülern ist. Und ebenso eine Beziehung zwischen Kommunist*innen selbst, die nicht die von Führung/Basis, Zentralkomitee/Militanz ist.

 

VII – Die Beziehung zwischen Kommunisten und Proletariern

Für uns ist die Essenz der Tätigkeit der Kommunisten das, was Marx im Manifest schreibt:

In welchem Verhältnis stehen die Kommunisten zu den Proletariern überhaupt?

Die Kommunisten sind keine besondere Partei gegenüber den andern Arbeiterparteien.

Sie haben keine von den Interessen des ganzen Proletariats getrennten Interessen.

Sie stellen keine besonderen Prinzipien auf, wonach sie die proletarische Bewegung modeln wollen.

Die Kommunisten unterscheiden sich von den übrigen proletarischen Parteien nur dadurch, daß sie einerseits in den verschiedenen nationalen Kämpfen der Proletarier die gemeinsamen, von der Nationalität unabhängigen Interessen des gesamten Proletariats hervorheben und zur Geltung bringen, andrerseits dadurch, daß sie in den verschiedenen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie durchläuft, stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten.

Die Kommunisten sind also praktisch der entschiedenste, immer weitertreibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder; sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus.

Der nächste Zweck der Kommunisten ist derselbe wie der aller übrigen proletarischen Parteien: Bildung des Proletariats zur Klasse, Sturz der Bourgeoisherrschaft, Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat.“

Auch wenn diese Prämissen im Großen und Ganzen richtig sind, gab es einige Veränderungen von Marx bis heute. Einer der Unterschiede besteht darin, dass zu Marx‘ Zeiten die Arbeiterbewegung noch nicht vom System absorbiert worden war und daher ausschließlich das Produkt der autonomen Tätigkeit des Proletariats war. Heute ist die Arbeiterbewegung vom System aufgesogen worden, und die Parteien und Gewerkschaften sind nicht mehr Faktoren für die Entwicklung der Selbstaktivität und des Bewusstseins der Klasse, sondern ein Faktor für ihre Rückständigkeit. Deshalb muss unsere Tätigkeit außerhalb und gegen die Parteien und Gewerkschaften beginnen.

Wir schlagen die Bildung von autonomen und horizontalen Diskussions-, Reflexions- und Verbreitungskreisen vor. Das bedeutet nicht, viele kleine Parteien zu bilden, die nach der Art von Vollversammlungen (ohne formale Hierarchien) funktionieren. Es handelt sich um eine Änderung des Inhalts der Tätigkeit, nicht nur der Form. Anstatt ein Programm und eine „Linie“ zu entwerfen, die man der Klasse aufzwingen will, sich am Klassenkampf als einer mehr zu beteiligen, in jedem einzelnen Kampf den Kampf als Ganzes hervorzuheben und zu behaupten, mit unserer theoretischen Vision dazu beizutragen, die Hindernisse zu erkennen und zu überwinden, die der Feind stellt oder die wir selbst stellen. Um Marx in seinem Brief an Ruge von 1843 zu paraphrasieren, müssen wir unseren Klassengefährten nicht sagen, warum sie kämpfen sollen, sondern ihnen erklären, warum sie kämpfen. Dem Spontanen zu helfen, bewusster zu werden, anstatt zu versuchen, es zu lenken.

Natürlich ist diese Arbeit der theoretischen Praxis nicht die ganze Tätigkeit der Kommunist*innen, sondern das, was sie vom Rest des Proletariats unterscheidet7. Kampf und Solidarität, immer autonom und die Ausgebeuteten dazu drängend, für sich selbst zu handeln, ist die beste Propaganda für den Kommunismus, die man machen kann.

 

VIII – Fazit

Der Kommunismus ist nichts anderes als die bewusste und selbstorganisierte Zusammenarbeit der Proletarier gegen die Entfremdung ihrer Selbsttätigkeit als gesamter Mensch; er soll die freie Entwicklung der Individuen mit all ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen zur Bedingung für die Entwicklung einer Gesellschaft ohne Ausbeutung und Herrschaft machen. Kurz gesagt, der Kommunismus ist die wirkliche Bewegung, die den gegenwärtigen Zustand der menschlichen Existenz effektiv aufhebt und überwindet, eine Bewegung, die mit der Tendenz der Proletarier, autonom und als Klasse zu handeln, das heißt, ihre eigene selbstbestimmte revolutionäre Praxis zu unternehmen, ins Leben tritt. Die Entwicklung des Kommunismus besteht im Wesentlichen in der Entwicklung der proletarischen Autonomie über die vom Kapitalismus gesetzten Grenzen hinaus.“ (Círculo Internacional de Comunistas Antibolcheviques – Líneas de orientación – Internationaler Kreis der antibolschewistischen Kommunisten – Orientierungslinien)

Heute können wir in der sozialen Existenz der Proletarier die Negation der gegenwärtigen Gesellschaft, die Negation des Privateigentums sehen. Wir könnten eine ganze Seite mit Daten über die Konzentration von Reichtum und die Ausdehnung des Elends, die sein notwendiges Gegenstück ist, füllen. Die enorme Konzentration von Reichtum in einer Handvoll Monopole spiegelt sich umgekehrt in den zwei Dritteln der Menschheit wider, die von weniger als zwei Dollar pro Tag leben. Die Kapazität, Nahrung für 12 Milliarden Menschen zu produzieren, auf der einen Seite und die 100.000 Hungertoten pro Tag auf der anderen Seite.

Gegen all dies gibt es den Kampf seitens der Ausgebeuteten. Kämpfe um Forderungen, politische Kämpfe, aufständische Kämpfe und territoriale Kämpfe. Einige Kämpfe sind autonom und andere werden vom System durch staatliche Institutionen, Parteien oder Gewerkschaften aufgefangen. Nicht in institutionalisierten oder einer Führung untergeordneten Kämpfen werden wir den wahren revolutionären Charakter des Proletariats erkennen.

Es ist der radikale und autonome Kampf der Ausgebeuteten gegen die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse, in dem wir das wirkliche Proletariat als Subjekt sehen können. Denn nur durch individuelle und kollektive Autonomie befreien sich die Proletarier von der Entfremdung. Wir sahen es in den Prozessen der Pariser Kommune, den russischen Sowjets, den deutschen Arbeiterräten, den spanischen landwirtschaftlichen Kollektiven. Wir sehen es heute in den radikalsten wilden Streiks, wo, obwohl die Gewerkschaftsführung nicht überwunden wird, die Vormundschaft der Gewerkschaftsführungen überwunden wird und die Ausgebeuteten ihre eigenen Diskussions- und Entscheidungsgremien schaffen. Wir haben das in Argentinien flüchtig gesehen, mit der Schaffung der Vollversammlungen, die aus dem Aufstand vom Dezember 2001 hervorgegangen sind.

Der Weg zur Erhöhung der Selbstaktivität der Ausgebeuteten liegt in der Bildung von autonomen Basiskernen und in den Kreisen der Debatte und der theoretischen Meinung, nicht in der alten und sich erholenden Partei/Gewerkschaft-Binomialität.

Unsere Emanzipation wird das Werk von uns selbst sein. Wir brauchen keine „professionellen Emanzipatoren“, die uns sagen, was wir tun sollen. Wir brauchen Komplizen, wir brauchen Gefährten, mit denen wir diesen Weg gemeinsam gehen können, als Gleiche, die nicht nur im Sinne des Kommunismus, sondern vom Kommunismus her denken und handeln.

Ricardo Fuego

28/11/2005

 

1Und zu „Produktivkräften“ zähle ich Kunst, Kultur, Freizeit, alles, was für den Menschen produktiv ist. Kommunisten müssen also über die Produktivkräfte von einem kommunistischen Standpunkt aus nachdenken, nicht vom gegenwärtigen kapitalistischen Standpunkt aus, wo die menschliche Tätigkeit auf die Reproduktion des Kapitals ausgerichtet ist.

2Dinge wie diese sind es, die Marx dazu brachten zu sagen „Ich bin kein Marxist“, und die uns Revolutionären heute helfen, zwischen Marx und Marxismus zu unterscheiden.

3A.d.Ü., wir nahmen uns die Freiheit die Fußnote aus dem Originaltext von Lenin auch zu veröffentlichen: „Dies heißt selbstverständlich nicht, daß die Arbeiter an dieser Ausarbeitung nicht teilnehmen. Aber sie nahmen daran nicht als Arbeiter teil, sondern als Theoretiker des Sozialismus, als die Proudhon und Weitling, mit anderen Worten, sie nehmen nur dann und soweit daran teil, als es ihnen in höherem oder geringerem Maße gelingt, sich das Wissen ihres Zeitalters anzueignen und dieses Wissen zu bereichern. Damit aber den Arbeitern dieses häufiger gelinge, ist es notwendig, alles zu tun, um das Niveau der Bewußtheit der Arbeiter im allgemeinen zu haben; ist es notwendig, daß die Arbeiter sich nicht in dem künstlich eingeengten Rahmen einer „Literatur für Arbeiter„ abschließen, sondern daß sie es immer mehr lernen, sich die allgemeine Literatur zu eigen zu machen. Es wäre sogar richtiger, anstatt „sich nicht abschließen“ zu sagen: nicht abgeschlossen werden, dann die Arbeiter selbst lesen alles und wollen alles lesen, auch das, was für die Intelligenz geschrieben wird, und nur einige (schlechte) Intellektuelle glauben, „für Arbeiter“ genüge es, wann man ihnen von den Zuständen in der Fabrik erzählt und langst bekannte Dinge wiederkäut.“

4A.d.Ü., es ist die Rede von Arbeiterräten. Im Originaltext steht diputados de obreros, was wortwörtlich Arbeiterabgeordnete bedeutet, dies hat aber nichts mit irgendeiner Repräsentation von Arbeiter und Arbeiterinnen im Parlament zu tun.

5Wir beziehen uns auf die russische Oktoberrevolution, die viele – fälschlicherweise – mit einer proletarischen oder kommunistischen Revolution identifizieren, obwohl sie eine kapitalistische Revolution war, die in den Händen einer jakobinischen Intelligenz mit marxistischer Phraseologie landete. Siehe Thesen zum Bolschewismus von Helmut Wagner (http://members.fortunecity.com/cica/clasicos/wagner/bolchevismo/indice.htm)

6„Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewusstseins ist zunächst unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen, ist Sprache des wirklichen Lebens. Das Vorstellen, Denken, der geistige Verkehr der Menschen erscheinen hier noch als direkter Ausfluss ihres materiellen Verhaltens. Von der geistigen Produktion, wie sie in der Sprache der Politik, der Gesetze, der Moral, der Religion, Metaphysik usw. eines Volkes sich darstellt, gilt dasselbe. Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen usw., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinauf. Das Bewusstsein kann nie etwas anderes sein als das bewusste Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozess. Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Vorstellungen wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen ebenso sehr aus ihrem historischen Lebensprozess hervor, wie die Umdrehung der Gegenstände auf der Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen.
Ganz im Gegensatz zur deutschen Philosophie, welche vom Himmel auf die Erde herabsteigt, wird in der Wissenschaft von der Erde zum Himmel gestiegen. D.h., es wird nicht ausgegangen von dem, was die Menschen sagen, sich einbilden, sich vorstellen, … ; es wird von den wirklich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozess auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt. (…) Die Moral, Religion, Metaphysik und sonstige Ideologie und die ihnen entsprechenden Bewußtseinsformen behalten hier- mit nicht länger den Schein der Selbständigkeit. Sie haben keine Geschichte, sie haben keine Entwicklung, sondern die ihre materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser ihrer Wirklichkeit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens. Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein. In der ersten Betrachtungsweise geht man von dem Bewußtsein als dem lebendigen Individuum aus, in der zweiten, dem wirklichen Leben entsprechenden, von den wirklichen lebendigen Individuen selbst und betrachtet das Bewußtsein nur als ihr Bewußtsein.“ (Marx und Engels, Die deutsche Ideologie, Kapitel Gegensatz von materialistischer und idealistischer Anschauung)

7Wir mystifizieren oder verbreitern diese Unterscheidung nicht, denn wir sind gegen Spezialismus (A.d.Ü., sich zu spezialisieren). Da wir uns als innerhalb der Klasse und nicht außerhalb oder über ihr begreifen, beabsichtigen wir, dass diese theoretische Funktion zunehmend von der Klasse als Ganzes ausgeübt wird. Schließlich ist unsere theoretische Praxis nichts anderes als der Prozess der Reflexion über Erfahrungen, Meinungen und Debatten, den auch der Rest der Ausgebeuteten macht, nur auf eine bewusstere und selbstdiszipliniertere Weise.

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