Emma Goldman – Soligruppe für Gefangene https://panopticon.blackblogs.org Für die Anarchie! Knäste, Staat, Patriarchat und Kapital abschaffen! Wed, 27 Nov 2024 10:30:57 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.1 https://panopticon.blackblogs.org/wp-content/uploads/sites/1233/2020/02/cropped-discharge-degenerik-blog-1-32x32.jpg Emma Goldman – Soligruppe für Gefangene https://panopticon.blackblogs.org 32 32 Leon Czolgosz: der Anarchist, der ein Attentat auf den Präsidenten der Vereinigten Staaten verübte (1901) https://panopticon.blackblogs.org/2024/11/01/leon-czolgosz-der-anarchist-der-ein-attentat-auf-den-praesidenten-der-vereinigten-staaten-veruebte-1901/ Fri, 01 Nov 2024 13:02:00 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=6050 Continue reading ]]> Gefunden auf expandiendo la revuelta, die Übersetzung ist von uns.


Leon Czolgosz: der Anarchist, der ein Attentat auf den Präsidenten der Vereinigten Staaten verübte (1901)

Einleitung

Dieses kleine Fanzine soll an den Gefährten Leon Czolgosz erinnern, der für die Ermordung des US-Präsidenten William McKinley am 6. September 1901 in Buffalo verantwortlich war.

Leons Tat löste nicht nur ein internationales Echo aus und befeuerte eine repressive Kampagne in den USA, gegen die anarchistische Bewegung, sie war Teil einer Reihe von internationalen Aktionen, die durch die so genannte „Propaganda der Tat“ miteinander verbunden waren und zu denen wir die Angriffe auf Gefährtene wie Gaetano Bresci, Sante Geronimo Caserio, Auguste Vaillant, Emile Henry, Michele Angiolillo, Luigi Lucheni, Mateo Morral und andere zählen können, sowie in Argentinien die Fälle von Salvador Planas, Francisco Solano Regis, Simón Radowitzky und Kurt Wilckens.

Damit wollen wir sagen, dass sowohl die Aktionen als auch Leon als Individuum nicht losgelöst von ihrem Umfeld, ihren Praktiken und ihrer Geschichte betrachtet werden können, sondern dass sie ihre Grundlagen sowohl in der transversalen Misere des Kapitalismus als auch in den Beispielen des Widerstands und der individuellen Offensiven haben, mit denen sich der Anarchismus historisch auseinandergesetzt hat, nicht ohne unendliche Debatten, Widersprüche und Kontroversen.

Mit dem Bedürfnis, sich von Fetischen zu lösen und tiefer in die Geschichte und den Kontext von Leon Czolgosz einzutauchen, haben wir beschlossen, den von der Gefährtin Emma Goldman geschriebenen Text „Die Tragödie von Buffalo“ zu übersetzen und die Wochen nach dem Anschlag in Buenos Aires veröffentlichte Rezension „Czolgosz’s revolver“ abzutippen. Mit dem Ziel, verschiedene Standpunkte kritisch zu beleuchten und zu verstehen, welchen Platz gewaltsame Aktionen, Solidarität und Repression in den Milieus der Anarchist*innen einnehmen.

Expandiendo la revuelta.

Juli 2024.

Buenos Aires.


Die Tragödie von Buffalo

Emma Goldman

Veröffentlicht im Oktober 1901 in der anarchistischen Zeitung Free Society, San Francisco, Kalifornien.

Da hungert das kleine, erschrokene Kind, Bis es wimmert ohne Unterlass, Sie peitschen den Schwachen, sie schlagen den Narrn, Den Alen verspotten sie baß. Und mancher wird toll, und schlecht werden all, Doch keiner darf etwas sagen.

– Oscar Wilde. (A.d.Ü., aus der deutschsprachigen Ausgabe aus dem Jahr 1896)

Noch nie in der Geschichte der Regierungen hat der Klang eines Pistolenschusses die selbstgefällige, gleichgültige, zufriedene und träge Öffentlichkeit so erschreckt, terrorisiert und entsetzt wie der Schuss, den Leon Czolgosz abfeuerte, als er William McKinley, den Präsidenten der Geldkönige und Trustmagnaten dieses Landes, niederschoss.

Nicht, dass dieser moderne Cäsar der erste gewesen wäre, der durch die Hand eines Brutus starb. Oh nein! Seitdem der Mensch die Rechte seiner Mitmenschen mit Füßen tritt, schweben rebellische Geister in der Atmosphäre. Nicht, dass William McKinley ein größerer Mann gewesen wäre als diejenigen, die auf der gefesselten Gestalt der Freiheit thronten. Er war weder in Bezug auf Intellekt, Fähigkeiten, Persönlichkeit noch Charakterstärke mit denen vergleichbar, die die Strafe für ihre Macht zu zahlen hatten. Auch wird die Geschichte nicht in der Lage sein, seine außergewöhnliche Freundlichkeit, Großzügigkeit und sein Mitgefühl mit denen festzuhalten, die durch Unwissenheit und Gier zu einem Leben in Elend, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung verdammt sind.

Warum also wurden die Mächtigen und Einflussreichen durch die Tat vom 6. September in solche Bestürzung versetzt? Warum dieses Geheul einer angeheuerten Presse? Warum solche blutrünstigen und gewalttätigen Äußerungen von Geistlichen, deren übliches Geschäft es ist, „Frieden auf Erden und guten Willen für alle“ zu predigen? Warum das wahnsinnige Toben des Pöbels, die Forderung nach strengen Gesetzen zur Einschränkung der Presse- und Redefreiheit?

Seit mehr als dreißig Jahren beraubt eine kleine Gruppe von Parasiten das amerikanische Volk und tritt die Grundprinzipien mit Füßen, die von den Vorfahren dieses Landes festgelegt wurden und jedem Mann, jeder Frau und jedem Kind „Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“ garantieren. Seit dreißig Jahren vermehren sie ihren Reichtum und ihre Macht auf Kosten der großen Masse der Arbeiter und vergrößern dadurch die Armee der Arbeitslosen, der Hungernden, Obdachlosen und Freundlosen, die das Land von Ost nach West und von Nord nach Süd durchziehen, auf der vergeblichen Suche nach Arbeit. Seit vielen Jahren wird das Zuhause der Obhut der Kleinen überlassen, während die Eltern ihr Leben und ihre Kraft für einen Hungerlohn aufwenden. Dreißig Jahre lang wurden die starken Söhne Amerikas auf dem Schlachtfeld des industriellen Krieges geopfert und die Töchter in korrupten Fabrikumgebungen missbraucht. Lange und mühsame Jahre ging dieser Prozess der Untergrabung der Gesundheit, der Kraft und des Stolzes der Nation ohne viel Protest der Enterbten und Unterdrückten weiter. Durch Erfolg und Siege verrückt geworden, wurden die Geldmächte dieses „freien Landes von uns“ immer dreister in ihren herzlosen, grausamen Bemühungen, mit verrotteten und verfallenen europäischen Tyranneien um die Vorherrschaft der Macht zu konkurrieren.

Da die Gedanken der Jugend von einer pervertierten Auffassung von Patriotismus vergiftet waren und der trügerischen Vorstellung, dass alle gleich seien und jeder die gleiche Chance habe, Millionär zu werden (vorausgesetzt, er könne die ersten hunderttausend Dollar stehlen), war es in der Tat ein Leichtes, die Unzufriedenheit des Volkes zu zügeln; daher ist man nicht überrascht, wenn man Amerikaner sagen hört: „Wir können verstehen, warum die armen Russen ihren Zaren oder die Italiener ihren König töten, wenn man an die dort herrschenden Bedingungen denkt; aber wer in einer Republik lebt, in der jeder die Möglichkeit hat, Präsident der Vereinigten Staaten zu werden (vorausgesetzt, er hat eine mächtige Partei hinter sich), warum sollte er solche Taten versuchen? Wir sind das Volk, und Gewalttaten sind in diesem Land unmöglich.“

Und nun, da das Unmögliche geschehen ist, dass sogar Amerika den Mann hervorgebracht hat, der den König der Republik niedergestreckt hat, haben sie den Kopf verloren und rufen nach Rache an denen, die jahrelang gezeigt haben, dass die Bedingungen hier allmählich alarmierend wurden, und dass, wenn kein Einhalt geboten wird, die Despotie ihren schweren Fuß auf die bisher relativ freien Glieder des Volkes setzen würde.

Vergeblich haben die Fürsprecher des Reichtums Leon Czolgosz als Ausländer denunziert; vergeblich lassen sie die Welt glauben, dass er das Produkt europäischer Verhältnisse sei und von europäischen Ideen beeinflusst wurde. Dieses Mal ist der „Attentäter“ zufällig das Kind Kolumbiens, das ihn mit

„Mein Land, es ist von dir,

süßes Land der Freiheit“

und ihm die Hoffnung gab, dass auch er Präsident des Landes werden könnte. Wer kann sagen, wie oft dieses amerikanische Kind die Feierlichkeiten zum 4. Juli oder zum Decoration Day, an dem es den Toten der Nation treu gedachte, genossen hat? Wer weiß, ob er nicht auch bereit war, „für sein Land zu kämpfen und für seine Freiheit zu sterben“, bis ihm dämmerte, dass diejenigen, denen er angehörte, kein Land hatten, weil sie all dessen beraubt wurden, was sie hervorgebracht hatten; bis er erkannte, dass all die Freiheit und Unabhängigkeit seiner Jugendträume nur eine Farce waren. Vielleicht lernte er auch, dass es Unsinn ist, von Gleichheit zwischen denen zu sprechen, die alles haben, und denen, die nichts haben, und rebellierte deshalb.

„Aber seine Tat war verrückt und feige“, sagt die herrschende Klasse. ‚Sie war töricht und unpraktisch‘, wiederholen alle kleinlichen Reformer, Sozialisten und sogar einige Anarchisten.

Was für eine Absurdität! Als ob eine Tat dieser Art an ihrer Nützlichkeit, Zweckmäßigkeit oder Praktikabilität gemessen werden könnte. Wir könnten uns genauso gut nach der Nützlichkeit eines Wirbelsturms, Tornados, eines heftigen Gewitters oder des unaufhörlichen Falls des Niagara-Wassers fragen. All diese Kräfte sind die natürlichen Ergebnisse natürlicher Ursachen, die wir vielleicht noch nicht erklären können, die aber dennoch Teil der Natur sind, so wie Kraft natürlich und Teil von Mensch und Tier ist, entwickelt oder gebremst, je nach dem Druck der Bedingungen und dem Verständnis des Menschen. Ein Akt der Gewalt ist daher nicht nur das Ergebnis von Bedingungen, sondern auch der psychischen und physischen Natur des Menschen und seiner Anfälligkeit für die ihn umgebende Welt.

Kämpft der Sommer nicht gegen den Winter, leistet er nicht Widerstand, trauert und weint er nicht Tränenmeere in seinem eifrigen Versuch, seine Kinder vor dem eisigen Griff des Frosts zu schützen? Und hüllt der Winter Mutter Erde nicht in eine weiße, harte Decke, damit die warme Frühlingssonne nicht das Herz des verhärteten alten Herrn zum Schmelzen bringt? Und sammelt er nicht seine letzten Kräfte für einen erbitterten und heftigen Kampf um die Vorherrschaft, bis die brennenden Strahlen der Sonne seine Reihen zerstreuen?

Widerstand gegen Gewalt ist eine Tatsache in der gesamten Natur. Der Mensch ist Teil der Natur und wird daher auch von derselben Kraft angetrieben, sich gegen eine Invasion zu verteidigen. Gewalt wird so lange ein natürlicher Faktor bleiben, wie ökonomische Sklaverei, soziale Überlegenheit, Ungleichheit, Ausbeutung und Krieg weiterhin alles Gute und Edle im Menschen zerstören.

Dass die ökonomischen und politischen Bedingungen dieses Landes den Keim der Habgier und des Despotismus in sich trugen, kann niemand leugnen, der nachdenkt und die Ereignisse genau beobachtet hat. Es war daher nur eine Frage der Zeit, bis die ersten Anzeichen von Wehen einsetzten. Und sie begannen, als McKinley mehr als jeder andere Präsident das Vertrauen des Volkes verraten hatte und zum Werkzeug der Geldkönige wurde. Sie begannen, als er und seine Klasse das Andenken der Männer, die die Unabhängigkeitserklärung verfasst hatten, mit dem Blut der massakrierten Filipinos befleckten. Sie wurden immer gewalttätiger, wenn sie sich an Hazelton, Virden, Idaho und andere Orte erinnerten, an denen das Kapital Krieg gegen die Arbeit geführt hatte, bis am 6. September das Kind geboren wurde, das durch Gewalt gezeugt, genährt und aufgezogen wurde.

Dass Gewalt nicht nur das Ergebnis von Bedingungen ist, sondern auch weitgehend von der inneren Natur des Menschen abhängt, lässt sich am besten durch die Tatsache belegen, dass Tausende die Tyrannei verabscheuen, aber nur einer einen Tyrannen niederschlägt. Was treibt ihn dazu, die Tat zu begehen, während andere stillschweigend zusehen? Es liegt daran, dass der eine von einer so sensiblen Natur ist, dass er ein Unrecht schärfer und intensiver empfindet als andere.

Es ist daher nicht Grausamkeit, Blutdurst oder eine andere kriminelle Neigung, die einen solchen Menschen dazu bringt, der organisierten Macht einen Schlag zu versetzen. Im Gegenteil, es ist vor allem ein starker sozialer Instinkt, eine Fülle von Liebe und ein Übermaß an Mitgefühl für den Schmerz und das Leid um uns herum, eine Liebe, die Zuflucht in der Umarmung der Menschheit sucht, eine Liebe, die so stark ist, dass sie vor keiner Konsequenz zurückschreckt, eine Liebe, die so weit ist, dass sie sich nie auf ein Objekt beschränken lässt, solange Tausende zugrunde gehen, eine Liebe, die so alles verschlingend ist, dass sie weder kalkulieren, noch vernünftig sein, noch untersuchen kann, sondern nur um jeden Preis wagt.

Es wird allgemein angenommen, dass Männer, die dazu veranlasst werden, den Dolch oder die Kugel in das feige Herz der Regierung zu stoßen, eingebildet genug sind, zu glauben, dass sie dadurch die Welt von den Fesseln der Despotie befreien werden. Soweit ich die Psychologie einer Gewalttat studiert habe, stelle ich fest, dass nichts weiter von dem Gedanken eines solchen Mannes entfernt sein könnte, als dass der Mob aufhören wird, „Lang lebe der König!“ zu rufen, wenn der König tot wäre.

Der Grund für eine solche Tat liegt tiefer, viel zu tief, als dass die oberflächliche Menge ihn begreifen könnte. Er liegt in der Tatsache, dass die Welt im Inneren des Individuums und die Welt um ihn herum zwei antagonistische Kräfte sind und daher aufeinanderprallen müssen.

Will ich damit sagen, dass Czolgosz aus diesem Material gemacht ist? Nein. Ich kann aber auch nicht sagen, dass er es nicht ist. Ich bin auch nicht in der Lage zu sagen, ob er ein Anarchist ist oder nicht; ich kannte den Mann nicht; soweit ich weiß, scheint ihn niemand gekannt zu haben, aber aufgrund seiner bisherigen Haltung und seines Verhaltens (ich hoffe, dass kein Leser von „Free Society“ den Zeitungslügen Glauben geschenkt hat) habe ich das Gefühl, dass er eine Seele voller Schmerz war, eine Seele, die in unserer grausamen Welt keinen Platz fand, eine Seele, die „unpraktisch“, unzweckmäßig und unvorsichtig war (gemäß dem Diktum der Weisen); aber dennoch wagemutig, und ich kann nicht anders, als mich in ehrfürchtigem Schweigen vor der Kraft einer solchen Seele zu verneigen, die die engen Mauern ihres Gefängnisses durchbrochen und einen gewagten Sprung ins Unbekannte gewagt hat.

Nachdem ich gezeigt habe, dass Gewalt nicht das Ergebnis persönlichen Einflusses oder eines bestimmten Ideals ist, halte ich es für unnötig, in eine langwierige theoretische Diskussion darüber einzusteigen, ob der Anarchismus das Element der Gewalt enthält oder nicht. Die Frage wurde immer wieder diskutiert, und es ist erwiesen, dass Anarchismus und Gewalt so weit voneinander entfernt sind wie Freiheit und Tyrannei. Es ist mir egal, was der Pöbel sagt; aber denen, die noch in der Lage sind zu verstehen, möchte ich sagen, dass der Anarchismus als Lebensphilosophie darauf abzielt, einen Zustand der Gesellschaft zu schaffen, in dem die innere Verfassung des Menschen und die Bedingungen um ihn herum harmonisch miteinander verschmelzen können, so dass er in der Lage ist, alle Kräfte zu nutzen, um das Leben um ihn herum zu erweitern und zu verschönern. Denen möchte ich auch sagen, dass ich nicht für Gewalt bin; das ist Aufgabe der Regierung, und Gewalt erzeugt Gegengewalt. Das ist eine Tatsache, die sich nicht durch die Verfolgung einiger weniger Männer und Frauen oder durch strengere Gesetze beseitigen lässt – das führt nur dazu, dass sie zunimmt.

Gewalt wird eines natürlichen Todes sterben, wenn die Menschen lernen zu verstehen, dass jede Einheit ihren Platz im Universum hat und, obwohl eng miteinander verbunden, frei bleiben muss, um zu wachsen und sich auszudehnen.

Einige Leute haben vorschnell gesagt, dass Czolgosz‘ Tat töricht war und das Wachstum des Fortschritts bremsen wird. Diese ehrenwerten Menschen ziehen voreilige Schlüsse. Niemand kann sagen, welche Folgen die Tat vom 6. September haben wird; eines ist jedoch sicher: Er hat die Regierung an ihrer empfindlichsten Stelle getroffen. Das Rad des Fortschritts aufzuhalten, ist absurd. Ideen können nicht durch Zurückhaltung aufgehalten werden. Und was die kleinliche polizeiliche Verfolgung betrifft, was macht das schon?

Während ich dies schreibe, schweifen meine Gedanken zur Todeszelle in Auburn, zu dem jungen Mann mit dem mädchenhaften Gesicht, der kurz davor steht, durch die groben, brutalen Hände des Gesetzes hingerichtet zu werden, der in der engen Zelle auf und ab geht, mit kalten, grausamen Augen, die ihn verfolgen,

die ihn beobachten, wenn er versucht zu weinen,

und wenn er versucht zu beten;

die ihn beobachten, damit er nicht selbst

Das Gefängnis seiner Beute berauben könnte.

Und mein Herz geht in tiefem Mitgefühl zu ihm und zu allen Opfern eines Systems der Ungleichheit und zu den vielen, die als Vorreiter eines besseren, edleren, großartigeren Lebens sterben werden.

Emma Goldman


Der Revolver von Czolgosz

Veröffentlicht am 26. Oktober 1901 in der anarchistischen Zeitung „El Rebelde“ aus Buenos Aires.

Aus der Beilage unseres Kollegen zur Revista Blanca transkribieren wir die interessante Korrespondenz aus New York, die unten eingefügt ist, mit einigen durchgestrichenen Absätzen über die Wechselfälle, die Mr. McKinley vor seinem Tod erlitt. Bitte lest sie aufmerksam. Stürmische Zeiten in der großen amerikanischen Republik sind angebrochen. Im ganzen Land sind zahlreiche Illustrationen und geistige Werke zu sehen, die zeigen, wie die industrielle und soziale Revolution den politischen und ökonomischen Körper der Nation umgestaltet und etwas Neues und Fremdes in sie einführt.

Das Ausmaß der teilrevolutionären Bewegungen des riesigen Heeres der amerikanischen Proletarier hat die Grenzen des bisher Bekannten im In- und Ausland überschritten. Es ist nicht nötig, über die großen Streiks der Bauarbeiter, der Bergleute, der Maschinisten, der Gewerkschaften/Syndikate in San Francisco, der riesigen Handwerksbetriebe, der Straßenbahnarbeiter, der Tabakarbeiter, der Schneider, der Stahl- und anderen Metallarbeiter und hundert anderer Branchen zu sprechen. Es genügt zu wissen, dass sich in den letzten acht Monaten mehr als eine Million Arbeiter gegen die Bosse aufgelehnt haben und dass weitere vier Millionen Menschen direkt von den Streiks betroffen waren. Bei diesen Streiks kam es zu immensen Börsenverlusten, Selbstmorden, Konkursen, der Zerstörung rosiger Träume für die einen und fabelhaften Gewinnen für die anderen, unter den Kapitalisten.

Die Arbeiter wurden manchmal von Soldaten, Polizisten usw. angegriffen und mussten den Verlust einiger Gefährten beklagen, die getötet, andere verwundet, einige ins Gefängnis und andere zur Deportation geschickt wurden. Es wurde viel gewonnen und einiges verloren. Trotzdem geht die Lohnsklaverei weiter, und die Privilegien des Kapitals sind immer noch sicher, und das protestantische Elend, die Lohnabhängigen, können nichts dagegen tun.

In Tampa streiken 6.000 Arbeiter für eine Erhöhung der Löhne; weitere 15.000 Streikende kämpfen um ein Auskommen, das sie nicht finden können; die Tabakarbeiter richten zwölf ökonomische Küchen ein und ernähren darin ein ganzes Volk, das vom bourgeoisen Hass blockiert ist. Streikende und Nichtstreikende ernähren sich nicht nur als Gemeinschaft, sondern stellen sogar Ärzte und Medikamente für alle bereit.

Der Streik wird auf dem legalen Weg geführt. Die Streikenden, alle spanischsprachig, halten Ordnung und Kultur aufrecht, bleiben aber in ihren Forderungen hartnäckig. Eines Tages treffen sich die Fabrikanten, die Behörden und die Bourgeoisie der Stadt und beschließen, einen Überfall zu verüben. Mitten in der Nacht kidnappen sie das Streikkomitee. Dreizehn Gefährten wurden von bewaffneten Banditen heimlich aus ihrem Haus entführt und auf mysteriöse Weise in den Golf von Mexiko gebracht, auf ein Piratenschiff verladen und an die Küste von Honduras transportiert, wo sie an einem verlassenen Ort ausgesetzt wurden, wo ihre Henker glaubten, sie würden verhungern. Später führte ein Indianer sie zu einem zivilisierten Ort, Trujillo, und von dort aus kehrten sie nach Key West zurück, im Angesicht der tampereanischen Entführer. Es ist eine wahre Geschichte, die sich wie ein Roman liest. Nach den Entführungen wollte die Bourgeoisie die ökonomischen Küchen schließen, aber das gelang ihnen nicht. Unter den Entführten war auch der Schatzmeister der Unión de Tabaqueros (A.d.Ü., Gewerkschaft/Syndikat der Tabakbauern), der 32.000 Pesos mit seiner Unterschrift in zwei Banken deponiert hatte. Durch seine Entführung sollte den Streikenden die notwendige Unterstützung vorenthalten werden, aber die Arbeiter des Handels in New York, Kuba usw. schickten die Gelder an ihre Gewerkschaften/Syndikate. Die Bourgeoisie von Tampa tat noch mehr: Sie warf alle Familien der Streikenden auf die Straße; heute leben sie auf dem Land unter Zelten. Andere sind ausgewandert. Bei all diesem Banditentum, das gegen die Gesetze des Rechts und der Menschlichkeit verstieß, taten die Behörden in Washington nichts für die Gerechtigkeit. McKinley drückte ein Auge zu; in der Zwischenzeit litten Tausende von Kreaturen unermesslich. Die Magnaten des milliardenschweren Steel Trust holten alle blinden Passagiere aus den Staaten, die von dem Monsterstreik betroffen waren, und begannen, Streikbrecher zu importieren und in den Fabriken einzusetzen. Erst gestern erklärte der Erzmilliardär und Präsident den Presseleuten, dass der Trust die Gewerkschaften/Syndikate der Arbeiter zerstören würde. Dass er einen totalen Krieg gegen diese Organisationen führen würde. Die Streikenden baten kürzlich um einige ehrenhafte Zugeständnisse, um den Konflikt zu beenden. Der Trust antwortete, dass er genug Kraft habe, um die Stahlarbeiter nach Belieben zu beherrschen, zu stören und zu unterwerfen. McKinley würde sich den ruchlosen Plänen des Trusts nicht in den Weg stellen. In einigen Städten begann die Inhaftierung der Streikenden, andere ließen ihre kleinen Holzhäuser beschlagnahmen und waren völlig verzweifelt.

Aus Puerto Rico meldet der Telegraf, dass Tausende von Menschen unter schrecklichem Hunger leiden. Dass die Lebensgrundlagen am Ende sind; dass die Einheimischen zur Auswanderung gezwungen sind; dass die Menschen, wenn sie protestieren, geschlagen werden, und dass eine republikanische Zeitung erklärt, „dass es ein Glück wäre, wenn dieser Wettlauf bald vorbei wäre.“ Washington tut nichts, und McKinley, der Menschenfreund, schweigt!… 6.000 Tote auf den Philippinen werden gemeldet. McKinley bleibt still. Die Presse kümmert sich nicht viel um menschliche Katastrophen. Was macht es schon, dass es in den Vereinigten Staaten vier Millionen Arbeiter gibt, die 25 Cent am Tag verdienen? Dass in Paterson einige Mütter großer Familien Brot stehlen mussten, um ihre Kinder zu ernähren? Dass eine Mutter ihr Kind vor dem Verhungern rettete, indem sie es mit dem Brot fütterte, das sie im Gefängnis bekam, und selbst das Wasser trank? Dass es täglich zehn Selbstmorde aufgrund von Elend gibt? Dass Menschen aus Mangel an Unterkunft und Brot unter Brücken sterben? Die Presse kümmert sich nicht um solche Kleinigkeiten. Stattdessen geht Leon Czolgosz nach Buffalo und feuert zwei Schüsse auf Präsident McKinley ab, vielleicht um seine Assoziierten wachzurütteln und ihnen zu zeigen, welche großen Ungerechtigkeiten und Schandtaten in der großen Republik begangen werden. Die Presse füllt Tausende von Seiten mit Lobeshymnen auf den großen McKinley, den Menschenfreund, den Weisen und Patrioten.

Leon Czolgosz ist Amerikaner, geboren in Detroit, Michigan, achtundzwanzig Jahre alt, Schmied von Beruf, hellbraun, blauäugig, naturgelocktes Haar, kräftig, stämmig gebaut, sein hübsches, jugendliches Aussehen verrät große Intelligenz und edle Gesinnung.

Als er die beiden Schüsse im Musikpalast in Buffalo abfeuerte, war er so elegant gekleidet und hatte so gute Manieren, dass der Präsident nicht zögerte, Leon die Hand zu schütteln, der in seinem Herzen die Idee hatte, mit dem obersten Richter der Republik die sozialen Verbrechen zu bestrafen, die in dieser kosmopolitischen Nation täglich begangen werden. Leon sagte, als er die erste Aussage machte: „Mein Name ist Leon F. Czolgosz. Mein Wunsch war es, den Präsidenten zu töten. Ich hatte mir vorgenommen, dies zu tun, und in drei Tagen hatte ich meinen Plan ausgearbeitet. Die Hand, in der ich den Revolver trug, rollte ich mit einem Taschentuch zusammen. Dann ging ich direkt zum Präsidenten und feuerte vor seinen Augen. Ich habe keine Komplizen; ich habe nur meine Tat ausgeführt. Ich bin ein Anarchist, ich glaube an diese Ideen und liebe sie. Ich glaube nicht an die Regierungsform meines Landes, ich glaube an keine Regierung, weil sie alle das schreckliche Elend und die Sklaverei der meisten hervorbringen; aus diesem Grund glaube ich, dass es meine Pflicht ist, den Präsidenten zu töten. Ich bin ein Anarchist; ich habe meine Pflicht getan. Ich habe keine Komplizen, das schwöre ich“.

Trotz Leons kategorischen Aussagen wurden zwölf anarchistische Gefährten in Chicago verhaftet: drei Frauen und neun Männer. Die meisten von ihnen sind Redakteure der Zeitung Free Society. Perspektivisch wird sich die Zahl der Verhaftungen auf ein halbes Hundert belaufen. In der Zwischenzeit werden die Gefährtin Emma Goldman und andere Gefährten verfolgt. Emma wird beschuldigt, dass Leon sie über Anarchie reden hörte und dies sie zu der Tat veranlasste.

Die Boulevardpresse leitet die öffentliche Meinung und die Machthaber dazu an, den Anarchisten viel mehr zu tun als Chicago ’87, wenn möglich, die Anarchisten in Scharen zu fangen und sie zu verbrennen.

Es besteht natürlich kein Zweifel daran, dass einige Unschuldige getötet oder zumindest lebenslang ins Gefängnis geschickt werden. Aber was macht das schon? Das Elend und die Sklaverei werden weitergehen, und die Rebellen werden daraus hervorgehen.

Leon Czolgosz wird nicht der letzte Anarchist sein.

Regierungen und Kapitalisten müssen davon überzeugt werden, dass selbst wenn Anarchisten solche individuellen Taten verhindern wollten, es für sie unmöglich wäre. Leon war kaum jemandem als militanter Anarchist bekannt, aber die Polizei und die erbärmliche Presse erfanden Komplotte, um viele unschuldige Gestalten links und rechts zu verhaften. Leons Familie kam aus Polen und Deutschland. Sie sind eine elfköpfige Familie: der Vater, die Schwiegermutter und acht Geschwister, von denen die ältesten Arbeiter und Soldaten sind. Die Jüngsten sind ärmlich gekleidet und barfuß. Die Arbeit reicht nicht aus, um so viele Kinder zu ernähren. Leons Haus ist eine kleine Kaserne für proletarische Sklaven.

Der Besitzer des kleinen Hotels, in dem Leon in Buffalo wohnte, erklärt: „Der junge Leon war sehr zurückhaltend, trank nicht und hat nie jemanden um einen Gefallen gebeten. Er war sehr freundlich; er ging tagsüber aus und kam abends nach Hause, ohne jemanden zu belästigen. Er war sehr nett und höflich. Er zahlte pünktlich und gab nichts zu tun. Er rief nie einen Bediensteten an.“

In letzter Minute soll Leon gesagt haben: Er würde McKinley wieder erschießen, wenn er die Gelegenheit dazu hätte. Es ist ein Glück für die Anarchisten in dieser Republik, dass Leon in diesem Land geboren wurde, denn wäre er Italiener oder Franzose gewesen, wäre die Presse noch wütender und kannibalischer gegen AUSLÄNDISCHE Anarchisten vorgegangen. Leons Tat hat das amerikanische Volk erschüttert. Lasst die stürmischen Zeiten rollen und lasst das Neue und Fremde in dieser MODELL-Republik erkennen, dass seine Millionen aus den Millionen proletarischer Sklaven hergestellt werden, die von der Ausbeutung zu Tode gequetscht werden.

M.S. PANTIN.

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Die Heuchelei des Puritanismus (Emma Goldman 1917) https://panopticon.blackblogs.org/2023/05/24/die-heuchelei-des-puritanismus-emma-goldman-1917/ Wed, 24 May 2023 11:49:10 +0000 http://panopticon.blackblogs.org/?p=4981 Continue reading ]]> Gefunden auf marxists.org, die Übersetzung ist von uns.


Die Heuchelei des Puritanismus (Emma Goldman 1917)

Erstmals veröffentlicht: Emma Goldman, Anarchism and Other Essays (Dritte überarbeitete Auflage), New York: Mother Earth Publishing Association, 1917.


Als er über den Puritanismus in Bezug auf die amerikanische Kunst sprach, sagte Gutzon Borglum:

„Der Puritanismus hat uns so lange egozentrisch und heuchlerisch gemacht, dass uns Aufrichtigkeit und Ehrfurcht vor dem, was in unseren Impulsen natürlich ist, regelrecht herausgezüchtet wurden, mit dem Ergebnis, dass es in unserer Kunst weder Wahrheit noch Individualität geben kann.“

Herr Borglum hätte hinzufügen können, dass der Puritanismus das Leben selbst unmöglich gemacht hat. Mehr als die Kunst, mehr als der Ästhetizismus, stellt das Leben die Schönheit in tausend Variationen dar; es ist in der Tat ein gigantisches Panorama des ewigen Wandels. Der Puritanismus hingegen beruht auf einer festen und unverrückbaren Vorstellung vom Leben; er basiert auf der calvinistischen Idee, dass das Leben ein Fluch ist, der dem Menschen durch den Zorn Gottes auferlegt wurde. Um sich zu erlösen, muss der Mensch ständig Buße tun, jeden natürlichen und gesunden Impuls verleugnen und sich von Freude und Schönheit abwenden.

Der Puritanismus feierte im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert in England seine Schreckensherrschaft und zerstörte und zermalmte jede Manifestation von Kunst und Kultur. Es war der Geist des Puritanismus, der Shelley seine Kinder raubte, weil er sich nicht dem Diktat der Religion beugen wollte. Es war derselbe engstirnige Geist, der Byron von seinem Heimatland entfremdete, weil das große Genie gegen die Eintönigkeit, Langweiligkeit und Kleinlichkeit seines Landes rebellierte. Es war auch der Puritanismus, der einige der freiesten Frauen Englands in die konventionelle Lüge der Ehe zwang: Mary Wollstonecraft und später auch George Eliot. Und vor kurzem hat der Puritanismus einen weiteren Tribut gefordert – das Leben von Oscar Wilde. Tatsächlich ist der Puritanismus seit jeher der schädlichste Faktor im Reich von John Bull, der als Zensor der künstlerischen Ausdrucksformen seines Volkes fungiert und nur die Dumpfheit der mittelständischen Respektabilität absegnet.

Es ist also purer britischer Jingoismus, der Amerika als das Land des puritanischen Provinzialismus bezeichnet. Es stimmt, dass unser Leben durch den Puritanismus verkümmert ist und dass dieser das Natürliche und Gesunde in unseren Impulsen abtötet. Aber es ist auch wahr, dass wir es England zu verdanken haben, dass dieser Geist auf amerikanischem Boden Einzug gehalten hat. Er wurde uns von den Pilgervätern vermacht. Auf der Flucht vor Verfolgung und Unterdrückung errichteten die Pilger der Mayflower in der Neuen Welt eine Herrschaft der puritanischen Tyrannei und des Verbrechens. Die Geschichte Neuenglands und insbesondere von Massachusetts ist voll von den Schrecken, die das Leben in Düsternis, Freude und Verzweiflung, Natürlichkeit in Krankheit, Ehrlichkeit und Wahrheit in abscheuliche Lügen und Heuchelei verwandelt haben. Der Entenschemel und der Peitschenpfahl sowie zahlreiche andere Foltermethoden waren die beliebtesten englischen Methoden zur Reinigung der Amerikaner.

Boston, die Stadt der Kultur, ist in die Annalen des Puritanismus als „blutige Stadt“ eingegangen. Sie rivalisierte sogar mit Salem, was die grausame Verfolgung nicht genehmigter religiöser Ansichten anging. Auf dem berühmten Common wurde eine halbnackte Frau mit einem Baby auf dem Arm wegen des Verbrechens der freien Meinungsäußerung öffentlich ausgepeitscht; und an der gleichen Stelle wurde 1659 Mary Dyer, eine weitere Quäkerin, gehängt. Tatsächlich war Boston der Schauplatz von mehr als einem mutwilligen Verbrechen, das der Puritanismus begangen hat. In Salem wurden im Sommer 1692 achtzehn Menschen wegen Hexerei getötet. Massachusetts war auch nicht der einzige Staat, der den Teufel mit Feuer und Schwefel vertrieb. Wie Canning zu Recht sagte: „Die Pilgerväter haben die Neue Welt heimgesucht, um das Gleichgewicht der Alten Welt wiederherzustellen.“ Die Schrecken dieser Zeit haben ihren höchsten Ausdruck in dem amerikanischen Klassiker Der scharlachrote Buchstabe gefunden.

Der Puritanismus benutzt zwar nicht mehr die Daumenschraube und die Peitsche, aber er hat immer noch einen äußerst schädlichen Einfluss auf den Verstand und die Gefühle des amerikanischen Volkes. Nichts anderes kann die Macht eines Comstocks erklären. Wie die Torquemadas der Vor-Bellum-Zeit ist Anthony Comstock der Alleinherrscher der amerikanischen Moral; er diktiert die Maßstäbe für Gut und Böse, für Reinheit und Laster. Wie ein Dieb in der Nacht schleicht er sich in das Privatleben der Menschen, in ihre intimsten Beziehungen. Das Spionagesystem, das dieser Mann Comstock aufgebaut hat, stellt die berüchtigte Dritte Abteilung der russischen Geheimpolizei in den Schatten. Warum duldet die Öffentlichkeit einen solchen Angriff auf ihre Freiheiten? Ganz einfach, weil Comstock nur der lautstarke Ausdruck des Puritanismus ist, der den Angelsachsen im Blut liegt und von dem sich selbst Liberale noch nicht vollständig emanzipieren konnten. Die visionslosen und bleiernen Elemente der alten Young Men’s and Women’s Christian Temperance Unions, der Purity Leagues, der American Sabbath Unions und der Prohibition Party mit Anthony Comstock als Schutzpatron sind die Totengräber der amerikanischen Kunst und Kultur.
Europa kann sich zumindest einer kühnen Kunst und Literatur rühmen, die sich tief in die sozialen und sexuellen Probleme unserer Zeit hineinbegeben und eine scharfe Kritik an all unseren Betrügereien üben.

Wie mit dem Messer eines Chirurgen wird jeder puritanische Kadaver zerlegt und so der Weg für die Befreiung des Menschen von den toten Lasten der Vergangenheit geebnet. Aber mit dem Puritanismus als ständiger Kontrolle des amerikanischen Lebens ist weder Wahrheit noch Aufrichtigkeit möglich. Nichts als Düsternis und Mittelmäßigkeit diktieren das menschliche Verhalten, schränken die natürlichen Ausdrucksmöglichkeiten ein und unterdrücken unsere besten Triebe. Der Puritanismus ist im zwanzigsten Jahrhundert genauso ein Feind von Freiheit und Schönheit, wie er es war, als er auf dem Plymouth Rock landete. Er lehnt sie ab, aber da er die wahren Funktionen der menschlichen Gefühle nicht kennt, ist der Puritanismus selbst der Urheber der unsagbarsten Laster.

Die gesamte Geschichte der Askese beweist, dass dies nur zu wahr ist. Sowohl die Kirche als auch der Puritanismus haben das Fleisch als etwas Böses bekämpft; es musste um jeden Preis unterdrückt und versteckt werden. Das Ergebnis dieser bösartigen Haltung wird erst jetzt von modernen Denkern und Erziehern erkannt. Sie erkennen, dass „Nacktheit sowohl einen hygienischen Wert als auch eine spirituelle Bedeutung hat, die weit darüber hinausgeht, dass sie die natürliche Neugierde der Jugendlichen besänftigt oder krankhaften Gefühlen vorbeugt. Sie ist eine Inspiration für Erwachsene, die längst über ihre jugendliche Neugierde hinausgewachsen sind. Der Anblick der essenziellen und ewigen menschlichen Gestalt, die uns in ihrer Kraft, Schönheit und Anmut am nächsten ist, ist eines der wichtigsten Stärkungsmittel des Lebens.“1 Aber der Geist des Purismus hat den menschlichen Geist so verdorben, dass er die Schönheit der Nacktheit nicht mehr zu schätzen weiß und uns zwingt, die natürliche Form unter dem Vorwand der Keuschheit zu verbergen. Die Keuschheit selbst ist jedoch nur eine künstliche Auferlegung der Natur, die eine falsche Scham über die menschliche Gestalt zum Ausdruck bringt. Die moderne Vorstellung von Keuschheit, besonders in Bezug auf die Frau, ihr größtes Opfer, ist nichts anderes als die sinnliche Übertreibung unserer natürlichen Triebe. „Die Keuschheit hängt von der Menge der Kleidung ab“, und deshalb beeilen sich Christen und Puristen stets, den „Heiden“ mit Fetzen zu bedecken und ihn so zu Güte und Keuschheit zu bekehren.

Der Puritanismus mit seiner Pervertierung der Bedeutung und Funktionen des menschlichen Körpers, insbesondere in Bezug auf die Frau, hat sie zum Zölibat, zur wahllosen Zucht einer kranken Rasse oder zur Prostitution verdammt. Die Ungeheuerlichkeit dieses Verbrechens gegen die Menschlichkeit wird deutlich, wenn wir die Folgen betrachten. Der unverheirateten Frau wird absolute sexuelle Enthaltsamkeit auferlegt, mit der Folge, dass sie als unmoralisch oder abgefallen gilt. Dies führt zu Nervenschwäche, Impotenz, Depressionen und einer Vielzahl von Nervenleiden, die mit verminderter Arbeitsfähigkeit, eingeschränkter Lebensfreude, Schlaflosigkeit und der Beschäftigung mit sexuellen Wünschen und Vorstellungen einhergehen. Das willkürliche und verderbliche Diktum der totalen Kontinenz erklärt wahrscheinlich auch die geistige Ungleichheit der Geschlechter. So glaubt Freud, dass die intellektuelle Unterlegenheit so vieler Frauen auf die Denkhemmung zurückzuführen ist, die ihnen zum Zweck der sexuellen Repression auferlegt wurde. Nachdem der Puritanismus die natürlichen sexuellen Wünsche der unverheirateten Frau unterdrückt hat, segnet er andererseits ihre verheiratete Schwester für ihre unkontinuierliche Fruchtbarkeit in der Ehe. Er segnet sie sogar nicht nur, sondern zwingt die durch die vorherige Repression übersexualisierte Frau, Kinder zu gebären, ungeachtet ihrer geschwächten körperlichen Verfassung oder ihrer ökonomischen Unfähigkeit, eine große Familie zu gründen. Verhütung, selbst mit wissenschaftlich sicheren Methoden, ist absolut verboten; ja, schon die Erwähnung des Themas wird als kriminell angesehen.

Dank dieser puritanischen Tyrannei sind die meisten Frauen schon bald am Ende ihrer körperlichen Kräfte. Krank und erschöpft sind sie völlig unfähig, ihre Kinder auch nur ansatzweise zu versorgen. Zusammen mit dem ökonomischen Druck zwingt das viele Frauen dazu, lieber das Äußerste zu riskieren, als weiter Leben zu gebären. Der Brauch, Abtreibungen vorzunehmen, hat in Amerika so große Ausmaße angenommen, dass es kaum noch zu glauben ist. Jüngste Untersuchungen haben ergeben, dass auf hundert Schwangerschaften siebzehn Abtreibungen entfallen. Dieser erschreckende Prozentsatz bezieht sich nur auf die Fälle, die den Ärzten bekannt sind. In Anbetracht der Geheimhaltung, in die diese Praxis notwendigerweise gehüllt ist, und der daraus resultierenden Ineffizienz und Vernachlässigung, fordert der Puritanismus ständig Tausende von Opfern für seine eigene Dummheit und Heuchelei.

Obwohl die Prostitution gejagt, eingesperrt und in Ketten gelegt wird, ist sie dennoch der größte Triumph des Puritanismus. Sie ist sein liebstes Kind, ungeachtet aller heuchlerischen Scheinheiligkeit. Die Prostituierte ist die Furie unseres Jahrhunderts, die wie ein Wirbelsturm über die „zivilisierten“ Länder hinwegfegt und eine Spur von Krankheit und Unheil hinterlässt. Das einzige Heilmittel, das der Puritanismus für dieses ungeborene Kind anbietet, ist eine noch stärkere Repression und eine noch gnadenlosere Verfolgung. Der neueste Frevel ist das Page-Gesetz, das dem Staat New York das schreckliche Versagen und Verbrechen Europas auferlegt, nämlich die Registrierung und Identifizierung der unglücklichen Opfer des Puritanismus. Auf ebenso dumme Weise versucht der Puritanismus, die schreckliche Geißel seiner eigenen Schöpfung einzudämmen – die Geschlechtskrankheiten. Besonders entmutigend ist, dass dieser Geist der stumpfen Engstirnigkeit sogar unsere so genannten Liberalen vergiftet und sie dazu verleitet hat, sich dem Kreuzzug gegen genau das anzuschließen, was aus der Heuchelei des Puritanismus entstanden ist – Prostitution und ihre Folgen. In vorsätzlicher Blindheit weigert sich der Puritanismus zu sehen, dass die wahre Präventionsmethode diejenige ist, die allen klar macht, dass „Geschlechtskrankheiten keine mysteriöse oder schreckliche Sache sind, die Strafe für die Sünde des Fleisches, eine Art schändliches Übel, das durch puristische Verleumdung gebrandmarkt wird, sondern eine gewöhnliche Krankheit, die behandelt und geheilt werden kann.“ Der Puritanismus hat mit seinen Methoden der Verdunkelung, Verschleierung und Verheimlichung günstige Bedingungen für das Wachstum und die Verbreitung dieser Krankheiten geschaffen. Die Bigotterie des Puritanismus zeigt sich am deutlichsten in der sinnlosen Haltung gegenüber der großen Entdeckung von Prof. Ehrlich, der das wichtige Heilmittel gegen Syphilis mit vagen Anspielungen auf ein Mittel gegen „ein bestimmtes Gift“ verschleierte.

Die fast grenzenlose Fähigkeit des Puritanismus zum Bösen ist darauf zurückzuführen, dass er sich hinter dem Staat und dem Gesetz verschanzt. Unter dem Vorwand, das Volk vor „Unmoral“ zu schützen, hat er den Staatsapparat imprägniert und seiner Anmaßung der moralischen Vormundschaft die gesetzliche Zensur unserer Ansichten, Gefühle und sogar unseres Verhaltens hinzugefügt.

Kunst, Literatur, das Theater, das Postgeheimnis, ja sogar unsere intimsten Vorlieben sind diesem unerbittlichen Tyrannen ausgeliefert. Anthony Comstock oder ein anderer ebenso ignoranter Polizist hat die Macht erhalten, das Genie zu entweihen und die erhabenste Schöpfung der Natur – die menschliche Gestalt – zu beschmutzen und zu verstümmeln. Bücher, die sich mit den wichtigsten Fragen unseres Lebens befassen und versuchen, Licht in gefährlich verdunkelte Probleme zu bringen, werden gesetzlich als Straftaten behandelt und ihre hilflosen Autoren ins Gefängnis geworfen oder in die Zerstörung und den Tod getrieben.

Nicht einmal im Herrschaftsbereich des Zaren wird die persönliche Freiheit täglich in einem solchen Ausmaß beschnitten wie in Amerika, der Hochburg der puritanischen Eunuchen. Hier ist der Sonntag, der einzige Tag der Erholung, der den Massen bleibt, abscheulich und völlig unmöglich gemacht worden. Alle Autoren, die sich mit primitiven Bräuchen und der antiken Zivilisation befassen, sind sich einig, dass der Sabbat ein Tag der Feste war, frei von Sorgen und Pflichten, ein Tag der allgemeinen Freude und des Frohsinns. In allen europäischen Ländern sorgt diese Tradition für eine gewisse Erleichterung im Vergleich zur Eintönigkeit und Dummheit unseres christlichen Zeitalters. Überall füllen sich Konzertsäle, Theater, Museen und Gärten mit Männern, Frauen und Kindern, vor allem mit Arbeiterinnen und Arbeitern und ihren Familien, die voller Leben und Freude sind und die normalen Regeln und Konventionen ihres Alltags vergessen. An diesem Tag zeigen die Massen, was das Leben in einer gesunden Gesellschaft wirklich bedeuten könnte, in der die Arbeit von ihrem gewinnbringenden und seelenzerstörenden Zweck befreit ist.

Der Puritanismus hat den Menschen sogar diesen einen Tag geraubt. Natürlich sind nur die Arbeiterinnen und Arbeiter davon betroffen: Unsere Millionäre haben ihre luxuriösen Häuser und ausgeklügelten Clubs. Die Armen hingegen sind zur Monotonie und Langweiligkeit des amerikanischen Sonntags verdammt. Die Geselligkeit und der Spaß des europäischen Lebens unter freiem Himmel werden hier mit der Düsternis der Kirche, der stickigen, keimgesättigten Landstube oder der verrohenden Atmosphäre des Hinterzimmersaloons vertauscht. In den Prohibitionsstaaten fehlt es den Menschen sogar an letzterem, es sei denn, sie können ihren mageren Verdienst in gepanschten Schnaps investieren. Was die Prohibition angeht, weiß jeder, was für eine Farce sie ist. Wie alle anderen Errungenschaften des Puritanismus hat auch sie den „Teufel“ nur noch tiefer in das menschliche System getrieben. Nirgendwo sonst trifft man so viele Trunkenbolde wie in unseren Prohibitionsstädten. Aber solange man den fauligen Atem der Heuchelei mit Duftbonbons lindern kann, ist der Puritanismus siegreich. Angeblich ist die Prohibition aus Gründen der Gesundheit und der Ökonomie gegen den Alkohol, aber da der Geist der Prohibition selbst abnormal ist, schafft sie nur ein abnormales Leben.

Jede Anregung, die die Fantasie beflügelt und die Lebensgeister weckt, ist für unser Leben so notwendig wie Luft. Er belebt den Körper und vertieft unsere Sicht auf die menschliche Gemeinschaft. Ohne Anreize in der einen oder anderen Form ist schöpferische Arbeit unmöglich, ebenso wie der Geist der Freundlichkeit und Großzügigkeit. Die Tatsache, dass einige große Genies zu oft ihr Spiegelbild im Kelch gesehen haben, rechtfertigt nicht den Versuch des Puritanismus, die gesamte Bandbreite menschlicher Gefühle zu fesseln. Ein Byron und ein Poe haben die Menschheit tiefer bewegt als alles, was Puritaner je zu tun hoffen können. Erstere haben dem Leben Sinn und Farbe gegeben; letztere verwandeln rotes Blut in Wasser, Schönheit in Hässlichkeit, Vielfalt in Gleichförmigkeit und Verfall. Puritanismus, in welcher Form auch immer, ist ein giftiger Keim. Oberflächlich betrachtet mag alles stark und kraftvoll aussehen, doch das Gift bahnt sich beharrlich seinen Weg, bis das gesamte Gewebe dem Untergang geweiht ist. Mit Hippolyte Taine hat jeder wahrhaft freie Geist erkannt, dass „Puritanismus der Tod der Kultur, der Philosophie, des Humors und der guten Gemeinschaft ist; seine Merkmale sind Stumpfheit, Monotonie und Düsternis.“


1The Psychology of Sex, Havelock Ellis.

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Wenn wir kämpfen müssen, dann für die soziale Revolution – Mother Earth (1914) https://panopticon.blackblogs.org/2022/08/11/wenn-wir-kampfen-mussen-dann-fur-die-soziale-revolution-mother-earth-1914/ Thu, 11 Aug 2022 20:32:13 +0000 https://panopticon.noblogs.org/?p=2880 Continue reading ]]> Gefunden auf mgouldhawke, die Übersetzung ist von uns

Wenn wir kämpfen müssen, dann für die soziale Revolution – Mother Earth (1914)

Beobachtungen und Kommentare [Auszug]

Aus „Mother Earth“, Oktober 1914, veröffentlicht von Emma Goldman, herausgegeben von Alexander Berkman

Nicht weniger tragisch ist die unbestreitbare Tatsache, dass auch einige Anarchisten, von denen man hätte erwarten können, dass sie dem Internationalismus treu bleiben, vom Virus des Chauvinismus infiziert wurden. Einige von ihnen sind dafür, „die höheren Zivilisationen“ gegen den preußischen Militarismus zu verteidigen. Andere argumentieren, dass es „das Recht und die Pflicht“ Belgiens war, den fremden Eindringling abzuwehren, und dass sie deshalb mit den Alliierten sympathisieren.

Beide Argumente sind oberflächlich und trügerisch. Der preußische Militarismus kann nicht durch die militärische Macht anderer Länder zerstört werden. Eine solche Methode muss zu nationaler Verbitterung, Rachegedanken, verstärkter Aufrüstung und zukünftigen Kriegen führen. Das deutsche Volk selbst – niemand sonst – kann Deutschland vom Fluch des Militarismus befreien.

Und was die „Pflicht einer Nation, den Eindringling zurückzuschlagen“ angeht – wie H.K. in der Modernen Schule argumentiert – ist das eine Haltung, die bourgeoise Vorstellungen von nationalen Grenzziehungen und sklavischer „Ehre“ zum Ausdruck bringt. Die belgischen Arbeiter hatten nichts zu verlieren, als die Deutschen durch „ihr“ Land zogen. Aber sie verloren Tausende von Menschenleben, weil sie versuchten, die deutschen Stiefel von den heiligen Grenzen des Landes ihrer Herren fernzuhalten. Und wenn der „Eindringling“ auf der Durchreise durch Belgien versucht hätte, seine Armee zu versorgen, hätten die belgischen Arbeiter dadurch etwas zu verlieren? Warum sollten sie das Eigentum ihrer belgischen Ausbeuter gegen die ausländischen Enteigner verteidigen? Tatsächlich hätte der Anblick der Deutschen, die das Eigentum der belgischen Bourgeoisie enteigneten, den belgischen Arbeitern als nachahmenswertes Beispiel dienen können.

Wir haben keinerlei Sympathie für die „Libertären“ – seien sie nun Sozialisten, Anarchisten oder was auch immer -, deren philosophischer Internationalismus in dem Moment, in dem er auf die Probe gestellt wird, in übelsten Chauvinismus umkippt.


Wenn wir kämpfen müssen, dann für die soziale Revolution

Aus „Mother Earth“, Oktober 1914

Die Gesellschaft ist in einen weltweiten Krieg gestürzt, aber wir Anarchisten können keine Tränen über seine Schrecken vergießen, wie es die Sozialisten und andere sogenannte Philanthropen tun. WIR WISSEN, wie fleißig dieselben Heulsusen den Treibstoff aufgetürmt haben, der diese Feuersbrunst erst möglich gemacht hat.

Die Regierungen haben diesen Krieg verursacht. Die österreichische Regierung befahl ihren Sklaven, Serbien mit Feuer und Schwert zu überziehen. Die deutsche Regierung schnippte mit den Fingern vor den über vier Millionen sozialistischen Wählern und befahl ihren Sklaven, in Belgien einzumarschieren. Die amerikanische Regierung befahl ihren Sklaven mit heuchlerischem Schluchzen und Seufzen, Vera Cruz einzunehmen und hilflose Mexikaner abzuschlachten. Überall ist es das Gleiche. Überall ziehen skrupellose Manipulatoren, denen es nur um Profit, Macht und Ansehen geht, die Fäden und das Volk muss tanzen.

Das demokratische Amerika und England sind nicht einen Deut besser als das autokratische Russland. Das republikanische Frankreich zeigt uns genau das gleiche Bild wie das kaiserliche Deutschland. Beide treiben ihre Untertanen in den Ruin, wenn es den Zwecken der Wenigen dient. Das kann auch gar nicht anders sein, denn überall sind die Massen völlig hilflos. Überall ist die Macht in den Händen derer konzentriert, die die Regierungsmaschine bedienen.

Überall ist die Regierung eine Maschine, die von Politikern für ihren eigenen egoistischen Profit betrieben wird. In den Händen derer, die sie leiten, sind die Massen Knetmasse, die nach Belieben geformt werden kann. Vergeblich zetern wir in unseren Gewerkschaften/Syndikate. Vergeblich gründen wir neue Parteien, halten Massenversammlungen ab und melden unsere nutzlosen Proteste an. Die Maschinerie arbeitet unaufhaltsam weiter und kümmert sich kein bisschen darum.

Wer sind wir eigentlich? Niemand, denn wir sind hilflos. Nur Geld und Macht können etwas bewirken, und wir haben beides nicht. Besondere Privilegien und Monopole, die von der Regierung geschaffen wurden und von ihr geschützt werden, haben uns bis auf die Haut entblößt. Wir sind hilflose Opfer, festgebunden, gefesselt und bereit, gebraten zu werden, wenn die Herrschenden hungrig sind.

Proletariat der Welt! Denkende Männer und Frauen, wo auch immer ihr sein mögt, wir rufen euch auf, dem schrecklichen Bild ins Auge zu sehen, das die Welt heute bietet! Wir fordern euch auf, die allgemeine Hilflosigkeit des Volkes zur Kenntnis zu nehmen. Diese Hilflosigkeit muss beseitigt werden, und wir sagen euch, dass dies nur durch die Abschaffung von Monopolen und Sonderprivilegien erreicht werden kann. Wir sagen dir, dass der Einzelne so lange hilflos bleiben wird, bis diese riesigen Regierungen mit ihren Armeen und Flotten, ihren Schafställen und Gefängnissen und all den anderen brutalen Apparaten zur gewaltsamen Aufrechterhaltung von Sonderprivilegien mit der Wurzel ausgerottet sind.

Tränen ändern nichts. Hysterische Proteste erschöpfen nur unsere Kraft. Jetzt ist nicht die Zeit, um verwirrt herumzulaufen und zu fragen, was das bedeutet. Die Tatsache ist so klar, dass Worte darüber verschwendet sind. Die wenigen Mächtigen haben für ihre eigenen Zwecke das Schwert gezückt und zwingen die Vielen, sich gegenseitig die Kehle durchzuschneiden.

In blutigen Buchstaben, die man lesen kann, ist die Lektion geschrieben worden, und wir müssen sie meistern. Wir müssen eine zentrale Tatsache begreifen, nämlich dass die wenigen Mächtigen den vielen Machtlosen Mordaufträge erteilt haben und die vielen sie erfüllen mussten. Wir müssen diese Geschäftsordnung auslöschen. Wir müssen die Regierungsbedingungen auslöschen, die sie hervorgebracht haben.

Der Sozialismus, die Sozialisten und die gesamte sozialistische Philosophie haben uns getäuscht, wie die Welt wahrscheinlich noch nie getäuscht wurde. Anstatt uns zu lehren, uns auf uns selbst zu verlassen und individuell und kollektiv auf Chancengleichheit und ein faires Geschäft zu bestehen, haben sie uns erzählt, dass die Regierungen unsere Freunde sind; dass wir sie stärken müssen; dass wir sie mit Macht beladen müssen; dass wir sie unsere Eisenbahnen und Telegrafen betreiben lassen müssen; dass wir ihnen das Eigentum an diesem und die Verwaltung an jenem übertragen müssen; dass wir in immer größerer Zahl für sie arbeiten müssen; dass wir uns auf sie verlassen müssen, um all die besonderen Privilegien zu stürzen, die die Wenigen in Purpur und die Vielen in Lumpen kleiden. Nie gab es eine grausamere Lüge. Niemals wurden die Menschen mit schönen Worten und subtilen Theorien auf fatale Weise zu ihrem eigenen Untergang verführt.

Es ist die Regierung, die unser unbezahlbares Erbe, die Erde, unter einigen wenigen aufteilt und dieses Privileg mit all ihren militärischen und rechtlichen Kräften verteidigt. Es ist die Regierung, die den Millionär erschafft, und es ist die Regierung, die den hilflosen Armen, den sie erschaffen hat, ins Gefängnis wirft, wenn er es wagt, ein Stückchen Brot zu nehmen. Es ist die Regierung, die das Heer der Monopolisten, die uns beherrschen, und die Schar der Beamten, die unser Blut aussaugen, schafft und unterhält. Jeder neue Beamte ist ein weiterer Stein, der der Regierungsfestung hinzugefügt wird, hinter der Monopole und besondere Privilegien sicher ruhen, während von dort aus ein vernichtendes Feuer auf diejenigen ausgeht, die das Recht des Schmarotzers, sich selbst zu fressen, in Frage stellen. Es ist die Regierung, die dem friedlichen deutschen Arbeiter befiehlt, den friedlichen französischen Arbeiter zu erschießen, mit dem er nur gemeinsame Interessen hat; Interessen, die denen der herzlosen Wenigen, die die Kriegsmaschinerie in Gang setzen, diametral entgegengesetzt sind.

Dies ist die Stunde, in der du deine Denkmütze aufsetzen, das erschreckende Bild der Gesellschaft studieren und dich fragen solltest, was es bedeutet. Wenn du dieses Bild verstehst, wenn du seine klaren und einfachen Umrisse begreifst, wirst du die ganze Regierungsarbeit sofort in die Hölle werfen wollen, die ihr eigentliches Ziel ist. Du wirst dich sofort all dieser Müßiggänger entledigen wollen, vom Kaiser und Zaren bis hin zum Regierungsbeamten, der sein Leben damit verbringt, Befehle seiner Vorgesetzten in der offiziellen Hierarchie abzuschreiben. Du wirst alle Regierungsstützen, die das Haus der besonderen Privilegien aufrechterhalten, sofort aus dem Weg räumen wollen. Du wirst handeln wollen, und zwar effektiv. Du wirst sehen, dass halbe Schritte mehr als nutzlos sind.

Macht euch nichts vor! Indem ihr um das soziale Problem herumspielt, macht ihr die Dinge unendlich viel schlimmer. Ihr hattet Angst, das Problem direkt anzugehen. Ihr hattet Angst zu sagen: „Ich bin arm, weil der andere alles hat. Ich bin machtlos, weil ein paar wenige die ganze Macht haben.“ Vor allem aber, und das ist viel wichtiger als alles andere, hast du Angst zu sagen: „Der andere hat all den Reichtum und die Macht, weil unsere Regierung ihm hilft und ihn schützt.“ Diese geistige Feigheit ist eurer unwürdig.

Heute prophezeit die Presse, dass als Folge dieses Krieges die Köpfe der Könige fallen werden und Europa zu der Republik wird, die dieses Land zu sein vorgibt. Macht euch keine Illusionen! Der Krieg ist die grausamste aller Realitäten und der härteste Entlarver aller Täuschungen. Dieser Krieg entlarvt die Lüge, dass die Stimme Macht verleiht. Was kümmerten den Kaiser die 5.000.000 Stimmen der Sozialisten? Was kümmerte Diaz die Verfassung Mexikos, die 1856 verabschiedet wurde und noch liberaler ist als die, unter der wir leben? Der Franzose muss marschieren, wenn die Regierungsmaschine ihre Befehle gibt, obwohl Frankreich eine Republik ist. England ist theoretisch eine Demokratie, und nirgendwo ist so viel Redefreiheit erlaubt, doch die Massen sind dort hilfloser denn je. Überall hat sich die Lage rapide verschlechtert, denn überall haben wir diese allmächtigen Staatsapparate aufgebaut, die unsere Todfeinde sind. Wir müssen uns dieser wichtigen, zentralen Tatsache stellen.

Die Regierungen hängen alle an einem Strang. Sie wollen die Menschen gegeneinander aufhetzen, aber sie haben tödliche Angst davor, dass die Menschen sich gegen sie wenden und Krieg führen. Du wirst feststellen, dass unser eigener Regierungsapparat – aus dem Weißen Haus und aus den Rathäusern – die Öffentlichkeit auffordert, nicht über den Krieg zu diskutieren, sich daran zu erinnern, dass dieses Land neutral ist, und die Leidenschaft zu unterdrücken, die sie natürlich empfindet.

Nicht diskutieren! Dabei ist dies das Thema, das am dringendsten diskutiert werden muss, denn noch nie in der Geschichte wurde uns eine so ernste Lektion erteilt. Wir MÜSSEN es meistern.

Die Leidenschaft unterdrücken! Unsere Klasse wird zu Zehntausenden abgeschlachtet, und UNSERE Ehemänner, Liebhaber, Brüder und Brotverdiener werden ausgelöscht.

Es ist schlimm genug, dass unsere Regierungen uns als Kanonenfutter servieren. Es ist schlimm genug, dass sie uns in die Hilflosigkeit treiben. Aber unsere Intelligenz zu unterdrücken, unsere Nachforschungen in einer für uns so lebenswichtigen Angelegenheit zu unterbinden, uns daran zu hindern, die Wahrheit herauszufinden und die wahre Ursache für das Übel, das uns bedrängt, zu entdecken – das ist das unverzeihlichste aller Verbrechen, das man begehen kann. Und das geschieht auf Anweisung eines professionellen Erziehers – Woodrow Wilson!

Wir Anarchisten stellen euch diese Frage mutig. Wir sagen, dass ihr die Ursachen dieses Krieges diskutieren und verstehen müsst; ihr müsst die wahre Bedeutung des tragischen Bildes, das sich euch bietet, begreifen. Wir fordern euch auf, alle Energie auf die Lösung dieses sozialen Problems zu verwenden, das für uns alle Leben und Tod bedeutet. Wir sind zutiefst davon überzeugt, dass ihr weder auf dem militärischen Schlachtfeld noch auf dem noch schrecklicheren Schlachtfeld des Profitkrieges dauerhaft sicher sein könnt, solange ihr nicht mit den Regierungen Schluss macht, denn sie sind die Anstifter und Erzwinger aller Kriege. Wir bestehen darauf, dass ein vollständiger gesellschaftlicher Wandel stattfinden muss und dass die Gesellschaft sich so umgestalten muss, dass die Parasiten und die Regierungen, die sie schaffen und verteidigen, nicht mehr existieren.

Wir haben keine Allheilmittel außer Intelligenz und Mut. Wir sagen euch nicht, dass ihr eine andere und bessere Regierung schaffen könnt, denn an dieser hoffnungslosen Aufgabe bastelt ihr schon seit Jahrhunderten herum.

Wir sagen euch, dass ihr, wenn ihr die wahre Lektion dieses Krieges versteht, von der gleichen Empörung beflügelt sein werdet wie wir; dass eure Empörung euch Mut geben wird, und dass, wenn Intelligenz und Mut sich die Hände reichen, spontan Taten folgen werden und die Totenglocke der menschlichen Sklaverei geläutet wird.

Lasst sie erklingen, laut und deutlich! Verkünde allen Menschenkindern, dass sie geboren wurden, um individuell frei zu sein; geboren, um Chancengleichheit zu haben; geboren, um sich in gegenseitigem Einverständnis selbst zu regieren; geboren, um Brüder zu sein und nicht, um Befehlsgeber oder Befehlsempfänger zu sein. Beide Zustände sind der Würde des Menschen unwürdig, und was seiner Würde unwürdig ist, sollte zerstört werden. Nur dann werden wir den Frieden haben, von dem es müßig ist, zu reden, solange die Regierungen bestehen.

Dieser Krieg ist nur die erste Geburtswehe der großen sozialen Revolution, mit der das Zeitalter schwanger ist. Lasst uns die Geburt beschleunigen und sie perfekt machen. Zu dieser heiligsten aller Aufgaben ist jeder Einzelne von uns berufen, und sich in dieser größten aller Krisen vor seiner Pflicht zu drücken, hieße, den Verräter zu spielen.

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Emma Goldman – Die Förderer des Kriegswahns https://panopticon.blackblogs.org/2022/04/21/emma-goldman-die-forderer-des-kriegswahns/ Thu, 21 Apr 2022 19:26:20 +0000 https://panopticon.noblogs.org/?p=2584 Continue reading ]]> Wir haben diesen Text von Emma Goldman aus anarchist library entnommen, die Übersetzung ist von uns, die Begriffe „people“ und „race“, haben wir als „Volk“ und „Rasse“ übersetzt. Auch wenn es sich um Begriffe handelt, die wir nicht verwenden und ablehnen, muss die Zeit berücksichtigt werden, in der dieser Text geschrieben wurde. Dieser historische Text schien uns angemessen angesichts des Krieges in der Ukraine, genauso wie angesichts der historischen Parolen von Emma Goldman gegen den Krieg und alle Kriege, die immer die Kriege des Kapitalismus sind und es daher eine Pflicht für alle Anarchisten und Anarchistinnen ist, gegen all diese Kriege zu kämpfen.

Emma Goldman – Die Förderer des Kriegswahns

In diesem kritischen Augenblick ist es für jeden freiheitsliebenden Menschen unerlässlich, einen glühenden Protest gegen die Beteiligung dieses Landes an dem europäischen Massenmord zu halten. Wenn die Kriegsgegner vom Atlantik bis zum Pazifik sofort ihre Stimmen zu einem donnernden „Nein!“ vereinen würden, dann könnte der Schrecken, der Amerika jetzt droht, noch abgewendet werden. Leider ist es nur zu wahr, dass die Menschen in unserer so genannten Demokratie zu einem großen Teil eine stumme, leidende Herde sind und keine denkenden Wesen, die es wagen, eine offene, ernsthafte Meinung zu äußern.

Dennoch ist es undenkbar, dass das amerikanische Volk wirklich einen Krieg will. In den letzten dreißig Monaten hatte es reichlich Gelegenheit, das furchtbare Gemetzel in den kriegführenden Ländern zu beobachten. Sie haben gesehen, wie sich das allgemeine Morden wie eine verheerende Seuche in das Herz der Völker Europas gefressen hat. Sie sahen zerstörte Städte, ganze Länder, die von der Landkarte getilgt wurden, Heerscharen von Toten, Millionen von Verwundeten und Verstümmelten. Das amerikanische Volk konnte nicht umhin, die Ausbreitung des wahnsinnigen, grundlosen Hasses unter den Völkern Europas mit anzusehen. Sie müssen sich das Ausmaß der Hungersnot, des Leids und der Qualen in den vom Krieg heimgesuchten Ländern vergegenwärtigen. Sie wissen auch, dass, während die Männer wie Ungeziefer umgebracht wurden, die Frauen und Kinder, die Alten und Gebrechlichen in hilfloser und tragischer Verzweiflung zurückblieben. Warum also sollte das amerikanische Volk im Namen all dessen, was vernünftig und menschlich ist, die gleichen Schrecken, die gleiche Zerstörung und Verwüstung auf amerikanischem Boden wünschen?

Man sagt uns, dass die „Freiheit der Meere“ auf dem Spiel stehe und dass die „amerikanische Ehre“ verlange, dass wir diese kostbare Freiheit schützen. Was für eine Farce! Wie viel Freiheit der Meere können die Massen der Werktätigen, die Enterbten und die Arbeitslosen jemals genießen? Wäre es nicht gut, sich mit diesem Zauberwort „Freiheit der Meere“ zu beschäftigen, bevor wir patriotische Lieder singen und Hurra schreien?

Die einzigen, die von der „Freiheit der Meere“ profitiert haben, sind die Ausbeuter, die Händler von Munition und Nahrungsmitteln. Die „Freiheit der Meere“ hat diesen skrupellosen amerikanischen Räubern und Monopolisten als Vorwand gedient, um die unglücklichen Menschen in Europa und Amerika auszurauben. Aus dem internationalen Gemetzel haben sie Milliarden gemacht; aus dem Elend der Menschen und den Qualen der Frauen und Kinder haben die amerikanischen Finanziers und Industriemagnaten riesige Vermögen gemacht.

Fragt den jungen Morgan. Wird er es wagen, seinen enormen finanziellen Gewinn aus dem Export von Munition und Nahrungsmitteln zuzugeben? Nein, natürlich nicht. Aber manchmal kommt die Wahrheit ans Licht. So hat ein Finanzexperte kürzlich bewiesen, dass selbst der alte Pierpont Morgan verblüfft wäre, wenn er die schillernden Gewinne sehen würde, die sein Sohn durch Kriegsspekulationen erzielt hat. Und, nebenbei bemerkt, sollten wir nicht vergessen, dass es diese Spekulation mit Mord und Zerstörung ist, die für den kriminellen Anstieg der Lebenshaltungskosten in unserem Land verantwortlich ist. Krieg, Hunger und die kapitalistische Klasse sind die einzigen Profiteure dieses abscheulichen Dramas, das sich Nationalismus, Patriotismus, nationale Ehre und Freiheit der Meere nennt. Anstatt solchen monströsen Verbrechen Einhalt zu gebieten, würde ein Krieg in Amerika nur die Möglichkeiten der Profitmacher vergrößern. Das und nur das wird das Ergebnis sein, wenn das amerikanische Volk zustimmt, die Vereinigten Staaten in den Abgrund des Krieges zu stürzen.

Präsident Wilson und andere Beamte der Regierung versichern uns, dass sie den Frieden wollen. Wenn diese Behauptung auch nur ein Körnchen Wahrheit enthielte, hätte die Regierung schon vor langer Zeit den Vorschlag vieler wahrer Friedensfreunde umgesetzt, die Ausfuhr von Munition und Nahrungsmitteln einzustellen. Wäre dieser schändliche Handel mit den Werkzeugen des Schlachtens gleich zu Beginn des Krieges unterbunden worden, so wären die positiven Folgen für den Frieden mannigfaltig gewesen.

Erstens wäre der Krieg in Europa durch den Stopp der Nahrungsmittelexporte ausgehungert worden. Es ist in der Tat keine Übertreibung, wenn ich sage, dass der Krieg längst zu Ende gewesen wäre, wenn die amerikanischen Finanziers daran gehindert worden wären, Milliarden in Kriegsanleihen zu investieren, und wenn die amerikanische Rüstungsclique und die Nahrungsmittelspekulanten nicht die Möglichkeit gehabt hätten, das kriegführende Europa mit den Mitteln zu versorgen, um das Gemetzel aufrechtzuerhalten.

Zweitens hätte ein Exportembargo automatisch amerikanische Schiffe aus den Kriegs- und Unterseegebieten herausgenommen und damit den viel diskutierten „Grund“ für den Krieg mit Deutschland beseitigt.

Drittens, und das ist das Wichtigste, wäre die dreiste, künstliche Erhöhung der Lebenshaltungskosten, die die arbeitenden Massen Amerikas zum Halbverhungern verurteilt, unmöglich, wenn nicht der größte Teil der amerikanischen Produkte nach Europa geliefert würde, um die Feuer des Krieges zu nähren.

Friedenstreffen und Friedensproteste haben keinerlei Bedeutung, wenn die Regierung nicht aufgefordert wird, die Fortsetzung der Exporte zu stoppen. Darauf sollte man schon allein deshalb bestehen, nur um zu beweisen, dass Washington zu schönen Worten fähig ist, aber noch nie einen einzigen entschlossenen Schritt für den Frieden getan hat. Das wird dazu beitragen, dem amerikanischen Volk zu zeigen, dass die Regierung nur die Kapitalisten, den Internationalen Kriegs- und Bereitschaftstrust, vertritt und nicht die Arbeiter. Ist das amerikanische Volk also nur gut genug, um für die räuberischen Trusts die Kastanien aus dem Feuer zu holen? Das ist alles, was dieses wilde Geschrei nach Krieg für die Massen bedeutet.

Der Versuch, die Fackel der Kriegsfurie zu entzünden, ist umso ungeheuerlicher, wenn man bedenkt, dass die Menschen in Amerika kosmopolitisch sind. Wenn überhaupt, dann sollte Amerika der Boden für internationale Verständigung, für das Wachsen der Freundschaft zwischen allen Rassen sein. Hier sollten alle engen, erstickenden nationalen Vorurteile ausgerottet werden. Stattdessen wird das Volk in den Wahnsinn und die Verwirrung des Krieges, des Rassenantagonismus und -hasses gestürzt.

Es stimmt, dass in diesem Land nie viel Liebe an den unglücklichen Ausländer verschwendet wurde, aber was ist mit der Prahlerei, dass die Göttin der Freiheit das Leuchtfeuer für alle unterdrückten Nationen hochhält? Was ist mit Amerika als dem Hafen des Willkommens? Soll all dies nun zum Symbol nationaler Verfolgung werden? Was kann daraus resultieren als die Verschmutzung aller sozialen Beziehungen? Denkt daran, der Krieg ist in diesem Lande derzeit nur eine Möglichkeit, und schon werden die Deutschen und die Österreicher von den Jingos1 um ihre Arbeitsplätze gebracht, ausgegrenzt und bespitzelt, verfolgt und gehetzt. Und das ist nur ein kleiner Anfang von dem, was der Krieg nach sich ziehen würde.

Ich brauche nicht zu betonen, dass ich kein bisschen Sympathie für das Deutschland der Hohenzollern oder das Österreich der Habsburger hege. Aber was haben die Deutschen und die Österreicher in Amerika – oder in ihrem eigenen Land – mit der Diplomatie und Politik von Berlin oder Wien zu tun? Es ist nichts als blinder, grausamer nationaler und patriotischer Wahnsinn, der diese Menschen, die in diesem Land gelebt, geschuftet und gelitten haben, für die verbrecherischen Pläne und Intrigen in den Berliner und Wiener Palästen bezahlen lassen will.

Diese Millionen von Deutschen und Österreichern, die mehr zur wirklichen Kultur und zum Wachstum Amerikas beigetragen haben als alle Morgans und Rockefellers, sollen nun wie feindliche Ausländer behandelt werden, nur weil die Wall Street sich in ihrer unbegrenzten Nutzung der Meere für Plünderung, Raub und Diebstahl des leidenden Amerikas und des blutenden Europas eingeschränkt fühlt.

Militarismus und Reaktion sind in Europa heute stärker verbreitet als je zuvor. Wehrpflicht und Zensur haben jedes Fünkchen Freiheit zerstört. Überall haben die Regierungen die Situation genutzt, um die militaristische Schlinge um den Hals des Volkes enger zu ziehen. Überall war Disziplin das Mittel der Wahl, um die Massen in die Sklaverei und den blinden Gehorsam zu peitschen. Und das Pathos des Ganzen ist, dass sich das Volk im Großen und Ganzen ohne Murren unterworfen hat, obwohl jedes Land seinen Anteil an tapferen Männern gezeigt hat, die sich nicht täuschen lassen wollten.

Das Gleiche wird in Amerika geschehen, sollten die Hunde des Krieges hier losgelassen werden. Die giftige Saat ist bereits gesät worden. Das ganze reaktionäre Gesindel, die Propagandisten des Jingoismus und der Bereitschaft, alle Nutznießer der Ausbeutung, die in der Merchants and Manufacturers‘ Association, den Handelskammern, den Rüstungscliquen usw. usw. vertreten sind, haben sich mit allen möglichen Plänen und Schemata hervorgetan, um die Arbeiterschaft in Ketten zu legen und zu knebeln, sie hilfloser und stummer zu machen als je zuvor.

Diese ehrbaren Verbrecher machen keinen Hehl mehr aus ihrer Forderung nach einer militärischen Ausbildung. Taft, der Wortführer der Wall Street, drückte es zynisch genug aus, dass jetzt, angesichts der Kriegsgefahr, die Zeit gekommen sei, die Einführung des Zwangsmilitarismus zu fordern. Unterwürfig dem Slogan folgend, beeilen sich die Rektoren und Superintendenten unserer Schulen und Colleges, den Geist ihrer Schüler mit nationalen „Idealen“ und patriotischen Geschichtsfälschungen zu vergiften, um die junge Generation auf den „Schutz der nationalen Ehre“ vorzubereiten, was in Wirklichkeit den „Ruhm“ bedeutet, für die krummen Geschäfte einer Bande legalisierter, feiger Diebe zu verbluten. Mr. Murray Butler, der Speichellecker der Wall Street, steht an der Spitze und viele andere wie er kriechen vor dem goldenen Kalb ihrer Herren. Apropos Prostitution! Das unglückliche Mädchen auf der Straße ist die Reinheit selbst im Vergleich zu dieser geistigen Degeneration.

Zu diesem Vergiftungsprozess kommen noch die riesigen Mittel, die der Kongress und die staatlichen Gesetzgeber für die nationale Mordmaschinerie bereitstellen. Summen in dreistelliger Millionenhöhe für Armee und Marine fliegen durch die Luft und sind so verlockend, dass der Steel Trust und andere Unternehmen, die Munition und Kriegsbedarf herstellen, sich in patriotischen Gefühlen und Enthusiasmus auflösen und dem Land bereits ihre großzügigen Dienste angeboten haben.

Hand in Hand mit dieser militärischen Bereitschaft und dem Kriegswahn geht die zunehmende Verfolgung der Arbeiter und ihrer Organisationen. Die Arbeiterschaft überschlug sich vor Begeisterung und Dankbarkeit gegenüber dem Präsidenten für seine vermeintliche Menschlichkeit, als er vor der Wahl das Acht-Stunden-Gesetz verkündete, und nun stellt sich heraus, dass das Gesetz lediglich ein Köder für Stimmen und eine Fessel für die Arbeiterschaft war. Es verweigert das Streikrecht und führt die zwangsweise Schlichtung ein. Natürlich ist es allgemein bekannt, dass Streiks schon seit langem durch Unterlassungsverfügungen und die strafrechtliche Verfolgung von Streikenden unwirksam gemacht worden sind, aber das Acht-Stunden-Gesetz des Bundes ist die schlimmste Parodie auf das Recht, sich zu organisieren und zu streiken, und es wird sich als zusätzliche Fessel für die Arbeit erweisen. Im Zusammenhang mit dieser willkürlichen Maßnahme steht der Vorschlag, dem Präsidenten im Kriegsfall die volle Befugnis zu geben, die Kontrolle über die Eisenbahnen und ihre Angestellten zu übernehmen, was nichts anderes als absolute Unterwerfung und industriellen Militarismus für die Arbeiter bedeuten würde.

Hinzu kommt die systematische, barbarische Verfolgung von radikalen und revolutionären Elementen im ganzen Land. Die Gräueltaten in Everett, die Verschwörung gegen die Arbeiter in San Francisco, wo Billings und Mooney bereits geopfert wurden – sind das alles nur Zufälle? Oder zeigen sie nicht vielmehr den wahren Charakter des Krieges, den die amerikanische herrschende Klasse gegen die Arbeiterschaft geführt hat?

Die Arbeiter müssen lernen, dass sie von ihren Herren nichts zu erwarten haben. Letztere zögern in Amerika wie in Europa keinen Augenblick, Hunderttausende von Menschen in den Tod zu schicken, wenn ihre Interessen es verlangen. Sie sind immer bereit, dass ihre fehlgeleiteten Sklaven die nationale und patriotische Fahne über brennende Städte, über verwüstete Landstriche, über die obdachlose und hungernde Menschheit führen, solange sie nur genug unglückliche Opfer finden, die zu Menschenmördern gedrillt werden, die auf Geheiß ihrer Herren bereit sind, die grausige Aufgabe des Blutvergießens und des Gemetzels zu erfüllen.

So wertvoll die Arbeit der Women’s Peace Party und anderer ernsthafter Pazifisten auch sein mag, es ist töricht, den Präsidenten um Frieden zu bitten. Die Arbeiter, sie allein, können den bevorstehenden Krieg abwenden, ja alle Kriege, wenn sie sich weigern, daran teilzunehmen. Der entschlossene Antimilitarist ist der einzige Pazifist. Der gewöhnliche Pazifist moralisiert nur; der Antimilitarist handelt; er weigert sich, sich befehlen zu lassen, seine Brüder zu töten. Seine Losung lautet: „Ich werde weder töten noch mich töten lassen“.

Diese Losung müssen wir unter den Arbeitern verbreiten und in die Arbeiterorganisationen tragen. Sie müssen erkennen, dass es ein ungeheuerliches Verbrechen ist, sich freiwillig auf das abscheuliche Geschäft des Tötens einzulassen. Es ist schrecklich genug, im Zorn, in einem Moment der Raserei zu töten, aber es ist noch schrecklicher, dem Befehl seiner militärischen Vorgesetzten blindlings zu gehorchen, um zu morden. Es muss die Zeit kommen, in der Schlachten und Gemetzel durch blinden Gehorsam nicht nur keine Belohnungen, Denkmäler, Pensionen und Lobreden erhalten, sondern als der größte Schrecken und die größte Schande eines barbarischen, blutrünstigen, gierbesessenen Zeitalters angesehen werden; ein dunkler, abscheulicher Schandfleck der Zivilisation.

Machen wir uns diese wertvolle Wahrheit klar: Ein Mensch hat nur so lange die Macht, freiwillig zu handeln, wie er nicht die Uniform trägt. Sobald man das Gewand des Gehorsams angezogen hat, wird der „freiwillige“ Soldat genauso Teil der Schlachtmaschine wie sein Bruder, der zum Militärdienst gezwungen wurde. Noch ist es in unserem Land Zeit, sich gegen Militarismus und Krieg zu entscheiden, sich entschieden gegen die Wehrpflicht zur Ermordung von Mitmenschen zu wehren. Schließlich ist Amerika noch nicht wie Deutschland, Russland, Frankreich oder England in einem Militärregime mit dem Kainsmal auf der Stirn. Die entschlossene Haltung, die die Arbeiter einzeln, in Gruppen und Organisationen gegen den Krieg einnehmen können, wird immer noch auf ein bereitwilliges und begeistertes Echo stoßen. Er würde die Menschen im ganzen Land aufrütteln. In der Tat wollen sie keinen Krieg. Der Schrei danach kommt von den Militärcliquen, den Munitionsherstellern und ihrem Sprachrohr, der Presse, diesem degeneriertesten aller Verbrecher. Sie alle stehen zur Flagge. Oh ja, es ist ein profitables Emblem, das eine Vielzahl von Sünden verdeckt.

Noch ist es Zeit, die blutige Flut des Krieges aufzuhalten, durch Mundpropaganda, Feder und Aktion. Die Kriegstreiber wissen, dass wir ihnen in die Karten geschaut haben und dass wir ihr kriminelles Spiel durchschauen. Wir wissen, dass sie den Krieg wollen, um ihre Profite zu steigern. Nun gut, sollen sie doch ihre eigenen Kriege führen. Wir, die Menschen in Amerika, werden das nicht für sie tun. Glaubt ihr, der Krieg würde dann kommen oder aufrechterhalten werden? Oh, ich weiß, dass es schwierig ist, die Arbeiter aufzurütteln, ihnen die Wahrheit hinter der nationalistischen, patriotischen Lüge zu zeigen. Dennoch müssen wir unseren Teil dazu beitragen. Wenigstens sind wir frei von Schuld, wenn die furchtbare Lawine uns trotz unserer Bemühungen überrollt.

Ich für meinen Teil werde gegen den Krieg sprechen, so lange meine Stimme reicht, jetzt und während des Krieges. Tausendmal lieber würde ich sterben, wenn ich das amerikanische Volk aufforderte, wieder gehorsam zu sein, den Kriegsdienst zu verweigern, den Mord an seinen Brüdern zu verweigern, als dass ich jemals meine Stimme zur Rechtfertigung eines Krieges erheben würde, außer für den einen Krieg aller Völker gegen ihre Despoten und Ausbeuter – die soziale Revolution.


1A.d.Ü., aus dem Englischen Jingoism, an dieser Stelle, Jingos, die Vertreter dieser Bewegung. Jingoism ist eine Bewegung und ein Diskurs der einen exaltierten Nationalismus bezeichnet der mit Gewalt sich über andere Nationen oder Gebiete ausbreiten will. Es gibt die Meinung dass es sich hier um eine Art des Imperialismus handelt, der sich durch einen radikalen Patriotismus manifestiert, oftmals verbunden mit militärischem Säbelrasseln oder manifester Kriegseuphorie. Entspricht ungefähr dem deutschen Hurra-Patriotismus und dem französischen Chauvinismus.

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(Emma Goldman) Patriotismus: eine Bedrohung für die Freiheit https://panopticon.blackblogs.org/2022/04/18/emma-goldman-patriotismus-eine-bedrohung-fur-die-freiheit-3/ Mon, 18 Apr 2022 19:02:50 +0000 https://panopticon.noblogs.org/?p=2579 Continue reading ]]> Gefunden auf anarchist library, die Übersetzung ist von uns. Wir dachten uns, dass es nicht verkehrt sei, ein paar alte anarchistische Texte, die gegen den kapitalistischen Krieg und den Krieg im allgemeinen sind, zu übersetzten und da es gerade salonfähig geworden ist, ohne Widerhall und ohne jeglichen Aufschrei, sich als Anarchist und Anarchistin zu bezeichnen und dies im Kombination mit der Vaterlandsliebe, siehe Patriotismus, schien uns es umso wichtiger diesen Text zu veröffentlichen. Arme Emma, du würdest dich heutzutage für die anarchistische Bewegung schämen.

Emma Goldman, Patriotismus: eine Bedrohung für die Freiheit

Was ist Patriotismus? Ist es die Liebe zum Geburtsort, dem Ort der Kindheitserinnerungen und Hoffnungen, Träume und Sehnsüchte? Ist es der Ort, an dem wir in kindlicher Naivität die flüchtigen Wolken beobachteten und uns fragten, warum wir nicht auch so schnell laufen können? Der Ort, an dem wir die tausend glitzernden Sterne zählten und uns fürchteten, dass jeder von ihnen „ein Auge sein könnte“, das in die Tiefen unserer kleinen Seelen stößt? Ist es der Ort, an dem wir der Musik der Vögel lauschen und uns danach sehnen, Flügel zu haben, um ebenso wie sie in ferne Länder zu fliegen? Oder ist es der Ort, an dem wir auf Mutters Schoß sitzen und uns von wunderbaren Erzählungen über große Taten und Eroberungen verzaubern lassen? Kurzum, ist es die Liebe zu dem Ort, an dem jeder Zentimeter liebe und wertvolle Erinnerungen an eine glückliche, fröhliche und spielerische Kindheit darstellt?

Wenn das Patriotismus wäre, könnten nur wenige amerikanische Männer von heute dazu aufgerufen werden, patriotisch zu sein, da der Ort des Spiels in eine Fabrik, eine Mühle und ein Bergwerk verwandelt wurde, während ohrenbetäubender Maschinenlärm die Musik der Vögel ersetzt hat. Wir können auch nicht mehr die Geschichten von großen Taten hören, denn die Geschichten, die unsere Mütter heute erzählen, sind nur noch die von Kummer, Tränen und Leid.

Was also ist Patriotismus? „Patriotismus ist die letzte Zuflucht des Halunken“, sagte Dr. Johnson. Leo Tolstoi, der größte Antipatriot unserer Zeit, definiert Patriotismus als das Prinzip, das die Ausbildung von Großmördern rechtfertigt; ein Gewerbe, das eine bessere Ausrüstung für die Ausübung des Tötens von Menschen erfordert als die Herstellung von so lebensnotwendigen Dingen wie Schuhen, Kleidung und Häusern; ein Gewerbe, das bessere Erträge und größeren Ruhm garantiert als das des durchschnittlichen Arbeiters.

Gustave Hervé1, ein weiterer großer Anti-Patriot, nennt den Patriotismus zu Recht einen Aberglauben – einen weitaus schädlicheren, brutaleren und unmenschlicheren als die Religion. Der Aberglaube der Religion hat seinen Ursprung in der Unfähigkeit des Menschen, Naturerscheinungen zu erklären. Das heißt, als der primitive Mensch den Donner hörte oder den Blitz sah, konnte er sich beides nicht erklären und schloss daher, dass dahinter eine Kraft stehen musste, die größer war als er selbst. In ähnlicher Weise sah er eine übernatürliche Kraft im Regen und in den verschiedenen anderen Veränderungen in der Natur. Der Patriotismus hingegen ist ein Aberglaube, der durch ein Netz von Lügen und Unwahrheiten künstlich geschaffen und aufrechterhalten wird; ein Aberglaube, der dem Menschen seine Selbstachtung und Würde raubt und seine Arroganz und Einbildung verstärkt.

In der Tat sind Eitelkeit, Arroganz und Egoismus die wesentlichen Merkmale des Patriotismus. Lasst mich das veranschaulichen/illustrieren. Der Patriotismus geht davon aus, dass unser Globus in kleine Flecken unterteilt ist, von denen jeder mit einem eisernen Tor umgeben ist. Diejenigen, die das Glück hatten, an einem bestimmten Fleck geboren zu sein, halten sich für besser, edler, großartiger, intelligenter als die Lebewesen, die an irgendeinem anderen Fleck leben. Daher ist es die Pflicht eines jeden, der an diesem auserwählten Ort lebt, zu kämpfen, zu töten und zu sterben, um seine Überlegenheit gegenüber allen anderen durchzusetzen.

Die Bewohner der anderen Flecken denken natürlich genauso, so dass der Geist des Kindes von frühester Kindheit an mit blutrünstigen Geschichten über die Deutschen, Franzosen, Italiener, Russen usw. vergiftet wird. Wenn das Kind das Erwachsenenalter erreicht hat, ist es von dem Glauben/Überzeugung durchdrungen, dass es vom Herrn selbst auserwählt ist, sein Land gegen den Angriff oder die Invasion von Fremden zu verteidigen. Zu diesem Zweck schreien wir nach einer größeren Armee und Marine, mehr Kriegsschiffen und Munition. Zu diesem Zweck hat Amerika innerhalb kurzer Zeit vierhundert Millionen Dollar ausgegeben. Man denke nur daran – vierhundert Millionen Dollar, die von den Erzeugnissen des Volkes genommen werden. Denn es sind sicher nicht die Reichen, die zum Patriotismus beitragen. Sie sind Kosmopoliten, die in jedem Land zu Hause sind. Wir in Amerika kennen diese Wahrheit sehr gut. Sind unsere reichen Amerikaner nicht Franzosen in Frankreich, Deutsche in Deutschland oder Engländer in England? Und verprassen sie nicht mit kosmopolitischer Anmut ein Vermögen, das von amerikanischen Fabrikkindern und Baumwollsklaven geprägt wurde? Ja, ihr Patriotismus ist der, der es möglich macht, einem Despoten wie dem russischen Zaren Beileidsbekundungen zu schicken, wenn ihm ein Unglück widerfährt, wie es Präsident Roosevelt2 im Namen seines Volkes tat, als Sergius3 von den russischen Revolutionären bestraft wurde.

Es ist ein Patriotismus, der den Erzmörder Diaz4 dabei unterstützt, Tausende von Leben in Mexiko zu zerstören, oder der sogar dabei hilft, mexikanische Revolutionäre auf amerikanischem Boden zu verhaften und in amerikanischen Gefängnissen einzusperren, ohne den geringsten Grund oder Anlass.

Aber der Patriotismus ist nicht für diejenigen, die Reichtum und Macht repräsentieren. Er ist gut genug für das Volk. Das erinnert an die historische Weisheit Friedrichs des Großen, des Busenfreundes von Voltaire, der sagte „Die Religion ist ein Betrug, aber sie muss für die Massen aufrechterhalten werden.“

Dass der Patriotismus eine ziemlich kostspielige Institution ist, wird niemand bezweifeln, wenn man die folgenden Statistiken betrachtet. Der fortschreitende Anstieg der Ausgaben für die führenden Armeen und Seestreitkräfte der Welt während des letzten Vierteljahrhunderts ist eine Tatsache von solcher Schwere, dass sie jeden aufmerksamen Studenten ökonomischer Probleme erschrecken lässt. Sie kann kurz dargestellt werden, indem man die Zeit von 1881 bis 1905 in Fünfjahresperioden unterteilt und die Ausgaben mehrerer großer Nationen für Armee- und Marinezwecke während der ersten und letzten dieser Perioden festhält. Vom ersten bis zum letzten der genannten Zeiträume stiegen die Ausgaben Großbritanniens von $2.101.848.936 auf $4.143.226.885, die Frankreichs von $3.324.500.000 auf $3.455.109.900, die Deutschlands von $725.000.200 auf $2.700.375, 600, die der Vereinigten Staaten von $1.275.500.750 auf $2.650.900.450, die Russlands von $1.900.975.500 auf $5.250.445.100, die Italiens von $1.600.975.750 auf $1.755.500.100 und die Japans von $182.900.500 auf $700.925.475.

Die Militärausgaben jeder der genannten Nationen stiegen in jedem der betrachteten Fünfjahreszeiträume. Während des gesamten Zeitraums von 1881 bis 1905 stiegen die Ausgaben Großbritanniens für seine Armee um das Vierfache, die der Vereinigten Staaten um das Dreifache, die Russlands um das Doppelte, die Deutschlands um 35 Prozent, die Frankreichs um 15 Prozent und die Japans um fast 500 Prozent. Vergleicht man die Ausgaben dieser Nationen für ihre Armeen mit ihren Gesamtausgaben für alle fünfundzwanzig Jahre bis 1905, so ist der Anteil wie folgt gestiegen:

In Großbritannien von 20 Prozent auf 37; in den Vereinigten Staaten von 15 auf 23; in Frankreich von 16 auf 18; in Italien von 12 auf 15; in Japan von 12 auf 14. Auf der anderen Seite ist es interessant festzustellen, dass der Anteil in Deutschland von etwa 58 Prozent auf 25 Prozent gesunken ist, was auf den enormen Anstieg der kaiserlichen Ausgaben für andere Zwecke zurückzuführen ist, da die Heeresausgaben für den Zeitraum von 1901-1905 höher waren als für jeden anderen Fünfjahreszeitraum zuvor. Die Statistik zeigt, dass die Länder, in denen die Militärausgaben im Verhältnis zu den gesamten Staatseinnahmen am höchsten sind, Großbritannien, die Vereinigten Staaten, Japan, Frankreich und Italien sind, und zwar in der genannten Reihenfolge.

Die Kosten für die großen Seestreitkräfte sind ebenso beeindruckend. In den fünfundzwanzig Jahren bis 1905 stiegen die Ausgaben für die Marine ungefähr wie folgt: Großbritannien 300 Prozent, Frankreich 60 Prozent, Deutschland 600 Prozent, die Vereinigten Staaten 525 Prozent, Russland 300 Prozent, Italien 250 Prozent und Japan 700 Prozent. Mit Ausnahme Großbritanniens geben die Vereinigten Staaten mehr für Marinezwecke aus als jede andere Nation, und diese Ausgaben haben auch einen größeren Anteil an den gesamten nationalen Ausgaben als die jeder anderen Macht. In der Periode 1881-1885 betrugen die Ausgaben für die Marine der Vereinigten Staaten 6,20 Dollar pro 100 Dollar, die für alle nationalen Zwecke bereitgestellt wurden; der Betrag stieg auf 6,60 Dollar für die nächste Fünfjahresperiode, auf 8,10 Dollar für die nächste, auf 11,70 Dollar für die nächste und auf 16,40 Dollar für 1901-1905. Es ist moralisch sicher, dass die Ausgaben für den laufenden Fünfjahreszeitraum einen weiteren Anstieg aufweisen werden.

Die steigenden Kosten des Militarismus lassen sich noch besser veranschaulichen, wenn man sie als Pro-Kopf-Steuer auf die Bevölkerung errechnet. Vom ersten bis zum letzten der Fünfjahreszeiträume, die als Grundlage für die hier angestellten Vergleiche dienen, sind sie wie folgt gestiegen: In Großbritannien von 18,47 $ auf 52,50 $, in Frankreich von 19,66 $ auf 23,62 $, in Deutschland von 10,17 $ auf 15,51 $, in den Vereinigten Staaten von 5,62 $ auf 13,64 $, in Russland von 6,14 $ auf 8,37 $, in Italien von 9,59 $ auf 11,24 $ und in Japan von 86 Cent auf 3,11 $.

Im Zusammenhang mit dieser groben Schätzung der Pro-Kopf-Kosten wird die ökonomische Belastung durch den Militarismus am deutlichsten. Die verfügbaren Daten lassen den unwiderstehlichen Schluss zu, dass der Anstieg der Ausgaben für Armee und Marine das Bevölkerungswachstum in jedem der in der vorliegenden Berechnung berücksichtigten Länder rasch übersteigt. Mit anderen Worten, eine Fortsetzung der erhöhten Anforderungen des Militarismus bedroht jede dieser Nationen mit einer fortschreitenden Erschöpfung sowohl der Männer als auch der Ressourcen.

Die schreckliche Verschwendung, die der Patriotismus erfordert, sollte ausreichen, um selbst einen durchschnittlich intelligenten Menschen von dieser Krankheit zu heilen. Doch der Patriotismus verlangt noch mehr. Die Menschen werden aufgefordert, patriotisch zu sein, und für diesen Luxus bezahlen sie nicht nur mit der Unterstützung ihrer „Verteidiger“, sondern sogar mit der Aufopferung ihrer eigenen Kinder. Patriotismus verlangt Treue zur Flagge, was Gehorsam und die Bereitschaft bedeutet, Vater, Mutter, Bruder, Schwester zu töten.

Üblicherweise wird behauptet, wir bräuchten ein stehendes Heer, um das Land vor ausländischen Invasionen zu schützen. Jeder intelligente Mann und jede intelligente Frau weiß jedoch, dass dies ein Mythos ist, der aufrechterhalten wird, um die Törichten zu verängstigen und unter Druck zu setzen. Die Regierungen der Welt, die die Interessen der anderen kennen, überfallen sich nicht gegenseitig. Sie haben gelernt, dass sie durch internationale Schlichtung von Streitigkeiten viel mehr gewinnen können als durch Krieg und Eroberung. In der Tat, wie Carlyle sagte: „Krieg ist ein Streit zwischen zwei Dieben, die zu feige sind, ihre eigene Schlacht zu schlagen; deshalb nehmen sie Jungen aus einem Dorf und einem anderen Dorf, stecken sie in Uniformen, rüsten sie mit Gewehren aus und lassen sie wie wilde Tiere aufeinander los.“

Es bedarf keiner großen Weisheit, um jeden Krieg auf eine ähnliche Ursache zurückzuführen. Nehmen wir unseren eigenen Spanisch-Amerikanischen Krieg5, angeblich ein großes und patriotisches Ereignis in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Wie sehr brannte unser Herz vor Empörung über die grausamen Spanier! Es stimmt, dass unsere Empörung nicht spontan aufflammte. Sie wurde durch monatelange Zeitungsagitation genährt, und zwar lange nachdem der Schlächter Weyler6 viele edle Kubaner getötet und viele kubanische Frauen geschändet hatte. Dennoch muss man der amerikanischen Nation zugestehen, dass sie sich empörte und bereit war, zu kämpfen, und dass sie tapfer kämpfte. Aber als der Rauch verzogen, die Toten begraben und die Kosten des Krieges in Form von Preiserhöhungen für Waren und Mieten auf das Volk zurückfielen – das heißt, als wir von unserem patriotischen Taumel nüchtern wurden, dämmerte es uns plötzlich, dass die Ursache des Spanisch-Amerikanischen Krieges die Berücksichtigung des Zuckerpreises war; oder, um es deutlicher zu sagen, dass das Leben, das Blut und das Geld des amerikanischen Volkes eingesetzt wurden, um die Interessen der amerikanischen Kapitalisten zu schützen, die von der spanischen Regierung bedroht wurden. Dass dies keine Übertreibung ist, sondern auf absoluten Fakten und Zahlen beruht, wird am besten durch die Haltung der amerikanischen Regierung gegenüber der kubanischen Arbeiterschaft belegt. Als Kuba fest in den Händen der Vereinigten Staaten war, wurde den Soldaten, die zur Befreiung Kubas geschickt wurden, befohlen, während des großen Zigarrenarbeiterstreiks, der kurz nach dem Krieg stattfand, auf kubanische Arbeiter zu schießen.

Auch wir sind nicht die Einzigen, die für solche Zwecke Krieg führen. Der Vorhang über die Motive des schrecklichen russisch-japanischen Krieges7, der so viel Blut und Tränen gekostet hat, beginnt sich zu lüften. Und wir sehen wieder, dass hinter dem grimmigen Moloch des Krieges der noch grimmigere Gott des Kommerzes steht. Kuropatkin, der russische Kriegsminister während des russisch-japanischen Kampfes, hat das wahre Geheimnis des letzteren gelüftet. Der Zar und seine Großfürsten hatten Geld in koreanische Konzessionen investiert, und der Krieg wurde allein zu dem Zweck erzwungen, schnell ein großes Vermögen anzuhäufen.

Die Behauptung, dass ein stehendes Heer und eine Marine die beste Sicherheit für den Frieden sind, ist ungefähr so logisch wie die Behauptung, dass der friedlichste Staatsbürger derjenige ist, der schwer bewaffnet herumläuft. Die Erfahrung des täglichen Lebens beweist eindeutig, dass der bewaffnete Mensch stets bestrebt ist, seine Kräfte zu erproben. Dasselbe gilt historisch gesehen auch für Regierungen. Wirklich friedliche Länder verschwenden kein Leben und keine Energie mit Kriegsvorbereitungen, so dass der Frieden erhalten bleibt.

Der Ruf nach einer Vergrößerung von Armee und Marine ist jedoch nicht auf eine ausländische Gefahr zurückzuführen. Es ist der Furcht vor der wachsenden Unzufriedenheit der Massen und dem internationalen Geist unter den Arbeitern geschuldet. Es ist der innere Feind, auf den sich die Mächte der verschiedenen Länder vorbereiten; ein Feind, der sich, wenn er erst einmal zu Bewusstsein gekommen ist, als gefährlicher erweisen wird als jeder ausländische Invasor.

Die Mächte, die seit Jahrhunderten damit beschäftigt sind, die Massen zu versklaven, haben deren Psychologie gründlich studiert. Sie wissen, dass die Menschen im Großen und Ganzen wie Kinder sind, deren Verzweiflung, Kummer und Tränen mit einem kleinen Spielzeug in Freude verwandelt werden können. Und je prächtiger das Spielzeug gekleidet ist, je lauter die Farben sind, desto mehr wird es das Millionen-Köpfige-Kind ansprechen.

Eine Armee und eine Marine stellen das Spielzeug des Volkes dar. Um sie attraktiver und akzeptabler zu machen, werden Hunderte und Tausende von Dollar für die Präsentation dieser Spielzeuge ausgegeben. Das war der Zweck der amerikanischen Regierung, als sie eine Flotte ausrüstete und sie an die Pazifikküste schickte, damit jeder amerikanische Staatsbürger den Stolz und den Ruhm der Vereinigten Staaten zu spüren bekommt. Die Stadt San Francisco gab einhunderttausend Dollar für die Unterhaltung der Flotte aus; Los Angeles sechzigtausend; Seattle und Tacoma etwa hunderttausend. Um die Flotte zu unterhalten, habe ich gesagt? Um ein paar hohe Offiziere zu bewirten, während die „tapferen Jungs“ meutern mussten, um genügend Essen zu bekommen. Ja, zweihundertsechzigtausend Dollar wurden für Feuerwerk, Theaterpartys und Vergnügungen ausgegeben, und das zu einer Zeit, als Männer, Frauen und Kinder im ganzen Land auf den Straßen hungerten und Tausende von Arbeitslosen bereit waren, ihre Arbeitskraft um jeden Preis zu verkaufen.

Zweihundertundsechzigtausend Dollar! Was hätte man mit so einer enormen Summe nicht alles erreichen können? Aber anstelle von Brot und Unterkunft wurden die Kinder dieser Städte mitgenommen, um die Flotte zu sehen, damit sie, wie es in einer der Zeitungen hieß, „eine bleibende Erinnerung für das Kind“ bleibt.

Eine wunderbare Erinnerung, nicht wahr? Die Utensilien des zivilisierten Gemetzels. Wenn der Geist des Kindes mit solchen Erinnerungen vergiftet wird, welche Hoffnung gibt es dann für eine wahre Verwirklichung der menschlichen Brüderlichkeit?

Wir Amerikaner behaupten, ein friedliebendes Volk zu sein. Wir hassen Blutvergießen; wir sind gegen Gewalt. Und doch bekommen wir Freudenkrämpfe bei der Möglichkeit, Dynamitbomben aus fliegenden Maschinen auf hilflose Staatsbürger zu werfen. Wir sind bereit, jeden zu hängen, zu erschlagen oder zu lynchen, der aus ökonomischer Notwendigkeit sein eigenes Leben beim Versuch, das eines Industriemagnaten zu töten, riskiert. Und doch schwillt unser Herz vor Stolz bei dem Gedanken, dass Amerika die mächtigste Nation der Welt wird und dass es schließlich seinen eisernen Fuß auf den Nacken aller anderen Nationen setzen wird.

Das ist die Logik des Patriotismus.

Wenn man die schlimmen Folgen bedenkt, die der Patriotismus für den Durchschnittsmenschen mit sich bringt, so ist das nichts im Vergleich zu der Beleidigung und Verletzung, die der Patriotismus dem Soldaten selbst zufügt – diesem armen, verblendeten Opfer von Aberglauben und Unwissenheit. Er, der Retter seines Landes, der Beschützer seiner Nation, – was hat der Patriotismus für ihn auf Lager? Ein Leben der sklavischen Unterwerfung, des Lasters und der Perversion im Frieden; ein Leben der Gefahr, der Entblößung und des Todes im Krieg.

Als ich kürzlich auf einer Vortragsreise in San Francisco war, besuchte ich das Presidio, den schönsten Ort mit Blick auf die Bucht und den Golden Gate Park. Es sollte Spielplätze für Kinder, Gärten und Musik zur Erholung der Müden bieten. Stattdessen ist es hässlich, trist und grau durch Kasernen – Kasernen, in denen die Reichen ihren Hunden nicht erlauben würden zu wohnen. In diesen elenden Baracken werden Soldaten wie Vieh zusammengepfercht; hier vergeuden sie ihre jungen Tage, indem sie die Stiefel und Messingknöpfe ihrer vorgesetzten Offiziere polieren. Auch hier sah ich den Klassenunterschied: stämmige Söhne einer freien Republik, die wie Sträflinge in einer Reihe aufgestellt waren und jedes vorbeiziehende Arschloch eines Leutnants begrüßten. Amerikanische Gleichheit, die die Mannheit/Männlichkeit erniedrigt und die Uniform erhebt!

Das Leben in der Kaserne neigt dazu, Tendenzen sexueller Perversion zu entwickeln. Es führt allmählich zu ähnlichen Ergebnissen wie die europäischen Militärbedingungen. Havelock Ellis, der bekannte Autor über Sexualpsychologie, hat eine gründliche Studie zu diesem Thema erstellt. Ich zitiere: „Einige der Kasernen sind große Zentren der männlichen Prostitution…. Die Zahl der Soldaten, die sich prostituieren, ist größer, als wir zu glauben bereit sind. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass in bestimmten Regimentern die Vermutung für die Käuflichkeit der Mehrheit der Männer spricht…. An Sommerabenden sind der Hyde Park und die Gegend um das Albert Gate voll von Gardisten und anderen, die in Uniform oder in Verkleidung und kaum versteckt einem lebhaften Handel nachgehen…. In den meisten Fällen bildet der Erlös eine komfortable Ergänzung zu Tommy Atkins‘ Taschengeld.“

Wie sehr sich diese Perversion in die Armee und die Marine eingeschlichen hat, lässt sich am besten an der Tatsache ablesen, dass es spezielle Häuser für diese Form der Prostitution gibt. Die Praxis ist nicht auf England beschränkt, sie ist universell. „In Frankreich sind Soldaten nicht weniger begehrt als in England oder Deutschland, und sowohl in Paris als auch in den Garnisonsstädten gibt es spezielle Häuser für Militärprostitution.“

Hätte Herr Havelock Ellis Amerika in seine Untersuchung der sexuellen Perversion einbezogen, so hätte er festgestellt, dass in unserer Armee und Marine die gleichen Bedingungen herrschen wie in denen anderer Länder. Das Wachstum des stehenden Heeres trägt unweigerlich zur Verbreitung der sexuellen Perversion bei; die Kasernen sind die Brutkästen.

Abgesehen von den sexuellen Auswirkungen des Kasernenlebens neigt es auch dazu, den Soldaten nach dem Ausscheiden aus der Armee für eine nützliche Arbeit untauglich zu machen. Männer, die einen Beruf erlernt haben, treten selten in die Armee oder die Marine ein, aber selbst sie finden sich nach einer militärischen Erfahrung völlig untauglich für ihre früheren Berufe. Nachdem sie Gewohnheiten des Müßiggangs und eine Vorliebe für Aufregung und Abenteuer erworben haben, kann sie keine friedliche Beschäftigung zufriedenstellen. Aus der Armee entlassen, können sie sich keiner nützlichen Arbeit zuwenden. In der Regel sind es aber das soziale Gesindel, entlassene Häftlinge und dergleichen, die entweder der Kampf ums Leben oder ihre eigene Neigung in die Reihen treibt. Diese kehren nach ihrer Militärzeit zu ihrem früheren kriminellen Leben zurück, noch verrohter und entwürdigender als zuvor. Es ist bekannt, dass es in unseren Gefängnissen eine große Anzahl ehemaliger Soldaten gibt, während andererseits die Armee und die Marine zu einem großen Teil mit ehemaligen Sträflingen besetzt sind.

Von all den üblen Folgen, die ich soeben beschrieben habe, scheint mir keine der menschlichen Integrität so abträglich zu sein wie der Geist, den der Patriotismus im Fall des Gefreiten William Buwalda hervorgebracht hat. Weil er törichterweise glaubte, man könne Soldat sein und gleichzeitig seine Rechte als Mensch wahrnehmen, wurde er von den Militärbehörden hart bestraft. Zwar hatte er seinem Land fünfzehn Jahre lang gedient, und in dieser Zeit war sein Ruf untadelig. Nach Ansicht von General Funston, der Buwaldas Strafe auf drei Jahre reduzierte, „ist die erste Pflicht eines Offiziers oder eines Soldaten unbedingter Gehorsam und Loyalität gegenüber der Regierung, und es macht keinen Unterschied, ob er diese Regierung gutheißt oder nicht.“ Damit prägt Funston den wahren Charakter der Loyalität. Ihm zufolge setzt der Eintritt in die Armee die Grundsätze der Unabhängigkeitserklärung außer Kraft.

Was für eine seltsame Entwicklung des Patriotismus, die ein denkendes Wesen in eine loyale Maschine verwandelt!

Zur Rechtfertigung dieser ungeheuerlichen Verurteilung Buwaldas erklärt General Funston dem amerikanischen Volk, die Tat des Soldaten sei „ein schweres Verbrechen, das dem Verrat gleichkommt“. Worin bestand nun dieses „schreckliche Verbrechen“ wirklich? Ganz einfach darin: William Buwalda war einer von fünfzehnhundert Menschen, die an einer öffentlichen Versammlung in San Francisco teilnahmen; und, oh Schreck, er gab der Rednerin, Emma Goldman, die Hand. Ein schreckliches Verbrechen in der Tat, das der General „ein großes militärisches Vergehen, unendlich schlimmer als Desertion“ nennt.

Kann es eine größere Anklage gegen den Patriotismus geben, als dass er einen Mann auf diese Weise als Verbrecher brandmarkt, ihn ins Gefängnis wirft und ihn der Ergebnisse von fünfzehn Jahren treuen Dienstes beraubt?

Buwalda gab seinem Land die besten Jahre seines Lebens und seine ganze Manneskraft. Aber all das war umsonst. Der Patriotismus ist unerbittlich und verlangt, wie alle unersättlichen Ungeheuer, alles oder nichts. Er lässt nicht zu, dass ein Soldat auch ein Mensch ist, der ein Recht auf seine eigenen Gefühle und Meinungen, seine eigenen Neigungen und Ideen hat. Nein, das kann der Patriotismus nicht zulassen. Das ist die Lektion, die Buwalda lernen musste, und zwar zu einem ziemlich hohen, wenn auch nicht zu einem unnützen Preis. Als er in die Freiheit zurückkehrte, hatte er seine Stellung in der Armee verloren, aber er hatte seine Selbstachtung wiedergewonnen. Das ist immerhin drei Jahre Gefangenschaft wert.

Ein Schriftsteller, der sich mit den militärischen Verhältnissen in Amerika befasst hat, kommentierte kürzlich in einem Artikel die Macht des Militärs über den Zivilisten in Deutschland. Er sagte unter anderem, wenn unsere Republik keinen anderen Sinn ergäbe, als allen Staatsbürgern gleiche Rechte zu garantieren, hätte sie eine Daseinsberechtigung. Ich bin überzeugt, dass der Autor während der patriotischen Herrschaft von General Bell nicht in Colorado war. Wahrscheinlich hätte er seine Meinung geändert, wenn er gesehen hätte, wie im Namen des Patriotismus und der Republik Menschen in Stierkäfige geworfen, herumgeschleift, über die Grenze getrieben und allen möglichen Demütigungen ausgesetzt wurden. Dieser Vorfall in Colorado ist auch nicht der einzige in der Entwicklung der militärischen Macht in den Vereinigten Staaten. Es gibt kaum einen Streik, bei dem nicht Truppen und Milizen den Machthabern zu Hilfe kommen und dabei so arrogant und brutal vorgehen wie die Männer in der Uniform des Kaisers. Und dann haben wir noch das Militärgesetz von Dick. Hatte der Autor das vergessen?

Ein großes Unglück bei den meisten unserer Schriftsteller ist, dass sie absolut unwissend sind, was das Zeitgeschehen angeht, oder dass sie aus Mangel an Ehrlichkeit nicht über diese Dinge sprechen wollen. Und so kam es, dass das Dick-Militärgesetz mit wenig Diskussion und noch weniger Öffentlichkeit durch den Kongress gepeitscht wurde – ein Gesetz, das dem Präsidenten die Macht gibt, einen friedlichen Staatsbürger in einen blutrünstigen Menschenkiller zu verwandeln, angeblich zur Verteidigung des Landes, in Wirklichkeit zum Schutz der Interessen derjenigen Partei, deren Sprachrohr der Präsident zufällig ist.

Unser Autor behauptet, dass der Militarismus in Amerika niemals eine solche Macht werden kann wie im Ausland, da er bei uns freiwillig ist, während er in der Alten Welt obligatorisch ist. Zwei sehr wichtige Tatsachen vergisst der Herr jedoch zu berücksichtigen. Erstens, dass die Wehrpflicht in Europa einen tief sitzenden Hass auf den Militarismus in allen Gesellschaftsschichten hervorgerufen hat. Tausende von jungen Rekruten lassen sich unter Protest einschreiben, und wenn sie einmal in der Armee sind, werden sie jedes Mittel nutzen, um zu desertieren. Zweitens ist es der Zwangscharakter des Militarismus, der eine gewaltige antimilitaristische Bewegung hervorgebracht hat, die von den europäischen Mächten weit mehr als alles andere gefürchtet wird. Schließlich ist der Militarismus das größte Bollwerk des Kapitalismus. In dem Moment, in dem dieser unterminiert wird, gerät der Kapitalismus ins Wanken. Zwar gibt es bei uns keine Wehrpflicht, das heißt, die Männer werden in der Regel nicht gezwungen, in die Armee einzutreten, aber wir haben eine weitaus strengere und rigidere Kraft entwickelt – die Notwendigkeit. Ist es nicht eine Tatsache, dass während industrieller Depressionen die Zahl der Einberufungen enorm ansteigt? Der Beruf des Militaristen mag weder lukrativ noch ehrenhaft sein, aber er ist besser, als auf der Suche nach Arbeit durch das Land zu ziehen, in der Schlange für Brot zu stehen oder in städtischen Unterkünften zu schlafen. Immerhin bedeutet es dreizehn Dollar im Monat, drei Mahlzeiten am Tag und einen Platz zum Schlafen. Doch selbst die Not ist nicht stark genug, um in der Armee ein Element von Charakter und Männlichkeit zu schaffen. Kein Wunder, dass sich unsere Militärbehörden über das „arme Material“ beklagen, das in die Armee und die Marine eintritt. Dieses Eingeständnis ist ein sehr ermutigendes Zeichen. Es beweist, dass im durchschnittlichen Amerikaner noch genug Unabhängigkeitsgeist und Freiheitsliebe vorhanden sind, um lieber den Hungertod zu riskieren, als die Uniform anzuziehen.

Denkende Männer und Frauen in der ganzen Welt beginnen zu erkennen, dass der Patriotismus ein zu enges und begrenztes Konzept ist, um den Notwendigkeiten unserer Zeit gerecht zu werden. Die Zentralisierung der Macht hat ein internationales Gefühl der Solidarität unter den unterdrückten Nationen der Welt hervorgebracht; eine Solidarität, die eine größere Interessenübereinstimmung zwischen dem amerikanischen Arbeiter und seinen Brüdern im Ausland darstellt als zwischen dem amerikanischen Bergarbeiter und seinem ausbeutenden Landsmann; eine Solidarität, die keine ausländische Invasion fürchtet, weil sie alle Arbeiter an den Punkt bringt, an dem sie zu ihren Herren sagen werden: „Geht und tötet euch selbst. Wir haben es lange genug für euch getan.“

Diese Solidarität weckt das Bewusstsein auch der Soldaten, denn auch sie sind ein Teil des Fleisches der großen Menschheitsfamilie. Eine Solidarität, die sich in den vergangenen Kämpfen mehr als einmal als unfehlbar erwiesen hat und die die Pariser Soldaten während der Kommune von 1871 dazu veranlasste, den Gehorsam zu verweigern, als sie den Befehl erhielten, ihre Brüder zu erschießen. Sie hat den Männern Mut gegeben, die in den letzten Jahren auf den russischen Kriegsschiffen gemeutert haben. Sie wird schließlich den Aufstand aller Unterdrückten und Geknechteten gegen ihre internationalen Ausbeuter herbeiführen.

Das europäische Proletariat hat die große Kraft dieser Solidarität erkannt und daraufhin einen Krieg gegen den Patriotismus und sein blutiges Gespenst, den Militarismus, begonnen. Tausende von Männern füllen die Gefängnisse Frankreichs, Deutschlands, Russlands und der skandinavischen Länder, weil sie es gewagt haben, dem alten Aberglauben zu trotzen. Die Bewegung ist auch nicht auf die Arbeiterklasse beschränkt; sie hat Vertreter aller Lebensbereiche erfasst, und ihre Hauptvertreter sind Männer und Frauen, die in Kunst, Wissenschaft und Literatur prominent sind.

Amerika wird diesem Beispiel folgen müssen. Der Geist des Militarismus hat bereits alle Bereiche des Lebens durchdrungen. Ich bin in der Tat überzeugt, dass der Militarismus hier eine größere Gefahr darstellt als anderswo, weil der Kapitalismus denjenigen, die er vernichten will, viele Bestechungsgelder in Aussicht stellt.

Der Anfang ist bereits in den Schulen gemacht worden. Offensichtlich hält die Regierung an der jesuitischen Auffassung fest: „Gebt mir den kindlichen Geist, und ich werde den Menschen formen.“ Kinder werden in militärischer Taktik ausgebildet, der Ruhm militärischer Leistungen wird im Lehrplan gepriesen, und der jugendliche Verstand wird im Sinne der Regierung pervertiert. Außerdem wird die Jugend des Landes auf grellen Plakaten dazu aufgerufen, sich der Armee und der Marine anzuschließen. „Eine schöne Gelegenheit, die Welt zu sehen!“, ruft der staatliche Verkäufer. So werden unschuldige Jungen moralisch in den Patriotismus hineingezogen, und der militärische Moloch schreitet siegreich durch die Nation.

Der amerikanische Arbeiter hat so viel unter den Soldaten gelitten, auf Landes- und Bundesebene, dass er zu Recht Abscheu vor dem Parasiten in Uniform empfindet und ihn ablehnt. Mit bloßer Anprangerung lässt sich dieses große Problem jedoch nicht lösen. Was wir brauchen, ist eine Aufklärungspropaganda für den Soldaten: antipatriotische Literatur, die ihn über die wahren Schrecken seines Berufes aufklärt und ihm sein wahres Verhältnis zu dem Menschen bewusst macht, dessen Arbeit er seine Existenz verdankt.

Genau das fürchten die Behörden/Autoritäten am meisten. Es ist bereits Hochverrat, wenn ein Soldat eine radikale Versammlung besucht. Zweifellos werden sie es auch als Hochverrat einstufen, wenn ein Soldat ein radikales Pamphlet liest. Aber hat die Obrigkeit nicht von jeher jeden Schritt des Fortschritts als verräterisch eingestuft? Diejenigen aber, die sich ernsthaft um den sozialen Wiederaufbau bemühen, können es sich leisten, all das in Kauf zu nehmen; denn es ist wohl noch wichtiger, die Wahrheit in die Kaserne zu tragen als in die Fabrik. Wenn wir die patriotische Lüge untergraben haben, werden wir den Weg für jene große Struktur freigemacht haben, in der alle Nationalitäten zu einer universellen Bruderschaft vereint sein werden – eine wahrhaft FREIE GESELLSCHAFT.


1Gustave Hervé (Brest 1871-Paris 1944) wurde 1901 mit einem Artikel bekannt, in dem er die Trikolore in einen Misthaufen pflanzte. Bis 1912 war er als Direktor der Zeitung La Guerre Sociale (Der soziale Krieg) eine starke antimilitaristische Stimme. Aus Frustration über die Wirkungslosigkeit all seiner Bemühungen gab er seinen Antimilitarismus auf und wurde nationalistisch und patriotisch. 1919 gründete er mit anderen eine nationalsozialistische Partei.

2Theodore Roosevelt (27. Oktober 1858 – 6. Januar 1919) 26. Präsident der USA. Er erweiterte die Macht des Bundesstaates über das soziale und ökonomische Leben.

3Der Großfürst Sergius, Kommandeur der Moskauer Garnison und Onkel des Zaren Nikolaus II. wird von dem Sozialrevolutionär Kalijew ermordet.

4Porfirio Diaz (15. September 1830 – 2. Juli 1915) war über 30 Jahre lang Präsident von Mexiko (1877-18881 und 1884-1911) und kontrollierte das politische und administrative Leben durch ein System, das allgemein als zentralisierte Tyrannei bezeichnet wird.

5Spanisch-Amerikanischer Krieg (1898). Der Konflikt beendete die spanische Herrschaft auf dem amerikanischen Kontinent (Rückzug aus Kuba) und führte zum Erwerb von Territorien in Asien (Philippinen) und Lateinamerika (Guam, Puerto Rico) durch die USA.

6General „Butcher“ Weyler. Spanischer General, der 1896 nach Kuba geschickt wurde, um die Rebellion niederzuschlagen. Weyler, der „Schlächter“ genannt, sperrte einen Großteil der kubanischen Bevölkerung in unhygienische Konzentrationslager ein. Er wurde 1897 nach Spanien zurückgerufen.

7Russisch-japanischer Krieg (1904-1905). Der Konflikt entstand aus der Rivalität um die Vorherrschaft in Korea und der Mandschurei und endete mit dem Sieg der Japaner und dem Ende der Expansionspolitik Russlands im Fernen Osten.

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Emma Goldman: Trotzki protestiert zu viel https://panopticon.blackblogs.org/2021/03/18/emma-goldman-trotzki-protestiert-zu-viel/ Thu, 18 Mar 2021 22:22:43 +0000 http://panopticon.blackblogs.org/?p=2128 Continue reading ]]> Emma Goldman: Trotzki protestiert zu viel

Herausgegeben von „The Anarchist Communist Federation“ in Glasgow, Schottland im Jahre 1938 unter dem Titel „Trotsky Protests Too Much“.

 

Einleitung.

Dieses Pamphlet entstand aus einem Artikel für Vanguard, die in New York City erscheinende anarchistische Monatszeitschrift. Er erschien in der Juli-Ausgabe 1938, aber da der Platz in der Zeitschrift begrenzt ist, konnte nur ein Teil des Manuskripts verwendet werden. Er wird hier in überarbeiteter und erweiterter Form wiedergegeben.

Leo Trotzki will, dass die Kritik an seiner Rolle in der Kronstädter Tragödie nur dazu dient, seinem Todfeind Stalin zu helfen und ihn zu unterstützen. Es kommt ihm nicht in den Sinn, dass man den Wilden im Kreml und sein grausames Regime verabscheuen und dennoch Leo Trotzki nicht von dem Verbrechen an den Matrosen von Kronstadt freisprechen könnte. In Wahrheit sehe ich keinen merklichen Unterschied zwischen den beiden Protagonisten des wohlwollenden Systems der Diktatur, außer dass Leo Trotzki nicht mehr an der Macht ist, um seine Segnungen durchzusetzen, und Josef Stalin schon. Nein, ich halte nichts von dem gegenwärtigen Herrscher Russlands. Ich muss jedoch darauf hinweisen, dass Stalin nicht als Geschenk des Himmels auf das unglückliche russische Volk herabgekommen ist. Er setzt lediglich die bolschewistischen Traditionen fort, wenn auch auf eine unerbittlichere Art und Weise.

Der Prozess der Entfremdung der russischen Massen von der Revolution hatte fast unmittelbar nach dem Machtantritt Lenins und seiner Partei begonnen. Krasse Diskriminierung bei Verpflegung und Unterbringung, Unterdrückung jeglicher politischer Rechte, fortgesetzte Verfolgung und Verhaftungen waren schon früh an der Tagesordnung. Die Säuberungen, die damals durchgeführt wurden, betrafen zwar nicht die Parteimitglieder, doch auch Kommunisten halfen, die Gefängnisse und Konzentrationslager zu füllen. Ein Beispiel dafür ist die erste Arbeiteropposition, deren Basis schnell beseitigt und deren Führer, Schlapnikow, zur „Erholung“ in den Kaukasus geschickt und Alexandra Kollontay unter Hausarrest gestellt wurden. Aber allen anderen politischen Gegner, darunter Menschewiki, Sozialrevolutionäre, Anarchisten, viele der liberalen Intelligenz und Arbeiter sowie Bauern, wurde in den Kellern der Tscheka kurzer Prozess gemacht oder sie wurden zum langsamen Tod in entfernte Teile Russlands und Sibiriens verbannt. Mit anderen Worten: Stalin hat weder die Theorie noch die Methoden erfunden, die die russische Revolution niedergeschlagen und dem russischen Volk neue Ketten angelegt haben.

Ich gebe zu, die Diktatur unter Stalins Herrschaft ist ungeheuerlich geworden. Das mindert jedoch nicht die Schuld von Leo Trotzki als einem der Akteure im revolutionären Drama, von dem Kronstadt eine der blutigsten Szenen war.

 

Leo Trotzki protestiert zu viel.

von Emma Goldman.

Ich habe zwei Nummern, Februar und April 1938, der New International, Trotzkis offizieller Zeitschrift, vor mir. Sie enthalten Artikel von John G. Wright, einem hundertprozentigen Trotzkisten, und dem Großmogul selbst, die vorgeben, eine Widerlegung der Anklagen gegen ihn in Bezug auf Kronstadt zu sein. Mr. Wright gibt lediglich das Echo seines Meisters wieder, und sein Material stammt in keiner Weise aus erster Hand oder aus persönlichem Kontakt mit den Ereignissen von 1921. Ich ziehe es vor, Leo Trotzki meinen Respekt zu zollen. Er hat zumindest das zweifelhafte Verdienst, an der „Liquidierung“ von Kronstadt beteiligt gewesen zu sein.

Es gibt jedoch mehrere sehr voreilige Falschbehauptungen in Wrights Artikel, die umgestoßen werden müssen. Ich werde dies daher sofort tun und mich danach mit seinem Meister befassen.

John G. Wright behauptet, dass Die Kronstadt Rebellion1 von Alexander Berkman „lediglich eine Wiederholung der angeblichen Tatsachen und Interpretationen der rechten Sozialrevolutionäre mit ein paar unbedeutenden Änderungen ist“–(entnommen aus „The Truth About Russia in Volya, Russia, Prague, 1921“).

Der Autor wirft Alexander Berkman weiter vor, „dreist zu sein, zu plagiieren und, wie es seine Gewohnheit ist, ein paar unbedeutende Änderungen vorzunehmen und die wirkliche Quelle dessen zu verbergen, was als seine eigene Einschätzung erscheint.“ Alexander Berkmans Leben und Werk haben ihn in die Reihe der größten revolutionären Denker und Kämpfer gestellt, ganz seinem Ideal verpflichtet. Diejenigen, die ihn gekannt haben, werden bezeugen, dass er in all seinen Handlungen von hoher Qualität war, ebenso wie seine Integrität als ernsthafter Schriftsteller. Sie werden sicherlich amüsiert sein, von Mr. Wright zu erfahren, dass Alexander Berkman ein „Plagiator“ und „dreist“ war und dass „seine Gewohnheit darin besteht, ein paar unbedeutende Änderungen vorzunehmen. …“

Der durchschnittliche Kommunist, ob von der Marke Trotzki oder Stalin, weiß ungefähr so viel über anarchistische Literatur und ihre Autoren, wie, sagen wir, der durchschnittliche Katholik über Voltaire oder Thomas Paine weiß. Allein der Vorschlag, dass man wissen sollte, wofür seine Gegner stehen, bevor man sie beschimpft, würde von der kommunistischen Hierarchie als Ketzerei abgetan werden. Ich glaube daher nicht, dass John G. Wright absichtlich über Alexander Berkman lügt. Vielmehr denke ich, dass er schlichtweg ignorant ist.

Es war Alexander Berkmans lebenslange Gewohnheit, Tagebuch zu führen. Sogar während des vierzehnjährigen Fegefeuers, das er im Western Penitentiary in den Vereinigten Staaten erduldet hatte, hatte Alexander Berkman es geschafft, sein Tagebuch zu führen, das er mir sub rosa2 zukommen lassen konnte. Auf der S.S. „Buford“, die uns auf unserer langen, gefahrvollen Reise von 28 Tagen mitnahm, setzte mein Kamerad sein Tagebuch fort und er behielt diese alte Gewohnheit während der 23 Monate unseres Aufenthalts in Russland bei.

Die Gefängnis-Erinnerungen eines Anarchisten, die von konservativen Kritikern sogar als vergleichbar mit Fjodor Dostojewskis Aufzeichnungen aus einem Totenhaus eingestuft werden, wurden aus seinem Tagebuch gestaltet. Die Kronstadt Rebellion und sein Bolschewistischer Mythos sind ebenfalls das Ergebnis seiner täglichen Aufzeichnungen in Russland. Es ist daher dumm, zu behaupten, Berkmans Broschüre über Kronstadt sei „lediglich eine Wiederholung der angeblichen Fakten. …“ aus dem in Prag erschienenen S.R.-Werk.

Von der Genauigkeit her gleichauf mit dieser Anklage gegen Alexander Berkman durch Wright ist seine Beschuldigung, mein alter Freund habe die Existenz von General Koslowski in Kronstadt geleugnet.

In Die Kronstadt Rebellion, Seite 15, steht: „Es gab tatsächlich einen ehemaligen General Koslowski in Kronstadt. Es war Trotzki, der ihn dort als Artilleriespezialist platziert hatte. Er spielte bei den Kronstädter Ereignissen keinerlei Rolle.“ Dies wurde von keinem Geringeren als Sinowjew bestätigt, der sich damals noch auf dem Zenit seines Ruhms befand. Auf der außerordentlichen Sitzung des Petrograder Sowjets am 4. März 1921, die einberufen wurde, um über das Schicksal von Kronstadt zu entscheiden, sagte Sinowjew: „Natürlich ist Koslowski alt und kann nichts mehr tun, aber die Weißen Offiziere stehen hinter ihm und führen die Matrosen in die Irre.“ Alexander Berkman betonte jedoch die Tatsache, dass die Matrosen nichts von Trotzkis ehemaligem Lieblingsgeneral haben wollten, noch würden sie das Angebot von Proviant und anderer Hilfe von Victor Tchernov, dem Führer der Rechten S.R. in Paris (Sozialistische Revolutionäre), annehmen.

Trotzkisten halten es zweifellos für bürgerliche Sentimentalität, den verleumdeten Matrosen das Recht zuzugestehen, für sich selbst zu sprechen. Ich bestehe darauf, dass diese Herangehensweise an den Gegner verdammenswerter Jesuitismus ist und mehr zur Zersetzung der gesamten Arbeiterbewegung beigetragen hat als alles andere von der „heiligen“ Taktik des Bolschewismus.

Damit der Leser in der Lage ist, zwischen der verbrecherischen Anklage gegen Kronstadt und dem, was die Matrosen für sich selbst zu sagen hatten, zu entscheiden, gebe ich hier den Funkspruch an die Arbeiter der Welt vom 6. März 1921 wieder:–

„Unsere Sache ist gerecht: Wir stehen für die Macht der Sowjets, nicht der Parteien. Wir stehen für frei gewählte Vertreter der werktätigen Massen. Die von der Kommunistischen Partei manipulierten Ersatzsowjets waren immer taub für unsere Bedürfnisse und Forderungen; die einzige Antwort, die wir je erhalten haben, war Schießen. … Genossen! Sie täuschen euch nicht nur, sie verdrehen absichtlich die Wahrheit und greifen zu den abscheulichsten Verleumdungen. … In Kronstadt liegt die ganze Macht ausschließlich in den Händen der revolutionären Matrosen, Soldaten und Arbeiter – nicht bei den Konterrevolutionären unter der Führung eines gewissen Koslowski, wie euch das verlogene Moskauer Radio glauben machen will. … Zögert nicht, Genossen! Schließt euch uns an, nehmt Kontakt mit uns auf; verlangt für eure Delegierten Einlass nach Kronstadt. Nur sie werden euch die ganze Wahrheit sagen und die teuflische Verleumdung über das finnische Brot und die Angebote der Entente entlarven.

Lang lebe das revolutionäre Proletariat und die Bauernschaft!“

Lang lebe die Macht der frei gewählten Sowjets!“

Die Matrosen, die von Koslowski „geführt“ werden und doch die Arbeiter der Welt anflehen, Delegierte zu entsenden, damit sie sehen, ob an der schwarzen Verleumdung, die die Sowjetpresse gegen sie verbreitet, etwas Wahres ist!

Leo Trotzki ist überrascht und entrüstet, dass es jemand wagen sollte, ein solches Geschrei über Kronstadt zu erheben. Immerhin ist es schon so lange her, tatsächlich sind siebzehn Jahre vergangen, und es war eine bloße „Episode in der Geschichte der Beziehung zwischen der proletarischen Stadt und dem kleinbürgerlichen Dorf.“ Warum sollte jemand zu diesem späten Zeitpunkt so viel Aufhebens machen wollen, wenn nicht, um „die einzige echte revolutionäre Strömung zu kompromittieren, die ihr Banner nie verworfen hat, die keine Kompromisse mit ihren Feinden eingegangen ist und die allein die Zukunft repräsentiert.“ Leo Trotzkis Egoismus, der bei seinen Freunden und Feinden weithin bekannt ist, war nie seine schwächste Stelle. Seit sein Todfeind ihn mit nichts geringerem als einem Zauberstab ausgestattet hat, hat seine Selbstherrlichkeit alarmierende Ausmaße angenommen.

Leo Trotzki ist empört, dass die Leute die Kronstadt „Episode“ wieder aufleben lassen und Fragen nach seiner Rolle stellen. Es kommt ihm nicht in den Sinn, dass diejenigen, die ihn gegen seine Verleumder in Schutz genommen haben, das Recht haben zu fragen, welche Methoden er angewandt hat, als er an der Macht war, und wie er mit denen umgegangen ist, die sein Diktum nicht als die Wahrheit des Evangeliums unterschrieben haben. Natürlich war es lächerlich zu erwarten, dass er sich an die Brust schlagen und sagen würde: „Auch ich war nur ein Mensch und habe Fehler gemacht. Auch ich habe gesündigt und habe meine Brüder getötet oder befohlen, sie zu töten.“ Nur erhabene Propheten und Seher haben sich zu solchen Höhen des Mutes erhoben. Leo Trotzki gehört gewiss nicht zu ihnen. Im Gegenteil, er beansprucht weiterhin Allmacht in all seinen Handlungen und Urteilen und ruft Anathema3 auf die Köpfe all derer, die törichterweise andeuten, dass der große Gott Leo Trotzki auch Füße aus Lehm hat.

Er verhöhnt die dokumentarischen Beweise, die von den Kronstädter Matrosen hinterlassen wurden, und die Beweise derjenigen, die in Sicht- und Hörweite der schrecklichen Belagerung von Kronstadt waren. Er nennt sie „falsche Etiketten“. Das hindert ihn jedoch nicht daran, seinen Lesern zu versichern, dass seine Erklärung des Kronstädter Aufstandes „durch viele Tatsachen und Dokumente untermauert und illustriert werden kann.“ Intelligente Menschen mögen sich fragen, warum Leo Trotzki nicht den Anstand hatte, diese „falschen Etiketten“ zu präsentieren, damit das Volk in der Lage ist, sich eine korrekte Meinung über sie zu bilden.

Nun, es ist eine Tatsache, dass selbst kapitalistische Gerichte dem Angeklagten das Recht zugestehen, Beweise in seinem eigenen Namen vorzulegen. Nicht so Leo Trotzki, der Sprecher der einen und einzigen Wahrheit, er, der „sein Banner nie verworfen und niemals mit seinen Feinden Kompromisse geschlossen hat.“

Man kann diesen Mangel an Anstand bei John G. Wright verstehen. Er zitiert, wie ich bereits festgestellt habe, lediglich heilige bolschewistische Schriften. Aber dass eine Weltgestalt wie Leo Trotzki die Beweise der Matrosen zum Schweigen bringt, scheint mir auf einen sehr kleinen Charakter hinzudeuten. Das alte Sprichwort vom Leoparden, der seine Flecken wechselt, aber nicht sein Wesen, trifft zwangsläufig auf Leo Trotzki zu. Der Kalvarienberg, den er während seiner Jahre des Exils durchlitten hat, der tragische Verlust derer, die ihm nahestanden und lieb waren, und, was noch ergreifender ist, der Verrat durch seine ehemaligen Kampfgefährten, haben ihn nichts gelehrt. Nicht ein Schimmer von menschlicher Güte oder Sanftmut hat Trotzkis rücksichtslosen Geist beeinflusst.

Wie schade, dass das Schweigen der Toten manchmal lauter spricht als die Stimme der Lebenden. In Wahrheit haben die in Kronstadt erstickten Stimmen in diesen siebzehn Jahren an Lautstärke zugenommen. Ist es aus diesem Grund, frage ich mich, dass Leo Trotzki sich an ihrem Klang stört?

Leo Trotzki zitiert Marx mit den Worten, „dass es unmöglich ist, entweder Parteien oder Menschen nach dem zu beurteilen, was sie über sich selbst sagen.“ Wie erbärmlich, dass er nicht erkennt, wie sehr dies auf ihn zutrifft! Kein Mann unter den fähigen bolschewistischen Schreibern hat es geschafft, sich so sehr in den Vordergrund zu stellen oder sich so unaufhörlich seines Anteils an der russischen Revolution und danach zu rühmen wie Leo Trotzki. Nach diesem Kriterium seines großen Lehrers müsste man alle Schriften Leo Trotzkis für wertlos erklären, was natürlich Unsinn wäre.

Bei der Diskreditierung der Motive, die den Kronstädter Aufstand bedingten, hält Leo Trotzki Folgendes fest: „Von verschiedenen Fronten schickte ich Dutzende von Telegrammen über die Mobilisierung neuer ‚zuverlässiger‘ Truppenteile aus den Reihen der Petersburger Arbeiter und der Matrosen der Baltischen Flotte, aber schon 1918 und auf jeden Fall nicht später als 1919 begannen die Fronten sich zu beschweren, dass ein neues Kontingent von ‚Kronstädtern‘ unbefriedigend, anspruchsvoll, undiszipliniert, unzuverlässig im Kampf sei und mehr Schaden als Nutzen anrichte.“ Weiter, auf derselben Seite, klagt Trotzki an: „Als die Verhältnisse im hungrigen Petrograd sehr kritisch wurden, erörterte das Politbüro mehr als einmal die Möglichkeit, eine ‚innere Anleihe‘ aus Kronstadt zu erhalten, wo noch eine Menge alter Vorräte vorhanden war, aber die Delegierten der Petrograder Arbeiter antworteten: ‚Ihr werdet niemals etwas von ihnen durch Freundlichkeit bekommen; sie spekulieren mit Tuch, Kohle und Brot. Zur Zeit hat in Kronstadt jede Art von Gesindel sein Haupt erhoben.‘“ Wie sehr bolschewistisch ist das, seine Gegner nicht nur zu erschlagen, sondern auch ihren Charakter zu besudeln. Von Marx und Engels, Lenin, Trotzki bis Stalin war diese Methode immer die gleiche.

Nun maße ich mir nicht an, darüber zu streiten, was die Kronstädter Matrosen im Jahre 1918 oder 1919 waren. Ich habe Russland erst im Januar 1920 erreicht. Von da an bis zur „Liquidierung“ Kronstadts wurden die Matrosen der baltischen Flotte als das glorreiche Beispiel für Tapferkeit und unerschrockenen Mut hochgehalten. Immer wieder wurde mir nicht nur von Anarchisten, Menschewiki und Sozialrevolutionären, sondern auch von vielen Kommunisten gesagt, dass die Matrosen das eigentliche Rückgrat der Revolution seien. Am 1. Mai 1920 stellten die Kronstädter Matrosen bei der Feier und den anderen Festlichkeiten, die für die erste britische Arbeitsmission organisiert wurden, ein großes, sauberes Kontingent und wurden dann als unter den großen Helden hervorgehoben, die die Revolution vor Kerenski und Petrograd vor Judenitsch gerettet hatten. Während des Jahrestages des Oktobers waren die Matrosen wieder in den vordersten Reihen, und ihre Nachstellung der Einnahme des Winterpalastes wurde von einer dicht gedrängten Masse wild bejubelt.

Ist es möglich, dass die führenden Mitglieder der Partei, außer Leo Trotzki, nichts von der Korruption und der von ihm behaupteten Demoralisierung Kronstadts wussten? Ich glaube es nicht. Außerdem bezweifle ich, dass Trotzki selbst diese Ansicht über die Kronstädter Matrosen bis März 1921 vertrat. Seine Geschichte muss also ein nachträglicher Einfall sein, oder ist sie eine Rationalisierung, um die sinnlose „Liquidierung“ von Kronstadt zu rechtfertigen?

Zugegeben, das Personal hatte sich verändert, aber es ist dennoch eine Tatsache, dass die Kronstädter im Jahr 1921 weit von dem Bild entfernt waren, das Leo Trotzki und sein Echo gezeichnet haben. Tatsache ist, dass die Matrosen nur aufgrund ihrer tiefen Verwandtschaft und Solidarität mit den Petrograder Arbeiterinnen und Arbeitern, deren Kraft, Kälte und Hunger zu ertragen, in einer Reihe von Streiks im Februar 1921 den Bruchpunkt erreicht hatte, ihrem Schicksal entgegengingen. Warum haben Leo Trotzki und seine Anhänger dies nicht erwähnt? Wenn Wright es nicht weiß, dann weiß Leo Trotzki ganz genau, dass die erste Szene des Kronstädter Dramas in Petrograd am 24. Februar inszeniert wurde, und zwar nicht von den Matrosen, sondern von den Streikenden. Denn an diesem Tag hatten die Streikenden ihrem angestauten Zorn über die gefühllose Gleichgültigkeit der Männer Luft gemacht, die von der Diktatur des Proletariats schwadroniert hatten, die längst zur gnadenlosen Diktatur der Kommunistischen Partei verkommen war.

Alexander Berkmans Eintrag in seinem Tagebuch dieses historischen Tages lautet:–

„Die Arbeiter der Trubotschny-Mühle sind in den Streik getreten. Sie beschweren sich, dass die Kommunisten bei der Verteilung der Winterkleidung gegenüber den Nicht-Parteimitgliedern ungebührlich bevorzugt wurden. Die Regierung weigert sich, die Beschwerden zu berücksichtigen, bis die Männer zur Arbeit zurückkehren.

„Auf der Straße in der Nähe der Mühlen versammelten sich Scharen von Streikenden, und Soldaten wurden geschickt, um sie zu zerstreuen. Es waren Kursanti, kommunistische Jugendliche von der Militärakademie. Es gab keine Gewalt.

„Jetzt haben sich den Streikenden die Männer aus den Betrieben der Admiralität und der Kalernaja-Docks angeschlossen. Es gibt viel Unmut über die arrogante Haltung der Regierung. Es wurde eine Straßendemonstration versucht, aber berittene Truppen unterdrückten sie.“

Nach dem Bericht ihres Komitees über die tatsächliche Lage der Arbeiter in Petrograd taten die Kronstädter Matrosen 1921, was sie 1917 getan hatten. Sie machten sofort gemeinsame Sache mit den Arbeitern. Die Rolle der Matrosen im Jahre 1917 wurde als der rote Stolz und Ruhm der Revolution gefeiert. Ihre identische Rolle im Jahre 1921 wurde vor der ganzen Welt als konterrevolutionärer Verrat angeprangert. Natürlich half Kronstadt 1917 den Bolschewiki in den Sattel. 1921 forderten sie eine Abrechnung für die falschen Hoffnungen, die in den Massen geweckt wurden, und das große Versprechen, das gebrochen wurde, kaum dass sich die Bolschewiki in ihrer Macht verschanzt hatten. In der Tat ein abscheuliches Verbrechen. Die wichtige Phase dieses Verbrechens ist jedoch, dass Kronstadt nicht aus heiterem Himmel „gemeutert“ hat. Die Ursache dafür war tief im Leiden der russischen Arbeiter verwurzelt; des Stadtproletariats, wie auch der Bauernschaft.

Zwar versichert uns der ehemalige Kommissar, dass „die Bauern sich mit der Requisition als einem vorübergehenden Übel versöhnten“ und dass „die Bauern die Bolschewiki guthießen, aber den ‚Kommunisten‘ gegenüber immer feindlicher wurden.“ Aber diese Behauptungen sind reine Fiktion, wie zahlreiche Beweise zeigen – nicht zuletzt die Liquidierung des Bauernsowjets, an dessen Spitze Maria Spiridonowa stand, und die Anwendung von Eisen und Feuer, um die Bauern zu zwingen, alle ihre Erzeugnisse, einschließlich ihres Getreides für die Frühjahrsaussaat, aufzugeben.

In historischer Hinsicht hassten die Bauern das Regime fast von Anfang an, sicherlich von dem Moment an, als Lenins Losung „Beraubt die Räuber“ in „Beraubt die Bauern zum Ruhme der kommunistischen Diktatur“ umgewandelt wurde. Deshalb waren sie in ständigem Aufruhr gegen die bolschewistische Diktatur. Ein Beispiel dafür war der Aufstand der karelischen Bauern, der vom zaristischen General Slasttschew-Krimskij in Blut ertränkt wurde. Wenn die Bauern so verliebt in das Sowjetregime waren, wie Leo Trotzki uns glauben machen will, warum war es dann notwendig, diesen schrecklichen Mann nach Karelien zu hetzen.

Er hatte von Anfang an gegen die Revolution gekämpft und einen Teil der Wrangel-Truppen auf der Krim angeführt. Er hatte sich teuflischer Grausamkeiten an Kriegsgefangenen schuldig gemacht und war als Urheber von Pogromen berüchtigt. Nun widerrief Slasttschew-Krimskij und kehrte in „sein Vaterland“ zurück. Dieser Erz-Gegenrevolutionär und Judenhasser wurde zusammen mit mehreren zaristischen Generälen und Weißgardisten von den Bolschewiki mit militärischen Ehren empfangen. Zweifellos war es eine gerechte Vergeltung, dass der Antisemit dem Juden, Trotzki, seinem militärischen Vorgesetzten, salutieren musste. Aber für die Revolution und das russische Volk war die triumphale Rückkehr des Imperialisten ein Skandal.

Als Belohnung für seine neugewonnene Liebe zum sozialistischen Vaterland wurde Slasttschew-Krimskij beauftragt, die karelischen Bauern niederzuschlagen, die Selbstbestimmung und bessere Bedingungen forderten.4

Leo Trotzki sagt uns, dass die Kronstädter Matrosen 1919 ihren Proviant nicht durch „Freundlichkeit“ aufgegeben hätten. „Freundlichkeit“ – nicht, dass Freundlichkeit zu irgendeiner Zeit versucht worden wäre. In der Tat existiert dieses Wort im bolschewistischen Jargon nicht. Doch hier sind diese demoralisierten Matrosen, die Spekulanten des Lumpenpacks usw., die sich 1921 auf die Seite des Stadtproletariats stellen, und ihre erste Forderung ist die nach Gleichstellung der Rationen. Wirklich, was für Schurken diese Kronstädter waren!

Von beiden Schriftstellern gegen Kronstadt wird viel aus der Tatsache gemacht, dass die Matrosen, die, wie wir betonen, den Aufstand nicht vorbereiteten, sondern sich am 1. März trafen, um Mittel und Wege zur Unterstützung ihrer Petrograder Genossen zu besprechen, sich schnell zu einem Provisorischen Revolutionskomitee formierten. Die Antwort darauf gibt eigentlich John G. Wright selbst. Er schreibt: „Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass die örtlichen Behörden in Kronstadt die Situation stümperhaft gehandhabt haben. … Es ist kein Geheimnis, dass Kalinin und Kommissar Kusmin von Lenin und seinen Kollegen nicht allzu hoch geschätzt wurden. … In dem Maße, in dem die örtlichen Behörden blind für das volle Ausmaß der Gefahr waren oder es versäumten, angemessene und wirksame Maßnahmen zur Bewältigung der Krise zu ergreifen, spielten ihre Fehler eine Rolle bei den sich entfaltenden Ereignissen. …“

Die Behauptung, dass Lenin Kalinin oder Kusmin nicht hoch schätzte, ist leider ein alter Trick des Bolschewismus, alle Schuld auf irgendeinen Stümper zu schieben, damit die Köpfe blütenrein bleiben können.

In der Tat haben die örtlichen Behörden in Kronstadt „gestümpert“. Kusmin griff die Matrosen bösartig an und drohte ihnen mit schlimmen Folgen. Die Matrosen wussten offensichtlich, was sie von solchen Drohungen zu erwarten hatten. Sie konnten nur ahnen, dass, wenn Kusmin und Wassiljew erlaubt würde, auf freiem Fuß zu sein, ihr erster Schritt sein würde, Waffen und Vorräte aus Kronstadt zu entfernen. Das war der Grund, warum die Matrosen ihr Provisorisches Revolutionäres Komitee bildeten. Ein zusätzlicher Faktor war auch die Nachricht, dass einem Komitee von 30 Matrosen, das zu Beratungen mit den Arbeitern nach Petrograd geschickt worden war, die Rückkehr nach Kronstadt verweigert wurde, dass sie verhaftet und in die Tscheka gesteckt wurden.

Beide Autoren machen aus den auf der Versammlung vom 1. März verkündeten Gerüchten, dass eine Wagenladung schwer bewaffneter Soldaten auf dem Weg nach Kronstadt sei, einen Berg aus einem Maulwurfshügel. Wright hat offensichtlich nie unter einer luftdichten Diktatur gelebt. Ich schon. Wenn jeder Kanal des menschlichen Kontakts verschlossen ist, wenn jeder Gedanke auf sich selbst zurückgeworfen und jede Äußerung erstickt wird, dann schießen Gerüchte wie Pilze aus dem Boden und wachsen in erschreckende Dimensionen. Außerdem waren Lastwagenladungen von bis an die Zähne bewaffneten Soldaten und Tschekisten, die tagsüber durch die Straßen fuhren, nachts ihre Netze auswarfen und ihre menschliche Beute zur Tscheka schleppten, ein häufiger Anblick in Petrograd und Moskau während der Zeit, als ich dort war. In der Spannung des Treffens nach Kusmins drohender Rede war es ganz natürlich, dass man Gerüchten Glauben schenkte.

Die Nachricht in der Pariser Presse über den Kronstädter Aufstand zwei Wochen, bevor er stattfand, war in der Kampagne gegen die Matrosen als positiver Beweis dafür hervorgehoben worden, dass sie Werkzeuge der imperialistischen Bande gewesen seien und dass in Paris tatsächlich eine Rebellion ausgebrütet worden sei. Es war zu offensichtlich, dass dieses Garn nur benutzt wurde, um die Kronstädter in den Augen der Arbeiter zu diskreditieren.

In Wirklichkeit waren diese Vorabnachrichten wie andere Nachrichten aus Paris, Riga oder Helsingfors, die selten, wenn überhaupt, mit dem übereinstimmten, was von den konterrevolutionären Agenten im Ausland behauptet worden war. Andererseits ereigneten sich in Sowjetrussland viele Ereignisse, die das Herz der Entente erfreut hätten und die sie nie zu erfahren bekamen – Ereignisse, die für die russische Revolution weitaus schädlicher waren, verursacht durch die Diktatur der Kommunistischen Partei selbst. Zum Beispiel die Tscheka, die viele Errungenschaften des Oktobers untergrub und schon 1921 zu einer bösartigen Wucherung am Körper der Revolution geworden war, und viele andere ähnliche Ereignisse, deren Behandlung hier zu weit führen würde.

Nein, die Vorabmeldungen in der Pariser Presse hatten keinerlei Einfluss auf den Kronstädter Aufstand. Tatsächlich glaubte 1921 niemand in Petrograd an diesen Zusammenhang, nicht einmal eine ganze Reihe von Kommunisten. Wie ich bereits festgestellt habe, ist John G. Wright lediglich ein treuer Schüler von Leo Trotzki und daher ziemlich unschuldig an dem, was die meisten Leute innerhalb und außerhalb der Partei über diese sogenannte „Verbindung“ dachten.

Zukünftige Historiker werden zweifellos die Kronstädter „Meuterei“ in ihrem wirklichen Wert einschätzen. Wenn und sobald sie das tun, werden sie zweifellos zu dem Schluss kommen, dass der Aufstand nicht günstiger hätte kommen können, wenn er absichtlich geplant gewesen wäre.

Der wichtigste Faktor, der das Schicksal von Kronstadt bestimmte, war die N.E.P. (die Neue Ökonomische Politik). Lenin, der sich des beträchtlichen Widerstands in der Partei bewusst war, auf den dieses neumodische „revolutionäre“ Projekt stoßen würde, brauchte irgendeine bevorstehende Bedrohung, um die reibungslose und bereitwillige Annahme der N.E.P. sicherzustellen. Kronstadt kam da gerade recht. Die ganze erdrückende Propagandamaschine wurde sofort in Gang gesetzt, um zu beweisen, dass die Matrosen mit allen imperialistischen Mächten und allen konterrevolutionären Elementen im Bunde waren, um den kommunistischen Staat zu zerstören. Das funktionierte wie ein Wunder. Die N.E.P. wurde ohne Probleme durchgedrückt.

Die Zeit allein wird beweisen, welch furchtbare Kosten dieses Manöver verursacht hat. Die dreihundert Delegierten, die junge kommunistische Blüte, die vom Parteitag zur Zerschlagung Kronstadts herbeigeeilt waren, waren nur eine Handvoll von den Tausenden, die mutwillig geopfert wurden. Sie gingen glühend im Glauben an die Kampagne der Verleumdung. Diejenigen, die am Leben blieben, erlebten ein böses Erwachen.

Ich habe eine Begegnung mit einem verwundeten Kommunisten in einem Krankenhaus in Meine Enttäuschung aufgezeichnet. Sie hat in den Jahren danach nichts von ihrer Schärfe verloren:

„Viele der Verwundeten des Angriffs auf Kronstadt waren in dasselbe Krankenhaus gebracht worden, meist Kursanti. Ich hatte die Gelegenheit, mit einem von ihnen zu sprechen. Sein körperliches Leiden, sagte er, war nichts im Vergleich zu seinen seelischen Qualen. Zu spät habe er begriffen, dass er durch den Schrei von „Konterrevolution“ getäuscht worden sei. Keine zaristischen Generäle, keine Weißgardisten in Kronstadt hatten die Matrosen angeführt – er fand nur seine eigenen Genossen, Matrosen, Soldaten und Arbeiter, die heroisch für die Revolution gekämpft hatten.“

Niemand, der bei Verstand ist, wird irgendeine Ähnlichkeit zwischen der N.E.P. und der Forderung der Kronstädter Matrosen nach dem Recht auf freien Warenaustausch sehen. Die N.E.P. kam, um die schwerwiegenden Übel wieder einzuführen, die die Russische Revolution versucht hatte auszurotten. Der freie Austausch von Produkten zwischen den Arbeitern und den Bauern, zwischen Stadt und Land, verkörperte die eigentliche raison d’etre der Revolution. Natürlich waren „die Anarchisten gegen die N.E.P.“. Aber der freie Austausch, so hatte Sinowjew mir 1920 gesagt, „gehört nicht zu unserem Plan der Zentralisierung.“ Der arme Sinowjew konnte sich nicht vorstellen, was für ein furchtbares Ungeheuer die Zentralisierung der Macht werden würde.

Es ist die idée fixe der Zentralisierung der Diktatur, die schon früh die Stadt und das Dorf, die Arbeiter und die Bauern zu spalten begann, nicht, wie Leo Trotzki es sagen wird, weil „die einen proletarisch … und die anderen kleinbürgerlich sind“, sondern weil die Diktatur die Initiative sowohl des Stadtproletariats als auch der Bauernschaft gelähmt hatte.

Leo Trotzki lässt es so aussehen, als hätten die Petrograder Arbeiter schnell „den kleinbürgerlichen Charakter des Kronstädter Aufstandes gespürt und sich deshalb geweigert, etwas mit ihm zu tun zu haben.“ Er lässt den wichtigsten Grund für die scheinbare Gleichgültigkeit der Petrograder Arbeiter aus. Es ist daher von Bedeutung, darauf hinzuweisen, dass die Kampagne der Verleumdung, Lügen und Verleumdung gegen die Matrosen am 2. März 1921 begann. Die Sowjetpresse versprühte regelrecht Gift gegen die Matrosen. Die abscheulichsten Anschuldigungen wurden gegen sie erhoben, und dies wurde bis zur Liquidierung von Kronstadt am 17. März fortgesetzt. Darüber hinaus wurde Petrograd unter Kriegsrecht gestellt. Mehrere Fabriken wurden geschlossen, und die so beraubten Arbeiterinnen und Arbeiter begannen, sich untereinander zu beraten. Im Tagebuch von Alexander Berkman finde ich folgendes:–

„Es finden viele Verhaftungen statt. Gruppen von Streikenden, die von Tschekisten auf dem Weg ins Gefängnis bewacht werden, sind ein häufiger Anblick. Es herrscht große nervöse Spannung in der Stadt. Es wurden aufwendige Vorkehrungen getroffen, um die Regierungseinrichtung zu schützen. Auf dem Astoria, den Wohnhäusern von Sinowjew und anderen prominenten Bolschewiki, sind Maschinengewehre aufgestellt. Offizielle Proklamationen befehlen die sofortige Rückkehr der Streikenden in die Fabriken … und warnen die Bevölkerung davor, sich auf den Straßen zu versammeln.

„Das Verteidigungskomitee hat eine ‚Säuberung der Stadt‘ eingeleitet. Viele Arbeiter, die verdächtigt werden, mit Kronstadt zu sympathisieren, wurden unter Arrest gestellt. Alle Petrograder Matrosen und ein Teil der Garnison, die als ‚unzuverlässig‘ gelten, wurden an weit entfernte Punkte beordert, während die Familien der Kronstädter Matrosen, die in Petrograd leben, als Geiseln gehalten werden. Das Verteidigungskomitee teilte Kronstadt mit, dass ‚die Gefangenen als Pfand‘ für die Sicherheit des Kommissars der Baltischen Flotte, N. N. Kusmin, des Vorsitzenden des Kronstädter Sowjets, T. Wassilijew, und anderer Kommunisten gehalten werden. Wenn unseren Genossen der geringste Schaden zugefügt wird, werden die Geiseln mit ihrem Leben bezahlen.“

Unter diesen eisernen Regeln war es für die Arbeiter von Petrograd physisch unmöglich, sich mit Kronstadt zu verbünden, zumal kein einziges Wort der von den Matrosen in ihrer Zeitung herausgegebenen Manifeste zu den Arbeitern in Petrograd durchdringen durfte. Mit anderen Worten: Leo Trotzki verfälscht absichtlich die Tatsachen. Die Arbeiter hätten sich mit Sicherheit auf die Seite der Matrosen gestellt, weil sie wussten, dass sie keine Meuterer oder Konterrevolutionäre waren, sondern dass sie sich auf die Seite der Arbeiter gestellt hatten, wie es ihre Genossen schon 1905 und im März und Oktober 1917 getan hatten. Es ist daher eine grob kriminelle und bewusste Verleumdung des Andenkens der Kronstädter Matrosen.

In der New International auf Seite 106, zweite Spalte, versichert Trotzki seinen Lesern, dass sich niemand, „wie wir beiläufig sagen dürfen, in jenen Tagen Gedanken über die Anarchisten gemacht hat.“ Das stimmt leider nicht mit der unaufhörlichen Verfolgung der Anarchisten überein, die 1918 begann, als Leo Trotzki die anarchistische Zentrale in Moskau mit Maschinengewehren liquidierte. Zu dieser Zeit begann der Prozess der Eliminierung der Anarchisten. Selbst jetzt, so viele Jahre später, sind die Konzentrationslager der Sowjetregierung voll mit den am Leben gebliebenen Anarchisten. Eigentlich vor dem Kronstädter Aufstand, nämlich im Oktober 1920, als Leo Trotzki seine Meinung über Machno wieder geändert hatte, weil er seine Hilfe und seine Armee brauchte, um Wrangel zu liquidieren, und als er der Anarchistenkonferenz in Charkhov zustimmte, wurden mehrere hundert Anarchisten in ein Netz gezogen und in das Boutirka-Gefängnis verschleppt, wo sie ohne jede Anklage bis April 1921 festgehalten wurden, als sie zusammen mit anderen linken Politikern mitten in der Nacht gewaltsam abgeführt und heimlich in verschiedene Gefängnisse und Konzentrationslager in Russland und Sibirien geschickt wurden. Aber das ist eine Seite der sowjetischen Geschichte für sich. Worauf es in diesem Fall ankommt, ist, dass man sehr viel von den Anarchisten gehalten haben muss, sonst hätte es keinen Grund gegeben, sie zu verhaften und auf die alte zaristische Weise in entfernte Teile Russlands und Sibiriens zu verschiffen.

Leo Trotzki macht sich über die Forderungen der Matrosen nach freien Sowjets lustig. Es war in der Tat naiv von ihnen zu denken, dass freie Sowjets Seite an Seite mit einer Diktatur leben können. Tatsächlich hatten die freien Sowjets in einem frühen Stadium des kommunistischen Spiels aufgehört zu existieren, ebenso wie die Gewerkschaften und die Kooperativen. Sie waren alle an das Wagenrad der bolschewistischen Staatsmaschine angehängt worden. Ich erinnere mich gut, wie Lenin mir mit großer Genugtuung sagte: „Dein großer alter Mann, Enrico Malatesta, ist für unsere Sowjets.“ Ich beeilte mich zu sagen: „Du meinst freie Sowjets, Genosse Lenin. Auch ich bin für sie.“ Lenin lenkte unser Gespräch auf etwas anderes. Aber ich fand bald heraus, warum es in Russland keine freien Sowjets mehr gab.

John G. Wright wird behaupten, dass es bis zum 22. Februar keine Unruhen in Petrograd gab. Das deckt sich mit seinem anderen Aufguss des „historischen“ Parteimaterials. Die Unruhe und Unzufriedenheit der Arbeiter war schon sehr ausgeprägt, als wir ankamen. In jedem Betrieb, den ich besuchte, fand ich extreme Unzufriedenheit und Unmut, weil die Diktatur des Proletariats in eine verheerende Diktatur der Kommunistischen Partei mit ihren unterschiedlichen Rationen und Diskriminierungen verwandelt worden war. Wenn die Unzufriedenheit der Arbeiter vor 1921 nicht ausgebrochen war, dann nur, weil sie sich noch zäh an die Hoffnung klammerten, dass mit der Liquidierung der Fronten das Versprechen der Revolution erfüllt werden würde. Es war Kronstadt, das die letzte Seifenblase zerplatzen ließ.

Die Matrosen hatten es gewagt, sich an die Seite der unzufriedenen Arbeiter zu stellen. Sie hatten es gewagt zu fordern, dass das Versprechen der Revolution – alle Macht in den Sowjets – erfüllt werden sollte. Die politische Diktatur hatte die Diktatur des Proletariats erschlagen. Das und nur das war ihr unverzeihliches Vergehen gegen den heiligen Geist des Bolschewismus.

In seinem Artikel hat Wright eine Fußnote auf Seite 49, zweite Spalte, in der er feststellt, dass Victor Serge in einem kürzlich erschienenen Kommentar zu Kronstadt „einräumt, dass die Bolschewiki, einmal mit der Meuterei konfrontiert, keine andere Möglichkeit hatten, als sie zu zerschlagen.“ Victor Serge ist jetzt nicht mehr an den gastfreundlichen Gestaden des „Vaterlandes“ der Arbeiter. Ich betrachte es daher nicht als Vertrauensbruch, wenn ich sage, dass, wenn Victor Serge diese ihm von John G. Wright unterstellte Aussage gemacht hat, er einfach nicht die Wahrheit sagt. Victor Serge war einer aus der französischen kommunistischen Sektion, der genauso verzweifelt und entsetzt über das bevorstehende Gemetzel war, das von Leo Trotzki beschlossen wurde, um „die Matrosen wie Fasane zu erschießen“, wie Alexander Berkman, ich und viele andere Revolutionäre. Er verbrachte jede freie Stunde damit, in unserem Zimmer auf und ab zu laufen, sich die Haare zu raufen, die Fäuste vor Empörung zu ballen und zu wiederholen, dass „etwas getan werden muss, etwas getan werden muss, um das schreckliche Massaker zu stoppen.“ Als er gefragt wurde, warum er als Parteimitglied in der Parteisitzung nicht seine Stimme zum Protest erhob, war seine Antwort, dass dies den Matrosen nicht helfen würde und ihn für die Tscheka und sogar für das stille Verschwinden markieren würde. Die einzige Entschuldigung für Victor Serge war damals eine junge Frau und ein kleines Baby. Aber dass er jetzt, nach siebzehn Jahren, behauptet, dass „die Bolschewiki, einmal mit der Meuterei konfrontiert, keine andere Möglichkeit hatten, als sie zu zerschlagen“, ist, gelinde gesagt, unentschuldbar. Victor Serge weiß so gut wie ich, dass es in Kronstadt keine Meuterei gab, dass die Matrosen tatsächlich in keiner Weise von ihren Waffen Gebrauch gemacht haben, bis die Bombardierung Kronstadts begann. Er weiß auch, dass weder die verhafteten kommunistischen Kommissare noch irgendwelche anderen Kommunisten von den Matrosen angefasst wurden. Ich fordere daher Victor Serge auf, mit der Wahrheit herauszurücken. Dass er unter dem kameradschaftlichen Regime von Lenin, Trotzki und all den anderen Unglücklichen, die kürzlich ermordet wurden, in Russland bleiben konnte, im Bewusstsein all der Schrecken, die vor sich gehen, ist seine Sache, aber ich kann nicht schweigen angesichts der Anschuldigung gegen ihn, dass die Bolschewiki berechtigt waren, die Matrosen zu zerschlagen.

Leo Trotzki ist sarkastisch über die Anschuldigung, er habe 1.500 Matrosen erschossen. Nein, er habe die blutige Arbeit nicht selbst getan. Er beauftragte Tuchatschewski, seinen Leutnant, die Matrosen „wie Fasane“ zu erschießen, wie er gedroht hatte. Tuchatschewski führte den Befehl bis zur letzten Konsequenz aus. Die Zahl stieg zu Legionen an, und diejenigen, die nach dem unaufhörlichen Angriff der bolschewistischen Artillerie übrig blieben, wurden unter die Obhut von Dibenko gestellt, der für seine Menschlichkeit und seine Gerechtigkeit berühmt war.

Tuchatschewski und Dibenko, die Helden und Retter der Diktatur! Die Geschichte scheint ihre eigene Art zu haben, Gerechtigkeit zu üben.

Leo Trotzki versucht einen Trumpf auszuspielen, wenn er fragt: „Wo und wann wurden ihre großen Prinzipien bestätigt, in der Praxis zumindest teilweise, zumindest in der Tendenz?“ Diese Karte, wie alle anderen, die er in seinem Leben schon gespielt hat, wird ihm das Spiel nicht gewinnen. In der Tat wurden die anarchistischen Prinzipien in der Praxis und in der Tendenz in Spanien bestätigt. Ich stimme zu, aber nur teilweise. Wie könnte das anders sein bei all den Kräften, die sich gegen die spanische Revolution verschworen haben? Die konstruktive Arbeit, die von der Nationalen Konföderation der Arbeit (C.N.T.) und der Anarchistischen Föderation von Iberien (F.A.I.) geleistet wird, ist etwas, woran das bolschewistische Regime in all den Jahren seiner Macht nie gedacht hat, und dennoch ragt die Kollektivierung der Industrien und des Landes als die größte Errungenschaft jeder revolutionären Periode heraus. Außerdem, selbst wenn Franco gewinnen sollte und die spanischen Anarchisten ausgerottet werden, wird die Arbeit, die sie begonnen haben, weiterleben. Die anarchistischen Prinzipien und Tendenzen sind so tief im spanischen Boden verwurzelt, dass sie nicht ausgerottet werden können.

 

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Leo Trotzki, John G. Wright und die spanischen Anarchisten.

Während des vierjährigen Bürgerkriegs in Russland standen die Anarchisten fast geschlossen an der Seite der Bolschewiki, obwohl sie sich täglich mehr des bevorstehenden Zusammenbruchs der Revolution bewusst wurden. Sie fühlten sich verpflichtet, zu schweigen und alles zu vermeiden, was den Feinden der Revolution Hilfe und Beistand bringen würde.

Gewiss kämpfte die russische Revolution gegen viele Fronten und viele Feinde, aber zu keiner Zeit waren die Widerstände so erschreckend wie die, die dem spanischen Volk, den Anarchisten und der Revolution gegenüberstehen. Die Bedrohung durch Franco, unterstützt durch deutsche und italienische Mannstärke und militärische Ausrüstung, der auf Spanien übertragene Segen Stalins, die Verschwörung der imperialistischen Mächte, der Verrat durch die sogenannten Demokratien und nicht zuletzt die Apathie des internationalen Proletariats, überwiegen bei weitem die Gefahren, die die Russische Revolution umgaben. Was tut Trotzki im Angesicht einer solch schrecklichen Tragödie? Er schließt sich dem heulenden Mob an und stößt seinen eigenen vergifteten Dolch in die Vitalität der spanischen Anarchisten in ihrer entscheidenden Stunde. Ohne Zweifel haben die spanischen Anarchisten einen schweren Fehler begangen. Sie haben es versäumt, Leo Trotzki einzuladen, die Leitung der spanischen Revolution zu übernehmen und ihnen zu zeigen, wie gut er in Russland Erfolg hatte, damit sich das Ganze auf spanischem Boden wiederholen kann. Das scheint sein Kummer zu sein.

[Die letzte Seite des Pamphlets enthält eine Auflistung anarchistischer Pamphlete, die beim C.N.T.-F.A.I.-Büro in London, England, und bei der Anarchist Communist Federation in Glasgow, Schottland, zu kaufen sind.]

 

1A.d.Ü., zu finden auf unserem Blog hier: http://panopticon.blogsport.eu/2018/02/26/der-aufstand-in-kronstadt-ii/ oder hier: https://panopticon.blackblogs.org/2018/02/26/der-aufstand-in-kronstadt-ii/

2A.d.Ü., sub rosa (lat. Unter der Rose) bedeutet vertraulich, geheim, privat.

3A.d.Ü., Anathema bedeutet Kirchenbann, Bannfluch, also den Ausschluss aus einer kirchlichen Gemeinde, vergleichbar mit Exkommunikation.

4„My Disillusionment in Russia (Meine Enttäuschung in Russland)“ S. 239.

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