Errico Malatesta – Soligruppe für Gefangene https://panopticon.blackblogs.org Für die Anarchie! Knäste, Staat, Patriarchat und Kapital abschaffen! Tue, 07 May 2024 18:47:50 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.1 https://panopticon.blackblogs.org/wp-content/uploads/sites/1233/2020/02/cropped-discharge-degenerik-blog-1-32x32.jpg Errico Malatesta – Soligruppe für Gefangene https://panopticon.blackblogs.org 32 32 (1921, Malatesta) Die revolutionäre „Eile/Hast“ https://panopticon.blackblogs.org/2023/09/04/1921-malatesta-die-revolutionaere-eile-hast/ Mon, 04 Sep 2023 09:50:50 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5162 Continue reading ]]>

Gefunden auf marxists.org, die Übersetzung ist von uns.

Wie wir schon auf unserer Veranstaltung/Diskussion zum ‚Aufständischen Anarchismus‘ sagten, ist es historisch nicht möglich den Anarchismus von der aufständischen Praxis der Massen zu trennen. Wir werden in kommender Zeit mehrere Artikel veröffentlichen, bzw. übersetzen die genau dass unterstreichen, es handelt sich hier um Artikel/Texte aus verschiedenen Epochen und Ländern, die unser Wissen nach auch noch nie zuvor ins Deutsche übersetzt worden sind. Dies ist der neunte Text in der Reihe.


Die revolutionäre „Eile/Hast“

Verfasst am: September 6, 1921 Quelle: Umanità Nova, Nr. 125, 6. September 1921

Beschäftigen wir uns noch einmal mit dem Artikel von G. Valenti, der von der Zeitung Giustizia aus Reggio Emilia veröffentlicht wurde Valenti hält sich damit auf, alle Massen aufzuzählen, die der subversiven Propaganda gleichgültig oder feindlich gegenüberstehen. In Bezug auf die Vereinigten Staaten behauptet er, dass es 60 (?) Millionen Katholiken gibt, die in religiösen Vereinigungen organisiert sind, in die Kirche gehen und zu Gott beten, und er fordert die Anarchistinnen und Anarchisten auf, unter diesen 60 Millionen Menschen Propaganda zu machen, wenn sie die Revolution beschleunigen wollen. Er behauptet, dass nur 4,5 Millionen der 40 Millionen Produzenten in Organisationen organisiert sind, von denen die meisten immer noch gegen den Sozialismus sind. Er fordert auch die Gewerkschafter/Syndikalisten auf, die Arbeiterinnen und Arbeiter in Gewerkschaften/Syndikate zu organisieren, wenn sie die Revolution wirklich beschleunigen wollen. Er behauptet, dass nur eine Million von fünfundzwanzig Millionen Wählerinnen und Wählern bei den letzten Wahlen für Debs gestimmt haben, er erinnert daran, dass im Süden sozialistische Rednerinnen und Redner von patriotisch angehauchten Mobs verprügelt und aus den Städten vertrieben werden; schließlich fordert er die Kommunistinnen und Kommunisten auf, im Süden für ihre 21 Punkte zu werben, anstatt „die Sozialistinnen und Sozialisten zu nerven, sie zu akzeptieren“

Das ist nur zu wahr und richtig, wenn es bedeutet, dass wir Propaganda machen und unser Bestes tun müssen, um so viele Einzelpersonen, so viele Massen wie möglich für die Ideen der Emanzipation zu gewinnen.

Andererseits ist das Argument völlig falsch, wenn es bedeutet, dass die Zerschlagung des Kapitalismus warten muss, bis jene 60 Millionen Katholiken zu Freidenkern werden, alle Arbeiterinnen und Arbeiter (oder ihre Mehrheit) für den Klassenkampf organisiert sind und Debs dank der Mehrheit der Wähler aus dem Gefängnis kommt.

Damit wir uns nicht falsch verstehen. Es ist eine axiomatische, selbstverständliche Wahrheit, dass eine Revolution nur gemacht werden kann, wenn es genug Kraft dafür gibt. Es ist jedoch eine historische Wahrheit, dass die Kräfte, die die Evolution und soziale Revolutionen bestimmen, nicht mit Zensuspapieren gerechnet werden können.

Die Katholiken in den Vereinigten Staaten und anderswo werden so zahlreich bleiben, wie sie sind, oder sogar noch zunehmen, solange es eine Klasse gibt, die über die Macht des Reichtums und der Wissenschaft verfügt und daran interessiert ist, die Massen in ihrer intellektuellen Sklaverei zu halten, um sie leichter beherrschen zu können. Solange Armut, Arbeitslosigkeit, Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes und der Wunsch, die eigenen Bedingungen zu verbessern, den Antagonismus unter den Arbeiterinnen und Arbeitern nähren und den Herren die Möglichkeit geben, jede Situation und jede Krise auszunutzen, um die Arbeiterinnen und Arbeiter gegeneinander auszuspielen, werden die Organisationen der Arbeiterinnen und Arbeiter niemals vollständig organisiert sein und immer wieder zusammenbrechen oder degenerieren. Und Wählerinnen und Wähler werden per Definition immer Schafe sein, auch wenn sie manchmal zurückschlagen.

Unter bestimmten ökonomischen Bedingungen und in einem bestimmten sozialen Umfeld bleiben die intellektuellen und moralischen Voraussetzungen der Massen erwiesenermaßen grundsätzlich gleich. Bis ein äußeres, ideelles oder materielles Gewaltereignis eintritt und dieses Umfeld verändert, bleiben Propaganda, Erziehung und Unterricht hilflos; sie wirken nur auf die Menschen, die das Umfeld, in dem sie aufgrund natürlicher oder sozialer Privilegien leben müssen, überwinden können. Diese kleine Zahl, die selbstbewusste und rebellische Minderheit, die in jeder Gesellschaftsordnung als Folge der Ungerechtigkeiten, denen die Masse ausgesetzt ist, entsteht, wirkt jedoch wie ein historisches Ferment, das wie immer ausreicht, um die Welt voranzubringen.

Jede neue Idee und Institution, jeder Fortschritt und jede Revolution waren schon immer das Werk von Minderheiten. Es ist unser Bestreben und unser Ziel, dass alle Menschen sozial bewusst und effektiv werden; aber um dieses Ziel zu erreichen, ist es notwendig, alle mit den Mitteln zum Leben und zur Entwicklung auszustatten, und deshalb ist es notwendig, die Gewalt, die den Arbeiterinnen und Arbeitern diese Mittel vorenthält, mit Gewalt zu zerstören, da man nicht anders kann.

Natürlich muss die „kleine Zahl“, die Minderheit, ausreichen, und diejenigen, die sich vorstellen, dass wir jeden Tag einen Aufstand machen wollen, ohne die Kräfte zu berücksichtigen, die sich uns entgegenstellen, oder ob die Umstände zu unseren Gunsten oder gegen uns sind, schätzen uns falsch ein. In der Vergangenheit konnten wir eine Reihe von kleinen Aufständen durchführen, die keine Aussicht auf Erfolg hatten, und das haben wir auch getan. Aber damals waren wir tatsächlich nur eine Handvoll und wollten, dass die Öffentlichkeit über uns spricht, und unsere Versuche waren einfach nur Mittel der Propaganda.

Jetzt geht es nicht mehr um einen Aufstand, um Propaganda zu machen; jetzt können wir gewinnen, und deshalb wollen wir gewinnen und unternehmen solche Aktionen nur, wenn wir glauben, dass wir gewinnen können. Natürlich können wir uns irren und aufgrund unseres Temperaments glauben, dass die Früchte reif sind, wenn sie noch grün sind; aber wir müssen zugeben, dass wir diejenigen bevorzugen, die sich beeilen, im Gegensatz zu denen, die immer abwarten und sich die besten Gelegenheiten entgehen lassen, weil sie aus Angst, eine grüne Frucht zu pflücken, die ganze Ernte verfaulen lassen!

Abschließend stimmen wir mit La Giustizia völlig überein, wenn sie die Notwendigkeit betont, viel Propaganda zu machen und proletarische Kampforganisationen so weit wie möglich zu entwickeln; aber wir weichen definitiv von ihr ab, wenn sie behauptet, dass wir erst dann aktiv werden sollten, wenn wir die Mehrheit der trägen Masse angezogen haben, die erst durch die Ereignisse bekehrt wird und die Revolution erst dann akzeptiert, wenn die Revolution begonnen hat.

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(1922, Malatesta) Die anarchistische Revolution https://panopticon.blackblogs.org/2023/09/04/1922-malatesta-die-anarchistische-revolution/ Mon, 04 Sep 2023 09:46:59 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5160 Continue reading ]]>

Gefunden auf marxists.org, die Übersetzung ist von uns.

Wie wir schon auf unserer Veranstaltung/Diskussion zum ‚Aufständischen Anarchismus‘ sagten, ist es historisch nicht möglich den Anarchismus von der aufständischen Praxis der Massen zu trennen. Wir werden in kommender Zeit mehrere Artikel veröffentlichen, bzw. übersetzen die genau dass unterstreichen, es handelt sich hier um Artikel/Texte aus verschiedenen Epochen und Ländern, die unser Wissen nach auch noch nie zuvor ins Deutsche übersetzt worden sind. Dies ist der achte Text in der Reihe.


Die anarchistische Revolution

Geschrieben: ~1922
Quelle: Anarchy Archives

Die Revolution ist die Schaffung neuer lebendiger Institutionen, neuer Gruppierungen, neuer sozialer Beziehungen; sie ist die Zerstörung von Privilegien und Monopolen; sie ist der neue Geist der Gerechtigkeit, der Brüderlichkeit und der Freiheit, der das gesamte soziale Leben erneuern, das moralische Niveau und die materiellen Bedingungen der Massen anheben muss, indem er sie auffordert, durch ihr direktes und gewissenhaftes Handeln für ihre eigene Zukunft zu sorgen. Revolution ist die Organisation aller öffentlichen Dienste durch diejenigen, die in ihnen im eigenen Interesse und im Interesse der Allgemeinheit arbeiten; Revolution ist die Zerstörung aller Zwangsbindungen; sie ist die Autonomie der Gruppen, der Gemeinden, der Regionen; Revolution ist die freie Föderation, die durch den Wunsch nach Brüderlichkeit, durch individuelle und kollektive Interessen, durch die Bedürfnisse der Produktion und der Verteidigung hervorgerufen wird; Revolution ist die Konstituierung unzähliger freier Gruppierungen, die auf den Ideen, Wünschen und Vorlieben der Menschen beruhen; Revolution ist die Bildung und Auflösung tausender repräsentativer, bezirklicher, kommunaler, regionaler und nationaler Gremien, die, ohne eine gesetzgebende Gewalt zu haben, dazu dienen, die Wünsche und Interessen der Menschen in der Nähe und in der Ferne bekannt zu machen und zu koordinieren, und die durch Information, Rat und Beispiel handeln. Die Revolution ist die Freiheit, die sich im Schmelztiegel der Tatsachen bewährt hat – und sie dauert so lange, wie die Freiheit dauert, das heißt, bis es anderen gelingt, unter Ausnutzung der Müdigkeit, die die Massen überkommt, der unvermeidlichen Enttäuschungen, die auf übertriebene Hoffnungen folgen, der wahrscheinlichen Irrtümer und menschlichen Fehler, eine Macht zu bilden, die, unterstützt von einer Armee von Wehrpflichtigen oder Söldnern, das Gesetz festlegt, die Bewegung an dem Punkt festhält, den sie erreicht hat, und dann die Reaktion beginnt.

Die große Mehrheit der Anarchistinnen und Anarchisten vertritt, wenn ich mich nicht irre, die Ansicht, dass die Perfektionierung des Menschen und die Anarchie nicht einmal in ein paar tausend Jahren erreicht werden könnten, wenn man nicht zuerst durch die Revolution, die von einer bewussten Mehrheit durchgeführt wird, das notwendige Umfeld für Freiheit und Wohlergehen schaffen würde. Deshalb wollen wir die Revolution so schnell wie möglich durchführen, und dazu müssen wir alle positiven Kräfte und jede günstige Situation, die sich ergibt, ausnutzen.

Die Aufgabe der bewussten Minderheit ist es, jede Situation zu nutzen, um die Umwelt so zu verändern, dass die Bildung des ganzen Volkes möglich wird.

Und da die heutige Umwelt, die die meisten Menschen dazu zwingt, im Elend zu leben, durch Gewalt aufrechterhalten wird, befürworten wir Gewalt und bereiten uns darauf vor. Deshalb sind wir Revolutionäre, und nicht, weil wir verzweifelte Männer sind, die nach Rache dürsten und voller Hass sind.

Wir sind Revolutionäre, weil wir glauben, dass nur die Revolution, die gewaltsame Revolution, die Übel, mit denen wir konfrontiert sind, lösen kann. Wir glauben außerdem, dass die Revolution ein Akt des Willens ist – des Willens der Einzelnen und der Massen; dass sie für ihren Erfolg bestimmte objektive Bedingungen braucht, die sich aber nicht zwangsläufig durch das alleinige Wirken ökonomischer und politischer Kräfte ergeben.

Unsere Aufgabe ist es, nicht nur im philosophischen Sinne des Wortes revolutionär zu sein, sondern auch im populären und aufständischen Sinne; und das kann ich sagen, um meine Ansichten klar von denen anderer zu unterscheiden, die sich zwar Revolutionäre nennen, aber die Welt so interpretieren, dass sie den Aufstand, der den Weg zu revolutionären Errungenschaften öffnen muss, nicht mit Gewalt herbeiführen müssen.

Die Anarchie kann erst nach der Revolution erreicht werden, die die ersten materiellen Hindernisse aus dem Weg räumen wird. Es ist also klar, dass unsere Bemühungen in erster Linie darauf gerichtet sein müssen, die Revolution zu machen und zwar so, dass sie in Richtung Anarchie geht. Wir müssen die Revolution mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln herbeiführen und in ihr als Anarchisten und Anarchistinnen agieren, indem wir uns der Errichtung eines autoritären Regimes widersetzen und so viel wie möglich von unserem Programm in die Tat umsetzen. Anarchistinnen und Anarchisten müssen die größere Freiheit nutzen, die wir gewonnen hätten. Wir müssen moralisch und technisch darauf vorbereitet sein, im Rahmen unserer Möglichkeiten die Formen des gesellschaftlichen Lebens und der Zusammenarbeit zu verwirklichen, die sie für die besten und geeignetsten halten, um den Weg in die Zukunft zu ebnen.

Wir wollen nicht darauf warten, dass die Massen anarchistisch werden, bevor wir die Revolution machen, denn wir sind überzeugt, dass sie niemals anarchistisch werden, wenn die Institutionen, die sie versklaven, nicht vorher zerstört werden. Und da wir die Unterstützung der Massen brauchen, um eine ausreichend starke Kraft aufzubauen und unsere spezielle Aufgabe der radikalen Veränderung der Gesellschaft durch die direkte Aktion der Massen zu erreichen, müssen wir uns ihnen annähern, sie so akzeptieren, wie sie sind, und aus ihren Reihen heraus versuchen, sie so weit wie möglich voranzutreiben. Das gilt natürlich nur, wenn wir uns wirklich für die praktische Verwirklichung unserer Ideale einsetzen wollen und uns nicht damit begnügen, zur bloßen Befriedigung unseres intellektuellen Stolzes in der Wüste zu predigen.

Für uns ist Revolution nicht gleichbedeutend mit Fortschritt, mit einer historischen Sicht auf das Leben. Ich spüre, dass alle Arten von Menschen revolutionär sind. Wenn man die Jahrhunderte in die Diskussion einbringt, wird jeder mit allem einverstanden sein, was er sagt. Aber wenn wir von Revolution sprechen, wenn die Massen von Revolution sprechen, wie wenn man sie in der Geschichte erwähnt, meint man einfach den siegreichen Aufstand. Aufstände werden so lange notwendig sein, wie es Machtgruppen gibt, die ihre materielle Gewalt einsetzen, um von den Massen Gehorsam zu verlangen. Und es ist nur zu klar, dass es noch viele weitere Aufstände geben wird, bevor das Volk jenes Minimum an unabdingbaren Bedingungen für eine freie und friedliche Entwicklung erlangt, bei der die Menschheit ohne grausame Kämpfe und sinnloses Leid auf ihre edelsten Ziele zusteuern kann.

Mit Revolution meinen wir nicht nur den Aufstand, sondern wir müssen es vermeiden, einen Zustand der Nötigung durch einen anderen zu ersetzen. Wir müssen klar unterscheiden zwischen dem revolutionären Akt, der so viel wie möglich von der alten Ordnung zerstört und an ihre Stelle neue Institutionen setzt, und der Regierung, die danach kommt, um die Revolution zu stoppen und so viele der revolutionären Errungenschaften zu unterdrücken, wie sie kann.

Die Geschichte lehrt uns, dass alle Fortschritte, die das Ergebnis von Revolutionen sind, in der Zeit der Begeisterung des Volkes erzielt wurden, als es entweder noch keine anerkannte Regierung gab oder diese zu schwach war, um sich gegen die Revolution zu wehren. Sobald aber eine Regierung gebildet wurde, setzte eine Reaktion ein, die den Interessen der alten und neuen privilegierten Klassen diente und dem Volk alles wegnahm, was es konnte.

Unsere Aufgabe ist es also, die Revolution zu machen und anderen zu helfen, sie zu machen, indem wir jede Gelegenheit und alle verfügbaren Kräfte nutzen: die Revolution so weit wie möglich in ihrer konstruktiven wie auch destruktiven Rolle voranzutreiben und immer gegen die Bildung einer Regierung zu bleiben, sie entweder zu ignorieren oder sie bis an die Grenzen unserer Möglichkeiten zu bekämpfen.

Wir werden eine republikanische Verfassung genauso wenig anerkennen wie eine parlamentarische Monarchie. Wir können sie nicht verhindern, wenn das Volk sie will; wir könnten sogar gelegentlich auf ihrer Seite sein, wenn es darum geht, Versuche zur Wiederherstellung einer Monarchie zu bekämpfen; aber wir wollen und werden völlige Freiheit für diejenigen fordern, die so denken wie wir und die außerhalb der Vormundschaft und Unterdrückung durch die Regierung leben wollen; um ihre Ideen in Wort und Tat zu verbreiten. Revolutionäre ja, aber vor allem Anarchistinnen und Anarchisten.

EINS: Die Zerstörung aller Konzentrationen von politischer Macht ist die erste Pflicht der unterdrückten Menschen.

ZWEI: Jede Organisation einer angeblich provisorischen revolutionären politischen Macht, um diese Zerstörung zu erreichen, kann nichts anderes sein als ein Trick mehr und wäre für das Volk genauso gefährlich wie alle derzeitigen Regierungen.

DREI: Indem sie jeden Kompromiss für die Verwirklichung der Revolution ablehnen, müssen die Arbeiterinnen und Arbeiter der Welt ihre Solidarität in der revolutionären Aktion außerhalb des Rahmens der bourgeoisen Politiker herstellen.

Diese anarchistischen Grundsätze, die unter der Inspiration von Bakunin auf dem Kongress von St. Imier 1872 formuliert wurden, weisen uns auch heute noch eine gute Richtung. Diejenigen, die versucht haben, im Widerspruch zu ihnen zu handeln, sind verschwunden, denn wie auch immer definiert, können Regierung, Diktatur und Parlament die Menschen nur zurück in die Sklaverei führen. Alle bisherigen Erfahrungen bestätigen dies. Für die Delegierten von St. Imier wie für uns und alle Anarchistinnen und Anarchisten ist die Abschaffung der politischen Macht ohne die gleichzeitige Zerstörung der ökonomischen Privilegien natürlich nicht möglich.

Es bedarf einer Revolution, um die materiellen Kräfte zu beseitigen, die Privilegien verteidigen und jeden echten sozialen Fortschritt verhindern. Diese Überzeugung hat viele dazu verleitet, zu glauben, dass nur der Aufstand wichtig ist, und zu übersehen, was getan werden muss, damit ein Aufstand nicht ein steriler Gewaltakt bleibt, auf den letztlich ein Akt reaktionärer Gewalt antworten würde. Für diejenigen, die das glauben, sind alle praktischen Fragen der Organisation und der Verteilung von Lebensmitteln müßig: Für sie sind das Angelegenheiten, die sich von selbst lösen oder von denen, die nach uns kommen, gelöst werden. Dennoch kommen wir zu folgendem Schluss: Wir alle müssen jetzt über eine soziale Neuordnung nachdenken, und wenn das Alte zerstört wird, werden wir eine menschlichere und gerechtere Gesellschaft haben, die auch für künftige Fortschritte empfänglicher ist. Die Alternative ist, dass „die Anführer“ über diese Probleme nachdenken und wir eine neue Regierung bekommen, die genau das tut, was alle vorherigen Regierungen getan haben, nämlich die Menschen für ihre dürftigen und schlechten Leistungen bezahlen zu lassen, indem sie ihnen die Freiheit nimmt und sie von jeder Art von Parasiten und Ausbeutern unterdrücken lässt.

Um die Polizei und alle schädlichen sozialen Einrichtungen abzuschaffen, müssen wir wissen, was wir an ihre Stelle setzen wollen, und zwar nicht in einer mehr oder weniger fernen Zukunft, sondern sofort, an dem Tag, an dem wir mit dem Abriss beginnen. Man zerstört nur das effektiv und dauerhaft, was man durch etwas anderes ersetzt; und die Lösung von Problemen, die sich mit der Dringlichkeit der Notwendigkeit stellen, auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben, hieße, den Institutionen, die man abschaffen will, Zeit zu geben, sich von dem Schock zu erholen und sich wieder durchzusetzen, vielleicht unter anderen Namen, aber sicherlich mit der gleichen Struktur.

Vielleicht werden unsere Lösungen von einem ausreichend großen Teil der Bevölkerung akzeptiert und wir haben die Anarchie erreicht oder einen Schritt in Richtung Anarchie getan; vielleicht werden sie aber auch nicht verstanden oder akzeptiert und dann dienen unsere Bemühungen als Propaganda und legen der breiten Öffentlichkeit das Programm für eine nicht allzu ferne Zukunft vor. Aber in jedem Fall müssen unsere Lösungen provisorisch sein und im Lichte der Praxis korrigiert und überarbeitet werden. Aber wir müssen unsere Lösungen haben, wenn wir uns nicht passiv den von anderen aufgezwungenen Lösungen unterwerfen und uns auf die unprofitable Rolle von nutzlosen und ohnmächtigen Nörglern beschränken wollen.

Ich glaube, dass wir Anarchistinnen und Anarchisten, die von der Gültigkeit unseres Programms überzeugt sind, besondere Anstrengungen unternehmen müssen, um einen vorherrschenden Einfluss zu erlangen, damit wir die Bewegung zur Verwirklichung unserer Ideale bewegen können; aber wir müssen diesen Einfluss erlangen, indem wir aktiver und effektiver sind als die anderen. Nur auf diese Weise lohnt es sich, ihn zu erlangen. Heute müssen wir gründlich prüfen, unsere Ideen entwickeln und verbreiten und unsere Anstrengungen für gemeinsame Aktionen koordinieren. Wir müssen innerhalb der populären Bewegungen agieren, um zu verhindern, dass sie sich auf die ausschließliche Forderung nach den kleinen Verbesserungen, die unter dem kapitalistischen System möglich sind, beschränken und davon korrumpiert werden, und versuchen, sie zur Vorbereitung der vollständigen und radikalen Veränderung unserer Gesellschaft zu nutzen. Wir müssen unter der Masse der unorganisierten und möglicherweise unorganisierbaren Menschen arbeiten, um in ihnen den Geist der Revolte und den Wunsch und die Hoffnung auf ein freies und glückliches Leben zu wecken. Wir müssen jede Art von Bewegung initiieren und unterstützen, die darauf abzielt, die Macht der Regierung und der Kapitalisten zu schwächen und das moralische Niveau und die materiellen Bedingungen des Volkes anzuheben. Wir müssen uns moralisch und materiell auf den revolutionären Akt vorbereiten, der uns den Weg in die Zukunft öffnen soll.

Und morgen, in der Revolution, müssen wir uns aktiv an dem notwendigen physischen Kampf beteiligen und versuchen, ihn so radikal wie möglich zu gestalten, um alle repressiven Kräfte der Regierung zu zerstören und das Volk dazu zu bringen, das Land, die Häuser, den Verkehr, die Fabriken, die Bergwerke und alle vorhandenen Güter in Besitz zu nehmen und sich so zu organisieren, dass es sofort eine gerechte Verteilung der Lebensmittel gibt. Gleichzeitig müssen wir den Warenaustausch zwischen den Gemeinden und Regionen organisieren und die Produktion und alle Dienstleistungen, die den Menschen nützen, weiter intensivieren.

Wir müssen auf jede erdenkliche Art und Weise und im Einklang mit den lokalen Bedingungen und Möglichkeiten das Handeln von Verbänden, Genossenschaften und Gruppen von Freiwilligen fördern, um das Entstehen neuer autoritärer Gruppen und neuer Regierungen zu verhindern, indem wir sie notfalls mit Gewalt bekämpfen, aber vor allem, indem wir sie unbrauchbar machen.

Und wenn es nicht genügend Unterstützung in der Bevölkerung gibt, um die Wiedereinsetzung der Regierung, ihrer autoritären Institutionen und ihrer Repressionsorgane zu verhindern, sollten wir uns weigern, mit ihr zusammenzuarbeiten oder sie anzuerkennen, und uns gegen ihre Forderungen auflehnen, indem wir volle Autonomie für uns und alle dissidenten Minderheiten einfordern. Wir sollten möglichst in einem Zustand der offenen Rebellion bleiben und den Weg bereiten, um die gegenwärtige Niederlage in einen zukünftigen Erfolg umzuwandeln.

Ich glaube nicht, dass es auf den Triumph unserer Pläne, Projekte und Utopien ankommt, die in jedem Fall der Bestätigung durch Praxis und Experiment bedürfen und infolgedessen möglicherweise geändert, weiterentwickelt oder an die wahren moralischen und materiellen Bedingungen von Zeit und Ort angepasst werden müssen. Das Wichtigste ist, dass die Menschen, alle Menschen, ihre schafähnlichen Instinkte und Gewohnheiten verlieren, die ihnen durch eine jahrhundertelange Sklaverei eingeimpft wurden, und dass sie lernen, frei zu denken und zu handeln. Dieser Aufgabe der Befreiung müssen Anarchistinnen und Anarchisten ihre Aufmerksamkeit widmen.

Sobald die Regierung gestürzt oder zumindest neutralisiert ist, ist es die Aufgabe des Volkes und insbesondere derjenigen unter ihnen, die Initiative und Organisationsfähigkeit besitzen, für die Befriedigung der unmittelbaren Bedürfnisse zu sorgen und sich auf die Zukunft vorzubereiten, indem sie Privilegien und schädliche Einrichtungen zerstören und in der Zwischenzeit dafür sorgen, dass die nützlichen Einrichtungen, die heute ausschließlich oder hauptsächlich der herrschenden Klasse dienen, allen gleichermaßen zugute kommen.

Anarchistinnen und Anarchisten haben die Aufgabe, militante Hüterinnen und Hüter der Freiheit gegen alle Machtanwärter und gegen die mögliche Tyrannei der Mehrheit zu sein.

Wir sind uns darin einig, dass es neben dem Problem, den Sieg gegen die materiellen Kräfte des Gegners zu sichern, auch das Problem gibt, die Revolution nach dem Sieg mit Leben zu erfüllen.

Wir sind uns einig, dass eine Revolution, die im Chaos enden würde, keine lebendige Revolution wäre.

Aber man sollte es nicht übertreiben und nicht denken, dass wir für jedes mögliche Problem eine perfekte Lösung finden müssen und können. Man sollte nicht zu viel vorhersehen und bestimmen wollen, denn anstatt uns auf die Anarchie vorzubereiten, könnten wir uns unerreichbaren Träumen hingeben oder uns zu autoritär verhalten und bewusst oder unbewusst vorschlagen, wie eine Regierung zu handeln, die im Namen der Freiheit und des populären Willens die Menschen ihrer Herrschaft unterwirft. Tatsache ist, dass man das Volk nicht erziehen kann, wenn es nicht in der Lage oder durch die Notwendigkeit gezwungen ist, selbst zu handeln, und dass die revolutionäre Organisation des Volkes, so nützlich und notwendig sie auch ist, nicht unbegrenzt gedehnt werden kann: An einem bestimmten Punkt, wenn sie nicht in revolutionäre Aktionen ausbricht, wird sie entweder von der Regierung erdrosselt oder die Organisation selbst degeneriert und zerfällt – und man muss wieder von vorne anfangen.

Ich kann weder die Ansicht akzeptieren, dass alle vergangenen Revolutionen, auch wenn sie keine anarchistischen Revolutionen waren, nutzlos waren, noch dass zukünftige, die noch keine anarchistischen Revolutionen sein werden, nutzlos sein werden. Ich glaube, dass der vollständige Triumph der Anarchie nicht durch eine gewaltsame Revolution, sondern durch eine allmähliche Entwicklung eintreten wird: wenn eine oder mehrere frühere Revolutionen die größten militärischen und ökonomischen Hindernisse beseitigt haben, die der geistigen und materiellen Entwicklung des Volkes entgegenstehen und die einer Steigerung der Produktion auf das Niveau der Bedürfnisse und Wünsche entgegenstehen.

Wenn wir unsere geringe Zahl und die vorherrschende Einstellung der meisten Menschen berücksichtigen und unsere Wünsche nicht mit der Realität verwechseln wollen, müssen wir auf jeden Fall damit rechnen, dass die nächste Revolution nicht die anarchistische sein wird. Deshalb ist es dringender, darüber nachzudenken, was wir in einer Revolution tun können und müssen, in der wir eine relativ kleine und schlecht bewaffnete Minderheit sein werden. Aber wir müssen uns davor hüten, dass wir weniger Anarchistinnen und Anarchisten werden, nur weil die Menschen nicht bereit für die Anarchie sind. Wenn sie eine Regierung wollen, ist es unwahrscheinlich, dass wir die Bildung einer neuen Regierung verhindern können, aber das ist kein Grund, nicht zu versuchen, die Menschen davon zu überzeugen, dass eine Regierung nutzlos und schädlich ist, oder zu verhindern, dass die Regierung auch uns und anderen, die das nicht wollen, etwas aufzwingt. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass sich das soziale Leben und vor allem die ökonomischen Standards auch ohne staatliche Eingriffe verbessern, und deshalb müssen wir so gut wie möglich bereit sein, uns mit den praktischen Problemen der Produktion und der Verteilung zu befassen, wobei wir daran denken, dass diejenigen, die die Arbeit am besten organisieren können, auch diejenigen sind, die sie jetzt tun. Wenn wir nicht in der Lage sind, die Bildung einer neuen Regierung zu verhindern, wenn wir nicht in der Lage sind, sie sofort zu zerstören, sollten wir uns in jedem Fall weigern, sie in irgendeiner Form zu unterstützen. Wir sollten die Einberufung zum Militär ablehnen und uns weigern, Steuern zu zahlen. Ungehorsam aus Prinzip, Widerstand bis zum bitteren Ende gegen jede Zumutung durch die Behörden und die absolute Weigerung, irgendeine Befehlsposition anzunehmen.

Wenn wir nicht in der Lage sind, den Kapitalismus zu stürzen, müssen wir für uns und für alle, die es wollen, das Recht auf freien Zugang zu den notwendigen Produktionsmitteln einfordern, um eine unabhängige Existenz zu erhalten.

Wir können beraten, wenn wir Vorschläge machen können; wir können lehren, wenn wir mehr wissen als andere; wir können ein Beispiel für ein Leben geben, das auf freiem Einvernehmen zwischen den Menschen beruht; wir können unsere Autonomie gegen jede staatliche Provokation verteidigen, wenn nötig und möglich auch mit Gewalt … aber befehlen, regieren oder herrschen – NIEMALS!

Auf diese Weise werden wir zwar nicht die Anarchie erreichen, die nicht gegen den Willen des Volkes durchgesetzt werden kann, aber wir werden zumindest den Weg dafür bereiten. Wir müssen nicht ewig darauf warten, dass der Staat verkümmert oder dass unsere Herrscher Teil des Volkes werden und ihre Macht über uns aufgeben, wenn wir ihnen ihre Position ausreden können.

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(1922, Errico Malatesta) Revolution in der Praxis https://panopticon.blackblogs.org/2023/08/21/1922-errico-malatesta-revolution-in-der-praxis/ Mon, 21 Aug 2023 09:53:12 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5136 Continue reading ]]>

Gefunden auf marxists.org, die Übetrsetzung ist von uns.

Wie wir schon auf unserer Veranstaltung/Diskussion zum ‚Aufständischen Anarchismus‘ sagten, ist es historisch nicht möglich den Anarchismus von der aufständischen Praxis der Massen zu trennen. Wir werden in kommender Zeit mehrere Artikel veröffentlichen, bzw. übersetzen die genau dass unterstreichen, es handelt sich hier um Artikel/Texte aus verschiedenen Epochen und Ländern, die unser Wissen nach auch noch nie zuvor ins Deutsche übersetzt worden sind. Dies ist der siebte Text in der Reihe.


Revolution in der Praxis

Geschrieben: Oktober, 1922

Quelle: Umanità Nova, Nr. 191, 7. Oktober 1922 und Umanità Nova, Nr. 192, 14. Oktober 1922.

Auf dem Treffen in Biel (Schweiz) anlässlich des fünfzigsten Jahrestages des Kongresses von Saint Imier äußerten der Gefährte Bertoni und ich einige Ideen, die dem Gefährten Colomer nicht gefielen. So sehr, dass er im Pariser Libertaire schrieb, er sei sicher, dass diese Ideen im Gegensatz zu den lebendigsten Tendenzen der zeitgenössischen anarchistischen Bewegung stehen. Wären die Gefährten und Gefährtinnen aus Deutschland, Spanien, Russland, Amerika usw. bei dieser Versammlung anwesend gewesen, so schreibt er, wären sie bewegt und fast entrüstet („émus et presque indigné“) gewesen, wie er selbst auch.

Meiner Meinung nach übertreibt der Gefährte Colomer ein wenig mit seinen Kenntnissen über die wirklichen Tendenzen des Anarchismus. In jedem Fall ist es zumindest ein unangemessener Sprachgebrauch, von „Entrüstung“ zu sprechen, wenn es um eine Diskussion geht, in der jeder ehrlich versucht, zur Klärung der Ideen im Interesse des gemeinsamen Ziels beizutragen. Es ist auf jeden Fall besser, wenn wir weiter in freundschaftlicher Weise diskutieren, so wie wir es in Biel getan haben.

Bertoni wird sicherlich seine Ideen im Réveil verteidigen; ich werde das Gleiche in der Umanità Nova tun, ebenso wie Colomer im Libertaire. Ich hoffe, dass sich auch andere Gefährten und Gefährtinnen an der Diskussion beteiligen werden; und es wird für alle von Vorteil sein, wenn jeder darauf achtet, den Gedanken des Widersprechenden in den Übersetzungen nicht zu verändern, die durch die Vielfalt der Sprachen erforderlich sind. Und es schadet auch nicht zu hoffen, dass sich niemand entrüstet, wenn er etwas hört, woran er nie gedacht hat.

In Biel wurden zwei Themen diskutiert: „Die Beziehungen zwischen Syndikalismus und Anarchismus“ und „Anarchistische Aktion beim Ausbruch eines Aufstandes“. Auf das erste Thema werde ich ein anderes Mal und in aller Ruhe zurückkommen, denn die Leserinnen und Leser von Umanità Nova wissen sicher schon, was ich darüber denke. Ich werde jetzt erklären, was ich zum zweiten Thema gesagt habe.

* * *

Wir wollen die Revolution so schnell wie möglich machen und dabei alle sich bietenden Gelegenheiten nutzen.

Mit Ausnahme einer kleinen Anzahl von „Pädagogen“, die an die Möglichkeit glauben, die Massen zu den anarchistischen Idealen zu erziehen, bevor sich die materiellen und moralischen Bedingungen, in denen sie leben, geändert haben, und somit die Revolution auf die Zeit verschieben, in der alle in der Lage sein werden, anarchisch zu leben, sind sich alle Anarchistinnen und Anarchisten in dem Wunsch einig, die derzeitigen Regime so schnell wie möglich zu stürzen: Tatsächlich sind sie oft die Einzigen, die einen wirklichen Wunsch danach zeigen.

Da Anarchistinnen und Anarchisten nur eine kleine Minderheit der Bevölkerung sind und Anarchie nicht mit Gewalt und von wenigen durchgesetzt werden kann, ist es klar, dass vergangene und zukünftige Revolutionen keine anarchistischen Revolutionen waren und sein werden.

In Italien stand die Revolution vor zwei Jahren kurz vor dem Ausbruch und wir haben alles getan, damit das passiert. Wir behandelten die Sozialisten und die Gewerkschafter/Syndikalisten, die bei den Unruhen gegen die hohen Lebenskosten, den Streiks im Piemont, dem Aufstand in Ancona und den Fabrikbesetzungen den Schwung der Massen aufhielten und das wackelige monarchische Regime retteten, wie Verräter.

Was hätten wir getan, wenn die Revolution endgültig ausgebrochen wäre?

Was werden wir in der Revolution tun, die morgen ausbrechen wird?

Was haben unsere Gefährten und Gefährtinnen getan, was hätten sie bei den jüngsten Revolutionen in Russland, Bayern, Ungarn und anderswo tun können und sollen?

Wir können keine Anarchie schaffen, zumindest keine, die sich auf die gesamte Bevölkerung und alle sozialen Beziehungen erstreckt, denn noch ist keine Bevölkerung anarchistisch, und wir können auch kein anderes Regime akzeptieren, ohne unsere Bestrebungen aufzugeben und jede Existenzberechtigung als Anarchistinnen und Anarchisten zu verlieren. Was können und müssen wir also tun?

Das war das Problem, das in Biel diskutiert wurde, und es ist das Problem von größtem Interesse in der heutigen Zeit, die so voller Möglichkeiten ist, in der wir plötzlich mit Situationen konfrontiert werden könnten, die von uns verlangen, entweder sofort und ohne zu zögern zu handeln oder vom Schlachtfeld zu verschwinden, nachdem wir den Sieg der anderen erleichtert haben.

Es ging nicht darum, eine Revolution so darzustellen, wie wir sie gerne hätten, eine wirklich anarchistische Revolution, wie sie möglich wäre, wenn alle oder zumindest die große Mehrheit der in einem bestimmten Gebiet lebenden Menschen Anarchistinnen und Anarchisten wären. Es ging darum, das Beste für die Sache der Anarchistinnen und Anarchisten in einer gesellschaftlichen Umwälzung zu erreichen, wie sie in der gegenwärtigen Situation möglich ist.

Die autoritären Parteien haben ein bestimmtes Programm und wollen es mit Gewalt durchsetzen; deshalb streben sie danach, die Macht zu ergreifen, egal ob legal oder illegal, und die Gesellschaft durch eine neue Gesetzgebung nach ihren Vorstellungen umzugestalten. Das erklärt, warum sie in Worten und oft auch in ihren Absichten revolutionär sind, aber sie zögern, eine Revolution zu machen, wenn sich die Gelegenheit bietet; sie sind sich der – auch passiven – Zustimmung der Mehrheit nicht sicher, sie verfügen nicht über genügend militärische Kräfte, um ihre Befehle auf dem gesamten Territorium durchzusetzen, es fehlt ihnen an engagierten Menschen mit Fähigkeiten in all den unzähligen Zweigen sozialer Aktivitäten … deshalb sind sie immer gezwungen, die Aktion aufzuschieben, bis sie durch den populären Aufstand fast widerwillig an die Regierung gedrängt werden. Sobald sie jedoch an der Macht sind, würden sie gerne für immer dort bleiben und versuchen daher, die Revolution, die sie hervorgebracht hat, zu verlangsamen, abzulenken und zu stoppen.

Wir hingegen haben ein Ideal, für das wir kämpfen und das wir gerne verwirklicht sehen würden, aber wir glauben nicht, dass ein Ideal der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Liebe durch die Gewalt der Regierung verwirklicht werden kann.

Wir wollen nicht an die Macht kommen und wir wollen auch nicht, dass jemand anderes an die Macht kommt. Wenn wir nicht verhindern können, dass Regierungen existieren und eingesetzt werden, weil wir nicht stark genug sind, streben wir danach, diese Regierungen so schwach wie möglich zu halten oder zu machen. Deshalb sind wir immer bereit, Maßnahmen zu ergreifen, wenn es darum geht, eine Regierung zu stürzen oder zu schwächen, ohne uns zu sehr (ich sage „zu sehr“, nicht „überhaupt“) darum zu sorgen, was danach passiert.

Für uns ist Gewalt nur nützlich und kann nur nützlich sein, um Gewalt zurückzudrängen. Andernfalls, wenn sie zur Erreichung positiver Ziele eingesetzt wird, scheitert sie entweder völlig, oder es gelingt ihr, die Unterdrückung und Ausbeutung der einen über die anderen durchzusetzen.
Der Aufbau und die fortschreitende Verbesserung einer Gesellschaft freier Menschen kann nur das Ergebnis einer freien Evolution sein; unsere Aufgabe als Anarchistinnen und Anarchisten besteht genau darin, die Freiheit der Evolution zu verteidigen und zu sichern.

Das ist unsere Aufgabe: jede politische Macht zu zerstören oder dazu beizutragen, sie zu zerstören, mit all den repressiven Kräften, die sie unterstützen; das Entstehen neuer Regierungen und neuer repressiver Kräfte zu verhindern oder zu versuchen, sie zu verhindern; auf jeden Fall keine Regierung anzuerkennen, sondern immer gegen sie zu kämpfen, das Recht zu fordern und einzufordern, sogar mit Gewalt, wenn möglich, das Recht, sich zu organisieren und so zu leben, wie es uns gefällt, und die Gesellschaftsformen zu erproben, die uns am besten erscheinen, solange sie nicht die gleiche Freiheit der anderen beeinträchtigen, versteht sich.

Wenn wir die Massen ermutigt und ihnen geholfen haben, sich den vorhandenen Reichtum und vor allem die Produktionsmittel anzueignen, wenn die Situation erreicht ist, dass niemand mehr anderen seine Wünsche mit Gewalt aufzwingen und niemandem mehr das Produkt seiner Arbeit wegnehmen kann, dann können wir nur noch durch Propaganda und durch unser Beispiel handeln.

Die Institutionen und die Maschinerie der bestehenden sozialen Organisationen zerstören? Ja, natürlich, wenn es sich um repressive Institutionen handelt; aber diese sind ja nur ein kleiner Teil des Komplexes des gesellschaftlichen Lebens. Die Polizei, die Armee, die Gefängnisse und die Justiz sind mächtige Institutionen des Bösen, die eine parasitäre Funktion ausüben. Andere Institutionen und Organisationen sind im Guten wie im Schlechten in der Lage, den Menschen das Leben zu garantieren, und diese Institutionen können nicht sinnvoll zerstört werden, ohne sie durch etwas Besseres zu ersetzen.

Der Austausch von Rohstoffen und Waren, die Verteilung von Lebensmitteln, die Eisenbahn, die Post und alle öffentlichen Dienste, die vom Staat oder von privaten Unternehmen verwaltet werden, sind so organisiert, dass sie monopolistischen und kapitalistischen Interessen dienen, aber sie dienen auch den wahren Bedürfnissen der Bevölkerung. Wir können sie nicht zerstören (und die Menschen würden es in ihrem eigenen Interesse ohnehin nicht zulassen), ohne sie auf eine bessere Art und Weise zu reorganisieren. Und das lässt sich nicht an einem Tag erreichen; und so wie die Dinge liegen, haben wir auch nicht die nötigen Fähigkeiten dazu. Deshalb sind wir froh, wenn in der Zwischenzeit andere handeln, auch wenn sie andere Kriterien als wir anlegen.

Das soziale Leben duldet keine Unterbrechungen, und die Menschen wollen am Tag der Revolution leben, am morgigen Tag und für immer.

Wehe uns und der Zukunft unserer Ideen, wenn wir die Verantwortung für eine sinnlose Zerstörung übernehmen würden, die die Kontinuität des Lebens gefährdet!

* * *

Während der Diskussion über solche Themen wurde in Biel die Frage des Geldes aufgeworfen, die von größter Bedeutung ist.

In unseren Kreisen ist es üblich, eine vereinfachende Lösung für das Problem anzubieten, indem man sagt, dass das Geld abgeschafft werden muss. Und das wäre die Lösung, wenn es um eine anarchistische Gesellschaft oder um eine hypothetische Revolution in den nächsten hundert Jahren ginge, immer unter der Annahme, dass die Massen anarchistisch und kommunistisch werden könnten, bevor sich die Bedingungen, unter denen wir leben, durch eine Revolution radikal verändert hätten.

Aber heute ist das Problem auf eine ganz andere Weise kompliziert.

Geld ist ein mächtiges Mittel der Ausbeutung und Unterdrückung; aber es ist auch das einzige Mittel (abgesehen von der tyrannischsten Diktatur oder dem idyllischsten Abkommen), das die menschliche Intelligenz bisher erfunden hat, um Produktion und Verteilung automatisch zu regeln.
Anstatt sich mit der Abschaffung des Geldes zu befassen, sollte man vielleicht lieber nach einem Weg suchen, der sicherstellt, dass das Geld wirklich die nützliche Arbeit repräsentiert, die von seinen Besitzern geleistet wird.

Wie auch immer, kommen wir zur unmittelbaren Praxis, also zu dem Thema, das in Biel tatsächlich diskutiert wurde.

Nehmen wir an, morgen findet ein erfolgreicher Aufstand statt. Anarchie hin oder her, die Menschen müssen weiter essen und ihre Grundbedürfnisse befriedigen. Die großen Städte müssen mehr oder weniger wie gewohnt mit dem Nötigsten versorgt werden.

Wenn die Bauern, Fuhrleute usw. sich weigern, Waren und Dienstleistungen umsonst zu liefern, und eine Bezahlung in Geld verlangen, das sie als echten Reichtum zu betrachten gewohnt sind, was soll man dann tun? Sie mit Gewalt zwingen? In diesem Fall könnten wir uns genauso gut vom Anarchismus und von jeder möglichen Veränderung zum Besseren verabschieden. Lasst uns die russische Erfahrung als Lektion dienen.

Und nun?

Die Gefährten und Gefährtinnen antworten im Allgemeinen: Aber die Bauern werden die Vorteile des Kommunismus oder zumindest des direkten Austauschs von Waren gegen Waren verstehen.
Das ist alles schön und gut; aber sicher nicht an einem Tag, und die Menschen können nicht einmal einen Tag lang ohne Essen bleiben.

Ich wollte keine Lösungen vorschlagen.

Ich möchte die Aufmerksamkeit der Gefährten und Gefährtinnen auf die wichtigsten Fragen lenken, mit denen wir in der Realität eines revolutionären Morgens konfrontiert sein werden.

Lasst die Gefährten und Gefährtinnen ihre Erklärungen zu diesem Thema beitragen; und lasst Freund und Gefährte Colomer nicht empört oder entrüstet sein.

Wenn diese Fragen für ihn neu sind, ist es nicht typisch für eine Anarchistin und einen Anarchisten, dass er sich vor Neuem so sehr fürchtet.

]]> (1925, Errico Malatesta) Anarchismus und Gewalt https://panopticon.blackblogs.org/2023/08/21/1925-errico-malatesta-anarchismus-und-gewalt/ Mon, 21 Aug 2023 09:44:36 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5134 Continue reading ]]>

Gefunden auf marxists.org, die Übersetzung ist von uns.

Wie wir schon auf unserer Veranstaltung/Diskussion zum ‚Aufständischen Anarchismus‘ sagten, ist es historisch nicht möglich den Anarchismus von der aufständischen Praxis der Massen zu trennen. Wir werden in kommender Zeit mehrere Artikel veröffentlichen, bzw. übersetzen die genau dass unterstreichen, es handelt sich hier um Artikel/Texte aus verschiedenen Epochen und Ländern, die unser Wissen nach auch noch nie zuvor ins Deutsche übersetzt worden sind. Dies ist der  sechste Text in der Reihe.


Anarchismus und Gewalt

Geschrieben: 1925

Quelle: Text aus Life and Ideas: The Anarchist Writings of Errico Malatesta, herausgegeben und übersetzt von Vernon Richards, erschienen bei PM Press.

Anarchistinnen und Anarchisten sind gegen Gewalt; das weiß jeder. Das Hauptanliegen des Anarchismus ist die Beseitigung der Gewalt aus den menschlichen Beziehungen. Es ist ein Leben, das auf der Freiheit des Einzelnen basiert, ohne die Intervention der Gendarmen. Deshalb sind wir Feinde des Kapitalismus, der auf den Schutz der Gendarmen angewiesen ist, um Arbeiterinnen und Arbeiter zu zwingen, sich ausbeuten zu lassen – oder sogar untätig zu bleiben und zu hungern, wenn es nicht im Interesse der Bosse ist, sie auszubeuten. Wir sind also Feinde des Staates, der die zwanghafte, gewaltsame Organisation der Gesellschaft ist.

Aber wenn ein Ehrenmann erklärt, dass er es für dumm und barbarisch hält, mit einem Knüppel in der Hand zu streiten, und dass es ungerecht und böse ist, einen Menschen dazu zu zwingen, dem Willen eines anderen mit der Pistole zu befolgen, ist es dann vielleicht vernünftig, daraus zu schließen, dass dieser Herr beabsichtigt, sich verprügeln zu lassen und sich dem Willen eines anderen zu unterwerfen, ohne auf extremere Mittel zu seiner Verteidigung zurückzugreifen?

Gewalt ist nur dann gerechtfertigt, wenn sie notwendig ist, um sich und andere vor Gewalt zu schützen. Wo die Notwendigkeit aufhört, beginnt das Verbrechen.…

Der Sklave befindet sich immer in einem Zustand legitimer Verteidigung und folglich ist seine Gewalt gegen den Chef, gegen den Unterdrücker, immer moralisch gerechtfertigt und darf nur von solchen Überlegungen kontrolliert werden, dass der beste und ökonomischste Gebrauch von menschlicher Anstrengung und menschlichem Leid gemacht wird.[80]

Es gibt sicherlich andere Menschen, andere Parteien und Denkschulen, die genauso aufrichtig vom Allgemeinwohl motiviert sind wie die besten unter uns. Aber was die Anarchistinnen und Anarchisten von allen anderen unterscheidet, ist ihre Abscheu vor Gewalt, ihr Wunsch und ihre Absicht, physische Gewalt aus den menschlichen Beziehungen zu eliminieren…. Aber warum, so könnte man fragen, haben Anarchistinnen und Anarchisten im gegenwärtigen Kampf [gegen den Faschismus] Gewalt befürwortet und angewendet, obwohl sie im Widerspruch zu ihren erklärten Zielen steht? Das geht so weit, dass viele Kritiker, einige in gutem und alle in schlechtem Glauben, zu der Überzeugung gelangt sind, dass das kennzeichnende Merkmal des Anarchismus in der Tat Gewalt ist. Die Frage mag peinlich erscheinen, aber sie lässt sich in wenigen Worten beantworten. Damit zwei Menschen in Frieden leben können, müssen sie beide den Frieden wollen. Wenn einer von ihnen darauf besteht, den anderen mit Gewalt zu zwingen, für ihn zu arbeiten und ihm zu dienen, dann ist der andere, wenn er seine Würde als Mensch behalten und nicht zu elender Sklaverei degradiert werden will, gezwungen, sich trotz seiner Friedensliebe mit angemessenen Mitteln gegen die Gewalt zu wehren.[81]

Der Kampf gegen die Regierung ist letztlich ein physischer, materieller Kampf.

Die Regierungen machen das Gesetz. Sie müssen daher über die materiellen Kräfte (Polizei und Armee) verfügen, um das Gesetz durchzusetzen, denn sonst würden sich nur diejenigen daran halten, die es wollen, und es wäre nicht mehr das Gesetz, sondern nur noch eine Reihe von Vorschlägen, die jeder annehmen oder ablehnen kann. Die Regierungen haben jedoch diese Macht und nutzen sie durch das Gesetz, um ihre Macht zu stärken und den Interessen der herrschenden Klassen zu dienen, indem sie die Arbeiterinnen und Arbeiter unterdrücken und ausbeuten.

Die einzige Grenze für die Unterdrückung durch die Regierung ist die Kraft, mit der sich das Volk ihr entgegenstellt.

Der Konflikt kann offen oder latent sein, aber er existiert immer, da die Regierung Unzufriedenheit und Widerstand des Volkes nur dann beachtet, wenn sie mit der Gefahr eines Aufstands konfrontiert wird.

Wenn das Volk sich dem Gesetz unterwirft oder seine Proteste schwach sind und sich auf Worte beschränken, kümmert sich die Regierung um ihre eigenen Interessen und ignoriert die Bedürfnisse des Volkes; wenn die Proteste lebhaft, hartnäckig und bedrohlich sind, gibt die Regierung, je nachdem, ob sie mehr oder weniger Verständnis aufbringt, nach oder greift zur Repression. Aber man kommt immer wieder zum Aufstand zurück, denn wenn die Regierung nicht nachgibt, wird das Volk am Ende rebellieren; und wenn die Regierung nachgibt, dann gewinnt das Volk an Selbstvertrauen und stellt immer höhere Forderungen, bis die Unvereinbarkeit von Freiheit und Autorität deutlich wird und der gewaltsame Kampf beginnt.

Es ist daher notwendig, moralisch und materiell vorbereitet zu sein, damit das Volk, wenn es soweit ist, als Sieger hervorgeht.[82]

Diese Revolution muss zwangsläufig gewaltsam sein, auch wenn Gewalt an sich ein Übel ist. Sie muss gewaltsam sein, denn es wäre töricht zu hoffen, dass die privilegierten Klassen die Ungerechtigkeit und den Schaden ihrer privilegierten Stellung erkennen und freiwillig darauf verzichten. Sie muss gewalttätig sein, weil eine vorübergehende, revolutionäre Gewalt der einzige Weg ist, der weitaus größeren und dauerhaften Gewalt ein Ende zu setzen, die die Mehrheit der Menschheit in Knechtschaft hält.[83]

Die Bourgeoisie wird sich nicht kampflos enteignen lassen, und man wird immer zum Gewaltstreich, zur Verletzung der gesetzlichen Ordnung mit illegalen Mitteln, greifen müssen.[84]

Auch wir sind zutiefst unglücklich über die Notwendigkeit eines gewaltsamen Kampfes. Wir, die wir die Liebe predigen und für einen gesellschaftlichen Zustand kämpfen, in dem Einigkeit und Liebe unter den Menschen möglich sind, leiden mehr als alle anderen unter der Notwendigkeit, uns mit Gewalt gegen die Gewalt der herrschenden Klassen verteidigen zu müssen. Doch auf eine befreiende Gewalt zu verzichten, wenn sie der einzige Weg ist, das tägliche Leid und das wilde Gemetzel zu beenden, das die Menschheit heimsucht, hieße, die von uns beklagten Antagonismen und die daraus entstehenden Übel zu dulden.[85]

Wir wollen weder etwas mit Gewalt durchsetzen, noch wollen wir uns einer gewaltsamen Durchsetzung unterwerfen.

Wir wollen mit Gewalt gegen die Regierung vorgehen, weil wir mit Gewalt von der Regierung unterdrückt werden.

Wir wollen die Eigentümer des Eigentums enteignen, weil sie mit Gewalt die Rohstoffe und den Reichtum, der die Frucht der menschlichen Arbeit ist, zurückhalten und andere dazu zwingen, in ihrem Interesse zu arbeiten.

Wir werden uns mit Gewalt gegen jeden wehren, der mit Gewalt die Mittel behalten oder zurückgewinnen möchte, um seinen Willen durchzusetzen und die Arbeit anderer auszubeuten.

Wir werden uns mit Gewalt jeder „Diktatur“ oder „Konstituante“ widersetzen, die versucht, sich den aufständischen Massen aufzuzwingen. Und wir werden die Republik genauso bekämpfen wie die Monarchie, wenn mit Republik eine Regierung gemeint ist, wie auch immer sie an die Macht gekommen sein mag, die Gesetze macht und über militärische und strafrechtliche Befugnisse verfügt, um das Volk zum Gehorsam zu zwingen.

Mit Ausnahme dieser Fälle, in denen die Anwendung von Gewalt als Verteidigung gegen Gewalt gerechtfertigt ist, sind wir immer gegen Gewalt und für Selbstbestimmung.[86]

Ich habe schon tausendmal wiederholt, dass ich der Meinung bin, dass es theoretisch absurd ist, sich dem Bösen nicht „aktiv“, angemessen und auf jede erdenkliche Weise zu widersetzen, weil es dem Ziel widerspricht, das Böse zu vermeiden und zu vernichten, und in der Praxis unmoralisch ist, weil es eine Verweigerung der menschlichen Solidarität und der daraus resultierenden Pflicht ist, die Schwachen und Unterdrückten zu verteidigen. Ich glaube, dass ein Regime, das durch Gewalt entstanden ist und durch Gewalt fortbesteht, nur durch eine entsprechende und angemessene Gewalt gestürzt werden kann und dass man daher entweder dumm ist oder sich täuscht, wenn man sich auf die Legalität verlässt, während die Unterdrücker das Gesetz ändern können, um ihre eigenen Ziele zu erreichen. Aber ich glaube, dass Gewalt für uns, die wir den Frieden unter den Menschen und Gerechtigkeit und Freiheit für alle anstreben, eine unangenehme Notwendigkeit ist, die in dem Moment aufhören muss, in dem die Befreiung erreicht ist – d.h. in dem Moment, in dem Verteidigung und Sicherheit nicht mehr bedroht sind – oder sie wird zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit und zum Vorboten neuer Unterdrückung und Ungerechtigkeit![87]

Wir sind prinzipiell gegen Gewalt und wünschen uns deshalb, dass der soziale Kampf so menschlich wie möglich geführt wird. Das bedeutet aber nicht, dass wir uns wünschen, dass er weniger entschlossen und gründlich geführt wird; wir sind sogar der Meinung, dass halbe Maßnahmen den Kampf auf Dauer nur verlängern und ihn neutralisieren und zu mehr Gewalt ermutigen, die man vermeiden will. Es bedeutet auch nicht, dass wir das Recht auf Selbstverteidigung auf den Widerstand gegen tatsächliche oder drohende Angriffe beschränken. Für uns befinden sich die Unterdrückten immer in einem Zustand der legitimen Verteidigung und haben das Recht, sich zu erheben, ohne darauf zu warten, dass auf sie geschossen wird; und wir sind uns der Tatsache bewusst, dass ein Angriff oft das beste Mittel zur Verteidigung ist.…

Rache, anhaltender Hass, Grausamkeit gegenüber den Besiegten, wenn sie besiegt wurden, sind verständliche Reaktionen und können in der Hitze des Gefechts sogar bei denjenigen verziehen werden, deren Würde grausam verletzt und deren intimste Gefühle angegriffen wurden. Aber grausame menschenfeindliche Gefühle zu dulden und sie zum Prinzip zu erheben, indem man sie als Taktik für eine Bewegung befürwortet, ist sowohl böse als auch konterrevolutionär.

Für uns darf Revolution nicht bedeuten, dass ein Unterdrücker durch einen anderen ersetzt wird, dass unsere Herrschaft durch die der anderen ersetzt wird. Wir wollen die materielle und geistige Erhebung des Menschen, das Verschwinden jeglicher Unterscheidung zwischen Besiegten und Eroberern, die aufrichtige Brüderlichkeit unter den Menschen – ohne die die Geschichte wie in der Vergangenheit ein Wechselspiel zwischen Unterdrückung und Rebellion bleiben würde, auf Kosten eines echten Fortschritts und auf lange Sicht zum Nachteil aller, der Eroberer genauso wie der Besiegten[88].

Es ist völlig klar, dass Gewalt notwendig ist, um der Gewalt des Gegners zu widerstehen, und wir müssen sie befürworten und vorbereiten, wenn wir nicht wollen, dass die gegenwärtige Situation der verschleierten Sklaverei, in der sich der größte Teil der Menschheit befindet, andauert und sich verschlimmert. Aber Gewalt birgt die Gefahr in sich, die Revolution in einen brutalen Kampf ohne das Licht eines Ideals und ohne die Möglichkeit eines positiven Ergebnisses zu verwandeln; und deshalb muss man die moralischen Ziele der Bewegung betonen und die Notwendigkeit und die Pflicht, die Gewalt auf die Grenzen der strikten Notwendigkeit zu beschränken.

Wir sagen nicht, dass Gewalt gut ist, wenn wir sie anwenden, und schädlich, wenn andere sie gegen uns anwenden. Wir sagen, dass Gewalt vertretbar, gut und „moralisch“ sowie eine Pflicht ist, wenn sie zur eigenen Verteidigung und zur Verteidigung anderer, gegen die Forderungen derer, die an Gewalt glauben, eingesetzt wird; sie ist böse und „unmoralisch“, wenn sie dazu dient, die Freiheit anderer zu verletzen.…

Wir sind keine „Pazifisten“, denn Frieden ist nur möglich, wenn er von beiden Seiten gewünscht wird.

Wir halten Gewalt für eine Notwendigkeit und eine Pflicht zur Verteidigung, aber nur zur Verteidigung. Und damit meinen wir nicht nur die Verteidigung gegen direkte, plötzliche, physische Angriffe, sondern gegen alle Institutionen, die Gewalt anwenden, um die Menschen in einem Zustand der Knechtschaft zu halten.

Wir sind gegen den Faschismus und wir würden uns wünschen, dass er geschwächt wird, indem wir seiner Gewalt eine größere Gewalt entgegensetzen. Und wir sind vor allem gegen die Regierung, die permanente Gewalt ist.[89]

Meiner Meinung nach ist Gewalt auch dann gerechtfertigt, wenn sie nicht nur zur Selbstverteidigung eingesetzt wird, sondern auch dann, wenn sie gegen uns eingesetzt wird, und wir hätten keinen Grund zum Protest.[90]

Für die angebliche Unfähigkeit des Volkes bieten wir keine Lösung, indem wir uns an die Stelle der ehemaligen Unterdrücker setzen. Nur die Freiheit oder der Kampf für die Freiheit kann die Schule für die Freiheit sein.

Aber du wirst sagen, um eine Revolution zu beginnen und zu Ende zu bringen, braucht man eine Kraft, die auch bewaffnet ist. Und wer bestreitet das schon? Aber diese bewaffnete Kraft oder vielmehr die zahlreichen bewaffneten revolutionären Gruppen erfüllen eine revolutionäre Aufgabe, wenn sie dazu dienen, das Volk zu befreien und das Wiederaufkommen einer autoritären Regierung zu verhindern. Aber sie werden zu Werkzeugen der Reaktion und zerstören ihre eigenen Errungenschaften, wenn sie bereit sind, eine bestimmte Art der gesellschaftlichen Organisation oder das Programm einer bestimmten Partei durchzusetzen….[91]

Da die Revolution notwendigerweise eine gewaltsame Aktion ist, entwickelt sie den Geist der Gewalt eher, als dass sie ihn beseitigt. Die Revolution, wie sie von Anarchistinnen und Anarchisten verstanden wird, ist jedoch die am wenigsten gewalttätige von allen und zielt darauf ab, jegliche Gewalt zu beenden, sobald die Notwendigkeit, Gewalt gegen die Regierung und die Bourgeoisie anzuwenden, entfällt.

Anarchistinnen und Anarchisten erkennen Gewalt nur als Mittel der legitimen Verteidigung an; und wenn sie heute für Gewalt sind, dann deshalb, weil sie behaupten, dass sich Sklaven immer in einem Zustand der legitimen Verteidigung befinden. Aber das Ideal der Anarchistinnen und Anarchisten ist eine Gesellschaft, in der der Faktor Gewalt ausgeschaltet ist, und ihr Ideal dient dazu, den Geist der Rache, den die Revolution als physischer Akt entwickeln würde, zu zügeln, zu korrigieren und zu zerstören.

In jedem Fall wäre das Heilmittel niemals die Organisation und Konsolidierung von Gewalt in den Händen einer Regierung oder Diktatur, die sich auf nichts anderes stützen kann als auf rohe Gewalt und die Anerkennung der Autorität von Polizei- und Militärkräften.[92]

… Ein Irrtum, der das Gegenteil von dem ist, was die Terroristen machen, bedroht die anarchistische Bewegung. Teils als Reaktion auf den Missbrauch von Gewalt in den letzten Jahren, teils durch das Überleben christlicher Ideen und vor allem durch die mystischen Predigten Tolstois, die ihre Popularität und ihr Ansehen dem Genie und den hohen moralischen Qualitäten ihres Autors verdanken, beginnen Anarchistinnen und Anarchisten, sich ernsthaft mit der Partei des passiven Widerstands zu beschäftigen, deren Grundprinzip darin besteht, dass der Einzelne sich und andere verfolgen und verachten lassen muss, anstatt dem Angreifer zu schaden. Das wird auch als passive Anarchie bezeichnet.

Da einige, die sich über meine Abneigung gegen nutzlose und schädliche Gewalt aufgeregt haben, mir tolstojanistische Tendenzen unterstellen, ergreife ich die Gelegenheit, um zu erklären, dass diese Doktrin, so erhaben altruistisch sie auch erscheinen mag, meiner Meinung nach in Wirklichkeit die Negation von Instinkt und sozialen Pflichten ist. Ein Mensch kann, wenn er ein sehr guter … Christ ist, jede Art von Provokation ertragen, ohne sich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Waffen zu verteidigen, und trotzdem ein moralischer Mensch bleiben. Aber wäre er nicht in der Praxis, wenn auch unbewusst, ein oberster Egoist, wenn er zuließe, dass andere verfolgt werden, ohne dass er sich bemüht, sie zu verteidigen? Würde er es zum Beispiel vorziehen, dass eine Klasse in elendes Elend gestürzt wird, dass ein Volk von einem Eindringling unterdrückt wird, dass das Leben oder die Freiheit eines Menschen missbraucht wird, anstatt dem Unterdrücker ins Fleisch zu schneiden?

Es kann Fälle geben, in denen passiver Widerstand eine wirksame Waffe ist, und dann wäre er natürlich die beste aller Waffen, da er am ökonomischsten für das menschliche Leid wäre. Aber in den meisten Fällen dient das Bekenntnis zum passiven Widerstand nur dazu, die Unterdrücker in ihrer Angst vor einer Rebellion zu bestärken, und verrät damit die Sache der Unterdrückten.

Es ist interessant zu beobachten, wie sowohl die Terroristen als auch die Tolstojaner, nur weil beide Mystiker sind, zu praktischen Ergebnissen kommen, die mehr oder weniger ähnlich sind. Erstere würden nicht zögern, die Hälfte der Menschheit zu vernichten, solange die Idee triumphiert; letztere wären eher bereit, die ganze Menschheit unter dem Joch großen Leids zu lassen, als ein Prinzip zu verletzen.

Ich selbst würde jedes Prinzip der Welt verletzen, um einen Menschen zu retten: Das wäre in der Tat eine Frage der Achtung des Prinzips, denn meiner Meinung nach reduzieren sich alle moralischen und soziologischen Prinzipien auf dieses eine Prinzip: das Wohl der Menschheit, das Wohl der ganzen Menschheit.[93]


[80] Umanità Nova, 25. August 1921
[81] Pensiero e Volontà, 1. September 1924
[82] Il Programma Anarchico, Bologna, 1920, in diesem Band, S. 173-88
[83] Umanità Nova, 12. August 1920
[84] Umanità Nova, 9. September 1921
[85] Umanità Nova, 27. April 1920
[86] Umanità Nova, 9. Mai 1920
[87] Pensiero e Volontà, April 16, 1925
[88] Fede!, 28. Oktober 1923
[89] Umanità Nova, 21. Oktober 1922
[90] Il Risveglio, 20. Dezember 1922
(91) Fede!, 25. November 1923
[92] Umanità Nova, 18. Juli 1920
[93] l’Anarchia (Einzelausgabe), August 1896

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(1930, Errico Malatesta) Die Insurrektion https://panopticon.blackblogs.org/2023/08/21/1930-errico-malatesta-die-insurrektion/ Mon, 21 Aug 2023 09:33:27 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5127 Continue reading ]]> Gefunden auf marxists.org, die Übersetzung ist von uns.

Wie wir schon auf unserer Veranstaltung/Diskussion zum ‚Aufständischen Anarchismus‘ sagten, ist es historisch nicht möglich den Anarchismus von der aufständischen Praxis der Massen zu trennen. Wir werden in kommender Zeit mehrere Artikel veröffentlichen, bzw. übersetzen die genau dass unterstreichen, es handelt sich hier um Artikel/Texte aus verschiedenen Epochen und Ländern, die unser Wissen nach auch noch nie zuvor ins Deutsche übersetzt worden sind. Dies ist der fünfte in der Reihe.

Die Insurrektion

Geschrieben: 1930

Quelle: Text aus Life and Ideas: The Anarchist Writings of Errico Malatesta, herausgegeben und übersetzt von Vernon Richards, erschienen bei PM Press.

Aber wie soll diese Revolution erreicht werden?

Natürlich muss man mit dem aufständischen Akt beginnen, der die materiellen Hindernisse, die bewaffneten Kräfte der Regierung, die sich jeder sozialen Veränderung entgegenstellen, hinwegfegt.

Für den Aufstand ist es wünschenswert und vielleicht sogar unabdingbar, dass sich alle antimonarchischen Kräfte zusammenschließen, da wir unter einem monarchistischen Regime leben. Es ist notwendig, moralisch und materiell so gut wie möglich vorbereitet zu sein; und es ist vor allem notwendig, von allen Agitationen zu profitieren und zu versuchen, sie auszuweiten und in auflösende Bewegungen umzuwandeln, um die Gefahr zu vermeiden, dass sich die populären Kräfte in isolierten Aktionen erschöpfen, während sich die Organisationen vorbereiten.[198]

Die Massen werden den Aufstand machen, aber sie können ihn nicht technisch vorbereiten. Es werden Männer, Gruppen und Parteien gebraucht, die sich in freier Übereinkunft zusammenschließen, die zur Verschwiegenheit verpflichtet sind und die über die notwendigen Mittel verfügen, um ein schnelles Kommunikationsnetz aufzubauen, das die Beteiligten über alle Vorfälle informiert, die eine breite Volksbewegung auslösen könnten.

Und wenn wir sagen, dass die spezifische Aufgabe der Organisation außerhalb der offiziellen Parteien durchgeführt werden muss, dann deshalb, weil diese andere Aufgaben haben, die die für die Vorbereitung illegaler Aktivitäten notwendige Geheimhaltung ausschließen; vor allem aber deshalb, weil wir kein Vertrauen in den revolutionären Eifer der fortschrittlichen Parteien haben, so wie sie sich heute konstituieren.[199]

Jede neue Idee und Institution, jeder Fortschritt und jede Revolution waren schon immer das Werk von Minderheiten. Es ist unser Bestreben und unser Ziel, dass alle Menschen sozial bewusst und effektiv werden; aber um dieses Ziel zu erreichen, ist es notwendig, allen die Mittel zum Leben und zur Entwicklung zur Verfügung zu stellen, und es ist daher notwendig, die Gewalt, die den Arbeiterinnen und Arbeitern diese Mittel vorenthält, mit Gewalt zu zerstören, da man nicht anders kann.

Natürlich muss die „kleine Zahl“, die Minderheit, ausreichen, und diejenigen, die sich vorstellen, dass wir jeden Tag einen Aufstand machen wollen, ohne die Kräfte zu berücksichtigen, die sich uns entgegenstellen, oder ob die Umstände zu unseren Gunsten oder gegen uns sind, schätzen uns falsch ein. In der Vergangenheit konnten wir eine Reihe von kleinen Aufständen durchführen, die keine Aussicht auf Erfolg hatten, und das haben wir auch getan. Aber damals waren wir tatsächlich nur eine Handvoll und wollten, dass die Öffentlichkeit über uns spricht, und unsere Versuche waren einfach nur Propagandamittel.

Jetzt geht es nicht mehr um Aufstände, um Propaganda zu machen; jetzt können wir gewinnen, und deshalb wollen wir gewinnen und unternehmen solche Aktionen nur, wenn wir glauben, dass wir gewinnen können. Natürlich können wir uns irren und uns aufgrund unseres Temperaments dazu verleiten lassen, zu glauben, dass die Früchte reif sind, obwohl sie noch grün sind; aber wir müssen zugeben, dass wir diejenigen bevorzugen, die sich beeilen, im Gegensatz zu denen, die immer abwarten und sich die besten Gelegenheiten entgehen lassen, weil sie aus Angst, eine grüne Frucht zu pflücken, die ganze Ernte verderben lassen![200]

Wir müssen versuchen, eine aktive und wenn möglich eine vorherrschende Rolle in der Aufstandsbewegung zu spielen. Aber mit der Niederlage der Kräfte der Repression, die dazu dienen, das Volk in Sklaverei zu halten; mit der Demobilisierung der Armee, der Auflösung der Polizei und der Magistratur usw. das Volk so bewaffnet hat, dass es jedem bewaffneten Versuch der Reaktion, sich wieder zu etablieren, widerstehen kann; nachdem wir bereitwillige Hände dazu aufgerufen haben, die Organisation der öffentlichen Dienste zu übernehmen und mit Konzepten der gerechten Verteilung für die dringendsten Bedürfnisse zu sorgen, indem wir die vorhandenen Vorräte in den verschiedenen Orten sorgfältig nutzen – nachdem wir all das getan haben, müssen wir dafür sorgen, dass es keine vergeudeten Anstrengungen gibt und dass diese Institutionen, Traditionen und Gewohnheiten, Produktions-, Austausch- und Hilfsmethoden respektiert und genutzt werden, wenn sie, wenn auch unzureichend oder schlecht, notwendige Dienste leisten, wobei wir mit allen Mitteln versuchen müssen, jede Spur von Privilegien zu zerstören, uns aber davor hüten, etwas zu zerstören, das nicht durch etwas ersetzt werden kann, das dem Allgemeinwohl besser dient. Wir müssen die Arbeiterinnen und Arbeiter dazu drängen, die Fabriken in Besitz zu nehmen, sich untereinander zu verbünden und für die Gemeinschaft zu arbeiten, und ebenso sollten die Bauern und Bäuerinnen das Land und die Produkte übernehmen, die von den Grundherren usurpiert wurden, und sich mit den Arbeiterinnen und Arbeitern der Industrie über den notwendigen Güteraustausch einigen.[201]

Wir werden dafür sorgen, dass alle leeren und unterbesetzten Häuser genutzt werden, damit niemand ohne ein Dach über dem Kopf dasteht. Wir werden uns beeilen, die Banken abzuschaffen und die Eigentumsurkunden und alles, was die Macht des Staates und die kapitalistischen Privilegien repräsentiert und garantiert, zu zerstören. Und wir werden versuchen, die Dinge so umzugestalten, dass die Wiederherstellung der bourgeoisen Gesellschaft unmöglich wird. All dies und alles andere, was zur Befriedigung der öffentlichen Bedürfnisse und zur Entwicklung der Revolution erforderlich ist, wird von Freiwilligen in allen Arten von Komitees, lokalen, interkommunalen, regionalen und nationalen Kongressen geleistet, die sich um die Koordinierung der sozialen Aktivitäten kümmern, die notwendigen Entscheidungen treffen und das, was sie für nützlich halten, beraten und durchführen, ohne jedoch das Recht oder die Mittel zu haben, ihre Wünsche mit Gewalt durchzusetzen, und die sich nur auf die von ihnen geleisteten Dienste und auf die von allen Beteiligten anerkannten Erfordernisse der Situation stützen können. Vor allem keine Gendarmen, wie auch immer sie heißen mögen. Die Schaffung einer freiwilligen Miliz, die keine Befugnisse hat, um als Miliz in das Leben der Gemeinschaft einzugreifen, sondern nur, um bewaffnete Angriffe der reaktionären Kräfte abzuwehren, die sich wieder etablieren wollen, oder um sich einer Intervention von außen durch Länder zu widersetzen, die sich noch nicht im Zustand der Revolution befinden.[202]

Ein erfolgreicher Aufstand ist der stärkste Faktor für die Emanzipation des Volkes, denn sobald das Joch abgeschüttelt ist, ist das Volk frei, sich mit den Institutionen zu versorgen, die es für richtig hält, und der zeitliche Abstand zwischen der Verabschiedung des Gesetzes und dem Grad der Zivilisation, den die Masse der Bevölkerung erreicht hat, wird mit einem Sprung durchbrochen. Der Aufstand bestimmt die Revolution, d.h. die schnelle Entfaltung der latenten Kräfte, die während der „evolutionären“ Periode aufgebaut wurden.

Alles hängt davon ab, was das Volk zu wollen imstande ist. Bei vergangenen Aufständen haben die Menschen, die sich der wahren Gründe für ihr Elend nicht bewusst waren, immer nur sehr wenig gewollt und wenig erreicht. Was werden sie vom nächsten Aufstand wollen?

Die Antwort hängt zum Teil von unserer Propaganda ab und davon, welche Anstrengungen wir dafür unternehmen.[203]


[198] Umanità Nova, 12. August 1920
[199] Umanità Nova, 7. August 1920
[200] Umanità Nova, 6. September 1921
[201] Vogliamo, Juni 1930
[202] Umanità Nova, 7. April 1922
[203] Il Programma Anarchico, Bologna, 1920, in diesem Band, S. 173-88

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Solange das Gemetzel andauert – Errico Malatesta (1915) https://panopticon.blackblogs.org/2022/10/19/solange-das-gemetzel-andauert-errico-malatesta-1915/ Wed, 19 Oct 2022 09:44:08 +0000 https://panopticon.noblogs.org/?p=3466 Continue reading ]]> Gefunden auf mgouldhawke, die Übersetzung ist von uns. Der Begriff Volk wurde als Übersetzung für People genommen, gefällt uns auch nicht, muss aber dennoch im historischen Kontext gelesen werden, auch wenn es schon damals ein diffuser Begriff war, was er heutzutage noch genauso ist, manipulieren wir keinen Text. Mit dieser Übersetzung führen wir die Reihe historischer Texte der anarchistischen Bewegung die sich mit dem Krieg auseinandersetzen und eine Teilnahme seitens Anarchistinnen und Anarchisten scharf kritisieren.


Solange das Gemetzel andauert – Errico Malatesta (1915)

Ursprünglich veröffentlicht in L’Era Nuova, Paterson, New Jersey, 2. Mai 1915; nachgedruckt in Studi Sociali, Montevideo, Uruguay, März-Mai, 1938. Übersetzt aus dem Italienischen von Al Raven vom Ravenwood-Blog und hier in Zusammenarbeit veröffentlicht.

Da wir jetzt nichts Besseres tun können, lasst uns diskutieren.

Aber lasst uns ruhig und anständig diskutieren, ohne unbegründete Verdächtigungen über die Motive der Widersprechenden auszusprechen. Wenn wir uns nicht einigen können, können wir zumindest die Art und die Grenzen der Meinungsverschiedenheiten klären. Und das wird nützlich sein, wenn die Zeit kommt – und sie wird sicherlich kommen -, in der es möglich sein wird, effektiv zu handeln und wir uns auf dem Terrain anderer eindeutiger Fakten mit vielen einig sind, mit denen wir heute in Bezug auf die Tatsache des europäischen Krieges in scharfem Gegensatz stehen.

Und lasst uns damit beginnen, polemische Mittel und rhetorische Höhenflüge zu vermeiden, die vielleicht dazu dienen, Menschen zu verwirren oder zu irritieren, aber nichts beweisen.

Diejenigen Revolutionäre, die glauben, dass es sinnvoll ist, sich zugunsten des französisch-anglo-russischen Bündnisses am Krieg zu beteiligen, bezeichnen uns, die wir treu zu den Ideen und Taktiken stehen, die wir vor dem Krieg verteidigt haben, nicht als neutral, sondern als Feinde der beiden kriegführenden Parteien, als Fossilien, Dogmatiker und Dominikaner [der katholische Predigerorden]. Wir könnten darauf reagieren, indem wir die anderen als Verräter behandeln und wir wären gleich. Gleich in der Fähigkeit, zu beleidigen, und gleich im Mangel an ernsthaften Argumenten; denn die Tatsache, dass man seine Meinung geändert hat oder nicht, reicht nicht aus, um zu beweisen, dass man Recht oder Unrecht hat. Was würden unsere Widerspruchsführer, die unnachgiebige Gegner des religiösen Obskurantismus bleiben, wohl sagen, wenn sie von denen, die, vom Krieg verwirrt, den atavistischen Mystizismus in sich aufkeimen spürten und mit Priestern zu flirten begannen, als Fossilien und Muslime bezeichnet würden?

Ebenso bezeichnen sich diejenigen, die, vom Kriegsfieber mitgerissen, die Ideen, zu denen sie sich zuvor bekannt haben, auf verschiedene Weise verändert haben, gerne als Rebellen, Ketzer, Ikonoklasten, Verächter der falsch verstandenen Mehrheiten und geben sich als fortschrittliche Menschen aus, die unter dem Anstoß der großen Zeitereignisse einen Schritt zu neuen geistigen Horizonten gemacht haben. Diese Haltung ist für Revolutionäre immer sympathisch, aber im vorliegenden Fall entspricht sie nicht der Wahrheit. Selbst wenn sie mit der Verleugnung ihrer alten Überzeugungen Recht hätten, würden sie sich dennoch zu Unrecht als Innovatoren bezeichnen. Sie haben sich in die Opposition zu den jeweiligen Parteien gestellt, die nur eine kleine Minderheit sind: aber um den Überzeugungen, Respekt und atavistischen Gefühlen zu huldigen, die leider immer noch die große Mehrheit des Volkes leiten. Sie rebellierten gegen sozialistische und anarchistische „Formeln“, aber um zu Ideen und Geisteshaltungen zurückzukehren, von denen sie glaubten, sie hätten sie überwunden. Im Wesentlichen erkennen sie an, dass sie sich geirrt haben – und diejenigen, die ihre Fehler erkennen und eingestehen, werden für ihre Fähigkeit, sich zu korrigieren, und für ihre Aufrichtigkeit hoch geachtet, würden aber kaum behaupten, Ketzer und Rebellen zu sein.

Eine Meinung ist an sich richtig oder falsch, unabhängig davon, ob sie neu oder alt ist und ob sie von einer großen oder kleinen Zahl von Menschen vertreten wird. Lasst uns daher die Argumente, die uns von den Interventionisten trennen, an sich diskutieren.

Was die vulgären Beleidigungen und die schmutzige Sprache angeht, in der sich einige der Polemiker des einen und des anderen Lagers ergehen, so sollten wir sie einfach ignorieren. Sie zeugen nur von schlechtem Geschmack und schlechten Manieren derjenigen, die sie benutzen, und würden es nicht einmal verdienen, bemerkt zu werden, wenn sie nicht eine Spur des Unmuts hinterlassen würden.

***

Unsere interventionistischen Freunde (ich spreche von den Freunden, d.h. denjenigen, die in der Intervention zugunsten Frankreichs und Englands eine Notwendigkeit zur Verteidigung gegen den deutschen Despotismus und ein Mittel zum Sturz des Militarismus und zur Schaffung eines Umfelds der Freiheit sehen, das den Kämpfen für die soziale Revolution förderlich ist, und nicht von Kriegstreibern, die darauf abzielen, einen Imperialismus durch einen anderen zu ersetzen, und die uns genauso verhasst sind wie die Despoten von Berlin und Wien), unsere interventionistischen Freunde scheinen daher die wahren Gründe für unsere gleiche Feindseligkeit gegenüber den beiden kämpfenden Parteien nicht zu verstehen. Und sie glauben, dass wir, blind und taub für alle Gründe, warum sich die Welt auf einem Weg bewegt, der keinem idealen Programm entspricht, die Realität den „Formeln“ opfern und, da wir nicht in der Lage sind, Anarchie direkt und sofort zu verwirklichen, es vorziehen, untätig zu bleiben. Das ist in der Tat ein seltsames Urteil, wenn es von denjenigen gefällt wird, die uns kennen und wissen, wie wir immer gegen jede fatalistische und betäubende Philosophie gekämpft haben, egal ob aus dem sozialistischen oder anarchistischen Lager.

Sie behaupten, wir seien den Regierungen Frankreichs und Englands genauso feindlich gesinnt wie denen Deutschlands und Österreichs, weil wir glauben, dass alle Regierungen gleich sind; und sie versuchen, uns zu beweisen, dass zwar alle Regierungen schlecht sind, aber nicht alle gleich schlecht.

Das ist eine alte Frage, die trotz der Ungenauigkeiten in der heutigen Sprache für diejenigen, die sich mit anarchistischen Ideen und Taktiken auskennen, inzwischen klar sein sollte.

Wir wissen ganz genau, dass es einen Unterschied gibt; und wir müssen uns nicht groß bemühen, um uns davon zu überzeugen, dass es besser ist, ins Gefängnis zu kommen als gehängt zu werden, und dass ein Jahr im Gefängnis besser ist als zehn. Der Grund für den Unterschied liegt mehr als in der Regierungsform in den allgemeinen ökonomischen und moralischen Bedingungen der Gesellschaft, im Zustand der öffentlichen Meinung und in dem Widerstand, den die Beherrschten der Aufdringlichkeit und Willkür der Autorität entgegenzusetzen wissen; aber natürlich haben auch die Formen, die die Folge der Kämpfe vergangener Generationen sind, ihre Bedeutung, insofern sie ein mehr oder weniger starkes Hindernis in den gegenwärtigen Kämpfen darstellen. Und es ist die Aufgabe des Historikers, die Tatsachen und ihre Ursachen objektiv zu untersuchen; es ist seine Aufgabe, uns zum Beispiel zu sagen, dass zu einer bestimmten Zeit in Frankreich die Menschen freier waren als in Deutschland, dass in einem bestimmten Land unter der Republik die Menschen weniger gezwungen waren als unter der Monarchie.

Aber unsere Aufgabe, die von uns, die wir für die ganzheitliche Freiheit kämpfen und die wissen, dass sich alle Regierungen durch ihr Lebensgesetz der Freiheit widersetzen müssen, ist es, zu versuchen, die Regierung zu stürzen und nicht zu verbessern – in der Überzeugung, dass dies auch unter dem Gesichtspunkt der Reform das beste Mittel ist, um die Regierung zu Zugeständnissen zu zwingen, und das einzige, das uns erlaubt, von Zugeständnissen zu profitieren, ohne den Kampf zu lähmen und ohne die Zukunft zu gefährden.

In der Praxis ist für uns die schlimmste Regierung immer diejenige, unter der wir stehen, diejenige, gegen die wir am direktesten kämpfen.

Wenn die Kosaken in Italien Demonstranten ermorden, rufen wir zur Revolte gegen sie und gegen die Regierung auf, der sie dienen; und wir glauben nicht, dass sie in Russland unter ähnlichen Umständen eine größere Anzahl von Menschen getötet hätten.

Unter dieser einzigen Bedingung, immer nach vorne zu schauen, immer nach dem Besten zu streben, ist es möglich, revolutionär und fortschrittlich zu sein; sonst müsste man sich immer mit allem zufrieden geben, weil man immer einen Ort findet, an dem es einem schlechter geht als zu Hause, oder eine Zeit, in der es einem schlechter ging als jetzt. Das wäre der Zustand der alten Frau, die, nachdem sie sich ein Bein gebrochen hatte, Gott dafür dankte, dass sie sich nicht beide Beine gebrochen hatte. Und es ist auch der Gemütszustand aller aufrichtigen Konservativen, die aus Angst vor dem Schlimmsten auf das Beste verzichten und aus Angst, dass die Vergangenheit zurückkehrt, nicht auf die Zukunft zugehen wollen.

Es ist also nicht wahr, dass wir die Abstufungen und die Relativität der menschlichen Angelegenheiten ignorieren. Wir sind immer bereit, zu allem beizutragen, was unserer Meinung nach Fortschritt bedeutet, zu allem, was unserem Ideal von Gerechtigkeit, Freiheit und menschlicher Solidarität nahe kommt. Aber wir wollen nicht um der verlogenen Worte willen die Augen vor den Tatsachen verschließen und uns auf die Seite derer stellen, die die geborenen Feinde von Freiheit und Gerechtigkeit sind. Wir wollen, um zum konkreten Fall zu kommen, nicht im Glauben an offizielle Reden die Regierungen Frankreichs und Englands unterstützen, die nicht nur recht liberal sind, sondern uns unter dem Vorwand, die Tyrannen von Berlin und Wien zu stürzen, in den Dienst des russischen Despoten stellen wollen.

***

Ich verstehe die großzügige Ungeduld, das Bedürfnis nach Aktivität, die glühende Hoffnung, die den Verstand einiger unserer Gefährten verschleiert hat, und ich bewundere diejenigen, die freiwillig ihr Leben riskiert haben, denn es ist immer bewundernswert, wenn man sich für eine Sache opfert, die man für gut hält. Aber der Respekt und die Bewunderung, die ich für sie empfinde, halten mich nicht davon ab, die Unbegründetheit der Hoffnungen einiger und die Sinnlosigkeit und den Schaden des Opfers anderer zu bedauern.

Was kann der Sieg der einen oder anderen Seite im gegenwärtigen Krieg bewirken? Was könnte so wichtig sein, dass Revolutionäre sich mit den reaktionärsten Elementen in ihren jeweiligen Ländern zusammentun, Freidenker sich mit Priestern verbrüdern, Sozialisten und Gewerkschafter/Syndikalisten die Klassenantagonismen zurückstellen, Antimilitaristen von einer Regierung verlangen, dass sie die Staatsbürger zu den Waffen ruft und sie zwingt, in den Krieg zu ziehen, und Anarchisten mit dem Staat zusammenarbeiten?

***

Sie sagen, dass dieser Krieg die Frage der Nationalitäten lösen wird.

Wir sind Kosmopoliten. Für uns ist die Frage der sogenannten nationalen Unabhängigkeit nur als Frage der Freiheit von Bedeutung. Wir möchten, dass jede menschliche Gruppe unter den Bedingungen leben kann, die sie bevorzugt, und dass es ihr freisteht, sich mit anderen Gruppen zusammenzuschließen oder sich von ihnen zu trennen, wie es ihr gefällt. Deshalb halten wir die Frage der Nationalität auf ideeller Ebene für überholt, genauso wie sie auf faktischer Ebene aufgrund der Internationalisierung von ökonomischen Interessen, Kultur und persönlichen und Klassenbeziehungen überholt ist.

Wir verstehen jedoch, dass in Ländern, in denen die Regierung und die Hauptunterdrücker ausländischer Nationalität sind, die Frage der Freiheit und der ökonomischen Emanzipation unter dem Deckmantel des nationalistischen Kampfes auftritt, und wir sympathisieren daher mit nationalen Aufständen wie mit jedem Aufstand gegen die Unterdrücker. In diesem Fall, wie auch in allen anderen, sind wir auf der Seite des Volkes gegen die Regierung. Selbst wenn wir der Meinung sind, dass es sich nicht lohnt, einen Kampf zu führen, der zu einem einfachen Herrschaftswechsel führt, beugen wir uns dem Willen der Betroffenen. Wenn Trient und Triest also wirklich das Bedürfnis hätten, den Stock der Habsburger gegen die Fesseln des Hauses Savoia auszutauschen, wären wir froh, wenn sie Erfolg hätten, und sei es nur, um nichts mehr davon zu hören und zu sehen, wie so viele gute Energien für profitablere Kämpfe eingesetzt werden.

Obwohl wir also traurig wären, dass die verschiedenen nationalen Probleme durch Regierungsbeschlüsse und nicht durch das Volk gelöst werden, erkennen wir an, dass es eine gute Sache wäre, sozusagen die Probleme zu lösen, die den Weg zum Fortschritt versperren und so viele Menschen von den wirklichen Kämpfen für die menschliche Emanzipation ablenken.

Aber Tatsache ist, dass in diesem Krieg eine Frage der Nationalität der Funke gewesen sein mag, der das Brandmaterial entzündete, das lange und für andere Zwecke vorbereitet worden war; sie mag ein Vorwand und ein Mittel gewesen sein, um die Naiven zu begeistern und die öffentliche Aufmerksamkeit von den Gründen und Zielen des Krieges abzulenken; aber sicherlich ist die nationale Unabhängigkeit der Völker der letzte Gedanke derjenigen, die den Krieg führen und über den Frieden entscheiden.

Man schreit zu Recht gegen das schändliche Österreich auf, das unterworfene Völker dazu zwingt, zur Verteidigung ihrer Unterdrücker zu kämpfen. Aber warum wird geschwiegen, wenn Frankreich die Algerier und andere Völker, die es unter seinem Joch hält, zwingt, für Frankreich zu töten? Oder wenn England die Indianer zum Abschlachten führt?

Wer würde dann daran denken, die unabhängigen Völker zu befreien? Vielleicht England, das bereits die Gelegenheit nutzt, um sich Zypern, Ägypten und alles, was es kann, anzueignen? Vielleicht Serbien, das alles annektieren will, was mit der serbischen Nationalität zu tun hat, aber selbst auf die Gefahr hin, von hinten angegriffen zu werden, an Mazedonien festhält? Vielleicht Russland, das überall, wo es einen Fuß hinsetzt, in Galizien und der Bukowina, das bisschen Autonomie, das Österreich gewährt hat, unterdrückt, die Sprache des Landes verbietet, die Juden massakriert und die schismatischen Unierten [Mitglieder von Ostkirchen, die mit der römisch-katholischen Kirche in Union stehen] verfolgt? Vielleicht Frankreich, das in denselben Tagen, in denen es den Sieg an der Marne gegen die deutschen Invasoren feierte, die marokkanischen „Rebellen“ massakrierte und ihre Dörfer in Brand setzte?

Ich würde die Begeisterung von Sozialisten und Anarchisten für einen Kampf verstehen, der zwar nicht unser Kampf ist, aber einen gewissen Charakter von Großzügigkeit und Aufrichtigkeit hat. Ich hätte die Begeisterung verstanden, wenn Frankreich und England (ich spreche nicht einmal von Russland), die durch die deutsche Arroganz auf den Plan gerufen wurden, die ihnen unterworfenen Völker für unabhängig erklärt hätten und dann ihre Hilfe im Kampf gegen die deutsche Hegemonie und für die nationale Unabhängigkeit aller Völker in Anspruch genommen hätten. Aber geh und sprich über ein solches Projekt mit Regierungsleuten, mit Sir Eduardo Grey, mit Lord Kitchener, mit Poincaré, und du kannst von Glück reden, wenn sie dich nicht in ein Irrenhaus stecken.

***

Sie sagen, die Anglo-Franco-Russen kämpfen für die Zivilisation.

Aber während sie die von der deutschen Armee in Belgien und Frankreich begangenen Gräueltaten zu Recht anprangern, verschweigen oder entschuldigen sie die gleichen oder noch schlimmeren Gräueltaten, die von den Russen nicht nur in den überfallenen Ländern, sondern auch in Russisch-Polen begangen wurden, und loben sie manchmal sogar. Und mit ihrer Propaganda des blinden Hasses, nicht nur gegen die Anführer der deutschen und österreichisch-ungarischen Politik, was gerechtfertigt wäre, sondern gegen ein ganzes Volk, eine ganze Rasse, schaffen sie in den anglo-französischen Verträgen einen solchen Geisteszustand, dass man bei dem Gedanken zittert, was passieren würde, wenn es ihnen jemals gelänge, einen Fuß nach Deutschland zu setzen.

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Sie sagen, dass dies ein Krieg für die Freiheit ist und dass Russland selbst liberal werden wird … nach dem Krieg. In der Zwischenzeit, ganz zu schweigen von Russland, wo die Verfolgung der fortschrittlichen Parteien und die Unterdrückung der unterworfenen Nationalitäten schlimmer denn je sind, sehen wir, dass Frankreich und England durch die Unterdrückung jeglicher Freiheit und des Rechts auf Kritik, durch die Entwicklung des militaristischen Geistes und durch die Zunahme der klerikalen Macht schnell russifiziert werden.

So gewöhnt sich die Öffentlichkeit an Gehorsam und Schweigen, und der Weg bleibt offen für alle reaktionären Comebacks.

***

Trotz der Tatsachen glauben viele wohlmeinende Menschen, darunter auch einige unserer Gefährten, immer noch, dass es sich um einen Freiheitskrieg handelt, einen Krieg, der zum Verschwinden oder zumindest zu einem starken Rückgang des Militarismus und zu einer Ordnung in Europa führen wird, die den Bestrebungen der verschiedenen Völker entspricht, so dass der Weltfrieden für immer oder für eine sehr lange Zeit gesichert ist und die fortschrittlichen Elemente der jeweiligen Länder sich der Eroberung von Freiheit und Gerechtigkeit für alle widmen können, ohne die durch Kriege verursachten Unterbrechungen und Rückschritte zu fürchten. Und sie schmieden Pläne, was der nächste Kongress zu beschließen hat, und sie stellen sich vor, dass ihre Wünsche und Stimmen die Überlegungen der Staatsoberhäupter und ihrer Generäle und Diplomaten beeinflussen werden.

Das ist eine großzügige, aber törichte (entschuldigt das Wort) Illusion.

Der bevorstehende Friedenskongress wird, wie alle Kongresse dieser Art, ein Marktplatz sein, auf dem die Mächtigen über die Völker verfügen werden, als wären sie Viehherden.

In internationalen Angelegenheiten, wie auch in den innenpolitischen Angelegenheiten der verschiedenen Staaten, ist die einzige Grenze für die Arroganz der Herrschenden der Widerstand des Volkes. Und das Volk hat sich bisher sanftmütig zur Schlachtbank führen lassen, ebenso wie der Teil des Volkes, der mit seinem Klassenbewusstsein und seinem Gerechtigkeitsideal die Pflicht hat, ein Beispiel zu geben und die Massen zu führen.

Der Krieg musste um jeden Preis verhindert werden.

Stattdessen verrieten die deutschen Sozialdemokraten, die die größte Pflicht hatten, weil sie die Stärksten waren und weil ihre Regierung die Initiative für den Angriff ergriff, feige die Internationale, sie stellten sich fast einstimmig in den Dienst des Kaisers.

Die französischen und belgischen Sozialisten wussten nichts Besseres, als es den Deutschen nachzumachen und sich mit den Regierungen und der Bourgeoisie ihrer Länder zu solidarisieren.

So kam es, dass ein Ziel erreicht wurde, das dem, was sich der Sozialismus und die Internationale vorgenommen hatten, diametral entgegengesetzt war. Statt die Proletarier aller Länder im Kampf gegen ihre Unterdrücker zu vereinen, kehrte man zum Rassen- und Nationalitätenhass zurück und gab den Kampf für die Emanzipation auf.

Jetzt wäre es notwendig, dass sich die bewaffneten Proletarier der verschiedenen kämpfenden Armeen untereinander verbrüdern und die Waffen, die sie in ihren Händen halten, gegen die Unterdrücker einsetzen.

Aber kann man darauf hoffen, wenn die Sozialisten und Gewerkschaftlter/Syndikalisten der kriegführenden Länder fast alle den Sozialismus, die Gewerkschaftsbewegung/Syndikalismus (Trade Unionism), den Klassenkampf und die internationale Brüderlichkeit vergessen haben, um sich als gute Untertanen, gute Soldaten und gute Patrioten zu zeigen?

***

Vielleicht bin ich zu pessimistisch. Es kann gut sein, dass das Gute aus dem Übermaß des Bösen entsteht. Es könnte sein, dass die Kriegsmüdigkeit, der Ekel vor dem Krieg und das große Elend, das der Krieg hervorbringt, zu einer Insurrektion führen, die den Zustand der Dinge völlig verändern würde.

Schon jetzt gibt es einige Anzeichen für einen Aufstand und die Revolutionäre sollten auf der Hut sein, um die sich bietenden Gelegenheiten zu ergreifen.

Aber in diesem Fall sollten die Kriegstreiber nicht kommen und uns erzählen, dass Krieg gut ist. Dann wäre zwar etwas Gutes dabei herausgekommen, aber nur, weil es diejenigen gibt, die Gegner des Krieges waren oder noch werden.

Und das gilt auch für Italien. Ohne den europäischen Krieg, der den Lauf der Dinge veränderte, hätte die Expedition nach Libyen mit ihren katastrophalen Folgen etwas Gutes bewirkt, denn sie war einer der Faktoren, die die [italienische] Monarchie an den Rand des Ruins gebracht hatten. Aber das lag daran, dass die Subversiven Italiens, obwohl sie es nicht verhindert hatten, ihr gegenüber unerbittlich feindselig geblieben waren. Denn wenn sie dem Rat der wenigen gefolgt wären, die sagten: „Da wir keine Revolution machen können, lasst uns Krieg führen“, hätten sie die Verantwortung für die Fehler der Monarchie übernommen und wären nicht befugt gewesen, zu den Menschen zu sprechen, als der Krieg vorbei war.

Errico Malatesta, London, 26. März 1915

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Antimilitarismus: Wurde er richtig verstanden? – Errico Malatesta (1914) https://panopticon.blackblogs.org/2022/09/25/antimilitarismus-wurde-er-richtig-verstanden-errico-malatesta-1914/ Sun, 25 Sep 2022 16:33:04 +0000 https://panopticon.noblogs.org/?p=3427 Continue reading ]]> Gefunden auf mgouldhawke, die Übersetzung ist von uns.

Antimilitarismus: Wurde er richtig verstanden? – Errico Malatesta (1914)

Veröffentlicht in Freedom, Dezember 1914 und neu veröffentlicht in Mother Earth, Januar 1915

Liebe Gefährten – Erlaubt mir, ein paar Worte zu Kropotkins Artikel über Antimilitarismus zu sagen, der in deiner letzten Ausgabe erschienen ist. Meiner Meinung nach ist Antimilitarismus die Lehre, die behauptet, dass der Militärdienst ein abscheuliches und mörderisches Gewerbe ist und dass ein Mann niemals zustimmen sollte, auf Befehl der Herren zu den Waffen zu greifen und niemals zu kämpfen, außer für die soziale Revolution.

Ist das ein Missverständnis des Antimilitarismus?

Kropotkin scheint den Antagonismus der Klassen, die Notwendigkeit der ökonomischen Emanzipation und alle anarchistischen Lehren vergessen zu haben und sagt, dass ein Antimilitarist immer bereit sein sollte, im Falle eines Krieges zu den Waffen zu greifen, um das „Land, das überfallen wird“, zu unterstützen; was in Anbetracht der Unmöglichkeit, zumindest für den einfachen Arbeiter, rechtzeitig festzustellen, wer der wirkliche Aggressor ist, praktisch bedeutet, dass Kropotkins „Antimilitarist“ immer den Befehlen seiner Regierung gehorchen sollte. Was bleibt danach vom Antimilitarismus und auch vom Anarchismus übrig?

Tatsächlich verzichtet Kropotkin auf den Antimilitarismus, weil er meint, dass die nationalen Fragen vor der sozialen Frage gelöst werden müssen. Für uns gehören nationale Rivalitäten und Hass zu den besten Mitteln, die den Herren zur Verfügung stehen, um die Sklaverei der Arbeiter aufrechtzuerhalten, und wir müssen uns ihnen mit aller Kraft entgegenstellen. Das Recht der kleinen Nationalitäten, ihre Sprache und ihre Bräuche zu bewahren, ist eine Frage der Freiheit und wird erst dann eine wirkliche und endgültige Lösung finden, wenn die Staaten zerstört sind und jede menschliche Gruppe, ja jedes Individuum, das Recht hat, sich mit jeder anderen Gruppe zusammenzuschließen und sich von ihr zu trennen.

Es ist sehr schmerzhaft für mich, mich gegen einen geliebten Freund wie Kropotkin zu stellen, der so viel für die Sache des Anarchismus getan hat. Aber gerade weil Kropotkin von uns allen so sehr geschätzt und geliebt wird, ist es notwendig zu erklären, dass wir ihm in seinen Äußerungen zum Krieg nicht folgen.

Ich weiß, dass diese Haltung von Kropotkin nicht ganz neu ist und dass er seit mehr als zehn Jahren gegen die „deutsche Gefahr“ predigt; und ich gebe zu, dass wir im Unrecht waren, als wir seinem französisch-russischen Patriotismus keine Bedeutung beimaßen und nicht voraussahen, wohin ihn seine antideutschen Vorurteile führen würden. Das lag daran, dass wir verstanden, dass er die französischen Arbeiter dazu auffordern wollte, auf eine mögliche deutsche Invasion mit einer sozialen Revolution zu antworten – das heißt, indem sie französischen Boden in Besitz nehmen und versuchen, die deutschen Arbeiter dazu zu bewegen, sich mit ihnen im Kampf gegen die französischen und deutschen Unterdrücker zu verbrüdern. Sicherlich hätten wir uns nie träumen lassen, dass Kropotkin die Arbeiter dazu auffordern könnte, mit Regierungen und Herren gemeinsame Sache zu machen.

Ich hoffe, dass er seinen Irrtum einsieht und sich wieder auf die Seite der Arbeiter gegen alle Regierungen und alle Bourgeois stellt: Deutsche, Engländer, Franzosen, Russen, Belgier, usw.

Mit brüderlichen Grüßen,

E. Malatesta

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Anarchistinnen und Anarchisten haben ihre Prinzipien vergessen https://panopticon.blackblogs.org/2022/06/28/anarchistinnen-und-anarchisten-haben-ihre-prinzipien-vergessen-2/ Tue, 28 Jun 2022 21:39:09 +0000 https://panopticon.noblogs.org/?p=2766 Continue reading ]]> Einleitung von uns,

in vielen der Texten die wir zum Krieg in der Ukraine entweder übersetzt oder selbst geschrieben haben, wird historisch auf den Ersten Weltkrieg hingewiesen. Auch wenn es sich hierbei um einen imperialistischen Krieg handelt, denn alle Kriege des Kapitalismus haben diesen Charakter inne, es handelt sich zwar nicht um einen Weltkrieg, dieser wird aber weltweit/international geführt. Welche sind also die gewissen Parallelismen, auf die immer wieder hingewiesen wird, auf die viele Gruppen aufmerksam machen, bzw., kritisieren? Nämlich die konterrevolutionäre Rolle, die gewisse anarchistische Gruppen, sowie andere Gruppen, die die Linke des Kapitals repräsentieren, in diesem Krieg, wenn auch minimal und irrelevant, spielen. Mag diese Rolle zwar minimal und irrelevant sein, da diese aber mit anarchistischen Prinzipien als Argument gerechtfertigt wird, ist der Charakter darin ein anderer. Dem Versuch aus den Ideen des Anarchismus heraus, die Beteiligung am Krieg zu rechtfertigen, vor allem in der Rolle den ukrainischen Staat zu schützen, steht daher die Kritik die viele, wir eingeschlossen, formulieren und die, wie gesagt, diesen konterrevolutionären Zug angreifen, entgegen. Im Ersten Weltkrieg geschah dasselbe, als das sogenannte infame und verräterische Manifest der Sechzehn – damit man sehen kann das Reformismus, Reaktion, Konterrevolution, usw., leider dem Anarchismus nicht fremd sind – von einigen wenigen veröffentlicht wurde und diese sich auf die Seite der Alliierten stellten (damals noch das Britische Empire, Frankreich mit all seinen Kolonien vor allem in Afrika, Belgien mit all seinen Kolonien in Afrika, das Russische Zarenreich und später Italien).

Dies löste eine internationale Debatte innerhalb der anarchistischen Bewegung aus von einem Ausmaß, welches wir uns heutzutage gar nicht vorstellen können, die diese Verräter des Anarchismus aus der Geschichte wegfegte. Ihre Namen und ihr Ruf war für immer mit Schande verbunden, denn wie jeder weiß: keiner will Verräter und Verräterinnen auf der eigenen Seite. Da sich auf dieser Ebene vieles wiederholt, haben wir, inspiriert von einer Broschüre die von Elephant Editions veröffentlicht wurde, drei Texte von Errico Malatesta und das infame und verräterische Manifest der Sechszehn hier neu veröffentlicht. Die Texte erschienen von 1914 bis 1922.

Wir haben alle Texte, die schon übersetzt waren, übernommen, auch wenn wir mit der Auswahl der übersetzten Wörter nicht einverstanden sind, sei es drum, nur der letzte Text ist von uns übersetzt worden, nämlich Reformisten oder Insurrektionalisten? von Malatesta.

Wir fanden die Texte von Malatesta nach wie vor sehr aktuell und gegenwärtig, da sich eben gewisse Ereignisse wiederholen, die einen an den Ersten Weltkrieg und zum Teil auch an den Zweiten erinnern. Wir wiederholen es, damit es keine Missverständnisse gibt, nämlich die eingenommene Rolle einiger (wir bezweifeln, dass sie überhaupt welche sind oder je waren) Anarchistinnen und Anarchisten sowie deren Befürworter. Sind also die Fragen und die Schlüsse, die Malatesta gestellt und gezogen hat, noch aktuell, bedeutet dies, dass eine anarchistische Bewegung entweder aus ihrer Geschichte nicht lernen kann, oder genauso schlimm sie nicht mal kennt. Wie es auch sei, hier ein weiterer Beitrag von unserer Seite aus für eine Diskussion-Kritik gegen alle reaktionären und konterrevolutionären Gruppen und Individuen die sich als anarchistisch geben und es nicht sind.

Gegen die Kriege des Kapitalismus hilft nur Klassenkrieg, sozialer Krieg, Insurrektion/Aufstand und soziale Revolution. Wir haben kein Vaterland, wir sind Parias, wir werden keine eigene noch fremde herrschende Klasse verteidigen, es gilt sie alle anzugreifen und zu zerstören.

Soligruppe für Gefangene


Errico Malatesta, Anarchisten haben ihre Prinzipien vergessen (1914)

Ursprünglich veröffentlicht unter dem Titel »Anarchists have forgotten their Principles« in der Zeitschrift Freedom (London), Nummer 307 (November 1914).

Auf die Gefahr hin, als Einfaltspinsel zu gelten, gestehe ich, es niemals für möglich gehalten zu haben, dass Sozialisten – oder selbst Sozialdemokraten – einem Krieg wie dem gegenwärtig Europa verwüstenden Beifall spenden und freiwillig, sei es auf der Seite Deutschlands oder der Alliierten, an ihm teilnehmen würden. Was aber soll man sagen, wenn Anarchisten dasselbe tun – zwar nicht viele, das stimmt, darunter jedoch einige der geschätztesten und angesehensten Genossen?1

Es wird behauptet, die gegenwärtige Situation offenbare den Bankrott »unserer Formeln« – d.h. unserer Prinzipien – und man müsse sie revidieren.

Allgemein gesprochen muss jede Formel revidiert werden, wenn die gegebenen Fakten sie als unzureichend erweisen; doch das ist heute nicht der Fall, wo nicht etwa Mängel unserer Formeln, sondern die Tatsache, dass sie vergessen und verraten wurden, zu einem Bankrott führen.

Lasst uns zu unseren Prinzipien zurückkehren.

Ich bin kein »Pazifist«. Ich kämpfe, wie wir alle, für den Triumph von Frieden und Brüderlichkeit unter allen Menschen; doch ich weiß, dass der Wunsch, nicht zu kämpfen, nur dann erfüllt werden kann, wenn keine Seite dies tun möchte, und dass, solange es Menschen gibt, die die Freiheiten anderer verletzen, diese anderen sich verteidigen müssen, wenn sie nicht ewig geschlagen werden wollen; und ebenso weiß ich, dass Angriff häufig die beste, oder einzige, Verteidigung ist. Außerdem denke ich, dass die Unterdrückten immer in einer Situation legitimer Selbstverteidigung sind und immer das Recht haben, die Unterdrücker anzugreifen. Ich räume deshalb ein, dass es notwendige, heilige Kriege gibt: Kriege der Befreiung, die in der Regel »Bürgerkriege«, d.h. Revolutionen sind.

Doch was hat der gegenwärtige Krieg mit der menschlichen Emanzipation gemein, um die es uns geht?

Heute hören wir, wie Sozialisten – nicht anders als irgendein Bürger – von »Frankreich«, »Deutschland« und anderen politischen und nationalen Gebilden, die das Ergebnis historischer Kämpfe sind, so reden, als wären es homogene ethnographische Einheiten mit jeweils eigenen Interessen, Bestrebungen und eigener Mission, die im Gegensatz zu denen der rivalisierenden Einheiten stehen. Dies mag relativ gesehen stimmen, solange die Unterdrückten, namentlich die Arbeiter, kein Selbstbewusstsein haben und die Ungerechtigkeit ihrer Unterdrücker nicht zu erkennen vermögen. Dann kommt es allein auf die herrschende Klasse an; und aufgrund des Bedürfnisses, ihre eigene Macht zu erhalten und zu vergrößern, ja sogar aufgrund eigener Vorurteile und Auffassungen mag es dieser Klasse gelegen scheinen, rassische Bestrebungen und Rassenhass zu entfachen und ihre Nation, ihre Herde, gegen »fremde« Länder in Marsch zu setzen, um diese ihren gegenwärtigen Unterdrückern zu entwinden und der eigenen politisch-ökonomischen Herrschaft zu unterwerfen.

Doch die Aufgabe derer, die wie wir das Ende jeglicher Unterdrückung und Ausbeutung des Menschen durch den Menschen anstreben, besteht darin, ein Bewusstsein des Interessenantagonismus zwischen Herrschern und Beherrschten, zwischen Ausbeutern und Arbeitern zu wecken und innerhalb jedes Landes den Klassenkampf sowie die grenzüberschreitende Solidarität aller Arbeiter zu entfalten, gegen jegliches Vorurteil und jegliche Begeisterung für Rasse oder Nationalität.

Und wir haben dies schon immer getan. Wir haben immer propagiert, dass die Arbeiter aller Länder Brüder sind und dass der Feind – der »Fremde« – der Ausbeuter ist, ob er nun in der Nähe oder in einem fernen Land geboren ist, ob er dieselbe Sprache oder irgendeine andere spricht. Wir haben unsere Freunde, unsere Kampfgefährten, ebenso wie unsere Feinde immer nach den von ihnen vertretenen Ideen und ihrer Position im sozialen Kampf, niemals aber mit Blick auf Rasse oder Nationalität bestimmt. Wir haben den Patriotismus, ein Relikt der Vergangenheit, das den Interessen der Unterdrücker gute Dienste leistet, immer bekämpft; und wir waren stolz darauf, nicht nur in Worten, sondern im Tiefsten unserer Seele Internationalisten zu sein.

Und nun, da die grauenvollsten Folgen kapitalistischer und staatlicher Herrschaft selbst den Blinden zeigen, dass wir im Recht waren, verbünden sich die Sozialisten und viele Anarchisten in den kriegführenden Staaten mit der Regierung und der Bourgeoisie ihres jeweiligen Landes, vergessen sie den Sozialismus, den Klassenkampf, die internationale Brüderlichkeit und alles übrige. Welch‘ tiefer Fall!

Es mag sein, dass die gegenwärtigen Ereignisse gezeigt haben, dass nationale Gefühle lebendiger, Gefühle internationaler Bruderschaft hingegen schwächer verwurzelt sind, als wir dachten; aber das sollte ein Grund mehr sein, unsere antipatriotische Propaganda zu verstärken, anstatt sie aufzugeben. Die Ereignisse zeigen auch, dass etwa in Frankreich religiöse Gefühle stärker und Priester einflussreicher sind, als wir meinten. Ist das ein Grund dafür, dass wir zum römischen Katholizismus konvertieren?

Mir ist bewusst, dass es Umstände geben kann, unter denen das allgemeine Wohl die Hilfe aller erfordert – etwa eine Epidemie2, ein Erdbeben oder eine Invasion von Barbaren, die alles töten und zerstören, was in ihre Hände gerät. In einem solchen Fall muss der Klassenkampf, müssen die Unterschiede in der sozialen Stellung vergessen werden, um gemeinsam gegen die gemeinsam erfahrene Bedrohung vorzugehen – allerdings unter der Bedingung, dass beide Seiten diese Unterschiede vergessen. Wenn sich während eines Erdbebens Menschen in einem Gefängnis befinden und bei dessen Einsturz ums Leben zu kommen drohen, dann haben wir die Pflicht, alle, selbst die Wärter, zu retten – unter der Bedingung, dass die Wärter ihrerseits zunächst die Zellentüren aufschließen. Treffen sie dagegen alle Vorkehrungen, um die Inhaftierung der Gefangenen während und nach der Katastrophe sicherzustellen, dann haben die Gefangenen gegenüber sich selbst und ihren inhaftierten Gefährten die Pflicht, die Wärter ihrem Schicksal zu überlassen und die Gelegenheit zu nutzen, sich selbst zu retten.

Kommt es zu einer Invasion des heiligen Bodens des Vaterlands durch ausländische Soldaten und sollte die privilegierte Klasse ihre Privilegien aufgeben und so handeln, dass das »Vaterland« tatsächlich das gemeinsame Eigentum aller Einwohner wird, dann wäre es richtig, dass alle gemeinsam gegen die Invasoren kämpfen. Wollen die Könige aber Könige bleiben, die Grundbesitzer ihr Land und ihre Häuser retten und die Händler ihre Güter schützen – und sogar noch teurer verkaufen -, dann sollten die Arbeiter, die Sozialisten und Anarchisten sie sich selbst überlassen und nach einer Gelegenheit Ausschau halten, sich der Unterdrücker im eigenen Land ebenso zu entledigen wie der aus dem Ausland anrückenden.

Es ist unter allen Umständen die Pflicht der Sozialisten, und besonders der Anarchisten, alles zu tun, was den Staat und die kapitalistische Klasse schwächen kann, und allein das Interesse des Sozialismus zur Richtschnur des Handelns zu machen; oder, sofern sie der materiellen Machtmittel entbehren, um wirkungsvoll für ihre Sache einzutreten, wenigstens der Sache des Feindes jede freiwillige Unterstützung zu verweigern und sich aus dem Geschehen herauszuhalten, um zumindest ihre Prinzipien zu retten – was gleichbedeutend damit ist, die Zukunft zu retten.

Alles bisher Gesagte ist Theorie, und als Theorie akzeptieren es vielleicht auch die meisten derer, die in der Praxis das genaue Gegenteil tun. Wie also kann man es auf die gegenwärtige Situation beziehen? Was sollten wir tun, worauf sollten wir – im Interesse unserer Sache – hoffen?

Ein Sieg der Alliierten, so heißt es auf dieser Seite des Rheins, wäre das Ende des Militarismus, der Triumph der Zivilisation, der internationalen Gerechtigkeit etc. Dasselbe wird auf der anderen Seite der Front über einen deutschen Sieg gesagt.

Persönlich habe ich, wenn ich den »tollwütigen Hund« von Berlin und den »alten Henker« von Wien nüchtern beurteile, nicht mehr Vertrauen in den blutrünstigen Zar oder in die englischen Diplomaten, die Indien unterdrücken, die Persien verrieten, die die Burenrepubliken zerschlagen haben; oder in die französische Bourgeoisie, die die Eingeborenen Marokkos massakriert hat; oder in die belgische, die die Grausamkeiten im Kongo zugelassen und erheblich davon profitiert hat – und ich erinnere hier nur an einige beliebig ausgewählte ihrer Untaten, und rede gar nicht von dem, was alle Regierungen und alle kapitalistischen Klassen gegen die Arbeiter und Rebellen im eigenen Land tun. Meines Erachtens würde ein Sieg Deutschlands gewiss den Triumph von Militarismus und Reaktion bedeuten; doch ein Sieg der Alliierten würde eine russisch-englische (d.h. knuto-kapitalistische) Herrschaft in Europa und Asien, würde die allgemeine Wehrpflicht und die Entwicklung eines militaristischen Geistes in England sowie eine klerikale, möglicherweise monarchistische Reaktion in Frankreich bedeuten.

Außerdem ist es meines Erachtens sehr wahrscheinlich, dass keine der Seiten einen definitiven Sieg erringen wird. Nach einem langen Krieg und gewaltigem Verlust an Menschenleben und Vermögen, wenn beide Seiten erschöpft sind, wird man irgendeinen Friedensvertrag zusammenflicken, der alle Fragen offen lässt und dergestalt einem neuen, noch mörderischeren Krieg den Boden bereitet.3

Die einzige Hoffnung heißt Revolution; und da ich in Anbetracht der gegenwärtigen Lage denke, dass die Revolution aller Wahrscheinlichkeit nach zuerst in einem besiegten Deutschland ausbrechen würde, hoffe ich aus diesem Grund – und nur aus diesem Grund – auf die Niederlage Deutschlands.

Ich mag natürlich im Irrtum sein über die richtige Position. Doch für alle Sozialisten (Anarchisten und andere) elementar und grundlegend zu sein scheint mir die Notwendigkeit, sich von jeglichem Kompromiss mit den Regierungen und den herrschenden Klassen fernzuhalten, um in der Lage zu sein, jede sich möglicherweise bietende Gelegenheit zum eigenen Vorteil nutzen, und in jedem Fall, um unsere Vorbereitungen und Propaganda für die Revolution neu aufzunehmen und fortzusetzen.


Errico Malatesta, Anarchisten als Regierungsbefürworter (1916)

Veröffentlicht unter dem Titel »Pro-Government Anarchists« in der Zeitschrift Freedom (London), Nummer 324 (April 1916).

Unlängst ist ein Manifest4 erschienen, unterzeichnet von Kropotkin, Malato und einem Dutzend weiterer alter Genossen, in dem sie, genau wie die Regierungen der Entente, die einen Kampf bis zum Äußersten, bis zur Niederwerfung Deutschland fordern, gegen die Idee eines »verfrühten Friedens« Stellung bezogen. Die kapitalistische Presse veröffentlicht, mit sichtlicher Befriedigung, Auszüge aus diesem Manifest, das sie als Werk »führender Vertreter der internationalen anarchistischen Bewegung« ausgibt. Die Anarchisten, die fast durchweg ihren Überzeugungen treu geblieben sind, haben die Pflicht, gegen diesen Versuch zu protestieren, den Anarchismus für die Fortsetzung eines blutigen Gemetzels zu vereinnahmen, das nie zu der Hoffnung Anlass gab, die Sache von Freiheit und Gerechtigkeit zu fördern und das sich inzwischen als absolute Sackgasse erweist, selbst aus Sicht der Herrschenden, egal, auf welcher Seite des Schützengrabens sie stehen.

Die Aufrichtigkeit und die guten Absichten derer, die das Manifest unterzeichnet haben, stehen außer Frage. Doch so schmerzlich es sein mag, sich mit alten Freunden zu Überwerfen, die der Sache, die in der Vergangenheit einmal unsere gemeinsame war, so viele gute Dienste erwiesen haben, so es ist es dennoch – aus Gründen der Ehrlichkeit und im Interesse unserer emanzipatorischen Bewegung – unerlässlich, sich von Genossen zu trennen, die anarchistische Ideen für vereinbar halten mit der Tatsache, dass man die Regierungen und die Kapitalistenklasse mancher Länder in ihrem Kampf gegen die Kapitalisten und Regierenden anderer Länder unterstützt.

Im Laufe des gegenwärtigen Krieges haben wir gesehen, wie sich Republikaner in den Dienst von Königen stellten, Sozialisten gemeinsame Sache mit der herrschenden Klasse machten, Arbeitervertreter den Interessen von Kapitalisten dienten; doch diese Leute sind allesamt, in unterschiedlichem Ausmaß, Konservative, die an die Mission des Staates glauben, und ihr Zögern ist verständlich, wenn man bedenkt, dass der einzige Ausweg in der Beseitigung jeder staatlichen Gängelung, in der Entfesselung der sozialen Revolution besteht. Doch auf Seiten der Anarchisten ist ein solches Zögern unverständlich. Wir behaupten, dass der Staat unfähig ist, irgendetwas Gutes zu bewirken. Sowohl auf internationaler Ebene als auch in individuellen Beziehungen kann er Aggression nur bekämpfen, indem er selbst zum Aggressor wird; er kann das Verbrechen nur verhindern, indem er noch größere Verbrechen organisiert und begeht. Selbst angenommen – was weit von der Wahrheit entfernt ist -, dass Deutschland die Alleinschuld für den gegenwärtigen Krieg trägt, so ist erwiesen, dass man Deutschland, wenn man Regierungsmethoden befolgt, nur widerstehen kann, indem man alle Freiheiten beseitigt und allen Kräften der Reaktion ihre Macht zurückerstattet.

Abgesehen von einer revolutionären Massenbewegung gibt es keinen anderen Weg, der Bedrohung durch eine disziplinierte Armee zu widerstehen, als eine noch stärkere und noch diszipliniertere Armee aufzustellen, sodass die entschiedensten Antimilitaristen, sofern sie keine Anarchisten sind und vor der Zerstörung des Staates zurückschrecken, keine andere Wahl haben, als zu glühenden Militaristen zu werden. Tatsächlich haben sie, in der fragwürdigen Hoffnung, den preußischen Militarismus zu zerschlagen, jeden Freiheitsgeist und alle freiheitlichen Traditionen aufgegeben, haben England und Frankreich verpreußt, haben sich dem Zarismus unterworfen, haben das Prestige des wankenden italienischen Throns wiederhergestellt.

Können Anarchisten auch nur einen Moment lang einen solchen Zustand billigen, ohne jegliches Recht verwirkt zu haben, sich Anarchisten zu nennen? Was mich betrifft, so ist mir selbst die gewaltsam aufgezwungene Fremdherrschaft, gegen die sich Widerstand regt, noch lieber als die Unterdrückung im Inneren, die demütig, fast dankbar ertragen wird, in der Hoffnung, dass uns auf diesem Wege ein größeres Übel erspart bleibt. Es ist sinnlos, wie die Verfasser und Unterzeichner des fraglichen Manifestes, zu behaupten, dass ihre Haltung durch außergewöhnliche Umstände bedingt sei und dass, wenn der Krieg erst einmal vorbei ist, jeder in sein Lager zurückkehren und für sein eigenes Ideal kämpfen wird. Denn wenn es jetzt notwendig ist, einträchtig mit der Regierung und dem Kapitalismus zusammenzuarbeiten, um sich vor der »teutonischen Gefahr« zu schützen, wird es auch nach dem Krieg notwendig sein. Egal, wie vernichtend die Niederlage der deutschen Armee ausfällt – sofern sie überhaupt geschlagen wird -, es wird niemals möglich sein, die deutschen Patrioten davon abzuhalten, auf Rache zu sinnen und sie vorzubereiten. Und die Patrioten anderer Regionen werden sich, aus ihrer Sicht vollkommen zu Recht, bereit halten wollen, um sich nicht überrumpeln zu lassen. Das bedeutet, dass der preußische Militarismus eine stehende und dauerhafte Einrichtung in allen Ländern wird. Was werden dann die angeblichen Anarchisten sagen, die jetzt den Sieg einer der kriegführenden Allianzen herbeiwünschen? Werden sie, wenn sie sich Antimilitaristen nennen, für Abrüstung, Wehrdienstverweigerung, Sabotage der Landesverteidigung eintreten, nur um sich beim geringsten Anzeichen eines neuen Krieges in Werbeoffiziere der Regierungen zu verwandeln, die sie zuvor hatten entwaffnen und lahmlegen wollen?

Es heißt, dergleichen würde sich erübrigen, wenn das deutsche Volk sich seiner Tyrannen entledigen würde und durch die Beseitigung des Militarismus in seinem Land keine Bedrohung ihr Europa mehr wäre. Doch würden die Deutschen nicht in der berechtigten Überzeugung, dass eine englische und französische Herrschaft (vom zaristischen Russland ganz zu schweigen) für die Deutschen nicht angenehmer wäre als eine deutsche Herrschaft über Franzosen und Engländer, gegebenenfalls lieber abwarten wollen, dass die Russen und die anderen ihren eigenen Militarismus abschaffen und bis dahin ihre Armee weiter aufrüsten? Und was dann? Wie lange soll man die Revolution aufschieben? Und die Anarchie? Müssen wir ewig warten, dass die anderen anfangen?

Die Maxime ihres Handelns ist den Anarchisten durch die unerbittliche Logik ihrer Ziele eindeutig vorgegeben.

Der Krieg hätte durch die Revolution verhindert werden müssen oder zumindest durch die Angst der Regierungen vor einer drohenden Revolution. Die Stärke und das Geschick, die dazu notwendig gewesen wären, haben gefehlt. Der Frieden muss durch die Revolution erzwungen werden, oder zumindest durch den Versuch, sie herbeizuführen. Dazu fehlt es derzeit wiederum an Stärke und Geschick. Nun gut! Es gibt nur einen Ausweg: es in der Zukunft besser zu machen. Mehr denn je müssen wir jeden Kompromiss ablehnen, die Kluft zwischen Kapitalisten und Lohnsklaven, Regierenden und Regierten vertiefen, die Enteignung des Privateigentums und die Zerstörung des Staates propagieren, als einzige Mittel, um ein brüderliches Zusammenleben der Völker sowie Freiheit und Gerechtigkeit für alle zu garantieren. Und wir müssen uns darauf vorbereiten, all das auch zu bewerkstelligen. Bis dahin halte ich es für ein Verbrechen, auch nur das Geringste zu unternehmen, was diesen Krieg verlängern könnte, der Menschen mordet, Wohlstand vernichtet und das Wiederaufleben des Kampfes um Befreiung verhindert. Ich denke, dass wer einen »Krieg bis zum Äußersten« propagiert, in Wahrheit das Spiel der Regierenden in Deutschland betreibt, die ihre Untertanen täuschen und ihren Kampfesmut anstacheln, indem sie ihnen einreden, ihre Gegner wollten das deutschen Volk unterwerfen und knechten.

Jetzt, wie seit jeher, muss unsere Devise lauten: >Nieder mit den Kapitalisten und den Regierungen, allen Kapitalisten und allen Regierungen!< Und die Völker sollen leben, alle Völker! …


Manifest der Sechzehn (1916)

Christian Comelissen, Henri Fuss, Jean Grave, Jacques Guérin, Peter Kropotkin, Charles Malato

Von verschiedenen Seiten werden Stimmen laut, die einen sofortigen Frieden fordern. „Genug des Blutvergießens, genug der Zerstörung“, heißt es, „es ist Zeit, damit aufzuhören, auf welche Weise auch immer“. Mehr als irgendjemand sonst, und das seit langem, sind wir, in unseren Zeitungen, gegen jeden Angriffskrieg zwischen Staaten eingetreten, und gegen jeden Militarismus, egal, ob er den Helm des Kaisers oder den der Republik trägt. Und wir wären im höchsten Maße beglückt, wenn die Arbeiter Europas auf einem internationalen Kongress die Bedingungen für einen Frieden diskutieren würden – wenn so etwas möglich wäre. Zumal sich das deutsche Volk im August 1914 hat täuschen lassen, und auch wenn es wirklich geglaubt hat, für die Verteidigung seines Territoriums mobilisiert zu werden, so hatte es mittlerweile Zeit genug, um zu bemerken, dass man es betrogen und stattdessen in einen Eroberungskrieg geworfen hat.

Tatsächlich sollten die deutschen Arbeiter, zumindest in ihren mehr oder weniger fortschrittlichen Gruppierungen, inzwischen verstanden haben, dass die Pläne zur Invasion Frankreichs, Belgiens und Russlands von langer Hand vorbereitet waren und dass, wenn dieser Krieg nicht 1875, 1880, 1911 oder 1913 ausgebrochen ist, es daran lag, dass die internationalen Beziehungen zu dieser Zeit noch keine so günstigen Voraussetzungen boten und die militärischen Vorbereitungen noch nicht weit genug vorangeschritten waren, um Deutschland die Aussicht auf einen Sieg zu eröffnen (Vervollständigung der strategischen Linien, Ausbau des Nordostseekanals, Perfektionierung der großen Belagerungsgeschütze). Und jetzt, nach zwanzig entsetzlich verlustreichen Monaten Krieg sollte ihnen bewusst sein, dass die deutsche Armee ihre Eroberungen nicht wird behaupten können. Zumal der Grundsatz zu berücksichtigen ist (den Frankreich schon 1859, nach der Niederlage Österreichs, anerkannt hat), dass es der Bevölkerung jedes Territoriums selbst obliegt, darüber zu entscheiden, ob sie annektiert werden möchte oder nicht.

Wenn die deutschen Arbeiter beginnen, die Situation so zu verstehen, wie wir es tun, und wie bereits jetzt eine kleine Minderheit ihrer Sozialdemokraten sie versteht5 – und wenn es ihnen gelingt, sich bei ihren Regierenden Gehör zu verschaffen –, dann könnte es eine Ebene der Verständigung geben, um mit Friedensverhandlungen zu beginnen. Doch dazu müssten sie erklären, dass sie Annexionen absolut ablehnen; dass sie auf das Vorhaben verzichten, von den eroberten Nationen „Kontributionen“ zu erheben; dass sie die Pflicht des deutschen Staates anerkennen, die materiellen Schäden, die von den Invasoren bei ihren Nachbarn angerichtet wurden, im Rahmen des Möglichen zu beheben, und dass sie nicht die Absicht hegen, sie durch sogenannte Handelsverträge ökonomisch zu unterwerfen. Leider sind bisher keine Anzeichen eines solchen Erwachens seitens des deutschen Volkes zu erkennen.

Es war von der Zimmerwalder Konferenz6 die Rede, doch auf dieser Konferenz fehlte das Wesentliche: eine Vertretung der deutschen Arbeiter7. Man hat auch viel Aufhebens von einigen Unruhen gemacht, die in Deutschland wegen der hohen Lebensmittelpreise ausgebrochen sind. Dabei wird vergessen, dass es in allen großen Kriegen zu solchen Unruhen kam, ohne dass sie Einfluss auf deren Dauer hatten. Außerdem weisen alle derzeit von der deutschen Regierung getroffenen Maßnahmen darauf hin, dass sie neue Offensiven für das Frühjahr plant. Da sie aber auch weiß, dass die Alliierten ihr im Frühjahr mit neuen, besser ausgerüsteten Armeen und einer viel stärkeren Artillerie als zuvor gegenüberstehen werden, arbeitet sie auch daran, Zwietracht in den Bevölkerungen der alliierten Länder zu säen. Und sie setzt dafür ein Mittel ein, das so alt ist wie der Krieg selbst: das Verbreiten von Gerüchten über einen bevorstehenden Frieden, dem sich auf Seiten des Gegners nur die Militärs und die Waffenlieferanten widersetzen würden. Eben darum bemühte sich Bülow mit seinen Sekretären während seines letzten Aufenthalts in der Schweiz.

Doch was sind seine Bedingungen für einen Friedensschluss?

Die Neue Züricher Zeitung glaubt zu wissen, und die regierungsamtliche Norddeutsche Zeitung widerspricht ihr nicht, dass ein Großteil Belgiens geräumt würde, allerdings nur unter der Bedingung, dass das Land Garantien abgibt, dass es sich nicht nochmals, wie im August 1914, dem Durchmarsch deutscher Truppen widersetzt. Was wären das für Garantien? Die belgischen Kohlegruben? Der Kongo? Davon verlautet nichts. Doch bereits jetzt wird eine hohe jährliche Kontribution erhoben. Die eroberten Territorien in Frankreich würden zurückgegeben, ebenso der französischsprachige Teil Lothringens. Doch im Gegenzug müsste Frankreich dem deutschen Staat alle russischen Anleihen überlassen, deren Wert sich auf achtzehn Milliarden beläuft. Mit anderen Worten, eine Kontribution von achtzehn Milliarden, die von den französischen Land- und Industriearbeitern aufzubringen wären, weil sie die Steuerzahler sind. Achtzehn Milliarden für den Rückkauf von zehn Departements, die dank ihrer Hände Arbeit so reich und prosperierend waren und die sie ruiniert und verwüstet zurückerhalten…

Und wenn man wissen will, was man in Deutschland über die Friedensbedingungen denkt, so ist eines sicher: die bürgerliche Presse bereitet die Nation auf den Gedanken vor, Belgien und die französischen Norddepartements schlicht und einfach zu annektieren. Und es gibt in Deutschland keine Kraft, die dagegen Widerstand leisten würde. Die Arbeiter, die ihre Stimme gegen diese Eroberungen hätten erheben müssen, tun es nicht. Die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter lassen sich von der Welle imperialistischer Begeisterung mitreißen und die sozialdemokratische Partei, die trotz ihres Massenanhangs zu schwach ist, um in allem, was den Frieden betrifft, Einfluss auf die Entscheidungen der Regierung zu nehmen, ist in dieser Frage in zwei verfeindete Lager gespalten, wobei die Parteimehrheit auf Seiten der Regierung steht. Das deutsche Reich sieht angesichts der Tatsache, dass seine Armeen seit achtzehn Monaten 90 Kilometer vor Paris stehen und dass es in seinem Traum von neuen Eroberungen vom deutschen Volk unterstützt wird, keinerlei Veranlassung, warum es aus seinen bisherigen Eroberungen keinen Nutzen ziehen sollte. Es glaubt sich in der Lage, Friedensbedingungen diktieren zu können, die ihm ermöglichen würden, mit den neuen Milliarden an Kontributionen weiter aufzurüsten, um Frankreich bei passender Gelegenheit erneut anzugreifen, ihm seine Kolonien und weitere Provinzen zu entreißen, ohne seinen Widerstand noch fürchten zu müssen.

Gerade jetzt von Frieden zu sprechen, hieße genau, das Spiel der deutschen Regierungspartei zu betreiben, das von Bülow und seiner Agenten.

Wir hingegen weigern uns strikt, die Illusionen mancher unserer Genossen zu teilen, was die friedlichen Absichten derer angeht, die die Geschicke Deutschlands lenken. Wir ziehen es vor, der Gefahr ins Auge zu blicken und zu unternehmen, was notwendig ist, um sie abzuwenden. Diese Gefahr zu ignorieren hieße, sie zu vergrößern.

Unserer tiefsten Überzeugung nach ist die deutsche Aggression eine – in die Tat umgesetzte – Bedrohung nicht nur unserer Emanzipationshoffnungen, sondern der menschlichen Entwicklung schlechthin. Deshalb haben wir Anarchisten, wir Antimilitaristen, wir Kriegsgegner, wir leidenschaftlichen Befürworter des Friedens und des brüderlichen Miteinanders der Völker, uns auf die Seite des Wiederstandes gestellt, in dem Glauben, unser Schicksal nicht von dem der übrigen Bevölkerung trennen zu dürfen. Wir halten es für überflüssig zu betonen, dass wir es lieber gesehen hätten, dass diese Bevölkerung ihre Selbstverteidigung in die eigenen Hände nimmt. Da dies unmöglich war, blieb nur, sich in das Unabänderliche zu fügen. Und mit denen, die kämpfen, sind wir der Meinung, dass solange die deutsche Bevölkerung nicht zu vernünftigeren Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit zurückkehrt und endlich aufhört, sich als Werkzeug pangermanischer Herrschaftspläne missbrauchen zu lassen, von Frieden keine Rede sein kann. Trotz des Krieges, trotz des Gemetzels haben wir natürlich nicht vergessen, dass wir Internationalisten sind, dass wir die Einheit der Völker wollen, das Verschwinden der Grenzen. Und gerade, weil wir die Versöhnung der Völker, einschließlich des deutschen Volkes, wollen, sind wir der Auffassung, dass man einem Aggressor widerstehen muss, der die Auslöschung all unserer emanzipatorischen Hoffnungen verkörpert.

Von Frieden zu sprechen, so lange die Partei, die Europa seit fünfundvierzig Jahren8 in ein befestigtes Heerlager verwandelt, in der Lage ist, ihre Bedingungen zu diktieren, wäre der schlimmste Fehler, den man begehen könnte. Widerstand zu leisten und ihre Pläne zum Scheitern zu bringen, heißt, dem vernünftig gebliebenen Teil der deutschen Bevölkerung den Weg zu bereiten und ihm die Möglichkeit zu verschaffen, sich dieser Partei zu entledigen. Mögen unsere deutschen Genossen einsehen, dass dies die einzige, für beiden Seiten vorteilhafte Lösung ist, dann sind wir bereit, mit ihnen zusammenzuarbeiten – 28. Februar 1916.

Christian Cornelissen9, Henri Fuss10, Jean Grave11, Jacques Guérin12, Peter Kropotkin, A. Laisant13, F. Le Lève (Lorient)14, Charles Malato15, Jules Moineau (Lüttich)16, Ant. Orfila (Husseindey, Algerien), M. Pierrot17, Paul Reclus18, Richard (Algerien)19, Ichikawa (Japan)20, W. Tscherkesoff21


Reformisten oder Insurrektionalisten? Errico Malatesta (1922)22

Offensichtlich glauben Herr Zirardini und seine applaudierenden Gefährten, dass man die populäre Stimmung bewegen und manövrieren kann wie ein elektrisches Gerät, das mit einem Schalter gesteuert wird: Stopp, vorwärts, rückwärts usw.

Eines Tages wollen sie, dass die Arbeiter ruhig sind und nur daran denken, sie in die Parlamente und Gemeinderäte zu schicken, und sie predigen gegen die Gewalt, gegen die insurrektionalistische Illusion und für eine langsame, schrittweise, sichere Entwicklung, für die legale Eroberung der öffentlichen Macht.

Dann kommen die Schläge, die Brände, die faschistischen Morde, um auch den Blinden zu zeigen, dass die Legalität nichts bringt, denn auch wenn sie in manchen Fällen für die Unterdrückten günstig ist, scheuen die Unterdrücker nicht davor zurück, sie zu verletzen und durch die grausamste Gewalt zu ersetzen; aber unsere guten Sozialisten geben sich Mühe, dass die Arbeiter die Provokationen nicht auf sich nehmen und sich des „Heldentums der Geduld“ rühmen.

Schließlich werden die Schläge zu stark und treffen auch die Schultern der Anführer, die gesamte Organisation, insbesondere die genossenschaftliche Organisation der Sozialisten, steht vor der Zerstörung, die Situation wird selbst für die Anführer unerträglich, und so rufen sie zur Insurrektion auf!

Begreifen diese Herren, begreift Zirardini nicht, dass es lächerlich ist, zu hoffen, dass sie diejenigen, die sie fünfzig Jahre lang zu Schafen gemacht haben, plötzlich in Löwen verwandeln können? Und denken sie nicht, mit welchem spöttischen Lächeln und Misstrauen sie einen Aufruf zur Insurrektion begrüßen werden, der von jenen Arbeitern ausgeht, die sie nicht entmachtet haben?

Und außerdem, wer könnte sie ernst nehmen, wenn es derselbe Zirardini ist, der mit einer möglichen Insurrektion droht, der die Zusammenarbeit der Sozialisten mit den antifaschistischen bourgeoisen Parteien vorschlägt, d.h. der eine weitere Illusion, eine weitere Täuschung vorbringt, die darauf abzielt, die Arbeiter in der Hoffnung ruhig zu halten, dass die Rettung von der Regierung kommen wird, ohne dass sie sich selbst anstrengen müssen?

Wir zweifeln nicht an der Gutgläubigkeit von irgendjemandem, aber es scheint uns eine einzigartige Verirrung, ein unglaubliches Missverständnis der Psychologie von Individuen und Massen zu sein, zu denken, dass man gleichzeitig an legale Mittel glauben und auf sie hoffen kann und gleichzeitig bereit ist, zu illegalen Mitteln zu greifen; sich für Wahlen zu begeistern und sich für eine Insurrektion vorzubereiten. Das mag in den Reden von Enrico Ferri über die „zwei Beine“, auf denen der Sozialismus geht, möglich erscheinen, aber es wird durch alle historischen Erfahrungen widerlegt, ebenso wie durch das Gewissen eines jeden, der ein wenig innehält, um sich selbst (A.d.Ü., kennen) zu lernen.

Wir erinnern uns zum Beispiel daran, einmal einem Vortrag des unaussprechlichen Misiano zugehört zu haben, in dem der damalige Abgeordnete, nachdem er von der unmittelbar bevorstehenden Revolution gesprochen und die Notwendigkeit einer technischen Vorbereitung betont hatte, auf die in sechs Monaten stattfindenden Kommunalwahlen zu sprechen kam und empfahl, die Listen schon jetzt aufzustellen und die Vorbereitung des Wahlkampfes mit Aktivität zu betreiben.

Könnt ihr euch vorstellen, dass jemand jeden Moment mit der Revolution rechnet und hart daran arbeitet, um darauf vorbereitet zu sein, und gleichzeitig für die Kommunalwahlen arbeitet, die sechs Monate später stattfinden sollen? Oder umgekehrt: Jemand, der hofft, ohne Risiko und ohne großen Aufwand mit einer einfachen Abstimmung wirksam zum gesellschaftlichen Wandel beitragen zu können, und dann sein Brot, seine Freiheit, sein Leben in einer insurrektionellen Aktion riskieren will?

Eine Wahl muss getroffen werden; und natürlich wählt die Mehrheit den Weg, der einfacher erscheint und der in allen Fällen keine Gefahr darstellt; aber dann stellen sie fest, dass sie auf Sand gebaut haben, und wenn die Reaktion kommt, haben sie keine moralischen und materiellen Kapazitäten, um zu widerstehen … und sie lassen sich schlagen und hungern.

Und wir haben ja gesehen, was passiert ist. Die Revolution wurde nicht gemacht, weil sie sie nicht machen wollten; stattdessen gab es Wahlen […].

Die Insurrektion wird kommen, sie muss kommen; aber sie wird sicher nicht von den Parlamentariern ausgehen… sie wird sich gegen sie richten.

Die Arbeiter müssen sich darauf vorbereiten, und dazu müssen sie sich von einer trügerischen Hoffnung auf die heutige oder künftige Regierung, auf die Abgeordneten und diejenigen, die es werden wollen, verabschieden.

Umanità Nova, n. 140, 18. Juni 1922


1Die vorliegende Stellungnahme hat zum Hintergrund den kriegsbefürwortenden Kurs mancher Anarchisten (vor allem) aus Malatestas Londoner Umfeld. Besonders nahe ging Malatesta dabei der Zusammenstoß mit seinem alten Freund Peter Kropotkin, über den er gegen Ende seines Lebens rückblickend schreibt: »[I]n der Tat gab es zwischen uns niemals eine ernsthafte Unstimmigkeit bis zu dem Tag, an dem sich im Jahre 1914 eine Frage praktischen Verhaltens stellte, die sowohl für mich als auch für ihn von grundlegender Bedeutung war: die Frage der Haltung nämlich, die die Anarchisten gegenüber dem Krieg einnehmen sollten. Bei dieser unseligen Gelegenheit erwachten und erstarkten bei Kropotkin seine alten Vorlieben für alles Russische oder Französische, und er erklärte sich zum leidenschaftlichen Anhänger der Entente. Er schien zu vergessen, daß er Internationalist, Sozialist und Anarchist war; er vergaß, was er selbst kurz zuvor über den Krieg gesagt hatte, den die Kapitalisten vorbereiteten. Er begann, die schlimmsten Staatsmänner und die Generäle der Entente zu bewundern, behandelte die Anarchisten, die sich weigerten, der Heiligen Allianz beizutreten, als Feiglinge und beklagte es, daß Alter und Gesundheit ihm untersagten, ein Gewehr zu nehmen und gegen Deutschland zu marschieren. Eine Verständigung war daher nicht möglich: für mich war es ein wirklich krankhafter Fall. Jedenfalls war es einer der schmerzhaftesten, tragischsten Momente meines Lebens (und ich wage zu sagen, auch des seinen), als wir nach einer außerordentlich mühseligen Diskussion wie Gegner, ja fast wie Feinde auseinandergingen.« (Peter Kropotkin. Erinnerungen und Kritik eines alten Freundes (1931), in: Errico Malatesta: Gesammelte Schriften. Band 2. Berlin: Karin Kramer Verlag, 1980: 56–66. Hier: S.58f.)

2Diese Anmerkung hat auch einen biographischen Hintergrund. So sind Malatesta und einige seiner Genossen im Jahr 1884 nach Neapel geeilt, wo die Cholera ausgebrochen war, um der Bevölkerung zu helfen.

3Dies lässt sich wohl als eine hellsichtige Vorwegnahme des Versailler Vertrags und der Entwicklung der Nachkriegszeit – hin zum Zweiten Weltkrieg – interpretieren.

4Veröffentlicht unter dem Titel »Pro-Government Anarchists« in der Zeitschrift Freedom (London), Nummer 324 (April 1916). Der Übersetzung liegt die Wiedergabe des Artikels in der von Sébastien Faure herausgebenen Encyclopédie anarchiste unter dem Stichwort »Seize (le manifeste des)« zugrunde. Das komplette Stichwort wurde aus dem Französischen übersetzt von Michael Halfbrodt und findet sich in: Andreas Hohmann (Hg.): Ehern, tapfer, vergessen. Die unbekannte Internationale. Lieh: Edition AV, 2014: 13–53. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Michael Halfbrodt und Andreas Hohmann. Im Februar 1916 wurde eine Erklärung, das berühmt berüchtigte »Manifest der Sechzehn« veröffentlicht, in dem sich führende Anarchisten für eine Weiterführung des Krieges gegen das Deutsche Reich aussprachen, sei doch »die deutsche Aggression eine – in die Tat umgesetzte – Bedrohung nicht nur unserer Emanzipationshoffnungen, sondern der menschlichen Entwicklung schlechthin«. Die Verfasser, unter anderem Jean Grave, Peter Kropotkin und Charles Malato, wandten sich damit auch gegen eine anarchistische Erklärung aus dem Jahre 1915 – »Die anarchistische Internationale und der Krieg« -, in der sich gleichermaßen gegen sämtliche am Krieg beteiligten Mächte ausgesprochen worden war. Malatesta war einer der Unterzeichner letzterer Erklärung. Siehe zu alledem (auch die jeweiligen Texte) in: Ham Day: Das Manifest der Sechzehn (1933), in: Andreas Hohmann (Hg.): Ehern, tapfer, vergessen. Die unbekannte Internationale. Lieh: Edition AV, 2014: 13–53.

5Nachdem mit Karl Liebknecht und Otto Rühle Ende 1914/Anfang 1915 die ersten SPD-Reichstagsabgeordneten die Bewilligung von Kriegskrediten abgelehnt hatten, bildete sich sowohl innerhalb der Partei als auch in der SPD-Parlamentsfraktion eine wachsende Opposition gegen den Krieg.

6Nach dem Tagungsort, dem schweizerischen Dorf Zimmerwald (nahe Bern) benannte sozialistische Konferenz vom 5.-8. September 1915, bei der Kriegsgegner aus verschiedenen sozialdemokratischen Parteien über die Aufkündigung der Burgfriedenspolitik und die Rückkehr zum Klassenkampf als Mittel zur Beendigung zur Krieges berieten.

7Das ist unrichtig. Tatsächlich war eine deutsche Delegation auf der Konferenz vertreten und zahlenmäßig neben den Exilrussen sogar die stärkste Fraktion.

8Gemeint ist: seit dem deutsch-französischen Krieg von 1870–1871.

9Christiaan Comelissen (1864–1942), holländischer Anarchosyndikalist, Herausgeber des mehrsprachigen „Bulletin International du Mouvement Syndicaliste“ (1907–1914), das eine wichtige Koordinationsfunktion für die internationale syndikalistische Bewegung hatte.

10Henri Fuss (1885–1964), Setzer und Journalist, vor dem Ersten Weltkrieg eine der aktivsten Figuren in der anarchistischen und syndikalistischen Bewegung Belgiens und Frankreichs.

11Jean Grave (1854–1939), Herausgeber der Zeitschriften „La Revolte“ (1885–1894) und „Les Temps nouveaux“ (1895–1914). Als Publizist und Propagandist kropotkinscher Ideen einer der einflussreichsten französischen Anarchisten vor dem Ersten Weltkrieg.

12Jacques Guérin (ca. 1884–1920), französischer Anarchist und einer der Herausgeber von „Les Temps Nouveaux“.

13Charles-Ange Laisant (1841–1920), französischer Offizier, Mathematiker und republikanischer Politiker, der sich in den 1890er Jahren zum Anarchisten wandelte.

14François Le Levé (1882–1945), bretonischer Anarchosyndikalist. Aktiv in der Hafenarbeitergewerkschaft und der „Arbeitsbörse“ seiner Heimatstadt Lorient.

15Charles Malato (1857–1938), anarchistischer Schriftsteller und Journalist.

16Jules Moineau (1857–1934), belgischer Anarchist.

17Marc Pierrot (1871–1950), französischer Arzt und Anarchist, dem Syndikalismus nahestehend.

18Paul Reclus (1858–1941), französischer Anarchist, Sohn von Élie und Neffe von Élisée Reclus.

19Vermutlich Pierre Richard (7-1933/1934), französischer Metallarbeiter, der sich Anfang des 20. Jahrhunderts in Algerien niederließ und u.a. als Algerienkorrespondent von „Les Temps Nouveaux“ fungierte.

20Sanshiro Ishikawa (1876–1956), japanischer Anarchist, hielt sich während des Ersten Weltkriegs in Frankreich auf.

21Waarlam Tscherkesoff (oder Tscherkessischwili, 1846–1925), aus georgischer Adelsfamlie stammender Anarchist und enger Weggefährte Kropotkins.

22Gefunden auf Machorka, die Übersetzung ist von uns.

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