Texte – Soligruppe für Gefangene https://panopticon.blackblogs.org Für die Anarchie! Knäste, Staat, Patriarchat und Kapital abschaffen! Thu, 03 Apr 2025 11:31:03 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.1 https://panopticon.blackblogs.org/wp-content/uploads/sites/1233/2020/02/cropped-discharge-degenerik-blog-1-32x32.jpg Texte – Soligruppe für Gefangene https://panopticon.blackblogs.org 32 32 Kommentar zu einem Graffiti eines „unbekannten“ Künstlers https://panopticon.blackblogs.org/2025/03/23/kommentar-zu-einem-graffiti-eines-unbekannten-kuenstlers/ Sun, 23 Mar 2025 16:32:04 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=6238 Continue reading ]]>

Gefunden auf den Blog von Lukas Borl, die Übersetzung ist von uns.


Kommentar zu einem Graffiti eines „unbekannten“ Künstlers

Ich dachte immer, dass alles seine Grenzen hat. Aber als ich das Graffiti auf dem beigefügten Foto sah, dachte ich, dass die politische Verwirrung des Künstlers absolut grenzenlos ist. Ein anarchistisches Symbol in den Namen eines Staates einzubauen, erfordert viel Verrücktheit. Vielleicht weiß der Autor nicht, dass Anarchie die Negation aller Staaten ist, d. h. Russland, Tschechische Republik, Ukraine, Frankreich und aller anderen Staaten. Vielleicht ist es für ihn nicht wichtig, dass Anarchistinnen und Anarchisten schon immer von allen Staaten verfolgt, kriminalisiert, inhaftiert und unterdrückt wurden – von totalitären und demokratischen. Vielleicht denkt der Autor, dass, wenn wir ein anarchistisches Symbol in den Namen eines Staates einfügen, der Staat aufhört, ein Staat zu sein, und sich in Anarchie verwandelt. Wenn es nur so einfach wäre.

Wer weiß, vielleicht sehen wir das nächste Mal dasselbe anarchistische Symbol in den Worten „StAat“ oder „ČeskÁ RepublikA“. Diese Wörter enthalten auch den Buchstaben „A“, sodass die verwirrten Graffiti-Künstler gutes Material für ihre Arbeit haben.

Für diejenigen, die sich nicht für politische Verwirrung interessieren, sind andere Bereiche vielleicht interessanter. Zum Beispiel Fakten über die Natur des Staates, der den Namen Ukraine trägt.

  • Die Ukraine ist ein Staat, der seine Grenzen für einen Großteil seiner männlichen Bevölkerung geschlossen hat und diese Menschen somit in einem Kriegsgebiet gefangen hält.
  • Die Ukraine ist ein Staat, dessen Armee Männer im wehrfähigen Alter verfolgt und sie gewaltsam an die Front zwingt, wo sie der Gefahr schwerer Verletzungen oder des Todes ausgesetzt sind.
  • Die Ukraine ist ein Staat, dessen Grenzschutz Deserteure verfolgt, foltert und ermordet.
  • Die Ukraine ist ein Staat, dessen Gerichte Deserteure strafrechtlich verfolgen und dessen Gefängnisse sie einsperren. Derzeit sprechen offizielle Statistiken von mehr als 200.000 Deserteuren, aber es gibt wahrscheinlich noch weitere, die nicht offiziell registriert sind.
  • Die Ukraine ist ein Staat, dessen Gerichte derzeit politische Prozesse gegen Antimilitaristinnen und Antimilitaristen wegen „Diskreditierung der Streitkräfte des ukrainischen Staates“ führen.
  • Die Ukraine ist ein Staat, der bestimmte politische Einheiten wegen „Unterstützung und Förderung der kommunistischen Ideologie“ kriminalisiert, was logischerweise auch anarchistische Gruppen betreffen könnte, die sich auf Klassenkampf und anarchistischen Kommunismus beziehen.
  • Die Ukraine ist ein Staat, der eine diskriminierende Politik gegenüber der russischsprachigen Bevölkerung betreibt.
  • Die Ukraine ist ein Staat, der rechtsextreme Gruppierungen wie Asow, die Bruderschaft, den Rechten Sektor, die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) usw. integriert hat.
  • Die Ukraine ist ein Staat, der der Bourgeoisie, die die Arbeiterklasse stark ausbeutet, Schutz bietet. Arbeiterinnen und Arbeiter in der Ukraine erhalten normalerweise 20.000 Griwna (= 460 Euro) für einen Monat Arbeit, während die Preise für Grundnahrungsmittel denen in der Tschechischen Republik ähneln.
  • Der ukrainische Staat unterdrückt den Kampf der Arbeiterinnen und Arbeiter für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen.
  • Die Ukraine ist ein Staat, der weniger brutal ist als Nachbarstaaten wie Russland oder Belarus, aber dennoch in seinem Kern die Privilegien der Kapitalistenklasse auf Kosten der Arbeiterklasse verteidigt.
  • Die Ukraine ist ein Staat, der insbesondere den Teil der Arbeiterklasse unterdrückt, der in Bezug auf die Staatsbürokratie in die Kategorie „ukrainische Staatsbürger“ fällt.
  • Die Ukraine ist ein Staat, der alle Widersprüche der Klassengesellschaft und damit das ganze Elend des proletarischen Lebens bewahrt.

Die Ukraine ist ein Staat, also ein Feind der Anarchie!

]]> Ich lasse mich nicht einschüchtern https://panopticon.blackblogs.org/2025/03/23/ich-lasse-mich-nicht-einschuechtern/ Sun, 23 Mar 2025 16:29:20 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=6236 Continue reading ]]>

Gefunden auf dem Blog von Lukas Borl, die Übersetzung ist von uns.


Ich lasse mich nicht einschüchtern

In der Vergangenheit habe ich eine ausführliche Analyse darüber veröffentlicht, wie bestimmte Individuen und Gruppen versuchen, mich zu isolieren, mein Privatleben anzugreifen, meine Sicherheit zu bedrohen und die antimilitaristischen Aktivitäten, an denen ich mich beteilige, zu sabotieren. Eines der Beispiele war eine Beschreibung, wie ein Mitglied des Trhlina-Infoladens und der Anarchistická federace (Anarchistische Föderation) einem Freund von mir mitteilte, dass ich Gefahr lief, eine heftige Reaktion militanter Antifaschisten zu provozieren. Mit anderen Worten: Die Person aus Trhlina und die Anarchistická federace haben mir gedroht. Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht klar, ob die Drohung wahr werden würde. Jetzt ist es klar. Am Samstag, dem 8. Februar 2025, wurde ich im Prager Club 007 von einem dieser militanten Antifaschisten tätlich angegriffen.

Was ist passiert?

Der Angreifer wartete, bis die meisten meiner Freunde den Club verlassen hatten, und folgte mir auf die Toilette, wo er mir mehrmals ins Gesicht schlug. Nein, ich bin nicht überrascht, dass er eine so hinterhältige Methode gewählt hat. Ich habe so viel Intrigen von seinen Kumpanen gesehen, dass ich von ihnen jetzt nichts anderes als Gemeinheit, Skrupellosigkeit und Heuchelei erwarte.

Bevor „Mr. Hero“ mich körperlich angriff, versuchte er mir auch in wenigen Worten zu „erklären“, dass ich die Verteidigung der Ukraine nicht ablehnen sollte. Er gab mir keine Gelegenheit, meine Argumente vorzubringen, warum ich die Verteidigung der Ukraine oder die Verteidigung Russlands, die Verteidigung der Tschechischen Republik oder die Verteidigung eines anderen Staates nicht unterstütze. Ich bin Anarchist, daher kämpfe ich gegen alle Staaten. Gegen faschistische Staaten ebenso wie gegen demokratische, stalinistische, monarchistische …

Anstatt die Ukraine zu verteidigen – also einen bestimmten Staat und sein Regime – ziehe ich es vor, die auf ukrainischem Gebiet lebende Arbeiterklasse zu unterstützen und zu verteidigen, denn einerseits wird sie jetzt durch Putins Invasion massakriert, andererseits wird sie von der ukrainischen Regierung verfolgt und unterdrückt und von ukrainischen Kapitalisten stark ausgebeutet.

Ich denke, es wäre ohnehin sinnlos, so etwas der Person zu erklären, die mich angegriffen hat. Ich bezweifle, dass er den Kern der Sache verstehen würde. Es war nicht das erste Mal, dass er mir gezeigt hat, dass er eine starke Vorliebe für hartes Macho-Gehabe hat, aber keine ernsthafte politische Analyse.

Ich kann nicht schweigen

Ich halte es für wichtig, diesen Vorfall öffentlich zu thematisieren. Er ist ein konkretes Beispiel für die Heuchelei derer, die im Internet Erklärungen veröffentlichen, in denen sie sich als unschuldige Opfer stilisieren, die verletzt werden, während sie in Wirklichkeit zu Aggressionen gegen Gegner aus dem anarchistischen Milieu anstiften und diese unterstützen.

Ich will die Tatsache nicht verhehlen, dass mich dieser Vorfall erschüttert hat. Ich war sehr frustriert, wütend und fühlte mich hilflos. Aber ich habe diese starken Emotionen schnell verarbeitet. Unter anderem dank der Menschen, die sich für mich eingesetzt haben, mir die nötige emotionale Unterstützung gaben und mir versicherten, dass ich damit nicht allein war.

Auch wenn ich weiß, dass es legitime Gründe gibt, Gewalt gegen manche Menschen anzuwenden, verspüre ich im Moment keine Lust auf Vergeltung. Es ist nur so, dass ich mich in einer ähnlichen Situation vermutlich genauso verhalten würde wie ein Tier, das in die Enge getrieben wurde und fest zubeißt, um sich aus der Gefahr zu befreien. Ich bin kein Pazifist , und ich weiß, dass es Zeiten gibt, in denen bloße Hände nicht ausreichen, um sich zu verteidigen. Jeder, der in Zukunft versucht, mich und/oder meine Freunde anzugreifen, sollte sich dessen bewusst sein.

Mein blaues Auge und die Schmerzen in meinem Gesicht werden mit der Zeit sicherlich nachlassen, aber meine Bereitschaft, Antikriegsaktivitäten zu unterstützen, wird bleiben. Da bin ich mir sicher. Wer mich angegriffen hat, mag es nicht bemerken, weshalb es für ihn und seine Macho-Crew wichtig ist, dies zu lesen: Ich lasse mich nicht einschüchtern! Was in dieser Nacht passiert ist, bestärkt mich nur darin, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen.

Wer diesen Weg ebenfalls einschlagen möchte, dem empfehle ich, die Spendenaktion für Deserteure und Kriegsflüchtlinge der Anti-Militaristischen Initiative (AMI) zu unterstützen.

Außerdem empfehle ich die Publikation Voices from Ukraine“. In diesen Publikationen veranschaulicht das anarchistische Kollektiv Assembly aus Charkiw die Positionen von Revolutionären, die an einem Ort leben, an dem Krieg herrscht.

]]> Hintergrund des Vorfalls auf der Anarchistischen Buchmesse in Graz https://panopticon.blackblogs.org/2025/03/23/hintergrund-des-vorfalls-auf-der-anarchistischen-buchmesse-in-graz/ Sun, 23 Mar 2025 16:27:00 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=6234 Continue reading ]]>

Gefunden auf dem blog von Lukas Borl, die Übersetzung ist von uns.


Hintergrund des Vorfalls auf der Anarchistischen Buchmesse in Graz

Vom 19. bis 21. September fand in der österreichischen Stadt Graz die Anarchistische Buchmesse statt, an der ich auf Einladung des Organisationskollektivs aktiv teilnahm. Während der Buchmesse kam es zu einem Zwischenfall zwischen mir und einer anderen Person. An diesem Tag begann alles mit einem verbalen Konflikt, der anschließend in einen physischen Konflikt eskalierte. Um den Beginn dieses Konflikts zu finden, ist es jedoch notwendig, in die Vergangenheit und ihre Kontexte zu blicken, die für die Menschen auf dieser Veranstaltung (oder außerhalb) möglicherweise nicht offensichtlich waren. Deshalb habe ich mich entschlossen, diesen Text zu schreiben und den Kontext, die Geschichte und die Tragweite dieses Konflikts zu klären. Ich möchte auch die Vorstellung in Frage stellen, dass es sich um eine Art „Frosch-und-Maus-Krieg“ handelt, bei dem sich jemand unnötigerweise wegen unbedeutender Streitigkeiten gegenübersteht. Es handelt sich sicherlich nicht um einen rein persönlichen Streit zwischen zwei Personen oder um das Ergebnis toxischer Männlichkeit. Wie ich in diesem Text zeige, entscheidet sich in diesem Konflikt die Zukunft der anarchistischen Bewegung und ob sie überleben und sich praktisch weiterentwickeln kann oder sich in eine weitere Kraft verwandelt, die in die kapitalistische Gesellschaft integriert ist und zur Erhaltung des Kapitalismus beiträgt.

Um den gesamten Kontext zu erklären, kann ich mich nicht auf ein paar Sätze beschränken. Mir ist klar, dass dies eine gewisse Grenze für meine Bemühungen darstellt. Ich bitte die Leser um Geduld und Respekt dafür, dass dieser Text so umfangreich ist.

Ich glaube, dass jeder, der wirklich daran interessiert ist, dieses Thema zu verstehen, den ganzen Text lesen wird, auch wenn dies viel Zeit und Energie erfordert.

Ich habe den Eindruck, dass die moderne Lesemethode von der Idee geleitet wird, dass man sich nicht zu sehr anstrengen muss – es sollte einfach sein, so kurz wie möglich und sofort Freude bereiten. Natürlich sind das alles Illusionen. Nichts wirklich Wertvolles kann ohne Anstrengung und sogar ohne Opfer und Disziplin erreicht werden.“

Erich Fromm

***

Was sagt und unterstützt diese Person?

Zunächst möchte ich einen Teil einer Geschichte erzählen, in der ich meine erste Begegnung mit der Person beschreibe, der ich in Graz gegenüberstand.

Auf dem Fluff Fest in Rokycany (Hardcore-Musikfestival in Westböhmen) am 30. Juli 2022 organisierte die Anarchistische Föderation eine Präsentation mit dem Titel „Anarchisten und der Krieg in der Ukraine“1. Diese Person war aktiv an der Organisation dieser Präsentation beteiligt. Ich würde diesen Vortrag kurz als eine Mischung aus Kriegspropaganda und Unterstützung für Militarismus, verpackt in linke Terminologie, beschreiben. Ihr Ziel war es, ideologisch zu rechtfertigen, warum Anarchisten am Krieg teilnehmen sollten. Ein wesentlicher Teil bestand aus demagogischen Äußerungen und unsinnigen Anschuldigungen gegen ihre ideologischen Gegner. Die Gegner hatten nicht einmal die Möglichkeit zu reagieren.

Im Gegenteil, was fehlte in dieser Präsentation? Zum Beispiel die Kritik am ukrainischen Nationalismus und die konsequente Kritik an imperialistischen Mächten, die nicht nur Russland sind. Kritik an der mythischen Gegenüberstellung von Diktatur und Demokratie. Kritik am Antifaschismus, der im Namen des Kampfes gegen Faschismus/Totalitarismus für demokratische Formen des Kapitalismus kämpft …

Kurz gesagt, es fehlte die Fähigkeit, den gesamten Kontext der Kriegssituation zu analysieren.

Und was habe ich bei dieser Präsentation erlebt? Die Redner warfen ihren Gegnern (d. h. Antimilitaristen und Kriegsgegnern) „koloniales Denken“ vor, weil Kritik am ukrainischen Nationalismus und Kritik an den Beziehungen zwischen der NATO und der Ukraine nichts anderes als Ausdruck des Gefühls kultureller/ideologischer Überlegenheit sei. Konterrevolutionäre und reaktionäre Kräfte zu kritisieren, ist anscheinend nicht zulässig, weil wir nicht in der Region leben, in der sie stattfinden.

Wir müssen schweigen. Oder besser noch, unsere Energie in ihre Unterstützung stecken. Wenn man außerhalb der Ukraine lebt, hat man kein Recht auf eine eigene Meinung zum Krieg in der Ukraine. Man muss alles akzeptieren, was die ukrainische Bevölkerung sagt. Wenn man eine andere Meinung vertritt, ist das nur ein „Überbleibsel der kolonialen Vergangenheit und postkolonialen Gegenwart des Westens“. Selbst wenn man nicht im „Westen“, sondern in Mittel-/Osteuropa oder auf dem Balkan lebt. Aber was ist, wenn die eigene Meinung mit den antimilitaristischen Positionen der Menschen in der Ukraine übereinstimmt (wie z. B. die anarchistische Gruppe Assembly plus Tausende anderer Proletarier)? Das spielt keine Rolle. Für diese Menschen ist es nur die Stimme einer kleinen Gruppe verblendeter Dogmatiker.

Wer würde sich schon die Mühe machen, fast 45 Millionen Ukrainer zu fragen, was sie denken?“, fragten sie sarkastisch, wenn sie internationalistische Revolutionäre kritisierten. Vielleicht, um den Mythos zu stärken, dass ihre kriegsfreundliche Haltung im Grunde das Ergebnis des Zuhörens auf die Stimme der gesamten ukrainischen Bevölkerung ist. Aber irgendwie haben sie „vergessen“ zu erwähnen, dass sie hauptsächlich auf die Stimmen der ukrainischen Nationalisten, der Bourgeoisie, der Politiker und der Bürokraten des ukrainischen Staates und einiger weniger Personen in der sogenannten „Anti-autoritären Einheit“ hören. In Wirklichkeit verbirgt diese Einheit hinter der Maske des Antiautoritarismus ihre Zusammenarbeit mit Nationalisten und Kriegsverbrechern, wie in einem Artikel mit dem Titel „Kollaboration von kriegsfreundlichen Anarchistinnen und Anarchisten mit der extremen Rechten. Die Masken wurden abgenommen oder das Scheitern des Mythos vom ‚antiautoritären Widerstand‘2

Es ist auch offensichtlich, dass sie die Stimmen Tausender Proletarier ignorieren, die sich der Zwangsrekrutierung widersetzen oder desertieren. Und einige von ihnen fordern uns auf, einen internationalistischen Kampf für die Öffnung der ukrainischen Grenzen zu organisieren, die das Selenskyj-Regime am ersten Tag von Putins Invasion für alle Männer geschlossen hat. Warum sollten sie darüber sprechen, wenn sie den Mythos aufrechterhalten wollen, dass die meisten Ukrainer freiwillig dem Ruf folgen, ihrem Land zu dienen, und sich in die Warteschlangen vor den Rekrutierungsbüros einreihen?

Eine genauere Beschreibung der ukrainischen Projekt Assembly:

Es hat sich herausgestellt, dass es im Land bereits eine kritische Masse an Menschen gibt, die die militaristischen Ausschreitungen satt haben: Für zu viele Menschen ergibt es keinen grundlegenden Unterschied mehr, unter welcher Flagge sie ausgeraubt werden. Diese dumpfe, hoffnungslose Verzweiflung lähmt einerseits den Willen, sich sozial zu engagieren, andererseits kann sie die Menschen dazu bringen, darüber nachzudenken, wie sie es anstellen können, damit sie überhaupt nicht ausgeraubt werden. Aus diesem Grund sagen wir, dass eine revolutionäre Situation bevorsteht.“

Obwohl es gewisse Einschränkungen bezüglich Reisen aus der Ukraine heraus und einige Rekrutierungsversuche gibt, schließt sich die Mehrheit der Männer freiwillig der Armee an“, predigen die Redner. Ich denke, wenn sie dies in den Augen von Männern sagen würden, die auf den Straßen der Ukraine gejagt und gegen ihren Willen an die Front geschickt werden, würden nicht viele zögern und diesen Rednern zumindest ein paar Ohrfeigen verpassen, um sie aus dem Traum zu wecken, in dem sie leben. Ich kann mich erneut auf den Artikel der Gruppen Assembly von Charkiw beziehen, der von Tausenden Männern berichtet, die sich der Zwangsrekrutierung widersetzen, von ihren Müttern, Partnerinnen und Schwestern, die Proteste gegen die Rekrutierung organisieren usw.3

Warum sollte Selenskyj die Grenze schließen und das Rekrutierungsgesetz verschärfen, wenn die meisten Männer freiwillig zur Armee gehen? Das ist eine logische Frage, aber die Redner erlauben es keinem Zuhörer, sie zu stellen.

Sie halten sich an die vorgegebene Linie: Wir sprechen, ihr hört zu und vor allem seid ihr ruhig. Und verlasst euch nicht darauf, dass wir nach dem Vortrag Raum für Feedback lassen.

„Die Ukraine ist ein souveräner Staat, der von seinem viel mächtigeren Nachbarstaat angegriffen wurde“, behaupteten die Redner wütend, als ob die größte Sorge von Anarchistinnen und Anarchisten die Souveränität dieses oder jenes Staates sein sollte. „Außerdem ist ein Land der Aggressor – und zwar ein sehr rücksichtsloser – und das andere ist ein Opfer, das sich verteidigt“, fuhren die Redner fort und verteidigten einen Staat gegen den anderen.

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch keinen Kontakt zu Ilja, der aus der Ukraine geflohen war, um der Zwangsrekrutierung zu entgehen. Jetzt denke ich über das nach, was er gesagt hat: „Als ich vor einer passiven Menschenmenge von einem Soldaten in ukrainischer Uniform zusammengeschlagen wurde, weil ich mich geweigert hatte, Einberufungspapiere entgegenzunehmen, wurde mir sehr deutlich, dass die ukrainische Armee nicht hier ist, um mir zu helfen, sondern dass sie eine unmittelbare Gefahr für mich darstellt. Erst gestern wolltet ihr, dass ich Unternehmer, Fabrikarbeiter oder Angestellter werde, der euch Steuern bringt, und jetzt wollt ihr, dass ich ein Schütze und Wächter eures Territoriums bin.“4

Ich habe auch die Worte des Kollektivs Assembly aus Charkiw im Kopf; die sagten:

Stellen dir vor, dein Nachbar (Russland) zündet dein Haus an, du oder jemand aus deiner Familie ist drinnen, und draußen steht jemand, der von deinen Steuern lebt, mit vorgehaltener Waffe, verbietet dir, rauszukommen, und verlangt, mit dem Haus zusammen niederzubrennen. Kannst du dir das vorstellen? So ist das Verhältnis zwischen den Menschen und dem Staat in der Ukraine …“5

Jeden Tag hörte ich Geschichten darüber, wie ein anderer russischsprachiger Mann in Lwiw gewaltsam an die Front gezwungen wurde. Aber kaum jemand glaubte daran, weil die offiziellen Medien von endlosen Schlangen von Freiwilligen sprachen“,sagt Ilja.

Selbst einige Medienunternehmen sind manchmal bereit, uns darüber zu informieren, wie aggressiv der ukrainische Staat sein kann.

Seit Beginn des Krieges haben sich bereits Tausende Ukrainer dazu entschlossen, zu fliehen. Zu Beginn des Krieges verbot die Regierung Männern, die Grenze zu überqueren, sodass ein solcher Versuch illegal ist. Dennoch fliehen die Ukrainer in alle Richtungen, oft über die Berge. Einige gingen nach Polen und Ungarn, andere in die Slowakei. Oder nach Rumänien.

Im letzteren Fall müssen sie den Fluss Theiß überqueren, der einen beträchtlichen Teil der rumänisch-ukrainischen Grenze bildet. Und der jetzt als Fluss des Todes bezeichnet wird. Steile Ufer und ein schlammiges, mit Felsbrocken übersätes Flussbett machen die Flucht zu einem Kampf ums Überleben. Mindestens 22 Menschen haben bereits mit ihrem Leben bezahlt, weil sie versucht haben, die Theiß zu überqueren. Über sechstausend Männer haben bereits Rumänien erreicht.“6

Ist der ukrainische Staat wirklich nur ein Opfer, das sich verteidigt? Ist er nicht auch ein bisschen (oder viel!) aggressive Macht, die die lokale Bevölkerung gefährdet, die jetzt Putins Invasion als Vorwand missbraucht?

Vielleicht nur, um den Behauptungen, Russland sei der einzige imperiale Aggressor in diesem Krieg, etwas Gewicht zu verleihen, betonten die Redner, dass „keine anderen NATO-Armeen in der Ukraine kämpfen“. Dass die ukrainische Armee vollständig von Waffen aus NATO-Lagern abhängig ist, ist vielleicht nur eine winzige Banalität, oder? Die Interessen der westlichen Mächte an der Fortsetzung des Krieges sind auch eine Banalität. Sind die Bedingungen für die militärische Hilfe der NATO in der Ukraine eine weitere Banalität, die nicht der Rede wert ist? Sie war keinem der Redner, die 2002 an den anarchistischen Protesten gegen die NATO in Prag teilnahmen, der Rede wert. Diese Person bezeichnet mich gerne als „dogmatisch“. Ich würde ihn in dieser Angelegenheit als Opportunisten und Heuchler bezeichnen. Warum? Er ist in der Lage, Artikel7 in einer anarchistischen Zeitschrift zu veröffentlichen, die sich für eine internationalistische Ablehnung des Krieges, revolutionären Defätismus, eine klare Klassenanalyse und die Ablehnung aller nationalistischen Tendenzen einsetzt … und dann, einige Jahre später, in einer Kriegssituation, für völlig entgegengesetzte Positionen zu diesen Artikeln argumentiert. An einem Tag protestiert er gegen die Politik der NATO, am nächsten „unterstützt er mit Kritik“ die Politik der NATO. Nun kann jeder selbst beurteilen, ob dies etwas anderes als Opportunismus und Heuchelei ist.

Menschen wie er verstecken sich immer hinter Phrasen wie „Pragmatismus als Alternative zum Dogmatismus“, „kritischer Unterstützung“ oder sogar „taktischer Allianz“ mit unseren Feinden. Sie erkennen nie an, dass Putins Russland nicht der einzige bedeutende Akteur ist, der ein Interesse am und eine Rolle im Krieg in der Ukraine hat.

Die Gefahr einer nuklearen Eskalation ist der Grund dafür, dass die NATO alles tut, um zu eskalieren und gleichzeitig ihre Spuren zu verwischen“, bemerkt Bill Beech treffend in dem Artikel ‚War on Anarchism‘8.

Nach den langen Monaten dieses langwierigen Krieges kann nur ein völliger Ignorant oder Demagoge mit bösen Absichten die Rolle des westlichen imperialistischen Blocks, angeführt von den USA und unterstützt von den NATO-Mitgliedstaaten, in diesem Konflikt leugnen. Und dennoch verbreiten diese Leute weiterhin Aussagen wie: „Wir haben von Anfang an argumentiert, dass der Beginn eines umfassenden Krieges in der Ukraine am 24. Februar 2022 eine imperialistische Aggression des russischen Staates ist. Das gilt immer noch.“ Mit anderen Worten reduzieren sie den Konflikt auf eine Schwarz-Weiß-Geschichte: „Das diktatorische russische Reich als alleiniger Aggressor gegen nicht-aggressive demokratische Länder ohne eine imperialistische Natur.“ Und was bedeutet das für ihre Praxis? Sie stellen dem ukrainischen Staat und dem westlichen imperialen Block finanzielle, materielle und propagandistische Ressourcen zur Verfügung, trotz ihrer vagen Aussagen und Beteuerungen, dass sie nur das ukrainische Volk unterstützen, nicht den Staat. Ihre reduktionistische Logik lässt sie nicht verstehen, dass Konzepte wie „Volk – Selbstbestimmung der Völker – Nation – nationale Befreiung – Staat – Kapitalismus“ nicht voneinander getrennt werden können. Sie sind ein integraler Bestandteil des kapitalistischen Komplexes.

Und Anarchistinnen und Anarchisten müssen alle seine Teile zerstören.9 Ohne den Zusammenhang zwischen diesen Konzepten zu verstehen, ist es für sie leicht zu argumentieren, dass sie eine staatliche Armee unterstützen können, ohne den Staat zu unterstützen, für die nationale Befreiung kämpfen können, ohne die Position der herrschenden Klasse einer bestimmten Region zu stärken, Ressourcen für die Selbstbestimmung der Völker bereitstellen können, ohne der lokalen Bourgeoisie zu helfen, die Bedingungen des proletarischen Elends zu diktieren. Sie sehen den Widerspruch nicht, weil sie den Zusammenhang nicht sehen können. Und wie ich im nächsten Teil dieses Textes zeigen werde, greifen sie diejenigen an, die die Probleme ihrer Widersprüche aufdecken und hervorheben.

Neben dem Reduktionismus spielt der Populismus für diese Menschen auch eine wichtige Rolle, wie wir zum Beispiel an der Meinung der Autonomous Action sehen können, die die Anarchistische Föderation bereitwillig teilt:

Unter den Ukrainern herrscht die Meinung vor, dass jetzt Widerstand erforderlich ist, und dieser Widerstand wird derzeit in erster Linie mit der AFU in Verbindung gebracht. Die Anwesenheit von Anarchisten in den Reihen der AFU ist daher nützlich, um den Respekt der Menschen zu gewinnen.“10

Die AFU ist die offizielle Armeestruktur des ukrainischen Staates, und aus dem obigen Zitat geht hervor, dass die Hauptsorge dieser „Anarchisten“ darin besteht, wie sie die Menge zufriedenstellen können. Deshalb werden sie immer alles unterstützen, von dem sie glauben, dass es in der Gesellschaft mehrheitsfähig ist oder eine dominante Stellung einnimmt. Heute ist es die Unterstützung der nationalen Armee. Was wird es morgen sein? Werden sie die Unterstützung der parlamentarischen Parteien fordern, weil die meisten Menschen die repräsentative Demokratie als wirksames Mittel zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen ansehen? Werden sie uns das nächste Mal bitten, uns der Polizei anzuschließen, weil die vorherrschende Meinung in der Gesellschaft ist, dass die Polizei uns beschützt?

Diese Art von Populismus ist toxisch. Menschen, die ihn praktizieren, können revolutionäre Positionen niemals akzeptieren: Sie werden immer sagen, dass revolutionärer Kampf im Moment nicht realistisch ist und uns die Gunst der Massen kosten könnte. Sie werden immer nur ein Schwanz sein, der hinter den Massen wedelt – egal wie konterrevolutionäre oder reaktionäre Ansichten von dieser Masse geäußert werden. Der Respekt der Menschen, d. h. die Gunst der Massen, ist ihr wichtigstes programmatisches Mittel. Aus der Logik dieser Position heraus werden sie revolutionäre Impulse immer als kontraproduktiv ablehnen, da ein konsequenter revolutionärer Kampf immer auf die Missbilligung ordentlicher Staatsbürger stoßen wird, die den Status quo verteidigen.

Denken wir darüber nach, was dieser Populismus, wie oben zitiert, in der Praxis bedeutet. Je länger der Krieg dauert, desto mehr Nachrichten über „Anarchisten“, die an der Front getötet wurden, werden veröffentlicht. Mit anderen Worten, die unbedeutende Handvoll Abenteurer, die für den Krieg bedeutungslos ist, wird immer kleiner. Was wird davon übrig bleiben, wenn der Krieg endet? Die meisten dieser Krieger werden nicht mehr am Leben sein, also wer wird von dem „Respekt des Volkes“ profitieren? Was nützt den toten Proletariern irgendein Respekt? Und wie können tote Proletarier diesen Respekt nutzen, um eine anarchistische Gesellschaft zu schaffen? Wahrscheinlich werden es vor allem Liberale aus der Mittelklasse sein, die sich die ganze Zeit in der sicheren Zone versteckt haben, die die „Märtyrer“ feiern werden, die für „unsere Sache“ gefallen sind.

Nennt mich also einen Dogmatiker, einen Arroganten, einen Sektierer oder was auch immer ihr wollt. Ich sehe jedoch wirklich keinen Grund, unser Leben zu opfern, damit einige Akademiker an Universitäten den historischen Mythos von der enormen Bedeutung heldenhafter, „antiautoritärer Kämpfer“ im nationalen Befreiungskampf am Leben erhalten können.

Schließlich bringen der oben erwähnte Reduktionismus und der Populismus ihren dummen Slogan gut zum Ausdruck: „Das Imperium wird fallen, die Solidarität wird siegen“. Ihrer Meinung nach gibt es nur ein Imperium – Russland – und wenn jemand es wagt, auf den schwerwiegenden Fehler in ihrer Analyse hinzuweisen, ist ihre Reaktion immer dieselbe. Normalerweise behaupten sie: „Ihr seid Putinisten, weil Leute, die so etwas sagen, nur auf die Stimmen aus Moskau hören.“ Diese Aussagen, die nach „Russophobie“ riechen, sind falsch. Sie zielen darauf ab, die Opposition durch eine Kategorisierung zu diffamieren, die nicht der Realität entspricht. Weder ich noch einer meiner antimilitaristischen/internationalistischen Freunde haben jemals Unterstützung für Putin und/oder den Putinismus geäußert. Wir haben uns immer gegen den Imperialismus des russischen Staates gestellt, und es muss betont werden, dass wir auch gegen die imperialistischen Blöcke sind, die mit Russland um die Einflusssphäre und die Umverteilung der „postsowjetischen Gebiete“ konkurrieren. Dennoch werden wir für angeblichen Putinismus kritisiert, den wir in Wirklichkeit genauso verabscheuen wie die Politik des Regimes von Selenskyj oder die Kriegspolitik der NATO, Israels, der Hamas, der Hisbollah und so weiter.

Um es klar zu sagen: Die Behauptung, dass auch andere imperiale Aggressoren eine bedeutende Rolle in diesem Krieg spielen, bedeutet nicht, dass wir die Aggression des russischen Imperiums in Frage stellen, und es ist auch kein Ausdruck von Sympathie dafür. Es ist nur der Versuch, den Gesamtkontext zu verstehen. Es ist eine Sichtweise, die die Rolle aller bedeutenden Akteure/Aggressoren berücksichtigt. Was meine Gegner als Analyse betrachten, ist in höchstem Maße unanalytisch. Es ist eine Mischung aus Populismus, Reduktionismus, Demagogie und Opportunismus. Sie nehmen einen Teil des Ganzen, überschätzen seine Bedeutung und ignorieren andere Teile oder verharmlosen ihre Bedeutung. Aber wie können wir einen komplexen Mechanismus/ein komplexes Phänomen/einen komplexen Prozess auf diese Weise verstehen? Wir können es nicht! Das ist unmöglich. Es ist, als würde man versuchen, das Bewegungsprinzip eines Autos zu verstehen, indem man die Funktion seines Lenkrads überschätzt, ohne die Funktion seiner Räder, seines Motors, seines Kraftstoffverbrennungsprozesses, der physikalischen Gesetze der Anziehung, der Aerodynamik usw. zu berücksichtigen. Ebenso ist die Bewegung eines Autos nicht nur das Ergebnis der Funktion des Lenkrads; es ist nicht der Krieg in der Ukraine, nur das Ergebnis des russischen Imperialismus. Aber versucht mal, das der Person zu erklären, mit der ich in Graz eine Konfrontation hatte, und vermeidet es, von ihm und seinen Kumpanen aggressiv angegriffen zu werden. Mir ist das noch nicht gelungen. Nun, um mich auszudrücken, ja, aber nicht ohne dann Angriffen, Sabotage, Verleumdung, Diffamierung, Ausgrenzung und Bedrohungen meiner Sicherheit ausgesetzt zu sein.

Was praktizieren die Menschen, mit denen diese Person zusammenarbeitet?

Nun möchte ich beschreiben, wie böswillig und rücksichtslos die erwähnte Person und die Kollektive, mit denen sie zusammenarbeitet, mich behandeln.

Ich habe in der anarchistischen Bewegung seit über zwanzig Jahren den Ruf, anderen gegenüber kritisch zu sein. Ich werde dem in keiner Weise widersprechen. Ich betrachte Kritik und Selbstkritik als einen Wachstumsprozess. Vor allem, wenn es nicht um Verleumdung geht, sondern um den konstruktiven Versuch, voranzukommen, über Fehler nachzudenken und Grenzen zu überwinden. Das Problem ist, wie die kritisierten Personen meine Neigung, Kritik zu äußern, missbrauchen. Es ist ganz einfach: Sie nehmen keinerlei Rücksicht auf meine Sicherheit, Würde oder Privatsphäre. Sie betrachten jede Kritik als persönlichen Angriff, als Kriegserklärung, in der es erlaubt ist, mich auf jede erdenkliche Weise zu demütigen. Vielleicht sogar, indem sie mich der Polizei „vorwerfen“ und ihr einen Vorwand liefern, mich zu verfolgen.

Ab etwa 2014 wurde mein Name in diesen Kreisen mit verschiedenen illegalen Aktionen, anonymen Texten und Projekten in Verbindung gebracht, die die Aufmerksamkeit der staatlichen Repressionskräfte auf sich zogen.

Obwohl ich mich nie für irgendetwas auf dieser langen Liste verantwortlich erklärt habe und niemand jemals Beweise dafür vorgelegt hat, die mich mit irgendetwas in Verbindung bringen, konstruieren meine Kritiker munter einen Mythos von der unbestreitbaren Tatsache, dass ich hinter all dem stecke.

Dieser Prozess funktioniert wie folgt: Wenn beispielsweise eine direkte Aktion durchgeführt wird und dabei Eigentum beschädigt wird, wird ein Kommuniqué herausgegeben, in dem die Gründe und das Ziel der Aktion erläutert werden.

Einige Gruppen beschließen, das Kommuniqué zu veröffentlichen, andere nicht. Denn die Art und Weise, wie die Aktion durchgeführt und kommuniziert wird, wird in bestimmten Kreisen, gelinde gesagt, als kontrovers angesehen. Einige Personen behaupten, sie wüssten, wer dahintersteckt, und können so auf den vermeintlichen Schuldigen zeigen und ihre Wut auf ihn richten. In der Regel haben sie keine Ahnung. Sie haben nur irgendwelche Vermutungen und Spekulationen. Durch den Groll gegen mich gestärkt, beginnen sie, ihren Annahmen Luft zu machen. Zunächst behaupten sie in ihrem engen Freundeskreis, „es war Lukáš Borl“. Diese Behauptung, ohne jegliche Beweise, wird weitergegeben und verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Je öfter sie wiederholt wird, desto schneller verlieren die Menschen die Fähigkeit, sich selbst zu hinterfragen und zu fragen: „Wie kann jemand eine so schwerwiegende Anschuldigung erheben, ohne Beweise vorzulegen?“ Die wiederholte Annahme wird für viele Menschen zur „allgemein bekannten Wahrheit“. Niemand stellt mehr Fragen, niemand zweifelt, niemand verlangt Beweise. Und was noch schlimmer ist: Fast niemand hat ein Problem damit, dass diese „allgemein bekannten Wahrheiten“ auf eine Weise kommuniziert werden, die der Polizei einen Vorwand liefern könnte, mich (erneut!) anzuklagen.

Ich kann mehrere Beispiele aus einer langen Liste nennen. Als erstes möchte ich auf die Beschreibung des Vorfalls beim Fluff Fest in Rokycany zurückkommen.

Der Vortrag der Anarchistischen Föderation war zu Ende, und ich wartete naiverweise darauf, dass die Diskussion begann.

Ich machte fleißig Notizen, aber als die Leute von AF nach dem Vortrag gingen, beschloss ich, ihnen mein Feedback direkt mitzuteilen. Einer der Redner sagte mir ohne Umschweife, dass er mit mir nicht diskutieren würde. Als Grund gab er an, dass ich Informationen über Dubovik und Kolchenko verbreiten würde, die er als Lügen bezeichnete. Und im nächsten Moment des Gesprächs brachte er mich offen mit einem bestimmten Verlagsprojekt in Verbindung, das wegen seines „illegalistischen“ Inhalts möglicherweise von der Polizei überwacht wird. Ich protestierte und forderte ihn auf, mich nicht mehr mit diesem anonymen Projekt in Verbindung zu bringen und solche Dinge nicht mehr auf dem Fluff Fest zu sagen, wo, wie auch an anderen Orten, bewiesen wurde, dass die Polizei Gespräche aufgezeichnet hat11. Ihre Reaktion war Spott und Verharmlosung der ganzen Situation. Anscheinend konnten sie keine Polizisten sehen und sprachen leise, sodass niemand es hören konnte. Kann wirklich jemand behaupten, dass die Polizei im 21. Jahrhundert keine fortschrittlicheren Methoden hat, um Menschen auszuspionieren, als ihnen aus nächster Nähe zuzuhören? Diese Person ist seit den 90er Jahren in der „Bewegung“ aktiv und kennt die Methoden der Polizei sehr gut. Dennoch beschloss sie, mich offen mit einer bestimmten illegalen Aktivität in Verbindung zu bringen, obwohl dies der Polizei eine Waffe gegen mich in die Hand geben könnte.

Zum Kontext ist es wichtig zu erwähnen, dass ich zu diesem Zeitpunkt im Fall Fénix 2 (siehe12) strafrechtlich verfolgt wurde und möglicherweise mit einer Gefängnisstrafe von drei bis zehn Jahren rechnen musste. Einer der Vorwürfe gegen mich war die angebliche Verbreitung von Texten mit illegalem Inhalt, die von der Staatsanwaltschaft als „Unterstützung und Förderung von Bewegungen, die auf die Unterdrückung von Menschenrechten und Freiheiten abzielen“ (Abschnitt 403 – wird normalerweise gegen Neonazis verwendet) bezeichnet wurden.

Als indirekten Beweis legte die Polizei auch Aufzeichnungen von Gesprächen vor, in denen bestimmte Personen bestimmte Spekulationen äußerten. Also eine sehr ähnliche Art von „Beweis“, die die oben erwähnte verantwortungslose Person der Polizei beim Fluff Fest vorlegte. Vor Gericht habe ich die Verwendung dieser Behauptungen als Beweismittel in der Vergangenheit angefochten. Die Tatsache, dass ich aufgrund von Spekulationen vor Gericht gestellt werden kann, sollte jedoch dazu führen, dass wir solche Spekulationen nicht anstellen. Aber für diese Person spielt das keine Rolle. Der Groll gegen mich hat wahrscheinlich sein Urteilsvermögen getrübt, oder vielleicht hat er sich einfach dafür entschieden, meine Sicherheit nicht zu berücksichtigen, weil er einen festen ideologischen Gegner um jeden Preis loswerden wollte.

Ein weiteres Beispiel: Ein Kollektiv, dem ich angehöre, erhielt eine Nachricht mit einem Link zur Website stopwarpropaganda.noblogs.org, auf der unter anderem Folgendes erwähnt wird:

„Im September 2023 wurden mehrere Einrichtungen, die aktiv an Kriegspropaganda beteiligt sind, angegriffen, insbesondere im sogenannten Russland, in der Ukraine und in der Tschechischen Republik. Für direkte Aktionen wurde die Methode ‚Einleitung der Evakuierung‘ angewendet. Die folgenden Ziele wurden angegriffen.

TASS = Die russische Nachrichtenagentur

Der Moskauer Kreml = Die offizielle Residenz des russischen Präsidenten

Ukrinform = Die nationale Nachrichtenagentur der Ukraine

MAFRA, a.s. = Tschechische Mediengruppe

Riot Over River Fest = Das Festival bietet Raum für Propaganda-Initiativen zur Unterstützung der ukrainischen Armee

Diese Kriegspropagandisten haben unterschiedliche Perspektiven, aber sie sind gleichermaßen entschlossen, ihr „Publikum“ von der angeblichen Notwendigkeit zu überzeugen, den Krieg aktiv zu unterstützen, selbst auf Kosten der unzähligen Toten und des anderen Leids, das er mit sich bringt.(…)13

Weder unser Kollektiv noch ich haben diese Aussage geteilt oder verherrlicht. Ich habe lediglich meine Besorgnis darüber zum Ausdruck gebracht, dass einige Leute mich mit der in der Erklärung erwähnten Aktion in Verbindung bringen wollen.

Ich schrieb:

Wie es in unserem kleinen tschechischen Teich Tradition ist, hat sich die „rot-schwarze Klatschküche“ in Gang gesetzt. Alle möglichen Leute beginnen zu spekulieren, lassen ihrem Rätselraten freien Lauf oder behaupten, sie wüssten mit Sicherheit, wie alles passiert ist. Aber höchstwahrscheinlich wissen sie, wie ich, nichts über die Hintergründe des Vorfalls.“14

Obwohl ich in meiner Erklärung darauf hingewiesen habe, dass es nicht in Ordnung ist, mich damit in Verbindung zu bringen, bin ich seitdem mehreren Personen begegnet, die behaupten, ich hätte etwas mit diesem Vorfall zu tun.

Zum Beispiel Marek Dočekal, den ich bereits in meiner Stellungnahme „Das Dilemma kehrt zurück: Wahnsinn oder Tod?“15erwähnt habe. Dočekal versuchte, mich auf besonders hinterlistige und manipulative Weise mit diesem Vorfall in Verbindung zu bringen. Und als ich ihm sagte, er solle damit aufhören, machte er einfach weiter.

Was den Vorfall selbst betrifft, über den auf stopwarpropaganda.noblogs.org berichtet wird, so möchte ich sagen, dass ich die Art und Weise, wie die Aktion durchgeführt wurde, aus mehr als einem Grund sehr problematisch finde. Ich denke nicht, dass jemand eine solche Aktion verherrlichen sollte, und das habe ich selbst auch nie getan. Was das Kommuniqué zu der Aktion betrifft, so stimme ich der darin geäußerten Kritik an Militarismus und Kriegspropaganda zu.

Das ist aber in keiner Weise ein Beweis für meine angebliche Verbindung zu diesem Vorfall. Es kann nicht als Rechtfertigung dafür dienen, dass mich jemand in einem Bereich, in dem die Polizei ihre Finger und Ohren hat, offen damit in Verbindung bringt.

Wie denken die Leute, die mich damit in Verbindung bringen? Ich weiß das gut aus ihren Reaktionen. Sie sagen sich: „Oh, Borl sagt auch ähnliche Dinge; wir kennen seinen Stil und seine Ausdrucksweise“, und das ist für sie Beweis genug. Ihre Schlussfolgerung lautet: „Es war Borl“, und jetzt kann sie weit und frei in alle Richtungen verbreitet werden, von Ohr zu Ohr, in Info-Shops, Pubs und bei Auftritten, in sozialen Medien oder durch Nachrichten und E-Mails, die auf Unternehmensservern eingerichtet werden, die mit der Polizei zusammenarbeiten.

Ähnlich verhielt es sich mit anderen Ereignissen, über die unser Kollektiv durch anonyme Nachrichten in unserem E-Mail-Postfach informiert wurde. Sobald wir diese Nachricht erhalten haben:

– Originalnachricht –

Datum: 2024-06-14 10:46

Von: ??????????

An: [email protected]

—————————-

„– Zwei Benzinbomben wurden an den Info-Shop Trhlina in Pragdeponiert

– Autoreifen mit einem Brandsatz wurde vor den Eingang der Žižkov-Kirche in Prag deponiert

DIESES MAL OHNE FEUER, ABER NÄCHSTES MAL KANN ES MIT FEUER SEIN, INSBESONDERE WENN:

1) Wenn diese Orte nicht aufhören, Menschen Raum zu geben, die Anarchistinnen und Anarchisten belästigen und ihre antimilitaristischen Aktivitäten sabotieren.

2) Wenn diese Orte nicht aufhören, der Verherrlichung der Informanten Alexander Kolchenko und Anatolij Dubovik Raum zu geben.

3) Wenn diese Orte nicht aufhören, für Kriegspropaganda genutzt zu werden, die die Verbrechen von Putins Imperialismus hervorhebt, aber die Verbrechen des Imperialismus der USA, der NATO-Mitgliedstaaten und die Verbrechen des ukrainischen Staates verschweigt.

4) Wenn diese Orte nicht aufhören, als Infrastruktur zur Unterstützung der ukrainischen Armee genutzt zu werden, der Armee, die Deserteure massakriert, Menschen daran hindert, in die Sicherheitszonen zu fliehen, Männer auf der Straße jagt, um sie zwangsweise zu mobilisieren und an die Front in den Tod zu schicken.

5) Wenn diese Orte nicht aufhören, als Sprachrohr für Klassenkollaboration zu dienen – die Einheit des Proletariats mit der Bourgeoisie, die die Bourgeoisie immer zum Nachteil des Proletariats stärkt.

6) Wenn diese Orte nicht aufhören, diffamierende Lügen über Revolutionäre zu verbreiten, wie ihre Anschuldigungen des „Putinismus“ und Pazifismus usw.

Die Reaktionen waren wie bei einem Copy-and-Paste – genau wie zuvor. Die Leute „können garantieren“, dass sie wissen, wer dahintersteckt. Das Kommuniqué hat „Bors Schreibstil“. Der Beweis wurde erbracht. Das konterrevolutionäre Tribunal verkündete sein Urteil: Borl ist schuldig und wird dazu verurteilt, aus dem öffentlichen Raum verbannt zu werden, der Polizei übergeben zu werden, wegen Verleumdung und übler Nachrede, geächtet und isoliert zu werden und nicht zuletzt sein Recht auf Privatsphäre und Sicherheit zu verlieren.

Es ist ein faszinierendes Phänomen: Diese Leute bringen mich mit allen möglichen Dingen in Verbindung, mit denen ich nie in Verbindung gebracht werden wollte. Sie machen mich – ohne Beweise, gegen meinen Willen – zum Hauptakteur vieler solcher (meist anonymer) Ereignisse, Projekte und Aussagen. Sehr oft betonen sie auch meine angebliche Selbstbezogenheit. Diese Leute stellen mich als das „Zentrum“ von allem dar, was gegen sie steht, aber anscheinend handle ich selbstbezogen.

Ich muss sie enttäuschen. Ich bin nicht wirklich der Einzige, der antimilitaristische Positionen vertritt, der Einzige, der den „Anarcho-Militaristen“ den Spiegel vorhält, der Einzige, der bereit ist, anarchistische Werte trotz der falschen Verbündeten zu verteidigen. Ja, im tschechischen Milieu bin ich einer der wenigen, die das offen tun. Und vielleicht ist es das, was es meinen Gegnern ermöglicht, mich so intensiv ins Visier zu nehmen. Außerdem nähren sie damit den Mythos, dass Borl im Mittelpunkt aller Kontroversen steht, sodass es sich um eine völlig nebensächliche Angelegenheit handelt, weil es niemanden wie ihn gibt.

Sie brauchen nur einen solchen Mythos, um ihr Gefühl von Wichtigkeit und Grandiosität zu stärken. Sie stellen sich als eine wachsende progressive Kraft dar und ihre Gegner als einen Verrückten. Wenn sie akzeptieren würden, dass viele Menschen ähnliche Werte wie ich vertreten, würde das ihren Mythos schwer erschüttern. Also halten sie an der legendären Geschichte fest: Es ist alles nur ein verrückter Borl und ein paar dogmatische Spinner, unbedeutender sektiererischer Abschaum, der nicht mit unserer Großartigkeit verglichen werden kann. Und um den Mythos noch stärker zu machen, setzen sie eine weitere Waffe ein: Sie bezeichnen mich als Aggressor, der ihre Sicherheit bedroht. Es ist ein seltsames Paradoxon, denn wie ich bereits sagte (und später näher darauf eingehen werde), sind sie diejenigen, die meine Sicherheit bedrohen. Und wie ich Ihnen anhand eines anderen Beispiels zeigen werde, verteidigen sie gerne Menschen, die unsere anarchistischen Freunde böswillig in Gefahr bringen.

Bevor ich das Beispiel anführe, möchte ich noch einmal auf den Text „Die Linke des Kapitals sabotiert die anarchistische Bewegung: Wehren wir uns!“16 zurückkommen. Darin heißt es:

Es muss berücksichtigt werden, dass die Linke des Kapitals trotz ihrer erklärten Staatsfeindlichkeit nie zögert, ihre Gegner mit Hilfe der repressiven Kräfte des Staates zu bekämpfen, wenn sie die Gelegenheit dazu hat. Es liegt im Interesse des revolutionären Anarchismus, sie daran zu hindern und ihr die Möglichkeiten zu nehmen. Die Risiken sind zu groß, um sie zu ignorieren oder zu unterschätzen.“17

Ich denke, die von mir angeführten Beispiele zeigen deutlich, wie meine Gegner die Macht der Repressionskräfte gegen mich einsetzen. Sie bringen mich mit verschiedenen kriminellen Handlungen in Verbindung, an Orten, die von der Polizei überwacht werden können. Damit liefern sie der Polizei einen guten Vorwand, mich zu schikanieren.

Und nun das bereits erwähnte Beispiel. Ich möchte mit einem Zitat beginnen:

Es gibt verschiedene Motivationen für Doxing. Dazu gehört, schädliches Verhalten aufzudecken und den Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Andere nutzen es, um jemanden in Verlegenheit zu bringen, zu erschrecken, zu bedrohen oder zu bestrafen. Es wird auch häufig für Cyberstalking eingesetzt, wodurch jemand um seine Sicherheit fürchten könnte. Forscher haben darauf hingewiesen, dass einige Fälle von Doxing gerechtfertigt sein können, z. B. wenn dadurch schädliches Verhalten aufgedeckt wird, aber nur, wenn der Akt des Doxing auch mit der Öffentlichkeit übereinstimmt.“

Wikipedia18

Am 9.5.2024 veröffentlichte ich eine Stellungnahme mit dem Titel „The Dilemma Returns: Insanity or Death“19

Darin machte ich auf das aggressive Mobbing aufmerksam, dem ich ausgesetzt war, und nannte vier konkrete Personen, die maßgeblich daran beteiligt sind.

Es ist interessant, wie unterschiedlich die Reaktionen darauf ausfielen. Nicht wenige Menschen haben mir gesagt, dass sie beim Lesen entsetzt waren und sich Sorgen um meine Gesundheit und mein Leben machten. Die logische Frage dieser Menschen lautete dann: „Wie kann ich dir helfen, damit es dir gut geht und du diese schwierige Situation überlebst?“

Die völlig gegensätzliche Reaktion war: „Es handelt sich um eine Doxxing von persönlichen Namen antiautoritärer Aktivisten (…), es ist ein beispielloser Verstoß gegen den sicheren Raum, den die antiautoritäre Bewegung zu sein versucht.“20

Während die erste Art von Reaktion mich sehr unterstützte, schürte die zweite verständlicherweise nur meine negativen Emotionen und Gedanken an Selbstmord und Wahnsinn. Menschen, die zu Empathie fähig sind, verstanden, dass ich mich in einer verzweifelten Situation befand, und versuchten zu helfen, auch wenn sie die Form meiner Botschaft vielleicht kontrovers fanden. Auf der anderen Seite gibt es Individuen und Kollektive, die völlige Rücksichtslosigkeit und Herzlosigkeit an den Tag legen, wenn sie nur aus dem gesamten Text entnehmen, dass dort die Namen bestimmter Personen erwähnt werden. Aber sie filtern das Wichtigste heraus: Ich habe Menschen genannt, die mich durch ihre Machenschaften fast in eine psychiatrische Anstalt oder ins Grab gebracht hätten. Eine Banalität, die nicht der Rede wert ist, oder? Kann man die Rücksichtslosigkeit noch weiter treiben?

Ja, das kann man. Menschen, die meinen Text als Doxxing und offenbar als „einen beispiellosen Verstoß gegen den sicheren Raum“ bezeichnen, dieselben Menschen, die in den Aktivitäten von Alexander Kolchenko und Anatolij Dubovik, die die Namen und Privatadressen von in Russland lebenden Anarchistinnen und Anarchisten öffentlich machten und ihre Liquidierung forderten, kein Problem sehen.21

Die Internationale Arbeiterassoziation (IWA-AIT) veröffentlichte eine Erklärung, in der es heißt:

… diese falschen Anarchisten hetzen durch die Veröffentlichung der Adressen von in Russland ansässigen Antikriegsaktivisten direkt die russischen Geheimdienste und nationalistische Schläger gegen sie als Kriegsgegner auf, damit diese mit ihnen kurzen Prozess machen! Angesichts der anhaltenden Schikanen, Entlassungen, Drohungen und körperlichen Repressalien gegen antimilitaristisch eingestellte Menschen in Russland kommen solche Aktionen einer echten Denunziation gleich, die direkt angibt, wem die repressiven Kräfte ihre Aufmerksamkeit widmen sollten.“22

Und in einem Artikel von Voice of Anarchists23heißt es:

… der berüchtigte Anatoly Dubovik hat sich nicht nur der Grobheit und der dreistesten Verleumdung gegen internationalistische Anarchisten schuldig gemacht, sondern auch zusammen mit Sergei Shevchenko und Alexander Kolchenko Doxxing betrieben – die Veröffentlichung der Privatadressen von Anarchistinnen und Anarchisten, die gegen den Krieg sind, mit einem direkten Aufruf zu ihrer Ermordung24.

Es ist auch erwähnenswert, dass andere Anhänger von Dubovik ebenfalls dazu aufriefen, die Kriegsgegner unter den Anarchistinnen und Anarchisten mit staatlicher Gewalt zu „eliminieren“.

All diese Gehässigkeiten gegenüber den Internationalisten hinderten Plattformen wie das tschechische Magazin Kontradikce, die Website Anarchist Federation und „Pramen“ [Ray] jedoch nicht daran, Duboviks Verleumdungen zu verbreiten und ihn und Shevchenko sogar zu einem Interview einzuladen!

Darüber hinaus haben sich die Redakteure von „Pramen“ selbst nachdem sie Duboviks Lügen mit Beweisen widerlegt hatten, nicht bei den Internationalisten für die Verbreitung von Verleumdungen entschuldigt und sich auch nicht bei ihren Lesern für die Irreführung entschuldigt – sie haben die Nachricht mit der detaillierten Antwort der Internationalisten auf eben diese Verleumdung gelöscht!

Außerdem haben dieselben Leute, die sich zuvor ernsthaft über die Internationalisten beschwert hatten, weil … sie ihre Kritiker verbannen, feige Nachrichten mit genau dieser Antwort in verschiedenen Chats verbannt und gelöscht!“

Würde irgendjemand erwarten, dass diejenigen, die mich anprangern, auch eine Erklärung an Kolchenko und Dubovik herausgeben, in der sie behaupten: „Es handelt sich um eine Doxxing persönlicher Namen von antiautoritären Aktivisten (…), es ist ein beispielloser Verstoß gegen den sicheren Raum, den die antiautoritäre Bewegung zu sein versucht. “?

Das würde Sinn ergeben, aber das genaue Gegenteil ist passiert. Eine feindselige Erklärung gegen mich und meine Freunde wurde von mindestens vier Projekten unterzeichnet, die den beiden Informanten, die Anarchistinnen und Anarchisten in Russland doxxen, unkritisch Raum bieten. Konkret handelt es sich um: die Anarchistische Föderation, den Info-Shop Trhlina, das Kollektiv, das die Anarchistische Buchmesse in Prag organisiert, und das Riot Over River Festival in Prag.25

Jeder vernünftige Mensch, der zumindest vage mit den Besonderheiten dessen vertraut ist, was in Tschechien als anarchistische Bewegung bezeichnet wird, muss doch erkennen, dass diejenigen, die mich beschuldigen, von persönlichem Groll und der Unfähigkeit, mit meiner Kritik umzugehen, motiviert sind. Ein unparteiischer Mensch versteht sicherlich, dass man mehr als nur ein paar Namen im Internet erwähnen muss, um etwas als gefährliches Doxxing bezeichnen zu können. Der Kontext ist wichtig.

Doxxing ist ein Akt der öffentlichen Bereitstellung personenbezogener Daten über eine Person oder Organisation, in der Regel über das Internet und ohne deren Erlaubnis. Doxxing hat in der Regel eine negative Konnotation, da es als Mittel zur Rache durch Verletzung der Privatsphäre eingesetzt werden kann. An dieser Stelle möchte ich hinzufügen, dass ich die Namen der betroffenen Personen nicht aus Rache veröffentlicht habe, sondern nur, um auf den Schaden aufmerksam zu machen, den sie mir zugefügt haben, und um andere potenzielle Opfer vor der Gefahr zu warnen, die der Kontakt mit ihnen darstellt. Es ist auch wichtig zu erwähnen, dass ich durch die Nennung der Namen keine sensiblen Informationen über ihr Privatleben preisgegeben habe. Es wurde nichts über ihre politische Tätigkeit, ihre Arbeit, ihre Privatadresse, ihre persönlichen Beziehungen, ihre sexuelle Orientierung oder Ähnliches gesagt. Ich habe lediglich darauf hingewiesen, dass sie mich schwer verletzt haben. Ich habe auch Spitznamen erwähnt, mit denen sich diese Personen normalerweise in der Öffentlichkeit präsentieren, und daher gibt es keine geheimen Decknamen, die ihre Identität verbergen sollten. Ich kenne viele Menschen, die diese Spitznamen verwenden, wenn sie sich in der Öffentlichkeit auf diese Personen beziehen oder sie im Internet erwähnen. Ich habe keine Geheimnisse preisgegeben.

Außerhalb der Hacker-Community gab es Ende der 90er Jahre die ersten prominenten Beispiele für Doxxing in Internet-Chatforen, in denen Benutzer Listen mit mutmaßlichen Neonazis verbreiteten. In Tschechien gibt es eine aktive antifaschistische Aktion (AFA), die seit über zwanzig Jahren die Aktivitäten von Neonazis überwacht und nicht nur ihre Fotos, Namen und Spitznamen, sondern auch Informationen über ihre Arbeit, ihre familiäre Situation oder ihre Freizeitaktivitäten usw. veröffentlicht. Ich bin froh, dass die AFA das tut. Und ich sehe darin nichts Falsches, auch wenn es rechtlich als Doxxing bezeichnet werden könnte. Ebenso stört es mich nicht, wenn Opfer sexueller Übergriffe den Namen des Täters zusammen mit den Einzelheiten der traumatischen Situation, in die sie gebracht wurden, öffentlich machen (wie kürzlich bei der sexuellen Belästigung durch den tschechischen Politiker Dominik Feri geschehen). Nein, ich denke nicht, dass es sich um ein skandalöses Doxxing von Namen handelt oder dass es „ein beispielloser Verstoß gegen den sicheren Raum“ war. Genauso wie wir das Recht haben, die Aktivitäten von Neonazis zu überwachen und uns so vor ihren Aggressionen zu schützen. Genauso wie Überlebende sexueller Übergriffe das Recht haben, die Namen der Sexualstraftäter zu veröffentlichen, hat Borl das Recht, die Namen der Personen zu veröffentlichen, die an Mobbing, Aggressionen und Machenschaften beteiligt sind.

Es ist zu beachten, dass in der von siebzehn Projekten unterzeichneten Erklärung die Blog-Domain lukasborl.noblogs.org aufgeführt ist und mein Vor- und Nachname in dieser Adresse enthalten ist. Es heißt weiter, dass ich Dinge getan habe, die einen beispiellosen Verstoß gegen den sicheren Raum darstellen. Dies ist ein perfektes Beispiel für Doxxing, das darauf abzielt, den Ruf oder die Ehre einer Person zu schädigen – in diesem Fall speziell mich. Wie ich bereits angedeutet habe, habe ich mit der Nennung von Namen in meiner Erklärung keinen sicheren Raum verletzt.

Übrigens, wenn du „Lukáš Borl“ in die Suchleiste auf der Website der Anarchistischen Föderation „afed.cz“ eingibst, erscheinen im Menü mehr als zehn Artikel mit diesem Namen. Zum Beispiel diese:

Angenommen, ich würde mich so dumm verhalten, wie es meine Gegner in den oben genannten Erklärungen unterschrieben haben. In diesem Fall würde ich einen weiteren Artikel verfassen und behaupten, dass die Anarchistische Föderation mich auf gefährliche Weise bloßstellt, weil sie meinen Namen ohne meine Zustimmung verwendet hat. Ich werde einen solchen Artikel nicht schreiben, weil ich die Anarchistische Föderation aus einem ganz anderen Grund für gefährlich halte. Ich habe in diesem Text bereits auf konkrete Beispiele hingewiesen und werde gerne noch weitere nennen:

Ein aufmerksamer Mensch wird zweifellos bemerken, dass die Aussage „We will not be intimidated26 bestimmte Teile völlig übertreibt, sodass die unterzeichnenden Kollektive sich als unschuldige Opfer darstellen können, denen offensichtlich Schaden zugefügt wird. So bezeichneten sie beispielsweise den folgenden Satz als Morddrohung: „Die Geschichte ist voll von Beispielen dafür, wie Revolutionäre mit Denunzianten und ihren Komplizen umgehen.“27

Ihre Fantasie kann eine unspezifische Aussage in den dunkelsten Farben malen, und sie scheuen sich nicht, ihre Fantasien öffentlich zu teilen. Eine Person, die den Kontext nicht kennt, könnte sogar denken, dass sie die unschuldigsten Wesen der Welt sind, die grundlos von einigen Verrückten terrorisiert werden. Aber wie ich in meiner Erzählung offenbare, sind sie keine so unschuldigen Opfer. Sie beschweren sich, dass sie bedroht werden, erwähnen aber nicht, wie sie andere bedrohen.

Die Tschechoslowakische Anarchistische Assoziation (ČAS) schrieb dies als Reaktion auf die Aussage: „We will not be intimidated“:

„Wir glauben nicht, dass dieser Vorfall asymmetrisch ist. Im Gegenteil, er ist ein trauriges Spiegelbild des Zustands der Bewegung und der Praktiken, die zum Standard geworden sind. Von Verleumdung, Zensur, Verunglimpfung und Machenschaften bis hin zu Drohungen, die sogar unsere Gruppe bei der Organisation eines Benefizkonzerts erlebt hat (…).“28

Ich möchte hinzufügen, dass es bei den Drohungen um das Konzert „Make Music Not War“ ging, das von Mitgliedern der ČAS in Poděbrady (einer Stadt in Mittelböhmen) organisiert wurde. Das Konzert sollte Geld für ältere Menschen in der Ukraine sammeln, die während Putins Invasion in Gefahr waren. Mitglieder von ČAS gaben an, dass die Konzertorganisatoren Beleidigungen und Drohungen ausgesetzt waren. Und siehe da, dahinter steckten dieselben Leute, die der Aussage „We will not be intimidated“ zustimmten.

Hier sind einige weitere Beispiele.

Meine Freunde trauten sich, die Band Bezlad zu kritisieren, die beim Riot Over River Festival in Prag auftrat29. Die Kritik bezog sich hauptsächlich auf Russophobie und nationalistische Positionen, die von den Bandmitgliedern vertreten wurden, sowie auf ihre Verherrlichung des Asowschen Bataillons30, das für seine Verbindungen zu Neonazis und rechtsextremen Militanten berüchtigt ist. Als Antwort auf ihre Kritik erhielten meine Freunde Drohungen und die Verbreitung von abfälligen Kommentaren im Internet, in denen sie sich wünschten, dass ihre Familien bombardiert und ihre Töchter vergewaltigt würden usw.

Aber das ist nicht das einzige Beispiel für Drohungen aus diesem Milieu. Vor einiger Zeit versuchte ein guter Freund von mir, mit dem ich ähnliche politische Ansichten teile, mit einem Mitglied des Info-Shops Trhlina in Prag, das auch Mitglied der Anarchistischen Föderation (AF) ist, persönlich zu sprechen. Er sagte meinem Freund, dass alte militante Antifaschisten sehr wütend auf Borl und die Antimilitaristische Initiative (AMI) seien und dass eine Art Reaktion auf das, was sie sagen und tun, drohe. Er war nicht sehr konkret, was für eine Art von Reaktion es sein sollte. Allerdings kann nur seine wiederholte Betonung, dass sie von Militanten kommen wird, die Erfahrung mit Straßenkämpfen haben, als Hinweis darauf interpretiert werden, dass die Reaktion die Form einer physischen Konfrontation annehmen kann.

Das ist sehr interessant, denn derselbe Info-Shop Trhlina, dessen Mitglied diese Drohungen übermittelt hat, hat die Erklärung unterzeichnet, in der es heißt:

Wir halten es für normal, dass wir innerhalb der antiautoritären Bewegung in einigen Fragen unterschiedlicher Meinung sind und unsere Wege sich trennen. Kritik muss jedoch von Aggression unterschieden werden, bei der es letztlich nicht um eine echte antimilitaristische Agenda geht, sondern um persönliche Abrechnungen mit bestimmten und zufällig ausgewählten „Feinden“.

Vielleicht sollte das Kollektiv um Trhlina und die Anarchistische Föderation zuerst „vor der eigenen Tür kehren“, bevor sie andere der Aggression und Bedrohung beschuldigen. Ich glaube nicht, dass sie das tun werden. Denn selbst wenn sie aggressive Methoden anwenden, ist es für sie einfach, dies zu vertuschen und zu behaupten, dass es keine Beweise dafür gibt. Wenn jemand Trhlina mit einem Brandanschlag bedroht, wäre es wahrscheinlich einfach, Beweise dafür zu liefern, dass so etwas passiert ist. Aber wenn das Mitglied von Thrlina und AF meinen Freund, AMI und mich bedroht, ist es einfach zu behaupten, dass es sich nur um eine Verleumdung handelt. Für diese Leute ist ein Zeugenbericht kein Beweis. Aber Vorsicht, es ist nichts dergleichen erforderlich, wenn mich jemand eines Vergehens beschuldigt. Spekulative Anschuldigungen gegen mich sind einfach deshalb „wahr“, weil sie sich gegen mich richten. So handeln diejenigen, die von Gerechtigkeit, Gleichheit und Solidarität sprechen … bla bla bla bla. Wie kann man nach all dem noch ihren Schwachsinn glauben?

Wie sich herausstellt, haben sie in anderen Teilen der Welt ähnliche Erfahrungen mit Drohungen gemacht. Zum Beispiel berichtet Voice of Anarchists:

Zeitungen, die es wagten, über die Verbindungen zwischen BOAK und „Bruderschaft“ zu berichten, erhielten Drohungen.“31

Zur Erklärung des Kontextes: Nach dem Tod des Gründers von BOAK, Dimitri Petrov, in der Nähe von Bachmut im Jahr 2023 sowie seiner „Mitstreiter“ Finbar und Cooper stellte sich heraus, dass sie alle mit Korchinskys rechtsextremen Bataillon „Bruderschaft“ (zu dessen Mitgliedern Personen wie die Neonazi Vita Zaverukha gehören) zusammengearbeitet hatten. Und durch Korchinsky wurden sie alle Mitglieder seines Bataillons.

Die Aussage des bereits erwähnten Dubovik kann auch als Drohung und Einschüchterung angesehen werden.

In einem seiner Doxxing-Posts veröffentlichte er Folgendes:

Nur um sicherzugehen, möchte ich daran erinnern, dass der wichtigste russische Einflussagent in der internationalen quasi-anarchistischen Bewegung, der führende Wissenschaftler von XXXX, Ds C. XXXX, an der Adresse XXXX lebt. An dieser Adresse befindet sich auch sein Name. Diese Informationen sind in erster Linie für die Betreiber von Angriffsdrohnen der ukrainischen Streitkräfte bestimmt, aber wenn sie einem militanten Antifaschisten auf russischem Gebiet nützlich sind, ist das auch gut32

Wir könnten auch Cyber-Angriffe auf Mobiltelefone in die Liste aufnehmen. Vor Beginn der Aktionswoche (actionweek.noblogs.org) im Mai 2024 gab es wiederholt Angriffe auf ein Mobiltelefon, das als „Hotline“ für die Öffentlichkeit genutzt wurde. Später wurde ein ähnlicher Cyberangriff auf das Mobiltelefon eines Freundes durchgeführt. Obwohl ich keine bestimmte Person/Personen hinter diesen Angriffen ausmachen kann, deuten bestimmte Anzeichen darauf hin, dass der Angriff von Personen aus dem Umfeld des Info-Shops Trhlina ausging. Der Freund, dessen Telefon angegriffen wurde, beschloss, mit einem Mitglied des Trhlina-Kollektivs darüber zu sprechen. In einem Gefühlsausbruch während der dramatischen Debatte sagte dieses Mitglied etwas, das es wahrscheinlich geheim halten wollte. Er deutete an, dass der Cyberangriff auf das Telefon meines Freundes eine Vergeltungsmaßnahme für die Androhung eines Brandanschlags auf den Info-Shop Trhlina war. Es wurde klar, dass er als Mitglied von Trhlina von den Angriffen auf das Telefon wusste (zu diesem Zeitpunkt war diese Information nicht öffentlich), und er wusste so viel wie nur jemand, der direkt von der Person informiert wurde, die für die Angriffe verantwortlich war.

Menschen wie ich und meine Freunde befinden sich in einer benachteiligten Situation, in der es schwierig ist, die Machenschaften und Aggressionen unserer Gegner zu beweisen. Diese Situation wird von denen, die mit unserer Kritik nicht umgehen können, böswillig ausgenutzt. Sie lassen keine Gelegenheit aus, Kritik und Meinungsverschiedenheiten in den Hintergrund zu rücken, ihre Machenschaften zu vertuschen oder die Situation vielleicht sogar so zu verdrehen, dass sie aus Angreifern Opfer und aus Opfern Angreifer machen.

Ein Beispiel dafür ist auch meine Bereitschaft, mit ihnen von Angesicht zu Angesicht über einige Dinge zu sprechen. Als ich erfuhr, dass die AF und Utopia Libri von einem anderen Kollektiv „verlangen“, mir, AMI und dem Geschichtskollektiv Zádruha die Teilnahme an der anarchistischen Buchmesse in Brünn 33 zu untersagen, beschloss ich, direkt mit den Verantwortlichen darüber zu sprechen. Und weil ich wusste, dass Mitglieder von AF häufig den Info-Shop Trhlina besuchen, habe ich sie dort besucht – unangekündigt.

Um den Kontext zu verstehen, muss ich erwähnen, dass ich allein mit einem kleinen, schüchternen Hund und unbewaffnet an einem Tag dort war, an dem Trhlina für die Öffentlichkeit geöffnet hatte. Ich setzte mich an einen Tisch und bat drei Personen von AF, mir ihre Gründe für ihr betrügerisches Verhalten zu erklären. Dinge wie: „Wir werden nicht mit dir über die interne Kommunikation zwischen uns und anderen Gruppen sprechen“ wurden während des Gesprächs gesagt. Dies unterstrich nur den trügerischen Kontext des gesamten Konflikts. Angriff von hinten – oh ja. Verteidigung von Angesicht zu Angesicht – nein, niemals!

Es muss betont werden, dass die Debatte auf beiden Seiten sehr emotional geführt wurde. Aber während der gesamten Dauer saßen wir alle am selben Tisch und meine Gesten konnten definitiv nicht als aggressiv oder als Vorbereitung auf eine Aggression aufgefasst werden. Nach einer Weile kam jedoch ein anderes Mitglied von Trhlina von draußen herein. Er baute sich im Stehen vor mir auf und gab mir den bestimmten Befehl, dass ich, wenn ich über das Thema Krieg sprechen wolle, das wir gerade erwähnt hatten, gehen und woanders darüber sprechen solle. Auf seine Frage: „Hast du verstanden?“ antwortete ich: „Nein, das habe ich nicht, weil ich mich in einem Info-Laden befinde, der derzeit geöffnet ist und erklärt, dass er auch für Diskussionen gedacht ist. Außerdem hängen an den Wänden Plakate, die sich direkt auf das Thema Krieg beziehen.“

Diese Person betrat wütend meine Komfortzone (ich muss erwähnen, dass ich immer noch saß und er stand) und sagte: „Nun, ich werde es dir auf andere Weise erklären.“ Obwohl ich diese Geste als Einschüchterung und Drohung auffassen konnte, antwortete ich: „In Ordnung, erkläre es.“ Glücklicherweise trat diese Person schnell ein paar Schritte zurück und beruhigte sich, sogar in ihrer verbalen Ausdrucksweise. Plötzlich versuchte er, seine Herausforderung als etwas darzustellen, das für alle Anwesenden bestimmt war. „Es ist nicht nur für dich, Lukáš, niemand hier wird jetzt über den Krieg sprechen. Außerdem machen einige Leute hier ihre Sachen für die Schule, und sie sind nicht an euren Meinungsverschiedenheiten interessiert. Und es gibt eine Person, die Angst hat, weil ihr hier alle einen hitzigen Streit habt.“ Danach gingen einige Leute nach draußen, um zu rauchen. Ich sagte zu denen, die noch drinnen waren: ‚Ich entschuldige mich, wenn meine Kommunikation euch bei dem, was ihr gerade getan habt, gestört hat.‘ Die Antwort der Anwesenden (Leute aus dem Umfeld des Projekts Dekonstrukce) lautete: ‚Nein, ist schon okay, mach dir keine Sorgen.‘ Nachdem sie mir versichert hatten, dass alles in Ordnung sei, ging ich. Aber das war noch nicht alles. Ein paar Wochen später erhielt ich eine E-Mail vom Trhlina-Kollektiv, in der stand, dass mein unangekündigter Besuch als äußerst unangemessen bewertet wurde und ich nicht mehr in den Info-Shop kommen dürfe. Mit anderen Worten, sie wiesen mich erneut darauf hin, dass ich in ihren Augen der Aggressor und sie die Opfer meiner Aggression seien. Und das, obwohl ich Trhlina besucht habe, um mit den Intriganten über ihre Angriffe zu sprechen. Obwohl ich allein in ihrem Raum war und die ganze Zeit am Tisch saß, während das Mitglied von Trhlina über mir stand und mich bedrohte. Obwohl einige der Anwesenden meine Kommunikation nicht als Störung ihrer Aktivitäten empfanden.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Ein schönes Beispiel dafür, wie leicht es ist, Aggressoren zu Opfern zu machen, wenn die Aggressoren die Oberhand haben und manipulative Fähigkeiten entwickelt haben.

„Die Geschichte“ wurde später an einem anderen Ort in ähnlicher Weise fortgesetzt. Unser Kollektiv hatte mit einem Veranstaltungsort namens „Safe Space“ in Žižkov, Prag, eine Vereinbarung über die Ausrichtung einer Benefiz-Tattoo-Veranstaltung, „Make Tattoo Not War“, getroffen. Teil der Veranstaltung war eine öffentliche Diskussion mit dem Titel „Der kapitalistische Frieden ist eine Fortsetzung des Krieges und eine Vorbereitung auf seine Eskalation“34. Einige Tage vor Beginn dieser Veranstaltung wurde mir mitgeteilt, dass zwei Personen der Anarchisten Föderation das Kollektiv von Safe Space „gewarnt“ hätten, dass es nicht richtig sei, mit uns zusammenzuarbeiten. Anscheinend sagten sie, dass die Veranstaltung von einem Kollektiv organisiert wird, das das Recht der Menschen in der Ukraine, sich gegen Putins Aggression zu verteidigen, nicht anerkennt – einer von vielen Unsinnigkeiten über uns, die die Runde machen. Wir haben versucht, diese Verleumdung, die dazu benutzt wurde, unsere Veranstaltungen auf der AMI-Website abzusagen, mit dem Text „Wir widerlegen die Lügen, die über AMI verbreitet werden“35 zu widerlegen. Dennoch konnte die Veranstaltung nicht an dem ursprünglich vereinbarten Ort stattfinden. Wieder einmal hat sich gezeigt, dass es einfach ist, absurde Anschuldigungen gegen mich oder die Aktivitäten, an denen ich beteiligt bin, zu erheben, ohne dass jemand sich die Mühe macht, Beweise dafür vorzulegen. Ich werde sofort so behandelt, als gäbe es keinen Zweifel daran, dass all diese Anschuldigungen wahr sind.

Eine häufige Art, mich zu diffamieren, ist, mich der Gleichgültigkeit gegenüber den vom Krieg in der Ukraine betroffenen Menschen zu beschuldigen. Ich habe mich jedoch wiederholt an der sehr praktischen Unterstützung dieser Menschen beteiligt – finanziell, materiell, logistisch, journalistisch usw.36

Antimilitaristen Gleichgültigkeit, Untätigkeit und mangelnde Solidarität anzuklagen, ist eine weitere von vielen demagogischen Lügen. Wie zum Beispiel auf dem von AF auf der Anarchistischen Buchmesse in Prag verteilten Flyer37 gezeigt wird, schwelgen diese Leute buchstäblich in Demagogie. Zum Beispiel behaupten sie, dass Internationalisten im Krieg neutral bleiben, obwohl Internationalisten nie abseits stehen, sondern immer auf der Seite des Proletariats auf beiden Seiten der Kampflinie stehen. In den Augen der AF (und derjenigen, die der AF ähneln) bedeutet die Weigerung, die ukrainische Armee zu unterstützen, dass man den Kriegsopfern gegenüber gleichgültig ist. Ist es möglich, dass ihnen die Vorstellungskraft fehlt und sie nicht verstehen, dass die praktische Unterstützung von Menschen, die vom Krieg betroffen sind, auch ohne Zusammenarbeit mit dem Staat und der Armee funktionieren kann? Ich glaube nicht. Sie wollen ihre Gegner auf die schlimmstmögliche Weise darstellen. Die Realität ist für sie nicht von Bedeutung, wenn Lügen ihre „pragmatische“ Funktion in ihrer Strategie erfüllen können. Wie im Artikel „Voice of Anarchism“ erwähnt, ist die völlige Rücksichtslosigkeit bei den Mitteln ein charakteristisches Merkmal dieser Menschen.

Asymmetrischer Konflikt

Nach der Auflistung all dieser Taten von Individuen und Gruppen, die den Text „We will not be intimidated“ unterzeichnet haben, ist es überraschend, dass jemand Aussagen wie „Es handelt sich um einen asymmetrischen Konflikt, in dem antiautoritäre Kollektive lange versucht haben, abzuwarten und ihren normalen Aktivitäten nachzugehen, während Sektierer die Aggressivität kontinuierlich eskalieren ließen“

Für den Fall, dass es noch jemand nicht verstanden hat, möchte ich Folgendes betonen: Ein erheblicher Teil der Menschen, die solche Proklamationen unterzeichnet haben, wartet in Wirklichkeit nicht ab, sondern handelt, d. h. sie eskalieren die Aggression. Und das in der Regel so, dass sie es vor dem weiteren Umfeld so gut wie möglich verbergen können. Die Anarchistische Föderation, der Info-Shop Trhlina, Utopia Libri und Marek Dočekal, um nur einige zu nennen.

Es stimmt, dass in dieser Konfliktsituation die Eskalation von beiden Seiten vorangetrieben wird. Nichts weicht von der Logik der antagonistischen Beziehung zwischen den revolutionären Kräften und den Anhängern der Konterrevolution ab. Wenn jemand behauptet, dass eine Seite nur passiv „abwartet“, während die andere die Aggression eskaliert, lügt er entweder absichtlich und verdreht die Realität oder ist nicht in der Lage, die Realität in ihrer ganzen Breite wahrzunehmen. Wenn also das nächste Mal jemand behauptet, dass die eine Seite ein verletztes Opfer und die andere ein bösartiger Angreifer ist, muss man sich den Hintergrund all dessen ins Gedächtnis rufen.

Ja, es handelt sich um einen asymmetrischen Konflikt, aber nicht in dem Sinne, dass er von denen vorangetrieben wird, die mich so sehr hassen, dass sie bereit sind, jedes rücksichtslose Mittel einzusetzen, um mich zum Schweigen zu bringen oder zu isolieren.

Die Asymmetrie dieses Konflikts liegt hauptsächlich in der völligen Unvergleichbarkeit. Sei es in Bezug auf die Anzahl oder die verfügbaren Ressourcen. Auf der einen Seite steht eine Minderheit internationalistischer Revolutionäre, die hauptsächlich aus Menschen in einer proletarischen Position besteht, von denen ein erheblicher Teil Probleme hat, selbst die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse (Wohnung, Nahrung, Kleidung, Fahrgeld, medizinische Versorgung usw.) zu sichern, und daher nur über sehr begrenzte Kapazitäten für ihre politischen Aktivitäten verfügt. Auf der anderen Seite steht eine viel größere Gruppe der „radikalen“ Sozialdemokratie, die sich selbst als Anarchistinnen und Anarchisten/Antiautoritäre/Antifaschisten/Progressive oder nicht-demagogische Linke bezeichnet und hauptsächlich aus Menschen, die über Privilegien der Mittelklasse verfügen, besteht. Neben beträchtlichen finanziellen Mitteln verfügen diese Menschen auch über sogenanntes „kulturelles Kapital“ – höhere Bildung, einen stabilen Hintergrund, weitreichende soziale Verbindungen, soziales Prestige und Zugang zu den Medien. Diese sind für die Proletarier unerreichbar.

Die revolutionäre Minderheit ist in dem asymmetrischen Konflikt nicht nur aufgrund der geringen Anzahl der beteiligten Personen im Nachteil, sondern auch, weil die für die „andere Seite“ verfügbaren Mittel unerreichbar sind. Die revolutionäre Minderheit und ihre Kampfgemeinschaft verfügen weder über die Mittel, um eine Infrastruktur aufzubauen (z. B. Anmietung von Räumlichkeiten für Info-Shops), noch für eine hochwertige Publikationstätigkeit (der Druck von Büchern und deren Verteilung erfolgt über das offizielle Vertriebsnetz). Selbst die Stimme ihrer „Mitglieder“ hat einen geringeren Wert, weil Professoren, Manager, Anwälte und Journalisten immer mehr Aufmerksamkeit erhalten. Und das nicht, weil sie etwas Interessanteres sagen, sondern weil ihr angesehener sozialer Status ihren Worten mehr „Gewicht“ verleiht. Selbst wenn sie völligen Unsinn von sich geben.

Natürlich gibt es in beiden „Lagern“ Ausnahmen – Individuen aus der Mittelklase mit revolutionären Tendenzen oder Proletarier, die vom Reformismus vereinnahmt werden. Hier müssen wir uns jedoch dessen bewusst sein, was uns die Geschichte lehrt – die Mittellasse neigt im Vergleich zum Proletariat immer stärker dazu, zwischen revolutionären und konterrevolutionären Positionen zu schwanken. Es ist auch wichtig zu sehen, dass im reformistischen „Lager“ die Mittelklasse die dominierende Macht ist: In erster Linie sind sie es, die die politische Linie vorgeben, und die Proletarier sind die „Hilfsarbeiter“, die manchmal dabei helfen, einen Eintopf zu kochen oder eine verschimmelte Wand in einem Info-Laden neu zu streichen, aber nie einen grundlegenden Einfluss auf die programmatische Richtung haben.

Die Bedeutung der gewaltsamen (Selbst-)Verteidigung

Am Ende meines ausführlichen Textes möchte ich auf den Vorfall in Graz zurückkommen. Die Tatsache, dass ich einer bestimmten Person ins Gesicht geschlagen und sie aufgefordert habe, den Ort zu verlassen, war das Ergebnis einer Situation, die mir den Grund dafür gab.

Zunächst forderte diese Person die Organisatoren der Buchmesse auf, eine Präsentation über „Solidaritätsaktivitäten im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine“ in das Programm aufzunehmen. Dies wurde abgelehnt, und zwar mit der Begründung, dass die Buchmesse einen antimilitaristischen Schwerpunkt habe und es daher nicht erwünscht sei, Aktivitäten zur Unterstützung der staatlichen Armee und kapitalistische Kriegspropaganda zu präsentieren. Die Person, die über die Ablehnung ziemlich verärgert war, begann den Anwesenden zu erklären, dass sie nicht verstehen könne, wie sie mit jemandem zusammenarbeiten könne, der Aktivisten gefährlich doxxte und hinter aggressiven Angriffen stecke. Er meinte mich und beschrieb die Angriffe, die er mit mir in Verbindung brachte, sehr genau. Wer meinen Text bis hierher aufmerksam gelesen hat, wird sicher verstehen, welche Probleme ich hier sehe.

Erstens bedeutet der Versuch, Kriegspropaganda auf einer anarchistischen Buchmesse zu verbreiten, tatsächlich zur Unterstützung des Krieges beizutragen, der mit einer enormen Menge illegitimer Aggression verbunden ist, von der Verstümmelung von Menschen bis hin zu ihrer Ermordung.

Zweitens habe ich kein gefährliches Doxxing betrieben; ich habe Aggressoren beim Namen genannt.

Drittens: Mich willkürlich und ohne Beweise mit illegalen Aktivitäten in Verbindung zu bringen (insbesondere auf einer Buchmesse, die von der Polizei überwacht werden kann), bedeutet, der Polizei die Möglichkeit zu geben, mich zu verfolgen.

Die Situation wiederholte sich im Grunde genommen am nächsten Tag, als ich beschloss, mit dieser Person zu sprechen. Als Worte wie Doxxing und Angriffsvorwürfe fielen, ballte ich meine Faust und schlug der Person absichtlich ins Gesicht. Ich verteidigte mich und meinen kollektiven politischen Raum vor einem Eindringling, der ihn für Kriegszwecke missbrauchen wollte, vor einem Raubtier, das mich in Gefahr brachte und versuchte, mich der Polizei auszuliefern. Vor einem Intriganten, der mit anderen Menschen Aktivitäten organisiert, die antimilitaristische Initiativen angreifen …

Ich bereue nicht, Gewalt angewendet zu haben. Aber ich bedaure, dass ich nicht energischer war, was dieser Person die Möglichkeit gab, eine improvisierte Waffe zu ziehen38. Aus Fehlern lernt man. Jetzt weiß ich, dass wir diesen Leuten keine Chance geben dürfen. Jeder Fehler, jede Schwäche und jedes Zögern, das wir machen, nutzen sie sofort gegen uns aus.

Was ist also meine Lehre daraus? Beim nächsten Mal, wenn es zu Gewalt kommt, weiß ich, dass ich meinem Gegner keine Chance geben darf, sich herauszuwinden oder gar zum Gegenangriff überzugehen.

Lukáš Borl, Oktober 2024


1Die Abschrift des Vortrags ist im Internet auf der Website der Anarchistischen Föderation zu finden: https://www.afed.cz/text/7710/anarchiste-a-valka-na-ukrajine

2https://antimilitarismus.noblogs.org/post/2024/09/27/collaboration-of-pro-war-anarchists-with-the-far-right-masks-are-off-or-the-fail-of-the-anti-authoritarian-resistance-myth/

3Links zu mehreren Artikeln über Zwangsrekrutierungen in der Ukraine, Entführungen von Männern auf der Straße und am Arbeitsplatz und deren Verschickung an die Front gegen ihren Willen.

https://antimilitarismus.noblogs.org/post/2022/12/30/represe-proti-tem-kteri-nechteji-valcit/

https://antimilitarismus.noblogs.org/post/2023/04/05/kdyz-se-obyvatelstvo-bouri-proti-valce/

https://antimilitarismus.noblogs.org/post/2024/01/11/год-начался-новости-облав-тцк-по-улица/

https://antimilitarismus.noblogs.org/post/2023/10/06/a-volunteer-from-kharkov-was-tortured-by-the-military-after-trying-to-leave-ukraine/

https://antimilitarismus.noblogs.org/post/2024/04/04/war-against-war-is-starting-the-grapes-of-wrath-in-ukraine/

https://antimilitarismus.noblogs.org/post/2024/07/30/judge-lynch-you-have-the-floor-the-murder-of-farion-amid-the-decay-processes-in-the-warring-armies/

https://antimilitarismus.noblogs.org/post/2024/09/27/catastrophe-for-somebody-salvation-for-others-desertion-is-flooding-ukraine/

Der Kiewer Journalist Volodymyr Boiko, der in der 101. Brigade der ukrainischen Streitkräfte dient, äußerte sich auf seiner Facebook-Seite noch deutlicher zu diesem Gesetz: „Ich bin mehrmals auf Hinweise zu meiner bescheidenen Person gestoßen, in denen die Zahl der Deserteure in den Streitkräften und anderen bewaffneten Formationen mit 200.000 angegeben wird. Tatsächlich habe ich gesagt und sage ich, dass die Zahl der Deserteure bereits 150.000 Personen überschritten hat und sich 200.000 nähert. Bei der derzeitigen Dynamik ist es möglich, bis Dezember 2024 200.000 Deserteure vorherzusagen.“

https://libcom.org/article/catastrophe-somebody-salvation-others-desertion-flooding-ukraine

4https://antimilitarismus.noblogs.org/post/2024/06/10/the-advice-led-to-hell-ilya-kharkow/

Weitere Informationen über den Autor finden Sie unter: https://www.ikharkow.com/

5https://libcom.org/article/despair-and-anger-concentration-camp-assemblys-interview-second-anniversary-big-war-ukraine

In diesem Interview wird auch erwähnt: Die Ukraine ist ein so „freies Land“, dass ihre Behörden alle Menschen mit einem ukrainischen Pass als ihr persönliches Eigentum betrachten, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Daher haben sie als Sklavenhalter das ausschließliche Recht, mit ihnen Geld zu verdienen und sie auszubeuten. Wenn sie ins Ausland gehen, ist das ein Verlust für die Besitzer, und sie wollen entweder eine Entschädigung in der Tasche oder die Rückkehr der Sklaven in den Stall. Ähnliches geschah im 19. Jahrhundert vor dem Bürgerkrieg in den USA (auch dieser Vergleich ist nicht rhetorisch, sondern wörtlich gemeint: Die Flucht in die EU über die vereiste Theiß unterscheidet sich von der Flucht über den winterlichen Ohio River im Roman Onkel Toms Hütte nur durch den Einsatz von Drohnen und Wärmebildkameras durch die Verfolger, und bei solchen Versuchen in diesem Fluss sind bereits 20 Menschen gestorben (vor zwei Wochen ertrank außerdem unser Landsmann aus der Region Charkiw im Grenzfluss Prut, wie der staatliche Grenzschutzdienst der Ukraine berichtete)).

6https://www.bbc.co.uk/news/world-europe-65792384

7„Die Position der Anarchistischen Föderation zum Krieg“ https://antimilitarismus.noblogs.org/post/2023/03/01/postoj-anarchisticke-federace-k-valce/

(Artikel auf Tschechisch)

Die erwähnte Person war und ist Herausgeber der Revue Existence (theoretische Zeitung der AF), in der diese großartige Aussage im völligen Widerspruch zu dem steht, wofür er heute steht.

„Unsere Antwort ist revolutionärer Defätismus, was in der Praxis bedeutet, dass wir uns weigern, uns auf die Seite des einen oder anderen Lagers zu stellen, und stattdessen versuchen, die Unterprivilegierten auf beiden Seiten des Konflikts zu verbinden. Schließlich wurde dies bereits von Anarchistinnen und Anarchisten aus der Ukraine kurz vor Ausbruch des Bürgerkriegs zum Ausdruck gebracht:Rivalisierende Cliquen von Geschäftsgruppen zwingen uns, gewöhnliche Menschen: Lohnarbeiter, Arbeitslose, Studenten, Rentner, wie üblich, für ihre Interessen zu kämpfen … Sie wollen uns mit Nationalismus berauschen, uns gegeneinander ausspielen, uns zwingen, unsere wahren Bedürfnisse und Interessen zu vergessen … […] Wir können uns fragen, ob es in der Tschechischen Republik heute überhaupt relevant ist, Fragen zum Krieg zu stellen. Unserer Meinung nach absolut. Wir sind auch davon überzeugt, dass wir dort weitermachen sollten, wo wir nach dem NATO-Treffen in Prag im Jahr 2002 und dem darauffolgenden Beginn des Irakkriegs aufgehört haben. Seitdem hat sich nicht viel geändert. (…)“

Veröffentlicht in Existence 4/2014

Ich stimme diesen Worten voll und ganz zu. Aber der Herausgeber von Existence behauptet nun und argumentiert nachdrücklich und praktisch für das genaue Gegenteil dessen, was in dem Artikel gesagt wurde. Zufall? Nein. Ein konkretes Beispiel für Skrupellosigkeit und Opportunismus. Er würde wahrscheinlich die Begriffe „Nicht-Dogmatismus“ und „Pragmatismus“ verwenden.

8A.d.Ü., auch auf unseren Blog zu lesen Krieg gegen den Anarchismus – Bill Beech.

9Wir können nicht für das Volk oder die Nation kämpfen, nur weil diese Begriffe eine künstliche Einheit zwischen Proletariat und Bourgeoisie, zwischen den Gegnern des Staates und den Staatsmanagern bezeichnen. Das Volk und die Nation verschleiern immer die Kollaboration der Ausgebeuteten mit den Ausbeutern, von der in erster Linie die Ausbeuter profitieren, während die Ausgebeuteten die größten Opfer bringen. Das sehen wir auch in der Ukraine, wo vor allem die Proletarier an der Front sterben. Sie haben keine finanziellen Mittel oder bourgeoise Privilegien, die es ihnen ermöglichen würden, der Zwangsrekrutierung zu entgehen. Schon kleine Beispiele reichen aus: Wer hat die größere Chance, die Grenzkontrolle zu bestechen, um das Land zu verlassen, trotz des Auswanderungsverbots von Selenskyj? Wer hat die größere Chance, seine Angehörigen aus dem Kriegsgebiet zu bringen, Asyl zu erhalten, Mittel für ein würdiges Leben, d. h. wer hat die größere Chance, den Bombenbeschuss zu überleben? An wen werden die Soldaten die Vorladung zustellen wollen: an einen Lagerarbeiter oder an einen Manager eines staatlichen Unternehmens…?

Wie Bill Beech es treffend ausdrückt: Es ist immer die Arbeiterklasse, die in den Krieg der herrschenden Klasse geschickt wird. Deshalb bleibt die herrschende Klasse in Kiew und im Ausland unantastbar, während sich die Mittelklasse von der Wehrpflicht freikauft. https://antimilitarismus.noblogs.org/post/2024/06/12/war-on-anarchism-bill-beech/

Das Volk und die Nation sind nur ein ideologisches Werkzeug, das das Proletariat von der revolutionären Praxis ablenkt und seine Energie in den Dienst bestimmter Fraktionen der Bourgeoisie dieser oder jener „Nation“, „Völker“ oder „Länder“ stellt. Für „das Volk“ oder „nationale Selbstbestimmung“ zu kämpfen, bedeutet in diesem Sinne immer, den Staat und die Bourgeoisie zu unterstützen. Denn egal, welche Seite im kapitalistischen Krieg formal den Sieg erklärt, es wird immer die Bourgeoisie („unsere“ oder „ihre“) sein, die die Lebensbedingungen der ausgebeuteten Klasse bestimmt. Daher bedeutet „nationale Selbstbestimmung“ oder „nationale Befreiung“, dass es die lokale Bourgeoisie ist, die einen großen Teil der Verwaltung unserer Ausbeutung und der Verwaltung der Unterdrückung übernimmt. Daher kämpfen Anarchistinnen und Anarchisten logischerweise nicht für das Volk oder die Nation, sondern schließen sich mit allen Teilen des Proletariats (in der Ukraine, in Russland und überall sonst) zusammen, um gegen alle Fraktionen der Bourgeoisie (in der Ukraine, in Russland und überall sonst) zu kämpfen.

10https://avtonom.org/en/news/anti-war-leaflets-dsitribute

11Siehe Artikel unter https://borodin.noblogs.org/ (auf Tschechisch)

Artikel über die Abhörgeräte der Polizei an einem Veranstaltungsort in Prag https://borodin.noblogs.org/post/2018/02/01/482/ (auf Tschechisch)

12https://antifenix.noblogs.org/post/2019/03/27/what-is-fenix-2-about/

13https://stopwarpropaganda.noblogs.org/post/category/english/

14„Eine Bombe auf dem Festival und die “rot-schwarze Gerüchteküche“

https://lukasborl.noblogs.org/bomba-na-festivalu-a-cernoruda-drbarna/

15„The Dilemma returns: Insanity or death?“

https://lukasborl.noblogs.org/dilema-se-vraci-silenstvi-nebo-smrt/

(auf Tschechisch)

16A.d.Ü., auch auf unseren Blog (AMI) Die Linke des Kapitals sabotiert die anarchistische Bewegung: Wehren wir uns!

17https://antimilitarismus.noblogs.org/post/2024/06/14/the-left-of-capital-is-sabotaging-the-anarchist-movement-lets-fight-back/

18https://en.wikipedia.org/wiki/Doxing

19Gleicher Link wie Fußnote Nr. 14.

20https://afed.cz/text/8248/we-will-not-be-intimidated

21https://antimilitarismus.noblogs.org/post/2024/05/07/sweep-out-snitches-and-their-accomplices/

22https://www.anarchistcommunism.org/2022/06/08/anarchists-who-forget-the-principles-statement-by-kras-iwa/

23https://antimilitarismus.noblogs.org/post/2024/09/27/collaboration-of-pro-war-anarchists-with-the-far-right-masks-are-off-or-the-fail-of-the-anti-authoritarian-resistance-myth/

24„Dubovik’s slander of KRAS, even more lies than imaginable“

https://antimilitarismus.noblogs.org/post/2024/09/29/dubovikova-pomluva-na-adresu-kras-jeste-vice-lzi-nez-se-zdalo/

(auf Tschechisch und Russisch)

25Erstens veröffentlicht die Anarchistische Föderation (Anarchistická federace) Duboviks und Konltschenkos Artikel voller Kriegspropaganda auf ihrer Website afed.cz und in ihrer Zeitung Existence.

https://afed.cz/text/8097/anarchiste-a-valka-na-ukrajine-iv

Original in englischer Sprache:

https://kontradikce.flu.cas.cz/en/online-content/156

https://afed.cz/text/7761/levicaci-mimo-ukrajinu-jsou-zvykli-poslouchat-jen-lidi-z-moskvy

Original in Englisch:

https://freedomnews.org.uk/2022/10/04/leftists-outside-ukraine-are-used-to-listening-only-to-people-from-moscow-interview-with-rkas-anarcho-syndicalists-in-eastern-ukraine/

Zweitens schließt sich AF Kolchenkos Aufruf an, für den Kauf eines Autos für Kriegszwecke zu spenden.

https://afed.cz/text/7730/sbirka-na-auto?lang=english

(auf Tschechisch)

Drittens verteilt der Infoshop Trhlina die Zeitung Existence, die Texte von Dubovik und Kolchenko und bewirbt sie in seinen sozialen Medien.

Viertens gab die Website Kontradikce (eine akademische Zeitschrift) Dubovik und Kolchenko unkritisch Raum. Der Herausgeber Ondřej Slačálek verteidigte später die Entscheidung. Unter anderem erklärte er: „(…) Der Fragebogen ist kein politisches Unterfangen, sondern der Versuch eines Verständnisses einer akademischen Zeitschrift, wenn auch sicherlich einer Zeitschrift mit einem bestimmten Profil. Daher kann ich mir unter bestimmten Umständen vorstellen, Personen mit einem noch inakzeptableren Profil um unseren Fragebogen zu bitten (…).“

Fünftens bot die Anarchistische Buchmesse in Prag Kontradikce Raum für die Verteilung der Zeitschrift mit dem oben genannten Inhalt und die Präsentation von Kontradikce war im Programm enthalten.

Sechstens bietet das Riot Over River Festival AF die Möglichkeit, Publikationen mit Texten von Dubovik und Kolchenko auf dem Festival zu verteilen. Und auch Kriegspropaganda zu präsentieren, die mit der Art und Weise übereinstimmt, wie Kolchenko und Dubovik die angebliche Legitimität des von ihnen begangenen Doxing rechtfertigten.

26https://afed.cz/text/8248/we-will-not-be-intimidated

27https://antimilitarismus.noblogs.org/post/2024/05/07/sweep-out-snitches-and-their-accomplices/

28https://anarchiste.org/stanovisko-cas-k-domacim-pomerum-v-hnuti/

(in tschechischer Sprache)

29https://www.crossclub.cz/cs/program/6985-riot-over-river-7-spolecne-proti-rasismu/

(in tschechischer Sprache)

30„Interview mit der Band Bezlad“: „Ja, anfangs bestand es hauptsächlich (aber nicht ausschließlich) aus Vertretern rechter Organisationen und Ultras. Aber das Bataillon begann zu wachsen und wurde mit der Zeit zu einem Regiment. Das liegt daran, dass viele Menschen bereit waren, sich ihm freiwillig anzuschließen, weil es gute Aufstiegschancen bot und als eine der effektivsten Einheiten seit der Befreiung und Verteidigung von Mariupol im Jahr 2014 durch das Bataillon und andere Einheiten der Streitkräfte der Ukraine galt. (…) In den letzten Jahren gab es keinerlei Grund für Vorwürfe, dass Neonazis in nennenswertem Umfang im Asowschen Regiment dienen. Was jedoch nicht ausschließt, dass einige dieser Personen in geringem Umfang vertreten sind.“

https://www.kidsandheroes.com/nikdy-nevite-kde-bude-dalsi-uder-a-kdo-po-nem-zemre-rika-mira-z-ukrajinske-kapely-bezlad/

(in tschechischer und englischer Sprache)

31https://x.com/jungewelt/status/1687434498235932672

32Ich gebe die Quelle dieses Zitats nicht preis. Es ist immer noch öffentlich zugänglich und ich könnte mich an der gefährlichen Doxxing beteiligen, indem ich den Link teile. Ich kann Personen, denen ich vertraue, auf Anfrage Informationen über die Quelle geben. Um die Identität dieser Person zu schützen, werden sensible Informationen wie Name und Adresse durch XXXX ersetzt.

33Aus der Erklärung „Why won’t AMI have a stall at the Anarchist Bookfair in Brno“:

„Die Anti-militaristische Initiative (AMI) hat zunächst eine Einladung zur Anarchistischen Buchmesse angenommen, die am 21. Oktober 2023 stattfindet. Mit dieser Erklärung wollen wir erklären, warum AMI doch nicht auf der Buchmesse vertreten sein wird. Später werden wir möglicherweise einige der hier erwähnten Punkte in einer tiefergehenden Analyse vertiefen, um einen breiteren Kontext zu beleuchten. Vom Organisationskollektiv der Buchmesse erhielten wir Informationen über die Aktivitäten einer bekannten Person des Verlags Utopia Libri. Diese Person teilte dem Organisationskollektiv mit, dass die Teilnahme des Verlags davon abhängig sei, dass AMI, der Geschichtskreis Zádruha und Lukáš Borl nicht an der Veranstaltung teilnehmen. Später äußerten auch Personen aus dem Umfeld der Anarchistischen Föderation eine ähnliche Forderung. Die Begründung für diese seltsame Forderung war, dass die genannten Initiativen antimilitaristische Ansichten vertreten, die in ihrer Form als beleidigend gegenüber ihren Freunden angesehen werden. Uns wurde noch nicht erklärt, warum antimilitaristische Positionen in einem anarchistischen Umfeld als Problem angesehen werden sollten. Niemand hat auch nur erklärt, welche konkreten Angriffe AMI begangen haben soll. Sicher, AMI veröffentlicht einen Kommentar und eine Analyse, in denen erklärt wird, warum es wichtig ist, sich von allen militaristischen Tendenzen zu distanzieren. AF hingegen veröffentlicht Texte, in denen sich die Föderation gegen Anhänger des Antimilitarismus abgrenzt. Wir sind nicht der Meinung, dass in einem solchen Kontext die Aktivitäten von AMI als Aggression angesehen werden sollten, während die Aktivitäten von AF an einem anderen Maßstab gemessen werden sollten.

ANTI-MILITARISTISCHE INITIATIVE (AMI) 18/10/2023“

https://antimilitarismus.noblogs.org/post/2023/10/18/proc-nebude-stanek-ami-na-anarchistickem-bookfairu-v-brne/

(in tschechischer Sprache)

34https://actionweek.noblogs.org/post/2024/05/10/akce-make-tattoo-not-war-je-zrusena-make-tattoo-not-war-is-canceled/

35https://antimilitarismus.noblogs.org/post/2024/05/22/we-refute-the-lies-being-spread-about-ami/ , A.d.Ü., auch auf unseren Blog Wir widerlegen die Lügen, die über AMI verbreitet werden

36https://maketattoonotwar.noblogs.org/post/2023/03/18/the-beneficial-tattoo-supported-the-solidarity-activities-of-the-ukrainian-assembly-project/

https://maketattoonotwar.noblogs.org/post/2022/09/21/your-new-tattoo-can-support-people-in-kharkiv/

37https://panopticon.noblogs.org/files/2024/08/scan_20240527130551-1.pdf

Foto des Flyers am Stand der Anarchistischen Föderation (unten rechts) auf der Prager Anarchistischen Buchmesse

https://antimilitarismus.noblogs.org/files/2024/08/442424204_980041333912539_6363351376744818930_n.jpg

38Diese Person setzte während der Auseinandersetzung eine improvisierte Waffe ein – ein Stahl-Fahrradschloss. Die Frage ist jedoch, wie viel davon wirklich improvisiert war und ob es sich eher um eine vorgeplante Aktion/Provokation handelte. Es ist schon seltsam, dass jemand die ganze Zeit auf einer Buchmesse mit einem aufgesetzten Fahrradhelm herumläuft. Und nach meinem ersten Schlag hat er plötzlich ein Fahrradschloss in der Hand (ohne vorher das Fahrrad anfassen zu müssen). Wirklich seltsam, oder? Allerdings bin ich mir bei der Antwort auf diese Frage nicht sicher.

]]> (Tristan Leoni) Die Ukraine und ihre Deserteure. Teil II: Krieg und Revolution? https://panopticon.blackblogs.org/2025/03/20/tristan-leoni-die-ukraine-und-ihre-deserteure-teil-ii-krieg-und-revolution/ Thu, 20 Mar 2025 12:17:10 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=6231 Continue reading ]]>

Gefunden auf ddt 21, die Übersetzung ist von uns. Teil Eins dieses Textes findest du auf unseren Blog.


Die Ukraine und ihre Deserteure.

Teil II: Krieg und Revolution?

Nichts, weder die Anerkennung eines begangenen Fehlers noch der Beitrag zur nationalen Verteidigung, kann den Menschen dazu zwingen, auf Freiheit zu verzichten. Die Vorstellung von Gefängnis und Kaserne ist heute alltäglich: Diese Monstrositäten überraschen dich nicht mehr. Die Unwürdigkeit liegt in der Gelassenheit derer, die die Schwierigkeit durch verschiedene moralische und physische Kapitulationen (Ehrlichkeit, Krankheit, Patriotismus) umgangen haben.“ Surrealistisches Flugblatt, Paris, 1925.

Ich liebe die 3. Angriffsbrigade!

Werbeplakat, Kiew, 2024.

Noch bevor sie in den Kampf gezogen ist, zählt die brandneue 155. mechanisierte Brigade der ukrainischen Armee, auch Anne-de-Kiev-Brigade genannt, mehr als 1.700 Deserteure bei einer Gesamtstärke von 4.500 Soldaten; die Hälfte dieser Männer wurde in Frankreich ausgebildet, wo sich bereits etwa fünfzig von ihnen in Luft aufgelöst hatten. Zum Zeitpunkt, als wir diese Zeilen schrieben, machte diese Angelegenheit Schlagzeilen in den Medien und enthüllte die Krise, in der sich diese Armee befindet1.

NEUES MOBILISIERUNGSGESETZ

Er dachte an seine besorgte Mutter

An die Ernte, die nicht eingebracht werden wird

An Mohnblumen, Klee und Ameisen

Gilles Servat, 1974.

Die Zahl der ukrainischen Freiwilligen nimmt ab, die Zahl der internationalen Freiwilligen steigt und der Einsatz von Söldnern ist sehr kostspielig2. Im Laufe des Jahres 2023 taucht die Idee einer Änderung der Wehrpflicht auf, die sowohl in der Rada als auch in der Armee heftige Debatten auslöst. Das bittere Scheitern der ukrainischen Sommeroffensive im Jahr 20233 reißt die Wunde noch weiter auf, und im Herbst fordert der Generalstab nicht weniger als die Mobilisierung von 500.000 zusätzlichen Männern… ein Projekt, das die ohnehin schon niedergeschlagene öffentliche Meinung bei weitem nicht zufriedenstellt. Erst am 11. April 2024, nach monatelangen parlamentarischen Auseinandersetzungen, wird mit 283 von 450 Abgeordneten eine Reihe von Reformen verabschiedet, die im folgenden Monat in Kraft treten.

In erster Linie wird das System zur Kontrolle und Repression der männlichen Bevölkerung verschärft. In diesem Bereich sprudeln die Ideen der Parlamentarier nur so hervor, aber die Ukraine muss ihre Verfassung und die internationalen Verträge ein wenig respektieren, um ihren demokratischen Anschein zu wahren; wenn die Sanktionen gegen Wehrdienstverweigerer und Deserteure verschärft werden, werden diese beispielsweise nicht ihr Bankkonto eingefroren sehen.

Die von der Militärverwaltung am meisten erwartete Maßnahme ist die Einrichtung einer zentralisierten digitalen Plattform, auf der Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren verpflichtet sind, sich innerhalb von 60 Tagen zu registrieren und verschiedene Informationen (persönliche Daten, Telefonnummer, Adresse, Beruf usw.) anzugeben; sie müssen auch im Besitz eines Dokuments sein, das ihre rechtmäßige Situation belegt, und dieses bei einer Kontrolle vorlegen. Die Einberufungen zum Wehrdienst, die bisher persönlich oder per Post zugestellt wurden, können nun auch in digitaler Form erfolgen. Innerhalb weniger Monate haben sich vier Millionen Männer registriert … aber genauso viele haben „vergessen“, dies zu tun4.

Die Bedingungen für eine Befreiung aus sozialen oder medizinischen Gründen wurden verschärft, und insbesondere zur Betrugsbekämpfung werden alle Männer, die nach dem 24. Februar 2022 für dienstuntauglich erklärt werden, neuen medizinischen Untersuchungen unterzogen – mit Ausnahme von Soldaten, die im Kampf verwundet wurden.

Ein zweiter Teil der Reformen zielt darauf ab, den Pool der einsatzfähigen Männer zu vergrößern. Die wichtigste Maßnahme ist die Herabsetzung des Einberufungsalters für Männer von 27 auf 25 Jahre, wodurch 445.000 potenzielle Rekruten zur Verfügung stehen; die Biden-Regierung hat sich stark dafür eingesetzt, dieses Alter auf 18 Jahre zu senken, aber wie wir im ersten Teil dieses Artikels gesehen haben, die Ukraine versucht, ihre Jugend, also ihre Zukunft, zu bewahren.

Der Militärdienst wird auch auf Bevölkerungsgruppen ausgedehnt, die bisher davon befreit waren, z. B. bestimmte Beamte (Polizisten sind natürlich weiterhin befreit) oder auch Priester aller Glaubensrichtungen (nicht unbedingt, um als Militärseelsorger eingesetzt zu werden).

Es werden auch Maßnahmen ergriffen, um die Hunderttausenden von Männern, die in die Europäische Union (EU) geflüchtet sind, zu motivieren, insbesondere die Aussetzung von konsularischen Dienstleistungen (z. B. Passverlängerung) für diejenigen, die sich weigern, sich auf der zentralen Plattform zu registrieren oder die nicht auf eine Vorladung reagieren.

Wenn Gefangene mit militärischer Erfahrung bereits im Februar 2022 aus der Haft entlassen worden waren, fördert die Reform die Rekrutierung anderer im Austausch gegen eine bedingte Freilassung, außer bei Häftlingen, die wegen Mordes, Sexualverbrechen oder Verletzung der Staatssicherheit verurteilt wurden; die Armee hofft, auf diese Weise 20.000 zusätzliche Männer zu rekrutieren.

Obwohl die Kontrolle der Bevölkerung zentralisiert ist, ist die Rekrutierung nun auf den Niveau jeder Einheit legal; einige von ihnen, insbesondere die besonders mächtigen und renommierten (wie die Azov-Brigade, die in die diskrete 12. Angriffsbrigade umbenannt wurde), starten bereits ihre eigenen 4X3-Plakatkampagnen in den Städten der Ukraine. Unter Anwendung moderner Verwaltungsmethoden und unter Rückgriff auf private Unternehmen, die auf Rekrutierung spezialisiert sind, wetteifern die reichsten Brigaden um Einfallsreichtum, um die wenigen freiwilligen Staatsbürger (insbesondere die kompetentesten Fachkräfte) anzuziehen, indem sie Praktika in Immersion, ergänzende spezifische Schulungen, vorteilhafte finanzielle Bedingungen usw. anbieten5.

Als Anreiz wird jedoch beschlossen, den freiwilligen Kämpfern einige Vorteile zu gewähren, zum Beispiel Beihilfen für den Kauf eines Fahrzeugs oder die Aufnahme eines Immobiliendarlehens. Dagegen wird die von der Zivilbevölkerung und den Soldaten mit Spannung erwartete Begrenzung der Dienstzeit auf 36 Monate schließlich vom Parlament aufgrund des Drucks des Generalstabs abgelehnt; dieser befürchtet, dass im Falle einer Annahme die erfahrensten Soldaten ab Februar 2025 zu Zehntausenden die Armee verlassen würden! Mit dem Eintritt in die Armee unterzeichnet ein Wehrpflichtiger, ob freiwillig oder nicht, einen unbefristeten Arbeitsvertrag, der nur vom Arbeitgeber gekündigt werden kann.

In den Monaten nach der Verabschiedung dieser Reformen begrüßt die Verwaltung die ersten Auswirkungen und versichert im Sommer, dass die Rekrutierungen auf 35.000 Männer pro Monat gestiegen sind; eine Zahl, die, wie angekündigt, sollte steigen, fällt aber im Herbst 2014 auf 20.000 Männer pro Monat6, obwohl der Generalstab dringend 160.000 zusätzliche Soldaten fordert (um nur 85 % des Bedarfs der Einheiten zu decken). Es liegt definitiv ein Mangel an Motivation in der Luft. Verärgert erklärt der ukrainische Premierminister im Dezember sogar, dass Personen, die ihre Steuern nicht zahlen, vorrangig eingezogen werden! Einige weisen ihn sofort darauf hin, dass er damit impliziert, dass die Teilnahme an der Verteidigung des Landes eine Strafe wäre…7

Abgesehen von der Ausrüstung (die nur schwer geliefert werden kann) wird diese Frage des Kanonenfutters nun vom Westen als zentral angesehen: Die NATO setzt sich nun dafür ein, dass das Wehrpflichtgesetz geändert wird und Männer ab dem Alter von 18 Jahren betrifft; laut dem Briten Patrick Turner, Leiter des NATO-Büros in Kiew (sic), „in unserer Partnerschaft […], hat die NATO sehr wichtige militärische Unterstützung und Ausbildung geleistet und wird dies auch weiterhin tun, aber natürlich braucht man Soldaten. Der ukrainische Teil dieser Vereinbarung besteht darin, Soldaten zu stellen“, und Schweigen wäre die verständliche Reaktion8.

DIE UKRAINISCHEN GEFLÜCHTETEN MÄNNER IN EUROPA

Die Kinder sind nach Deutschland oder anderswo abgehauen. Ich sehe sie nicht mehr, nur am Telefon.

Niemand an der Front?

Niemand, Gott sei Dank!

Anonym, 20249.

Weit weg zu fliehen ist in der Ukraine wirklich keine neue Idee. Aufgrund von Armut und Perspektivlosigkeit ist das Land seit Jahrzehnten ein Auswanderungsland, das von fast 52 Millionen Einwohnern im Jahr 1991 auf 43 Millionen im Jahr 2021 geschrumpft ist.

Wenn ab Februar 2022 einige tausend im Ausland lebende Männer freiwillig in die Ukraine zurückkehren, um sich an der Verteidigung des Landes zu beteiligen, sind sie die Ausnahme; und diejenigen, die sich für den Militärdienst anstellen, sind bei weitem nicht in der Mehrheit. Seit dem Einmarsch versuchen viele andere, das Land zu Fuß oder mit dem Auto zu verlassen, insbesondere in Richtung Polen, aber diejenigen, die im wehrfähigen Alter sind, werden systematisch zurückgewiesen, da der Staat vorsichtshalber jegliche männliche Auswanderung verboten hat. Hunderttausende Frauen und Kinder haben die Grenze überquert.10

Es ist nicht leicht zu wissen, wie viele Einwohner die Ukraine seit Beginn des Krieges verlassen haben – die Situationen, Organisationen und Berechnungsmethoden variieren –, aber es sind wahrscheinlich etwa sieben Millionen. Es ist nicht leicht, weil zum Beispiel Russland das erste Aufnahmeland für Flüchtlinge ist! Der große Nachbar ist in der Tat seit Jahren ein bevorzugtes Auswanderungsland für die russischsprachige Bevölkerung der Ukraine, insbesondere für ihre mittlere Klasse. Nach Angaben der UNO sind dort 1,2 Millionen Menschen geflüchtet, während Russland behauptet, (zusammen mit Belarus) 2,8 Millionen aufgenommen zu haben, größtenteils aus annektierten Gebieten, deren Bewohner nun die russische Staatsbürgerschaft erhalten können.

Hingegen sind 4,8 Millionen Ukrainer in europäische Länder gezogen, hauptsächlich nach Deutschland (1.200.000), Polen (etwa eine Million) und Tschechien (400.000); nur sehr wenige haben sich für Frankreich entschieden (70.000). Die EU, die zum ersten Mal in ihrer Geschichte mit einem hochintensiven Krieg vor ihrer Haustür und dem damit verbundenen massiven Zustrom von Flüchtlingen konfrontiert ist, führt mit einer beispiellosen Richtlinie einen vorübergehenden Schutz ein, damit sie ohne das aufwändige Asylverfahren aufgenommen werden können; Ende 2023 kommen 4,3 Millionen Ukrainer in den Genuss dieser Regelung11. Zu allen Zeiten, ob sie es wollen oder nicht, müssen Länder, deren Nachbar in den Krieg verwickelt ist, die Aufnahme von Menschen bewältigen, die vor den Kämpfen fliehen (Spanier in Frankreich, Palästinenser im Libanon, Karen in Thailand, Iraker in Jordanien, Syrer in der Türkei und im Libanon, Sudanesen im Tschad, Libanesen in Syrien, Syrer im Libanon usw.). die EU befindet sich in diesem Fall.12 Wenn sich ukrainische „ökonomische“ Migranten in den Strom einreihen, gibt es auch Männer, die nicht so sehr vor einer bombardierten Stadt fliehen, sondern vor der Gefahr, in die Armee eingezogen zu werden.

Was ist also mit den Männern im wehrfähigen Alter? Sie machen nach den am häufigsten genannten Zahlen nur 10 % der ukrainischen Flüchtlinge in Europa aus – die also zum allergrößten Teil Frauen und Kinder sind –, aber für einige könnten sie, abgesehen von Schwankungen je nach Aufnahmeland, tatsächlich 15 bis 22 % der Flüchtlinge ausmachen13. Im Februar 2023 zählte Deutschland 163.287 arbeitsfähige ukrainische Männer auf seinem Territorium (mehr als 13 % der Flüchtlinge)14, aber am Ende des Jahres erreichte der Anteil der Männer unter den Neuankömmlingen 21 %, gegenüber 7 % im Vorjahr15. In Österreich sollen sie im Sommer 2023 14 % der Flüchtlinge ausmachen16, in Polen 8 %17. In den EU-Ländern befinden sich also mehrere hunderttausend Männer im wehrfähigen Alter; es ist nicht bekannt, wie viele von ihnen eine gültige Genehmigung zur Ausreise aus ihrem Land besitzen oder ob diese legal erworben wurde; es ist jedoch wahrscheinlich, dass viele nicht mit den Militärbehörden in Einklang stehen, sei es als Wehrdienstverweigerer, als Totalverweigerer oder als Deserteur.

Ukrainische Migranten zur Rückkehr „nach Hause“ zwingen?

Im Sommer 2023, als sich die Schwierigkeiten und schlechten Nachrichten häufen, beginnt die Frage der Ukrainer im Ausland die Regierungen und die Rada zu beunruhigen. Wie kann man diese Hunderttausenden von Männern zwingen, in ihr Land zurückzukehren? Was können die Verbündeten Kiews tun, damit es diesen hervorragenden Vorrat an Kanonenfutter zurückgewinnt?

Es werden viele Ideen und Gerüchte verbreitet, insbesondere über einen Antrag auf Unterstützung durch Interpol – aber das würde bedeuten, dass Tausende internationale Haftbefehle ausgestellt und eine regelrechte Jagd auf Ukrainer in allen Ländern organisiert werden müsste. Die Kiewer Behörden beginnen daher mit der Lobbyarbeit bei ihren europäischen Amtskollegen.

Im April 2024 kündigten Litauen und Polen an, die Ausweisung ukrainischer Männer im wehrfähigen Alter, die auf ihrem Territorium als Flüchtlinge leben, zu erleichtern18; im September schlug der polnische Außenminister vor, dass die europäischen Länder ihnen keine Sozialleistungen mehr zahlen sollten. Warschau erwägt auch die Möglichkeit, die militärische Ausbildung der Ukrainer vor ihrer Ausweisung sicherzustellen.

Im Laufe des Jahres setzt sich jedoch in den EU-Ländern die Idee durch, die Aufnahmebedingungen für ukrainische männliche Flüchtlinge zu verschärfen und ihnen das Leben zu erschweren, um sie zur Rückkehr zu bewegen (was im Übrigen eine Quelle für Haushaltseinsparungen darstellt). In Ungarn wurde im August 2024 ein Gesetz in Kraft gesetzt, das den Zugang zu Sozialwohnungen nur noch für Vertriebene aus den Kampfgebieten (und nicht mehr aus der gesamten Ukraine) vorsieht. In Tschechien wurde im September die Zeit, in der ukrainische Flüchtlinge kostenlose Unterkunft erhalten können, auf 90 Tage verkürzt. Gleichzeitig hat Norwegen damit aufgehört, Ukrainern automatisch Asyl zu gewähren, eine Maßnahme, die mit einem Anstieg des Anteils von Männern im wehrfähigen Alter begründet wurde. Angesichts der geringen Zahl der aufgenommenen Flüchtlinge scheint Frankreich jedoch weniger betroffen zu sein, obwohl im Oktober in Meurthe-et-Moselle mehrere Dutzend ukrainische Flüchtlinge aufgefordert werden, ihre Unterkunft zu verlassen, weil die Präfektur ihnen mangelnde Integration vorwirft19. Zufall?

Wie man sieht, ist die Vorzugsbehandlung, die Ukrainer aufgrund ihrer Hautfarbe genießen sollen, zumindest fragwürdig und schwankt in Wirklichkeit in Abhängigkeit von ökonomischen und geopolitischen Faktoren. Die europäischen Staaten sind übrigens nicht alle auf der gleichen Wellenlänge, zumal es darum geht, die Menschenrechte nicht allzu offen mit Füßen zu treten; die gewaltsame Abschiebung von Migranten, damit sie direkt an die Front geschickt werden, wäre moralisch, medial und rechtlich kaum zu rechtfertigen. Als im April 2024 die ukrainischen Botschaften im Rahmen des neuen Wehrpflichtgesetzes die konsularischen Dienste für Männer einstellen, die nicht in Ordnung mit der Militärverwaltung sind, und sie damit de facto zu illegalen Einwanderern machen, zeichnen sich die deutschen Behörden dadurch aus, dass sie erklären, dass sie ihren Aufenthalt verlängern können, auch wenn die Gültigkeit ihres Reisepasses abläuft, vorausgesetzt, sie verfügen über ein anderes Identifikationsmittel. Es stimmt, dass die deutsche Unternehmensleitung es vorziehen würde, wenn sich diese Männer, die besonders qualifizierte und angesehene Arbeitskräfte sind, dauerhaft niederlassen und sich in die Gesellschaft integrieren würden, indem sie arbeiten, was sie angeblich zu wenig tun (kaum ein Viertel); es ist also nicht aus Menschenliebe, dass das Arbeitsministerium im Jahr 2024 mehr als sechs Milliarden Euro für die Finanzierung von Unterkünften, Sprachkursen und Sozialhilfe für sie vorgesehen hat20.

Aber auch hier gilt: Wenn die nach Europa geflüchteten Männer die Wahl haben zwischen einem prekären Leben, ja sogar einem Leben als Illegale, und der Einverleibung in eine Armee im Krieg und auf der Flucht, was werden sie dann mehrheitlich wählen?

DEN TOTALVERWEIGERERN UND DESERTEUREN HELFEN

„– Was würdest du antworten, wenn dich jemand einen Feigling nennen würde?

Ich habe kein Land, ich habe nur eine Familie.

Anonym, 2023.21

In der Ukraine

Ukrainische Totalverweigerer und Deserteure, die das Land verlassen oder gefälschte Dokumente erhalten möchten, wenden sich häufig gegen Bezahlung an korrupte Beamte oder illegale Netzwerke, die mit dem organisierten Verbrechen in Verbindung stehen. Auch Familien- oder Freundeskreise mobilisieren sich, um denjenigen zu helfen, die sich verstecken, aber es wird komplizierter, wenn es darum geht, den illegalen Grenzübertritt zu organisieren.

Wie bereits erwähnt, entwickeln sich in der Ukraine zahlreiche Hilfsnetzwerke, die darauf abzielen, den Patrouillen der Rekrutierungsagenten (TCC) zu entkommen, aber auch Telegram-Gruppen, in denen sich „Touristen“ und andere „Pilzsammler“22, die versuchen, der Armee oder dem Land zu entkommen, Ratschläge und Tipps austauschen. Wir haben keine Informationen über die Existenz von gemeinnützigen Netzwerken, die materiell bei der Flucht aus dem Land helfen; wenn es sie gibt, können sie natürlich nicht öffentlich für ihre Aktionen werben, da sie sonst Gefahr laufen, sofort staatliche Repressionen zu erleiden.

Was die gegenseitige Hilfe betrifft, so kann man zweifellos wenig von dem Milieu linker Militanter der Vorkriegszeit erwarten, das größtenteils in die Union sacrée zur Verteidigung des Vaterlandes hineingezogen wurde (diejenigen, die sie zu offen denunzierten, wurden wie pro-russische Agenten behandelt); dies gilt insbesondere für die „ehemaligen Anarchisten“ und andere Antifaschisten, die, wie wir gesehen haben, die Kriegsanstrengungen unterstützen und in ihren Äußerungen nur Feindseligkeit und Verachtung gegenüber denen zeigen, die gegen den Krieg Stellung beziehen23.

Zu denen, die Anarchisten und/oder Antimilitaristen geblieben sind oder geworden sind, gehört die Gruppe Assembly aus Charkow, die Flüchtlingen praktische und Deserteuren „theoretische“ Unterstützung bietet; sie stellt sich öffentlich wie folgt vor: „Assembly ist ein Online-Newsletter, und wenn wir Deserteuren auf irgendeine Weise helfen können, dann nur, indem wir ihren Handlungen eine politische Rechtfertigung geben, damit sie keine Gewissensbisse haben, sondern stolz auf ihre Weigerung sind, eine Seite zu wählen. […] Wir bemühen uns nur darum, eine Art ideologischer Kern für diejenigen zu werden, die nicht kämpfen wollen (nicht nur das Militär, sondern auch die Zivilisten), damit es nicht nur eine Manifestation ihres Selbsterhaltungstriebs ist, sondern eine bewusste Position. Nicht einverstanden, für die Villen und Yachten anderer zu töten und zu sterben“24. Es ist natürlich unmöglich, konkretere Aktionen zu fordern, ohne den Zorn der Justiz auf sich zu ziehen, zumal Gruppen dieser Art von den ukrainischen Behörden besonders überwacht werden.

Zu erwähnen ist auch die Existenz einer sehr kleinen Gruppe, der Ukrainischen Friedensbewegung, die Mitglied der War Resisters‘ International ist und versucht, den vom Staat verfolgten Kriegsdienstverweigerern zu helfen25. Ihr von Liebe, Pazifismus und Gewaltlosigkeit geprägter Diskurs mag zwar als etwas naiv angesehen werden, aber ihr Vorsitzender, Yurii Sheliazhenko, wird seit mehreren Jahren von rechtsextremen Militanten und der Justiz schikaniert, weil er zu einem Waffenstillstand und Friedensgesprächen aufgerufen hat, Äußerungen, die in der Ukraine als pro-russische Propaganda angesehen werden…26 Zumindest bis Donald Trumps Sieg sichergestellt ist und ab Juli 2024 diskrete Verhandlungsprozesse wieder in Gang gesetzt werden, auch im Hinblick auf „Frieden gegen Territorium“27.

In Westeuropa

Ukrainische Deserteure in westlichen Ländern? In Frankreich?

Man sieht sie nicht … aber dennoch beschäftigen sich einige NGOs, staatliche Stellen oder Anwälte seit den ersten Kriegstagen mit ihnen. So berichtet die UNO von „zahlreichen Meldungen von Staatsbürgern, die von der ukrainischen Armee an den Grenzen zu europäischen Nachbarländern zurückgewiesen wurden“ und fordert Kiew auf, „Verständnis für Männer zu zeigen, die die Ukraine verlassen wollen28. Bereits im April 2022 veröffentlichte die Schweizerische Flüchtlingshilfe im Internet einen 40-seitigen Bericht mit dem Titel „Ukraine: Militärdienst und Sanktionen bei Totalverweigerung oder Desertion29. Im November 2022 veröffentlicht das OFPRA seinerseits im Rahmen der Dokumentation, die für die Prüfung der Anträge von Asylbewerbern verwendet wird, eine Mitteilung mit dem Titel „Ukraine: Die allgemeine Mobilmachung vom Februar 2022“, in der die Risiken für Wehrdienstverweigerer und Deserteure dargelegt werden.

Man sieht sie nicht … doch ihre Existenz ist seit Kriegsbeginn eine Selbstverständlichkeit. Anfang Mai 2022 schrieben wir, ohne über Informationen aus erster Hand zu verfügen:

„Nicht alle Ukrainer schienen sich in der Armee oder der Territorialverteidigung (TV) verpflichten zu wollen. Es gibt in der Tat Totalverweigerer und Deserteure; einige versuchen, sich zu verstecken, gefälschte Papiere zu bekommen, ins Ausland zu fliehen; es gibt also nicht umsonst Kontrollen an der Grenze für die Ausreise von Flüchtlingen. Andere melden sich vorsichtshalber in ihrer örtlichen TV an, im Hinterland, um nicht zwangsweise in eine Einheit eingezogen zu werden, die in den Kampf ziehen würde. Zu ihrem Unglück ermöglichen die Lieferungen der NATO (zum Beispiel Zehntausende von Helmen und kugelsicheren Westen) die Ausrüstung einer immer mehr neue wachsende Anzahl an Rekruten (und Mitglieder der TV)die ausgerüstet und an die gefürchtete Ostfront geschickt werden … daraus ergibt sich automatisch eine wachsende Zahl an Wehrdienstverweigerern und vielleicht sogar die ersten Demonstrationen gegen die Wehrpflicht (in Khoust, im Westen des Landes).“

Man sieht sie nicht … aber Le Monde widmet ihnen dennoch einen Artikel im August 202230.

Man sieht sie nicht … obwohl es in Europa tatsächlich Hunderttausende von ihnen gibt, man ihnen in Bistros oder öffentlichen Verkehrsmitteln begegnet (also nicht nur am Steuer großer deutscher Limousinen).

Man sieht sie nicht … weil sie kein Interesse daran haben, Aufmerksamkeit zu erregen, während die Ukraine die EU um ihre Rückführung bittet.

Man sieht sie nicht … in militanten Kreisen, oder nur sehr wenige, oder sehr spät, weil man es lieber nicht sieht, weil ihre Existenz nicht mit der vorherrschenden politischen Moral vereinbar ist (an alternativen Orten wie der Nationalversammlung), weil „das Auge nur das sieht, was der Geist bereit ist zu verstehen“. Mit der medialen Dampfwalze, die die bedingungslose Verteidigung der Ukraine gegenüber Russland predigt und Putin als den x-ten neuen Hitler darstellt, beklagt man den „Münchener Geist“ (ohne genau zu wissen, was das ist) und man ist sich einig, dass wir kämpfen müssen, um Europa, unsere Werte, unsere Freiheit, unsere Ruhe, unsere Demokratie und tutti quanti zu verteidigen, man ist sich einig, dass die Ukrainer kämpfen müssen31.

Während die bourgeoise Presse seit der russischen Invasion meist die Pressemitteilungen des französischen Außenministeriums kopiert und einfügt, betont die militante Mainstream-Presse den (zwangsläufig) heldenhaften Widerstand des ukrainischen „Volkes“, seine angebliche Selbstorganisation, die im Wesentlichen subversiv sei32, oder die „libertären“ Freiwilligen in der Armee. So verfassen ehrwürdige anarchistische Organisationen antimilitaristische Kommuniqués von großem Klassizismus, die zur bedingungslosen Unterstützung nur der in Russland aufständischen und desertierten Soldaten aufrufen und ihre ukrainischen Homologen einfach ausblenden! Intern ist nicht jeder damit einverstanden, aber es geht darum, bestimmte osteuropäische Gefährten mit atlantistischer Gesinnung nicht zu verärgern. Einige lassen sich nicht täuschen, insbesondere in Italien, oder unter den individualistischen Anarchisten, einigen Anarchosyndikalisten oder kleinen kommunistischen Gruppen, insbesondere den Bordigisten, die internationalistische Positionen beibehalten. Mit der Zeit wird es jedoch schwierig, die Augen vor der Realität zu verschließen. Obwohl die Texte der Gruppe Assembly nach und nach zur Referenz für die Behandlung des Themas werden, wird die grausame Realität manchmal immer noch zugunsten bequemer Gewissheiten beiseitegeschoben. Als im Winter 2023-2024 eines der Führungsmitglieder des Solidarity Collective, der ukrainischen Organisation, die „anarchistische“ Soldaten unterstützt, eine neue Tournee in Westeuropa unternimmt, um Spenden zu sammeln, gibt es noch einige alternative Orte, an denen sie empfangen werden kann, insbesondere in Frankreich, oder gefällige militante Medien, die ihr eine Plattform bieten.

Aber was kann man konkret tun? Man kann sich natürlich an eine mehr oder weniger karitative NGO wenden, die ukrainischen Flüchtlingen wie auch anderen Menschen hilft. Doch obwohl sich militante Freiwillige im Allgemeinen wenig Gedanken über die Gründe machen, die Migranten dazu bewegen, nach Europa zu kommen (die Lust auf Mobilität und cooles Nomadentum spielt dabei leider keine große Rolle), so fällt hier doch auf, dass diese ukrainischen Männer nicht ganz echte Migranten sind, keine guten Migranten… Einige verstehen im Übrigen nicht, was diese jungen Männer hier tun, warum sie nicht in „ihrem Land“ sind, wo sie doch das Glück haben, den Totalitarismus bekämpfen zu können. Das ist gelinde gesagt „unangenehm“.

Was die alternativen Orte oder Gruppen betrifft, die sich mehr oder weniger direkt für die Unterstützung der ukrainischen Armee ausgesprochen haben, ist es unwahrscheinlich, dass ein Deserteur auf der Suche nach Hilfe an ihre Tür klopft. Die öffentliche Meinung ist immerhin ein Hinweis darauf, was man tun könnte, auch ohne es von den Dächern zu rufen.33

Zu den Ausnahmen gehören neben den oben erwähnten anarchistischen und kommunistischen Gruppen und Publikationen, die grundsätzlich gegen den Krieg sind, auch die Arbeit der Initiative Olga Taratuta. Dieses Kollektiv wurde im Februar 2022 in Frankreich gegründet und hat sich zum Ziel gesetzt, russischen, belarussischen und ukrainischen Flüchtlingen und Deserteuren, die vor dem Krieg fliehen, zu helfen, Anarchisten in der Ukraine, die Widerstand leisten, ohne ihre Grundprinzipien aufzugeben (insbesondere die Gruppe Assembly), moralische, politische und materielle Unterstützung zu leisten, und als Resonanzboden für den Antikriegswiderstand in Russland und Belarus zu dienen. Ihre Tätigkeit beschreibt sie wie folgt:

In einem Jahr ist unsere Bilanz angesichts des großen Bedarfs sicherlich sehr mager. Wir haben uns an der Aufnahme und Unterstützung mehrerer ukrainischer Flüchtlingsfamilien beteiligt (Hilfe bei absurden Verwaltungsangelegenheiten, Wohnungssuche, materielle Hilfe insbesondere für Kleidung, Bereitstellung eines gemeinsamen Gemüsegartens usw.). Wir helfen weiterhin – zusammen mit anderen – jungen Russen, die vor der Mobilmachung geflohen sind. Wir haben versucht, die Bevölkerung und den zivilen Widerstand in der Ukraine, Russland und Belarus über die tatsächliche Situation auf dem Laufenden zu halten, indem wir Artikel direkt aus den lokalen Sprachen übersetzt und auf unserer Website veröffentlicht haben.“34

Für diejenigen, die sich fragen, was im Westen getan werden kann, macht die Assembly-Gruppe aus Charkow folgende Vorschläge35:

– Unterstützung der ukrainischen Kriegsdienstverweigerer, die sich mobilisieren.

– Druck auf die ukrainischen Botschaften und Konsulate ausüben.

– Die Frage der Kriegsverweigerung in den Medien thematisieren.

In diesem Sinne wurden im Dezember 2024 in Paris, Köln und Berlin von russischen und ukrainischen Flüchtlingen Demonstrationen organisiert, um auf diejenigen aufmerksam zu machen, die sich weigern, an diesem Krieg teilzunehmen.

Die Unterstützung der Deserteure kann auch in viel radikalere Aktionen einbezogen werden, die nichts weniger als die Kriegsmaschinerie zum Ziel haben. Für Kiew ist das Gebiet der EU-NATO-Staaten das eigentliche hintere Ende der Front, wo just in time und über eine Vielzahl von Flüssen Ausrüstung und Munition gelagert und verteilt, Panzer repariert und gewartet, Soldaten ausgebildet und gepflegt, nachrichtendienstliche Tätigkeiten durchgeführt werden usw. Zu Beginn des Krieges kam es in Griechenland und Italien zu Blockadeaktionen von Gewerkschaften/Syndikate gegen den Transport von NATO-Ausrüstung in die Ukraine (ebenso wie 2024 gegen Munition nach Israel). In Deutschland kam es zu Sabotageakten (und Verdachtsmomenten auf Sabotage) gegen den militärisch-industriellen Komplex, oft mit ökologischen Forderungen, manchmal aber auch mit revolutionären Forderungen gegen Krieg und Kapitalismus36. In Frankreich wurde in der Nacht vom 3. auf den 4. Oktober 2024 in Toulouse eine Eisenbahnstrecke sabotiert, „gegen die Rüstungsindustrie und den Waffentransport “ und „in Solidarität mit allen Deserteuren, Kriegsgegnern und Kriegsdienstverweigerern37.

Alle Kriege sind widerlich38, aber die Deserteure zu unterstützen, es zu versuchen, unabhängig von ihrer Nationalität, ist nicht (nur) eine moralische Notwendigkeit. Es geht um große Worte, die überholt erscheinen, wie Internationalismus oder revolutionärer Defätismus, die nichts weniger als mit dem Klassenkampf zu tun haben, denn „die Banditen, die Kriege verursachen, sterben nie, nur die Unschuldigen werden getötet“, also hauptsächlich die Proletarier. Auch wenn es derzeit unmöglich ist, die genaue Soziologie der ukrainischen Kriegsdienstverweigerer und Deserteure zu kennen, ist es offensichtlich, dass, wenn Geld das wichtigste Mittel ist, um der Wehrpflicht zu entgehen, die Proletarier, abgesehen davon, dass sie den größten Teil der Bevölkerung ausmachen, massenhaft an die Front geschickt werden (auch wenn, wie wir gesehen haben, Solidarität innerhalb einer Familie oder unter Freunden möglich ist). Auch Angehörige der Mittelklasse sind von diesem Phänomen betroffen, allerdings auf andere Weise, da sie durch ihre Beziehungen die Mobilisierung vermeiden können (dies gilt für eine ganze patriotische Militärelite aus Intellektuellen, Influencern, Journalisten oder Mitgliedern von NGOs), ihre Ausbildung sie in Einheiten lenkt, die weniger gefährlich sind als die Infanterie (Cyberkrieg, Nachrichtendienst, Medizin) und ihr Einkommen erleichtert den Rückgriff auf Korruption. Le Figaro berichtet beispielsweise über den Fall eines 22-jährigen Informatikers aus der Stadt Lviv, der im Oktober 2022 4.000 Euro im Monat verdiente, also das Zehnfache des durchschnittlichen ukrainischen Gehalts, und gezwungen war, zu Hause zu bleiben: „Ich möchte mein Leben nicht für das Land geben. Meine Pläne waren, wegzugehen, um die Welt zu sehen, nicht hier zu sterben“39. Die Mittelklasse ist daher wahrscheinlich unter denen überrepräsentiert, die Korruption einsetzen, um falsche Ausnahmen zu erhalten (durch Geld oder Beziehungen), und die Proletarier (und Bauern) sind unter den Deserteuren überrepräsentiert, weil sie keine Lösung gefunden haben, um der Einberufung zu entgehen40.

WIRD DER PANZER DES STAATES AUF DER KRIEGSSPUR SCHLEUDERN?

Wenn Hass, Kriegslügen und die Instinkte der unter Helm und Maske entfesselten Bestie das menschliche Gesicht erneut verzerren, ist es unsere Pflicht, uns dem nicht zu beugen. Nicht zu erliegen.

In den schlimmsten Tagen nur das wesentliche Anliegen zu haben, zu retten, was jeder Mensch mit seinen eigenen Mitteln an Intelligenz, Würde, Wahrheit und Solidarität der Menschen retten kann… Den Kapitulationen des Denkens, den Brudermorden, der großen Verschwörung der Katastrophenprofiteure eine ruhige Ablehnung entgegenzusetzen. Diese feste Entschlossenheit, wenn sie nicht ausreicht, um uns vor dem Kanon zu retten, befreit uns zumindest von der Komplizenschaft mit den Kriegsherren.“ Victor Serge, 1938.

Der ukrainische Staat stand kurz vor dem Zusammenbruch. Das war im Februar 2022. Von einem großen patriotischen Elan getragen, half ein Teil der Bevölkerung durch eine Form der Selbstorganisation, die Mängel der Institutionen auszugleichen. Eine Krücke des Staates unter dem Deckmantel der „Volksmobilisierung“, die damals von alternativen Kreisen in Europa besonders gepriesen wurde41.

Zu Beginn des Jahres 2025 besteht möglicherweise zum zweiten Mal die Gefahr, dass der ukrainische Staat zusammenbricht. Die Ökonomie und die Armee des Landes werden von den Infusionen der Vereinigten Staaten (deren Fortbestand seit der Wahl von Donald Trump ungewiss ist) und der EU-Mitglieder (die am Ende ihrer Kräfte sind) am Leben erhalten – Partner, die sich wahrscheinlich nicht weiter engagieren werden.

Zum Zeitpunkt, an dem wir diese Zeilen schreiben, bricht die Front an mehreren Stellen angesichts der russischen Angriffe zusammen, ukrainische Einheiten geben Dörfer fast unversehrt auf, die sie vor einem Jahr wochen- oder monatelang wütend verteidigt hätten. Die Moral ist am Boden, es mangelt an Munition und an Männern, und selbst die finanzielle Unterstützung der Armee durch die Bevölkerung ist rückläufig.

Das neue Wehrpflichtgesetz vom April 2024 löst den Mangel an Männern nicht, sondern verstärkt den Unmut der Bevölkerung und die Konflikte mit einem Staat, der seit 2022 das Arbeitsgesetz ausgesetzt und alles, was sich demontieren und privatisieren ließ, privatisiert hat42. Sogar soziale Bewegungen tauchen wieder auf: Im Herbst 2023 finden Demonstrationen gegen die Lebensbedingungen (Entschädigungen, fehlende Heizung und Strom) und die Inkompetenz der Behörden, im Mai 2024 legten die Fernfahrer gegen die Intensivierung der Wehrpflicht die Arbeit nieder und im September und Oktober streikten die Arbeiter der Wasserversorgungsbetriebe in der Region Lissitschansk oder auch die Fahrradkuriere in Kiew wegen Lohnfragen.43

Die Wahrscheinlichkeit, dass die Front zusammenbricht und die Einheiten vollständig auseinanderfallen, ist zwar gering, aber vorhanden. Was würde dann passieren? Was wäre, wenn die russischen Truppen den Dnjepr erreichen würden? (Sie sind weit davon entfernt.) Was wäre, wenn sie durch eine erneute Offensive aus Belarus die Hauptstadt erneut bedrohen würden?

Aufgrund der anfänglichen Schwierigkeiten der russischen Armee fantasierten einige im Jahr 2022 von Meutereien, die nicht weniger als den Sturz Putins zur Folge hätten; doch wenn heute ein Staat mit dem Russland vom Februar 1917 verglichen werden muss, dann eher die Ukraine, was die militärische Lage und die Unzufriedenheit der Bevölkerung angeht. Könnten also Proletarier, die in Massen von der Front fliehen und dabei ihre Waffen behalten, einen Aufstand der Bevölkerung auslösen? Vom Kampf verhärtete Proletarier? J.R.R. Tolkien sah nur einen positiven Aspekt im Krieg: „Die zunehmende Gewohnheit unzufriedener Menschen, Fabriken und Kraftwerke in die Luft zu sprengen; ich hoffe, dass dies, jetzt, da es als Akt des ‚Patriotismus‘ gefördert wird, eine Gewohnheit bleiben kann!“ Doch wie er zu Recht bemerkte, „wird es in keiner Weise von Vorteil sein, wenn es nicht universell ist.“44.

Daher könnte sich die Situation, mehr als zu einem revolutionären Umbruch, viel banaler zu einem traurigen Bürgerkrieg entwickeln. Wenn der Staat nun zusammenbricht, wird es keinen zweiten patriotischen Impuls geben – denn die Patrioten sind tot oder müde –, der Staat erscheint bereits als das, was er ist, ein Gegner, autoritär, undemokratisch, gewalttätig, korrupt, inkompetent usw. Von nun an wird die Selbstorganisation im Krisenfall weniger den klassenübergreifenden Aspekt vom April 2022 haben, sondern sich vor allem de facto gegen den Staat aufbauen und daher zerschlagen werden. Es ist übrigens sehr wahrscheinlich, dass der ukrainische Staat in den Vororten von Kiew Einheiten in Reserve hält, die in der Lage sind, die Ordnung in der Hauptstadt wiederherzustellen (Einheiten mit NATO-kompatiblen Offizieren, die dem Staat, aber nicht unbedingt dem Präsidenten treu sind), eine Aktion, die die russische Armee sicherlich nicht behindern würde45.

Nach dem mehr oder weniger freiwilligen/gewaltsamen Rücktritt von Zelinsky beispielsweise würde die Einsetzung einer Regierung der nationalen Einheit, die integrativer und demokratischer wirkt, eine interessante politische Ablenkung bieten, um die Unzufriedenheit der Bevölkerung zu besänftigen. Im Falle einer völligen Instabilität hätten jedoch nur die am besten organisierten politischen Kräfte mit militärischen Einheiten (d. h. rechtsextreme Gruppen oder von Oligarchen finanzierte Gruppen) den Willen und die Fähigkeit, die Ordnung wiederherzustellen, um die Ukraine zu „retten“ (der polnische Nachbar würde die Machtübernahme durch Ultranationalisten wahrscheinlich nur mäßig begrüßen). Falls nötig, könnte sogar der Einsatz von NATO-Truppen unter dem Deckmantel der „Friedenssicherung“ oder einer humanitären Operation im Westen des Landes erfolgen. Das Aufkommen einer Kommune in Kiew oder der Stadt Lwiw ist daher unwahrscheinlich, ihre sozialen Errungenschaften wären wahrscheinlich eher gering und ihre Lebensdauer sicherlich sehr kurz.

Die Wahl von Donald Trump kommt genau zum richtigen Zeitpunkt, um solche Szenarien zu vermeiden, wenn er wenigstens eines seiner Wahlversprechen einhält, nämlich den Krieg in der Ukraine zu beenden.

Das endgültige Friedensabkommen wird unweigerlich territoriale Zugeständnisse an Russland beinhalten, die vor dem Krieg durch einfache Verhandlungen hätten erreicht werden können (wie die Trennung zwischen Tschechien und der Slowakei im Jahr 1992) und die auch bei den russisch-ukrainischen Verhandlungen in der Türkei im März-April 2022 in Betracht gezogen wurden, aber von den Angelsachsen beendet wurden …46 Da der Westen so viel in die Ukraine investiert hat und dort so große Projektpläne hatte, wäre es bedauerlich gewesen, die Region der russischen Wirtschaftssphäre zu überlassen; außerdem versprach der Krieg für bestimmte Fraktionen des amerikanischen Kapitalismus solche Gewinne, dass es schade gewesen wäre, sich dessen zu berauben47. Aber die Zeit vergeht und jetzt, insbesondere für andere Fraktionen, scheinen die Dividenden des Friedens höher zu sein als die einer Fortsetzung des Krieges. Das Business as usual muss wieder aufgenommen und der Wiederaufbau in Angriff genommen werden. Am wahrscheinlichsten ist, dass in mehr oder weniger kurzer Zeit ein Waffenstillstand erklärt und eine Interventionsmacht eingesetzt wird. Während es für den amerikanischen Präsidenten relativ einfach sein dürfte, den Ukrainern einen Strich durch die Rechnung zu machen, wird es zweifellos notwendig sein, mit Zugeständnissen und Drohungen subtiler, ja sogar brutaler umzugehen, um die Russen, die sich derzeit in einer Offensivdynamik befinden und ihre minimalen Kriegsziele noch nicht erreicht haben, aufzuhalten, mit dem Risiko, dass dies zu einem Abgleiten führt.48

Trotz der Vorteile, die der Ausnahmezustand der Ukraine bringt (Aussetzung des Arbeitsgesetzes, Ausreiseverbot für Männer), muss das Kriegsrecht aufgehoben und ein Anschein von Rechtsstaatlichkeit hergestellt werden. Der tägliche Verlauf des Klassenkampfes kann wieder aufgenommen werden; seine Form wird jedoch von den Bedingungen des Wiederaufbaus, der „Hilfen“ und der Investitionen des Westens abhängen – im Jahr 2024 schätzte die Weltbank den Bedarf des Landes für das nächste Jahrzehnt auf 500 Milliarden Euro. In diesem vom Krieg zerstörten Land, das durch den Ausverkauf an angelsächsische Firmen verwüstet wurde , wo die Verarmung einen wachsenden Teil der Bevölkerung betrifft, wird das Konfliktniveau zweifellos hoch sein, zumal es nur wenige Arbeitskräfte geben wird und ein Teil von ihnen monatelang einem intensiven Prozess der Brutalisierung ausgesetzt war (der vom Historiker George L. Mosse in Bezug auf den Ersten Weltkrieg beschrieben wurde). Die Gewerkschaften/Syndikate, die durch ihre Zusammenarbeit mit der Union sacrée in Verruf geraten sind, werden zweifellos wenig dazu beitragen können, die Arbeiter zu besänftigen; wird es ausreichen, die für dieses Desaster verantwortlichen Figuren der herrschenden Klasse zu verdrängen (auf politische und gerichtliche Weise und nicht durch Aufruhr)?

Die Wut der Bevölkerung wird sich eher in einer massiven Abwanderung in die EU entladen, insbesondere was Männer aus der Mittelklasse und besser ausgebildete Arbeiter betrifft, die von den europäischen Chefs sehr geschätzt werden.

Aus demografischer Sicht ist die Situation der Ukraine katastrophal, ihre Zukunft besonders düster. Ihre vor dem Krieg schrumpfende und alternde Bevölkerung leidet unter den Kämpfen (etwa 100.000 Tote, 400.000 Schwerverletzte und Zehntausende Amputierte49). Seit Kriegsbeginn soll sie laut Regierung 8 Millionen Einwohner verloren haben und laut UNO 10 Millionen, womit sie auf 35 oder 33 Millionen Ukrainer geschrumpft wäre. Eine Blutung, die unterschätzt werden könnte und sich verstärken wird, sobald der Frieden wieder einkehrt; die meisten in Europa oder Nordamerika lebenden Flüchtlinge werden nicht in die Ukraine zurückkehren und stattdessen von ihren übrigen Familienangehörigen begleitet werden. Um das Bild zu vervollständigen, muss darauf hingewiesen werden, dass das Land im Jahr 2023 die niedrigste Geburtenrate seiner Geschichte verzeichnete; die Fruchtbarkeit, die 2021 bei 1,2 Kindern pro Frau lag, fiel 2022 auf 0,9 und 2023 auf 0,750.

Dieser Arbeitskräftemangel beunruhigt bereits jetzt die lokalen, deutschen, angelsächsischen und sogar französischen Kapitalisten51, die gezwungen sein werden, sehr viele Proletarier aus ärmeren Gebieten zu importieren, um das Land wieder aufzubauen und die Fabriken, die sie dort errichten werden, zu betreiben – die an Russland angeschlossenen Gebiete werden mit dem gleichen Problem konfrontiert sein. Das Spiel ist es offensichtlich wert. Larry Fink, CEO von BlackRock, der größten Finanzmacht der Welt, bestätigte dies: „Diejenigen, die wirklich an ein kapitalistisches System glauben, werden die Ukraine mit Kapital überschwemmen […]. Wenn wir die Ukraine wieder aufbauen wollen, kann sie zu einem Leuchtturm für den Rest der Welt werden, der die Macht des Kapitalismus verkörpert“52.

UND DER KRIEG HAT GERADE BEGONNEN…

Ich gab Brot für die Vögel

Ich sammelte den Hund ein, der am Bach trank

Jean Yanne, 1957.

Man kann versuchen, sich zu beruhigen, versuchen, die positiven Seiten der Dinge zu sehen. Der Krieg in der Ukraine wird wahrscheinlich im Jahr 2025 enden. Wenn dies der Fall ist, wird es letztlich nur ein Randkonflikt gewesen sein53 – eingebettet in einen innerimperialistischen Konflikt von globalem Ausmaß, dessen Karten gerade neu verteilt werden –, ein Konflikt von relativ begrenztem Ausmaß, wenn man ihn mit dem vergleichen, was der schwelende Dritte Weltkrieg sein könnte, auf den sich viele Länder vorbereiten, jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten. Ein „kleiner“ Konflikt, der sich in Zukunft also durchaus häufen könnte.

Während Analysten und Militärs seit Jahren Alarm schlagen und (zumindest seit 2017) die europäischen Länder als eine Herde von Pflanzenfressern in einer Welt von Fleischfressern beschreiben, macht die russische Invasion von 2022 einigen ihre Verwundbarkeit bewusst. Programme zur Modernisierung und vor allem zur Massenmobilisierung ihrer Armeen wurden gestartet, allen voran in Polen, aber der Kauf von (sehr oft amerikanischem) Material ist nicht alles; das Ausmaß der ukrainischen Verluste zeigt, dass die Wehrpflicht ein wesentliches Thema in einem „echten“ Krieg ist – man entdeckt wieder, dass Militärtechnologie nichts ohne Infanteristen ist, dass Kapital nichts ohne Arbeit ist54. Nach der Annexion der Krim war ein Schaudern zu spüren: Litauen führt ab 2015 die Wehrpflicht wieder ein (sie wurde 2008 abgeschafft), Norwegen, wo sie auf Freiwilligkeit beruht, weitet sie auf Frauen aus; Schweden führt sie 2018 ebenfalls selektiv für Männer und Frauen wieder ein (sie war 2010 abgeschafft worden).

Wenn Lettland ab Juli 2022 den Wehrdienst wieder einführt (der 2007 abgeschafft wurde), müssen wir bis 2024 warten, um neue Entwicklungen zu beobachten: Im März verlängert Dänemark die Dauer seiner Wehrpflicht von vier auf elf Monate und weitet sie auf Frauen aus; In Deutschland wird ein neues Modell des Militärdienstes (seit 2011 ausgesetzt) auf freiwilliger Basis mit einer obligatorischen Erfassung potenzieller männlicher Rekruten geprüft; im Vereinigten Königreich wird ebenfalls über die Wiedereinführung der Wehrpflicht (1960 abgeschafft) nachgedacht, während in Litauen eine Reform ausgearbeitet wird, die Staatsbürger betreffen könnte, die im Ausland leben und studieren.

Frankreich, das am Rande des Bankrotts steht, hat überhaupt nicht die Mittel, sich diesem makabren Tanz anzuschließen; sein Verteidigungsbudget, selbst mit der durch das Militärprogrammgesetz von 2023 diktierten Steigerung, ist nur ein Notbehelf, der kaum das Niveau der bestehenden Streitkräfte aufrechterhält.

Die Verteidigung der Interessen des westeuropäischen Kapitalismus geschieht nun, wie wir gesehen haben, im Namen der Verteidigung demokratischer Werte, in denen sich ein großer Teil der Linken und der Umweltschützer verfangen hat, ebenso wie oft Kreise mit revolutionären Ansprüchen. Es braucht immer gute Vorwände; Rosa Luxemburg betonte dies bereits 1915: „Seitdem die sogenannte öffentliche Meinung bei den Berechnungen der Regierungen eine Rolle spielt, gab es nie einen Krieg, in dem nicht jede kriegführende Partei aus schwerem Herzen das Schwert aus der Scheide gezogen hätte, nur um das Vaterland und ihre eigene gerechte Sache gegen die unwürdige Invasion des Gegners zu verteidigen? Diese Legende gehört ebenso zur Kriegskunst wie Schießpulver und Blei. Das Spiel ist uralt. Das einzige Neue ist, dass eine sozialdemokratische Partei daran teilgenommen hat.

Es ist nicht klar, wie in Zukunft eine Reihe sogenannter linker Organisationen, die einen militärischen Widerstand gegen die totalitäre Bedrohung durch Russland befürworten, und andere, die Waffenlieferungen an die Ukraine befürworten, sich einer Erhöhung des französischen Militärbudgets, dem Einsatz von Truppen und Kampfflugzeugen in Osteuropa55 oder sogar der (sehr unwahrscheinlichen) Wiedereinführung des Militärdienstes widersetzen könnten, wenn es darum geht, Demokratie und Frieden zu verteidigen… Sind die deutschen militanten Umweltschützer nicht die kriegslustigsten Europäer? Es scheint, als seien nun nur noch die Ratingagenturen in der Lage, eine Erhöhung der Kriegsausgaben zu verhindern.

Zu einem Zeitpunkt, da sie sich theoretisch als nützlich erweisen könnten, befinden sich die Friedens- und Antikriegsbewegungen also auf einem Tiefpunkt. Die Bevölkerung erträgt ihrerseits (vorerst) ohne viel Aufhebens die ökonomischen Folgen der „strategischen“ Entscheidungen ihrer Regierenden (Krise, Inflation) und scheint durch die offizielle Darstellung der Ereignisse, den Kampf zwischen Gut und Böse, betäubt zu sein … eine Rhetorik, auf die Moskau gleichermaßen zurückgreift, um seine Bevölkerung in einem neuen Großen Vaterländischen Krieg gegen einen „kollektiven Westen“ , der als im Niedergang begriffen beschrieben wird.

Man erinnert sich, dass die Volksfront 1936 mit diesem antifaschistischen Diskurs das Proletariat entwaffnete, nachdem sie es wieder an die Arbeit geschickt hatte, es dazu brachte, seine Klasseninteressen aufzugeben, und es in eine neue Union sacrée einband, was den französischen Rüstungsindustriellen den größten Gewinn einbrachte.

In diesem zweiten Viertel des 21. Jahrhunderts wird der französische Staat bereits alle Hände voll zu tun haben, seine Armee wieder auf Vordermann zu bringen, aber er wird dazu gezwungen sein; außerdem muss der Wiederaufbau der Ukraine finanziert werden… Die Rechnung wird sehr, sehr hoch sein. Wir wissen bereits, wer sie begleichen muss: die Proletarier, sei es durch Lohnkürzungen, durch die Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen, durch den beschleunigten Abbau der öffentlichen Dienstleistungen und des Sozialschutzes usw. Werden sie sich dem widersetzen? Wenn ja, muss man darauf achten, welche Form ihr Widerstand annehmen wird, aber es ist möglich, dass er nicht genau unseren Erwartungen und Hoffnungen entspricht. Doch obwohl das Umfeld besonders düster erscheint, ist noch nichts entschieden.

Tristan Leoni, Januar 2025.

Ende des zweiten Teils

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Literaturhinweise

UNSERE TEXTE:

Tristan Leoni, « L’Ukraine et ses déserteurs. Première partie : Où sont les hommes ? », DDT21, November 2024. ((Tristan Leoni) Die Ukraine und ihre Deserteure)

Tristan Leoni, « En Ukraine, des anarchistes sous l’uniforme ? », DDT21, Januar 2024. (In der Ukraine: Anarchistinnen und Anarchisten in Uniform?)

Tristan Leoni, « Adieu la vie, adieu l’amour… Ukraine, guerre et auto-organisation », DDT21, Mai 2022. ((Frankreich) Lebewohl zum Leben, Lebewohl zur Liebe… Ukraine, Krieg und Selbstorganisation)

Tristan Leoni, Manu militari ? Radiographie critique de l’armée, Grenoble, Le Monde à l’envers, 2020, 128 p. (zweite überarbeitete und erweiterte Auflage)

WEITERE TEXTE:

Julien Chuzeville, Zimmerwald 1915. L’internationalisme contre la Première Guerre mondiale, Smolny, Toulouse, 2024, 154 p.

Collectif, Les anarchistes contre la guerre, de 1914 à nos jours, Quatre.zone, 2022, 28 p.

Gilles Dauvé, « La paix, c’est la guerre », troploin.fr, Juni 2022. ((Gilles Dauvé) Der Frieden ist der Krieg)

Michel Goya, « L’ Ukraine et la GRH de guerre », La Voie de l’épée, 15 Januar 2025.

Jean Lopez et Michel Goya, L’ours et le renard, Histoire immédiate de la guerre en Ukraine, Paris, Perrin, 2023, 352 p.

Victor Serge, « Angoisse et confiance », La Wallonie, 1er-2 Oktober 1938.

Georges-Henri Soutou, La Grande rupture 1989-2024, Paris, Tallandier, 2024, 362 p.


1Der erste Teil dieses Textes, „Wo sind die Menschen?“, wurde im November 2024 im Blog DDT21 veröffentlicht. Eine vollständige Referenz sowie die Referenzen unserer anderen Artikel über den Krieg in der Ukraine (auf die später eingegangen wird) findet ihr in den Literaturhinweisen am Ende des Artikels.

2Kiew greift (wie auch Moskau, wenn auch vielleicht in geringerem Umfang) auf die Dienste klassischer Söldnertruppen zurück, die man in allen heutigen Kriegsgebieten antrifft, insbesondere auf die aus ehemaligen kolumbianischen Soldaten bestehenden Truppen. Es ist anzumerken, dass die Vereinigten Staaten im November 2024 die Präsenz ihrer privaten Militärfirmen (Private Military Companies, PMCs) in der Ukraine legalisiert haben, jedoch nur in Bezug auf Kampfeinsätze (Aufrechterhaltung der Einsatzfähigkeit, Logistik, Ausbildung, Medizin usw.).

3Die am 8. Juni 2023 begonnene groß angelegte Offensive in der Oblast Saporischschja, die darauf abzielt, die russische Verteidigungslinie zu durchbrechen, indem sie etwa 90 km weiter südlich das Asowsche Meer erreicht, sollte nacheinander drei Verteidigungslinien durchbrechen – ein Angriff, der seit Monaten angekündigt und in den Medien stark beachtet wurde. Die ukrainischen Truppen verschanzten sich sofort im Bereich der ersten russischen Befestigungen und befreiten nur drei oder vier Dörfer. Obwohl der Misserfolg offensichtlich war, beharrte der Generalstab, der starkem politischen und medialen Druck ausgesetzt war, mehrere Monate lang darauf, Angriffe auf diesen Sektor zu starten; eine absurde Haltung, die sich als sehr kostspielig in Bezug auf Menschen und Material erwies. Diese Episode trägt dazu bei, dass die ukrainische Armee und ihr Generalstab in den Augen der Bevölkerung weiter in Misskredit geraten.

4Sidonie Rahola-Boyer, « Guerre en Ukraine : des officiers de conscription contrôlent les hommes à la sortie d’un concert à Kiev », Le Figaro, 18. Oktober 2024.

5Zu diesem Thema (und trotz des besonders himmlischen und unpassenden Tons der Gastrednerin Anna Colin Lebedev in Bezug auf die Bedingungen der Mobilisierung) kann man sich den Podcast von Le Collimateur vom 12. November 2024 anhören: „Qui se bat pour l’Ukraine ? Mobilisation et engagement dans un pays en guerre“ auf lerubicon.org.

Wir haben die Frage der (relativen) Autonomie der ukrainischen Armeebrigaden und ihre politischen oder ethnischen Besonderheiten in unserem Artikel vom Mai 2022 angesprochen.

6Thomas d’Istria, Stanislav Asseyev, « Nous avons une immense armée de déserteurs qui se balade dans le pays », Le Monde, 26. Oktober 2024.

7Isobel Koshiw, « Ukraine struggles to recruit new soldiers as desertions rise », Financial Times, 1er Dezember 2024.

8Élise Vincent, « Pour l’Otan, l’Ukraine doit fournir des soldats », Le Monde, 14. Dezember 2024.

9Tamas Balassa, « En Transcarpatie, dans l’ouest de l’Ukraine, “bientôt, il n’y aura plus de garçons” », Le Courrier International, 23. Februar 2024. https://www.courrierinternational.com/article/reportage-en-transcarpatie-dans-l-ouest-de-l-ukraine-bientot-il-n-y-aura-plus-de-garcons?at_campaign=partage_article_app&at_medium=ios9

10Die Familien der ukrainischen Bourgeoisie ihrerseits sind in den Tagen vor der russischen Invasion mit dem Flugzeug in die westlichen Länder geflogen.

11Dieser vorübergehende Schutz gilt für sechs Monate und kann verlängert werden; er folgt auf einen Beschluss des Europäischen Rates vom 4. März 2022, der am 28. September 2023 bis März 2025 verlängert wurde.

Der vorübergehende Schutz ist ein Verfahren, das nur im Falle eines massiven oder unmittelbar bevorstehenden Zustroms von Vertriebenen aus Drittländern gewährt wird, die nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren können. Diese Personen erhalten sofortigen und vorübergehenden Schutz, insbesondere wenn auch die Gefahr besteht, dass das Asylsystem nicht in der Lage ist, den Zustrom zu bewältigen, ohne dass dies negative Auswirkungen auf sein effizientes Funktionieren hat, im Interesse der betroffenen Personen und anderer schutzsuchender Personen.https://ec.europa.eu/eurostat/fr/web/products-eurostat-news/w/ddn-20240112-2

12Wir glauben nicht an die Mär von einer „rassischen“ Präferenz bei der Behandlung ukrainischer Flüchtlinge (auch wenn die kulturelle und geografische Nähe unweigerlich einen Einfluss auf das empfundene Maß an Empathie hat). Die Behandlung russischer Wehrdienstverweigerer und Deserteure durch die EU bestätigt dies: Nach der von Moskau im September 2022 angekündigten Teilmobilmachung zur Rekrutierung von 300.000 Männern im Alter von 18 bis 65 Jahren sind Hunderttausende, vielleicht sogar eine Million Russen legal nach Armenien, Kasachstan oder in die Türkei (da die Grenzen des Landes für Männer im wehrfähigen Alter nicht geschlossen sind) geflohen. Einige versuchten, in die demokratische EU zu gelangen, um dort Asyl zu beantragen, aber ab dem 19. September 2022 schlossen Polen und die baltischen Länder ihre Grenzen für russische Staatsbürger, gefolgt von Finnland, das mit dem Bau eines 200 km langen Zauns begann, genau wie Polen um die Exklave Kaliningrad und im folgenden Monat von Tschechien. Am 9. September 2022 entschied der Rat der EU, das Abkommen mit Russland zur Erleichterung der Visaerteilung vollständig auszusetzen und empfahl, Schengen-Visa nur restriktiv zu erteilen. Nur sehr wenige dieser Widerspenstigen flüchten daher in die EU-Länder, wo sie ohnehin mit einer tiefsitzenden antirussischen Fremdenfeindlichkeit konfrontiert sind. Ariane Riou, „Je vis dans la peur, mais je préfère rester ici » : en Russie, le discret retour des « traîtres », Le Parisien, 21. April 2024.

Während in Kasachstan und Armenien rund 500 russische Deserteure registriert sind und sich Tausende weitere in Russland verstecken, nimmt Frankreich im Oktober 2024 sechs russische Deserteure auf, eine „beispiellose“ Entscheidung in Europa! „Guerre en Ukraine : la France accueille six déserteurs russes“, Le Figaro, 21. Oktober 2024.

13Olena Harmash, « Polish minister, visiting Kiev, calls for end to benefits for Ukrainian men in Europe », Reuters, 15. Septembre 2024.

14« Liefert uns die Fahnenflüchtigen aus! », Bild, 1er September 2023.

15« Anteil männlicher ukrainischer Geflüchteter in Deutschland steigt », ifo.de, 13. Oktober 2023.

16« Flucht vor der Front : 14.000 Ukrainer im wehrfähigen Alter in Österreich », Exxpress.at, 21. August 2023.

17Rebecca Rommen, « The Ukrainian draft dodgers who don’t want to go to war against Russia », businessinsider.com, 18. November 2023.

Budapest hat ihrerseits Menschen der ungarischen Minderheit in der Ukraine aufgenommen, denen sie seit 2012 Pässe ausstellt, ein praktisches Mittel, um die Ukraine legal zu verlassen.

18Serhiy Morgunov, David L. Stern und Francesca Ebel, „Ukrainian men abroad voice anger over pressure to return home to fight“, Washington Post, 3. Mai 2024.

19Thomas Bonnet, « Meurthe-et-Moselle : des réfugiés ukrainiens menacés d’être expulsés de leur logement », France Bleu, 20. Oktober 2024.

20Emmanuel Grasland, « L’Allemagne prévoit 6 milliards pour les réfugiés ukrainiens en 2024 », Les Échos, 3. Janaur 2024.

21Nick Thorpe, « Ukraine war: Deserters risk death fleeing to Romania », bbc.com, 8. Juni 2023.

22Assembly, « Наперегонки со смертью. Что нужно знать желающим пересечь границу Украины через лес или реку », 2024.

23Es ist jedoch ziemlich wahrscheinlich, dass einige dieser „ehemaligen Anarchisten“, die für den Militärdienst geworben haben, sich aber persönlich dafür entschieden haben, im Hintergrund zu arbeiten (in der Annahme, dass sie bei der Verwaltung der Logistik oder der Website der Gruppe nützlicher sind), dann ihrerseits von einer immer gefräßigeren Wehrpflicht eingeholt werden.

24Despair and anger in a concentration camp. Assembly’s interview on the second anniversary of big war in Ukraine“, libcom.org, 24. Februar 2024.

25Die Adresse ihrer Website lautet https://pacifism.org.ua/

26Pierre Barbancey, « Ukraine : pourquoi Zelensky a fait placer un pacifiste en résidence surveillée », L’Humanité, 12. September 2023.

Jan Ole Arps, « Que fait et pense la gauche ukrainienne ? », alencontre.org, 13. Januar 2023.

27Voir Georges-Henri Soutou, La Grande rupture 1989-2024, Paris, Tallandier, 2024, p. 306-310.

28Lorenzo Tondo, « Reportage. “Ce n’est pas ma guerre” : ces hommes ukrainiens qui refusent de se battre», Courrier international, 13. April 2022.

29Organisation suisse d’aide aux réfugiés, Ukraine : service militaire et sanctions en cas d’insoumission ou de désertion, 11. April 2022.

30Jean-Baptiste Chastand « À la frontière roumaine, avec ces Ukrainiens qui ont décidé de ne pas se battre », Le Monde,‎ 17. August 2022.

31Es ist doch seltsam, dass angesichts dieses angeblichen neuen Hitlers niemand fordert, dass Frankreich Russland den Krieg erklärt, und dass, abgesehen von etwa hundert Männern, meist ehemalige Militärs oder Rechtsextremisten, niemand in die Ukraine zieht, um dort zu kämpfen, obwohl die ukrainische Armee ausländische Freiwillige mit offenen Armen empfängt – eine seltsame Tendenz, die besagt, dass man sich hinter einem Schreibtisch nützlicher fühlt als in einem Schützengraben. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass im September 1939 viele dieser Radikalen vorsichtshalber vorgeschlagen haben, dass Frankreich und Großbritannien sich damit begnügen sollten, Waffen nach Polen zu schicken, anstatt an der Seite dieses Landes in den Krieg einzutreten.

32Zu diesem Thema siehe unseren Artikel vom Mai 2022.

33In den 1990er Jahren, während der Balkankriege, richtete eine französische anarchistische Organisation einen klandestinen RIng ein, um serbischen Deserteuren zu helfen. Heute, da viele NGOs in Wirklichkeit als Subunternehmer des Staates bei der Verwaltung der Einfuhr außereuropäischer Arbeitskräfte agieren, erweist sich der Fall der russischen und ukrainischen Migranten also, wie wir gesehen haben, als heikler – Staaten mögen keine Deserteure –, zumal selbst in Frankreich die Dienste und Anhänger der beiden Herkunftsländer eine reale, physische Bedrohung für Militante darstellen können.

34Die Initiative de solidarité Olga Taratuta, Nr. 4, Mai 2023. Die Website des Kollektivs ist http://nowar.solidarite.online/blog; es stellt seine Tätigkeit am 24. Oktober 2024 in Si vis pacem, der Sendung der Union pacifiste auf Radio libertaire, vor. Das letzte Bulletin des Kollektivs, Nr. 7, Januar 2025, ist HIER verfügbar.

35Assembly, „Internationalism – a guide to action or an excuse for inaction? To the start of the Prague Action Week 20-26 May“, 19. Mai 2024.

36„Contre la guerre toujours, pas de vacances pour ses fabricants !“, Sans dessous dessus, Nr. 1, Herbst 2024, S. 40.

Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass einige der beeindruckendsten und am wenigsten beanspruchten Vorfälle das Werk russischer Dienste sind (es handelt sich nicht um eine Anspielung auf die Sabotage der Nord Stream-Gaspipelines, die offensichtlich das Werk anderer Dienste sind).

37« Sabotons leurs chemins de guerre », iaata.info, 6. Oktober 2024.

38Diejenigen, die behaupten, den Krieg zu lieben, müssen ihn fernab des Gemetzels auf den Schlachtfeldern, der verstreuten Leichen und aufgeschlitzten Frauen geführt haben. Krieg ist ein absolutes Übel. Es gibt keinen fröhlichen oder traurigen Krieg, keinen schönen oder schmutzigen Krieg. Krieg ist Blut, Leid, verbrannte Gesichter, durch Fieber geweitete Augen, Regen, Schlamm, Exkremente, Müll, Ratten, die über die Leichen laufen, monströse Wunden, Frauen und Kinder, die zu Aasfressern werden. Der Krieg demütigt, entehrt und erniedrigt. Er ist der Schrecken der Welt, versammelt in einem Paroxysmus aus Dreck, Blut, Tränen, Schweiß und Urin. » Hélie de Saint Marc, Mémoires. Les champs de braises, Paris, Perrin, 2002, S. 136.

39Clara Marchaud, „Dans l’Ukraine en guerre, ces réfractaires à la mobilisation“, Le Figaro, 26. Oktober 2022.

40Dies wird durch den Artikel von Peter Korotaev und Volodymyr Ishchenko „Why is Ukraine struggling to mobilise its citizens to fight?“ auf aljazeera.com vom 23. Januar 2025 bestätigt. In diesem sehr guten Artikel wird zum Beispiel festgestellt, dass seit Kriegsausbruch Menschen mit Behinderungen unter den ukrainischen Spitzenbeamten seltsamerweise überrepräsentiert sind.

41Zu diesem Thema siehe unseren Artikel vom Mai 2022.

42Serhiy Guz, « Le gouvernement ukrainien démantèle les droits du travail pendant la guerre », Courant alternatif, n° 319, April 2022.

43Assembly, « Internationalism – a guide to action or an excuse for inaction? To the start of the Prague Action Week 20-26 May », 19. Mai 2024 ; Assembly, « The autumn rise of social struggle across Ukraine », 1er Dezember 2023.

44J.R.R. Tolkien, Brief an Christopher Tolkien, 29. November 1943.

45Im Juni 1940, als die Front durch den deutschen Blitzkrieg weitgehend durchbrochen war, bemühte sich der französische Generalstab, Truppen um die Hauptstadt herum zu halten, um eine neue Pariser Kommune zu verhindern. Im Jahr 1944, während die Wehrmacht den Aufstand in Warschau niederschlägt, macht die Rote Armee am Rande der Hauptstadt eine Pause, um das Schauspiel zu genießen; 1991 bewahren die Vereinigten Staaten die Einheiten der irakischen Präsidentengarde, damit sie die schiitische Revolte um Basra niederschlagen kann; usw.

46Zu diesen Verhandlungen, von denen viele Details inzwischen öffentlich sind, siehe z. B. das Werk von Georges-Henri Soutou, op. cit., S. 254-257.

47Ohne die amerikanische Hilfe hätte der Krieg in der Ukraine nur wenige Wochen gedauert – man wird es bemerkt haben, wenn ein Konflikt auf der Welt ausbricht, greift der Westen nicht systematisch ein, um das Opfer gegen den Angreifer zu unterstützen. Das ursprüngliche Ziel Washingtons war hier zweifellos, den wichtigsten Verbündeten Chinas, Russland, auszubluten und dessen Interessen von denen Deutschlands zu entkoppeln, um so nebenbei die ökonomische und militärische Vasallisierung der EU-Länder zu vollenden. Emmanuel Todd behauptet in verschiedenen Interviews mit einem nicht ohne Scharfsinnigen Humor, dass es sich hier nicht um einen Krieg Russlands gegen die Ukraine oder gar einen Krieg der NATO gegen Russland handelt, sondern um einen Krieg der Vereinigten Staaten (und ihrer britischen, polnischen und ukrainischen Verbündeten) gegen Deutschland, das nun unterworfen und erneut besetzt ist.

48Das Risiko einer Eskalation oder Ausweitung des Konflikts kann daher nicht vollständig ausgeschlossen werden, auch und vor allem in Richtung der baltischen Staaten, der Exklave Kaliningrad oder des Suwałki-Korridors, auch wenn die russische Armee nicht über die Mittel für eine solche Eskalation verfügt; aber ein Zwischenfall ist so schnell passiert… Die Eskalation kann auch als die einzige Möglichkeit angesehen werden, eine kritische Situation zu lösen, insbesondere ist dies die interessante Hypothese, die Philippe Fabry, ein liberal-konservativer Essayist und YouTuber, vorbringt: Er zieht insbesondere eine Parallele zwischen dem Russland von 2025 und dem Japan von 1941; Letzteres, das seit 1937 in einem gigantischen Konflikt gegen China verstrickt ist, findet keinen anderen Ausweg als die Flucht nach vorn, die Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten und das Vereinigte Königreich.

49Wenn es einen Sektor der deutschen Ökonomie gibt, der keine Krise kennt, dann ist es der der Prothesen.

50Emmanuel Grynszpan, „L’Ukraine au défi de l’exode des femmes et des adolescents“, Le Monde, 29. September 2023.

51Das Thema wurde auf der internationalen Konferenz im Juni 2024 in Berlin diskutiert. Unter den wenigen Franzosen, die sich bewerben, möchte Xavier Niel, Präsident von Free (und nebenbei Miteigentümer der Gruppe Le Monde), eine Milliarde Euro in die Ukraine investieren und der größte Betreiber des Landes werden. Siehe Pierre Avril, „Mobilisée sur le front, déplacée dans le pays ou exilée, la main-d’œuvre manque cruellement à la reconstruction de l’Ukraine“, Le Figaro, 12. Juni 2024.

52Zur Frage des Wiederaufbaus siehe zum Beispiel Jean-Pierre Duteuil, „Reconstruire l’Ukraine : Le Capital dans les starting-blocks“, Courant alternatif, Nr. 336, Januar 2024.

53Während des Kalten Krieges, als Europa sich darauf vorbereitete, das wichtigste Schlachtfeld zu werden, konnten militärische Zusammenstöße zwischen Ost und West nur indirekt in sekundären Regionen Afrikas oder Asiens stattfinden. Im 21. Jahrhundert ist Europa eine Randzone am Rande einer Rivalität, deren Zentrum der Pazifik ist.

54Wir haben diese Frage in unserem Buch Manu militari angesprochen (siehe Literaturhinweise am Ende des Artikels).

55Konkret stellt die französische Armee die Ausbildung Tausender ukrainischer Soldaten sicher, beteiligt sich an den Kämpfen an der Seite Kiews, indem sie ihre Kapazitäten in der elektronischen Kriegsführung und im Nachrichtendienst (Flugzeuge, Satelliten usw.) mobilisiert, entsendet Truppen und Flugzeuge in die baltischen Staaten und nach Rumänien, um sie vor der „russischen Bedrohung“ zu schützen; die Arbeiter der Rüstungsindustrie ihr Bestes tun, damit die Caesar-Kanonen schnell in die Ukraine geliefert werden. Zu wünschen, dass Frankreich seine Hilfe für die Ukraine erhöht, bedeutet also, eine Erhöhung des Verteidigungshaushalts und eine Stärkung des französischen militärisch-industriellen Komplexes zu fordern.

]]> Faschismus? Demokratie? Kommunismus – Vercesi https://panopticon.blackblogs.org/2025/03/20/faschismus-demokratie-kommunismus-vercesi/ Thu, 20 Mar 2025 12:14:35 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=6229 Continue reading ]]>

Gefunden auf internationalist communist, die Übersetzung ist von uns.


Faschismus? Demokratie? Kommunismus – Vercesi

[Die folgende Übersetzung eines Artikels von Ottorino Perrone (Vercesi) aus dem Jahr 1934 wurde von einem unserer Mitglieder übersetzt und erschien ursprünglich 2018 in der Zeitschrift Intransigence, Ausgabe Nr. 2.]

Die zentrale Frage, mit der die Arbeiterbewegung heutzutage konfrontiert ist, ist ihre Haltung gegenüber der Demokratie, genauer gesagt, die Notwendigkeit, die vom Faschismus bedrohten demokratischen Institutionen zu verteidigen (oder nicht), während dieser gleichzeitig die proletarischen Organisationen zerstört. Die einfachste Lösung für diese Frage – wie auch für andere – ist nicht die klarste, da sie in keiner Weise der Realität des Klassenkampfes entspricht. Auch wenn es auf den ersten Blick paradox erscheinen mag, wird es der Arbeiterbewegung nur dann gelingen, ihre Organisationen tatsächlich vor dem Angriff der Reaktion zu bewahren, wenn sie ihre Kampfpositionen intakt hält, sie nicht an das Schicksal der Demokratie bindet und den Kampf gegen die faschistische Offensive führt, während sie gleichzeitig den Kampf gegen den demokratischen Staat fortsetzt. Sobald die Verbindung zwischen der Arbeiterbewegung und den demokratischen Institutionen hergestellt ist, ist die politische Voraussetzung für den vollständigen Ruin der Arbeiterklasse gegeben, da der demokratische Staat in dem Beitrag der arbeitenden Massen nicht die Möglichkeit des Lebens oder des Fortbestands sieht, sondern die notwendige Voraussetzung, um ein autoritäres Regime zu werden, oder das Signal seines Verschwindens mit dem Ziel, seinen Platz an die neue faschistische Organisation abzutreten.

Betrachtet man die aktuelle Situation unabhängig von ihrer Verbindung zu den Situationen, die ihr vorausgingen und die ihr folgen werden, betrachtet man die aktuelle Position der politischen Parteien, ohne sie mit der Rolle zu verknüpfen, die sie in der Vergangenheit gespielt haben und die sie in Zukunft spielen werden, werden die unmittelbaren Umstände und die aktuellen politischen Kräfte des allgemeinen historischen Kontextes verschoben, was es ermöglicht, die Realität leicht so darzustellen: Der Faschismus greift an, das Proletariat ist voll und ganz daran interessiert, seine Freiheiten zu verteidigen, und aus diesem Grund ist es notwendig, eine Verteidigungsfront der bedrohten demokratischen Institutionen zu errichten. Diese Position wird mit einem revolutionären Anstrich versehen und unter dem Deckmantel einer vorgeblich revolutionären Strategie präsentiert, während sie gleichzeitig im Grunde „marxistisch“ ist. Von hier aus wird das Problem folgendermaßen dargestellt: Es besteht eine Unvereinbarkeit zwischen der Bourgeoisie und der Demokratie, folglich hat das Interesse des Proletariats, die Freiheiten zu verteidigen, die ihm letztere gewährt, natürlich Vorrang vor seinen spezifisch revolutionären Interessen, und der Kampf für die Verteidigung demokratischer Institutionen wird somit zu einem antikapitalistischen Kampf!

Diesen Thesen liegt eine offensichtliche Verwechslung zwischen Demokratie, demokratischen Institutionen, demokratischen Freiheiten und Positionen der Arbeiterklasse zugrunde, die fälschlicherweise als „Arbeiterfreiheiten“ bezeichnet werden. Wir werden sowohl aus theoretischer als auch aus historischer Sicht feststellen, dass es einen unüberbrückbaren und unvereinbaren Gegensatz zwischen Demokratie und Positionen der Arbeiterklasse gibt. Die ideologische Bewegung, die den Aufstieg und den Sieg des Kapitalismus begleitet hat, ist aus ökonomischer und politischer Sicht auf der Grundlage der Auflösung der Interessen und besonderen Forderungen von Individuen, Gemeinschaften und insbesondere von Klassen innerhalb der Gesellschaft angesiedelt und wird auf dieser Grundlage zum Ausdruck gebracht. Hier wäre die Gleichheit der Komponenten möglich, gerade weil die Individuen ihr Schicksal und ihre Obhut den staatlichen Organismen anvertrauen, die die Interessen der Gemeinschaft vertreten. Es ist nützlich, darauf hinzuweisen, dass die liberale und demokratische Theorie die Auflösung von Gruppen und Kategorien von „Staatsbürgern“ voraussetzt, die spontan einen Teil ihrer Freiheit aufgeben würden, um im Gegenzug den Schutz ihrer ökonomischen und sozialen Position zu erhalten. Dieser Verzicht würde zugunsten eines Organismus erfolgen, der in der Lage ist, die gesamte Gemeinschaft zu regulieren und zu leiten. Und während die bourgeoisen Verfassungen die „Rechte des Menschen“ proklamieren und auch die „Versammlungs- und Pressefreiheit“ bekräftigen, erkennen sie Klassengruppierungen in keiner Weise an. Diese „Rechte“ werden ausschließlich als Zuschreibungen betrachtet, die dem „Menschen“, dem „Staatsbürger“ oder dem „Volk“ gewährt werden, die sie nutzen müssen, um den Organismen des Staates oder der Regierung Zugang zum Individuum zu gewähren. Die notwendige Bedingung für das Funktionieren des demokratischen Regimes liegt also nicht in der Anerkennung von Gruppen, ihren Interessen oder ihren Rechten, sondern in der Gründung des unverzichtbaren Organismus zur Führung der Gemeinschaft, der dem Staat die Verteidigung der Interessen jeder Einheit, aus der er besteht, übertragen muss.

Demokratie ist nur ein Mittel, um zu verhindern, dass „Staatsbürger“ auf andere Organe als die vom Staat regierten und kontrollierten zurückgreifen. Man könnte einwenden, dass die Versammlungs-, Presse- und Organisationsfreiheit von dem Moment an ihre Bedeutung verlieren, in dem es unmöglich wird, durch sie eine bestimmte Konzession zu erhalten. Hier betreten wir das Terrain, auf dem die marxistische Kritik zeigt, wie sich hinter der demokratischen und liberalen Maske tatsächlich Klassenunterdrückung verbirgt, und dass Marx so zu Recht behauptete, dass das Synonym für „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ „Infanterie, Kavallerie, Artillerie“ sei. Im Gegenteil, heute geht es nicht so sehr darum, die Widersprüchlichkeit der angeblich egalitären Grundlage der Demokratie aufzuzeigen, sondern vielmehr darum, zu entlarven, wie sie die Ausweitung der Arbeiterorganisationen mit deren Verteidigung verknüpfen wollen.

Wie wir bereits erklärt haben, besteht die Lebensbedingung des demokratischen Regimes gerade darin, die Macht einiger Gruppen im Namen der Interessen des Individuums sowie der Gesellschaft einzuschränken. Die Gründung einer Arbeiterorganisation bedeutet direkt einen Angriff auf die Theorie der Demokratie, und aus diesem Grund ist es bezeichnend, dass in der gegenwärtigen Periode der Degeneration des marxistischen Denkens die Überschneidung der beiden Internationalen (die der Verräter und die der zukünftigen Verräter) genau auf der Grundlage der Verteidigung der Demokratie erfolgt, aus der sich die Möglichkeit der Existenz und sogar der Entwicklung von Arbeiterorganisationen ableiten würde.

Historisch gesehen manifestiert sich der Widerspruch zwischen „Demokratie“ und Arbeiterorganisationen auf ziemlich blutige Weise.

Der englische Kapitalismus wurde im 17. Jahrhundert gegründet, aber es dauerte viel länger, bis die Chartisten der Arbeiterklasse das Recht auf gewaltsame Organisierung erkämpften. In allen Ländern konnten die Arbeiter diese Errungenschaft nur auf der Grundlage starker Bewegungen erreichen, die ständig der blutigen Repression demokratischer Staaten ausgesetzt waren. Es ist durchaus zutreffend, dass vor dem Krieg und insbesondere bis in die ersten Jahre unseres Jahrhunderts Massenbewegungen, die auf die Errichtung unabhängiger Organismen der Arbeiterklasse abzielten, von sozialistischen Parteien angeführt wurden, um Rechte zu erlangen, die den Arbeitern Zugang zu Regierungs- oder Staatsfunktionen gewähren würden. Diese Frage wurde in der Arbeiterbewegung sicherlich heftig diskutiert; ihr schlüssigster Ausdruck findet sich vor allem in der reformistischen Theorie, die unter dem Banner des allmählichen Eindringens des Proletariats in die Festung des Feindes diesem tatsächlich erlaubte – und 1914 stellt den Abschluss dieser Bilanz der marxistischen Revision und des Verrats dar –, die gesamte Arbeiterklasse zu korrumpieren und ihren eigenen Interessen zu unterwerfen.

Im Kampf gegen das, was gewöhnlich als „Bordigismus“ verspottet wird, wird oft aus kontroversen Gründen (die im Allgemeinen die Gründe für Verstrickung und Verwirrung sind) argumentiert, dass diese oder jene Bewegung die Eroberung des allgemeinen Wahlrechts oder diese oder jene demokratische Forderung zum Ziel hatte. Diese Art der Geschichtsinterpretation ähnelt sehr stark derjenigen, die darin besteht, Ereignisse nicht durch die Bestimmung ihrer Ursache als Funktion der antagonistischen Klassen und der spezifischen Interessen, die sie wirklich vertreten, zu erklären, sondern sich einfach auf die Initialen zu stützen, die auf den Flaggen stehen, die über den Massen in Bewegung wehten. Diese Interpretation, die andererseits nur einen rein akrobatischen Wert hat, an dem die anmaßenden Menschen, die die Arbeiterbewegung bevölkern, Gefallen finden, verschwindet sofort, wenn das Problem realistisch dargestellt wird. In der Tat können Arbeiterbewegungen nur im Zuge ihres Aufstiegs zur Befreiung des Proletariats verstanden werden. Wenn wir sie im Gegenteil auf den entgegengesetzten Weg bringen, der die Arbeiter dazu bringen würde, das Recht auf Zugang zu Regierungs- oder Staatsfunktionen zu erobern, würden wir uns direkt auf den gleichen Weg begeben, der zum Verrat an der Arbeiterklasse geführt hat.

In jedem Fall könnten die Bewegungen, die sich die Erlangung des Wahlrechts zum Ziel gesetzt haben, diesen Kampf auf nachhaltige Weise führen, denn letztendlich haben sie das demokratische System nicht demontiert, sondern lediglich die Arbeiterbewegung selbst in ihr Spiel eingeführt. Die erbärmlichen Taten der Arbeiter, die in Regierungspositionen aufstiegen, sind bekannt: Die Eberts, Scheidemanns, Hendersons usw. haben deutlich gezeigt, was der demokratische Mechanismus ist und welche Fähigkeit er hat, die rücksichtsloseste konterrevolutionäre Repression zu entfesseln. Was die von den Arbeitern eroberten Klassenpositionen betrifft, so ist das völlig anders. Hier ist keine Vereinbarkeit mit dem demokratischen Staat möglich; im Gegenteil, die unversöhnliche Opposition, die den Antagonismus der Klassen widerspiegelt, wird akzentuiert, verschärft und verstärkt, und der Sieg der Arbeiter wird dank der Politik der konterrevolutionären Anführer errungen werden.

Letztere verzerren die Bemühungen der Arbeiter, ihre Klassenorganisationen zu schaffen, die nur die Frucht eines gnadenlosen Kampfes gegen den demokratischen Staat sein können. Der Triumph des Proletariats ist nur in dieser Richtung möglich. Wenn die arbeitenden Massen von der Politik der opportunistischen Anführer verführt werden, werden sie in den Sumpf der Demokratie gezogen. Dort sind sie nicht mehr als ein einfacher Bauer in einem Mechanismus, der umso demokratischer wird, je mehr es ihm gelingt, alle Klassenformationen, die ein Hindernis für sein Funktionieren darstellen, zu beseitigen.

Der demokratische Staat, der diesen Mechanismus betreibt, wird ihn nur unter der Bedingung „gleich“ funktionieren lassen, keine antagonistischen, in verschiedenen Organismen gruppierten ökonomischen Kategorien vor sich zu haben, sondern „Staatsbürger“, die einander gleichgestellt sind und sich als von ähnlicher sozialer Stellung anerkennen, um gemeinsam die vielfältigen Wege zu beschreiten, zu denen sie bei Ausübung der demokratischen Macht Zugang haben.

Das demokratische Prinzip mit dem Ziel zu kritisieren, zu zeigen, dass die Wahlgleichheit nichts weiter als eine Fiktion ist, die die Kluft zwischen den Klassen in der bourgeoisen Gesellschaft verschleiert, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Uns geht es hier darum, zeigen zu können, dass es eine unversöhnliche Opposition zwischen dem demokratischen System und den Positionen der Arbeiterklasse gibt. Jedes Mal, wenn es den Arbeitern gelang, dem Kapitalismus durch heldenhafte Kämpfe und unter Einsatz ihres eigenen Lebens ihre Klassenforderungen aufzuzwingen, versetzten sie der Demokratie einen schweren Schlag, einen Schlag, wie ihn nur der Kapitalismus nötig hat. Im Gegenteil, das Proletariat findet den Grund für seine historische Mission, indem es die Lüge des demokratischen Prinzips in seiner eigenen Natur und in der Notwendigkeit, die Klassengegensätze und die Klassen selbst zu unterdrücken, anprangert. Am Ende des Weges, den das Proletariat durch den Klassenkampf beschritten hat, steht kein Regime der reinen Demokratie, denn das Prinzip, auf dem die kommunistische Gesellschaft basieren wird, ist das der Nichtexistenz einer Staatsmacht, die die Gesellschaft lenkt, während die Demokratie absolut davon inspiriert ist. In ihrer liberalsten Ausprägung strebt sie ständig danach, die Ausgebeuteten auszuschließen, die es wagen, ihre Interessen mit Hilfe ihrer Organisationen zu verteidigen, anstatt sich den demokratischen Institutionen unterzuordnen, die mit dem alleinigen Ziel geschaffen wurden, die Ausbeutung der Klassen aufrechtzuerhalten.

Wenn man das Problem der Demokratie in seinen normalen Rahmen stellt – wir sehen nicht wirklich, wie es für Marxisten sonst möglich wäre, dies zu tun –, ist es möglich, die Ereignisse in Italien und Deutschland sowie die Situationen zu verstehen, die das Proletariat derzeit in verschiedenen Ländern und insbesondere in Frankreich erlebt. Auf den ersten Blick besteht das Dilemma, in das sie diese Ereignisse stellen, in der Opposition „Faschismus/Demokratie“ oder, um gängige Begriffe zu verwenden, „Faschismus/Antifaschismus“.

Diese „marxistischen“ Strategen werden obendrein sagen, dass die Antithese weiterhin die Existenz zweier sich grundlegend entgegenstehender Klassen ist, dass aber das Proletariat den Vorteil hat, die sich ihm bietende Gelegenheit zu nutzen und sich als Hauptfigur bei der Verteidigung der Demokratie und im antifaschistischen Kampf zu präsentieren. Wir haben bereits die Verwirrung zwischen Demokratie und den Positionen der Arbeiter hervorgehoben, die die Grundlage dieser Politik ist.

Nun müssen wir erklären, warum die Front zur Verteidigung der Demokratie in Italien – wie in Deutschland – letztlich nicht mehr als eine notwendige Bedingung für den Sieg des Faschismus darstellte. Denn was fälschlicherweise als „faschistischer Staatsstreich“ bezeichnet wird, ist letztlich nur eine mehr oder weniger friedliche Machtübergabe von einer demokratischen Regierung an die neue faschistische Regierung. In Italien weicht eine Regierung, die aus Vertretern des demokratischen Antifaschismus besteht, einem von Faschisten geführten Ministerium, das in diesem antifaschistischen und demokratischen Parlament eine sichere Mehrheit haben wird, obwohl die Faschisten nicht mehr als eine parlamentarische Gruppe von vierzig Abgeordneten unter fünfhundert Abgeordneten hatten. In Deutschland wird der Antifaschist Von Schleicher von Hitler abgelöst, der wiederum von einem anderen Antifaschisten, Hindenburg, dem Auserwählten der demokratischen und sozialdemokratischen Kräfte, eingesetzt wurde. In Italien und Deutschland zieht sich die Demokratie in der Epoche der Umwandlung der kapitalistischen Gesellschaft in den Faschismus nicht sofort von der politischen Bühne zurück, sondern behält eine politische Position erster Ordnung bei: Wenn sie in der Regierung bleibt, dann nicht mit dem Ziel, innerhalb der Regierung einen Sammelpunkt zu bilden, um die Situationen zu verhindern, zu denen ein faschistischer Sieg führen wird, sondern um den Triumph von Mussolini und Hitler zu ermöglichen. In Italien wurde darüber hinaus nach dem Marsch auf Rom und für mehrere Monate eine Koalitionsregierung gebildet, an der die Faschisten in Zusammenarbeit mit den Christdemokraten beteiligt waren, und selbst Mussolini verzichtete auf die Idee, Vertreter der Sozialdemokratie in die Führung der Gewerkschaftsorganisationen aufzunehmen.

Die aktuellen Ereignisse in Frankreich, wo die faschistische Perspektive nicht die einzige kapitalistische Lösung für die Situation darstellt und wo der „Aktionspakt“ zwischen Sozialisten und Zentristen die Arbeiterklasse zum Hauptelement bei der Verteidigung der Demokratie gemacht hat, werden letztendlich die theoretische Kontroverse klären, in der unsere Fraktion gegen die anderen Organisationen steht, die behaupten, für die Arbeiterklasse zu sein. Die notwendige Bedingung für die Niederlage des Faschismus, die angeblich in der Umgruppierung der Parteien besteht, die innerhalb der Arbeiterklasse in einer Einheitsfront agieren und die Flagge für die Verteidigung der Demokratie hissen, diese Bedingung, die weder in Italien noch in Deutschland existierte, ist in Frankreich vollständig erfüllt. Nun, unserer Meinung nach, deutet die Tatsache, dass das französische Proletariat von seinem Klassenterrain abgekommen ist und von Zentristen und Sozialisten auf auf den Weg gebracht wurde, der es heute lähmt und morgen dem Kapitalismus ausliefern wird, den zweifelsfreien Sieg des Feindes im doppelten Sinne des Wortes vorwegnimmt, nämlich dass er gezwungen sein wird, auf den Faschismus zurückzugreifen, oder dass sich der gegenwärtige Staat in einen Staat verwandelt, in dem die Regierung nach und nach die grundlegenden gesetzgebenden Funktionen übernimmt und in dem die „Arbeiter“organisationen ihre Unabhängigkeit aufgeben und die staatliche Kontrolle zulassen müssen, um im Gegenzug in die Kategorie der beratenden Nebenorgane „aufzusteigen“.

Wenn gesagt wird, dass die gegenwärtige Situation es dem Kapitalismus nicht mehr erlaubt, eine Form der sozialen Organisation aufrechtzuerhalten, die der in der aufsteigenden historischen Periode der Bourgeoisie bestehenden Form entspricht oder mit ihr identisch ist, so bestätigt dies lediglich eine offensichtliche und unbestreitbare Wahrheit. Es handelt sich aber auch um eine Überprüfung von Fakten, die nicht spezifisch für die Frage der Demokratie ist, sondern allgemein und gleichermaßen für die ökonomische Situation und alle anderen sozialen, politischen, kulturellen usw. Erscheinungsformen gilt. Dies dient als Beweis dafür, dass heute nicht gestern ist, dass es derzeit soziale Phänomene gibt, die in der Vergangenheit in keiner Weise aufgetreten sind. Wir würden diese banale Aussage nicht hervorheben, wenn sie nicht die zumindest seltsamen politischen Schlussfolgerungen nach sich ziehen würde: Soziale Klassen werden nicht mehr durch die Produktionsweise, die sie etablieren, anerkannt, sondern durch die Form der politischen und sozialen Organisation, mit der sie sich selbst ausstatten. Das Kapital ist also eine demokratische Klasse, die zwangsläufig gegen den Faschismus ist, der eine Wiederauferstehung der feudalen Oligarchien darstellt. Andernfalls kann der Kapitalismus nicht mehr Kapitalismus sein, sobald er aufhört, demokratisch zu sein, und das Problem besteht darin, den faschistischen Dämon mit dem Kapitalismus selbst zu töten. Oder, da der Kapitalismus heute daran interessiert ist, die Demokratie aufzugeben, müssen wir ihn nur in die Knie zwingen, indem wir die Verfassungstexte und Gesetze aufgreifen, und so die Transformation des Kapitalismus zum Faschismus durchbrechen und den Weg zum Sieg des Proletariats ebnen.

Letztendlich würde uns die faschistische Offensive vorübergehend dazu zwingen, unser revolutionäres Programm unter Quarantäne zu stellen, um die gefährdeten demokratischen Institutionen zu verteidigen, und dann den umfassenden Kampf gegen eben diese Demokratie wieder aufzunehmen, die es uns dank dieser Unterbrechung ermöglicht hätte, dem Kapitalismus eine Falle zu stellen. Sobald die Gefahr beseitigt wäre, könnte die Demokratie wieder gekreuzigt werden.

Die einfache Darlegung der politischen Schlussfolgerungen, die sich aus der Überprüfung des Unterschieds zwischen zwei kapitalistischen Epochen – der aufsteigenden und der absteigenden – ergeben, ermöglicht es uns, den Zustand der Zersetzung und Korruption der Parteien und Gruppen zu erkennen, die behaupten, in der gegenwärtigen Periode auf der Seite des Proletariats zu stehen.

Die beiden historischen Epochen können sich unterscheiden, und das tun sie auch, aber um zu dem Schluss zu kommen, dass es eine Unvereinbarkeit zwischen Kapitalismus und Demokratie oder zwischen Kapitalismus und Faschismus gibt, sollten wir Demokratie und Faschismus nicht so sehr als soziale Organisationsformen betrachten, sondern als Klassen. Andernfalls müssten wir zugeben, dass die Theorie des Klassenkampfes von nun an nicht mehr wahr ist und dass wir Zeuge eines Kampfes sind, in dem die Demokratie gegen den Kapitalismus oder der Faschismus gegen das Proletariat antreten wird.

Die Ereignisse in Italien und Deutschland zeigen uns jedoch, dass der Faschismus nichts anderes ist als ein Instrument blutiger Repression gegen das Proletariat im Dienste des Kapitalismus, der Mussolini auf den Trümmern der Klasseninstitutionen, die die Arbeiter gegründet hatten, um ihren Kampf gegen die bourgeoise Aneignung des Produkts ihrer Arbeit zu lenken, die Heiligkeit des Privateigentums verkünden sieht.

Aber die Theorie des Klassenkampfes wird einmal mehr durch die grausamen Erfahrungen in Italien und Deutschland bestätigt. Das Aufkommen der faschistischen Bewegung ändert nichts an der Antithese Kapitalismus/Proletariat und ersetzt sie auch nicht durch Kapitalismus/Demokratie oder Faschismus/Proletariat. In der Entwicklung des dekadenten Kapitalismus kommt eine Zeit, in der dieser gezwungen ist, einen anderen Weg einzuschlagen als den, den er in seiner aufsteigenden Phase beschritten hat.

Bevor er seinen Todfeind, das Proletariat, bekämpfen konnte, präsentierte er seine Perspektive als die einer fortschrittlichen Mehrheit mit dem gleichen Schicksal, bis er seine Befreiung erreichte, und öffnete mit diesem Ziel die Türen der demokratischen Institutionen, indem er sogenannte Arbeitervertreter akzeptierte, die zu Agenten der Bourgeoisie wurden, in dem Maße, wie sie die Arbeiterorganisationen im Rahmen des demokratischen Staates in Ketten legten. Heute – nach dem Krieg von 1914 und der russischen Revolution – besteht das Problem des Kapitalismus darin, jeden proletarischen Fokus, der mit der Klassenbewegung in Verbindung stehen könnte, mit Gewalt und Repression zu zerstreuen. Im Grunde genommen lässt sich der Unterschied in der Haltung des italienischen und des deutschen Proletariats angesichts der faschistischen Offensive, der heldenhafte Widerstand des ersteren zur Verteidigung des letzten Steins der Arbeitereinrichtungen und der Zusammenbruch des letzteren unmittelbar nach der Bildung der Hitler-Papen-Hindenburg-Regierung nur dadurch erklären, dass das Proletariat in Italien – mit Unterstützung unserer Strömung – den Organismus gründete, der zum Sieg führen könnte, während in Deutschland die Kommunistische Partei, die durch die Basis in Halle durch den Zusammenschluss mit den linken Unabhängigen zerschlagen wurde, im Zuge der zahlreichen Erschütterungen der Linken und extremen Linken eine Reihe von Phasen durchlief, die aufeinanderfolgende Schritte nach vorne in der Korruption und Zersetzung einer Partei des deutschen Proletariats markieren, die in den Jahren 1919 und 1920 Seiten des Ruhms und Heldentums geschrieben hatte.

Selbst wenn der Kapitalismus demokratische Institutionen und Organisationen, die vorgeben, diese zu unterstützen, angreift, selbst wenn er politische Persönlichkeiten ermordet, die demokratischen Parteien der Armee oder der NSDAP selbst angehören (wie am 30. Juni in Deutschland), bedeutet dies nicht, dass es so viele Antithesen geben sollte, wie es Gegensätze geben kann (Faschismus/Militär, Faschismus/Christentum, Faschismus/Demokratie). Diese Tatsachen beweisen nur die extreme Komplexität der aktuellen Situation und ihren sprunghaften Charakter und stellen in keiner Weise eine Bedrohung für die Theorie des Klassenkampfes dar. Die marxistische Lehre stellt den Kampf von Proletariat/Bourgeoisie in der kapitalistischen Gesellschaft nicht als mechanischen Konflikt dar, sodass jede soziale Manifestation mit dem einen oder anderen Ende des Dilemmas in Verbindung gebracht werden könnte und sollte. Abgesehen von der Antithese Bourgeoisie/Proletariat, dem einzigen Motor der heutigen Geschichte, zeigte Marx die Grundlagen und den sehr widersprüchlichen Verlauf des Kapitalismus auf, und zwar in einem solchen Ausmaß, dass der Kapitalismus nicht in Harmonie existieren kann, selbst wenn das Proletariat nicht mehr existiert (wie es in der gegenwärtigen Situation aufgrund des Zentrismus und des sozialdemokratischen Verrats der Fall ist), als Klasse, die versucht, die kapitalistische Ordnung zu brechen und die neue Gesellschaft zu etablieren. Der Kapitalismus mag derzeit die einzige fortschrittliche Kraft der Gesellschaft, das Proletariat, vorübergehend amputiert haben, aber sowohl im ökonomischen als auch im politischen Bereich bestimmen die widersprüchlichen Grundlagen seines Regimes weiterhin den unversöhnlichen Gegensatz zwischen den Monopolen, den Staaten und den politischen Kräften, die im Interesse der Erhaltung ihrer Gesellschaft handeln, insbesondere den Gegensatz zwischen Faschismus und Demokratie.

Im Grunde bedeutet die Dichotomie von Krieg/Revolution, dass, sobald die Errichtung einer neuen Gesellschaft als Lösung für die aktuelle Situation verworfen wurde, keine Ära des sozialen Friedens eintreten wird, sondern die gesamte kapitalistische Gesellschaft (einschließlich der Arbeiter) auf eine Katastrophe zusteuert, ein Ergebnis der dieser Gesellschaft innewohnenden Widersprüche. Das Problem, das es zu lösen gilt, besteht nicht darin, dem Proletariat so viele politische Einstellungen zuzuschreiben, wie es in der Situation Gegensätze gibt, und es mit einem solchen Monopol, einem solchen Staat, einer solchen politischen Kraft gegen diejenigen zu verbinden, die sich ihm widersetzen, sondern die Unabhängigkeit der Organisation des Proletariats im Kampf gegen alle ökonomischen und politischen Ausdrucksformen des Klassenfeindes in der Welt zu wahren.

Die Umwandlung der kapitalistischen Gesellschaft in den Faschismus, die Opposition und der Konflikt zwischen den Faktoren beider Regime dürfen die spezifische Physiognomie des Proletariats in keiner Weise verändern. Wie wir bereits mehrfach betont haben, müssen die programmatischen Grundlagen des Proletariats heute dieselben sein, die Lenin mit seiner Arbeit als Fraktion vor dem Krieg und gegen Opportunisten aller Couleur veröffentlicht hat. Gegenüber dem demokratischen Staat muss die Arbeiterklasse eine Position des Kampfes für seine Zerstörung einnehmen und darf nicht in ihn eintreten, um Positionen zu erobern, die den schrittweisen Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft ermöglichen; die Revisionisten, die diese Position verteidigten, machten das Proletariat 1914 zum Opfer der Widersprüche der kapitalistischen Welt, zum Kanonenfutter. Auch heute, wo der Kapitalismus aufgrund der aktuellen Lage gezwungen ist, seine Macht und den Staat organisch zu verändern, bleibt das Problem dasselbe, nämlich die Zerstörung und Einführung des Proletariats in den feindlichen Staat, um dessen demokratische Institutionen zu schützen, wodurch die Arbeiterklasse dem Kapitalismus ausgeliefert wird; und wo dieser nicht auf den Faschismus zurückgreifen darf, wird sie erneut zum Opfer interimperialistischer Konflikte und des neuen Krieges.

Die marxistische Dichotomie von Proletariat/Kapitalismus bedeutet nicht, dass Kommunisten in jeder Situation die Frage der Revolution aufwerfen müssen, sondern dass das Proletariat unter allen Umständen um seine Klassenpositionen gruppiert werden muss. Die Frage des Aufstands kann sich stellen, wenn die historischen Bedingungen für den revolutionären Kampf gegeben sind, und in den anderen Situationen wird es verpflichtet sein, ein begrenzteres Programm von Forderungen zu fördern, aber immer auf Klassenbasis. Die Frage der Macht stellt sich nur in ihrer integralen Form, und wenn die historischen Voraussetzungen für die Auslösung des Aufstands fehlen, stellt sich diese Frage nicht. Die zu stellenden Losungen werden dann den elementaren Forderungen entsprechen, die die Lebensbedingungen der Arbeiter unter dem Gesichtspunkt der Verteidigung der Löhne, der proletarischen Institutionen und der eroberten Positionen (Recht auf Organisation, Presse, Versammlung, Demonstration usw.) betreffen.

Die faschistische Offensive findet ihre Daseinsberechtigung in einer ökonomischen Situation, die jegliche Möglichkeit eines Irrtums ausschließt und davon ausgeht, dass der Kapitalismus alle Arbeiterorganisationen vernichten muss. In diesem Moment bedroht die Verteidigung der Forderungen der Arbeiterklasse direkt das kapitalistische Regime, und der Ausbruch von Abwehrstreiks kann nur im Zuge der kommunistischen Revolution stattfinden. In einer solchen Situation spielen die demokratischen und sozialdemokratischen Parteien und Organisationen – wie bereits gesagt – eine führende Rolle, aber zugunsten des Kapitalismus und gegen das Proletariat, auf der Linie, die zum Sieg des Faschismus führt, und nicht auf der Linie, die zur Verteidigung oder zum Triumph des Proletariats führt. Letztere werden zur Verteidigung der Demokratie mobilisiert, damit sie nicht für Teilforderungen kämpfen. Die deutschen Sozialdemokraten rufen die Arbeiter dazu auf, die Verteidigung ihrer Klasseninteressen aufzugeben, um die Regierung des „kleineren Übels“ Brüning nicht zu gefährden; Bauer hat dasselbe für Dollfuß zwischen März 1933 und Februar 1934 getan; der „Aktionspakt“ zwischen Sozialisten und Zentristen in Frankreich wird umgesetzt, weil er (eine Klausel, die von den Prinzipien Zyromskis inspiriert ist) den Kampf für demokratische Freiheiten beinhaltet, Streiks für wirtschaftliche Forderungen jedoch ausschließt.

Trotzki widmete ein Kapitel seiner Dokumente über die deutsche Revolution dem Nachweis, dass der Generalstreik nicht mehr die Verteidigungswaffe der Arbeiterklasse ist. Der Kampf für Demokratie ist ein wirkungsvolles Ablenkungsmanöver, um die Arbeiter von ihrem Klassenstandpunkt zu trennen und sie an die widersprüchlichen Bewegungen des Staates in seiner Metamorphose von der Demokratie zum faschistischen Staat zu binden. Die Dichotomie Faschismus/Antifaschismus dient somit ausschließlich den Interessen des Feindes; Antifaschismus und Demokratie betäuben die Arbeiter, sodass die Faschisten sie aufspießen können; sie betäuben die Proletarier, sodass sie ihr eigenes Klassenterrain nicht sehen können. Dies sind die zentralen Positionen, die die Proletarier Italiens und Deutschlands mit ihrem Blut gezeichnet haben. Der Weltkapitalismus kann den Weltkrieg vorbereiten, weil sich die Arbeiter anderer Länder nicht von diesen programmatischen Ideen inspirieren lassen. Unsere Fraktion, die von diesen programmatischen Grundsätzen inspiriert ist, setzt ihren Kampf für die italienische Revolution, für die internationale Revolution fort.

Ottorino Perrone

(Dezember 1934)

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Von edición ineditas, die Übersetzung ist von uns.


Kommunismus als Abschaffung der Arbeit

Ein Teil der Schwierigkeit, mit Arbeit zu leben, besteht für mich als Anarchist darin, dass man sich beharrlich weigert, einen Tag einfach nur Mittwoch oder Montag sein zu lassen. Man hat das Bedürfnis, jeden Tag als eine weitere Gelegenheit zu sehen, sich mit der Herrlichkeit des Lebens zu beschäftigen, aber das rassische Regime des Kapitals sagt stattdessen: „Exekutiere x, y, z und mach weiter so.“ Die Belohnung (ein Lohn!) kommt in zweiwöchigen Abständen, aber diese zwei Wochen … sind für immer vorbei. Arbeitszeit im Austausch gegen Geld ist eine der ärmsten Arten, den Tag zu verbringen, im Gegensatz zu den Hohepriestern der Hektik-Kultur. Unsere Tätigkeit ist von unserem täglichen Leben getrennt, sei es, dass wir von den Vororten in die Innenstadt zu einer Arbeitsstelle pendeln, um nur genug Lohn zu verdienen, um vielleicht am nächsten Tag Bericht zu erstatten, oder dass wir von zu Hause aus arbeiten und doch dem Leben entfremdet sind, das man normalerweise zu Hause genießt. (Das soll nicht heißen, dass das Zuhause ein neutraler Ort ist, wenn es um Arbeit geht. Marxistische Feministinnen haben festgestellt, dass das Zuhause auch ein entscheidender Bereich in der Arbeitswelt ist. Aber in der Regel ist das Zuhause ein Ort für die Arbeit, die nötig ist, um am nächsten Tag wieder zur Arbeit zu gehen, sei es für den sogenannten „Ernährer“ oder die „arbeitslosen“ Hausfrauen. Wenn man jedoch von zu Hause aus arbeitet, wird das Zuhause in die Organisation integriert, für die man arbeitet.)

Tatsache ist, dass die Abschaffung der Arbeit keine Lifestyle-Entscheidung unter all den anderen Entscheidungen ist, die auf dem Markt zu finden sind: Man kann „Paläo“ machen oder minimalistisch leben, aber man kann nicht allein „Anti-Arbeit“ machen. Es handelt sich nicht um eine weitere konsumbasierte Identität oder bloße Leistung, sondern um eine soziale Angelegenheit. Warum? Obwohl wir Arbeit oft als eine einzige Plackerei empfinden, tragen diejenigen von uns, die zur Arbeit gezwungen sind, auch dazu bei, die soziale Arbeitswelt neu zu gestalten. Die Feststellung dieser Tatsache des sozialen Lebens unter dem rassischen Regime des Kapitals hat jedoch nichts mit Schuldzuweisungen zu tun. Proletarier (oder diejenigen, die so enteignet wurden, dass sie für jemand anderen arbeiten müssen, um über die Runden zu kommen) sind gezwungen, in dieser Welt unter Zwang zu arbeiten: Wir haben kaum eine Wahl (selbst auf dem Schwarz- oder Graumarkt für Arbeitskräfte gibt es keinen Ausweg. Stress ist Stress).

Also, was ist der Ausweg? Wir haben während dessen, was manche als den „Great Resignation“ oder die „Great Refusal“ bezeichneten, einen flüchtigen Blick auf diesen Ausweg erhascht. Im Verlauf der COVID-19-Pandemie sahen sich die Proletarier mit einem Widerspruch konfrontiert, der schwer zu ignorieren war: Unsere Arbeit war sowohl „essenziell“ (für das Funktionieren der kapitalistischen Welt) und doch war unser Wohlergehen es nicht. Was wir jedoch sahen, war nicht so sehr ein Schritt in Richtung der absoluten Abschaffung der Arbeit, sondern vielmehr ein wichtiger Aspekt der Abschaffung der Arbeit: die Verweigerung der Arbeit.

Als Anti-Arbeiter können wir dazu beitragen, die Taktiken der Arbeitsverweigerung und der allgemeinen Arbeitsvermeidung zu verbreiten, aber das reicht nicht aus. Die Proletarier des Alltags, die vielleicht noch nie von „Anti-Arbeit“ oder „Arbeitsverweigerung“ gehört haben, tun jeden verdammten Tag ihr Bestes, um so wenig wie möglich zu tun, und sie sind wahrscheinlich viel zahlreicher als jeder von uns „Anti-Arbeitern“. Das ist nur ein natürliches Phänomen für Wesen, die für ein gewisses Maß an Müßiggang prädisponiert sind. Aber Müßiggang allein bedeutet nicht die Abschaffung der Arbeit. Nichtstun bedeutet nicht die Abschaffung der Arbeit. Um dies zu verstehen, müssen wir die Natur der Arbeit verstehen.

Arbeit!?

Ein häufiger Fehler, den einige machen, die sich für die Abschaffung der Arbeit einsetzen, ist die Vorstellung, dass dies bedeutet, dass nichts getan wird, von niemandem, für niemanden. Aber genau das tun die Reichen. Sie tun nichts (oder fast nichts, aber nie so viel, wie nötig wäre, um ihren Reichtum durch einen direkten Lohn auf solch obszöne Höhen zu bringen) und leben von der Arbeit anderer. Die Abschaffung der Arbeit zielt darauf ab, die Ausbeutung einiger durch andere zu beseitigen und entfremdete Arbeit/Tätigkeit zu eliminieren.

In der Praxis bedeutet dies, dass Dinge immer noch gebaut werden, Lebensmittel immer noch geerntet werden und man im Laufe des Tages immer noch einige schwierige Aufgaben hat. Das Entscheidende dabei ist jedoch, dass Ihre Tätigkeit direkt gelebt wird und direkt Teil Ihres Lebens und des Lebens der Gemeinschaft ist, mit der man zusammenlebt. Man kann beispielsweise Chiasamen entlang eines Baches aussäen, damit man und der Rest unserer lebenden Verwandten sich daran erfreuen können; man kann beim Aufbau eines Zeltes für ein gemeinsames Fest helfen; man kann bei der Kinderbetreuung helfen, damit einige an einem Retreat teilnehmen können; man kann seinen Nachbarn helfen, ihr Auto mit dem Anlasserproblem zu starten. Und wenn all diese gemeinschaftlichen Aktivitäten zunehmen, entwickeln wir eine gemeinschaftliche Kultur der gegenseitigen Hilfe: wo unsere Aktivitäten einander zugutekommen und dieser Nutzen bekannt ist, aber jenseits der ständigen Buchführung der kapitalistischen Ordnung existiert: für Beziehungen ohne Maß.

Jetzt kommen die Neinsager, die sagen, dass niemand etwas tun wird, ohne dafür bezahlt zu werden: eine Einstellung, die mich daran erinnert, wie tief die kapitalistische Indoktrination sitzt. Ja, in dieser Welt tun viele von uns vielleicht nicht viel ohne Bezahlung, weil wir verdammt noch mal enteignet sind! Nicht nur unserer Grundbedürfnisse beraubt, sondern sogar der Zeit, um uns wirklich zu amüsieren oder einander zu helfen. Aber wenn unsere Bedürfnisse und Wünsche erfüllt werden, wenn wir nicht chronisch geistig, körperlich und emotional erschöpft sind, wenn wir nicht nur die Tage bis zum nächsten Zahltag zählen, dann haben wir viel Zeit zur Verfügung: Oder besser gesagt, das Messen der Zeit wird als alltägliche mentale Aktivität wegfallen. Denn wer muss schon die Stunden zählen, wenn der halsbrecherische Rhythmus des Kapitals durchbrochen wird? Wir verbinden fast jede Tätigkeit mit der Arbeitswelt. Ich plädiere nicht für eine Umarmung der „Schwerstarbeit“, wie es die staatssozialistischen Regime der Vergangenheit getan haben (Nieder mit Hammer und Sichel!), sondern dafür, dass sich schwierige Tätigkeiten qualitativ anders anfühlen, wenn der Druck eines Chefs, der Miete, eines Polizisten oder eines Lehrers nicht mehr auf einem lastet. Das Leben wird weitergehen, mit all seinen Härten. Die Abschaffung der Arbeit ist kein Zauberstab, der ein Portal zu einer reinen Utopie öffnet.

Kommunismus als Abschaffung der Arbeit

Die Abschaffung der Arbeit ist entweder die echte Bewegung, die den gegenwärtigen Zustand der Dinge abschafft, oder sie ist nichts. Die Abschaffung der Arbeit ist kein Moment, keine Jahreszeit oder ein Lebensstil: Sie ist Teil des Inhalts des Kommunismus. Mit Kommunismus meine ich einfach eine freie, klassenlose Lebensweise, in der wir das, was wir brauchen und was wir uns wünschen (ohne kapitalistische Konditionierung), haben können und unser Leben so leben können, wie wir es für richtig halten. Die Einzelheiten dieser Regelung wären Sache derer, die sie umsetzen, aber viele Radikale haben ihre eigenen Vorstellungen (siehe Anarchistinnen und Anarchisten). Die einzige Möglichkeit, Arbeit, wie wir sie jetzt erleben, zu beseitigen, besteht darin, gemeinsam zu leben.

Warum?

Weil die eigentliche Grundlage unserer Enteignung nicht nur darin besteht, dass wir uns von unserer Zeit (Arbeitszeit), von unserer Tätigkeit (Lohnarbeit), sondern auch voneinander trennen. Auch dieses Grundbedürfnis (in Ermangelung eines besseren Begriffs) wird uns Tag für Tag gestohlen.

Im Kapitalismus werden die Produkte unserer Arbeit (im Kapitalismus als „Waren“ bezeichnet, ob physisch oder dienstleistungsbasiert) auf dem Markt zum höchsten Preis und zum niedrigstmöglichen Lohn verkauft. Im Kommunismus sind die sogenannten Arbeitsprodukte nicht mehr für den Markt bestimmt, und da die Abschaffung der Arbeit die Abschaffung des Zwangs impliziert, würde der Staat auch aus seiner Staatssozialistischen Rolle als oberster Schiedsrichter. In der Tat sind die Stoffwechselprodukte unserer nachkapitalistischen kommunistischen (oder anarchistischen) Tätigkeit nicht mehr Produkte, Waren oder Dienstleistungen: Es sind nur Dinge und Tätigkeiten, die wir neu erschaffen, um uns selbst und denen, mit denen wir in Gemeinschaft leben, ein Leben zu ermöglichen.

Der Weg zurück in eine Welt ohne Arbeit führt nicht über ein Programm, eine Liste von Anweisungen oder eine staatlich verordnete Politik: Er führt untereinander.

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Gefunden auf infokiosques, mit der spanischen Übersetzung verglichen, die Übersetzung ist von uns. Weitere solche geile Texte werden folgen.


Die staatsbürgeristische Sackgasse des. Beitrag zu einer Kritik des Staatsbürgerismus– Alain C.

Ein paar einleitende Wörter:

Wir haben vor fast drei Jahren zu der Einleitung eines Textes der sich mit derselben Thematik beschäftigt, folgendes geschrieben: „Bei den folgenden Artikeln liegt, unter anderem, der Schwerpunkt auf die Debatte/Kritik der modernen Figur des sogenannten Staatsbürgers, bzw. der Ideologie dahinter, als Ersatz zu der Klassenkonfrontation, zu der wir auf Deutsch noch keinen passenden Begriff gefunden haben – man könnte den der Staatsbürgerschaft verwenden – zumindest im Gegensatz zu anderen Sprachen (Citizen und Citizenship (Englisch), Ciudadano und Ciudadanismo (Spanisch) und Citoyen und Citoyenneté (Französisch). Weitere Texte zu der Thematik finden sich hier, Textreihe Kritik an der Linken des Kapitalismus und hier Staatsbürgerschaft. Hiermit fahren wir mit der Kritik an den Staatsbürgertum/Staatsbürgerschaft fort und der unumgänglichen Notwendigkeit die Konfrontation im Kapitalismus als eine zwischen Klassen zu verstehen.“

Wir selbst haben seit dem uns mehrmals den Kopf zerbrochen und überlegt wie wir die oben erwähnten Begriffe einheitlich verwenden könnten, denn es ergibt auch gar keinen Sinn jedes Mal andere Begriffe zu verwenden. Denn wir sind selbst in die Falle getappt über die Jahre verschiedene Begriffe zu verwenden von denen wir dachten sie würden am verständlichen wirken, ohne dabei auf dass wichtigste zu achten, nämlich den Inhalt des Begriffes selbst, auch wenn wie gleich gesehen wird, furchterregende Neologismen kreiert haben. Während wir in den jüngsten Vergangenheit von Staatsbürgerschaft (siehe oben z.B.) als ein Begriff verwendeten der eine Ideologie benennen und beschreiben sollte, haben wir uns für Staatsbürgerismus letzten Endes entschieden.

Aus dem Französischen über´s Spanische finden wir folgende Begriffe die wir auch daher so in Deutsche übersetzt haben, weil es für uns am präzisesten ist:

Citoyen – Ciudadano – Staatsbürger

Citoyennisme – Ciudadanismo – Staatsbürgerismus

Citoyenniste – ciudadanista – staatsbürgeristisch

In den verschiedenen Texten die wir zu der Thematik veröffentlicht haben haben wir als Übersetzung den Begriff Staatsbürgerschaft verwendet, aber dieser erweißt sich als unzureichend.

Der hier vorliegende Text, wurde im Jahr 2001 veröffentlicht, sagt dass die alte Arbeiterbewegung versagt hat und besiegt. Sie hat im Grunde versagt weil sie im Grunde nicht die Zerstörung des Staates-Kapitals in Visier genommen hat, sondern nur deren Verwaltung. Da die Organisationen der alten Arbeiterbewegung (Kommunistische Parteien, Gewerkschaften) entweder verschwunden sind oder kurz davor sind, ein Schatten ihrer selbst sind, oder irrelevant geworden sind, musste für den sozialen Frieden, für die Integration des Proletariats im Kapitalismus eine neue Ideologie-Bewegung entstehen, die den falschen Antagonismus der alten Arbeiterbewegung nicht mehr zu täuschen brauchte.

Nämlich den sogenannten citoyennisme. Die zentrale Figur, oder Subjekt, essentiell in der Demokratie ist der Staatsbürger, eine politische Figur die nur durch und mit dem modernen Staat existiert. Es wäre nicht richtig hier an die Bürger der Griechischen Polis zu denken, genauso wenig an jene der Römischen Republik bis der Rubikon überquert wurde, nein hier spielt alleine der Staatsbürger als Produkt der Französischen Revolution eine zentrale Rolle, genauso wie die Demokratie, die wie bekannt sein sollte, ein System ist der eine Gesellschaft die in Klassen gespalten ist und unversöhnlich ist, eben diesen Antagonismus durch die Demokratie aufhebt (was natürlich unmöglich ist) und die Klassen „verschwinden lässt“.

Das Konzept des Staatsbürgers stammt aus der Aufklärung und der Französischen Revolution und wird in der Regel hauptsächlich in der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz umgesetzt. Dafür ist aber nicht nur ein starker und funktionierender Staat die Voraussetzung, sondern dient diese Gleichheit vor dem Gesetz, welches auch nur durch das Gewaltmonopol garantiert werden kann, durch das Gesetz selbst, was nur das Abbild der Interessen der herrschenden Klasse ist.

Dieser Text befasst sich mit der Ideologie die als radikal präsentiert wird und sogar hier eine sehr große Rolle spielt, wie wir in vielen Kämpfen und bei Wahlen spielt.Dieser Text geht eine Debatte/Kritik ein die so im deutschsprachigen Raum kaum bis gar nicht bekannt ist. Eine Debatte/Kritik die sich für die deutsche Sprache (wahrscheinlich) unmöglicher und unverständlicher Begriffe bedient, eine Mischung zwischen Neologismen und syntaktischen Spagats. Wir denken auch gerade wie der Eindruck bei den ersten Texte der SI (Situationistischen Internationale) gewesen sein muss, wenn immer wieder die Begriffe Rekuperation, Racket, oder aufgrund des herrschenden Pauperismus in sogenannten anarchistischen Kreisen (in Wahrheit sozialdemokratischen) eine Unmöglichkeit eintrifft anarchistische Idee zu verstehen, wie es so oft der Fall beim aufständischen Anarchismus und der anarchistischen Geschichte selbst der Fall ist, apropos jene Geschichte die die des Proletariats ist.

Zentrale Aspekte der Kritik sind folgende:

– Das Aufgeben revolutionärer Positionen/Programm, jegliche Aktion finden und (kann nur) innerhalb der Legalität des demokratischen Staates, ergo des kapitalistischen ökonomischen System entwickelt werden.

– Kämpfe zielen nicht mehr die Risse der Gesellschaft aufzureißen, sondern die Demokratie selbst als Vehikel der Verbesserung (Reformen) zu verstehen. Wir sehen dies im Bereich vieler Kämpfe wie für Menschenrechte, um die Wohnung, Umwelt, usw., da die Zeit der sozialen Revolution abgelaufen ist, kann nur noch ein Arrangement mit dem Kapitalismus existieren. Wir haben dies die letzten Jahre in den Illusionen gesehen die (auch bei Anarchistinnen und Anarchisten) in Parteien/Politiker wie Syriza, Podemos, die Linke, Obama aufgingen.

Da die alte Arbeiterklasse Geschichte ist (gemeint sind aber seine Organisationen die sich nicht als effektiv bewiesen haben) hat der Staatsbürgerismus diesen Platz eingenommen, nur mit dem Unterschied dass dieser nicht so tut als ob er gegen Staaten-Nationen-Kapital kämpft, sondern nur eine reaktionäre Funktion erfüllt, „nämlich die Stärkung eines Staates im Dienste des Kapitals.“

Eine andere Debatte die hier aufgehen würde, ist ob und überhaupt die Demokratie das beste System ist, das als die Voraussetzung für die soziale Revolution (davor den allgemeinen bewaffneten Aufstand des Proletariats), ergo die klassenlose Gesellschaft (frei von Nationen, Staaten, Waren, Geld, Grenzen, Patriarchat, etc.), gilt. Wir sind entschieden gegen diese Auffassung. Zumindest was eine positive und naive Vorstellung der Demokratie angeht.

Genauso wie die historische Rolle der Linken (radikalen auch) des Kapitals, aber dies wäre ein komplett anderes Kapitel.

Weitere interessante Frage treten im Verlauf des Textes auf, aber wir wollen ja nicht alles vorwegnehmen.

Salud


Die staatsbürgeristische Sackgasse des. Beitrag zu einer Kritik des Staatsbürgerismus– Alain C.

Wenn die Logik des falschen Bewußtseins sich nicht selbst wahrheitsgemäß erkennen kann, so muß die Suche nach der kritischen Wahrheit über das Spektakel auch eine wahre Kritik sein. Sie muß praktisch unter den unversöhnlichen Feinden des Spektakels kämpfen und zugeben, dort abwesend zu sein, wo sie abwesend ist. Der abstrakte Wille zur unmittelbaren Wirksamkeit erkennt die Gesetze des herrschenden Denkens, den ausschließlichen Gesichtspunkt der Aktualität an, wenn er sich den Kompromittierungen des Reformismus oder der gemeinsamen Aktion pseudorevolutionärer Trümmerhaufen ergibt. Dadurch hat sich der Wahn in derselben Position wiederhergestellt, die ihn zu bekämpfen beansprucht. Die über das Spektakel hinausgehende Kritik muß viel mehr zu warten wissen.“

Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels

Die im Folgenden vorgestellten Thesen erheben nicht den Anspruch, das letzte Wort zu dem behandelten Thema zu haben. Sie sind vielmehr eine Reihe von Anhaltspunkten, die in einigen Fällen weiterverfolgt und vertieft werden können, in anderen einfach aufgegeben werden können. Wenn es uns gelingt, einer Kritik, die noch auf der Suche nach sich selbst ist, einige Referenzpunkte (u. a. historische) zu geben, werden wir unser Ziel voll und ganz erreichen.

Wir sind auch der Meinung, dass weder dieser Text noch irgendein anderer allein durch die Kraft der Theorie den Staatsbürgerismus zu Fall bringen kann. Die wahre Kritik am Staatsbürgerismus wird nicht auf dem Papier erfolgen, sondern das Ergebnis einer sozialen Bewegung sein, die diese Kritik zwangsläufig enthalten muss, was bei Weitem nicht ihr einziger Vorzug sein wird. Es ist die gesamte Gesellschaftsordnung, die durch den Staatsbürgerismus in Frage gestellt wird, eben weil diese Ordnung ihn enthält.

Der Zeitpunkt scheint uns geeignet, um mit dieser Kritik zu beginnen. Wenn der Staatsbürgerismus anfangs eine gewisse Verwirrung darüber aufkommen lassen konnte, was er wirklich war, so ist er heute aufgrund seines eigenen Erfolgs gezwungen, immer mehr sein wahres Gesicht zu zeigen. Mehr oder weniger kurzfristig wird er sein wahres Gesicht zeigen müssen. Dieser Text versucht, diese Enthüllung vorwegzunehmen, damit wir zumindest nicht unvorbereitet sind und angemessen reagieren können.

I. Vorläufige Definition

Wir beschränken uns auf eine einleitende Definition des Staatsbürgerismus, d. h. wir konzentrieren uns nur auf das Offensichtliche. Ziel dieses Textes ist es, mit einer genaueren Definition zu beginnen.

Unter Staatsbürgerismus verstehen wir zunächst eine Ideologie, deren Hauptmerkmale sind:

1) der Glaube, dass die Demokratie in der Lage ist, sich dem Kapitalismus entgegenzustellen;

2) das Projekt, den Staat (oder die Staaten) zu stärken, um diese Politik umzusetzen;

3) die Staatsbürger als aktive Grundlage dieser Politik.

Das ausdrückliche Ziel des Staatsbürgerismus ist es, den Kapitalismus zu vermenschlichen, ihn gerechter zu machen, ihm in gewisser Weise eine zusätzliche Seele zu verleihen. Der Klassenkampf wird hier durch die politische Beteiligung der Staatsbürger ersetzt, die nicht nur ihre Vertreter wählen, sondern auch ständig Druck auf sie ausüben müssen, damit sie das umsetzen, wofür sie gewählt wurden. Natürlich dürfen die Staatsbürger die staatlichen Behörden in keinem Fall ersetzen. Sie können von Zeit zu Zeit das praktizieren, was Ignacio Ramonet „zivilen Ungehorsam“ genannt hat (nicht mehr „zivil“, ein Begriff, der zu sehr an den „Bürgerkrieg“1 erinnert), um die Behörden zu einem Politikwechsel zu zwingen.

Der Rechtsstatus des „Staatsbürgers“, einfach verstanden als Staatsangehöriger eines Staates, erhält einen positiven, ja sogar anstößigen Inhalt. Als Adjektiv beschreibt der Begriff „Staatsbürger“ im Allgemeinen alles, was gut und großzügig, engagiert und verantwortungsbewusst ist, und allgemeiner, wie man früher sagte, „sozial“. In diesem Sinne können wir von „Staatsbürgerunternehmen“, „Staatsbürgerdebatten“, „Staatsbürgerkino“ usw. sprechen.

Diese Ideologie manifestiert sich in einer Vielzahl von Assoziationen, Gewerkschaften/Syndikate, Presseorganen und politischen Parteien. In Frankreich gibt es Assoziationen wie ATTAC, die Freunde von „Monde Diplomatique“, AC! [Gemeinsam gegen Arbeitslosigkeit], Droit au Logement [Recht auf Wohnung], APOC [Kriegsdienstverweigerer], die Ligue des Droits de l’Homme [Menschenrechtsliga], das Netzwerk Sortir du nucléaire [Atomausstieg], usw. Es ist erwähnenswert, dass die meisten Personen, die in dieser Bewegung militieren, oft gleichzeitig mehreren Assoziationen angehören. Auf gewerkschaftlicher/syndikalistischer Ebene haben wir die CGT [verbunden mit der Kommunistischen Partei Frankreichs], SUD [gegründet von Trotzkisten], die Confédération Paysanne, die UNEF [Nationale Studentenvereinigung Frankreichs] usw. Was die politischen Parteien betrifft, so sind die trotzkistischen Parteien und die Grünen vertreten. Allerdings haben die politischen Parteien einen anderen Status, aber wir werden diese Frage später behandeln. Am äußersten linken Rand des Staatsbürgerismus können wir die Fédération Anarchiste, die CNT und die antifaschistischen Anarchisten einordnen, die in den meisten Fällen den staatsbürgerlichen Bewegungen folgen, um ihren libertären Beitrag zu leisten, sich aber in Wirklichkeit auf demselben Terrain befinden.

Auf weltweiter Ebene haben wir Bewegungen wie Greenpeace usw. und all die Gewerkschaften/Syndikate, Assoziationen, Lobbys, Dritte-Welt-Bewegungen (A.d.Ü., Dritterweltismus) usw., die sich in Seattle getroffen haben. Eine vollständige Liste zu erstellen, wäre zu lang. Wichtig ist, dass all diese Gruppierungen ideologisch, mit lokalen Varianten, auf demselben Terrain stehen. Der Staatsbürgerismus ist heute eine weltweite Bewegung, die auf einer gemeinsamen Ideologie beruht. Von Seattle bis Belgrad, von Ecuador bis Chiapas erleben wir den Aufschwung dieser Bewegung, und jetzt geht es sowohl für sie als auch für uns darum, zu wissen, welchen Weg sie einschlagen und wie weit sie gehen kann.

II. – Voraussetzungen und Fundamente

Die Wurzeln des Staatsbürgerismus sind in der Auflösung der alten Arbeiterbewegung zu suchen. Die Ursachen für diese Auflösung liegen sowohl in der Integration der alten Arbeiterbewegung als auch im offensichtlichen Scheitern ihres historischen Projekts, das sich in äußerst unterschiedlichen Formen manifestieren konnte (sagen wir, vom Marxismus-Leninismus bis zu den Rätekommunisten). Dieses Projekt forderte in seinen verschiedenen Ausprägungen, dass das Proletariat die kapitalistische Produktionsweise übernehmen sollte, eine Produktionsweise, deren Kinder und damit Erben sie sind. Das Wachstum der Produktivkräfte war in dieser Weltanschauung auch der Weg zur Revolution, die eigentliche Bewegung, durch die sich das Proletariat als künftige herrschende Klasse (die Diktatur des Proletariats) konstituierte, eine Herrschaft, die später (nach einer problematischen „Übergangsphase“) zum Kommunismus führen sollte. Das tatsächliche Scheitern dieses Projekts erfolgte in den 1920er Jahren und 1936-38 in Spanien. Die internationale Bewegung der 1960er Jahre (1968) wurde oft als „zweiter proletarischer Angriff auf die Klassengesellschaft“ nach dem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts angesehen.

Mit der Krise und der Einleitung der Globalisierung in ihrer modernen Form markieren die 70er und dann die 80er Jahre den Niedergang und das Verschwinden dieses historischen Projekts. Diese Globalisierung ist gekennzeichnet durch zunehmende Automatisierung, d.h. Massenarbeitslosigkeit und Produktionsverlagerung in die ärmeren Länder, wodurch das alte Industrieproletariat der Industrieländer aus den Fabriken verdrängt wird. Hier ist eine Tendenz der Unternehmen zu beobachten, sich zumindest formal von einem Großteil des Produktionssektors zu „entledigen“, um ihn auf die Zulieferung zu verweisen und sich idealerweise nur noch mit Marketing und Spekulation zu befassen. Dies bezeichnen die Staatsbürgeristen als „Finanzialisierung des Kapitals“. Ein Unternehmen wie Coca-Cola besitzt derzeit praktisch keine Produktionseinheiten mehr und begnügt sich damit, „die Marke zu verwalten“, sein Börsenkapital zu vermehren und „neu zu investieren“, indem es kleinere Wettbewerber aufkauft, die es zuvor zur Standortverlagerung gezwungen hatte usw. Es gibt eine doppelte Bewegung der Kapitalkonzentration und der Produktionsfragmentierung. Ein Auto kann aus in Mexiko hergestellten Stoßstangen und aus in Taiwan gefertigten elektronischen Bauteilen bestehen, wobei das Ganze in Deutschland montiert wird, während die Gewinne an der Wall Street umlaufen.

Die Staaten begleiten diese Globalisierung, indem sie sich des aus der Kriegswirtschaft stammenden öffentlichen Sektors entledigen (Entstaatlichung), die Arbeitskosten so weit wie möglich „flexibilisieren“ und senken. In Frankreich führte dies zu dem Gesetz über die 35-Stunden-Woche, das von der staatsbürgeristischen Bewegung (zumindest in ihren offiziellen Erklärungen), der Arbeitslosenbewegung von 1998 und dem PARE (Plan zur Unterstützung der Rückkehr in den Beruf) so vehement gefordert wurde.

Die Machtübernahme der Linken im Jahr 1981 und die Studenten- und Eisenbahnerbewegung im Jahr 1986 sind Bezugspunkte, die es uns ermöglichen, den Fortschritt dieser Auflösung und den Ersatz der alten Arbeiterbewegung durch den Staatsbügerismus im Rahmen der Globalisierung zu verorten. Die Bewegung von 1968 war in Frankreich wie auch im Rest der Welt in der Tat „der letzte Angriff auf die Klassengesellschaft“. Ihr Scheitern markiert die historische Auflösung dessen, was bis dahin der Traum von der historischen Anerkennung des Proletariats als Proletariat, d. h. als Arbeiterklasse, war. Die Selbstverwaltung und die Arbeiterräte waren die äußerste Ausprägung dieser Bewegung. Wir bereuen nichts. Nach diesen Jahren wurde auch eine viel breitere und vielfältigere soziale Protestbewegung liquidiert, während sich die schwere Bleischicht der 1980er Jahre über die Welt legte.

Auch wenn der Slogan „Alles gehört uns, nichts gehört ihnen“ bei Demonstrationen immer noch zu hören ist, entspricht er genau dem Gegenteil der Realität, und das war schon immer so. Er bezieht sich offensichtlich auf eine illusorische „Verteilung des Reichtums“ (und von welchen Reichtümern können wir heute sprechen?), stammt aber direkt von der alten Arbeiterbewegung, die die kapitalistische Welt selbst verwalten wollte. In diesem Satz lässt sich sowohl ein Wiederaufleben, eine Kontinuität als auch eine Verdrehung der Ideale der alten Arbeiterbewegung (offensichtlich in ihrem weniger revolutionären Teil) durch den Staatsbürgerismus erkennen. Das nennt man die Kunst, die Reste zu verwerten. Wir werden später auf diesen Punkt zurückkommen.

Das Verschwinden des Klassenbewusstseins und seines historischen Projekts, erschöpft durch die Zersplitterung der Arbeit, durch das allmähliche Verschwinden der großen „gemeinschaftlichen“ Fabrik sowie durch die Prekarisierung der Arbeit (alles nicht das Ergebnis einer Verschwörung, die versucht, das Proletariat zu knebeln, sondern des Prozesses der Kapitalakkumulation, der zur heutigen Globalisierung geführt hat), hat das Proletariat verstummen lassen. Es zweifelt sogar an seiner eigenen Existenz, ein Zweifel, der von einer großen Zahl von Intellektuellen und von dem, was Debord als „integrierten Spektakel“ bezeichnete, das nichts anderes ist als die Integration in das Spektakel, angefacht wurde.

Angesichts dieser Perspektivlosigkeit konnte sich der Klassenkampf nur in Verteidigungskämpfen erschöpfen, die manchmal sehr gewalttätig waren, wie im Fall Englands. Aber diese Energie war vor allem die Energie der Verzweiflung. Es kann auch hervorgehoben werden, dass dieser Verlust positiver Perspektiven sich bei den Menschen, die die 60er und 70er Jahre erlebt haben, oft in einer sehr realen persönlichen Verzweiflung manifestiert hat, die manchmal bis zu ihren letzten Konsequenzen, Selbstmord oder Terrorismus, geführt hat.

Der Staatsbügerismus fügt sich somit in diesen Rahmen ein: Nachdem die Revolution begraben war, als sich keine Kraft mehr in der Lage fühlte, die radikale Umgestaltung der Welt in Angriff zu nehmen, und angesichts der Tatsache, dass die Ausbeutung ihren Lauf nahm, musste sich eine Form des Protests äußern. Dies war der Staatsbürgerismus. Seine offizielle Geburtsstunde kann im Verlauf der Unruhen im Dezember 1995 [in Frankreich] verortet werden. Diese Bewegung, die auf der realen Grundlage der Opposition gegen die Privatisierung des öffentlichen Sektors und die damit einhergehende Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und den Verlust des eigentlichen Sinns der Arbeit entstand, konnte sich in dieser Situation nur als Verteidigung des öffentlichen Sektors und nicht als Infragestellung der kapitalistischen Logik im Allgemeinen, wie sie sich im öffentlichen Dienst manifestiert, manifestieren. Die Verteidigung dieses Sektors impliziert logischerweise, dass dieser Sektor als außerhalb der kapitalistischen Logik betrachtet wird oder betrachtet werden sollte. Es war keine gute Kritik an dieser Bewegung, als ihr vorgeworfen wurde, eine Bewegung von Privilegierten oder einfach von egoistischen Korporatisten zu sein. Aber es lässt sich feststellen, dass selbst die großzügigsten oder radikalsten Aktionen dieser Bewegung die gleichen Grenzen hatten. Alle Haushalte kostenlos mit Strom zu versorgen ist eine Sache, über die Produktion und Nutzung von Energie nachzudenken eine andere. Man kann an diesen Aktionen erkennen, dass der Staat als eine vom Kapital parasitierte Gemeinschaft verstanden wird, wobei das Kapital zwischen den Staatsbürgern-Nutzern und dem Staat steht. Der Staatsbürgerismus sagt nichts anderes aus.

Wir können sehen, dass der Staatsbürgerismus keine radikalere Bewegung rekuperieren könnte. Im Moment existiert eine solche Bewegung einfach nicht. Der Staatsbürgerismus entwickelt sich als Ideologie, die notwendigerweise von einer Gesellschaft hervorgebracht wird, die keine Aussichten auf Überwindung [des Systems] in Betracht zieht.

Wir können auch hervorheben, dass die Bewegung von 1995, dem Geburtsjahr des Staatsbürgerismus, ein Misserfolg war, selbst in Bezug auf ihre begrenzten grundlegenden Ziele. Die Privatisierung des öffentlichen Sektors schreitet weiter voran, und dieser Sektor kann sogar als Vorreiter der Ideologie des Privaten gelten, was die Beteiligung der Unternehmen, die Einbeziehung in die Verwaltung usw. betrifft. In diesem Sektor gibt es Massenentlassungen, es entstehen immer mehr prekäre Arbeitsverhältnisse, die so genannten „Arbeit-Jugend“, Arbeitsplätze werden abgebaut und die verbleibenden überlastet. Auch der öffentliche Sektor steht bei der Umsetzung der 35-Stunden-Woche, d. h. der Flexibilisierung, an vorderster Front. Auch hier zeigt sich, dass die Logik des Staates und die des Kapitals, wenn nötig, keineswegs im Widerspruch zueinander stehen, was eine der internen Grenzen des Staatsbürgerismus darstellt.

III. – Das Verhältnis zum Staat, Reformismus und Keynesianismus.

Die Beziehung des Staatsbürgerismus zum Staat ist sowohl eine Beziehung der Opposition als auch der Unterstützung, oder besser gesagt der kritischen Unterstützung. Es kann sich dem Staat widersetzen, aber es kann nicht auf die Legitimität verzichten, die er ihm bietet. Die staatsbürgerlichen Bewegungen müssen sich schnell zu Gesprächspartnern entwickeln und dazu manchmal „radikale“, d. h. illegale oder spektakuläre Aktionen durchführen. Es geht darum, sich gleichzeitig in die Opferrolle zu versetzen, den Staat in Verlegenheit zu bringen (d.h. den idealen Staat dem realen Staat gegenüberzustellen) und so schnell wie möglich an den Verhandlungstisch zu gelangen. Das Eintreffen der CRS (Bereitschaftspolizei) bestätigt, dass die Staatsbürgeristen verstanden wurden. Natürlich muss all dies vor den Augen der Kameras geschehen. Hier ist die Repression der Vorläufer der staatsbürgerlichen Bewegungen: Die Konfrontation ist nicht mehr wie in früheren Zeiten der Moment, in dem das Kräfteverhältnis gemessen wird, sondern besteht aus einer symbolischen Legitimation. Daher beispielsweise das Missverständnis zwischen René Riesel [ehemaliges Mitglied der Situationistischen Internationale] und einigen anderen der Confédération Paysanne, die dieses Kräfteverhältnis herstellen wollten, und José Bové (und offensichtlich dem Großteil der Confédération), die durch eine spektakuläre Aktion ihre Bewegung zu einem Gesprächspartner des Staates machen wollten, was tatsächlich teilweise gelungen ist.

Der Staat selbst akzeptiert diese Praktiken großzügig, und jeder kann heute eine kleine Demonstration abhalten, zum Beispiel die Außenbezirke blockieren und anschließend offiziell empfangen werden, um seine Forderungen vorzutragen. Die Staatsbürgeristen sind empört über diesen Zustand, zu dem sie selbst beigetragen haben, und meinen, dass man den Staat trotzdem nicht wegen Kleinigkeiten stören sollte. Die privilegierten Gesprächspartner sehen Parasiten und andere Raubvögel der Demokratie mit Missfallen.

Darüber hinaus werden bestimmte staatsbürgerliche Praktiken direkt vom Staat gefördert, wie die „Staatsbürgerliche Debtten“ oder „Debatten der Staatsbürger“ zeigen, mit denen der Staat sich das „Wort an die Statsbürger“ anmaßt. Es ist interessant zu sehen, wie sehr sich diese Bewegung mit jedem Ersatz für einen Dialog zufrieden gibt und bereit ist, in allem nachzugeben, solange sie nur gehört wird und die Experten „auf ihre Anliegen eingegangen sind“. Der Staat spielt hier die Rolle des Vermittlers zwischen der „Zivilgesellschaft“ und den ökonomischen Instanzen, genauso wie die Staastbürgeristen als Vermittler zwischen dem kritisch überarbeiteten Staatsprogramm (das nichts anderes ist als das Transmissionsriemen der Kapitaldynamik) und der „Zivilgesellschaft“ fungieren. Das hat man beim 35-Stunden-Gesetz gesehen. Die Staatsbürgeristen spielen hier die Rolle, die früher den Gewerkschaften/Syndikaten in der Arbeitswelt zukam, und zwar für alles, was als „Probleme der Gesellschaft“ bezeichnet wird. Das Ausmaß der Mystifizierung zeigt auch das Ausmaß des möglichen Protestbereichs, der sich auf alle Aspekte der Gesellschaft ausgedehnt hat.

In ihrer Beziehung zum Staat beginnen die Staatsbürgeristen – zumindest in Frankreich – an ihrem Sieg zu erkranken. Die Bewegung spaltet sich immer mehr auf und bildet sich neu zwischen denen, die dazu neigen, der Macht zu vertrauen (auf der linken Seite), und den Radikaleren, die den Kampf fortsetzen wollen. Aber das wesentliche Problem ist aufgeworfen worden. Wen könnten die Menschen noch wählen, wenn die Linke erst einmal an der Macht ist? Braucht es mehr Grüne in der Regierung oder sollten diese sich aus der Macht zurückziehen, um ihre Rolle in der Opposition besser ausüben zu können? Aber wozu ist eine politische Partei gut, wenn nicht dazu, sich in die demokratische Arena zu begeben?

Der Staatsbürgerismus ist von seiner Natur her unfähig, sich auf eine Partei zu konzentrieren, zumindest in den demokratischen Gesellschaften, die wir kennen. Es bräuchte eine Diktatur oder eine autoritäre Demokratie, damit die Bestrebungen der Klein- und Mittelbourgeoisie mit einer breiteren Opposition in Resonanz treten und es gelänge, eine demokratische Partei der radikalen Opposition zu organisieren. Wir haben dies in Belgrad oder in Venezuela mit dem Nationalpopulismus von Chávez gesehen. Dagegen gibt es dort, wo es Demokratie gibt, bereits Parteien, die die Bestrebungen dieser Klein- und Mittelbourgeoisie vertreten, und genau diesem Parteiensystem trauen viele Staatsbürgeristen nicht mehr. In den am weitesten entwickelten Ländern konzentriert sich der Staatsbürgerismus im Wesentlichen auf den Wunsch nach einer direkteren, „partizipativen“ Demokratie, einer Demokratie der „Staatsbürger“. Natürlich schlagen sie keine Methode vor, um dies zu erreichen, und dieser Wunsch nach direkter Demokratie endet wie immer an den Wahlurnen oder in der ohnmächtigen Stimmenthaltung.

Unter diesem Gesichtspunkt bieten die Grünen ein interessantes Schauspiel, da sie diese Grenze des Staatsbürgerismus aufzeigen. Aus den Umweltbewegungen der 70er Jahre hervorgegangen, haben sie es in den 80er Jahren geschafft, sich über Wasser zu halten. Aber sie stützen sich immer noch auf das alte Parteimodell, eine hierarchische Form, die der nebulösen Natur der lebendigen Kräfte des Staatsbürgerismus widerspricht. Aufgrund ihrer eigenen Natur liefen sie daher Gefahr, mit der realen Erfahrung der Macht konfrontiert zu werden, was schließlich auch geschah. Tatsächlich ist dies das letzte politische Risiko, dem die „Reformisten“ ausgesetzt sind, nämlich zu regieren. In diesem Szenario politisch aktiv (A.d.Ü., im Sinne der Militanz) zu sein, ist nicht immer ohne Konsequenzen, wie die Grünen auf ihre Kosten feststellen konnten.

Was es ermöglicht, das Risiko zu umgehen, ist das „Lobbying“. Die Lobbys üben niemals Macht direkt aus. Daher können ihnen die „Misserfolge“ des Staates nicht angelastet werden. Der Militantismus des „Lobbying“ kennt in jeder Hinsicht keine Grenzen. Das ist äußerst befriedigend für Menschen, die sich engagieren möchten, ohne allzu große politische Risiken einzugehen. In einer Lobby ist man unter seinesgleichen, man muss keine soziale Basis suchen, wie es bei den klassischen Parteien der Fall ist, indem man mehr oder weniger demagogische Mittel einsetzt. Man kann sich getrost als „radikal“ zeigen. Man kann ungestört den kritischen Ratgeber des Prinzen spielen, ohne sich mit den Schwierigkeiten der Regierung auseinandersetzen zu müssen. Man kann sich ewig über den Mangel an „politischem Willen“ in den Bereichen Kernenergie, Einwanderung oder öffentliche Gesundheit beklagen, ohne auch nur im Geringsten darüber nachdenken zu müssen, was ein Staat im kapitalistischen Kontext tatsächlich tun kann.

Eines der wahnsinnigsten Beispiele dafür ist die unbeschreibliche Vereinigung ATTAC. Es ist allgemein bekannt, dass die bloße Idee einer Besteuerung von Börsentransaktionen selbst den dümmsten Ökonomen vor Lachen in die Knie zwingt. Es ist offensichtlich, dass die Anwendung dieser Besteuerung in einem einzigen Staat diesen in eine tiefe Krise stürzen würde und dass die weltweite Anwendung dieser Maßnahme offensichtlich unmöglich ist. Es ist offensichtlich, dass selbst wenn eine Organisation wie die WTO, die von einem Wahnsinnsausbruch erfasst wurde, diese Maßnahme predigen würde, die Ablehnung weltweit so groß wäre, dass sie keine andere Wahl hätte, als sie wieder in der Schublade zu lassen. Und um es auf die Spitze zu treiben: Wenn eine solche Maßnahme umgesetzt würde, würde automatisch eine weltweite Zunahme der Ausbeutung folgen, um die Verluste auszugleichen.

All dies hindert die Ökonomen von ATTAC nicht daran, angesichts der sarkastischen Gleichgültigkeit der Machthaber mit Kurven und Grafiken über diese Angelegenheit zu schwadronieren. Sie werden bereit sein, sie von Zeit zu Zeit zu empfangen, um sich ein wenig zu amüsieren und vor allem zu zeigen, wie sehr der Staat auf alle Vorschläge achtet, die die Staatsbürger zu machen bereit sind. Auf jeden Fall muss man ATTAC zugute halten, dass es in eine so finstere Disziplin wie die Ökonomie das komische Element eingeführt hat, das ihr fehlte. Wir sehen hier, dass ihre Ohnmacht noch kein Problem für den Staatsbürgerismus ist. Kaum jemand denkt daran, ihn auf der Grundlage ihrer Ergebnisse zu beurteilen, da die Dringlichkeit, Ergebnisse zu erzielen, noch nicht spürbar ist. Wenn dies in großem Maßstab geschieht, wird ihm zweifellos nicht mehr viel Zeit bleiben.

An dieser Stelle müssen wir die Frage des staatsbürgeristischen „Reformismus“ ansprechen. Wir wissen, dass die Staatsbürgeristen diese Bezeichnung gerne annehmen. Es versteht sich, dass sie durch die Verwendung dieses Begriffs suggerieren wollen, dass sie pragmatischer und realistischer sind als die verdammten revolutionären Idealisten. Und tatsächlich können wir an einer Vereinigung wie ATTAC sehen, wie weit ihr Pragmatismus und Realismus geht.

Auf jeden Fall gleichen wir armen Revolutionäre unseren Mangel an Pragmatismus mit der schlechten Angewohnheit aus, die Dinge oft anhand der Geschichte zu beurteilen, also anhand dessen, was bisher wirklich passiert ist. Und wir müssen feststellen, dass der Reformismus immer in Zeiten der Krise des Kapitalismus entsteht. Der Front Populaire (Volksfront) beispielsweise war reformistisch. Zu einer Zeit, als die Arbeiteraufstände weit verbreitet waren und Fabriken besetzt wurden, gewährte der Front Populaire unter anderem den Arbeitern und Arbeiterinnen bezahlten Urlaub, was nie gefordert worden war. Auch Keynes war reformistisch, und die Krise von 1929 hatte etwas damit zu tun. Allerdings gibt es derzeit keine aufständischen Streiks, keine Investitionskrise und keinen signifikanten Rückgang des Konsums. Selbst der jüngste relative Anstieg der Zinssätze nach einem Jahrzehnt kontinuierlicher Senkungen und das sehr vorhersehbare „Debakel“ der „Technologieaktien“ werden eher als Konsolidierung der Märkte denn als Krisenrisiko wahrgenommen. Derzeit gibt es keine wirkliche Kapitalkrise. Es sollte also keine Reformer geben.

Andererseits dienten alle Reformen, die im Kapitalismus durchgeführt wurden, nur dazu, den Kapitalismus selbst zu retten. Es gibt keine antikapitalistischen Reformen. Keynes versteckte sich nicht davor, ein Liberaler zu sein, noch davor, das liberale System retten zu wollen, das durch die Krise von 1929 in Gefahr geraten war.

Wir sollten hier einen Moment bei Keynes verweilen, der von den Staatsbürgerismus als der Ökonom der Wunder dargestellt wird, der alle unsere Übel heilen kann. Zunächst einmal muss gesagt werden, dass Keynes den Kapitalismus seiner Zeit sehr gut kannte, da er ein persönliches Vermögen von 500 000 Dollar angehäuft hatte, indem er nur eineinhalb Stunden pro Tag internationalen Devisen- und Warentransaktionen widmete, während er gleichzeitig für die englische Regierung arbeitete. Es ist verständlich, dass ihn der Börsenkrach von 1929 nicht gleichgültig gelassen hat.

Die Weltwirtschaftskrise von 1929 markiert den Beginn der modernen Epoche des Kapitalismus. Sie ist das Ergebnis der gewaltigen Expansion des 19. Jahrhunderts, die keine Grenzen zu kennen schien, insbesondere in Amerika. Der amerikanische Traum erreichte seinen Höhepunkt und sollte in einem Albtraum enden. Dieser Traum beruhte auf dem Unternehmergeist, auf der unternehmerischen Kühnheit der Erben der Eroberer des Westens, wurde aber von der Realität des Kapitalismus zunichte gemacht, in dem Investitionen nicht aus Freude am Risiko oder Unternehmergeist getätigt wurden, sondern um Gewinne zu erzielen.

Als der Kapitalismus seine Reife erlangt hatte, begann er zu stagnieren, und es wurde allmählich klar, dass unbegrenztes Wachstum nicht für immer garantiert war, als handele es sich um ein Naturgesetz. Die Investitionen gingen zurück oder brachen sogar zusammen. Die klassischen ökonomischen Theorien postulierten, dass es immer ein Angebot geben würde, solange es eine Nachfrage gäbe, und ignorierten dabei die Tatsache, dass Unternehmen nicht produzieren, um Waren zu verwalten, sondern um den Mehrwert aus der Produktion zu ziehen. In diesem Zusammenhang trat Keynes auf den Plan. Das wirklich Notwendige war die Investition, das Wissen, wie man neue Märkte schafft, neue Produkte erfindet und in die Welt des Massenkonsums eintritt. Vor dem Hintergrund der Krise musste der Staat die Anfangsinvestitionen übernehmen, d. h. die Menschen so weit wie möglich wieder in Arbeit bringen, eine inflationäre Geldpolitik betreiben und Infrastrukturen schaffen, auf deren Grundlage das Privatkapital reinvestieren konnte. „Wer wird Autos bauen, wenn es nicht genügend Straßen gibt?“, fragte Keynes. Tatsächlich hatte Präsident Roosevelt bereits begonnen, diese Politik ohne die wertvolle theoretische Unterstützung umzusetzen, die Keynes ihm später geben sollte. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass die Krise von 1929 Millionen von Arbeitslosen auf die Straße gesetzt hatte und dass die „Früchte des Zorns“ gefährlich zu reifen begannen.

Wir sehen jedenfalls, dass der Keynesianismus im Wesentlichen liberal ist. Er geht einfach davon aus, dass der Liberalismus nicht von selbst reguliert werden kann, dass das einfache Spiel von Angebot und Nachfrage nicht der Motor ist, der es dem Kapital ermöglicht, unbegrenzt zu wachsen, und dass es daher Aufgabe des Staates ist, die Wachstumsbedingungen wiederherzustellen, um anschließend den privaten Investoren Platz zu machen. In einem Brief an die New York Times schrieb Keynes 1934: „Ich sehe das Problem der ökonomischen Erholung wie folgt: Wie lange werden die normalen Unternehmen brauchen, um der Ökonomie zu Hilfe zu kommen? In welchem Umfang, mit welchen Mitteln und wie lange müssen die außergewöhnlichen, durch die Regierung verursachten Kosten fortbestehen, bis diese Erholung eintritt?“ Wir haben „außergewöhnlich“ unterstrichen. Es ist klar, dass Keynes keineswegs die Idee einer dauerhaften und kontinuierlichen Kontrolle des Privatkapitals durch den Staat oder verschiedene internationale Instanzen verfolgte. Keynes war kein Sozialist.

Tatsächlich war er so weit vom Sozialismus entfernt, dass er 1931 in Bezug auf den „Kommunismus“ schrieb: „Wie könnte ich eine Doktrin annehmen, die, indem sie Brot dem Kuchen vorzieht, das stinkende Proletariat zum Nachteil der Bourgeoisie und der Intelligenz preist, die trotz all ihrer Fehler die Quintessenz der Menschheit sind und sicherlich hinter jedem menschlichen Werk stehen?“ Es ist wahr, dass die Bourgeoisie damals ganz anders war als das, was sie geworden ist, und dass sie noch nicht das Bedürfnis verspürte, sich zusammen mit Viviane Forrester über das zu beklagen, was man trotz allem „den ökonomischen Schrecken“ genannt hat.

Abschließend muss darauf hingewiesen werden, dass Keynes‘ Theorien ihre Grenzen hatten und dass der Kapitalismus andere Methoden hat, um „Investitionen anzukurbeln“: Zehn Jahre nach der Krise von 1929 begann der Krieg, der die Welt verwüsten, dem technologischen Fortschritt einen unerwarteten Schlag versetzen und die industrialisierte Welt in die glücklichen Jahre des Massenkonsums führen sollte. Keynes selbst trug zu diesem „Investitionsschub“ bei, indem er ein Büchlein mit dem Titel How to Pay for the War (Wie man den Krieg bezahlt) verfasste.

Die Staatsbürgeristen wollen den Liberalismus mit Hilfe von Keynes kritisieren. Da sie nie vorgegeben haben, antikapitalistisch zu sein, folgt daraus, dass sie, wenn sie gegen den Liberalismus sind, gleichzeitig prokapitalistisch sind, also für das stehen, was man früher „Sozialismus“ nannte, d. h. Staatskapitalismus. So lässt sich die Präsenz von Trotzkisten in ihren Reihen besser verstehen. Aber natürlich wehren sie sich auch dagegen. Es ist wirklich kompliziert zu wissen, was sie wollen.

Wir behaupten, dass es derzeit keine kapitalistische Krise gibt, und sie behaupten natürlich das Gegenteil. Tatsächlich muss es eine Krise geben, damit sie gebraucht werden. Die Krise ist das natürliche Element des Reformismus. Sie glaubten, eine in Südostasien gefunden zu haben, aber diese Krise war eher der Beweis dafür, dass der Kapitalismus die Lehren von Keynes gut gelernt hat und nicht mehr glaubt, dass der Liberalismus sich selbst regulieren kann. So wurde die asiatische Krise schnell gelöst, auch mit einigen „sozialen Konsequenzen“. Aber der Kapitalismus kümmert sich nicht um „soziale Konsequenzen“, solange er nicht radikal in Frage gestellt wird. Es wird keinen sozialen Keynesianismus mehr geben, es wird keine glorreichen dreißiger Jahre mehr geben. Auch das ist Vergangenheit.

Wenn die Staatsbürgeristen von Krise sprechen können, dann deshalb, weil der Staat zuerst davon gesprochen hat. Seit 30 Jahren heißt es, Frankreich stecke in der Krise. Diese „Krise“, die zu Beginn real war, wurde dann als Rechtfertigung für Ausbeutung benutzt. Heute spielt die „Rekuperation“ diese Rolle, und die Reformisten sind genervt. Dies zwingt sie, ihren Diskurs, der stets dem des Staates nachempfunden ist, neu auszurichten, und diejenigen, die von einer allgemeinen weltweiten Krise sprachen, sprechen heute von der „Verteilung der Früchte des Wachstums“. Wo bleibt die Kohärenz? Wo sind also diese antiliberalen Keynesianer, diese Reformisten ohne Reform, diese Etatisten, die nicht am Staat teilnehmen können, diese Staatsbürgeristen?

Die Antwort ist einfach: Sie befinden sich in einer Sackgasse, in einer ausweglosen Situation.

Es mag abwegig erscheinen, zu behaupten, dass eine Bewegung, die so offensichtlich alle Bereiche der Protestbewegung besetzt, in einer ausweglosen Situation sein könnte. Einige werden darin eine unbegründete Behauptung sehen, die von einem nicht genau bekannten Ressentiment diktiert wird. Wir haben jedoch oben die Auflösung und das Verschwinden einer viel älteren Bewegung erwähnt, die über eine unendlich breitere und kämpferischere soziale Basis verfügte, ohne dass wir dafür besondere rhetorische Vorsichtsmaßnahmen ergriffen hätten, so offensichtlich erscheint uns dieses Verschwinden heute. Ebenso denken wir, dass eine andere soziale Bewegung auf bisher unbekannten Grundlagen möglich ist.

IV. Staatsbürgerismus und Staatsbürger.

Wenn Ignacio Ramonet von „staatsbürgerlichen“ und nicht von„zivilen“ Ungehorsam spricht, macht er einen klaren Unterschied, der die Beziehung zwischen dem Staatsbürgerismus und seiner eigenen Basis zeigt. Das Wort „zivil“ bezieht sich objektiv und neutral auf den Staatsbürger eines Staates, der nicht in diesem Staat geboren wurde. Der Begriff „staatsbürgerlich“ definiert, was einem guten Staatsbürger entspricht, d. h. einer Person, die aktiv zeigt, dass sie Teil dieses Staates ist. Wie wir sehen können, ist der Unterschied im Wesentlichen moralischer Natur.2

Eine der Stärken des Staatsbürgerismus liegt in diesem im Wesentlichen moralischen, um nicht zu sagen moralisierenden Charakter. Er wechselt leicht von der Anprangerung der „Krise“ zum Vorschlag, „die Früchte des Wachstums zu verteilen“, ohne die Fakten zu berücksichtigen und ohne eine Analyse durchzuführen. Was zählt, ist, die „staatsbürgerlichste“ Position einzunehmen, d. h. die großzügigste, die moralischste. Und natürlich positioniert sich jeder für den Frieden, gegen den Krieg, gegen „schlechte Ernährung“, für „gute Ernährung“, gegen Elend, für Reichtum. Kurz gesagt, es ist besser, in Friedenszeiten reich und gesund zu sein, als in Kriegszeiten arm und krank.

In einer Welt, die sich ein Jahrhundert nach Nietzsche energisch über Gut und Böse hinwegsetzt, ist Moral das, was sich am besten verkauft. Aber dieses Bedürfnis nach Trost kann nicht gestillt werden. Wir können zum Beispiel das Unbehagen sehen, das die leidige Givers-Affäre in den Reihen der Staatsbürgeristen auslöste. Diese Revolte hatte die Besonderheit, dass sie gleichzeitig ein archaisches Wiederaufleben der Arbeiterunruhen und die Manifestation einer Verzweiflung war, die sehr typisch für die heutige Zeit ist. Ein Staatsbürgerist fragte sich während des Aufstands in den Seiten der Zeitung „Le Monde“, ob die Aktion der Arbeiter von CELLATEX als „staatsbürgerliche Aktion“ bezeichnet werden könne. Wir können antworten: Die Lohnarbeiter von Givers, die bis zum Hals in der Patsche saßen und völlig verzweifelt waren, verfügten nicht über den Optimismus und die wohlüberlegte Besorgnis, die den Lesern des „Monde Diplomatique“ eigen sind; sie sind keine Staatsbürger und haben auch nicht als solche gehandelt. Die Ohnmacht, die die Staatsbürgeristen unter diesen Umständen an den Tag legten, zeigt deutlich, welche Art von Reaktion sie unter anderen Umständen in größerem Maßstab zeigen könnten.

Natürlich würden sie nicht zögern, im Namen der Demokratie, des Rechtsstaats und der Moral zur Repression gegen schlechte Staatsbürger aufzurufen. Tatsächlich zielte der Diskurs des Staatsbürgeristen in „Le Monde“ in eine andere Richtung, da er mit seiner hinterhältigen (natürlich völlig objektiven) Infragestellung verhindern wollte, dass jegliche Sympathie, die entstehen könnte, unterbunden wird, und die Staatsbürger zur Vernunft rufen wollte, um eine mögliche Repression vorzubereiten (die natürlich nicht stattfand, da die Arbeiter in der gegenwärtigen Situation keine andere Wahl hatten, als zu verhandeln). Auf jeden Fall ist es interessant zu sehen, wie in dieser Minikrise ein Staatsbürgeristen sich beeilt, dem Staat seine Vermittlungsdienste anzubieten. Der Staatsbürgerismus ist potenziell eine konterrevolutionäre Bewegung.

Unser Beispiel zeigt auch, dass der Staatsbürgerismus nicht in der Lage ist, auf Bewegungen zu reagieren, die nicht von ihm selbst ins Leben gerufen wurden. Andererseits ist es wichtig zu betonen, dass die soziale Basis des Staatsbürgerismus viel breiter und diffuser ist als die der Militanten von Assoziationen und Gewerkschaften/Syndikate. Der Staatsbürgerismus spiegelt die Sorgen einer bestimmten gebildeten Mittelklasse und einer kleinen Bourgeoisie wider, die ihre Privilegien und ihren politischen Einfluss verloren hat, als die alte Arbeiterklasse verschwand. Die weltweite Umstrukturierung des Kapitalismus hat zum Niedergang des alten nationalen Kapitals und damit zum Niedergang der Bourgeoisie, die es besaß, und der Mittelklasse, die sie beschäftigte, geführt. Die alte bourgeoise Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, die noch nach Ancien Régime roch, ist vollständig verschwunden. Die Konsolidierung des Staates und die Kritik an der Globalisierung wirken wie eine Nostalgie nach diesem alten nationalen Kapital und dieser bourgeoisen Gesellschaft, so wie die Kritik an den multinationalen Konzernen nichts anderes ist als Ausdruck der Nostalgie nach dem familiären Geschäft. Wieder einmal wird eine verlorene Welt beklagt.

Eine Welt, die zweimal verloren gegangen ist, da sich der Begriff „Staatsbürger“ auch auf die alte republikanische Bezeichnung bezieht, zweifellos auf die zu Beginn der bourgeoisen Revolution und nicht auf die der Pariser Kommune (obwohl ein neuer endloser und absichtlich anachronistischer Film, der sich mit diesem Thema befasst, darauf hindeutet, dass man auch die Kommune wiederbeleben will). Aber diese Revolution wurde durchgeführt und wir leben in der Welt, die sie geschaffen hat. Die Sans-Culotte wären überrascht, wenn sie die Veränderung der Republik sehen würden, an deren Aufbau sie selbst mitgewirkt haben, aber so wie es unmöglich ist, zweimal in derselben Situation zu leben, kehren die Toten nie zurück. Es kann jedoch sein, dass zukünftige Sans-Culotte, gekleidet in Nike-Kleidung, eines Tages durch irgendeinen Winkel einer modernen Vorstadt schlendern.

Durch den Staatsbürgerismus stellen die enterbten Mittelklassen ihre verlorene Klassenidentität wieder her. So kann sich ein Bioladen als „Schaufenster für Lebensstile und staatsbürgerlichen Denken“ präsentieren. Aber Vorsicht! Die Menschen, die kein Bio essen, sollen wissen, dass sie keine „Staatsbürger“ sind. Ein junger Staatsbürgerist kann dann seine Zweifel am Proletariat schnell vereinfachen: „Was kann man von ihnen erwarten? Sie gehen zu Auchan (einem Supermarkt) einkaufen.“

Die Staatsbürgeristen werden auf der Grundlage, die sie derzeit einnehmen, nicht in der Lage sein, radikalere soziale Bewegungen rekuperieren, da sie sich von diesen radikalen Bewegungen völlig abgetrennt fühlen. Wenn es soweit ist, werden sie dem Staat, den sie verteidigen, nur eine moralische Garantie für seine Repression bieten können. Die Pseudolösungen, die sie angesichts einer realen Krisensituation vorschlagen, werden als das erscheinen, was sie wirklich sind: ein Mittel zur Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung. Wenn große Gruppen von Menschen beginnen, nach Antworten auf ihre konkreten Situationen zu suchen, werden abstrakte und endlose Gegensätze zwischen Staat und Kapital, „echter“ Demokratie und der Demokratie, in der wir leben, oder „Solidarwirtschaft“ und Liberalismus nicht mehr ausreichen. Eine Bewegung, die aus einer großen Krise hervorgeht, d.h. aus der Infragestellung der Existenzbedingungen selbst, wird diesen Spielchen nicht lange standhalten.

Da die Staatsbürgeristen jedoch da sind, werden sie für eine Weile die Revolte in Anspruch nehmen können, die auch die Form eines übersteigerten Nationalismus annehmen könnte, den sie selbst genährt und entwickelt haben (die Voraussetzungen dafür sind bereits vorhanden, zum Beispiel die von José Bové und vielen anderen entwickelte antiamerikanische Haltung). Die Kritik am globalisierten Kapital muss jedoch nicht mit der Möglichkeit eines Rückfalls in das vom Staat verteidigte nationale Kapital konfrontiert werden. Sollte diese sehr unwahrscheinliche Alternative eintreten, würde höchstwahrscheinlich ein Krieg entfacht werden.

Wie wir sehen können, gibt es keine Garantie dafür, dass die nächste soziale Bewegung revolutionär sein wird. Auf jeden Fall wird sie dazu beitragen, den Staatsbürgerismus endgültig zu entlarven, und sie könnte einen neuen Weg eröffnen, um das sehr alte Projekt der Veränderung der Welt jenseits von Staat und Kapital wieder aufzunehmen.

V. – Staatsbürgerismus und Revolution.

Die gesamte alte revolutionäre Bewegung beruhte auf der Tatsache, dass die Arbeiter die Zügel der kapitalistischen Produktionsweise in die Hand nahmen, die sie aufgrund ihrer tatsächlichen Stellung in der Produktion praktisch als ihre eigene betrachteten. Die Automatisierung und Prekarisierung der 1970er Jahre haben diese effektive Stellung, die einer echten Beziehung zwischen dem Proletariat und der Produktion entsprach, zunichte gemacht. Einige Radikale, wie die der Encyclopédie des Nuisances oder Camatte (von Invariance), ahnten oder theoretisierten diese Veränderung. Sie konnten jedoch nicht aus der alten Konzeption der Revolution herauskommen, ohne die Revolution selbst aufzugeben, und genau das ist auch passiert.

Die Situationistische Internationale befürwortete lediglich eine „bessere Nutzung der Produktivkräfte“, um durch Arbeiterräte Situationen zu schaffen. Sie sahen nicht (aber wie hätte man das damals sehen können?), dass die kapitalistische Produktionsweise kapitalistisch war und die von ihnen befürwortete Automatisierung kein Mittel war, um Zeit zu gewinnen und „ohne Zeitverlust zu leben und ohne Hindernisse zu genießen“, sondern nur ein Mittel, um Kapital zu gewinnen. Und nach der „Konterrevolution“ der 70er und 80er Jahre haben sie sich damit abgefunden, diese Produktion, die die Arbeiter nicht zurückgewinnen konnten, als Quelle allen Übels zu identifizieren.

Anstatt das Verschwinden der alten Arbeiterbewegung als neue Bedingung einer aufkommenden revolutionären Bewegung und vor allem als Chance für diese Bewegung zu begreifen, haben sie es als Katastrophe erlebt. Tatsächlich war es eine große Katastrophe für diese alte Arbeiterbewegung, ihr Totenschein. Die große Mehrheit der Generation nach den Bewegungen von 1968 hat sich in dem durch diese Niederlage entstandenen Vakuum verloren. Und wir wollen ihnen das keineswegs vorwerfen, denn man kann eine ein Jahrhundert lang geltende Konzeption weder an einem Tag noch in zwanzig Jahren vergessen.

Heute kann man damit beginnen, Bilanz zu ziehen. Seit 1995 hatten wir das zweifelhafte Privileg, beobachten zu können, wie auf den Trümmern der Revolution eine Ideologie wieder aufgebaut wurde. Wir konnten die neuen Aspekte dieser Ideologie schnell erkennen, aber es dauerte viel länger, bis wir ihren archaischen Charakter erkannten, d.h. wie sehr sie von der Geschichte bestimmt war.

Wir haben bereits erwähnt, dass der Staatsbürgerismus die Überreste der alten revolutionären Bewegung aufnimmt. Der Staatsbürgerismus möchte heute „reformistisch“ sein, weil die alte revolutionäre Bewegung im Grunde keine Überwindung des Kapitalismus darstellte, sondern dessen Verwaltung durch die „aufsteigende Klasse“, die eines Tages das Proletariat werden sollte. Die „Arbeiterverwaltung“ des Kapitals ist einfach zu einer „Verteilung des Reichtums“ oder einer „Besteuerung des Kapitals“ geworden, die Produktion ist zugunsten des Profits, des Finanzkapitals und des Geldes verschwunden. Ein französischer Slogan verkündet: „De l’argent, il y en a, dans les poches du patronat“ [Geld gibt es, in den Taschen der Arbeitgeber]. Und das stimmt auch, aber im Namen von was sollte dieses Geld in die Taschen der Proletarier, pardon, der „Staatsbürger“ gelangen?

Da die alte Arbeiterbewegung nicht in der Lage war, die Verwirklichung der menschlichen Gemeinschaft herbeizuführen, beschränkt sie sich auf obszöne und aufschlussreiche Weise darauf, einen Teil der kapitalistischen Gewinne zu erlangen (obwohl es wichtig ist zu erwähnen, dass, wenn „nur“ Geld vom Kapitalismus verlangt wird, dies daran liegt, dass wir wissen, dass wir nichts anderes erwarten können). Dies ist zweifellos Grund genug, einen alten Revolutionär zu entmutigen, einen von denen, die glaubten, eine bessere Welt aufbauen zu können. Aber wenn die Überzeugung, dass diese Welt durch die Verwaltung des Kapitals durch die Arbeiter aufgebaut werden könnte, bereits eine Illusion war, dann ist es auch eine Illusion zu glauben, dass der Kapitalismus gezwungen werden kann, seine Gewinne zur Freude aller „Staatsbürger“ zu teilen, wenn wir akzeptieren, dass sein Geld uns glücklich machen kann. Der Staatsbürgerismus greift den Kern einer hundert Jahre alten Illusion auf, und diese Illusion, die in Wirklichkeit bereits tot ist, steht kurz vor ihrer Zerstörung.

„Alles gehört uns, nichts gehört ihnen“, verkünden die Demonstranten hartnäckig. Doch das Kapital, diese Geldmasse, die nur durch die Beherrschung menschlicher Tätigkeit und folglich durch die Umgestaltung dieser Tätigkeit nach seinen eigenen Regeln anwachsen will, hat eine Welt geschaffen, in der ‚alles ihm gehört, nichts uns‘. Und dies betrifft nicht nur das Privateigentum an den Produktionsmitteln, sondern auch deren Natur und Ziele. Das Kapital begnügte sich nicht damit, sich alles anzueignen, was die Menschheit zum Überleben braucht, was den ersten Schritt seiner Herrschaft darstellte, sondern hat es dank Industrialisierung und Technologie so verändert, dass heute fast nichts mehr produziert wird, um konsumiert zu werden, sondern einfach nur, um verkauft zu werden. Produktion zur Befriedigung unserer Bedürfnisse kann nicht vom Kapitalismus kommen. Von der vorkapitalistischen menschlichen Tätigkeit ist praktisch nichts übrig geblieben. Die Welt ist tatsächlich zu einer Ware geworden.

Das Kapital ist keine neutrale Kraft, die, wenn sie richtig „ausgerichtet“ wird, das Glück der Menschheit hervorbringen könnte, genauso wie sie ihr Verderben verursacht. Es kann nicht „entsorgen, wie es verschmutzt“, wie ein ökologischer Staatsbürgerist behauptete, da seine eigene Bewegung ihn unweigerlich dazu führt, zu verschmutzen und zu zerstören, d.h. die Bewegung der Akkumulation und der Produktion für diese Akkumulation setzt sich über jede Vorstellung von „Notwendigkeit“ hinweg, ebenso wie über die lebenswichtige Notwendigkeit, die es für die Menschheit bedeutet, ihre Umwelt zu erhalten. Das Kapital dient nur seinen eigenen Zwecken, es kann kein menschliches Projekt sein. Es gibt keine andere „Globalisierung“. Vor ihm stehen nicht die Bedürfnisse der Menschheit, sondern die Notwendigkeit der Akkumulation. Wenn es sich zum Beispiel dem Recycling widmet, wird die dafür geschaffene Branche alles Notwendige tun, um immer wieder Dinge zu recyceln. Das Recycling, das nichts anderes ist als eine andere Form der Rohstoffgewinnung, erzeugt immer mehr „recycelbare“ Abfälle. Außerdem verschmutzt es genauso wie jede andere industrielle Tätigkeit.

Um Missverständnisse zu vermeiden, ist es wichtig klarzustellen, dass wir die etwas paranoide Vorstellung, die von gewissen „Radikalen“ verbreitet wird, nicht teilen, dass nämlich das Kapital verschmutzt, um einen Markt für die Dekontaminierung zu schaffen, oder dass jedenfalls jeder vom Kapitalismus verursachte Schaden Märkte hervorbringt, um diese Schäden zu beheben, wie es „ein brandstiftender Feuerwehrmann“ tun würde. Es gibt nicht wenige Schäden, die niemand reparieren will, einfach weil es dafür keinen Markt gibt. Ein Beweis dafür ist, dass die Staaten die Kosten für die Dekontaminierung meistens allein tragen müssen, was zu Konflikten zwischen Staaten und Unternehmen führen kann, die in der Debatte „wer verschmutzt / wer bezahlt“ sichtbar werden. Die wahre Quadratur des Kreises, die der „ökologische Kapitalismus“ lösen muss, und worum es bei den „ökologischen Vorschriften“ wirklich geht, ist die Vermeidung von Schäden und vor allem von Kosten, ohne dabei Investoren zu vertreiben.

Es geht nie darum, nicht mehr zu verschmutzen, sondern darum, zu wissen, wer zahlen muss, wenn die Verschmutzung zu katastrophal und sichtbar ist. Der angebliche „Dekontaminierungsmarkt“ existiert im Gegensatz zum Recyclingmarkt nicht wirklich, da der einzige Gewinn, der erzielt werden kann, darin besteht, sich an bestimmte Vorschriften zu halten, und nichts weiter als eine Belastung für die Unternehmen darstellt, eine Belastung, die sie so weit wie möglich begrenzen sollten. Niemand will dekontaminieren, wie kürzlich auf der Haager Konferenz festgestellt werden konnte.

Wir könnten dieses Thema noch weiter ausführen, aber dann würden wir den Rahmen dieses Textes sprengen. Auf jeden Fall ist klar, dass man eine „menschliche“ Steuerung der kapitalistischen Produktion nicht in Betracht ziehen kann, geschweige denn, dass man diese Produktion in ihrer jetzigen Form fortsetzen kann. Alles muss neu aufgebaut werden. Die Revolution wird auch der Zeitpunkt des „großen Abbaus“ und der Wiederherstellung der menschlichen Tätigkeit auf einer völlig neuen Grundlage sein, die derzeit fast vollständig vom Kapital beherrscht wird.

Die alte revolutionäre Bewegung zeigte die Verbindung zwischen Kapitalismus und Proletariat auf. Selbst der am stärksten ausgebeutete Arbeiter konnte sich durch seine Arbeit als Verwahrer einer zukünftigen Welt fühlen, in der die Arbeit das Kapital beherrschen würde. Die Partei war gleichzeitig eine Familie und der Keim eines Arbeiterstaats, so dass sich alle syndikalistische Anführer mit der Arbeitergemeinschaft von heute und morgen verbunden fühlen konnten. Die Veränderungen der kapitalistischen Produktionsweise der letzten zwanzig Jahre haben all dies zunichte gemacht und die Trennung der Individuen bewirkt.

Im Zuge seiner Expansion musste der Kapitalismus die alten Gemeinschaften bäuerlicher Herkunft zerstören, um die von ihm benötigte Arbeiterklasse zu schaffen. Und unmittelbar nachdem er sie geschaffen hat, muss er sie wieder zerstören, und er steht vor dem Problem, Millionen von Individuen in seine Welt zu integrieren. Die Staatsbürgeristen schlagen eine lächerliche Lösung vor, wenn sie versuchen, das Bindeglied, das früher die „Arbeiterklasse“ verband, durch ein anderes zu ersetzen, das die „Staatsbürger“, d.h. den Staat, vereint. Der Wunsch, dieses Band durch den Staat wiederherzustellen, zeigt sich im latenten Nationalismus der Staatsbürgeristen. Das abstrakte und gesichtslose Kapital wird durch nationale Figuren ersetzt, wie den Schnurrbart von José Bové oder die Wiederbelebung der zaristischen Hymne in Russland (natürlich handelt es sich in diesem Fall nicht um Staatsbürgerismus, sondern um die Manifestation eines viel allgemeineren Nationalismus, der ebenfalls keine Lösung bietet). Aber der Staat kann nur Symbole und Ersatz für diese Bindungen vorschlagen, da er selbst, wenn man so will, mit Kapital gesättigt ist und seine Symbole nur in dem Sinne schwenken kann, wie es ihm die kapitalistische Logik, der er angehört, vorschreibt.

Den „Staatsbürger“ als Bindeglied vorzuschlagen, offenbart die Existenz eines Vakuums, oder besser gesagt, dass es nun Aufgabe des Kapitalismus ist, und nur ihm, diese Milliarden von Menschen, denen die Gemeinschaft genommen wurde, zu integrieren. Und wir müssen feststellen, dass ihm dies bisher nur mit Mühe gelingt.

Dennoch wird der Kapitalismus weiterhin als eine der Menschheit feindlich gesinnte, äußere Kraft wahrgenommen, sei es, weil er sie des Brotes beraubt oder weil er ihr den „Sinn“ nimmt. In den fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften äußert sich dies in der Flucht der Individuen in das, was die Soziologen „die private Sphäre“ nennen, d.h. in die Freizeit, die Familie oder das, was von ihr übrig geblieben ist, die Clique von Freunden usw. Auf diese Weise entwickelt sich logischerweise ein Markt der Trennung, der sich in den Kommunikations- und Konsuminstrumenten materialisiert. Aber in der Welt der Waren wird dieser Konsum des „Zusammenseins“ schließlich zu einem „Alleinebesitzen“, das wieder in die Trennung zurückfällt, die es ursprünglich beheben sollte.

Die Arbeit selbst, die immer die wichtigste Integrationskraft des Kapitals darstellt, wird zunehmend als äußere Verpflichtung empfunden und dient nur noch in sehr geringem Maße dazu, die Identität von Individuen zu prägen, die immer mehr in der Masse untergehen und immer weniger eine eigene Identität haben. In einer Zeit, in der Berufe verschwinden und durch Funktionen ersetzt werden, die keine besonderen Fähigkeiten erfordern, ist diese Situation nicht überraschend. Die „Arbeitswelt“ ist auch zur Welt der Inkompetenz geworden. Manche empfinden diese Dynamik der Entqualifizierung als dekadent (und die Dynamik der Integration durch das Kapital schafft ihre eigenen internen „Barbaren“), aber sie führt auch zu einer Demoralisierung der Arbeit, die von allen als sinnlos, rein willkürlich, als äußere Verpflichtung, als Ausbeutung empfunden wird. Die Arbeitsmoral, die einst von der Bourgeoisie und dem Proletariat geteilt wurde, löst sich im Zuge der kapitalistischen Integration auf.

Die kapitalistische Integration (ein zentrales Problem, das wir später angehen müssen) wird zunehmend als künstlich empfunden und ist in jedem Fall sehr problematisch und führt zu einer Art Massenneurose, die mit dem Gefühl verbunden ist, die Kontrolle über das eigene Leben verloren zu haben. Die nächste revolutionäre Bewegung wird sich dieser Feststellung nicht entziehen können, da diese Ohnmacht, die dem entspricht, was man früher als Entfremdung bezeichnete, ein wesentlicher Bestandteil unserer Beziehung zur kapitalistischen Welt ist.

VI. „Proletarier aller Länder, ich habe keine Ratschläge für euch!“

Wir werden uns nicht lächerlich machen, indem wir hier den nächsten revolutionären Schritt vorstellen. Niemand kann das mit Sicherheit sagen, ohne in eine Ideologie des (Wieder-)Austausches zu verfallen. Dennoch können wir uns anhand dessen, was bereits existiert, vorstellen, was dieser Schritt sein könnte, d.h. was in der gegenwärtigen Situation der Keim einer zukünftigen Situation ist.

Die Globalisierung des Kapitals und die Auflösung der nationalen Kapitalien implizieren, dass es sich um eine weltweite Bewegung handeln wird, und zwar nicht gerade in der karikaturhaften Form einer Aktion gegen die Welthandelsorganisation oder die UNCTAD. Es wird nicht darum gehen, Frankfurt oder Brüssel in Brand zu setzen, sondern gegen den Kapitalismus in seiner hier und jetzt bestehenden Form vorzugehen, denn hier und jetzt wird die Globalisierung tatsächlich ausgetragen. Die Globalisierung des Kapitals ist auch die Globalisierung des Kampfes, und wenn in New York entschieden wird, was in Mexiko produziert und in Pas-de-Calais [einer Region im Norden Frankreichs] verpackt wird, hat jeder lokale Angriff globale Auswirkungen.

Die Auflösung des Klassenbewusstseins und der alten Arbeiterbewegung hat auch zur Folge, dass jeder in seinem Leben allein ist, angesichts von Ausbeutung und Herrschaft gleichzeitig. Es gibt keinen Zufluchtsort mehr, keine Gemeinschaft, in die man sich zurückziehen kann. Die Identität, die man sich durch die Arbeit aufgebaut hat, neigt dazu, sich aufzulösen und allmählich durch die Privatsphäre, die Clique von Freunden oder Verwandten, die Freizeit ersetzt zu werden.

Doch mit der Massifizierung der Freizeit, der Auflösung der Familie und der Brutalität der sozialen Beziehungen wird das Private ständig wieder in das Allgemeine verdrängt. Der moderne Mensch ist ein Mensch der Öffentlichkeit. Niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit waren die Menschen gezwungen, sich selbst so global zu betrachten, als Menschheit, auf globaler Ebene. Dies beinhaltet sowohl Leiden (was leicht verständlich macht, warum sich manche zu Zerzan [neo-primitivistischer Theoretiker aus den USA] oder Kaczinski [besser bekannt als „Unabomber“] und anderen Rückschritten hingezogen fühlen) als auch die Bedingung der Befreiung selbst. Die Primitivisten wollen sich von der Menschheit befreien und zur ursprünglichen Harmonie der eingeschränkten und isolierten Gemeinschaft zurückkehren. Aber eine solche Rückkehr ist unmöglich. Es gibt kein Leben außerhalb des Kapitalismus.

Im Jahr 1860 konnte Marx in Das Kapital noch schreiben: „Um die gemeinschaftliche Arbeit, das heißt die unmittelbare Assoziation wiederzufinden, ist es nicht notwendig, zu ihrer natürlichen Urform zurückzukehren, wie sie zu Beginn aller zivilisierten Völker erscheint. Wir haben ein Beispiel dafür in der rustikalen und patriarchalischen Industrie einer Bauernfamilie, die für ihren eigenen Bedarf produziert (…).“ Dieses „Beispiel“ ist verschwunden.

Die gesamte oder fast die gesamte menschliche Tätigkeit wird vom Kapitalismus beherrscht, was einige – Zerzan oder Kaczinski und viele andere – dazu veranlasst, sich nach den „guten alten Zeiten“ zu sehnen, seien sie primitiv-funktional oder patriarchal-handwerklich. Aber keine dieser Formen der sozialen Organisation konnte dem Kapitalismus widerstehen, weshalb es uns sehr schwer fällt, sie als seine Zukunft zu betrachten, es sei denn, man postuliert eine Natur der Menschheit, deren Manifestation diese Formen wären, und auch eine Selbstzerstörung des Kapitalismus (d.h. der Welt) in einer Katastrophe, nach der sie bequem ihren vorübergehend usurpierten Platz wieder einnehmen könnten. Aber diese „Selbstzerstörung“ des Kapitalismus wäre auch unsere, weshalb wir die Zukunft ausgehend vom Kapitalismus betrachten müssen, ob es uns gefällt oder nicht.

Wir haben gesehen, dass die Globalisierung der Individuen die Grenzen der Lohnarbeit erheblich überschreitet. Jeder Aspekt des Lebens ist dieser Globalisierung unterworfen, so dass jeder Aspekt des Lebens einheitlich verändert werden muss. Einfacher ausgedrückt: Heute kann nichts verändert werden, ohne alles zu verändern. Dies wird die Hauptbedingung der kommenden Revolution sein.

Konkret kann jedes Problem, das wir vom Kapitalismus erben, nur auf der Ebene einer ganzen Gesellschaft gelöst werden. Atommüll, Verkehr, Landwirtschaft – all dies wird uns zu Entscheidungen und Organisationsformen führen, die global behandelt werden müssen, jenseits von Privateigentum und hierarchischer Arbeitsteilung. Und es wird nicht nur um Arbeit gehen. Die „Welt ohne Grenzen“, die der Kapitalismus für die Waren geschaffen hat, wird tatsächlich eine Welt ohne Grenzen für die Menschheit sein. Es wird kein Zollrecht geben.

Wir werden die Notwendigkeit, all dies zu entwickeln, auf später verschieben. Wir könnten auch analysieren, welche Organisationsformen die Menschen annehmen könnten, aber die enorme Menge an praktischen Problemen, die sich stellen können, wird so groß sein, dass notwendigerweise noch nie dagewesene Lösungen umgesetzt werden müssen, die zweifellos oft von Dringlichkeit geprägt sein werden. Die Eigeninitiative wird dann vielleicht genauso wichtig sein wie der allgemeine Konsens, wohl wissend, dass sie einander unersetzlich sind. Die Debatte ist eröffnet, und auch in Bezug auf all diese Fragen müssen wir „warten können“.

VII. Vorläufige Schlussfolgerung

Wir haben versucht, in diesem Text die wichtigsten Grenzen und Schwächen des Staatsbürgerismus aufzuzeigen. Es ist klar, dass es sich nicht nur um „theoretische“ Grenzen oder Schwächen handelt, sondern um sehr reale, die ihm kurz- oder langfristig zum Verhängnis werden.

Es geht auch nicht darum, untätig zu bleiben und „darauf zu warten“, dass der Staatsbürgerismus zusammenbricht und auf magische Weise der Revolution Platz macht. Zweifellos verfügt diese Bewegung noch über viele Ressourcen und ist in der Lage, sich an neue Bedingungen anzupassen. Aber wir haben hier dargelegt, an welche „Bedingungen“ sie sich nicht anpassen kann. Auf jeden Fall haben wir die Kritik nur skizziert, andere werden sie fortsetzen.

Eine weitere Frage, auf die wir versucht haben, eine Antwort zu finden, betrifft die Art und Weise, wie die Kritik angegangen werden sollte. Allzu oft kritisieren einige Revolutionäre diejenigen, die sie als Reformisten betrachten, unter dem einzigen Vorwand, dass sie keine Revolutionäre sind. Das ist, als würde man die Debatte so darstellen, als handele es sich um eine einfache Debatte von Meinungen, die letztlich gleich oder gleich leer sind: leere Worte gegenüber der allmächtigen objektiven Realität der Welt. Auf diese Weise kann man alles verteidigen: man kann die Indianer von Zerzan den Cowboys von Kaczynski vorziehen, die Renaissance der Industriegesellschaft, die Proletarier mit Mütze den jungen Rappern mit Nike.

Die nächste revolutionäre Bewegung wird auch ihre eigene Sprache finden müssen. Sie wird sich wahrscheinlich nicht in den hier verwendeten Begriffen ausdrücken, die einer bestimmten theoretischen Tradition entsprechen. Die theoretische Sprache, die wir verwenden, ist ein Werkzeug, um die kommende Revolution zu verstehen, aber sie ist nicht diese Revolution. Wir müssen uns von der magisch-affektiven Verwendung der Sprache lösen, die die Sprache der zeitgenössischen Entfremdung ist, die Sprache derer, die keine praktische Macht über die Welt haben und die daher nichts anderes tun können, als davon zu träumen. Nur wer keine Macht über die Welt hat, kann alles sagen, ohne Angst vor Widerlegung zu haben, da er weiß, dass sein Diskurs keine Konsequenzen hat.

In der Welt der kapitalistischen Integration gibt es keine Wahrheit und keine Lüge mehr, sondern nur noch flüchtige Empfindungen. Und wir müssen aufhören, die Wahrheit zu fürchten. Wenn wir den Willen, die Wahrheit zu sagen, oft als Herrschaft empfinden – als „Faschismus“, als Willen zur Hegemonie des Diskurses –, dann deshalb, weil in der kapitalistischen Welt nur die Herrschenden behaupten können, die Wahrheit zu sagen, denn sie sind es, die sie schaffen, die das Monopol des „wahren Wortes“ innehaben. Aber diese Wahrheit ist so offensichtlich falsch und unsere Ohnmacht, ihr zu widersprechen, so überwältigend, dass wir jeden Versuch, die Wahrheit zu suchen, mit Ekel betrachten: Letztendlich zweifeln wir an der Möglichkeit, überhaupt etwas Wahres sagen zu können, d.h. im Rahmen unserer Möglichkeiten die Welt, in der wir leben, verständlich zu machen.

In der Willkür des Spektakels ist alles eine Frage der „Sichtweisen“. Aus „ihrer Sichtweise“ kann jeder gleichzeitig Recht haben oder nicht, und die liberale Gleichgültigkeit gegenüber dem anderen manifestiert sich im Respekt gegenüber allen „Meinungen“.

Der sogenannte „revolutionäre“ Aufruf zur Subjektivität, ein Überbleibsel des Surrealismus und des Situationismus von Guy Debord [Debord war Mitglied der Situationistischen Internationale], ist heute reaktionärer denn je, da der Kapitalismus selbst zur freudigen Trennung aufruft: „Träumt, wir erledigen den Rest.“ Im Gegenteil, wir müssen wieder eine gemeinsame Sprache finden. Wir können unsere Subjektivität nur dann wirklich aufbauen, wenn wir zusammen mit anderen in der Lage sind, die Objektivität der Welt, die wir teilen, zu erfassen. Verstehen heißt beherrschen, dann kann man die Welt verändern. Der Versuch zu verstehen, bedeutet, die Kommunikation mit dem, was uns umgibt, wiederherzustellen, das Eis zu brechen, das uns trennt.

Wir haben die Staatsbürgeristen nicht kritisiert, weil wir nicht die gleichen Vorlieben, Werte oder die gleiche Subjektivität haben. Und wir haben auch nicht die Staatsbürgeristen als Personen kritisiert, sondern den Staatsbürgerismus als falsches Bewusstsein und als reaktionäre Bewegung, wie bereits gesagt wurde, d.h. als Bewegung, die dazu beiträgt, das zu ersticken, was noch in den Kinderschuhen steckt. Wir haben dies historisch kritisiert, oder zumindest war dies unsere Absicht. So sehr, dass wir nicht daran zweifeln, dass sich eines Tages eine große Zahl von Menschen, die von den Widersprüchen des Staatsbürgerismus in seinem lobenswerten Wunsch, auf die Welt einzuwirken, abgestumpft sind, denen anschließen werden, die die Welt wirklich verändern wollen.

Wir sind nicht mehr und nicht weniger „radikal“ als zu dem Zeitpunkt, an dem wir uns befinden.

Ursprünglich veröffentlicht „en attendant“; 5, rue de Four; 54000 Nancy; en_[email protected]. Übersetzung ins Spanische veröffentlicht in Nr. 23 der Broschüren Etcétera.


1A.d.Ü., auf Französisch „désobéissance civique“ (ziviler Ungehorsam) und „guerre civile“ (Bürgerkieg), hier geht die sprachliche Anspielung verloren, weil der Begriff guerre civile auf Deutsch nicht Zivilkrieg bedeutet, wie es aber auf anderen Sprachen der Fall ist (civil war, guerra civil, guerra civile, gerra zibil,

2A.d.Ü., im Originaltext wird zwischen civique und civile unterschieden. Zweiteres beschreibt vor allem einen Zivilisten, also eine Person die nicht dem Militär angehörig ist. Aber dies gilt natürlich nur für Friedenszeiten. Selbst die französische Nationalhymne, die einst als ein Revolutionslied galt, einer Revolution der Bourgeoisie, erinnert daran: „Aux armes, citoyens, Formez vos bataillons, … (Zu den Waffen, Staatsbürger! Formt Eure Schlachtreihen)

]]> Eine Kritik an dem Staatsbürgerismus aus anarchistischer Sicht https://panopticon.blackblogs.org/2025/03/15/eine-kritik-an-dem-staatsbuergerismus-aus-anarchistischer-sicht/ Sat, 15 Mar 2025 21:57:46 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=6223 Continue reading ]]>

Gefunden auf noticias y anarquia, die Übersetzung ist von uns.


Eine Kritik an dem Staatsbürgerismus aus anarchistischer Sicht

Die Staatsbürgerschaft mithilfe eines Hockeyschlägers

Am 19. Oktober 2011, mitten in einer Studentendemonstration, die Verbesserungen im Schulsystem forderte, schlug eine etwa vierzigjährige Frau mit einem Hockeyschläger auf mehrere vermummte Jugendliche ein, die am Rande der Universität von Chile mit der Polizei kämpften. Der Vorfall ereignete sich am Ende einer Massendemonstration, an der sich über hunderttausend Menschen auf einer von der Intendencia Metropolitana genehmigten Strecke beteiligten und die im Laufe ihrer Entwicklung karnevalistische Züge annahm, dank der zahlreichen Tanzgruppen, Musikgruppen, Festwagen und Theateraufführungen, die sich der Aktion anschlossen.

Die Massenmedien machten sich diese Vorfälle schnell zunutze und stellten die mutige Frau als bestes Beispiel für staatsbürgeristische Aktion dar, fast wie eine Heldin, die die edelsten demokratischen Werte verkörpert und darüber hinaus die Belästigung friedlicher Demonstranten darstellt, deren Forderungen durch gewalttätige Handlungen, die sich dem Rechtsstaat entziehen, getrübt werden. Geht man von Max Webers1 Ansätzen aus, könnte die soziale Aktion dieser Frau als eine Verlängerung der Tätigkeit des Staates verstanden werden, einer Institution, die das legitime Gewaltmonopol innehaben will, da sie Gewalt genau in seinem Namen eingesetzt hätte, um die öffentliche Ordnung zu gewährleisten und damit zu versuchen, den „Lumpenproletariat“ zu stoppen und/oder zu bestrafen.

Die Frau wurde schnell identifiziert und ausfindig gemacht, sie gab zahlreiche Interviews in verschiedenen Medien, erklärte, dass sie die Forderungen der Studentenbewegung unterstütze, dass sie die Kritik und die Vorschläge, die verschiedene Mobilisierungsgruppen in dieser Hinsicht vorbrachten, unterstütze, dass sie aber „die Aktionen der Vermummten satt habe“.

Die Rede von der Macht legitimierte die Aktion dieser Frau, obwohl sie gefilmt wurde, als sie mindestens drei junge Menschen angriff, und dies öffentlich zugab, sie wurde nie verhaftet oder angeklagt, der Staat hat kein Problem mit der Gewalt, die in seinem Namen ausgeübt wird.

Obwohl diese Vorfälle große Bekanntheit erlangten, waren sie nicht die einzigen ihrer Art. Bei praktisch allen öffentlichen Demonstrationen der letzten Zeit2 ist die Spannung, manchmal unterschwellig und manchmal explizit, zwischen denjenigen, die die „staatsbürgerliche Demonstration“ (wie die friedlichen Demonstrationen genannt wurden, die von der Polizei „bewacht“ und von der Verwaltung geregelt wurden); und diejenigen, die eine „direkte Konfrontation“ anstreben, d.h. Gewalt gegen die Sicherheitskräfte und die Symbole der Macht (Firmengebäude, öffentliche Einrichtungen, Transantiago-Busse usw.) anwenden.

Der Staat und die Medien (die Macht) sprechen bei Demonstrationen mit direkter Konfrontation von „Eingeschleusten“, „Gewalttätern“, „Vandalen“, „Lumpen“ und natürlich „Anarchisten“. Normalerweise ist es der Unterstaatssekretär des Innern oder der amtierende Bürgermeister, der Pressekonferenzen abhält, um die Vorfälle als „schwerwiegend“ zu bezeichnen und sie als „Kriminalität“ zu brandmarken.

Es wird mit Klagen und der Anwendung „aller Härte des Gesetzes“ gedroht. Es wird sogar ausdrücklich an die Organisatoren von Märschen und Veranstaltungen appelliert, mit der Polizei „zusammenzuarbeiten“, die Aktionen „der Gewalttäter“, die die öffentliche Ordnung stören, anzuzeigen und zu verhindern, und die Organisatoren aufgerufen, „ihre“ Verantwortung für die Leitung und Kontrolle der Demonstration sowie der Teilnehmer zu übernehmen. Kurz gesagt, die institutionelle Aufforderung ist eine Aufforderung, sich wie die Frau am 19. Oktober zu verhalten, d.h. sich in den letzten Arm des Staatsapparats zu verwandeln, eine Aufforderung, sich wie ein Staatsbürger zu verhalten.

In diesem Sinne wurde die Debatte von der Macht aus innerhalb der sozialen Bewegungen eingeführt, insbesondere indem die Notwendigkeit geschaffen wurde, explizit zu definieren, was als politische Aktion gilt und was nicht. Mit anderen Worten, zwischen dem, was der Politik eigen ist, und dem, was der Kriminalität entspricht, zu unterscheiden. Die grundlegende Frage ist jedoch eine andere. Worauf es ankommt, ist nicht die operative Unterscheidung zwischen einer Aktion und einer anderen. Relevant ist vielmehr das, was der Entscheidung vorausgeht, nämlich die politische Definition der Debatte selbst. Welche politischen Auswirkungen hat jede Option? Welche konkrete Politik steckt hinter der Einleitung dieser Debatte? Wie fördert oder verhindert die politische Definition der Debatte, dass die verschiedenen „Arten von Demonstrationen“ die Fähigkeit entwickeln, die Realität in Frage zu stellen und sie in die eine oder andere Richtung neu zu definieren? Die aufgeworfenen Fragen berühren den Status der Politik selbst, d.h. das Kräfteverhältnis, das die Realität definiert. Um diese Fragen zu vertiefen, muss eines der Schlüsselkonzepte moderner Gesellschaften kritisch überprüft werden: die Staatsbürgerschaft.

Der Begriff der Staatsbürgerschaft wurde erstmals von T. H. Marshall verwendet, der die Entwicklung dieses Konzepts als Reaktion auf die Ungleichheiten der kapitalistischen Gesellschaft analysiert. Das wichtigste Element für die Konstruktion der Staatsbürgerschaft ist die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gemeinschaft oder Gesellschaft, die sich in der Anerkennung und Ausübung verschiedener Rechte und Pflichten, Freiheiten und Einschränkungen, Privilegien und Verpflichtungen manifestiert. Marshall betrachtet die Staatsbürgerschaft als die Ansammlung verschiedener Rechte und Pflichten, die die Mitglieder einer Gesellschaft entsprechend ihrem Entwicklungsstand und ihrer geltenden Institutionen besitzen und ausüben.

Diese Rechte sollen einige der Ungleichheiten oder Ungleichgewichte beseitigen, die durch die Verteilung des Reichtums, die Dynamik des freien Marktes und den ökonomischen Wettbewerb, die für den Kapitalismus charakteristisch sind, entstehen, und so die Unterschiede zwischen den sozialen Klassen, aus denen eine Gesellschaft besteht, verringern.

Die Staatsbürgerschaft entsteht als ein Prinzip der Gleichheit und Zugehörigkeit in einer Gesellschaft sowie als eine Reihe von Rechten und Pflichten, die mit dieser Zugehörigkeit einhergehen. Sie besteht aus einem Ordnungskriterium des sozialen Gefüges, das die Gleichheit zwischen Individuen unabhängig von ihren ökonomischen, kulturellen und politischen Unterschieden voraussetzt, also letztlich über ihre jeweiligen Identitäten und Klassenunterschiede hinausgeht. Dies ist der größte Unsinn bei der Konstruktion der Staatsbürgerschaft: Der Versuch, die soziale Struktur ausgehend von einem rechtlich und institutionell erworbenen Status zu verbergen oder aufzuheben, der die Logik der Herrschaft und Ausbeutung der in der kapitalistischen Gesellschaft vorherrschenden sozialen Beziehungen nicht verändert. „Der Arbeiter ist, ob es ihm gefällt oder nicht, in jeder Minute seines Lebens ein Arbeiter; selbst wenn er zum Vergnügen oder zur Vermehrung der Nachkommenschaft vögelt, ist er nichts anderes als Arbeitskraft zur Kapitalverwertung. Als solcher ist er weder gleichgestellt noch frei, noch Staatsbürger, noch Eigentümer. Und das nicht eine einzige Minute seines Lebens! Er ist nichts weiter als ein Lohnsklave. Es ist ihm noch nicht einmal in den Sinn gekommen, sich zu organisieren, um seine Interessen als Arbeitnehmer zu verteidigen, und schon hat er alle Gleichheit, Freiheit, Eigentum … gegen sich“3.

Der Begriff der Staatsbürgerschaft als politisches Projekt impliziert die Annahme des kapitalistischen Gesellschaftsszenarios als des einzig möglichen Szenarios, denn durch die Verleugnung der durch das System selbst hervorgerufenen sozialen Unterschiede und den Versuch, Gleichheit zwischen den Individuen herzustellen, werden die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger von der realen politischen Arbeit ausgeschlossen, d. h. vom Kräftespiel zur Aufrechterhaltung oder Umgestaltung der Gesellschaft. Die Staatsbürgerschaft ermöglicht Meinungsverschiedenheiten und Diskussionen, sie ermöglicht die Entstehung von staatsbürgerlichen und sozialen Forderungen, sie begründet sogar die Existenz verschiedener Parteien und Berufs- oder Sozialverbände, die auf bestimmte Themen oder spezifische Forderungen drängen, aber keine dieser „Alternativen“ bedeutet wirklich, die Realität zu denken und zu konstruieren (oder zu rekonstruieren). Was ist dann politisch an diesen Optionen?

Das Geheimnis von Demokratie und Staatsbürgerschaft besteht gerade darin, Optionen als Alternativen darzustellen, die es in Wirklichkeit nicht sind, und vermeintliche Meinungsverschiedenheiten zuzulassen, die das politische Spiel vortäuschen, aber im Grunde nur das Bestehende festigen, die Ausgrenzung vieler von der Entscheidungsfindung, den Verlust der Kontrolle über das eigene Leben und die Umwelt. Das demokratische Spiel beruht darauf, dass die verschiedenen Forderungen und Ansprüche von derselben bereits bestehenden Institution vorgebracht und übernommen werden, d.h. diese Institution wird nie direkt in Frage gestellt. „Der Begriff des Staates selbst ist zum einzigen Weg geworden, wie die Menschen glauben, dass das kollektive Leben organisiert werden kann“4.

Da die Unterschiede in Bezug auf Klasse, Geschlecht, Generation, Ethnie und andere mögliche Ungleichheiten in der kapitalistischen Gesellschaft nicht anerkannt werden, schränkt die Auffassung von Staatsbürgerschaft die politische Herangehensweise an diese Themen ein, d.h. sie verhindert, dass sie konkret gedacht und angegangen werden. Darüber hinaus ist die Bildung sozialer Subjekte in Abhängigkeit von diesen Bedingungen und kollektiven Identitäten schwierig und steht im Widerspruch zum staatsbürgerlichen Strom. In der heutigen demokratischen Gesellschaft stehen sich nicht Ausbeuter und Ausgebeutete, Unterdrückte und Unterdrücker gegenüber, sondern nur Staatsbürger, die gleiche Rechte haben, aber unterschiedliche Meinungen zu diesem oder jenem Thema vertreten. Die ideologische Konstruktion ist vollständig!

„Solange das Proletariat sich selbst nicht einmal erkennt, verhält sich jedes Mitglied der Arbeiterklasse, jeder Entrechtete, wie ein guter Staatsbürger, mit Freiheiten, Pflichten und Rechten, die sich aus seiner Staatsbürgerschaft ergeben, und akzeptiert die Gesamtheit der Spielregeln, die ihn atomisieren und im Volk auflösen, wo seine spezifischen Klasseninteressen keinen Platz haben. Als Staatsbürger ist er allen gleich; als Wähler ist er allen gleich; als Verkäufer und Käufer ist er frei und allen gleich … er existiert nicht als Klasse. Genau das ist die Voraussetzung für das Funktionieren der Demokratie“5.

Konkret ist die moderne Demokratie ein regelrechter Schein der Beteiligung, bei dem alle Bürgerinnen und Bürger die formalen Voraussetzungen für diese Beteiligung erfüllen, obwohl sie keinen Einfluss auf die Entscheidungsfindung haben. Die Wahlrituale wurden perfektioniert und technisiert, die zu wählenden Ämter festgelegt, die Wähler und Kandidaten verteilt, die Häufigkeit der Wahlen und die Dauer der Kampagnen geregelt, die Ausgaben der Kandidaten werden subventioniert und die Ausübung des Wahlrechts selbst wird sakralisiert, die gesamte „Verpackung“ der Beteiligung funktioniert nach dem Gesetz hervorragend, obwohl ihr „Inhalt“ völlig verloren gegangen ist. „Es handelt sich nicht mehr um Nachahmung oder Wiederholung, nicht einmal um Parodie, sondern um eine Verdrängung des Realen durch die Zeichen des Realen“6.

Zu Beginn der bourgeoisen Revolutionen in Europa war die repräsentative Demokratie wahrscheinlich ein „Spiegelbild“ des radikalen Wandels von der feudalen zur kapitalistischen Gesellschaft. Dieses Phänomen „verhüllt und verzerrt“ jedoch auch eben jenes Phänomen. Die erwähnte gesellschaftliche Transformation impliziert die Konsolidierung der Bourgeoisie als herrschende Klasse, nicht die Öffnung der politischen Macht für alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Darüber hinaus hat diese Öffnung nie stattgefunden, die unteren Klassen genießen keine sozialen Privilegien wie die Verteilung von Wohlstand oder die Fähigkeit, konkret auf ihr Umfeld einzuwirken. Schließlich wurzelte das demokratische Spiel in den bourgeoisen Nationalstaaten als Schein der politischen Partizipation. Die bestehende Demokratie fördert und bezieht die Mehrheit der Einwohner einer Gemeinschaft bei Entscheidungen über das gesellschaftliche Leben nicht mit ein, sondern schließt sie aus und legitimiert die bestehende Struktur. Sie führt sogar dazu, dass das wahre Kräftespiel, also die Politik selbst, unsichtbar wird.

„Die Demokratie ist repräsentativ. Der Demos konstituiert sich nur zum Zeitpunkt der Wahl als politisches Gremium, wenn er regelmäßig per Gesetz einberufen wird.

Die Vertretung beinhaltet eine vollständige Übertragung der Macht für die gesamte Dauer des Mandats. Die Abstimmung ist geheim. Folglich ist die Politik nicht sichtbar. Die politische Bühne ist öffentlich, wie ein Schauspiel, und größtenteils verborgen, wie eine Angelegenheit einer spezialisierten sozialen Gruppe, die aus der Bourgeoisie rekrutiert wird. All dies wird weise aus Staatsräson verteidigt.7

Die von Marshall vorgeschlagenen Rechte umfassen verschiedene Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, bilden aber nur in ihrer Gesamtheit eine staatsbürgerliche Charta, die darauf abzielt, soziale und ökonomische Unterschiede zu begrenzen. Die zivilen Rechte garantieren eine gewisse persönliche Autonomie, die politischen Rechte eine bestimmte Form der Teilhabe an der Gemeinschaft und schließlich die sozialen Rechte ein sozial akzeptables Maß an Lebensqualität. Ihre Entwicklung geht eindeutig mit der Entwicklung des Staatsapparats und der Institutionalisierung verschiedener politischer Praktiken einher, durch Gesetze und Vorschriften, die Freiheiten garantieren, Pflichten festlegen und Straftaten verbieten. „In diesem Raum wird Gleichheit als Gleichheit vor dem Recht verstanden, d.h. als Gleichheit vor dem Gesetz. Eine rein theoretische Gleichheit, die in der Tat mit der sozialen Hierarchie vereinbar ist“8.

Diese rechtliche und politische Artikulation der Staatsbürgerschaft setzt eine rationale und legitime Ordnung des Staates voraus, die als „Rechtsstaat“ bezeichnet wird und mindestens die folgenden vier konstitutiven Elemente umfasst:

  1. Explizite Definition der Befugnisse und Funktionen jedes Teils des Staatsapparats.
  2. Fortschreitende Einführung von Normen in verschiedenen Lebensbereichen, die die Grenze zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten neu definieren.
  3. Schaffung der repräsentativen Demokratie als Mechanismus der politischen Beteiligung.
  4. Technisierung der politischen Verfahren und Entscheidungen.

Diese Konzeption des Staates wird jedoch naiv und neutral dargestellt, als handele es sich nur um eine technische und rationale Einheit, die die Ressourcen nach gemeinsamen Zielen verwaltet. Dies ist eindeutig ein weiterer Irrtum, der den liberalen Theorien eigen ist9. Der „Staat ist im Wesentlichen ein Paradigma der hierarchischen Strukturierung der Gesellschaft […]. Er wird aus der Enteignung aufgebaut, die ein Teil der Gesellschaft an der globalen Fähigkeit vornimmt, die jede menschliche Gruppe hat, um Beziehungsformen, Normen, Bräuche, Kodizes, Institutionen zu definieren, eine Fähigkeit, die wir als symbolisch-instituierend bezeichnet haben und die das Eigentliche ist, das die menschliche Ebene der sozialen Integration definiert und konstituiert. Diese Enteignung ist nicht notwendigerweise oder ausschließlich ein Akt der Gewalt: Sie beinhaltet und erfordert das Postulat der politischen Verpflichtung oder des Gehorsams10. Der Staat ist weit davon entfernt, neutral zu sein, er ist das wichtigste politische Instrument der modernen Gesellschaft und hat seit seinen Anfängen die Rolle des Artikulators der kapitalistischen Gesellschaft ausgeübt, wobei er seine eigene Struktur bei der Ausübung dieser Funktion verändert hat.

Die Staatsbürgerschaft ist ihrerseits nicht nur die Ergänzung des Rechtsstaats, sondern seine Schöpfung, das Ergebnis seiner systematischen Aktion. Sie bildet heute das soziale Gefüge, das der Staat selbst schafft, um sich ständig zu etablieren und zu legitimieren, und stellt eine ideologische und materielle Artikulation der Herrschaftsverhältnisse dar. Die Staatsbürgerschaft artikuliert Subjektivitäten und Weltanschauungen in Bezug auf das gesellschaftliche Leben, schafft Mechanismen der institutionellen Beteiligung, Werte und Themen, auf die man sich ständig beziehen muss. Staatsbürgerschaft und Rechtsstaat sind zwei untrennbare Elemente der modernen Gesellschaft, zwei Seiten derselben Medaille. Erstere erhebt sich als Status der Gleichheit und Zugehörigkeit jedes Individuums zu einer bestimmten Gesellschaft mit der daraus resultierenden staatlichen Zugehörigkeit. Der Rechtsstaat hingegen wird als die einzig vernünftige und legitime Form der politischen Ordnung angesehen. Er ist der Garant aller Rechte und der eigentliche Schauplatz des staatsbürgerlichen Handelns. Er ist der Ort, an dem sich diese besondere Art von politischem Subjekt entfaltet und existiert. Das Auftauchen dieser Frau mit ihrem Hockeyschläger ist das konkrete Ergebnis der Politik der Staatsbildung, die von der Macht gefördert wird.

Wir Unterdrückten haben kein Interesse daran, Staatsbürger zu sein …

Verfasst von Raúl Ortega Mondaca


1Weber, Max, „Economía y Sociedad“ Ed. Fondo de Cultura Económica, Mexiko, 1995, S. 43.

2Während dieser Umstand bereits seit mehreren Jahren (zumindest seit 2005) bei den traditionellen Demonstrationen am 1. Mai und 11. September festgestellt wurde, trat er 2011 bei fast allen Studentendemonstrationen und sogar bei der karnevalistischen Mapuche-Demonstration am 12. Oktober auf. Im Jahr 2012 trat dieses Phänomen bereits bei der Demonstration am 8. März auf, die zum Gedenken an den Tag der arbeitenden Frau stattfand und die zum ersten Mal seit ihrer Durchführung von gewalttätigen Zwischenfällen überschattet wurde.

3Qarmat, Miriam, „Contra la Democracia“, Ed. Rupturas, 2002, S. 13.

4Méndez, N. und Vallota, A., „El Anarquismo: Una Utopía que Renace“, Ed. Prokaos, Santiago, 2011, S. 2.

5Qarmat, Miriam, „Contra la Democracia“, Ed. Rupturas, 2002, S. 10.

6Baudrillard, Jean, „Cultura y Simulacro“, Verlag Kairós, Barcelona, 1978, S. 11.

7Colombo, Eduardo, „De la Polis y el Espacio Social Plebeto“ Ed. Nordam, Montevideo, 1993, S. 51.

8Colombo, Eduardo, „De la Polis y el Espacio Social Plebeto“ Ed. Nordam, Montevideo, 1993, S. 51.

9Die Vertragstheorien von Hobbes, Locke und Rousseau sind ein treffendes Beispiel dafür.

10Colombo, Eduardo: El Espacio Político de la Anarquía, Montevideo, Ed. Nordam, 2000, S. 57.

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Gefunden auf indymedia.


München: Solidarität mit den inhaftierten Anarchist:innen N. und M.! Über den jüngsten Repressionsschlag

Nein, es war kein Karnevalsverein, der am 26.2.25 um ca. 22 Uhr abends mit 140 verkleideten Clowns an acht Orte ausrückte, um mit Waffen herumzufuchteln, schlechte Scherze zu erzählen und erbärmliche Sketches aufzuführen. Nein, es waren Bullen. Und nein, ihr übertriebenes Spektakel war alles andere als witzig, denn sie verhafteten unsere anarchistischen Gefährt:innen M. und N.

Im Folgenden wollen wir weitere Details zu den Durchsuchungen, Verhaftungen und Ermittlungsverfahren erläutern.

Zwei Verhaftungen und drei Ermittlungsverfahren

Es geht um drei Ermittlungsverfahren:

– Das seit 2022 bekannte Verfahren gegen die angebliche Zündlumpen-Redaktion mit dem Vorwurf der kriminellen Vereinigung. Der Haftbefehl gegen M. und N. erfolgte im Zuge dieses Verfahrens. Insgesamt gibt es in dem Verfahren drei Beschuldigte (zwischenzeitlich vier, nun wieder drei). mehr Infos dazu hier: https://de.indymedia.org/node/188585 und https://de.indymedia.org/node/234473

– Neu ist uns einerseits ein Ermittlungsverfahren gegen M. und N. wegen Brandstiftung, allerdings besteht in diesem Verfahren nur ein Anfangsverdacht, der laut Presse nicht für einen Haftbefehl ausreicht. Die genauen Tatvorwürfe werden hier erläutert: https://de.indymedia.org/node/496171

– Andererseits wurde mit den Razzien von vor einer Woche ein Verfahren wegen „Billigung/Belohnung von Straftaten“ gegen die Zeitung „Hetzblatt gegen den Windpark“ bekannt. Bei diesem Verfahren gibt es nach unserem Wissen vier Beschuldigte, unter anderen M. und N.

Das Verfahren wegen den Brandstiftungen wird von der „EG Raute“ geführt. Raute? Ja, Raute, es geht um die Verteidigung des bayrischen Wappens. Dieses droht angesichts der seit Jahren in München und Oberbayern andauernden „Serie“ an Brandstiftungen beschmutzt zu werden. Schließlich ist Bayern doch das sicherste Bundesland Deutschlands. Deswegen arbeiten die über 20 Bullen der „EG Raute“ seit geraumer Zeit daran, Bayerns Ruf zu retten und die „Feuerteufel“ dingfest zu machen. Von bis zu 50 Brandstiftungen in München und Oberbayern gegen Bau- und Forstmaschinen und kritische Infrastruktur etc. wissen manche Zeitungen zu berichten. Dass die Bullen in dieser Sache seit Jahren keinen Erfolg vorweisen können, setzt sie unter enormen Druck. Erschwerend kommt hinzu, dass die Bullen laut Presse anscheinend nie verwertbare Spuren vorfinden… außer einmal einen Schuhabdruck! Da es sich nun aber um bayrische Bullen und nicht um verliebte Prinzen aus dem Märchen Cinderella handelt, sind sie sehr ungeduldig mit ihrer Suche nach dem richtigen Füßlein… und mit den nun erfolgten Verhaftungen von M. und N. konnten sie der Presse endlich einen angeblichen Ermittlungserfolg vorweisen, obwohl der Haftbefehl tatsächlich im Rahmen eines seit Jahren bekannten, anderen Verfahrens erfolgt ist. Die Presse titelt aber ganz im Sinn dieser Inszenierung: „Feuerteufel festgenommen“, „unheimliche Brandserie: erste Festnahmen“ und schmückt die Artikel mit den schönen Bildern der erst vor kurzem abgebrannten Autos der Diensthundestaffel (obwohl M. und N. gar keine Beschuldigten in diesem konkreten Verfahren sind).

Alles in allem steht die jüngste Repressionswelle im Kontext einer umfangreichen Repression gegen Anarchist:innen in München und so veranlasste das erst wenige Jahre junge Zentrum für Extremismus und Terrorismus (ZET) der Generalstaatsanwaltschaft München nicht nur die nun bekannt gewordenen zwei neuen Verfahren wegen Brandstiftung und Billigung von Straftaten, sondern auch das immer noch laufende Verfahren gegen die angebliche Zündlumpenredaktion infolgedessen die anarchistische Bibliothek Frevel gekündigt, eine ganze Druckerei beschlagnahmt und zahlreiche andere Orte durchsucht wurden. Zudem eröffnete das ZET ein internationales Ermittlungsverfahren wegen Brandstiftung gegen mit den Münchner Anarchist:innen in Verbindung gebrachte Anarchist:innen in anderen Ländern (https://de.indymedia.org/node/450000). So haben es sich die bayerischen Behörden offensichtlich zum Ziel gesetzt, die Herausgabe anarchistischer Publikationen zu unterbinden, anarchistische Räume zu schließen und Anarchist:innen mitsamt ihrer sozialen Umfelder mit Repression zu überziehen.

Darin reiht sich auch das neue Verfahren gegen die Zeitung „Hetzblatt gegen den Windpark“ mit dem Vorwurf „Billigung und Belohnung von Straftaten“ ein, dessen Durchsuchungen mit den Verhaftungen und den Durchsuchungen im Verfahren wegen Brandstiftungen koordiniert wurden. Die einmalig erschienene Zeitung „Hetzblatt gegen den Windpark“ richtet sich gegen den Bau eines Windradprojektes in einem Forst bei Altötting, im Zuge dessen extrem viel Wald gerodet werden soll. Das Projekt ist ein Vorzeigeprojekt der in Altötting ansässigen Chemieindustrie. Der Großteil der nun durchgeführten Hausdurchsuchungen erfolgte bei Beschuldigten und Zeug:innen dieses Verfahrens.

Wie leichtfertig die Münchner Richter Durchsuchungsbeschlüsse unterschreiben, wird daran deutlich, dass in allen durchsuchten Objekten nicht nur immer alle Zimmer durchsucht wurden, sondern dass sich einige der Durchsuchungen ausschließlich gegen Zeug:innen richteten. Hat es so was schon mal gegeben? (Die diversen Zeug:innen haben auch alle staatsanwaltschaftliche Vorladungen bekommen, um als Zeug:innen auszusagen.) Auch die Begründung für eine Hausdurchsuchung, dass die von der Hausdurchsuchung Betroffenen „Kontaktpersonen“ von Beschuldigten aus einem Verfahren (wegen Brandstiftung) seien, ist uns ehrlich gesagt neu.

In der Münchner Ordnungszelle sinkt die Schwelle für heftige Repressionsmaßnahmen mal wieder – die erwünschte Wirkung ist offensichtlich: diese Maßnahmen sollen uns einschüchtern und isolieren.

Neun Durchsuchungen

Durchsucht wurde insgesamt an neun Orten, drei davon in Österreich (unter anderem ein Vereinslokal), die anderen sechs in München und Umland (darunter auch ein Keller). Die ersten acht fanden zeitgleich statt. Die Durchsuchung eines Anwesens einer Zeug:in in Österreich erfolgte zwei Tage später (und wird von der Presse verschwiegen). Die Durchsuchungen in Österreich wurden ausschließlich von österreichischen Bullen durchgeführt. Am 6.3.25 wurden ein Beschuldigter und eine Zeugin in ihrem bereits durchsuchten Wohnort erneut aufgesucht, um ihnen die bisher nicht beschlagnahmten Handys abzunehmen.

Generell haben sich die Bullen bei den Durchsuchungen in Deutschland Zugang zu den Wohnungen mittels Rammbock oder Werkzeug verschafft. Es wurden nicht sofort Durchsuchungsbeschlüsse vorgelegt, der Kontakt zu den Anwälten wurde verweigert und die Betroffenen durften nicht bei den Durchsuchungen zuschauen. Im Allgemeinen wurden die üblichen Sachen beschlagnahmt wie Computer, Speichermedien, anarchistische Zeitungen und Plakate, sowie Werkzeug und teils Drucker. Notizbücher, Kalender und allgemein so gut wie alles wurde fotografiert. Was letztlich beschlagnahmt wurde, durften die Betroffenen nicht sehen, ihnen wurden lediglich Sicherstellungsprotokolle ausgehändigt. Für die Durchsuchungen in bestimmten Objekten wurden auch einige Hunde mitgebracht, die nach unterschiedlichen Dingen suchten, unter anderem nach Datenträgern.

In einem Haus im Münchner Umland bot das USK ein karnevaleskes Theater auf und versuchte mit allem zu protzen, was sie zu bieten haben: so wurde das Haus, indem sich lediglich zwei Personen befanden, von 50 bis 70 vermummten Bullen umstellt, woraufhin dieses mit gezogenen Maschinenpistolen gestürmt wurde. Daraufhin leuchteten die Bullen das Haus sowie den Garten mit Flutlicht aus und durchsuchten den Garten mit Metalldetektoren. Außerdem hatten die Bullen einen Technik-LKW dabei (für was auch immer der gut sein sollte).

Solidarität

Die gefangenen Anarchist:innen N. und M. freuen sich über Briefkontakt! Schickt ihnen Briefe, Postkarten oder Texte. An N. auf Deutsch, Englisch und Französisch, an M. auf Deutsch und Englisch.

M. sitzt in der JVA Stadelheim im Männerknast, N. wurde in den Frauenknast der JVA Aichach verlegt. Postadresse bekommt ihr auf Anfrage an die mail solidaritaet-mit-n-und-m ät riseup.net

Denkt daran, dass die Briefe auf jeden Fall von schnüffelnden Bullen und Staatsanwält:innen mitgelesen werden.

Darüber hinaus gibt es unzählige Formen Solidarität auszudrücken!

Die bayrischen Knäste und besonders U-Haftanstalten sind für besonders restriktive Haftregime berüchtigt. Es ist also besonders wichtig, dass die Gefangenen spüren, dass sie nicht alleine sind und wir an sie denken.

Wir wollen im Folgenden jedoch keine Soli-Kampagne starten, die manchmal Gefahr läuft, ausschließlich die Freilassung einzelner Inhaftierter zu fordern und dieses Ziel von breiteren Kämpfen loszulösen.

Wir denken, die schönste Form der Solidarität ist es, die Kämpfe der Gefangenen fortzuführen und eigene Kämpfe gegen die Knastgesellschaft zu führen.

Unsere gefangenen Gefährt:innen müssen in unseren Kämpfen präsent sein und wir wollen kontinuierlich versuchen, mit unserer Solidarität die Isolation zu überwinden.

Zeigen wir mit unseren Worten und Taten, mit unserer Liebe und Wut, dass wir sie in unseren Herzen tragen und der Staat unsere Beziehungen und Ideen nicht zerstören oder unterdrücken kann!

Liebe und Kraft an die in Stadelheim inhaftierten Anarchist:innen M. und N.!

Ewiger Hass dem Staat und seinen Clowns!

PS: An alle Staatsschützler (SS): Wer das liest ist doof.
PPS: Was ist außen grün und innen hohl?
→ Schnittlauch.

]]> (Chile) Aktualisierung zur Isolationshaft des anarchistischen Gefährten Francisco Solar https://panopticon.blackblogs.org/2025/03/15/chile-aktualisierung-zur-isolationshaft-des-anarchistischen-gefaehrten-francisco-solar/ Sat, 15 Mar 2025 21:52:57 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=6219 Continue reading ]]>

Gefunden auf informativo anarquista, die Übersetzung ist von uns.


(Chile) Aktualisierung zur Isolationshaft des anarchistischen Gefährten Francisco Solar

Francisco befindet sich seit seiner Verhaftung im Jahr 2020 wegen Angriffs auf Unterdrücker und Mächtige seit fast fünf Jahren in Hochsicherheitstrackten.

Nach seiner Verurteilung wurde die Isolationshaft noch verschärft, und er befindet sich seit mehr als sechs Monaten in strenger Isolationshaft, mit Besuchsbeschränkungen, 21 Stunden Einschluss, ohne Fernsehen und Radio.

Im März werden die Verwaltungsbehörden entscheiden, ob der Gefährte in Isolationshaft bleibt oder nicht. Wir rufen dazu auf, die nächsten Informationen aufmerksam zu verfolgen.

Gegen die Verschärfung des Gefängnisregimes: Solidarität und Aktion!

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