Anarchismus und Identität(en), ein falsches Verhältnis.
Eine kurze Textreihe von Texten die aufeinander Bezug nehmen. Angefangen hat es mit einem Artikel der im Sprachorgan der CNT Catalunya Solidaridad Obrera veröffentlicht wurde, danach auch französischer Sprache auf lundi matin. Dazu gab es von Finimondo und Non-fides eine Kritik.
Es gibt nicht wenige die den Anarchismus als eine Theorie des Proletariats um den Staat und das Kapital zu zerschlagen nicht sehen, sondern als eine Identität. Die wie alle Identitäten, alles Ideologien, man nicht nur nach belieben ablegen kann, sondern nicht nur oberflächlich und vor allem etwas sind was fast ästhetisch ist.
Der erste Text dieser Reihe leidet an den oben genannten Krisen der Identität (Wer bin ich? Wohin gehe ich? Warum bin ich? …) und will den Anarchismus wechseln, zu unbequem, zu unattraktiv, sowie man halt die Unterwäsche wechselt. Der Anarchismus wird ganz im Sinne jeder Identität auf rein ästhetische Merkmale reduziert und dies auf einer Zeitung die von sich selbst schimpft selbst anarchistisch (sic!) zu sein. Dies wird natürlich von Finimondo kritisiert.
Der letzte Artikel von Non-Fides ist in einem anderen Rahmen zu lesen. Dies werden alle Freundinnen und Freunde der Kritik am Appellismus/Tiqqunismus/undweiteretheoretischeDeformationen sehr mögen.
„Gegen“ den Anarchismus. Ein Beitrag zur Debatte über Identitäten
„Neu anfangen heißt: aus dem Schwebezustand herauskommen. Den Kontakt zwischen unserem Werden wiederherstellen“. Tiqqun.
Viele von uns haben sich schon lange über Identitäten Gedanken gemacht: Was ist Identität, wie wird sie artikuliert, ist es interessant oder strategisch ratsam, die Fahnen der Identität im Rahmen revolutionärer Prozesse hochzuhalten? In diesem Text werden wir versuchen, eine andere Perspektive in die Debatte einzubringen.
Wir verstehen Identität als den symbolischen und strukturellen Prozess der Identifikation oder Zugehörigkeit und damit auch der Trennung. Man muss unterscheiden zwischen Identitäten, die von der Biomacht auferlegt werden (Frau, schwarz, fett usw.), und „revolutionären Identitäten“, die sich eine Vielzahl von Organisationen, Kollektiven oder Individuen selbst geben (anarchistisch, kommunistisch, nihilistisch usw.), d. h. Identitäten, die nicht durch diskursive, soziale und sprachliche Symbole auferlegt werden, die historisch von der Macht bestimmt sind, sondern von den Individuen selbst gegeben werden.
In vielen Fällen sind die von der Biomacht auferlegten Identitäten Kategorien der Unterdrückung. Als Frau bezeichnet zu werden, macht dich nicht zur Frau, aber es verleiht dir eine soziale Kategorie mit allem, was dies bedeutet und mit sich bringt. Die Wiederaneignung und Abschaffung der durch die Unterdrückung vorgegebenen Kategorien ist in den meisten Fällen ein notwendiger Schritt, um eine kollektive Ermächtigung aus der Identität heraus zu artikulieren. Wie Nxu Zana, eine indigene Frau und Feministin, sagt:
„Das heißt, sie haben mir eine Reihe von Vorschriften auferlegt, an die ich mich halten musste, weil ich eine Frau bin, und wenn ich das nicht tue, werde ich verurteilt, bestraft, ausgegrenzt, stigmatisiert und sogar vergewaltigt, womit ich nicht einverstanden bin, aber ich würde die Realität meines Körpers und das, was er für meine Gruppe, meine Geschichte, mein persönliches und kollektives Leben bedeutet, niemals verleugnen, denn ihn zu verleugnen, bedeutet, eine Realität und meine Erfahrung damit zu verleugnen, indem ich versuche, mich einer Lüge hinzugeben“.
Wir haben nichts über diese aufgezwungenen Identitäten zu sagen, denn sowohl ihre Zwangsfunktion als auch ihre Wiederaneignung sind im Rahmen eines diskursiven, symbolischen und materiellen Kampfes klar, der jeden Tag und überall geführt wird. Andererseits verbergen sich hinter den „revolutionären Identitäten“ eine Reihe von Spitzfindigkeiten, die aus der Nähe betrachtet stinken.
Wir stellen unmissverständlich fest, dass die Erklärung, „antisistema“1, „Anarchist*in“ oder ein anderes ähnliches Etikett zu sein, heute bedeutet (A.d.Ü., in Form von Repräsentation), sich auf die Logik der Macht einzulassen. Diese Erklärung ist keine bloße Provokation; sie ist vor allem eine strategische und konzeptionelle Notwendigkeit. Kurz gesagt: In dem Moment, in dem sich ein Individuum oder ein Kollektiv als „anarchistisch“ (oder ähnlich) bezeichnet, gibt es sich freiwillig ein erkennbares Gesicht in den Augen der Macht und grenzt sich damit vom Rest der Bevölkerung ab. Wir sollten uns daran erinnern, dass die Logik der Abgrenzung immer die Logik der Macht ist. Mit dieser Identitätszuweisung weisen sie auf sich selbst hin, sie machen auf sich aufmerksam, und die Macht macht sich die Tatsache zunutze, dass sie solche identifizierbaren Masken tragen. Auf diese Weise ist es für die Macht viel einfacher, sie zu isolieren, zu unterdrücken und diskursiv ein Monster in den Augen der anderen zu errichten, um die Trennung aufrechtzuerhalten, die die Anarchist*innen selbst geschaffen haben. Das vorhersehbare Ergebnis dieser Strategie ist Isolation, Identifikation und Repression. Und eine Menge Ohnmacht zum Nachtisch.
Die Macht will uns nicht zerstören (wie wir manchmal in Texten lesen, die unter den Hausbesetzer*innen in unseren Kiezen verteilt werden), sie will uns vielmehr „produzieren“. Sie will uns als politische Subjekte produzieren, als Anarchist*innen, Antisistemas, Radikale usw. Sie wollen uns so produzieren, dass sie jeden Versuch der Organisierung leicht neutralisieren können. Es ist an der Zeit, all diesen Ballast hinter sich zu lassen. Angesichts der Trennung, die durch die „revolutionären Identitäten“ erzeugt wird, bleibt uns nichts anderes übrig, als uns aufzulösen. Sich auflösen heißt: unerkennbar werden, unbemerkt bleiben, aus dem Blickfeld verschwinden, während wir an den Orten, an denen wir leben, zusammen mit den Menschen, die uns nahe stehen, handeln, ohne etwas zu verkünden, sondern die Praxis für uns sprechen lassen.
Die Dialektik, die sich daraus ergibt, ist folgende: Man geht von einer bestimmten, vorher festgelegten Ideologie aus (mit der daraus resultierenden verankerten Identität) und gibt in völliger Isolation, von dieser Äußerlichkeit, von dieser Leere, vor, in die Materialität der Welt hinabzusteigen, um „die Massen anzusprechen“ und dieses oder jenes Ziel zu erreichen. Das ist eine außerirdische Politik2 und Teil des andauernden Scheiterns; diese Dialektik muss umgedreht werden. Vielmehr gehen wir von einer bestimmten gemeinsamen Situation aus, von bestimmten Bedürfnissen und begleitet von bestimmten heterogenen Menschen ohne irgendeine Art von „revolutionärer Identität“, und von dort aus, aus unserem Alltag, von den Orten, die wir bewohnen, und zusammen mit den Menschen um uns herum, bauen wir durch kollektive Praxis eine revolutionäre Strategie auf, die auf das libertärste Ideal zielen kann, das wir wollen. Wie einige Freund*innen sagen: Eine Gemeinschaft wird nie als eine Identität erlebt, sondern als eine Praxis, als eine gemeinsame Praxis.
Im Laufe des Konflikts sind wir überrascht, dass eine so wichtige Frage wie „Was genau bringt die Tatsache, dass wir uns als Anarchist*innen bezeichnen, mit sich?, nie gestellt wird. Da wir in alten revolutionären Traditionen verankert sind, verlieren wir die Klarheit darüber, was vor unseren Augen geschieht. Diesen Aspekt auf den Tisch zu bringen, erscheint uns grundlegend. Sich selbst als Anarchist*in (oder eine andere „revolutionäre Identität“) zu bezeichnen, trägt überhaupt nichts bei oder erleichtert nichts, es stärkt weder unsere revolutionäre Kraft noch hilft es uns, uns besser zu organisieren. Stattdessen isoliert sie uns und macht uns zu einem leichten Ziel für Repressionen. Ideologische Identitäten sind ein Pfeiler, auf dem der Feind ruht, also liegt es an uns, ihnen abzuschwören. Foucault schrieb zu Recht, dass „das Hauptziel heute nicht darin besteht, zu entdecken, was wir sind, sondern es zu verwerfen“. Allein diese Prämisse anzunehmen, ist eine Übung in Demut und Aufrichtigkeit. Das bedeutet nicht, dass wir vergessen, schon gar nicht unsere Toten, sondern dass wir anders anfangen.
Wir gehen von folgendem Punkt aus: Der Inhalt eines Kampfes liegt in den Praktiken, die er anwendet, nicht in den Zielen, die er verkündet. Es ergibt keinen Sinn, einen Rucksack voller identitätspolitischer Unnachgiebigkeit, raffiniertem Purismus und moralischem Radikalismus zu tragen, wenn wir in dieser kollektiven Lähmung verankert bleiben. Indem wir von den Orten aus agieren, die wir bewohnen, und Lebensweisen entwickeln, sind wir nicht so sehr durch große ideologische Ansprüche geeint, sondern vielmehr durch kleine gemeinsame Wahrheiten in einem komplexen, dynamischen und manchmal sogar widersprüchlichen Prozess. An diesem Punkt wächst unsere revolutionäre Kraft und kann zu etwas mehr werden.
Abschließend möchten wir auf die Kluft hinweisen, die oft zwischen der militanten Welt des Ghettos (mit all ihren ideologischen Identitäten) und der Zentralität des Alltagslebens besteht. Mit anderen Worten: So grundlegende und notwendige Aspekte des Lebens wie Wohnen, Transport oder Arbeit werden in diesen Räumen nicht angesprochen. Wenn wir reden, debattieren und mobilisieren, es aber vernachlässigen, uns auf der Grundlage unserer Bedürfnisse zu organisieren und uns in einen rein ideologischen und identitätsbasierten Rahmen stellen, ist das Teil des Problems. Wir müssen auf den Boden der Tatsachen zurückkehren. Wir müssen die Mauern einreißen, die wir selbst um uns herum errichtet haben. Diese Spaltung zwischen der militanten/identitären Welt und der Zentralität des Lebens und seiner Bedürfnisse ist ein Hindernis, das es zu überwinden gilt; wir müssen eine notwendige Verschiebung hin zu einer anderen Koordinatenachse vornehmen und unsere Organisation auf das stützen, was wirklich politisch ist, d.h. auf den Aufbau anderer Lebensformen zusammen mit den Menschen um uns herum. Diese Spaltung ist es auch, die es vielen Militanten ermöglicht, beim kleinsten Anzeichen von individuellen Zweifeln den Kampf aufzugeben und sich „zurückzuziehen“, da sich ihre Aktivität nicht um zentrale Aspekte des Lebens dreht. Nur eine solche Äußerlichkeit gegenüber dem Leben kann dies ermöglichen. Andernfalls wäre er nicht in der Lage, sich von dem zurückzuziehen, was er tagtäglich lebt. Es kann keine militante oder identitäre Sphäre und eine separate Sphäre geben, die dem „Leben“ entspricht. Unsere Aufgabe ist es, uns aufzulösen, unbemerkt zu bleiben, uns auf der Grundlage der Bedürfnisse unseres Lebens zu organisieren und unsere Bestrebungen kollektiv in die Tat umzusetzen.
Wir glauben fest daran, dass Kampf etwas anderes ist als das, woran wir gewöhnt sind. Es überrascht uns nicht, dass viele Menschen in bestimmten Bereichen von ihrer militanten Aktivität ausgebrannt sind und von der Ohnmacht, auf die sie reduziert werden, genervt und ausgepowert sind. Wir können den Kampf und das Leben nicht voneinander trennen, genauso wenig wie wir uns von anderen auf der Grundlage einer ideologischen Identität abgrenzen können. Nachbarschaftliche Beziehungen und Freundschaft, ganz einfach, sind der Mörtel, auf dem die Flamme des Aufstands gebaut ist. Diese Verbindungen sind die einzigen, die eine revolutionäre Notsituation aufrechterhalten können, und mit Kampf und Politik meinen wir auch die Verbreitung dieser Verbindungen und ihre Organisation. Das Spiel der ideologischen Identitäten ist eine Belastung für die Konstituierung dieser Verbindungen. Es ist also an der Zeit, diskursiv und konzeptionell auf den Teil von uns zu verzichten, der uns so sehr daran hindert, beim Aufbau einer anderen Art, diese Welt zu bewohnen, voranzukommen.
Herbst 2017
Gefunden auf finimondo, die Übersetzung ist von uns.
Über Anarchismus und (Identitäts-)Krise
Für einen Anarchismus ohne Abhängigkeiten
Montag, 30. Januar 2017
Ein Text mit dem Titel „Gegen“ Anarchismus. Ein Beitrag zur Debatte über Identitäten, der bereits im vergangenen November in Spanien in der Zeitschrift Solidaridad Obrera (offizielles Organ der CNT) erschienen ist, wurde kürzlich ins Französische übersetzt und auf der Website lundi.am (inoffizielles Organ des Unsichtbaren Komitees) veröffentlicht. Diese allzu offenkundige Übereinstimmung der politischen Sinne zwischen spanischen libertären Syndikalisten und französischen blanquistischen Intellektuellen, die beide darauf erpicht sind, andere zu organisieren, erscheint uns zu interessant und zu interessiert, um ignoriert zu werden. Eine heuchlerischere Lektion für diejenigen, die keinen Platz in dieser Welt haben, kann man kaum finden.
Deshalb hielten wir es für das Beste, diesen peinlichen Text auch hier in Italien öffentlich zu machen. Und wir hielten es für unklug, ihm einen eigenen peinlichen Beitrag folgen zu lassen. […] Für einen Anarchismus ohne Abhängigkeiten
Calimero, der kleine libertäre Syndikalist, befindet sich in einer ständigen Identitätskrise. Die anderen Bewohner des Hofes erkennen ihn nicht an, sie brüskieren ihn, sie beschämen ihn. Er wimmert, schreit, stampft mit den Füßen, aber dann macht er schließlich einen Aufstand und schlurft davon. Welche Wut, welche Hilflosigkeit! Er würde gerne erwachsen werden, eine Familie gründen, respektiert werden, sich einen Namen und einen Platz in der Gesellschaft machen, aber stattdessen…. bleibt er klein, allein und wird oft verspottet. Das ist eine Ungerechtigkeit. Und wessen Schuld ist es, weißt du? Die schwarze Farbe, die an seiner Figur klebt. Schwarz, verstehst du? Wie die Dunkelheit, wie das Verbrechen, wie das Böse. Es vertreibt die Menschen! Nach jahrelanger Erfahrung hat Calimero das erkannt und will es ändern. Zu seiner Rettung ist die Tiqqunina mit ihrer Lavaidee gekommen.
Obwohl er ein Syndikalist in den armen Vierteln ist, denkt und spricht Calimero wie ein Makler in den reichen Vierteln. Für ihn heißt es, wenn man Militanz ausgibt, eine Investition in die Bewegung zu tätigen. Es lohnt sich nur, wenn es dann wenigstens einen Machtgewinn gibt. Seine Sorge ist folgende, von Anfang an meisterhaft formulierte: „ist es interessant oder strategisch ratsam, die Fahnen der Identität im Rahmen revolutionärer Prozesse hochzuhalten?“3 Naaaa, ist es nicht. All das Schwarz auf den Marktständen muss entfernt werden, es verheißt nicht Weißheit und Fröhlichkeit, es macht Dreck. Wo Schwarz ist, bekommen die Kunden Angst und kommen nicht heran. Wo Schwarz ist, kommt die Polizei, um Kontrollen durchzuführen. Ein Beweis, den alle sehen können.
Auch Calimero hat seine Gründe. Er berücksichtigt nur eine Sache nicht. Für ihn ist Schwarz die Farbe von einer Ware zum Verkauf, die ein Verfallsdatum hat und früher oder später aus der Mode kommen wird. Für ihn ist Schwarz die Farbe einer Uniform, die früher oder später aus der Mode kommen wird. Für ihn ist Schwarz die Farbe einer ideologischen Identität, die nicht mehr funktioniert. Eine Art Ruß, der weggewaschen werden muss. Aber jeder, der kein syndikalistischer Broker ist, geschweige denn politisch motiviert, weiß, dass „alle wahre Freiheit schwarz ist“.
Im Gegensatz zu dem, was seine vielen Gegner so gerne wiederholen, ist der Anarchismus keine Reihe von charakteristischen und grundlegenden Daten, die eine Identifikation, also eine Identität, ermöglichen. Es handelt sich um eine Reihe von Ideen und Praktiken, die von denjenigen umgesetzt werden, die der Meinung sind, dass Freiheit und Macht unvereinbar sind, und die dafür kämpfen, Ersteres gegen Letzteres zu behaupten. Gegen den Anarchismus zu sein, bedeutet also, in gewisser Weise für die Macht zu sein und zu glauben, dass sie – in einer ihrer vielen Formen – Freiheit zulassen, schützen und fördern kann.
Natürlich ist es keine Pflicht, Anarchist oder Anarchistin zu sein. Es ist nicht bequem, es ist nicht populär, es ist nicht angenehm und es kann gefährlich sein. Und in der Tat, die große Mehrheit der Menschheit, die nicht einmal weiß, was Anarchismus ist, ist es sicher nicht. Aber die wenigen, die es wissen, die denken, dass die verhasste Autorität der Todfeind der geliebten Freiheit ist und umgekehrt, warum sollten sie sich dafür schämen? Warum sollten sie es verbergen? Warum sollten sie die Realität ihrer Ideen leugnen? Vielleicht, weil sie nicht „funktionieren“? Das wäre eine verblüffende Überlegung in ihrer doppelten Dummheit. Zum einen, weil der Anarchismus mehr mit Ethik als mit Politik zu tun hat (was richtig ist, ist wichtiger als das, was funktioniert, so viel zum strategischen Kalkül), und zum anderen, weil wir nicht den Eindruck haben, dass irgendeine Form der Macht jemals „funktioniert“ hat, um den Menschen Glück und dem Leben Schönheit zu verleihen.
Calimero nennt sich selbst einen Libertären, seine Ideen würden ihn in Richtung Anarchismus treiben. Aber er ist auch ein syndikalistischer Broker und seine politischen Angelegenheiten bringen ihn weit weg vom Anarchismus. Dieser Widerspruch – mehr als ein Jahrhundert alt – schließt ihn kurz, wie aus seinen Worten hervorgeht. Erst unterscheidet er zwischen Identitäten, die von der „Biomacht“ auferlegt werden, und Identitäten, die sich das Individuum selbst auferlegt, dann hebt er diese Unterscheidung auf und vermischt beides munter miteinander. Mit einer Verachtung für das Lächerliche informiert er uns offen darüber, „wir stellen unmissverständlich fest, dass die Erklärung, „antisistema“, „Anarchist*in“ oder ein anderes ähnliches Etikett zu sein, heute bedeutet, sich auf die Logik der Macht einzulassen“, weil man sich dadurch vom Rest der Bevölkerung abgrenzt und die Repression erleichtert. Das ist mehr als ein strategisches Konzept, es ist eine kluge Überlegung. Es ist bereits unklar, was der eigentliche Kern des Problems ist, ob der Anarchismus selbst oder seine öffentliche Affirmation. Ob die Isolation von der Bevölkerung oder die Repression, die sie ermöglicht. Auch hier, in völliger Verwirrung, mischt Calimero die Karten neu. Meint er, dass Anarchistinnen und Anarchisten aufhören sollten, welche zu sein, oder dass sie vorgeben sollten, keine Anarchistinnen oder Anarchisten zu sein, um sich besser unter die Menge zu mischen? Doch wer „schnell auf den Boden der Tatsachen zurückkehren“ will, sollte sich darüber im Klaren sein, dass es viele bekennende Anarchistinnen und Anarchisten gibt, die überhaupt nicht im Fadenkreuz der Repression landen (was nicht so dumm ist, jeden zu jagen, der ab und zu eine schwarze Fahne schwenkt). Tatsächlich gibt es unter den erklärten Anarchistinnen und Anarchisten eine Menge guter Menschen, von denen einige sogar öffentliches Ansehen genießen: Universitätsprofessoren, Anwälte, Künstler, Arbeiter in Waffenfabriken, Sozialarbeiter in Gefängnissen… (Zu den Kommunisten gehören sogar Polizisten und Richter). Und wenn man sich selbst zum Feind der Macht erklärt, was soll man dann tun, um aus dieser Logik herauszukommen? Sich zu ihrem Freund erklären? Schweigen und andere, die Eiferer des demokratischen Einheitsdenkens, sprechen lassen? Aber da Sprache Welten schafft, würde man sich damit nur mit der Welt der Macht abfinden oder sie sogar bestätigen.
Fieberhaft verkompliziert Calimero seine Argumentation weiter, indem er behauptet, dass „Die Macht will uns nicht zerstören … , sie will uns vielmehr „produzieren“. Sie will uns als politische Subjekte produzieren, als Anarchist*innen, Antisistemas, Radikale usw.“ Die selbsternannten Anarchistinnen und Anarchisten spielen also nicht nur das Spiel der Macht, sie sind ein Produkt von ihr! Sie spielen ihr Spiel, weil sie ihre Geschöpfe sind! Ja, wir geben es zu: Es ist unbestreitbar, dass die Macht nicht nur unter den Verteidigern der Ordnung politische Subjekte hervorbringt, sondern auch unter den Umstürzlern. Man denke nur an Minister wie Juan Garcia Oliver und Federica Montseny in der Vergangenheit oder an Stadträte wie Benjamin Rosoux und Manon Glibert in der Gegenwart. Politische Subjekte, die die Macht hervorbringt, sind eigentlich alle, die sie erobern, verwalten, beraten, korrigieren oder ersetzen wollen. Allerdings muss man wirklich ein Trottel sein, um zu glauben, dass die Macht diejenigen hervorbringt, die sie zerstören wollen (wenn sie das tut, dann unabsichtlich, so wie der Nationalsozialismus Partisanen hervorgebracht hat; aber niemand käme auf die Idee zu behaupten, dass Partisanen „ideologische Identitäten“ waren, die sich vom Rest der Bevölkerung abgrenzten). Tatsächlich bringt die Macht nur Autoritäre hervor, schafft es aber manchmal, einige Anarchistinnen und Anarchisten zu „korrumpieren“, indem sie sie mit ihren Sirenen betört.
In seinem anti-anarchistischen Eifer kommt Calimero zu einer weiteren bizarren Aussage. Seiner Meinung nach sind nicht der Staat, der Kapitalismus oder was auch immer für die aktuelle Katastrophe verantwortlich; die Ursache für die heute vorherrschende Massenentfremdung hat nichts mit Propaganda oder Technologie zu tun – nein, es ist alles die Schuld der „außerirdischen Politik“, die von „revolutionären Identitäten“ betrieben wird. Kurz gesagt: Wenn sich die Macht auf der Erde unangefochten durchsetzt, ist das den wenigen isolierten selbsternannten Revolutionären zu verdanken, die vom Mond aus zum Umsturz aufrufen, und nicht den vielen einflussreichen selbsternannten Nicht-Revolutionären auf der Erde, die sie unterstützen, rechtfertigen, festigen und beraten. Geheimnisse der Dialektik.
An einem bestimmten Punkt platzt der Broker in Calimero heraus, verblüfft darüber, dass niemand die Schlüsselfrage jeder guten Investition gestellt hat: „Was genau bringt die Tatsache, dass wir uns als Anarchist*innen bezeichnen, mit sich“. Calimero ist nicht daran interessiert, seine eigenen Ideen zu äußern, um die vorherrschende Ideologie herauszufordern und seine eigene Welt zu schaffen, sondern fragt nur, wo der Vorteil, der Gewinn, liegt. Nirgendwo, natürlich! Die Polizei schaut zu und die Kunden kaufen an den anderen Ständen auf dem Marktplatz der Politik ein. Inspiriert von Tiqqunina beruft sich Calimero auf Foucault, um uns zu verdeutlichen, welche Schlussfolgerung wir ziehen müssen: „das Hauptziel heute nicht darin besteht, zu entdecken, was wir sind, sondern es zu verwerfen“. Die Ablehnung dessen, was wir in den Augen des Staates, d.h. seiner Bürger, sind, ist das Mindeste, was man tun kann. Aber abzulehnen, was wir in den Augen von uns selbst sind … und das nicht aus Feigheit oder Heuchelei, sondern aus „einer Übung in Demut und Aufrichtigkeit“?
Peinlich, wirklich. Ich kann sie schon hören, die Tiqqunina, mit ihrer zickigen Stimme: Es ist alles wie immer, Calimero! Du bist nicht schwarz, du bist nur schmutzig! Ein enthusiastischer Sprung in die Situation, ein kräftiges Auswringen der Lavaidee, und schwupps! Nach einem kurzen Moment taucht Calimero unter einem Applausschauer als lächelnder, schneeweißer Staatsbürger wieder auf und singt ein Loblied auf die wundersame, bleichende Wirkung der Politik. Man kann nur zu gut verstehen, warum sich die französische autoritäre Tiqqunina mit dem spanischen Libertären Calimero angefreundet hat, der in einer anarchistischen Wochenzeitung Anarchistinnen und Anarchisten dazu aufrief, das, was sie sind, abzulehnen und sich von ihrem Anarchismus zu reinigen.
Wie viel politische Freundschaft steckt in ihrer gemeinsamen Suche nach einem populären Konsens! Wie viel Gemeinsamkeit in ihrem Bestreben, einen kleinen Teil der Gesellschaft zu organisieren! Wie viel Gemeinsamkeit im Interesse, dass die Menschen so bleiben! Wir waren gerührt, als wir sahen, wie harmonisch sie Initiativen zur Verbreitung von Ideen (wie Konferenzen oder Debatten) ablehnten und Initiativen zur Befriedigung von Bedürfnissen (wie Wohnraum oder Arbeitsplätze) begrüßten. Denn das Füllen der Mägen anderer Menschen verschafft Anerkennung, Arbeitskraft und Ansehen, wie sowohl Priester (die sich in den Kirchengemeinden der Wohltätigkeit widmen) als auch militante Ladenbesitzer (die politische Arbeit vor Ort leisten) nur zu gut wissen. Wozu ist Bewusstsein stattdessen gut? Es wird nicht kontrolliert, es ist nicht organisiert und es ist sogar gefährlich, weil es sich eines Tages als kontraproduktiv erweisen könnte. In der Tat könnte jemand durch Nachdenken zu unbequemen Schlussfolgerungen kommen. Zum Beispiel, dass man nicht durch Autorität zur Freiheit gelangt. Dass es lächerlich ist, mit einer Tasche voller aufständischer Sehnsüchte, subversiver Bestrebungen und rhetorischer Radikalität loszuziehen, wenn dies zu Gemeinschaftssitzen und Medieninterviews führt (aber war es nicht unmöglich, Kampf und Leben zu trennen?). Dass es heuchlerisch ist, zu beschwören, wie „komplex, dynamisch und zuweilen widersprüchlich“ der revolutionäre Prozess ist, um den Opportunismus seiner gerissenen Strategen zu verbergen, die die Mittel eines Kampfes von seinen Zielen trennen (aber war die Trennung nicht die Logik der Macht?).
Die Anarchistinnen und Anarchisten, die in eine abweichende und furchterregende äußere Realität hineingeworfen werden, sind durch das Merkmal der Vielfalt gekennzeichnet. Sie haben einen unbeholfenen Körper, einen großen Kopf, der immer in den Wolken steckt, und eine barbarische Sprache, die sie daran erinnert, dass sie nicht rechtmäßig zu der selbstgefälligen Gemeinschaft von Papa Volk und Mama Politik gehören. In einer Welt, die völlig von Autorität und Waren geprägt ist, werden sie als Verlierer geboren. Leid und Frustration kennzeichnen den Weg des anarchischen hässlichen Entleins, das sich der Schwierigkeiten, der Müdigkeit und sogar der geringen Chance bewusst ist, es eines Tages zu einem Schwan zu schaffen. Aber es hat keine Alternative; es kann und will nicht beseitigen und verleugnen, was es ist. Es lehnt die Illusion einer Welt ab, die durch einen Farbwechsel und ein bisschen Politik zurückgewonnen wird, einer Freiheit, in der es kein Bewusstsein gibt. Es verachtet die Verirrung einer menschlichen Existenz, die an Marktstrategien gemessen wird.
Die einfache Bejahung einer Lebensform, die eher banal als erfreulich ist, ist ein miserables Geschäft, vor allem, wenn man bedenkt, dass der zu zahlende Preis der Verlust jeglicher Individualität und Autonomie ist, verbunden mit der Unmöglichkeit, in einem Wissen voranzukommen, das darauf abzielt, sich selbst und seine Umgebung zu verstehen. Wir sind nicht an einer „anderen Art, die Welt zu bewohnen“ interessiert. Wir träumen, wir wünschen uns, wir wollen eine Welt verwirklichen, die ganz anders ist, in der das Leben ganz anders ist, in der die Beziehungen ganz anders sind. „Rara avis in terris nigroque simillima cycno“ ist der Satz des lateinischen Dichters Juvenal, von dem die Redewendung stammt, die in philosophischen Diskussionen im 16. Jahrhundert verwendet wurde, um eine Tatsache zu bezeichnen, die als unmöglich oder zumindest unwahrscheinlich galt: den schwarzen Schwan.
Das Zusammentreffen von Anarchismus und Aufstand, die einzige Möglichkeit, alle außer der kleinsten Autorität vom Angesicht der Erde zu tilgen.
26.01.18
Gefunden auf non fides, die Übersetzung ist von uns.
Zur Zeit wieder zu lesen :
Offene Antwort an Lundi Matin: Verwöhnte Kinder, gute Manieren und Dekadenz
Mittwoch, 19. Januar 2022
[Am 30. Januar 2018 veröffentlichten wir eine Übersetzung des italienischen Textes À propos d’anarchisme et (de crise) d’identité – Pour un anarchisme sans dépendances, als Antwort auf die Übersetzung auf der Lundi Matin-Website des spanischen Textes „Contre“ l’anarchisme. Ein Beitrag zur Debatte über Identitäten. Nur wenige Stunden nach der Veröffentlichung dieses Textes erhielten wir folgende Nachricht von der Redaktion von Lundi Matin: „Ihr habt heute einen Artikel veröffentlicht, in dessen Überschrift es heißt: „Veröffentlicht auf der Website lundi.am (inoffizielles Organ des Unsichtbaren Komitees)“. Diese falsche Information kann nur aus deiner Lektüre der bourgeoisen Presse, aus Polizeiberichten oder aus Fantasien stammen, die nur euch betreffen. Bitte löscht sie sofort. **“. Wir veröffentlichen im Folgenden eine Antwort auf diese Nachricht in Form eines offenen Briefes an Lundi Matin, ein Propagandaorgan, natürlich, um den autoritären Methoden und Anmaßungen des letzteren den Wind aus den Segeln zu nehmen].
Die Autoren dieses Textes, dessen Übersetzung wir zur Veröffentlichung ausgewählt haben (der wir keinen „Chapeau“, wie ihr es nennt, hinzugefügt habt und deren Inhalt wir teilen), konnten diese „Information“ in der Tat in „ihrer Lektüre der bourgeoisen Presse“ finden, da sie dort inszeniert und von euch weitergegeben wird, in Interviews, die ebenfalls von euch organisiert wurden. Wir möchten darauf hinweisen, dass wir unter dem Begriff, den ihr heute verwendet („bourgeoise Presse“), neben den großen nationalen und lokalen Zeitungen, mit denen ihr regelmäßig zusammenarbeitest, natürlich auch Lundi Matin und seine „Million“ Follower (die noch imaginärer oder unsichtbarer als die Partei sind), die ihr in der bourgeoise Presse neben anderen eminenten Lügengeschichten anzeigt, mit einschließen. Wahrscheinlich gibt es übrigens mehr „bourgeoise Presse“ in Lundi Matin als in Le Parisien und Iskra zusammengenommen.
Es scheint also impulsiv und ein schlechter Stil zu sein, eine solche E-Mail in einer solchen Situation und in einem solchen Zustand der Emotionalität zu steinigen. Wenn ihr euch jedoch gegen den von Finimondo veröffentlichten Text wehren oder auf ihn antworten wollt, könnt ihr das tun, wie jeder andere auch. Ihr könnt schreiben lassen, ihr könnt lesen lassen, ihr werdet diesen Monat sicherlich einen gut positionierten Intellektuellen finden, der eine Tribüne von Katangas aus der Feder realisiert. Vielleicht ein Bauer am Tag und Handlanger einer wilden Demo in der Nacht, mit einem besonders vulgären frauenfeindlichen Vokabular und Praktiken, die das Gegenteil von allem Adel sind?
Die bourgeoise Presse und die Polizei pflegen uns ihre Mahnungen zu schicken, die alten Marxisten-Leninisten Fatwas in Form von Gutscheinen, die am Tag des Großen Abends eingelöst werden können, und ihr, Drohungen? Ihr, deren Freunde empfehlen, „heimlich unerwartete Komplizenschaften bis ins Herz des gegnerischen Apparats zu knüpfen“ (vgl. einen „anonymen“ Bestseller), geht doch mal auf einen Aperitif zu Valls!
Eine „Information“ ist erst dann eine Information, wenn sie informiert. Hier ist schwer zu erkennen, wer von wem über was informiert wurde. Wir erleben hier wahrscheinlich einen Vorgeschmack auf die bevorstehende gerichtliche Verteidigung, und man kann schon bei dem bloßen Gedanken daran, dass sie kommen wird, weinen. Es wird euch aber nicht gelingen, die Leute in eine Reihe zu bringen, weder hinter euch noch gegen eine Wand. Mit der Partei ist es vorbei, schon immer.
Was für eine Idee ist es, diesen Brief zu verschicken, wenn ihr so darauf bedacht seid, dass diese „Information“ als „falsch“ angesehen wird? Kümmert euch um eure eigenen Zungen, die hängen schon genug.
Ihr reagiert nie auf Kritik, die an euch herangetragen wird (wie im Kasino kalkuliert der Bourgeois von Deauville seine Risiken, seine Einsätze und weiß seine Position zu bewahren), und doch wurde viel Kritik an eurer Realpolitik [wir fügen einige Links zur Information im Anschluss an diesen Text hinzu], an unserem Standpunkt und an vielen anderen geschrieben und diskutiert. Diese Art, sich die Möglichkeit offen zu halten, dass man immer bluffen kann, hält euch nicht davon ab, in der Öffentlichkeit zu schimpfen, indem ihr eure kleinen, nicht sehr diskreten Nachforschungen anstellt, wer die kleinste Veröffentlichung, die euch kratzt, ausstrahlt oder schreibt. Auch hier ist euer Interesse an Anonymität variabel. Aber jetzt, über dem außerparlamentarischen Deal, droht ihr mit Erpressern (Racketteurs)? Wo sind eure guten Manieren geblieben? Vielleicht behältet ihr sie nur für eure Richter und Gönner vor, und Unterlassungserklärungen für alle anderen.
Um es klar zu sagen: Diese Website beugt sich nicht den Drohungen oder Anordnungen von irgendjemandem. Das hat sie in zehn Jahren noch nie getan. Wir sind es gewohnt, zu sagen: „Lieber krepieren“. Es kommt also nicht in Frage, dass wir uns den unterschwelligen Aufforderungen von Pseudo-“Gefährten“ beugen, die die rassistische, homophobe, frauenfeindliche und antisemitische Prosa ihrer Verlagsfreunde verbreiten, die die Optionen der Connivence und des Unschuldismus verteidigen (Vgl. Postskriptum über den Unschuldismus in diesem Text) gegenüber der Justiz, trotz des sozialen Krieges und ihrer öffentlichen Verfügungen, die es in der Tradition von Netschajew und Lenin geschafft haben, den Konfusionismus, die Konnivenz und die politische Ambivalenz mit dem Feind wie vulgäre tute bianche zu theoretisieren, die die Kritik an Staat und Religion aufgegeben haben, usw.?
Wir würden uns nicht dazu herablassen, euch zu bitten, auch nur den kleinsten Dreck oder Unsinn zu entfernen, den ihr seit so vielen Jahren über Worte, Dinge und Menschen schreibt und schreiben lasst, das schließt uns als Anarchistinnen und Anarchisten, als justiciables und justiciés, als menschliche Wesen mit ein. Denn ja, es ist in diesen Proportionen, dass ihr auf die menschliche Freiheit spuckt, wie eure verdorbenen Schriften über die Attentate, die die Bewohner von Paris getroffen haben, bezeugen.
Es geht um die Methode, nicht um die Rede. Wir beanspruchen nicht, uns in die redaktionelle Linie oder die Übersetzungen von irgendjemandem einzumischen, schon gar nicht durch kommandierende Dekrete, und zwar ungeachtet der Meinungsverschiedenheiten oder der Feindschaft, die es gibt. Es ist eine alte Manie, die man sich auf den Bänken der ersten Internationalen angeeignet hat, ein anti-politisches Prinzip: Anti-Autoritarismus. Das schützt vor den Haltungen verwöhnter kleiner Tyrannen, die Meta-Barbareien und paradoxe Anordnungen lieben.
Es gibt Methoden, um die Anonymität eines Textes (oder einer Website, wenn man so will) zu gewährleisten, sie sind dokumentiert und werden seit Jahrhunderten verwendet. Ihr kennt sie, aber eure Interessen liegen woanders: Ihr erfahrt nichts davon. Anonymität ist das geringste eurer Probleme, sie ist sogar formal und grundlegend ein Hindernis für euren politischen Aufstieg.
In eurer Selbstdarstellung (von Lundi Matin, verstehen wir uns richtig) sagt ihr über diese Seite, obwohl euch niemand danach gefragt hat: „Considéré par les services de renseignement comme l’émanation culturelle et hebdomadaires [sic] des positions du Comité Invisible“ (Von den Geheimdiensten als kultureller und wöchentlicher [sic] Emanation der Positionen des Unsichtbaren Komitees betrachtet). Das jagt euren Großeltern und Eric Hazan wahrscheinlich einen kalten Schauer über den Rücken, das ist der gewünschte Effekt, aber euch fehlt noch die zweifelhafte Maestria der Situationisten.
Ihr seid es, die sich entschieden haben, die Dummen zu spielen. Wollt ihr aus dem Schwefelgeruch eines „Sommerbuchs“ 2007 der Fnac (und von Alain Bauer) Kapital schlagen? Der Partei sei es gegönnt, ihr Marketing geht uns nichts an. Aber dass euch eure Inszenierung des Schwefeligen ins Gesicht zurückkommt, ist nicht unser Problem und schon gar nicht unser Verdienst. Lass uns das präzisieren.
In einem Artikel auf eurer Website, in dem ihr einen eurer Kollegen verpfeift, der jedoch bis dahin völlig unbemerkt geblieben war (Julien Coupat), heißt es: „Trotz jahrelanger Ermittlungen und der Anhörung des Direktors ihres Verlagshauses ist es der Elite der französischen Polizei nicht gelungen, diese „Schreiber“ [des „Unsichtbaren Komitees“] zu verhaften und musste [sic] einen ihrer eloquentesten Leser, Julien Coupat, freilassen.“ Ihr seid wirklich so ätzend wie ein „Monsieur Propre“.
Dass Lundi Matin das inoffizielle Organ des „Unsichtbaren Komitees“ ist, interessiert uns genau genommen nicht mehr als das, denn wir sind nicht von eurer Marketingoffensive gefangen, die darin besteht, die Neugier des Buchhandelskunden zu wecken, der für einen Moment zum angehenden Ermittler wird (ein bisschen wie in einem Krimi des besten unter euch, Serge Quadruppani, dem großen Stern der Politik), und wir fallen auf kein schaumiges Geheimnis herein, das über euch gepflegt wird, weder von den Bullen noch von euch selbst. Lundi Matin ist genauso sehr das inoffizielle Organ des „Unsichtbaren Komitees“, wie Le Monde das inoffizielle Organ der Regierung Macron wäre, d. h. er ist es nicht (for the record), aber das ändert nichts daran und ist nicht der Rede wert. Es ist ein bisschen so, wie wenn es dem Sprecher von LREM gelingt, eine Tribüne in Le Monde zu ergattern, er braucht nicht zu fragen. Er fühlt sich überall wohl, alles steht ihm zu, er glaubt, sich alles erlauben zu können. Daran erkennt man den Bourgeois: Es geht immer um die Welt oder nichts.
Wenn „das unsichtbare Komitee so freundlich war, uns ein Kapitel aus ihrem neuesten Werk veröffentlichen zu lassen“ (Lundi Matin #103, 9. Mai 2017), warum sollten dann die Journalisten von Le Monde auch nur den geringsten Widerstand leisten? Ihnen und der LREM, die nicht viel weniger als sie in diesem hässlichen Polizeiblatt veröffentlicht, das seit Jahrzehnten die bewaffnete Ideologie der Macht vermittelt.
Was uns betrifft, so haben wir keine unterschiedliche Behandlung für die Medien der „bourgeoisen Presse „, wie ihr es nennt. Es gibt keinen Anlass, der geeignet wäre, gegen die Ablehnung dieser politischen und spektakulären Kommunikationsmodalitäten zu verstoßen, denn „bourgeois“ bedeutet für uns im Fall von Libération wie auch von Lundi Matin immer ein bisschen die gleiche politische Suppe, mit mehr oder weniger Salz. Wenn sich der Text geirrt hat, dann ist es vielleicht so, dass, wenn man dem Interview mit dem „Unsichtbaren Komitee“ glaubt, das Die Zeit exklusiv für die Promotion der Markteinführung ihres neuen antikapitalistischen Bestsellers auf dem deutschen Markt erhalten hat (übersetzt auf Le Nouvel Obs und Lundi Matin), es tatsächlich dieses Medium der „bourgeoisen Presse“ ist, das als offizielles Organ des „Unsichtbaren Komitees“ eingesetzt wurde, und was für eine Ehre!
So viel zu eurem Schleim.
Aber das ist nichts im Vergleich zum Rest, und wenn ihr euch so gerne exponieren wollt, dann setzt euch der Lächerlichkeit als Folge eurer „Anfrage“ aus.
Wenn Mathieu Burnel sich bei einem kleinen Fest von Mediapart („6 Stunden gegen Überwachung: Kampf für unsere Freiheiten“ auf Youtube) zusammen mit Anthony Caillé, dem Generalsekretär der CGT Police (der ihn mit einer kawaiischen, aber verwirrenden Vertrautheit beim Vornamen nennt), als „Aktivist, der dem Unsichtbaren Komitee nahesteht“ vorstellt, dann ist das ein Zeichen dafür, dass er sich nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in der Politik engagiert;
Wenn ihr in einem Interview unter dem Titel „Der unsichtbare Freund“ die Biografie desselben Burnel in vier Daten wie folgt erscheinen lasst: „22. Oktober 1981: Geburt in Rouen (Seine-Maritime). 2007 Veröffentlichung von L’Insurrection qui vient (Der kommende Aufstand) durch das Unsichtbare Komitee. November 2008 Verhaftung der Gruppe von Tarnac durch die Polizei. 2014 Veröffentlichung von A nos amis par le Comité invisible“ (siehe Rückseite von Libération, 8. Juni 2015) ;
Wenn man dazu noch die öffentliche Information hinzufügt, die euch zum Administrator eurer Website Lundi Matin macht, eine Information, die ihr selbst auch zur Verfügung gestellt habt (und die in der Tat von den Medien mit all eurem komplizenhaften Wohlwollen weiterverbreitet wurde – wie die Kriegsreporter sagen: „don’t shoot the messenger“), dann sind wir ernsthaft gezwungen, über euren Handlauf laut zu lachen. Und wir reden noch nicht einmal von der Zeit, in der ein alter pensionierter Chef beauftragt wurde, auf allen Fernsehbühnen zu schreien, dass sein Sohn der Autor eures ersten (und letzten) Bestsellers sei und dass ein „Autor“ nur „unschuldig“ sein könne (das hält alle außer der Polizei in Schach, sehr zur Freude von Eric Hazan).
Glücklicherweise sind wir nicht der Typ, der Dossiers über Menschen führt und bereithält, und wir belassen es bei diesen wenigen Beispielen, weil uns die Aufgabe zu langweilig ist. Jeder hat die Möglichkeit, zwischen zwei 16-Euro-Zeitschriften am Flughafen mit einem Nespresso (denn was sonst?) „Comité Invisible“ oder „Lundi Matin“ auf seinem Tablet einzugeben, oder beides gleichzeitig, wobei er dreimal in die Hände klatschen muss, um einen Effekt zu erzeugen. Die ursprünglichen Denunzianten seid ihr, und die Verschwörung kommt weder von den Theken noch von den Bänken.
Wir verstehen eure widersprüchlichen Pantomimen und zerbrochenen Stimmgabeln, so gut wir können, und es ist uns völlig egal. Ihr ermüdet uns.
Vielleicht habt ihr euch intern an eine gewisse Form von Gehorsam gewöhnt, aber lagert eure Fähigkeiten nicht zu sehr aus, HEC rät davon ab. Euer kaiserliches „sofort“ (kaiserlich, wie ein Wellensittich nur sein kann) klingt wie das Gurren einer Schulhof- oder Gefängnismechanik – ihr seid nicht die Einzigen, die diese Art von Mechanik kennen. Drohungen sind ein gefährliches Spiel, auch für diejenigen, die sie aussprechen. Ich bin mir nicht sicher, ob ihr euch darüber Gedanken gemacht habt, bevor ihr impulsiv eine Nachricht dieser Art verschickt. Was ist mit der „Signatur“? Sind diese mysteriösen Doppelsternchen ein Zeichen des Teufels? Für einen Voodoo-Zauber? Dann „**“ auf deine Vorfahren!
Ob dir die Übersetzungen, die wir veröffentlichen, gefallen oder nicht, wir urteilen für uns selbst, was auf den Seiten der von uns verwalteten Website „falsch“ ist oder nicht, und keine Autorität – auch keine diskursive – kann über unsere Entscheidungen bestimmen, die, was uns betrifft, nur in unseren Veröffentlichungen erscheinen, denn wir sind Anonyme ohne Glitzer und ohne Geschichten, aber immer bereit, die Party zu feiern, auch wenn sie vorbei ist, um den Titel eines fast anonymen Buches zu zitieren, das er selbst ist.
Anstatt also auf der einen Seite die schüchterne Jungfrau der Sicherheit und Anonymität zu spielen, während ihr auf der anderen Seite versucht, durch das Spiel mit der ständigen Verletzung der Anonymität Schwefel zu riechen, tut die Dinge, die Leute wie ihr von Parteien wie der euren tun: warnt die Nomenklatura vor dem Kataklysmus, stellt ein paar Intellektuelle mit Blick auf das zukünftige (oder gegenwärtige) Regime für die Krisenpropaganda ein und säubert eure Freunde, eure eigene Website, eure Eltern, eure Partei, eure Badezimmer, eure Videos, eure Redner, eure O-Töne, eure Pressekonferenzen, eure Texte, eure Philosophen und eure Interviews, und klärt dann intern (in der offensiven Undurchsichtigkeit eurer Stabs-Brainstormings) euren Kommunikationsplan, bevor ihr die Leute verwirren geht.
Dies ist ein Problem des Sozialismus der Intellektuellen, das von deiner Personalabteilung zu lösen ist, nicht von ein paar Anarchistinnen und Anarchisten.
Es gibt jedoch eine Anmerkung. Jede Lösung wird notwendigerweise stürmisch sein. Der Weg von der Partei zum Leben kann sich wie ein Einbruch anfühlen, wenn man alles zu verlieren hat. Aber angesichts dieser unsäglichen Situation bleibt ein Ausweg offen, wenn auch unbequem: die Autorenfiguren, die gefeierten Identitäten, die großen Namen, die Gesellschaft, die Linke, ihr Geld, ihre Macht, ihre Intellektuelen aufgeben, aufhören, vor jeder Sophisterei dreimal in die Hände zu klatschen, aufhören, um Geld zu betteln (für eine Internetseite! ), von denen man überquillt, sich würdig vor der Justiz verteidigen, um nicht diejenigen, die es tun, in den Dreck zu ziehen, indem man ihnen den Platz des „Bösewichts“ sichert, durch Praxis und/oder eigene Mittel kommunizieren, aufhören, Befehle zu erteilen und die Korridore der Welt zu beschmutzen, dann einen Umschlag aus rotem Wein auf diese geschwollenen Knöchel auftragen und schließlich die imaginäre Partei verlassen und sich dem Kampf für die wirkliche Freiheit aller und jedes Einzelnen anschließen.
Der Weg wird lang sein wie ein Montagmorgen (lundi matin) im Quartier Latin … Aber der Wind wird uns tragen, und alles wird verschwinden.
Einige eloquente Leser aus dem Redaktionskomitee der XII. Abteilung des Regiments „Anarchie verbreiten“ in Cronstadt-les-Bains, Wahlkreis 1892, Panzerdivision.
Postskriptum über den Unschuldismus.
Der Unschuldismus ist nicht, wie ihr versucht glauben zu machen, indem ihr eine verlogene Verwirrung aufrechterhaltet, die Tatsache, dass man sich verteidigt, das begangen zu haben, dessen man beschuldigt wird, was sehr banal ist und eine offensive Verteidigung nicht verhindert. Im Gegenteil, es ist genau diese Art, sich als intrinsisch unschuldig darzustellen, die Unschuld unter den Bedingungen der Gerechtigkeit zu einer Essenz, einer Natur zu machen, im Einverständnis mit der Justiz und ihrer Welt, wie es die besten eurer Freunde tun, indem sie sich als Lebensmittelhändler darstellen, die die sozialen Bindungen auf dem Land aufrechterhalten, und, glaubwürdiger (und aus gutem Grund…), als gute Bourgeois, die die Straße und die damit einhergehenden Repräsentationsgarantien haben. Der Unschuldismus ist absolut antisubversiv, er gehorcht der Welt und ihrer Gerechtigkeit, während er gleichzeitig dazu beiträgt, diejenigen zu belasten, die weder Lebensmittelhändler, noch Studenten, noch Bourgeois sind. Euer donnernder Unschuldismus scheint euren Chefs zu nützen, die tatsächlich nichts anderes sind als das, was sie vor der Justiz vorgeben zu sein, und die genug Luft aufwirbeln, um mit ihren Richtern Schach zu spielen, aber wenn er zu einer Parteianweisung für das Fußvolk wird, das in die Justiz geschickt wird, sind es Monate oder Jahre Gefängnis für sehr wenig, die einige ertragen, ohne Panache oder Empörung… Man kann kein Omelett machen, ohne Eier zu zerbrechen, guten Appetit!
1A.d.Ü., antisistema auf Deutsch, Anti-System, ist die Zuweisung von den Medien an Personen oder Kollektive die gegen das System (gegen Kapitalismus, Patriarchat, Staat,…) kämpfen. Ähnlich wie Chaoten oder Zecken.
2A.d.Ü., wir denken dass hiermit eher sowas wie ‚fremde oder entfremdete‘ Politik gemeint werden sollte, die verfassende Person schrien dennoch allerdings extraterrestreswas außerirdisch bedeutet.
3A.d.Ü., in der italienischen Übersetzung wurde der spanische Begriff marco, was Rahmen bedeutet, als mercato übersetzt, was nicht richtig ist. Deswegen macht der Text eine Analogie auf „Marktständen“, was allzu logisch ist, denn eigentlich liegt es nahe sowas zu sagen, so nach der inhaltlichen Linie welches der Text aufstellt der hier von Finimondo kritisiert wird.
]]>Gefunden auf der Seite von finimondo, die Übersetzung ist von uns. Die folgende Texte, von Finimondo und Agustín Guillamón, sowie ‚Diskurs über die Methode‘, auch von Agustín Guillamón, können wir als ein Art Auseinandersetzung zur Rolle der anarchistischen Bewegung und einigen Figuren darin, während der sozialen Revolution im Sommer von 1936 verstehen.
Kurzgefasst kritisiert Guillamón in dem Artikel ‚Diskurs über die Methode‘ die Zeitschrift Bilan, auch wenn er dieser seine scharfsinnige Kritik hoch anrechnet, was die Rolle der anarchistischen Bewegung im Verlauf der sozialen Revolution 1936 angeht. Bilan´s Kritik ist, dass da der anarchistischen Bewegung ein klarer Programm fehlte (inhaltlich wie praktisch), die soziale Revolution ihre Ziele nur noch verraten konnte und aus dieser schnell ein reiner imperialistischer und innerbourgeoiser Konflikt zwischen zwei bourgeoisen Fraktionen (Republik vs. Putschisten) wurde.
Guillamón teilt diese Kritik zwar, verteidigt trotzdem die revolutionäre Kraft des Proletariats, welches sich mehrheitlich in der anarchistischen Bewegung organisierte und kritisiert die Unfähigkeit den revolutionären Kurs zu halten, da dies nicht der Fall war, wurde der Anarchismus zu einer etatistischen Bewegung, da sie den republikanischen Staat verteidigte und schützte, anstatt diesen zu zerstören. Guillamón nennt dies ‚Staatsanarchismus‘.
Daraufhin schrieb Finimondo eine Kritik und kritisiert vor allem letzteres. Worauf sich Guillamón nochmals melden würde, bei ‚GEGEN FINIMONDO‘, um auf die Kritik einzugehen, ein wahrhaftiger Schlagabtausch zwischen beiden. Ohne darauf mehr einzugehen, viel Spaß mit der Auseinandersetzung die wir auch für richtig und wichtig halten.
Oxymorone und Selbstverständlichkeiten
Gegen den Staatsanarchismus
Agustín Guillamón
(mit Texten von Helmut Rüdigher und Michel Olivier)
All’Insegna del Gatto Rosso, Mailand, 2017
Ein Oxymoron ist eine rhetorische Figur, die aus der syntaktischen Verbindung zweier unvereinbarer oder gegensätzlicher Begriffe oder in Antithese zueinander stehender Ausdrücke besteht, die so formuliert sind, dass sie sich auf dieselbe Einheit beziehen. Der Effekt, der dadurch erzielt wird, ist ein paradoxes Erstaunen. Es regt die Fantasie an, sollte aber nicht zu ernst genommen werden; es ergibt keinen Sinn, eine Metapher mit einer faktischen Realität zu verwechseln.
Wie der Titel schon andeutet, wettert dieses Buch gegen ein wahres Oxymoron. Es versteht sich von selbst, dass die Beteiligung einiger Mitglieder der wichtigsten spanischen anarchistischen Organisation an der republikanischen Regierung während der Revolution von 1936 die Schaffung und Verwendung eines Oxymorons wie „Staatsanarchismus“ voll und ganz rechtfertigt, obwohl es genau genommen ein Widerspruch in sich ist. Da der Anarchismus die Negation des Staates ist, wurden Juan García Oliver, Federica Montseny, Juan López, Juan Peiró und Diego Abad De Santillán Ende 1936 Minister für Justiz, Gesundheit, Handel, Industrie und Ökonomie, nur weil sie keine Anarchisten mehr waren. Was auch immer sie selbst (oder ihre Gefährtinnen und Gefährten) zu ihren Motiven für die Annahme eines solchen institutionellen Postens gesagt haben mögen, ihre Entscheidung stellte sie außerhalb des Anarchismus. Über ihre guten Absichten kann man trefflich streiten, aber Tatsache ist, dass sie durch ihre Zustimmung zur Zusammenarbeit mit der republikanischen Regierung den Anarchismus verraten (und dazu beigetragen haben, die Revolution zu vereiteln). Es gibt keine ministeriellen Anarchistinnen und Anarchisten, genauso wenig wie es alkoholkranke Abstinenzler oder jungfräuliche Mütter gibt.
Die Kritik am so genannten Staatsanarchismus ist also mehr als berechtigt, ja sogar notwendig, wenn man eine Wiederholung solcher Verluste befürchtet, aber sie ist nur dann leicht verständlich, wenn sie von Anarchistinnen und Anarchisten geäußert wird. Sie ist in der Tat etwas verwirrend, wenn sie von Autoritären formuliert wird, wie in diesem Fall. Es hat eine seltsame, fast komische Wirkung, wenn ein breitschultiger revolutionärer Marxist – der bordigistischen Positionen sehr nahe steht – wie Augustin Guillamón gegen die abtrünnigen Anarchistinnen und Anarchisten der CNT wettert und lauthals verkündet, dass „eine der unwiderruflichen Lehren der Spanischen Revolution von 1936 die unbedingte Notwendigkeit ist, den Staat zu zerstören“, rief er „künftige Revolutionäre, wenn sie relevant und effektiv sein wollen“ dazu auf, „die schlimmsten historischen Verirrungen, in die marxistisches und anarchistisches Denken verfallen ist, wegzufegen“.
Um Himmels willen, wir mögen ja zustimmen, aber… es ist nicht klar, ob Guillamón einen auf blöd macht oder nicht. Glaubt er wirklich, dass die politizistische Vorstellung von Revolution keine Konstante für jeden ist, der daran denkt, Revolution durch Autorität zu machen? Wenn es für einige spanische Anarchistinnen und Anarchisten im Jahr 1936 die Ausnahme war, so ist es für alle autoritären Erfahrungen in der Geschichte die Regel gewesen. Wie kommt es, dass die „unabänderliche Lektion“ in Russland 1917, in Paris 1871 oder sogar in Frankreich 1793 nicht begriffen wurde? Wo auch immer eine Revolution ausbrach, wo auch immer die herrschende Macht gestürzt wurde, setzte die Inanspruchnahme einer neuen Autorität durch einige Revolutionäre dem Ganzen ein Ende. Es ist müßig, die Bärte von Marx und Bakunin zu durchsuchen, um herauszufinden, in welchem der beiden mehr theoretische Flöhe schlummern – die Geschichte hat sich eindeutig zu diesem Thema geäußert.
Aber welchen Sinn ergibt es dann, die spanische anarchistische Ministerialbürokratie von 1936 dem revolutionären Geist entgegenzustellen, der laut Guillamón von anarchistischen Gruppen wie den Freunden von Durruti (Amigos de Durruti) und autoritären Formationen wie der Leninistisch-Bolschewistischen Sektion Spaniens verkörpert wurde? Welchen Sinn hat es, zu bedauern, dass die ersteren nicht zusammen mit den letzteren eine echte revolutionäre Junta gegründet haben? Möge der gute Guillamón in Frieden ruhen: Es ist nicht nur die bourgeoise und kapitalistische Macht an der Macht, die durch die Revolution vernichtet werden muss, sondern auch die potenzielle Arbeitermacht. Es ist nicht nur die anarchistische gewerkschaftliche/syndikalistische Organisation, es ist auch die autoritäre politische Partei, die sich unweigerlich in eine konterrevolutionäre Bürokratie verwandelt, sobald sie an die Macht kommt. Aus dieser Sicht gibt es keinen wesentlichen Unterschied zwischen der Macht, die mit der Bourgeoisie geteilt wird (wie es mit den Anarchistinnen und Anarchisten in Spanien 1936 überprüfbar ist), und der Macht, die sie allein ausüben (wie die Bolschewiki in Russland nach 1917). In beiden Fällen erstickte der Staatsapparat die Revolution von Anfang an im Keim. Die bolschewistische Regierung wurde nicht erst ab 1921, nach der Niederschlagung des Kronstädter Aufstands (eine Repression, die auch von Bordiga gerechtfertigt wurde), reaktionär, sondern sie war es von Anfang an: Denk nur daran, was mit den Moskauer Anarchistinnen und Anarchisten oder den ukrainischen Anarchistinnen und Anarchisten sowie mit Minderheitsströmungen der extremen Linken geschah.
Nun ist nicht nur der Staatsanarchismus ein Oxymoron, sondern auch der antistaatliche Marxismus. Guillamón und alle revolutionären Marxisten wie er sollten sich entscheiden. Bombastische Erklärungen über gute Absichten verzaubern nur Narren. Wenn sie von der unmittelbaren Notwendigkeit sprechen, den Staat zu zerstören, meinen sie dann nur den amtierenden bourgeoisen kapitalistischen Staat oder auch den selbst ernannten Arbeiterstaat, der in jeder revolutionären Situation im Entstehen begriffen ist? Der Unterschied ist grundlegend. Der Fehler der spanischen Anarchistinnen und Anarchisten bestand nicht darin, NICHT die ganze Macht zu übernehmen, sondern sie NICHT völlig zu zerstören, indem sie die Generalidad Companys überleben ließen, schlimmer noch, indem sie mit ihr kollaborierten.
Die Feinde der Revolution müssen sicherlich vernichtet werden, aber dazu ist es überhaupt nicht notwendig, die Macht zu besitzen: Es ist notwendig, Stärke zu besitzen. Wie alle Autoritären wird Guillamón denken, dass Kraft und Macht in solchen Zusammenhängen gleichbedeutend sind. Das ist ein großer Irrtum. Militärs, die auf Revolutionäre schießen, gehorchen einem Befehl, der ihnen von einer Behörde erteilt wird, die ein Gesetz anwendet. Revolutionäre, die auf Militärs schießen, setzen ihre Ideen in die Tat um, ohne eine Behörde, ein Gesetz oder eine öffentliche Legitimation hinter sich zu haben. Sie tun es, weil sie es für die Verwirklichung ihrer Wünsche für notwendig halten und sie haben nicht nur den Willen, sondern auch die Entschlossenheit und die materiellen Möglichkeiten. Sie haben also die Kraft dazu.
Die Worte der Freunde von Durruti (Amigos de Durruti) aufgreifend, erinnert Guillamón daran, dass Revolutionen totalitär sind. In seinen witzigen Worten würde das bedeuten, dass sie sowohl totalitär als auch autoritär sind. Dieser Historiker liebt es, mit Worten zu spielen und sie zu missbrauchen. In der politischen Sprache bedeutet totalitär „ein Ganzes, das in allen seinen Elementen betrachtet wird, ohne irgendeinen Ausschluss“. Die Revolution kann also totalitär sein, aber nur, wenn sie so verstanden wird, dass sie die gesamte Gesellschaft radikal umgestaltet, ohne etwas von der alten Welt unversehrt zu lassen. Sie ist keine Ministerkrise, sie ist kein Regierungswechsel, sie ist keine institutionelle Umstrukturierung. Das bedeutet aber keineswegs, dass sie von einer Autorität durchgeführt werden muss, auch nicht von einer Autorität der Arbeiterinnen und Arbeiter.
Das Machtvakuum, das revolutionäre Situationen kennzeichnet, mag der Albtraum von Staatsmännern und Gegenstaatsmännern sein, aber es ist unser süßer Traum. Dieses Vakuum sollte überhaupt nicht gefüllt werden, ganz im Gegenteil: Es sollte vergrößert, ausgedehnt und unheilbar gemacht werden.
(Agustín Guillamón) GEGEN FINIMONDO
Antwort auf die idealistische und sektiererische Kritik an dem Buch
Contro l’anarchismo di Stato
von Agustín Guillamón
(mit Stellungnahmen von Helmut Rüdigher und Michel Olivier)
All’Insegna del Gatto Rosso, Mailand, 2017
Agustín Guillamón
17. April 2018.
Normalerweise antworte ich nicht auf so banale Kritiken wie die auf der Finimondo-Website, aber bei dieser Gelegenheit fand ich es eine gute Ausrede, um meine Methode der historischen Analyse und einige andere interessante Fragen darzulegen.
1. ein Oxymoron oder die Leugnung der historischen Realität?
Unser anonymer Kommentator der italienischen Version von Contro l’anarchismo di Stato stützt seine Kritik auf das, was er für ein Oxymoron hält: „Staatsanarchismus“. Er geht sogar so weit zu sagen, dass es nie anarchistische Minister gab, denn wenn ein Anarchist Minister wird, hört er auf, ein Anarchist zu sein. Damit leugnet unser Kritiker, ob er es versteht oder nicht, die historische Realität aus einem sektiererischen Idealismus heraus, denn es gab tatsächlich Anarchistinnen und Anarchisten, die als Minister in der Regierung der Republik (García Oliver, Federica Montseny, Juan Lòpez und Joan Peiró) und auch in der Regierung der Generalidad (García Birlán, Josep Joan Demènech, Joan Pau Fábregas und ab Dezember 1936 Abad de Santillán, Pedro Herrera, Francisco Isgleas. Und Aurelio Fernández im April 1937, und andere nach den Maiereignissen 1937). Und diese Anarchistinnen und Anarchisten hörten nicht auf, Mitglieder der CNT-FAI zu sein, als sie auf Anordnung der Organisation den Posten des Ministers annahmen. Sie waren und dienten als anarchistische Minister bis Juni 1937, als sie aus der Regierung ausgeschlossen wurden, obwohl Segundo Blanco später anarchistischer Minister in der Regierung Negrín wurde. Es gab anarchistische Minister, auch wenn dies zum Bedauern unseres anonymen Kritikers sein mag, und es gab eine Ideologie des Staatsanarchismus, die aufhörte, ein bloßes sprachliches Oxymoron zu sein, und zu einem Widerspruch zwischen Aktion und Prinzipien wurde, der auf einer Ideologie der antifaschistischen Einheit beruhte, die einflussreich, offensichtlich und so real war, dass sie viele aufrichtige Anarchisten dazu brachte, alle grundlegenden und charakteristischen Prinzipien des Anarchismus aufzugeben. Die Realität zu leugnen (unser Zensor sagt, dass es keine anarchistischen Minister gibt, genauso wenig wie es jungfräuliche Mütter oder alkoholkranke Abstinenzler gibt) bedeutet, sich in ein sicheres und schützendes ideologisches Sektierertum einzuschließen: Alles, was die eigene Ideologie leugnet, wird geleugnet: Es existiert nicht. Wenn das Sektierertum mit der Realität kollidiert, wird die Realität geleugnet und alles ist gut! Für Katholiken gab es eine jungfräuliche Mutter (Mutter Gottes), die Jesus (Sohn Gottes) zur Welt brachte, und für Gläubige und Ungläubige gab es im Spanien des Jahres 1936 zahlreiche anarchistische Geistliche. Der erste Fall ist eine Sache des Glaubens, der zweite ist selbst für Blinde offensichtlich. Der erste Fall wird nur von Menschen ohne Glauben geleugnet; der zweite Fall wird nur von Anarchistinnen und Anarchisten mit Glauben geleugnet.
2. Das Sein geht dem Bewusstsein voraus. Mit anderen Worten: Das Bewusstsein ist ein Attribut des Seins. Ohne eine Theoretisierung der historischen Erfahrungen des Proletariats gibt es keine revolutionäre Theorie, keinen theoretischen Fortschritt. Zwischen Theorie und Praxis kann eine mehr oder weniger lange Zeitspanne liegen, in der die Waffe der Kritik zur Kritik der Waffen wird. Wenn eine revolutionäre Bewegung in der Geschichte auftritt, bricht sie mit allen toten Theorien, und die ersehnte Stunde der revolutionären Aktion schlägt, die an sich schon mehr wert ist als jeder theoretische Text, weil sie dessen Fehler und Unzulänglichkeiten aufdeckt. Diese praktische, kollektiv gelebte Erfahrung zerschmettert die nutzlosen Barrieren und ungeschickten Grenzen, die während der langen konterrevolutionären Perioden gesetzt wurden. Revolutionäre Theorien testen ihre Gültigkeit im historischen Labor.
Das Wissen um die revolutionäre Geschichte zu kennen, zu verbreiten und zu vertiefen, die Irrtümer und Entstellungen zu widerlegen, die von der „heiligen“ bourgeoisen Geschichtsschreibung geformt oder ausgespuckt wurden, und die authentische Geschichte des Klassenkampfes zu enthüllen, die aus der Sicht des revolutionären Proletariats geschrieben wurde, ist bereits an sich ein Kampf für die Geschichte, für die revolutionäre Geschichte. Ein Kampf, der Teil des Klassenkampfes ist, wie jeder wilde Streik, die Besetzung von Fabriken, ein revolutionärer Aufstand, „Die Eroberung des Brotes“ oder „Das Kapital“. Die Arbeiterklasse muss, um sich ihre Vergangenheit anzueignen, gegen idealistische, sektiererische, sozialdemokratische, neostalinistische, nationalistische, liberale und neofranquistische Visionen kämpfen. Der Kampf des Proletariats um seine eigene Geschichte ist ein Kampf unter vielen anderen im laufenden Klassenkampf. Er ist weder rein theoretisch noch abstrakt oder banal, denn er ist Teil des Klassenbewusstseins selbst und definiert sich als Theoretisierung der historischen Erfahrungen des internationalen Proletariats, und in Spanien muss er unweigerlich die Erfahrungen der anarchosyndikalistischen Bewegung in den 1930er Jahren verstehen, assimilieren und sich aneignen.
Die Klassengrenzen vertiefen die Kluft zwischen Revolutionären und Reformisten, zwischen Anti-Kapitalisten und Verteidigern des Kapitalismus. Diejenigen, die das nationalistische Banner hochhalten, das Verschwinden des Proletariats verurteilen oder den ewigen Charakter von Kapital und Staat verteidigen, stehen auf der anderen Seite der Barrikade, egal ob sie sich selbst als die Anarchistinnen und Anarchisten oder Marxistinnen und Marxisten bezeichnen. Die Alternative liegt zwischen den Revolutionären, die alle Grenzen abschaffen, alle Flaggen einholen, alle Armeen und die Polizei auflösen und alle Staaten zerstören wollen; die mit jedem Totalitarismus oder Messianismus durch Vollversammlungen und selbstemanzipatorische Praktiken brechen wollen; die Lohnarbeit, den Mehrwert und die Ausbeutung des Menschen auf der ganzen Welt beenden wollen; die die drohende atomare Vernichtung stoppen und die natürlichen Ressourcen für zukünftige Generationen verteidigen wollen. …, und die Konservativen der etablierten Ordnung, die Wächter und Sprachrohr ihres Herrn, die den Kapitalismus und seine Geißeln verteidigen. Revolution oder Barbarei.
Das Proletariat wird durch seine eigene Natur als lohnabhängige und ausgebeutete Klasse in den Klassenkampf hineingeworfen, ohne dass es jemanden braucht, der ihm etwas beibringt; es kämpft, weil es überleben muss. Wenn sich das Proletariat als bewusste revolutionäre Klasse konstituiert und sich mit der Partei des Kapitals konfrontiert, muss es die Erfahrungen des Klassenkampfes verarbeiten, auf den historischen Errungenschaften aufbauen, sowohl theoretisch als auch praktisch, und die unvermeidlichen Fehler überwinden, die gemachten Fehler kritisch korrigieren, seine politischen Positionen stärken, indem es sich ihrer Unzulänglichkeiten oder Lücken bewusst wird, und sein Programm vervollständigen; kurz gesagt, die Probleme lösen, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht gelöst sind: die Lektionen lernen, die uns die Geschichte selbst gibt. Und dieses Lernen kann nur in der Praxis des Klassenkampfes der verschiedenen revolutionären Affinitätsgruppen und der verschiedenen Organisationen des Proletariats erfolgen.
Es gibt keinen getrennten ökonomischen Kampf und keinen getrennten politischen Kampf, in wasserdichten Abteilungen. Jeder ökonomische Kampf ist in der heutigen kapitalistischen Gesellschaft gleichzeitig auch ein politischer Kampf und ein Kampf um die Klassenidentität. Die Kritik der politischen Ökonomie, die Kritik der offiziellen Geschichte, die kritische Analyse der Gegenwart oder der Vergangenheit, Sabotage, die Organisation einer revolutionären Gruppe, der blinde Ausbruch eines Aufstands oder eines wilden Streiks – all das sind Kämpfe im selben Klassenkampf.
Das Leben eines Individuums ist zu kurz, um tief in das Wissen der Vergangenheit einzudringen oder sich in die revolutionäre Theorie zu vertiefen, ohne eine kollektive und internationale Aktivität, die es ihm ermöglicht, aus den Erfahrungen vergangener Generationen zu schöpfen, und die ihn wiederum in die Lage versetzt, als Brücke und Ansporn für zukünftige Generationen zu dienen.
3. anarchistische Minister: Wenn es sie gab, gab es sie.
Unser Kritiker bestreitet, dass die Existenz anarchistischer Minister möglich ist, denn ein Anarchist hört auf, ein Anarchist zu sein, sobald er Minister ist. Wenn die Theorie mit der Realität oder der Geschichte kollidiert, wird die Realität oder die Geschichte geändert und alle sind glücklich! Aber die Realität und die Geschichte sahen die Existenz anarchistischer Minister vor! Und diese Anarchistinnen und Anarchisten nahmen das Amt des Ministers an und blieben Anarchistinnen und Anarchisten und waren weiterhin Militante in der CNT. Und so war es, ganz gleich, wem es gefällt. Es ergibt keinen Sinn, sich in die semantische Falle zu flüchten, dass ein Anarchist aufhört, ein Anarchist zu sein, sobald er den Posten eines Ministers annimmt, denn das ist ein Angriff auf die Reinheit der Lehre. Das bedeutet, die historische Realität zu negieren, was wirklich passiert ist. Dies bedeutet die Realität und die Geschichte zu negieren, ist die Zuflucht aller Opportunisten und Sektierer. UND, was noch schlimmer ist, ES VERHINDERT ZU VERSTEHEN, WAS 1936-1937 GESCHIEHEN IST.
4. Bordigist oder Anarchist?
Wenn unser anonymer italienischer anarchistischer Kritiker von revolutionärem Marxismus spricht, denkt er dann an Anton Pannekoek, Gorter, Mattick und andere führende anti-leninistische marxistische Theoretiker, ganz zu schweigen vom MIL? Welcher Ignorant ist es, der nicht weiß, dass es einen staatsfeindlichen und anti-leninistischen Marxismus gibt, der die totale Zerstörung des Staates befürwortet?
Warum muss dieser Taxidermist Etiketten anbringen: Marxist, Bordigist,
Anarchist. Durrutist?
Die sektiererischen Bordigisten haben mir bereits die Beleidigung entgegengeschleudert, ich sei ein Anarchist. Die sektiererischen Anarchistinnen und Anarchisten beleidigen mich nun, dass ich ein Marxist und, noch schlimmer, ein Bordigist bin. Seltsamerweise habe ich mich in keinem der beiden Fälle beleidigt gefühlt, vielleicht weil sie das Beste des jeweils anderen verunglimpfen.
Die Taxidermisten, die versuchen, Etiketten zu vergeben (Marxist, Anarchist, Bordigist, Durrutist), wenden eine naturalistische Methode an, die nicht zu den Sozial- und Geschichtswissenschaften passt. Ich bin überzeugt, dass es zwischen einem etatistischen Anarchisten und einem revolutionären Anarchisten mehr Unterschiede gibt als zwischen zwei Revolutionären, sei es ein Anarchist oder ein Marxist.
Die Analysemethode der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie ist unverzichtbar. Wer Marx in eine Bibel verwandelt, macht sich die taxidermistische Methode unseres Kritikers zu eigen. Ich empfehle die Lektüre von Corsino Velas „Capitalismo terminal“, einer Aktualisierung der Kritik der politischen Ökonomie auf die heutige Zeit, die die Analyse von Paul Mattick beerbt.
Ich bin nie ein Bordigist gewesen. Ich wurde in eine anarchistische Familie hineingeboren. Ich versuche, mich kritisch mit allen etatistischen und autoritären Ideologien auseinanderzusetzen, auch mit dem Sektierertum der Staatsanarchisten (Anarcho-Demokraten und Anarcho-Nationalisten) und der Staatsmarxisten (Stalinisten und Sozialdemokraten).
Ich habe eine Abschlussarbeit über Amadeo Bordiga geschrieben und schätze seine Analysen des Faschismus und seine Artikel in der Reihe Sul Filo del Tempo, aber ich lehne Bordigas grundlegenden Ultra-Leninismus ab.
Ich könnte als Beispiele einen marxistischen Libertären wie Daniel Guerin oder einen libertären Marxisten wie Maximilien Rubel oder die theoretische Suche des MIL anführen, aber das werde ich nicht tun. Ist der Antagonismus zwischen AnarchistInnen und revolutionären Marxistinnen und Marxisten des 19. Jahrhunderts heute noch gültig? Man denkt und reflektiert nicht mit einem Mitgliedsausweis im Mund: zumindest ich nicht.
5. Der heilige anarchistische Papst, der Mitgliedsausweise von guten Anarchistinnen und Anarchisten ausstellt.
Unser Taxidermist wird auch zum Spender von Ausweisen des Anarchismus. Nur er allein hat als geweihter anarchistischer Papst der heiligen anarchistischen Kirche genügend Verdienst, Fähigkeit und Autorität erlangt, um zu entscheiden, wer ein autoritärer Marxist ist oder wer es wert ist, als Libertärer bezeichnet zu werden. Versteht unser Taxidermist-Kritiker den obersten Autoritarismus seiner Position?
Unser anonymer Kritiker behauptet, dass die Kritik am Staatsanarchismus wohl begründet ist, aber nicht von „einem autoritären Marxisten wie Guillamón“ geäußert werden kann. Sie ist nur akzeptabel, wenn sie von Anarchistinnen und Anarchisten geäußert wird. Er fragt sich, ob Guillamón „ci sia o ci faccia“ und ich hoffe, dass er eines Tages eine Antwort auf ein Dilemma findet, das Guillamón dialektisch gelöst hat: „Das Sein geht dem Bewusstsein voraus“.
Unser Kritiker verwechselt das, was Guillamón sagt, mit dem, was Los Amigos de Durruti (Freunde von Durruti) sagt. Und das ist wichtig, denn darin liegt der abgrundtiefe Unterschied zwischen der idealistischen Methode unseres italienischen Kritikers und der materialistischen Methode von Guillamón. Denn es ist nicht wichtig, was Guillamón denkt oder nicht denkt; wichtig ist, dass Guillamón den Gedanken der Freunde von Durruti darlegt: Es sind die Anarchistinnen und Anarchisten der Agrupación de Los Amigos de Durruti, die nach ihren Erfahrungen im laufenden Klassenkampf sagen, dass „eine der unwiderruflichen Lehren der Spanischen Revolution von 1936 die unbedingte Notwendigkeit ist, den Staat zu zerstören“ (eine der unumstößlichen Lehren der spanischen Revolution von 1936 ist die zwingende Notwendigkeit, den Staat zu zerstören.), und fordert „künftige Revolutionäre, wenn sie relevant und effektiv sein wollen“, „die schlimmsten historischen Verirrungen, in die marxistisches und anarchistisches Denken verfallen ist, wegzufegen“.
Es sind Los Amigos de Durruti (1937) und nicht Guillamón (2016), die zu dem Schluss kommen, dass Revolutionen totalitär sind oder scheitern, wenn man bedenkt, dass im Spanisch des Jahres 1937 das Wort „totalitär“ total bedeutete, d.h. dass die Revolution nicht nur auf das ökonomische Terrain der Kollektivierungen beschränkt sein sollte (wie es 1936 in Spanien geschah), sondern sich auf das politische, soziale, kulturelle und bildungspolitische Terrain, also auf alle Bereiche menschlicher Aktivität, erstrecken sollte. Und totalitär bedeutete auch, dass die grausame bourgeoise Konterrevolution unterdrückt werden musste, und diese Unterdrückung war notwendigerweise autoritär, denn die Konterrevolutionäre waren keine unbefleckten und friedlichen Engel. Wenn das ein Widerspruch oder ein Oxymoron ist, wie unser Zensor zu sagen pflegt, müssen wir vielleicht zu dem Schluss kommen, dass eine libertäre Revolution immer zum Scheitern verurteilt ist.
6. Taxidermisten für was?
Ich finde die naturalistischen Etiketten der Taxidermisten lächerlich und veraltet. Ich versuche nur, eine materialistische und historische Analysemethode zu praktizieren. Wenn unser taxidermistischer Zensor das nicht versteht, ist das sein Problem.
Vielleicht ist unser Taxidermist nicht in der Lage, die comités superiores cenetistas abzulehnen, obwohl sie versuchten, die comités revolucionarios de barrio zu vernichten und zu unterwerfen, weil sie nominell anarchistisch waren, während er durchaus in der Lage ist, die SBLE (sección bolchevique-leninista de españa) abzulehnen, die diese comités revolucionarios de barrio unterstützte und förderte, weil die SBLE autoritär war.
7. Idem.
Mein Kritiker sagt: „Der Unterschied ist grundlegend. Der Fehler der spanischen Anarchistinnen und Anarchisten bestand nicht darin, NICHT die ganze Macht zu übernehmen, sondern sie NICHT völlig zu zerstören, indem sie die Generalidad Companys überleben ließen, schlimmer noch, indem sie mit ihr kollaborierten.
Die Feinde der Revolution müssen sicherlich vernichtet werden, aber dazu ist es überhaupt nicht notwendig, die Macht zu besitzen: Es ist notwendig, Stärke zu besitzen.“ Aber Guillamón sagt genau das Gleiche. Aber er sagt noch mehr und versucht zu beantworten, wie ein solcher Fehler gemacht wurde, wer ihn gefördert hat und wer ihn vermeiden wollte. Daher die Unterscheidung zwischen comités superiores und comités de barrio, zwischen anarchistischen Ministern und den revolutionären Anarchisten der Freunde von Durruti.
8. Die revolutionären Komitees (los comités revolucionarios)
Im Juli 1936 ging es nicht um die Machtergreifung (durch eine Minderheit von anarchistischen Anführern), sondern darum, die Zerstörung des Staates durch die Komitees zu koordinieren, voranzutreiben und zu vertiefen. Die revolutionären Nachbarschaftskomitees (und einige der lokalen Komitees) haben die Revolution nicht gemacht oder nicht gemacht: Sie waren die soziale Revolution. Die Rolle der CNT als Gewerkschaft/Syndikat hätte sich vielleicht vorübergehend auf die Verwaltung der Ökonomie beschränken sollen, sich aber in der neuen Organisation, die aus den Nachbarschafts-, Orts-, Fabrik-, Versorgungs-, Verteidigungs- und so weiterkomitees hervorging, unterordnen und auflösen müssen. Die massenhafte Eingliederung der Arbeiterinnen und Arbeiter, von denen viele bis dahin nicht in der organisierten Welt vertreten waren, schuf eine neue Realität. Und die Realität, die die Revolution geschaffen hatte, unterschied sich von der, die vor dem 19. Juli existierte. Die alten Organisationen und politischen Parteien standen in der Praxis außerhalb der neu geschaffenen sozialen Realität. Der revolutionäre Organismus der revolutionären Komitees, der auf allen Ebenen verallgemeinert wurde, hätte das gesamte revolutionäre Proletariat repräsentieren sollen, ohne die absurden Unterteilungen durch Akronyme, die vor dem Juli-Aufstand Sinn machten, aber nicht danach.
Die CNT-FAI hätte der Sauerteig des neuen revolutionären Organismus sein sollen, der Koordinator der Komitees, der im Prozess der revolutionären Gärung verschwand (zur gleichen Zeit, als die anderen Organisationen und Parteien aufgelöst wurden). Nach dem siegreichen Aufstand der Arbeiter und der Niederlage der Armee und mit der Einquartierung der Ordnungskräfte war die Zerstörung des Staates keine abstrakte futuristische Utopie mehr.
Die Zerstörung des Staates durch die revolutionären Komitees war eine sehr konkrete und reale Aufgabe, bei der diese Komitees alle Aufgaben übernahmen, die der Staat vor dem Juli 1936 erfüllte.
Aber eine solche Überlegung liegt (für unseren guten Taxidermist) vielleicht in einer anderen Galaxie.
9 Welche Lehren können aus dem Bürgerkrieg gezogen werden?
a.- Der kapitalistische Staat, sowohl in seiner faschistischen als auch in seiner demokratischen Form, muss zerstört werden. Das Proletariat kann keinen Pakt mit der republikanischen (oder demokratischen) Bourgeoisie schließen, um die faschistische Bourgeoisie zu besiegen, denn ein solcher Pakt bedeutet bereits die Niederlage der revolutionären Alternative und den Verzicht auf das revolutionäre Programm des Proletariats (und seine eigenen Kampfmethoden), um das Programm der antifaschistischen Einheit mit der demokratischen Bourgeoisie anzunehmen, um den Krieg gegen den Faschismus zu gewinnen.
b.- Das revolutionäre Programm des Proletariats ist die Internationalisierung der Revolution, die Vergesellschaftung der Ökonomie, die Schaffung solider Grundlagen für die Abschaffung des Werts und der Lohnarbeit im Weltmaßstab, die Führung des Krieges und der Arbeitermilizen durch das Proletariat, die räte- und vollversammlungsmäßige Organisation der Gesellschaft und die Unterdrückung der bourgeoisen und petit bourgeoisen Gesellschaftsschichten durch das Proletariat, um die sichere bewaffnete Antwort der Konterrevolution zu zerschlagen. Die wichtigste theoretische Errungenschaft der Freunde Durrutis war die Bekräftigung des totalitären Charakters der proletarischen Revolution. Totalitär deshalb, weil sie in allen Bereichen stattfinden muss: sozial, ökonomisch, politisch, kulturell …, und in allen Ländern, über alle nationalen Grenzen hinweg, und sie war auch repressiv, weil sie dem Klassenfeind militärisch entgegentrat.
c.- Das Fehlen einer Organisation, einer Avantgarde oder einer Plattform, die in der Lage war, das historische Programm des Proletariats zu verteidigen, war entscheidend, denn es erlaubte und ermutigte alle Arbeiterorganisationen, das bourgeoise Programm der antifaschistischen Einheit (heilige Einheit (Union sacrée) der Arbeiterklasse mit der demokratischen und republikanischen Bourgeoisie) zu übernehmen, mit dem einzigen Ziel, den Krieg gegen den Faschismus zu gewinnen. Die revolutionären Avantgarden, die auftauchten, kamen zu spät und wurden in ihrem kaum skizzierten Versuch, eine revolutionäre Alternative zu präsentieren, die mit der bourgeoisen Wahl zwischen Faschismus und Antifaschismus brechen könnte, zerschlagen.
d.- Der Stalinismus war eine konterrevolutionäre Option, die den Staatskapitalismus verteidigte und die Diktatur der stalinistischen Partei über das Proletariat befürwortete. Der Staatsanarchismus der höheren libertären Komitees war eine konterrevolutionäre Option, denn er verteidigte einen syndikalistischen/gewerkschaftlichen Kapitalismus und befürwortete die Stärkung des Staatsapparats, die antifaschistische Einheit und das alleinige Ziel, den Krieg zu gewinnen, unter Verzicht auf die Revolution.
e.- Die revolutionären Nachbarschaftskomitees in der Stadt Barcelona und verschiedene lokale Komitees im übrigen Katalonien waren die potenziellen Machtorgane der Arbeiterklasse. Sie traten für die Sozialisierung der Ökonomie ein und lehnten die Militarisierung der Milizen und die Kollaboration mit der Regierung und den antifaschistischen Parteien ab. Sie waren bewaffnet, sie waren die Armee der Revolution. Ihre größte Einschränkung war ihre Unfähigkeit, sich außerhalb des konföderalen Apparats zu organisieren und zu koordinieren (A.d.Ü., also außerhalb der CNT selbst). Die höheren Komitees erstickten die revolutionären Komitees politisch und organisch, was zu ihren schlimmsten Feinden und zum größten Hindernis für ihre gewünschte und notwendige Integration in den Apparat des bürgerlichen Staates wurde, als Endziel ihres Institutionalisierungsprozesses.
Die revolutionären Komitees haben die Revolution nicht gemacht oder nicht mehr gemacht: Sie waren die soziale Revolution, denn ihre bloße Existenz und die Erfüllung aller Aufgaben und Funktionen, die der Staat vor dem Juli 1936 ausgeübt hatte, machten sie zu effektiven Protagonisten der Zerstörung des Staates.
f.- Während des Bürgerkriegs scheiterte das politische Projekt des Staatsanarchismus, der sich als antifaschistische Partei konstituierte, Methoden der Klassenkollaboration und Regierungsbeteiligung anwandte, bürokratisch organisiert war und das Hauptziel verfolgte, den Krieg gegen den Faschismus zu gewinnen, kläglich auf allen Gebieten; aber die soziale Bewegung des revolutionären Anarchismus, die in revolutionären Komitees der Nachbarschaft, der Gemeinde, der Arbeiterkontrolle, der Verteidigung usw. organisiert war, bildete die Keimzelle einer Arbeitermacht, die Höhen der ökonomischen Verwaltung, der revolutionären populären Initiativen und der proletarischen Autonomie erreichte, die noch heute eine Zukunft erhellen und ankündigen, die sich radikal von der kapitalistischen Barbarei, dem faschistischen Horror oder der stalinistischen Sklaverei unterscheidet.
Und obwohl dieser revolutionäre Anarchismus schließlich der koordinierten und komplizenhaften Unterdrückung durch den Staat, die Stalinisten und der höheren Komitees (comités superiores, CNT) erlag, hinterließ er uns das Beispiel und den Kampf einiger Minderheiten, wie die Freunde von Durruti, die JJLL (Juventudes Libertarias) und bestimmte anarchistische Gruppen der lokalen Föderation von Barcelona, die es uns heute ermöglichen, ihre Erfahrungen zu theoretisieren, aus ihren Fehlern zu lernen und ihren Kampf und ihre Geschichte zu rechtfertigen.
g. – Das Bewusstsein geht aus dem Sein heraus. Ohne eine Theoretisierung der historischen Erfahrungen des Proletariats gäbe es keine revolutionäre Theorie, keinen theoretischen Fortschritt, und sie wäre auf jeden Fall viel ärmer, unvollständig und unwirksam. Kollektive, anonyme, Klassen-, Solidaritäts-, Straßen-, populäre, atheistische, lebendige, tiefe, plurale, internationale und internationalistische Theorie, die nur als reife Frucht eines historischen Prozesses der Vorbereitung auf das Eingreifen in die kommenden Schlachten des andauernden Klassenkampfes erreicht werden kann.
10. SCHLUSSFOLGERUNGEN
Ich könnte noch mehr und Besseres sagen, aber das ist genug. Ich hätte mich darauf beschränken können, unserem italienischen Kritiker die Anschuldigungen und Beleidigungen verschiedener exzentrischer Einzelpersonen oder verschiedener sektiererischer bordigistischer Gruppen zu übermitteln, die mich als Antwort auf ihre „Anschuldigungen“, ich sei ein Anarchist, „beschuldigten“ („Diskurs über die Methode“ von Guillamón kann hier gelesen werden: http://kaosenlared.net/discurso-del-metodo/).
Ich hätte mich über die Inkohärenz und den Fehlgriff des einen oder des anderen beschweren können. Sicher ist jedoch, dass sowohl diese Bordigisten als auch diese Anarchistinnen und Anarchisten etwas sehr Wichtiges gemeinsam haben: eine sektiererische und idealistische Analysemethode, die sie in den Abgrund der Sinnlosigkeit, Inkohärenz und Unbrauchbarkeit führt: Sie negiert die Realität und die Geschichte.
Wenn die Ideologie mit realen oder historischen Fakten kollidiert, negiert ihre idealistische Methode die Realität und die historischen Fakten. Sie fragen sich nie, ob ihre heilige Ideologie falsch oder veraltet ist. Wenn Prinzipien hingegen nur dazu dienen, sie bei den ersten Schwierigkeiten, die die Realität und die Geschichte aufwerfen, aufzugeben, ist es besser zu erkennen, dass man keine Prinzipien hat.
Agustín Guillamón. Barcelona, 17. April 2018
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Der Krieg beginnt hier
Seit Wochen gibt es Ankündigungen und Anzeichen dafür, dass es bald Wirklichkeit wird, und nun ist der Krieg ausgebrochen. Ein neuer Krieg, dieses Mal vor den Toren Europas. Ein maßgeschneidertes Narrativ ist bereits in den Köpfen und auf den Lippen vieler: Es ist Putins Schuld. Aus der eine einfache Formel hervorgeht: Da Russland – auf der Seite des Bösen steht, können seine Feinde und Gegner ausschließlich auf der Seite des Guten stehen. Der Meinungsbildungs- und Produktionsbetrieb der modernen Kommunikation ist keineswegs eine ästhetische oder spirituelle Tätigkeit, sondern hat ein rein praktisches Ziel: bestimmte Gesinnungen und Verhaltensweisen hervorzubringen und andere zu verbannen. In diesem speziellen Fall zielt das große Narrativ, mit der wir den ganzen Tag gefüttert werden, unter anderem darauf ab, die gesamte Bevölkerung hinter der Möglichkeit einer Intervention der französischen Armee und einer direkten militärischen Konfrontation (die im Moment unwahrscheinlich ist) zu versammeln und das vielfältige Engagement des französischen Staates und seiner Verbündeten in diesem neuen Krieg als gerechte Sache darzustellen. Von lobenswerten Absichten beseelt, scheinen die Interessen von Kapitalisten und Staaten plötzlich mit denen aller übereinzustimmen. Man muss sich jedoch das Offensichtliche vor Augen halten: Die Ursache des Krieges, der die Ukraine gerade zerfleischt, liegt wie alle seine Vorgänger, in der Existenz von den Staaten selbst. Historisch gesehen ist der Staat durch militärische Gewalt entstanden; er hat sich durch den Einsatz militärischer Gewalt entwickeltund er muss sich logischerweise immer auf militärische Gewalt stützen, um seine Macht zu erhalten und auszuweiten, sei es in Russland oder in einem Mitgliedsland der NATO. Wenn man davon ausgeht, dass Menschen (zivile oder militärische), die auf beiden Seiten der Front sterben, zu zwei verschiedenen Arten von Aas gehören, so unterscheidensie sich in Wirklichkeit nur druch die Farbe ihrer jeweiligen Flaggen – ihr Wesen ist dasselbe: ob russisch oder ukrainisch, der Staat ist immer noch organisierte Unterdrückung zugunsten einer privilegierten Minderheit.
Als vor einem Jahrhundert das Gemetzel des Ersten Weltkriegs Millionen von Menschenleben forderte und fast die gesamte untergegangene Arbeiter- und Revolutionsbewegung in ihre kriegerische Logik hineinzog, die eigentlich hätte argumentieren müssen, dass die Proletarier aufgrund ähnlicher Ausbeutungsbedingungen unabhängig von ihrem Herkunftsland demselben Lager angehören, erinnerten sich einige internationalistische Anarchisten daran: „Die Aufgabe der Anarchisten ist es, in der gegenwärtigen Tragödie, an welchem Ort und in welcher Situation sie sich auch befinden mögen, weiterhin zu verkünden, dass es nur einen Befreiungskrieg gibt: den, der in jedem Land von den Unterdrückten gegen die Unterdrücker, von den Ausgebeuteten gegen die Ausbeuter geführt wird. Unsere Aufgabe ist es, die Sklaven dazu zu bringen, sich gegen ihre Herren aufzulehnen. Die anarchistische Aktion und Propaganda muss unermüdlich und beharrlich darauf abzielen, die verschiedenen Staaten zu schwächen und zu zerschlagen, den Geist der Revolte zu kultivieren und die Unzufriedenheit in der Bevölkerung und Armeen zu schüren“. Der totale Krieg, der alle Lebensbereiche und alle Teile der Gesellschaft mobilisiert, kann nur durch die direkte Aktion der Proletarier selbst gestoppt werden, durch ihren Ungehorsam am Arbeitsplatz und an der Front, durch die Einstellung der Produktion, den Ungehorsam gegenüber den Vorgesetzten, die Entwaffnung, die Meuterei, die Unterbrechung der Kriegsmobilisierung, die Desertion, den Aufstand. Kurz gesagt, die gesamte Organisation des Lebens rund um den Staat und seine kriegsbedingten Erfordernisse mussten aufgelöst und ins Chaos gestürzt werden.
Ein Krieg zwischen Staaten braucht immer sozialen Frieden und die Aufrufe zur Einheit und nationalen Solidarität, die von allen Seiten kommen, haben nichts anderes zum Ziel, als einen internen Waffenstillstand in einem Kontext zu erzwingen, in dem es leider schon keine Konflikte mehr gibt. Geopolitische Analysen und raffinierte Berechnungen nützen nichts, um den Krieg abzulehnen: Dies kann nur geschehen, indem man die innere Front, die sich Tag für Tag bildet, aufbricht, die nationale Einheit untergräbt, sich der Militarisierung der Gesellschaft und einer Sprache widersetzt, die nicht aus der heutigen Zeit stammt („Krieg gegen den Terrorismus“, „Krieg gegen das Virus“ . …), indem wir laut sagen, dass wir die kriegerische Einstellung weder der EU- und NATO-Mitgliedsländer, noch Putins Russlands teilen und offen zum Defätismus aufrufen: Es geht darum, den Krieg zwischen den Staaten in einen Krieg gegen die Staaten zu verwandeln.
Wie könnte dann eine Praxis aussehen, die mit der von Anarchisten vertretenen internationalistischen und antimilitaristischen Perspektive vereinbar ist? Wie kann man „solidarisch“ mit denjenigen sein, die sich in Russland und der Ukraine dem Krieg und ihrem eigenen Staat widersetzen und sich dabei dem Tod, der Inhaftierung und der Folter aussetzen? Unter anderem, indem man in dem Gebiet, in dem man lebt, „seinen“ Staat, „seine“ Anführer und Industriellen, „seinen“ Patriotismus, „seine“ Ökonomie und „seinen“ Militarismus angreift. Denn auch wenn natürlich nicht ihre Verteidiger und Unterstützer unter den direkten Folgen der Machtspiele zwischen den Staaten und der Machtkämpfe zu leiden haben, sondern die Menschen, die in den Gebieten der militärischen Konfrontation leben, in Reichweite von Kugeln, Bomben und Zerstörung, so geht es doch darum, das Sicherheitsgefühl der Herrschaft selbst zu untergraben. Und da eine der ökonomischen Folgen des Krieges die Verteuerung von Energie, Treibstoff und Rohstoffen und damit aller Konsumgüter istund da die Akzeptanz dieser Verteuerung bereits als Kriegsanstrengung dargestellt wird, geht es mehr denn je darum, die Ökonomie und den normalen Ablauf von Ausbeutung, Produktion und Konsum zu schädigen.
Jeder Krieg braucht einen Berg von Waffen, Maschinen und militärischer Ausrüstung, die in scheinbar banalen Fabriken von Arbeitern, die jeden Morgen aufstehen und ihrer normalen Arbeit nachgehen, hergestellt werden. Gegen den Krieg muss man versuchen, alles zu stoppen. Blockaden und Sabotage an der todesbringenden Forschung in den Laboren und Universitäten, Blockaden und Sabotage der todesbringenden Fabriken, Blockaden und Sabotage der Kommunikation und dessen Zugangs, sowie des Datenaustauschs, Blockaden und Sabotage der todesbringenden Logistik, die die Bewegungen und den Transport von Waffen, Munition, Fahrzeugen und Kriegsmaterial auf dem Land-, Luft- und Seeweg ermöglicht. Das Ballett der Heuchler, all jener Politiker, Experten, Ökonomen und Journalisten, die jeden Monat die Unterzeichnung eines neuen Maxi-Auschreibens über den Verkauf von Waffen und Militärfahrzeugen an einen anderen Staat beglückwünschen und bejubeln, während sie erst jetzt zu entdecken scheinen, dass der Krieg haufenweise Tote produziert – denn überraschenderweise töten Kugeln und Granaten! – all dies ist zumindest für eines bezeichnend: Kriege und Militarisierung werden hier produziert, sie werden hier vorbereitet und geplant, sie bringen vor allem hier fruchtbare Gewinne ein (wie die Rekordgewinne des Unternehmens Dassault Aviation für das Jahr 2021 oder der Anstieg der Börsenaktien von Thalès um mehr als 30 % in einem Kontext allgemeiner Schrumpfung meisterhaft belegen). In Anbetracht all dessen geht es, kurz gesagt, darum, den Krieg im eigenen Land zu führen.
Schließlich, und das mag im gegenwärtigen Kriegsklima überraschen, ist es unmöglich, eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen Kriegs- und Friedenszeiten zu treffen, unter anderem deshalb, weil eine der Säulen des Militarismus heute und seit etwa einem Jahrhundert die duale Forschung ist, die darauf abzielt, „gleichzeitig den zivilen Nutzen der Verteidigungsforschung zu maximieren und den Verteidungsapparat in die Lage zu versetzen, von den Fortschritten in der zivilen Forschung zu profitieren“, wie der, für das Programm Nr. 191 für Duale Forschung zuständige Rüstungs-Generaldelegierte in der Haushaltserklärung 2022im ausdrücklich erklärte. . Dies beweisen u.a. die Vielzahl der elektronischen Gegenstände, die unser tägliches Leben durchdringen. Wenn dies zumindest diejenigen zum Schweigen bringen könnte, die immer noch an die Bedeutung der Rolle von Wissenschaft und technologischer Forschung für den „menschlichen Fortschritt“ glauben, oder sie zumindest davon überzeugen könnte, dass sie nicht neutral ist, würden wir eine weitere Schlussfolgerung ziehen, die wir allen, denen der Kampf gegen den Krieg am Herzen liegt, nahe legen möchten: In Kriegs- wie in Friedenszeiten ist es notwendig, über die Protagonisten, die Interessen und die Strukturen nachzudenken, die, indem sie sich überschneiden, den Krieg in der Praxis möglich machen, und nach den Rädern dieser Industrie zu suchen, um zu versuchen, uns selbst die Werkzeuge in die Hand zu geben, um die Kriegsmaschine zu sabotieren. Auch wenn sie von großen Konzernen verkörpert wird (wie Nexter, Panhard Defense und Arquus für die Landwirtschaft, EADS, SAFRAN und Dassault für die Luftfahrt, Thales und Sagem für die Elektronik, Naval Group für die Schifffahrt und MBDA für Raketen), stützt sich die Militärindustrie auch auf Tausende von kleinen Unternehmen, die ebenso wichtig und viel leichter zugänglich sind. Dabei ist zu bedenken, dass die Produktion von Rüstungsgütern und Kriegsmaschinerie, von Verteidigungs- und Sicherheitssystemen, von Überwachungs- und Kontrollsystemen, die zur Führung von Kriegen eingesetzt werden, dieselben sind, die hier den Arm der Unterdrückung aufrichten.
Frieden wird ein leeres Wort bleiben, solange wir nicht alle Staaten und ihre Grenzen zerstört haben, solange die Interessen derer, die sich an Ausbeutung und Krieg bereichern, derer, die sie gewollt haben, derer, die siestudieren, derer, die sie fördern, derer, die sie finanzieren, derer, die sie vorbereiten, mit anderen Worten all derer, die von nah und fern mit ihnen kollaborieren.. Unabhängig von der jeweiligen Nationalität sind sie es, die wir als unsere Feinde anerkennen, denn sie werden immer Feinde der Freiheit sein.
[anarchie!, Nr. 23, März 2022].
]]>Einleitung der Soligruppe für Gefangene
Der folgende Text war seit einiger Zeit fällig, erschien erstmals im Jahr 2009 in der italienischen anarchistischen Publikation Machete Nr. 6., die Grundlage haben wir aus der anarchistischen Seite Finimondo übernommen, der Link ist am Ende der Einleitung. Wir wollten diesen seit vielen Jahren schon veröffentlichen, mit vielen Jahren meinen wir vielleicht seit damals, kamen aber leider nie dazu. Kurz und knapp, es handelt sich um eine Kritik an dem Text Der kommende Aufstand, der 2007 in Frankreich veröffentlicht wurde. Im Gegensatz zu den Befürwortern und den Verleumdern dieses Textes sind wir, waren wir und werden weiterhin der Meinung sein, dass alles, was unter dem Namen eines Unsichtbaren Komitees unterschrieben wurde, nichts mit dem Anarchismus und mit dem Aufständischen Anarchismus, woanders auch nur rein als Insurrektionalismus (Insurrezionalismo, Insurreccionalismo, Insurrectionalism) betitelt, zu tun hat. Mag dies natürlich schon eine verlorene Schlacht sein, zumindest was die Wortbedeutung und Wortassoziation angeht, denn für diese Verwirrung haben hierzulande sehr viele Anarchisten und Anarchistinnen beigetragen. Wir werden aber weiterhin darauf hinweisen, dass diese falsche Assoziation nicht richtig ist. Auch haben wir weder damals, noch jetzt, wie auch nicht in der Zukunft verstanden, was an diesem Text so sonderlich gut sein sollte und niemand kann uns vorwerfen, dass wir nicht die Diskussion gesucht haben um daraus schlauer zu werden. Meistens erhielten wir sehr oberflächliche Antworten – um sie nicht als hirnamputiert zu bezeichnen-, wie: dieser Text sei schön, ein Kassenschlager, sogar die Frankfurter Allgemeine hätte darüber eine Rezension geschrieben, etc. Alles Antworten die für uns selbst keine waren, eine Feststellung ist weiterhin ja keine Erklärung, auch wenn dies weiterhin als Bares gilt. Während in südlichen Ländern dieser Text, also Der kommende Aufstand, nur eine Randnotiz spielte, meistens eher ignoriert, war dieser im deutschsprachigen Raum wie eine Oase mitten in einer Wüste, dies verstanden als eine Fata Morgana. Warum dies so war, wäre für eine zukünftige Debatte interessant, weil nicht was der Text selbst sagt, sondern was dieser im deutschsprachigen Raum hervorbrachte, sowie die Gründe dafür, sind immer noch ein Grund tiefgreifender Debatten eines Phänomens, was noch nicht unbedeutend sein mag, genauso was dies mit einer anarchistischen Bewegung zu tun haben mag. Wir werden sehen.
Alle Zitate aus Dem kommenden Aufstand haben wir aus der deutschsprachigen Übersetzung übernommen, mitsamt möglichen Übersetzungsdivergenzen. Alle kursiven Textstellen sind aus dem italienischen übernommen worden, außer im Falle von Der kommende Aufstand, wir taten dies um den Titel nur zu unterstreichen und dass es sich immer um diese Schrift handelte.
La insurrección y su doble, hier auf Spanisch
The Insurrection and Its Double, hier auf Englisch
L’insurrezione e il suo doppio, hier auf Italienisch
(Italien) Die Insurrektion und ihr Double
Bei der Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Romantik beobachtete Victor Hugo, dass jeder authentische Gedanke von einem beunruhigenden Double bespitzelt wird, der immer auf der Lauer liegt, immer bereit, mit dem Original zu verschmelzen. Ein Charakter von erstaunlicher Plastizität, der mit Ähnlichkeiten spielt, um auf der Bühne etwas Applaus zu bekommen. Dieses Double hat die einzigartige Fähigkeit, Schwefel in Weihwasser zu verwandeln und vom widerspenstigsten Publikum akzeptieren zu lassen. Auch die moderne Insurrektion, die gerne auf die Zentralkomitees und Sol dell’Avvenire1 verzichtet, hat es mit ihrem Schatten zu tun, mit ihrem Parasiten, mit einem Klassiker, der sie nachahmt, der ihre Farben trägt, sich in ihre Kleider kleidet, ihre Krümel aufsammelt.
Nach dem Medienrummel, der das Buch in Frankreich zu einem Bestseller machte, ist Der kommende Aufstand nun auch auf Italienisch erhältlich.
Das im März 2007 veröffentlichte und vom Unsichtbaren Komitee unterzeichnete Buch Der kommende Aufstand2 wurde in den transalpinen Nachrichten nach der gerichtlichen Untersuchung bekannt, die am 11. November 2008 zur Verhaftung von neun Subversiven in dem kleinen Dorf Tarnac führte, die beschuldigt wurden, an einer Sabotage gegen das Hochgeschwindigkeitseisenbahnnetz beteiligt gewesen zu sein. Wie so oft in solchen Fällen wollte der Richter sein Theorem auch vom „theoretischen“ Standpunkt aus untermauern, indem er einem der Verhafteten die Urheberschaft des fraglichen Buches zuschrieb. Herausgegeben von einem kleinen linken kommerziellen Verlag, im ganzen Land vertrieben und zum Zeitpunkt seines Erscheinens vom Establishment gut aufgenommen, wurde Der kommende Aufstand auf Beschluss der Staatsanwaltschaft zu einem gefährlichen und gefürchteten „Sabotage-Handbuch“3. Daher sein Erfolg, begünstigt außerdem durch die Intervention zu seinen Gunsten von einigen Klerikern der Intelligenzija (französische und nicht nur), besorgt über die ungebührliche polizeiliche Einmischung auf dem Gebiet der politischen Philosophie. Man spürt die Verblüffung derjenigen, die plötzlich entdeckt haben, dass die Partei zwar imaginär ist, die Polizei aber noch viel weniger, und noch weniger die Genugtuung des Herausgebers dieses Buches, der sich nie hätte vorstellen können, im Innenministerium eine so effiziente Werbeagentur zu finden. In jedem Fall wurden alle Verhafteten nach einigen Monaten aus dem Gefängnis entlassen und werden voraussichtlich diesen für eine lange Zeit nicht betreten. Wir können daher an dieser Stelle jeden Bezug zu diesem Ereignis schließen, das groteske Konnotationen hatte, da die Verbindung zwischen Der kommende Aufstand und den in Tarnac Verhafteten schließlich das Werk der französischen Justiz war. Es gibt also keinen Grund, sich weiter damit zu beschäftigen.
Bemerkenswert ist jedoch die kurze Vorbemerkung zur italienischen Ausgabe, in der die „Unsichtbaren Übersetzer“ (wenn man von dem Franchising der Politik spricht …) nicht zögern, die gerichtliche Untersuchung, von der wir sprechen, als praktische Demonstration des Wertes dieses Textes zu verwenden. Nachdem sie dem angeblichen Autor das Wort erteilt haben, demzufolge „das Skandalöse an diesem Buch ist, dass alles, was darin steht, rigoros und katastrophal wahr ist, und es beweist sich immer mehr“ (Zitat aus einem Interview, das der bekannten subversiven Zeitung Le Monde4 gewährt wurde), kommt der Unsichtbare Übersetzer zu dem bizarren Schluss, dass er nur deshalb verhaftet wurde, weil er verdächtigt wurde, „das Buch, das du in deinen Händen hältst“, geschrieben zu haben. In ihrer Aufregung behaupten sie, es übersetzt zu haben, „weil das, was er sagt, wahr ist, und vor allem, weil er es sagt“. Weshalb man „dem traurigen kleinen Theater der Anti-Terror-Gesetze … fast dafür danken sollte, dass dieses Buch in so großem Umfang, kollektiv und oft unter praktischen Gesichtspunkten gelesen wurde. Wären sie nicht gewesen, hätte die Freude, die dieses Buch verbreitet, wahrscheinlich nicht so viele Menschen erreicht“. Was ist von solchen Überlegungen zu halten, die in der Hingabe mit anderen Speichelleckereien der Prositu-Reminiszenz5 konkurrieren? Vielleicht sollte man sich daran erinnern, dass es nicht das erste Mal ist, dass eine subversive Schrift zur Unterstützung einer gerichtlichen Untersuchung verwendet wurde, ohne zum Evangelium zu werden. Das wäre so, als würde man behaupten, dass die Verhaftung einiger Stalinisten die Wahrheit der marxistisch-leninistischen Publikationen beweist, oder die einiger Anarchisten die Wahrheit der antiautoritären Bücher. Und gleichzeitig zu behaupten, die französische Macht sei nicht beunruhigt durch die Revolten, die das Banlieu entflammen, durch die periodischen radikalen sozialen Bewegungen, durch die direkten Aktionen, die sich im ganzen Gebiet/Territorium ausbreiten, oder durch ein mögliches Zusammentreffen all dieser Ereignisse – ach woher – , sondern durch einen Kommentar dazu, der für sieben Euro in jeder Buchhandlung erhältlich ist… dies ist ein typischer Trost gewisser Salonbarrikadisten6. Dass die Übersetzer, unsichtbar, aber vor allem daran interessiert, die Repression in einen Werbespot zu verwandeln, sagt nichts über dieses Buch, aber viel über sie. Vergesst dieses Elend, Der kommende Aufstand wird nicht warten.
Aber von welcher Insurrektion sprechen wir, der ursprünglichen, die von Frankreich ausgeht, oder der, die an anderen Orten landet, der Fanfarenstöße vorausgehen? Lassen wir uns nicht von Erscheinungen täuschen, denn sie sind ganz und gar nicht dasselbe. Die erste ist der Ausdruck eines Milieus, das in einer Welt der Zombies direkt auf den Erfolg abzielt, indem es den Leichnam der Avantgarde wieder auferstehen lässt, und stützt sich auf die Kulturindustrie. Die zweite, die das Pech hat, in einem Land präsentiert zu werden, in dem die Revolution vorerst keinen Markt hat, ist gezwungen, den Glanz der Ware mit dem Mantel der Verschwörung zu bedecken. Hätten die italienischen Leser, die diesen Text eifrig lasen, berauscht von dem subversiven Parfüm, das die Bullen (Flic) versprühten, dasselbe getan, wenn sie ihn in einem Regal bei Feltrinelli7 mit der Empfehlung eines Insiders als einzige Referenz gefunden hätten? Das wollen wir bezweifeln. Aber wie auch immer, es ist sinnlos, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Beginnen wir also, uns dem Text über seinen Inhalt zu nähern, außerhalb seines spezifischen Kontextes, auf den wir am Ende kurz zurückkommen werden. Offensichtlich sind es die Uneinigkeiten und nicht die Einigkeiten, die unsere Aufmerksamkeit erregt haben.
Neben einem Prolog besteht das Buch aus sieben Kreisen und vier Kapiteln. Im ersten Teil führt uns das Unsichtbare Komitee, in dantesquer Verkleidung durch die Hölle der heutigen Gesellschaft und illustriert sie mit zahlreichen Beispielen. Im zweiten Teil stellt es uns das Paradies der Insurrektion vor, die durch die Vermehrung der Kommunen erreicht werden soll. Wenn der erste Teil sehr leicht eine eindeutige Zustimmung erhält, mit einem Panoramablick auf die Welt, die uns einen Blick auf die kontinuierlichen Verwüstungen bietet, hinkt der zweite Teil und nicht wenig. Beide haben jedoch ein gemeinsames Merkmal: eine gewisse Unbestimmtheit, die durch den trockenen und zwingenden Stil gut kaschiert wird. Aber sind wir sicher, dass dies ein Mangel ist und nicht, im Gegenteil, eine wesentliche Zutat des Erfolgs dieses Buches?
Als Verfasser eines Essays über politische Philosophie, hat das Unsichtbare Komitee eine starke Verachtung für Spekulationen und eine ausgeprägte Neigung zur Praxis. Was auch gut so ist, zumal sie damit den Beifall, sowohl vitaminabstinenter Gelehrter als auch wissenshungriger Aktivisten gewinnen können. In Abgrenzung zu den zahlreichen marxistischen Sekten mag das Unsichtbare Komitee keine großen Analysen, die alles subsumieren und erklären und alles erklären und subsumieren. Intelligente Analysen, wenn man so will, in Ordnung, aber die sind nach anderthalb Jahrhunderten schon nervtötend. Sie sind unsicher, diskutabel, manchmal sogar erbärmlich. Es geht ihr nicht darum, die Welt in ihrer Gesamtheit (Totalität) zu kritisieren. Aber wie die verschiedenen marxistischen Sekten ist auch das Unsichtbare Komitee geil darauf, ihre eigene Vision durchzusetzen. Da aber heute ein Diskurs, der ernst genommen werden will, weil er auf „wissenschaftlichen“ Annahmen beruht, urkomisch wäre, ist es besser, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, besser, ihn als wahr auszugeben, weil er auf Feststellungen beruht. Genug der Analyse, der Kritik, der Studien, macht Platz für die Beweise und ihre Granit-Objektivität, die dir direkt in die Fresse schlägt. So legt das Unsichtbare Komitee mit affektierter Bescheidenheit von Anfang an fest, dass es sich damit begnügt, „ein bisschen Ordnung in die verschiedenen Allgemein-plätze dieser Epoche zu bringen, in das, was an den Tischen der Bars, was hinter verschlossenen Schlafzimmertüren gemurmelt wird.“, das heißt, „Sie haben nur die nötigen Wahrheiten fixiert“. Auch sehen sich die Mitglieder nicht als Autoren dieses Buches: „Sie haben sich zu den Schreibern der Situation gemacht. Es ist das Privileg der radikalen Umstände, dass die Richtigkeit in logischer Konsequenz zur Revolution führt. Es reicht aus, das zu benennen, was einem unter die Augen kommt, und dabei nicht der Schlussfolgerung auszuweichen.“ Wir wetten, dass ihr sicher nicht daran gedacht habt: Die Gemeinplätze sind die notwendigen Wahrheiten, die umgeschrieben werden müssen, um den Sinn für Präzision zu wecken, der logischerweise zur Revolution führt. Offensichtlich, nicht wahr?
Wir werden dann in die sieben Kreise eintauchen, in die die zeitgenössische soziale Hölle unterteilt ist, und wir werden nur wenige Ideen zum Nachdenken finden, aber viele Geisteszustände zum Teilen. Wie bereits gesagt, vermeiden es die Autoren dieses Textes, ihren Diskurs auf eine Theorie zu stützen. Um nicht Gefahr zu laufen, altbacken zu wirken, ziehen sie es vor, das Erlebte in seiner Alltäglichkeit festzuhalten, wo alles familiär wird, als Gemeinplatz eben. In diesem klaren und gut artikulierten Fluss der alltäglichen Banalität – bestehend aus Anekdoten, Witzeleien, Werbesprüchen, Umfragen usw. – jeder findet etwas, in dem er sich wiedererkennt. Bei der apokalyptischen Betrachtung des bevorstehenden Weltuntergangs und der verschiedenen sozialen Bereiche, in denen er sich abspielt, beschränkt sich das Unsichtbare Komitee auf die unmittelbar wahrnehmbaren Auswirkungen, während es über die möglichen Ursachen schweigt. In der Tat informiert es uns, dass „ das allgemeine Unglück wird unerträglich, sobald es als das erscheint, was es wirklich ist: ohne Grund und Ursache.“ Ohne Ursachen und Gründe? Man sollte keine radikale Kritik am Bestehenden erwarten, etwa eine Mischung aus kommunistischer Kapitalismuskritik und anarchistischer Staatskritik: Das ist altmodisch und sollte vermieden werden, wenn man originell erscheinen will. Die politische Ohnmacht, der ökonomische Bankrott und der soziale Verfall dieser Zivilisation werden zwar bezeugt, aber immer nur von innen gesehen. Ohne Enttäuschung für das, was ist, aber auch ohne jeden Anstoß für das, was sein könnte. Deshalb wurde Der kommende Aufstand in Form einer Editions-Ware geboren und ist so konzipiert und geschrieben, dass er das „große Publikum“ erreicht. Und das „große Publikum“ besteht aus Zuschauern, die gierig nach Emotionen sind, die sie an Ort und Stelle und im Verlauf von Situationen konsumieren können, und ist widerspenstig gegenüber Ideen, die einem ganzen Leben einen Sinn geben können. Wenn man das „große Publikum“ verführen will, muss man ihm einfache Bilder anbieten, in denen es sich ohne allzu große Anstrengung spiegeln kann (wie die unvergleichlichen italienischen Übersetzer süffisant erklären, „ohne Versprechen auf Verständnis, das am Ende von wer weiß wie vielen Interpretationen erreicht wird“). Es ist fast banal zu erwähnen, dass der Geist von Guy Debord den gesamten Text heimsucht, der stellenweise auch an Fight Club erinnert. Ja, der berühmte Film nach dem Roman von Chuck Palahniuk, der für seinen „harten, innovativen, nihilistischen Stil“ bekannt ist. Das Unsichtbare Komitee erinnert uns an Edward Norton, der mit einem Ikea-Katalog in der Hand auf der Toilette sitzt und kurz davor ist, zu explodieren und sich in einen wilden Brad Pritt zu verwandeln. Dieselbe „Schizophrenie“, dieselben Phrasen, die aus nächster Nähe abgefeuert werden.
– Dies ist dein Leben, und es endet von Minute zu Minute.
– Nach dem Kampf wird alles in deinem Leben leißer … du kannst es nachher mit allem aufnehmen!
– Es war direkt vor jedermanns Nase, Tyler und ich haben es einfach sichtbar gemacht. Es lag jedem auf der Zunge, Tyler und ich gaben ihm einfach einen Namen.
– Mord, Verbrechen, Armut, das sind Dinge, die mir keine Sorgen bereiten. Was mir Sorgen bereitet, sind Promi-zeitschriften, Fernsehen mit fünfhundert Kanälen, der Name eines Mannes auf meiner Unterwäsche, Rogaine, Viagra, Olestra.
– Erst wenn wir alles verloren haben, sind wir frei zu handeln.
– Wir sind die verfluchten Kinder der Geschichte, entwurzelt und ziellos. Wir haben weder einen großen Krieg noch die große Depression erlebt. Unser großer Krieg ist der geistige Krieg, unsere große Depression ist unser Leben.
– Wir sind mit dem Fernsehen aufgewachsen, das uns davon überzeugt hat, dass wir eines Tages Millionäre, Filmlegenden oder Rockstars werden würden. Aber es ist nicht passiert. Und das wird uns langsam bewusst, was uns sehr sauer macht.
– Ihr seid nicht euer Job, ihr seid nicht euer Girokonto, ihr seid nicht das Auto, das ihr besitzt, ihr seid nicht der Inhalt eurer Brieftasche, ihr seid nicht eure Designerklamotten, ihr seid die singende, tanzende Scheiße der Welt!
– Warum diese Gebäude, warum diese Kreditkartenfirmen? Wenn die Schuldenquote eliminiert wird, gehen wir alle zurück auf Null. Es wird ein totales Chaos verursachen.8
…. Und so weiter bis zum Untergang der Metropole.
In diesem ästhetisch-nihilistischen Klima stellt Der kommende Aufstand das Ende des zivilen Zusammenlebens mit der Distanz nach, die sentimentale Liedchen von der Kriegstreiberei des militantesten Rap trennt. Das Ende der Familie zeigt sich in der Atmosphäre von Langeweile und Verlegenheit, die über den rituellen gemeinsamen Mahlzeiten liegt. Das Ende der Ökonomie lässt sich an den Witzen ablesen, die unter den Managern kursieren. Das Ende der Städte hat die Form einer Werbetafel. Am Ende des siebten Kreises ist das Fazit klar: Wie das Duo Norton/Pitt verdient das Unsichtbare Komitee den ganzen Applaus.
Die Tatsache, dass es nicht so schwierig ist, überzeugend zu sein, wenn man nur das tägliche Grauen beschreibt, dem wir alle zum Opfer fallen, spielt keine Rolle. Und wen kümmert es, wenn diese lange Reihe objektiver Beobachtungen hier und da ein paar subjektive Ticks offenbart? Komm schon, sei nicht so pedantisch. Knurrt nicht vor der wiederholten Apologie des kollektiven Wir, begleitet von der drängenden Verachtung des individuellen Ichs. Das Individuum, das bereits als Inspiration für den Reebok abgetan wurde, wird dann als Synonym für „Identität“, „Problem“, „Zwangsjacke“ herausgeschmuggelt. Angehende Hirten sonnen sich gerne im Gestank der Herde. Alles, was sie brauchen, um glücklich zu sein, ist die Beschwörung einer Straßengang oder eines politischen Kollektivs mit ihren Anhängern, die kämpfen und marschieren, um die mafiöser Kontrolle über das „Territorium“ zu erpressen. Die Einzigartigkeit ist abzulehnen, weil sie keinen Handlungsspielraum schafft. Der Nullpunkt des Bewusstseins ist die Stille, in der die Slogans am lautesten ertönen, das weiße Papier, auf dem die Aufrufe zum Mitmachen gedruckt sind.
Man sollte auch nicht die Stirn runzeln angesichts der byzantinischen Unterscheidung zwischen der Politik und dem Politiker, angesichts des verzweifelten Versuchs, zu retten, was zu retten ist, nachdem man erkannt hat, dass man Schiffbruch erlitten hat. Das Feuer, das jede Forderung verbrennt, hat ebenso wie die Wut, die jede zivilisierte Konfrontation scheut, sicherlich eine politische Bedeutung. Aber für wen? Nicht für die anonymen Aufständischen, die Tabula Rasa machen und einfach ihren Wünschen freien Lauf lassen wollen. Jedes politische Anliegen gehört nur dem „staatlichen biomechanischen Apparat“. Und schnaubt nicht über die Wiederholung dialektischer Spielchen, über unvermeidlich ineinandergreifende Spiele, die die Abfolge der Ereignisse zu einem gut geölten Mechanismus machen (wenn für Marx und Engels „die Bourgeoisie die Waffen hergestellt hat, die ihren Tod verursachen“9, so produziert für das Unsichtbare Komitee „die Metropole (…) die Mittel ihrer eigenen Zerstörung.“). Wenn dich das alles an etwas Altes und Düsteres erinnert, dann nur, weil du von alten und düsteren ideologischen Vorurteilen durchdrungen bist.
Das Unsichtbare Komitee ist sich der Tatsache bewusst, dass „entledigen uns nicht von dem, was uns fesselt, ohne gleichzeitig das zu verlieren, worauf sich unsere Kräfte ausüben könnten “, und hält daher eine sorgfältige Distanz zu jeder irreduziblen Andersartigkeit. Es ist besser, die „Sezession“ nicht zu übertreiben, besser, sie bleibt „politisch“. Diese Gesellschaft sei unbewohnbar geworden, heißt es immer wieder, aber erst nachdem man festgestellt hat, dass sie ihre Versprechen nicht einhält. Man fragt sich: Was sonst? Wer weiß, wenn wir nicht, „unserer Sprache enteignet durch die Schule (wurden)“, oder „unserer Lieder durch die Hitparade “, oder „unserer Stadt durch die Polizei“… vielleicht wären wir immer noch glücklich, in unserer eigenen Welt zu leben. Während wir darauf warten, etwas wiederzuerlangen, was wir nie hatten, können wir leben und kämpfen, indem wir unsere Eltern ausnutzen („Aus dem, was es an Unbedingtem in verwandtschaftlichen Verbindungen gibt, beabsichtigen wir das Gerüst für eine politische Solidarität zu errichten, die für den staatlichen Zugriff so undurchdringbar ist wie ein Zigeunerlager. Sogar in den endlosen Subventionen, die viele Eltern ihrem proletarisierten Nachwuchs zu zahlen gezwungen sind, gibt es nichts, was nicht zu einer Art Mäzenentum für die soziale Subversion werden könnte.“), oder vielleicht durch die Teilnahme an der Wahlmesse10 („Diejenigen, die noch wählen, scheinen dies nur noch mit der Absicht zu tun, die Urnen durch pure Proteststimmen hochgehen zu lassen. Man fängt an zu erraten, dass gegen die Wahlen selbst weiter gewählt wird.“). Diese radikalen Philosophen, was für Spaßvögel! So sehr, dass sie die konformistischsten ihrer Leser misshandeln, indem sie sie mit der Beschwörung der Feuer des Winters 2005 erschrecken, sie mit der Apologetik der Vorstadt-Lumpen bedrohen, sie mit der Behauptung der praktischen Nutzlosigkeit des Staates überraschen und sie sogar beschuldigen, das Leben der Armen zu beneiden.
Wohin soll das alles führen? Für das Unsichtbaren Komitee hat diese Zivilisation nichts mehr zu bieten. Nur, dass es ein Sonnenuntergang ist, der keinen Sonnenaufgang ankündigt. Wie bei allen Formen des Nihilismus – und bekanntlich reizt nichts radikale Philosophen mehr als der Nihilismus – geht die utopische Spannung verloren. Außerhalb dieser Welt gibt es nur diese Welt. Es gibt keine Lösung, keine Zukunft. Alles, was bleibt, ist eine schnell zerfallende Gegenwart, in der man zumindest überleben kann. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn „autonom werden“ für die Schriftgelehrten einfach bedeutet, „lernen, auf der Straße zu kämpfen, sich leere Häuser zu nehmen, nicht zu arbeiten, sich wie verrückt zu lieben und in den Supermärkten zu klauen.“: eben auf das Schlimmste zu verzichten.
Aber dann, was ist mit der Insurrektion? Was soll’s, jetzt hast du’s kapiert. Nach der Beschreibung eines sozialen Unwohlseins ohne Ursache und Grund kommen wir nun zum zweiten Teil, in dem eine Insurrektion ohne Inhalt angekündigt wird. Auch hier gibt es von Anfang an eine Annäherung, die gut genug ist, um alle Gaumen zu befriedigen. Eine Insurrektion, beginnt das Unsichtbare Komitee, „wir können uns nicht mal mehr vorstellen, wo er beginnt“. Von einem Aufstand – es wurde mit Irritation darauf hingewiesen. Naaah, zu präzise. Es ist besser, die Angelegenheit in der Schwebe zu lassen, um möglichst viele Neugierige anzulocken und die Punkte zu vermeiden, an denen sich die Gemüter normalerweise scheiden. Denkst du, dass die Beziehungen zwischen Subversiven auf Affinität (d.h. auf einem etablierten Austausch von allgemeinen Perspektiven und Ideen) oder eher auf Zuneigung (d.h. auf einem momentanen Austausch von bestimmten Situationen und Gefühlen) basieren sollten? Keine Angst, das Unsichtbare Komitee braucht nur einen akrobatischen Sprung, um das Hindernis nonchalant zu überwinden und sich über eine sensationelle Überschneidung zu schwingen („Man hat uns an eine neutrale Idee der Freundschaft gewöhnt, wie reine Zuneigung ohne Konsequenzen. Aber jegliche Affinität ist Affinität in einer gemeinsamen Wahrheit.“). Der Trick ist einfach. Anstatt von individuellen Wünschen auszugehen, die notwendigerweise vielfältig und unterschiedlich sind, genügt es, von sozialen Zusammenhängen auszugehen, die leicht als gemeinsam wahrgenommen werden. Das Unsichtbare Komitee mag keine Ideen, die wir besitzen, es bevorzugt Wahrheiten, die uns besitzen: „Eine Wahrheit ist nicht eine Sicht auf die Welt, sondern das, was uns auf unreduzierbare Art mit ihr verbunden hält. Eine Wahrheit ist nichts, was man besitzt, sondern etwas, das einen trägt.“ Die Wahrheit ist äußerlich und objektiv, eindeutig und unbestreitbar. Das bevorstehende Ende der Welt um uns herum, zum Beispiel (wobei eine mögliche künstliche Verlängerung dieses Leidens ignoriert wird). Es genügt, das Gefühl dieser Wahrheit zu teilen, um sich selbst in Plattitüden wie „entsprechend muss man sich organisieren“ wiederzufinden. Brecht nicht den Bann. Nehmt diese Wahrheit als gegeben hin, dass die Sackgasse der sozialen Ordnung eine Autobahn zur Insurrektion ist, und wagt nicht zu fragen: Wie organisieren? Um was zu tun? Mit wem? Und warum?
Gehörst du zu denjenigen, die glauben, dass die Zerstörung der alten Welt unvermeidlich und die Vorstufe zu einer echten sozialen Umgestaltung ist? Oder bist du vielleicht davon überzeugt, dass es durch die unmittelbare Entstehung neuer Lebensformen gelingen wird, die alten autoritären Modelle zu entmachten, so dass eine direkte Konfrontation mit der Macht überflüssig wird? Kein Problem, denn das Unsichtbare Komitee ist wieder einmal in der Lage, mit dem Finger in der Wunde, Spannungen zu versöhnen, die schon immer gegensätzlich waren. Es hofft auf „eine Vielfalt von Kommunen, welche die Institutionen des Staates ersetzen würden: die Familie, die Schule, die Gewerkschaft, den Sportverein, etc..“, und stellt die Theorie auf, „die Anonymität, in die wir abgeschoben wurden, zu unserem Vorteil zu wenden und daraus, mittels der Verschwörung, der nächtlichen oder vermummten Aktion, eine unangreifbare Position des Angriffs zu machen“. Die fehlende Peinlichkeit der Schriftgelehrten, die die Evidenz begründen, ist peinlich. Es stimmt, dass die Geschichte der revolutionären Bewegung ein unermessliches Arsenal ist, theoretisch und praktisch, das es zu plündern gilt. Aber die Leichtigkeit, mit der sie jahrhundertealte Knoten auflösen, ist erstaunlich, weil sie die Frucht einer so groben Manipulation ist. Beobachten wir, wie sie den Begriff „Kommune“ in einen ideologischen Universalschlüssel verwandeln, der ihnen alle Türen öffnen kann. Um Unterstützung aus dem ganzen bunten Feld der Unzufriedenen zu gewinnen, sowohl unter den Feinden dieser Welt (für die die Kommune ein Synonym für das aufständische Paris von 1871 ist) als auch unter den Alternativen zu dieser Welt (für die die Kommune die glückliche Oase in der Wüste des Kapitalismus ist), machen sie sich selbst zu Sängern einer „Kommune“, die sie überall sehen: „Jeder wilde Streik ist eine Kommune, jedes kollektiv besetzte Haus, das auf einer klaren Basis steht, ist eine Kommune, die Aktionskomitees von 68 waren Kommunen, so wie es die Cimarrones geflohener Sklaven in den Vereinigten Staaten waren, oder Radio Alice in Bologna im Jahre 1977“. Und was noch? „Die Kommune ist die elementare Einheit der Realität der Partisanen. Eine aufständische Erhebung ist vielleicht nichts anderes als eine Vervielfachung der Kommunen, ihrer Verbindungen und ihres Zusammenspiels. Im Lauf der Ereignisse verschmelzen die Kommunen zu größeren Einheiten oder splittern sich auf. Zwischen einer Bande von Brüdern und Schwestern, verbunden »auf Leben und Tod«, und der Zusammenkunft einer Vielzahl von Gruppen, Komitees und Banden um die Versorgung und Selbstverteidigung eines Stadtteils, oder sogar einer aufständischen Region, gibt es nur einen Unterschied im Umfang, sie sind ununterscheidbar Kommunen.“ Natürlich sind alle Kühe gleich grau.
Es ist unglaublich, sich daran erinnern zu müssen, dass die Debatte über das Verhältnis zwischen revolutionärem Bruch und dem Experimentieren mit alternativen Lebensformen zu dem von den herrschenden sozialen Verhältnissen auferlegten einzigen Modell mindestens bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zurückreicht. In Italien manifestierte sie sich vor allem in den Diskussionen um die Kolonie Cecilia, während sie in Frankreich in den existenziellen Entscheidungen zweier Brüder, Emile und Fortuné Henry, zum Ausdruck kam (entschuldigung, aber jeder hat seine eigene Geschichte zu erzählen. Anders als das Unsichtbare Komitee denken wir an Anarchisten). Der erste der Brüder, der die Worte von Alexander Herzen „Wir bauen nicht auf, wir zerstören; wir verkünden keine neuen Enthüllungen, wir zerstören alte Lügen“ beherzigte, ging nach einigen Bombenanschlägen an den Galgen; der zweite gründete die Kolonie Aiglemont. Die Ausdrücke der Frage sind seitdem fast unverändert geblieben: Kann eine neue Lebensform nur während insurrektionlistischer Brüche entstehen oder auch außerhalb davon? Sind es die Barrikaden, die das Unmögliche möglich machen, indem sie jahrhundertealte Gewohnheiten, Vorurteile und Verbote außer Kraft setzen, oder kann dieses Unmögliche täglich am Rande der herrschenden Entfremdung ausgekostet und genährt werden?
Das Unsichtbare Komitee ist wie die Tugend: Es ist immer in der Mitte. Wie die heutigen Verfechter der „nicht-staatlichen Öffentlichkeit“ (von den arrogantesten anarchistischen Militanten bis hin zu den gerissensten „disobbedienti“ Negrianern11) behauptet es, dass „indem sie der staatlichen Kartographie ihre eigene Geographie aufzwingt, sie verschwimmen lässt, sie löscht, produziert die lokale Selbstorganisierung ihre eigene Sezession“. Doch während die ersten in der fortschreitenden Verbreitung von Erfahrungen der Selbstorganisation eine Alternative zur insurrektionalen Hypothese sehen, schlägt das Unsichtbare Komitee eine strategische Integration von Wegen vor, die bis jetzt als getrennt betrachtet wurden. Nicht mehr die Sabotage oder der Gemüsegarten, sondern Sabotage und der Gemüsegarten. Tagsüber pflanzen sie Kartoffeln, nachts fällen sie Strommasten. Die Tagesaktivität wird mit der Erfordernis gerechtfertigt, nicht von den Leistungen abhängig zu sein, die heute vom Markt und vom Staat erbracht werden, und somit eine gewisse materielle Autonomie zu gewährleisten („Wie können wir uns ernähren, wenn alles lahmgelegt ist? Die Geschäfte zu plündern, wie dies in Argentinien gemacht wurde, hat seine Grenzen“), die nächtliche durch die Erfordernis, den Fluss der Macht zu unterbrechen („Die erste Geste, damit etwas mitten in der Metropole hervorbrechen kann, damit sich andere Möglichkeiten eröffnen, besteht darin ihr Perpetuum Mobile zu stoppen.“). Mitgerissen vom Enthusiasmus für diese brillante Kombination, die noch nie zuvor in den Köpfen eines Revolutionärs aufgetaucht war, fragen sich die Schreiber, nachdem sie vorgeschrieben haben, dass „Die sich ausbreitende Bewegung der Bildung von Kommunen muss diejenige der Metropole unterirdisch überholen.“: „Warum können sich die Kommunen nicht ins Unendliche vermehren? In jeder Fabrik, in jeder Straße, in jedem Dorf, in jeder Schule. Endlich die Herrschaft der Basiskomitees!“. Die Antwort auf diese Frage ist am 11. November 2008 in Tarnac leicht zu erkennen: Die kommende Polizei. Ohne jegliche Originalität greift das Unsichtbare Komitee die alte, in den 1970er Jahren aktive Illusion einer „bewaffneten Kommune“ wieder auf, d.h. einer Kommune, die sich nicht in der Verteidigung ihres eigenen befreiten Raums verschanzt, sondern zum Angriff auf die anderen Räume übergeht, die in den Händen der Macht bleiben. Dies ist jedoch aus mindestens zwei Gründen nicht machbar.
Der erste ist, dass eine Kommune außerhalb eines insurrektionalistischen Kontextes in einem der Zwischenräume lebt, die die Herrschaft leer lässt. Ihr Überleben hängt von ihrer Harmlosigkeit12 ab. Solange es darum geht, Zucchini in Biogärten anzubauen, Mahlzeiten in Voküs zuzubereiten, Kranke in selbstverwalteten Kliniken zu behandeln, ist alles gut. Manchmal braucht man jemanden, der die Unzulänglichkeiten der sozialen Dienste ausgleicht. Schließlich ist ein Parkplatz für Randgruppen/Marginalisierte abseits der glitzernden Schaufenster des Stadtzentrums praktisch. Aber sobald man sich auf die Suche nach dem Feind macht, ändert sich alles. Früher oder später klopft die Polizei an die Tür und die Kommune endet oder wird zumindest kleiner. So viel zum Thema „Synchronisierung“ der Metropole! Alle Kommunen, die das Bestehende angegriffen haben, waren nur von kurzer Dauer.
Der andere Grund, warum der Versuch, „bewaffnete Kommunen“ außerhalb einer Insurrektion zu verallgemeinern, vergeblich ist, sind die materiellen Schwierigkeiten, mit denen sich solche Erfahrungen konfrontiert sehen, die in der Regel eine Unzahl von Problemen vor sich herschieben, begleitet von einem chronischen Mangel an Ressourcen. Da nur einige wenige Privilegierte in der Lage sind, jedes Problem so schnell zu lösen wie das Ausstellen eines Schecks (oder dessen Unterzeichnung durch die Mamas und Papas der Subversion), sind die Teilnehmer der Kommune fast immer gezwungen, ihre gesamte Zeit und Energie für das interne „Funktionieren“ der Kommune aufzuwenden. Kurz gesagt, um in der Metapher zu bleiben, neigt einerseits die Tagesaktivität mit ihren Anforderungen dazu, alle Kräfte zu Lasten der Nachtaktivität zu absorbieren; andererseits neigt die Nachtaktivität mit ihren Folgen dazu, die Tagesaktivität zu gefährden. Am Ende prallen diese beiden Spannungen aufeinander. Als Fortuné Henry eine intensive Propagandatätigkeit begann, die dazu führte, dass er nicht mehr in Aiglemont war, sah er sein soziales Experiment in kürzester Zeit scheitern (und niemand bedauerte es). Die französischen illegalistischen Anarchisten des frühen 20. Jahrhunderts hatten in der Kolonie Romanville gelebt, aber erst nach dem Scheitern dieses Gemeinschaftsversuchs und ihrer Rückkehr nach Paris wurden sie zu den „Autobanditen“.
Um es klar zu sagen. Damit soll die Wichtigkeit und der Wert solcher Experimente nicht negiert werden. Es bedeutet nur, sie nicht mit einer Bedeutung und Tragweite zu überladen, die sie nicht haben können. Malatesta formulierte 1913: „Wir haben nichts dagegen einzuwenden, dass einige Gefährten versuchen, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es wollen, und das Beste aus den Umständen zu machen, in denen sie sich befinden. Aber wir protestieren, wenn Lebensweisen, die nur Anpassungen an das gegenwärtige System sind und sein können, als anarchistisch dargestellt werden und, schlimmer noch, als Mittel zur Umgestaltung der Gesellschaft, ohne auf die Revolution zurückzugreifen.“ Ein In-vitro-Experiment, das begrenzt und umgrenzt ist, kann sicherlich gute Hinweise liefern und unter bestimmten Umständen mehr als nützlich sein, aber es stellt an sich keine Befreiung dar.
Das Konzept der Kommune auf alle rebellischen Manifestationen auszudehnen und ihre Summe mit einer Insurrektion gleichzusetzen, wie es das Unsichtbare Komitee tut, ist ein instrumenteller Trick, um das Problem zu umgehen und seinen Werbeslogan überall durchzusetzen. Wenn die Summe der subversiven Praktiken die Insurrektion ist, dann ist diese überhaupt nicht im Kommen: Sie ist schon da, sie war schon immer da. Hast du sie noch nicht bemerkt? Statt einer Feststellung, die Freude verbreitet, scheint sie uns ein Trost zu sein, der Selbstgefälligkeit verbreitet. Im rhetorischen Jargon könnte man es vielleicht als Metonymie bezeichnen, wobei ich mich für die Trivialität entschuldige. Laienhaft ausgedrückt, ein Austausch von Begriffen wie der, der darin besteht, den Namen der Ursache für den der Wirkung, das Behältnis für den Inhalt, das Material für das Objekt zu verwenden…. Diese Verwirrung ist für das Unsichtbare Komitee nützlich, denn sie erlaubt es ihm, sowohl denjenigen zu schmeicheln, die auf die Befriedigung alltäglicher Bedürfnisse abzielen, als auch denjenigen, die utopische Wünsche verwirklichen wollen ( „Schlussendlich hätte man die Wut nie von der Politik lösen sollen.“), sowohl diejenigen zu umschmeicheln, die sich dem „die Biologie des Plankton (…) zu verstehen“ verschrieben haben, als auch diejenigen, die Probleme haben wie „Wie können eine TGV-Linie oder ein Stromnetz unbrauchbar gemacht werden? Wie können die Schwachstellen der Computer-Netzwerke gefunden, wie die Radiofrequenzen gestört und die Flimmerkiste wieder zum Rauschen gebracht werden?“ Indem das Unsichtbare Komitee mit seinem praktischen Wesen prahlt – ein nobles Ziel, dem sich niemand zu widersetzen wagt – überspielt es alle Fragen, die zu Unstimmigkeiten führen könnten, und reibt sich die Hände über die „politische Fruchtbarkeit“, die es erreicht hat. Es wettert lautstark gegen diese Zivilisation und sagt kein Wort darüber, wofür es kämpft. Das praktische Ergebnis dieser Haltung? „Wir haben die Feindschaft gegenüber der Zivilisation, um weltweit Solidaritäten und Fronten aufzuspüren.“ Wäre die Feindseligkeit gegenüber dieser Zivilisation nämlich von der Leidenschaft für eine Existenz frei von jeglicher Form von Herrschaft begleitet, wären all diese gemeinsamen Fronten nicht möglich: Wer würde schon ein Bündnis mit einem Konkurrenten der Macht eingehen?
Wenn nicht mal das Warum, das Was, geschweige denn das Wie ausgedrückt wird! Auch hier wird das Vermeiden in ein stilistisches Gewand gekleidet: „Geht es darum, über Aktionen zu entscheiden, so könnte das Prinzip lauten: Jeder holt eigene Erkundungen ein, die Übereinstimmung der Nachrichten wird geprüft, und die Entscheidung wird von alleine kommen, ergreift uns mehr, als wir sie ergreifen.“ Es ergibt also keinen Sinn, Zeit mit langwierigen Debatten über die zu wählende Methode und das zu verfolgende Ziel zu vergeuden, die leider zu Meinungsverschiedenheiten führen: Lasst uns alle umherwandern und die Entscheidung wird sich von selbst ergeben. Schön, strahlend und gültig für alle. Wenn du dann etwas Klarheit brauchst, sieh dir ihre historischen Referenzen an und lass deiner Fantasie freien Lauf. Auch wenn es heißt: „Das Feuer von November 2005 bietet dafür das Vorbild“, scheint die Aktion, die den Schreibern vorschwebt, eher die einer von Blanqui angeführten Black Panther Party zu sein. Wenn du denkst, dass sie einem avantgardistischen, autoritären Mischmasch ähnelt, dann bist du hoffnungslos alt und überholt/ausrangiert. Da du dich nicht mit flüchtigen Qualitäten wie der „Dichte“ der Beziehungen oder dem „Geist“ der Gemeinschaft zufrieden geben kannst, wirst du die literarische Beschreibung dessen, was bei einer Insurrektion passieren könnte, mit der das Buch endet, vielleicht sogar als ekelerregend empfinden! Wir haben bereits auf die mangelnde Präzision hingewiesen, mit der dieser Text verfasst ist, was keineswegs sein Hauptmanko, seine schwache Seite ist, wie einige in ihrer Rezension behauptet haben. Im Gegenteil, es scheint seine Stärke zu sein. Der kommende Aufstand ist auf der Höhe der Zeit und absolut zeitgemäß. Er besitzt die begehrtesten Eigenschaften des Augenblicks, er ist flexibel und elastisch, er passt sich allen Umständen (im subversiven Milieu) an. Er präsentiert sich gut, hat Stil und spricht jeden an, weil er es jedem ein bisschen recht macht, ohne dass es jemandem bis zum Ende missfällt. Unter diesem Gesichtspunkt ist es ein ausgesprochen politisches Buch.
Abschließend noch ein paar Worte zu dem Kontext, aus dem dieses Buch stammt. Frankreich ist bekanntlich das Vaterland der Revolution und der Liebe. Aber auch der kulturellen Avantgarde. Das Futuristische Manifest, das als Ahnherr der Avantgarde gilt, wurde dort veröffentlicht; die Situationistische Internationale, die als deren letzter Ausdruck gilt, war dort aktiv. Das Unsichtbare Komitee ist der Nekromant dieser fauligen Tradition, die revolutionäre Spannungen und die Einnahme von Lebensmittelverkäufen miteinander verbinden möchte (indem es die Ersteren in den Dienst der Letzteren stellt). Wie seine Vorgänger macht es lediglich Themen publik, die schon immer von Einzelpersonen und Gruppen fernab und im Schutz der kulturellen und politischen Bühne behandelt wurden. Nachdem es aus den unterschiedlichsten Quellen des revolutionären Erbes geschöpft und die einzelnen Elemente gut miteinander vermischt hat, runzelt es die Stirn, als es diese schillernde subversive Mischung einem Publikum von Konsumenten von radikalem Nervenkitzel präsentiert und sich seiner Originalität rühmt. Das Unsichtbare Komitee ist zwar über die Widersprüche aufgeklärt, in die sich seine Väter/Paten verstrickt haben, folgt ihnen aber sowohl in der Tat als auch im Wort. Das Ergebnis ist ein Text, der von einem kommerziellen Verlag veröffentlicht wird, der aber gleichzeitig vor „kulturellen Milieus“ warnt, deren Aufgabe es ist, „alle aufkeimenden Intensitäten aufzuspüren und den Sinn dessen, was Ihr tut, zu unterschlagen“. Einerseits wird es von der FNAC13 zum Buch des Monats gewählt, andererseits warnt es, dass „die Literatur ist in Frankreich der Raum, den man selbstherrlich zur Unterhaltung der Kastrierten zugelassen hat. Sie ist die formelle Freiheit, die denen gewährt wurde, die sich nicht an die Nichtigkeit ihrer realen Freiheit gewöhnen“. Aber wie bereits erwähnt, braucht eine revolutionäre Bewegung, die von dem Wunsch beseelt ist, einen Bruch mit der bestehenden Ordnung zu erreichen, keine Bestätigung der sozialen Ordnung, die sie kritisiert. Überlassen wir den Opportunisten aller Couleur die Heuchelei, das, was in Wirklichkeit Kollaboration ist, als rücksichtsloses Eindringen in Feindesland zu bezeichnen. Es ist eine seltsame Idee der Abspaltung und der Autonomie von den Institutionen, die empfiehlt, einen Fuß in sie zu setzen und ohne zu zögern an ihr teilzunehmen.
Wir sind uns darüber im Klaren, dass die Fans dieses Buches Grund zur Freude haben: Nachdem die US-Ausgabe, die von Semiotext(e), einem auf poststrukturalistische französische Theorie spezialisierten Verlag, gedruckt wurde, von M.I.T. Press vertrieben wird (zum Preis von nur 12,95 $), verspricht der Erfolg dieses Buches planetarisch zu werden. Und worauf ist dieser Erfolg zurückzuführen? Trotz der Assonanzen, die darin zu finden sind, ist Der kommende Aufstand, in die Schaufenstern aller Buchhandlungen kommend, nur die Karikatur und Kommodifizierung14 jener Insurrektion, die sie alle zerschlagen könnte.
[aus Machete Nr. 5, November 2009].
1A.d.Ü., im Falle von Sol dell’Avvenire, handelt es sich um einen italienischen Dokumentarfilm aus dem Jahr 2008, über ehemalige Mitglieder der Roten Brigade und deren Geschichte, Erinnerungen, etc.
2A.d.Ü., L’Insurrection qui vient
3Anmerkung aus der englischen Übersetzung, „in dem Material was ich auf Englisch gelesen habe, ist der französische Innenminister soweit gegangen es als ein „Handbuch des Terrorismus“ zu bezeichnen.
4A.d.Ü., hier handelt es sich um eine sozialdemokratische Tageszeitung aus Frankreich.
5A.d.Ü., Prositu oder Pro-situ ist ein Begriff der eine Nähe zu den Situationistischen Internationale verkündet, kann sowohl negativ, wie positiv, verwendet werden.
6A.d.Ü., jeder kennt die Ausdrücke Salonkommunisten oder Salonanarchistin, also jene die anstatt die Revolution machen, nur darüber reden und sich selbst gerne zuhören, in diesem Falle führen die Autoren einen Neologismus ein und präsentieren eine ähnliche parasitäre Figur, nämlich den „barricaderi da salotto“, also den Salonbarrikadisten.
7Das größte Verlagshaus Italiens, das wiederum große, über das ganze Land verteilte Buchhandlungen besitzt.
8A.d.Ü., alle Zitate aus dem Film selbst.
9A.d.Ü., wir denken dass die Autoren und Autorinnen dieses Textes dies meinten: „Mit der Entwicklung der großen Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst hinweggezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Sie produziert vor allem ihren eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich.“ Karl Marx und Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei
10A.d.Ü., hier handelt es sich um einen Wortspiel, fiera elettorale bedeutet eine Wahlmesse, aber auch eine Wahlbestie, da fiera sowohl Messe, als auch Bestie bedeutet.
11A.d.Ü., gemeint sind die Anhänger und Anhängerinnen von Toni Negri.
12A.d.Ü., im Originaltext wird der Begriff inoffensività verwendet, was als nicht-offensiv auch verstanden werden sollte.
13A.d.Ü., FNAC ist eine große Kette von Buchhandlungen.
14A.d.Ü., zur Ware werden.
Zur Erinnerung, in der Nacht vom 12. zum 13. Mai wurden in Bologna (Italien) 12 Personen verhaftet. Sie wurden beschuldigt, unter anderem, teil einer „Subversiven Vereinigung“ zu sein.
Eine Woche später entschied ein Gericht die Anklagen und die Haftsituation (in diesem Fall U-Haft, Hausarrest, oder das Verlassen der Stadt in der man wohnt) zu verringern, hier jetzt ein Reihe von Texten zu diesem Fall. Sie sind nicht chronologisch. Die Übersetzungen sind von uns.
Operation „Ritrovo“, Entlassung der Verhafteten: hunderte auf der Demonstration
Quelle: https://www.zic.it/
Die gestrige Entscheidung des Revisionsgerichtes: Die gestrige Entscheidung des Revisionsgerichts: Sie lehnen die subversive Vereinigung mit dem Ziel des Terrorismus oder der Untergrabung der demokratischen Ordnung ab, von 12 Verdächtigen bleiben sechs zur Verplichtung regelmäßig unterschreiben zu müssen. Ebenfalls gestern fand eine Solidaritätsdemonstration von der Piazza VIII Agosto bis zur Bolognina statt.
Die gestrige Entscheidung des Revisionsgerichts: Sie lehnen die subversive Vereinigung mit dem Ziel des Terrorismus oder der Untergrabung der demokratischen Ordnung ab, von 12 Verdächtigen bleiben sechs zur Verplichtung regelmäßig unterschreiben zu müssen. Ebenfalls gestern fand eine Solidaritätsdemonstration von der Piazza VIII Agosto bis zur Bolognina statt.
31. Mai 2020 – 19:39
Die sieben Personen (Duccio, Guido, Zipeppe, Elena, Stefi, Nicole und Leo), die am 13. Mai im Rahmen der Operation „Ritrovo“ verhaftet worden waren, wurden gestern freigelassen: Die von der Staatsanwaltschaft erlassene Anordnung der Untersuchungshaft wurde bei der Überprüfung aufgehoben. Vier der freigelassenen Personen „wurde die Verpflichtung auferlegt, die Nacht von 22 bis 6 Uhr im Gefängnis zu verbringen“.
Dieselbe repressive Maßnahme ohne Unterschriften wurde auch für zwei der anderen fünf Personen beibehalten, die am 13. Mai nicht verhaftet worden waren, da sie nur der Bleibpflicht (obbligo di dimora) unterlagen. Für alle anderen wurden keine Einschränkungen aufrechterhalten. Der Straftatbestand der Brandstiftung mit dem erschwerenden Umstand der Subversion oder des Terrorismus, dessen nur eine Person angeklagt wurde, wurde in „Schaden, gefolgt von Brandstiftung“ umformuliert. Der Vorwurf der „subversiven Assoziierung mit dem Ziel des Terrorismus oder der Untergrabung der demokratischen Ordnung“ wurde zurückgezogen. Der Vorwurf der „Anstiftung zu einer Straftat“, ohne den erschwerenden Umstand des Terrorismus, wurde beibehalten: Es handelt sich um die Aktualisierung, die von der anarchistischen Seite Malacoda verbreitet wird.
Die Entscheidung des Revisionsgerichts erging nur wenige Stunden nach der Solidaritätsdemonstration mit den Gefangenen, die nach der Radtour und der Unterstützungskundgebung vor dem Dozza-Gefängnis am 22. Mai angekündigt worden war. An der gestrigen Demonstration am Nachmittag, für die das Polizeipräsidium einen starken Polizeieinsatz mobilisierte, nahmen mehrere hundert Menschen teil, die von der Plaza VIII de Agosto in Richtung Bolognina gingen. Die Freilassung der Gefangenen „erwärmt unsere Herzen“, ist die Botschaft, die mit der Demonstration eingeleitet wurde.
Hausdurchsuchung bei „il Tribolo“ und Vorsichtsmassnahmen für zwölf Verdächtige wegen subversiver Vereinigung
Quelle: https://www.zic.it/
Sieben Personen wurden in vier verschiedene Gefängnisse gebracht, und fünf weitere mussten unterschreiben. Im Mittelpunkt der Anschuldigungen stand die Verbrennung eines Relais im Dezember 2018 in Monte Donato. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft hätte die Operation jedoch einen „strategisch präventiven Wert“ im Hinblick auf „Momente sozialer Spannungen“ während des Coronavirus-Notstands, wie etwa die Proteste in Dozza.
13. Mai 2020 – 12:30
Heute Abend wurden sieben „Gefährten in Ausführung eines Beschlusses des Gerichts GIP von Bologna Aufgrund des §270bis“ verhaftet, dem Artikel des Strafgesetzbuches, der bis zu zehn Jahre Gefängnis für Vereinigungen mit dem Ziel des Terrorismus oder der Subversion, sie wurdenin den Gefängnissen von Piacenza, Alessandria, Ferrara und Vigevano überstellt. Die Associazione Bianca Guidetti Serra berichtet auf ihrem Facebook-Profil.
Es heißt auch: „Die Häuser und das Tribolo sind durchsucht worden“, der anarchistische Archiv in der Via Donato Creti. Fünf weitere „haben das Urteil der Verpflichtung erhalten, in Bologna zu bleiben und zu unterzeichnen. Auch ihre Häuser wurden durchsucht“. Ihnen werden Anstiftung zu Verbrechen, Beschädigung, Verunstaltung und Brand vorgeworfen.
Die Operation, so die Staatsanwaltschaft, habe „einen strategisch präventiven Wert“, um „zu vermeiden, dass es in späteren Momenten sozialer Spannungen, die durch die gegenwärtige Notsituation verursacht werden“, „andere Momente der ‚Kampagne gegen den Staat‘ allgemeinerer Art geben könnte“, wenn man bedenkt, dass die Verdächtigen „an der Organisation vertraulicher Treffen teilgenommen hatten, um ihre direkte Unterstützung der „Antiknast“- Kampagne anzubieten“, und es wurde bewiesen, dass sie „an den Momenten des Protests“ in Dozza teilgenommen hatten.
Die Staatsanwaltschaft erklärt auch, dass im Zentrum der Untersuchung, genannt „Ritrovo“ (Treffen), ein Angriff stattfindet, der „in der Nacht vom 15. auf den 16. Dezember 2018 gegen einige der Relaisstellen der nationalen und lokalen Fernsehsender“ stattgefunden hätte, die Sprachausrüstung der Polizeifunkverbindungen und die Antennen der Unternehmen, die Audio- und Videoüberwachungsdienste anbieten, „die alle in Bologna in der Via Santa Liberata, Monte Donato, angesiedelt sind“, wo man „die Inschrift gefunden hätte, die auf einer Wand der Struktur geschrieben steht: ‚Schaltet die Antennen aus, weckt das Gewissen in Solidarität mit den verhafteten und bewachten Anarchisten“. Dieses Element soll „von Anfang an auf verschiedene Exponenten des anarchistischen Raums gerichtet gewesen sein, die in Bologna aktiv sind und den Archiv von ‚Il Tribolo‘ verkehren“. Den Staatsanwälten zufolge besteht „ein artikuliertes Netz von Beziehungen zwischen den Verdächtigen und verschiedenen ähnlichen Gruppen, die in verschiedenen Gebieten des Staatsgebietes tätig sind und sich auf die systematische Tätigkeit der Anstiftung zur Kriminalität konzentrieren“, die „auch unter Nutzung von Veröffentlichungen auf Blogs und Websites“ durchgeführt wird, mit dem Ziel, „die Einwanderungspolitik und allgemein die öffentlichen und wirtschaftlichen Institutionen zu behindern, auch durch den Rückgriff auf Gewalt, unter Angabe der zu erreichenden Ziele und der Art und Weise des Vorgehens“. Die Verdächtigen sollen auch „an Momenten des Protests teilgenommen haben, die zu Beschädigungen, Entstellungen und Verunstaltungen von öffentlichen und privaten Orten und unter Umständen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei führten“.
Unter den angeklagten Episoden finden sich auch „die Organisation von öffentlichen Demonstrationen und nicht genehmigten Aufmärschen, um der Eröffnung von Abschiebeknäste entgegenzuwirken und sie zu verhindern“, und darüber hinaus „Schäden an Eigentum und öffentlichen Gebäuden mit bedrohlichen und beleidigenden Aufschriften gegen Institutionen von Kreditinstituten und Geldautomaten“, aber auch „die Schaffung und Verbreitung, auch unter Verwendung von informatischen Hilfsmitteln, Broschüren, Artikeln und Flugblättern mit aufrüttelndem Inhalt, mit dem Ziel, neue Anhänger zusammenzubringen, die sich für ihre ‚Kampfkampagnen‘ engagieren“.
Entschuldigung, hast du mal Feuer?
Quelle: Finimondo
Es war der 26. Februar 2019, als wir nach einer Razzia gegen Anarchisten schrieben:
„Heute, inmitten der Idiotie, wird ein Gedanke („Man kann keine Revolution machen, ohne zu töten“), der unter vier Augen geäußert wird (aber von irgendeinem Mikrofon abgehört wird) und darüber hinaus von anderen, öffentlich benutzt, um die Verhaftung einiger Anarchisten in der Provinz Trient zu rechtfertigen. Schuldig wessen? Jemanden ins eigene Haus zu holen, der eine ganz offensichtliche logische Argumentation laut ausgesprochen hat? Nein, man kann keine Revolution machen, ohne zu töten. Genauso wie man kein Omelett machen kann, ohne Eier zu zerschlagen. Also? Solche Kommentare machen dich nicht zum Mörder oder zum Koch. Eine solche Banalität kann nur als Beweismittel von Bimbiminkia-Ermittlern [aus dem italienischen Jungen und Schwanz] angesehen werden, die von Bimbiminkia-Journalisten auf die Titelseite gesetzt wurden, kann nur Bimbiminkia-Bürger empören. Ein Verbrechen des Denkens, das durch die Kraft der Unwissenheit geschaffen wurde.
Und inwieweit ist der Mensch mit seiner Würde altmodisch, wenn diejenigen, die nichts Geringeres als Gerechtigkeit ausüben wollen, es verdächtig und kriminell finden, ihr Privatleben gegen eine ständige, hartnäckige und schamlose (nicht hypothetische) Neugier verteidigen zu wollen. Es reicht nicht aus, Polizeiarbeit zu leisten, man muss den Kopf und das Herz eines Polizisten haben, um nicht zu verstehen, dass jeder Eingriff in das Privatleben anderer unerträglich ist. Warum gilt 1984 sonst als Roman über eine totalitäre Albtraumgesellschaft? Schließlich waren seine Bewohner frei, dem Regime zu gehorchen; schließlich hatten sie, wenn sie nichts Falsches taten, von dieser unaufhörlichen Überwachung nichts zu befürchten; schließlich brauchten sie, um nicht in Raum 101 zu landen, nur jeder Entscheidung von oben zuzunicken. Wie viel Idiotie ist nötig, um nicht zu verstehen, dass diejenigen, die andere regieren wollen, transparent sein müssen, wenn sie erwarten sollen, dass man an ihre eigenen selbstlosen Absichten glaubt, denn die Transparenz des Verhaltens, die von den Regierten verlangt wird, ist nichts anderes als totalitäre Polizeikontrolle. Es ist wahr, dass unter dem Einfluss täglicher Fernsehsendungen, die gewohnheitsmäßig die Privatsphäre anderer Menschen ausspionieren, und überwältigt von telematischen Ängsten zu teilen, der Schein einer allgegenwärtigen Kontrolle fast als selbstverständlich angesehen wird.
Da alles mit allem anderen verbunden ist, verrottet buchstäblich alles vor unseren Augen und Nasen und macht die Luft tödlich. Politische Kleinlichkeit geht mit sozialem Elend einher, das mit wirtschaftlichem Elend einhergeht, das mit emotionalem Elend einhergeht, das mit ökologischer Verwüstung einhergeht, das mit künstlerischer Mittelmäßigkeit einhergeht, das mit philosophischer Unfähigkeit einhergeht, das mit…
Was ist an diesem Hang, aus der menschlichen Spezies geworden? Das Festhalten an der eigenen menschlichen Antike ist ein süßer Trost, keine große Ermutigung. Widerstand ohne Angriff. Diesen Hang hinaufzuklettern – ja, ihn zu überwinden und den Himmel anzustreben – ist das Mindeste, was man planen und anfangen kann, die Versorgung mit Unwissenheit zu unterbrechen.“
Etwas mehr als ein Jahr ist vergangen. Wir befinden uns nicht mehr nur inmitten von Idiotie, sondern auch inmitten einer erklärten Viruspandemie. Eine tödliche Kombination, da bekannt ist, dass eine der Auswirkungen des Terrors darin besteht, das Denken (dessen, was davon übrig geblieben ist) zu lähmen. Nein, man versucht nicht, den Hang hinaufzuklettern, man steigt immer weiter in den Abgrund hinab – und zwar immer schneller und schneller.
Die allgegenwärtige Kontrolle ist in wenigen Wochen nicht mehr eine einfache Behauptung der Polizei, sondern eine echte rechtlich-sanitäre Maßnahme geworden, die von einem großen Teil der Weltbevölkerung gebilligt und eingeführt wurde, deren ethische Fäulnis zur freiwilligen Selbstausgrenzung, zum Verrat derer, die es wagen, sich im Freien zu sonnen, zum Lynchen der Korridore geführt hat. Wenn die Menschen bis zum letzten Jahrhundert bereit waren, zu kämpfen und zu sterben, um ihre Freiheit zu nehmen und zu verteidigen, so sind sie heute bereit, sie aufzugeben, um zu überleben. Bereit zu akzeptieren, dass sie ihr Zuhause nur verlassen, indem sie sich mit einer schriftlichen Selbstzertifizierung erniedrigen. Bereit, sich in jeder kleinen Bewegung kontrollieren zu lassen. Bereit zu akzeptieren, für jede Ihrer Entscheidungen zur Rechenschaft gezogen zu werden. Bereit zu akzeptieren, von Drohnen überwacht zu werden, von elektronischen Geräten verfolgt zu werden, mit Impfstoffen oder Mikrochips markiert zu werden… Das ist es, was aus der menschlichen Spezies geworden ist.
Daher ist die Nachricht von der x-ten Razzia gegen Anarchisten, die am 14. Mai auf Anordnung der Staatsanwaltschaft von Bologna stattfand, nicht allzu überraschend. Auch diesmal haben es die Ermittler nicht versäumt, schamlose Aufrichtigkeit in Bezug auf ihre Motive an den Tag zu legen. Hatten sie vor einem Jahr noch keine Skrupel zu erklären, dass es für sie ausreicht, wenn jemand anders in Ihrem Haus einen Gedanken äußert, der ihnen nicht gefällt, so beenden sie heute – nachdem sie leise darauf hingewiesen haben, dass nur einer der zwölf Beschuldigten (sieben von ihnen verhaftet) für das konkret verfolgte Hauptverbrechen verantwortlich ist – ihre Pressemitteilung mit diesen Worten: „In diesem Rahmen nimmt die Intervention neben ihrem repressiven Charakter für die angefochtenen Verbrechen einen strategisch präventiven Wert an, der darauf abzielt, zu vermeiden, dass in späteren Momenten sozialer Spannungen, die sich aus der beschriebenen besonderen Notsituation ergeben, andere Momente eines allgemeineren „Feldzugs gegen den Staat“ [sic!] der das Ziel des oben erwähnten anarchischen kriminellen Programms ist“.
Klare und präzise Sprache, wenn auch holzig, wie in alten Zeiten. Es scheint, dass Mussolini in Italien keineswegs der Erfinder der präventiven Verhaftungen war, die von der (künftigen antifaschistischen) Regierung Nitti bereits im Januar 1920 am Vorabend eines Streiks der Eisenbahner durchgeführt worden waren. Die Anstifter wurden aus ihren Häusern entfernt, bevor die Unruhen begannen. Das totalitäre faschistische Regime hat nichts anderes getan, als diese bereits praktizierte Praxis zu wiederholen, auszuweiten und zu festigen, indem es Menschen in die Haft schickte oder die Fanatiker nicht für etwas, das sie begangen hatten, sondern für das, was sie hätten tun können, verhaften ließ. Das gegenwärtige demokratische totalitäre Regime, das bereits alle seine Untertanen unter dem Vorwand einer Epidemie in ihren Häusern eingesperrt hat, muss auf das Gefängnis zurückgreifen, um dieselbe Intervention von anerkanntem „strategisch präventivem Wert“ anzuwenden:
Wenn das soziale Klima das eines Pulverfasses ist, muss jeder, der eine gewisse Leidenschaft für Zündhölzer zeigt, neutralisiert werden. Nicht nach, nicht während, sondern davor, möglicherweise lange bevor das Feuer ausbricht. Schlag auf einigen um viele zu warnen. Punkt, ohne legalistische Tricks oder Pedanterie.
Was soll es für die Macht bedeuten, nach dem Massaker aller minimalen individuellen Freiheiten – und verfassungsmäßigen Rechte durch so viele Proklamationen – unter dem Lob oder dem Verständnis fast aller ihrer Opfer in subversive Kreise einzudringen, um zu unterdrücken, was man ist und was nicht, was getan wurde? Wer soll darüber Bescheid wissen, abgesehen von den Genossen der Gefangenen, ob direkt oder quer dazu? Wer galuben wir soll dabei verärgern, die Bürger, die durch die Maske zum Schweigen gebracht und durch das Desinfektionsmittel geblendet werden? Nun, zumindest hat die Offenheit, die die Ermittler gezeigt haben, einen gewissen Wert. Indem sie ihre Motive erläuterten, zeigten sie auch, was ihre Bedenken sind. Sagen wir, sie haben sie gesehen, erspürt, empfangen… Um sie gründlich kennen zu lernen, wird es notwendig sein, sie genauer zu beobachten, sie zu berühren, sie zu beleuchten. Vielleicht mit einem Streichholz.
[16/5/20]
Zurück zur Normalität: weitere Anarchisten eingesperrt
Quelle: ilrovescio.info/
Heute Abend wurden sieben Gefährten und Gefährtinnen verhaftet und weitere fünf unter der Auflage, Bologna nicht zu verlassen.
Die x-te Untersuchung wegen „subversiver Vereinigung mit dem Ziel des Terrorismus“. Soweit wir es verstehen können, werden diese Gefährten beschuldigt, sich am Kampf gegen die Konzentrationslager der Demokratie (die CPR, Abschiebeknäste) beteiligt zu haben, die Aufstände unterstützt zu haben, die im März in vielen italienischen Gefängnissen ausgebrochen sind, und – für einige von ihnen – 2018 aus Solidarität mit den Gefangenen einen Relais eines Fernsehsender in Brand gesteckt zu haben. Im Radio sprachen sie von „angeblichen Anarchisten“, die eine „antistaatliche Kampagne“ führten. Normalerweise sagen sie in den Schleiern des Polizeipräsidiums Anarchisten und „mutmaßliche Terroristen“ – jetzt implizieren sie, dass der Vorwurf gerade darin besteht, Anarchisten zu sein. Auf der anderen Seite ist es nicht notwendig, dass die ROS eine Untersuchung durchführen, um festzustellen, dass irgendeine Gruppe von Anarchisten antistaatliche Praktiken ausübt.
Nachdem Millionen von Menschen unter Hausarrest gestellt wurden, ist nun, da die Normalität zurückgekehrt ist (für wen?), auch die selektive Repression gegen diejenigen, die verärgern, zurückgekehrt. Gegen diejenigen, die auch während der Zeit der Quarantäne die Rebellen in den Gefängnissen nicht allein lassen wollten. In weniger als zwei Monaten – und während sich die Epidemie in völliger Stille in den Gefängnissen ausbreitet – verabschiedet der Staat das Gesetz an diejenigen, die sich über seine Verbote hinweggesetzt haben. Als Warnung für die Phasen 2, 3, 4… Hinsichtlich des präventiven Charakters dieser Operation könnte die Staatsanwaltschaft von Bologna andererseits nicht expliziter sein: „In diesem Rahmen nimmt die Intervention, zusätzlich zu ihrem repressiven Charakter für die bestrittenen Verbrechen, eine strategische präventive Valenz an, die darauf abzielt, zu vermeiden, dass in möglichen späteren Momenten sozialer Spannungen, die sich aus der oben beschriebenen besonderen Notsituation ergeben, andere Momente einer allgemeineren „Kampagne des Kampfes gegen den Staat“, Gegenstand des erwähnten kriminellen Programms der anarchischen Matrix, stattfinden könnten“. Aber überlassen wir es den Richtern, den Karabinern und den Journalisten, denn wir wollen etwas ganz anderes sagen.
Wir kennen diese Gefährten und Gefährtinnen gut. Sie sind ernsthafte, loyale und großzügige Gefährten. Wir hatten sie in den Kämpfen immer an unserer Seite, und sie standen uns besonders nahe, als uns hier im Trentino der Staat mit der Operation „Renata“ sieben Freunde und Gefährten wegnahm.
Da wir weder Politiker noch Betrüger sind, schämen wir uns nicht, wenn einige unserer Leute verhaftet werden. Nicht nur, weil wir sie lieben und schätzen, sondern weil die Taten, deren sie beschuldigt werden, nur für uns bestimmt sind. Die Verhinderung der Eröffnung oder des Betriebs von CPRs ist fair.
Die Solidarität mit denen, die in den Gefängnissen rebellieren, ist fair (der einzige Vorwurf, wenn überhaupt, wäre, nicht genug getan zu haben). Die Sabotage der Mittel, die zur sozialen Konditionierung eingesetzt werden, ist gerecht, und vielleicht werden jetzt, nachdem wir erfahren haben, wie weit Staat und Technokraten bei der Massenüberwachung gehen können, ein paar mehr Menschen in der Lage sein, die Bedeutung bestimmter Handlungen zu verstehen.
Für uns sind diese Verhaftungen ein Grund mehr, der Normalität, dem Elend und den Ungerechtigkeiten, die es zulässt und verbirgt, den Krieg zu erklären. Unsere schönsten Beziehungen sind unsere beste Waffe.
Elena, Guido, Zipeppe, Nicole, Duccio, Stefi, Leo, Martino, Emma, Tommi, Otta, Angelo frei!
13. Mai 2020
Anarchisten von Trient und Rovereto
KÖNNTE JEDEN TREFFEN: HANDELN WIRD ZUR SELBSTVERTEIDIGUNG
Solidaritäts- und Widerstandskasten
Quelle: nofrontierefvg.noblogs.org
Am Mittwoch, dem 13. Mai, wurden im Rahmen der von der Staatsanwaltschaft Bologna koordinierten Operation „Ritrovo“ mehrere Personen zwischen Bologna, Florenz und Mailand angeklagt: 7 von ihnen befinden sich ohne Gerichtsverfahren in Untersuchungshaft, 4 weitere haben alternative Vorsichtsmassnahmen erhalten. Dies sind Gefährten und Gefährtinnen, die sich wie wir gegen Grenzen und CPR [Abschiebeknäste] stellen und glauben, dass wir durch Aktionen eine Welt der Solidarität schaffen können, ohne noch mehr unterdrückte und ausgebeutete Menschen.
Im Tribolo, einem von der Operation ins Visier genommenen Raum in Bologna, wo wir, wie an vielen anderen Orten auch, Gefährten treffen konnten, die im Kampf gegen die CPRin anderen Städten aktiv sind.
Die repressive Operation, die zu den Vorsichtsmaßnahmen geführt hat, die von der ROS (!) und dem Antiterror-Ankläger von Bologna (!!) durchgeführt wurden, ist grauenhaft, von einer beispiellosen Offenheit und gefährlich für die Freiheit eines jeden Einzelnen.
Sie ist abscheulich, weil sie Antiterrorgesetze benutzt, um die Gesellschaft zu terrorisieren, und jeden kriminalisiert, der versucht, auf Ungerechtigkeit zu reagieren. Es ist der fünfte Versuch innerhalb von etwas mehr als einem Jahr, sich unter der überwältigenden 270bis CP (Vereinigung zum Zwecke des Terrorismus oder der Subversion) zusammenzuschließen, die nun mit beunruhigender Leichtigkeit auf Initiativen, Demonstrationen, Verbreitung von Kritik und Aktionen angewandt wird. Solidarität und Unterstützung für letztere mit Beständigkeit und Entschlossenheit zu praktizieren, ist Grund genug geworden, dem „Terrorismus“ beschuldigt zu werden: Jeder, der konsequente Praktiken bei gleichzeitiger radikaler Kritik am Bestehenden praktiziert, wird nun beschuldigt.
Den Gefährten und Gefährtinnen wird u.a. vorgeworfen, „sich der Einwanderungspolitik, auch unter Anwendung von Gewalt, zu widersetzen“, Aktionen durchzuführen, die darauf abzielen, „sich der Eröffnung ständiger Zentren [A.d.Ü., wir nehmen an dass hiermit Aufnahmezentren für Flüchtlinge gemeint sind] für die Rückführung zu widersetzen und sie zu verhindern“: aber wir wissen sehr gut, dass diejenigen, die wirklich Gewalt und Terrorismus praktizieren, diejenigen sind, die Menschen in Strukturen wie der CPR einsperren, monatelang inhaftiert sind, um auf ihre Abschiebung zu warten, unter unerträglichen Bedingungen angehäuft, oft geschlagen, manchmal ihrem Schicksal überlassen oder getötet werden.
Die Operation ist auch eklatant, so sehr, dass der Grund für die Operation in denselben Dokumenten erscheint: „Die Intervention […] nimmt einen strategisch präventiven Wert an, der darauf abzielt, zu verhindern, dass weitere Momente sozialer Spannungen, die sich aus der oben beschriebenen besonderen Notsituation ergeben, in anderen, allgemeineren Momenten der ‚Kampagne gegen den Staat‘ […] auftreten“. Kurz gesagt, der Staat sperrt diejenigen ein, die sich aktiv an Aufständen gegen ihn beteiligen könnten.
Daher wird es für die Freiheit aller extrem gefährlich: Wenn dies ausreicht, fragen wir uns, wer der Nächste sein wird.
Unter Ausnutzung des De-facto-Totalitarismus, der „für unsere Gesundheit“ geschaffen wurde, hat der Rechtsstaat seine demokratische Maske abgenommen, um seine politischen Gegner offen anzugreifen; die berüchtigte Meinungs- und Oppositionsfreiheit, mit der er bis gestern seinen Mund gefüllt hat, wird mühelos beiseite geschoben. Wenn wir nicht reagieren, könnte das, was gestern passiert ist, eine Vorschau auf die kommenden Zeiten sein; es könnte wieder denen passieren, die sich entscheiden, auf die Straße zu gehen, um sich gegen Ungerechtigkeiten zu wehren, damit die Ärmsten nicht für die kommende Krise bezahlen oder um solidarische Bande zu knüpfen.
Wir drücken unsere Solidarität und Wärme mit den Gefährten und Gefährtinnen aus, die von Repression betroffen sind, weil sie ohne Delegation und Vermittlung gegen die Institutionen und Strukturen der Ausbeutung und Unterdrückung kämpfen.
Elena, Leo, Zipeppe, Stefi, Nicole, Guido, Duccio, Martino, Otta, Angelo, Emma, Tommi jetzt frei!
Wir sammeln in einem gemeinsamen Fonds die Beiträge für die Rechtskosten, die die an dieser letzten Operation beteiligten Personen zu tragen haben werden: Wer etwas beitragen will und kann, kann sich auf der Facebook-Seite „no cpr and no borders – fvg“ melden
Von Bozen bis Bologna: SABOTEAGEAKTE sind FAIR, TERRORIST ist der STAAT
Quelle: ilrovescio.info
18.05.20
Vor einigen Nächten wurden in unserer Stadt, haben unbekannte die Tür eines Unicredit-Geldautomaten und das externe Videoüberwachungssystem deaktiviert, aus Solidarität mit den Gefährten, die bei einem anderen Polizeieinsatz mit schweren Anschuldigungen wegen Terrorismus verhaftet wurden, bei dem sieben weitere Genossen mitgenommen wurden.
Unicredit nimmt in Italien den ersten Platz in der Rangliste der Banken ein, die die Kriegsindustrie durch Waffenexporte in die ganze Welt ernähren, aber Solidarität kann auch eine Waffe sein und ihren Ausdruck sabotieren.
Die repressive Operation „RITROVO“, die letzte Woche in Bologna stattfand, ist ein sehr ernsthafter Einschüchterungsakt gegen diejenigen, die mit Entschlossenheit die Wahrheit sagen und dafür kämpfen, den bestehenden Zustand der Dinge zu ändern.
Die Operation hat, wie die Staatsanwaltschaft betont hat, „einen strategisch präventiven Wert“, um „mögliche spätere Momente sozialer Spannungen zu vermeiden, die durch die gegenwärtige Notsituation verursacht werden“.
„Zu den beanstandeten Tatsachen“ gehören auch „die Organisation öffentlicher Veranstaltungen und nicht genehmigter Demonstrationen, um der Eröffnung ständiger Repatriierungszentren [CPRs, Abschiebeknäste also] entgegenzuwirken und sie zu verhindern“, dann „die Beschädigung von Eigentumswohnungen und öffentlichen Gebäuden durch bedrohliche und beleidigende Graffiti gegen Institutionen und Schäden an Geldautomaten von Kreditinstitute“, aber auch „die Schaffung und Verbreitung, einschließlich der Verwendung von Computerwerkzeugen, Broschüren, Artikeln und Flugblättern mit aufrüttelndem Inhalt, um neue Proselyten zusammenzubringen, die sich ihren ‚Kampfkampagnen‘ verschrieben haben“.
Komplizen und solidarisch mit Elena, Guido, Nicole, Duccio, Zipeppe, Leo und Stefi.
FREIHEIT FÜR ALLE
]]>„In 20 Jahren noch nie gesehen“, sagte ein leitender Angestellter einer der führenden französischen Telefongesellschaften am vergangenen Mittwoch, dem 6. Mai. Worauf bezog er sich? Die nationale Panik, die in dieser Zeit der Pandemie ausgelöst wurde, der Gewinn, den sein Unternehmen dank der Ausgangssperre erzielen wird, die seit Wochen Millionen von Benutzern gezwungen hat, an elektronischen Geräten kleben zu bleiben, der Zusammenbruch des Niveaus der Luftverschmutzung durch die Quarantäne …? Nein, er bezog sich auf etwas ganz anderes: die Sabotage, die am Vortag in der Île-de-France stattfand, der Region, in der sich die Hauptstadt des Landes mit ihren politischen Ministerien und ihrem Finanz- und Wirtschaftssitz befindet. Eine als „vorsätzlich und in großem Maßstab“ definierte Sabotage, die nur 48 Stunden nach der öffentlichen Alarmierung durch eine Pariser Zeitung über die „Wiederaufnahme direkter Aktionen“ im gesamten Sechseck gegen die (Infra-)Strukturen der Herrschaft stattfand. Die am 17. März dieses Jahres von der französischen Regierung zur Eindämmung der Pandemie verkündete Maßnahme der Ausgangssperre hat in der Tat nicht dazu gedient, die Offensive – sozusagen der Abnutzung – zu stoppen, die seit Jahren auf dem gesamten Territorium gegen die Macht geführt wird. Vom Norden nach Süden, vom Osten nach Westen haben sich in der jüngsten Vergangenheit Hunderte und Aberhunderte von Angriffen nicht nur gegen Kasernen, Banken und Unternehmen ereignet, sondern auch und vor allem gegen die technischen Mittel, die das normale Funktionieren dieser Welt ermöglichen: Hochspannungsmasten, Repeater, Windkraftanlagen, Antennen, Kraftwerke und Anlagen aller Art … Einfache Aktionen, in Reichweite aller Zornigen, die mit den unterschiedlichsten Mitteln durchgeführt werden, und genau aus diesem Grund vom nationalen Rampenlicht ferngehalten werden, um das schlechte Beispiel zu neutralisieren, indem sie auf Tatsachen aus irrelevanten lokalen Schlagzeilen reduziert werden. Während also alle (zitternd oder festlich) den Aufschlag der zerbrochenen Schaufenster hörten, die während der großen periodischen Demonstrationen in den Stadtzentren herabfielen, hörte fast niemand das Wachsen, Tag für Tag, der dunklen Wälder der anonymen Revolte. Von aufstrebenden Strategen sozialer Bewegungen bedrängt, die einen Konsens benötigen, wurden direkte Aktionen nur von denen unterstützt und verstärkt, die nicht in Wut investierten.
Nun, wenn es der Gesundheitsnotstand schaffte, das Rondeau und die Plätze Frankreichs von den Protestierenden in Geld zu leeren, die sie wöchentlich drängten, könnte nichts gegen die Entschlossenheit und Phantasie der einzelnen Saboteure sprechen – zum enormen Ärger der Staatsbeamten und Geschäftsleute (sowie einiger Revolutionstheoretiker). Offiziellen Angaben zufolge gab es im April fast eine Sabotage pro Tag, deren Rascheln paradoxerweise in der Stille der Protestchöre widerhallt. So laut, dass es die allgemeine Aufmerksamkeit erregt? Am vergangenen Sonntag, dem 3. Mai, hat die Tageszeitung Le Parisien auf die überall stattfindende Sabotagewelle hingewiesen, aufgrund derer etwa ein Dutzend gerichtliche Untersuchungen laufen. Niemals werden die Sabotagen von jemandem beansprucht, diese werden „der Ultralinken zugeschrieben“, hier verstanden als Synonym für eine subversive Bewegung (wobei es in dem spezifischen Bereich, der in dieser Definition erkannt werden könnte, diejenigen gibt, die sich stattdessen auf „Öko-Nihilisten“ oder „Nostalgiker des islamischen Staates“ beziehen, ohne zu vergessen, dass einige «„Anarchisten“ theoretisch und sozial Julius Evola näher stehen können als Errico Malatesta» [sic!]). Die LeserInnen von Parisien werden auch über die Existenz einiger anarchistischer Websites informiert, die jubelnd über diese direkten Aktionen berichten, die sich auch anderswo in Europa verbreiten (Italien und die Niederlande werden erwähnt).
Es wird so sein, es wird ein Zufall sein, es wird eine unwiderstehliche Inspiration sein, Tatsache ist, dass zwei Tage nach diesem Alarmschrei die Sabotageepidemie vor den Toren von Paris eintrifft. Am Dienstag, dem 5. Mai, werden an mehreren Stellen in den südöstlichen Vororten (in Valenton, Fontenay, Créteil, Ivry, Vitry) die Glasfasern einiger Telefonbetreiber durchtrennt, was zu einem großen Stromausfall sowohl im Val-de-Marne als auch in einigen Gebieten der Hauptstadt selbst führt. Zunächst wird vermutet, dass es nur eine einzige Person war, die mit einer Schleifmaschine bewaffnet in ein paar Schächten in einem Industriegebiet gehandelt hat. Aber dann, im Laufe der Stunden und mit dem Eintreffen weiterer Berichte über Pannen, beginnt man zu denken, dass es ein koordinierter und perfekt organisierter Angriff war, dessen Schaden sich auf eine Million Euro zu belaufen scheint. Diejenigen, die in die unterirdischen Kabinen der Telefongesellschaften eingebrochen sind, haben nichts gestohlen, sie haben einfach die Glasfaserkabel durchtrennt und damit „das neuralgische Netz des französischen Internets getroffen, wo es auch internationale Kommunikationsknotenpunkte gibt“. Es wird noch einige Tage dauern, bis der Dienst vollständig wiederhergestellt ist, was für Zehn- und Zehntausende von Benutzern mit großen Unannehmlichkeiten verbunden ist. Keine Anrufe bei Freunden und Verwandten? Ja, aber vor allem: kein Handelsaustausch, keine Telearbeit, keine Meldungen an die Gendarmerie, keine angeschlossenen Polizeistationen, keine Videoüberwachung, keine technologische Entfremdung.
„Wiederholte Sabotage“ wird es am nächsten Tag in den transalpinen Medien donnern, überrascht über die Leichtigkeit, mit der öffentliche Angelegenheiten gestört werden können. Und indem sie sich alle hinter die subversive Bahn warfen, die von ihren Parisien – Kollegen erwartet wurde, gab es gestern (Donnerstag, 7. Mai) sogar diejenigen, die darauf hinweisen wollten, dass es nicht zwei, sondern drei anarchistische Internetseiten gibt, die die Sabotageaktionen feiern; Zusätzlich zu den bereits erwähnten (Sans Attendre Demain und Attaque) gibt es einen weiteren, dessen Name nicht genannt wird, der aber den schlechten Geschmack hat, die Übersetzung eines italienischen Textes zu veröffentlichen (der in dem betreffenden Artikel weithin zitiert wird), der den wunderbaren Gedanken derer begrüßt, die mitten in einer Pandemie weiter angreifen, anstatt zu zittern. Offensichtlich gibt es unter den Profis der Polizeipropaganda diejenigen, die danach streben, die Handlung maßlos über alles zu überbreiten, über die Alpen hinaus…
Noch eine Anstrengung, Bullen und Journalisten, wenn ihr die Sabotageepidemie stoppen wollt! Die wenigen, die diese Aktionen lautstark unterstützen und sie dann schließlich zum Schweigen bringen, mögen vielleicht die Lust auf leichte Repressalien befriedigen, aber das wird den Zorn, der in Frankreich wie auch anderswo immer mehr Gründe findet, sich auszubreiten, sicher nicht aufhalten. Wenn bereits in der Nacht zwischen dem 5. und 6. Mai ein Relaisstation in Oriol-en-Royans, über 600 km südöstlich von Paris, in Brand gesteckt wurde, während am darauffolgenden Abend dasselbe Schicksal einer Relaisstation in Languenan, 400 km westlich der Hauptstadt, passierte, so ist es sicher nicht erlaubt, dass drei anarchistische Seiten ihre Seiten aktualisieren. Wenn Antennen und elektrische Anlagen überall auf der Welt gezündet werden, von Italien (das letzte Mal am 29. April in Rom, oder vielleicht am 6. Mai in Pozzuoli, wo ein Transformator in einem Kraftwerk explodierte) bis Kanada (im Raum Montreal, das letzte Mal am 4. Mai), von den Niederlanden (seit Anfang April wurden etwa zwanzig Sabotageangriffe durchgeführt, der letzte in Den Haag, am 4. Mai gegen eine von Polizei und Armee genutzte Antenne) in die Vereinigten Staaten (das letzte Mal Anfang Mai in Philadelphia), ohne Großbritannien oder Deutschland zu vergessen, nicht, weil es ein internationales anarchistisches Komplott gegen die Energie- und Telefongesellschaften gibt, sondern weil sich überall das gleiche Bewusstsein ausbreitet: Die Normalität ist die Katastrophe, die alle Katastrophen hervorruft. Es geht nicht darum, seine dringende Rückkehr oder höfliche Revision an die Spitze zu fordern. Für die ganz unten geht es darum, ihre Rückkehr sowohl theoretisch als auch praktisch zu behindern.
[8/5/20]
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Quarantäne oder Tod?!
„Infektionskrankheiten sind zwar ein trauriges und schreckliches Thema, aber unter normalen Bedingungen sind sie Naturereignisse, wie ein Löwe, der ein Gnu frisst, oder eine Eule, die eine Maus frisst“ – David Quammen, Spillover, 2012.
Oder wie ein Erdbeben, das den Boden erzittern lässt, oder wie ein Tsunami, der die Küste überschwemmt. Wenn sie keine oder fast keine Verluste verursachen, werden diese Phänomene nicht einmal bemerkt. Erst wenn die makabre Zahl (A.d.Ü., von Toten) zu steigen beginnt, hören sie auf, als Naturereignisse zu gelten, und werden zu ungeheuren Tragödien. Und sie nehmen schreckliche und unerträgliche Umrisse an, vor allem, wenn sie vor unseren Augen hier und jetzt auftreten, nicht auf einem (A.d.Ü., anderen) Kontinent oder in einer fernen Vergangenheit, die leicht zu ignorieren ist. Nun, wann säen diese Naturereignisse selbst den Tod? Wenn ihr Auftreten überhaupt nicht beachtet wird, was eine Voraussetzung dafür ist, keine Vorsichtsmaßnahmen gegen sie zu ergreifen. Der Bau von Betonhäusern in stark erdbebengefährdeten Gebieten zum Beispiel ist ein sicherer Weg, ein Erdbeben in eine Katastrophe zu verwandeln. In Erwartung der nächsten Regenfälle bedeutet die Abholzung eines Berges die Vorbereitung eines Erdrutsches, der das darunter liegende Dorf wegfegen wird, so wie die Zementierung des Flussbettes eines Flusses, der durch bewohnte Gebiete fließt, einen Überlauf verspricht, der den Untergrund und die unteren Teile der Gebäude überfluten wird.
Dasselbe kann man von einer Pandemie sagen. Wenn ein Mikroorganismus in der Lage ist, überall zu töten, dann nicht, weil die Natur so schlecht ist und deshalb von der Wissenschaft gezähmt werden muss, die gut ist. Nehmen wir das Coronavirus als Beispiel: Zuerst wurde es von der vorherrschenden sozialen Organisation geschaffen (mit Abholzung und Verstädterung), dann verbreitete es sich auf dem ganzen Planeten (mit dem Verkehr in der Luft und Überbevölkerung), schliesslich verschlimmerte es seine Auswirkungen (mit dem Mangel an adäquaten Mitteln zu ihrer Heilung und der Konzentration der Menschen, die für die Ansteckung am empfänglichsten und anfälligsten sind, verwandelt in Versuchskaninchen der verschiedensten Therapien, die nach fragwürdigen Kriterien verabreicht werden). Vor diesem Hintergrund sollte klar sein, dass der beste Weg, das Auftreten eines bösartigen Virus so weit wie möglich zu verhindern – es vollständig zu verhindern, wäre ebenso anmaßend wie die Verhinderung eines Hurrikans, da der menschliche Körper immer voller Viren und Bakterien verschiedener Art ist -, darin besteht, die Welt, in der wir leben, von oben nach unten zu umzustürzen, um sie weniger günstig für die Entwicklung von Epidemien zu machen. Obwohl der beste Weg, eine Infektion zu vermeiden, die Stärkung des Immunsystems ist.
Es handelt sich um eine doppelte Prävention, für die Umwelt im Allgemeinen und für die einzelnen Körper, aber sie wird nicht begünstigt. Die erste, weil sie eine soziale Transformation impliziert, die als utopisch angesehen wird, weil sie zu radikal ist, die zweite, weil sie eine biologische Intervention ist, die als unzureichend angesehen wird, weil sie zu individuell ist. Rechtsbehelfe, die zu vage und zu fern sind und vor allem durch einen grundlegenden Mangel verdorben sind: Sie können nicht von einem Staat geleistet werden, dem die Aufgabe übertragen wurde, ihn von der Lebensmüdigkeit zu befreien. Kurz gesagt, Maßnahmen, die nicht pragmatisch sind und die nicht von oben eingefordert werden können. Das hat nichts mit der Stärkung der Gesundheitsdienste oder der Erfindung eines Impfstoffs zu tun, die jetzt überall lautstark verzweifelt verlangt wird.
In unserem einseitigen mentalen Universum ist die Frage der Gesundheit wie alle anderen und schwankt zwischen den beiden Fahrspuren der Hauptstraße, die als selbstverständlich und erzwungen angesehen werden: der öffentliche Sektor unter der Führung des Staates oder der private Sektor unter der Führung von Unternehmen? Da letztere den Reichen vorbehalten ist, wartet die große Mehrheit der Menschen dringend auf ihre Rettung. Tertium non datur, würden die Lateiner sagen (und die den Kritikern des Krankenhauswesens vorwirft, das Spiel der Luxuskliniken zu spielen). Aber da dieser Hauptweg von Herrschaft und Profit durchdrungen ist, wird man eine Situation, die das Ergebnis der Ausübung von Herrschaft und des Strebens nach Profit ist, sicher nicht dadurch ändern können, dass man eine Spur der anderen vorzieht.
Deshalb ist es notwendig, die Aura der Unvermeidbarkeit, die diese Gesellschaft schützt, zu zerstreuen und zu verhindern, dass andere Möglichkeiten in den Blick genommen werden. Hier gibt es aber noch eine weitere Schwierigkeit: Wann und wie kann man ausweichen, um andere Wege zu beschreiten, wenn man bei Gesundheit nie an Krankheit denkt, während man bei Krankheit nur daran denkt, wie man so schnell wie möglich geheilt werden kann. Und wie kann man das tun, ohne nicht nur die medizinische Institution, sondern auch das Konzept der Gesundheit selbst und den Sinn von Leiden, Krankheit und Tod in Frage zu stellen?
Denken Sie zum Beispiel daran, wie heute diejenigen, die es wagen zu beobachten, dass der Tod Teil des Lebens ist, insbesondere nach dem achtzigsten Lebensjahr, als malthusianischer Zynismus gebrandmarkt werden (von wem, als Anwärter auf transhumanistische Unsterblichkeit?) Oder denken wir an die Überlegungen, die Ivan Illich seinerzeit zur medizinischen Nemesis formuliert hat. Wäre dieser unverdächtige Kritiker des anarchistischen Extremismus heute, inmitten einer Pandemie-Psychose, noch am Leben und würde es wagen, eine seiner Interventionen zu machen, würde er erst auf dem virtuellen und dann auf dem realen Platz gelyncht werden. Können Sie sich vorstellen, wenn jemand vor einem weit entfernten Publikum und mit seinen aseptischen Schutzvorrichtungen in krampfhafter Erwartung eines lebensrettenden Impfstoffs zu argumentieren begann, dass „nur durch eine Einschränkung der professionellen Verwaltung der Gesundheitsfürsorge den Menschen erlaubt werden kann, gesund zu bleiben“, oder dass „das wahre Wunder der modernen Medizin teuflischer Natur ist: Es besteht darin, dass nicht nur Individuen, sondern ganze Bevölkerungen auf einem unmenschlich niedrigen persönlichen Gesundheitsniveau überleben können.“ Dass die Gesundheit nur mit dem Wachstum des Pflegeangebots auslaufen kann, „ist nur für den Gesundheitsmanager unvorhersehbar“, oder dass „in den entwickelten Ländern die Besessenheit von perfekter Gesundheit zu einem vorherrschenden Krankheitserreger geworden ist“. Alle fordern, dass der Fortschritt das Leiden des Körpers beenden, die Frische der Jugend so lange wie möglich erhalten bleibt und das Leben auf unbestimmte Zeit verlängern soll. Es ist die Ablehnung von Alter, Schmerz und Tod. Aber „vergessen wir, dass dieser Ekel vor der Kunst des Leidens die Verneinung des menschlichen Zustandes selbst ist“, vielleicht mit dem Gebet abschließend: „Lasst uns nicht der Diagnose erliegen, sondern erlöst uns von den Übeln der Gesundheit?“
Solche Äußerungen, in hysterischen Tagen wie denen, in denen wir leben, würden selbst gewissen revolutionären Militanten zumindest geschmacklos erscheinen, reduziert auf diejenigen, die einem kapitalistischen Staat die Aufgabe zuschreiben, einen kapitalistischen Virus auszurotten, diejenigen, die von brüllender Freiheit oder Tod zu miauender Quarantäne und Überleben übergehen! Und doch, die ersehnte Autonomie, die man erreichen möchte, indem man allen Abhängigkeiten ein Ende setzt, kann man jemals seine Absichten vor dem menschlichen Körper aufgeben, sowohl auf Leben als auch auf Tod?
]]>In diesen Zeiten weit verbreiteter Besorgnis, in der schwer fassbaren Form dieser Pandemie, die in ungeordneter Weise von einem Staat gehandhabt wird, der versucht, uns so weit wie möglich auszunutzen, auch jenseits der Vernunft.
In diesen Zeiten, in denen die Ordnung mehr denn je in Form dieser „außergewöhnlichen“ Maßnahmen zu herrschen sucht, von denen einige, wie wir bereits wissen, in der kommenden Welt zur Norm werden, ganz zu schweigen davon, was diese Zeit mit den Vorstellungen, Beziehungen, Gewohnheiten und psychischen Konstruktionen aller Menschen macht und was noch niemand misst.
Es ist notwendiger denn je, Informationen zu verbreiten, die für die Revolten nützlich sind, die sich bereits abzeichnen und die mit Sicherheit auftreten werden, sowie uns die Mittel zu geben, nachzudenken, uns auf das Geschehen zu beziehen, was geschieht, wenn wir nicht sofort in dieser Situation der Enge zusammenkommen, die uns in dem Maße, wie sie länger wird, immer mehr zu atomisieren droht.
In erster Linie geht es um die Orte der Einsperrung/Hausarrest/Quarantäne, denen wir hier unsere Aufmerksamkeit widmen wollen, um die Orte, an denen die Menschen sich allein der Gnade der Institution ausgeliefert sehen, die sie einschließt, um die Orte, an denen es dem Staat jetzt absolut gelingt, ohne jeden Blick von außen, ohne Öffnung, um die Orte, an denen sich niemand entschieden hat, sich selbst zu finden. Dies ist in einer Reihe von Einrichtungen der Fall, die je nach Fall einen mehr oder weniger gefängnisähnlichen Zweck verfolgen, aber inzwischen alle als vollständig geschlossene Gefängnisse funktionieren. Wenn Orte eine große Zahl von Individuen zusammenbringen, müssen sie entweder geleert werden (so wurde es bei den Schulen gemacht, indem die Kinder mit allen zu erwartenden Problemen in die familiäre Gefangenschaft/Hausarrest/Quarantäne zurückgeschickt wurden) oder von der übrigen Bevölkerung ferngehalten werden, wodurch ihre Schließung noch verstärkt wird. Dies geschieht in Gefängnissen, psychiatrischen Krankenhäusern, Altersheimen und Einsperrungszentren für Obdachlose.
Diese Orte, die noch mehr einschränken als die Einschließung aller anderen, sind auch Orte, an denen die soziale Krise, die durch das politische Management der gegenwärtigen Gesundheitskrise verursacht wurde, bereits auf grausamste und brutalste Weise spürbar wird: Kranke Gefangene, die mit dem Virus eingesperrt sind, ohne die Möglichkeit, sich davor zu schützen, denen jeglicher Kontakt zu ihren Lieben verwehrt ist, Obdachlose, die gezwungen sind, die Ausbreitung des Virus in der Promiskuität zu erleben, zu der sie gezwungen sind, Patienten in psychiatrischen Krankenhäusern oder Altersheimen, die ohne Kontakt zu ihren Lieben eingesperrt sind, und für letztere, die in der sich verschlimmernden Notsituation bereits ohne jegliche Betreuung zurückgelassen wurden. Diese Orte sind auch Orte des Experimentierens in der Massenbewältigung von Bevölkerungen mit verschiedenen Risiken, und die Geschichte hat uns gelehrt, wie traumatisch, ja sogar tödlich diese Erfahrungen der Massenbewältigung sein können. Wir wissen, was passiert, wenn der Staat Opfer bringen muss, wir wissen, wie der Humanismus dann sofort der schlimmsten Art von Manager-Zynismus weicht, und wir wissen, wer den Preis dafür bezahlt.
Diese Orte des Eingesperrtseins sind auch Orte der Verweigerung und der Revolte, und was gegenwärtig in italienischen und französischen Gefängnissen und in der ganzen Welt geschieht, zeigt die Zerbrechlichkeit dieser Vorrichtungen absoluter Repression, wenn entschlossene und kollektive Verweigerungen sich ihnen entgegenstellen. Es liegt an uns, Informationen darüber zu finden und zu verbreiten, was an diesen Orten geschieht, aus denen der Staat nicht viel herausfiltern möchte, es liegt an uns, etwas dagegen zu unternehmen.
Um einen Beitrag dazu zu leisten, werden hier alle Informationen gesammelt, die zu allen Orten der Gefangenschaft/Hausarrest/Quarantäne zu finden sind, seien es die sie betreffenden Maßnahmen des Staates, die Elemente, die über das, was dort wirklich geschieht, gesammelt werden können, oder die individuellen oder kollektiven Aufstände, die dort stattfinden.
Zöger nicht, dich an dieser Informationssammlung und an den Überlegungen, die sie ermöglicht, zu beteiligen, zumindest hoffen wir das, indem man an [email protected] schreibt.
Für eine revolutionäre Aufhebung der Gefangenschaft/Hausarrest/Quarantäne!
“Auf allen Ebenen: politisch, moralisch, spirituell, materiell, wird man erfahren, was hinter dem Fortschritt steht: der Tod.
Was für eine Herausforderung! Entweder das Auschwitz der Natur oder das Stalingrad der Industrie
Jede Predigt ist nutzlos. Der Fortschritt wird sich nur selbst aufhalten, dank der Katastrophen, die er verursachen wird”.
So schrieb Mitte der 1970er Jahre ein Schweizer Dichter, dessen Name nicht auf der Liste der Vorläufer der Katastrophenpädagogik steht, die den Anhängern des “Schrumpfungsparadigmas” [decrescita] so sehr am Herzen liegt. Ihr unbestrittener Lehrer Serge Latouche äußerte sich immer auf optimistische Weise, dass Katastrophen, das Bewusstsein zu wecken im Stande seien; ja… aber welches? Das der politischen Klasse, getrieben von der Kraft der Ereignisse, eine verlorene Menschlichkeit die durch eine lang anhaltende toxische Abhängigkeit vom Konsumismus taub, blind und stumm gemacht wurde, wieder auf den richtigen Weg der Bescheidenheit zu bringen. Es handelt sich um eine Überzeugung, die auch heute noch nach außen dringt, wo etwa die Hälfte der Weltbevölkerung zu Hause eingesperrt ist, um einem Virus zu entgehen, von dem angenommen wird, dass er für den Tod von über 100.000 Menschen auf der ganzen Welt verantwortlich ist.
Und es seien die Anarchisten, welche die Naiven, die Verblendeten wären, die hinter dem Mond leben würden! Da haben wir Glück, dass diejenigen als pragmatisch, konkret, mit den Füßen auf dem Boden stehend, betrachtet werden, die vorgeben, dass der Frieden in der Welt durch Armeen garantiert wird, dass die Ziele der Banken ethisch sind, oder dass das Parlament “die Entkolonialisierung des Imaginären” übernimmt!
Zur Untermauerung seines Arguments erinnert Latouche unter anderem daran, dass die schlimme und hässliche Katastrophe, die durch den “großen Smog von London” verursacht wurde – die Stagnation einer Mischung aus Nebel und Kohlenrauch, die vom 5. bis 9. Dezember 1952 in der britischen Hauptstadt 4.000 unmittelbare Todesopfer und 10.000 in der Folgezeit forderte – vier Jahre später zur Einführung des schönen und guten Clean Air Act führte. Der arme Mann vergisst nicht nur, dass der Kohleverbrauch seither nie zurückgegangen ist, im Gegenteil, er ist gekoppelt an die Umweltverschmutzung in der Metropole gestiegen, sondern dass bereits in Donora (USA) vom 26. bis 31. Oktober 1948 eine Mischung aus Nebel und Rauch aus den Stahlwerken 70 Todesopfer gefordert und die Lungen von 14.000 Einwohnern zerstört hatte.
Ebenso wenig scheint die Katastrophe, die sich am 1. Juni 1974 in der Chemiefabrik in Flixborough (England) ereignete, dazu gedient zu haben, die darazf folgende in Beek (Holland) am 7. November 1975 zu verhindern, und beide verhinderten auch nicht den Dioxinaustritt, der sich am 10. Juli 1976 in Seveso (Lombardia – Italien) ereignete. Welche Lehren sind aus diesen drei tragischen Erfahrungen gezogen worden? Keine einzige. Tatsächlich stand das Schlimmste noch bevor, und dieses geschah am 3. Dezember 1984 in Bophal (Indien), als es zu einem regelrechten Blutbad kam: Tausende von Toten und über eine halbe Million Verletzte aufgrund eines Methyl Isocyanat-Lecks. Wurden deshalb die Chemiewerke schließlich geschlossen? Natürlich nicht, und man kann auch nicht sagen, dass die industrielle Nutzung von schädlichen Stoffen reduziert wurde, wenn wir an den Zyanidausfluss denkt, der am 31. Januar 2000 in einer Goldmine in Rumänien begann und das Wasser mehrerer Flüsse, unter anderen die Donau, vergiftete.
Und haben uns die Katastrophen, die durch die Produktion des schwarzen Goldes verursacht wurden, jemals etwas gelehrt? Die Havarie eines ExxonMobil-Tankers, der am 24. März 1989 in der Prince-William-Straße in Alaska auf Grund lief und mehr als 40 Millionen Liter Öl ins Meer austraten, verhinderte sicherlich nicht den Untergang des Tankers Haven, der am 14. April 1991 50.000 Tonnen Rohöl in die Tiefen des Mittelmeers verteilte, nachdem dabei 90.000 Tonnen unter freiem Himmel verbrannten. Eine Lapalie im Vergleich zu dem Unfall vom 20. April 2010 im Golf von Mexiko, bei dem zwischen 500 und 900 Millionen Liter Rohöl 106 Tage lang von der BP-abhängigen Plattform Deepwater Horizon ins Meer ausflossen.
Oder sprechen wir über die tödlichste der Energieindustrien, die Kernkraft? Ohne die 130 Unfälle der letzten fünfzig Jahre zu erwähnen, hat vielleicht der Unfall im US-Kraftwerk Three Mile Island am 28. März 1979 den Unfall im russischen Kraftwerk Tschernobyl am 26. April 1986 verhindert? Ganz und gar nicht, im Gegenteil dazu haben diese “Vorfälle” bei den Menschen zu einem Gewöhnungseffekt beigetragen, sich auch mit der Tragödie, die am 11. März 2011 in Fukushijma geschehen ist, abzufinden. Zu dem Maße, dass u.a. die USA, Russland und Japan auch heute noch unerschrocken die Atomenergie nutzen.
Nehmen wir nun an (ohne Gewähr), es gäbe wirklich die Bereitschaft zu lernen, was könnte uns die gegenwärtige Epidemie, die die ganze Welt terrorisiert, also lehren? Dass wir auf Abholzung, Verstädterung, Flugzeuge verzichten sollten… oder dass die wissenschaftliche Forschung verstärkt, Impfungen zur Pflicht gemacht und die Kontrolle der “kompetenten” Behörden zunehmend ausgeweitet werden sollte? Mit anderen Worten, sollte der Fortschritt mit seinen tödlichen Auswirkungen gestoppt oder beschleunigt werden, um sie zu überwinden? Es besteht kein Zweifel daran, dass die Notwendigkeit, Wohlstand durch staatlich gelenkte Entwicklung zu erreichen, für fast alle ein Axiom bleibt, ein Tabu, das so absolut ist, dass es nicht einmal verkündet werden muss. Das ist die Normalität, deren Rückkehr lautstark gefordert wird und die keinen Ausweg aus ihren falschen Alternativen bietet. Durch Ministerialerlass suspendiert, wird sie in noch verrohterer Form wiederhergestellt. Das Recht auf das nächtliche Ausgehen [movida] wird mittles einer Drohne über dem Kopf gestattet.
Der pädagogische Katastrophismus ist nur das extreme Heilmittel des Determinismus. Alle Gebete zum befreienden Schicksal der Vernunft oder des Fortschritts oder des Proletariats oder der inneren Widersprüche des Kapitalismus fanden im Staub der Geschichte ihr Ende… es bleibt nur noch eine plötzliche planetarische Tragödie, die denjenigen ein Happy End verspricht, die nie aufhören, darauf zu warten, dass etwas geschieht, anstatt zu handeln, um dies geschehen zu lassen.
[13/4/20]
]]>Es lässt sich nicht leugnen, dass das, was in der Welt geschieht, zumindest den Verdienst hatte, den Menschen verständlich zu machen, was mit Herdenimmunität gemeint ist. Es scheint uns ein entlarvendes Konzept zu sein, das uns in Lage versetzt, dessen Bedeutungsambivalenz perfekt zu verstehen. Wir beziehen uns natürlich nicht auf seine medizinische, sondern auf seine soziale Bedeutung. Im Gesundheitsbereich ist dessen Verwendung fast schon pathetisch, eine echte Mystifizierung, die Verwirrung schürt, indem sie eine Immunität verspricht, die es nicht geben kann. Die Immunität, die wirkliche, ist ein erwiesener und tatsächlich dauerhafter Zustand, der nur auf natürliche Weise erworben werden kann, indem man eine Krankheit (jedoch nicht irgendeine Krankheit) durchläuft. Mit der Impfung erhält man das genaue Gegenteil. Im besten Fall versuchen wir, die Krankheit zu vermeiden, indem wir künstlich eine biologische Abwehr aufbauen, die nur bis zum Beweis des Gegenteils unüberwindbar ist, und die oft und gerne vorübergehenden Charaker aufweist. Es ist sowohl ein Amulett gegen die Krankheit als auch ein Mittel gegen Faulheit, eine industrielle Abkürzung für den langen anstrengenden Prozess, die eigene Immunabwehr zu stärken. Man hat sicherlich eine Bild jener im Kopf, die “gesund bleiben”, indem sie ein Pille nach der anderen nehmen, anstatt sich die Mühe zu machen, über sich selbst Bescheid zu wissen und für sich selbst zu sorgen. Sie essen schlecht und nehmen Medikamente ein, schlafen schlecht und nehmen Medikamente ein, leben schlecht und nehmen Medikamente ein. Sind die Muskeln des mit Steroiden bepackten Bodybuilders vergleichbar mit den Muskeln des Turners, der täglich trainiert? Bei der Impfung passiert dasselbe. Genau deshalb schadet die Impfung, wie auch die Einnahme von Medikamenten und Steroiden, mehr als dass sie gut tut, sie vergiftet und schwächt den Körper weiter. Dies vorausgeschickt, welchem Arzt, der von einem aussergewöhnlichen Sinn für Humor versehen zu sein scheint, ist es eingefallen, die Menschheit mit einer Herde zu vergleichen?
Nein, lassen wir das, nur wenn man den medizinischen Bereich verlässt, erscheint das Konzept der Herdenimmunität in seiner ganzen tadellosen Präzision. Wir wissen, dass die Herdenimmunität die Immunität ist, die diejenigen erwerben, die Macht ausüben (und unzählige Missbräuche und Katastrophen durchführen und verursachen), nachdem sie diejenigen, die unter der Macht leiden, in eine Herde verwandelt haben. Es genügt, sich die gegenwärtige Situation anzusehen. Wer wird gegen die Bevölkerungs – Herde [gregge popolare] immun gemacht, die von der Sicherheit dahersülzt, die die Nationalhymne im Chor singt und den Ordnungskräften applaudiert? Es braucht nicht viel, um zu verstehen, dass diejenigen, die die Unverantwortlichen anzeigen, die es wagen, frische Luft zu atmen und sich die Beine zu vertreten, nichts anderes tun, als die Verantwortlichen zu schützen, die verschmutzen, vergiften und kontaminieren. Als wäre derjenige der Überträger [untore] auf den man seinen Ärger abladen soll, der auf der Straße geht, und nicht derjenige, der die menschliche Existenz für die Staatsvernunft oder für die Marktlogik tausenden Gefahren aussetzt [untore ist im italienischen ein geflügeltes Wort, es beschreibt denjenigen der zu Zeiten der Pest, 1630 in Mailand, verdächtigt wurde den Virus zu verbreiten, indem er Häuser und Menschen mit infiziertem Material einschmierte].
Aber es gibt noch eine andere Schattierung der Bedeutung, die in diesem Konzept vorkommt, nämlich dass nur eine Herde furchtloser Schafe Immunität beanspruchen kann. Dies ist ein übergreifender Anspruch, der keinen Klassenunterschied kennt. Wenn nämlich die Reichen diese beanspruchen, weil sie arbeiten, produzieren, bezahlen und beanspruchen die Armen die Immunität, weil sie gehorchen, resignieren und konsumieren. In der so genannten besten aller möglichen Welten, der heutigen Welt der Wissenschaft, des Fortschritts und der Entwicklung, beanspruchen alle ihr unveräußerliches Recht auf Immunität. Sie sind gerade schockiert und erschrocken über die Vorstellung, dass ihr Bankkonto oder ihre freiwillige Knechtschaft nicht verhindern können, dass sie wie ein Marcus Aurelius, ein Tizian oder ein Apollinaire enden, dass sie aufgrund einer Pandemie tot umzufallen. Was für eine närrische Angst! Im heutigen Fall werden die Reichen leicht in der Lage sein, ein künstliches Beatmungsgerät zu bekommen, um dieses Risiko zu minimieren. Was die Armen betrifft, so haben sie keine Chance, als Opfer einer Seuche in die Geschichte einzugehen. Der eine wie der andere wird zu einer Nummer der Statistiken.
Wann werden wir aufhören, uns als lebendig zu betrachten, nur weil wir geboren wurden?
[1/4/20]
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