von Gilles Dauvé, Juni 20001
Im Jahr 2000 ist »die Gesellschaft des Spektakels« zu einem schicken Schlagwort geworden. Nicht ganz so berühmt wie »Klassenkampf«, aber gesellschaftlich akzeptabler. Überdies wird die SI nun durch ihre Hauptfigur, Guy Debord, verdeckt, der gegenwärtig als der letzte romantische Revolutionär dargestellt wird. In Berlin wie in Athen muß man sich jenseits der situationistischen Mode begeben, um den Beitrag der SI zur Revolution beurteilen zu können. In gleicher Weise, wie man den marxistischen Schleier herunterreißen muß, um zu verstehen, was Marx eigentlich gesagt hat – und was er immer noch für uns bedeutet.
Die SI zeigte auf, daß es keine Revolution ohne sofortige generelle Vergemeinschaftung des gesamten Lebens gibt, und daß diese Transformation eine der Bedingungen für die Zerstörung der Staatsgewalt ist. Revolution bedeutet, allen Trennungen ein Ende zu setzen und zu allererst der Trennung, die alle anderen reproduziert: der Arbeit als dem Abgeschnittensein vom Rest des Lebens. Abschaffung der Lohnarbeit impliziert die Aufhebung der Warenbeziehungen in der Art, wie wir essen, schlafen, lernen und vergessen, uns von Ort zu Ort bewegen, unser Schlafzimmer beleuchten, uns auf die Eiche unten an der Straße beziehen usw..
Sind dies Banalitäten? Schon, aber das waren sie nicht immer und sind es noch nicht für jeden.
Wir brauchen nur die Grundlagen der kommunistischen Produktion und Distribution zu lesen, die 1935 von der Deutsch-holländischen Linken verfaßt wurden, um zu verstehen, was für ein großer Schritt nach vorne das war. Bordiga und seine Nachfolger betrachteten den Kommunismus immer als ein Programm, welches nach der Machtübernahme in die Praxis umgesetzt werden würde. Erinnern wir uns mal daran, was 1960 besprochen wurde, wenn Radikale über Arbeitermacht debattierten und soziale Veränderungen als einen essentiell politischen Prozeß definierten.
Revolution ist Vergemeinschaftung. Dies ist gleichermaßen wichtig wie beispielsweise die Ablehnung der Gewerkschaften 1918. Wir sagen nicht, daß sich revolutionäre Theorie alle 30 Jahre verändern sollte, sondern daß eine ansehnliche proletarische Minderheit die Gewerkschaften nach 1914 ablehnte, und eine andere aktive Minderheit in den 60ern und 70ern auf eine Kritik des Alltagslebens zielte. Die SI überwand die Grenzen von Ökonomie, Produktion, Arbeitsplatz und Arbeiterismus, zu einer Zeit, als die Proleten von Watts bis Turin2 das Arbeitssystem und ihr Leben außerhalb der Arbeit in Frage stellten. Aber diese beiden Bereiche wurden selten von denselben Gruppen attackiert. Schwarze erhoben sich gegen die Kommerzialisierung des Lebens im Ghetto, während Schwarze und Weiße dagegen rebellierten, daß sie auf ein Rädchen in der Maschine reduziert werden. Nur kamen beide Bewegungen nicht zusammen. In den Produktionsstätten verweigerten die Arbeiter einerseits die Arbeit, andererseits forderten sie höhere Löhne: die Lohnarbeit als solche wurde dadurch nie beseitigt. Es gab jedoch in Italien zum Beispiel Versuche, das System als ganzes in Frage zu stellen, und die SI war einer der Wege, in dem diese Bemühungen ihren Ausdruck fanden.
Genau hier klären uns die Situationisten noch immer auf. Aber auch genau hier sind sie zu kritisieren.
Die Grenze der SI liegt gerade innerhalb ihres stärksten Punktes: einer Kritik der Ware, die grundlegend sein will, aber die Grundlagen nicht erreicht.
Die SI lehnte die Räte-Linke ab und umarmte sie gleichzeitig. Ebenso wie Socialisme ou Barbarie betrachtete sie das Kapital als eine Art Verwaltung, welche den Proletariern jegliche Kontrolle über ihr Leben entzieht, und kam zu dem Schluß, es sei notwendig, einen gesellschaftlichen Mechanismus zu finden, der es jedem ermöglichen würde, an der Verwaltung seines Lebens teilzuhaben. Die Theorie des »bürokratischen Kapitalismus« von Socialisme ou Barbarie legte mehr Gewicht auf die Bürokratie als auf das Kapital. Ebenso wie die Theorie der »Gesellschaft des Spektakels« der SI das Spektakel für wichtiger hielt für den Kapitalismus als das Kapital selbst. In Debords letzten Schriften wird der Kapitalismus neu definiert als völlig integriertes Spektakel, aber dieses Mißverständnis bestand schon, seit Die Gesellschaft des Spektakels 1967 den Teil mit dem Ganzen verwechselte.
Das Spektakel ist nicht seine eigene Ursache. Es wurzelt in den Produktionsverhältnissen und kann nur verstanden werden, wenn man das Kapital versteht, und nicht umgekehrt. Es ist die Teilung der Arbeit, welche den Arbeiter zum Zuschauer seiner Arbeit, seines Produktes und letztlich seines Lebens verwandelt. Das Spektakel ist unsere Existenz, die zu Bildern verfremdet ist, welche sich von ihr ernähren, das verselbständigte Ergebnis unserer gesellschaftlichen Tätigkeiten. Es beginnt bei uns und trennt sich von uns über die universelle Repräsentation der Waren. Es wird zur Entäußerung unseres Lebens, weil unser Leben ständig seine Entäußerung reproduziert.
Die Betonung des Spektakels führte zu einem Kampf für eine nicht-spektakelhafte Gesellschaft: Im situationistischen Denken funktioniert die Arbeiterdemokratie als Gegenmittel zur Kontemplation, als die bestmögliche Form, Situationen zu schaffen. Die SI war auf der Suche nach einer authentischen Demokratie, einer Struktur, in der die Proleten nicht länger Zuschauer sein würden. Sie suchten nach einem Mittel (Demokratie), einem Ort (dem Rat) und einer Art zu leben (generalisierte Selbstverwaltung), die die Leute befähigen sollte, die Fesseln der Passivität zu sprengen.
Es gibt keinen Widerspruch zwischen der Debord- und der Vaneigem-Variante der SI. Rätegedanken und radikale Subjektivität betonen beide die Selbsttätigkeit, ob sie nun von einem Arbeiterkollektiv oder von einem Individuum kommt.
»Ich denke, alle meine Freunde und ich wären völlig zufrieden damit, anonym im Ministerium des Vergnügens zu arbeiten, für eine Regierung, die schließlich und endlich für die Veränderung des Lebens sorgen würde (…)« (Debord, Potlatch, Nr. 29, 1957).
Anfangs glaubten die Situationisten, es wäre möglich, aufs Geratewohl mit neuen Lebensweisen zu experimentieren. Doch bald wurde ihnen klar, daß solche Experimente eine vollständige kollektive Wiederaneignung der Lebensbedingungen erforderten. Sie begannen mit einem Angriff auf das Spektakel als Passivität und kamen zu der Aussage des Kommunismus als Aktivität. Dies ist ein grundsätzlicher Punkt, hinter den wir nicht zurückgehen können. Aber den ganzen Prozeß dieser (Neu)entdeckung hindurch war es ein Fehler, anzunehmen, er müsse auch für das Leben taugen, was logischerweise zur Suche nach einem völlig anderen Ziel führte.
Dieses Streben nach einem anderen Gebrauch des eigenen Lebens trieb die Kritik der SI am Militantismus3 an und lähmte sie gleichermaßen. Es war notwendig, die politische Aktion als getrennte Aktivität zu entlarven, in der das Individuum für eine Sache kämpft, die von seinem eigenen Leben abstrahiert, seine Wünsche unterdrückt und es selbst für ein Ziel opfert, das seinen Gefühlen und Bedürfnissen fremd ist. Wir alle haben Beispiele der Hingabe an eine Gruppe und/oder eine Weltvision erlebt, was dazu führt, daß die Person unaufmerksam für aktuelle Ereignisse wird und unfähig, subversive Handlungen auszuüben, wenn sie möglich sind.
Doch nur das Zusammenspiel wirklicher Beziehungen kann die Entwicklung persönlicher Schwäche und entfremdeter Selbstverleugnung verhindern. Im Gegensatz dazu rief die SI zu einer überall und 24 Stunden am Tag geltenden Radikalität und Beständigkeit auf, indem sie militante Moral durch radikale Moral ersetzte, was einfach nicht machbar ist. Der Eigenanteil der SI an ihrem Ende nach ’68 ist sehr betrüblich zu lesen: Warum war kaum ein Mitglied dieser Situation gewachsen? War Guy Debord der einzige? Vielleicht war es Debords Hauptfehler, so zu tun (und zu schreiben), als könnte er nie Fehler machen.
Es war subversiv gewesen, sich über die falsche Bescheidenheit von Militanten lustig zu machen, indem man sich selbst als Internationale bezeichnete und das Spektakel gegen sich selbst kehrte, wie im Straßburger Skandal 19674. Aber dieses Geschoß schlug zurück, als Situationisten versuchten, Techniken aus der Werbung gegen das Werbesystem zu verwenden. Ihr »Beendet die Show!« entartete, indem sie aus sich selbst eine Show machten und schließlich von der Bühne abtraten. Es war kein Versehen, daß es die Situationisten genossen, Macchiavelli und Clausewitz zu zitieren. In der Tat glaubten Situationisten, eine gewisse Strategie würde es einer Gruppe von smarten jungen Männern ermöglichen, die Medien mit ihren eigenen Regeln zu schlagen und die öffentliche Meinung auf revolutionäre Weise zu beeinflussen, vorausgesetzt, es würde mit Einblick und Stil inszeniert. Dies allein beweist das Mißverständnis von der spektakulären Gesellschaft.
Vor und während ’68 hatte die SI gewöhnlich die richtige Haltung gefunden angesichts der Realitäten, die zuerst lächerlich gemacht werden müssen, bevor wir sie revolutionieren können: Politik, Arbeitsethik, Respekt vor der Kultur, der gute Wille der Linken und so weiter. Später, als die situationistischen Aktivitäten verblaßten, blieb nicht mehr übrig als eine Attitüde, und bald nicht einmal die richtige Haltung, als sie in Selbstverwertung, Rätefetischismus und einer Faszination für die verborgenen Seiten der Weltpolitik schwelgte und falsche Analysen über Italien und Portugal ablieferte.
Die SI kündigte das Kommen der Revolution an. Was kam, trug viele Züge dessen, was die SI aufgezeigt hatte. Die Straßenparolen 1968 in Paris und 1977 in Bologna waren Echos auf Artikel, die kurz zuvor in einer Revue mit glänzendem Cover veröffentlicht worden waren. Trotzdem war es keine Revolution. Die SI hielt jedoch daran fest, daß es eine gewesen sei. Generalisierte Demokratie (und vor allen Dingen Arbeiterdemokratie) war ein subversiver Traum der späten 60er und frühen 70er Jahre gewesen: Anstatt dies als Begrenztheit dieser Periode zu begreifen, interpretierten es die Situationisten als eine Rechtfertigung für den Aufruf zu Räten. Sie begriffen nicht, daß autonome Selbstverwaltung von Fabrikkämpfen nur ein Mittel, niemals ein Ziel an sich, noch ein Prinzip sein kann. Autonomie faßt den Geist der Zeit zusammen: sich vom System befreien, statt es in Stücke zu schlagen.
Eine zukünftige Revolution wird weniger die Zusammenführung des Proletariats zu einem Block sein, als eine Desintegration dessen, was die Proletarier Tag für Tag als Proletarier reproduziert. Dieser Prozeß bedeutet sowohl, zusammen zu kommen und sich am Arbeitsplatz zu organisieren, aber auch den Arbeitsplatz zu verändern und davon loszukommen, als auch Arbeiter-Versammlung. Die Vergemeinschaftung wird weder San Francisco 19665 ähneln, noch frühere Fabrikbesetzungen in größerem Maßstab neu inszenieren.
Am Ende fügte die SI dem Rätegedanken die Illusion einer revolutionären »Lebenskunst« hinzu, d.h. einen revolutionären Lebensstil. Sie begehrte eine Welt, in der menschliche Aktivität zu beständigem Vergnügen führen würde, und beschrieb das Ende der Arbeit als den Beginn von Spaß und Freude ohne Grenzen. Sie kam nie weg von der progressistisch-technizistischen Sichtweise einer Automation, die zu Überfluß führen würde.
Von den ganz wenigen Gruppierungen, die einen gesellschaftlichen Beitrag zur subversiven Welle Mitte der 60er Jahre leisteten, kam die Situationistische Internationale dem Kommunismus, wie man ihn sich zu dieser Zeit vorstellte, am nächsten.
Es gab eine historisch nicht zu überwindende Unvereinbarkeit zwischen »Nieder mit der Arbeit!« und »Alle Macht den Arbeitern!«
Die SI befand sich im Zentrum dieses Widerspruchs.
1aus: The Bad Days will End Nr. 3.
2Watts, Schwarzenghetto in Los Angeles: mehrtägige Revolte im Sommer 1965. Turin: militante Kämpfe von FIAT-Arbeitern (Anm.d.Ü.).
3(Engl. militantism, Anm.d.Ü.) Militant hat im Englischen und Französischen verschiedene Bedeutungen. Ursprung ist das Wort military (militärisch), und in beiden Sprachen enthält es die Vorstellung, für eine Sache zu kämpfen. Im Englischen bedeutet es combative (kämpferisch), ‚aggressively active‘ (Webster’s 1993). Im Französischen war der Begriff positiv besetzt (militants als Parteisoldaten der Arbeiterbewegung), bis die SI ihn mit Selbstaufopferung und negativer Ergebenheit gegenüber einer Sache assoziierte: in diesem Sinne benutzen wir den Begriff.
4Pro-situationistische Militante hatten Gelder der Nationalen Union der französischen Studenten für die Veröffentlichung der Broschüre Über das Elend im Studentenmilieu verwandt. Diese Broschüre wurde bei einer feierlichen Universitätseröffnung an die Prominenz verteilt und sorgte für einen international beachteten Skandal. (Anm.d.Ü.)
5Systemkritische Bewegung von Hippies und Yippies mit neuen Aktions- und Lebensformen (Sit-Ins, Love-Ins, Kommunen, LSD …) (Anm.d.Ü.)
]]>Kritik der Situationistischen Internationale
Gilles Dauvé1
Ideologie und Lohnsystem
Kapitalismus verwandelt das Leben in das zum Lebensunterhalt notwendige Geld. Man neigt dazu, jede einzelne Sache zu einem anderen Zweck zu tun, als zu dem, der vom Inhalt der Tätigkeit vorgegeben wird. Die Logik der Entfremdung: man ist jemand anderes; das Lohnsystem macht fremd gegenüber dem, was man tut, was man ist, gegenüber anderen Menschen.
Nun produziert die menschliche Tätigkeit nicht nur Waren und Beziehungen, sondern auch Vorstellungen. Der Mensch ist nicht homo faber; die Reduzierung des menschlichen Lebens auf die Ökonomie (inzwischen vom offiziellen Marxismus übernommen) existiert seit der Inthronisierung des Kapitals. Jede Tätigkeit ist symbolisch: sie schafft gleichzeitig Produkte und eine Vorstellung von der Welt. Die Anordnung eines ursprünglichen Dorfes:
faßt zusammen und sichert die Beziehungen zwischen Mensch und Universum, zwischen der Gesellschaft und der übernatürlichen Welt, zwischen den Lebenden und den Toten. (Levi-Strauss)
Der Warenfetischismus ist nur die Form, die dieser Symbolismus in vom Tausch beherrschten Gesellschaften annimmt.
Da das Kapital dazu tendiert, alles als Kapital zu produzieren, alles zu parzellieren, um es mit Hilfe der Marktbeziehungen neu zusammenzusetzen, so macht es auch aus der Vorstellung einen besonderen Produktionsbereich. Nachdem die Lohnarbeiter der Mittel ihrer materiellen Existenz beraubt sind, werden sie auch der Mittel beraubt, ihre Gedanken zu produzieren, die vom einem spezialisierten Bereich produziert werden (daher die Rolle der Intellektuellen, ein Begriff, der in Frankreich vom Manifest der Intellektuellen 1898 eingeführt wurde). Der Proletarier erhält diese Vorstellungen (Gedanken, Bilder, implizite Assoziationen, Mythen), so wie er die anderen Aspekte seines Lebens vom Kapital erhält. Schematisch gesagt, gewann der Arbeiter des 19. Jahrhunderts seine Ideen (auch die reaktionären) im Café, im Wirtshaus oder im Verein, während der heutige Arbeiter sie im Fernsehen sieht – eine Tendenz, bei der es sicher absurd wäre, sie soweit zu extrapolieren, daß man die gesamte Wirklichkeit auf sie reduziert.
Marx definierte Ideologie als Ersatz für eine wirkliche Veränderung: die Veränderung wird auf der imaginären Ebene gelebt. Der moderne Mensch ist unter diesen Umständen auf jeden Bereich ausgedehnt. Er verändert nichts mehr, außer in Bilder. Er reist, um die Stereotypen des fremden Landes wieder zu entdecken; er liebt, um die Rolle des potenten Liebhabers oder der zärtlichen Geliebten zu spielen. Von der Lohnarbeit seiner Arbeit (der Veränderung der Umgebung und seiner selbst) beraubt, erlebt der Proletarier das »Spektakel« der Veränderung.
Der heutige Lohnarbeiter lebt nicht im »Überfluß« im Verhältnis zum Arbeiter des 19. Jahrhunderts, der in »Armut« lebte. Der Lohnarbeiter konsumiert nicht einfach Gegenstände, sondern reproduziert die ökonomischen und geistigen Strukturen, die auf ihm lasten. Das ist der Grund, warum, im Gegensatz zur Meinung von Invariance2, er sich nur von diesen Vorstellungen befreien kann, wenn er ihre materielle Basis abschafft. Er lebt in einer semiotischen Gemeinschaft, die ihn dazu zwingt, weiterzumachen: materiell (Kredit), ideologisch und psychologisch (diese Gemeinschaft ist eine der wenigen, die ihm zur Verfügung stehen). Man konsumiert nicht nur Zeichen: es gibt viele Zwänge, und vor allen Dingen ökonomische (Rechnungen, die bezahlt werden müssen usw.). Das Kapital beruht auf der Produktion und dem Verkauf von Gegenständen. Daß diese Gegenstände auch als Zeichen funktionieren (und manchmal vor allem als solche), ist eine Tatsache, doch dies hebt niemals ihre Materialität auf. Nur Intellektuelle glauben, daß sie in einer Welt leben, die nur aus Zeichen besteht.3
Wahr und falsch
Welches sind für die revolutionäre Bewegung die Konsequenzen der Funktion gesellschaftlichen Scheins im modernen Kapitalismus (I.S. Nr. 10)? Wie Marx und Dejacque4 sagten, war Kommunismus immer der Traum von der Welt. Heute dient der Traum auch dazu, die Wirklichkeit nicht zu verändern. Man kann sich nicht damit begnügen, die Wahrheit zu »erzählen»: dies kann nur als Praxis geschehen, als ein Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Sagen und Tun, Äußerung und Veränderung, und manifestiert sich als Spannung. Das »Falsche« ist keine Wand, die die Sicht blockiert. Das »Wahre« existiert im Falschen, in Le Monde oder im Fernsehen, und das Falsche existiert im Wahren, in Texten, die revolutionär sind oder beanspruchen dies zu sein. Das Falsche setzt sich durch die Praxis durch, durch den Gebrauch, den es von der Wahrheit macht: das Wahre ist nur in der Veränderung wahr. Revolutionäre Tätigkeit, die sich in dem, was sie sagt, auf dieser Seite von dem verortet, was das Radios sagt, ist halb belanglos. Laßt uns die Kluft zwischen den Worten und der Realität messen. Die SI verlangte, daß Revolutionäre nicht mit Worten blenden. Revolutionäre Theorie ist nicht von sich aus revolutionär, sondern durch die Fähigkeit derjenigen, die sie subversiv gebrauchen, nicht durch eine plötzliche Erleuchtung, sondern durch eine Art der Darstellung und Verbreitung, die Spuren hinterläßt, auch wenn diese manchmal kaum sichtbar sind. Die Anprangerung der Linken z.B. ist sekundär. Daraus den Angelpunkt der Aktivität zu machen, führt dazu, wegen der Polemik gegen diese oder jene Gruppe die grundlegenden Fragen nicht zu behandeln. Eine solche Vorgehensweise verändert den Inhalt der Ideen und Aktionen. Man verbreitet das Wesentliche nur über Anprangerungen, und die Anprangerung wird schnell zum Wesentlichen.
Gegenüber der Vervielfachung von Individuen und Texten mit radikalen Ansprüchen zwingt einen die SI zur folgenden Frage: ist diese Theorie das Produkt eines subversiven sozialen Verhältnisses, das sich zu äußern sucht, oder eine Produktion von Gedanken, die verbreitet werden, ohne zu einer praktischen Vereinheitlichung beizutragen? Jeder hört Radio, doch die Rundfunkgeräte vereinigen die Proletarier im Dienst des Kapitals – bis zu dem Tag, an dem diese technischen Mittel von revolutionären Proletariern in Besitz genommen werden, und eine Stunde Radioübertragung Jahre vorhergehender ‚Propaganda‘ wert sind.
Doch bedeutet das ‚Ende der Ideologie‘ nicht, daß es eine Gesellschaft ohne Ideen geben könne, die automatisch wie eine Maschine funktioniert: dies würde eine ‚robotisierte‘ und folglich eine nicht-‚menschliche‘ Gesellschaft voraussetzen, soweit sie der notwendigen Reaktion ihrer Mitglieder beraubt sein würde. Da es zu einer Ideologie im Sinne der Deutschen Ideologie geworden ist, entwickelt sich das Imaginäre genau entlang dieser Linien. Es gibt keine Diktatur der sozialen Verhältnisse, die uns fernsteuert, ohne Reaktion und Reflex von unserer Seite. Dies ist eine sehr partielle Vorstellung von der ‚Barbarei‘. Der Fehler in der Beschreibung von vollkommen totalitären Gesellschaften (Orwells 1984 oder der Film THX 138) ist der, daß sie nicht sehen, daß alle Gesellschaften, sogar die unterdrückerischsten, das Eingreifen und das Handeln der Menschen zu ihrer Entwicklung voraussetzen. Jede Gesellschaft, einschließlich und besonders die kapitalistische Gesellschaft, lebt von diesen Spannungen, auch wenn sie dabei Gefahr läuft, von ihnen zerstört zu werden. Die Kritik der Ideologie leugnet weder die Rolle der Ideen noch die der kollektiven Aktion bei ihrer Propagierung.
Die theoretische Sackgasse des Begriffs ‚Spektakel‘
Der Begriff des Spektakels vereint eine große Zahl von gegebenen grundlegenden Fakten, indem er die Gesellschaft – und folglich ihre revolutionäre Veränderung – als Tätigkeit zeigt. Kapitalismus ‚mystifiziert‘ die Arbeiter nicht. Die Aktivität von Revolutionären ‚entmystifiziert‘ nicht; sie ist der Ausdruck einer wirklichen sozialen Bewegung. Die Revolution bringt eine andere Aktivität hervor, deren Schaffung eine Bedingung dessen ist, was klassische revolutionäre Theorie ‚politische‘ Ziele nannte (Zerstörung des Staats). Doch die SI war nicht in der Lage, den Begriff, den sie geschaffen hat, in diesem Sinne aufzufassen. Sie legte so viel in diesen Begriff hinein, daß sie die gesamte revolutionäre Theorie um das Spektakel herum neu aufbaute.
In ihrer Theorie des ‚bürokratischen Kapitalismus‘ betonte Socialisme ou Barbarie hauptsächlich die Bürokratie. In ihrer Theorie der ’spektakulären Warengesellschaft‘ erklärte die SI alles vom Spektakel her. Man kann eine revolutionäre Theorie nur als Ganzes schaffen, und indem man sie auf das gründet, was für das gesellschaftliche Leben grundlegend ist. Nein, die Frage des ‚gesellschaftlichen Scheins‘ ist nicht der Schlüssel zu einer neuen revolutionären Anstrengung (I.S., Nr. 10)
Die traditionellen revolutionären Gruppen sahen nur neue Mittel der Konditionierung. Doch für die SI entspricht die Ausdrucksweise der ‚Medien‘ einer Lebensweise, die vor hundert Jahren nicht existierte. Das Fernsehen indoktriniert nicht, sondern steht selbst mit einer Daseinsweise in Zusammenhang. Die SI zeigte das Verhältnis zwischen Form und Grundlage auf, wo der traditionelle Marxismus lediglich neue Instrumente im Dienste der alten Sache sah.
Unterdessen fällt der von der SI ausgearbeitete Begriff des Spektakels hinter das zurück, was Marx und Engels unter dem Begriff ‚Ideologie‘ verstanden. Debords Buch Die Gesellschaft des Spektakels stellt sich als ein Versuch dar, die kapitalistische Gesellschaft und die Revolution zu erklären, wo sie eigentlich nur deren Formen in Betracht zieht, die zwar ein wichtiges, aber nicht entscheidendes Phänomen sind. Es kleidet deren Beschreibung in eine Theoretisierung, die den Eindruck einer grundlegenden Analyse vermittelt, wo in Wirklichkeit die Methode und das Subjekt, die untersucht werden, stets auf der Ebene des gesellschaftlichen Scheins bleiben. Auf dieser Ebene ist das Buch hervorragend. Das Problem ist, daß es geschrieben (und gelesen) wurde, als ob man etwas darin finden würde, was nicht darin enthalten ist. Während Socialisme ou Barbarie das revolutionäre Problem mit den Mitteln der Industriesoziologie analysierte, untersucht es die SI ausgehend von einer Betrachtung auf der Oberfläche der Gesellschaft. Damit will ich nicht sagen, daß Die Gesellschaft des Spektakels oberflächlich ist. Sein Widerspruch und, letztlich, seine theoretische und praktische Sackgasse besteht darin, eine Untersuchung des Tiefgründigen durch und mittels des oberflächlichen Scheins gemacht zu haben. Die SI hatte keine Analyse des Kapitals: sie hat es verstanden, aber durch seine Auswirkungen. Sie hat die Ware kritisiert, nicht das Kapital – oder genauer gesagt, sie hat das Kapital als Ware kritisiert und nicht als Verwertungssystem, das die Produktion wie auch den Tausch beinhaltet.
Das gesamte Buch hindurch bleibt Debord auf der Ebene der Zirkulation, und es fehlt das notwendige Moment der Produktion, der produktiven Arbeit. Was das Kapital nährt, ist nicht der Konsum, wie er uns zu verstehen gibt, sondern die Wertbildung durch die Arbeit. Debord hat recht, wenn er im Verhältnis zwischen Schein und Wirklichkeit mehr sieht als in dem zwischen Illusion und Wirklichkeit, als ob der Schein nicht existierte. Doch man kann das Wirkliche nie auf der Grundlage des Scheinbaren verstehen. So vollendet Debord sein Projekt nicht. Er zeigt nicht, wie der Kapitalismus das, was nur das Ergebnis ist, zur Ursache oder sogar zur Bewegung macht. Die Kritik der politischen Ökonomie (die Debord, wie vor ihm die utopischen Sozialisten, nicht unternimmt) zeigt, wie der Proletarier nicht nur sein Produkt, sondern seine Tätigkeit über sich und gegen sich stehen sieht. Im Warenfetischismus erscheint die Ware als ihre eigene Bewegung. Durch den Kapitalfetischismus nimmt das Kapital eine Autonomie an, die es nicht besitzt, und stellt sich als lebendiges Wesen dar (Invariance ist ein Opfer dieser Illusion): man weiß nicht, wo es herkommt, wer es produziert, durch welchen Prozeß der Proletarier es hervorbringt und durch welchen Widerspruch es lebt und möglicherweise untergeht. Debord macht das Spektakel zum Subjekt des Kapitalismus, anstatt zu zeigen, wie es vom Kapitalismus produziert wird. Er reduziert den Kapitalismus allein auf seine spektakuläre Dimension. Die Bewegung des Kapitals wird zur Bewegung des Spektakels. Auf dieselbe Weise schreibt Vaneighem in den Basisbanalitäten5 eine Geschichte des Spektakels durch Religion, Mythos, Politik, Philosophie usw. Diese Theorie bleibt auf einen Teil der wirklichen Verhältnisse beschränkt, und geht so weit, sie gänzlich auf diesem Teil beruhen zu lassen.
Das Spektakel ist passiv gewordene Tätigkeit. Die SI entdeckte neu, was Marx in den Grundrissen über die Erhebung des menschlichen Daseins (seiner Selbstveränderung, seiner Arbeit) als einer fremden Macht geschrieben hat, die ihn niederdrückt: ihr gegenüber lebt er nicht mehr, sondern schaut nur noch zu. Die SI verlieh diesem Thema neuen Nachdruck. Doch das Kapital ist mehr als Befriedung. Es braucht die Intervention des Proletariers, wie Socialisme ou Barbarie6 gesagt hat. Die Überschätzung des Spektakels durch die SI ist ein Anzeichen dafür, daß sie auf der Grundlage einer gesellschaftlichen Vorstellung theoretisiert, die an der Peripherie der Gesellschaft entstanden ist, und die sie für zentral hielt.
Das Spektakel und die Kunsttheorie
Die Theorie des Spektakels bringt die Krise des Zeitraums außerhalb der Arbeit zum Ausdruck. Das Kapital schafft zunehmend einen Bereich außerhalb der Arbeit, gemäß der Logik seiner Ökonomie: es entwickelt nicht die Freizeit, um die Massen zu kontrollieren, doch da es der lebendigen Arbeit eine geringere Rolle in der Produktion zuweist, verringert es die Arbeitszeit, und diese kommt zur inaktiven Zeit des Lohnarbeiters hinzu. Das Kapital schafft für den Lohnarbeiter eine Raum-Zeit, die ausgeschlossen, leer ist, weil der Konsum sie nie ganz ausfüllen kann. Von Raum-Zeit zu sprechen bedeutet, die Tatsache zu betonen, daß eine Verringerung des Arbeitstags stattfindet, und daß diese befreite Zeit ebenso einen geographischen und gesellschaftlichen Raum einnimmt, insbesondere die Straße (vgl. die Bedeutung der Stadt und des Umherschweifens für die SI).
Diese Situation trifft mit einer doppelten Krise der ‚Kunst‘ zusammen. Erstens hat Kunst keine Bedeutung mehr, weil die westliche Gesellschaft nicht weiß, wohin sie geht. Mit dem Jahr 1914 verlor der Westen Sinn und Ausrichtung der Zivilisation. Wissenschaftsgläubigkeit, Liberalismus und Apologetik der ‚befreienden‘ Wirkung der Produktivkräfte gingen ebenso bankrott wie ihre Gegner (Romantik usw.). Von da an mußte Kunst tragisch, narzißtisch oder die Negation ihrer selbst sein. In früheren Krisenzeiten suchte man nach dem Sinn der Welt: heute zweifelt man daran, ob sie einen hat. Zweitens stellt die Kolonisierung des Marktes und die vergebliche Suche nach einer ‚Richtung‘ die Künstler in den Dienst des Konsums außerhalb der Arbeit.
Die SI ist sich ihrer gesellschaftlichen Herkunft bewußt. Über den Durchgang einiger Personen … (1959), einer von Debords Filmen, spricht von Menschen am Rande der Ökonomie. Auf dieser Ebene verstand die SI, wie Socialisme ou Barbarie auf der Ebene des Betriebs, daß der moderne Kapitalismus dazu tendiert, Menschen von jeder Tätigkeit auszuschließen und sie gleichzeitig in eine Pseudo-Beteiligung einzubinden. Doch, wie Socialisme ou Barbarie, macht sie den Widerspruch zwischen aktiv und passiv zu einem entscheidenden Kriterium. Revolutionäre Praxis besteht darin, genau die Prinzipien des Spektakels zu durchbrechen: Nicht-Intervention (I.S. Nr.1). Am Ende des Prozesses werden die Arbeiterräte das Mittel darstellen, aktiv zu sein, die Trennung aufzuheben. Das Kapital existiert durch den Ausschluß der Menschen, durch ihre Passivität. Alles, was in Richtung Verweigerung der Passivität geht, ist revolutionär. Daher ist der Revolutionär definiert durch ‚einen neuen Lebensstil‘, der ein ‚Beispiel‘ sein wird (I.S. Nr. 7, S.I., Bd. 1, S. 267).
Der Bereich außerhalb der Arbeit beruht auf Fesseln, die ungewisser (vgl. das Umherschweifen) und subjektiver als die Lohnarbeit sind, welche eher zum Notwendigen und Objektiven gehört. Der traditionellen Ökonomie stellt die SI eine Ökonomie der Begierde entgegen (I.S. Nr. 7, S.I. Bd. 1, S. 268); der Notwendigkeit stellt sie die Freiheit entgegen; der Mühsal das Vergnügen; der Arbeit die Automation, die sie überflüssig macht, dem Opfer die Freude. Die SI dreht die Gegensätze um, die jedoch überwunden werden müssen. Der Kommunismus befreit uns nicht von der Notwendigkeit der Arbeit, er beseitigt die ‚Arbeit‘ selbst. Die SI identifiziert Revolution mit einer Befreiung von Zwängen, die auf der Begierde und vor allem auf der Begierde nach anderen Menschen, dem Bedürfnis nach Beziehungen beruht. Sie stellt eine schlechte Verbindung zwischen ‚Situation‘ und ‚Arbeit‘ her, was ihre Vorstellung von der Situation beschränkt. Sie stellt sich die Gesellschaft und deren Umsturz aus dem Zusammenhang nicht-lohnabhängiger Gesellschaftsschichten heraus vor. Daher überträgt sie auf das Produktionsproletariat das, was sie über die gesagt hat, die außerhalb des Lohnsystems stehen (Straßengangs, Schwarze im Ghetto). Da sie das Gravitätszentrum der Bewegung nicht kannte, wandte sich die SI dem Rätegedanken zu: die Räte erlauben eine ‚direkte und aktive Kommunikation‘ (Die Gesellschaft des Spektakels). Die Revolution erschien als die Ausweitung der Konstruktion intersubjektiver Situationen auf die gesamte Gesellschaft.
Die Kritik der SI verläuft über die Anerkennung ihres ‚avantgarde-künstlerischen‘ Aspekts. Ihre soziologische Herkunft ruft oft mißbräuchliche und absurde Interpretationen im Stile von ‚das waren Kleinbürger‘ hervor. Die Frage liegt eindeutig woanders. Die SI bildete ihre Theorie von ihrer eigenen gesellschaftlichen Erfahrung heraus. Der künstlerische Ursprung der SI ist nicht per se ein Stigma; doch er hinterläßt seine Spuren in der Theorie und in der Entwicklung, wenn die Gruppe die Welt vom Standpunkt ihrer eigenen Gesellschaftsschicht aus betrachtet. Der Übergang zu einer revolutionären Theorie und Aktion, die allgemein ist (nicht mehr nur auf Kunst, Urbanismus usw. abgezielt), entspricht auf Seiten der SI einer präzisen Logik. Die SI sagt, daß jede neue Nummer ihrer Zeitschrift es jemandem erlauben kann und muß, alle vorhergehenden Ausgaben auf eine neue Weise zu lesen. Dies ist tatsächlich die Charakteristik einer Theorie, die reicher wird, reicher gemacht wird. Es geht nicht auf der einen Seite um den allgemeinen Aspekt der SI, und auf der anderen um ihr mehr oder weniger kritisches Verhältnis zur Kunst. Die Kritik der Trennung war ihr Leitfaden. In der Kunst wie in den Räten, in der Selbstverwaltung, in der Arbeiterdemokratie und in der Organisation (vgl. ihre Minimale Definition der revolutionären Organisationen7) wollte die SI die Trennung aufheben, um eine wirkliche Gemeinschaft zu schaffen. Während die SI es ablehnte, à la Cardan zu ‚zweifeln‘, endete sie damit, daß sie die Problematik der Beteiligung à la Chaulieu übernahm.8
Die SI und Socialisme ou Barbarie
Um ‚die Transparenz der intersubjektiven Beziehungen‘ zu erreichen, landete die SI bei dem von Socialisme ou Barbarie unterstützten Rätegedanken. Die Räte sind das Mittel, um die Einheit neu zu entdecken. Debord traf über Canjuers auf und schloß sich der Gruppe für einige Monate an. Seine Mitgliedschaft wurde in der Zeitung der SI nicht erwähnt. Im Gegenteil: In Die wirkliche Spaltung9 wird am Beispiel von Khayati, ‚eine doppelte Mitgliedschaft (in der SI und einer anderen Gruppe)‘ prinzipiell ausgeschlossen, ‚da sie unmittelbar an Manipulation grenzen würde‘ (S. 105). Wie immer dem auch sei, Debord beteiligte sich an den Aktivitäten von Socialisme ou Barbarie, solange er Mitglied war, und war Teil der Delegation, die während des großen Streiks von 1960 nach Belgien geschickt wurde. Nach einem von Socialisme ou Barbarie organisierten internationalen Treffen, das zugleich enttäuschend war und die fehlenden Perspektiven enthüllte, und das mit einer prätentiösen Rede Chaulieus über die Aufgaben von Socialisme ou Barbarie endete, verkündete Debord seinen Austritt. Nicht ohne Ironie erklärte er, daß er mit den von Chaulieu dargestellten großen Perspektiven übereinstimme, sich aber einer solch ungeheuren Aufgabe nicht gewachsen fühle.
I.S. Nr. 6 (1961) übernahm den Rätegedanken, wenn nicht gar die Räteideologie; auf jeden Fall übernahm sie die These von der Teilung in ‚Leitende‘ und ‚Ausführende‘. Das Projekt, das die SI sich in I.S. Nr. 6 vornahm, und das unter anderem ‚das illusionslose Studium der klassischen Arbeiterbewegung‘ und von Marx beinhaltete, wurde nicht verwirklicht. Die SI sollte auch weiterhin die Realität der kommunistischen Linken, besonders Bordiga, nicht kennen. Die radikalste der revolutionären Bewegungen sollte stets eine verbesserte Socialisme ou Barbarie sein. Sie sah die Theorie durch diesen Filter.
Vaneigems Basisbanalitäten übergehen in fröhlicher Weise Marx und schreiben die Geschichte im Lichte von Socialisme ou Barbarie neu, während sie ihr die Warenkritik hinzufügen. Die SI kritisierte Socialisme ou Barbarie, jedoch nur in gradueller Weise: für die SI beschränkte Socialisme ou Barbarie den Sozialismus auf Arbeiterselbstverwaltung, während er tatsächlich von allem die Selbstverwaltung bedeutete. Chaulieu beschränkte sich auf die Fabrik, Debord wollte das Leben selbstverwalten. Vaneigems Vorgehen ist sehr eng mit dem von Cardan verwandt. Er schaut nach einem Zeichen (Beweis): nicht mehr die schamlose Ausbeutung des Arbeiters auf Betriebsebene, sondern das Elend der sozialen Beziehungen, dort liegt der revolutionäre Zünder:
Die schwache Qualität des Spektakels und des Alltagslebens wird zum einzigen Zeichen.
Die wirkliche Spaltung… sprach auch von einem Zeichen dessen, was unerträglich war. Vaneigem ist gegen den Vulgärmarxismus, doch er integriert den Marxismus nicht in die Kritik. Er nimmt das nicht auf, was bei Marx revolutionär war und das der etablierte Marxismus ausgelöscht hat.
Wie Die Gesellschaft des Spektakels begibt sich Basisbanalitäten auf die Ebene der Ideologie und ihrer Widersprüche. Vaneigem zeigt, wie Religion zum Spektakel geworden ist, was die revolutionäre Theorie dazu zwingt, das Spektakel zu kritisieren, so wie sie früher von einer Kritik der Religion und der Philosophie ausgehen mußte. Doch auf diese Weise erhält man nur die Vor-Bedingung revolutionärer Theorie: die Arbeit bleibt noch zu erledigen. Die SI erhoffte sich zunächst viel von Lefebvre10 und Cardan, wies diese später aber heftig zurück. Doch sie bewahrte mit ihnen die Gemeinsamkeit, weder eine Kapitalismustheorie noch eine Gesellschaftstheorie zu besitzen. Um das Jahr 1960 herum öffnete sie neue Horizonte, unternahm jedoch nicht den Schritt nach vorn. Die SI packte den Wert an (vgl. Jorns Text über die politische Ökonomie und den Gebrauchswert), erkannte ihn jedoch nicht als das, was er ist. Ihre Theorie besaß weder eine Zentralität noch eine umfassende Sichtweise. Dies führte dazu, daß sie sehr unterschiedliche soziale Bewegungen überbewertete, ohne den Kern des Problems zu sehen.
Es ist z.B. unbestreitbar, daß der Artikel über Watts (Nr. 10, 1966)11 ein brillanter theoretischer Durchbruch ist. Indem sie auf ihre eigene Weise das aufgriff, was über den Austausch zwischen Mauss und Bataille hätte gesagt werden können, stellte die SI die Frage nach der Veränderung des eigentlichen Wesens der kapitalistischen Gesellschaft. Die Schlußfolgerung des Artikels wendet sich sogar einmal gegen Marx‘ Formulierung über das Bindeglied zwischen dem Menschen und seinem Gattungswesen, gegen die sich zur gleichen Zeit auch Camatte in der P.C.I.12 wandte (vgl. die Nr. 1 von Invariance). Doch, um auf der Ebene der Ware zu bleiben, die SI war unfähig zwischen den Ebenen der Gesellschaft zu differenzieren, und zu bestimmen, was eine Revolution ausmacht. Wenn sie schreibt, daß eine Revolte gegen das Spektakel sich auf die Ebene der Totalität begibt…, so beweist dies, daß sie aus dem Spektakel eine Totalität macht. Genauso führen ihre ‚Selbstverwaltungs‘-Illusionen sie dazu, in Bezug auf das Algerien nach dem Putsch von Boumedienne die Tatsachen zu verdrehen: Das einzige Programm der algerischen sozialistischen Elemente ist die Verteidigung des selbstverwalteten Sektors, nicht nur wie er ist, sondern wie er werden soll (Nr. 10, 1966, in: Situationistische Internationale, Band 2, S. 164).
Mit anderen Worten, die SI glaubte, daß es ohne Revolution, das heißt, ohne die Zerstörung des Staats und ohne wesentliche Veränderungen in der Gesellschaft, Arbeiterselbstverwaltung geben könnte, und daß Revolutionäre für ihre Ausbreitung arbeiten sollten.
Positive Utopie
Die SI erlaubt es, auf der Ebene der revolutionären Aktivität die Implikationen der Kapitalentwicklung seit 1914 zu erkennen, die bereits von der kommunistischen Linken insofern erkannt wurden, als diese Entwicklung Reformismus, Nationen, Kriege, die Entwicklung des Staats usw. zur Folge hatte. Die SI hatte den Weg der kommunistischen Linken gekreuzt.
Die SI verstand die kommunistische Bewegung und die Revolution als Produktion von neuen Beziehungen untereinander und zu den ‚Dingen‘ durch die Proletarier. Sie entdeckte den Marx’schen Gedanken des Kommunismus als den der Bewegung wieder, in der die Menschen ihre eigenen Verhältnisse selbst schaffen. Neben Bordiga war sie die erste, die wieder an die utopische Tradition anknüpfte. Dies war gleichzeitig ihre Stärke und ihre Zweideutigkeit.
Die SI war ursprünglich eine Revolte, die versuchte, sich die kulturellen Mittel zurückzuholen, die durch Geld und Macht monopolisiert waren. Früher wollten die klar denkendsten Künstler die Trennung zwischen Kunst und Leben aufheben: die SI stellte diese Forderung auf eine höhere Ebene und wollte die Distanz zwischen Leben und Revolution abschaffen. ‚Experimentieren‘ war für die Surrealisten ein illusorisches Mittel gewesen, die Kunst ihrer Isolation von der Wirklichkeit zu entreißen: die SI wandte es an, um eine positive Utopie zu finden. Die Zweideutigkeit rührt daher, daß die SI nicht genau wußte, ob es darum ging, von nun an anders zu leben, oder nur darauf zuzusteuern.
Wir wissen wohl, daß die umzustürzende Kultur nur mit der gesamten ökonomisch-sozialen Formation fallen wird, die sie aufrecht erhält. Die SI hat unverzüglich vor, solange gegen sie in ihrem ganzen Umfang anzukämpfen, bis sie eine autonome situationistische Kontrolle und ein Instrumentarium gegen diejenigen erzwungen hat, die in den Händen der bestehenden kulturellen Autoritäten sind – d.h. also bis zu einem Zustand der doppelten Macht in der Kultur … Die Stätte einer solchen Entwicklung kann zunächst die UNESCO sein, sobald die SI dort die Führung übernommen hat: Volksuniversitäten neuen Typs, die vom passiven Konsum der alten Kultur losgelöst sind; schließlich noch zu errichtende utopische Zentren, die gegenüber bestimmten heutigen Einrichtungen des sozialen Freizeitraums vom herrschenden Alltagsleben vollkommen befreit werden und gleichzeitig als Brückenköpfe zur Invasion in dieses Alltagsleben fungieren sollen. (Nr. 5, 1960, Situationistische Internationale, Bd. 1, S. 159 u. 184)
Der Gedanke einer schrittweisen Befreiung hängt zusammen mit dem einer sich nach und nach überall hin ausbreitenden Selbstverwaltung: die SI mißversteht die Gesellschaft als eine Totalität. Außerdem privilegiert sie die ‚Kultur‘, der bedeutsame Mittelpunkt einer Gesellschaft ohne Bedeutung (Nr. 5, S. 159).
Diese Überschätzung der Rolle der Kultur wurde später auf die Arbeiterautonomie übertragen: die ‚Macht der Räte‘ sollte sich ausweiten, bis sie die gesamte Gesellschaft einnahm. Diese beiden Merkmale wurzeln tief in den Ursprüngen der SI. Das Problem ist daher nicht, daß die SI zu ‚künstlerisch‘, im Sinne der Bohème, blieb, und es an ‚Strenge‘ fehlen ließ (als ob die ‚Marxisten‘ streng wären), sondern daß sie durchgehend denselben Ansatz anwandte.
Die Projekte für ein ‚anderes‘ Leben waren Legion in der SI. In der I.S. Nr. 6 (1961) ging es um eine experimentelle Stadt. Bei der Göteborger Konferenz sprach Vaneigem davon, situationistische Basen zu schaffen, um den unitären Urbanismus und ein befreites Leben vorzubereiten. Diese Rede (behauptet das Protokoll) ruft keinen Widerspruch hervor (Nr. 7, 1962, Situationistische Internationale, Bd. 1, S. 279).
Man macht eine Organisation; revolutionäre Gruppen können nur dann einen Anspruch auf eine Existenz als permanente Avantgarde erheben, wenn sie selbst das Beispiel eines neuen Lebensstils geben (Nr. 7, S. 267) Die Überschätzung der Organisation und der Verpflichtung, jetzt anders zu leben, führte nun offenbar zu einer Selbstüberschätzung der SI. Trocchi erklärt in der Nr. 8:
Wir streben eine Situation an, in der das Leben ständig durch die Kunst erneuert wird, eine Situation, konstruiert durch Phantasie und Leidenschaft … wir haben in den letzten zehn Jahren schon genügend Experimente vorbereitender Art gemacht: wir sind bereit zu handeln (Situationistische Internationale, Bd. 2, S. 62 u. 65).
Eine bezeichnende Tatsache: die Kritik dieses Artikels in der darauffolgenden Ausgabe bezog sich nicht auf diesen Aspekt. Trocchi sollte dieses Programm auf seine eigene Weise im Project Sigma verwirklichen: die SI distanzierte sich nicht davon, sondern stellte lediglich fest, daß Trocchi dieses Projekt nicht in seiner Eigenschaft als Mitglied der SI unternahm.
Die Zweideutigkeit wurde von Vaneigem auf die Spitze getrieben, der tatsächlich ein Handbuch der Lebenskunst in der gegenwärtigen Welt schrieb, während er beiseite ließ, welche sozialen Verhältnisse möglich sein könnten. Es ist ein Handbuch zur Verletzung der Logik des Markts und des Lohnsystems, wo immer man sie trifft. Die wirkliche Spaltung findet einige harte Worte für Vaneigem und sein Buch. Debord und Sanguinetti hatten recht, wenn sie von Exorzismus sprachen: Er hat gesprochen, um nicht zu sein.
Kein Zweifel. Doch die Kritik kommt verspätet. Vaneigems Buch ist ein schwer zu bewerkstelligendes Programm, weil es nicht gelebt werden kann, und drohte, einerseits in einen marginalen Possibilismus zu verfallen und andererseits in einen unrealisierbaren und daher moralischen Imperativ. Entweder man drängt sich in den Nischen der bürgerlichen Gesellschaft, oder man stellt ihr unaufhörlich ein anderes Leben entgegen, das ohnmächtig ist, weil nur die Revolution ihm zu einer Wirklichkeit verhelfen kann. Die SI steckte ihre sclechteste Seite in ihren schlechtesten Text. Vaneigem war die schwächste Seite der SI, die all ihre Schwächen enthüllte. Die positive Utopie ist revolutionär als Forderung, als Spannung, denn sie kann innerhalb der Gesellschaft nicht verwirklicht werden: sie wird lächerlich, wenn man versucht, sie heute zu leben. Anstatt auf Vaneigem als Individuum einzuhämmern, hätte Die wirkliche Spaltung eine Bilanz der Praxis erstellen können, die Vaneigem hervorgebracht hat – doch eine solche Bilanz gab es nicht.
Der Reformismus des Alltags wurde später auf die Ebene der Arbeit übertragen; zu spät zur Arbeit zu kommen, schreibt Ratgeb13, ist der Beginn einer Kritik der Lohnarbeit. Wir versuchen nicht, uns über Vaneigem lustig zu machen, den unglücklichen Theoretiker einer Lebenskunst, der ‚Radikalität‘. Sein Brio kann gerade mal dem Handbuch einen leeren Anspruch geben, der einen zum Lachen bringt. Die wirkliche Spaltung ist schlecht beraten, wenn sie Vaneigems Haltung im Mai 68 verspottet, als er wie geplant in den Urlaub fuhr, obwohl die ‚Ereignisse‘ begonnen hatten (von dem er im übrigen schnell zurückkehrte). Dieser persönliche Widerspruch spiegelte den theoretischen und praktischen Widerspruch, den die SI von Beginn an in sich trug. Wie jede Moralität, war Vaneigems Position unhaltbar und mußte beim Kontakt mit der Wirklichkeit zerschellen. Die SI gab sich ebenfalls einer moralistischen Praxis hin, als sie seine Haltung anprangerte: sie verurteilte Handlungen, ohne ihre Ursachen zu untersuchen. Diese Enthüllung von Vaneigems Vergangenheit, ob sie nun die Radikalisten stört oder amüsiert, hat außerdem etwas Unangenehmes an sich. Wenn Vaneigems Inkonsequenz im Jahre 1968 wichtig war, so hätte die SI daraus Konsequenzen ziehen müssen, wie sie es in einer Unmenge von anderen Fällen nicht versäumt hat, und hätte nicht vier Jahre warten dürfen, bis sie darüber redete. Wenn Vaneigems Verfehlung nicht wichtig war, so war es nutzlos darüber zu reden, selbst wenn er mit der SI gebrochen hatte. Tatsächlich trieb die SI, um ihren eigenen Begriff zu verwenden, die Ohnmacht ihrer Moralität aus, indem sie die Individuen anprangerte, die bei der Aufrechterhaltung dieser Moralität versagten, und rettete so auf einen Streich sowohl die Moralität als auch die SI selbst. Vaneigem war der Sündenbock für einen unmöglichen Utopismus.
Materialismus und Idealismus in der SI
Gegen den militanten Moralismus pries die SI eine andere Moralität: die der Autonomie der Individuen in der sozialen Gruppe und in der revolutionären Gruppe. Nun erlaubt nur eine Aktivität, die in eine soziale Bewegung integriert ist, durch eine erfolgreiche Praxis Autonomie. Sonst endet die Forderung nach Autonomie in der Schaffung einer Elite derer, die wissen, wie sie autonom werden.14 Wer Elitismus sagt, sagt auch Jünger. Die SI zeigte einen großen organisatorischen Idealismus, genau wie Bordiga (der Revolutionär als ‚entgiftet‘), wenn die SI das Problem auch auf andere Weise löste. Die SI griff auf eine unmittelbar praktische Moralität zurück, die ihren Widerspruch erklärt. Jede Moralität stellt über die gegebenen sozialen Verhältnisse die Verpflichtung, sich auf eine Art und Weise zu verhalten, die diesen Verhältnissen entgegengesetzt ist. In diesem Fall erfordert die Moralität der SI, die Spontaneität zu respektieren.
Der Materialismus der SI beschränkt sich auf das Bewußtsein von der Gesellschaft als Austausch von Subjekten, als Interaktion von menschlichen Beziehungen auf unmittelbarer Ebene, während sie die Totalität vernachlässigt: doch die Gesellschaft ist auch die Produktion ihrer eigenen materiellen Bedingungen, und die unmittelbaren Verhältnisse kristallisieren sich in Institutionen, mit dem Staat an ihrer Spitze. Die ‚Konstruktion konkreter Situationen‘ ist nur ein Aspekt der revolutionären Bewegung. In ihrer Theorie geht die SI zwar von den realen Existenzbedingungen aus, reduziert sie jedoch auf Beziehungen zwischen Subjekten. Dies ist der Standpunkt des Subjekts, das versucht, sich selbst neu zu entdecken, und keine Vorstellung, die sowohl Subjekt als auch Objekt umfaßt. Es ist das Subjekt, das seiner ‚Repräsentation‘ beraubt ist. Die Systematisierung dieses Gegensatzes in Die Gesellschaft des Spektakels richtet sich gegen den idealistischen Gegensatz, der charakterisiert ist durch das Vergessen der Objektivierungen des Menschen (Arbeit, Aneignung der Welt, Verschmelzung von Mensch und Natur). Der Subjekt-Objekt-Gegensatz ist der Leitfaden der westlichen Philosophie, der sich in einer Welt gebildet hat, deren Bedeutung dem Menschen nach und nach entgleitet. Schon Descartes stellte den Fortschritt der Mathematik und die Stagnation der Metaphysik Seite an Seite. Der merkantile Mensch ist auf der Suche nach seiner Rolle.
Die SI interessierte sich nicht für die Produktion. Sie warf Marx vor, zu ökonomistisch zu sein, unternahm aber selbst keine Kritik der politischen Ökonomie. Die Gesellschaft ist ein Ensemble von Verhältnissen, die sich durchsetzen, indem sie sich objektivieren und materielle oder gesellschaftliche Objekte (Institutionen) schaffen; die Revolution zerstört den Kapitalismus durch eine menschliche Aktion auf der Ebene ihrer Objektivierungen (Produktionssystem, Klassen, Staat), die genau von denjenigen durchgeführt wird, die im Mittelpunkt dieser Verhältnisse stehen.
Debord ist für Freud das, was Marx für Hegel ist: er fand, was eine materialistische Theorie persönlicher Beziehungen nur ist, ein begrifflicher Widerspruch. Anstatt vom Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse auszugehen, isoliert der Begriff der ‚Konstruktion von Situationen‘ die Beziehung zwischen den Subjekten von der Totalität der Verhältnisse. Auf dieselbe Weise wie, laut Debord, das Spektakel alles sagt, was über den Kapitalismus gesagt werden muß, erscheint die Revolution als die Konstruktion von Situationen, die auf die ganze Gesellschaft ausgeweitet wird. Die SI erfaßte nicht die Vermittlungen, auf denen die Gesellschaft beruht; und unter diesen zuerst die Arbeit, das ‚grundlegende Bedürfnis‘ (William Morris) des Menschen. Als Folge davon nahm sie nicht deutlich die Vermittlungen wahr, auf deren Grundlage eine Revolution gemacht werden kann. Um dieser Schwierigkeit zu entgehen, übertrieb sie die Vermittlung der Organisation. Ihre Räte-, Demokratie- und Selbstverwaltungspositionen erklären sich durch ihre Unkenntnis der gesellschaftlichen Dynamik.
Die SI betonte die Organisationsformen, um der Unzulänglichkeit des Inhalts abzuhelfen, den sie nicht verstand. Sie praktizierte die ‚Umkehrung des Genitivs‘ wie Marx in seinen frühen Werken, sie stellte die Dinge wieder auf die Füße: sie kehrte die Begriffe der Ideologie um, damit sie die Welt in ihrer Wirklichkeit verstand. Doch ein wirkliches Verständnis wäre mehr als eine Umkehrung: Marx gab sich nicht damit zufrieden, Hegel und die Junghegelianer auf den Kopf zu stellen.
Die SI sah das Kapital in der Form der Ware und ignorierte den Zyklus als Ganzes. Vom Kapital behält Debord nur den ersten Satz bei, ohne ihn zu verstehen: das Kapital erscheint als eine Warensammlung, aber es ist mehr als das. Die SI sah die Revolution mehr als eine Infragestellung der Distributionsverhältnisse (vgl. die Aufstände in Watts) als der Produktionsverhältnisse. Sie war mit der Ware vertraut, aber nicht mit dem Mehrwert.
Die SI zeigte, daß die kommunistische Revolution nicht nur ein unmittelbarer Angriff auf die Ware sein konnte. Dieser Beitrag ist entscheidend. Obwohl die italienische Linke den Kommunismus als die Zerstörung des Markts beschrieben und bereits mit der Ideologie der Produktivkräfte gebrochen hatte, verstand sie die gewaltige subversive Kraft konkreter kommunistischer Maßnahmen nicht.15 Bordiga stellte tatsächlich die Sozialisierung hinter die Eroberung der ‚politischen Macht‘ zurück. Die SI betrachtete den revolutionären Prozeß auf der Ebene der menschlichen Beziehungen. Selbst der Staat kann nicht auf rein militärischer Ebene zerstört werden. Die Vermittlung der Gesellschaft wird auch nur (doch nicht ausschließlich) durch den Umsturz der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse zerstört, die sie aufrechterhalten.
Die SI machte schließlich den entgegengesetzten Fehler von Bordiga. Letzterer reduzierte die Revolution auf die Anwendung eines Programms: erstere beschränkte sie auf den Umsturz der unmittelbaren Verhältnisse. Weder Bordiga noch die SI erfaßten das ganze Problem. Der eine stellte sich eine Totalität vor, die von ihren realen Mitteln und Verhältnissen abstrahiert war, die andere eine Totalität ohne Einheit oder Bestimmung, folglich eine Addition einzelner Punkte, die sich nach und nach ausweiten. Unfähig, den ganzen Prozeß theoretisch zu beherrschen, griffen beide auf eine organisatorische Bemäntelung zurück, um die Einheit des Prozesses zu sichern – für Bordiga die Partei, für die SI die Räte. Während Bordiga die revolutionären Bewegungen bis zum Exzeß entpersonalisierte, war die SI in der Praxis eine Bejahung der Individuen bis hin zum Elitismus. Obwohl sie Bordiga überhaupt nicht kannte, erlaubt einem die SI, Bordigas Thesen über die Revolution durch eine Synthese mit ihren eigenen weiterzuentwickeln.
Die SI selbst war nicht in der Lage, diese Synthese durchzuführen, die eine umfassende Vorstellung von dem voraussetzt, was Gesellschaft ist. Sie praktizierte positiven Utopismus nur um des Zweckes der Enthüllung willen, und dies ist zweifellos ihr theoretischer Stolperstein.
Was … in den Zentren ungleich geteilter aber vitaler Erfahrung geschehen muß, ist eine Entmystifizierung. (Nr. 7)
Da gab es eine Gesellschaft ‚des Spektakels‘, eine Gesellschaft des ‚falschen Bewußtseins‘, die dem angeblich klassischen Kapitalismus des 19. Jahrhunderts entgegengestellt wurde: es ging darum, dem zugleich ein Bewußtsein von sich selbst zu geben. Die SI trennte sich nie vom Lukács’schen Idealismus, wie es in der einzigen Kritik an der SI gezeigt wird, die bis heute erschienen ist: Supplement au no. 301 de la Nouvelle Gazette Rhénane.16 Lukács wußte (mit Hilfe von Hegel und Marx), daß der Kapitalismus Verlust der Einheit ist, die Auflösung des Bewußtseins. Doch anstatt daraus zu schließen, daß die Proletarier mit den Mitteln ihrer subversiven Praxis (die in die Revolution mündet) eine einheitliche Auffassung von der Welt wiederherstellen werden, dachte er, daß zuerst das Bewußtsein wiedervereinigt und neu entdeckt werden müsse, um diese Subversion möglich zu machen. Als dies unmöglich wurde, flüchtete er sich in die Magie und theoretisierte das Bedürfnis nach einer Konkretisierung des Bewußtseins, das in einer Organisation verkörpert sein müsse, bevor die Revolution möglich sei. Dieses organisierte Bewußtsein ist die ‚Partei‘. Man sieht sofort, daß für Lukács die Rechtfertigung der Partei sekundär ist: primär ist der Idealismus des Bewußtseins, der Vorrang, den er dem Bewußtsein zukommen läßt, dessen Äußerung die Partei ist. Was in seiner Theorie wesentlich ist, ist daß das Bewußtsein in einer Organisation verkörpert sein muß. Die SI greift auf unkritische Weise Lukács Theorie des Bewußtseins auf, ersetzt jedoch die ‚Partei‘ einerseits durch die SI, andererseits durch die Räte. Für die SI wie für Lukács besteht der Unterschied zwischen der ‚Klasse an sich‘ und der ‚Klasse für sich‘ darin, daß letztere Bewußtsein besitzt. Daß ihr dieses Bewußtsein nicht durch eine Partei gebracht wird, sondern spontan aus der Organisierung der Arbeiter in Räten entstehen wird, ist vollkommen sekundär. Die SI faßte sich selbst als eine Organisation auf, die das Ziel hat, der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen: sie machte die Enthüllung zum Prinzip ihrer Aktion. Dies erklärt die übermäßige Bedeutung, welche die SI 1968 in der Tendenz zu einer ‚totalen Demokratie‘ sah. Die Demokratie ist der ideale Ort, an dem sich Bewußtsein aufklären kann. Alles ist zusammengefaßt in der Definition, wie die SI einen Proletarier beschreibt: als jemand, der ‚keine Kontrolle über den Gebrauch seines Lebens hat, und der dies weiß‚.
Die Kunst ist heute freiwillige Entfremdung; in ihr macht die systematische Praxis des Artefakts die Faktizität des Lebens sichtbarer. Da die SI sich selbst in ihre Vorstellung des ‚Spektakels‘ einschloß, blieb sie Gefangene ihrer Herkunft. Die Gesellschaft des Spektakels ist bereits ein abgeschlossenes Buch. Die Theorie des Scheins wendet sich gegen sich selbst. Hier kann man sogar die Anfänge gängiger modischer Vorstellungen über das Kapital als Vorstellung herauslesen. Das Kapital wird zum Bild … das konzentrierte Ergebnis gesellschaftlicher Arbeit … wird offenkundig und unterwirft die ganze Wirklichkeit dem Schein.
Die SI entstand zum selben Zeitpunkt wie all diese Thesen über ‚Kommunikation‘ und Sprache und als Reaktion auf sie, doch sie tendierte dazu, dasselbe Problem in anderen Begriffen aufzuwerfen. Die SI wurde als Kritik der Kommunikation gegründet und kam nie von diesem Ursprungspunkt los: die Räte verwirklichen eine ‚wahre‘ Kommunikation. Dennoch weigerte sich die SI, im Gegensatz zu Barthes und seinesgleichen, das Zeichen auf sich selbst beziehen zu lassen. Sie wollte offenbar nicht die Wirklichkeit untersuchen (das Studium der ‚Mythologien‘ oder des ‚Überbaus‘, das Gramsci so lieb war), sondern lieber die Wirklichkeit als Schein. Marx schrieb 1847:
Menschliche Tätigkeit = Ware. Die Äußerung des Lebens, des aktiven Leben, erscheint als reines Mittel: Schein, getrennt von dieser Tätigkeit, wird als Selbstzweck begriffen.
Die SI unterlag selbst dem Fetischismus, indem sie sich auf Formen fixierte: Ware, Subjekt, Organisation, Bewußtsein. Doch anders als diejenigen, die heute ihre Ideen wiederholen, indem sie nur die knalligen Teile und die Fehler (Utopie usw.) beibehalten, machte es die SI nicht zur Regel, Sprache mit Gesellschaft zu verwechseln. Was für die SI ein Widerspruch war, wurde zur Existenzberechtigung des Modernismus.
Kein theoretisches Resümee
Nichts ist leichter als ein falsches Resümee. Man kann es sogar nochmals tun, wie die berühmte Selbstkritik, man wechselt jedes Mal seine Ideen. Man verzichtet auf das alte Gedankensystem, um in ein neues einzutreten, doch man verändert seine Lebensweise nicht. Das ‚theoretische Resümee‘ kann tatsächlich die hinterlistigste Praxis sein, während es so scheint, als sei es die ehrlichste. Die wirkliche Spaltung … schafft es, nicht über die SI und ihr Ende zu sprechen, jedenfalls geht sie nicht ihren Auffassungen zu Leibe – in einem Wort, sie spricht auf nicht-theoretische Weise über sie. Sie prangert (zweifellos ehrlich) den Triumphalismus und die Selbstgenügsamkeit in Bezug auf die SI und in der SI an, doch ohne eine theoretische Kritik, und das Buch stellt die SI am Ende als Modell dar. Debord und Sanguinetti kommen nicht zur Sache, außer bei den Pro-Situs, die sie zu einigen guten Überlegungen anregen, jedoch immer nur auf der Ebene der subjektiven Beziehungen, der Haltungen. Theorie wird stets vom Standpunkt der Haltungen betrachtet, die sie verkörpern; gewiß eine wichtige Dimension, jedoch keine ausschließliche.
Es gibt keine Selbstanalyse der SI. Die SI kam, 1968 kündigt die Rückkehr der Revolution an, und nun ist die SI dabei zu verschwinden, um überall neu geboren zu werden. Diese lichte Bescheidenheit verdeckt zwei wesentliche Punkte: die Autoren argumentieren, als sei die Perspektive der SI vollkommen richtig gewesen; sie fragen sich nicht, ob nicht ein Zusammenhang bestehen könnte zwischen der Sterilität der SI nach 1968 (vgl. die Korrespondenz der Orientierungsdebatte) und der Unzulänglichkeit jener Perspektive. Sogar bezüglich der Pro-Situs schaffen es Debord und Sanguinetti nicht, irgendeine logische Beziehung zwischen der SI und ihren Jüngern herzustellen. Die SI war revolutionär mit Hilfe einer Theorie, die auf Haltungen beruhte (die sich später als Bremse ihrer Entwicklung erweisen sollten). Nach der Phase der revolutionären Aktion bewahrten die Pro-Situs nur noch die Pose. Man kann zwar einen Meister nicht nur nach seinen Jüngern beurteilen: doch er hat auch Jünger, die er selbst hervorgerufen hat. Die SI akzeptierte durch ihre eigenen Auffassungen unfreiwillig die Rolle als Meister. Sie schlug zwar nicht direkt ein savoir-vivre vor, doch indem sie ihre Ideen als ’savoir-vivre‘ darstellte, drängte sie ihren Lesern eine Lebenskunst auf. Die wirkliche Spaltung … registriert den ideologischen Gebrauch, der von der I.S. gemacht wurde, ihre Umkehrung in ein Spektakel, wie es im Buch heißt, durch die Hälfte der Leser der Zeitschrift. Dies war teilweise unvermeidlich (siehe unten über die Rekuperation), aber teilweise auch ihrem eigenen Wesen geschuldet. Jede radikale Theorie oder Bewegung wird von ihren Schwächen rekuperiert: Marx durch sein Studium der Ökonomie an sich und seine radikal-reformistischen Tendenzen, die deutsche Linke durch ihre Räteideologie usw. Revolutionäre bleiben Revolutionäre, wenn sie sich diese Rekuperationen zunutze machen, um ihre Beschränkungen zu beseitigen und zu einer entwickelteren Totalisierung vorzudringen. Die wirkliche Spaltung … ist auch eine Spaltung im Denken ihrer Autoren. Ihre Kritik an Vaneigem wird vorgebracht, als wären seine Ideen der SI fremd gewesen. Wenn man Debord und Sanguinetti liest, könnte man denken, daß die SI keine Verantwortung für das Handbuch hätte: Vaneigems Schwäche, so könnte man denken, wäre nur seine eigene. Entweder das eine oder das andere: entweder nahm die SI seine Fehler auf ihre Kappe – und warum sagt sie in diesem Fall nichts darüber? – oder sie ignorierte sie. Die SI beginnt hier eine organisatorische Praxis (die Socialisme ou Barbarie mit dem Wort ‚bürokratisch‘ bezeichnet hätte): man lernt nicht aus den Abweichungen der Mitglieder nach deren Ausschluß. Die Organisation behält ihre Reinheit, die Fehler ihrer Mitglieder betreffen sie nicht. Das Problem liegt in den Unzulänglichkeiten der Mitglieder, niemals oben, und nicht bei der Organisation. Da der zunehmende Größenwahn der Anführer nicht alles erklärt, ist man gezwungen, in diesem Verhalten das Anzeichen eines mystifizierten Bewußtwerdens der Sackgasse der Gruppe zu sehen, und einer magischen Art, dies zu lösen. Debord war die SI. Er löste sie auf: dies wäre der Beweis einer klaren und ehrlichen Haltung, wenn er sie nicht gleichzeitig verewigt hätte. Er löste die SI auf, um sie vollkommen zu machen; so wenig offen er für Kritik war, so wenig war er in der Lage, sich selbst zu kritisieren.
Genauso ist sein Film Die Gesellschaft des Spektakels ein vorzügliches Mittel, sein Buch zu verewigen. Unbeweglichkeit geht mit dem Fehlen eines Resümees einher. Debord hat nichts gelernt. Das Buch war eine partielle Theoretisierung: der Film totalisiert diese. Diese Sklerose ist sogar noch bemerkenswerter durch das, was für die Wiederaufführung des Films im Jahre 1976 hinzugefügt wurde. Debord antwortet auf eine Reihe von Kritiken am Film, doch er sagt kein Wort über verschiedene Leute (von denen einige sehr weit von unseren Auffassungen entfernt sind), die den Film von einem revolutionären Standpunkt aus streng beurteilt hatten. Er zieht es vor, es mit dem Nouvel Observateur aufzunehmen.17 Sein Problem besteht immer mehr darin, seine Vergangenheit zu verteidigen. Er scheitert an der Notwendigkeit, denn alles was er tun kann, ist sie neu zu interpretieren. Die SI gehört ihm nicht mehr. Die revolutionäre Bewegung wird sie sich trotz der Situationisten aneignen.
Eine stilistische Übung
Obwohl ansonsten ernsthaft, ist Sanguinettis Buch Wahrhafter Bericht18 dennoch ein Zeichen seines Scheiterns. Wir wollen das Buch nicht nach seinem Publikum beurteilen, das es als guten Streich zu schätzen wußte, der der Bourgeoisie gespielt wurde. Diese Leser begnügen sich damit zu wiederholen, daß die Bourgeoisie aus Idioten besteht, sogar, daß sie verächtlich mit ‚wirklich‘ herrschenden Klassen der Vergangenheit verglichen wird; wenn wir wollten, so sagen sie, so könnten wir weitaus größere und bessere Bourgeois sein. Elitismus und Spott über den Kapitalismus sind als Reaktionen lächerlich genug, jedoch beruhigend, wenn die Revolution nicht mehr eine absolute Gewißheit zu sein scheint. Doch Selbstgefälligkeit in der Anprangerung der bürgerlichen Dekadenz ist alles andere als subversiv. Sie wird von denjenigen geteilt (wie Sorel), die über die Bourgeoisie spotten, während sie den Kapitalismus retten wollen. Die Kultivierung dieser Haltung ist daher für jemanden, der noch die geringsten revolutionären Ansprüche hat, absurd. Laßt uns immerhin feststellen, daß Sanguinetti ins Schwarze getroffen hat.
Das Problem, das sich die meisten Kommentatoren zu stellen versäumen (und aus gutem Grund), ist zu wissen, ob er eine revolutionäre Perspektive unterbreitet. Wenn nicht, so ist es ihm lediglich gelungen, in der bürgerlichen Politik und dem Spiel der Parteien einen Knallkörper explodieren zu lassen. Probieren geht über Studieren. Seine Analyse der vergangene Ereignisse ist falsch, und falsch ist auch die revolutionäre Perspektive, die er vorschlägt.
Zuallererst gab es 1969 keinen ’sozialen Krieg‘ in Italien und 1976 keinen in Portugal. Der Mai 1968 in Frankreich war das Aufwallen einer breiten und spontanen Organisierung der Arbeiter: auf der Ebene eines ganzen Landes und in hunderten von Betrieben hatten Proletarier zum gleichen Zeitpunkt an der ‚proletarischen Erfahrung‘, an der Konfrontation mit dem Staat und den Gewerkschaften teil, und verstanden praktisch, daß der Reformismus der Arbeiterklasse nur dem Kapital dient. Diese Erfahrung bleibt. Es war ein unvermeidlicher Bruch, der andauert, auch wenn es scheint, daß nun die Wunde wieder geschlossen ist.
Doch die SI hielt diesen Bruch für die Revolution selbst. 1968 verwirklichte für sie, was 1966 für Socialisme ou Barbarie verwirklichte: die praktische Überprüfung ihrer Theorie. Doch in Wirklichkeit war es die Bestätigung ihrer Grenzen und der Beginn ihres Durcheinandergeratens. Die wirkliche Spaltung … behauptet, daß die Bewegung der Besetzungen19 situationistische Ideen besaß: wenn man weiß, daß fast alle Streikenden die Kontrolle des Streiks den Gewerkschaften überließen, so zeigt dies nur die Grenzen der situationistischen Ideen. Dieses Ignorieren des Staates von Seiten der Bewegung war keine Aufhebung des Jakobinertums, sondern dessen Folge, wie in der Pariser Kommune: die Nicht-Zerstörung des Staats, seine schlichte Demokratisierung, ging 1871 mit dem Versuch einiger Leute einher, eine Diktatur nach dem Modell von 1793 zu schaffen. Es ist wahr – wenn man 1871 oder 1968 betrachtet -, daß man die Stärke und nicht die Schwäche der kommunistischen Bewegung, ihre Existenz statt ihre Abwesenheit aufzeigen sollte. Sonst entwickelt der Revolutionär nur größeren Pessimismus und eine abstrakte Negation von allem, was nicht ‚die Revolution‘ ist. Doch die revolutionäre Bewegung ist nur eine solche, wenn sie sich selbst kritisiert und auf der umfassenden Perspektive beharrt, auf dem, was in vergangenen proletarischen Bewegungen gefehlt hatte. Sie bewertet nicht die Vergangenheit. Es sind der Staat und die Konterrevolution, welche die Grenzen vergangener Bewegungen aufgreifen und daraus ihr Programm machen. Der theoretische Kommunismus kritisiert die vorangegangenen Erfahrungen, doch er unterscheidet zwischen proletarischen Angriffen wie 1918-1921 in Deutschland, und Angriffen, die vom Kapital unmittelbar zum Stocken gebracht wurden, wie 1871 in Paris und 1936 in Spanien. Er gibt sich nicht damit zufrieden, positive Bewegungen zu beschreiben, sondern zeigt auch die Brüche auf, die diese vollziehen müssen, um die Revolution zu machen. Die SI tat das Gegenteil. Außerdem theoretisierte sie ab 1968 eine kommende Revolution. Doch vor allem leugnete sie die Frage des Staates.
Wenn die Arbeiter in der Lage sind, sich frei und ohne Vermittlung zu versammeln, um über ihre wirklichen Probleme zu diskutieren, beginnt der Staat sich aufzulösen. (Die wirkliche Spaltung)
Hier findet sich der ganze Anarchismus. Anstatt den Staat umstürzen zu wollen, wie man erwarten könnte, ist der Anarchismus vielmehr durch seine Gleichgültigkeit ihm gegenüber gekennzeichnet. Im Gegensatz zu jenem ‚Marxismus‘, der die Notwendigkeit der ‚Machtergreifung‘ zuerst und vor alles andere setzt, besteht der Anarchismus tatsächlich aus einer Vernachlässigung der Frage der Staatsmacht. Die Revolution entwickelt sich, Komitees und Versammlungen bilden sich parallel zum Staat, der, seiner Macht beraubt, aus eigenem Antrieb zusammenbricht. Der revolutionäre Marxismus, der sich auf eine materialistische Auffassung der Gesellschaft gründet, behauptet, daß das Kapital nicht nur eine gesellschaftliche Kraft ist, die sich überallhin ausgebreitet hat, sondern daß es auch in Institutionen (und zuallererst in den Streitkräften) konzentriert ist, die eine gewisse Autonomie besitzen und niemals von alleine absterben. Die Revolution wird nur dann siegen, wenn sie gegen diese Institutionen eine zugleich verallgemeinerte und konzentrierte Aktion zustande bringt. Der militärische Kampf beruht auf der Umgestaltung der Gesellschaft, doch er nimmt seine eigene spezifische Rolle ein. Die SI ihrerseits gab sich dem Anarchismus hin und überschätzte die Bedeutung der Arbeiterversammlungen (1968 waren Pouvoir Ouvrier und die Groupe de Liaison pour l’Action des Travailleurs ebenso damit beschäftigt, zu demokratischen Arbeiterversammlungen aufzurufen).
Daß in Portugal der Druck der Arbeiter den Aufbau eines modernen kapitalistischen Staates behindert habe, gibt nur den Standpunkt des Staates, des Kapitals wieder. Ist es das Problem des Kapitals, sich in Portugal zu entwickeln, dort einen neuen machtvollen Akkumulationspol zu bilden? War es nicht das Ziel der ‚Nelkenrevolution‘, die unklaren Ziele des Volkes und des Proletariats in illusorische Reformen zu kanalisieren, damit das Proletariat ruhig blieb? Der Auftrag ist erfüllt. Es handelt sich nicht um einen halben Sieg für das Proletariat, sondern um eine fast vollständige Niederlage, in der die ‚proletarische Erfahrung‘ fast nicht existent war, denn es gab sozusagen keine direkte Konfrontation, keine Sammlung der Proletarier um eine dem Kapitalismus entgegengesetzte Position herum. Sie hatten nie aufgehört, den demokratisierten Staat zu unterstützen, nicht einmal die Parteien, die sie des ‚Verrats‘ beschuldigt hatten.
Weder 1969 in Italien noch 1974/75 in Portugal gab es einen ’sozialen Krieg‘. Was ist denn ein sozialer Krieg, wenn nicht ein frontaler Kampf zwischen den Klassen, der die Grundlagen der Gesellschaft – Lohnarbeit, Tausch, Staat – in Frage stellt? In Italien und Portugal gab es nicht einmal den Beginn einer Konfrontation zwischen den Klassen und zwischen Proletariat und Staat. 1969 gingen die Streikbewegungen manchmal in Aufruhr über, doch nicht jeder Aufruhr ist der Beginn einer Revolution. Die aus Forderungen entstandenen Konflikte können gewalttätig werden und sogar den Beginn eines Kampf gegen die Ordnungskräfte hervorrufen. Doch der Grad der Gewalt sagt nichts über den Inhalt des Kampfes. Wenn sie gegen die Polizei kämpften, glaubten die Arbeiter dennoch weiterhin an eine Linksregierung. Sie forderten einen ‚wirklich demokratischen Staat‘ gegen die konservativen Kräfte, die ihn angeblich beherrschten.
Das Scheitern des sozialen Krieges mit der Gegenwart der KP zu erklären, ist genauso ernsthaft wie alles dem Fehlen der Partei zuzuschreiben. Sollte man sich fragen, ob die deutsche Revolution 1919 wegen der SPD und der Gewerkschaften scheiterte? Oder sollte man nicht eher fragen, warum die SPD und die Gewerkschaften existierten, warum die Arbeiter sie weiterhin unterstützten? Wir müssen innerhalb des Proletariats anfangen.
Es ist gewiß tröstlich zu sehen, daß ein Buch, das die KP als einen der Pfeiler des Kapitalismus darstellt, weite Verbreitung findet. Doch dieser Erfolg ist zweideutig. Wenn das Kapital keinen allumfassenden Gedanken mehr hat, oder sogar keine Denker mehr (was auf keinen Fall stimmt), dann denkt die SI gut genug an deren Stelle, aber schlecht für das Proletariat, wie wir sehen werden. Sanguinetti denkt letztendlich in kapitalistischen Begriffen. In der Tat hat er eine Analyse erstellt, wie dies ein Kapitalist tun würde, der sich den Vulgärmarxismus angeeignet hat. Es ist die Bourgeoisie, die von Revolution spricht, wo keine ist. Für sie sind besetzte Fabriken und Barrikaden auf der Straße der Beginn einer Revolution. Der revolutionäre Marxismus hält den Schein nicht für die Wirklichkeit und den Moment nicht für das Ganze. Die ‚Schwere‘ des Marxismus ist der Leichtigkeit ohne Inhalt vorzuziehen. Doch wir wollen den Lesern die Wahl überlassen, je nach dem, was sie zu ihrer Lektüre motiviert.
Der SI gelang eine stilistische Übung: das abschließende Urteil einer Gruppe, die den Kult des Stils in einer stillosen Welt nachahmte. Sie kam am Ende dazu, Kapitalisten zu spielen, in jedem Sinne des Wortes. Ihre Brillanz ist ungeschmälert, doch sie hat nur noch Brillanz zurückgelassen. Die SI gibt den Kapitalisten gute Ratschläge und den Proletariern schlechte, denen sie nichts anderes vorschlägt als die Räte-Ideologie.
Der wahrhafte Bericht beinhaltet zwei Gedanken: 1. Die Regierungsbeteiligung der Kommunisten ist für den italienischen Kapitalismus unabdingbar; 2. Die Revolution sind die Arbeiterräte. Der zweite Gedanke ist falsch, der erste richtig; Kapitalisten wie Agnelli haben ihn ebenfalls geäußert. In einem Wort, Sanguinetti bringt es zustande, die Totalität als Bourgeois zu erfassen und nichts weiter. Er wollte sich als aufgeklärter Bourgeois ausgeben: dies ist ihm nur allzu gut gelungen. Er hat sich in seinem eigenen Spiel selbst geschlagen.
Rekuperation
Zur selben Zeit veröffentlichte Jaime Semprun, der Autor von Der soziale Krieg in Portugal20 einen Precis de recuperation. Folgendes sagte die SI einst über die ‚Rekuperation‘:
Es ist ganz normal, daß es unseren Feinden gelingt, aus uns teilweise Nutzen zu ziehen … Genau wie das Proletariat können wir nicht behaupten, unter den gegebenen Umständen nicht ausbeutbar zu sein. (I.S. Nr. 9, in: Der Beginn einer Epoche, S. 168)
Die lebendigen Konzepte erleben in ein und derselben Zeit den wahrsten und den verlogensten Gebrauch … da der Kampf der kritischen Wirklichkeit gegen das apologetische Spektakel zu einem Kampf um Worte führt, ein Kampf, der um so erbitterter ausgefochten wird, je wichtiger die Worte sind. Nicht durch eine autoritäre Säuberung, sondern durch den kohärenten Gebrauch in der Theorie und im praktischen Leben haben wir die Wahrheit ans Licht gebracht. (I.S. Nr. 10, S.I., Bd. 2, S. 240)
Die Konterrevolution nimmt revolutionäre Ideen nicht deshalb auf, weil sie böswillig und manipulativ, geschweige denn knapp an Ideen ist, sondern weil revolutionäre Ideen reale Probleme behandeln, mit denen die Konterrevolution konfrontiert ist. Es ist absurd, sich in eine Verurteilung des gegnerischen Gebrauchs von revolutionären Themen oder Begriffen zu stürzen. Heutzutage werden alle Begriffe, alle Konzepte verdreht. Die subversive Bewegung wird sie sich nur durch ihre eigene praktische und theoretische Entwicklung wieder aneignen.
Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts haben der Kapitalismus und die Arbeiterbewegung eine Schicht von Denkern hervorgebracht, die revolutionäre Ideen nur aufgriffen, um sie ihres subversiven Inhalts zu berauben und sie an das Kapital anzupassen. Die Bourgeoisie hat ihrem Wesen nach eine begrenzte Auffassung von der Welt. Sie muß sich auf die Auffassung der Klasse, des Proletariats, als Geburtshelfer eines anderen Projekts berufen. Dieses Phänomen hat sich verbreitet, seit dem Marxismus offiziell ein öffentlicher Nutzen zugestanden wurde. In der ersten Zeit zog das Kapital daraus einen Sinn für die Einheit aller Beziehungen und für die Bedeutung der Ökonomie (in dem Sinne wie Lukács richtig sagte, daß der Kapitalismus eine fragmentierte Vorstellung von der Wirklichkeit produziert). Doch daß der Kapitalismus sich dazu entwickelt, das ganze Leben zu beherrschen – grob gesagt die Vorstellung des altmodischen ökonomistischen Vulgärmarxismus – ist diesem Grad an Komplexität und Ausweitung der Konflikte auf alle Ebenen unangemessen. In der zweiten Periode, in der wir heute leben, wurde der deterministische orthodoxe Marxismus von der Bourgeoisie selbst zurückgewiesen. An den Universitäten machte es vor fünfzig Jahren Spaß, beim Kapital mit den Schultern zu zucken: um 1960 herum wurde es zulässig, darin ‚interessante Sachen‘ zu finden, und zwar um so mehr diese in der UdSSR ‚angewandt‘ worden waren … Um heute in Mode zu sein, genügt es zu sagen, daß das Kapital in der rationalistischen und reduktionistischen Tradition der westlichen Philosophie seit Descartes, oder vielleicht gar seit Aristoteles steht. Der neue offizielle Marxismus ist keine Achse; stattdessen gibt man überall ein bißchen von ihm bei. Es hilft, uns an den ‚gesellschaftlichen‘ Charakter jeder Praxis zu erinnern: die Rekuperation der SI ist nur ein besonderer Fall.
Einer der natürlichen Kanäle dieser Entwicklung ist die Universität, seit der Apparat, dessen Teil sie ist, einen beträchtlichen Teil der Forschung über die Modernisierung des Kapitals finanziert. Das offizielle ‚revolutionäre‘ Denken ist der Spähtrupp des Kapitals. Tausende angestellter Funktionäre kritisieren den Kapitalismus aus jeder Richtung.
Der Modernismus bringt die soziale Krise zum Ausdruck, von der die Krise des Proletariats nur ein Aspekt ist. Aus den Grenzen, auf welche die subversive Bewegung bei jedem Schritt stößt, macht der Modernismus seine Ziele. Dies dient besonders dazu, den unmittelbaren Reformismus auf gesellschaftlicher Ebene zu rechtfertigen. In der Tat braucht der traditionelle Arbeiterklassenreformismus keine Rechtfertigung mehr, da er ja zur Regel geworden ist. Der Reformismus der Gewohnheiten und des Alltags bedarf noch der Theoretisierung, sowohl gegen die revolutionäre Bewegung, aus welcher er stammt, als auch gegen die rückständige kapitalistischen Fraktion, die Freiheiten ablehnt, die doch für das Kapital harmlos sind. Der Modernismus wird also entwickelt, weil er dem Kapital hilft, sich von den Fesseln der kapitalistischen Freiheit (sic) zu befreien. Der Alltagsreformismus befindet sich immer noch in seiner aufsteigenden Phase, so wie es der ökonomische und Arbeiterklassenreformismus vor siebzig Jahren war.
Der gemeinsame Zug jedes Modernismus ist die nur halbe Übernahme revolutionärer Theorie; sein Ansatz ist im Grunde der des ‚Marxismus‘ gegen Marx. Sein Axiom ist es, nicht die Revolution, sondern die Befreiung von bestimmten Zwängen zu verlangen. Er will das Maximum an Freiheit innerhalb der bestehenden Gesellschaft. Seine Kritik wird stets die Kritik der Ware und nicht des Kapitals sein, die Kritik der Politik und nicht des Staats, die Kritik des Totalitarismus und nicht der Demokratie. Ist es ein Zufall, daß sein historischer Vertreter Marcuse aus dem Deutschland kam, das gezwungen war, sich von den in den Jahren 1917-21 offenbarten radikalen Bestrebungen abzuwenden?
Es ist denkbar, Verzerrungen in der revolutionären Theorie anzuprangern, um die Dinge vollkommen klar zu machen – jedoch unter der Bedingung, daß es sich um mehr als eine Anprangerung handelt. In Sempruns Buch kann man nicht eine Unze Theorie finden. Laßt uns zwei Beispiele nehmen. In seiner Kritik an G. Guegan21 zeigt Semprun, was er als wichtig betrachtet. Warum diffamiert er diese Person? Sich abzugrenzen, gar mit heftigen Worten, bedeutet nichts, außer man stellt sich selbst auf eine höhere Ebene. Semprun breitet Guegans Leben über mehrere Seiten aus. Doch wenn es wirklich notwendig ist, über Guegan zu sprechen, dann muß dies direkt die Cahiers du futur betreffen, die Zeitung, die er herausgab. Wenn die erste Nummer nutzlos prätentiös war, so ist die zweite, die der Konterrevolution gewidmet war, teilweise abscheulich. Sie präsentiert die Tatsache, daß die Konterrevolution sich von der Revolution als Paradox nährt, findet Gefallen daran, den Wirrwarr aufzuzeigen, ohne irgend etwas zu erklären, wie etwas, bei dem man vor lauter Selbstgefälligkeit in morbiden Skizzen schwelgen kann, und schickt jeden ins Trudeln. Diese (beabsichtigte?) Verspottung jeglicher revolutionären Aktivität nimmt ein wenig überhand und nährt ein Gefühl der Überlegenheit unter denjenigen, die es verstanden haben, weil sie dabei waren: ‚Soweit führt die Revolution…‘ (lies: ‚So war ich, als ich ein Aktivist war …‘). Man kann nur davon träumen, was die SI in ihrer Blütezeit darüber geschrieben haben könnte.
Semprun zeigt auch, wie Castoriadis22 sich erneuert hat, indem er es selbst auf sich genommen hat, seine eigenen revolutionären Texte aus der Vergangenheit zu ‚rekuperieren‘: er bemühte sich, sie unlesbar zu machen, indem er sie mit Vorworten und Fußnoten überhäufte. Dies ist auf den ersten Blick amüsant, doch spätestens dann nicht mehr, wenn man weiß, was die SI Socialisme ou Barbarie schuldet. Semprum zeigt sich sogar herablassend gegenüber Chaulieus ‚marxistischer‘ Periode. Die Ultralinke war tatsächlich staubtrocken, doch nicht genug, um Debord davon abzuhalten, sich ihr anzuschließen. Ob einem dies gefällt oder nicht, das ist eine Verfälschung: man belustigt den Leser, während man ihn vergessen läßt, was der Bankrott der SI Chaulieu schuldet, bevor er selbst bankrott ging.
In diesen beiden Fällen, wie auch in anderen, werden Individuen durch ihre Haltung und nicht durch ihre theoretische Entwicklung beurteilt, aus der man Nutzen ziehen könnte. Semprun präsentiert sich uns mit einer Galerie moralischer Porträts. Er analysiert nicht, er urteilt. Er stellt eine Reihe von Arschlöchern an den Pranger, die von der SI geklaut haben. Indem er diese Haltungen kritisiert, ist er selbst nichts weiter als eine Pose.
Wie jede moralistische Praxis führt diese zu einigen Ungeheuerlichkeiten. Die bemerkenswerteste ist die Verschärfung der bereits in Bezug auf Die wirkliche Spaltung … erwähnten Organisationspraxis. Als Debords neuer Leibwächter rechnet Semprun mit früheren Mitgliedern der SI ab. Wenn man diese Werke liest, würde der Nichteingeweihte niemals denken, daß die SI jemals irgend etwas besonderes war. Mit seiner Selbstzerstörung beschäftigt, entfesselt Debord nun ein Sektierertum, das seine Angst vor der Welt enthüllt. Semprun kann daher nur alles beleidigen, was in seine Reichweite gerät und nicht Debord ist. Er ist eine einzige Abgrenzung. Er weiß auch nicht, wie er gutheißen oder verachten soll. Von radikaler Kritik bleibt bei ihm nicht einmal mehr der Versuch übrig.
Spektakel
Die SI legte stets Wert auf ihr Markenzeichen und betrieb ihre eigene Werbung. Eine ihrer großen Schwächen war es, ohne Schwächen, ohne Fehler erscheinen zu wollen, als ob sie in sich den Übermenschen entwickelt hätte. Als eine Kritik traditioneller Gruppen und des Militantismus spielte die SI damit, eine Internationale zu sein, und zog die Politik ins Lächerliche. Die Ablehnung des pseudo-ernsthaften Aktivisten, der nur den Geist des Klosters vollendet, dient heute dazu, ernsthaften Problemen auszuweichen. Voyer23 praktizierte den Spott, und wurde dadurch selbst lächerlich. Der Beweis, daß die SI am Ende ist, liegt darin, daß sie in dieser Form weitermacht. Als Kritikerin des Spektakels protzt die SI mit ihrem Bankrott, indem sie aus sich selbst ein Spektakel macht, und endet als das Gegenteil von dem, wofür sie entstanden war.
Aus diesem Grund wird die SI weiterhin von einer Öffentlichkeit geschätzt, die ein verzweifeltes Bedürfnis nach Radikalität hat, von der sie nur die Buchstaben und die Ticks bewahrt. Aus einer Kritik der Kunst entstanden, wird die SI am Ende (trotz und wegen ihr) als reine Literatur benutzt. Man findet Gefallen daran, die SI oder ihre Nachfolger zu lesen, oder die Klassiker, die sie zu schätzen wußte, so wie es anderen gefällt, die Doors zu hören. In der Zeit, als die SI wirklich auf der Suche und der Selbstsuche war, als die Praxis des Spotts einen wirklichen theoretischen und menschlichen Fortschritt in Worte faßte, als der Humor nicht nur als Maske diente, war der Stil der SI weniger leicht und flüssig als der ihrer aktuellen Schriften. Der inhaltsreiche Text widersteht seinem Autor wie seinen Lesern. Der Text, der nichts als Stil ist, gleitet sanft dahin.
Die SI trug zum revolutionären Gemeinwohl bei und ihre Schwäche wurde zum Futter für ein Publikum von Scheusalen, die weder Arbeiter noch Intellektuelle sind, und die nichts tun. Arm an Praxis, Leidenschaft und oft an Bedürfnissen haben sie nichts gemeinsam außer psychologischen Problemen. Wenn Leute zusammenkommen, ohne irgend etwas zu tun, haben sie nichts gemeinsam außer ihrer Subjektivität. Sie brauchen die SI; in ihrem Werk lesen sie die fertige theoretische Rechtfertigung für ihr Interesse an diesen Verhältnissen. Die SI vermittelt ihnen den Eindruck, daß die wesentliche Realität in den unmittelbaren Beziehungen zwischen den Subjekten liegt, und daß die revolutionäre Aktion darin besteht, auf dieser Ebene eine Radikalität zu entwickeln, insbesondere durch die Flucht aus der Lohnarbeit, was mit ihrem Leben als Deklassierte übereinstimmt. Das Geheimnis dieser Radikalität besteht darin, daß sie alles Bestehende ablehnt (einschließlich der revolutionären Bewegung), um ihr das gegenüberzustellen, was ihr weitest möglich entfernt erscheint (auch wenn dies nichts Revolutionäres an sich hat). Diese reine Opposition hat nichts Revolutionäres an sich außer den Worten. Der Life-Style hat seine Regeln, die ebenso streng sind wie die der ‚bürgerlichen‘ Welt. Sehr oft werden bürgerliche Werte umgedreht in Propaganda für die Nicht-Arbeit, für ein Leben am Rande der Gesellschaft, für alles, was als Übertretung erscheint. Die Linke propagiert das Proletariat als etwas Positives in dieser Gesellschaft: die Pro-Situs verherrlichen sich selbst (als Proletarier) als reine Negation. Für diejenigen, die noch etwas theoretische Substanz besitzen, lautet die Losung immer ‚Kritik der SI‘, eine Kritik, die für sie unmöglich ist, denn es wäre auch eine Kritik ihres Milieus.
Die Stärke der SI lag nicht in ihrer Theorie, sondern in einer theoretischen und praktischen Erfordernis, welche ihre Theorie nur teilweise abdeckte, die sie aber mit half zu lokalisieren. Die SI war die Bejahung der Revolution. Ihr Aufstieg fiel mit einer Zeit zusammen, in der es möglich war zu denken, daß eine Revolution bald stattfinden würde. Sie war nicht dazu ausgerüstet, nach dieser Zeit zu überleben. Sie war erfolgreich als Selbstkritik einer gesellschaftlichen Schicht, die unfähig war, die Revolution alleine zu machen, und die die eigenen Ansprüche dieser Schicht anprangerte (wie sie zum Beispiel durch die Linke vertreten werden, die will, daß die Arbeiter von ‚bewußten‘ Aussteigern aus der Mittelschicht angeführt werden).
Radikale Subjektivität
Die SI hatte im Verhältnis zum klassischen revolutionären Marxismus (für den Chaulieu ein gutes Beispiel war) die gleiche Funktion und die gleichen Grenzen wie Feuerbach im Verhältnis zum Hegelianismus. Um der bedrückenden Dialektik von Entfremdung/Vergegenständlichung zu entgehen, schuf Feuerbach eine anthropologische Vorstellung, die den Menschen, und insbesondere die Liebe und die Sinne, in den Mittelpunkt der Welt stellte. Um dem Ökonomismus und Fabrikismus der Ultra-Linken zu entgehen, entwickelte die SI eine Vorstellung, deren Mittelpunkt die menschlichen Beziehungen waren und die mit der ‚Wirklichkeit‘ vereinbar ist, materialistisch ist, wenn diese Beziehungen ihr volles Gewicht bekommen, so daß sie die Produktion, die Arbeit einschließen. Die Feuerbach’sche Anthropologie bahnte den Weg für den theoretischen Kommunismus, wie ihn z.B. Marx durch die 1844er Manuskripte als Synthese zu erstellen vermochte. Genauso wurde die Theorie der ‚Situationen‘ in eine Vorstellung von Kommunismus integriert, zu dem die SI unfähig war, wie es z.B. in Un monde sans argent24 gezeigt wird.
Aus demselben Grund las Debord Marx im Lichte von Cardan und war der Meinung, der ‚reife‘ Marx sei in die politische Ökonomie abgetaucht, was nicht stimmt. Debords Auffassung vom Kommunismus ist zu eng im Verhältnis zum gesamten Problem. Die SI sah nicht das menschliche Wesen und seine Versöhnung mit der Natur. Sie war auf eine sehr westliche, industrielle und städtische Welt beschränkt. Sie gewichtete die Automation falsch. Sie sprach davon, die ‚Natur zu beherrschen‘, was ebenfalls etwas über den Einfluß von Socialisme ou Barbarie aussagt. Wenn sie sich bezüglich der Organisation des Raums mit den materiellen Bedingungen beschäftigte, so war dies immer eine Frage von ‚Beziehungen zwischen Menschen‘. Socialisme ou Barbarie war durch den Betrieb beschränkt, die SI durch die Subjektivität. Sie ging so weit sie konnte, doch auf ihrem einmal eingeschlagenen Weg. Theoretischer Kommunismus ist mehr als revolutionäre Anthropologie. Die 1844er Manuskripte greifen Feuerbachs Vorstellung auf, indem sie den Menschen wieder in die Totalität seiner Beziehungen zurückstellen.
Die SI schuldete den Texten des jungen Marx sehr viel, doch sie versäumte es, eine ihrer wichtigen Dimensionen zu sehen. Während andere Kommunisten die politische Ökonomie als Rechtfertigung des Kapitalismus ablehnten, überwand sie Marx. Das Verständnis des Proletariats setzte eine Kritik der politischen Ökonomie voraus. Die SI hatte viel mehr gemeinsam mit Moses Heß und Wilhelm Weitling, mit Feuerbach und Stirner, Äußerungen eines bestimmten Moments in der Entstehung des Proletariats. Der Zeitraum, der sie hervorbrachte (1830-1848) ähnelte sehr dem, in dem wir heute leben. Indem die SI eine radikale Subjektivität gegen eine Welt von Warenobjekten und verdinglichter Verhältnisse aufstellte, formulierte sie eine Forderung, die zwar grundlegend war, die aber überwunden werden mußte. August Becker, ein Freund von Weitling, schrieb 1844:
Wir wollen leben, genießen, alles verstehen … der Kommunismus beschäftigt sich nur mit der Materie, um sie zu beherrschen und sie dem Geist und dem Verstand unterzuordnen.
Ein großer Teil der heutigen Diskussionen reproduziert diese Vor-1848er-Debatten. Wie heute Invariance, machte Feuerbach aus der Menschheit ein Wesen, das es erlaubt, die Isolation zu durchbrechen:
Isolation bedeutet ein enges und zwanghaftes Leben, während die Gemeinschaft ein unbegrenztes und freies bedeutet.
Obwohl Feuerbach das Verhältnis zwischen Mensch und Natur in Begriffe faßte (und Hegel vorwarf, es vernachlässigt zu haben), machte er die menschliche Gattung zu einem Wesen, das über dem gesellschaftlichen Leben steht. Die Einheit von Ich und Du ist Gott. Die 1844er Manuskripte gaben den Gefühlen ihren Platz in der menschlichen Aktivität. Dagegen machte Feuerbach die Sinnlichkeit (sic) zum Hauptproblem:
Die neue Philosophie stützt sich auf die Wahrheit der Liebe, die Wahrheit der Empfindung. In der Liebe, in der Empfindung überhaupt gesteht jeder Mensch die Wahrheit der neuen Philosophie ein.
Die theoretische Renaissance um 1968 erneuerte das alte Konzept in den gleichen Grenzen. Stirner stellte den ‚Willen‘ des Individuums dem Moralismus von Heß und Weitlings Verurteilung des ‚Egoismus‘ gegenüber, so wie die SI der militanten Selbstaufopferung die revolutionäre Freude gegenüberstellte. Die Betonung der Subjektivität bestätigt, daß es den Proletariern noch nicht gelungen ist, eine revolutionäre Praxis zu objektivieren. Wenn die Revolution auf der Ebene der Begierde stehenbleibt, dann versucht sie, die Begierde zum Angelpunkt der Revolution zu machen.
1Der Text wurde 1979 unter dem Autorennamen Jean Barrot in der Zeitschrift Red Eye in Berkeley veröffentlicht. Der Autor publiziert seit mehreren Jahren unter seinem richtigen Namen Gilles Dauvé. Die deutsche Übersetzung wurde auf Grundlage der amerikanischen Version angefertigt. Das französische Original wurde nicht im größeren Rahmen veröffentlicht und ist verschollen; der Autor besitzt selbst kein Exemplar mehr davon (A.d.Ü.).
2Invariance: eine Zeitung, die von einer Gruppe veröffentlicht wurde, die sich von der Internationalen Kommunistischen Partei abgespalten hat und das dogmatischste und voluntaristischste Nebenprodukt der italienischen bordigistischen Linken ist. Nach einigen Jahren obskurer, wenn auch gelegentlich brillanter theoretischer Verwicklungen kam der Herausgeber Jacques Camatte zur Position, daß sich das Kapital ‚dem Wertgesetz entzogen‘ habe und daß deshalb das Proletariat verschwunden sei (A.d.am.Ü).
3Der Begriff ‚Zeichen‘ wird in strukturalistischen Schriften benutzt und bedeutet ein Signifikat (Repräsentation), das von dem getrennt wurde, was es ursprünglich bedeutete (ein Phänomen auf der Welt). Ein ‚Zeichen‘ bedeutet folglich eine Repräsentation, die sich nur auf sich selbst bezieht, d.h. tautologisch ist. Ein Beispiel für ein ‚Zeichen‘ wäre der Kredit, der in immer größeren Quantitäten ausgedehnt wird, so daß Großbanken Nationen in den Bankrott treiben können; ein Kredit, der nicht zurückgezahlt werden kann: er ist eine Repräsentation von Waren, die niemals produziert werden (A.d.am.Ü).
4Joseph Dejacque: französischer kommunistischer Handwerker, der in den 1848er Aufständen aktiv war. Eine Sammlung seiner Schriften ist unter dem Titel A Bas les chefs (Champ Libre, Paris) 1974 erhältlich.
5Basisbanalitäten in: Der Beginn einer Epoche, S.122 ff, (A.d.Ü.)
6In einer Reihe von Artikeln in Socialisme ou Barbarie wurde gezeigt, wie die kapitalistische Industrie die aktive und kreative Kooperation der Arbeiter benötigt, um zu funktionieren. Das aufschlußreichste Beispiel dafür ist die Taktik der britischen Arbeiter, ‚Dienst nach Vorschrift‘ zu praktizieren; alle Arbeiten werden genau gemäß Tarifvertrag und Betriebsvorschriften ausgeführt. Dies hat gewöhnlich eine Verringerung der Produktion von bis zu 50 Prozent zur Folge (A.d.am.Ü.).
7In: Der Beginn einer Epoche, S. 251 ff (A.d.Ü.). Oder hier.
8Cardan und Chaulieu sind beides Pseudonyme von Cornelius Castoriadis, einem der Begründer der Zeitschrift Socialisme ou Barbarie (A.d.Ü).
9Die Wirkliche Spaltung in der Internationale, Öffentliches Zirkular der Situationistischen Internationale, Düsseldorf, 1973 (A.d.Ü.).
10Henri Lefebvre: einst der raffinierteste philosophische Apologet der französischen KP. Lefebvre brach mit der Partei und begann Ende der Fünfziger, Anfang der Sechziger Jahre, eine ‚kritische Theorie des Alltagslebens‘ zu entwerfen. Sein Werk war für die SI wichtig, obwohl er niemals einen akademischen und scholastischen Standpunkt überschritt. Die SI verurteilte ihn, nachdem er einen Text über die Pariser Kommune veröffentlicht hatte, der zu weiten Teilen aus frühen Thesen der SI über dasselbe Thema plagiiert war (A.d.am.Ü.).
11Niedergang und Fall der spektakulären Warenökonomie, in: Der Beginn einer Epoche, S. 174 ff (A.d.Ü.).
12Internationale Kommunistische Partei, siehe Anm. 2.
13Ratgeb: Pseudonym, das Vaneigem für sein Buch Vom wilden Streik zur generalisierten Selbstverwaltung benutzte.
14Dieser ‚Autonomie‘-Fetischismus entwickelte sich bei den ‚Pro-Situ‘-Gruppen zu einem niederträchtigen kleinen Spiel. Sie erbaten von Leuten einen ‚Dialog‘, die sich in einem ihrer Texte ‚erkannten‘. Wenn naive Sympathisanten antworteten, wurden sie dazu angespornt, sich in einer ‚autonomen Praxis‘ zu engagieren, um zu beweisen, daß sie keine ‚reinen Zuschauer‘ sind. Die Ergebensten unter ihnen nahmen dies in Angriff. Das Ergebnis wurde von den ‚Pro-Situ‘-Gruppen ausnahmslos und auf wüste Art als ‚inkohärent‘, ‚verworren‘ usw. verurteilt und die Beziehungen wurden abgebrochen (A.d.am.Ü.).
15Wie z.B. die subversive Wirkung der massenhaften Weigerung zu zahlen und der kostenlosen Verteilung von Waren und Dienstleistungen in der italienischen Bewegung der ‚auto-riduzione‘. Natürlich wäre dies in einer revolutionären Situation viel weitgehender und würde die unmittelbare Sozialisierung der wichtigsten Produktionsmittel nach sich ziehen, sowohl um das Überleben der proletarischen Bewegung zu sichern, also auch um die Nachschubbasis der restlichen kapitalistischen Kräfte zu zerstören (A.d.am.Ü.).
161975 veröffentlicht und von der Editions de l’Oubli, Paris, vertrieben.
17Eine linke intellektuelle Wochenzeitung Frankreichs.
18Wahrhafter Bericht über die letzten Chancen, den Kapitalismus in Italien zu retten, Hamburg 1977 (A.d.Ü.).
19Das ist die Bewegung der Besetzung von Fabriken und Universitäten im Mai 68 in Frankreich (A.d.Ü.).
20Jaime Semprun, Der soziale Krieg in Portugal, Hamburg 1975 (A.d.Ü.).
21Guegan war der Geschäftsführer und Gründer der Editions Champ Libre, bis er 1975 entlassen wurde. Er ist heute eine Modefigur in der Literatur und in Avantgarde-Kreisen.
22Siehe Anm. 7.
23Jean-Pierre Voyer, Autor von »Reich, Gebrauchsanleitung« und anderen Texten, die von Champ Libre veröffentlicht wurden. (deutsche Fassung: Düsseldorf 1974).
24Le comunisme: un monde sans argent (3 Bände), Organisation des Jeunes Travailleurs Révolutionnaires, Paris 1975.
]]>
Die Nation in ihrem ganzem Zustand. Teil I und II, von Gilles Dauvé
von uns übersetzt, gefunden auf ddt21, hier Teil I und hier Teil II.
Die Nation in ihrem ganzen Zustand. Teil 1: Die Geburt der Nation
Der Ausbruch einer „französischen Nation“ nach 1789, die Entstehung von „Nationalitäten“ mit „nationalistischen“ Ansprüchen im 19. Jahrhundert, virulente und kriegerische „Nationalismen“, „nationale Befreiungsbewegungen“ in der Dritten Welt, der Zerfall und die Gründung von Staaten, die sich als „national“ bezeichnen, Ende des 20. Jahrhunderts, das Aufkommen supranationaler Strukturen, die mit den Staaten konkurrieren…
Dieser Essay geht von der Hypothese aus, dass Gesellschaften und ihre Entwicklung durch die Art und Weise bestimmt werden, wie Menschen ihre materiellen Existenzbedingungen schaffen, dass die Art und Weise, wie sie ihr Zusammenleben organisieren, davon abhängt und dass „die Nation“ eine Form davon ist. Weshalb entsteht sie, so wie wir sie kennen, in der Moderne? Was hat sie mit dem Kapitalismus zu tun? Und schließlich: Hat sich der Kapitalismus so sehr verändert, dass diese Form überholt ist? Oder führt seine zeitgenössische Entwicklung im Gegenteil zu einer Rückkehr des Nationalismus?
Nation & Kapital
Viele würden sich darauf einigen, die Form, die ein Volk annimmt, wenn es sich politisch in einem Gebiet organisiert, als Nation zu bezeichnen … aber was ist ein Volk? Anstatt nach einer Definition der Nation zu suchen, müssen wir vom Staat ausgehen und, um den Staat zu verstehen, müssen wir vom Kapitalismus ausgehen. Die Nation definiert sich nicht aus sich selbst heraus, sondern aus der Möglichkeit – oder eben nicht – einer selbstzentrierten kapitalistischen Entwicklung auf einem militärisch, aber auch steuerlich beherrschten Territorium, mit einer ökonomisch souveränen bourgeoisen Klasse, ohne immer direkt die politische Macht auszuüben: Bis 1918 erfolgte der preußische und dann der deutsche kapitalistische Aufschwung mit einem Führungspersonal, das aus vorkapitalistischen Schichten stammte.
Die Nation setzt diese moderne Schöpfung voraus, das Individuum, ein Wesen, das von den Bindungen der Geburt befreit und prinzipiell „frei“ ist, Bourgeois oder Proletarier zu werden, und sie entspricht der Notwendigkeit, diese Individuen in einer neuen Gemeinschaft zu verbinden, wenn die vorherigen auseinandergebrochen sind. Hierin liegt ein großer Unterschied zu den alten Welten. Sklaven, die außerhalb der Gesellschaft stehen, können (und müssen) nicht Teil einer athenischen „Nation“ sein. Ebenso wenig wie die Leibeigenen im mittelalterlichen Frankreich. Moderne Proletarier hingegen leben in der gleichen Gesellschaft wie die Bourgeoisie. Und gerade die Nation vereint über die Individuen hinaus auch Klassen.
Im 18. Jahrhundert erhielt der Begriff die Bedeutung, die wir heute kennen und die sich nach 1789 durchsetzen sollte. Im Jahr 1776 verfasste Adam Smith die Theorie „Wohlstand der Nationen“. Die von der industriellen Revolution und dem Aufkommen der Ware umgewandelten Gesellschaften schaffen die politische Einheit, die Produktionseffizienz und die kollektive Vorstellungswelt, die sie benötigen. Die kapitalistische Gesellschaft vereint ihre Komponenten, vor allem ihre beiden grundlegenden Klassen, Bourgeoisie und Proletariat, wie keine frühere Gesellschaft, weil ihre Komponenten so „frei“ sind wie nie zuvor, d.h. nur durch die ökonomische Notwendigkeit miteinander verbunden sind: Das Geld des einen kauft die Arbeit des anderen. Der Kapitalismus findet seine dynamische Einheit in sich selbst, und nicht, jedenfalls viel weniger und immer weniger, in Blutsbanden, Herkunft, Geschlecht, Rasse und Privilegien oder Verpflichtungen durch Geburt. Insbesondere Berufe werden nicht mehr durch Tradition vererbt und sind manchmal sogar bestimmten ethnischen Gruppen vorbehalten.
Der Kapitalismus tendiert dazu, diejenigen, die unter seiner Logik leben, zu homogenisieren und die Menschen als austauschbar zu behandeln, denn er stellt die Gleichwertigkeit von allem als Prinzip auf: Sein, Produkt, Aktivität … alles muss messbar, vergleichbar und austauschbar sein. Mit 100 Dollar in der Tasche kauft jeder alles, was zum Verkauf steht, für 100 Dollar. Es gibt kein prinzipielles Hindernis dafür, dass ein Proletarier zum Chef wird, und in den „fortgeschrittenen“ kapitalistischen Ländern gibt es einen – widersprüchlichen und nie abgeschlossenen – Trend zur Abschwächung der Diskriminierung aufgrund von Geschlecht und Hautfarbe und zur Auflösung von Zwängen, die früher als Naturtatsachen erlebt wurden. Diese Befreiung zerlegt, was zusammengefügt werden muss, und die Nation ist – bis einschließlich heute – die Art und Weise, wie der Kapitalismus sein „Menschenmaterial“ neu zusammensetzt.
Unter der (oft von den Tatsachen widerlegten) Regel der formalen Gleichheit ist ein Proletarier wie ein anderer einsetzbar: Der Bourgeois stellt den produktivsten, rentabelsten ein. Auch in der Politik ist die Stimme eines Staatsbürgers so viel wert wie die eines anderen: Der Stimmzettel eines Bourgeois wird als „eine Stimme“ gezählt, der eines Proletariers ebenfalls. So wie der Markt vermeintlich Gleiche in der Ökonomie zusammenbringt, so bringt die Nation politisch Gleiche zusammen, nicht de facto, sondern de jure. Dies war unter Ludwig XIV. in Frankreich nicht der Fall: Es wurde nach 1789 und im 19. Jahrhundert der Fall, und in Burma (A.d.Ü., Myanmar) ist es heute noch nicht absehbar, dass dies der Fall sein wird.
Diese Kohäsion und Adhäsion hat sich nicht aus dem Nichts heraus gebildet, sondern auf der Grundlage historischer Hinterlassenschaften, die auf tausendfache Weise sortiert und neu kombiniert wurden. Die kapitalistische Produktionsweise bestimmt global die Entwicklungen in einer Welt, die sie nicht geschaffen hat, aber beherrscht. So ist es beispielsweise unmöglich, die zeitgenössische Entwicklung in Libyen – und das Scheitern, dort einen Nationalstaat aufzubauen – zu verstehen, wenn man das Fortbestehen der Stämme als gesellschaftliche Kraft ignoriert, doch üben diese ihren Einfluss nur in Abhängigkeit von den kapitalistischen Verhältnissen in diesem Land und im Rest der Welt aus.
Nation & Arbeit
Als Sieyès in Qu’est-ce que le Tiers-État? (Was ist der Dritte Stand?) (ein enormer Bestseller am Vorabend der Französischen Revolution) politische Rechte für diejenigen forderte, die den Wohlstand produzieren, bekräftigte er die Anforderungen an eine Nation: „Die Nation existiert vor allem, sie ist der Ursprung von allem.“ Es ist wichtig, ihr durch geeignete Institutionen die politische Vertretung zu geben, die ihrer sozialen Realität entspricht. Da die Nation homogen ist (oder als homogen gilt: Von der damals in Frankreich lebenden Bevölkerung sprechen viele kein Französisch), muss auch der politische Körper homogen sein, seine Macht durch eine einzige Vollversammlung ausüben und seinen nationalen Willen durch Verfassungsorgane zum Ausdruck bringen. Während Ludwig XV. 1766 noch behaupten konnte: „Die Rechte und Interessen der Nation […] sind notwendigerweise in meinen Händen vereint“, behauptet Sieyès 1789: „Die Nation ist ein assoziierter Körper, der unter einem gemeinsamen Gesetz lebt und von der gleichen Legislative vertreten wird.“ Dies erreichten die Abgeordneten des Dritten Standes am 27. Juni 1789, indem sie den König zwangen, der Verschmelzung der drei Körperschaften in einer einzigen Vollversammlung zuzustimmen. Wenn das „Der Ursprung jeder Souveränität ruht letztlich in der Nation.“ (Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, Artikel 3), dann kann es keine getrennten Ordnungen geben: Aus der sozialen Vielfalt muss die Einheit der Macht hervorgehen.
Aber es geht um Arbeit, und zwar sowohl um Ökonomie als auch um Politik. Im August 1789 erklärte Sieyès, wie seiner Zeit voraus: „Jede Gesellschaft kann nur das freie Werk einer Vereinbarung zwischen allen Teilhabern sein.“ Daraus folgt, dass „jeder Staatsbürger frei ist, seine Arme, seine Industrie und sein Kapital so einzusetzen, wie er es für sich selbst für richtig und nützlich hält. Keine Art von Arbeit ist ihm verboten“. Diese Verteidigung des Eigentums („Jeder Mensch ist Herr über sein Eigentum und seine Einkünfte“) gilt auch für denjenigen, dessen einziges „Eigentum“ seine Arbeitsfähigkeit ist. Jeder ist Eigentümer, der eine von „seinen Armen“, der andere von „Kapital“, das die Arbeit des ersten kaufen wird.
Die Proletarier an die Arbeit zu bringen und das „Industriesystem“ zu organisieren, erfordert Gesetze, die für alle gelten, statt Sonderrechte für bestimmte Gruppen, wie es Burgunder und Westgoten im selben fränkischen Königreich oder Juden und Muslime im Osmanischen Reich waren.
Der Staat stellt eine Konzentration politischer Kraft, eine Verwaltung und ein Monopol der legitimen Gewalt dar. Die Nation hingegen repräsentiert sich selbst und wird repräsentiert, was sie nicht zu einer bloßen Illusion, sondern zu einer konkreten Realität macht, die sich in einem Parlament manifestiert, einer Institution, die sich gleichzeitig von der Exekutive, den Berufen, den religiösen Organisationen, den Ritualen, den Festen und den populären Gemeinschaften unterscheidet… Das Leben der Nation läuft über politische Parteien, Organisationen, die weit entfernt von den Zwischenkörpern sind, die im Ancien Régime tatsächlich zahlreich und mächtig waren, aber keine eigenständige politische Sphäre bildeten.
Als Folge der Entwicklung des Kapitalismus trägt die nationale Ebene zur Konsolidierung dieser Produktionsweise bei.
England und Frankreich
Der englische Bürgerkrieg schlägt 1649 einem König den Kopf ab, endet aber mit einem dauerhaften Kompromiss. Ab dem 17. Jahrhundert beginnen die Engländer, unter einem parlamentarischen System zu leben, das den mittleren Bauern (yeomen) und in den Städten den Eigenheimbesitzern das Wahlrecht einräumt. Das Unterhaus blieb lange Zeit die politische Vertretung der reichsten Besitzer, doch im Laufe der Jahrhunderte verloren die Großgrundbesitzer ihr Machtmonopol an die Bourgeoisie (Händler, Finanziers und Industrielle), deren Einfluss auf die Exekutive immer größer wurde.
Nach der Aufstandsperiode der Ludditen (1811-1817) gelang es dem englischen Kapitalismus, die proletarischen Aufstände einzudämmen. Das Massaker von Manchester 1819 (mehrere Dutzend Tote, Hunderte von Verletzten), das als Peterloo in das kollektive Gedächtnis eingegangen ist, sollte die letzte blutige Niederschlagung in diesem Ausmaß sein. Als der Chartismus, eine breite populäre Bewegung, die sowohl soziale Reformen als auch das allgemeine Wahlrecht forderte, 1839 einen einmonatigen Generalstreik vorbereitete, wurde dieser nach wenigen Tagen abgebrochen. Der von der Regierung gefürchtete Londoner Aufstand im Jahr 1848 löste sich in einer riesigen Kundgebung auf. Kurz gesagt: In dem Maße, wie der englische Kapitalismus sich in der Welt behauptet und durchsetzt, befriedet er seine Arbeiterklasse und verschafft ihr sogar, natürlich nur unter Druck, eine politische Vertretung durch eine Reihe von Gesetzen, die das Wahlrecht erweitern, bis hin zum Frauenwahlrecht im Jahr 1918.
Der Klassenkampf auf der anderen Seite des Ärmelkanals hat sich zwar nie beruhigt, ist aber auch nie in einem Aufstand ausgebrochen. Die sehr allmähliche und oft in Frage gestellte „Eingliederung“ der Arbeiterbewegung in die kapitalistische Gesellschaft fand 1924 ihren politischen Ausdruck in der ersten kurzen Machtübernahme der Labour Party (neun Monate). Die 1929 gebildete zweite Labour-Regierung unter MacDonald beschloss zwei Jahre später, sich mit den Konservativen in einer National Union zu verbünden. Von seiner Partei desavouiert und ausgeschlossen, gründete MacDonald eine neue Partei, National Labour. In den 1930er Jahren fiel Labour, aber trotz der Krise von 1929, Arbeitslosigkeit, Elend und Arbeiterkämpfen hielt der britische Kapitalismus nicht nur den sozialen Frieden, sondern auch das politische Gleichgewicht aufrecht.
Ganz anders ist die Entwicklung in Frankreich.
Vor 1789 gab es in Frankreich im Gegensatz zu England nicht nur ein einziges Parlament, sondern mehrere in verschiedenen Provinzen. Ursprünglich einfache Gerichtshöfe, haben die Parlamente auch eine politische Rolle: Sie registrieren die königlichen Akte, woraus sich im 17. und 18. Jahrhundert ein größeres Mitspracherecht bei den Entscheidungen des Souveräns ergibt, das ihnen aber auch erlaubt, diese zu bremsen, seltener zu blockieren. Parlamentarier sind in erster Linie Gesetzeshüter, und die aufstrebenden Handels- und Industrieklassen haben in den Parlamenten ein weitaus geringeres Gewicht als in den britischen Unterhäusern.
Zur Zeit der Französischen Revolution vereinte die von Sieyès theoretisierte „Nation“ die „Patrioten“, die gegen den König und die absolute Monarchie waren, denn das „Vaterland“ war das Vaterland des Volkes im Kampf gegen das, was es unterdrückte. Gegen die ungerechten Privilegien der Ständegesellschaft steht „Nation“ dann für soziale Gerechtigkeit, dank der Darstellung einer Gemeinschaft, die aus allen Klassen gebildet wird, die das Volk ausmachen. Aber nicht die gesamte Bevölkerung ist das Volk: Die Aristokraten sind davon ausgeschlossen, ebenso wie – für einige radikalere Patrioten – die Aufkäufer (A.d.Ü., jemand, der große Mengen an Ware mit spekulativen Zielen hortet) und Kriegsprofiteure.
Diese nationale Einheit braucht ihr Territorium mit Grenzen und Zöllen, um einen Raum abzugrenzen, in dem eine einheitliche Besteuerung eingeführt werden kann, im Gegensatz zum Ancien Régime, das je nach Region und „Land“ in unterschiedliche Steuersysteme unterteilt war.
Innerhalb dieses Raumes wird ein „Volk“, das sich aus allen „Arbeitenden“ zusammensetzt (im weit gefassten saint-simonistischen Sinne, der Arbeitgeber, Arbeiter, Handwerker, Künstler, Wissenschaftler usw. umfasst), nur dann zu einer politischen Realität, wenn die Bedingungen dafür gegeben sind, insbesondere wenn die Proletarier das Spiel mitspielen und den entstehenden demokratischen Rahmen respektieren.
„Désormais, le bulletin de vote doit remplacer le fusil – Fortan muss der Stimmzettel das Gewehr ersetzen „, heißt es 1848 unter einer Lithografie von Bosredon, L’Urne et le fusil, die die Eroberung des allgemeinen (Männer-)Wahlrechts in Frankreich illustriert: Ein Arbeiter legt sein Gewehr an die Wand, bevor er einen Stimmzettel in die Urne wirft. Einige Monate später greift der Arbeiter jedoch wieder zu seiner Waffe, und zwar mit größerer Intensität und Gewalt, erneut im Jahr 1871.
Im 20. Jahrhundert war die britische „Nationale Einheit“ von 1931 ein bourgeoiser politischer Erfolg, verglichen mit der französischen Zwietracht der 1930er Jahre, als zwischen 1932 und 1940 sechzehn Regierungen aufeinander folgten. Dann kam es zum Bruch des Vichy-Regimes mit der Republik und zu einer echten nationalen Spaltung, da ein Teil der Franzosen in den Widerstand gegen die deutschen Besatzer ging und einige „Nationalisten“ sich paradoxerweise für eine Anpassung an den Feind (Vichy) oder sogar für eine Allianz (für die extremsten Kollaborateure) entschieden. Die Vereinigung der Klassen musste bis 1945 warten, mit der Regierungsbeteiligung der Parteien der Arbeit (SFIO und PCF), aber die späten 1960er Jahre zeigten die Grenzen der sozial-nationalen Befriedung auf.
Die Kommunisten theoretisieren die Nation.
Bei Marx und Engels war es die Entwicklung des Kapitals – und der Arbeiterbewegung -, die ihre Haltung zur „nationalen Frage“ lenkte.
Einerseits führen für sie Lohnarbeit und Proletarisierung zu einer sozialen Polarisierung, indem die Mehrheit der Bevölkerung in den Industrieländern allmählich, aber beschleunigt in die Klasse der Arbeit integriert wird.
Andererseits scheint die kapitalistische Entwicklung die Welt geografisch zu vereinheitlichen, wodurch ethnische oder religiöse Gegensätze neutralisiert werden, und die internen Spaltungen in den einzelnen Ländern zu verringern, wenn nicht gar zu beseitigen. Der Kapitalismus würde auf eine Verwischung der Grenzen zusteuern, die die Revolution wirksam werden lässt: „Die nationalen Absonderungen und Gegensätze der Völker verschwinden mehr und mehr schon mit der Entwicklung der Bourgeoisie, mit der Handelsfreiheit, dem Weltmarkt, der Gleichförmigkeit der industriellen Produktion und der ihr entsprechenden Lebensverhältnisse.“ (Karl Marx – Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, II. Proletarier und Kommunisten)
Für Marx und Engels vereinfacht das Fortschreiten des Kapitalismus, so verheerend und unterdrückend er auch sein mag, also das Problem. Sie halten den Marsch zu den politischen Formen, die der kapitalistischen Entwicklung am besten entsprechen, die am meisten vereinheitlichen und universalisierbar sind, für positiv für die proletarische Revolution, und sie sind überzeugt, dass sie bald über den Archaismus siegen werden.
In den Ländern, die im Kapitalismus bereits fortgeschritten sind, kämpfen die Proletarier auf einem bestimmten Raum, vereint durch ihre Lebensumstände, während sie gleichzeitig einer geografischen Einheit (Viertel, Stadt, Region, Land) angehören, jeweils mit ihrer spezifischen Sprache und Kultur, aber die nationale Einheit stellt kein großes Hindernis für die proletarische Bewegung dar :
„Obgleich nicht dem Inhalt, ist der Form nach der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie zunächst ein nationaler. […] Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben. Indem das Proletariat zunächst sich die politische Herrschaft erobern, sich zur nationalen Klasse erheben, sich selbst als Nation konstituieren muß, ist es selbst noch national, wenn auch keineswegs im Sinne der Bourgeoisie.“ (Ebenda)
Was die rückständigen Länder betrifft, so werden und sind sie bereits gezwungen, dem von Großmächten wie England vorgezeichneten Weg zu folgen. Das geht so weit, dass Engels 1847 die Eroberung von halb Mexiko durch die USA als positiv bewertet, da die Ausbreitung eines modernen Kapitalismus die Aussichten auf eine soziale Revolution auch für die Mexikaner begünstigt.
Dies verhindert jedoch nicht die herausragende Rolle einiger nationaler Völker, die ihre Stellung im geopolitischen System dazu veranlassen würde, das globale kapitalistische Gleichgewicht in Frage zu stellen. Laut Marx beruhte die bourgeoise Weltordnung zu seiner Zeit auf dem Bündnis zwischen zwei Mächten, die ansonsten alles gegeneinander hatten: das demokratische England und das autokratische Russland. Ersteres wurde von der irischen Unabhängigkeitsbewegung erschüttert, letzteres von den nationalen Aufständen in Polen. Ohne die Existenz von Klassen in diesen beiden Ländern zu leugnen, sehen Engels und Marx in den irischen und polnischen Völkern einen revolutionären Hebel. Weil sie die Herren der Welt destabilisieren, seien einige Völker für den proletarischen Kampf „notwendig“. Andere, wie die Südslawen, deren nationale Bestrebungen Russland in die Hände spielen würden, werden als „konterrevolutionär“ bezeichnet.
„Der nächste Weltkrieg wird nicht nur reaktionäre Klassen und Dynastien vom Erdboden fegen, sondern auch ganze reaktionäre Völker. Und auch das ist ein Fortschritt“. (Engels, 1849)
Wenn für Marx und Engels die notwendige und positive Aktion bestimmter Völker nicht Gefahr läuft, das Proletariat, das für sie der wesentliche historische revolutionäre Agent bleibt, von seinem Weg abzubringen, so liegt das daran, dass sie von einer unwiderstehlichen Proletarisierung der Welt durch die kapitalistische Entwicklung überzeugt sind, für die die Nation das beste Vehikel ist, eine Entwicklung, die auf jeden Fall die nationalen Schranken überwindet und auslöschen wird. Daher die Suche nach den politischen Rahmenbedingungen, die für den Aufschwung von Industrie und Handel am besten geeignet sind, vorzugsweise große geografische Einheiten: eher die Vereinigten Staaten als Mexiko.
Die Bourgeoisie theoretisiert die Nation
Es ist unmöglich, eine Studie über die Nation zu lesen, ohne Ernest Renans Formel aus dem Jahr 1882 zu finden: „Die Existenz einer Nation ist […] ein Plebiszit aller Tage.“
In Bezug auf Frankreich sind historische Fakten wie Gallien, der Hundertjährige Krieg oder 1789, so Renan, nur durch den Willen gültig, ihr Erbe neu zu erschaffen und zu erneuern: Die französische Nation bestand ebenso sehr aus Mythen wie aus Realitäten.
Auch wenn Renan die Nation als das darstellt, was man heute ein „soziales Konstrukt“ nennen würde, das geboren werden und sterben kann, ist seine Wahrnehmung dennoch idealistisch: Auf der Grundlage eines gemeinsamen Ursprungs beschließen Menschen, sich zusammenzuschließen. Das „Plebiszit aller Tage“ legt nahe, dass die Nation das Ergebnis einer Adhäsion ist, einer Reihe von bewussten Erinnerungsakten, bei denen aus Solidarität autonome Subjekte Erinnerungen und Amnesien teilen, eine freiwillige Aktivität mit einer eigenen Dynamik, die sich nicht aus sozio-politischen Kräften ergibt … noch weniger aus Klassen.
Renan ist ein französischer Historiker. Indem er der freiwilligen Verschmelzung aufeinanderfolgender Beiträge Vorrang einräumt, befasst er sich mit der deutschen Frage, genauer gesagt mit Elsass-Lothringen, dessen Annexion durch Deutschland im Jahr 1871 er implizit in Frage stellt. Was spielt es denn für eine Rolle, dass die Elsässer deutschsprachig sind: Da sie sich für die französische Nation entschieden haben, ist das Elsass Frankreich. Der Renan von 1882 bereitete 1914 vor.
Belasten wir Renan nicht als Ausdruck seiner Zeit.
In unserer Zeit sind Historiker (oft die am meisten kommentierten) zwar generell sehr kritisch gegenüber der Nation, beteiligen sich aber am selben Idealismus wie Renan: Sie stützen die Nation auf einen impliziten Vertrag, mit dem Unterschied, dass sie ihre imaginäre Dimension betonen. Insbesondere Ernest Gellner und Benedict Anderson definieren sie als die Konstruktion einer gemeinsamen Vergangenheit, eines kollektiven Bewusstseins und einer kulturellen Homogenisierung. Aber wovon ist diese „imaginäre Gemeinschaft“ das Produkt (und was würde sie in eine Krise bringen)?
Ideologie, Kultur und „vereinheitlichende“ Bildung funktionieren, um mit Renans Worten zu sprechen, dank einer alltäglichen Vereinheitlichung in einem materiell umschriebenen Raum. Die harmonisierte Zirkulation von Waren, Kapital und Arbeit erfordert Grenzen: kein Binnenmarkt ohne Abgrenzung gegenüber einem Außen. Der Zollverein (Zoll- und Handelsverein zwischen deutschen Staaten, 1834) hat mehr zur Einheit des Landes beigetragen als die nationalistische Romantik, der Folklorismus und die Humboldt-Universität in Berlin im 19. Jahrhundert, wie brillant sie auch immer gewesen sein mag.
Wenn die Arbeiterbewegung national ist
Trotz der Komplexität der Einzelfälle stellte sich die „nationale Frage“ für Marx und Engels recht einfach dar: Die weltweite kapitalistische Expansion, die „ihre eigenen Totengräber“ hervorbrachte, verringerte nach und nach unwiderstehlich die ethnischen (und religiösen) Unterschiede. Marx schrieb 1845:
„Die Nationalität des Arbeiters ist nicht französisch, nicht englisch, nicht deutsch, sie ist die Arbeit, das freie Sklaventum, die Selbstverschacherung. Seine Regierung ist nicht französisch, nicht englisch, nicht deutsch, sie ist das Kapital. Seine heimatliche Luft ist nicht die französische, nicht die deutsche, nicht die englische Luft, sie ist die Fabrikluft. Der ihm gehörige Boden ist nicht der französische, nicht der englische, nicht der deutsche Boden, er ist einige Fuß unter der Erde. -“ (Karl Marx, Über F. Lists Buch „Das nationale System der politischen Ökonomie“, 1845)
Die Situation des Proletariers ist nicht symmetrisch mit der des Bourgeois, für den es verlockend genug ist, sich außerhalb des Bodens zu wähnen: Als Importeur billiger Arbeit, Investor und Exporteur am Ende der Welt fällt ihm der Universalismus ebenso leicht wie zu anderen Zeiten die patriotische Verherrlichung.
Für den Proletarier bedeutet Widerstand gegen den Arbeitgeber, Zugeständnisse zu erzwingen, auch, diese durch Garantien, einen Status, eine Regelung zu festigen, also die Gesetzgebung des Landes, in dem er arbeitet, zu nutzen (selbst wenn er dort nicht geboren ist). Ohne einen Schub proletarischer Kämpfe gelingt die Internationalisierung des Kapitals den Bourgeois besser als den Arbeitern, die zwangsläufig in die Verteidigung eines nationalen Rahmens verstrickt sind, der ihnen Schutz bietet oder von dem sie sich Schutz erhoffen.
In Übereinstimmung mit Marx tendierten und tendieren viele Kämpfe, die in mehreren Ländern entstanden sind, zu einer gemeinsamen Aktion über die Grenzen hinweg. Dennoch ist Internationalismus für den Proletarier keine Selbstverständlichkeit, und Solidarität muss immer aufgebaut werden und ist nie selbstverständlich. Die proletarische Kampfgemeinschaft ist nicht von Natur aus oder aus Prinzip internationalistisch. Es ist der Zwang, sich in der Konkurrenz, zu der die Arbeit gezwungen wird, möglichst schlecht zurechtzufinden, der Nationalismus und Identitätsreflexe aufrechterhält. Es ist eine „natürliche“ Form des Widerstands von Lohnabhängigen, sich hinter Barrieren zu schützen und – mangels besserer Möglichkeiten – oftmals diese Barrieren zu verteidigen, auch die, die der Nationalstaat bietet.
Ende des 19. Jahrhunderts konnte man immer weniger glauben, dass der Kapitalismus den Boden für den Triumph einer universellen proletarischen Bewegung bereitete.
Einerseits absorbierte er selbst in den am stärksten industrialisierten Ländern nicht die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung in einer proletarischen Klasse, die für ihre Emanzipation kämpfte. Andererseits war der Nationalismus unbestreitbar eine aufstrebende historische Kraft: sowohl in den bestehenden Staaten (Frankreich, Deutschland usw.) als auch unter den beherrschten Völkern, die nach Unabhängigkeit (Polen) oder sogar nach weitgehender Autonomie (die sogenannten Südslawen auf dem Balkan) strebten.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Jahrzehnte vor 1914 die Belle Epoque des offenen Militarismus wie auch des militanten Antimilitarismus und der pazifistischen Mobilisierungen waren. Versprechungen, im Falle einer Mobilmachung in ganz Europa einen Generalstreik auszurufen, der Slogan „Krieg dem Krieg“ (der äußerst zweideutig war und alles und jedes rechtfertigen konnte) … bis sich schließlich fast jede sozialistische Partei und Gewerkschaft/Syndikat für die Sache „ihres“ Landes einsetzte. Engels sah die Möglichkeit eines verheerenden europäischen Krieges klar vor Augen, gab sich aber der Illusion hin, dass die Arbeiterbewegung in der Lage sei, ihm entgegenzutreten.
Wenn die nationale Einheit über die Klassensolidarität siegte, dann deshalb, weil die Arbeiterbewegung 1914 in jedem Land zu einem nationalen Ganzen gehörte, mehr als 1848 oder 1871, und umso mehr, als sie dort Rechte und Positionen erobert hatte. Die Forderung nach dem, was die kapitalistische Gesellschaft am wenigsten schlimm zulässt (Reformen), bereitet schlecht darauf vor, das abzulehnen, was sie am schlimmsten erzwingt (Krieg). Die Union Sacrée für den Krieg – also die Verteidigung des eigenen Landes – ist das Ergebnis des Zusammenschlusses der Klassen in der Gesellschaft in Friedenszeiten.
Für die Zweite Internationale wird „Internationalismus“ immer die Vereinigung der Nationen bedeutet haben: Theoretische Polemiken, Kongressresolutionen, Riesendemos … es gab dort keine Wahrnehmung der Nation als historischer Rahmen, der mit dem Kapitalismus konstitutiv verbunden ist. Dazu hätte es einer Kritik des Staates und des Kapitals bedurft.
Auf seine Weise veranschaulichte Österreich-Ungarn dieses Versagen. Bereits 1899 hatte die österreichisch-ungarische Sozialdemokratie auf ihrem Kongress in Brünn (heute Brno) der nationalen Tatsache Priorität eingeräumt. Die Partei wandte dieses Prinzip auf sich selbst an und teilte sich nach den Besonderheiten der einzelnen „Völker“ des Reiches auf. Nach einigen Jahren wurde die Autonomie der tschechischen Sozialisten in eine Unabhängigkeit umgewandelt, und sie bildeten eine eigene Partei und eigene Gewerkschaften/Syndikate, was zur Folge hatte, dass sich die deutschen und tschechischen Arbeiter voneinander trennten und in den Gebieten (z. B. Wien), in denen sich die beiden Bevölkerungsgruppen mischten, sogar gespalten wurden. Diese Trennung wurde übrigens nur wirksam, weil die Aktionen der einen und der anderen Proletarier vor Ort innerhalb der Grenzen von Sprache und Kultur, manchmal auch der Religion, blieben: Die Arbeiterbewegung zwang einer „internationalistischen“ Kampfgemeinschaft nicht von oben herab eine Teilung auf … die sich nur sehr schwer herausbilden konnte.
Warum zerbrach Österreich-Ungarn nach 1918, anstatt sich zu einer Föderation wie Brasilien oder die Vereinigten Staaten zu entwickeln? Dem österreichischen Kaiserreich fehlte eine ökonomische und soziale Vereinigung, eine reibungslose Zirkulation von Kapital und Arbeit, ein relativer Ausgleich zwischen den Regionen, eine Kraft, die sie näher an das politische Entscheidungszentrum heranbrachte, ohne sie zu ersticken oder zu ignorieren. Ein Markt allein reicht nicht aus: Die Addition von Verbrauchern macht noch keine Kohäsion. Produktivitäts- – und damit Entwicklungsunterschiede – zwischen den verschiedenen Teilen des Reiches ermutigten zentrifugale Kräfte, sich von einem Zentrum abzukoppeln, das selbst nicht in der Lage war, sie zu beherrschen. Österreich-Ungarn konnte sich nicht in einen Bundesstaat verwandeln, da es zu wenig einheitlich und vereinigend war, unter anderem wegen der Dominanz der deutsch-ungarischen (in Wirklichkeit eher „deutschen“ als ungarischen) Führungsschicht, die die Fäden der Macht in der Hand hielt, sich aber als unfähig erwies, die disparaten Gebiete zu beleben und zu strukturieren.
Wien wurde 1918 zum amputierten Kopf eines zerstückelten Körpers, und Österreich wurde erst 20 Jahre später durch die Gewalt der Nationalsozialisten an den deutschen Staat angeschlossen und 1945 durch den Krieg wieder von ihm getrennt.
Nationaler Kommunismus
Eine der Ursachen für den weltweiten proletarischen Aufschwung nach 14-18 war eine Reaktion gegen Nationalismus und imperialistischen Krieg, eine Ablehnung, die sich im Bruch mit der alten Internationale und der Gründung einer neuen im Jahr 1919 manifestierte.
Ein Jahr später, im Juli 1920, als die Kommunistische Internationale ihren zweiten Kongress abhielt, befanden sich die Bolschewiki mehr als achtzehn Monate nach ihrer Machtergreifung im Krieg mit einem seit 1795 verschwundenen und 1918 wieder auferstandenen polnischen Staat. Dank seiner Wiedergeburt hörten die polnischen Proletarier auf, als Proletarier und Polen unterdrückt zu werden, und wurden nur noch als Proletarier in ihrem eigenen Land unterdrückt.
Ohne auf die Debatte zwischen Lenin und Rosa Luxemburg über die „nationale Frage“ einzugehen (eine Debatte, die sich genauso oder sogar noch mehr auf das Wesen des Kapitalismus selbst bezog), sei auf Luxemburgs Klarheit über die Gefahr hingewiesen, dass Proletarier Kämpfe für nationale Unabhängigkeit unterstützen und Kommunisten ein „Recht der Nationen auf Selbstbestimmung“ fordern würden. Wie sie 1918 feststellte:
„[…] „Nationalstaat“ und „Nationalismus“ an sich leere Hülsen sind, in die jede historische Epoche und die Klassenverhältnisse in jedem Lande ihren besonderen materiellen Inhalt gießen. […] Aber durch alle diese Spezialinteressen geht richtunggebend als Achse ein allgemeines, von der besonderen geschichtlichen Situation geschaffenes Interesse: die Spitze gegen die drohende Weltrevolution des Proletariats.“ (A.d.Ü., Rosa Luxemburg: Fragment über Krieg, nationale Frage und Revolution)
Insbesondere die Tschechoslowakei und Jugoslawien werden sich als fragile Gebilde erweisen. Die oft zitierte ethnische Pluralität (von 15 Millionen tschechoslowakischen Staatsbürgern gab es 3,2 Millionen Deutschsprachige, 2 Millionen Slowaken, 750.000 Ungarn…) war kein entscheidender Faktor für den Zerfall, der vor allem auf die Unfähigkeit des Landes zurückzuführen war, seine Vielfalt kohärent zu machen: Das industrielle Herz Böhmens zog in seinem Aufschwung nicht den slowakischen Osten mit, den nur zwei Eisenbahnlinien mit den anderen Provinzen verbanden. Wie Rosa Luxemburg angekündigt hatte, dienten diese neuen staatlichen Konstruktionen dazu, die bolschewistische Ansteckung und die deutsche Macht zu blockieren: Frankreich hatte auf die Schaffung einer „Kleinen Entente“ gedrängt, die aus der Tschechoslowakei, Jugoslawien, Polen und Rumänien bestand, einer Einflusszone, in der sich der französische Kapitalismus eine Kundschaft erhoffte.
1920, inmitten eines verworrenen Bürgerkriegs zwischen Roten und Weißen, stritten sich Warschau und Moskau um die Gebiete des heutigen Belarus, der Ukraine, Russlands, Polens und Litauens. Im April 1920 griff Polen an, doch nach anfänglichen großen Erfolgen wie der Einnahme von Kiew mit Hilfe ukrainischer Nationalisten wendete sich das Blatt und die Rote Armee kam bis auf 100 km an Warschau heran. Dank der militärischen und logistischen Unterstützung Frankreichs und Großbritanniens wehrt die polnische Armee diese Offensive ab und dringte erneut in russisches Gebiet ein, wodurch die bolschewistische Regierung gezwungen wird, Frieden zu unterzeichnen. Polen gewann ein Stück Litauen und einen großen Teil der Ukraine (die erst nach dem Zweiten Weltkrieg an diese Länder zurückfallen sollten).
Die Delegierten des zweiten KI-Kongresses, die zur gleichen Zeit in Moskau zusammenkamen, verfolgten den Krieg gegen Polen auf einer großen Karte an der Wand, die sie sich zwischen den Sitzungen immer wieder anschauten, da sie „jeden Kilometer Vorsprung der Roten Armee [als] einen Schritt in Richtung Revolution in Deutschland“ (Pierre Broué) betrachteten. Der gesamte internationale Kommunismus in Gestalt seiner Vertreter sah in der gescheiterten Invasion polnischen Bodens einen proletarischen Rückschlag, nachdem er den Vormarsch der Roten Armee als die Ausbreitung der Revolution von ihrer russischen Bastion aus begrüßt hatte.
Doch welche Revolution fand damals in Russland statt?
Der Sommer 1920 ist einige Monate nach der Militarisierung der Arbeit, einige Monate auch vor dem Beginn der Zerschlagung der Machnowschen Armee, weniger als ein Jahr vor Kronstadt (wo der bolschewistische Staat wie ein Staat reagiert), während Arbeiterstreiks regelmäßig gewaltsam zerschlagen werden. Diese Macht, in der sich unbestreitbar die Massen der kämpfenden Proletarier auf der ganzen Welt wiedererkennen, ist nur noch dann proletarisch und kommunistisch, wenn sie für sich in Anspruch nimmt, eine Weltrevolution durchzuführen.
Was den tatsächlichen Beitrag dazu anbelangt, so schloss sich derselbe Zweite KI-Kongress gegen die kommunistische Linke der Notwendigkeit von Wahl- und Parlamentsaktivitäten an – eine Position, die von den Bolschewiki bissig verteidigt wurde (siehe Lenins Kinderkrankheit…, die einige Monate zuvor geschrieben und unter den Kongressteilnehmern weit verbreitet worden war).
Nachdem die Rote Armee die Schlacht um Warschau gewonnen und ganz Polen besetzt hatte, sollte eine „sozialistische Sowjetrepublik“ errichtet werden, doch bereits im Juli 1920 hatte die Kommunistische Arbeiterpartei Polens (damals 7.000 Mitglieder bei einer polnischen Bevölkerung von etwa 25 Millionen) eine „provisorische revolutionäre Regierung“ ausgerufen. Doch die Millionen von Flugblättern, die aus Flugzeugen abgeworfen wurden und die Verstaatlichung der Fabriken und die Macht der Räte versprachen, blieben bei der polnischen Bevölkerung, einschließlich der Proletarier, fast ohne Resonanz. Hätte es eine solche revolutionäre Regierung gegeben, wäre sie von der Arbeiterklasse nur sehr schwach unterstützt worden und hätte ihre Stärke vor allem aus der Anwesenheit russischer Truppen gezogen. In anderen Breitengraden würde man von einem „Marionettenstaat“ sprechen.
Der bolschewistische Staat führte sowohl Krieg gegen konterrevolutionäre Kräfte als auch zur Verteidigung des russischen Staatsgebiets und knüpfte dabei an die zaristische Kolonialherrschaft über die umliegenden Gebiete an. Es war ein nationaler Krieg, den eine de facto vor allem russische Macht führte.
„Die Zivilisation wird durch die Spitze des Schwertes verbreitet“, sagten die Eroberer gerne. Zweifellos glaubten die Delegierten des zweiten Kongresses, dass die Armee eines Landes den Kommunismus in ein anderes Land exportieren kann.
* * *
Diese geschichtlichen Punkte waren notwendig, um zu erfassen, was die Nation ist, um die Frage zu stellen: Welche Zukunft hat die Nation im 21. Jahrhundert?
G.D., Februar 2019
Lektüre:
Sieyès, Travaux de l’Assemblée, 12 août 1789.
Ernest Renan, Qu’est-ce qu’une nation ?, 1882:
Shlomo Sand, De la nation et du peuple juif chez Renan, Les Liens qui libérer, 2009. Eine Rezension dieses Autors findet sich in: „ Shlomo Sand, intellectuel critique“, 2017.
Benedict Anderson, L’Imaginaire national (1983), La Découverte, 2006.
Ernest Gellner, Nations & nationalismes (1983), Payot, 1989.
Edouard Dolléans, Le Chartisme 1831-1848. Aurore du mouvement ouvrier, Les Nuits Rouges, 2003.
Miklós Molnár, Marx, Engels et la politique internationale, Gallimard, 1975.
Engels, „La Lutte des Magyards“, La Nouvelle Gazette Rhénane, 13 janvier 1489.
Die Marxschen Theoretisierungen mögen in unserer Zeit, in der nur noch der unumstößliche Liberale an den zivilisatorischen Tugenden des Kapitalismus festhält, erstaunen. Jahrhundert vorherrschenden progressiven Sichtweise teilten, hielten Marx und Engels die kapitalistische Phase für unerlässlich, um ein revolutionäres Proletariat entstehen zu lassen. In seinen späteren Jahren gab Marx diese Auffassung zwar nicht auf, nuancierte sie aber stark, insbesondere aufgrund eines möglichen alternativen Weges, den die russische Landkommune bot (mir). Vgl. Maximilian Rubel, Karl Marx et le socialisme populiste russe, 1947.
Doch diese Perspektive blieb unbeachtet. Mit wenigen Ausnahmen glaubte die gesamte sozialistische und später kommunistische Bewegung an die Notwendigkeit, die Welt zu industrialisieren, um eine Arbeiterklasse zu schaffen, die dann ihre Revolution durchführen würde, und die Populisten galten als rückwärtsgewandte Idealisten oder sogar als Reaktionäre. In Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland bekräftigte Lenin 1899 die historisch verurteilte Mir durch einen unvermeidlichen – und positiven – Vormarsch des Kapitalismus, und lange Zeit war dies die Lehre, die man sich merken sollte.
Georges Haupt, Michael Lowy, Claudie Weill, Les marxistes et la question nationale, 1848-1914, Maspero, 1974. Nombreux textes, dont ceux de Marx, Engels, Luxemburg, Lénine, Pannekoek, les „austro-marxistes“, etc.
Engels, Brief an Kautsky über die nationale Frage und Polen, 7. Februar 1882 :
Rosa Luxemburg, Fragment über den Krieg, die nationale Frage und die Revolution (1918).
Rosa Luxemburg, La Question nationale & l’autonomie, Le Temps des Cerises, 2001.
Sur l’Europe après 14-18 : Margaret McMillan, Paris 1919, Random House, 2001.
Pierre Broué, Histoire de l’Internationale Communiste (1919-1943), Fayard, 1997, chap. VIII.
Die Nation in ihrem ganzen Zustand. Teil 2: Tod der Nation?
„Nation“ ist ein allgemeiner Begriff für eine Form der politischen und sozialen Strukturierung, die seit mehreren Jahrhunderten mit dem Kapitalismus verbunden ist. Die Nation bildet sich um eine bestimmte Bevölkerung herum auf einem Territorium, das von einem bestimmten Staat kontrolliert wird (oder auf dem Weg dahin ist) und auf dem der Kapitalausgleich spielt.
Ausgleich bedeutet, dass Ungleichheiten in der Situation teilweise ausgeglichen werden. Dadurch werden die Profitraten nicht vereinheitlicht und die Lohnraten (bei gleicher Qualifikation) nicht nivelliert, aber die Unterschiede auf den Kapital- und Arbeitsmärkten werden tendenziell verringert. Als Teil des Gesamtkapitals beansprucht jedes Einzelkapital einen Teil des Mehrwerts. Monopolgewinne und Renten, unvermeidliche Folgen von Wettbewerb und errungenen Positionen, werden nicht beseitigt, aber das nationale Ganze begrenzt ihre für das Gesamtsystem kontraproduktiven Auswüchse, während der Staat auch für Investitionen aufkommt, die für privates Kapital oft wenig rentabel sind (öffentliche Dienstleistungen, Verkehr, Energie…).
Dieser Mechanismus setzt einen umschriebenen Raum mit anerkannten Grenzen voraus, der unter der Autorität einer politischen Macht steht.
Es ist verständlich, dass der in diesem Sinne als national zu bezeichnende Staat der seltenste Fall ist, der nur von den herrschenden Kapitalismen realisiert werden kann. Und selbst dort kann es zu Krisen kommen, wie in Deutschland und Italien, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts unvollendete Nationen waren: Die Weimarer Republik musste sich mit dem bayerischen Separatismus auseinandersetzen, und der italienische Süden und vor allem Sizilien blieben in ihrer Entwicklung lange hinter dem Norden zurück. Anderswo, in den beherrschten Ländern, ist der Anschein eines Nationalstaats lebensfähig, solange der globale Kapitalismus ihnen eine zweite, aber effektive Rolle ermöglicht. Wenn sie sich davon loslösen, verdeckt nichts mehr die Künstlichkeit des nationalen Gebäudes, das dann zerreißt.
Zeit und Raum
Der Nationalismus bezieht seine Stärke daraus, dass die Nation die politische Form der Kapitalakkumulation und des Wettbewerbs zwischen nationalen Kapitalen war. Ist das heute anders?
Binnenmarkt und hohe Produktivität sind für den kapitalistischen Aufschwung eines Landes unerlässlich, aber diese Bedingungen sind nur dann wirksam, wenn sie von einer ausreichend großen Bevölkerung auf einem ausreichend großen Territorium umgesetzt werden, das von einer autonomen politischen Macht beherrscht wird. Trotz ihrer Dynamik fehlte den italienischen Stadtstaaten des späten Mittelalters diese Grundlage. Das später von holländischen Kaufleuten errichtete Imperium litt darunter, dass es sich auf eine kleine und verwundbare Metropole stützte. England hingegen profitierte davon, dass es seit 1066 nie mehr überfallen worden war. (Umgekehrt war die kurdische Nationalbewegung trotz jahrzehntelanger Kämpfe und bewaffneter Auseinandersetzungen bislang nicht stark genug, um sich gegen die Staaten durchzusetzen, die die kurdischen Siedlungsgebiete kontrollieren).
Bodenlos würde das Kapital an Erstickung sterben. Obwohl der Bourgeois einen unaufhörlichen Kampf führt, um die Zeit auf ein Minimum zu reduzieren, besteht der Kapitalismus nicht nur aus Zeit, sondern auch aus einem Raum, in dem sich Proletarier und Bourgeois auf einem stabilen und befriedeten Arbeitsmarkt begegnen können müssen. Die Nation war und ist bis heute die Form dieses Zusammenhalts, und alle historisch dominierenden Kapitalismen – der englische, französische, deutsche, amerikanische, heute der chinesische – haben eine nationale Grundlage.
Die Zusammenführung der Klassen in einem Volk (das sich von den Nachbarvölkern unterscheidet oder ihnen sogar gegenübersteht), das eine politische Einheit bildet, ist ein Phänomen, das eine an Neukonfigurationen und Konflikten reiche Geschichte durchlaufen hat. Es vergingen Jahrhunderte, bis Schottland aufhörte, England zu bedrohen, und die französischen Provinzen aufhörten, sich gegenseitig zu bekämpfen. Die Einwohner der Vereinigten Staaten haben sich durch eine Reihe von Kriegen zusammengefunden: Unabhängigkeitskrieg gegen England, Eroberungskrieg gegen Mexiko, Bürgerkrieg zwischen Nord und Süd. Aber die USA hätten dies nicht ohne ihre Fähigkeit geschafft, Wert – und Arbeit – aus der ganzen Welt abzupumpen und Kapital nach Hause zu holen, was für ihre Fähigkeit, mehrere Bevölkerungsgruppen zu integrieren, von entscheidender Bedeutung ist.
Imperium oder Nationalstaaten
Das 19. Jahrhundert war das große doktrinäre Jahrhundert in Bezug auf die Nation. Im Westen war die Nation aus den beiden Weltkriegen, insbesondere nach 39-45, in Verruf geraten. Sie wurde mit dem „kriegsverursachenden“ Nationalismus in Verbindung gebracht … obwohl die Entkolonialisierung ihr zur gleichen Zeit aufgrund der „nationalen Befreiungsbewegungen“ in der Dritten Welt wieder ein positives Image verliehen hat.
Ab dem Ende des 20. Jahrhunderts geht die Tendenz eher dahin, die Nation für tot zu erklären – eine These, die bereits seit langem besteht:
In seiner berühmten Konferenz von 1882 (die in unserem ersten Teil untersucht wurde) zog Renan die für ihn vorhersehbare Hypothese in Betracht: „Die Nationen sind nicht etwas Ewiges. Sie haben begonnen und werden enden. Die europäische Konföderation wird sie wahrscheinlich ersetzen.“
Ein Jahrhundert später setzte der Triumph des Neoliberalismus die These vom „Ende der Nation“ durch, die weit verbreitet ist, sogar bei dem globalen Bestsellerautor Yuval Harari, der die Bedeutung von Staaten zugunsten eines entstehenden „globalen Imperiums“, das von keinem Staat und keiner ethnischen Gruppe geführt wird und von einer „multiethnischen Elite“ angeführt wird, rapide abnimmt (Sapiens, 2011, Kapitel 11).
In vom Marxismus inspirierten Worten formuliert, lässt sich diese Position wie folgt zusammenfassen: Der Nationalstaat hatte die Aufgabe, den Kapitalwettbewerb und das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit innerhalb eines Landes zu regeln, aber die heutige Ökonomie kennt keine Grenzen mehr, also ist der Nationalstaat für ein „globalisiertes“ System ungeeignet und hat aufgehört, die für den Kapitalismus wesentliche politische Form zu sein.
Diese Sichtweise speist sich aus realen Fakten, in einer Mischung aus wahr und falsch.
Die These vom Ende des Nationalstaats hat ihre Varianten, aber die meisten tendieren dazu, den Staat durch ein geopolitisches Gebilde ohne Rand und Zentrum zu ersetzen, in dem die Formlosigkeit an die Stelle des Inhalts tritt und das sich in dem Wort „Imperium“ (das im Jahr 2000 von Michael Hardt und Toni Negri in ihrem gleichnamigen Buch populär gemacht wurde) sehr gut verdichtet, einem Begriff, der elastisch und unscharf genug ist, um sich für die unterschiedlichsten Interpretationen und Diskussionen anzubieten. Das Wort „Imperium“ bezieht sich zudem auf sehr unterschiedliche historische Realitäten. Eine Überlegenheit der USA gegenüber England bestand gerade darin, kein Imperium zu sein, und diejenigen, die im letzten Jahrhundert versucht haben, Imperien aufzubauen (Nazis, Stalinisten, in geringerem Umfang Japaner), sind gescheitert. Trotz einiger Kolonien (z. B. Tibet) ist das heutige China kein Imperium, sondern ein Nationalstaat, der wie sein US-amerikanischer Konkurrent sehr groß ist.
Auch wenn sie gelegentlich Europa den USA vorziehen, zogen Hardt und Negri nicht in den Kampf gegen den US-Imperialismus. Ihr „Imperium“ ist nicht das amerikanische, das einst von den Drittweltlern angeprangert wurde (vgl. L’Empire américain, 1968 von Claude Julien veröffentlicht, der von 1973 bis 1990 Direktor von Le Monde Diplomatique war). Hardt und Negri nehmen nicht die amerikanische Hegemonie über einen großen Teil der Welt ins Visier. Sie bezeichnen einen weltweiten, sogenannten „globalisierten“ Kapitalismus als „Empire“, in dem Staaten und Grenzen im Vergleich zu einer anonymen und uferlosen Kraft, die alle Klassen absorbiert, vernachlässigbar geworden sind: Die französische, amerikanische, deutsche, chinesische usw. Bourgeoisie ist zu einer kosmopolitischen Finanzoligarchie verschmolzen, gegen die sich eine andere, ebenfalls grenzenlose Kraft, so etwas wie eine Menge, die berühmten „99 Prozent“, stellt.
Das heißt, die Frage des Staates würde umgangen. Es gäbe nur noch einen einzigen globalen Kapitalismus (aber handelt es sich dabei noch um Kapital, da diese Theorie die produktive Arbeit eines Proletariers durch einen Bourgeois als jetzt zweitrangig betrachtet?), ohne andere Grenzen als die der Polizei (auch die Arbeit würde nur noch als Mittel der sozialen Kontrolle bestehen). Dies ist die Wiederaufnahme des bourgeoisen Versprechens einer Vereinheitlichung der Welt, nur dass dieser Prozess den Weg zur Emanzipation ebnen würde: Der Kapitalismus würde seine eigene Überwindung hervorbringen. Revolutionärer Wandel ohne Revolution.
Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts feierte der bourgeoise Optimismus – der auch von vielen Sozialisten geteilt wurde – die friedensstiftende Wirkung der internationalen Ökonomie. Diese Position war aufgrund der Kriege von 14-18 und 39-45 unhaltbar, wurde aber durch den Fall der Mauer 1989 und die Auflösung der UdSSR wiederbelebt. Doch das Ende des bürokratischen Kapitalismus und die zunehmende Internationalisierung des Kapitalismus haben weder Frieden geschaffen noch ein Imperium im historischen Sinne des Wortes hervorgebracht. Die USA haben nichts mit Rom, Österreich-Ungarn oder dem viktorianischen Großbritannien gemeinsam, weder in ihrer politischen Struktur noch in der Art und Weise, wie sie die Welt beherrschen. Die UdSSR hingegen hatte die zaristischen Kolonialbesitzungen übernommen (und nach 1945 einen Teil Osteuropas vasallisiert). Die bolschewistischen Machthaber widerstanden den Unabhängigkeitsbestrebungen in der Ukraine und im Kaukasus, verloren Finnland, die baltischen Staaten und einen Teil Polens und errichteten ein föderalistisch-autoritäres System, das zahlreiche „Republiken“ (oft mit bestimmten ethnischen Gruppen) umfasste. Dieses Gebäude ist verschwunden und durch etwas ersetzt worden, das nicht wie ein Imperium aussieht, und die Russische Föderation unter Putin erweist sich als nationaler als es die stalinistische oder Breschnewsche UdSSR war.
Staaten & multinationale Konzerne
Verändert die heutige „globalisierte“ Ökonomie das Wesen des Kapitalismus, indem sie ihn in eine andere Phase überführt, die sich qualitativ von der ökonomischen Internationalisierung vor 1914 (die manchmal als „erste Globalisierung“ bezeichnet wird) unterscheidet?
Die These, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts vorherrscht und sogar auf radikales Denken übergreift, besagt, dass die wahre Macht über die Welt von den Staaten auf eine Reihe großer transnationaler Firmen übergegangen ist, die in monopolistischer Konkurrenz zueinander stehen: 150 multinationale Konzerne würden die globale Ökonomie beherrschen.
Diese Position ergänzt die (bei Negri, Hardt und vielen anderen zentrale) Theorie, dass die Arbeit ihren zentralen Platz verloren hat (da der Wert angeblich nunmehr ohne Arbeit produziert wird) und nur noch als Instrument der sozialen Kontrolle bestehen bleibt. Dasselbe gilt für den Staat: Der Kapitalismus, der aus seinen alten Rahmen ausbricht, entwickelt sich nun als autonome Bewegung des Werts, der Staat hat seine Kontrollfunktion über die Ökonomie verloren, und ihm bleibt nur noch die Rolle der Repression und des sozialen Dämpfers.
Richtig ist, dass die Staaten einen Großteil der Funktionen zur Regulierung der Ökonomie, die sie seit der Krise der 1930er Jahre wahrgenommen hatten, aufgegeben haben. Wichtige Entscheidungen werden zunehmend von supranationalen Organen wie der WTO oder, anders gesagt, der Europäischen Kommission getroffen. Transnationale Firmen (TNF) entziehen sich weitgehend der staatlichen Autorität: Ihre Niederlassung in mehreren Ländern ermöglicht es ihnen, dort einzustellen, wo ein Lohnabhängiger weniger kostet und das Arbeitsrecht für den Chef am günstigsten ist, ihre Steuern dort zu zahlen, wo die Steuern niedrig sind, die Produktion von China nach Äthiopien oder von Frankreich nach Rumänien zu verlagern und zwischenstaatliche Rivalitäten auszunutzen, um auf niedrigere oder höhere Zölle zu drängen – Praktiken, die die Souveränität der Staaten über die Ökonomie und die Behandlung von Arbeit stark untergraben. Die TNF überschreiten alle Grenzen und tun so, als würden sie die Beschränkungen des Raumes ignorieren, da sie Kapital und Arbeit nach Belieben verschieben.
Aber was kontrollieren sie eigentlich?
In alten Schulbüchern las man „physische“ Karten (Relief, Flüsse usw.) und „politische“ Karten (Länder, d. h. Staaten, die durch verschiedene Farben unterschieden werden konnten). Das multinationale Universum hingegen möchte keine Länder mehr kennen, sondern nur noch Ströme. Es reduziert die Politik auf die Ökonomie und schafft so seine eigene Geografie, in der Bevölkerung und Räume ohne Materialität unendlich modulierbar erscheinen. Die TNF kontrollieren also kein Territorium, nicht weniger und nicht mehr als die früheren Unternehmen, die sich auf den nationalen Boden beschränkten. Da die Welt nicht deterritorialisiert ist, erstreckt sich die immense Macht der multinationalen Unternehmen (tatsächlich ohne historischen Vorläufer) bis zu den Grenzen ihrer Aktivitäten, bleibt dort stehen und überlässt es den Regierungen, einen Raum (und seine Bevölkerung) zu verwalten, der noch in Staaten aufgeteilt ist. Die WTO regiert eine „globalisierte“ Welt ebenso wenig wie der CNPF (früher die zentrale Organisation der französischen Arbeitgeber, heute MEDEF) das Frankreich von 1960 zur Zeit des „nationalen“ Kapitalismus regierte.
Die Szenarien einer von multinationalen Konzernen beherrschten Welt sind nur in Extremfällen von „Bananenrepubliken“ überprüfbar, in denen große Konzerne de facto Macht ausüben, in der Regel dort, wo eine extraktive Monoindustrie (Bergbau, Öl, Gas) und keine verarbeitende Industrie vorherrscht. Gabun, das die Hälfte seiner Ressourcen aus Erdöl bezieht, lebt in der Abhängigkeit von Shell und Total. Aber Total wäre nicht das, was es ist, ohne den französischen Staat, der allein über Legitimität verfügt, über eine sozio-politische Basis, die seine Stärke in Frankreich und anderswo ausmacht, und seine Soldaten ständig auf gabunischem Territorium stationiert.
Natürlich sind die Bourgeois mehr auf ihre Profite als auf den Wohlstand eines Herkunftslandes bedacht, und die übergreifenden Interessen der transnationalen Firmen lösen sie von dem, was für ein bestimmtes Land vorteilhaft wäre. Ist Renault (rechtlich gesehen eine Gesellschaft nach niederländischem Recht) französisch, japanisch oder keines von beiden?
Dennoch arbeiten die meisten transnationalen Firmen angelehnt an einen Nationalstaat, von dem sie abhängig sind, ohne von ihm geleitet zu werden. Jeder hat seinen eigenen Bereich. Mit geteilten Funktionen: Die TNF tragen dazu bei, die Souveränität der Staaten zu verringern, die multinationale Unternehmen als Machtfaktoren gegenüber anderen Ländern einsetzen. Obwohl 30 % der Anteilseigner von Total aus den USA kommen (d. h. etwas mehr als aus Frankreich), ist Total, wie der Vorstandsvorsitzende 2018 erklärte, „der einzige nicht angelsächsische Großkonzern“ in der Öl- und Gasbranche. Im „ökonomischen Krieg „ stehen sich nicht General Motors und Volkswagen, Airbus und Boeing oder Lenovo und Apple gegenüber, sondern Länder und Staaten, auf die sich diese Unternehmen von globaler Dimension stützen. Nur sind die „Einflusssphären“, ihre Abgrenzung und ihre Entwicklung nicht mehr mit denen der Kolonialzeit vergleichbar.
Wenn Identität zu einer historischen Realität wird
Was als „Identität“ bezeichnet wird, baut auf dem Teilen einer gelebten Erfahrung auf, die eine gemeinsame „Herstellung der materiellen Lebensbedingungen“ voraussetzt. Ein kollektives Bild wird dann durch Gewohnheiten und Riten verfestigt und in Institutionen geformt, insbesondere in Schulen und Universitäten, sofern diese existieren: Um den nationalen Bestrebungen im späteren Polen und Litauen entgegenzuwirken, setzten die Gouverneure des Zaren im 19. Jahrhundert die russische Sprache durch und schlossen die Universitäten in diesen Ländern. Anderswo, wie in Estland und Finnland, wurden Ursprungsmythologien verfasst, die auf lokaler Folklore und Legenden basierten. Später konnte in Osteuropa und Lateinamerika sogar die moderne Kunst (insbesondere der Kubismus) zu einer (erfolgreichen oder nicht erfolgreichen) nationalen kulturellen Selbstbestätigung beitragen: Der Stil war international, die Themen autochthon oder sogar indigenistisch, durch die Rückbesinnung auf neu erfundene populäre Traditionen.
Viele, die sich für eine Identität einsetzen, wollen diese in einer Nation verkörpern: Nur wenigen gelingt dies, nicht wegen des Charakters dieser Identitäten, sondern wegen der fehlenden soziopolitischen Voraussetzungen. Die „Queer Nation“ ist ein Schlachtruf, ein Instrument der Mobilisierung. Der im 20. Jahrhundert im Black Belt der mehrheitlich schwarzen Landkreise des amerikanischen Südens geforderte schwarze Staat war immer nur ein Slogan, und die Nation of Islam nur der Name einer politischen Organisation. Die Schaffung eines Staates, und erst recht eines Nationalstaates, erfordert mehr als die Selbstdefinition einer Identität.
Der Historiker Ernest Gellner zählte 2.000 potenzielle Nationen: Warum bringen so wenige von ihnen tatsächliche Nationalismen hervor? Oder gar Nationalstaaten?
Eine nationale Identität beruht auf einer populären Bewegung im Sinne eines Volkes, das verschiedene Klassen vereint. Aber dieses Volk-National setzte in dem einen oder anderen Grad, zu dem einen oder anderen Zeitpunkt, einen Ethnozentrismus voraus, eine vorrangige „Basis“ im Fundament der Nation, die sie gegen den äußeren Feind absicherte: Ein Zusammenwirken ethnisch-kultureller Realitäten war für den Aufbau der Nation notwendig, aber nicht ausreichend. Anschließend wurde dieses ursprüngliche Fundament nach und nach, nicht ohne Schwierigkeiten, mit externen Beiträgen aggregiert, die im Laufe der Zeit dazu tendierten, sich zu integrieren. Außer im Falle eines Landes wie Israel, das nicht der Staat aller seiner Staatsbürger ist, sondern eine Heimat für Juden aus der ganzen Welt, und daher nicht dazu berufen ist, Juden und Araber, die auf seinem Territorium leben, gleich zu behandeln.
Die kapitalistische Gesellschaft (re-)produziert ihre Unterschiede und Ungleichheiten aus dem, was bereits vor ihr existiert und was sie im Falle von Krisen und Instabilitäten aufgreift und neu gestaltet. Ende des 19. Jahrhunderts entdeckte ein Teil Frankreichs ein „jüdisches Problem“, doch der politische Judenhass der Dritten Republik hatte wenig mit dem religiösen Antisemitismus des Mittelalters zu tun. Früher wurde der Jude wegen seiner Religion ausgegrenzt, nun wird ihm das Gegenteil vorgeworfen: getrennt von einer politischen und sozialen Gemeinschaft zu leben. Im ehemaligen Jugoslawien war die nach 1945 geschaffene muslimische (sic) Nationalität eine einfache administrative Klassifizierung: Die Aufteilung in sechs „sozialistische Republiken“ beruhte auf geografischen und nicht auf religiösen oder kulturellen Grundlagen. Als das Land jedoch auseinanderbrach, wurde der bosnische „Muslim“ Teil einer spezifischen geopolitischen Einheit. Obwohl nicht alle unter diesem Namen zusammengefassten Personen slawischer Abstammung diese Religion praktizieren, können sie durch diese Klassifizierung von den (orthodoxen) „Serben“ und den (katholischen) „Kroaten“ unterschieden werden, zwei Gruppen, die selbst weit davon entfernt sind, ihrer jeweiligen Definition zu entsprechen. Ende des 20. Jahrhunderts empfanden einige Norditaliener ihre Landsleute aus dem Süden als eine Last, von der sie sich befreien wollten. Noch näher an der Gegenwart sind die Ukrainer im Osten des Landes, die bis dahin einfach nur russischsprachig waren und sich nun als „Russen“ fühlen. Unendlich viel stärker und tödlicher ist das Phänomen in afrikanischen Ländern, die kaum vereint sind und keine wirkliche nationale Identität haben.
Zerfall
Vor 1991 hatten nur wenige damit gerechnet, dass mitten in Europa ein Krieg das einstige Jugoslawien zehn Jahre lang zerreißen würde. Nicht weit davon entfernt blieben nationale Spannungen, die sich zu Nationalismus, Separatismus und sogar zu einem kriegerischen Höhepunkt steigerten, an den Rändern oder Enden der europäischen Länder im Bereich des Möglichen (gehört die Ukraine zum slawischen oder zum europäischen „Gebiet“? „Die Geografie dient in erster Linie dazu, Krieg zu führen“, so Yves Lacoste in einem Essay, der 1976 unter diesem Titel veröffentlicht wurde).
In beherrschten und unendlich viel schwächeren Ländern führt die nationale Nichtexistenz zu einer Zersplitterung (Syrien, Irak) oder zu einem unermüdlich verwalteten Durcheinander in Form von staatlicher und bandenmäßiger Gewalt. Im Kongo, der wie die meisten seiner Nachbarn in eine bourgeoise Moderne eingetreten ist, die ihrer materiellen Grundlagen beraubt wurde, decken die Zeichen der staatlichen Autorität (Währung, Flagge, Hymne, Briefmarken…) keinerlei Realität ab. Politische Mächte, die ständig zerfallen und sich neu formieren, verwalten Gebiete, in denen eine Vielzahl von Clans (familiäre, ethnische, religiöse oder eine Mischung aus allen drei) mit ausländischen Großmächten Handel treiben. Es gibt weder eine „kongolesische“ Nation noch ein „kongolesisches“ Volk, sondern nur die Zugehörigkeit zu dieser oder jener bestimmten Gruppe (früher sagte man „Stamm“, heute „Ethnie“).
Ohne uns hier auf geopolitisches Terrain zu begeben, fragen wir einfach, wie tragfähig eine Weltordnung ist, die zwar herrscht, aber nur noch ihre eigene Unordnung regiert. Gehen die herrschenden kapitalistischen Länder gestärkt oder erschüttert daraus hervor? Die Krisen im Kapitalismus sind keine Krisen des Kapitalismus, aber die Brüche im politischen und ökonomischen System begünstigen dennoch seine Infragestellung.
Die globale Organisation des Kapitalismus ist selten die eigentliche Ursache der afrikanischen oder nahöstlichen Konvulsionen: Aber sie bestimmt ihre Entwicklung und, wenn es sie gibt, ihre Lösung. In diesen Regionen dient der Nationalismus nicht der Entwicklung eines eigenständigen Kapitalismus, sondern politischen Mobilisierungen – ein Instrument, das im Übrigen von sehr relativer Wirksamkeit ist, da es von anderen regionalen, ethnischen und/oder religiösen Kräften konkurrenziert wird.
Das kapitalistische Paradoxon besteht darin, aus getrennten Individuen eine Gemeinschaft zu machen, Homogenes mit Heterogenem zu verbinden.
Dazu muss man allerdings die Mittel haben.
Ein Binnenmarkt oder staatlich garantiertes Privateigentum reichen dafür nicht aus. Diese Elemente waren auch in früheren Gesellschaften ohne Nationalstaat vorhanden. Die historische Verbindung zwischen Kapitalismus und Nation besteht in der Notwendigkeit, die Mitglieder der beiden Klassen in einem wertschöpfenden und wettbewerbsfähigen Verhältnis zwischen Kapital und lohnabhängiger Arbeit zu vereinen. Dies ist trotz ihres sagenhaften Reichtums nicht der Fall in Abu Dhabi oder Dubai (die jetzt vor allem auf Tourismus setzen) oder Katar (Gasproduzent und sonst wenig), deren Milliardeneinkommen von einem Weltmarkt abhängen, den sie nicht beherrschen. Keine Unabhängigkeit ohne einheimische Industrie, und wer an eine Ökonomie des Immateriellen glaubt, kann sich die Statistiken über die Stahlproduktion ansehen.
(Des)Europäische Union
Es gibt keine politische (oder militärische) Einheit Europas: Das Zusammenzählen von Nationen macht noch keine föderale Struktur daraus. Es gibt in erster Linie einen riesigen Markt (den drittgrößten der Welt mit über 500 Millionen Verbrauchern), der auf die Interessen des (europäischen und außereuropäischen) Kapitals zugeschnitten ist, das in die globale Produktion und den Handel integriert ist.
Was die Bourgeoisie in Europa trennt, ist nicht die unvermeidliche Vielfalt, wenn 28 Länder zusammenkommen, und auch nicht die Konkurrenz zwischen „großem“ und „kleinem“ Kapital oder zwischen „Monopolkapital“ und „nichtmonopolistischem Kapitalismus“. Der Unterschied – und der Gegensatz – besteht zwischen Kapital, das in der Lage ist zu exportieren (oder sich eine Nische auf dem verbleibenden geschützten nationalen Markt zu sichern), und Kapital, das schlecht gerüstet ist, um der Konkurrenz aus dem Ausland (aus anderen europäischen Ländern oder von außerhalb Europas) standzuhalten.
Um lebensfähig zu sein, muss eine Nation als Instrument für den Wettbewerb zwischen kapitalistischen Entwicklungszonen dienen, wobei beispielsweise englische Arbeit und englisches Kapital gegen US-amerikanische Arbeit und US-amerikanisches Kapital antreten. Diese Opposition ist in der Regel friedlich, schließt aber einen militärischen Ausgang nie ganz aus.
Die katalanischen und schottischen Forderungen sind keineswegs ein Beweis für die Überholtheit des Nationalstaats, sondern zeigen, dass der Kapitalismus sich die politischen und territorialen Rahmen geben muss, die seiner aktuellen Situation am besten entsprechen, und diese gegebenenfalls ändern muss. Der Kapitalismus ist kein reiner, von der Materie losgelöster Wertstrom: Er erfordert Grenzen, aber diese können sich ändern.
Belgien, das 1830 als Staat gegründet wurde, hat immer zwei ökonomisch und sozial ungleiche Bevölkerungsgruppen miteinander verbunden. Die Wallonie, die im 19. Jahrhundert die wohlhabendste Region war, erlebte einen Niedergang ihrer Industrien und Bergwerke und das Kräfteverhältnis kehrte sich zu Gunsten Flanderns um. Darüber hinaus ist Belgien eines der europäischen Länder, in denen das Gewicht ausländischer Firmen am größten ist und die Bourgeoisie am wenigsten „national“ ist. Belgien symbolisiert eine Europäische Union, die kaum mehr als eine Ökonomie ist, in der Brüssel einer Nicht-Hauptstadt gleicht und weder das Herz eines vereinten Landes noch das Gehirn ist, das einen kohärenten transnationalen politischen Block steuert. Das baufällige belgische Haus knirscht und hält sich nur, weil es von allen herrschenden Kapitalismen unterstützt wird, die ein Interesse an seinem Fortbestand haben.
In Spanien waren zwei der dynamischsten Regionen, jede mit einer anderen Sprache als dem Kastilischen, das Baskenland und Katalonien (dessen BIP 2014 höher war als das von Finnland), lange Zeit Zentren der Unabhängigkeitsbewegung. Die aktuelle kapitalistische Krise belebt die zentrifugalen Tendenzen in einem Katalonien, das bereits eine weitgehende Autonomie genießt. Wenn es sich eines Tages von Spanien löst, wird es einen neuen Nationalstaat gründen.
In Schottland leben 100.000 Menschen von der Ölförderung, Edinburgh ist die sechstgrößte Stadt in Europa und die Royal Bank of Scotland die fünftgrößte Bank der Welt. Der Traum von einer vorteilhaften Sezession wird übrigens von einem Teil der lokalen Proletarier geteilt. Da Wahlen einen Sinn haben, haben sich die Stimmen der schottischen Arbeiter, die früher mehrheitlich für Labour abgegeben wurden, in großem Umfang auf die Scottish National Party (eine gemäßigte sozialdemokratische Partei, die sich für eine schottische Unabhängigkeit einsetzt) übertragen. Im Unterhaus hatte die erstere 1997 56 Sitze, die letztere 6: 2017 zählte die schottische Labour Party 7 Abgeordnete, die SNP 35.
Was auch immer aus einem unabhängigen Flandern oder „Padanien“ (beides noch Chimären) wird, wie in Katalonien und Schottland, der Regio-Nationalismus ist ein Versuch, sich auf eine vermeintlich festere und kohärentere Basis zu besinnen, indem man sich vom toten Ballast ökonomisch schwacher Gebiete abschneidet. So wie die EU sich die Illusion einer Einheit gibt, obwohl sie nur ein Markt ist, glauben reiche Regionen, sie könnten lebensfähige politische Einheiten schaffen, indem sie sich auf eine gemeinsame Vergangenheit, kulturelle Traditionen und sogar eine spezifische Sprache berufen.
Dass sich die Identität zurückzieht und aus einer Provinz eine Nation machen will, zeigt die Abnutzung einer „integrativen“ Fähigkeit, die durch den internationalen Druck geschwächt wird, aber auch die Hoffnung, ihr durch den Rückzug auf eine Bastion zu entkommen, die im globalen Wettbewerb angeblich produktiver ist.
Die „Nationalität des Arbeiters“?
In der Europäischen Union sucht ein Teil der Kleinunternehmen und des lokalen Handels, deren Aktivitäten sich innerhalb eines nationalen Raums abspielen, einen Schutzwall in einem Neo-nationalismus. Auch Beamte und Angestellte der collectivités territoriales1, Krankenhäusern, der Post usw. können sich vorstellen, dass ein „Souveränismus“ verhindern würde, dass der „Abbau öffentlicher Dienstleistungen“ weitergeht.
Es wäre jedoch naiv zu glauben, dass die „nationale“ Neigung nur Angehörige der sogenannten Mittelschicht betreffen und den Proletarier immer verschonen würde. Marx‘ (in unserem ersten Teil zitierte) zutreffende Behauptung, dass „die Nationalität des Arbeiters nicht französisch, englisch oder deutsch ist, sondern die Arbeit“, gilt nur unter der Bedingung, dass man auch zugibt, dass die Arbeit selbst eine nationale Realität haben kann. Der „Arbeiternationalismus“ ist die Form, die der Reformismus annimmt, wenn er sich im Rahmen eines Landes verschanzt, um eine hypothetische Bedrohung von außen abzuwehren. Mangels Kampf und Klassenbezug entdecken Arbeiter, ob mit oder ohne Job, (wieder) eine Zugehörigkeit, die sich aus anderen Kriterien zusammensetzt, Markierungen, die aus einer neu erfundenen Vergangenheit heraufbeschworen werden. Es spielt also keine Rolle, ob es sich bei den „ethnischen“ Angaben um Realität oder Mythos handelt, wenn ihre Mobilisierungsfähigkeit sie zu einer historischen Kraft macht. Das Gemeinsame wird zum Gemeinschaftlichen. Der Hafenarbeiter von Antwerpen war Arbeiter und Belgier: Jetzt ist er Flämisch.
Aber genauso wenig wie der Reformismus ist die Bindung des Proletariers an ein Land (oder eine Region) ein unabwendbares Schicksal: Die identitäre Einschließung ist selten endgültig. Aus ihr kann man sich jedoch nur durch eine neue Kampfgemeinschaft befreien.
Offene und geschlossene Nation
Offenheit und/oder Schutz, Pazifismus und/oder Militarismus – diese Optionen haben oft zu innerbourgeoisen Konflikten innerhalb eines Landes geführt. Einige Historiker unterschieden zwischen den Arbeitgebern in Manchester, die Konsumgüter exportierten und deshalb den freien Handel und eine Friedenspolitik befürworteten, und den Arbeitgebern in Birmingham, die militaristisch waren, weil sie sich auf eine rüstungsproduzierende Schwerindustrie spezialisiert hatten. In der Weimarer Republik war es üblich, zwischen Krupp, einem Stahlriesen und Waffenhersteller, und Rathenau, dem Chef von AEG, der elektrische Geräte für den Endverbraucher herstellte, zu unterscheiden. Tatsächlich war die gesamte Industrie (einschließlich AEG) an der Militärproduktion beteiligt, die Interessen kreuzten sich, und angesichts der Unordnung schloss sich die gesamte deutsche Bourgeoisie schließlich Hitler und seiner kriegerischen Flucht nach vorn an (Rathenau war 1922 ermordet worden). Die Bourgeoisie ist nicht in zwei klar voneinander getrennte „Klassenfraktionen“ gespalten, die im Laufe der Geschichte jeweils ihre Interessen und damit ihre spezifische politische „Linie“ vertreten haben.
Auf der politischen Bühne, der Bühne der Parteien und Regierungen, hat das Auf und Ab der beiden Optionen – Liberalismus und Protektionismus – hingegen regelmäßig Rivalitäten genährt.
Anfang des 21. Jahrhunderts präsentiert sich auf beiden Seiten des Atlantiks ein Lager als Vorkämpfer für Modernität und Freiheit, die von nationalistischen Xenophoben bedroht werden, während ein gegnerisches Lager sich als Verteidiger der kleinen Leute gegen eine „staatenlose Finanzoligarchie“ versteht. Führende europäische Politiker befürworten eine Einwanderung, die die Arbeitskosten senkt, während andere die Identitätsschübe ausnutzen und für eine Verengung auf den nationalen Rahmen plädieren.
Am Tag nach der Wahl schmelzen die absoluten Zahlen jedoch zu relativen. Trump gibt den entlassenen Stahlarbeitern und Bergleuten im Mittleren Westen und im Gebiet der Großen Seen nicht ihre Arbeitsplätze zurück, und der Austritt aus dem Euro steht nicht mehr auf dem Programm von Marine Le Pen. Der bourgeoise Pragmatismus braucht Grenzen, wo Zölle seinen Interessen dienen, während er gleichzeitig diese Grenzen für billigere Arbeitskräfte öffnen möchte, aber in der demokratischen Arena nimmt diese theatralische Kluft die Gestalt einer grundlegenden historischen Herausforderung an.
Es gibt keinen Widerspruch zwischen der „globalisierten“ Kapitalakkumulation und der Existenz souveräner Staaten auf „ihrem“ Territorium. Sowohl die USA als auch China setzen alles daran, den freien Weltmarkt für ihre wettbewerbsfähigsten Produkte durchzusetzen, während sie gleichzeitig ausländische Produkte, die mit ihren eigenen konkurrieren, von ihrem eigenen Binnenmarkt fernhalten. Kleine Länder, die als illiberal bezeichnet werden (Polen, Ungarn, jetzt kommt noch Italien hinzu), haben kein Monopol auf „nationalistische“ Regierungen: Auch die großen kapitalistischen Mächte (USA, Indien, China, Russland) produzieren solche Regierungen.
Im letzten Jahrhundert gab es Versuche, relativ geschlossene „Blöcke“ zu bilden: Nazi-Deutschland und das japanische Kaiserreich. Selbst das Land, das als Symbol des Freihandels galt, geriet in Versuchung: Nach der Weltwirtschaftskrise von 1930 plädierte der Labour-Politiker und spätere Faschist Oswald Mosley dafür, dass sich England in eine homogene Ökonomie eingliedern sollte, die billige Agrarprodukte und Rohstoffe aus dem Commonwealth importieren und ihre Fertigwaren an das Commonwealth verkaufen sollte, geschützt durch Zollschranken.
Trotz seiner riesigen Kundgebungen hatte Mosley nie Einfluss auf eine herrschende Klasse, die eine andere Politik brauchte. Der modernste englische und amerikanische Kapitalismus besiegte zuerst den halbautarken Block der Nazis und dann den bürokratischen Kapitalismus Stalins.
Heute ist die „Rückkehr zum Protektionismus“ eher ein journalistisches Thema als ökonomische Politik: Freihandel und „Souveränität“ werden ebenso kombiniert wie sie sich widersprechen, aber nirgends ist die Zukunft geschrieben. Dasselbe gilt für die „Rückkehr des Nationalismus“. Nur eines ist sicher: Wenn wir uns nicht vorstellen, dass der Kapitalismus sein Wesen geändert hat, wird der „ökonomische „ Krieg früher oder später zum Krieg überhaupt, unter vielfältigen und jedes Mal unerwarteten Umständen und in vielfältigen Formen.
G.D., Februar 2019
Hinweis
Nation, Klasse, Klassenkampf, Staat, Volk, Identität … alles Fragen, denen „die Gelbwesten“ im Moment eine brennende Aktualität verleihen.
Bis wir vielleicht etwas über diese Bewegung veröffentlichen, zitieren wir nur diesen Auszug aus einem Appell von „Gelbwesten“ aus dem Pariser Osten (Januar 2019): „Die Bewegung der Gelbwesten endet an den Türen der Unternehmen, d. h. dort, wo die totalitäre Herrschaft der Arbeitgeber beginnt. Dieses Phänomen ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen. Halten wir drei fest: 1) Die Atomisierung der Produktion, die dazu führt, dass viele Lohnabhängige in (sehr) kleinen Unternehmen arbeiten, wo die Nähe zum Arbeitgeber die Möglichkeit eines Streiks sehr erschwert. 2) Die Unsicherheit eines Großteils der Lohnabhängigen, die ihre Fähigkeit, in den Betrieben Konflikte auszutragen, erheblich beeinträchtigt. 3) Ausgrenzung und Arbeitslosigkeit, die viele Proletarier aus der Produktion herausdrängen. Ein großer Teil der Gelbwesten ist von mindestens einer dieser drei Determinationen direkt betroffen. Die andere Komponente der Lohnabhängigen, die in großen Unternehmen schuftet und über eine größere Arbeitsplatzsicherheit (unbefristeter Arbeitsvertrag und Status) verfügt, scheint unter einer Glocke zu sein, an der die mächtige Kraft der Bewegung zerbricht wie die Welle am Felsen.“
Korrespondenz: [email protected]
Lektüre
Shlomo Sand, De la nation et du peuple juif chez Renan, Les Liens qui libèrent, 2009.
Jean-François Daguzan, La fin de l’État-Nation? De Barcelone à Bagdad, CNRS Editions, 2015. Eine Gegenthese zu unserer, aber eine gute Zusammenfassung des Problems. Andere Version: https://www.diploweb.com/La-fin-de-l-État-Nation-Surprise.html
Suzanne Berger, Notre première mondialisation (Unsere erste Globalisierung), Seuil, 2003.
Zur Stahlindustrie und -produktion: Le Prolétaire, Oktober-November 2018, „Le capitalisme mondial de crise en crise“ (Der globale Kapitalismus von Krise zu Krise).
„Jedes Jahr verbraucht die Welt so viel Stahl wie im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg“. Pierre Veltz, La Société hyper-industrielle. Le Nouveau capitalisme productif, Seuil, 2017.
Ernest Gellner, Nations & Nationalismes (1983), Payot, 1989.
Wladimir Andreff, Les Multinationales Globales, La Découverte-Repères, 2003.
El Mouhoub Mouhoud, Mondialisation & délocalisation des entreprises, La Découverte-Repères, 2013.
Alain Deneault, „Total, un gouvernement bis“, Le Monde Diplomatique, August 2018.
Adam Tooze, Le Déluge, 1916-1931. Un nouvel ordre mondial, Les Belles Lettres, 2015.
Hérodote, # 58-59, 1990, „A l’Est & au Sud“. Analysen zu Österreich, den baltischen Staaten, der Ukraine, dem europäischen Osten und der späteren Slowakei, die vor dem Ende der UdSSR und dem Zerfall Jugoslawiens verfasst wurden.
G. Dauvé, 10 + 1 questions sur la guerre du Kosovo.
Marx, Critique de l’Économie nationale, 1845, Anmerkungen zu Friedrich List und seinem Système national de l’économie politique: ein Text, in dem Marx im Übrigen die Arbeit als Arbeit kritisiert und erklärt, dass es nicht darum geht, sie zu befreien, sondern sie abzuschaffen.
Über den zeitgenössischen Zerfall eines Teils des Nahen Ostens und wie die Großmächte, die dort keine Ordnung herstellen können, sich bemühen, die Unordnung unter Kontrolle zu halten, lese auf ddt21.noblogs.org :
G. D., Brouillards de guerre (Juni 2016 ).
Tristan Léoni, „Kalifat und Barbarei. Erster Teil: Vom Staat“ (Dezember 2015), „Kalifat und Barbarei. Zweiter Teil: Von der Utopie“ (Dezember 2015), „Kalifat und Barbarei: Warten auf Raqqa“ (Juli 2016). (A.d.Ü., auf deutscher Sprache hier alle Texte)
Das Ende Jugoslawiens ist ein Beispiel dafür, wie Klassenkämpfe und „ethnische“ oder nationale Fragmentierungen ineinandergreifen können: Anonymous, De la grève à la guerre, 1984-1992.
Gérard Noiriel, Immigration, antisémitisme & racisme en France (XIXe-XXe siècles), Fayard, 2007.
1A.d.Ü., Eine collectivité territoriale (französisch; vollständig: collectivités territoriales de la République, vor der Verfassungsänderung vom 28. März 2003 auch collectivités locales) ist in Frankreich eine juristische Person des öffentlichen Rechts.
]]>
Diesen Text finden wir sehr interessant, weil er sich vor allem mit der Frage des Wertes im Kapitalismus, dessen Bedeutung, im Zusammenhang mit lebendiger und toter Arbeit, welche Rolle das Proletariat darin hat, usw., auseinandersetzt. Wenn auch unsere Meinung nach, bezüglich einiger Aspekte die Dauvé im Text vorschlägt er falsch liegt, wenn er auch über die Jahre gewisse dieser nicht mehr verteidigt. Nicht desto trotz, sind die analytischen Aspekte dieses Texte die die uns interessieren und wichtig für Debatten finden vor denen sich Anarchistinnen und Anarchisten in der Regel gerne drücken.
Jean Barrot [Gilles Dauvé] – Der Kommunismus als soziale Bewegung zur Aufhebung des Wertes (1972)
Der nun folgende Text entstammt aus einer Diskussion und Arbeit „französischer“ Kommunisten. Mit dem „französisch“ ist hier nur angedeutet, daß sie – anders als in der BRD – sich viel umfassender und eingehender mit kommunistischen Theorien beschäftigt haben, und sich u.a. wesentlich stärker gegen den konterrevolutionären Stalinismus behaupten konnten. Die linkskommunistische Tradition ist in Frankreich und Italien wesentlich verbreiterter. Dies liegt zum Teil daran, daß es viele Schriften der kommunistischen Bewegung (wie z.B. die Texte von Amadeo Bordiga) nur im französischen und italienischen Sprachraum gibt. In die deutsche Sprache wurden nur sehr wenige Texte übersetzt. Der Linkskommunist Jean Barrot versuchte Anfang der 70er Jahre eine Rekonstruktion des revolutionären Marxismus u.a. in dem Buch: „Le mouvement communiste“, aus der im Wesentlichen auch der folgende Text stammt. Vorausgesetzt für das Verständnis wird ein Grundwissen der Kritik der politischen Ökonomie und die Methodik der Dialektik, die leider immer mehr „auf den Hund gekommen“ ist. (Angelika Goedde)
Der Kommunismus ist gleichzeitig eine soziale Bewegung und die Produktionsweise, zu der diese Bewegung führt. Der Vulgärmarxismus hat über diese Tatsache kontinuierlich die größte Verwirrung erzeugt. Die Vulgärmarxisten kennen zwar die Texte von Marx über den Kommunismus und verfehlen nicht, sie jederzeit zu zitieren, aber darin betonen sie nur einen Aspekt: der Kommunismus als spezifische Produktionsweise, die nicht mehr durch den Wert regiert wird etc. Indem sie das tun, betonen sie dort zwar einen wichtigen Punkt, lösen ihn aber aus dem theoretischen Kontext, der ihm erst seinen Sinn verleiht. Der Kommunismus ist zwar eine spezifische Produktionsweise, aber durchaus auch die Bewegung, die zunächst noch eingebettet in der Formation des Kapitalismus ganz allmählich die Mittel schafft, um aus diesem Kerker auszubrechen. Der Kommunismus als Produktionsweise ist also die Verlängerung des Kommunismus als sozialer Bewegung. Bewegung und Ziel gehören zusammen. In der Bewegung, die sich mehr und mehr entfaltet, bildet sich gleichzeitig im Embryonalzustand bereits das Neue heraus: der Nicht-Wert, der im Proletariat verkörpert ist. Aus diesem Grunde, obwohl es in der Tat nur eine einzige dynamische Totalität gibt, in der sich beide Aspekte nur abstrakt unterscheiden lassen, beginnt die Analyse mit einer Betrachtung des Kapitals.
Durch seine Entwicklung sozialisiert das Kapital die Welt. Jegliche individuelle Produktion tendiert dazu, zerstört zu werden. Der Akt dieser Zerstörung ist gleichzeitig die Aufhebung der „individuellen“ Arbeit: sie wird subsummiert unter die Arbeit sans phrase, dem Kollektiv der Wertschaffenden. Auch dort, wo die Arbeiter nicht in Lohnempfänger verwandelt werden, sind sie dennoch durch das Medium des Geldes als abstrakten Nationalreichtum in den Kapitalismus integriert. Was sie – egal wo sie arbeiten – produzieren, ist nichts als eine Ware, die ihnen selbst jedoch durch den Markt bzw. mangels Geld entgeht. Durch die Herstellung des Weltmarktes tendiert jedes Produkt dazu, Ergebnis der Bemühungen der gesamten Menschheit und ihrer entwickelten Produktivität zu werden. Und so ist der Wert heute nicht anderes, als weltgesellschaftlich-durchschnittliche Arbeitszeit, die durch die microelektronische Revolution immer mehr verkürzt wird. Das Subjekt des ökonomischen und sozialen Lebens ist nicht mehr der einzelne Lohnarbeiter, sondern der soziale Körper in seiner Gesamtheit, die Menschheit, das kollektive Subjekt. So betrachtet, wird die Vergesellschaftung nicht durch den Kommunismus herbeigeführt, sondern bereits durch das Kapital. Sie ist ist damit das Resultat der Etablierung des Weltmarktes. Sie existiert durch komplexe Arbeitsteilung und Tauschbeziehungen, die sich zwischen den Unternehmen und den Ländern entwickeln und heute als globales Kapital den Erdball umspannen. Infolgedessen beinhaltet diese Produktionsweise keinerlei Aneignung der durch das Kollektiv hergestellten und akkumulierten Reichtümer, sondern allein die abstrakte Verwertung der „kollektiven“ Produktionsmittel unter Anwendung der von ihr auferlegten Methoden innerhalb der Selbstverwertung des Wertes. Die kapitalistische Vergesellschaftung der Welt verwandelt diese in einen gigantischen Produktionsapparat, von dem die Industrie die Basis bildet und dessen verschiedene Elemente sowohl große Unternehmen, darunter subsummierte Subunternehmen, als auch davon isolierte – aber gleichzeitig darin integrierte Privatproduzenten sind.
Der Kapitalismus tendiert dazu, das Privateigentum der Individuen über die Produktionsmittel zu negieren. Er geht sogar soweit, die Kapitalisten selbst zu expropriieren. Die Rolle des individuellen Eigentümers verwandelt sich in ein System, welches durch die Konzentration durch Aktiengesellschaften und Trusts gekennzeichnet ist. Auch das haben die Marxisten der früheren Epoche klar erkannt und diese Tendenz wurde von Marx und Engels im 3. Band des Kapitals schon dargestellt. Allerdings – und auch das liegt an der Vulgarisierung des Marxismus, wurde daraus keine wirkliche Konsequenz gezogen, sondern das Kapital nach wie vor personifiziert. Aber im Grunde sind es nicht mehr die Individuen als Repräsentanten und Inkarnation des Privateigentums, sondern es sind die Produktionsmittel selbst, die sich als juristische und ökonomische Einheiten formieren und dazu tendieren, eine eigene Welt, regiert durch eigene Gesetze, herauszubilden. Auch dies wurde von Marx und Engels schon klar erkannt und sie prägten daraus den Begriff der „Charaktermasken“, die als Objekte dieser Gesetze in Erscheinung treten.
Der Widerspruch des Kapitals ist immer derselbe und setzt den Wert (das Privateigentum, den Tausch) dem Gebrauchswert (dem sozialisierten Produktionsapparat und an erster Stelle dem fixem Kapital) einander entgegen. Aber die Art und Weise, in der sich diese Entgegensetzung manifestiert, wird modifiziert und zeugt gleichzeitig von der Entwicklung des Kapitals und der Heranreifung der Bedingungen seiner eigenen Überwindung. Der Kampf hat sich entpersonalisiert. Man weiß, daß die Gesetze des Privateigentums nichts anderes ausdrücken, als die Existenz und die Sachzwänge des Tausches und des Wertes. Sie beziehen sich jetzt mehr auf Sachen als auf Personen. Was jetzt auf dem Spiele steht, das ist der Angriff eines schon sozialisierten Produktionsapparates, der jedoch noch gefangen ist innerhalb des Wertes des autonomen Unternehmens. Er ist buchstäblich parzelliert in voneinander getrennte Produktionseinheiten und nur durch den Wert verbunden, während die Zusammensetzung dieses internationalen Produktionskomplexes selbst die objektive Grundlage des Wertes zerstört und schafft unter streng ökonomischem Aspekt so die Privatproduktion ab. Der Kommunismus realisiert deshalb nicht die Vergesellschaftung der Produktion (dies ist im Gegenteil das Werk des Kapitals) sondern er befreit diese Vergesellschaftung von den Fesseln des Wertes. Die Expropriation der Expropriateure, zeigt sich so nicht als eine Frage der Personen, sondern der gesellschaftlichen Beziehungen. Es handelt sich darum, dem vergesellschafteten Reichtum seinen Wertcharakter zu nehmen.
Der Kommunismus ist die soziale Aneignung aller Reichtümer der Menschheit durch die Menschen selbst!
Das bedeutet natürlich auch die Transformation des gesellschaftlichen Reichtums. Tatsächlich sind alle Reichtümer zugleich Befriedigung von Bedürfnissen und Produkt und Produktion des Kapitals. Der Kommunismus muß dies nur überwinden und diese reaktionäre Einheit zerbrechen. Er bedeutet Aktion in allen Bereichen.
Die zu seiner Errichtung notwendige Bedingung hat nichts damit zu tun, daß diese akkumulierten Reichtümer besonders groß sind. Es ist keine Frage der Quantität, sondern eine des Verhältnisses und der Qualität. Man kann den Wert als eine gegebene Größe vernachlässigen, wenn die durchschnittliche Arbeitsmenge, die zu seiner Produktion notwendig ist, eine zu vernachlässigende Rolle spielt: man kann deshalb sagen, daß dieses „Gut“ im Überfluß existiert. Die Rolle der Arbeitszeit und die damit verbundene Regulierung derselben (notwendige Arbeit oder disponible Arbeit) ergeben sich aus ihrer ökonomischen Rolle. Weshalb war es nötig, seit der Auflösung der primitiven Gemeinschaft, die sich damit zufrieden gab, Grundbedürfnisse zu befriedigen und keinen Tausch kannte, die Güter gemäß der in ihnen kristallisierten Arbeitszeit zu messen? Weil es die einzige Weise seit Jahrtausenden gewesen ist, um die Verteilung und die Produktion sicherzustellen. Das Privateigentum hat übrigens keinen anderen Daseinszweck, als eine Hilfsfunktion des Tausches zu sein. Es ist die spezifische Form der Beziehung, die die Menschen, die in verschiedene gesellschaftliche Klassen unterteilt, an das Objekt in einer Gesellschaft zu binden, die durch Tausch dominiert wird, Es ist vollkommen utopisch, das Privateigentum abzuschaffen mit der Absicht der Befreiung des Menschen, ohne gleichzeitig den Wert abzuschaffen. Die Privataneignung der Güter korrespondiert mit einer bestimmten Gesellschaft bzw. spezifischen Gesellschaftstypen (Altertum, Feudalismus, Kapitalismus). Damit der Tausch möglich wird, ist es erforderlich, daß die Güter so betrachtet werden, als ob sie sich auf zwei Personen beziehen (im physischen oder moralischen Sinn) und es kann sich hier um ein Unternehmen oder den Staat handeln, die voneinander unterschieden sind und von denen jeder einzelne die Ware in exklusiver Form besitzt. Was diese Güter charakterisiert, die gleichzeitig ein determiniertes Bedürfnis (Gebrauchswert) darstellen und innerhalb ihrer selbst eine durchschnittliche Arbeitsmenge vergegenständlichen, das ist, daß ihr Umlauf nicht möglich ist, wenn sie nicht dem Maß dieser Menge gehorcht. Wert und Privateigentum sind unauslösbar miteinander verbunden.
Im Kommunismus enthalten die Produkte immer eine bestimmte durchschnittliche Arbeitszeit, jedoch hat dieser Tatbestand keinerlei Bedeutung. Die Ware als widersprüchliche Einheit zwischen Gebrauchs- und Tauschwert wird aufgehoben und nicht mehr durch den abstrakten Wert bestimmt. Sie ist nichts als ein Gut an sich, ein nützliches Objekt (der Kommunismus wird so zu einer neuen Entwicklung des Reichtums) und überwindet damit die gesellschaftliche Beziehung, die durch ihren Tauschwert determiniert wird. Die Gebrauchswerte haben also ihren Tauschwert nicht mehr nötig, um zu zirkulieren. Damit eine solche Transformation eintritt, mußte man seit dem Erscheinen der Ware eine lange Zeit warten. Die Ware kennt also eine lange Geschichte, bevor sie zum Kapital wurde, indem sie die Arbeitskraft als Ware einsog. In sich selbst enthält die Ware nicht die Möglichkeit des Kommunismus. Aus dem einfachen Begriff der Ware können weder die Bewegung, die zum Kommunismus führt, noch die Prinzipien seines Funktionierens abgeleitet werden.
Allerdings enthält die Ware Arbeitskraft als besondere Ware das Vermögen, das Wertgesetz zunehmend zu überwinden, da sie beständig den Mehrwert schafft, der schließlich das Kapital als Ganzes in Frage stellt. Darin enthalten die Selbstaufhebung der lebendigen Arbeitskraft durch zunehmende Arbeitsproduktivität und Überzähligmachung der lebendigen Arbeitskraft…, der Grundlage des Kapitals (Einfügung von mir).
Nur das Kapital, das einen zunehmenden Gegensatz zur Ware Arbeitskraft bildet, setzt diesen Prozeß der Autonomisierung des Gebrauchswertes in Gang. Die Ware verliert ihre Eigenständigkeit, indem sie Kapital wird. Das ist auch der Unterschied zu den vorkapitalistischen Produkutionsweisen, in der die Ware auch schon zunehmend zum Mittelpunkt des Lebens wurde. Die entscheidende Rolle der Ware in der bürgerlichen Gesellschaft liegt im Wertgesetz, welches die Ware einschließt, im Produktionsprozess; verkonsumiert und überschreitet.
Jeder Versuch, eine kommunistische Gesellschaft zu analysieren, kann sich nur drauf beschränken, allgemeine Prinzipien ihres Funktionierens darzustellen. Was den Rest betrifft (das tägliche Leben usw.) so kann dieser nur mit Vorsicht betrachtet werden und muß immer in Beziehung zum wesentlichen Mechanismus der kommunistischen Produktionsweise gesetzt werden.
Der Kapitalismus d.h. Produktion von Werten um des Wertes Willen macht das Wertprinzip selbst auf diese Weise hinfällig, folgt man der Darstellung von Marx. Jedoch erfüllt das Wertgesetz eine Regulierungsfunktion in der Verteilung der Ressourcen, die jede Gesellschaft, gleichgültig welchen sozialen Systems, vornehmen muß. Sicherlich erfüllt das Wertgesetz seine Funktion nur unter dem Preis zahlreicher Katastrophen.
Im Kommunismus ist das anders: er bedient sich dieser Mechanismen, wie Arbeitszeitmessung, Buchführung etc. nicht auf dieselbe Weise. Die Kalkulation folgt nicht mehr der Kostenanalyse z.B. in Bezug auf die geringsten Kosten oder Durchschnittskosten. Der Imperativ des Gewinns wird seines Sinns beraubt. Die gesellschaftliche Produktion wird nicht mehr durch die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit bestimmt, sondern durch die, wie Marx sie nennt, disponible Zeit. Und die Ressourceneinteilung wird ausgehen von der Qualität der herzustellenden Güter und richtet sich ferner nach den vorhandenen Ressourcen sowie ökologischen und sozialen Kriterien, die durch die gesellschaftlichen Produzent/innen (zu denen auch die Wissenschaftler/innen gehören), definiert wird.
Man hat diese disponible Zeit bereits angekündigt. Tatsächlich handelt es sich nicht darum, Arbeitszeit zu berechnen, sondern Ressourcen – und die spezifische Arbeit eines Jeden wird damit auch als qualitative Ressource angesehen. Jede Buchführung in Begriffen von Arbeitszeit im Wertmaßstab ist mit dem Kommunismus nicht vereinbar. Tatsächlich:
1. für die Mittel und Objekte der Arbeit, die in physischen Einheiten existieren, schafft erst der Kapitalismus das „Umfeld“ des Wertes. Der Kommunismus kann sie in natürlichen Einheiten kalkulieren, die ihrem Gebrauchswert entsprechen (soundsoviel Häuser dieses oder jenen Types etc.)
2. für die Arbeitskräfte, die sich in unterschiedliche Qualifikationen aufgliedern, berücksichtigt die soziale Buchführung diese Qualifikationsgrade und damit auch die Art des Gebrauches.
Auf der Ebene von ökonomischen Gesetzen negiert damit der Kommunismus, sowohl Produktionsfaktoren wie auch die Elemente des sozialen Lebens auf einen gemeinsamen abstrakten Maßstab zurückzuführen. Er bedeutet also nicht mehr die Herrschaft der Quantität, sondern der Qualität. All dieses hat also nichts mit irgendeinem „Überfluß“ oder auch „Mangel“; zu tun, denn die Menge der Arbeit braucht nicht mehr berechnet zu werden. Dies, weil die neuen Güter und Bedürfnisse aus dem sozialen Leben entstehen. Dies allein wird die Eigenschaft und die Menge der Güter bestimmen.
Die Güter, ihr konkreter sozialer Gebrauch und die Anzahl/Menge werden aus der Bewegung des sozialen Lebens entstehen und in darin ihre Eigenschaft des sozialen Genusses entfalten. Sie werden miteinander verglichen und in Bezug auf den Gebrauch, den man davon machen will, bewertet, was auch die Wahl beinhaltet. Man kalkuliert also die Ressourcen, die einem zur Verfügung stehen und wendet die disponiblen Produktivkräfte diesem oder jenem Gebrauch zu. Es gibt durchaus immer Güterzirkulation und auch deren Messung, aber die Zirkulation verliert die Form des Tausches. Die Regulation erfolgt nicht mehr nachträglich, nach der Produktion durch das Mittel eines komplexen und ruinösen Mechanismus bezüglich des Durchschnittprofites, sondern vor der Produktion. Es ist klar, daß dieser Prozeß gewisse unumgängliche Schwierigkeiten nicht vermeiden kann. Dies schon aufgrund der Verschiebung der Entscheidung und ihrer Anwendung.
Der Kommunismus ist nicht die Realisierung eines Perfektionsideals. Allerdings gestattet diese Funktionsweise die Organisation der Produktivkräfte einschließlich der Arbeit, indem er die periodischen Krisen der monetären Wirtschaft und merkantilen Wirtschaft vermeidet.
Der vollendete Kommunismus ist nur möglich nach einer Übergangsperiode, die die Funktion hat, ein Ensemble von irreversiblen Maßnahmen zu treffen, wodurch ein Bruch mit der Wirtschaft, die auf Kapital und Wert basiert, vollzogen wird. Die Existenz dieser zwei Phasen und die Art und Weise in der sie aufeinander folgen, haben beide als Wurzel die Bewegung der Opposition gegen das Kapital, die durch das Kapital selbst erzeugt wird. Der Kapitalismus ist die Herrschaft toter Arbeit, die durch vergangene und gegenwärtige Generationen akkumuliert wurde, geschaffen durch die lebendige Arbeit des Proletariats, Schöpferin von Mehrwert. Keine andere Produktionsweise kann so charakterisiert werden. In gewisser Weise organisieren alle Ausbeutersysteme die Unterwerfung des Menschen unter die Produktionsmittel. Jedoch setzten die Sklaven und die Arbeiter von Gemeinschaften des asiatischen Typs nicht diese Massen akkumulierter Arbeit in Bewegung. Der Unterschied ist nicht nur quantitativ, sondern vor allem qualitativ. Die Aktivität des in der Landwirtschaft beschäftigten Sklaven kann nicht sehr verschieden sein von derjenigen des freien Bauern, der zur gleichen Zeit auf seiner Parzelle arbeitet. Der Proletarier hingegen tritt in eine Beziehung mit der akkumulierten Arbeit, wo seine spezifische Rolle und sein einziges Ziel nichts anderes sind, als diese enormen Produktionsmittel mit dem Zweck ihrer Verwertung in Bewegung zu setzen. Es handelt sich nicht mehr darum, ein Mehrprodukt herauszuziehen, welches parasitär verbraucht wird, sondern einen ständig wachsenden Mehrwert zu schaffen, der ihnen als Macht gegenübertritt und ihre Arbeit zunehmend entwertet. Das Kapital ist diese besondere Beziehung zwischen lebendiger und toter Arbeit. Infolgedessen ist es ein Verhältnis zwischen Klassen: Lieferanten von lebendiger Arbeitskraft und Besitzern bzw. Eigentümern von spekulativen Besitztiteln (Aktienkapital) von und an toter Arbeit. Ob die letzteren Eigentümer der Produktionsmittel sind, oder nicht, ist nicht von Bedeutung. Sie sind Kapitalisten und deshalb die dem Proletariat entgegengesetzte soziale Klasse, da sie das Kapital verwalten. Ob diese Beziehung es nötig hat, organisiert zu werden – und zwar in gleichem Ausmaß, wie der Kapitalismus von Tag zu Tag selbst komplexer und diversifizierter wird, macht nicht die wesentliche Beziehung dieser Organisation aus. Das Kapital kann deshalb nicht durch eine Änderung der Arbeitsorganisation überwunden werden, sondern nur durch eine Transformation innerhalb der Struktur der Produktivkräfte, die dieses Verhältnis bestimmt und daraus ein historisch notwendiges Instrument der gesellschaftlichen Entwicklung der Menschheit darstellt. Es ist exakt dasjenige, was mit dem Anwachsen toter Arbeit entsteht und es im Verhältnis mit der lebendigen Arbeit unnötig macht, ausgebeutet zu werden. Diese Entwicklung und ihre Integration wurden im ersten Teil dieser Arbeit analysiert. Dennoch spielt auch die modifizierte Arbeit weiterhin eine unerläßliche Rolle. Betrachten wir jetzt die beiden Etappen dieses historischen Prozesses und wie sie in Erscheinung treten.
Der jeweilige Inhalt dieser beiden Phasen (der niederen und höheren) stellt sich zur Epoche von Marx und noch in der Epoche von 1917 unterschiedlich zu unserer heutigen Zeit dar. Wenngleich, da der Kapitalismus seine Natur nicht geändert hat, ist das Programm in seiner Grundstruktur das gleiche wie im 19. Jahrhundert. Es stellt sich heute jedoch anders dar und erfordert eine theoretische und praktische Aktualisierung. Gewisse Punkte sind für die Epoche von Marx und der unsrigen gleichbedeutend, einige jedoch erfordern eine völlig andere Herangehensweise. Im 2. Teil betrachten wir deshalb dasjenige, was verglichen mit der vorangegangenen Periode neu ist. Die allgemeinen Prinzipien, wie sie von Marx definiert werden, bleiben darin unberührt und werden deshalb in diesem Teil nicht wiederholt.
A. DAS PROGRAMM ZUR ZEIT VON MARX
Da der Kommunismus die kollektive Aneignung der angehäuften kollektiven Reichtümer durch die Menschheit ist, ist er in erster Linie Aneignung dessen was der Kapitalismus zum wesentlichen Faktor des Reichtums gemacht hat: angesammelte Arbeit, fixes Kapital im weitesten Sinn des Wortes. Die Punkte, wo das fixe Kapital am konzentriertesten ist, sind die Bewegungszentren der modernen Gesellschaft: Großindustrie, Transportindustrie, Telekommunikation, Energie usw. Diese Zentren; Hochburgen der Macht des Kapitals stellen in Wahrheit seinen Schwachpunkt dar und sind die Ausgangszentren der antikapitalistischen Revolution. Denn an diesen Stellen verliert der Wert seine objektive Basis. An diesen Stellen kann der Gebrauchswert sofort den Austausch überwinden und erst anschließend den Kampf in die Bereiche tragen, wo das Kapital noch nicht genügend entwickelt ist, damit der Widerspruch zwischen Wert und Arbeitsprozeß explodieren und aufbrechen kann.
Die erste Phase des Kommunismus hat als erstes Ziel die Abschaffung des Austausches zwischen den großen Industrieunternehmen, so daß diese allmählich, sogar relativ schnell, ohne die Vermittlung des Wertes funktionieren. Strikt genommen ist der Wert nicht „abgeschafft“ [die Bewegung des Kommunismus enthält in sich keinen Voluntarismus bzw. administrative Akte]: er stirbt vielmehr ab, wenn die Sphäre seiner Anwendung progressiv aufgehoben wird. Der Ausgangspunkt dieser Bewegung ist das Netz der großen modernen Unternehmen (Industrie, Verkehrswesen…) Sie sind in gewisser Weise durch die Anhäufung fixen Kapitals und hochentwickelter Produktivkräfte Hochburgen des Kommunismus. Mit dadurch bedingt, hören diese Unternehmen auf, als autonome Produktionseinheiten zu funktionieren. Sie heben sich in ein größeres Ganzes auf. Als Folge davon ist die Koordinierung der Ökonomie weniger schwierig, da das Kapital durch seine Tendenz der Zentralisierung die moderne Gesellschaft um eine gewisse Anzahl von finanziellen und industriellen Imperien organisiert hat und seine Macht in allen wichtigen Sektoren der Wirtschaft ausübt. Die Transitionsphase ist von dem Moment an erreicht, wo die Überwindung des Wertes ausgehend von diesen vitalen Punkten Auswirkungen auf die Gesamtheit des gesellschaftlichen Lebens zu zeitigen beginnt. Von da an wird die Produktion durch die Entwicklung des Gebrauchswertes und die Befriedigung der Bedürfnisse und nicht durch die Verwertung bestimmt. Der Wert ist verschwunden.
Nur diese Entwicklung erlaubt auch die Aufhebung der Lohnarbeit. Die Lohnarbeit ist die Bedingung, die den Menschen durch das Kapital auferlegt wird. In diesem Verhältnis existiert der Mensch für die Gesellschaft nur als Arbeiter, Lieferant von Arbeitskraft. Die Existenz des Lohnarbeitsverhältnisses rührt daher, daß die gesellschaftliche Entwicklung der Menschen nur unter diesem Aspekt betrachtet wird. Man muß ihn an die Arbeit binden und ihn der toten Arbeit unterwerfen, der er durch seine lebendige Arbeit Wert verschafft. Er existiert nur zu diesem Zweck und wenn er diese Funktion nicht ausüben kann oder will, ist er für die Gesellschaft bzw. das Kapital unnütz. Die Lohnarbeit ist Unterwerfung unter tote Arbeit. Hierzu muß der Arbeiter zur Arbeit gezwungen werden. Er muß seine materielle Existenz von seiner Lohnarbeit abhängig machen. Es kommt gar nicht darauf an, ob er an dem Reichtümern der Gesellschaft, also auch durch seine eigene Arbeit, an den Reichtümern partizipiert. Er erhält nur ein Minimum, welches seinem Wert als Arbeitskraft entspricht. Dieses ist Minimum je nach Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte und des produzierten Reichtums und basiert auf der historischen Entwicklung der Arbeit. Indem man ihm nur das gibt, was zur Reproduktion seiner Arbeitskraft gesellschaftlich notwendig ist, zwingt man ihn, sie zu verkaufen. Mit der Entfaltung und dem Wandel der Produktivkräfte kann die kapitalistische Beziehung zwischen toter und lebendiger Arbeit und damit der gesamte Wertmechanismus wie auch die Lohnarbeit verschwinden. Die Lohnarbeit ist nur eine Beziehung, die durch das Verhältnis zwischen der Arbeit und den Produktionsmitteln determiniert ist. Wenn die objektive Ursache dieser Beziehung sich auflöst, verschwindet sie schließlich. Jedoch gibt es keine völlige Gleichzeitigkeit zwischen dem Verschwinden des Wertes und dem der Lohnarbeit.
In den fortgeschrittenen Sektoren, in denen das Wertprinzip durch die Entwicklung der kapitalistischen Produktion selbst überflüssig geworden ist, beginnen die Unternehmen, ihre Produkte untereinander auszutauschen, ohne sich um die Verwertung zu sorgen. Aber auch in diesen Fabriken kann die Arbeitskraft nicht unmittelbar ihren Wertcharakter verlieren. Die Arbeitskraft wird aber nicht mehr bezahlt und durchläuft diese Evolution in zwei Phasen:
Der Kommunismus kann in der Tat die Arbeitskraft nicht wie die Produktionsmittel behandeln. Im Falle der Arbeit selbst ist die erste Notwendigkeit, sie zu generalisieren. Es handelt sich vor allem darum, die nicht Arbeitenden arbeiten zu lassen, aber auch darum, alle unproduktive Arbeit in produktive zu verwandeln und hierzu die große Masse der Arbeitslosen heranzuziehen. Dieser Prozeß der Generalisierung der Arbeit ist wichtig für das erste Stadium des Kommunismus. Da dieser die Aneignung der Produktivkräfte und der Reichtümer bedeutet, schließt er notwendigerweise die volle Nutzung der Arbeitsfähigkeit durch die Menschheit ein und beendet so die Verschwendung und die ständige Unterbeschäftigung der Arbeitskraft durch den Kapitalismus. Jedoch weil sie sich auf die lebendige Arbeit in Bewegung bezieht, welche eine produktive Anstrengung einschließt, kann die Arbeitskraft nicht wie die Produktionsmittel eingesetzt werden. Die tote Arbeit verrichtet ihre Arbeit problemlos, aber die Arbeiterkraft kann ihre Funktionen anfangs nur wahrnehmen, wenn sie dazu gezwungen wird. Die Jahrhunderte alte Gewohnheit der Versklavung hat aus der Arbeit eine drückende Verpflichtung gemacht, die auf dem Individuum wie eine Bürde lastet, der es ständig auszuweichen versucht. Nur die Zeit der Nichtarbeit erscheint ihm als Befreiung und Entwicklung menschlicher Möglichkeiten. Man hat oftmals gedacht, daß die Lösung darin besteht, die Arbeit als solche einfach abzuschaffen und nicht darin, die Bedingungen zu ändern, die aus der Arbeit einen Zwangscharakter machen. Deshalb ist es in der Übergangsgesellschaft notwendig, die allgemeine Arbeitspflicht einzuführen gemäß der Regel: wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Das war schon deshalb notwendig, weil die reine Anzahl und die soziale Herkunft der neuen Arbeiter schwierige Probleme aufwerfen. Wie man sehen wird, wird eine derartige Generalisierung der Arbeit nur durch das Festhalten an einer – jedoch modifizierten – Form des Wertes möglich sein. Der Prozeß der Etablierung eines derartigen Systems muß zu dessen Aufhebung führen und erlaubt so den Übergang zur höheren Phase.
Zu Beginn ist der Kommunismus nicht voll entwickelt. Er muß nur die Hindernisse, die seiner Entwicklung im Wege stehen beseitigen, besonders zunächst diejenigen, die die Produktivkräfte an ihrer Entfaltung hindern, die Grundvoraussetzung für den Kommunismus. Das Proletariat organisiert die Gesellschaft rational unter seiner Leitung, um ökonomisches Wachstum zu realisieren und um diese Klippen zu umschiffen.
Aber es hat aus der Menschheit noch nicht die gesellschaftliche Produktivkraft gemacht. Es verbleibt sogar noch innerhalb wichtiger Bereiche vorkapitalistischer Entwicklung. Die Generalisierung der Arbeit visiert noch nicht die Errichtung einer Gemeinschaft der Arbeit an, in der der Mensch als alleiniger Bezugspunkt der Arbeit betrachtet wird. Sie hat nur das Ziel, den kapitalistischen Charakter der Arbeit zu beenden.
Die Arbeit wird nicht durch Lohn, sondern durch einen Lebensmittelbon vergütet, einer Art Verpflegungskarte, die wohl verstanden einem Verbrauch entspricht, der von demjenigen, den das Kapital gewährt völlig verschieden ist. Dieser hat nichts mit Rationierung wie z.B. während Kriegen zu tun. Der Bon entspricht also dem Wert der Arbeit, aber er überwindet den Wert, weil er nur der Wert für einen bestimmten Verbrauch ist. Er misst nicht das, was für die Reproduktion der Arbeit notwendig ist. Er misst das, was dem Niveau der Produktivkraftentwicklung entspricht. Letzteres setzt notwendigerweise einen Zuteilungsplan für den Konsum voraus und zwar nicht nur innerhalb eines Landes.
Der Wert existiert damit in einer neuen Form. Eine Quantität Arbeit tauscht sich gegen eine Quantität von Produkten: jedem gemäß seiner Arbeit. Das Gegenteil wäre unmöglich. Die Bons, die diesen festgelegten Mengen entsprechen, können nicht gespart werden, sie sind nicht akkumulierbar. Wenn man sie nicht benutzt, wenn man sie nicht verbraucht, sind sie unwiederbringlich verloren. Dies zeigt den ganzen Unterschied zum Lohn. Der Bon hat nicht den Charakter eines Wertes, der eine andere Verwendung als den direkten Konsum gestattet. Es gibt also zwischen der Arbeit und dem Bon (also den Produkten), damit zwischen Mensch und Gesellschaft eine Wertbeziehung, aber eine andere als die durch Lohnarbeit ausgedrückte. Es gibt durchaus Äquivalenz, da die festgelegten Arbeitseinheiten gegeneinander ausgetauscht werden. Jedoch gibt es keine Polarität, da der Austausch nur einen Zweck hat: die Arbeitskraft fährt fort, entgolten zu werden aber sie ist keine Ware mehr. Man hat es nicht mehr mit zwei austauschbaren Polen zu tun, sondern mit einer einheitlichen Bewegung, die in der Tat den Anfang der Aufhebung des Tausches bedeutet. Grob gesagt, könnte man sagen, daß das Wertgesetz nur noch zur Hälfte gültig ist. Deshalb verschwindet es.
Das Maß der Produktmenge, die der Arbeiter erhält, wird nicht mehr durch den Wert bestimmt, durch die durchschnittliche Arbeitszeit, die notwendig ist zur Reproduktion seiner Arbeitskraft, sondern durch die Gesellschaft bestimmt. „Es handelt sich nicht um einen Tausch, sondern um eine autoritäre Zuteilung der Produkte.“ Das Wertgesetz operiert also nicht mehr, wie im Kapitalismus. Es gibt keine Autonomie des Wertes mehr, welcher gleichzeitig teilweise zerstört und beherrscht wird. Stattdessen erhält die Arbeitskraft weiterhin Entgelt durch den Wert: nicht im Sinne, weil der Verpflegungsbon dasjenige gibt, was zur Reproduktion notwendig ist, sondern weil der Bon eine Messbeziehung etabliert, also einen Tausch zwischen der entrichteten Arbeit und dem Verbrauch, jedoch ausgehend vom Verbrauch. So ist das kommunistische System der niedrigeren Phase zugleich verschieden vom entwickelten Kapitalismus als auch vom Kommunismus. Man fährt fort zu messen, aber nur in Bezug auf den Verbrauch. Parallel dazu oder gleichzeitig operiert der Mechanismus zur Schaffung der disponiblen Zeit sowohl auf dem Niveau der Arbeit als auch der Produktion selbst und erlaubt eine beträchtliche Senkung des Arbeitstages. Man gelangt zu einer qualitativen und quantitativen Veränderung des Verbrauchs. So verliert der Verbrauch den Charakter einer Zuteilung. Es ist erforderlich, daß die Produktivkräfte jedem einen Verbrauch gemäß seinen Bedürfnissen gestatten. Eine derartige Veränderung kann nicht dekretiert werden, sondern entwickelt sich progressiv gemeinsam mit der Transformation der Bedürfnisse. So verliert die Arbeit definitiv ihren Zwangscharakter, nachdem sie ihre Natur verändert hat und dadurch wird auch die Beziehung der Arbeit zur frei disponiblen Zeit verändert. Die veränderte produktive Aktivität ist so zum Bedürfnis geworden. Nur eine Entwicklung, deren Fristen sich nicht voraussehen lassen, kann diesen Prozeß realisieren. (vgl. Kritik des Gothaer Programmes)
Die Aufhebung der Lohnarbeit fällt zusammen mit der endgültigen Liquidierung des Tausches. Der Übergang zum Kommunismus sichert die Ingangsetzung eines doppelten Prozesses, der sich einerseits auf die Großunternehmen und andererseits auf die Arbeit bezieht. Die ganze Schwierigkeit dieser Übergangsperiode besteht darin, beide Bewegungen zu koordinieren. Man muß die großen Unternehmen ohne Rekurs auf den Wert einfach verbinden. Die Grundlagen dieser Transformation sind schon durch das Kapital gelegt und der Kommunismus genügt sich damit, sie in die Praxis umzusetzen. Das wäre die erste Errungenschaft der Revolution und sie erlaubt die Zerstörung der Lohnarbeit als logischer Konsequenz. Was die Widersprüche des Kapitals betrifft, so ist der entscheidende Hebel die vergegenständlichte Arbeit, die dadurch ihren Vampircharakter verliert, indem sie die tote Arbeit der lebendigen unterwirft. Die Übergangsperiode ist die Organisation dieses doppelten Prozesses auf der Ebene der wichtigsten Produktionsmittel und der generalisierten Arbeit und das Verschwinden des Wertes, der sich in dieser Bewegung manifestiert. Indem er dadurch wirkt, begründet er dessen unauflösliche Einheit. Die Übergangsgesellschaft kann sich nicht damit zufrieden geben, die „Ökonomie“ auf andere Weise zu organisieren, ohne sich mit den Beziehungen der Arbeiter zu den Produktionsmitteln zu beschäftigen. Sie kann auch nicht die Überwindung der Lohnarbeit ins Werk setzen, ohne die objektive Basis eines derartigen Verschwindens zu schaffen. Aus diesem Grunde zieht die Analyse des Überganges zum Kommunismus beide Aspekte aus denen sie besteht, in Betracht. Um sie zu verstehen, muß man die Rolle der Verselbständigung und Dominanz des Gebrauchswertes beleuchten, die einen Teil des Kapitals festlegt und der die Grundlage für das Absterben des Wertes liefert.
Die Aufhebung der Lohnarbeit ist nur so möglich, aber sie stellt sich in unserer Epoche anders dar, da die Entwicklung des Kapitals die Elemente des Hauptproblems verschoben hat, besonders die revolutionäre Behandlung der Arbeitskraft und die der Produktionsmittel. Die kommunistischen Überwindung des Tausches auf der Ebene der Konsumgüter und der der Produktionsgüter ist heute anders als früher.
B. DAS PROGRAMM IN UNSERER ZEIT
Im 19. Jahrhundert beinhaltete das Kommunistische Programm u.a. die Entwicklung der Produktivkräfte, um das Stadium des gesellschaftlichen Reichtums, ab dem der Kommunismus möglich ist, zu erreichen. Das galt noch 1917 für Rußland und sogar für eine größere Anzahl europäischer Länder bzw. Frankreich und Italien. Diese Entwicklung wird durch das Proletariat organisiert und kontrolliert, welches seine Diktatur vermittels seines d.h. neuen Staates ausübt. Es zwingt die bürgerlichen Elemente incl. der Rentiers, die damals noch Millionen zählten, und nach dem Krieg verschwanden, das Kleinbürgertum, wie auch die alten Hausangestellten zur Industriearbeit. Bis auf unsere Tage bleibt das Programm grundsätzlich das gleiche, aber die einzelnen Maßnahmen, die zu treffen sind, sind durch die ökonomische und soziale Entwicklung tiefgreifend verändert. Die allgemeine Industrialisierung in allen Ländern seit 1945 macht die Organisation einer vorausgehenden Wachstumsperiode der Produktivkräfte überflüssig. Ihre Entwicklung braucht nicht mehr extra ins Werk gesetzt zu werden, sondern es kommt auf eine Umorientierung der Produktivkraftentwicklung gegenüber derjenigen an, die durch den Wert bestimmt wurde. Es gibt noch unterentwickelte Zonen, aber diese werden die kommunistische Revolution nur als eine Art Anhang der Weltrevolution erfahren. In jedem Land, in dem ein beträchtliches Proletariat existiert, ist die Produktivkraftentwicklung keine Hauptaufgabe mehr, da das Kapital dies bereits vollendet hat. Es handelt sich also um eine sekundäre Aufgabe, mehr um eine qualitative als um eine quantitative, die vor allem auf eine Transformation der Produktivkräfte und auf die Aufhebung der „Ökonomie als solcher“ gerichtet ist.
Im übrigen hat der Kapitalismus eine große Anzahl unproduktive Lohngruppen entwickelt. Das produktive Proletariat tendiert dazu, nur eine Minderheit unter den gesamten Lohnabhängigen zu werden, während die lebendige Arbeit auch nur eine sekundäre Rolle in der Produktion spielt (diese reale Tendenz zeigt sich in allen entwickelten Ländern, vor allem in dem mächtigsten, der USA). Gegenüber dem Proletariat (betrachtet als produktive Lohnabhängige), befinden sich diese neuen Mittelschichten ganz und gar nicht in der gleichen Lage, wie das traditionelle Kleinbürgertum oder die Bauern. Für das Proletariat handelt es sich nicht mehr darum, ein Klassenbündnis mit diesen Schichten einzugehen. Es ist heute eine andersartige Verbindung, und zwar nicht, weil man es in beiden Fällen mit Lohnabhängigen zu tun hat (die Funktionäre des Kapitals sind das auch) sondern deswegen, weil im Gegensatz zu Kleinbürgertum und Bauernschaft die neuen Mittelschichten (Dienstleistungssektor) in ihrer überwiegenden Mehrheit keinerlei Reserve, keinerlei Kontrolle über irgendwelche Produktionsmittel, egal welcher Art auch immer, haben. Sie haben auch keinerlei Aussichten, dies jemals tun zu können. Wie das Proletariat, haben sie nichts zu verlieren, als ihre Ketten.
Die Hauptaufgabe der Revolution liegt darin, eine Ökonomie, die sich des Wertbegriffes entledigt hat, zu organisieren. Es handelt sich nicht nur darum, die Produktion aus der Verwertung herauszunehmen, so als ob die Produktion selbst ein konstituierendes Element des Kommunismus sei, die es dem Kapitalismus zu entreißen gilt. Diese Illusion wäre ebenso schwerwiegend, wie diejenige einer Betriebsführung durch die Arbeiter, denn diese Produktion, wie sie sich gegenüber der Revolution präsentiert, ist immer noch eine kapitalistische Produktion. Die Revolution kann sie nicht wie ein fixes Kapital behandeln, denn fixes Kapital ist immer noch Kapital. Darunter befindet sich ein wichtiger Teil in der Rüstungsindustrie oder in den Zweigen, die durch das Kapital aus Profitgründen überentwickelt wurden (Automobilindustrie etc.) Die Ökonomie ist für das Kapital als auch für die Revolution eine Waffe . Der Kommunismus kann diese Waffe nur anwenden, indem er die Produktion selbst verändert. Er kann sich also nicht damit begnügen, unproduktive Sektoren zu liquidieren und produktive Zweige zu entwickeln. Jede Produktionsweise unterscheidet zwischen produktiven und unproduktiven Sektoren gemäß ihren eigenen Kriterien. Zu den unproduktiven gehören alle Bereiche, die lediglich der Zirkulation dienen. Diejenigen des Kapitalismus und des Kommunismus sind natürlich unterschiedlich. Tatsächlich kennt der entwickelte Kommunismus diesen Unterschied gar nicht mehr. Jedoch bei der Überwindung des Kapitalismus muß die kommunistische Revolution das doppelte Problem lösen: unproduktive Zweige liquidieren oder modifizieren und eine große Anzahl von unproduktiven Arbeitern umschulen.
Unter solchen Bedingung kann es sich nicht mehr darum handeln, die Industrie zu entwickeln, wie es Marx und die Kommunisten noch 1920 gesehen haben. Es geht nicht mehr darum, die Massen von Individuen dazu zu bringen, in der Fabrik arbeiten zu gehen. Die Frage der Generalisierung der Arbeit durch Zwangsarbeit bzw. durch politischen Druck des Staates oder ökonomischen Druck des Bonsystems hat keinen Sinn mehr, da die Entwicklung, die man erreichen wollte, ja schon gelaufen ist. Wie sich das Problem heute stellt, geht es darum, Aktivitäten zu entwickeln, wo Wissenschaft und Technik Hauptproduktivkräfte werden. Es ist nicht möglich, jemanden zu diesem neuen Typ von Arbeit zu zwingen, denn die ökonomischen und technischen Bedingungen sind nicht dazu geeignet, die Massen der unproduktiven Arbeiter in einer solchen Aktivität zu absorbieren. Die Aufgabe der Übergangsperiode besteht auf ökonomischem Gebiet genau darin, die Aktivitäten hin zu einer sozialen, wissenschaftlichen und schöpferischen Tätigkeit zu bündeln. Die automatisierte Industrie, die die Revolution mit gerade entwickelt, erfordert in jedem Fall ein hochqualifiziertes, aber nicht besonders zahlreiches Personal. Es wäre also gar nicht möglich, die Ex-Unproduktiven alle in diesem Sektor zu beschäftigen, selbst wenn man das wollte. Die Revolution wird also gezwungen sein, gleichzeitig die Automatisierung voranzutreiben, den zerstörerischen Sektor zu liquidieren, die Arbeitsbedingungen der alten Proletarier zu verbessern und die Mittelschichten für eine Beschäftigung in der neuen Ökonomie umzuschulen. Die Aufhebung des Wertes findet in diesem Rahmen statt und verleiht ihm erst einen Sinn. Nur so ist dieses machbar. Was den Arbeitsgutschein betrifft, so war er an die sofortige Generalisierung der Arbeit gebunden, er garantierte ihm den obligatorischen Charakter. Von dem Moment an, wo ein sofortige Generalisierung nicht möglich ist, muß das System der Bons sofort in Form und Inhalt modifiziert werden. Vielleicht muß man sogar darauf verzichten und kann gleich die Partizipation aller an der gesellschaftlichen Arbeit und dem prouzierten Reichtum ohne diese Gutscheine organisieren.
Die Frage, welche Unternehmen man beibehält ist bedeutungslos. Es ist eine praktische und keine theoretische Frage. Es führt zu nichts, sich endlos über soziale und antisoziale Bedürfnisse zu unterhalten. Das Problem wird durch die Revolution gelöst werden. Die unmittelbaren und realen Bedürfnisse werden darüber entscheiden. Die Wohnungslosen brauchen Wohnungen und diejenigen, die einen sozialen Mindeststandard haben, brauchen bessere soziale Güter /Kultur. Jeder Versuch, hierüber im Voraus Pläne aufzustellen, zeugt nur von völligem Unverständnis der kommunistischen Revolution, die vor allem durch Interessen und realen Bedürfnisse produziert wird. Im Wesentlichen zeigt diese Art Probleme aufzuzeigen nur, daß man außerhalb der sozialen Bewegung steht. Im Gegenteil: der Revolution näher ist derjenige (ohne daß er dieses weiß, und selbst wenn er das Gegenteil annimmt), der ein praktisches Bedürfnis verspürt – darin eingeschlossen persönliches Interesse – da die Revolution kein Akt des Altruismus ist, die Welt zu verändern. Die Revolution zu wollen ist im übrigen die Domäne der Intellektuellen und derjenigen Gruppen, die immerzu damit beschäftigt sind, sich und ihre Aktivitäten umzugruppieren und neu zu organisieren. Man könnte sagen, daß jeder Revolutionär, der keine präzisen und revolutionären Forderungen hat, ein potentieller Bürokrat an der Macht ist: er hat kein direktes Interesse daran, die Revolution zu machen, er wird ständig versuchen, andere zu organisieren und zusammenzubringen und das revolutionäre Bewußtsein bei anderen hervorzubringen.
Die Diktatur des Proletariats ist zugleich politisch, militärisch und ökonomisch. Sie dauert solange, bis die neue Ökonomie sich konstituiert hat. Nur in diesem Sinn kann man von einer Übergangsphase sprechen. Die unterentwickelten Länder werden ohne Zweifel eine verzögerte Entwicklung durchlaufen bezogen auf den Verlauf der Revolution in den entwickelten Ländern, in jedem Fall aber wird sich die soziale Bewegung vereinheitlichen, da der Kommunismus nur als Wirtschaft und Gesellschaft auf Weltebene möglich ist.
Auf der Ebene der industrialisierten Länder führt die doppelte Aufhebung des Proletariats und der neuen Mittelschichten (die die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung stellen) notwendigerweise zur Herausbildung einer universellen Klasse, die sich gleichzeitig als Klasse selbst negiert. Mit der Vereinheitlichung des Kommunismus im Weltmaßstab schafft sich diese universelle Klasse selbst ab und die einzige existierende soziale Macht ist die Menschheit. In dieser universellen Klasse, die die Revolution nicht macht, aber die Revolution gleichzeitig trägt und negiert, behält das Proletariat, oder vielmehr das, was das Proletariat war, (im Sinne von Produzenten des Mehrwertes) jedoch eine zentrale Rolle. Es ist die einzige Kraft, welche durch ihre soziale Funktion über den Produktionsapparat verfügen kann. Dies aufgrund seiner Konzentration und seiner direkten Beziehung zur Produktion, um so die Aufhebung der Wertbeziehung zwischen den Unternehmen organisieren zu können. Die Ökonomie ist eine Waffe, derer sich das Proletariat als die fähigste soziale Gruppe im kommunistischen Sinne bedienen kann. Es spielt deshalb die entscheidende soziale Rolle. Aus diesem Grunde behält die Diktatur des Proletariats trotz der Bedeutung der neuen Mittelschichten und unabhängig des zahlenmäßigen Umfangs des Proletariats (vgl. die USA) seine zentrale Bedeutung. Dennoch gibt es einen bedeutenden Unterschied: das Proletariat hat es nicht mehr nötig, seine Diktatur über die anderen Klassen und Schichten auszuüben, um sie zur Arbeit zu zwingen. Es handelt sich für es nur darum, seine Führungsrolle zu behalten, eine drohende Konterrevolution abzuwehren und durch sein spezifisches Gewicht den Kampf in der Ökonomie zu lenken. Das schließt notwendigerweise oftmals ein, Druck auf die anderen Elemente über die unterschiedliche Art in der sie sich in der Kommunistischen Revolution verhalten auszuüben, um mit ihm die universelle Klasse bilden zu können.
Der Kommunismus verändert auch den Unterschied zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit und theoretisch ist dies bereits durch die Klassiker behandelt, sowie durch Marx auf Grundlage des Mehrwertes präzisiert. Sie kennzeichnet eine reelle Tendenz, aber nur in Bezug auf die Produktionsweisen, die dem Kapitalismus vorausgingen. Sie weist darauf hin, daß es Aktivitäten gibt, die der Natur einer Produktionsweise eigen sind und die sich quasi naturwüchsig herausbilden und zeigt andere Aktivitäten auf, die dies nicht sind, aber aus anderen Gründen existieren:
1. vorkapitalistisch: produktive Arbeit für den unproduktiven Verbrauch der Führungsklasse, damit diese ihre Arbeit in ihrer Gesellschaft bzw. die Arbeit anderer organisiert und stimuliert. 2. kapitalistisch: unproduktive Unternehmen werden mit dem Ziel entwickelt, den Augenblick hinauszuschieben, in denen kapitalistische Produktionsbedingungen durch die Produktivkräfte verworfen werden.
Oftmals bewirkt der Unterschied von produktiver/unproduktiver Arbeit die Aufteilung in: Arbeit/Nichtarbeit und sehr häufig außerdem in manuelle/intellektuelle, aber nicht immer. In diesem Fall spricht man von manueller Arbeit als einer ungeliebten, aber notwendigen Aktivität, um materielle Güter an eine Minderheit zu liefern, die daraufhin intellektuelle Aktivitäten verfolgen kann. Der Unterschied produktiv/unproduktiv korrespondiert deshalb mit der Notwendigkeit, einen rentablen Sektor zu organisieren – das Kriterium und die Art der Rentabilität variieren je nach der betrachteten Produktionsweise – um Unternehmensbereiche zu unterstützen, die nunmehr als die einzigen betrachtet werden, welche bereichernd und interessant wären (dies schließt z.B. die Errichtung von Denkmälern und im allgemeinen Sinn die gesamten künstlerischen Bedürfnisse mit ein). Der produktive Sektor läßt den unproduktiven Sektor leben, in dem sich der gesamte Reichtum der kulturellen Entwicklung etc. konzentriert. Eine der ersten großen Veränderungen betrifft die Rolle des Kapitals. Bis dahin wurden Wissenschaft und Forschung innerhalb der Wirtschaft betrieben und die Erfindungen und Verbesserungen kamen der Produktion zugute. Im Gegensatz dazu integriert das Kapital durch die Entwicklung von fixem Kapital Wissenschaft und Technik in die Produktion und macht aus der sozialen Entwicklung den wesentlichen Faktor des Reichtums.
In unserer Zeit muß das Proletariat arbeiten, um Zugang zur Domäne der Freizeit zu bekommen. Das ist das Überbleibsel einer alten Situation, die jetzt durch die Entwicklung des sozialen Reichtums determiniert wird und zwar nicht aus ökonomischen Gründen, sondern aufgrund der gesellschaftlichen Verhältnisse des Kapitalismus. Der höhere Kommunismus macht weder einen Unterschied zwischen produktiv und unproduktiv, noch zwischen Arbeit und Freizeit. Die Grundlage jeder menschlicher Gesellschaft ist die Produktion und Reproduktion seiner materiellen und intellektuellen Existenzbedingungen. Solange die Arbeiterschaft der entscheidende Faktor innerhalb dieses Prozesses ist, ist der Mensch zur Arbeit und zur Klassengesellschaft, das einzige Mittel, diese Notwendigkeit zu perfektionieren, gezwungen. Von dem Augenblick an, wo die Gesamtheit der ökonomisch-sozialen Entwicklung der wirksame Faktor wird (was das fixe Kapital im Kapitalismus ist), hat der Mensch es nicht mehr nötig, zur Arbeit gezwungen zu werden, sondern die Ökonomie im engeren Sinne hört auf, der Bereich zu sein, von dem alle anderen als Parasiten leben. Die Vorstellung der Arbeit im Sinne von Produktion und Reproduktion der Existenzbedingungen verliert ihren Sinn: die Existenzbedingungen schließen materielle Güter ein, aber auch das, was man früher als Kunst bezeichnete im Gegensatz zur Herstellung von nutzbringenden Gegenständen. In dieser Gesellschaft gibt es nichts Notwendiges oder überflüssiges mehr. Die Entwicklung der Bedürfnisse vollzieht sich notwendig in dem Sinne einer großeren Disposition der Individuen für kollektive Aktivitäten oder für schöpferische, wie für die Zerstreuung, ohne daß es einen allgemeinen Bruch zwischen den beiden gibt.
Das Recht auf Müßiggang oder das Spiel anstelle der Arbeit zu beanspruchen bedeutet das Problem so zu sehen, wie es sich im Kapitalismus darstellt: dennoch ist das Auftauchen derartiger Theorien ein Zeichen der Reife der Bedingungen des Kommunismus. Selbst wenn man sich ein Universum vorstellt, wo der Mensch nicht mehr arbeitet und sich die Maschinen um alles kümmern, führt dies dazu, den Unterschied zwischen Arbeit und Freizeit zu perpetuieren. Der Kommunismus ist nur Unterdrückung der Arbeit in dem Maße, wo er ihren, vom realen Leben entfremdeten Charakter zerstört. Nur im Kapitalismus erscheint Freizeit als Freiheit und Glück, wie auch Marx gesagt hat. Der Kommunismus privilegiert nicht die Freizeit, die noch ein Charakteristikum des Kapitalismus ist. Im Gegenteil: er bricht den Unterschied von Arbeit ./. Freizeit. Es verbleibt nur eine Aktivität, die gleichzeitig alle Mittel des sozialen Lebens entwickelt und nutzt.
Der Kommunismus kennt keine Ökonomie im Sinne einer Domäne der Herstellung materieller Güter mehr, wovon der gesamte Rest abhängig ist, die aber vom Kapital als Meister errichtet wird und aus der Produktion für die Produktion (=für die Verwertung) das Ziel jeglicher sozialer Aktivität macht. Im Kapitalismus dominieren die Produktionsbeziehungen alles; tendieren dazu, alles zu annektieren und jegliche soziale Organisation auf die vom Kapital installierte Lohnarbeit zu begründen. Im Kommunismus hören die gesellschaftlichen Verhältnisse auf, dem Totalitarismus der Produktion unterworfen zu sein, die hier nur ein nicht dissoziierbarer Teil des Restes ist. In diesem Sinn ist der Kommunismus das Ende jeglicher Ökonomie. Die Produktionsbeziehungen sind hier in den sozialen Beziehungen der Menschen begründet. Wenn die bürgerliche Revolution die Entwicklung der Wirtschaft begründet, bedeutet die kommunistische Revolution die Überwindung der Wirtschaft.
Die bürgerliche Revolution bedeutet Ausweitung und Verallgemeinerung der Produktionsbeziehungen, die kommunistische Revolution dagegen die Aufhebung der Produktionssphäre als separates und dominierendes Element (selbst die Unterscheidung zwischen Konsum- und Investitionsgütern wird folglich in frage gestellt). Schließlich kennt der Kommunismus keine politische Form. Die bürgerliche Demokratie, soweit diese noch in sich eine Rolle spielt entscheidet nichts. Sie reguliert nur die Beziehungen der realen Kräfte der besitzenden Klassen und den durch sie definierten Kompromiss hat man vorher erreicht. Soweit das Kapital akkumuliert und sich zunehmend zentralisiert und gleichzeitig äußere Hindernisse seiner Entwicklung beseitigt, wird es die Demokratie ihrer ursprünglichen Form berauben und sie nur noch als einen Mythos konservieren. Der Kommunismus braucht der Demokratie keinen neuen Inhalt zu geben; denn, soweit sie überhaupt einen Sinn hatte, diente sie nur dazu, im Rahmen des Staates unterschiedliche Interessen zu harmonisieren. Indessen kennt der Kommunismus keinen Staat, er sozialisiert ihn auch, d.h. verlagert ihn in die Gesellschaft zurück und hebt ihn dadurch auf. Er kennt auch keine einander entgegengesetzten sozialen Gruppen. Er überwindet also jeden Mechanismus der Vermittlung, der darüber entscheidet, worüber man sich geeinigt hat, was zu tun ist. Den Kommunismus und die Demokratie zu wollen, ist ein Widerspruch. Da er das Ende der Politik ist und die Vereinheitlichung der Menschheit herbeiführt, installiert er keinerlei Macht über die Gesellschaft, um sie stabil und harmonisch zu halten. Die Menschen beherrschen ihr soziales Leben und stimmen sich sicherlich ab, aber ohne einen dauerhaften Überbau der Schlichtung und Kontrolle einzurichten. Man kann sagen, daß im Kommunismus das soziale Leben die Angelegenheit aller ist. Aber: 1. das ist nur deswegen möglich, da die Produktionsverhältnisse das ermöglichen oder sogar fordern (die Entwicklung ist nur im Menschheitsmaßstab möglich und durch die Entwicklung jedes einzelnen und nicht dadurch, daß irgendeine soziale Organisation dies autorisiert), 2. Die Existenz irgendeines politischen Mechanismus (der Staat eines Stalin oder die Demokratie) wäre ein sicheres Zeichen dafür, daß es sich weder um Kommunismus handelt, noch um einen Übergang zum Kommunismus, sondern um eine Klassengesellschaft, deren divergierende Interessen versöhnt werden müssen. Es ist wahr, daß die Kommunistische Revolution nichts anderes ist, als daß die Menschheit ihr Geschick in ihre Hände nimmt und die Herausbildung einer universellen Klasse. Aber genau dieser Prozess schließt jede Form der Vermittlung, jede politische Form zwischen den Menschen und der gesellschaftlichen Organisation, zwischen dem Individuum und der Gesellschaft aus.
]]>Wir haben durch Zufall diesen Text gefunden und übersetzt. Wenn auch der Titel einige verirren mag, ist die Kernaussage von Gilles Dauvé (aka Jean Barrot) dass die Kritik an das Militär nicht getrennt von der kapitalistischen Gesellschaft, ergo kapitalistischen Staat, gemacht werden kann. Der Text muss in seinen damaligen Kontext gelesen werden, indem, wie es ausschaut, einige Gruppen der radikalen Linken (Ultragauche) des Kapitals die Reformierung (von der Demokratisierung bis hin zur Bildung einer Volksarmee) der Armee forderten. Dennoch ist im Kern die Kritik von Dauvé nach wie vor richtig und sehr interessant.
Für eine Kritik der antimilitaristischen Ideologie, Jean Barrot – 1975
Die gängige Meinung entdeckt den Schrecken, die Unterdrückung und die Absurdität der Welt nur in ihren ungewöhnlichen und nicht den normalsten Aspekten, und niemals in ihren Ursachen. Große Arbeitsunfälle, Misshandlungen durch die Polizei, Attentate, Folterungen, Schikanen in der Armee empören die öffentliche Meinung eher als periodische und permanente Kriege. Es ist jedoch die Existenz der Armee, die die absolutste antikommunistische Tatsache darstellt: Die Gesellschaft widmet einen Teil ihrer selbst der Zerstörung von Eigentum und Personen und den gemeinschaftlichen Bestrebungen und Gefühlen ihrer Mitglieder. Die Armee ist ein monströser Auswuchs des Gesellschaftskörpers und treibt dessen Logik nur an ihre äußersten Grenzen. Die Existenz der Armee und der Lohnarbeit sind untrennbar miteinander verbunden. Wer Kapital sagt, sagt Kampf (auch militärischer Art) zwischen Kapitalen, um sich zu verwerten. Die „friedliche“ Zerstörung und Verfälschung von Produkten, um den Marktmechanismus zu retten, ist die Regel des Kapitalismus. Die Familie tötet und degradiert so sicher wie die Armee. Die Rüstungsökonomie ist eine der Säulen der kapitalistischen Ökonomie, und der Krieg eine unvermeidliche Phase zwischen Krise und Wiederaufbau. Verschwendung und Massaker vermehren sich in friedlicher Form in der Zivilgesellschaft. Eine Welt, die alles in eine zu verkaufende Ware verwandelt und zerstören muss, was nicht verkauft werden kann, muss auch auf ständigem Terrorismus beruhen, insbesondere durch die Erpressung mit atomarer Vernichtung. Sowohl die Armee als auch die Lohnarbeit zielen darauf ab, das Menschliche in uns zu eliminieren: die Tatsache, dass wir unsere Umgebung und uns selbst verändern. Als einfaches Mittel, um den Lebensunterhalt zu verdienen und dann zu leben, macht uns die Lohnarbeit gleichgültig gegenüber dem Inhalt unserer Tätigkeit und damit fremd gegenüber uns selbst und anderen. Die Armee geht noch weiter in die gleiche Richtung: Die Tätigkeit, die dort ausgeübt wird, besteht darin, das zu zerstören und zu töten, was wir als Gemeinsamkeit zwischen uns und der Menschheit erleben.
Die Lohnarbeit lehrt, Gemeinschaft nur noch innerhalb der engen Grenzen des Unternehmens zu empfinden. Der Staat (und seine Militärmacht) lehrt, Gemeinschaft nur noch im Rahmen des Nationalstaates zu erleben. Militärische Einberufung und Fabrikdisziplin sind daher unerlässlich, da die Tätigkeit, die sie organisieren, dem sozialen Wesen der Menschen, die sich dort zusammenfinden, entgegensteht. Die Armee kann nur zerstört werden, indem man ihre Daseinsberechtigung beseitigt: die merkantilistische Wirtschaft und die Lohnarbeit. Solange die Menschen gezwungen sind, sie zu verkaufen (und unabhängig von der Anzahl oder der Qualität der Autos oder HF-Anlagen, die sie dafür kaufen), werden sie ihres Lebens beraubt, in der Fabrik, in der Kaserne und auch anderswo. In diesem Sinne ist die kommunistische Bewegung der einzige radikale „Anti-Militarismus“. Sie greift weder die Armee noch andere Bestandteile des Staates an, weil sie in ihnen die tiefere Ursache für die Schrecken, die wir erleben, sehen würde: sondern weil diese von der kapitalistischen Gesellschaft hervorgebrachten Strukturen zerstört werden müssen, um das Kapital selbst zu zerstören. Die Gesellschaft hat die Armee hervorgebracht: Die Zerstörung der Armee als solche ist unerlässlich, wenn man diese Gesellschaft zerstören will. Das Kapital ist sowohl überall als auch an einigen wesentlichen Punkten konzentriert, — darunter der Staatsapparat. Die Revolution wird es daher zerstören, indem sie es überall angreift, indem sie die Güter und insbesondere die Arbeit ihrer Eigenschaft als Ware beraubt und die Beschränkungen des Tausches auf die Produktion und das Leben beseitigt. Aber sie wird sie auch zerstören, indem sie sich auf die vitalen Punkte konzentriert, wo sie selbst ihre Kräfte konzentriert. Nur diese doppelte Bewegung, bei der jeder Aspekt die Bedingung für den anderen ist, wird das Kapital zu Fall bringen. Letztendlich muss alles in der Armee zerstört werden, ebenso wie alle anderen Aspekte des Staates (Parlament usw.). Die Revolution nutzt den gegenwärtigen, veränderten Staat nicht, sie zerstört ihn. Sie versucht nicht, die Armee „populär „ oder das Parlament für die „Arbeiter“ zu machen. Die Organisation, die sie sich geben muss, um zu siegen, ist eine andere.
Selbst ein entschlossenes Proletariat, das der gegenwärtigen Armee gegenübersteht (d.h. im Vollbesitz seiner Mittel), wäre zum Scheitern verurteilt. Das Problem des Proletariats besteht weder darin, im Voraus eine rivalisierende Armee zu schaffen, noch darin, die bourgeoise Armee zu erobern. Es wird keine gegnerische Armee auf der einen Seite und unsere Armee auf der anderen Seite geben, sondern eine revolutionäre Streitmacht, die sich aus dem Proletariat und einem Teil der bourgeoisen Armee zusammensetzt und vereinigt. Je kämpferischer und organisierter die revolutionäre Bewegung ist, desto mehr wird sie die feindliche Armee zersetzen.
Es ist ganz normal, dass diejenigen, die die gegenwärtige, etwas verbesserte Gesellschaft verteidigen (meist durch ihre eigene Beteiligung an der Macht), auch ihre monströsesten Aspekte unterdrücken, angefangen bei der Armee. Die KP macht sich militaristischer als das Militär, um von der Bourgeoisie anerkannt zu werden und Zugang zur Verwaltung des französischen Staates zu erhalten: Weit davon entfernt, uns darüber zu entrüsten, verleihen wir ihr wieder einmal ein Patent für forcierten Anti-Kommunismus. Es ist ein Paradoxon unserer Zeit, dass alle gegen die Allmacht des Staates protestieren, ihn aber gleichzeitig stärken wollen (natürlich um uns zu schützen). Parteien, Gewerkschaften/Syndikate und Linke sind Befürworter einer demokratisierten Lohnarbeit, aber auch für alles, was damit verbunden ist. Eine starke Armee und Krieg sind für Feuer verurteilenswert, wenn sie „kapitalistisch“ sind, aber positiv, wenn sie in Richtung Demokratie oder „nationale Befreiung“ gehen. Dennoch ist heute jeder Konflikt zwischen Staaten antikommunistisch. Allenfalls trugen einige Konflikte im 19. Jahrhundert zur Verbreitung des Kapitalismus bei und dienten damit indirekt der proletarischen Bewegung. In unserer Zeit dienen Kriege nur dazu, die Probleme des Kapitals zu lösen, indem sie das Proletariat in so viele gegensätzliche Teile zerlegen, wie es Staaten oder Blöcke gibt, die sich bekämpfen. Das Proletariat hat kein Vaterland. Heute noch weniger als 1848: Immer mehr deutsche, italienische, französische, malische usw. Arbeiter haben die gleichen Bosse. Die Bourgeoisie hat oft bewiesen, dass sie kein Interesse an „nationalen“ Interessen hat und lieber einen Krieg verliert, als eine soziale Krise zu riskieren. Das Proletariat hat alles zu verlieren, wenn es die Nationalflagge aufhebt, die die Bourgeoisie in den Graben wirft. Aber die gleichen Leute, die das Schikanieren in der Kaserne anprangern, applaudieren dem vietnamesischen Massaker oder fordern eine „echte militärische Ausbildung“.
Die Worte verlieren fast ihre Bedeutung, wenn die Kapitalisten Sozialisten und die Sozialisten Kapitalisten sind. Die Rechtfertigung von Militär und Krieg im Namen der Arbeiter ist ein konterrevolutionärer Akt, der für das Kapital genauso nützlich ist wie die Computer im Pentagon und den der Kommunismus genauso bekämpft. Von Deutschland 1919 bis Chile 1973 zeigt die Erfahrung, dass die Armee ihre konterrevolutionäre Rolle nur in einem System politischer Kräfte spielt, in dem die Organisationen der „Arbeiterbewegung“ zusammenarbeiten: direkt als Schlüssel zur Repression (Deutschland) oder indirekt, indem sie das Proletariat vor der Repression ideologisch entwaffnet (Chile). Es gibt keinen konsequenten Kampf gegen das Militär ohne Kampf gegen die linken Parteien und Gewerkschaften/Syndikate. Daraus lässt sich ableiten, dass es absurd und kriminell ist, ihre Unterstützung gegen die Armee zu suchen.
Auch der Antimilitarismus hat seine Feindbilder. Anstatt die Widersprüche und Schwächen des Antimilitarismus in Vergangenheit und Gegenwart aufzuzeigen, stellt die Linke die aktuelle Agitation in die Kontinuität einer proletarischen und säkularen „glorreichen Tradition“. Anstatt ihre Zweideutigkeiten und Sackgassen aufzuzeigen, hebt sie ihre spektakulären Aspekte hervor. Wie immer beschönigt er das Erbe, um sich besser als Erbe darstellen zu können. Der bourgeoisen Armee stellt dann jeder sein Idol entgegen, die Rote Armee Trotzkis, die Kolonne Durruti usw.
Die Geschichte der Bewegungen gegen die Armee würde eher zu einem anderen Vorgehen anregen. Es gibt viele Beispiele für antimilitaristische Revolten innerhalb der Armee. Im Jahr 1956 scheiterten die Demonstrationen der Abberufenen (die von der SFIO-Regierung abberufen wurden) in der Isolation. Der Algerienkrieg führte zu verschiedenen subversiven Bewegungen in der Armee, die im Rahmen des Antifaschismus wieder absorbiert wurden. Die Verteidigung des „republikanischen“ Staates liquidierte schnell die spontanen Aktionen der Einberufenen gegen die Offiziere während des gescheiterten Putsches der Anhänger von Französisch-Algerien. Es ging nicht darum, gegen die Armee oder den Staat zu kämpfen, sondern gegen die Politik eines Teils der Armee, der sich der offiziellen Politik des Staates widersetzte. Die Unterstützung einer „demokratischen“ Fraktion des Staates gegen ihre „faschistische“ Fraktion, das eigentliche Prinzip des Antifaschismus, wurde mit teilweise radikalen und antihierarchischen Methoden praktiziert, aber der Inhalt blieb derselbe. Nach den Bewegungen an den Gymnasien und CET im Jahr 1973, die sich um die Aufschübe drehten, bewegt sich die aktuelle Agitation von der Peripherie zum Zentrum des Problems. Es ist die Institution Militär, die durch eine Kritik der Lebensbedingungen der Einberufenen in Frage gestellt wird. Doch auch hier ist eine sehr widersprüchliche Bewegung zu beobachten.
Militärische Gewalt (d. h. Gewalt mit Waffen) dient sowohl dem Aufbau als auch der Zerstörung, der Konsolidierung einer Gruppe oder einer Gesellschaft und der gewaltsamen Lösung eines Konflikts, der anders nicht gelöst werden kann. Gewalt ist nicht nur eine Beziehung zwischen zwei verfeindeten Seiten, sondern auch und vor allem eine Beziehung innerhalb jeder Seite. Wie jede kollektive Aktivität schafft die gemeinsame Anwendung von Gewalt oder die Vorbereitung auf ihre Anwendung eine soziale Beziehung zwischen allen, die sich daran beteiligen, und zwischen ihnen und der Gesellschaft als Ganzes. Dies gilt sowohl für „revolutionäre Gewalt“ als auch für „konterrevolutionäre Gewalt“. Darüber hinaus übt Gewalt jederzeit, direkt oder indirekt, eine soziale Funktion aus. Durch die Bedrohung, die von der Armee im Mai/Juni 1968 ausging, spielte sie eine bremsende Rolle, obwohl sie selbst nicht eingriff. Gewalt demonstrieren, um sie nicht anwenden zu müssen: Potenzielle Gewalt ist genauso real wie tatsächliche Gewalt, nur in einem anderen Ausmaß. Die Existenz eines stehenden Heeres dient der ständigen Verhinderung proletarischer Aufstände, obwohl diese natürlich selten sind.
Das Verhältnis zwischen Armee und Gesellschaft, insbesondere die Existenz und Form des Militärdienstes, ist nicht nur eine Frage der Konjunktur, sondern auch der Entwicklung jedes großen kapitalistischen Landes, insbesondere der Art und Weise, wie seine bourgeoise Revolution und die Bildung seines Nationalstaates abgelaufen sind.
Die USA und Großbritannien haben seit dem Krieg von 1914/8 die Wehrpflicht eingeführt, abgeschafft, wieder eingeführt und wieder abgeschafft. In Frankreich wurde die Wehrpflicht im Laufe des 19. Jahrhunderts, vor allem aber von 1871 bis 1914, allmählich auf alle sozialen Schichten ausgeweitet. Die Armee nahm seit der Französischen Revolution einen nationalen Charakter an, weil bestimmte populäre oder „plebejische“ („sans culottes“) Schichten eine direkte politische Rolle in ihr spielten, während der Krieg gegen andere europäische Länder die Mobilisierung großer Massen nach neuen Prinzipien (Masseneinberufungen, Amalgam (A.d.Ü., Mischungen), Beschlagnahmungen) erzwang, die auch die Kriegskunst veränderten (Angriffe von Tirailleuren in aufgelöster Ordnung ja in Kolonnen gegen die Linien der traditionellen Armeen). Als mystifizierte Repräsentation einer geeinten Gesellschaft erschien die Armee als Symbol und Spiegel einer authentischen nationalen Realität. Dennoch widersetzte sich die Bourgeoisie lange Zeit der allgemeinen Wehrpflicht, oft unterstützt von Militärs, die den Kastencharakter der Armee bewahren wollten. Sie weigerte sich, eine Institution zu stärken, die sich ihrer Kontrolle entzogen hatte. Als sich die Armee (wie auch die Kirche) mit dem Staat versöhnte, hatte die Bourgeoisie keine Angst mehr vor der allgemeinen Wehrpflicht und verteidigte sie und die Armee im Gegenteil. Jeder muss nun sein Leben für die Nation riskieren, unabhängig von der Klasse, aus der er stammt. Der Feudalismus machte eine bestimmte soziale Gruppe zum Träger des Militärdienstes, die moderne Nation dehnt ihn auf alle aus. Ohne in die chauvinistische Legende vom „preußischen Militarismus“ zu verfallen, kann man einen Vergleich mit der bourgeoisen Revolution in Deutschland anstellen, wo der Druck der Arbeiterkämpfe ein viel sekundärerer Faktor war. Der Staat und die Armee erschienen dort als von der Gesellschaft abgeschnittene Kräfte, und umgekehrt erschienen die Arbeiter als Feinde, die von der militärischen Institution ferngehalten werden mussten. In Deutschland gab es 1914 keine allgemeine Wehrpflicht. In dieser Hinsicht war die kaiserliche Armee der Wehrmacht deutlich unterlegen, die von der „populären Revolution“ von 1933 profitierte, die die Armee wirklich mit dem Land verband: Auch die italienische und die russische Armee litten 1914-18 unter der Trennung zwischen der Bevölkerung und der Militärkaste. Die bourgeoise Revolution in Deutschland erfolgte viel mehr „von oben“ als in Frankreich, wo das anhaltende Eingreifen der Arbeiter und der petite bourgeoisie in die Politik ihre Integration in ein nationales Leben zur Folge hatte, insbesondere nach der Kommune. Aus diesem Grund wird der nationale Dienst (S.N. service national) in Frankreich trotz der Entwicklung der Armeen und der vorhersehbaren Arten von Konflikten nicht so schnell verschwinden.
Die kapitalistische Sozialisierung hat zuerst eine große Armee möglich und notwendig gemacht, dann eine kleinere Armee, die aber durch die Anstrengungen der ganzen Nation unterstützt wird: das ist der aktuelle Fall. Nun gibt es in Frankreich (und nicht z.B. in den USA) ein Anpassungsproblem, weil in Frankreich die bewaffnete Nation als ideologische Kraft und als Rahmen für die Menschen durch den Militärdienst eine beträchtliche Rolle gespielt hat. Niemand stellt sich jemals gegen eine Situation, weil sie unterdrückerisch ist, sondern weil sie sich in einer Krise befindet und dabei ihre Schwächen und möglicherweise ihre Rückständigkeit offenbart. Wie die meisten Beobachter feststellen, gibt es eine Krise des Militärdienstes, weil es einen Widerspruch zwischen seiner gesellschaftlichen Funktion und der Entwicklung moderner Konflikte gibt.
Das Kapital liquidiert die Grundlagen der bourgeoisen Familie und Moral, die in eine Krise geraten sind, weil sie einem zunehmend isolierten Individuum nicht mehr den nötigen Schutz bieten. Die Armee kann sich umso besser als Ersatzgemeinschaft anbieten, wenn andere Gemeinschaften bankrott gehen. Aber auch die NS ist bedroht. Wie kann man von der Notwendigkeit einer militärischen Ausbildung überzeugen, wenn bei künftigen Konflikten nur ein Teil der Armee, darunter ein geringer Anteil von Wehrpflichtigen, in den eigentlichen Kampfhandlungen eingesetzt wird? Die Unzufriedenheit und ihr Ausdruck in den Kasernen wären unmöglich ohne diesen Verlust der „Bedeutung“ der NS, der vor allem in der Infanterie sowohl von den Offizieren als auch von der Truppe empfunden wird. Man kann jedoch nicht schlussfolgern, dass die SN heute aus der Sicht des Kapitals hinfällig ist. Die Einberufenen werden kämpfen können: Die Territorialarmee wird im Falle einer Invasion kämpfen. Mit einigen Reformen und einer Ideologie, die eher „national“ als militärisch ist, hat die Armee also die Mittel, den NS aufzuwerten, indem sie ihn sowohl gerechtfertigter als auch attraktiver macht. Daher ist die Gleichgültigkeit eines Teils der Jugendlichen gegenüber der Armee nicht nur positiv: Sie ist auch eine individuelle Reaktion und eine Duldung der militärischen Realität. Es ist eher eine Flucht als eine Verweigerung.
In unserer Zeit verliert der SN seinen weltoffenen Charakter: Es ist keine Beförderung mehr für einen jungen Menschen, sein Dorf oder seine Stadt für ein Jahr zu verlassen, während man leicht von einem Land ins andere reist. Der Widerspruch der SN als Rädchen im Getriebe einer Gesellschaft wird daher auch von vielen Berufenen als absurd erlebt. Wichtig ist hier, dass diese Krise einen doppelten Effekt hat. Einerseits führt sie zu einer Forderungsaktion der Soldaten, die in Frankreich sichtbarer als in anderen Ländern, aber allgemein ist. Es ist bekannt, dass sich zum klassischen Arbeiterreformismus zahlreiche Reformismen gesellten, die sowohl von der Verbreitung des Kapitals in allen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens als auch von seiner Krise zeugen. Die Armee wiederum wird zu einem Ort besonderer Forderungen und damit zu einem „Interventionssektor“ für Linke. Andererseits erfordert die Natur dieser Krise eine größere Rolle für linke Lösungen (Demokratie, Partizipation). Es spielt keine Rolle, wer (links oder rechts) sie umsetzt: Sie werden nie wirklich umgesetzt.
Man sagt, dass die NS konterrevolutionär ist, weil sie die Menschen einspannt und diszipliniert. Aber was würden wir denken, wenn jemand behaupten würde, den Kapitalismus durch den Despotismus der Unternehmen zu erklären, als ob die Autorität der Hauptfaktor (und damit der Feind) wäre! Lasst uns stattdessen die Armee von dem her verstehen, was sie produziert und wie sie es produziert. Die NS ist insofern gefährlich, als sie eine Gemeinschaft um eine gemeinsame Praxis herum organisiert: das Erlernen militärischer Gewalt. Ob eine antikommunistische Ideologie (die übrigens nicht antikommunistischer ist als die der KP) oder grobe reaktionäre Vorurteile vorherrschen, ist zweitrangig. Die Institution funktioniert (und wird funktionieren) umso besser, je mehr die auffälligsten Aspekte ihres Militarismus verblassen und sie sich als ein großes Team präsentiert, in dem alle gleichermaßen aktiv sind, ohne Schikanen oder übermäßige Propaganda.
Als Ausdruck des Eroberungsgeistes und der Vorrangstellung des Militärs im Land hat der Militarismus ausgedient. Kriegerische Tugenden werden nicht mehr als solche verherrlicht. Es gibt kein Kriegsministerium mehr, sondern es geht nur noch um die Verteidigung. Der traditionelle Militarismus („preußische Art“) war notwendig, als die jungen kapitalistischen Staaten noch zu neu waren, als dass der nationale Zusammenhalt eine Selbstverständlichkeit gewesen wäre. Ebenso war die konservative kapitalistische Ideologie (gute Arbeit, dem Chef gehorchen, an seinem Arbeitsplatz bleiben) notwendig, solange das Kapital noch nicht allgegenwärtig war, um die Arbeiter allein aufgrund seiner Existenz arbeiten zu lassen. Der Militarismus vor 1914 war revanchistisch und aggressiv: Der Militarismus vor 1939, sowohl im Volksfront-Frankreich als auch in Nazi-Deutschland, ließ den sauberen, militärischen Aspekt hinter der Nation und den Interessen der Arbeiter zurücktreten. In dem Maße, wie das Kapital quantitativ und qualitativ wächst, verwirft es seine überholten Aspekte und integriert oppositionelle Kräfte. Nachdem es sich im 19. Jahrhundert des Klerikalismus bedient hatte, wurde es nun säkularisiert. Der Kampf für den Säkularismus ist daher nicht nur überholt, sondern stärkt auch die fortgeschritteneren Formen des Kapitals. Es gibt heute keinen Platz mehr für Militarismus im engeren Sinne. Der Militarismus verschmilzt völlig mit der Demagogie von Arbeitern und Populisten. Der zweite imperialistische Krieg wurde übrigens von beiden Seiten im Namen der Verteidigung der Interessen der Arbeiter und der Völker oder sogar des Sozialismus gegen die Barbarei geführt. Die einzigen, die offen eine traditionelle nationalistische Sprache sprechen, sind in Frankreich die extreme Rechte und die KP: In beiden Fällen ist sie mit einer völkischen und sozialen Ideologie gepaart. Den Militarismus als bevorzugtes Ziel anzugreifen und den Antimilitarismus zu propagieren, ist wie der Kampf gegen die Religion oder den Despotismus. Damit verdeckt man die wahren Feinde und Aufgaben einer kommunistischen Revolution.
Die kapitalistische Sozialisierung hat zuerst eine große Armee möglich und notwendig gemacht, dann eine kleinere Armee, die aber durch die Anstrengungen der ganzen Nation unterstützt wird: das ist der aktuelle Fall. Nun gibt es in Frankreich (und nicht z.B. in den USA) ein Anpassungsproblem, weil in Frankreich die bewaffnete Nation als ideologische Kraft und als Rahmen für die Menschen durch den Militärdienst eine beträchtliche Rolle gespielt hat. Niemand stellt sich jemals gegen eine Situation, weil sie unterdrückerisch ist, sondern weil sie sich in einer Krise befindet und dabei ihre Schwächen und möglicherweise ihre Rückständigkeit offenbart. Wie die meisten Beobachter feststellen, gibt es eine Krise des Militärdienstes, weil es einen Widerspruch zwischen seiner gesellschaftlichen Funktion und der Entwicklung moderner Konflikte gibt.
Das Kapital liquidiert die Grundlagen der bourgeoisen Familie und Moral, die in eine Krise geraten sind, weil sie einem zunehmend isolierten Individuum nicht mehr den nötigen Schutz bieten. Die Armee kann sich umso besser als Ersatzgemeinschaft anbieten, wenn andere Gemeinschaften bankrott gehen. Aber auch die NS ist bedroht. Wie kann man von der Notwendigkeit einer militärischen Ausbildung überzeugen, wenn bei künftigen Konflikten nur ein Teil der Armee, darunter ein geringer Anteil von Wehrpflichtigen, in den eigentlichen Kampfhandlungen eingesetzt wird? Die Unzufriedenheit und ihr Ausdruck in den Kasernen wären unmöglich ohne diesen Verlust der „Bedeutung“ der NS, der vor allem in der Infanterie sowohl von den Offizieren als auch von der Truppe empfunden wird. Man kann jedoch nicht schlussfolgern, dass die SN heute aus der Sicht des Kapitals hinfällig ist. Die Einberufenen werden kämpfen können: Die Territorialarmee wird im Falle einer Invasion kämpfen. Mit einigen Reformen und einer Ideologie, die eher „national“ als militärisch ist, hat die Armee also die Mittel, den NS aufzuwerten, indem sie ihn sowohl gerechtfertigter als auch attraktiver macht. Daher ist die Gleichgültigkeit eines Teils der Jugendlichen gegenüber der Armee nicht nur positiv: Sie ist auch eine individuelle Reaktion und eine Duldung der militärischen Realität. Es ist eher eine Flucht als eine Verweigerung.
In unserer Zeit verliert der SN seinen weltoffenen Charakter: Es ist keine Beförderung mehr für einen jungen Menschen, sein Dorf oder seine Stadt für ein Jahr zu verlassen, während man leicht von einem Land ins andere reist. Der Widerspruch der SN als Rädchen im Getriebe einer Gesellschaft wird daher auch von vielen Berufenen als absurd erlebt. Wichtig ist hier, dass diese Krise einen doppelten Effekt hat. Einerseits führt sie zu einer Forderungsaktion der Soldaten, die in Frankreich sichtbarer als in anderen Ländern, aber allgemein ist. Es ist bekannt, dass sich zum klassischen Arbeiterreformismus zahlreiche Reformismen gesellten, die sowohl von der Verbreitung des Kapitals in allen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens als auch von seiner Krise zeugen. Die Armee wiederum wird zu einem Ort besonderer Forderungen und damit zu einem „Interventionssektor“ für Linke. Andererseits erfordert die Natur dieser Krise eine größere Rolle für linke Lösungen (Demokratie, Partizipation). Es spielt keine Rolle, wer (links oder rechts) sie umsetzt: Sie werden nie wirklich umgesetzt.
Man sagt, dass die NS konterrevolutionär ist, weil sie die Menschen einspannt und diszipliniert. Aber was würden wir denken, wenn jemand behaupten würde, den Kapitalismus durch den Despotismus der Unternehmen zu erklären, als ob die Autorität der Hauptfaktor (und damit der Feind) wäre! Lasst uns stattdessen die Armee von dem her verstehen, was sie produziert und wie sie es produziert. Die NS ist insofern gefährlich, als sie eine Gemeinschaft um eine gemeinsame Praxis herum organisiert: das Erlernen militärischer Gewalt. Ob eine antikommunistische Ideologie (die übrigens nicht antikommunistischer ist als die der KP) oder grobe reaktionäre Vorurteile vorherrschen, ist zweitrangig. Die Institution funktioniert (und wird funktionieren) umso besser, je mehr die auffälligsten Aspekte ihres Militarismus verblassen und sie sich als ein großes Team präsentiert, in dem alle gleichermaßen aktiv sind, ohne Schikanen oder übermäßige Propaganda.
Als Ausdruck des Eroberungsgeistes und der Vorrangstellung des Militärs im Land hat der Militarismus ausgedient. Kriegerische Tugenden werden nicht mehr als solche verherrlicht. Es gibt kein Kriegsministerium mehr, sondern es geht nur noch um die Verteidigung. Der traditionelle Militarismus („preußische Art“) war notwendig, als die jungen kapitalistischen Staaten noch zu neu waren, als dass der nationale Zusammenhalt eine Selbstverständlichkeit gewesen wäre. Ebenso war die konservative kapitalistische Ideologie (gute Arbeit, dem Chef gehorchen, an seinem Arbeitsplatz bleiben) notwendig, solange das Kapital noch nicht allgegenwärtig war, um die Arbeiter allein aufgrund seiner Existenz arbeiten zu lassen. Der Militarismus vor 1914 war revanchistisch und aggressiv: Der Militarismus vor 1939, sowohl im Volksfront-Frankreich als auch in Nazi-Deutschland, ließ den sauberen, militärischen Aspekt hinter der Nation und den Interessen der Arbeiter zurücktreten. In dem Maße, wie das Kapital quantitativ und qualitativ wächst, verwirft es seine überholten Aspekte und integriert oppositionelle Kräfte. Nachdem es sich im 19. Jahrhundert des Klerikalismus bedient hatte, wurde es nun säkularisiert. Der Kampf für den Säkularismus ist daher nicht nur überholt, sondern stärkt auch die fortgeschritteneren Formen des Kapitals. Es gibt heute keinen Platz mehr für Militarismus im engeren Sinne. Der Militarismus verschmilzt völlig mit der Demagogie von Arbeitern und Populisten. Der zweite imperialistische Krieg wurde übrigens von beiden Seiten im Namen der Verteidigung der Interessen der Arbeiter und der Völker oder sogar des Sozialismus gegen die Barbarei geführt. Die einzigen, die offen eine traditionelle nationalistische Sprache sprechen, sind in Frankreich die extreme Rechte und die KP: In beiden Fällen ist sie mit einer völkischen und sozialen Ideologie gepaart. Den Militarismus als bevorzugtes Ziel anzugreifen und den Antimilitarismus zu propagieren, ist wie der Kampf gegen die Religion oder den Despotismus. Damit verdeckt man die wahren Feinde und Aufgaben einer kommunistischen Revolution.
Antimilitarismus als Politik würde nicht existieren, wenn das Militär als spezifische Institution nicht eine bestimmte Art von Beziehung hervorbringen würde, die Unterdrückung und damit Reaktion einschließt. Die Natur des militärischen Lebens legt Zwänge auf, gegen die sich die Einberufenen und Verpflichteten seit jeher gewehrt haben. Da das Militär per Definition ein Kollektiv ist, ruft es automatisch kollektive Reaktionen hervor. Die Soldaten versuchen, sich den Zwängen zu entziehen; manchmal lehnen sie sie sogar ab. Es ist klar, dass der unmittelbare Kampf die wichtigste Voraussetzung für alles andere ist. Hier wie dort würde ein Proletariat, das nicht in der Lage ist, den Übergriffen des Kapitals zu widerstehen, seine Unfähigkeit zur Revolution beweisen. Aber dieses Prinzip ist nur in Verbindung mit einem zweiten Prinzip richtig: Nur wenn die unmittelbare Aktivität über den bloßen Widerstand hinausgeht, wenn sie etwas anderes tut, greift sie die Grundlagen der Gesellschaft an.
In Bezug auf die Armee wie auch auf das Leben in der Fabrik zeigt jede Konzeption oder jede Gruppe, die auch nur die geringste Demagogie, die geringste Erpressung mit dem Schrecklichen in den Vordergrund stellt, damit, dass sie nicht revolutionär ist. Es ist offensichtlich, dass die Soldaten wie die Arbeiter elementare Forderungen haben. Das Problem der revolutionären Bewegung bestand nie darin, sie im Namen der „Revolution“ zu verachten. Es geht vielmehr darum, wie sie erfüllt oder nicht erfüllt werden können. Das einzige Kriterium, um zu bestimmen, ob die Erfüllung einer Forderung die kommunistische Bewegung voranbringt oder nicht, ist nicht irgendein Grad an Radikalität“, der dieser Forderung innewohnt, sondern nur dieses eine Element: Bringt der Kampf um die Forderung und ihre mögliche Erfüllung das Proletariat in die ideologische und materielle Abhängigkeit des Kapitals oder ermöglicht sie im Gegenteil eine weitere Organisation und Aktion auf Klassenbasis? So stellte die kommunistische Linke die Frage nach den Streiks vom Juni 1936. Diese Position ist jedem oberflächlichen Radikalismus fremd, der die unmittelbaren Kämpfe als bedeutungslos abtut. Zum Beispiel ist es richtig, dass es manchmal notwendig ist, einen Streik zu beenden, wenn die Hauptforderungen erfüllt sind. Dass ein Politiker diese Wahrheit in den Dienst seiner konterrevolutionären Partei gestellt hat, ändert nichts an der Sache. Man wird sagen, dass die Streiks von 1936 trotz ihrer Breite und Tiefe letztlich das Kapital gestärkt haben, weil sie mit einer ideologischen Integration der Arbeiter in den kapitalistischen Staat endeten.
Es ist richtig, dass die Bewegungen in der Produktion von großer Bedeutung für die Revolution sind, in der die Arbeiter eine entscheidende Rolle spielen werden. Dennoch bleibt das oben dargelegte Prinzip gültig. Auch die Bedeutung der militärischen Frage und damit die Fähigkeit der Revolutionäre, einen Teil der Armee zu gewinnen und einen anderen Teil zu neutralisieren, um dem Rest militärisch entgegentreten zu können, hebt den Unterschied zwischen Reform und Revolution nicht auf. Der Widerstand gegen militärische Unterdrückung wird so lange andauern, wie es Armeen gibt. Aber der Übergang von dieser Agitation zu einer revolutionären Aktion ist weder das Ergebnis einer wundersamen Parole, die die allgemeinen Probleme der Gesellschaft ausgehend von den besonderen Problemen der Armee aufwirft, noch das Ergebnis des Eingreifens einer Avantgarde. Sie hängt ebenso wenig von der Aktion der Soldaten ab wie die Umwandlung eines Forderungskampfes in eine revolutionäre Aktion von den Arbeitern abhängt, die die Initiative ergreifen. In beiden Fällen ergibt sich dieser Wandel aus dem allgemeinen Kontext der Gesellschaft. So viel zu denjenigen, die nach einem Hebel suchen, um die Welt aus den Angeln zu heben. Die wirklichen Interessen des Proletariats können heute von niemandem und keiner Organisation verteidigt werden, sondern nur durch einen notwendigerweise gewaltsamen Bruch mit allen Mächten, Regierungen, Parteien, Gewerkschaften/Syndikate usw. Die Revolution ist ein Prozess, in dem sich das Proletariat in die Lage versetzt, seine Interessen zu vertreten. Sein Ausbruch und sein Ausgang hängen nicht von der Initiative der revolutionären Minderheiten ab, obwohl ihre Aktionen dazu beitragen.
An seiner Wurzel ist der spontane Antimilitarismus ein kollektiver Versuch, den von der Kaserne auferlegten Verpflichtungen zu entkommen oder sie abzumildern. Die Armee zielt darauf ab, eine Gruppe heterogener Individuen zu einem kohärenten Ganzen zu verschmelzen. Dieser Zusammenhalt ist einerseits das Ergebnis einer gemeinsamen Aktion, andererseits wird er durch eine Reihe von präzisen Mechanismen verstärkt, die jedes Detail dieses kollektiven Lebens vorsehen. Das minutiöse Regelwerk belastet die Soldaten umso mehr, je geringer die gemeinsame Aktivität ist, und umso weniger, wenn sie tatsächlich etwas tun. Der häufigste Vorwurf an die SN ist, dass man dort seine Zeit verschwendet. Meistens erscheint die im Lager oder bei Übungen verbrachte Zeit weniger zeitraubend, obwohl sie anstrengender ist. Unter diesen Umständen stellen viele Aspekte des latenten Antimilitarismus nicht nur die Armee in keiner Weise in Frage, sondern tragen dazu bei, eine gemeinsame Bindung und ein Gruppengefühl zwischen Menschen mit den unterschiedlichsten Hintergründen zu schaffen, die nur durch Zufall dort zusammengekommen sind. Diese Verbindungen stärken die Armee als Mannschaft und ihre Fähigkeit, auch im Kampf zu handeln. Das Reglement ist nicht absurd; absurd wäre es, wenn es mechanisch angewendet würde. Ohne die Reaktion der Soldaten wären die Offiziere dazu nicht in der Lage. Der Protest gegen die „Absurditäten“ des militärischen Lebens hilft nicht nur, es zu ertragen (wie das Toben von Schulkindern), sondern passt es auch an die Persönlichkeiten und Eigenheiten der Soldaten an, die von der Führung weder vorhergesehen noch organisiert werden können. Indem sie gegen das verstößt, was die Regeln unweigerlich zu allgemein und daher nicht anwendbar sind, hebt sie die Inkohärenzen auf und macht die Armee homogener.
Die Armee ist ein soziales Verhältnis, das notwendigerweise die Reaktion der Truppe einschließt. Seine größte Gefahr wäre eine passive und fantasielose Truppe.
In der Fabrik gibt es neben der offiziellen Hierarchie oft eine „informelle“ Organisation, die aus den Notwendigkeiten der Produktion entstanden ist und am Rande der „wissenschaftlichen Organisation der Arbeit“ agiert. Einige sahen darin den Keim einer anderen Organisation der Produktion und der Verwaltung durch die Arbeiter. Aber diese informelle Organisation ist ein reines Produkt des Kapitalismus: Sie ergänzt die bürokratische Organisation der Arbeit und behebt ihre unvermeidlichen Mängel. Das Kapital würde sich nicht drehen, wenn die Arbeiter nicht zu jeder Zeit ihre fantastischen Erfindungsfähigkeiten unter Beweis stellen würden. Da es die Produktion von oben organisiert, vernachlässigt es eine Vielzahl von Details und Fragen, die die Arbeiter selbst lösen müssen. Aber die Organisation, die sie sich dafür geben, ist eine Funktion des Kapitals. Um eine revolutionäre Rolle zu spielen, können die Proletarier sie nicht als solche benutzen. Gewiss, es gibt eine Verbindung: aber sowohl von ihr ausgehend als auch gegen sie können sie sich gegen das Kapital stellen. Die Aktivität, die dazu dient, den militärischen Zwängen zu entgehen, dient ebenfalls dazu, die Armee zu zementieren: Sie ist für sie unentbehrlich. In jedem Fall ist die revolutionäre Aktion mehr als nur eine Verlängerung/Fortsetzung der Forderungen. Sie kommt von ihr und bricht gleichzeitig mit ihr. Die Revolution ist ebenso wenig in jeder Vollversammlung von Soldaten im Keim vorhanden wie in jedem Streik.
Eine Kaserne ist keine Fabrik. Die Armee stellt nicht wie ein normales Unternehmen ein Produkt her. Ihr Produkt ist sie selbst. Das Unternehmen betrachtet sein Personal nur als Mittel. Die Soldaten sind sowohl der Rohstoff als auch das Endprodukt der Arbeit der Armee. Sein Ziel ist es, sie auszubilden und zu betreuen. Daher müssen sie ihm so weit wie möglich gehören. Der Arbeiterreformismus kann sich in Gewerkschaften/Syndikate organisieren. In der Armee darf es weder eine Beratungsstruktur noch eine Pufferorganisation zwischen den Soldaten und der Institution selbst geben. Im zivilen Leben verteilt sich der Totalitarismus auf viele Ebenen: Der Arbeiter wird nacheinander vom Betrieb, von der Freizeit, von der Familie usw. in die Hand genommen, was eine relative Autonomie zulässt. Die Armee muss ihren Totalitarismus dagegen konzentrieren: Sie verfügt über die gesamte Zeit der Soldaten und organisiert ihr gesamtes Leben, um sie in einer einzigen Form zu verschmelzen. Ohne despotischer als das zivile Leben zu sein, kann sie es sich nicht leisten, einen illusorischen Spielraum für Autonomie zu tolerieren. Daher der scheinbare und tatsächliche Radikalismus der unmittelbaren Kämpfe in der Armee und die Rolle linker Gruppen und Parteien als Sprecher der Soldaten.
Die Armee ist eine utopische Gegengesellschaft. Viele Offiziere sind nicht weniger naiv als die Befürworter der heutigen „Gemeinschaften“. Alles wäre in Ordnung, wenn man immer ins Militärlager gehen und aktiv sein könnte. Der Bruch zwischen dem kollektiven Leben und dem Rest der Gesellschaft sowie innerhalb des militärischen Lebens der Bruch zwischen Auszeit und Aktivität sind für die militärische „Gemeinschaft“ fatal. Die militärische Gesellschaft entgeht weder der Realität der atomisierten Zivilgesellschaft noch den Auswirkungen des Geldes, obwohl sie sich selbst außerhalb von Marktüberlegungen sehen will: Da es keine Kredite gibt, langweilt man sich in der Kaserne.
Es gibt also Raum für einen militärischen Reformismus, von dem anfangs die Linken und die Linke profitieren werden. Zumindest anfangs werden die Soldaten, die ihrer Stimme beraubt sind, politische Gruppen als Vermittler zum Staat agieren lassen. Obwohl es schwierig ist, die verfügbaren Informationen zu bewerten, scheint es, dass die Agitation nicht das Werk einer sehr isolierten Minderheit ist. Die Organisations- und Aktionsfähigkeit, die die Einberufenen unter Beweis stellen, ist an sich kein Garant für radikale Aktivitäten oder ein positives Zeichen, wenn sie nur zu dem militärischen Para-Syndikalismus führt, den die linksextremen Gruppen und die KP aufbauen wollen. Aber schon jetzt lehnt eine Fraktion der Soldaten die Forderungen der CDA und des Appells der Hundert ab (l’Appel des Cent), weil sie befürchtet, dass ihre auch nur teilweise Erfüllung dazu dienen könnte, die Armee zu stärken, indem sie sie näher an die Einberufenen heranbringt. Wenn es nicht zu harten sozialen Kämpfen in großem Maßstab kommt, ist die Agitation also dazu verurteilt, organisiert und reformistisch zu bleiben, obwohl eine begrenzte und wahrscheinlich stille Minderheit diese Illusionen ablehnt. Sie weiß, dass (wie bei den Arbeitern) die Zugeständnisse mit einer verstärkten Beteiligung der Einberufenen an einer gelockerten, also noch gefährlicheren Armee bezahlt werden. Jede Klarstellung in Richtung dieser Elemente spielt eine beträchtliche Rolle. Obwohl sie sich dessen nicht klar bewusst sind, ist die Bildung radikaler Kerne in der Armee eine der Voraussetzungen für die Vorbereitung einer revolutionären Streitmacht und für revolutionären Defätismus im Kriegsfall (z. B. zwischen Ost und West, die beide imperialistisch sind).
Die Stärke der Armee liegt nicht in der Rekrutierung von Jugendlichen, sondern in ihrer Funktion, das Streben nach Gemeinschaft zu integrieren, indem sie es verfälscht. Sie nutzt diese Tendenz ebenso sehr zu ihrem Vorteil wie die Politik, die davon am meisten Gebrauch macht, indem sie vorgibt, die Isolation der Individuen durch die Teilnahme an einer gemeinsamen Aktivität, an einer kollektiven Veränderung zu durchbrechen. Das Kapital ist antikommunistischer, wenn es sich das Wesen der Arbeiter zu eigen macht und jeden Anflug von Revolte vernichtet, als wenn es sie von seiner Polizei niederknüppeln lässt.
Die Befürworter eines militärischen Syndikalismus pfropfen sich als professionelle Organisatoren der Kämpfe anderer auf den spontanen Antimilitarismus. Aber es gibt auch eine oft aktive und entschlossene Strömung, die den Antimilitarismus zu ihrer bevorzugten Ideologie und Praxis macht. Sie reicht von der Kriegsdienstverweigerung über die Agitation in den Kasernen bis hin zur Gehorsamsverweigerung. Einige dieser Aktivitäten sind subversiv, andere nicht, und manchmal sind sie offen gesagt schädlich (gewaltfreie Propaganda). Die Frage ist, ob man die militärische Frage von der übrigen, der sozialen Frage, trennen kann. Die Antimilitaristen, die sich zunächst als solche definieren (wie die Arbeiter, die um jeden Preis „Arbeiter“ sein wollen und sich in die Fabrik zurückziehen), lehnen eine Form der Herrschaft, einen Aspekt des Kapitals ab, was praktisch bedeutet, dass sie andere akzeptieren. Sich in erster Linie als Antimilitarist zu bezeichnen, ist genauso unrealistisch wie „gegen den Staat“ oder die „Autorität“ zu sein. Die Lebensbedingungen in der Kaserne sind nicht schlechter als in der Fabrik. Ist es besser, zwei Jahre in einer Fabrik zu arbeiten, um nicht ein Jahr seines Lebens dem Staat zu geben? Einige Antimilitaristen glauben, dass sie der „Gesellschaft nützlicher“ sind, wenn sie arbeiten, als wenn sie zur Armee gehen. Proletarier wählen jedoch nicht aus, an welcher gesellschaftlichen Produktion (notwendig oder schädlich) sie teilnehmen. Sie werden von der Rationalität des Kapitals beherrscht, das sich zu verwerten sucht.
Sicherlich tappen nicht alle Antimilitaristen, die sich auf diese Tätigkeit spezialisiert haben, in diese Falle. Oft bleiben ihre Aktionen trotzdem verwirrend. „Der Feind ist in unserem eigenen Land“ ist eine zutiefst revolutionäre Wahrheit, aber sie erschöpft nicht das Thema, das in seiner Gesamtheit betrachtet werden muss. Die reaktionäre Natur von Kriegen zu verstehen ist nichts, wenn man nicht gleichzeitig darlegt, wie die Revolution die Armee zerstören wird. Selbst ein Revolutionär wie K. Liebknecht, ein mutiger Agitator, stellte den Zusammenhang zwischen dem Kampf gegen die Armee und dem proletarischen Aufstand falsch dar. Er zögerte nicht, sich im Januar 1919 in den verfrühten Angriff zu stürzen, zögerte dann aber, einen Rückzug zu wagen, der zumindest gerettet hätte, was noch zu retten war. Die Position kann nur dann revolutionär sein, wenn sie umfassend ist.
Die Dritte Republik gewährte allen das Recht und die Pflicht, Teil der Armee zu sein. Die Verallgemeinerung des Militärdienstes nach der Verallgemeinerung des Wahlrechts machte aus jedem Individuum einen Staatsbürger. Das militärische Programm der Linken und der Arbeiterbewegung hat sich nicht grundlegend geändert: Es läuft seit 100 Jahren darauf hinaus, den Arbeiter immer tiefer in die Nation zu integrieren, als Produzenten, Wähler und Soldaten. Für Jaurès schafft das Milizsystem eine Armee, die nur für die Verteidigung, nicht aber für die Aggression geeignet ist: also kein Krieg mehr! Es besteht darin, die militärische Vorbereitung auf die Ebene der Stadt, des Viertels, der täglichen Aktivitäten zu legen und so eine Synthese des zivilen und des militärischen Lebens zu schaffen, da er die Armee auf die territorialen und sozialen Einheiten des Landes gründen will, anstatt sie zu einer separaten Institution zu machen.
Lutte Ouvrière forderte 1973, dass der Militärdienst im Rahmen des sozialen Lebens abgeleistet werden sollte: in der Nachbarschaft, im Betrieb, in der Schule etc. Das bedeutet, das Militärleben in das Herz des zivilen Lebens einzupflanzen. Auf diese Weise würde man das Militär im Alltag verwurzeln. Die Maoisten verlangen mit ihrer „Volksarmee“ nicht mehr. Diese Propaganda passt perfekt zu dem Versuch des Kapitals, sich zu demokratisieren, auf die Ebene der Massen hinabzusteigen und den gesamten sozialen Raum im Namen der Globalität der Probleme und der Zerstörung bürokratischer oder „Klassen“-Abgrenzungen zu besetzen. Wie die Religion musste auch die Armee früher außerhalb der Gesellschaft stehen und ihre Offiziere auf einem Podest erscheinen: daher die Revuen und die Troupier-Komik. Sie stellte sich zur Schau, um zu imponieren. Heute wird sie von anderen Formen des „Spektakels“ abgelöst, die mit dem täglichen Leben verwoben sind. Sie bezieht ihre Stärke nicht mehr daraus, dass sie sich der Gesellschaft widersetzt, sondern daraus, dass sie vorgibt, in Symbiose mit ihr zu leben. Der Prestigeverlust des Militärdienstes wird von neuen Mythologien begleitet, die unmittelbarer und gefährlicher für die Revolution sind. Nach dem Lehrer, dem Pfarrer und dem Arzt erscheint der Soldat nun als ein Mensch wie jeder andere, oft ein Techniker. Die Armee hatte sich in ihrer Äußerlichkeit selbst verschuldet: Jetzt sucht sie nach Anerkennung.
Der Widerspruch der Armee — wie des Staates im Allgemeinen, aber in viel höherem Maße — besteht darin, dass sie diesen Wandel aufgrund ihrer Funktion nicht vollziehen kann. Wenn die Armee aus historischen Gründen auf der Ebene der Bevölkerung lebt (wie im heutigen China), bleibt sie dennoch ein separater Körper und greift als solcher ein, wann immer es nötig ist: so wie in der „Kulturrevolution“, um die Arbeiter zur Vernunft zu bringen. Kurz gesagt, die Armee bleibt die militärische Kraft des Staates, der seinerseits die zentralisierte Kraft der kapitalistischen Gesellschaft ist. Der Staat ist die konzentrierte Kraft des Kapitals, die Politik ist die Existenz von Scheinmachtstrukturen auf allen Ebenen, in denen sich die Proteste erschöpfen. Auch die Armee ist 1) eine Konzentration militärischer Kraft und 2) ein potenzieller Rahmen, der die Gesellschaft durchzieht. Im Gegensatz zur Politik, die eine Vereinigung durch Vermittlung ist, stellt der Krieg eine Vereinigung durch die Zerstörung des Gegners dar. Wenn er seine Aufgabe erfüllt hat, wird er von der Politik abgelöst. Früher gab es Institutionen, die durch ihre Abgeschiedenheit und ihr Eigenleben speziell damit beauftragt waren, eine Kontrollfunktion über die Gesellschaft auszuüben: z. B. die Armee und die Grundschulen. Heute tendiert diese Trennung dazu, zu verschwinden, da das Kapital selbst überall direkt die Gesellschaft durch sein Warennetzwerk eint.
Die Organisation bewaffneter Gewalt treibt die ökonomische und soziale Entwicklung auf die Spitze, um das Maximum aus ihr herauszuholen, während sie selbst getrennt bleibt. Die Grenzen der sozialen Militarisierung sind wahrscheinlich ziemlich eng gesteckt. Der chinesische Fall lässt sich kaum verallgemeinern. Das Kapital tendiert zu Monopolen, die kapitalistische Gesellschaft zu staatlicher Zentralisierung. Die Verbreitung des Kapitals in alle Poren der Gesellschaft stößt auf unüberwindbare Widersprüche. Das Kapital ist weit davon entfernt, vereinheitlicht zu sein: weltweit und in jedem Staat. Es ist sogar die permanente Aktion des proletarischen Widerstands gegen das Kapital, auch in seinen embryonalsten und fehlgeleiteten Formen, die es dem Kapital verbietet, das „Volk in Waffen“ anders als unter außergewöhnlichen Umständen zu verwirklichen. Dieses linke und jauressianische Ideal bleibt also ( wie die völlig permissive Gesellschaft ) eine der Facetten der kapitalistischen Utopie, die ebenso unrealisierbar ist wie ihr genauer Symmetrismus: die völlig totalitäre Gesellschaft vom Typ 1984.
Der Vorschlag von General Picot aus dem Jahr 1970 für einen Bürgerdienst mit wenigen Offizieren und „einer Million Männer, die im Sommer drei Wochen unter der Fahne und immer im Feld sind“, eine echte „Volksabschreckungstruppe“, die direkt die menschlichen und technologischen Ressourcen des Landes einsetzt, ohne ein spezialisiertes Korps zu beschäftigen, ist schwer umsetzbar. Man muss die Ideologie – auch als materielle Kraft – abwägen, ohne dabei die Realität des Staates und die Aufgaben, die sie der Revolution stellt, zu vergessen. Offiziere hatten bereits vorgeschlagen, die DOT zu regionalisieren, indem die Klassen in Zentren oder Einheiten in der Heimatregion organisiert werden. Die KP will die aktiven und Reserveeinheiten regionalisieren, „um eine ständige Verbindung der Armeebevölkerung zu ermöglichen“. Die Linke ist dank ihrer sozialen Basis besser in der Lage, die Armee in der Bevölkerung zu verankern. Aber der Widerspruch zwischen der sozialen Verankerung und der Konzentration der militärischen Mittel bleibt bestehen.
Trotz allem spielen diese Versuche bereits jetzt die gleiche Rolle wie die Mitbestimmung und die Selbstverwaltung. Selbstverwaltung gibt es natürlich genauso wenig wie die Demokratisierung des Militärs: Aber da sie (wenn auch auf falsche Weise) einem tiefen Bedürfnis entsprechen, dienen sie dazu, die Unruhen auf ein Nebengleis zu lenken, bis die Dinge wieder in die Hand genommen werden können. Solche Reformen sind mehr als „Propaganda“, sie gehören nicht nur in den Bereich der Ideen. Sie spielen eine Rolle, wenn sie durch Agitation in Betrieben oder in der Armee praktisch akzeptiert werden. Schließlich hat der Reformismus als Ganzes seit 1914 versagt. Kriege und Krisen beweisen offensichtlich seinen illusorischen Charakter, was ihn aber nicht daran hindert, in jedem Krieg oder jeder Krise seine Rolle zu spielen, um die Entwicklung hin zu radikalen Positionen zu blockieren.
Die Linke (Trotzkisten, Maoisten, Anarchisten) übernimmt die klassische Auffassung, die von Bernstein theoretisiert, aber von der gesamten „sozialistischen Bewegung“ praktiziert wurde: Sozialismus ist die weitestgehende Demokratisierung, die totale Demokratie; kurz gesagt, die bourgeoise Revolution ist unendlich verbesserungsfähig. Wenn man noch von Revolution spricht, dann nur, um sie mit einer gigantischen Demokratisierung der gesamten Gesellschaft gleichzusetzen. Inzwischen stellen die „demokratischen Eroberungen“ eine gigantische Vorbereitung auf die Revolution dar, denn jedes demokratische Recht ist eine Bresche in das bestehende System: in der Armee wie im Fernsehen. Man muss Teile der Macht erobern und sie auf die gesamte Gesellschaft ausdehnen: Die Revolution ist nur ein großer Moment in diesem allmählichen Prozess.
Die schlichte Verteidigung des SN ist die logische Konsequenz dieser Politik. Die Unterstützung der aktuellen Armee gegen eine andere, angeblich reaktionärere, ist völlig logisch, sobald man bestimmte positive Aspekte des kapitalistischen Staates gegen andere unterstützt. Man könnte auch den Frieden dem Krieg vorziehen: aber der kapitalistische Frieden bereitet den kapitalistischen Krieg vor. Wir wissen, was die chilenische Armee, die der „Demokratie verpflichtet“ und dem „Volk verbunden“ ist, getan hat.
Ist die Wehrpflicht besser als die Freiwilligkeit? Das Problem liegt woanders. Überspringen wir die Naivität, die darin besteht, vom Staat das Recht zu verlangen, zu lernen, Waffen zu benutzen… um ihn niederzustrecken: Man hätte nur daran denken müssen. Es geht nicht darum, ob das Wehrpflichtkontingent weniger reaktionär ist als die Berufsarmee, da es die Berufsarmee bereits gibt. 1972 bestand das Heer zu 34 % aus Berufs- oder Vertragspersonal, die Luftwaffe zu 61 % und die Marine zu 76 %: Nur 30 % der Einberufenen dienten in kämpfenden Einheiten. Jeder weiß, dass die Berufsarmee die Hauptrolle in der militärischen Konterrevolution spielen wird. Die revolutionäre Aktivität unter den Einberufenen war zwar nicht null, aber doch begrenzt. Der Militarismus bricht von innen heraus nur in einer totalen sozialen Krise zusammen, in der eine politische Doppelherrschaft und eine revolutionäre Streitmacht entstehen, die parallel zur bourgeoisen Armee existiert und für deren Zersetzung unerlässlich ist (Russland, 1917). Man könnte glauben, dass die Arbeiter, weil sie den materiellen Produktionsprozess gewährleisten (im Gegensatz zu den Kapitalisten), sich nur erheben und ihre soziale Funktion für den Kapitalismus nutzen müssen (Mythos des expropriierenden Generalstreiks). Dabei wird vergessen, dass die Arbeiter nicht nur Gegenstände, sondern auch soziale Beziehungen produzieren und sich selbst als Lohnabhängige und Funktion des Kapitals reproduzieren. Ebenso sind Soldaten mehr als „Arbeiter in Uniform“. Die Armee ist nicht einfach ein Behälter, dessen Inhalt unverändert bleibt: Sie ist eine materielle und psychologische Struktur, die die Soldaten als solche reproduziert. Es ist absolut unmöglich, die Beteiligung von Revolutionären an der Armee zu einem Prinzip zu machen und aus diesem Grund eine Form der Armee gegen eine andere zu wählen. Diese Position ist gleichbedeutend mit der Unterstützung der (kapitalistischen) Armee überhaupt, und das ist es, was die Verteidiger der SN tun. 1972 forderte die Ligue Communiste „die Ausweitung „der SN“ auf die gesamte Jugend“ und sogar das Recht auf Militärdienst für Frauen“.
Die Linke und der Linkstum (gauchisme) sind darauf bedacht, die Aufmerksamkeit lautstark auf die militärischen Anführer und die „faschistische“ Hierarchie zu lenken. Aber was ist die Armee anderes als ein Spiegelbild und ein Produkt der Zivilgesellschaft? Erinnern wir uns an die schändliche Absurdität, sich gegen Massu — und heute Bigeard — wegen der Folterungen in Algerien auf Befehl der SFIO-Regierung auszusprechen, während man gleichzeitig dazu aufruft, für G. Mollet zu stimmen, der damals Ratspräsident war. Die Linke will republikanische, d. h. staatstreue Offiziere, die nur auf Befehl der Regierung Massaker verüben; genau das sind Massu und Bigeard, die (bis jetzt) nichts mit Aufrührern zu tun haben und sich von der OAS ferngehalten haben. Sie sind daher umso gefährlicher. Unkoordinierte (verständliche) Angriffe und Racheakte gegen Offiziere haben übrigens die schädlichsten Auswirkungen. Dies zeigte sich 1918-19 in Deutschland und Italien. Durch systematische Angriffe auf Offiziere, die als Unmenschen und Dummköpfe bezeichnet werden, wird ihr Korpsgeist gefestigt und sie werden alle gegen die Revolution aufgehetzt.
Jeder Krieg (global oder lokal) zwischen jedem Staat (groß oder klein) ist in der heutigen Welt imperialistisch, einschließlich nationaler Kriege: Jeder Krieg ist antiproletarisch. Der Militarismus der Linken wurde nicht genug beachtet. Nachdem sie am zweiten imperialistischen Krieg, der als „antifaschistisch“ bezeichnet wurde, teilgenommen haben, sind sie heute Teil eines dritten. Was war 1939-45 anderes als ein imperialistischer Konflikt, der dazu bestimmt war, die Krise von 1929 zu lösen und das Proletariat für immer zu integrieren? Dreißig Jahre später ist Europa im Osten wie im Westen immer noch militärisch besetzt ( 300.000 US-Soldaten in Deutschland, wo sich auch der Großteil der französischen Armee befindet, die also eine Besatzungsarmee ist ). Die Maoisten freuten sich über die französische Atommacht, die Euroland auf Kosten der USA und der UdSSR stärkte. Die Liga schlug vor, dass eine „Arbeiterregierung“ sich mit „sozialistischen“ Ländern gegen die USA verbünden sollte. Beide rühmten sich ihrer Beteiligung an der Résistance. All diese durch und durch imperialistischen Positionen werden sich mit zunehmender Schärfe der Gegensätze immer mehr als solche entpuppen. Es gibt keinen grundlegenden Unterschied zwischen diesen Positionen und denen von Jaurès, der eine „neue Armee“ forderte, oder der KPF, die 1943 die Aushebung von einer Million Männern forderte. Sobald man einen Teil der politischen Macht beansprucht, ist man dazu verurteilt, letztlich die Interessen des nationalen französischen Kapitals im Namen der Interessen des Proletariats zu verteidigen. Man landet zwangsläufig bei der Verteidigung des Staates und seiner Armee und kommt wie Thorez zu dem Schluss: „Es gibt eine Regierung, es muss eine Armee geben, eine einzige; es muss eine Polizei geben, eine einzige.“ (Humanité, 3-2-45)
Konfrontiert mit dem Reformismus, fordert die revolutionäre Bewegung nicht dazu auf, die Revolution zu machen: Sie stellt nicht „Prinzipien“ der Realität gegenüber. Sie ruft nicht dazu auf, den revolutionären Bürgerkrieg vorzubereiten. Der einzige denkbare „Klassenantimilitarismus“ ist der, der die Bestätigung 1) des gewaltsamen und organisierten Charakters der Revolution und 2) ihres kommunistischen Inhalts untrennbar einschließt. Andernfalls kann der „Bürgerkrieg“ durchaus einen Kampf innerhalb eines Landes, aber zwischen zwei kapitalistischen Staatsformen (Spanien, 1936-39) umfassen. Selbst die Denunziation der „Klassenarmee“ reicht nicht aus: Sie wird von der KP aufgegriffen, die eine nationale Armee, Volksarmee usw. statt einer Armee im ausschließlichen Dienst der Bourgeoisie befürwortet.
Indem sie sich an den Kämpfen der Soldaten beteiligen und sie unterstützen, wo sie nur können, stärken Revolutionäre die allgemeinen Perspektiven und knüpfen den Faden der Zeit wieder an. Revolutionäre Gewalt ist kein „Instrument“, das man benutzen kann. Die revolutionäre Armee ist keine Armee im traditionellen Sinne. Das Proletariat hat bereits zu viele Erfahrungen mit vordergründigem Antimilitarismus, aber auch mit Militarismus in den eigenen Reihen gemacht. Sicherlich ist die Kontrolle der Gewalt durch das Proletariat ( wie die überstrapazierten Probleme der Partei, des Staates, der Macht, der Führer, der Moral, etc. ) ergibt sich aus seiner Fähigkeit, die Welt zu vergemeinschaften. Aber es gibt eine Wechselwirkung zwischen den beiden. Die Falle des Militarismus kann den Niedergang einer bereits schwachen Bewegung beschleunigen. Umgekehrt kann eine entschlossene Offensive eine heikle Situation bereinigen und die Wiederaufnahme konkreter kommunistischer Maßnahmen vorantreiben. Es gibt keinen absoluten Determinismus. Nichts ist unvermeidlich oder von vornherein entschieden.
Den historischen Zwang und die realen Bedingungen zu verstehen, bedeutet nicht, daraus eine neue Entität zu machen, die über den sozialen Beziehungen und den menschlichen Beziehungen steht (wie bei anderen die „Partei“). Wie jede soziale Bewegung wird auch die kommunistische Revolution widersprüchlich sein: Ihre Schwierigkeiten anzuerkennen, bedeutet, sich die Mittel zu verschaffen, um ihnen nicht zu unterliegen. 1871 zum Beispiel wurde der latente Aufstand der Proletarier von der politischen Macht, die sie akzeptierten, der gewählten Kommune, erstickt und in Wirklichkeit geschlagen. Diese Macht, die in keiner Weise mit dem Kapitalismus gebrochen hat (sie ist also keineswegs die Diktatur des Proletariats), organisiert einen rein militärischen Kampf gegen Versailles und löst die revolutionären Energien in einer militärischen Front auf, die übrigens nicht ernsthaft kämpft, sondern die radikalsten Elemente in fragmentarischen und sinnlosen Kämpfen verschleißt. Es gibt zwar einen Bürgerkrieg, aber nicht einmal den Beginn einer sozialen Revolution. Es ist im Übrigen die Kommune, die die Idee des „Staatsbürger-Soldaten“ wiederbelebt. Dasselbe Schema wiederholte sich in größerem Maßstab im Spanischen Bürgerkrieg. Der Bürgerkrieg kann eine Waffe des Kapitals sein, ein Mittel, um die Arbeiter – selbst wenn sie mehr oder weniger autonom organisiert sind – für eine andere Form des kapitalistischen Staates kämpfen zu lassen. 1918 war Brest-Litowsk ein entscheidender Punkt in der Entwicklung der revolutionären Bewegung und der kommunistischen Linken. Der unerlässliche militärische Kampf fasst nicht das gesamte kommunistische Programm zusammen, er ist nur ein Moment davon. Dennoch kann man nicht davon ausgehen, dass sich die militärische Frage von selbst löst. Die kapitalistische Armee und die Schaffung einer revolutionären Streitkraft stellen die kommunistische Bewegung vor praktische Probleme. Sie zu leugnen, bedeutet, zu einem linken Infantilismus zurückzukehren. Obwohl er von der Gesellschaft produziert wird, kann der Staat (und damit die Armee) nicht nur durch eine allgemeine Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse vernichtet werden: Oder besser gesagt, diese Umgestaltung ist nur möglich, wenn gleichzeitig die konzentrierte Macht der Gesellschaft niedergerungen wird. Es gibt keinen Automatismus beim Verschwinden des Staates.
Leichtfertigkeit ist in Mode. Was wird zum Beispiel mit Individuen geschehen, die für die Revolution gefährlich sind? Lässt man sie agieren? Tötet man sie alle sofort, um sicherzugehen, dass sie harmlos bleiben? Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Revolution auch Gefängnisse braucht. Es wird behauptet, dass die derzeitige Armee sich „selbst“ (A.d.Ü., irgendetwas fehlt hier, im Originialtext ist der Satz auch unvollständig). Im Gegenteil, die Unruhe innerhalb der Armee ist von entscheidender Bedeutung. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Revolution — einfach gesagt — auch gepanzerte Verbände braucht. Wenn also die Revolution ein ganzes Korps erfasst, ist es nicht unbedingt schädlich, wenn es als Korps organisiert bleibt, um als solches zu intervenieren. Der Bruch mit dem Frontkrieg kann nicht gleichbedeutend mit einem ineffizienten Partisanentum sein. Wir müssen unter anderem darüber nachdenken, wie die Revolution ablaufen kann. Dies wird dazu führen, dass wir nicht mehr von der militärischen Frage fasziniert sind oder sie vernachlässigen, was auf das Gleiche hinausläuft.
Die goldene Legende des Antimilitarismus ist weit entfernt von der Komplexität seiner realen Geschichte. Das Aufzeigen seiner Widersprüche erschüttert den Mythos und enthüllt, warum Pseudorevolutionäre ein Interesse daran haben, ihn aufrechtzuerhalten. Linke und das Linkstum versuchen, die Unterwerfung und Beteiligung des Kontingents an einem dritten Weltkrieg gegen einige Zugeständnisse einzutauschen und sich so selbst eine Beteiligung an der Macht der Bourgeoisie zu erkaufen. Kommunistische Aktivität ist das Gegenteil der üblichen, offen reformistischen oder fälschlich gewalttätigen Agitation. Sie ist auch der einzige Realismus. Der Kampf der Soldaten wird nicht dadurch gestärkt, dass man reformistischen Illusionen schmeichelt oder sie sogar fördert. Die Wiederbelebung echter aufständischer Erfahrungen bedeutet auch, mit dem oberflächlichen Antimilitarismus zu brechen.
]]>
Gefunden auf troploin, die Übersetzung ist von uns.
Eine Kritik an Graeber und Wengrows The Dawn of Everything
„Revolutionär“ (Sunday Times), „Unwiderstehliche anarchische Energie“ (The Times), „Ikonoklastisch“ (The Guardian), „Eine Auseinandersetzung mit der Frage, was es bedeutet, frei zu sein“ (Washington Post)… David Wengrow und David Graebers The Dawn of Everything. A New History of Humanity ist ein viel gelobter Bestseller. Wie kann ein breiter historischer Überblick, der von bekennenden Anarchistinnen und Anarchisten geschrieben wurde, von der Mainstream- und der „bourgeoisen“ Presse so begeistert aufgenommen werden?
Entlarvung der „Standard-Erzählung“
Die herkömmliche Weisheit besagt, dass die Menschheit zuerst einen ständigen Überlebenskampf hatte und in kindlicher Einfachheit von der Hand in den Mund lebte; dann schufteten die Bauern von morgens bis abends; später haben wir es dank Vernunft und Technologie weit gebracht, aber der Fortschritt ist nur mit unvermeidlicher Ungleichheit, Zwang und Krieg vorangekommen. Eine Interpretation, die offensichtlich „schlimme politische Auswirkungen“ hat. (Seite 3: Alle Seitenzahlen beziehen sich auf The Dawn Of Everything.)
Wengrow und Graeber (im Folgenden „W. & G.“) stellen dieser Denkweise eine Vielzahl von historischen Situationen entgegen: „Bürokratien, die auf kommunaler Ebene arbeiten; Städte, die von Nachbarschaftsräten regiert werden; Regierungssysteme, in denen Frauen ein Übergewicht an formellen Positionen haben; oder Formen der Landbewirtschaftung, die auf Pflege statt auf Besitz und Ausbeutung basieren.“ (p. 523)
Von Amerika über die Türkei bis hin zur Indus-Zivilisation gibt es Beispiele für Nicht-Regierung, Selbsthilfe und Kooperation, die länger zurückreichen, als man gemeinhin annimmt, und diese „Ausnahmen“ sind so zahlreich, dass sie nicht als Anomalien eingestuft werden können.
Wie die Autoren einräumen, sind sie nicht die ersten, die ein Narrativ entlarven, das weder einstimmig noch „Standard“ ist. Es wurde schon vor langer Zeit angezweifelt. Zum Beispiel von Peter Kropotkin. Näher an uns dran sind Pierre Clastres, Marshall Sahlins und James C. Scott (alle drei sind inspirierende Autoren für W. & G.), um nur einige zu nennen. (Alle Quellenangaben am Ende des Textes.) Mit der „feministischen Wende“ in der Evolutionsökologie „sind die Strategien der Frauen jetzt in den Mittelpunkt der Modelle über die menschliche Herkunft gerückt. Vergiss den ‚Mann, den Jäger‘.“ (Nancy Lindisfarne)
Eine Reihe von Fachleuten – einige mit einem kritischen oder anarchistischen Standpunkt ähnlich dem von W. & G. – sind mit kleineren oder größeren Aspekten des Buches nicht einverstanden oder werfen den Autoren sogar vor, Daten auszuwählen, die ihre Sichtweise unterstützen. Wie die meisten Leserinnen und Leser können wir nicht vorgeben, Experten zu sein, und wir gehen davon aus, dass viele der in diesem Buch gesammelten Fakten korrekt sind. Unser Interesse gilt der Methode, der politischen Untermauerung und den Schlussfolgerungen.
W. & G. bieten uns eine überzeugende Fülle von Daten. Aber jedes Verständnis der Vergangenheit ist eine Rekonstruktion mit einer Prämisse, und diese impliziert in der Regel eine politische Agenda. W. & G. sind da keine Ausnahme. Worauf basiert ihre Analyse?
„Saisonalität“ und „Spiel“
Auf der letzten Seite (S. 610) fassen W. & G. ihre Hauptthese zusammen: In „vielen der Gesellschaften, auf die wir uns in diesem Buch konzentriert haben, […] war die Macht auf flexible Weise über verschiedene Elemente der Gesellschaft oder auf verschiedenen Ebenen der Integration oder sogar über die Jahreszeiten innerhalb derselben Gesellschaft verteilt“.
Dieser rote Faden zieht sich durch das ganze Buch, und die Autoren finden ihn so oft und an so unterschiedlichen Stellen bestätigt, dass The Dawn of Everything sich berechtigt fühlt, die Frage nach dem „Warum?“ (oder eher „Wie?“) zu verwerfen: Warum wurden diese zahlreichen nicht-regierten Menschen ausgegrenzt? „Wie sind wir steckengeblieben? Wie sind wir in einem einzigen Modus gelandet?“ (S.115): „Falls staatenlose Gesellschaften sich regelmäßig so organisiert haben, dass Häuptlinge keine Zwangsgewalt haben, wie sind dann von oben nach unten gerichtete Organisationsformen überhaupt in die Welt gekommen?“ (S. 520)
Die beste Antwort, die W. & G. vorschlagen, ist die von Franz Steiner (1902-1952) aufgestellte Hypothese: Durch Fürsorge, Zuflucht und Nächstenliebe erhielten diejenigen, die das Sagen hatten, Macht – und dann auch Zwangsgewalt. Aus Beschützern wurden Herrscher. Möglicherweise. Aber das wirft die Frage auf: Warum wurden Fürsorge und Schutz nicht mehr kollektiv organisiert und kontrolliert, sondern zum Monopol einer Minderheit?
Tatsächlich stellen W. & G. die Frage „Warum?“ nur, um sie als irrelevant zu entsorgen: „Der Staat hat keinen Ursprung“ (eine Behauptung, die wichtig genug ist, um als Titel für ein Kapitel zu dienen).
Für W. & G. hat der Staat nicht nur keinen Ursprung, sondern seine Autorität wird auch ständig in Frage gestellt: Er koexistiert mit einem gewissen Grad an populärer Kraft (A.d.Ü., hier ist die Rede von „force“, es kann auch daher als Zwang verstanden werden), die seine Macht konterkariert. W. & G. beschreiben ausführlich „vorübergehende“ oder „saisonale“ Fürsten und Könige. Sie erinnern daran, dass noch „in den 1940er Jahren die [brasilianischen] Nambikwara in zwei sehr unterschiedlichen Gesellschaften lebten“ (S. 99), je nach Jahreszeit (Regenzeit vs. Rest des Jahres). Die mesoamerikanischen Olmeken vermischten politischen Wettbewerb und Sport: In ihren „Theaterstaaten […] wurde organisierte Macht nur periodisch verwirklicht; in großen, aber flüchtigen Spektakeln“ (S. 386). In einigen nordamerikanischen Gesellschaften gab es nur drei Monate im Jahr so etwas wie eine Polizei, die sich „manchmal aus den Reihen der Ritualclowns rekrutierte“ (S. 503) und somit „in gewissem Sinne eine Spielpolizei“ war. Es war sogar möglich, in Peru 1000 bis 200 v. Chr. „ein auf Bildern aufgebautes ‚Reich’“ zu haben, wo es keine archäologischen Beweise für militärische Befestigungen oder Verwaltungsgebäude gibt.
Eine nachdenklich stimmende Nacherzählung, aber da die Worte Ritual und Saison immer wieder auftauchen, dehnen W. & G. diese „Saisonalität“ der soziopolitischen Macht so weit aus, dass sie angeblich einen Großteil unserer Vergangenheit – und Gegenwart – erklärt: Staatliche Herrschaft ist real, aber sie hat ein Gegenstück, das seine Existenz viel weniger der Art und Weise verdankt, wie die Menschen ihren Lebensunterhalt verdienen, als vielmehr Ritus und Spiel. (Graeber glaubt an das „Spielprinzip in der Natur“: Im Grunde sind wir spielerisch, und die grundlegendste Ebene des Seins ist das Spiel und nicht die Ökonomie (Interview mit dem Guardian, 2015). Deshalb ist die Konfrontation zwischen Gruppen, die sich mit unterschiedlichen Interessen gegenüberstehen, im Laufe der Geschichte zweitrangig im Vergleich zu einem Nebeneinander von Rollen: Jeder spielt mal die eine, mal die andere Rolle, heute gesetzestreuer Staatsbürger, morgen Rebell, und es liegt an ihnen, die Rollen zu tauschen. W. & G. machen keinen wirklichen Unterschied zwischen Widerstand gegen ein System und dessen Bekämpfung (oder Umsturz). (Folglich auch nicht zwischen Reform und Revolution, wie wir noch sehen werden).
„Die Grundlage der menschlichen Gesellschaftlichkeit“
Hier geht es nicht um die Existenz (oder die Bedeutung) einer kontinuierlichen Geschichte des Widerstands, sondern um seine Natur.
Was meinen W. & G., wenn sie schreiben, dass „[…] wenn die Menschen wirklich den größten Teil der letzten 40.000 Jahre damit verbracht haben, sich zwischen verschiedenen Formen der sozialen Organisation hin und her zu bewegen, Hierarchien aufzubauen und sie dann wieder abzubauen, dann hat das tiefgreifende Auswirkungen“ (S. 112). (S. 112) Welche Auswirkungen?
W. & G. argumentieren, dass menschlicher Anstand und das Streben nach Freiheit nicht aus einer vergangenen Zeit stammen: Es gab sie schon immer und es gibt sie auch heute noch: „Ein gewisses Mindestmaß an Kommunismus, das in allen Gesellschaften gilt“, ist „die Grundlage der menschlichen Gesellschaftlichkeit“. Das erleben wir zum Beispiel, wenn wir unser Bestes tun, um jemanden vor dem Ertrinken zu retten. „Die Frage ist nur, wie weit dieser Grundkommunismus gehen soll. Die amerikanischen Irokesen würden „eine Bitte um Essen nicht ablehnen“. Im Gegensatz dazu hätten die Franzosen des 17. Jahrhunderts, die in Nordamerika lebten, diese Bitte abgelehnt, denn „ihre kommunistische Grundeinstellung schien begrenzt zu sein und reichte nicht bis zu Nahrung und Unterkunft.“ (S. 47-48) Für W. & G. ist genau das die Grundlage jeder Gesellschaft – und darauf können wir aufbauen, um eine radikal bessere Welt zu schaffen. Ihrer Meinung nach hängt der Lauf der Geschichte nicht von den Beziehungen zwischen sozialen Gruppen ab (in den meisten Gesellschaften sind es entgegengesetzte soziale Gruppen), sondern davon, wie wir es schaffen, unsere natürliche menschliche Neigung wachsen zu lassen und über Zwänge zu siegen.
„Seit dem Paläolithikum […] haben sich viele – vielleicht sogar die meisten – Menschen nicht nur verschiedene soziale Ordnungen zu verschiedenen Zeiten des Jahres vorgestellt oder in die Tat umgesetzt, sondern tatsächlich über längere Zeiträume in ihnen gelebt. [Unsere entfernten Vorfahren scheinen […] regelmäßig zwischen ihren bestehenden Lebensbedingungen und „einer alternativen ökonomischen oder sozialen Ordnung“ hin und her gewechselt zu haben. Aber alles ging schief, „als die Menschen begannen, ihre Freiheit zu verlieren, sich andere Formen der sozialen Existenz vorzustellen und zu verwirklichen“. (p. 502)
Wenn Worte eine Bedeutung haben, dann bedeutet etwas zu erlassen, etwas in die Praxis umzusetzen, zu vollziehen, zu tun. Für W. & G. war diese Fähigkeit zur Verwirklichung einer alternativen Existenzform schon immer aktiv und kann sich heute in einem viel größeren Umfang durchsetzen. Es genügt, wenn die latente kommunistische Unterströmung am helllichten Tag zumanifestieren. Es gibt immer zwei Möglichkeiten innerhalb einer Gesellschaft, und der allgemeine Wandel wird kommen, wenn die nicht-unterdrückende Seite endgültig die Oberhand gewinnt.
„Das politische Argument, das Graeber und Wengrow vorbringen, ist, dass die Menschen seit Anbeginn der Zeit immer zwischen Herrschaft und Freiheit wählen konnten. Der Vorteil dieser Position ist, dass sie damit argumentieren können, dass wir mit politischem Willen eine Revolution und eine Gesellschaft haben können, die von populären Vollversammlungen geführt wird, die im Konsens arbeiten.“ (Nancy Lindisfarne & Jonathan Neale)
Nancy und Jonathan haben Recht, bis auf ein Wort. Wenn alles, was wir brauchen, ist, dass wir unsere grundlegende Neigung ausleben und es wagen, unsere tief verwurzelte Freiheit auszuüben, und wenn das befreiende Potenzial universell und allgegenwärtig ist, dann kann ein radikaler Wandel durchaus aus einer Vielzahl von allmählichen Teilhandlungen resultieren. Einfach ausgedrückt: W. & G. haben den Unterschied zwischen „Reform“ und „Revolution“ als entscheidende historische Zäsur abgeschafft.
Das erklärt, warum sie keine Verwendung für historische Erklärungen haben: Eine große Anzahl von zwangsfreien Lebensformen sollte ausreichen, um zu beweisen, dass wir frei sein können, wenn wir uns darauf einlassen. „Worauf es ankommt“, sagte Wengrow in einem Interview, „ist die schwindende politische Vorstellungskraft, die Freiheit, die Gesellschaftsordnung neu zu denken“. Wir müssen „unsere Vorstellungskraft wieder zu einer materiellen Kraft in der menschlichen Geschichte werden lassen.“ (Graeber, Fliegende Autos…)
Die Produktion ins Visier nehmen
W. & G. haben alles gelesen, wie 146 Seiten Anmerkungen und Literaturverzeichnis in einem 692-seitigen Band beweisen. Beeindruckend. Aber sie werfen nur einen flüchtigen Blick auf das, was sie ignorieren wollen.
Vor allem Marx wird als eine weitere fehlerhafte große Erzählung abgelehnt.
In den 1840er Jahren wollten die Kommunisten ihre Argumentation nicht auf Wünsche, wachsendes Elend oder gar eine Abfolge von sozialen Kämpfen stützen, sondern auf eine historische, materielle Grundlage. Um zu beweisen, dass die aktuellen Aufstände Vorboten der Revolution waren, zogen sie eine direkte Verbindung zwischen industriellem Wachstum und Emanzipation: Nur die modernen Proletarier hatten die historische Universalität, die es ihnen ermöglichte, das zu tun, was die Ausgebeuteten und Unterdrückten in der Vergangenheit nicht hatten erreichen können. Das bedeutet nicht, dass alle frühen Kommunisten von den Wundern der Dampfkraft und des Fabriksystems geblendet waren. Einige waren es. Sogar Marx und Engels manchmal. (Hüten wir uns aber vor Zitaten: Jeder kann mit ein paar Zeilen alles beweisen). Auch einige Anarchistinnen und Anarchisten des 19. und 20. Jahrhunderts teilten diese Faszination für die Technik. In seiner Humanisphere von 1858 sang Joseph Déjacques (1822-1865: er soll das Wort „libertaire“ geprägt haben) eine Ode an ihre befreienden Kräfte.
Um eine Reihe von proletarischen Misserfolgen zu erklären, war die kommunistische Theorie später versucht, die Determinierung in Determinismus umzuwandeln, in einer Art Einbahnstraße von der Steinzeit zum Kommunismus.
W. & G. haben keine Zeit für die Schwierigkeiten des revolutionären Denkens. Ihre Grundprämisse ist anti-“materialistisch“ – Punktum.
Wenn sie die Konzepte von Produktion und Klasse ins Visier nehmen, machen sie sich nicht die Mühe, Marx zu widerlegen, sondern lenken ihn einfach ab.
Graebers früheres berühmtes Buch, Debt: The First 5,000 Years (2011), begann seine Analyse mit Geld, und zwar aus dem Blickwinkel der Schulden, weil für Graeber die Schulden vor dem Geld kamen, und vor allem, weil er die Zirkulation gegenüber der Produktion überbetont – ein irrelevantes Konzept, wie er meint:
„Produktion ist eine männliche Geburtsphantasie: Produzieren bedeutet, etwas auszustoßen. [Die Arbeitswerttheorie […] basierte auf dem Begriff der Produktion, der patriarchalisch geprägt ist. Ein Marxist würde sagen: „Es gibt ein Glas. Wie viel Arbeitszeit und wie viele Ressourcen braucht es, um es herzustellen?‘ Die eigentliche Frage ist aber: Wenn du ein Glas nur einmal produzierst, wie oft musst du es dann waschen? Der Marxismus übersieht die Tatsache, dass die meiste Arbeit verschwindet, wenn wir nur über die Produktion sprechen, und natürlich die Tatsache, dass diese Arbeit in der Regel von Frauen geleistet wird, die manchmal gar nicht bezahlt werden.“ (David Graeber über das bestgehütete Geheimnis des Kapitalismus, Interview 2019. Soweit wir wissen, fasst dies Graebers Widerlegung der Marx’schen Werttheorie zusammen.)
Marx und Engels dachten in Stufen, interpretierten die Geschichte als eine Abfolge von Produktionsweisen, typisierten die Gesellschaften nach den Formen der materiellen Existenz und nutzten die Klassenanalyse, um die Neuzeit zu verstehen. Für W. & G. war dies bereits im 19. Jahrhundert viel zu grob und hat sich seitdem endgültig als falsch erwiesen.
Ihre Disqualifizierung des Konzepts der „Produktionsweise“ (S. 186-191) beruht vor allem darauf, dass es ihrer Meinung nach für die Sklaverei irrelevant ist. Ihrer Meinung nach ist die Rede von einer „Produktionsweise der Sklaverei“ eine missbräuchliche Ausweitung dessen, was im klassischen Rom und Griechenland existierte. Das „antike Mesopotamien“ war kein Ort von „Sklavengesellschaften“ (n.50, S. 575). Außerdem unterschied sich das Sklavensystem bei den südamerikanischen Völkern, die ähnliche Formen der Produktion ihres Lebensunterhalts kannten, immens. Also: „Wenn wir diese Gruppen danach klassifizieren, wie viel sie Landwirtschaft betrieben, fischten oder jagten, sagt uns das wenig über ihre tatsächliche Geschichte. Was bei der Verteilung von Macht und Ressourcen wirklich zählte, war der Einsatz von organisierter Gewalt, um sich von anderen Völkern zu ‚ernähren‘.“ (S. 188) „Die Idee, menschliche Gesellschaften nach ‚Subsistenzformen‘ zu klassifizieren, erscheint daher ausgesprochen naiv“ (S. 188-189), denn „manche Jäger verbrauchen große Mengen an einheimischen Feldfrüchten, die sie als Tribut von der bäuerlichen Bevölkerung in der Nähe einfordern“. (S. 189) W. & G. analysieren die sehr unterschiedlichen Arten, wie Sklaven versklavt und behandelt wurden, eine breite Palette von Bedingungen, die von offener Ausbeutung bis zur Adoption reichen, „von der Fürsorge zum Haustier bis zur Familie“ (191). „Die Sklaverei […] wurde an der [amerikanischen] Nordwestküste üblich, weil eine ehrgeizige Aristokratie nicht in der Lage war, ihre freien Untertanen zu zuverlässigen Arbeitskräften zu machen.“ (207)
Dies wirft eine wichtige Frage auf. Warum gab es überhaupt zwei unterschiedliche und völlig gegensätzliche soziale Gruppen?
W. & G. beharren darauf, dass Gesellschaften nicht durch Produktionsverhältnisse bestimmt werden (d. h. dadurch, wie Menschen ihre Existenzbedingungen reproduzieren): Vielmehr kommt es auf „kulturelle Differenzierung“ an. „Hierarchie und Eigentum mögen sich aus Vorstellungen des Heiligen ableiten, aber die brutalsten Formen der Ausbeutung haben ihren Ursprung in den intimsten sozialen Beziehungen: als Perversion von Natur, Liebe und Fürsorge.“ (S. 208) Wir haben bereits gesehen, wie W. & G. die Bedeutung der Vorstellungskraft hervorheben. Engels mag vereinfachend gewesen sein, aber wer ist jetzt „ausgesprochen naiv“?
Die Klasse im Visier
Der durchschnittliche Leser (uns eingeschlossen) weiß sehr wenig über die sumerischen Uruk oder die Azteken. Er oder sie ist vielleicht besser über die englische Politik des 19. Jahrhunderts informiert, als die Whigs die Handels- und Industrieklassen vertraten und die Tories die Landbesitzer. Nicht so schnell, warnen uns W. & G. Seite 363: „Grundbesitz“ oder jede Form von Eigentum ist nicht nur materiell, sondern auch rechtlich und basiert auf einem Gewaltmonopol. Es folgt ein Exkurs von der Staatsmacht über historische Beispiele (weit weg vom England des 19. Jahrhunderts) bis hin zu den heutigen planetarischen Bürokratien, bis sechs Seiten später jegliches Verständnis für die Klasseninteressen der Handelsklassen gegenüber den Grundbesitzerklassen verloren gegangen ist und sich in den angesammelten Daten aufgelöst hat.
Wenn wir herausfinden wollen, was vor Tausenden von Jahren geschah, bevorzugen wir Autoren, die die Geschichte auch aus einer anarchistischen Sicht betrachten, aber mit einem anderen Ansatz als W. & G:
„[D]ie Erfindung der Landwirtschaft führte nicht automatisch zu Klassenungleichheit oder dem Staat. Aber sie machte diese Veränderungen möglich. […] Die Veränderung der Technologie und der Umwelt schuf die Voraussetzungen für einen Klassenkampf. Und das Ergebnis dieses Klassenkampfes entschied darüber, ob Gleichheit oder Ungleichheit triumphierten. Graeber und Wengrow ignorieren diesen entscheidenden Punkt. Stattdessen setzen sie sich ständig mit der kruden Form der Stufentheorie auseinander, die solche Veränderungen als unmittelbar und unvermeidlich darstellt.“ (N. Lindisfarne)
Eine Produktionsweise, so betonen W. & G., bringt keine vorherbestimmte Politik mit sich. Dem können wir nur zustimmen: In den 1930er Jahren fiel die gleiche Produktionsweise in drei großen Industrieländern mit Hitlerdeutschland, Stalins Russland und Roosevelts New Deal zusammen. Die heutige chinesische Konsumgesellschaft ist mit einer Einparteienherrschaft vereinbar, und die kapitalistische Schweiz unterscheidet sich erstaunlich vom kapitalistischen Saudi-Arabien. Ist das ein Beweis für die Unwirklichkeit des Kapitalismus als weltweites Produktionssystem? Und wenn wir die Bourgeoisie als diejenigen definieren, die die Produktionsmittel besitzen und die Macht haben, Arbeitskräfte einzustellen, um für sie zu arbeiten, sollten wir das Konzept dann als ungültig betrachten, weil es Elon Musk und den Restaurantbesitzer, der einen Koch und zwei Kellnerinnen beschäftigt, in einen Topf wirft?
So geht man im politischen und/oder akademischen Diskurs mit einem unbequemen Konzept um: 1) Man stellt genügend Ausnahmen zusammen, die darauf hindeuten, dass das Konzept unangemessen ist; 2) man argumentiert im Namen der Komplexität; 3) man schneidet das Komplexe zurecht, bis es zu deiner eigenen Erklärung der Dinge passt.
„Das bestgehütete Geheimnis des Kapitalismus“…
…ist, dass er verschwunden ist. Das heutige System ist „nicht kapitalistisch“ (Graeber, Bullshit Jobs).
Der Kapitalismus, so Graeber, basierte auf der Wertakkumulation durch Massenproduktion: Was wir jetzt haben, ist eine sich selbst erhaltende, parasitäre Finanzstruktur.
„Wenn die Gewinnung des Mehrwerts durch direkte politische Mittel erfolgt, nennt man das nicht Kapitalismus, sondern Feudalismus. Das ist es, was wir heute haben: eine Verschmelzung von öffentlicher und privater Bürokratie, deren Ziel es ist, immer mehr Schulden zu machen, die dann Gegenstand verschiedener Formen der Spekulation werden. […] In der klassischen marxistischen Theorie besteht die Rolle des Staates darin, die Eigentumsverhältnisse zu garantieren, die dann die Gewinnung durch Lohnarbeit ermöglichen. Aber jetzt spielt der Staatsapparat eine aktivere Rolle in diesem Prozess. […] Wir leben in der Ära des Raubtierkapitalismus.“ (ouishare-Interview, 2016)
„Wenn wir an kapitalistische Unternehmen denken, gehen wir davon aus, dass es sich um kleine oder mittelgroße Firmen handelt, die auf einem Markt miteinander konkurrieren. […] Wenn diese Unternehmen nicht den Effizienzregeln des Kapitalismus folgen, in welchem System leben wir dann? Man könnte es als eine Art Feudalismus bezeichnen. […] Im Kapitalismus erhältst du deine Gewinne, indem du Leute anstellst, die Dinge herstellen und sie dann verkaufen, während Feudalismus direkte Aneignung bedeutet. (Das bestgehütete Geheimnis des Kapitalismus, 2019)
„Aneignung“ gibt es, aber du eignest dir nur an, was vorher produziert wurde: Die Aneignung hängt von dem Gegenstand ab, der genommen wird. Wir leben in einer Welt, in der Unternehmen (sowohl große als auch kleine Firmen) ihre Profite dadurch erzielen, dass sie Menschen anstellen, um Dinge herzustellen und sie dann zu verkaufen. Jedes Unternehmen versucht, den „Effizienzregeln des Kapitalismus“ zu folgen, indem es die niedrigsten Produktionskosten erzielt, um mit seinen Konkurrenten auf dem Markt zu konkurrieren. Diese Realität ist heute noch genauso strukturell wie zu Marx‘ Zeiten und erklärt die ständige Beschleunigung des Systems, seine Fähigkeit, regelmäßig neue Industrieprodukte herzustellen und zu vermarkten, sich neu anzupassen, seine Krisen zu überwinden und zu expandieren.
„Der Kommunismus ist schon da“
Für Graeber ist der heutige Kapitalismus gleichbedeutend mit Raub – ein anderes Wort für Diebstahl im großen Stil. Wenn wir in diesem feudalen Kapitalismus oder kapitalistischen Feudalismus von Dieben beherrscht werden, besteht die Lösung für uns, die Menschen, darin, das zurückzufordern, was uns gehört. Und die Wiedererlangung der kollektiven Kontrolle wird um so leichter sein, als wir uns bereits auf dem Weg zu einem umfassenden Wandel befinden:
„Nur wenn die Arbeit standardisiert und langweilig wird – wie am Fließband – ist es möglich, autoritärere, sogar faschistische Formen des Kommunismus durchzusetzen. Aber Tatsache ist, dass auch private Unternehmen intern kommunistisch organisiert sind.“
Der Kommunismus ist also schon da. Die Frage ist nur, wie man ihn weiter demokratisieren kann. Der Kapitalismus wiederum ist nur ein möglicher Weg, den Kommunismus zu verwalten – und, wie immer deutlicher wird, ein ziemlich katastrophaler.“ (Graeber, Hope in Common, 2008)
Graeber war sich sicherlich bewusst, dass sein Computer auf Fließbändern hergestellt wurde und dass die meiste Arbeit auch im 21. Jahrhundert standardisiert und langweilig ist… Für ihn gehörte das Fließband von Ford zum Faschismus. Wenn die Ökonomie des Wissens und das immaterielle Informationszeitalter Vorrang vor der Produktion haben, wird eine horizontale „kommunistische“ Organisation der Arbeitswelt zum Glück endlich möglich – rational, notwendig.
Wie bereits erwähnt, ist der Hauptgedanke von The Dawn of Everything, dass es in jeder Gesellschaft immer eine Dualität gibt, eine Kombination aus Druck von oben und Autonomie von unten, und dass der Kampf für die Freiheit darin besteht, dass letztere die Oberhand über erstere gewinnt. Nach der Definition von W. & G. ist der „Kapitalismus“ (wenn das Wort überhaupt noch zutrifft) wie in früheren Gesellschaften eine Kombination aus verschiedenen Formen: Lassen wir die positiven überwiegen, dann haben wir das Äquivalent eines „revolutionären“ Wandels ohne den unangenehmen (aber zum Glück überholten) gewaltsamen Durchbruch namens Revolution.
„Scheint die vorherrschende Stimmung eingefangen zu haben“
Wenn Medien, die normalerweise anarchistischen Neigungen abgeneigt sind, David Graebers Bücher gerne rezensieren und empfehlen, dann deshalb, weil sie die Anarchie (und sogar den „Kommunismus“) als eine realisierbare Option darstellen, die nicht im Antagonismus zu dieser Gesellschaft steht, sondern bereits in ihr aktiv ist. Eine Reihe von „befreiten“ oder „Freiheits-Form“-Unternehmen rühmen sich damit, dass sie kollaborativ, horizontal, von unten nach oben und mit einem gewissen Maß an Autonomie arbeiten: Ihre Chefs werden sicher nichts dagegen haben, wenn sie lesen, dass sie „intern kommunistisch organisiert“ sind, warum also nicht eine bestehende – und profitable – Tendenz „weiter demokratisieren“?
Angesichts des Zerfalls des progressiven Traums und der sich abzeichnenden ökologischen Krise sind Liberale oder Konservative bereit zuzugeben, dass vergangene oder weit entfernte Gesellschaften führerlose Freiheit und Selbstverwaltung erlebt haben (oder in entlegenen Winkeln des Planeten immer noch genießen), aber das stellt die derzeitigen Inhaber der ökonomischen und politischen Macht nicht in Frage. Dieselbe Welt, die Raketen zur Erforschung des Mars schickt, liebt es, die Vorgeschichte, „primitive“ Gesellschaften oder die heutigen indigenen Völker zu romantisieren, solange das nichts mit der Gegenwart zu tun hat. Eine harmlose gegenhegemoniale Geschichte kann nicht schaden.
Auf der anderen Seite des politischen Spektrums ist The Dawn of Everything in einigen radikalen Kreisen aus genau dem gegenteiligen Grund ziemlich gut aufgenommen worden: Sie lesen das Buch als wertvollen Beitrag zu antikapitalistischer Theorie und Aktion.
Machen wir uns nichts vor: W. & G. haben den Vorzug der Einfachheit: Der wahre Wandel könnte bald kommen, weil er bereits begonnen hat. In Wirklichkeit ist die Freiheit immer da: Es liegt an uns, sie wahrzunehmen.
„[H]istorisch gesehen neigen Hierarchie und Gleichheit dazu, gemeinsam zu entstehen und sich gegenseitig zu ergänzen“. (S. 208) Zwischen beiden findet ein ständiger Balanceakt statt, bei dem es einer Seite regelmäßig gelingt, das Zünglein an der Waage zu spielen. Unser Problem ist es, die emanzipatorische Tendenz über die zwanghafte, das Positive über das Negative, das Gute über das Schlechte siegen zu lassen. Für W. & G. besteht unsere Aufgabe darin, die uralte „primitive Demokratie“ in eine zeitgemäße, allumfassende Demokratie zu verwandeln. Da es immer ein Potenzial für Freiheit, für eine sich selbst organisierende Gemeinschaft, für ein gewisses „selbstbewusstes soziales Experimentieren“ (S. 326) gibt, müssen wir nach Freiräumen suchen, sie vergrößern und die sozialen Risse von heute in die Fundamente von morgen verwandeln.
W. & G. erklären, dass nicht materielle Faktoren, sondern die Entscheidungsfreiheit der Menschen die eigentliche Ursache der Geschichte ist. Sie bestehen darauf, dass die Evolution (entscheidende Innovationen wie Grundnahrungsmittel, Keramik, Bergbau…) schrittweise verläuft und oft nicht durch materielle Interessen, sondern durch Rituale, Spiele oder Religion ausgelöst wird. Wenn die Evolution allmählich verläuft, folgt daraus logischerweise, dass auch radikale Veränderungen sehr wahrscheinlich sind. Auch hier gilt: Der einfache Weg zur Emanzipation braucht keine gewaltsame Revolution. Die unzähligen elementaren Solidaritäten und Gemeinschaften, die den „Fundamentalkommunismus“ ausmachen und bisher nur am Rande und im Untergrund existierten, könnten auf diese Weise zum Vorschein kommen und sich durchsetzen. Vorausgesetzt natürlich, wir werden uns dessen bewusst, was wir tief in unserem Inneren wirklich sind, und lassen zu, dass der Fluss der Freiheit an die Spitze kommt.
Von welchem „Wir“ sprechen W. & G.? Wenn der Kapitalismus, wie es in Debt: The First 5,000 Years heißt, zu einer „gigantischen Schuldenmaschine“ geworden ist, steht die entscheidende Kluft zwischen Gläubigern und Schuldnern, und sind wir nicht alle auf die eine oder andere Weise Schuldner? Nicht wenige Hausbesitzer aus der amerikanischen Mittelschicht sind von Zwangsvollstreckungen betroffen. Auch viele reiche Menschen leben auf Kredit. Kredithaie und Banker können nicht mehr als 1% der Bevölkerung ausmachen. „Wir sind die 99%“, also ist der Sieg sicher auf unserer Seite.
Leider ist es nicht überraschend, dass einige Radikale, vor allem wenn sie das Klassendenken aufgegeben haben (insbesondere die vermeintlich überholte Arbeiterklasse), solchen Reden gerne zuhören. Die zweifellos informative und spannende Meistererzählung von W. & G. trifft den vielleicht größten gemeinsamen Nenner der verschiedenen Fragmente radikaler Milieus: den Glauben daran, dass ein umfassender „sozialer Wandel durch die kollektive Nutzung und Ausweitung dessen, was [als] potenziell gemeinschaftlich dargestellt wird, erreicht werden kann: zum Beispiel das System des offenen Feldes in noch existierenden traditionellen Gesellschaften oder der freie Zugang zu Software in den modernsten Gesellschaften. […] ‚Creative Commons‘ sollen einen schrittweisen und friedlichen Übergang zu einer menschlichen Gemeinschaft ermöglichen […] Der gemeinsame Reichtum ist da, wir müssen ihn nur gemeinsam zurückfordern.“ (From Crisis to Communisation) Wenn der Reformismus von oben (umgesetzt von Gewerkschaften/Syndikate und sozialistischen Parteien) akut im Niedergang begriffen ist, versucht der „Basis“-Reformismus von unten, ihn zu ersetzen – mit weitaus weniger Erfolg, muss man hinzufügen.
* * *
The Dawn of Everything widerspricht der immer noch vorherrschenden Hobbes’schen Vision von Menschen, die zu einem „Krieg aller gegen alle“ verdammt sind, wenn sie sich nicht wohlwollenden Diktatoren unterwerfen. Der weite geschichtliche Bogen von W. & G. informiert uns über eine große Bandbreite von Situationen der Zusammenarbeit und Selbstbestimmung in Raum und Zeit. Doch diese belebende Wirkung hat auch ihre Schattenseiten: eine Sichtweise, die die Realität von Klasse und Kapitalismus außer Acht lässt und die Frage der Revolution ignoriert.
Wengrow und Graeber schreiben, dass Yuval Harari weltweit beliebt ist, weil er „die herrschende Stimmung eingefangen zu haben scheint“ (S. 504). Wie wahr. Im Gegensatz zu Harari geben sich die Autoren als Anarchisten aus, sie verkehren sicher nicht mit Staatsoberhäuptern und David Graeber war ein engagierter Straßenaktivist. Doch so scharf und bissig The Dawn of Everything auch ist, seine Kritik steht im Einklang mit den Grenzen der gegenwärtigen sozialen Bewegungen, die das Buch zum Ausdruck bringt, ohne dabei zu helfen, sie zu verstehen und zu überwinden. Es verfestigt sie vielmehr. Das hat schwerwiegende politische Folgen.
G.D. (Februar 2023)
Literaturverzeichnis (auf Englisch):
David Graeber and David Wengrow:
The Dawn of Everything. A New History of Humanity, 2021. We have used the Penguin edition, 2022. PDF on docdrop.org
Wengrow, interview about the book, The Guardian, June 12, 2022.
Graeber :
Hope in Common, 2008: theanarchistlibrary.org
Debt, The First 5,000 Years, Melville House, 2011. PDF on theanarchistlibrary.org
Of Flying Cars & the Declining Rate of Profit, 2014: thebaffler.com
Interview, The Guardian, March 12, 2015.
The Era of Predatory Bureaucratization, article on ouishare.net, 2016.
Bullshit Jobs. A Theory, Allen Lane, 2018.
On the Phenomenon of Bullshit Jobs, libcom.org
David Graeber on Capitalism’s Best Kept Secret, interview on philonomist.net, 2019.
Peter Kropotkin, Mutual Aid. A Factor of Evolution, 1902. PDF on theanarchistlibrary.org
Marshall Sahlins, Stone Age Economics, Aldine-Atherton, 1972. PDF on libcom.org
Pierre Clastres, Society Against the State. Essays in Political Anthropology (first French edition, 1974). PDF on theanarchistlibrary.org
So herausfordernd Clastres‘ Forschung auch ist, sie hat etwas von einem umgekehrten Determinismus, der im Titel zusammengefasst ist. Als die Guayaki (heute Aché, weil sie den Namen „Guayaki“ als abwertend betrachten) es schafften, ohne Führungsstrukturen auszukommen, handelten sie da „gegen den Staat“, wie wir ihn kennen, als ob sie hätten wissen können, was auf sie zukommen würde? Nur wir modernen Menschen, die heute in staatlich gelenkten Gesellschaften leben, können im Nachhinein sagen, dass die Aché ihr Bestes getan haben, um ein historisches Stadium zu vermeiden, das der Rest der Welt erreicht hat.
James C. Scott:
Domination & the Arts of Resistance. Hidden Transcripts, Yale U.P., 1990. PDF on libcom.org
Zomia. The Art of Not Being Governed. An Anarchist History of Upland South Asia, Yale U.P., 2009. PDF on libcom.org
Everyday Forms of Resistance, article on libcom.org
Against The Grain. A Deep Vision of the Earliest States, Yale U.P., 2017. PDF on wordpress
„Infrapolitics & Mobilizations“, Revue française d’études américaines, 2012/1, n. 131. Readable on cairn.info
Wie die obigen Titel zeigen, schreibt Scott von einem anarchistischen Standpunkt aus. Seine Analysen sind viel aussagekräftiger als die von Graeber, denn er tut sein Bestes, um die Tragweite – und die Widersprüche – dessen, was er untersucht, einzuschätzen, und betont die Grenzen sowie die Verbindungen zwischen dem Widerstand gegen ein System und dessen Umsturz. Zitieren wir den ersten Satz von Zomias Schlussfolgerung: „Die Welt, die ich hier zu beschreiben und zu verstehen versucht habe, verschwindet schnell.“
Joseph Déjacques, The Humanisphere, Anarchist Utopia, 1858. PDF on theanarchistlibrary.org
Christ Knight, Nancy Lindisfarne, Jonathan Neale, The ‚Dawn of Everything‘ Gets Human History Wrong. First published in Climate & Capitalism, December 17, 2021. Eine anregende (nicht-marxistische) Untersuchung. Von besonderem Interesse ist der Abschnitt „The Advent of Agriculture“. Unter anderem werfen sie The Dawn of Everything vor, Umweltfaktoren wenig oder gar nicht zu berücksichtigen, was logisch ist: Graebers und Wengrows Standpunkt lässt materielle Ursachen außer Acht. Nachzulesen auf MRonline (Monthly Review site).
Kevin B. Anderson, Marx at the Margins. On Nationalism, Ethnicity, & Non-Western Societies, Chicago U.P., 2010. PDF on libcom.org
Kwame Anthony Appiah, „Digging for Utopia“, New York Review of Books, December 16, 2021.
Marx, German Ideology, Part I, A, § 5: „Development of the Productive Forces as a Material Premise of Communism“.
Ethnological Notebooks of Karl Marx, Edited by Lawrence Krader, International Institute for Social History, 1974. Readable on marxists.org
G. Dauvé, From Crisis to Communisation, PM Press, 2019, chap. 6, § 4: „Abundance vs. Scarcity ?“.
Aufheben, 5,000 Years of Debt ?, a critique of Graeber’s book. Readable on libcom.org
Nur auf Französisch: G. Dauvé, a critique of Bullshit Jobs: Quelle critique du travail ? David Graeber & les „jobs à la con“, 2019, on ddt21.noblogs.org
]]>
Der „Renegat“ Kautsky und sein Schüler Lenin (Jean Barrot, aka Gilles Dauvé)
Einleitung von Wildcat
Wir drucken den folgenden Text von Barrot als einen Beitrag zur Entmystifizierung der russischen Revolution ab. Obwohl die Revolution erst vor siebzig Jahren stattfand, scheint sie von mehr Mythen umgeben zu sein als der Olymp. Dies gilt insbesondere für die Rolle von Lenin und den Bolschewiki. Wir hoffen, dass sich diese Broschüre als nützlich erweisen wird, um Diskussionen anzuregen, die uns helfen werden, die Geschichte unserer Klasse in ihrem Kampf gegen das Kapital zu verstehen. Das Pamphlet wurde ursprünglich von Spartacus in französischer Sprache zusammen mit Kautskys „Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus“ veröffentlicht. Wir haben ein paar kleinere Änderungen vorgenommen, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass es allein veröffentlicht wird, und haben ein paar Fußnoten hinzugefügt, wo wir dachten, dass sie bestimmte Punkte im Text verdeutlichen.
Der „Renegat“ Kautsky und sein Schüler Lenin (Jean Barrot, aka Gilles Dauvé)
„Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus“ ist von offensichtlichem historischem Interesse. Kautsky war unbestreitbar der Meister des Denkens der Zweiten Internationale und ihrer mächtigsten Partei: der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Als Hüter der Orthodoxie galt Kautsky fast universell (A.d.Ü., überall) als der beste Kenner der Werke von Marx und Engels und als ihr privilegierter Interpret. Kautskys Positionen zeugen somit von einer ganzen Epoche der Arbeiterbewegung und verdienen es, auch nur in dieser Eigenschaft bekannt zu sein. Dieser Vortrag befasst sich genau mit einer zentralen Frage für die proletarische Bewegung: dem Verhältnis zwischen der Arbeiterklasse und der revolutionären Theorie. Die Antwort Kautskys auf diese Frage bildet die theoretische Grundlage für die Praxis und die Organisation aller Parteien, die die Zweite Internationale bildeten, und somit auch für die Russische Sozialdemokratische Partei und ihre bolschewistische Fraktion, die bis 1914, d.h. bis zu ihrem Zusammenbruch angesichts des Ersten Weltkriegs, das „orthodoxe“ Mitglied der Zweiten Internationale war.
Die von Kautsky in diesem Pamphlet entwickelten Thesen sind jedoch nicht gleichzeitig mit der Zweiten Internationale „zusammengebrochen“. Im Gegenteil, sie haben überlebt und bildeten auch die Grundlage der Dritten Internationale durch den „Leninismus“ und seine stalinistischen und trotzkistischen Avatare.
Der Leninismus, das russische Nebenprodukt des Kautskyismus! Das ist es, was diejenigen erschrecken wird, die nichts über Kautsky wissen, außer den Anathemen, die der Bolschewismus gegen ihn vorbringt, und insbesondere Lenins Pamphlet: Der Zusammenbruch der II. Internationale und Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky, und die nichts über Lenin wissen, außer dem, was man in den verschiedenen Kirchen, Kapellen oder Sakristeien, die sie besuchen, gut über ihn wissen kann.
Doch schon der Titel des Pamphlets von Lenin definiert sehr genau sein Verhältnis zu Kautsky. Wenn Lenin Kautsky als Renegaten behandelt, dann sicher deshalb, weil er ihn für einen ehemaligen Anhänger des wahren Glaubens hält, als dessen einziger qualifizierter Verteidiger er sich nun sieht. Weit davon entfernt, den „Kautskyismus“ zu kritisieren, mit dem er sich nicht identifizieren kann, begnügt sich Lenin vielmehr damit, seinem ehemaligen Meister des Denkens den Verrat an seiner eigenen Lehre vorzuwerfen. Unter allen Gesichtspunkten war Lenins Bruch sowohl spät als auch oberflächlich. Spät, weil Lenin die größten Illusionen über die deutsche Sozialdemokratie hegte und erst nach dem vollzogenen Verrat erkannte. Oberflächlich, weil Lenin sich darauf beschränkt, auf die Probleme des Imperialismus und des Krieges einzugehen, ohne auf die tieferen Ursachen des sozialdemokratischen Verrats vom August 1914 einzugehen, die mit dem Wesen dieser Parteien und ihren Beziehungen sowohl zur kapitalistischen Gesellschaft als auch zum Proletariat zusammenhängen. Diese Beziehungen müssen ihrerseits auf die eigentliche Bewegung des Kapitals und der Arbeiterklasse zurückgeführt und als eine Phase der Entwicklung des Proletariats verstanden werden, und nicht als etwas, das durch den Willen einer Minderheit, nicht einmal einer revolutionären Führung, so bewusst sie auch sein mag, verändert werden kann1.
Daraus ergibt sich die aktuelle Bedeutung der Thesen, die Kautsky in dieser Broschüre in besonders kohärenter Weise entwickelt und die den Kern seines Denkens zeitlebens ausmachen und die Lenin ab 1900 in Die dringendsten Aufgaben unserer Bewegung und dann in Was tun? von 1902 aufgreift und weiterentwickelt, wo er im Übrigen Kautsky ausführlich und lobend zitiert. Im Jahr 1913 wird Lenin diese Konzepte in Die historische Leistung von Karl Marx wieder aufgreifen, wo er dieselben Themen weiterentwickelt und Kautskys Text manchmal wortwörtlich wiederholt.
Diese Thesen, die auf einer oberflächlichen und zusammenfassenden historischen Analyse der Beziehungen von Marx und Engels sowohl zur intellektuellen Bewegung ihrer Zeit als auch zur Arbeiterbewegung beruhen, lassen sich in wenigen Worten zusammenfassen, und ein paar Zitate werden genügen, um ihren Inhalt zu verdeutlichen:
„Eine spontane, theorielose Arbeiterbewegung, die sich in den Arbeiterklassen gegen den wachsenden Kapitalismus stellt, ist nicht in der Lage, … revolutionäre Arbeit zu leisten.“
Deshalb ist es notwendig, das zu verwirklichen, was Kautsky die Vereinigung von Arbeiterbewegung und Sozialismus nennt.
Nun denn: „Sozialistisches Bewusstsein kann heute (!?) nur auf der Grundlage tiefgreifender wissenschaftlicher Erkenntnisse entstehen….. Nun ist der Träger der Wissenschaft nicht das Proletariat, sondern die bürgerlichen Intellektuellen; …das sozialistische Bewusstsein ist also ein von außen in den Klassenkampf des Proletariats importiertes Element und nicht etwas, das spontan entsteht“. Diese Worte Kautskys sind, so Lenin, „zutiefst gerecht“.
Es ist klar, dass diese ersehnte Vereinigung von Arbeiterbewegung und Sozialismus unter deutschen und russischen Bedingungen nicht in gleicher Weise realisiert werden konnte. Es ist jedoch wichtig zu sehen, dass die tiefgreifenden Unterschiede des Bolschewismus im organisatorischen Bereich nicht auf unterschiedliche Konzepte zurückzuführen sind, sondern lediglich auf die Anwendung der gleichen Prinzipien in unterschiedlichen politischen, ökonomischen und sozialen Situationen.
Tatsächlich wird die Sozialdemokratie keineswegs zu einer immer stärkeren Vereinigung der Arbeiterbewegung und des Sozialismus führen, sondern nur zu einer immer stärkeren Vereinigung mit dem Kapital und der Bourgeoisie. Was den Bolschewismus betrifft, so wird er, nachdem er in der russischen Revolution wie ein Fisch im Wasser war („Revolutionäre sind in der Revolution wie Wasser im Wasser“) und aufgrund des Scheiterns der Revolution, in einer fast vollständigen Verschmelzung mit dem Staatskapital enden, das von einer totalitären Bürokratie verwaltet wird.
Dennoch spukt der „Leninismus“ weiterhin im Bewusstsein vieler Revolutionäre mehr oder weniger guten Willens herum, auf der Suche nach einem Erfolgsrezept. In der Überzeugung, dass sie „Avantgarde“ sind, weil sie „Bewusstsein“ haben, während sie nichts als eine falsche Theorie besitzen, kämpfen sie dafür (A.d.Ü., im Sinne der Militanz)2, diese beiden metaphysischen Ungeheuer zu vereinen, nämlich „eine spontane Arbeiterbewegung, die aller Theorie entkleidet ist“ und ein körperloses sozialistisches Bewusstsein.
Diese Haltung ist schlichtweg voluntaristisch. Wenn nun, wie Lenin sagte, „Ironie und Geduld die wichtigsten Eigenschaften des Revolutionärs sind“, so ist „Ungeduld die Hauptquelle des Opportunismus“ (Trotzki). Der Intellektuelle, der revolutionäre Theoretiker muss sich nicht darum kümmern, sich mit den Massen zu verbinden, denn wenn seine Theorie revolutionär ist, ist er bereits mit den Massen verbunden. Er muss sich nicht „für das Lager des Proletariats entscheiden“ (nicht Sartre, sondern Lenin verwendet diesen Begriff), denn eigentlich kann er nicht wählen. Die theoretische und praktische Kritik, deren Träger er ist, wird durch das Verhältnis bestimmt, das er zur Gesellschaft unterhält. Er kann sich von dieser Leidenschaft nur befreien, indem er sich ihr unterwirft (Marx). Wenn er „auswählen“ kann, dann ist er kein Revolutionär mehr, und seine theoretische Kritik ist bereits überholt. Das Problem des Eindringens revolutionärer Ideen, das er mit der Arbeiterklasse teilt, wird so völlig umgewandelt: Wenn die historischen Bedingungen, das Kräfteverhältnis zwischen den kämpfenden Klassen, das hauptsächlich durch die autonome Bewegung des Kapitals bestimmt wird3, jedes revolutionäre Eindringen des Proletariats auf die Bühne der Geschichte verbieten, tut der Intellektuelle, was der Arbeiter tut: was er kann. Er studiert, er schreibt, er macht seine Arbeit bekannt, so gut er kann, im Allgemeinen eher schlecht. Als er im Britischen Museum studierte, war Marx, ein Produkt der historischen Bewegung des Proletariats, wenn schon nicht mit den Arbeitern, so doch zumindest mit der historischen Bewegung des Proletariats verbunden4. Er war genauso wenig von den Arbeitern isoliert, wie jeder Arbeiter von den anderen isoliert ist, insofern die Bedingungen des Augenblicks seine Beziehungen auf die beschränken, die der Kapitalismus zulässt.
Andererseits, wenn das Proletariat sich als Klasse konstituiert und dem Kapital auf die eine oder andere Weise den Kampf ansagt (und dazu braucht es kein WISSEN, denn da es in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen selbst nicht mehr ist als variables Kapital, genügt es, dass es seinen Zustand auch nur ein wenig ändern will, um ganz im Zentrum des Problems zu stehen, das der Intellektuelle nur schwer verstehen kann), ist der Revolutionär weder mehr noch weniger mit dem Proletariat verbunden, als er es ohnehin schon war. Aber die theoretische Kritik verschmilzt dann mit der praktischen Kritik, nicht weil sie von außen herangetragen wird, sondern weil sie ein und dasselbe ist.
Wenn der Intellektuelle in der vorangegangenen Epoche die Schwäche hatte, zu glauben, das Proletariat bleibe passiv, weil es ihm an „Bewusstsein“ fehle, und wenn er sich selbst für die „Avantgarde“ gehalten hat, so dass er das Proletariat führen will, dann behält er sich bittere Enttäuschungen vor.
Dies ist jedoch die Auffassung, die das Wesen des Leninismus ausmacht, und dies zeigt die zweideutige Geschichte des Bolschewismus. Diese Vorstellungen konnten letztlich nur aufrechterhalten werden, weil die russische Revolution gescheitert ist, d.h. weil das Kräfteverhältnis im internationalen Maßstab zwischen Kapital und Proletariat es letzterem nicht erlaubte, seine praktische und theoretische Kritik zu üben.
Wir werden versuchen, dies zu zeigen, indem wir kurz analysieren, was in Russland geschah und welche Rolle der Bolschewismus wirklich spielte.
Lenin glaubte, in den russischen revolutionären Kreisen die Frucht der „Vereinigung der Arbeiterbewegung und des Sozialismus“ zu sehen, und irrte sich dabei gewaltig. Die in den sozialdemokratischen Gruppen organisierten Revolutionäre haben dem Proletariat kein „Bewusstsein“ gebracht. Eine theoretische Darstellung oder ein Artikel über den Marxismus, der richtig verstanden wurde, war für die Arbeiter sehr nützlich: Er diente nicht dazu, ihnen ein Bewusstsein, ein Wissen über den Klassenkampf zu vermitteln, sondern nur dazu, die Dinge zu präzisieren, sie zum Nachdenken anzuregen. Lenin hat diese Realität nicht verstanden. Er wollte der Arbeiterklasse nicht nur das Wissen um die Notwendigkeit des Sozialismus im Allgemeinen vermitteln, sondern ihr auch zwingende Losungen an die Hand geben, die ausdrücken, was sie in einem bestimmten Moment tun muss. Das ist normal, denn die Partei von Lenin, der Hort des Klassenbewusstseins, ist 1. die einzige, die das allgemeine Interesse der Arbeiterklasse über alle ihre Spaltungen in verschiedene Schichten hinweg erkennen kann, und 2. die einzige, die in der Lage ist, die Situation ständig zu analysieren und entsprechende Parolen zu formulieren. Die Revolution von 1905 sollte nun die praktische Unfähigkeit der bolschewistischen Partei zeigen, die Arbeiterklasse zu führen, und die Rückständigkeit der Avantgardepartei offenbaren. Alle Historiker, auch die, die den Bolschewiki wohlgesonnen sind, erkennen an, dass die bolschewistische Partei 1905 nichts von den Sowjets verstand. Das Auftauchen neuer Organisationsformen weckte das Misstrauen der Bolschewiki: Lenin behauptete, die Sowjets seien „weder ein Arbeiterparlament noch ein Organ der proletarischen Selbstverwaltung“. Es ist wichtig zu sehen, dass die russischen Arbeiter nicht wussten, dass sie die Sowjets bilden sollten. Eine sehr kleine Minderheit unter ihnen kannte die Erfahrungen der Pariser Kommune, und dennoch schufen sie einen Arbeiterstaat im Keim, obwohl sie niemand aufgeklärt/erzogen hatte. Die kautskyanisch-leninistische These spricht der Arbeiterklasse in der Tat jede ursprüngliche Gestaltungsmacht ab, sobald sie sich nicht von der Partei-Verschmelzung-aus-Arbeiterbewegung-und-Sozialismus geführt wird. Es zeigt sich nun, dass 1905, um den Satz aus den „Thesen über Feuerbach“ aufzugreifen, „der Erzieher selbst erzogen werden muss“.
Im Gegensatz zu Kautsky leistete Lenin jedoch revolutionäre Arbeit (u. a. mit seiner Position zum Krieg). Aber in Wirklichkeit war Lenin nur gegen seine Theorie des Klassenbewusstseins revolutionär. Nehmen wir den Fall seiner Aktion zwischen Februar und Oktober 1917. Lenin hatte mehr als 15 Jahre lang (seit 1900) an der Schaffung einer Avantgardeorganisation gearbeitet, die die Einheit von „Sozialismus“ und „Arbeiterbewegung“ verwirklichen und die „politischen Anführer“, die „Vertreter der Avantgarde, die fähig sind, die Bewegung zu organisieren und zu führen“, zusammenbringen sollte. Doch 1917, wie auch 1905, blieb diese politische Führung, vertreten durch das Zentralkomitee der bolschewistischen Partei, hinter den aktuellen Aufgaben und der revolutionären Aktivität des Proletariats zurück. Alle Historiker, auch die stalinistischen und trotzkistischen Historiker, zeigen, dass Lenin einen langen und schwierigen Kampf gegen die Führung seiner eigenen Organisation führen musste, um seine Thesen durchzusetzen. Und er konnte nur erfolgreich sein, wenn er sich auf die Arbeiter der Partei stützte, auf die wirkliche Avantgarde, die in den Betrieben innerhalb oder im Umfeld der sozialdemokratischen Kreise organisiert war. Man wird sagen, dass all dies ohne die jahrelange Tätigkeit der Bolschewiki sowohl in den täglichen Kämpfen der Arbeiter als auch in der Verteidigung und Propagierung der revolutionären Ideen unmöglich gewesen wäre. In der Tat hat die große Mehrheit der Bolschewiki, allen voran Lenin, durch ihre unablässige Propaganda und Agitation zum Aufstand vom Oktober 1917 beigetragen. Als revolutionäre Militante spielten sie eine wirksame Rolle, aber als „Führung der Klasse“, „bewusste Avantgarde“, blieben sie hinter dem Proletariat zurück. Die russische Revolution hat sich gegen die Vorstellungen von „Was tun?“ entwickelt. Und in dem Maße, wie diese Ideen umgesetzt wurden (Schaffung eines Organs, das die Arbeiterklasse anführt, aber von ihr getrennt ist), haben sie sich als Bremse und Hindernis für die Revolution erwiesen. Im Jahr 1905 ist Lenin unzeitgemäß, weil er an den Thesen „Was tun?“ festhält. 1917 nimmt Lenin an der realen Bewegung der russischen Massen teil und lehnt dabei die in „Was tun?“ entwickelte Konzeption praktisch ab.
Wenn wir auf Kautsky und Lenin die umgekehrte Behandlung von Marx anwenden, wenn wir ihre Konzepte mit dem Klassenkampf verbinden, anstatt sie davon zu trennen, erscheint der Kautskyismus-Leninismus als Merkmal einer ganzen Epoche in der Geschichte der Arbeiterbewegung, die vor allem von der Zweiten Internationale beherrscht wurde. Nachdem sich das Proletariat eher schlecht als recht entwickelt und organisiert hat, befindet es sich seit Ende des 19. Jahrhunderts in einer widersprüchlichen Situation. Es hat verschiedene Organisationen, deren Ziel es ist, die Revolution zu machen, und gleichzeitig ist es nicht in der Lage, dies zu tun, weil die Bedingungen noch nicht reif sind. Der Kautskyismus-Leninismus ist der Ausdruck und die Lösung dieses Widerspruchs. Indem sie postuliert, dass das Proletariat den Umweg über die wissenschaftliche Erkenntnis gehen muss, um revolutionär zu sein, weiht sie die Existenz von Organisationen ein, die das Proletariat einrahmen, führen und kontrollieren, und rechtfertigt sie.
Wie wir bereits dargelegt haben, ist der Fall Lenins komplexer als der von Kautsky, da Lenin einen Teil seines Lebens ein Revolutionär gegen den Kautskyismus-Leninismus war. Im Übrigen war die Situation in Russland völlig anders als in Deutschland, wo es fast ein Regime der bourgeoisen Demokratie gab und wo eine stark entwickelte und in das System integrierte Arbeiterbewegung existierte. In Russland hingegen musste alles aufgebaut werden, und es ging nicht darum, sich an bourgeois-parlamentarischen und reformistischen Gewerkschafts- Syndikatsaktivitäten zu beteiligen, die es nicht gab. Unter diesen Bedingungen war Lenin in der Lage, trotz seiner kautskyanischen Ideen eine revolutionäre Position einzunehmen. Es ist jedoch anzumerken, dass er die deutsche Sozialdemokratie bis zum Weltkrieg als Vorbild betrachtete.
In ihrer überarbeiteten und korrigierten Geschichte des Leninismus zeigen uns die Stalinisten und Trotzkisten einen luziden Lenin, der den „Verrat“ der Sozialdemokratie und der Internationale vor 1914 gut versteht und anprangert. Dies ist eine reine Legende, und es würde ein gutes Studium der realen Geschichte der Zweiten Internationale erfordern, um zu zeigen, dass Lenin sie nicht nur nicht anprangerte, sondern dass er vor dem Krieg nichts über das Phänomen der sozialdemokratischen Degeneration verstanden hatte. Vor 1914 lobt Lenin sogar die deutsche sozialdemokratische Partei dafür, dass es ihr gelungen ist, die „Arbeiterbewegung“ und den „Sozialismus“ zu vereinen (siehe „Was tun?“). Wir zitieren nur diese Zeilen aus dem Nachruf „August Bebel“ (der übrigens mehrere Detail- und Inhaltsfehler über das Leben dieses „Führers“, dieses „vorbildlichen Arbeiterführers“ und über die Geschichte der Zweiten Internationale enthält).
„Die Grundlage der parlamentarischen Taktik der deutschen (und internationalen) Sozialdemokratie, die den Gegnern keinen Millimeter nachgibt, die nicht die geringste Möglichkeit auslässt, auch nur die kleinste Verbesserung für die Arbeiter zu erreichen, die zugleich auf der Ebene der Prinzipien kompromisslos ist und sich immer an der Verwirklichung des Endziels orientiert, die Grundlage dieser Taktik wurde von Bebel….“ gelegt.
Dieses Lob richtete Lenin im August 1913 an „die parlamentarische Taktik der deutschen (und internationalen) Sozialdemokratie, die kompromisslos auf der Ebene des Prinzips“ (!) ist. Als er ein Jahr später glaubte, die Ausgabe des Vorwärts (Zeitung der SPD), in der die Abstimmung der sozialdemokratischen Abgeordneten über die Kriegskredite angekündigt wurde, sei eine Fälschung des deutschen Generalstabs, offenbarte dies nur die Illusionen, die er seit langem, nämlich seit 1900-1902, seit „Was tun?“, über die Internationale im Allgemeinen und die deutsche Sozialdemokratie im Besonderen hegte (auf die Haltung anderer Revolutionäre zu diesen Fragen, z.B. Rosa Luxemburg, wird hier nicht eingegangen. Dieses Problem wäre in der Tat eine eingehende Untersuchung wert).
Wir haben gesehen, wie Lenin die Thesen von „Was tun?“ 1917 in der Praxis aufgegeben hatte. Aber die Unreife des Klassenkampfes im Weltmaßstab und vor allem das Ausbleiben der Revolution in Europa führen zur Niederlage der russischen Revolution. Die Bolschewiki sehen sich an der Macht mit der Aufgabe, „Russland zu verwalten“ (Lenin), die Aufgaben der bourgeoisen Revolution zu erfüllen, die nicht erfüllt werden konnten, d.h. in der Tat, die Entwicklung der russischen Ökonomie sicherzustellen, wobei diese Entwicklung nur kapitalistisch ist. Die Arbeiterklasse – und die Oppositionen innerhalb der Partei – in die Knie zu zwingen, wird zu einem wesentlichen Ziel. Lenin, der 1917 „Was tun?“ nicht ausdrücklich abgelehnt hatte, griff sofort die „leninistischen“ Vorstellungen auf, die als einzige die „notwendige“ Einrahmung der Arbeiter erlaubten. Die Zentralisten-Demokraten, die Arbeiteropposition und die Arbeitergruppe wurden zerschlagen, weil sie „die führende Rolle der Partei“ negiert hatten. Die leninistische Theorie der Partei wurde auch der Internationale aufgezwungen. Nach Lenins Tod mussten Sinowjew, Stalin und viele andere sie weiterentwickeln, indem sie mehr und mehr auf „eiserne Disziplin“, „die Einheit des Denkens und Einheit der Aktion“ pochten: Während das Prinzip, auf dem die stalinisierte Internationale beruhte, dasselbe war, auf dem die reformistischen sozialistischen Parteien gegründet wurden (die von den Arbeitern getrennte Partei, die ihnen das Selbstbewusstsein bringt), fiel jeder, der die leninistisch-stalinistische Theorie ablehnte, in einen „opportunistischen, sozialdemokratischen, menschewistischen Marasmus5“. ..“. Die Trotzkisten ihrerseits hielten an Lenins Gedanken fest und rezitierten „Was tun?“. Die Krise der Menschheit ist nichts anderes als „die Krise der Führung“, sagte Trotzki: Es sei daher notwendig, um jeden Preis eine Führung zu schaffen. Oberster Idealismus, die Geschichte der Welt wurde durch die Krise des Bewusstseins erklärt.
Kurz gesagt, der Stalinismus sollte nur in den Ländern triumphieren, in denen die Entwicklung des Kapitalismus von der Bourgeoisie nicht gesichert werden konnte, ohne dass die Bedingungen für die Zerstörung des Kapitalismus durch die Arbeiterbewegung gegeben waren. In Osteuropa, in China, in Kuba hat sich eine neue Führungsgruppe herausgebildet, die sich aus Kadern der bürokratisierten Arbeiterbewegung, aus ehemaligen bourgeoisen Spezialisten oder Technikern, manchmal auch aus Armeekadern oder ehemaligen Studenten zusammensetzt, die wie in China in die neue Gesellschaftsordnung integriert wurden. Letztlich (A.d.Ü., in Form einer Analyse) war ein solcher Prozess nur aufgrund der Schwäche der Arbeiterbewegung möglich. In China beispielsweise war die treibende soziale Schicht der Revolution die Bauernschaft, die nicht in der Lage war, sich selbst zu lenken, sondern nur von „der Partei“ gelenkt werden konnte. Vor der Machtergreifung führt diese in „der Partei“ organisierte Gruppe die Massen und die „befreiten Regionen“, sofern es solche gibt. Danach nimmt sie das gesamte soziale Leben des Landes in die Hand. Überall waren die Thesen von Lenin ein mächtiger bürokratischer Faktor. Für Lenin war die Führungsfunktion der Arbeiterbewegung eine spezifische Funktion, die von „Bossen“ gewährleistet wird, die getrennt von der Bewegung organisiert sind und deren einzige Rolle darin besteht. Der Leninismus diente insofern als ideologische Rechtfertigung für die Bildung getrennter Führungen der Arbeiter, als er für eine getrennte Körperschaft von „Berufsrevolutionären“ an der Spitze der Massen eintrat. In diesem Stadium ist der Leninismus, der aus seinem ursprünglichen Zusammenhang gerissen wurde, nur noch eine Technik zur Einrahmung der Massen und eine Ideologie, die die Bürokratie rechtfertigt und den Kapitalismus aufrechterhält: Seine Rekuperation war eine historische Notwendigkeit für die Entwicklung dieser neuen gesellschaftlichen Formationen, die ihrerseits eine historische Notwendigkeit für die Entwicklung des Kapitals darstellen. In dem Maße, wie sich der Kapitalismus ausbreitet und den gesamten Planeten beherrscht, reifen die Bedingungen für eine mögliche Revolution. Die leninistische Ideologie beginnt in jeder Hinsicht unbrauchbar zu werden.
Es ist unmöglich, das Problem der Partei zu untersuchen, ohne es mit den historischen Bedingungen zu verknüpfen, unter denen diese Debatte entstanden ist: In allen Fällen, wenn auch in unterschiedlicher Form, ist die Entwicklung der leninistischen Ideologie auf die Unmöglichkeit der proletarischen Revolution zurückzuführen. Wenn die Geschichte dem Kautskyismus-Leninismus Recht gegeben hat, wenn seine Gegner nie in der Lage waren, sich dauerhaft zu organisieren oder auch nur eine kohärente Kritik an ihm zu üben, dann ist das kein Zufall: Der Erfolg des Kautskyismus-Leninismus ist ein Produkt unserer Epoche und die ersten ernsthaften – praktischen – Angriffe auf ihn markieren das Ende einer ganzen historischen Epoche. Dazu war es notwendig, dass sich die kapitalistische Produktionsweise im Weltmaßstab umfassend entwickelt. Die ungarische Revolution von 1956 hat eine ganze Epoche der Konterrevolution, aber auch der revolutionären Reifung eingeläutet. Niemand weiß, wann diese Epoche endgültig überwunden sein wird, aber es ist sicher, dass die Kritik der Thesen Kautskys und Lenins, Produkte dieser Epoche, seitdem möglich und notwendig geworden ist. Aus diesem Grund haben wir uns bemüht, „Die drei Quellen des Marxismus, Marx‘ historische Werke“ neu zu veröffentlichen, um besser bekannt zu machen und zu verstehen, was die vorherrschende Ideologie einer ganzen Epoche war und immer noch ist. Wir wollen die Ideen, die wir verurteilen und bekämpfen, nicht verbergen, sondern im Gegenteil weit verbreiten, um sowohl ihre historische Notwendigkeit als auch ihre historischen Grenzen aufzuzeigen.
Die Bedingungen, die die Entwicklung und den Glanz von Organisationen sozialdemokratischen oder bolschewistischen Typs ermöglichten, sind heute überwunden. Was die leninistische Ideologie betrifft, so kann sie, abgesehen von ihrer Verwendung durch die herrschenden Bürokraten, in den revolutionären Gruppierungen, die den Anspruch erheben, die Vereinigung von Sozialismus und Arbeiterbewegung zu sein, nur noch dazu dienen, die Vereinigung von mittelmäßigen (A.d.Ü., auch verstanden als zweitklassige) Intellektuellen und mittelmäßigen (A.d.Ü., wie in der Bemerkung davor) revolutionären Arbeitern provisorisch zu bestätigen.
1Anm. von Wildcat: Wir sind der Meinung, dass dieser Satz eine allzu deterministische Sicht der fehlenden Möglichkeiten für eine Revolution nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs darstellt. Diese Haltung des „was sein würde, wäre“ wird von Barrot selbst in seinem Buch „Le Gauche Communiste en Allemagne“ (Die kommunistische Linke in Deutschland) ausführlicher dargestellt: -“…angesichts aller Elemente, die das revolutionäre Drama beherrschen, hat die Revolution verloren und musste verlieren. Man kann es bedauern, und das tun wir auch, aber es hat keinen Sinn, eine bolschewistische Partei oder irgendeinen anderen deus ex machina nach der Mode der unwirklichen Vergangenheit zu beschwören. Es wäre jedoch genauso falsch (eine falsche Darstellung der Epoche), wenn man die Auswirkungen des abstrakten Fehlens der „Partei“ oder irgendetwas anderem durch die falsche „vollständige Erklärung“ des „Nur so konnte es geschehen“ ersetzt und dabei übersieht, dass eine Revolution bei mehreren Gelegenheiten möglich war. Natürlich wäre es noch falscher, alles als eine Funktion einer notwendigen Niederlage darzustellen. Es ist auch anzumerken, dass er zwar die Fähigkeit einer „bewussten“ „revolutionären Führung“ verunglimpft, die Beziehungen zwischen den sozialdemokratischen Parteien und der kapitalistischen Gesellschaft zu verändern, aber nicht die Bedeutung von Minderheiten der Proletarier leugnet, die sich selbst organisieren, um aktiv zu werden, ohne „auf die Massen zu warten“… (Diese letztere Haltung war vielleicht eine der größten Schwächen von Rosa Luxemburg).
2Anm. von Wildcat: „Die militante Haltung ist in der Tat konterrevolutionär, insofern sie das Individuum in zwei Teile spaltet, indem sie seine Bedürfnisse – seine wirklichen individuellen und sozialen Bedürfnisse, die Gründe, warum er die gegenwärtige Welt nicht erträgt – von seiner Aktion, seinem Versuch, die Welt zu verändern, trennt. Der Militante weigert sich zuzugeben, dass er in Wirklichkeit revolutionär ist, weil er sein eigenes Leben und die Gesellschaft im Allgemeinen verändern muss. Sie unterdrücken die Impulse, die sie dazu gebracht haben, sich gegen die Gesellschaft zu wenden. Sie unterwerfen sich der revolutionären Aktion, als ob sie ihnen fremd wäre: Der moralische Charakter dieser Haltung ist leicht zu erkennen. Das war schon in der Vergangenheit falsch und konservativ; heute wird es immer reaktionärer.“ [Barrot in Eclipse and Re-emergence of the Communist Movement – Black £ Red]
Im Gegensatz dazu sagt er in demselben Buch: – „Kommunisten sind nicht vom Proletariat isoliert. Ihre Aktion ist nie ein Versuch, andere zu organisieren; sie ist immer ein Versuch, ihre eigene subversive Antwort auf die Welt auszudrücken. Letztendlich müssen alle revolutionären Initiativen koordiniert werden. Aber die revolutionäre Aufgabe ist nicht in erster Linie eine der Organisation; die Aufgabe besteht darin, (in einem Text oder einer Aktion) ein subversives Verhältnis zur Welt auszudrücken. Wie groß oder klein sie auch sein mag, ein solcher Akt ist ein Angriff gegen die alte Welt.“
3Anm. von Wildcat: Die Beziehung zwischen Klassenkampf, Wertgesetz und Kapitalakkumulation wird in Eclipse and Re-emergence of the Communist Movement gründlicher untersucht. Hier sind jedoch einige Kostproben: – „Die wirkliche kommunistische Theorie, wie sie von Marx formuliert und später von den meisten Marxisten, einschließlich vieler echter Revolutionäre, vergessen wurde, trennt nicht zwischen „Ökonomie“ und „Klassenkampf“. Das Kapital von Marx zerstört spezialisierte Wissensgebiete. Es ist sinnlos, sich zu fragen, ob ökonomische Krisen proletarische Aktionen hervorbringen oder ob die Kampfbereitschaft der Arbeiter ökonomische Schwierigkeiten schafft. Das Proletariat ist eine Ware, die dazu neigt, sich als solche zu zerstören, sowohl weil das System sie angreift als auch weil ihre Lebensbedingungen unerträglich werden. Das Kapital versucht, die Löhne zu senken und einen Teil der Arbeiterklasse aus der Produktion zu verdrängen: Beide Tendenzen sind Folgen der Wertakkumulation. Das Proletariat ist ein Wert, der als solcher nicht mehr existieren kann“: „Die Arbeitskraft ist eine Ware. Anstatt die Menschheit in die Lage zu versetzen, sich die Welt auf materieller, intellektueller und emotionaler Ebene anzueignen, ist die Arbeit nur noch ein Mittel zur Produktion von Gegenständen, um den Wert zu steigern. Die Subversion ist seit der Zeit des Luddismus ein Versuch, den Wert als soziales Verhältnis abzuschaffen. Das muss man bedenken, wenn man inoffizielle Streiks, Unruhen usw. betrachtet, auch wenn diese Aktionen keine kommunistische Perspektive einnehmen und zum Ausdruck bringen.““Krisen können nicht losgelöst vom Kommunismus untersucht werden und umgekehrt. Das bedeutet nicht, dass alle Depressionen kommunistisches Potenzial haben. Der Zusammenbruch von 1929 war eine Krise innerhalb der bestehenden Ökonomie und Gesellschaft. Er fand zu einem Zeitpunkt statt, als die aktive gesellschaftliche Kraft – das Proletariat – bereits besiegt war. Das ist heute nicht mehr der Fall. Ein Bürgerkrieg ist von nun an möglich, auch wenn die gegenwärtigen Kämpfe keine positive kommunistische Aktivität zeigen. Eine kommunistische Bewegung, die extrem und gewalttätig ist, ist aus den begrenzten Situationen, die stattgefunden haben, noch nicht erwachsen.“
4Anm. von Wildcat: Barrot sagt, dass Marx nicht vom Klassenkampf getrennt war, als er das Kapital schrieb. Das stimmt teilweise, denn was er tat, war von großem Nutzen für das Verständnis des Kriegszustands zwischen der Arbeiterklasse und den Kapitalisten. Wäre Marx jedoch mehr ein Klassenkämpfer und weniger ein Bücherwurm gewesen, wäre sein Werk vielleicht eine wertvollere Waffe für uns gewesen und hätte vielleicht weniger Angriffsfläche für die Konterrevolution geboten. In diesem Fall hätte er sein Werk vielleicht an die Klasse gerichtet, deren Situation er so wortgewandt beschrieben hat, statt an den Geschmack der bourgeoisen Akademiker.
5A.d.Ü., fortschreitender Verfall der körperlichen und geistigen Kräfte (durch Alter oder Krankheit).
]]>(Gilles Dauvé) Der Frieden ist der Krieg
„Kleine Länder wie Belgien wären gut beraten, sich dem stärkeren Land anzuschließen, wenn sie ihre Unabhängigkeit behalten wollen.“ (Kaiser Wilhelm II. an den König der Belgier, November 1913)
„Ein großer Krieg ist in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts unvermeidlich, aber er wird eine ausgereifte ökonomische Krise, eine massive Überproduktion, einen starken Rückgang der Rentabilität, eine Verschärfung der sozialen Konflikte und der Handelsantagonismen voraussetzen, was sowohl eine Neuaufteilung der Welt als auch eine Regeneration des gesamten Systems erfordert. […] Mehr als in der Vergangenheit wird kein Reformismus den Weg zu einem, wenn nicht globalen, so doch mehr als nur regionalen Konflikt verhindern.“ (10 + 1 Fragen zum Kosovo-Krieg, 1999)
„Glaubt nicht der Propaganda, ihr werdet hier belogen.“ (Marina Ovsiannikova, unterbricht die Nachrichtensendung eines der größten russischen Sender, 14. März 2022)
* * *
„Krieg für den Frieden“ … … „die Sache der Schwachen gegen die Starken“ … „Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Herzen Europas… ein Kampf für die Zivilisation“… „ein Genozid, der in der Ukraine stattfindet“.
Das erste Zitat stammt aus der sozialistischen Zeitung Le Droit du Peuple und das zweite aus der bourgeoisen Londoner Times, beide aus dem Jahr 1914; das dritte stammt vom französischen Premierminister während des Kosovo-Kriegs 1999 und das letzte vom ukrainischen Premierminister am 9. März 2022.
Die französischen Medien werden niemals über die (von Frankreich unterstützte) Diktatur im Tschad berichten, wie sie es mit der (von Russland unterstützten) Diktatur in Weißrussland tun. Ebenso wenig werden sie die Millionen von Zivilisten, die von der französischen und amerikanischen Armee in den Kriegen in Indochina und Vietnam getötet wurden, auf die gleiche Weise zur Sprache bringen wie die Massaker an Zivilisten, die von der russischen Armee in der Ukraine verübt wurden.
Es gibt kaum etwas Neues in der Gehirnwäsche, außer dass die Propaganda intensiver wird, wenn sich der Krieg dem Herzen Europas nähert. Russland leugnet und verbietet die Wörter „Krieg“ und „Invasion“ (der französische Staat hat bis 1999 gewartet, um offiziell zuzugeben, dass er zwischen 1945 und 1962 in Algerien „Krieg“ geführt und nicht nur „Operationen“ durchgeführt hat). Der Westen beschönigt und liefert Waffen an die Ukraine über die „Europäische Friedensfazilität“.
Wenn die Wörter sich aufblähen, zerplatzt ihre Bedeutung. Insbesondere Genozid wird zum Synonym für Massaker, obwohl das Wort die Ausrottung eines Volkes als Volk bezeichnet: Hitler tat dies mit den Juden, aber weder Stalin zielte in den frühen 1930er Jahren auf die Ausrottung des ukrainischen Volkes ab, noch später Pol Pot auf die Ausrottung des kambodschanischen Volkes. Und auch Putin nicht die des ukrainischen Volkes.
Doch bevor die Verwirrung mental ist, liegt sie in der Praxis. Wenn die Ideologien verwirrend sind, wenn sich jeder auf Sozialismus, Kommunismus, Proletariat und Revolution berufen konnte (Titel des 2017 vom derzeitigen Präsidenten der französischen Republik veröffentlichten Buchs), dann liegt das daran, dass die sozialen Bewegungen bislang kein Programm erfüllt haben, das mit der Ordnung der Dinge bricht. In der politischen Mythologie und im Diskurs ist also alles erlaubt. Da der Sozialismus 1914 national war, konnten sich die Nazis darauf berufen: Der Nazi ist der „Nationalsozialist“.
Wenn wir durch gescheiterte oder fehlgeleitete Kämpfe in die Passivität gedrängt werden, empfangen wir Informationen und Bilder als Zuschauer einer Realität, auf die wir vorläufig nicht reagieren können.
Unmögliche Vorhersage, theoretische Gewissheit
Wer hätte vorhersehen können, dass Russland im Jahr 2022 eine so umfassende Operation gegen einen so großen Teil des ukrainischen Territoriums starten würde?
„Wir gehen geradewegs auf einen bewaffneten Konflikt zwischen England und den Vereinigten Staaten zu [und] dieser Konflikt kann mit größter Genauigkeit datiert werden“, erklärte Trotzki 1921 auf dem Dritten Kongress der Kommunistischen Internationale.
Ein Jahrhundert später wissen wir nichts über die Bruchlinien und die Abgrenzung der „Lager“, die in künftige Konflikte verwickelt sind. Aber wir wissen, dass die Rivalitäten zwischen den kapitalistischen Großmächten – den heute dominierenden USA, China, dem wiedererstarkten Russland und der Europäischen Union, die bislang nicht in der Lage war, sich als politische Einheit zu konstituieren – die Voraussetzungen für regionale und eines Tages globale Kriege schaffen.
Alles wird getan, um uns davon zu überzeugen, dass die heutigen Staaten aus Gründen, die außerhalb der inneren Natur eines angeblich friedensfördernden kapitalistischen Systems liegen, zu militärischer Gewalt greifen. Wenn Russland im 21. Jahrhundert in den Krieg ziehen würde, wäre der Grund dafür die Rückkehr eines Nationalismus, der im Westen glücklicherweise überwunden, im Osten aber durch eine diktatorische Macht mit überzogenen Ambitionen wiederbelebt wurde.
In Wirklichkeit war der Wettbewerb zwischen kapitalistischen Unternehmen nie sanft, noch war der internationale Handel ein Faktor für dauerhaften Frieden. Im Gegensatz zu einer vor 1914 gängigen Meinung, die von einigen Sozialisten wie Kautsky aufgegriffen wurde, hinderte die ökonomische Interdependenz der Großmächte diese nicht daran, sich gegenseitig zu bekriegen. Die industrielle und handelspolitische Dynamik entwickelt eine Zone auf Kosten einer anderen, schafft rivalisierende Pole, die jeweils auf einem Territorium basieren und sich auf eine politische staatliche Kraft stützen, die auch militärisch ist.
Friedlicher Westen, kriegerisches Russland
Der amerikanische Kapitalismus muss selten Länder besetzen: Seine ökonomische Überlegenheit, seine höhere Produktivität und seine ausländischen Direktinvestitionen ermöglichen den USA eine ausreichende Kontrolle über große Teile der Welt, ohne dort Truppen zu entsenden. In Italien oder Frankreich nach 1945 und in Osteuropa nach 1991 beruhte die US-Macht mindestens ebenso sehr auf multinationalen Konzernen wie auf GIs. Deutschland und Japan wurden erst als Folge des Zweiten Weltkriegs besetzt, und der Verbleib der US-Truppen diente in erster Linie dazu, den Rivalen Russland in Schach zu halten. Die USA scheuen sich nicht, an ihren Grenzen militärisch zu intervenieren, wie 1914 in Mexiko, aber nur, um zu versuchen, dort die ihnen genehmen politischen Anführer einzusetzen oder wiedereinzusetzen: Sie müssen nicht den Rio Grande überqueren, um dort ihre Investitionen in die Maquiladoras zu fördern.
Russland ist zwar eine Supermacht, aber wie einst die UdSSR hat es eine viel geringere kapitalistische Dynamik als die USA, Westeuropa (und China), und der Großteil seiner Stärke auf dem Weltmarkt beruht auf Öl- und Gasexporten. Daher neigt es dazu, die Kontrolle über seine Nachbarn anzustreben, um sicherzustellen, dass sie in seiner Umlaufbahn bleiben. Wie die OPEC-Länder nutzt es seine Rolle als großer Rohstoffproduzent nicht nur als ökonomische und politische Waffe, sondern seine militärische Stärke ermöglicht es ihm (bislang) auch, die zentralasiatischen Länder zu vasallisieren und eine internationale Rolle zu spielen, die sich nur wenige Länder der Welt leisten können (China ist dazu – bislang – nicht in der Lage). Es ist nicht unlogisch, dass die Anführer eines auf dem Weltmarkt schwachen Russlands glauben, die Macht des Landes (und ihren Machterhalt) dadurch zu sichern, dass sie sich direkter als ihre Rivalen auf Waffengewalt berufen. Zumal das Russland des 21. Jahrhunderts im Gegensatz zu den Zeiten, als der Einfluss der UdSSR durch stalinistische KPs weltweit vermittelt wurde, nicht über die Soft Power verfügt, die die USA genießen.
Aber warum sollte man sich heute in einen Krieg in Europa verwickeln?
Nach 1945 verfügte die UdSSR über ein Imperium, die USA über die Hälfte der Welt. Amerika, das in eine neue Ära der Expansion eingetreten war, hatte kein Bedürfnis, den polnischen oder chinesischen Markt zurückzuerobern, und Russland konsolidierte seine Kapitalakkumulation, ohne Westeuropa etwas anderes als Ideologie anbieten zu können.
Die Konfrontation fand an der Peripherie statt (Korea, Indochina, Naher Osten, Afrika), und wenn sie sich einem Abgrund näherten (Kuba-Raketenkrise, 1962), zogen sich die USA und die UdSSR zurück. Jede Supermacht erkannte die Hegemonie des Gegners in seinem Gebiet an, in dem er so ziemlich nach Belieben handelte (Guatemala, 1954; Ungarn, 1956; Berliner Mauer, 1961; Tschechoslowakei, 1968 usw.). Die zahlreichen Krisen wurden in Europa ohne Konfrontation bewältigt, ohne den Einsatz von Waffen beispielsweise bei der Berlin-Blockade (1948-1949). Es standen sich zwei Lager gegenüber, die in dem Sinne relativ gleichberechtigt waren, dass jeder gezwungen war, das Territorium des anderen zu respektieren, die sich aber in sozioökonomischer Hinsicht stark unterschieden.
Der „bürokratische“ Kapitalismus hatte erfolgreich die Industrialisierung vorangetrieben und eine mächtige Rüstungswirtschaft geschaffen, war aber unfähig gewesen, Arbeit und Kapital produktiv zu organisieren. Die Herrschaft einer Klasse, die sowohl das Kapital als auch den Staat kollektiv besaß, hemmte den Wettbewerb – den Motor des Kapitalismus – und führte zur Schaffung von Lehen, die ihre Stärke nicht durch eine höhere Produktivität in Industrie und Handel, sondern durch privilegierte Verbindungen zum Staat erhielten. Die Krise des russischen „bürokratischen“ Kapitalismus löste sich schließlich in ein System auf, in dem die „Oligarchen“ lediglich die Besitzer von Monopolen sind, die völlig von der politischen Macht abhängig sind. Da sie nicht in der Lage ist, auf dem Weltmarkt zu konkurrieren und im Ausland zu investieren (wie es China gelingt), ist die einzige Garantie für den Fortbestand der russischen herrschenden Klasse die Priorität der militärischen Macht. Was auch immer man vom „Bruttoinlandsprodukt“ halten mag, seine Statistiken geben eine Größenordnung vor: In Dollar ausgedrückt beträgt das BIP etwa 20 Billionen für die USA, 13.000 für China, 4.000 für Deutschland und 1.600 für Russland, was dem von Südkorea oder Italien entspricht. Russland ist nur eine regionale (Groß-)Macht.
Nach 1989 gewann die überlegene Dynamik der USA und Westeuropas schließlich auf friedliche Weise den osteuropäischen Raum, den die UdSSR 1945 durch Krieg erobert hatte, von Russland zurück.
Das Gleichgewicht des Schreckens war auch ein soziales Gleichgewicht auf beiden Seiten gewesen: Das Auftauchen oder Wiederaufleben neuer Konkurrenten (Deutschland, Japan, China…) unterbrach diesen Status quo und eröffnete letztlich die Möglichkeit eines bewaffneten Konflikts im Herzen Europas.
Früher hatte der sowjetische Riese kein Interesse daran, Westeuropa zurückzuerobern: Im 21. Jahrhundert schafft die – relative – Schwäche Russlands die Gefahr eines Krieges in der gesamten europäischen Region. Nach den erzwungenen Abspaltungen von Randgebieten (Transnistrien, Abchasien und Ossetien) und der Besetzung der Krim ist die Invasion der Ukraine ein weiterer Versuch Russlands, das zu bewahren, was es nur schwer zusammenhalten kann.
Häufig ist es die schwächste Großmacht, die die Initiative für eine Offensive ergreift. Im 19. Jahrhundert, als England die Welt beherrschte, griff es nur „unterentwickelte“ Länder an und führte Kolonialkriege in Indien und Afrika. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellten andere Imperialismen seine Hegemonie in Frage: Die deutsche ökonomische Macht untergrub das berühmte „europäische Gleichgewicht“, und die japanische bedrohte Asien. Nach 1945 beruhigte sich alles für einige Jahrzehnte dank der russisch-amerikanischen Aufteilung der Welt (Indien blieb gesondert, China ebenfalls). Doch nun lastet das Gewicht der Europäischen Union auf den ehemaligen russischen Satelliten und das Gewicht Chinas auf Asien.
Die UdSSR war in ihrem Einflussbereich und an ihren Rändern imperialistisch und kompensierte ihre soziale Schwäche, indem sie sich hinter angrenzenden Satelliten schützte, die als Puffer zwischen zwei getrennten, aber nie wasserdichten Blöcken dienten: Dieser Rand existiert praktisch nicht mehr.
Von Korea über Vietnam und Angola bis hin zu Afghanistan hatten sich die USA und die UdSSR immer wieder als Stellvertreter bekämpft, doch diesmal ist die Peripherie sehr nah.
Während die anderen Imperialismen nur im Nahen Osten und in Afrika Krieg führen, hat sich die NATO allmählich auf den europäischen Osten ausgedehnt, und Finnland und Schweden bereiten sich darauf vor, dem Bündnis beizutreten.
1998 hielt George Kennan (1904-2005), Diplomat und nach 1945 Architekt der Eindämmung (containment) der UdSSR, diese Ausweitung für wenig sinnvoll: „Wir haben uns verpflichtet, eine ganze Reihe von Ländern zu schützen, ohne die Mittel oder die Absicht zu haben, dies ernsthaft zu tun“. Zehn Jahre später warnte ein CIA-Bericht vor einem Beitritt der Ukraine zur NATO: Dies würde in den Augen nicht nur Putins, sondern der gesamten russischen Elite die schwerwiegendste rote Linie überschreiten und die russische Einmischung auf der Krim und in der Ostukraine fördern.
Die Prediger der Mäßigung vergessen, dass Eindämmung und Zurückdrängen (roll back) Hand in Hand gehen, wenn die USA es für notwendig und möglich halten, wie es Truman und Eisenhower zu ihrer Zeit praktiziert und anerkannt haben. Seit über zwanzig Jahren hält die NATO Russland sowohl im Schach als auch im Zaum. Es ist normal, dass ein Staat oder ein Bündnis einen Rückschlag des Konkurrenten nutzt, um seine eigenen Schachfiguren voranzubringen. Die UdSSR hat das früher auch getan (der gescheiterte Versuch, 1945 eine autonome Republik Aserbaidschan im Norden des Iran zu gründen, sich in Asien und Afrika festzusetzen usw.). Im Jahr 2022 führt die NATO ihrerseits einen Stellvertreterkrieg gegen Russland, so wie einst die UdSSR Nordvietnam aufrüstete.
Wie auch immer der russisch-ukrainische Frieden aussehen mag, er wird eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln sein. Auf europäischer Ebene geht es darum, ob die Europäische Union sich auf eine Freihandelszone beschränkt oder eine politische Führung um einen deutsch-französischen Dreh- und Angelpunkt mit einer „europäischen“ Armee erhält – eine Hypothese, die angesichts der aktuellen Entwicklungen, die die US-Dominanz über die NATO festigen, immer unwahrscheinlicher wird. Gewinnen (oder nicht verlieren) bedeutet ohnehin nicht dasselbe für Russland (eine starke, aber regionale Macht) und die USA, die ihre Weltmacht neu ausrichten müssen, gegen das, was zu ihrem Hauptgegner wird: China. Wir werden es jedoch vermeiden, Trotzki mit abenteuerlichen Prognosen nachzueifern.
Rationalität = 600 Millionen Tote
Dennoch kam die russische Invasion überraschend. Im Jahr 2014 hatte die Schwäche der Rebellen im Osten des Landes Russland dazu veranlasst, dort militärisch einzugreifen und bei der Entstehung der „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk zu helfen. Aber der Versuch, in einen großen Teil des Landes einzumarschieren und Kiew zu belagern?
War es 1982 für Großbritannien „rational“, eine Armada ans Ende der Welt zu schicken, um ein paar kleine Inseln zu erhalten, die a priori weder ökonomisch wertvoll noch strategisch wichtig waren?
Man kann rational davon ausgehen, dass Hitler keine Chance hatte, gegen die anglo-russisch-amerikanische Koalition zu gewinnen, aber er hielt es für möglich, die UdSSR zu besiegen, bevor die USA ihre gesamte industrielle Macht mobilisieren konnten. Krieg ist bekanntlich „die Herrschaft der Ungewissheit“. Im Jahr 1914 dachten die Generalstäbe, dass sie den Krieg in sechs Monaten beenden würden. Als die Russen (1979) und dann die Amerikaner (2001) in Afghanistan einmarschierten, glaubten sie, dass eine massive Intervention einen Gegner besiegen würde, der logischerweise als militärisch weit unterlegen galt. Durch ihn bestand das eigentliche Ziel darin, ein Imperium – ökonomisch für die USA, quasi-kolonial für die UdSSR – gegen den Rivalen zu konsolidieren, und zwar zu anfänglich als angemessen erachteten Kosten. Die beiden Imperialismen konnten sich beruhigen, indem sie sich an ihre erfolgreichen außenpolitischen Operationen erinnerten: in Ungarn (1956), in Santo Domingo (1965).
Doch die Angelegenheit war nie primär militärisch. Im Jahr 1918 hatten die Kriegsparteien schließlich aufgehört, weniger gezwungen durch die Stagnation im Feld als vielmehr durch den Zerfall der Heimatfront, vor allem in Deutschland und Österreich-Ungarn. Im Gegensatz dazu führte das Naziregime einen „totalen“ Krieg, da es in erster Linie um die Herrschaft über das deutsche Volk ging, und wenn das deutsche Volk dem Schicksal, das die Nazis ihm zugedacht hatten, nicht gewachsen war, verdiente Deutschland für Hitler den Untergang. Normalerweise führt man keinen Krieg, um zu zerstören, schon gar nicht, um alles zu zerstören – aber die Nazi-Logik nahm 1945 die Selbstzerstörung Deutschlands in Kauf. Im Krieg stehen sich zwei Kräfte gegenüber, von denen keine entscheidet, was die andere tun wird, und die Gegenseitigkeit der Aktionen enthält die Möglichkeit der Zuspitzung. Die Selbstbeschränkung (Vermeidung der Zerstörung dessen, was man erobern will) findet selbst ihre Grenzen. Es ist eine Sache, ein Mörder zu sein, eine andere, Selbstmord zu begehen, oft schließt das eine das andere aus, doch Hitler tat beides: Für ihn war Politik eine Frage des „Alles oder Nichts“.
Putin ist nicht Hitler, aber auch für ihn ist die Grenze zwischen einem Teilziel (eine Grenze verändern) und einem Gesamtziel (einen Politikwechsel erzwingen, das Land neutralisieren) leicht zu überschreiten: Manchmal treibt die politische Führung eines Landes es bis zu einem Punkt, den es auf eigenes Risiko überschreitet.
Aber was ist ein gewonnener oder verlorener Krieg? Und vor allem: Was sind die Folgen? Die US-Interventionen im Irak und in Afghanistan werden immer wieder als Misserfolge bezeichnet, aber sowohl in Bagdad als auch in Kabul handelte es sich um Polizeiaktionen eines großen Landes gegen ein kleines. Weder die wichtigsten Interessen der USA, geschweige denn ihr Überleben, standen auf dem Spiel. Gewinnen bedeutet nicht – zumindest in Vietnam war es das nicht – zwangsläufig, das Land zu besetzen, sondern aufzuhören, sich von ihm bedroht zu fühlen: Haben die USA 1975 in Vietnam verloren, obwohl das Land seit über 20 Jahren für ausländisches Kapital auf der Suche nach niedrigen Löhnen offen ist?
Wie auch immer die russisch-ukrainische Affäre ausgehen mag, in ihrer Konfrontation mit Russland versuchen die USA – und in ihrem Gefolge die Europäische Union – auch, sich gegenüber China in eine starke Position zu bringen. Früher gab es zwei nukleare Supermächte, heute sind es drei (vier oder fünf, wenn man Indien und Pakistan mitzählt), und auch wenn ein zukünftiger Einsatz von Atomwaffen nicht sicher ist, wäre es naiv, ihn auszuschließen, weil er katastrophale Auswirkungen für die Menschheit, aber auch für die Herren der Welt, die an ihrer Position und ihren Privilegien festhalten, haben würde.
Der einzige Richter über die „vitalen Interessen“ eines Landes und die Mittel, die es zu ihrer Verteidigung wählt, ist weder die Menschheit noch eine abstrakte Vernunft oder eine Definition von Souveränität, sondern die Anführer, die an der Spitze des Staates stehen. Wenn er die Atombombe gehabt hätte, hätte der Nazi Hitler nicht gezögert, sie einzusetzen. Der Demokrat Truman zögerte (hier liegt einer der Unterschiede zwischen Faschismus und Demokratie) und setzte sie zweimal ein.
Fünf Jahre später erklärte der US-Präsident angesichts der Rückschläge in Korea, dass er alle Möglichkeiten in Betracht ziehe, „was alle Waffen, die wir haben, einschließt“, einschließlich der Atomwaffe: „Wir haben ernsthaft darüber nachgedacht“. Die nukleare Drohung wird von Nixon gegen Nordvietnam (1969) und von Trump gegen Nordkorea (2017) wiederholt.
In den 1960er Jahren dachte der US-Generalstab, weil er die UdSSR für unfähig hielt, einen atomaren Erstschlag zu überleben und mit einer großen Vergeltung zu antworten, an einen atomaren Angriff auf die UdSSR und China, der etwa 400 Millionen Tote verursachen würde, dazu 100 Millionen in den Nachbarländern und ebenso viele in Westeuropa, insgesamt also 600 Millionen. Absurd, das alles, wird man sagen, der Preis wäre zu hoch … Aber für wen? Die Regierenden sind nicht verrückt und die Militärs nicht blutrünstig. Ihr Wahnsinn hat Methode, würde Shakespeare sagen: Ein monströser Gegner verlangt den Einsatz von Mitteln gegen ihn, die schrecklicher sind als seine eigenen.
Anfang des 21. Jahrhunderts haben die USA ihre Pläne aktualisiert, und Russland und China haben ihre eigenen. Die staatliche Rationalität besteht darin, nach den Interessen des Landes und den Interessen seiner Anführer zu handeln, die übereinstimmen. Das Ziel ist das Fortbestehen, nicht der Selbstmord, aber Maßlosigkeit und Exzesse sind Teil der Gleichung. 1914 handelten die Imperien nicht irrational, ebenso wenig wie die Nazis 1939 oder 1941. In Vietnam hatte die Domino-Theorie ihre eigene Rationalität. Ebenso die „Strategie des Terrors“, bei der die USA, um ihre eigene Zerstörung zu begrenzen (Mutually Assured Destruction: MAD), regelmäßig versuchten, eine Überlegenheit gegenüber der UdSSR und damit eine Chance auf den Sieg zu erlangen und zu behalten. Auf Kosten von Hunderten Millionen Toten, aber das ist ein Preis, den man zu zahlen bereit ist, denn so schrecklich er auch sein mag, er kann als besser angesehen werden als die Versklavung durch „Feinde der Menschheit“, die uns Schlimmeres bringen würden.
Während des chinesisch-japanischen Krieges 1938 ließ die nationalistische Regierung die Deiche des Gelben Flusses zerstören, um den Vormarsch der japanischen Truppen zu verzögern: Das Ziel wurde erreicht, und die Flut tötete 500.000 Chinesen. Wahrscheinlich das größte Kriegsverbrechen in der Geschichte, mit der Besonderheit, dass es von einer Armee gegen die eigene Bevölkerung verübt wurde. An dem Tag, an dem eine Regierung, egal welche, es für vernünftig hält, 500 Millionen Menschen zu töten, um eine Milliarde zu retten, wird sie es tun.
Die USA sollen über etwa 1.350 einsatzbereite Atomsprengköpfe verfügen (davon etwa 100 auf Stützpunkten in Deutschland, Italien, Belgien und den Niederlanden), während es auf russischer Seite 1.400 sind. Auf diesem Niveau der „Übervernichtung“ verliert die Kluft zwischen den jeweiligen Overkill-Kapazitäten ihre Bedeutung.
Wenn die Nation unvollständig ist
Was auch immer über eine Globalisierung gesagt wird, die Staaten und Grenzen unter der Herrschaft einer kosmopolitischen Finanzoligarchie und staatenübergreifender multinationaler Konzerne absorbiert hat, der Planet ist nicht deterritorialisiert. Sie ist nach wie vor in staatliche Einheiten gegliedert, die zwar nicht dem US-amerikanischen „Schmelztiegel“ gleichen, aber als Nationalstaaten recht gut funktionieren, andere nicht, und die Länder, die die Welt beherrschen, gehören zur ersten Gruppe. Die USA, China, Russland und Indien sind Nationalstaaten, und eine bislang nicht überwundene Schwäche der Europäischen Union ist, dass sie kein nationales Gebilde ist – ob föderal oder nicht.
Ein Staat ist eine politische Macht, die in der Lage ist, sich in einem von ihr kontrollierten Gebiet durchzusetzen. Das Besondere an einem Nationalstaat ist, dass er „Komponenten, die nach Sprache, Herkunft oder Religion oft sehr unterschiedlich sind, durch die Möglichkeit einer selbstzentrierten kapitalistischen Entwicklung auf einem militärisch, aber auch steuerlich kontrollierten Territorium zusammenbringt. […] Die Nation setzt diese moderne Schöpfung voraus, das Individuum, ein von den Bindungen der Geburt befreites Wesen, das prinzipiell „frei“ ist, Bourgeois oder Proletarier zu werden, und sie entspricht der Notwendigkeit, diese Individuen zu einer neuen Gemeinschaft zu verbinden, wenn die vorherigen zerfallen sind. […] Über die Individuen hinaus vereint die Nation Klassen […] durch eine fließende Zirkulation von Kapital wie Arbeit, eine relative Angleichung zwischen den Produktivitätsniveaus der Regionen […] Ein Markt allein reicht nicht aus: Die Addition von Konsumenten macht noch keinen Zusammenhalt.“ (La Nation dans tout son état, 2019)
Da die Vereinigten Staaten nicht nur Rohstoffe exportierten oder ausländisches Kapital empfangen konnten, sondern auch über eine wettbewerbsfähige Industrie verfügten, waren sie in der Lage, die 1845-1848 von Mexiko eroberten Gebiete, die der Union sechs neue Staaten hinzufügten, zu integrieren. Die Fähigkeit, sich in das globale kapitalistische System einzugliedern, ermöglichte es, die gesamte Bevölkerung zu erfassen und ihr eine Zugehörigkeit zu den „Vereinigten Staaten von Amerika“ zu verleihen, die über die Kriterien der Sprache, der Geburt oder der Religion hinausging. Der spanischsprachige Mensch ist also nicht in erster Linie oder hauptsächlich „spanisch“ oder „lateinamerikanisch“, sondern er ist Amerikaner. Wir schreiben von der Gesamtheit der Bevölkerung, nicht von der Gesamtheit, und diese Gesamtheit selbst schwankte: „Nativismus“, der neuen Einwanderern gegenüber feindlich eingestellt war, Begrenzung der asiatischen Einwanderung, antijüdische Quoten an Eliteuniversitäten bis in die 1950er Jahre, und besser weiß als Afro-Amerikaner…. Trotz allem fördert der Kapitalismus eine (sehr relative) Gleichmacherei, auch an der Spitze (farbige Männer und Frauen wurden Außenminister, Armeechef oder Präsident der Vereinigten Staaten).
Wo eine solche sozioökonomische Vereinheitlichung des Landes und damit eine politische Befriedung nicht möglich oder nicht erreicht ist, ermutigen die Entwicklungsunterschiede zwischen den verschiedenen Regionen das politische Zentrum, sie zu ignorieren oder sogar zu diskriminieren, was zentrifugale Kräfte begünstigt, die dazu neigen, sich von einem Zentrum abzukoppeln, das selbst nicht in der Lage ist, sie zu kontrollieren.
Die Länder, die im 19. Jahrhundert aus Regionen entstanden, die nach und nach vom Osmanischen Reich abgetrennt wurden, lebten in ständiger Instabilität, insbesondere Griechenland und Serbien, wo 1903 die königliche Familie massakriert und durch eine neue Dynastie ersetzt wurde. Diese unvollständigen Nationen gerieten in das Spiel von Mächten, die stärker waren als sie selbst, allen voran Frankreich und England. Nicht ohne Bündnisumkehrungen, wobei Großbritannien befürchtete, dass die Unabhängigkeit neuer slawischer Staaten Russland stärken würde: Im Krimkrieg (1853-1856), damals wie heute eine strategisch wichtige Halbinsel für die russische Marine, verbündeten sich Frankreich und England mit der Türkei gegen Russland.
Im Orient und auf dem Balkan stellen „Minderheiten“ ein Problem dar. Engels schrieb am 22. Februar 1882 an Bernstein: „Die Serben sind in drei Religionen geteilt. […] Aber für diese Menschen zählt die Religion mehr als die Nationalität, und jede Konfession will dominieren. Daher wird ein Großserbien nur Bürgerkrieg bedeuten, solange es dort keinen kulturellen Fortschritt gibt, der wenigstens Toleranz möglich macht.“ Die österreichische Annexion von Bosnien und Herzegowina im Jahr 1909, in denen eine Million Serben lebten, schürte den Gegensatz zwischen Österreich-Ungarn und Serbien – eine explosive Situation, die 1914 den Funken überspringen ließ und bis zum Ende des 20.
Die Bewegung der „Nationalitäten“ in der Vergangenheit und die nationalen Befreiungskämpfe im 20. Jahrhundert waren eine historische Neuheit von globalem Ausmaß, aber die Schaffung eines nationalen Ganzen ist nur dort möglich, wo es eine relativ homogene und kohärente kapitalistische Entwicklung gibt: Andernfalls zählt „die Religion [oder ein anderes Identitätskriterium] mehr als die Nationalität“.
Die meisten neuen Staaten leiden nicht nur unter Uneinigkeit, sondern, wie Wilhelm II. 1913 den belgischen König zurechtwies, wenn es für ein kleines Land oft notwendig ist, sich auf eine Seite zu schlagen, ist das Spiel riskant.
In der Regel wird die Unabhängigkeit mithilfe einer Großmacht erlangt und häufig anschließend von einer anderen Macht, die mit der vorherigen rivalisiert, garantiert. 1948 profitierte der neu gegründete israelische Staat von tschechischen Waffen, die mit der Zustimmung der UdSSR geliefert wurden, die die englische Vorherrschaft in der Region schwächen wollte, und später wandte sich Israel an andere Unterstützer. Ebenso wurde Ägypten erst von der einen, dann von der anderen Seite bewaffnet. Mit dem Risiko einer Kehrtwende: Die Kurden wurden von den USA in ihrem Kampf gegen den Islamischen Staat unterstützt, aber was wird aus Rojava, wenn die Amerikaner der Türkei, der NATO-Säule in der Region, den Vorrang geben?
Der Schutz eines „kleinen“ Landes durch ein „großes“ Land ist nicht unbedingt ein Garant für Sicherheit. Im April 2008 kündigte die NATO an, sie sei bereit, Georgien und die Ukraine aufzunehmen: Im August griff Russland Georgien an. Die Unterscheidung zwischen Angreifer und Angegriffenem zeigt den Ort des Ausbruchs eines Konflikts an, nicht seine Ursache oder Logik.
„Es gibt so viele ökonomische, finanzielle, politische und militärische Aspekte, die die Innen- und Außenpolitik eines Staates bestimmen, dass dieser – insbesondere wenn er sich in einem geopolitischen Gebiet befindet, das für die innerimperialistischen Rivalitäten von großer Bedeutung ist, wie Osteuropa – gezwungen ist, seine ‚Unabhängigkeit‘ und damit sein Territorium, seine Ökonomie und seine Regierung an einen der imperialistischen Pole zu verkaufen, der seine nationalen Interessen am besten fördern oder ihn zumindest vor den Begehrlichkeiten der feindlichen Länder schützen kann.“ (Internationale Kommunistische Partei, 24. Februar 2022)
Was ist ein „Ukrainer“? Was ist ein „Russe“?
„Unsere Geschichte ist anders“, sagte ein Ukrainer, um zu erklären, warum man Lenin-Statuen niederreißt, während überall die Porträts von Stepan Bandera blühen. Der bolschewistische Anführer symbolisiere Diktatur und Fremdherrschaft. Umgekehrt verkörpert der nationalistische Militante, ungeachtet seiner Verantwortung für den Tod von Hunderttausenden Juden (und zahlreichen polnischen Zivilisten), das ukrainische Streben nach Freiheit. Er wurde 1909 geboren und repräsentiert vor allem die Wendungen und Kehrtwendungen, die jeder nationalen Bewegung innewohnen. Nach 1945 kollaborierte er mit dem deutschen und britischen Geheimdienst, der bis 1955 regierungsfeindliche Maquis (A.d.Ü.) in der Ukraine unterhielt. 1959 starb Bandera, vermutlich vom KGB ermordet: Zunächst war er Anhänger eines ethnischen Nationalismus, doch am Ende wurde er Anhänger einer gewissen Sozialdemokratie. Ideologie der Umstände, Suche nach unvereinbaren Verbündeten… der Nationalismus nutzt die Unterstützung, die er findet, und wechselt sie, manchmal mit Erfolg, möglicherweise auf seine Kosten.
Die Ukraine in ihrer heutigen Form ist nicht die einzige neuere staatliche Realität in der Region: Vor 1914 glaubten nur wenige, dass es ein belarussisches Volk gab, das die Gründung eines unabhängigen Staates rechtfertigte, und in Wilna, der Hauptstadt des heutigen Litauens, sprachen nur wenige Prozent der Einwohner Litauisch. Transkarpatien, das ehemals österreichische Galizien im Westen, die Krim im Süden… die Bestandteile der Ukraine haben sich im Laufe des 20. Jahrhunderts verändert, ebenso wie die Grenzen des heutigen Russlands, der Ukraine, Polens, Belarus und Litauens sich seit 1917 ständig verschoben haben.
Die Länder, die aus dem russischen und dem osmanischen Reich hervorgegangen sind, leiden nicht nur unter oft in Frage gestellten Außengrenzen, sondern auch, wenn nicht sogar noch mehr, unter dem, was man als innere Trennung bezeichnen könnte.
Die kapitalistische Produktionsweise sammelt und vereint Bevölkerungen dort, wo das Lohnverhältnis, eine Zirkulation von Arbeit wie Kapital und eine endogene Entwicklung dies ermöglichen. In Ländern wie Frankreich, Großbritannien oder den USA existieren verschiedene Sprachen und Religionen nebeneinander, aber eine Sprache dominiert, manchmal auch zwei (Französisch und Deutsch in der Schweiz). Spanisch ist die Muttersprache von 40 Millionen der 330 Millionen US-Amerikaner, und sie bekennen sich zu einer katholischen Religion in einem mehrheitlich protestantischen Land, ohne dass dadurch ein „Ethno-Konfessionalismus“ entsteht, ohne dass dadurch eine Gesellschaft gespalten wird, die gekennzeichnet ist durch „die höchste Mobilität der Arbeiter, […] und eine unaufhörliche Wanderung von einem Industriezweig zum anderen […] eine fortwährende Schaffung neuer Arbeitsweisen […] kurz eine wachsende Arbeitsteilung in der ganzen Gesellschaft.“ (Marx, Ein unveröffentlichtes Kapitel aus dem Kapital, 1867)
Da diese Voraussetzungen fehlten, litten die nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen europäischen Staaten in der Zwischenkriegszeit (und leiden trotz des Bevölkerungstransfers immer noch) unter einem „Nationalitätenproblem“ von Minderheiten.
Wir wollen hier nicht die Episoden nach 1918 zusammenfassen, in denen sich Bolschewiki, weißen Russen1, Polen und verschiedene Parteien und Regionen in der heutigen Ukraine unter dem Einfluss der Sieger von 14-18, insbesondere Frankreich, gegenüberstanden. 1920 marschierte Polen mit der Unterstützung eines Teils der lokalen Bevölkerung in ukrainisches Gebiet ein, in der Hoffnung, dort ein Pufferland zu schaffen, das es vor Russland schützen würde. Es scheiterte, annektierte jedoch die westlichen Regionen des Landes sowie Teile Litauens und Belarus.
1945 wurde die polnische Grenze weiter nach Westen verschoben, was zur Vertreibung von Millionen Menschen führte: Zwangsumsiedlung von „Deutschen“ nach Deutschland und von Polen, die in der Ukraine, Belarus oder Litauen wohnten, in ein Polen, dem gerade Ostpreußen, Pommern und Schlesien zugesprochen worden war. Eines der Ziele war die Bildung von Staaten mit einer homogenen Bevölkerung: „Alle Länder werden auf nationalen und nicht auf multinationalen Prinzipien aufgebaut“, erklärte Gomulka, der Anführer des neuen Polens, im Mai 1945.
Die an die UdSSR angeschlossene Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik lieferte zwar ein Drittel der Industrieproduktion der Union, doch ihre Ökonomie war für eine selbstbestimmte Entwicklung, die den sozialen und politischen Zusammenhalt des Landes förderte, nach wie vor zu stark von Russland abhängig. Nach dem Ende der UdSSR beherrscht die Mehrheit der ukrainischen Staatsbürger die russische Sprache gut und Millionen von ihnen arbeiten und wohnen in Russland. Aber wenn sich im Donbass einige Millionen Menschen als „Russen“ bezeichnen – im Gegensatz zu denen in Kiew – und wenn Russland einen separatistischen „Ethno-Nationalismus“ manipulieren konnte, dann liegt das daran, dass diese Region und ihre Bevölkerung nur sehr unvollständig in den Rest der Ukraine integriert wurden.
Die nationale Unvollständigkeit spiegelt sich auch im politischen Leben wider. Die berühmten russischen „Oligarchen“ haben ihre Entsprechungen in der Ukraine. Eine „Gasprinzessin“ (Julia Tymoschenko) war dort Premierministerin und ein „Schokoladenkönig“ (Petro Poroschenko) Präsident der Republik. Der ukrainische Parlamentarismus ist weit von westeuropäischen Praktiken entfernt. Obwohl die Ukraine über eine bedeutende Rüstungsindustrie und eine exportorientierte Landwirtschaft verfügt, streiten sich Monopole, manchmal verstärkt durch Medienimperien, um die ökonomisch-politische Macht und teilen sie untereinander auf, und es kam vor, dass der Staat einen Oligarchen direkt zum Gouverneur einer Region ernannte. Die Orange Revolution von 2004 hat dem kein Ende gesetzt, ebenso wenig wie der Maidan im Jahr 2014.
Vor zwanzig Jahren schrieb Emmanuel Todd: „Obwohl die Ukraine über die Fähigkeiten verfügt, sich kulturell von Russland zu unterscheiden, fehlt ihr eine Eigendynamik. Sie könnte Russland nur entkommen, indem sie sich in den Orbit einer anderen Macht begibt. Doch Amerika ist zu weit entfernt und Europa ist keine militärische und politische Macht. Selbst wenn Europa eine solche wäre, hätte es kein Interesse daran, die Ukraine zum Satelliten zu machen. Der Fall der Ukraine offenbart die konkrete Nichtexistenz der USA im Herzen Eurasiens. Ihre ökonomischen Verbindungen mit der Ukraine sind schwach. Die einzige echte Verbindung besteht darin, durch die ideologische und politische Rolle des IWF die Illusion von Finanzmacht zu vermitteln. Der Handel zeigt die Abhängigkeit der Ukraine von Russland und Europa. Da die Vereinigten Staaten nicht mehr Geber des „Marshall-Plans“ sind und der Ukraine nichts zu verkaufen haben, können sie bei der Rettung des Landes keine Rolle spielen.“
Um ihre Unabhängigkeit zu erlangen, hatte sich die ukrainische Nationalbewegung nach 14-18 nacheinander auf Deutschland, die Entente, d. h. die Sieger des Krieges, und 1920 auf Polen gestützt. Ein Jahrhundert später: „Die Ukraine hat lange Zeit die Widersprüche zwischen Russland und dem Westen ausgenutzt, aber das hat sich letztlich als gefährliches Spiel erwiesen. Die Ukraine bedeutete Russland mehr als jedes andere Land.“ (Richard Sawka)
2014 hatte Russland versucht, die Ukraine zu seinem Vorteil zu föderalisieren: aber die Annexion der Krim „hat es nicht geschafft, die Unterstützung der ethnischen Russen außerhalb des direkt von der russischen Armee kontrollierten Gebiets zu mobilisieren.“ (Id.) Im Jahr 2022 hoffte der Kreml, diesen Misserfolg wieder gut zu machen, indem er seine Ambitionen über den Donbass hinaus ausweitete: Der Fehler bestand darin, den nationalen Faktor – beim Gegner – unterschätzt zu haben.
Die Volksrepubliken Lugansk und Donezk kamen zu den Kleinststaaten hinzu, die unter dem bewaffneten Druck Russlands entstanden waren: Transnistrien, das von Moldawien abgetrennt wurde, Abchasien und Südossetien, die Georgien weggenommen wurden.
Im ehemaligen Jugoslawien schuf Belgrad abtrünnige Einheiten: in Kroatien die Serbische Republika Krajina (die heute nicht mehr existiert) und in Bosnien und Herzegowina die Republika Srpska, die heute Teil des Landes ist, in der der Separatismus jedoch weiterhin stark ausgeprägt ist. Das Kosovo, das 2008 dank der NATO unabhängig wurde, wird bis heute weder von den Vereinten Nationen noch von der Europäischen Union als Staat anerkannt.
Während diese „Marionettenstaaten“ ihre Existenz dem Krieg verdanken, versuchen andere unter dem Druck einer ökonomischen und sozialen Dynamik, die ihnen eine Autonomiefähigkeit verleiht, die zur Abspaltung drängt, zu entstehen: Katalonien, Schottland, Flandern und Padanien (wobei nur die ersten beiden eine gewisse Aussicht auf Erfolg haben). Die unerhörte globale sozialisierende Kraft des Kapitalismus ist auch eine zersetzende Kraft, die Bevölkerungsgruppen zusammensetzt, zerschlägt und neu formt.
Der Krieg in der Ukraine wird wahrscheinlich mit einem Kompromiss enden, der dem Donbass (vielleicht erweitert um einen Streifen entlang des Schwarzen Meeres) ein mehr oder weniger hohes Maß an Autonomie oder sogar Unabhängigkeit zugesteht. Was die ukrainische „Union sacrée“ betrifft, so wird es ihr gelungen sein, die Bevölkerung, einschließlich der „Russischsprachigen“, mit Ausnahme des Südostens zu „ukrainisieren“, was die geringe Lebensfähigkeit einer ukrainischen Nation, wie sie in ihren 1945 gezogenen und 1991 bestätigten Grenzen existierte, beweist.
1914 und 2022
In den Jahrzehnten vor 1914 war Engels nicht der einzige, der die Möglichkeit eines europäischen Krieges in Betracht zog, in dem „unsere Partei in Deutschland sofort von der Flut des Chauvinismus überschwemmt und vernichtet werden würde; ganz dasselbe würde mit Frankreich geschehen“. (Brief an Bebel, 22. Dezember 1882) Dieser Konflikt, „von bisher nicht vorstellbarer Größe und Gewalt“, in dem Millionen von Menschen kämpfen werden, wird zum Fall von Imperien führen, „zur allgemeinen Erschöpfung und zur Schaffung der Bedingungen für den Endsieg der Arbeiterklasse. […] Der Krieg wird uns vielleicht vorübergehend zurückwerfen, er kann uns manche bereits eroberte Position wieder nehmen. Aber […] welche Wendung die Dinge auch immer nehmen mögen, am Ende der Tragödie […] wird der Sieg des Proletariats bereits errungen oder zumindest unvermeidlich sein.“ (Einleitung zu einer Broschüre von Sigismund Borkheim, 1888). „Trotz eines Wiederauflebens des Chauvinismus in allen Ländern“ und einer Reaktionsperiode, die auf der Verhungerung aller ausgebluteten Völker beruht“ (Brief an Paul Lafargue, 25. März 1889), würde der Kapitalismus also so erschüttert werden, dass seine Verewigung unmöglich wird.
Angesichts des Militarismus blieb die Arbeiter- und Sozialistenbewegung nicht untätig. Da sie in den Betrieben und auf der Straße (und im Parlament…) agierte, versuchte sie, innerhalb der militärischen Institution zu intervenieren: Die CGT schickte ihren wehrpflichtigen Gewerkschafts- Syndikatsmitgliedern einen kleinen Betrag (die „Sou du soldat“), um ihre Verbindung zur Arbeiterklasse aufrechtzuerhalten. Aber Parteien und Gewerkschaften/Syndikate sahen keine anderen Maßnahmen vor als einen „Kampf für den Frieden“, der den Krieg unmöglich machen sollte: Es gab keine Vorkehrungen für den – vermeintlich unwahrscheinlichen – Fall, dass es doch zu einem Krieg kommen würde. Ob man nun daran glaubte oder nicht, die Drohung mit einem Generalstreik (friedlich für die Gemäßigten, aufständisch/insurrektionalistisch für die Radikalen) war ebenso wenig real wie die erklärte Absicht, eine Revolution zu machen … irgendwann.
Daher gab es in den meisten zukünftigen Kriegsparteien in dem Monat zwischen der Ermordung von Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajevo und der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien zahlreiche Massendemonstrationen gegen den drohenden Krieg: ihr Ziel war es jedoch, Druck auf die bourgeoisen Regierungen auszuüben, und nicht, selbst als Proletariat zu handeln. Das war logisch: Die überwiegende Mehrheit der Sozialisten und Gewerkschafter/Syndikalisten (und ein Teil der Anarchisten) verhielt sich als Gegner und Partner der Arbeiter in einer bourgeoisen Welt. Wenn man de facto (egal, was man darüber denkt und sagt) das Wesentliche einer Gesellschaft akzeptiert, bereitet man sich darauf vor, auch die wichtigsten Entscheidungen zu akzeptieren, die von ihren Anführern getroffen werden – vor allem den Krieg. Im Sommer 1914 verriet die Zweite Internationale vielleicht ihre Ideologie, nicht aber ihre Praxis.
Angesichts dessen, was das Proletariat nicht verhindern konnte oder wollte, muss für Lenin jeder Revolutionär die Niederlage seines eigenen Landes herbeiwünschen und im Rahmen des Möglichen dazu beitragen. In Russland wäre aus der Sicht der Arbeiterklasse und der werktätigen Massen das „kleinere Übel“ die Niederlage der Zarenmonarchie. Lenin hält kommende Revolten in der Armee wie 1905 für möglich. Ist das unrealistisch? Nein, wenn man die kapitalistische Welt als in einer schweren Krise befindlich einschätzt, einer Krise, die vorübergehend durch die Union Sacrée überwunden wurde, aber unweigerlich wieder auftauchen wird, verschärft durch die Fortsetzung des Krieges. Von der üblichen Sicht eines Kapitalismus als Kriegstreiber ging Lenin zu der eines Kapitalismus als Ursache des Krieges und damit der Revolution über.
Sobald der Krieg begonnen hatte, konnte anfangs nur eine kleine Minderheit handeln, die sich auf die von Liebknecht ausgedrückte Überzeugung stützte, dass für jeden der Feind im eigenen Land stehe. Denn damit ein „revolutionärer Defätismus“ zu einer materiellen Kraft werden konnte, musste der Stillstand der Kämpfe die militärischen und patriotischen Energien verschleißen, wie Engels die Möglichkeit dazu vorausgesehen hatte: „Es ist eine offenkundige Tatsache, dass die Desorganisation der Armeen und eine völlige Lockerung der Disziplin sowohl die Vorbedingung als auch die Folge aller bisherigen erfolgreichen Revolutionen gewesen sind.“ (Brief an Marx, 26. September 1851) „Das Beste wäre eine russische Revolution, mit der jedoch erst nach mehreren schweren Niederlagen der russischen Armee zu rechnen ist.“ (Brief an Bebel, 13. September 1886) Die bolschewistische Strategie ergab nur Sinn auf der Grundlage der begründeten Gewissheit, „dass der Krieg in Europa eine revolutionäre Situation schafft“ (Lenin, 1915): Er rief zu einer (von Rosa Luxemburg damals für verfrüht gehaltenen) Spaltung einer breiten politischen Bewegung auf, die zwar versagt hatte, deren „gesunde“ Teile sich aber trennen sollten, um revolutionäre Parteien (wieder) zu gründen, die die allgemeine Krise infolge des Krieges nutzen würden, um den Kapitalismus niederzuwerfen.
Die Situation ist ein Jahrhundert später nicht mehr dieselbe, insbesondere durch das Fehlen der substanziellen radikalen Minderheiten, an die sich Lenin wandte. Und die Opposition gegen imperialistische Kriege (z. B. den Krieg gegen den Irak 2003) ist entweder einfach pazifistisch oder unfähig, die Situation zu beeinflussen.
„Die Aufrufe zur Desertion, zum Defätismus und zur Sabotage des Krieges auf beiden Seiten, die in diesen Tagen aus vielen Kreisen kommen, sind aus Klassensicht sicherlich die einzig gangbare Position. Sie sind daher lobens- und teilenswert – und sicher viel würdiger als der einseitige Antiimperialismus derjenigen, die sich jedes Mal verpflichtet fühlen, einen „schwächeren“ Imperialismus zu unterstützen. Dies zumindest im Prinzip. Aber solche Appelle laufen Gefahr, inhaltlich, wenn nicht „ideologisch“, so doch zumindest völlig unfruchtbar zu sein“. (Lato Cattivo, 2. März 2022)
Revolutionärer Defätismus?
„Was nützt ein internationalistisches Prinzip, wenn das eigene Dorf von einem russischen Panzer beschossen wird? Wie weit müssen ukrainische Arbeiter gehen, um sich einfach gegen eine militärische Aggression zu verteidigen? War es möglich, denjenigen, die sich im Warschauer Ghetto, in Srebrenica oder zum Zeitpunkt eines Angriffs von Daesh befanden, zu sagen, dass sie nicht zu den Waffen greifen sollen, weil sie ihnen von Nationalisten geliefert werden könnten oder weil ihr Widerstand sich an den Interessen einer der imperialistischen Großmächte orientiert?“, fragte ein Teilnehmer einer von Angry Workers organisierten Diskussion am 12. März 2022, worauf dieser antwortete: „Ich glaube nicht, dass das möglich ist.“
(Übrigens ist es missbräuchlich, die Ukrainer, die gezwungen waren, Wege zu finden, sich vor der Invasion zu schützen, mit den Aufständischen im Warschauer Ghetto von 1943 zu vergleichen. Mit dem Rücken zur Wand, praktisch ohne Unterstützung von außen und dem sicheren Tod geweiht, zogen es die Juden im Ghetto vor, mit der Waffe in der Hand zu sterben. Die Ukrainer des Jahres 2022 haben glücklicherweise mehr als eine einzige Option).
Wenn die Frage legitim ist, stellte sie sich im Sommer 14 unter deutschem Kanonenfeuer genauso den Bewohnern belgischer Dörfer, wo die Invasoren Tausende Zivilisten erschossen und Millionen Menschen zwangen, in die nicht besetzten Regionen Frankreichs zu flüchten.
Anstelle der Ukrainer darauf zu antworten, wäre unmöglich und hätte im Übrigen fast keine praktischen Konsequenzen. Für die Notlagen der Welt haben wir keine unmittelbaren Lösungen, und die kommunistischen Minderheiten haben nicht die Fähigkeit, mehr zu tun, als die Proletarier selbst in den Situationen und Ländern, in denen sie sich befinden, tun können.
Gegenüber dem russischen Aggressor hat sich ein kollektiver Widerstand entwickelt, eine gegenseitige Hilfe auf Dorf- und Nachbarschaftsebene, mit basisdemokratischen Aspekten, die Freiwilligenbataillone, militärische und krankenpflegerische Ausbildungszentren schaffen, Flüchtlinge aufnehmen, manchmal die offiziellen Hierarchien umgehen, auch mit Tauschhandel (Tausch eines Waffenlagers gegen ein Fahrzeug), ohne Unterbrechung zwischen einer „zivilen“ materiellen Solidarität und der „bewaffneten“ Selbstverteidigung der eigenen Stadt und des eigenen Lebens.
Eine unter „radikalen“ Kreisen verbreitete Position besteht darin, eine Form des revolutionären Defätismus zu befürworten und zu praktizieren, allerdings nur auf einer der beiden Seiten, in Russland, um seine Kriegsanstrengungen zu schwächen, während man innerhalb der Ukraine einen vermeintlich autonomen Widerstand unterstützt oder sich ihm anschließt und versucht, ihn nach Möglichkeit auszuweiten.
Diese vielgestaltige Reaktion läuft parallel zu den militärischen Aktionen des Staates, sie ergänzt sie und nur sehr wenige ihrer Teilnehmer haben das Ziel, sie zu ersetzen. Die Hoffnung, dass sich in der Ukraine durch die Selbstorganisation des Widerstands eine direkte Demokratie ausbreitet, stützt sich auf keine konkreten Fakten. Da die Situation so ist, wie sie ist, ist es unmöglich, die Bevölkerung mit Waffengewalt zu schützen, ohne sich auf den Staat zu stützen und ihm im Gegenzug, ob man will oder nicht, Unterstützung zukommen zu lassen. Es gibt kein ukrainisches Volk, das neben dem Staat kämpft, ohne von ihm beherrscht oder betreut zu werden. In diesem Zusammenhang ist der Verweis auf den Spanischen Krieg besonders unglücklich: Im Sommer 36 wurden diejenigen Anarchisten, die die Aufrechterhaltung einer bourgeoisen Regierung unter dem Vorwand akzeptierten, dass sie nicht die wahre Macht habe, die in den Händen der populären Massen gelegen hätte, die den Anti-Franco-Krieg durch ihre autonomen Organisationen führten, weniger als ein Jahr später auf grausame Weise widerlegt. Mai 37 zeigte, wer die Macht innehatte: Die Republik unterdrückte die Radikaleren, brachte die Arbeitermilizen in die Schranken, verwandelte die Aufstandsbewegung endgültig in einen Frontkrieg und gewann das Spiel gegen die Proletarier, bevor sie es gegen Franco verlor.
1914 war es nicht chauvinistische Kriegstreiberei, dass fast alle sozialistischen Parteien die nationale Union akzeptierten, sondern im Namen des Interesses des Volkes (und des Proletariats), also seines Rechts, sich gegen den Eindringling zu verteidigen. Im Jahr 2022 geben einige zwar zu, dass sich in der Ukraine zwei Imperialismen gegenüberstehen, empfehlen aber, die eine Seite (weil demokratisch und angegriffen) gegen die andere (diktatorisch und angreifend) zu unterstützen. Die Geschichte stottert.
Wir sind weder pazifistisch noch gewaltfrei: Die revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft erfordert den Einsatz von Waffen. Aber ein bewaffneter Kampf, selbst wenn er selbstorganisiert ist, reicht nicht aus, um die Fundamente einer Gesellschaft zu erschüttern. Aus sich selbst heraus wird eine Partisanenbewegung, selbst wenn sie zahlenmäßig groß ist, zur Niederlage des Feindes beitragen, ohne dadurch eine Revolution einzuleiten. Es ist nicht überraschend, dass für einige unserer ukrainischen Gefährten der Abzug der Invasoren eine Priorität ist, aber wenn sie sich davon eine tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzung erhoffen, ist es zweifelhaft, ob der nationale Zusammenschluss dafür förderlich ist: da „das Volk“ alle Ukrainer aller Klassen umfasst (und nur gegebenenfalls die Kollaborateure des Feindes ausschließt), wird die Nachkriegszeit nicht gegen die Interessen der Besitzenden gerichtet sein. Bestenfalls wird es zu einigen Reformen kommen, aber sicherlich nicht zu einer breiten direkten Demokratie oder zu Strukturveränderungen.
Etwas anderes wäre die Entstehung von Gruppen, die den Widerstand gegen eine Situation der „Doppelmacht“ anführen, was dazu führen würde, dass man sich nicht nur mit der russischen Armee auseinandersetzen müsste (die ihrerseits von innen durch Misserfolge geschwächt und sogar durch Meutereien unterminiert ist), sondern auch mit der Armee eines ukrainischen Staates, der ebenfalls von innen heraus umstritten ist. So weit sind wir noch nicht. In der Ukraine gibt es nicht drei Kräfte: die russischen Invasoren, die offizielle Armee und darüber hinaus einen autonomen populären Widerstand, der sich ausbreiten kann. Im Übrigen hätte dieser, sofern er sich weder von den regulären Truppen noch von der Territorialverteidigung einspannen ließe, keinen Zugang zu den Waffen, die über das Schicksal der Kämpfe entscheiden (z. B. Panzerabwehrraketen), oder zu einer Logistik, die unverzichtbar geworden ist (Munition, Treibstoff, Nahrungsmittel, Evakuierung von Verwundeten usw.), und würde nur eine Hilfsrolle spielen. 1944 trugen die Résistance und der Maquis zur Niederlage der Deutschen bei, doch Frankreich wurde von den alliierten Armeen befreit.
Wie jede schwere Krise bringt ein Krieg die Fundamente einer Gesellschaft in Bewegung, aber er vertieft Brüche ebenso wie er Spaltungen verschärft, und alles kann aus ihm hervorgehen, wenn es scheinbar eine Lösung bietet: die bolschewistische Partei im Russland von 1917, die Faschisten in Italien 1922. Der Schock eines Krieges führt nicht ipso facto zu einer Antikriegsreaktion – und diese kann die gegensätzlichsten Formen annehmen, revolutionäre, konservative oder reaktionäre. Vor genau hundert Jahren behauptete Lenin, der in Sachen revolutionärer Defätismus aus Erfahrung sprach, dass „die nationale Frage“ dazu bestimmt sei, „unausweichlich von der Arbeiterklasse zugunsten ihrer Bourgeoisie entschieden zu werden.“ Das vergangene Jahrhundert hat ihm eher Recht gegeben.
Gerade im angreifenden Land hatte Liebknechts Formel eine praktische Bedeutung. Nach 1918 unterbrachen Hafenarbeiter in verschiedenen europäischen Ländern Waffenlieferungen an die weißen Russen2. In kleinerem Maßstab fiel 2003 während des Krieges gegen den Irak in Großbritannien eine Mobilisierung zur Blockade von Militärstützpunkten mit der Weigerung von Bahnarbeitern zusammen, Material für die Armee zu transportieren. Im Jahr 2022 zerstörten russische Anarchisten Rekrutierungszentren der Armee, sabotierten weißrussische Eisenbahner Eisenbahnstrecken, die russische Truppen und Material in die Ukraine beförderten, und wehrten sich amerikanische, schwedische und britische Hafenarbeiter gegen die Entladung russischer Schiffe. Wenn sich diese Bewegungen fortsetzen könnten und in Russland und unter den Invasionstruppen die Ablehnung eines unpopulären Krieges wächst, weil das Feld zertrampelt wird und zu viele „Zinksärge“ zurückkehren, dann werden Überläufer, Meutereien und sogar Verbrüderungen möglich. Zu diesem Zeitpunkt (Juni 2022) ist dies (noch?) nicht der Fall.
1940 schrieb Otto Rühle: „Die Frage, mit der wir heute konfrontiert sind, ist, ob Liebknechts Losung: „Der Hauptfeind steht im eigenen Land!“ für den Klassenkampf heute noch genauso gültig ist wie 1915.“ Darauf antwortete er: „Ganz gleich, auf welcher Seite sich das Proletariat stellt, es wird zu den Besiegten gehören. Deshalb darf es sich weder auf die Seite der Demokratien noch auf die der Totalitären stellen.“.
G.D., Juni 2022
* * *
Lektüre/Lesestoff:
Für eine genaue Analyse des Ausbruchs und des Verlaufs des Krieges: Tristan Leoni, Adieu la vie, adieu l’amour… Ukraine, guerre et auto-organisation: https://ddt21.noblogs.org/?p=3424
Und die Version auf Englisch: Farewell to Life, Farewell to Love… Ukraine, War and Self-Organisation: https://ddt21.noblogs.org/?page_id=3460
Sowie die auf Deutsch: Lebewohl zum Leben, Lebewohl zur Liebe… Ukraine, Krieg und Selbstorganisation: https://panopticon.noblogs.org/post/2022/05/26/frankreich-lebewohl-zum-leben-lebewohl-zur-liebe-ukraine-krieg-und-selbstorganisation/
L’Appel du vide, 2003: https://troploin.fr/node/18
Demain, orage. Essai sur une crise qui vient, 2007: https://troploin.fr/node/26
La Nation dans tout son état, 2019:
https://ddt21.noblogs.org/?page_id=2158
https://ddt21.noblogs.org/?page_id=2176
Tristan Leoni, Manu militari, nouvelle édition augmentée, Le Monde à l’envers, 2020.
Lettres d’Ukraine, 1, 18 mars 2022: http://dndf.org/?p=20012#more-20012
Hier auf Deutsch: Ukraine-Korrespondenzen: Teil I und II
Jean-Numa Ducange, Quand la Gauche pensait la Nation: Nationalités et socialismes à la Belle-Époque, Fayard, 2022.
Über die Internationalisten des 3. Lagers, 1940-1952 („Gruppen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie jegliche Unterstützung für irgendein imperialistisches Lager ablehnen“):
https://archivesautonomies.org/spip.php?rubrique367
Lato Cattivo, Du moins, si l’on veut être matérialiste, 2 mars 2022 :
Texte der Internationalen Kommunistischen Partei: https://pcint.org/
Fragments of a debate amongst AngryWorkers on the war in Ukraine, 12 mars 2022:
https://libcom.org/article/fragments-debate-amongst-angryworkers-war-ukraine
Hier auf Deutsch: Fragmente zum Krieg
Zur 1. und 2. Internationale angesichts des Krieges 1870 und 1914 siehe die Anhänge I und II von 10 + 1 questions sur la guerre du Kosovo, (1999- 2010): https://troploin.fr/node/31
Liebknecht: L’ennemi principal est dans notre propre pays(mai 1915):
https://www.marxists.org/francais/liebknec/1915/liebknecht_19150500.htm
Hier auf Deutsch, Karl Liebknecht: Karl Liebknecht, Der Hauptfeind steht im eigenen Land! (Mai 1915): https://www.marxists.org/deutsch/archiv/liebknechtk/1915/05/feind.htm
Engels, Introduction à la brochure de Sigismund Borkheim, 1887:
https://www.marxists.org/francais/engels/works/1887/12/borkheim.htm
Friedrich Engels, Einleitung zu Sigismund Borkheims Broschüre, 1887:
http://www.mlwerke.de/me/me21/me21_346.htm
George Haupt, L’Historien & le mouvement social, Maspéro, 1980. Chapitres 6 et 7.
Rosa Luxemburg, La Crise de la social-démocratie (Junius brochure), 1915, chapitre 8 :
https://www.marxists.org/francais/luxembur/junius/rljhf.html
Rosa Luxemburg, Die Krise der Sozialdemokratie, [Die „Junius“-Broschüre], (1916):
https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1916/junius/index.htm
Lénine, À propos de la brochure de Junius, Juillet 1916:
https://www.marxists.org/francais/lenin/works/1916/07/vil191607001.htm
Wladimir Iljitsch Lenin, Über die „Junius“-Broschüre, (Juli 1916):
https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1916/10/16-juniu.htm
Timothy Snyder, The Reconstruction of Nations. Poland, Ukraine, Lithuania, Belarus 1569-1999, Yale UP, 2003.
Serhic Plockty, The Gates of Europe. A History of Ukraine, Basic Books, 2015.
Norman Davies, White Eagle, Red Star: The Polish-Soviet War 1919-20, Pimlico, 2003.
Sur Bandera : Stephen Dorril, MI 6. Inside the Covert World of Her Majesty’s Secret Service, Simon & Schuster, 2002, chapitre 14.
Tim Judah, In Wartime. Stories from Ukraine, Penguin, 2015.
Richard Sakwa, Frontline Ukraine: Crisis in the Borderlands, Tauris, 2015.
Emmanuel Todd, Après l’empire, Gallimard, 2002.
Max Hastings, Catastrophe 1914: Europe Goes to War, W. Collins, 2014. Des origines de la guerre jusqu’en décembre 1914.
Über den Bruch der Dämme des Gelben Flusses im Jahr 1938: Rana Mitter, China’s War with Japan 1937-1945, Penguin, 2014, pp. 157-162. Über die Beziehungen zwischen der NATO, Russland und der Ukraine: Tariq Ali, «Before the War», London Review of Books, 24 mars 2022.
Über die militärische Strategie der Vereinigten Staaten: Jerry Broown, «Washington’s Crackpot Realism», New York Review of Books, 24 mars 2022.
Über die Möglichkeit eines nuklearen Krieges: Tom Stevenson, «A Tiny Sun», London Review of Books, 24 février 2022.
Otto Rühle, Which Side To Take ?, 1940:
https://www.marxists.org/archive/ruhle/1940/ruhle01.htm
Otto Rühle, Welche Seite ergreifen?:
https://panopticon.noblogs.org/post/2022/07/06/otto-ruhle-welche-seite-ergreifen/
1A.d.Ü., auf Deutsch ist die Rede der Weißen Armee, der Weißen Bewegung oder ganz schlicht die Weißen. Hierbei handelt es sich um eine nationalistische politisch-militärische Bewegung die während des sogenannten Bürgerkrieges in Russland (1919 – 1921) gegen die Bolschewiki und der Machnowtschina kämpfte.
2A.d.Ü., siehe Fußnote Nummer Eins.
Der Militante im 21. Jahrhundert
Die Situationisten machten aus der Verweigerung der Militanz eine grundlegende Banalität und diese Kritik wurde 1972 im Text „Die Militanz als höchstes Stadium der Entfremdung“1 zusammengefasst.
Für uns ist Militant keine Beleidigung für Leute, mit welchen wir nichts gemeinsam hätten (wie petit-bourgeois damals für viele Militante). Gewisse Gefährten können der Militanz verfallen: Da wir nicht die Perfektion suchen, sehen wir darin nicht zwingend ein Motiv, mit ihnen zu brechen.
In der situationistischen Kritik war die Militanz gleichbedeutend mit der Aufopferung seines Lebens für eine Sache, der Negation seiner persönlichen Wünsche und der Unterwerfung unter eine Doktrin. Und v.a. mit dem Glauben, die Veränderung der Welt durch immer mehr Interventionen, Sitzungen und Worten für möglich zu halten. Der Militante ist voluntaristisch und produktivistisch.
Wie hat sich der Militante vierzig Jahre später verändert? Mit welchen Konsequenzen für unsere Kritik der Militanz?
Von der Aufopferung zum Hedonismus
(Anm. d. Ü., das französische Wort militant kommt vom Wort militer) Militer, das ursprünglich Krieg führen bedeutet: Der Militante ist ein politischer Soldat, doch das Wort bekommt mit den Syndikaten und den Massenparteien, Zeitgenossen der Demokratie, seinen modernen Sinn.
Man engagiert sich als Militanter also wie man arbeitet, die Arbeit ist ein Kult im 19. und lange während dem 20. Jahrhundert: Die Arbeit hat einen heiligen Wert und die Anhänger der Situationistischen Internationalen waren nicht die ersten, welche die religiösen Aspekte der Militanz bemerkten.
Heutzutage ist die Arbeit in unserem Leben und in unseren Köpfen (auch in jenem des Arbeitslosen) dermassen verankert, dass sie keinen Kult mehr braucht. Im Westen wird die Aufopferung mittlerweile weniger gepriesen als der Hedonismus. Somit verändert sich der Militante. In der Politik ist die demonstrative Strenge nicht mehr in Mode und die Langeweile ist kein Beweis für Ernsthaftigkeit mehr. Kämpfen bedeutet, sich zu amüsieren, Partys zu feiern oder gar nur das zu tun. Für die temporären Kulturarbeiter ist die Organisation eines festlichen Picknicks beispielsweise eine „Aktion“, welche von der „Aktionskommission“ vorbereitet wird genau wie die Besetzung des Lokals der CFDT [gemässigtes christliches Syndikat].
Selbstverständlich lässt der geführte Klassenkampf wenig Raum für die Freude, aufopfernde Verhaltensweisen bleiben eine Möglichkeit für den syndikalistischen Militanten. Es verhält sich anders mit dem politischen Militanten, für welchen Handeln eine Entscheidung oder gar eine Freizeitaktivität ist: In den westlichen Demokratien strebt das zeitgenössische Individuum nach seinem eigenen Vergnügen und verweigert die Selbstnegation. Welcher Militante des NPA [Nouveau parti anticapitaliste – trotzkistisch] oder des PC [KP] opfert heutzutage sein persönliches Leben der Partei?
Missionar
Die religiöse Dimension ist noch lange nicht verschwunden: Es braucht eine Herrschaft des Bösen (König Geld zum Beispiel) damit die Befreiung geschehen kann.
Die Apokalypse (griechisch für Enthüllung oder Offenbarung) bedingt Satan, den „Prinzen der Welt“, d.h. immer mehr Unterdrückung im Kapitalismus.
Um das Monster niederzustrecken, ist es nicht mehr in Mode, Anführer werden zu wollen, wie damals die trotzkistischen Gruppen, welche gegründet wurden, um die zukünftigen Kader der Partei zu formen, obwohl der Militante also nicht mehr Chef werden will, glaubt er weiterhin, dass er mehr Bewusstsein hat als andere, betrachtet sich als unentbehrlich und gibt sich eine Mission. Er rekrutiert nicht mehr: Er informiert (siehe weiter unten zum Aktivismus und Cyberaktivismus).
Horizontalität
Weit jenseits der Kreise jener, welche man „Autonome“ nennt, bekennt sich heutzutage jeder linke oder linksradikale Militante mehr oder weniger zur Autonomie. Die Vorliebe unserer Zeitgenossen für die Freiheit ist daran wahrscheinlich nicht ganz unschuldig, doch der Niedergang der Vermittlungen und der Vermittler widerspiegelt v.a. eine Krise der Verwaltungsapparate der Verteidigung der Lohnarbeit – der sozialistischen Parteien und Syndikate. Die Bürokraten haben viel mehr Mühe als früher, ihre vermittelnde Rolle auszuüben. Diese Schwächung trägt zur Erschütterung des Glaubens an eine um die Arbeit strukturierte und von in Konflikt stehenden Klassen angetriebene Gesellschaft bei und er erlaubt es der Theorie der Herrschaft, sich auf Kosten der Klassenanalyse aufzudrängen: Es gebe keinen gesellschaftlichen Schwerpunkt mehr, nur eine Artikulation von Kräfteverhältnissen in allen Bereichen, die „Arbeitswelt“ ist nur einer davon.
Foucault und Bourdieu schrieben es unermüdlich: Alles sei heutzutage mit Dispositiven der Macht und der Kontrolle zu erklären.
Mit zwei Konsequenzen.
Erstens übt die Macht ihre Herrschaft durch eine Vielzahl an Praktiken aus, denn sie ist omnipräsent, scheinbar auch in uns selbst, die Kritik der Macht findet also an einer Gesamtheit von Orten (oder Identitäten) statt, wovon keiner (oder keine) die anderen bestimmt: Arbeit, Gender, Rasse, Kultur, Gesundheit, Umwelt usw., Schluss mit der vermeintlichen Hegemonie der Arbeiterklasse. Es ist nicht mehr prioritär, die Kämpfe von oben zu zentralisieren, sondern eher, auf ihr Niveau hinabzusteigen, durch einen distanzierten und in aufeinanderfolgende Mobilisierungen fragmentierten Militanz: Man unterstützt die Sans-Papiers, man denunziert das transatlantische Freihandelsabkommen, man demonstriert gegen den FN…
Danach, um „die Kämpfe miteinander zu verbinden“, drängt sich die Demokratie als Mittel zur Wiedervereinigung der getrennten Bereiche an: doch eine Basisdemokratie, direkt, heute lokal, übermorgen universell. Man zieht den Konsens der Abstimmung vor, gemäss der von den demokratischen Gesellschaften proklamierten Verweigerung der Gewalt: Medien, Polizei, Staat, Universität usw. müssen nicht mehr zerstört, sondern in Einklang gebracht werden.
In Tat und Wahrheit beschränkt sich die Horizontalität im allgemeinen auf die Demokratie der Strassenumfrage. Eine früher emblematische Organisation der Erneuerung, ATTAC, funktioniert ausgesprochen anti-demokratisch und die Regel des Konsenses widersteht schlecht einer grundsätzlichen Meinungsverschiedenheit.
Expertise
Der zeitgenössische Protest ist allgemeinen Theorien gegenüber skeptisch, doch er braucht seine Experten: Spezialisten der Wirtschaft, Geographie, Soziologie, Ökologie, Recht usw., und natürlich die unentbehrlichen professionellen Organisatoren (welche im nächsten Absatz diskutiert werden).
Die alte sozialistische Arbeiterbewegung, v.a. die stalinistische, wählte bevorzugt der Arbeiterklasse entstammende Anführer aus, welche den Klassenkampf wie ein intellektueller Arbeiter verkörperten und die Synthese der Vergangenheit und der Gegenwart des Proletariats und der Menschheit darstellten. Maurice Thorez war sowohl bezüglich Kultur als auch politischer Strategie eine Autorität. Heutzutage hat es keinen Platz mehr für ein totales, von der Klassenpartei getragenes Wissen: Der Experte ist nur in seinem Bereich Experte.
Der Verlust der Totalität ermöglicht unvermeidlich neue Spezialisten: Experten der Komplexität, der Pluralität, der Transversalität, der Kontextualisierung, der Verwaltung der Koexistenz konkurrierender Identitäten, sowohl verbündet als auch rivalisierend.
Eine der Hauptaufgaben dieser „guten“ Experten ist es, die „bösen“ zu widerlegen, jene des Staates oder des MEDEF [französischer Zusammenschluss der Bosse], welche als unehrlich, parteiisch oder unfähig beurteilt werden, doch auf beiden Seiten geht es darum, realistisch zu sein, mit Zahlen zu beweisen, dass ein anderes Budget, eine alternative Verwaltung oder ein besseres Abkommen bezüglich der Arbeitslosenversicherung möglich wäre.
Beruf: Radikaler
Als die sozialistische Arbeiterbewegung einer Gegengesellschaft ähnelte, unterhielt sie ihre eigenen Berufsaktivisten: Journalisten, Vorsitzende, Verwalter von Vereinen, Genossenschaften usw. Die parlamentarische Demokratie wird heutzutage durch eine gesellschaftliche Demokratie ergänzt, wo die öffentlichen oder para-öffentlichen Mächte und eine Unzahl von privaten Organismen eine integrative und Arbeitsplätze schaffende Rolle spielen: So verschiedene Länder wie Frankreich und die USA entwickeln Vereine, „das Soziale“, die NGOs und einen Schwarm von Vermittlern. Soziale Arbeit wird zu einer politischen Waffe und die Schule als auch die Unternehmung zu einem Interventionssektor: Referenten gehen dorthin, um den Sexismus, den Rassismus oder die Homophobie zu denunzieren, ohne sich bewusst zu sein, dass sie damit jene Orte stärken, wo sich das reproduziert, was sie als Vorurteile betrachten.
Eine soziale Demokratie will ihre Widersprüche verstehen, eine Armee von Forschern beschäftigt sich also mit Konflikten, Streiks, Ausschreitungen, radikalen Theorien, linken Gruppen…Es werden Diplomarbeiten über die Trotzkisten in der Moselle oder die Ausgeschlossenen der Situationistischen Internationalen geschrieben. Nichts ist neutral: Die Mathematik liefert den mit Algorithmen vertrauten Trader, die Ornithologie beteiligt sich an der Erschaffung zukünftiger Supersoldaten2. Das 19. Jahrhundert hat die Soziologie der Massen eingeführt, heute ist die Polizei Forschungspartner der Wissenschaft der Kontrolle der Massen.
Das Studium wird mit der Praxis kombiniert. Die technisch-soziale Expertise gibt Anlass für eine vielfältige Serie an Jobs, welche in England movement jobs genannt werden: der entlohnte „Organisator“ eines Syndikates, der professionelle Rassismus-Redner, welcher in den Schulen spricht, der von der EU bezahlte Anti-Diskriminierungs-Forscher, der im Unternehmen für die Konfliktlösung verantwortliche Soziologe, ein mit öffentlichen oder privaten Geldern finanziertes radikales Magazin oder Kolloquium, z.B. jenes von der Partei Die Linke abhängige der Rosa-Luxemburg-Stiftung usw. „Wenn das eigene politische Engagement mit dem Geld Verdienen verschwimmt, lässt sich nicht mehr erkennen, was die Leute selber denken – und was sie aus beruflichen Gründen vertreten.“3
Der damalige Berufsrevolutionär wurde von der Partei bezahlt: Heute wird er vom Staat oder einem privaten Organismus entlohnt oder subventioniert, eine inakzeptable Abmachung für den Militanten der 1970er Jahre. Die Ablehnung der Parteien ist grösser, jene des Staates kleiner geworden.
Der neue Geist der Militanz entspricht übrigens einem sehr verbreiteten Bild des zeitgenössischen Kapitalismus, welcher als in Einheiten dezentralisierter Netze funktioniere, wobei jede um ein Projekt organisiert ist und beinahe autonom funktioniert. Dieser Neokapitalismus mache einen neuen Typ der Aktion notwendig, welche gleich funktioniert: Jede Gruppe von Aktivisten handelt mit ihrem Ziel, horizontal, ohne Hierarchie, um sich erst danach mit anderen zu koordinieren. „Der Bürokrat wird durch den Manager ersetzt. Libertärer als ersterer besteht er auf der Autonomie und der individuellen Verantwortung. Doch er zwingt die Normen des Kapitals durch Effizienz, Rentabilität und Leistung auf.“4 Die Abwesenheit von Hierarchie zwischen den Gruppen verunmöglicht nicht eine Hierarchie innerhalb jeder davon, auch wenn sie informell sind.
Aktivität, Aktivismus und Militanz…
Die Teilnahme an einer kleinen oder grossen sozialen Bewegung, 15 Stunden täglich während mehrerer Wochen, bedeutet die Erfahrung einer intensiven Aktivität. Der Aktivist glaubt, dass es unvermeidlich und möglich ist, permanent subversiv zu handeln. Die Theorie hat übrigens auch ihre Aktivisten, für welche ihre Schriften eine notwendige Bedingung der Revolution sind.
Obwohl er selten sagt, er sei militant und opfert sein Leben nicht für die Politik, hat der zeitgenössische Aktivist das Ideal, bei allen Handlungen, allen Demos, allen Besetzungen dabei zu sein, um sich jedes Mal an die Permanenz des Klassenkampfes und an das Erfordernis der Revolution zu erinnern. Doch um jeden Preis handeln zu wollen, führt dazu, dass man dort interveniert, wo man überhaupt nichts mit dem angestrebten Ziel gemeinsam hat, und sich somit ausserhalb des Kampfes befindet, an welchem man teilnehmen will. Es müssen also Notlösungen gefunden werden, um trotzdem daran teilzunehmen.
Wenn man unbedingt zu einer tauben Welt sprechen will, schreit man letztendlich, um gehört zu werden, erfindet etwas dazu, setzt auf den Willen und interpretiert jede Situation als Notfall: Die Aktion löst sich von der Realität ab, obwohl sie sich vorstellt, mittendrin zu sein. Es ist diese Trennung, welche die Militanz charakterisiert (und nicht aufopfernde Verhaltensweisen, welche nur Beiwerk sind). Mit folgenden Effekten: Routine, Zwang, Spezialisierung, sogar Hierarchie – die Politik ähnelt immer mehr einer Arbeit.
Natürlich existieren Abstufungen, eine Grauzone, wo die Versessenheit, zu handeln, in den „militanten“ Aktivismus abgleitet, ohne es zu sein.
Die Schwächen der Bewegung werden ihr von der Situation auferlegt. Unsere Absicht ist es nicht, eine klare Grenze zwischen dem beschränkten Militanten und dem authentischen Revolutionär zu ziehen. Ist es Militanz, wenn eine Gruppe von kämpfenden Arbeitslosen einen wöchentlichen Stand vor der Familienkasse hält und zur Lösung von administrativen Problemen beiträgt? Was ist mit den Genossen, welche eine Bibliothek aufbauen, um dem Quartier eine neue Dynamik zu geben und gegenwärtige und künftige Solidarität zu begünstigen? Alles hängt von der Entwicklung dieses Kampfes und des Quartiers ab.
Cyberaktivismus
Eine Gemeinsamkeit des radikalen Milieus ist der Glaube, dass die Proletarier weltweit immer schlechter leben, obwohl sie immer mehr kämpfen: Wenn „die Revolution“ nicht kommt, was fehlt? Für viele sind es die Verbindungen: Es geht also darum, dazu beizutragen. Nicht, indem man den Kern einer künftigen Partei erschafft, sondern schlicht indem man die Organisation begünstigt und allen voran indem man die Informationsquellen und -kanäle unterstützt.
Wir sind die Medien, hört man häufig. Oh, wie sehr! Der Cyberaktivismus funktioniert nach dem gleichen Modell wie die Medien. Vereinfachen, übertreiben, wiederholen: So fasste ein Journalist die sogenannt populäre Presse zusammen. Diverse Homepages mit revolutionärer Ambition funktionieren leider auch nach diesem Motto. Genau wie in den Reportagen, welche man in den omnipräsenten Bildschirmen sieht, wird der Leser-Zuschauer mit einem ununterbrochenen Fluss von Ereignissen konfrontiert, von welchen das eine genauso wesentlich ist wie das andere, obwohl ihre unendliche Aufeinanderfolge ihren vergänglichen Charakter bestätigt und sie aushöhlt.
„Das hat nichts mit dem Fernsehen zu tun!“, wird man uns sagen, „Denn hier ist der Zuschauer auch Akteur: Unsere interaktiven Homepages zeigen Leute, die sich gegenseitig informieren und einen Streik in Turin mit Ausschreitungen in Manila in Verbindung bringen!“
Es ist für die Beteiligten einer Aktion selbstverständlich, die Bilder davon zu verbreiten, v.a. auf den sozialen Netzwerken. Doch die Vermutung, die Streikenden aus Turin würden mit den Aufständischen in Manila kommunizieren – ein Ausnahmefall, der kaum von uns abhängt – würde die Frage aufwerfen, was der mögliche Effekt dieses Austauschs auf ihre jeweiligen Kämpfe wäre.
Der Cyberaktivismus stellt diese Frage nicht, denn er glaubt an die Illusion, Kommunikation sei Handeln.
Noch schlimmer, indem es die Medien auf ihrem Terrain besiegen will, kopiert das radikale Medium sie: systematische Dringlichkeit, Akkumulation, Sensationslust durch die Suche nach der frappierenden Meldung oder dem schockierenden Bild, das normalerweise bedeutungslos ist. Was beweist ein Foto eines blutenden Gesichts?
Die positiven Aspekte (die übermittelte Information, die unterhaltenen Verbindungen) des Cyberaktivismus werden grösstenteils durch seine Funktionsweise sterilisiert: Er zeigt uns die Repräsentation einer Welt, welche stetig revoltiert oder sich gar erhebt, eine Phantasiewelt, ein wahrhaftiges Paralleluniversum wie in einem Roman von Philip K. Dick – doch man sollte die Fiktion und die Revolution nicht miteinander verwechseln.
Selbstbildung und Vulgarisierung
Der Glaube an die zwingend befreiende Bildung ist die Grundlage der Militanz.
Parteischule, Sommeruniversität, Praktikum, Anleitung, Kurzfassung – gestern wie heute, der Militant bleibt ein Lehrer, welcher den pädagogischen Moden seiner Zeit folgt. Schluss mit dem Frontalunterricht, die zeitgenössische Schule platziert den Schüler „im Zentrum des Bildungsprojekts“. Man füllt nicht mehr den Schädel, sondern lehrt Autonomie, man hilft dem Lernenden, „Subjekt zu werden“, indem man ihn eine Fülle von Daten und Meinungen ordnen lässt, auf dem Papier oder dem Bildschirm, besonders dank den etlichen Online-Konferenzen auf Youtube.
Man korrigiert die Verhaltensweisen der Militanten und bringt ihm bei, sich selbst zu korrigieren, z.B. bezüglich der patriarchalischen Wortwahl. Ein Video erklärt, wie eine Debatte zu führen ist, eine Broschüre, wie mit einer Frau gesprochen werden muss, ohne sie zu unterbrechen.
Trotzdem kann der Pädagoge nicht anders, wie modern er auch sein mag, als an Stelle seines Schülers zu denken, für ihn bedeutet Unterricht Vulgarisierung. In Anbetracht einer Idee ist die erste Reaktion des Militanten, sich die Frage zu stellen, wie er sie benützen könnte. Er „instrumentalisiert“ die Theorie.
Als Marx im Frühling 1847 vor Arbeitern präsentierte, was später unter dem Titel Lohn, Preis und Profit veröffentlicht wurde, fasste er nicht einfach die Thesen der damaligen Sozialisten zusammen. Er machte eine Synthese davon, um zu versuchen, sie zu verstehen, damit die Bewegung sie überwinden könnte. Im Gegensatz dazu wiederholen die Homepages, welche sich zur Mission gemacht haben, die Grundlagen des Marxismus (oder des Anarchismus), die grundlegenden kritischen Konzepte, die Krisenanalyse usw. zu präsentieren, was man schon weiss, bestätigen es und reduzieren damit das Verständnis auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, auf das, was schon errungen, offensichtlich, weder theoretisch noch praktisch umstritten ist. Der Leser wusste, dass der Lohnarbeiter ausgebeutet ist, und vermutete bereits, dass die Finanz nicht die tiefe Ursache der Krise ist: Man liefert ihm nun die Demonstration davon. Wie an der Uni gibt es einen Bruch zwischen „Unterricht“ (für die Masse) und „Forschung“ (für jene, welche die für schwierig gehaltenen Texte lesen).
„Aus welcher Position sprichst du?“…
…hätte man damals gefragt.
Die Schiessbudenlogik interessiert uns nicht. Wir halten uns nicht für schlauer als der Nachbar und glauben auch nicht, dass wir die Widersprüche der radikalen Kritik durch die Magie einer Dialektik überwinden können, welche überall die positiven Aspekte herausfischt (die Energie des einen, den Informationsdrang des anderen, die Reproduktion von alten Texten beim dritten…), indem sie sich vor den abschreckenden Fehler aller hütet.
Hoffen wir auf jeden Fall nicht, dass wir heute die Organisation aufbauen können, welche morgen, „wenn es knallt“, bereit sein wird. Verfügbar bleiben ist häufig das beste, was man tun kann, indem man sich informiert, ohne alle seine Zeit vor dem Bildschirm zu verbringen, indem man handelt, aber nicht zwingend jeden Tag. In der notwendigen Verbreitung der radikalen Information und Thesen sind diese selbst nicht wichtiger als die durch ihre Zirkulation entstehenden Verbindungen, Verbindungen, welche wohl eines Tages nützlich sein werden, deren Formalisierung heute jedoch überflüssig wäre. Obwohl die kollektive Trägheit ein Hindernis für die Revolution ist, unterhalten gewisse Aktionsformen ebenfalls die Passivität.
Gemäss einem alten proletarischen Sprichwort „sind es nicht die Revolutionäre, welche die Revolution machen werden, sondern die Revolution, welche die Revolutionäre machen wird“.
G.D.
1Drei Jahre später veröffentlichte die Organisation des jeunes travailleurs révolutionnaires eine Fortsetzung, welche die Entstehung des Texts und seine Geschichte zusammenfasste, und erklärte, dass sie 1972, als sie sehr vom Rätekommunismus beeinflusst war, „den verhängnisvollen Charakter der demokratischen, rätekommunistischen, selbstverwaltenden Konzeption“ nicht wahrgenommen hatte: „Das konstituierende Prinzip der Demokratie ist die Trennung zwischen der Entscheidung und ihrer Ausführung. Gruppen wie Socialisme ou Barbarie oder danach die Situationistische Internationale beriefen sich sowohl auf die Demokratie als auch auf die Abschaffung dieser Trennung. Das ist gleichbedeutend mit der Versöhnung des Unversöhnlichen.“
2Die Weisskehlammer (Zonotrichia albicollis) ist fähig, zu fliegen, ohne zu schlafen, die amerikanische Armee interessiert sich für sie in der Hoffnung, Soldaten zu erschaffen, die keinen Schlaf mehr brauchen (Le Monde diplomatique, Juni 2014).
3„Beruf und Bewegung“, Wildcat #96, 2014.
4Lilian Mathieu, „Un „nouveau militantisme“? A propos de quelques idées reçues“, Contretemps, 2008.
Gefunden auf vamos hacia la vida, die Übersetzung ist von uns
Einleitende Anmerkung von Vamos Hacia la Vida: Was folgt, ist die Übersetzung eines Textes von Gilles Dauvé, der am 22. September 2020 auf dem DDT21-Blog (ddt21.noblogs.org) veröffentlicht wurde. Der Autor hat in den 1960er Jahren in Frankreich an Projekten wie der Buchhandlung La Vieille Taupe mitgewirkt, in den 1970er Jahren an Publikationen wie La Guerre Sociale (mit der er allerdings schließlich brach), in den 1980er Jahren bei La Banquise und Le Brise-glace, seit Ende der 1990er Jahre an Troploin und in jüngerer Zeit hat er an dem oben erwähnten Blog mitgeschrieben. Die Gruppen, in denen er mitgewirkt hat, sind Teil der Strömung der Kommunisierung, die Mitte der 1970er Jahre als Antwort auf die proletarischen Niederlagen jener Zeit und die Notwendigkeit, revolutionäre Prozesse neu zu denken, entstanden ist und als zentrale Fragen der radikalen Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse die Überwindung der Lohnarbeit, des Staates, des Produktivismus sowie aller alltäglichen Lebensformen, die die Reproduktion der Kapitalgesellschaft impliziert, definiert.Der vorliegende Text untersucht daher aus dieser Perspektive die Ausbreitung des Coronavirus auf globaler Ebene seit Beginn des Jahres 2020. Aber die Wurzeln des Covid-19-Phänomens und seine Auswirkungen auf die kapitalistische Herrschaft und/oder proletarische Kämpfe oder Revolten können nicht von ihrem quantitativen oder reformistischen Aspekt her angegangen werden (indem man entweder für einen grünen Kapitalismus oder einen größeren „Sozialstaat“ eintritt). Die Ursachen sind sozialer und ökologischer Natur und stehen in direktem Zusammenhang mit der materiellen Verwirklichung der kapitalistischen Utopie des „Fortschritts“, weshalb ihre Vertiefung und Ausdehnung, ihre normale Entwicklung in der Zukunft, die Zerstörungskraft auf die Erdbiosphäre und damit auch auf den menschlichen Lebensraum nur unaufhörlich verstärken kann. Das Coronavirus und seine staatliche Behandlung ist ein Ausdruck dieses unauflösbaren inneren Widerspruchs, auf den die herrschenden Klassen nur mit der gleichen Warenlogik antworten können, indem sie die Wirtschaft über unser Leben stellen und einen generalisierten Polizei- und Militärstaat einsetzen. Das Problem ist die Lebensweise selbst, die von der Forderung nach unendlichem Wachstum des Marktwertes angetrieben wird, um ihre Existenz zu reproduzieren, und als Korrelat ist unser Leben in diese selbstzerstörerische Bewegung integriert. Weder Digitalisierung und Tele-Existenz, noch ein nachhaltiger Kapitalismus, noch die demokratische Illusion einer neuen Verfassung sind gangbare Wege aus dieser aktuellen Zivilisationskrankheit. Die kommenden Katastrophen der ökologischen Krise werden von Wissenschaftlern selbst schon Jahrzehnte im Voraus vorhergesagt und berechnet. Und obwohl die aktuelle oder kommende Pandemie die Widersprüche noch mehr offenlegt und akzentuiert, ist es besser, jeden fetischistischen Traum von Katastrophen zu verwerfen, wie es die „Wirtschaftskrise“ früher war, im Sinne der Öffnung für eine revolutionäre Möglichkeit. Die kommenden Katastrophen werden nicht von selbst dazu führen, dass sich die Kämpfe radikalisieren und auf das Herz der Warenherrschaft zeigen: die Lohnarbeit sowie trotz der Aussicht auf eine zukünftige Verschlechterung unserer Lebensbedingungen (bei fortschreitender kapitalistischer Entwicklung) und so sehr dies auch zu Aufständen in verschiedenen Teilen der Welt führen mag, wie es seit 2019 der Fall ist, „die Simultanität ist nicht gleich die Synchronisation, das Nebeneinander ist nicht gleich das Zusammentreffen, noch ist die Vereinigung gleichbedeutend mit der Überwindung“, solange die Bewegung der proletarisierten Menschheit im Kampf gegen das Kapital auf Forderungen nach Reformen beschränkt ist, und die Aufrechterhaltung der Trennung der Kämpfe in Bezug auf die verschiedenen Aspekte und Dimensionen sozialer Herrschaft (Klasse/Staat, Konflikte am Arbeitsplatz, Geschlechterverhältnisse, Rassen- und Identitätsunterdrückung, ökologische Zerstörung), die heute durch das kapitalistische Gesellschaftsverhältnis strukturiert ist, scheint die Zukunft vor allem die eines Staates zu sein, der in Bezug auf die soziale, politische und polizeiliche/militärische Kontrolle der „Bevölkerung“, die durch neue Technologien geschützt wird, immer stärker wird. Gerade in diesem Sinne finden wir es wichtig, die Frage nach den Inhalten der aktuellen Kämpfe gegen die bestehende kapitalistische Ordnung zu diskutieren, um unsere eigene Praxis der proletarischen Selbst-Negation und kommunistischen Bejahung selbstkritisch zu schärfen.
Virus, die Welt von heute (Gilles Dauvé, September 2020)
Bis in die frühen Tage des Jahres 2020 dachte der westliche Mensch, wenn er von einem „Virus“ hörte, zuerst an seinen Computer (der Asiate war zweifellos besser informiert). Natürlich war niemandem die medizinische Bedeutung des Wortes unbekannt, aber diese Viren wurden ferngehalten (Ebola), relativ geräuschlos trotz der 3 Millionen Todesfälle pro Jahr durch AIDS, sogar triviale (die Wintergrippe, die in Frankreich jedes Jahr „nur“ 10.000 Todesfälle verursacht, die meisten davon ältere Menschen und solche mit chronischen Krankheiten). Und wenn die Krankheit zuschlug, wirkte die Medizin Wunder. Es hatte sogar den Raum abgeschafft: Von New York aus operierte ein Chirurg einen Patienten in Straßburg. Damals waren es eher die Maschinen, die krank wurden.
Bis in die frühen Tage des Jahres 2020.
1 / ZIVILISATIONSKRANKHEIT
1.1 / Wir sterben, wie wir gelebt haben
Als ansteckende Krankheit mit einer viel höheren Ausbreitungsrate als die Influenza verursacht Covid-19 nur wenige schwere Fälle, aber die Schwere der Erkrankung ist extrem, besonders bei Risikopersonen (vor allem nach dem 65. Lebensjahr), und erfordert eine „intensive“ Hospitalisierung von Patienten in Lebensgefahr. Daher auch die (in Frankreich sehr späte) Notwendigkeit von massenhaften Untersuchungen.
Epidemien und Pandemien haben nicht auf die heutige Zeit gewartet.
Im Römischen Reich hätte die Pest zwischen 166 und 189 fast 10 Millionen Opfer gefordert. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden zwischen 20 und 100 Millionen Tote auf die „Spanische“ Grippe zurückgeführt (darunter zwischen 150.000 und 250.000 in Frankreich). Gleichzeitig tötete der Typhus, verursacht durch ein Bakterium, 3 Millionen Russen während des Bürgerkriegs. In den Jahren 1957-1958 verursachte die „asiatische“ Grippe den Tod von etwa 3 bis 4 Millionen Menschen weltweit (15.000 bis 20.000 in Frankreich). Es wird geschätzt, dass die „Hongkong“-Grippe zwischen Sommer 1968 und Frühjahr 1970 weltweit 1 Million Todesfälle verursachte, davon 31.000 in Frankreich.
Viele Zahlen also, manchmal sehr unpräzise (zwischen 20 und 100 Millionen, der Unterschied ist enorm), immer beeindruckend, und oft auf Episoden verweisend, die im kollektiven Gedächtnis vergessen sind: Wer in Frankreich erinnerte sich vor dem Februar 2020 an die Toten von 1968-1970? Zu dieser Zeit hatte der Staat noch keine allgemeinen Gesundheitsmaßnahmen ergriffen, und die Presse ignorierte oder verharmloste die Epidemie.
Das Covid-19 wird von einer Flut von Statistiken begleitet, die umso schwerer zu verstehen sind, als ihre Kriterien variieren. Alles ändert sich in Abhängigkeit von der Gesamtzahl der Todesfälle seit Beginn der Epidemie oder dem Tag, der Anzahl der Infektionen, der Zunahme der Infektionen im Vergleich zu einem bestimmten Datum, der Übertragungsrate, den Krankenhausaufenthalten oder den belegten Betten auf der Intensivstation. In Frankreich steigt mit der Zunahme der Untersuchungen (wenige in den ersten Monaten) die Zahl der Infektionen, während die Zahl der Todesfälle pro Tag sinkt. Je weniger Tests ein Land durchführt, desto weniger Fälle werden gezählt, was nicht bedeutet, dass es weniger kranke oder tote Menschen gibt.
Nun sollte jeder den Unterschied zwischen Morbidität, Mortalität und Letalität kennen. Es ist jedoch notwendig, zwischen scheinbaren und tatsächlichen Todesfallraten zu unterscheiden. Nur letztere gibt das Verhältnis zwischen der Anzahl der Todesfälle und der Anzahl der tatsächlich positiv getesteten Fälle an; erstere basiert ausschließlich auf der Schätzung derjenigen, die sich infiziert haben.
Interessanterweise offenbart diese zwangsläufig unvollständige Bilanzierung nur einen Aspekt der Pandemie: ihr Ausmaß (wahrscheinlich eine Million Todesfälle weltweit bis 2020). Sie sagt so gut wie nichts über ihre sozialen Ursachen und Auswirkungen aus.
Wie jede schwere Krankheit kann Covid-19 Menschen töten, die durch das Alter, durch eine andere Krankheit und/oder durch eine schwächende Lebensweise geschwächt sind: schlechte Ernährung, Luft- und chemische Verschmutzung – die in der Luft, würde zwischen 7 und 9 Millionen Menschen in der Welt töten, 48.000 bis 67.000 in Frankreich – Sesshaftigkeit, Isolation, im Alter ohne Arbeit und damit außerhalb der Gesellschaft stehend – alles Faktoren, die zu Diabetes und Krebs beitragen… ein günstiges Terrain für Covid. Von den 31.000 Todesfällen, die Ende August 2020 in Frankreich verzeichnet wurden, sind vermutlich mindestens 7.500 auf Begleiterkrankungen zurückzuführen (die in einem Viertel der Fälle mit Bluthochdruck und in einem Drittel mit Herzerkrankungen zusammenhängen).
Verschiedene und nicht quantifizierbare Faktoren führen zu einer Übersterblichkeit, die auch eine Klassendimension hat: Arme Menschen essen zum Beispiel mehr Junkfood, und Fettleibigkeit ist unter ihnen häufiger. Und die Tuberkulose (1,5 Milliarden Todesfälle weltweit im Jahr 2014) ist mit der Verarmung und Überbevölkerung der Städte wieder aufgetaucht. Wenn man krank ist, ist es besser, reich zu sein… und meistens weiß. „Wenn ein Weißer eine Erkältung hat, bekommt ein Schwarzer eine Lungenentzündung“, sagt man in den Vereinigten Staaten. Nicht zu vergessen, in diesem Fall, die menschlichen Kosten der Einschließung: Arbeitslosigkeit, Angst, Depression, Isolation für den Bewohner einer EHPAD (Établissement d’hébergement pour personnes âgées dépendants / Wohneinrichtung für abhängige ältere Menschen)…
Die kapitalistische Zivilisation hat das Covid-19 nicht erschaffen, aber sie begünstigt seine Verbreitung durch die immer umfangreichere Zirkulation von Menschen und Waren, eine beschleunigte und oft ungesunde weltweite Verstädterung und den Abbau von sozialen Sicherungsmechanismen in den sogenannten entwickelten Ländern. (Wir werden in §2 darauf zurückkommen.)
„Herrschen heißt voraussehen“: eine Regel, die die kapitalistische Gesellschaft nicht ignoriert, sondern nach ihrer eigenen Logik anwendet. Wenn Prävention ein Hindernis für den Wettbewerb zwischen Unternehmen, für die Suche nach minimalen Produktionskosten, für den Profit und für die kurzfristigen Interessen der herrschenden Klasse ist, tritt die Prävention in den Hintergrund. Das Vorsorgeprinzip wird in einer Gesellschaft, die allenfalls in der Lage ist, eine Gesundheitskrise zu managen, nicht aber zu verhindern, niemals Priorität haben.
In unserer Welt wäre nur das Messbare „wissenschaftlich“: Die sozialen und umweltbedingten Faktoren, die eine große Rolle bei der Ausbreitung von Krankheiten spielen, sind schwer zu quantifizieren und entziehen sich daher einer statistischen Analyse.
In jedem Fall scheint die westliche Lebensweise kein Vorteil zu sein.
1.2 / Chronologie einer Verwaltung nach Dossiers
„Auf die Gefahr hin, dass wir heute schockiert sind, müssen wir zunächst wiederholen, dass die Covid-19-Pandemie das hätte bleiben sollen, was sie ist: eine etwas stärker virale und tödliche Pandemie als die saisonale Grippe, deren Auswirkungen bei einer großen Mehrheit der Bevölkerung milde, aber bei einem kleinen Bruchteil sehr ernst sind. Im Gegensatz dazu hat die Zersetzung des europäischen und amerikanischen Gesundheitssystems, die vor mehr als einem Jahrzehnt begann, dieses Virus in eine Katastrophe ohne Beispiel in der Geschichte der Menschheit verwandelt und bedroht unsere gesamten Wirtschaftssysteme. […] Es wäre relativ einfach gewesen, die Pandemie einzudämmen, indem man infizierte Menschen systematisch aufgespürt hätte, sobald die ersten Fälle auftraten, ihre Bewegungen verfolgt und die (sehr wenigen) Betroffenen gezielt in Quarantäne gestellt hätte. […] Die Technik der Erkennungstest ist überhaupt nicht kompliziert, sie erfordert nur die Organisation und die Ausrüstung, die wir zu produzieren wissen. […] Gleichzeitig werden die Masken massenhaft an die gesamte Bevölkerung verteilt, die wahrscheinlich kontaminiert ist, um das Risiko einer Verbreitung weiter zu verringern. (Gaël Giraud, 24. März 2020)
Offensichtlich ist das nicht das, was wir erleben.
Wie kommt es, dass jeder dritte Erdbewohner seit Wochen eingesperrt ist und Gefahr läuft, erneut eingesperrt zu werden, wenn die Staaten es für nötig halten?
Wenn es stimmt, dass die Internationalisierung des Kapitalismus ihn angreifbar macht, reicht dies nicht aus, um die teilweise Lähmung der Weltwirtschaft zu erklären: Warum wurden Produktion und Zirkulation gestoppt? Warum hat der Kampf gegen die Ansteckung die Form einer Eingrenzung der Bevölkerung angenommen, mit der erzwungenen Schließung einiger Unternehmen?
Erster Moment: Warnung
„Anfang 2018 hat eine Expertengruppe der Weltgesundheitsorganisation […] bei einem Treffen den Begriff ‚Krankheit x‘ geprägt. Sie sagten voraus, dass die nächste Pandemie durch einen neuen, unbekannten Erreger verursacht werden würde, der noch nicht mit der menschlichen Bevölkerung in Kontakt gekommen war. Die Krankheit x würde wahrscheinlich von einem Virus tierischen Ursprungs stammen und irgendwo auf dem Planeten entstehen, wo die wirtschaftliche Entwicklung die Interaktion zwischen Mensch und Tier begünstigt. Es ist wahrscheinlich, dass die Krankheit x zu Beginn der Epidemie mit anderen Krankheiten verwechselt würde und sich schnell und unauffällig ausbreiten würde […] unter Ausnutzung von Reise- und Handelsnetzen […] Die Krankheit x hätte eine höhere Sterblichkeitsrate als die saisonale Grippe“. (Michael Roberts, 15. März 2020)
Zweiter Moment: Verweigerung
Weniger als zwei Jahre später, als das, was alle Merkmale dieser Krankheit x hatte, auftauchte, begannen die Staaten, das Problem zu minimieren oder zu leugnen.
„Als die taiwanesischen Behörden am 31. Dezember 2019 die WHO vor den Gefahren des leicht übertragbaren Virus warnten, stellte die WHO-Leitung den Ernst der Lage in Frage und wurde zum Sprachrohr Chinas. Am 14. Januar […] bestreitet die WHO, dass das Virus unter Menschen ansteckend ist. Folglich blieb die daraus resultierende Pandemie in den verschiedenen betroffenen Ländern lange Zeit unsichtbar, sowohl in Asien als auch in Europa, wo sie in der Regel erst einige Wochen später entdeckt wurde. Am 30. Januar reiste der WHO-Direktor […] nach China, wo er sagte, die Situation sei unter Kontrolle und gratulierte den chinesischen Behörden … riet auch von jeglichen Bewegungs- und Reisebeschränkungen ab, während Taiwan bereits seit einem Monat unter Kontrolle geschlossen ist“. (Jean-Paul Sardon, 28. April 2020)
Zugunsten wirtschaftlicher Interessen haben die Staaten keine Schutzmaßnahmen ergriffen, z. B. durch die Einführung von Gesundheitskontrollen an den Einreisepunkten in ihr Hoheitsgebiet.
In Frankreich war der brave Bürger am Sonntag, den 14. März 2020, aufgerufen, sich auf den Weg zu machen, um an den Kommunalwahlen teilzunehmen.
Dritter Moment: Die Verwaltung der Gesundheit hat vor der Wirtschaft Vorrang
Angesichts des Ausmaßes der Epidemie konnten die Regierungen nicht darauf verzichten, zu reagieren, aber nur nach ihrer eigenen Logik und mit ihren eigenen Mitteln. In einem Land wie Frankreich offenbarte das Ereignis, wie sehr der Pseudoüberfluss einen realen Mangel verdeckt: Der „siebten Weltwirtschaftsmacht“ fehlt es an Krankenschwestern, Krankenhausbetten, Untersuchungen, Schutzmitteln… Im März 2020 erwies sich die weitgehende Einschließung – die zu einem teilweisen Produktions- und Handelsstopp führte – als das einzige verfügbare Mittel, um eine Krankheit, deren Gefährlichkeit wenig bekannt war, vorübergehend einzudämmen.
In Frankreich wurde am Dienstag, dem 16. März, der brave Bürger unter Androhung von Strafe gezwungen, zu Hause zu bleiben.
Vierter Moment: Zurück zur Arbeit – fast – wie gewohnt
Nach etwa zwei Monaten schien die Pandemie, die noch lange nicht vorbei war und in einigen Ländern sogar tödlich verlief, handhabbar zu sein, ohne die Gesellschaften zu destabilisieren. Außerdem stellte man fest, dass die überwiegende Mehrheit der Toten das Alter zum Arbeiten überschritten hatte (in Frankreich waren zwischen dem 1. März und dem 28. August 90 % der Toten über 65 Jahre alt), und dass für die Arbeiter die Wahrscheinlichkeit, an dem Covid zu sterben, gering war: Es war daher dringend notwendig, sie wieder in die Werkstatt oder ins Büro zu schicken – natürlich mit dem Versprechen eines angemessenen Schutzes. Gleichzeitig wurden Einschränkungen und Verbote im täglichen Leben gelockert (auch wenn sie in anderen Ländern teilweise verschärft wurden).
1.3 / „Nun! Der Krieg“ (Die Marquise von Merteuil, Choderlos de Laclos, Gefährliche Freundschaften, 1782)
Regierungen und Institutionen rufen sich selbst im Krieg mit einem „unsichtbaren Feind“ aus. Nehmen wir sie beim Wort.
Unabhängig davon, ob ein Land einen Krieg gewinnt oder verliert, sind die Kosten für die herrschenden Klassen nicht unerheblich und fallen oft exorbitant aus: Sie können ihren ganzen Reichtum oder einen Teil ihrer Macht zurücklassen. Aber die Rationalität eines Konflikts kann nicht in Pfund oder Dollar verstanden oder gemessen werden. Ein Staat zieht nicht in den Krieg, um Geld zu verdienen, und was ihn bestimmt, ist keine betriebswirtschaftliche Logik: Es ist das Ergebnis sozialer und politischer Kräfte und (Un-)Gleichgewichte, im In- und Ausland. Die getroffene Entscheidung wird letztlich im Interesse der herrschenden Klassen sein, sowie sie es sehen/auffassen. Die herrschenden Eliten der vier Reiche (deutsch, österreichisch, russisch und osmanisch), die nach 1918 untergingen, hatten sich 1914 in einen Krieg gestürzt, aus dem sie gestärkt hervorzugehen hofften. In viel geringerem Maße hatten die Invasoren des Irak im Jahr 2003 den islamischen Staat nicht im Blick.
Die Regierungen kennen seit Jahrzehnten die Ursachen und Auswirkungen der globalen Erwärmung, gegen die sie nur Linderungsmaßnahmen ergriffen haben. Warum sollten sie im Angesicht einer Pandemie anders handeln? Unfähig, Vorkehrungen für ältere Menschen zu treffen, die bereits an schweren Krankheiten leiden, massiv zu testen, jede infizierte Person unter Quarantäne zu stellen und extreme Fälle unter guten Bedingungen zu hospitalisieren, blieb ihnen die am wenigsten schlechte und einfachste Lösung: eine Art „soziale Blockade“ zu errichten.
Konfrontiert mit einer Krise, deren Ursachen sie nicht beseitigen konnten und wollten (sie waren ein Teil davon), verwalteten die herrschenden Klassen diese, während sie alles taten, um ihre Macht zu erhalten. Die Reaktionen waren sehr unterschiedlich, von Deutschland bis Brasilien, mit Strafen von sechs Monaten Gefängnis in Frankreich bis zu sieben Jahren in Russland. Aber in allen Fällen sind die Bewältigung der Epidemie und die Bevölkerungskontrolle ein und dasselbe: In Frankreich waren Ausflüge in den Wald während der Einsperrung verboten, weil seine weiten Räume zwar eine „physische Distanzierung“ begünstigen, aber die Überwachung erschweren. Der von den herrschenden Klassen zu zahlende Preis (Risiko der politischen Diskreditierung, Verlust der Produktion und damit der Profite) ist nicht gering, aber sekundär im Vergleich zum Gebot der Aufrechterhaltung der Ordnung, der sozialen, politischen und gesundheitlichen gleichzeitig.
Selbst Südkorea und Taiwan mussten trotz massiver Tests und der Verteilung von Masken und damit der Beschränkung auf nachgewiesene Fälle ihre stark exportorientierten Volkswirtschaften einschränken, da der Rest der Welt gesperrt war. In ähnlicher Weise war Deutschland, trotz einer ganz anderen Einsperrung als z.B. Frankreich, gezwungen, seine kommerziellen Aktivitäten einzuschränken.
Das Ergebnis, eine letztlich sehr rationale Flucht nach vorn: Eine große Anzahl von Ländern injizierte sich eine (starke, aber vorübergehende, wie man hofft) Dosis Zwangsruhe, um dann gesund und schöner zurückzukehren.
Doch in Laclos‘ Roman endet die kriegerische Marquise eher schlecht.
2 / JEDER NACH SEINEM KAPITALISMUS
Wenn es stimmt, dass die französische Regierung ihre Bürger wie Kinder und die deutsche Regierung wie Erwachsene behandelt, dann ist man überrascht über den Gegensatz zwischen dem sehr präventiven Charakter des Gesundheitssystems in Deutschland im Vergleich zu einem Frankreich, das nur reaktiv agiert hat.
Sowohl unter linken als auch rechten Regierungen hat Frankreich zwischen 1993 und 2018 100.000 Krankenhausbetten abgebaut und konnte zu Beginn der Krise nur 3.000 Menschen pro Tag untersuchen.
Deutschland hingegen konnte 50.000 testen. Dieses Land ist weit davon entfernt, Wohlfahrtsparadies zu sein: Prekäre Arbeit ist institutionalisiert, die Armutsquote liegt nahe an der des Vereinigten Königreichs, und auch dort unterliegt das Krankenhaus dem Rentabilitätszwang. Aber Deutschland profitiert vom stärksten Kapitalismus der Europäischen Union, der auf seiner Exportkraft beruht, die eine bessere Reproduktion der Gesellschaft – und der Arbeitskräfte – sicherstellt und es ermöglicht, zu starke Kürzungen der Sozialhaushalte, insbesondere der Gesundheitsausgaben, zu vermeiden.
Da Frankreich diese Vorteile nicht hat (die Industrie macht 15 % des BIP aus, verglichen mit 25 % in Deutschland), verfügte es zu Beginn der Krise über 7.000 Intensivbetten (die später auf 10.000 erhöht wurden), verglichen mit 25.000 in Deutschland. Die „Verwaltung“ des Unternehmens lässt das Krankenhaus nach dem „gerade rechtzeitig“ Prinzip arbeiten: wie in einer Textilfabrik oder einem Supermarkt, immer nur das Nötigste vorhalten (ein Bett, das 24 Stunden am Tag unbesetzt ist, ist Geldverschwendung), es ist besser eine Reserve an Arbeitslosen bereithalten und, wenn nötig, Aushilfskräfte einstellen, mit Vertrag und ohne „Status“. Im September 2019, ein paar Monate vor der Krise, wurden Bettenverwalter eingerichtet, um „den Fluss der Patienten in und aus den verschiedenen Diensten zu glätten“. Das Ergebnis ist eine hochmoderne Medizin, die manchmal weniger in der Lage ist, eine Epidemie zu bekämpfen als ein armes Land in Afrika.
Da die Aufdeckung übersehen wurde und es an personellen und materiellen Ressourcen mangelt, treten Einsperrung und Ausgangssperren an die Stelle des Schutzes. Es ist daher nicht abwegig, dass der Staat eine Kriegsrhetorik anwendet und versucht, eine heilige Vereinigung herbeizuführen, nachdem er im Jahr zuvor durch die schwere soziale Krise der Gelbwesten lange Zeit erschüttert wurde. Neben dem „Verteidigungsrat“ gegen den Terrorismus gibt es den „Rat zur Verteidigung des Lebens“, den „ökologischen Rat“… Die Art und Weise, wie die vom Staat organisierte Zivilverteidigung nach einem Bombenangriff Leben rettet, weil der Krieg vom Staat selbst entfesselt wurde.
Wenn Südkorea und Taiwan ganz anders gehandelt haben, so liegt das zweifellos daran, dass sie in letzter Zeit unter schweren Epidemien gelitten haben, aber auch daran, dass sie nicht systematisch den „kleinstmöglichen Staat“ angestrebt haben: Es gibt keine stabile kapitalistische Gesellschaft ohne einen angemessenen öffentlichen Dienst. Im Jahr 2017 lag die Zahl der Krankenhausbetten pro 1.000 Einwohner in Südkorea bei 12,27 (3,18 in Italien). Die Ausgaben für Bildung und Gesundheit sind nicht nur Kosten, sondern eine notwendige Investition für das Kapital als Ganzes, da es sonst die Reproduktion der gesamten Gesellschaft, von der es abhängt, nicht gewährleistet.
So reicht „durch Einsparungen im Gesundheitswesen ein Virus, der etwas aggressiver und tödlicher ist als die übliche Grippe, um einen Verlust von zehn Punkten des BIP zu verursachen. […] Die Verflechtung zwischen Staat und Privatwirtschaft […] ist selbst unter dem rein kapitalistischen Gesichtspunkt ihres optimalen Funktionierens zu stark geworden [und] schränkt die Effektivität und Reaktionsfähigkeit des staatlichen Handelns erheblich ein“. (Il Lato Cattivo)
Unfähig, die Ursachen einer Krise anzugehen, die sie mitverursacht haben, sind die Machthaber gezwungen, sowohl zu verängstigen als auch zu beruhigen, und der alarmistische Diskurs festigt die Kontrolle über die Bevölkerung, die von verschiedenen Kräften vermittelt wird: der Zentralregierung, der „wissenschaftlichen Gemeinschaft“ (deren Angelegenheit von Raoult zumindest das Verdienst hat, die Fragen der Macht und der Ungereimtheiten aufzudecken) sowie den Medien, dem Resonanzboden der Gesellschaft.
3 / „ICH SEHE MICH GEZWUNGEN, ZUZUGEBEN, DASS ALLES WEITERGEHT“…
…schrieb Hegel vor zweihundert Jahren.
3.1 / Bewahrung des Status Quo
Der Kapitalismus besteht nicht aus Gegenständen, Menschen, Maschinen, Shopping Malls und Kreditkarten. Es ist die soziale Beziehung, die den Hafenarbeiter, die Verkäuferin, den Frachter, die Boutique, den Kran, die Werkzeugmaschine und den Geldautomaten mit einer Dynamik belebt, die von früheren sozialen Systemen nie erreicht wurde. Allein die vorübergehende Stilllegung eines Teils der produktiven Tätigkeiten unterbricht diese, ohne das zu zerstören, was sie einst in Gang setzte – und wird sie bald wieder in Gang setzen.
Selbst wenn das kapitalistische Produktionsverhältnis teilweise außer Kraft gesetzt wird, hört es nicht auf zu arbeiten. Der Warenaustausch bleibt bestehen, obwohl an der Basis eine Solidarität besteht, in der das Geld und seine Zeiten nicht „zählen“. Für manche Branchen muss und kann der Gewinn teilweise in den Hintergrund treten, aber er verschwindet nicht. Manche Unternehmen verschulden sich oder gehen in Konkurs, andere werden geboren (Online-Dienste) oder florieren (Amazon…). Die meisten verlieren Geld und passen sich an.
Während die Banken- und Finanzkrise 2008 einen Teil der Produktion zum Erliegen brachte und Gruppen von Frachtschiffen in den Mündungen der großen Flüsse zum Stillstand brachte, ist diesmal direkt die sogenannte Realwirtschaft betroffen.
Aber zu sagen, dass die Krise die Realität enthüllen würde, weil sie zeigen würde, wie die Gesellschaft nur dank der Krankenschwester, der Müllabfuhr, des Zustellers, des Mechanikers… funktioniert, ist die Behauptung einer Halbwahrheit.
Entgegen dem Mythos einer wissensbasierten Wirtschaft sind es in der Tat die einfachen produktiven Arbeiter, die die Gesellschaft in der Einsperrung am Laufen gehalten haben: Die Krise bestätigt die Zentralität der Arbeit… aber der Lohnarbeit. In der heutigen Gesellschaft sind der Müllmann und die Krankenschwester auf Geld angewiesen wie der Händler. Weit davon entfernt, ihren Bankrott zu offenbaren, offenbart die aktuelle Krise die Widerstandsfähigkeit eines sozialen Systems, das es immer noch versteht, sich unentbehrlich zu machen. Geld bleibt die notwendige Vermittlung für unser Leben: Wer seine Arbeit verloren hat, dem bleiben nur noch seine Ersparnisse, die Unterstützung der Familie oder die öffentliche Hilfe – alles ausgedrückt in Geld. Selbst die gegenseitige Hilfe ist davon nicht ausgenommen: Wer für den Nachbarn eine Maske anfertigte, musste manchmal Stoff oder, häufiger, die sehr kostbaren Gummibänder kaufen. Und über Kredite an Unternehmen, und in geringerem Maße an Privatpersonen, greifen die Staaten ein.
Aber: „Was an diesen riesigen Rettungsprogrammen auffällt, ist, dass sie nie dagewesene Summen ausgeben […], im Wesentlichen um den Status quo zu erhalten – zumindest vorerst“. („Schwierige Geburt – Chronik einer drohenden Krise“)
Was sich ausbreitet und weiter ausbreiten wird, ist ein freier Handel, der durch eine bescheidene Gegenleistung des Staates abgemildert wird: weniger öffentliche Gelder werden ohne Gegenleistung an den privaten Sektor gegeben; und für einige als strategisch erachtete Produktionen werden sehr begrenzte Standortwechsel vorgenommen, ohne dass die internationalen und „gerade rechtzeitig“ Wertschöpfungsketten gestoppt werden.
3.2 / Drei Wochen für den Planeten gewonnen
Anfang 2020 bereiten wir einen Text über Ökologie vor, der bald auf diesem Blog erscheinen wird. In jedem Fall sagen wir, dass keine der Ursachen der globalen Erwärmung minimiert wird, indem eine Gesundheitskrise angegangen wird, die ein Element der Umweltkrise ist. Anders als die tödlichere „Spanische Grippe“ drückt die aktuelle Pandemie übrigens den Widerspruch zwischen der kapitalistischen Produktionsweise und ihren unverzichtbaren natürlichen Grundlagen aus. Die Umweltverschmutzung, die Verschlechterung der Artenvielfalt, die Abholzung der Wälder … werden weitergehen, und zum Beispiel wird die industrielle Viehzucht weiterhin das Auftreten neuer Viren und Krankheiten fördern, für die wir anfällig sein werden.
Ohne Zweifel, hat das Jahr 2020 aufgrund der durch die Pandemie verursachten wirtschaftlichen Verlangsamung den „Tag des Exzesses“, an dem die Menschheit alle Ressourcen verbraucht, die die Ökosysteme in einem Jahr produzieren können, um drei Wochen verschoben. Es wäre jedoch ein Fehler zu erwarten, dass diese Verlangsamung der Produktion länger andauern und zu einer ökologischen „Planung“ oder „Verzweigung“ in der Zukunft führen wird. Kinder werden einfach mehr Bio-Essen in der Schulkantine essen, und ihre Eltern werden mehr lokales Gemüse im Carrefour kaufen, in einer Öko-Nachbarschaft leben, ein Elektroauto in einer „Null-Kohlenstoff“-Stadt in einem „Grünes-Wachstum-positive-Energie“-Gebiet fahren.
Wir werden die Urbanisierung der Welt nicht aufhalten, wir werden sie grün machen. London, eine typische „globalisierte“ Metropole, die zwischen 2008 und 2019 ein Drittel der Arbeitsplätze in England geschaffen hat, wird seine Gebäude begrünen, Benzinfahrzeuge verbieten, elektrische Busse und Straßenbahnen einführen, seinen „grünen Gürtel“ vergrößern und die Zahl der Gemüsegärten für die Stadtbewohner vervielfachen. In der Zwischenzeit wird die Nahrung für die Londoner nicht aus der Region oder gar dem Land kommen, sondern aus der ganzen Welt: Wenn heute in Großbritannien ein Hektar Land hundertmal profitabler ist, wenn es für den Bau genutzt wird als für die Landwirtschaft, könnte nur ein tiefgreifender gesellschaftlicher Umbruch dem Gesetz des Ertrags ein Ende setzen.
Man muss schon naiv sein, um sich darüber zu wundern, dass die Regierungen vor allem (weitgehend) Unternehmen (insbesondere die Luftfahrt- und Automobilindustrie) finanzieren und (aber nur für kurze Zeit) Teilzeitbeschäftigten helfen wollen. Wettbewerb und Profit bedeuten, dass es normal ist, die Produktion zu subventionieren, obwohl sie negative Auswirkungen auf die Umwelt hat. Mit einem Wort, die Folgen reduzieren, während man die Ursachen nährt. Wir sparen hier Energie, um dort mehr Energie zu verbrauchen. Bereits in Frankreich wurde die Kernenergie vollständig elektrisch betrieben: Das ist in der Tat der Weg, der eingeschlagen wurde, und zwar durch einen „Mix“, der zunehmende Dosen fossiler Brennstoffe mit einem wachsenden Anteil erneuerbarer Energien mischt… ohne die Kernenergie aufzugeben. Wir werden weniger Plastikverpackungen verwenden, was das Wachstum der weltweiten Plastikproduktion nicht verhindern wird. Usw.
Und das in der Illusion eines leichteren, also weniger umweltbelastenden Kapitalismus, da er digital ist. Doch in der Realität wiegt das Virtuelle schwer: Rohstoffe, Treibstoff, Fertigung, Transport, Wartung…
„Der Weltenergieverbrauch wächst weiter (+2,3 % im Jahr 2018), wobei immer noch mehr als 80 % aus fossilen Brennstoffen stammen. Auch der Energiebedarf für die Energieerzeugung steigt, da Felder mit geringerer Qualität oder so genannte „unkonventionelle“ Kohlenwasserstoffe wie Ölsande ausgebeutet werden. … die „Energierückzahlungsrate“ sinkt weiter. […] Allein das Anschauen von Videos im Internet, die in riesigen physischen Infrastrukturen gespeichert sind, hätte bis 2018 so viele Treibhausgasemissionen verursacht wie ein Land wie Spanien. […] Ein Standardprojekt für automatisches Lernen stößt heute über seinen gesamten Entwicklungszyklus etwa 284 Tonnen CO2-Äquivalent aus, das Fünffache der Emissionen eines Autos von seiner Herstellung bis zum Schrottplatz. […] Die Technologieriesen haben wenig Interesse, effizientere Methoden einzusetzen. Sie sind auch nicht daran interessiert, dass ihre Benutzer ein ökologisches Verhalten an den Tag legen. Ihr zukünftiger Wohlstand hängt davon ab, dass sich jeder daran gewöhnt, das Licht einzuschalten, indem er in einen angeschlossenen Lautsprecher spricht, anstatt einen dummen Schalter zu drücken. Die ökologischen Kosten dieser beiden Operationen sind alles andere als ähnlich. Das erste erfordert ein ausgeklügeltes elektronisches Gerät mit einem Sprachassistenten, dessen Entwicklung viele Rohstoffe, Energie und Arbeitskraft verbraucht hat. Es macht keinen Sinn, gleichzeitig für das „Internet der Dinge“ und den Kampf gegen die Klimakrise einzutreten: Die Zunahme der vernetzten Objekte beschleunigt nur die Zerstörung der Umwelt. Und es wird erwartet, dass 5G-Netzwerke den Energieverbrauch von Mobilfunkbetreibern in den nächsten fünf Jahren verdoppeln oder verdreifachen werden“. (Sébastien Broca, „Das digitale Karbid aus Kohle“).
Milliarden von „kommunizierenden“ Objekten sind dabei, in unser Leben zu platzen. Der „Zug des Fortschritts“ nimmt seinen Kurs für einen Moment unterbrochen wieder auf. Die globale Erwärmung bereitet neue tropische Pandemien vor. Es wird andere Coronaviren geben.
Aber beruhigen wir uns: Google berichtet, dass „Forscher setzen künstliche Intelligenz in Uganda ein, um die Luftverschmutzung zu reduzieren“.
3.3 / Beschleunigung
Obwohl sich die Welt vorübergehend verlangsamt hat, werden die zugrundeliegenden Trends durch die Krise verstärkt, wie unter anderen Umständen durch den Krieg.
Zu den täglichen Statistiken der Infizierten und Toten fügen die Medien die der Produktionsausfälle hinzu und sagen einen finanziellen Zusammenbruch voraus. Es ist möglich. Aber in den Vereinigten Staaten verloren die Aktien an der Börse zwischen 1929 und 1932 90 % ihres Wertes, und die Industrieproduktion ging zwischen 1929 und 1933 um 52 % zurück: In diesem Jahr gab es in diesem Land 25 % Arbeitslosigkeit und 2 Millionen Obdachlose. Doch der Kapitalismus ging weiter.
Keine einzelne gigantische und verheerende Epidemie wird von alleine, es sei denn, sie löscht fast die gesamte Weltbevölkerung aus, dem Kapitalismus ein Ende setzen. Sie wird die Gleichgewichte durcheinander bringen, die politischen, geopolitischen und sozialen Karten in den unerwartetsten und entgegengesetzten Richtungen neu ordnen. Die Krise von 1929 hatte zum New Deal, zum Nationalsozialismus und zu Volksfronten geführt, die UdSSR wurde stärker und in Schweden brachte eine reformierende Sozialdemokratie für Jahrzehnte an die Macht.
„Die Reproduktion der kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse erfordert manchmal enorme Opfer bei ihren materiellen Trägern (Dinge und Personen) […] aus demselben Grund können diese Verhältnisse nicht absichtlich verändert oder durch einen Automatismus der Geschichte (einen ‚Zusammenbruch‘ zum Beispiel) rückgängig gemacht werden“. (Il Lato Cattivo)
Mit einigen Korrekturen geht die Herrschaft von „gerade rechtzeitig“ und „Null auf Lager“ weiter. Die Apotheke wird einige Medikamente verkaufen, die in Lyon oder Madrid hergestellt wurden, aber die Europäer werden trotzdem ein Smartphone kaufen, das auf einem Schiff mit 2.000 Containern aus Asien geschickt und dann in einem UPS-LKW oder Transporter transportiert wird. Der Computer, der am Standort Mers-les-Bains eingesetzt wird, wird nicht aus deutschen oder holländischen Fabriken kommen, wie es früher bei den FMCG-Radios und -Fernsehern von Grundig oder Philips der Fall war.
Wir können uns eine sehr partielle Rückkehr zum sogenannten Sozialstaat vorstellen. Die Bourgeoisie ist mit den Haushaltskürzungen, der Privatisierung, der Rationalisierung der öffentlichen Dienste, die wie Unternehmen funktionieren sollen, dem gesamten Markt und dem kleinstmöglichen Staat zu weit gegangen. Der Kapitalismus setzt einen nicht-kapitalistischen Raum voraus, und einen Staat, der mit anderen Logiken arbeitet, die nicht rein mit Waren verbunden sind.
Das schmälert nicht die bourgeoise Vorherrschaft, insbesondere im Finanz- und Bankensektor. Der Coronavirus wird den Marsch in Richtung niedrigere Renten, Prekarität, Individualisierung des Arbeitsmarktes und Rückschritt der sozialen Absicherungen nicht aufhalten.
3.4 / Wird es ein Leben ohne Internet geben?
Was das Coronavirus eingeleitet hat, ist das groß angelegte Erlernen der Tele-Existenz. Das freiwillige und erzwungene Zuhausebleiben hat gezeigt, dass ein „normales“ Leben ohne digitale Technik heute nicht mehr möglich ist. Das Internet war sowohl ein Mittel für Staaten, um Einschränkungen zu erzwingen, als auch für die Bevölkerung, um sie zu unterstützen.
Zugang zu öffentlichen Diensten, Bildung, Familien- und Freundschaftsbeziehungen, Sexualität (Dating-Seiten und Pornografie), Freizeit, Einkaufen, Arbeit (wenn auch in geringerem Maße als behauptet), sogar politische Aktivität – dank der Einsperring hat die Entwicklung hin zum völlig Digitalen einen Sprung nach vorne gemacht. Kommunikation über Smartphones und die allgegenwärtige Präsenz von Bildschirmen: Die Gesellschaft der Individuen sozialisiert sie auf Distanz.
In den letzten rund 30 Jahren sind Computer für die Zirkulation von Kapital und Waren unentbehrlich geworden – angefangen bei der Arbeitskraft. In dem Maße, wie der Kapitalismus den Alltag kolonisiert hat, installiert er das Digitale auch im Schlafzimmer, im Auto, im Kühlschrank und bereitet sich darauf vor, es in Körper zu implantieren. Was als einfach „praktischer und schneller“ dargestellt wurde, wird nun als notwendig aufgezwungen, bevor es verpflichtend wird. Der Mensch lebt nun „Online“. Vielleicht hat er bald einen virtuellen Assistenten, der in der Lage ist, alle seine persönlichen Daten zu verknüpfen, seine Einkäufe für ihn zu erledigen, seine Gesundheit zu überwachen, indem er ihn an die Einnahme seiner Medikamente erinnert, seinen Terminkalender zu verwalten, eine Person zu kontaktieren, mit der er schon lange nicht mehr gesprochen hat, und so seine Bedürfnisse besser zu kennen als er selbst.
Die digitale Entgiftung wird die Mode des Slow-Foods nicht erleben.
In weniger als 15 Jahren ist das Ordiphone (tragbarer Computer), wie die Quebecker sagen, zu einer lebenswichtigen Prothese für mindestens drei Milliarden Menschen geworden, von denen im Jahr 2019 1,5 Milliarden Exemplare verkauft wurden. Zum ersten Mal ist ein Werkzeug für die Arbeit auch ein unentbehrlicher Gegenstand für das emotionale, familiäre, intellektuelle Leben usw., aber auch ein privilegiertes Instrument der sozialen und politischen – und damit polizeilichen – Kontrolle. Und immer im Namen des kollektiven Wohlergehens: Ein Ort, der von Kameras bewacht wird, soll „unter Videoschutz“ stehen. Das Zauberwort „Sicherheit“ wird im Angesicht des Kriminellen ebenso aufgezwungen wie im Angesicht des Terroristen und des Virus, und die Gesundheitskrise zeigt, in welchem Ausmaß der Staat unsere Unterwerfung im Namen der Gesundheit erlangt. Neben der Gesichtserkennung (in diesem Bereich ist China die Zukunft der Welt) hat die Funkidentifikation eine große Zukunft vor sich. Heute eher Haustieren vorbehalten, wird der subkutane Mikrochip in Menschen implantiert werden, die ihre medizinischen Daten, ihr Strafregister usw. bei sich tragen werden, und, abgesehen von einigen Widerspenstigen, werden die modernen Bürger dieses System annehmen, wie sie es mit dem biometrischen Pass oder der dematerialisierten Steuererklärung getan haben.
Ohne sich zu freuen, sollte dies nicht überraschend sein. Damit der Internetnutzer „mit ein paar Klicks“ die Wettervorhersage in Vilnius oder den richtigen Namen der Person, die mit „Baron Corvo“ unterschrieben hat, erfahren kann, war es notwendig, ständig Millionen von Informationen zu sammeln und zu aktualisieren, zu denen auch diese Suche ihre Spuren hinzufügen wird. Man kann nicht alles über alles wissen, ohne Teil des Ganzen zu sein, und in jedem Moment „verfolgt“ werden.
4 / BALANCE UND PERSPEKTIVEN
4.1 / Abstand
In der im Frühjahr 2019 ausgestrahlten Serie Years and Years wird England im Jahr 2029 von einer autoritären (und sogar kriminellen) Regierung regiert, die angesichts einer von Affen verbreiteten Epidemie „sensible“ Stadtteile hinter polizeilich kontrollierten Schranken abriegelt und den Zugang bei Nacht verbietet.
Ein Jahr nach der Premiere der Serie wurde diese politische Fiktion für drei Milliarden Menschen zur Realität: Reisebeschränkungen, Ausgangssperren, eine allgegenwärtige Polizei. Aber dieser weltweite (und global erfolgreiche) „biopolitische“ Experiment hat sichtbar das manifestiert, was im Wesentlichen schon vorhanden war: Außer der EHPAD hat uns die Einsperrung nicht mehr „sozialer“ voneinander getrennt als vorher. Auch nicht weniger. Unter Hausarrest haben wir die Kontrolle über unser Leben verloren: aber welche hatten wir im Februar 2020? Die Freiheit, zur Arbeit zu gehen, solange wir angestellt sind, und die Freiheit, Buddhist oder Marxist zu sein, solange diese Überzeugungen Meinungen bleiben, die keine Auswirkungen auf die Grundlagen der Gesellschaft haben. Ein Kommunist aus den 1840er Jahren sagte, dass die Proletarier von äußeren Ursachen abhängig seien. Im Jahr 2020 manifestierte die massenhafte Akzeptanz der erzwungenen Atomisierung die Uneinigkeit, die das tägliche Los der Proletarier ist, umso mehr in einer Ära der geteilten Kämpfe und getrennten Identitäten.
Eine Epidemie und ihre staatliche Behandlung sind nicht niederschmetternder als z. B. die Kriegserklärung vom 14. August, die damals fast die gesamte Arbeiter- und sozialistische Bewegung lahmlegte.
Im 21. Jahrhundert, anders als in den 1840er Jahren, hat die große Mehrheit der Menschheit keine andere Möglichkeit zu leben, als Krieg zu führen – wenn möglich und unter den auferlegten Bedingungen.
Aber dieses gemeinsame Schicksal reicht nicht aus, um sich zu vereinen und zu vereinigen: Es ist notwendig, dass die sozialen Kämpfe zuvor begonnen haben, auf ein gemeinsames Ziel hinzuweisen. Nun gibt es zwar viele Kämpfe, wahrscheinlich mehr als man sich vorstellt, und von größerer Vielfalt als in der Vergangenheit – Arbeits-, „Gender“-, ökologische Konflikte… – und obwohl diese Kämpfe manchmal siegreich sind, bleiben sie fragmentiert, unfähig, den Kern des Problems zu erreichen. Die Pandemie, die Arbeitslosigkeit in einem Teil der Wirtschaft und die Einsperrung haben einige Kämpfe unterbrochen, aber auch andere provoziert. Aber Gleichzeitigkeit ist nicht Gleichschaltung, Nebeneinander ist nicht Zusammenfließen, und Vereinigung ist auch nicht gleichbedeutend mit Überwindung. Bislang fallen Widerstand und Ablehnung bei der Forderung nach Reformen bestenfalls zusammen.
Der Kampf um Löhne und Arbeitsbedingungen wirkt sich auf das Lohn-/Gewinnverhältnis aus, greift aber nicht automatisch (und in der Tat selten) die Löhne selbst an. Auch die Weigerung, seine eigene Gesundheit für einen Arbeitgeber zu riskieren, die Forderung nach Schutzmaßnahmen oder sogar die Forderung, bezahlt zu werden, ohne zur Arbeit zu kommen, solange die Gefahr besteht, reicht nicht aus, um die Koexistenz von Bourgeoisie und Proletariat in Frage zu stellen. Es gibt sehr wenig Kritik an der Arbeit und noch weniger Kritik am Staat als Staat, schreiben die Autoren von „Koste was es wolle. Der Staat, das Virus und wir“1, im April 2020: Die Beobachtung ist immer noch gültig.
Wir können uns eine Umkehrung gegen Ende der Pandemie vorstellen, bei der alle separaten Kritiken zusammenlaufen, um die grundlegende Struktur anzugreifen, diejenige, die die anderen Unterdrückungen nicht hervorbringt, sondern sie aufrechterhält und reproduziert: das Verhältnis Kapital/Arbeit, Bourgeoisie/Proletariat. Die verschiedenen Kämpfe würden „ausfällen“, wie man in der Chemie sagt, wenn die heterogenen Elemente, die bis dahin verstreut waren, zu einem Block kristallisieren. Der Widerstand würde in die Phase eines Angriffs auf die Grundlagen dieser Gesellschaft übergehen. Die herrschenden Eliten würden umso mehr abgelehnt werden, als ihre Verwaltung der Krise sie diskreditiert und große Teile der Bevölkerung gegen sie aufgebracht hat. Unter Ausnutzung der Lahmlegung eines Teils der Produktion würden die Proletarier versuchen, die Gesellschaft umzugestalten, indem sie sich gegen die Kräfte des Staates auflehnen, die bourgeoise Herrschaft angreifen, mit der Produktivität und dem Warenaustausch brechen, das Schädliche vom Nützlichen trennen, eine Disakkumulation (Verminderung2) einleiten usw.
Das ist nicht unmöglich, aber derzeit deutet nichts darauf hin, dass sich die vielgestaltigen Kämpfe in diese Richtung bewegen. Vielmehr zeigen sichtbare Zeichen das Überleben kategorischer, identitätsbezogener, lokaler, nationaler, religiöser Trennungen und manchmal auch das Entstehen neuer Trennungen.
Und es gibt kein Rezept, um dass zu vermeiden.
4.2 / Hypothese
Das Virus und seine Behandlung ändern nichts Grundlegendes: Sie offenbaren und akzentuieren die Entwicklungen. Ein historisches Ereignis, selbst in der Größenordnung der aktuellen Pandemie, kehrt nicht per se den Lauf der Geschichte um. Der Covid setzt vieles aus, er unterbricht nicht den Kapitalismus oder seine Herrschaft, es ist nicht einmal sicher, dass er seine gegenwärtigen Formen ändern wird, wie es mit dem Krieg von 1914-18 oder der Krise von 1929 geschah.
Wir erleben nicht das Ende der Welt oder das Ende einer Welt. Die Pandemie stärkt die bestehende Ordnung: Die Bourgeoisie als Klasse zeigt wie üblich recht gute immunologische Abwehrkräfte.
Der Kapitalismus hat eine (reale) Brüchigkeit nur in dem, was ihn begründet: dem Proletariat. Mehr als jedes andere System nährt sich diese Produktionsweise von den überwundenen Krisen, auch den schweren, weil sie erstaunlich unpersönlich und plastisch ist und sich an das Wesentliche hält: das Verhältnis von Kapital und Arbeit, das Unternehmen, die Konkurrenz… Das kapitalistische Gesellschaftsverhältnis ist zugleich „Träger seiner eigenen Überwindung oder Reproduktion auf einer höheren Ebene“: Von allen „Ausbeutungsverhältnissen zwischen antagonistischen Klassen“, die historisch existiert haben, ist es „das widersprüchlichste und daher das dynamischste“. (Il Lato Cattivo, „Covid-19 und darüber hinaus“3, März 2020).
Wir werden ein „historisches Gesetz“ vorschlagen (das wie jedes Gesetz seine Ausnahmen zulassen würde):
In Ermangelung einer bereits existierenden sozialen Bewegung, die bereits radikalisiert ist (d.h. dazu neigt, die Grundlagen der Gesellschaft anzugreifen), kann eine Katastrophe nur die Auslösung von Teilkonflikten unterschiedlicher Intensität begünstigen und die etablierte Ordnung zwingen, sich weiterzuentwickeln und somit zu stärken.
Aus dem Coronavirus gehen alle gestärkt hervor. Die Linke Frau kommt zu dem Schluss, dass wir echte öffentliche Dienstleistungen brauchen, der Neoliberale, dass der Staat sich als unfähig erweist, der Rechtsextreme, dass die Grenzen geschlossen werden müssen, der Ökologe, dass die kleinen Schritte vervielfacht werden müssen, der Regierungsökologe, dass wir jede politische Kraft zusammenbringen müssen, die für das Klima arbeiten kann, der Transhumanist, für den es an der Zeit ist, sich in Richtung einer größeren Menschlichkeit zu bewegen, der Forscher, für den die Forschung Anerkennung braucht, der Aktivist, für den es dringend notwendig ist, die Kämpfe anzukurbeln, der Resignierte, dem alles entgeht, der Kollapsist4, für den wir uns an das Schlimmste gewöhnen müssen… Und der Proletarier? Was hat er bestätigt? Auf jeden Fall denkt er und wird er denken, was seine Handlungen und Kämpfe ihm zu verstehen geben werden.
Wir stellen uns nur die (theoretischen) Fragen, auf die wir bereits begonnen haben, (praktische) Antworten zu geben.
Gilles Dauvé, 22. September 2020.
Lektüren:
– Michael Roberts, «It was the virus that did it», The Next Recession, 15 mars 2020.
– Et «Lockdown!», The Next Recession, 24 mars 2020.
– Jean-Paul Sardon. «De la longue histoire des épidémies au Covid-19», Les Analyses de Population & Avenir, 2020.
– Jean-François Toussaint & Andy Marc, «Sortir d’un confinement aveugle», larecherche.fr, 22 avril 2020.
– Gaël Giraud, «Dépister et fabriquer des masques, sinon le confinement n’aura servi à rien», reporterre.net, 24 mars 2020.
Giraud s’illusionne sur la possibilité de créer aujourd’hui «un système de santé publique digne de ce nom», non dominé par « une industrie médicale en voie de privatisation».
– Jean-Dominique Michel, Covid: Anatomie d’une crise, HumenSciences, 2020, 224 p.
– Comme Gaël Giraud, J.-D. Michel croit possible dans le monde actuel un système de santé qui serait autre chose qu’une industrie de la maladie.
– Il Lato Cattivo, „Covid-19 und darüber hinaus“, siehe Fußnote Nr. 3.
– B.A. et R.F., «Accouchement difficile – Chronique d’une crise en devenir», hicsalta-communisation.com
– Raffaele Sciortino, «Géopolitique du virus», acta.zone, 29 avril 2020.
– Sébastien Broca, «Le numérique carbure au charbon», Le Monde diplomatique, mars 2020.
– Tristan Leoni & Céline Alkamar, „Koste es was es wolle; das Virus, der Staat und wir“, siehe Fußnote Nr. 1.
– Sur les luttes actuelles et les nouvelles formes de réformisme : Tristan Leoni, «Abolir la police?», septembre 2020.
– Site de Pièces & Main d’œuvre, notamment «Le virus à venir et le retour à l’anormal», et «Le virus de la contrainte».
– Zitat von Hegel: „Ich bin gleich 50 Jahre alt, habe 30 davon in diesen ewig unruhevollen Zeiten des Fürchtens und Hoffens zugebracht und hoffte, es sei einmal mit dem Fürchten und Hoffen vorbei. Nun muß ich sehen, daß es immer fortfährt, ja, meint man, in trüben Stunden, immer arger wird.“ (Brief an Friedrich Creuzer, 30. Oktober 1819)
– https://www.worldometers.info/coronavirus/
– https://feverstruggle.net/category/reports/
2A.d.Ü., was hier auch als Disakkumulation bezeichnet wird, wird im englischsprachigen Raum als Degrowth Theorie bezeichnet und m deutschsprachigem Raum bezeichnet man diese Theorie als Wachstumskritik. Diese Theorie besagt dass der Wachstum des Kapitalismus nicht ins unendliche Wachsen kann, weil auch die dafür benötigten Ressourcen endlich sind. Das heißt man setzt sich für eine umweltfreundliche Ökonomie ein die mehr auf erneuerbaren Energien setzt und den Menschen anstatt den Profit in Zentrum setzt. Dies wäre natürlich eine fürchterliche Verkürzung zu dieser Thematik. Wir sind dennoch der Meinung dass dieser reformistische Trend nur ein weiterer Schwachsinn ist um das Kapital zu reformieren, anstatt diesen zu vernichten. Ein Text der sich mit dieser Thematik beschäftigt findet ihr auf unseren Blogs hier und hier. Weitere Texte zu diesem Thema werden folgen.
4A.d.Ü., ein Kollapsist ist ein Befürworter der sogenannten Kollapstheorie, siehe Fußnoten Nr. 2.