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Gefunden auf mapas y huellas, der Text ist ursprünglich von Il Lato Cattivo, die Übersetzung ist von uns. Hier zwei interessante Texte zum Konflikt zwischen Palästina und Israel die die Einordnung in nationalistische und etatistische Lage kritisieren und aus materiellen Entwicklungen des Kapitals in der Region des Konflikt analysieren.


BRIEF ÜBER DEN ANTIZIONISMUS

Veröffentlicht am 11. Oktober 2023 von mapasyhuellas

von R.F (Il Lato Cattivo, Juli 2014).

Liebe Gefährtinnen und Gefährten!

ich möchte euch meine Meinung zu den aktuellen Entwicklungen im israelisch-palästinensischen Konflikt mitteilen. Verzeiht mir, wenn ich dieses Thema in eine lange Form bringen muss. Der so genannte Antizionismus – mit dem Alibi, „im Konkreten“ zu sein – verklärt jedes Mal die aktuellen Ereignisse in einem metaphysischen Sinne. Einerseits ist das normal: Es gehört zum „Anti“-Sein, einen absoluten Feind zu haben, mit dem alle anderen Feinde zu relativen Feinden werden. Jetzt ist Israel an der Reihe, das Ziel zu sein, und meiner Meinung nach ist es notwendig, sich davon zu distanzieren. Es ist nicht der Angriff auf die Synagogen während der Demonstration in Paris am Samstag, den 19. Juli, der diese Notwendigkeit bestimmt, auch wenn er sie in gewisser Weise noch verstärkt. Die Ausschreitungen, die stattgefunden haben, sollten nicht übertrieben werden; aber es stimmt, dass sie symptomatisch für etwas sind – eine Tendenz -, deren Möglichkeit mit der eigentlichen Definition des Antizionismus einhergeht. Die Verwirrung zwischen Juden, Zionismus und Israel, die Flüssigkeit, mit der diese verschiedenen Begriffe austauschbar werden, auch wenn sie sich nicht in öffentlichen Reden oder programmatischen Slogans manifestiert, ist außerdem ganz offensichtlich in dem informellen Geplauder, das hier und da auf Demonstrationen stattfindet. Es geht keineswegs darum, den Staat Israel zu verteidigen – das wäre einfach absurd -, sondern einfach darum, die israelisch-palästinensische Frage in der Geschichte neu zu positionieren, zumal die Verwandlung des Feindes in einen absoluten Feind den Mythos nährt und reproduziert. Es geht auch darum, aus zwei für einen Kommunisten gleichermaßen unhaltbaren Positionen auszubrechen: einerseits die „Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand“ und andererseits der proletarische Internationalismus als abstraktes Prinzip. Zu diesem letzten Punkt möchte ich zunächst sagen, dass den Antizionisten entgeht, dass wenn es heute Spielräume für Druck auf die Bewegungen der israelischen Regierung gibt, diese genau auf der Seite derer liegen, die dort, in Israel, leben. Die Demonstrationen, die in Israel gegen die Massaker im Gazastreifen stattgefunden haben, sind ermutigend und zwangsläufig bedeutender als die, die anderswo stattgefunden haben; aber sie bleiben auf jeden Fall klein, vor allem, wenn man davon ausgeht, dass es sich eher um moralische Empörung oder ein prinzipielles Plädoyer handelt, wie es bei den heutigen Friedensbewegungen oft der Fall ist. Sie sind der fruchtbarste Boden für die linke und akkulturierte petite Bourgeoisie mit all ihren guten Gefühlen (einige werden sich an die großen Demonstrationen in Italien gegen den Krieg im Irak und in Afghanistan erinnern, an die Friedensfahnen, die aus den Fenstern hingen… und wie das alles endete). In der Praxis würde es eines Generalstreiks bedürfen, der die israelische Ökonomie in Mitleidenschaft zieht (oder zumindest damit droht), um die israelische Regierung vorübergehend in ihre Schranken zu weisen. Andererseits sollte es nicht überraschen, dass dies nicht geschieht. Aufrufe zum Klassenkampf und zur Solidarität unter den Ausgebeuteten sind zwecklos. Es wird für die israelische und die palästinensische Arbeiterklasse schwierig sein, sich in einem gemeinsamen Kampf zu vereinen, und zwar aus dem einfachen Grund, dass sie nicht unter denselben Bedingungen leben. Es ist keine Frage des „Klassenbewusstseins“, sondern der objektiven Situation: Ihr könnt die besten Gefährtinnen und Gefährten der Welt sein, aber das ändert nichts, wenn die Situation euch objektiv begünstigt. Ich zitiere eine Passage aus der Zeitschrift der Théorie Communiste über den Nahen Osten, die diesen Gedanken meiner Meinung nach besonders gut veranschaulicht:

Die Veränderungen im israelischen Kapital haben die Lage des israelischen Proletariats verschärft, und diese Verschärfung ist tief mit den Veränderungen in der Verwaltung der Gebiete und der Nutzung der palästinensischen Arbeitskraft verbunden. Das Verschwinden des historischen Zionismus in diesen Transformationen bedeutet die Schwächung aller nationalen oder sektoralen Unternehmen, die sich in den Händen der Histadrut befinden. Vor allem aber setzt der Einsatz palästinensischer Arbeitskräfte die israelische Arbeiterklasse der Konkurrenz durch ihre niedrigen Löhne und die noch niedrigeren Löhne in den arabischen Nachbarländern aus. Große Teile der im öffentlichen Sektor beschäftigten jüdischen Arbeiterinnen und Arbeiter, vor allem Jugendliche, Frauen und Neueinwanderer, sind nun auf Zeitverträge angewiesen. Zusammenschlüsse prekärer Arbeiterinnen und Arbeiter oder neue kleine „radikale“ Gewerkschaften/Syndikate, die bei Streiks wie bei der Eisenbahn (2000) entstehen, haben es sehr schwer, von der Histadrut akzeptiert zu werden (Aufheben, „Behind the twenty-first century Intifada“, Nr. 10, 2002). Die Verschlechterung der Lage des israelischen Proletariats und die Viertelglobalisierung des palästinensischen Proletariats gehören zwar zu denselben Veränderungen des israelischen Kapitalismus, aber das gibt uns nicht die Bedingungen für irgendeine „Solidarität“ zwischen den beiden, ganz im Gegenteil. Für den israelischen Proletarier ist der palästinensische Niedriglohnarbeiter eine soziale und zunehmend physische Gefahr, für den palästinensischen Proletarier beruhen die Vorteile, die der Israeli behalten kann, auf seiner Ausbeutung, seiner zunehmenden Relegation und der Aneignung von Gebieten.“ (Théo Cosme, Le Moyen-Orient, 1945-2002, Senonevero 2002, S. 259-260).

In vielerlei Hinsicht ist es also traurige Realität, dass das Nein zum Krieg, das die Grundlage für die Demonstrationen in Israel bildete, der würdigste Teil des gegenwärtigen Konflikts ist, wenn überhaupt. Umgekehrt sind die Antizionisten – wäre da nicht der Schaden, den sie anrichten – fast liebenswert in ihrer glückseligen Ignoranz gegenüber den Dingen dieser Welt. Vor allem die „Antikapitalisten“: Ihr Problem ist übrigens – als Sammler von Anti-Ismen – dass man immer nur einen absoluten Feind haben kann… und wenn man sie zwingt, zwischen Kapitalismus und Israel zu wählen, entscheiden sie sich meist für Israel. Auch weil es bequemer ist, gegen Menschen zu sein als gegen die sozialen Beziehungen, die ihre gesellschaftliche/soziale Funktion und Position bestimmen.

Ich habe bereits gesagt, dass die israelisch-palästinensische Frage auf jeden Fall in die Geschichte zurückkehren muss. Beginnen wir also mit einer banalen Tatsache. Schauen wir uns die geografische Karte der Region und die verschiedenen territorialen Entwicklungen vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis heute an: Ausgehend von einigen wenigen Siedlungen – hauptsächlich an der Küste und im Norden – hat sich Israel seit seiner Gründung als Proto-Staat im Jahr 1946 in 60 Jahren fast das gesamte historische Palästina angeeignet. Von dem, was 1967 noch der Gazastreifen und das Westjordanland darstellten, ist für die Palästinenserinnen und Palästinenser nur wenig übrig geblieben (diese Grenzen werden heute von der Hamas beansprucht). In dieser Situation ist die Frage nach den Grenzen eines „legitimen“ israelischen Staates bedeutungslos, weil sie schlichtweg unmöglich ist: Die Logik des Landraubs scheint untrennbar mit der Existenz einer Nation-Staat verbunden zu sein. Auf der Grundlage dieser unbestreitbaren Tatsache entscheiden Antizionisten über den illegitimen Charakter des israelischen Staates und definieren ihn so als „zionistisch“, als ob dieses Adjektiv bereits alles sagt. Das würde bedeuten, dass es Staaten gibt, die ein Recht auf Existenz haben, und andere, die keins haben. Aber die Frage, inwieweit der israelische Staat im Vergleich zu anderen Staaten mehr oder weniger „legitim“ ist, ignoriert einfach, wie sich Nationen-Staaten als homogene Räume konstituieren. Man braucht sich nur die Geschichte des italienischen Staates anzusehen: die interne Kolonisierung, die von der ehemaligen Savoyer Herrschaft gefördert wurde, die Verfolgung des „Banditentums“, die Italianisierung Südtirols und Istriens unter dem Faschismus, die zentrifugalen Spannungen und die „nationale Befreiung“ in Sizilien und Sardinien usw. Was ist ein legitimer Staat? Und was ist ein illegitimer Staat? Das Gleiche gilt für das sogenannte „Recht auf Land“. Auf welcher Grundlage kann man behaupten, dass dieses oder jenes geografische Gebiet dieser oder jener Bevölkerung „gehört“, nur weil sie dort gelebt hat? Und wer hat vor der Besiedlung dort gelebt? Es sind die vollendeten Tatsachen, die das „Recht“ bestimmen, Punkt – zumindest in der Welt, in der wir heute leben. Es ergibt keinen Sinn, sich auf die Kontroverse „Wer war zuerst da“ einzulassen oder sie anzuheizen. Es ist klar, dass eine solche Argumentation eine Form von juristischem Formalismus beinhalten muss. Das eigentliche Problem liegt in der Tatsache, dass mich jemand aus meinem Haus werfen kann, in der Tatsache, dass es ein Meins und ein Nicht-Meins gibt … und in der Tatsache, dass das, was meins ist, den Appetit anderer so sehr wecken kann, dass sie bereit sind, zu Ausflüchten zu greifen, um es zu bekommen. Mit ein bisschen Glück und den richtigen ökonomischen und militärischen Ressourcen kann ich mein Haus vielleicht zurückbekommen. Wenn ich weniger Ressourcen habe, werde ich den Kürzeren ziehen. In jedem Fall ist die Quintessenz, dass all dies keine über sich selbst hinausgehende Dynamik enthält, jenseits von Ressentiments und Vorwürfen, die mit erlittenen Kränkungen beladen sind. Ob der Grund nun meiner ist oder nicht, es handelt sich um eine typisch militärische Konfrontation: Aktion ruft nach Reaktion, und so weiter, bis der Schwächere vernichtet ist. Wenn wir mehr als das sehen wollen, muss der betreffende Usurpator die Interessen des absoluten Feindes vertreten (die Vereinigten Staaten, die Lobbys, das „jüdische Finanzwesen“; wir werden später darauf zurückkommen). Außerdem ist es einfach nur dumm, die Nationalität des Judentums mit der Begründung anzufechten, es sei einfach nur eine Religion, wie Garaudy es in Les mythes fondateurs de la politique israélienne (Die Gründungsmythen der israelischen Politik) am Beispiel der ultraorthodoxen Juden lächerlich macht: Das bedeutet, die Idee der Geschichte entgegenzusetzen oder sich in nutzlosen Forschungen zu verlieren, die bis in die Anfänge der Zeit zurückreichen, um die wahre oder vermeintliche Authentizität dieser oder jener Nationalität zu bestätigen. Israel vorzuwerfen – wie es der amerikanische marxistische Jude Bertell Ollman in seinem Austrittsbrief aus dem jüdischen Volk tut -, dass es die universalistische Tradition des Diaspora-Judentums verraten hat, bedeutet, aus ihm ein Wesen zu machen, das vor der historischen Entwicklung geschützt ist. Es reicht aus, wenn wir wissen, dass jeder Mensch seine Vergangenheit entsprechend seiner eigenen Gegenwart lebt und durchlebt. Die Erfahrung der Gegenwart selektiert und überarbeitet ständig das bereits vorhandene historische Material. Keine nationale Identität entsteht ex nihilo, aus dem Nichts; aber die erforderliche Kohärenz und die Inkubationszeit sind kürzer, als man denken könnte. In dem Maße, in dem ein „Gefühl der nationalen Zugehörigkeit“ – aus Gründen, die wir mehr oder weniger gut finden können – in der Geschichte auftaucht und sich festigt, wird es in der Realität wirksam. Keine Nation ist an sich „legitim“; ihre Legitimität hängt lediglich von ihrer Fähigkeit ab, sich im Laufe der Geschichte zu vereinen, fortzubestehen und zu verändern, ohne zu verschwinden. Wie bei sozialen Bewegungen sind die Anfänge immer in der Minderheit und der zukünftige Verlauf ist nicht völlig vorhersehbar. Die PKK – die offizielle Inkarnation der kurdischen nationalistischen Bewegung, die früher „etatistisch“ war und heute den „demokratischen Konföderalismus“ propagiert – bestand bei ihrer Gründung Anfang der 1970er Jahre aus einer Handvoll Studenten in Ankara. Auf dem außergewöhnlichen Charakter des israelischen Konfessionalismus zu bestehen, bedeutet, das, was der Likud gerne über Israel sagt, als gegeben hinzunehmen.

Wenn wir wirklich zum Kern der Sache vordringen wollen, müssen wir zunächst eine statische Sichtweise der Geschichte aufgeben, in der jeder bleibt, was er schon ist und wo er schon ist. Der Mensch ist, zumindest ursprünglich, ein Nomade, und der banalste Beweis dafür ist, dass er sich über die ganze Erde ausgebreitet hat, von Sibirien bis zur Osterinsel; hat es geschafft, überall zu leben und sich niederzulassen, von der Arktis (Inuit) bis zur Wüste (Tuareg). Die kapitalistische Produktionsweise hat diese Neigung zur Vertreibung auf ihre Weise aufgenommen und reproduziert, gemildert durch die verschiedenen Produktionsweisen, die auf die im Wesentlichen agrarische „neolithische Revolution“ folgten: Nimmt man die Revolutionen von 1848 als idealen Ausgangspunkt, so haben sich in den darauf folgenden 100 Jahren schätzungsweise 30 Millionen Menschen in ganz Europa gegen ihren Willen bewegt. Nur einige Beispiele: 1.000.000 Griechen aus Anatolien kehrten 1919-1923 nach Griechenland zurück, um der türkischen Herrschaft zu entkommen; der türkisch-bulgarische (1913) und griechisch-bulgarische (1919) Bevölkerungsaustausch; die eine Million Menschen, die nach der Revolution von 1917 aus Russland flohen; der Erlass zur Vertreibung der Sudetendeutschen (3 Millionen Flüchtlinge) und der Ungarn, die 1945 in der Tschechoslowakei lebten. Die Nation-Staat erwies sich als die geeignetste Verwaltungseinheit für die Produktion und Zirkulation von Waren. Die entwickelteren kapitalistischen Gebiete zwangen den weniger entwickelten Gebieten, die wenig oder gar keinen Staat hatten, die Staatsform auf. Während die aktuellen Grenzen der kapitalistischen Hyperzentren (USA und Europa) als relativ stabil und endgültig angesehen werden können, lässt sich das vom Rest der Welt nicht behaupten, und selbst in den Hyperzentren gibt es einige Ausnahmen. Sind die Schaffung neuer Grenzen, neuer Nationalitäten oder die Vertreibung/Umsiedlung ganzer Bevölkerungen etwas Neues in der Geschichte oder gehören sie einer vergangenen Ära an? Wenn ja, sollten wir wahrscheinlich zu dem Schluss kommen, dass der Zerfall Jugoslawiens oder die Trennung der Tschechischen Republik und der Slowakei – um nur die jüngsten Beispiele zu nennen – nie stattgefunden haben. Denken wir auch an die aktuellen Ereignisse in der Ukraine. Solange das Kapital existiert, wird die Akkumulationsdynamik weiterhin bestimmte Gebiete fragmentieren, um andere zu vereinheitlichen. Die sogenannten „nationalen Fragen“ gehören nicht zu einer bestimmten historischen Phase der kapitalistischen Produktionsweise: Was sich geändert hat, ist die Bewertung, die wir ihnen geben können. Was die „beherrschten Nationen“ betrifft, so trat die Dritte Internationale in den 1920er Jahren für die Unterordnung der Kommunisten unter die bourgeoisen nationalistischen Organisationen ein. Die Idee war, dass in diesen Zonen – angesichts der Schwäche der kapitalistischen Entwicklung – das Proletariat zu schwach war und dass zunächst ein nationaler Rahmen gewährleistet werden musste, der seine Entwicklung, auch quantitativ, ermöglichte; Gorters Strömung kritisierte diese Unterordnung scharf, die bereits in der Türkei (1919-1921: Eliminierung der Kommunisten durch die Kemalisten) wie auch später in China (1925-1927: Massaker an den Kommunisten durch die Kuomintang) fatale Folgen gehabt hatte. Man könnte sagen, dass die großen Befreiungsbewegungen der Dritten Welt noch vor uns liegen. Im Allgemeinen waren die Ergebnisse auch anderswo nicht anders als in der Türkei oder China. Aber wenn wir tiefer gehen, müssen wir uns fragen, ob die Polemik zwischen dem „leninistischen Bündnis“ und der „Autonomie der proletarischen Aktion“ noch aktuell ist. Im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise werden wir nie zu einer Situation kommen, die rein genug ist, um von vornherein auszuschließen, dass bestimmte nationale oder halbnationale Fragen „ungelöst“ bleiben (wie es heute bei den Kanaken in Neukaledonien, den Indianern in Mexiko usw. der Fall ist). Einfach ausgedrückt: Entweder wird die kommunistische Revolution die Frage auf ihrer eigenen Grundlage lösen, indem sie alle territorialen Trennungen aufhebt und Staaten und Grenzen zerstört, oder die Konterrevolution wird es auf ihre Weise tun, indem sie schließlich die nationalen Forderungen erfüllt oder die gewaltsame Vertreibung oder Ausrottung der betreffenden Bevölkerung provoziert:

Es gibt keine bestimmte Theorie der Revolution mehr, keine zu erfüllende Etappe, keinen spezifischen Widerspruch, keine nationale Bedingung der Revolution. Das bedeutet keineswegs Uniformität, aber alle Unterschiede entstehen nicht mehr diachron, sondern sind zu synchronen Elementen eines Weltsystems des Klassenkampfes geworden. Das Problem existiert nicht mehr in Bezug auf die Chronologie. Jede exotische Lesart des Klassenkampfes in den „Peripherien“ muss beseitigt werden. Schluss mit der Exotik, Schluss mit Samir Amin und dem egozentrischen Kapitalismus, Schluss mit Guevara und den „Taschen“, die dem „Staatskapitalismus“ den Weg bereiten, Schluss mit Lenin und der Entwicklung des Kapitals unter proletarischer Führung, Schluss mit Vera Zassoulitch und dem kommunitären Sprung über die kapitalistischen Schrecken“. (Théo Cosme, De la politique en Iran, Ed. Senonevero 2010, S. 119).

Aber, so wird man sagen, Israel hat mit all dem nichts zu tun, denn es ist das Ergebnis der Kolonialisierung. Das ist nicht ganz richtig. Israel ist das Produkt einer nationalen Befreiungsbewegung, die sich in ihrem eigenen geografischen Gebiet (dem historischen Jiddischland) nicht durchsetzen konnte und ein Element der Zweideutigkeit enthielt, das sich schließlich durchsetzte.

Dieser Inhalt der nationalen Emanzipation ist das Ergebnis sowohl des Charakters des zaristischen Staates – eines multinationalen, autoritären und antisemitischen Reiches – als auch der Situation der jüdischen Gemeinschaft: Paria-Status, gekennzeichnet durch Segregation, Diskriminierung, Verfolgung und Pogrome, territoriale Konzentration in den Ghettos und dem Shetl, kulturelle und sprachliche (jiddische) Einheit. […] Die jüdische Identität, ob akzeptiert oder abgelehnt, ist – nach den schrecklichen Pogromen von 1881 – eine national-kulturelle und nicht ausschließlich religiöse Identität. Anders als in Deutschland betrachteten sich im Zarenreich nur sehr wenige Juden einfach als „russische Staatsbürger israelitischen Glaubens“. (Michael Löwy, Erlösung und Utopie, PUF 1986).

Ist dies das erste und einzige Beispiel für eine von einer „Emanzipations“-Perspektive inspirierte Bewegung, die ein neues System der Unterdrückung und Ausbeutung hervorgebracht hat? Wenn das das Skandalöse ist, könnten wir uns angesichts der Ergebnisse der Revolutionen des 19. und 20. Jahrhunderts genauso gut mit der bestehenden Ordnung abfinden, wie Bernard Henri-Levy und andere Verfechter der antitotalitären Ideologie. Könnte es anders sein? Die Frage selbst ist trivial, aber die Antwort lautet wahrscheinlich nein. Der Zweite Weltkrieg hat ein schwieriges Erbe hinterlassen. Die jüdische Ansiedlung in Palästina, die bereits im Gange war, aber zwischen 1880 und 1929 nur eine geringe Bedeutung hatte (120.000 wanderten nach Palästina aus, aber 125.000 nach Kanada, 180.000 nach Argentinien und 210.000 nach England, so die Zahlen in Nathan Weinstock, Le sionisme contre Israël, Maspero 1969), nahm in den 1930er Jahren zu und gewann dann in der Nachkriegszeit enorm an Fahrt; aus diesem Prozess entstand Israel. Warum haben sich die Juden nicht wieder in alle Welt zerstreut? Zunächst einmal aus demselben Grund, aus dem sich die Menschen auf allen Ebenen – vom Gefängnis bis zur Großstadt – weiterhin in nationalen oder zumindest sprachlichen Gemeinschaften zusammenschließen. Die Konterrevolution in Russland nach 1917 hatte die jiddische nationale Frage intakt gelassen (vgl. u.a. den Ribbentrop-Molotow-Pakt und die Teilung Polens), und die nationalsozialistische Verfolgung setzte sie für die Assimilierten Mitteleuropas de facto um. Angesichts der vielen Möglichkeiten, die den mittel- und osteuropäischen Juden damals offen standen, ist es klar, dass sie kaum eine Wahl hatten, was ihr Ziel anging: Für vertriebene Menschen jüdischer Herkunft war Palästina zwar nicht das einzig mögliche, aber bei weitem das sicherste Ziel. Hatten sie ein „Recht“, sich dort niederzulassen? Nicht mehr und nicht weniger als jeder „Migrant“ heute (zu dem manche sagen würden: „Wir sind zu Hause der Boss!“). Wenn wir fragen wollen, warum die Massensiedlung die Form der Ausgrenzung und Monopolisierung annahm, kann die Antwort nur tautologisch sein: In dem Maße, in dem die Besiedlung die Entwicklung spezifisch kapitalistischer sozialer Beziehungen in dem betreffenden Gebiet beschleunigte, prägten eben diese sozialen Beziehungen die Beziehungen zwischen den beteiligten Bevölkerungsgruppen. Die Palästinenser waren nicht die einzigen, die die Konsequenzen zu tragen hatten: Die normale Klassenschichtung eines kapitalistischen Staates nahm Gestalt an, indem sie die kommunalen Bestimmungen der nichteuropäischen Juden integrierte, die nach und nach vom Rückkehrgesetz profitierten: die Juden Nordafrikas und des Nahen Ostens, die Teimanim aus dem Jemen und Oman, die 90. 000 Beta Israel oder die Falascia aus Äthiopien, die zwischen 1984 und 1991 nach Israel kamen, usw.) mit den relativ rassistischen Spannungen, die man sich vorstellen kann und die sich – ihrer Natur nach – nicht sehr von denen unterscheiden, unter denen die „Terroni“ in Italien in den 1960er Jahren oder die Wanderarbeiter in China heute leiden.

Was wäre das Schicksal der palästinensischen Bevölkerung ohne die jüdische Besiedlung gewesen? Eine „Entwicklung der Unterentwicklung“, wahrscheinlich durch die Rohstoffindustrie, wie es in den „Dreißig glorreichen Jahren“ (1945-1975) für diesen Teil der Dritten Welt der Fall war, der den Westen mit billigen Rohstoffen versorgen konnte; oder aber der panarabische nationale Weg zum Sozialismus von Nasser und Co. mit Zustimmung der UdSSR. Aber die kapitalistische Produktionsweise ist eine Totalität, ein System kommunizierender Gefäße: Das Glück des einen ist das Unglück des anderen, die Fülle des Kapitals und das Elend des Proletariats, und jeder Einschluss erzeugt neue Ausschlüsse. Das ist der Grund, warum Reformismus im nationalen Rahmen möglich, im weltweiten Rahmen aber unmöglich ist. Dies ist die Grundlage für eine revolutionäre Position, die nicht typisch moralistisch ist. Es geht nicht um eine Art Gleichgültigkeit gegenüber den extremeren Schrecken des Kapitalismus (Krieg, ethnische Säuberungen usw.), sondern um die Fähigkeit, seine Zusammenhänge mit weniger brutalen Aspekten (dem Kauf und Verkauf von Arbeitskraft, der Warenform des Produkts) zu begreifen und von einer Vision von „Guten“ und „Bösen“ wegzukommen.

Die Bevölkerung von Jiddischland wurde vor den Verfolgungen der Nazis auf 11 Millionen geschätzt. Abgesehen von der genauen Zahl der Deportierten und der Toten muss man das Ausmaß des Phänomens betrachten. Es ist eine historische Tatsache, dass am Ende des Zweiten Weltkriegs die Flüchtlinge aus Westeuropa in der Regel bis Ende 1945 repatriiert wurden, während dies für die Flüchtlinge aus Osteuropa mühsamer war oder gar nicht durchgeführt wurde. Dies trug zur Attraktivität der Ansiedlung in Palästina bei. Unabhängig vom Zielort fand die Bewegung dieser Menschenmassen in einer bereits „globalisierten“ und stark strukturierten Welt statt. Es ist bekannt, dass die Nazis (mit Hitlers Zustimmung) mit dem Gedanken gespielt hatten, die europäischen Juden nach Madagaskar umzusiedeln, und dass die zionistische Bewegung lange über den britischen Plan debattiert hatte, in Uganda eine jüdische nationale Heimstätte zu schaffen. Aber ob es nun Palästina, Madagaskar oder Uganda war, die Konsequenzen wären offensichtlich nicht schmerzlos gewesen, denn keine dieser drei Regionen war ein „Land ohne Volk“. Und – in unvergleichlich kleinerem Maßstab – hätte die geplante, aber nicht durchgeführte Umsiedlung der Südtiroler in die Franche-Comté in Ostfrankreich nicht ohne Spannungen ablaufen können. Ob es einem nun gefällt oder nicht, die berühmte „Judenfrage“ ist einfach eine weitere Episode der „nationalen Fragen“, auch wenn die Assimilation in Westeuropa zweifelsohne weiter verbreitet war. Dass der Staat Israel im historischen Palästina und nicht in Jiddischland gegründet wurde, hängt mit den Bedingungen am Ende des Zweiten Weltkriegs zusammen. Dieser krönte die triumphierende Konterrevolution mit einem noch grausameren Terrorismus als in den Jahren 14-18, was es mehr denn je unmöglich machte, der jiddischen nationalen Frage die Lösung einer einfachen kulturellen und/oder administrativen Autonomie zu geben, wie sie vom Bund (Allgemeiner Bund der jiddischen Arbeiter Litauens, Polens und Russlands) angedacht worden war. Im allgemeinen Klima der Union Sacrée, das von nationalen Fronten dominiert wurde, war es absurd zu verlangen, dass sich die zukünftigen „Israelis“ anders verhalten sollten als die vorherrschende Haltung der Zeit. Nur in Italien gab es ab 1943 einen Aufschwung des Klassenkampfes, der sich schnell in der patriotisch-resistenten Front und der funktionalen Normalisierung des Marshall-Plans auflöste. Ohne den Exodus der barfüßigen Menschen (und ohne die Kibbuzstruktur, die es ermöglichte, sie massenhaft unterzubringen) wäre der Aufbau des Staates Israel unmöglich gewesen. Man muss kein Wissenschaftler sein, um zu verstehen, dass die Arbeiterklasse außerhalb revolutionärer Perioden nicht weniger konservativ ist als jede andere Klasse. Das Proletariat kann nicht in der Limbus existieren, es kann sich nicht hinter einen „Sperrgürtel“ zurückziehen: Wenn die Konterrevolution dominiert, nehmen die Proletarier an ihr teil. Die israelischen Proletarier sind keine Ausnahme und können es auch nicht sein. Ist das ein guter Grund, die Klassenanalyse beiseite zu lassen oder diese Proletarier zu „verleugnen“? Was können wir dann erwarten? Von Menschen guten Willens? Von „freier Individualität“? Viel Glück damit!

Aber dann – und hier kommen wir zum schmerzlichsten Punkt – warum verlangen wir von diesen Menschen etwas anderes? Wenn heute ein Staat für die Roma in Transnistrien oder anderswo gegründet würde, sogar zum Nachteil der einheimischen Bevölkerung, wer hätte dann die Frechheit zu sagen, dass die Roma, die sich dort niederlassen (und dann ihre Kinder und deren Kindeskinder) alle Scheiße sind? Das Beispiel mag weit hergeholt erscheinen, aber es ist nicht von der Hand zu weisen, denn wie wir bereits gesehen haben, ist die Umsiedlung ganzer Bevölkerungsgruppen in Gebiete, die ihnen von ihrer Kultur und Tradition her fremd sind, in der Geschichte nichts Neues: Das ist einer der Gründe, warum Traditionen und Kulturen ständig entstehen und vergehen. Andererseits kann die gegenwärtige Situation der erst kürzlich eingewanderten Roma in Westeuropa in gewisser Weise eine Vorstellung von den miserablen Bedingungen des jiddischen Proletariats in Osteuropa zwischen den beiden Kriegen vermitteln: die Situation der Letzten unter den Letzten. In einem Brief an Ehrenfreund schrieb Engels:

Dazu kommt, daß der Antisemitismus die ganze Sachlage verfälscht. Er kennt nicht einmal die Juden, die er niederschreit. Sonst würde er wissen, daß hier in England und in Amerika, dank den osteuropäischen Antisemiten, und in der Türkei, dank der spanischen Inquisition, es Tausende und aber Tausende jüdischer Proletarier gibt; und zwar sind diese jüdischen Arbeiter die am schlimmsten ausgebeuteten und die allerelendesten. Wir haben hier in England in den letzten zwölf Monaten drei Streiks jüdischer Arbeiter gehabt, und da sollen wir Antisemitismus treiben als Kampf gegen das Kapital?“ Friedrich Engels, Über den Antisemitismus (Aus einem Brief nach Wien) (1890)

Wenn es sich wirklich um „die Letzten der Letzten“ handelte, wie können wir dann ihr Verhalten moralisieren? Warum sollten wir von den jüdischen Überlebenden der Vernichtung ein anderes Verhalten erwarten als von den Tausenden von Engländern, Iren und Holländern, die verhungern mussten, nach Amerika auswanderten und aktiv oder passiv dazu beitrugen, die amerikanischen Ureinwohner zu vertreiben und sie zu zwingen, immer kleinere Gebiete zu besetzen, bis hin zu den berühmten „Indianerreservaten“ (hier können wir uns der Analogie mit Palästina nicht entziehen)? Warum verlangen wir etwas anderes von einer Bevölkerung, die der extremsten Verfolgung, Ghettoisierung und Ausrottung ausgesetzt war (und vergessen wir nicht die Toten der Warschauer Kommune)? Vielleicht, weil sie Juden sind. Nennen wir das Kind also beim Namen: Antijudaismus.

Manche rechtfertigen die Hamas mit der Not und Verzweiflung der Palästinenser: aber sie gestehen den Juden, die sich nach 1945 in Palästina niedergelassen haben, keine „mildernden Umstände“ zu. In der nationalen Frage gilt die gleiche Rhetorik: die palästinensische Frage JA, die jiddische Frage NEIN. Es ist die Logik der Doppelmoral, die wie ein Spiegel die vorherrschende Logik umkehrt, nach der ein jüdischer Tod mehr wert ist als der Tod eines Palästinensers. Da wir die „Letzten der Letzten“ von gestern und heute als solche anerkennen, werden wir weder über die Raketen, die Entführungen oder die Ermordung von Siedlern noch über die Anschläge von Al Quds und anderswo moralisieren. Wir werden jedoch nicht vergessen, dass es diese Dinge gibt; und wir können auch nicht vergessen, dass eine Neugewichtung der jeweiligen Todesfälle – wie es der Possenreißer Vattimo gerne hätte – wenig am Schicksal der Palästinenser ändern wird, abgesehen von der Schaffung eines palästinensischen Ministaats. Es liegt in der Natur dieser Art von Gegengewalt, dass sie ständig zwischen Zusammenstößen, Waffenstillständen und Verhandlungen wechselt, von denen einige verhindert und andere durch die Gegengewalt selbst ermöglicht werden; ihr einzig mögliches Ergebnis ist das Ziel, auf das sie ausgerichtet ist: die Schaffung eines palästinensischen Staates. Diese entfernte Möglichkeit kann im besten Fall Leben retten, nicht mehr und nicht weniger. Aber wenn es darum geht, Leben zu retten, was ist dann der Unterschied zu Darfur, Südsudan, Ruanda und anderen „humanitären Notsituationen“? Die Welt ist groß, und jeden Tag leben und sterben Menschen auf mehr oder weniger grausame Weise. Menschliche Gruppen haben sich schon immer aus Gründen bekämpft und getötet, die in der Regel mit der Aneignung oder Kontrolle von Gütern und Ressourcen zu tun haben – je nach historischer Produktionsweise auf unterschiedliche Weise: Raubzüge, Eroberungskriege, Kolonialismus, Imperialismus. Es geht nicht darum, diese Tatsache zu „bagatellisieren“, sondern darum, unser Entsetzen über diese Realität nicht zu verabsolutieren (aus der Geschichte zu extrahieren), die – wie alle moralischen Haltungen – ein historisches Produkt und untrennbar mit der globalen Expansion der kapitalistischen Produktionsweise verbunden ist. Die Tatsache, dass wir auf das Schicksal derer Rücksicht nehmen, die Tausende von Kilometern von uns entfernt leben (mit der einfachen Möglichkeit, darüber informiert zu werden), ist auf diese Expansion zurückzuführen. Für den paläolithischen Jäger und Sammler bezog sich der Begriff der Menschheit nur auf die Mitglieder der eigenen Gruppe, und Mord war die Haupttodesursache. Die Beduinen der arabischen Halbinsel und die Guayaqui-Stämme Südamerikas ignorierten den Staat, aber der Großteil ihres Lebens war dem Krieg gewidmet (vgl. Pierre Clastres, Archéologie de la violence, L’Aube 1977).

Was die Hegemonie der Hamas und des Dschihadismus im Allgemeinen angeht, so wissen wir sehr gut, wie Religion „der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt“ sein kann (Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung). Aber diese Allgemeinheit gilt für Palästina, für Italien und überall sonst. Im Nahen und Mittleren Osten, wie auch in den meisten arabischen Ländern des Mittelmeerraums, ist der Islamismus keine Ideologie, die vom Himmel gefallen ist, um das arme „gute Wilde“ Proletariat zu verderben; in all seinen Varianten und Nuancen ist diese Ideologie die politische Verkörperung – nicht endgültig, aber dominant – des Klassenkampfes in dieser Region, insofern er über einfache ökonomische Forderungen hinausgeht. Wenn das wie eine „Rechtfertigung“ klingt, dann ist das auch ein Versuch, die Realität verständlich zu machen. Das Problem der Antizionisten ist jedoch ein anderes: Sie wissen, dass es zumindest im Westen schwierig ist, für Solidarität mit dem „palästinensischen Widerstand“ zu werben, wenn „palästinensischer Widerstand“ im konkreten Fall Hamas und Konsorten bedeutet. Also müssen sie immer wieder Erinnerungen an die frühere politische Formalisierung – den arabischen Nationalismus – wachrufen, ihn mythologisieren und seine Überreste weitergeben (siehe die PFLP: magere 4,2 Prozent bei den Parlamentswahlen 2006), um die aktuelle – die eigentlich die einzige ist, die zählt – „salonfähig“ zu machen.

Es ist ein Problem der Politiker, und sagen wir mal, es gibt keinen Grund zur Nostalgie. Für Andreas Baader zum Beispiel war der Widerspruch in der „imperialistischen Metropole“ das Ende der Fahnenstange, so dass der türkische Arbeiter, der bei Volkswagen den Hintern versohlt bekam, aber nicht „genug“ rebellierte, ein „objektiver Verbündeter des Imperialismus“ war, während der Arzt und Großgrundbesitzer (und PFLP-Führer) George Habash die Avantgarde der Weltrevolution darstellte. Natürlich können sie auf das berühmte „Gleichgewicht der Kräfte“ und die Gewalt der Repression pochen, aber das hindert sie daran, zu einem gesellschaftlichen Verständnis der vergangenen Niederlagen zu gelangen. Wenn wir die Niederlage auf die militärische, technische, ökonomische und kommunikative Überlegenheit des Gegners zurückführen, dann wird es sie immer geben… und die Polarisierung des Kerns des Problems um sie herum kann nur zu Militarismus oder zur Abkehr von der Idee überhaupt führen. Wir müssen auch mit dieser idyllischen Vorstellung vom Klassenkampf aufräumen, die davon ausgeht, dass es nur eine Front gibt: Die globale Zerlegung des gesellschaftlichen Kapitals als Ganzes in eine Vielzahl von Einzelkapitalen und des Proletariats in seine Fraktionen bedeutet, dass sich die Fronten bis ins Unendliche ausdehnen, dass es einen Klassenkampf innerhalb des Klassenkampfes gibt und dass interne Konflikte innerhalb des Proletariats viel mehr sind als eine episodische Verirrung..…

Unter dem Eindruck der allgemeinen Umstrukturierung der Klassenbeziehungen ab den 1970er Jahren hat das Kapital in den letzten 40 Jahren einen Neuanfang gemacht, und von dieser Geschichte ist nicht viel übrig geblieben. In der zweiten Nachkriegszeit wurde der „Dritte-Weltismus“ u. a. durch seine Rolle als Lieferant von kostengünstigen Rohstoffen aus der Dritten Welt legitimiert. Doch mit den beiden „Ölkrisen“ von 1973-74 und 1978-80 destabilisierte die Umstrukturierung die bisherige Situation: Der Rohölpreis stieg wie nie zuvor in der Geschichte, und Europa begann, über Atomkraftwerke zu sprechen. Was noch wichtiger ist: In dieser Situation kam es zu einem sukzessiven Rausch der Öleinnahmen im Nahen Osten (die über Saudi-Arabien die Kassen der Hamas füllten), dem Ende des arabischen Nationalismus und dem Aufstieg des Islamismus. Gleichzeitig verändert sich auch die ökonomische und soziale Struktur des Staates Israel radikal. Im engsten Sinne war der Zionismus der Schutz und die Sicherung der „jüdischen Arbeit“, entweder für das israelische Kapital gegen die internationale Konkurrenz oder für die Arbeiterklasse gegen die palästinensischen Proletarier: Kurz gesagt, es war ein „fordistischer Kompromiss“ nach 1945, der einen Teil des Kapitals in einem Nation-Staat verwurzelte. Der Zionismus bedeutete, dass der Staat und die Zivilgesellschaft „links“ sein mussten. Genau das hat der Likud schrittweise abgeschafft, wie die radikale Reduzierung der Rolle des Kibbuz zeigt. Die Definition Israels als „zionistischer Staat“ bleibt jedoch bestehen, und selbst in diesem semantischen Quidproquo wird die Fragilität der aktuellen Situation deutlich. Das bewusste oder unbewusste Herumfuchteln mit Wörtern wie „zionistisch“, „Lobby“ usw. macht die Position Israels noch fragiler. -bewusst oder unbewusst – dient dazu, die aktuelle Situation zu untergraben. – Bewusst oder unbewusst – dient dazu, Israels Existenz mit einem Bereich der Intrige, des Geheimnisses, der Verschwörung, des Exzeptionalismus zu belasten, dessen unterschwellige Botschaft nicht schwer zu begreifen ist: Israelis, d.h. Juden, sind nicht wie andere Menschen. Aber das einzige Geheimnis in all dem ist das offene Geheimnis des Kapitals: der Wettbewerb zwischen „denen da oben“ und „denen da unten“. Welch ein Unterschied zwischen den terroristischen Aktionen des zukünftigen Mossad in der unmittelbaren Nachkriegszeit (der Bombenanschlag auf die britische Botschaft in Rom 1946 und viele andere) und der Aktion Schwarzer September in München (1972), der Kaperung des Schiffes Achille Lauro (1985), den blutigen Anschlägen auf die Flughäfen von Fiumicino und Wien (1985). Staaten sind oft um so terroristischer, weil sie sich noch nicht als solche konstituiert haben.

Was die heilige „Solidarität mit dem palästinensischen Volk“ angeht, worum geht es dabei wirklich? In neun von zehn Fällen beschränken sich ihre Befürworter auf selbstgerechte und unwirksame Floskeln – angesichts der Tatsache, dass fast jede „linke“ finanzielle Unterstützung des „palästinensischen Widerstands“ in der Geschichte ein schlechtes Ende genommen hat, von der UdSSR (dem Hauptunterstützer der PFLP) bis zu Saddam Hussein; Alles, was heute noch übrig ist, ist Freiwilligenarbeit in den Gebieten oder in der Ferne – eine Form der Freiwilligenarbeit, die Respekt verdient, aber die historische Perspektive und das tatsächliche Ausmaß der heute möglichen „Solidarität“ zeigen die unüberbrückbare Kluft zwischen dem goldenen Zeitalter des arabischen Nationalismus und der aktuellen Situation. Wenn „Solidarität“ auf eine rein verbale Aktivität reduziert wird, ist es legitim zu fragen, welchen Unterschied es in der Realität gibt, ob man behauptet, mit den Palästinensern „solidarisch“ zu sein oder nicht. Solidarität ist zu einem liberalen Akt geworden, zu einem Akt des Gewissens, der ganz im Inneren des Individuums stattfindet. Das meiste, was wir bekommen, sind ein paar Parolen, eine Demonstration, vielleicht ein Flugblatt, ein paar Beleidigungen gegenüber einem Polizisten … und dann gehen alle nach Hause. Die Pracht und das Elend der Militanz. In der Zwischenzeit wird der Krieg – ob traditionell oder asymmetrisch – mit Waffen geführt, und die richtige Frage ist: Woher kommen sie? Wer bezahlt sie? Es gab eine Zeit, in der die Katjuscha-Raketenwerfer mit dem „Ostwind“ kamen. Heute müssen wir Syrien und dem Iran für die Qassams danken. Es gab eine Zeit, in der man dachte, dass die palästinensische Revolution die Dritte Welt und damit die ganze Welt in Brand setzen würde. In Wirklichkeit wurde das Schicksal der Palästinenserinnen und Palästinenser anderswo entschieden, und sie wurden als Kanonenfutter im Gleichgewicht des Kalten Krieges benutzt. Die Realität und der Mythos der „internationalen Solidarität“. Mit dem Ende des sozialistischen Lagers ist die Revolution im Nahen Osten von der Bildfläche verschwunden; es geht nicht mehr darum, eine Revolution zu machen, sondern bestenfalls darum, ein Massaker zu verhindern. Die extremsten (und dümmsten) setzen ihre Hoffnungen auf den Iran, diese zweifelhafte „Bastion des Antiimperialismus“ (!). Es ist ein bisschen wie „Warten auf Baffone“. Aber wie wir wissen, ist Baffone gestorben, ohne seine Reise anzutreten.

Es ist schwer vorstellbar, dass es im historischen Palästina jemals einen echten und dauerhaften „Frieden“ geben wird. Wenn er jemals kommt, ist es noch schwieriger, sich vorzustellen, dass er in der Welt des Kapitals stattfinden wird. Ob es den Antizionisten nun gefällt oder nicht, dieser Frieden kann weder von einer „anti-imperialistischen“ Front (mit Unterstützung des Irans) kommen, noch von einer genialen Alchemie, mit der die Palästinenser in ihrer schlimmen Lage wie ein Kaninchen aus dem Hut gezogen werden können; er kann unter keinen Umständen erreicht werden, ohne dass sich ein erheblicher Teil der israelischen Bevölkerung und vor allem der Arbeiterklasse aktiv für sie einsetzt. Es ist leicht zu sagen, dass das wie das Hoffen auf ein Wunder ist. Andererseits – wie wir gesehen haben – ist die Geschichte lang … und erst mittelfristig werden wir in der Lage sein, die sozialen Folgen der Krise (und ihre künftige Verschärfung) und die Auswirkungen auf die israelische Ökonomie zu erkennen. Ob es nun ein Wunder ist oder nicht, „die Israelis“ als Monster darzustellen, die für die Geschehnisse im Gazastreifen und in den Gebieten gleichermaßen verantwortlich sind – von welcher moralischen Überlegenheit aus kann man das tun? Wir wissen es nicht; wer weiß, wie sich diese Leoninen verhalten würden, wenn sie in Israel geboren worden wären – ehrlich gesagt, sehe ich nicht, welchen Zweck es erfüllt, außer die nationalen oder ethnischen Nuancen des Konflikts noch mehr zu verschärfen, wenn möglich. Man hat schon zu viel Unfug auf Kosten der armen, gekreuzigten Palästinenser zugelassen, und sei es nur, um noch ein paar Kufiyas zu verkaufen. Was sollen wir also tun: großspurige Rufe nach einer Revolution ausstoßen, sagen wir „Kommunismus oder Barbarei“, oder eine Lösung, Revolution? Das Mindeste, ich wage nicht einmal zu sagen, Solidarität, aber Respekt vor den palästinensischen Proletariern, den Letzten der Letzten, verlangt von uns zuallererst, dass wir klar und ohne Illusionen über die gegenwärtige Situation sind, dass wir sie nicht als Schwachköpfe betrachten, die sich von der Hamas überlisten haben lassen, oder als Heilige, die mit dem proletarischen Mandat des Himmels ausgestattet sind. Zu versuchen – wenn sich die Gelegenheit bietet, mit Taten, Worten und Schriften – den antizionistischen Apparat zu sprengen, genauso wie wir versuchen, den Antiglobalismus (Verteidigung des nationalen Kapitals gegen das globalisierte Kapital oder des produktiven Kapitals gegen das Finanzkapital), den Pazifismus (den kapitalistischen Frieden gegen den kapitalistischen Krieg zu stellen) und alle Vorschläge für eine alternative Verwaltung des Kapitals zu sprengen, die zum normalen Verlauf des Klassenkampfes gehören und die gleichzeitig keinesfalls einfach in die richtige Richtung gelenkt oder radikalisiert werden können (es ginge dann im vorliegenden Fall um einen „klassenbezogenen“ oder „ revolutionären“ Antizionismus, was einfach ein Widerspruch in sich ist). Ohne der unmittelbaren Illusion zu erliegen, wir könnten das präsentieren, was man im politischen Jargon eine glaubwürdige Alternative nennt. Der Kommunismus ist nicht das Ergebnis einer Wahl, er ist eine historische Bewegung. Mit diesem Ansatz wollte ich diese Frage hier ansprechen. Tatsache ist, dass es durch das Denken in bourgeoisen Kategorien wie „Recht“, „Gerechtigkeit“ und „Volk“ nicht nur schwierig ist, sich eine Lösung vorzustellen, sondern dass es fast unmöglich geworden ist, etwas Vernünftiges dazu zu sagen.

]]> Der Explosionspunkt der israelischen Widersprüche. Zehn Thesen zu den aktuellen Umwälzungen im Nahen Osten https://panopticon.blackblogs.org/2023/11/17/der-explosionspunkt-der-israelischen-widersprueche-zehn-thesen-zu-den-aktuellen-umwaelzungen-im-nahen-osten/ Fri, 17 Nov 2023 18:01:13 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5281 Continue reading ]]>

Gefunden auf panfletos subversivos, die Übersetzung ist von uns. Mit der italienischen Orginialversion auch verglichen und abgegleicht.


Der Explosionspunkt der israelischen Widersprüche. Zehn Thesen zu den aktuellen Umwälzungen im Nahen Osten

Von Il Lato Cattivo, am 17.10.2023 veröffentlicht.

Original: illatocattivo.blogspot.com/2023/10/il-punto-desplosione-delle.html

I

Die von der Hamas am 7. Oktober 2023 gestartete Offensive auf israelisches Territorium und ihre unmittelbaren Folgen stellen unserer Meinung nach einen wichtigen Wendepunkt in der ökonomischen, politischen und militärischen Entwicklung des Nahen Ostens dar. Wir schreiben diese Worte nicht leichtfertig, mit Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden der Opfer und ihrer Angehörigen oder, schlimmer noch, mit Sympathie für die wahllose Anwendung von Gewalt gegen Zivilisten. Wir sind einfach der Meinung, dass die Analyse der Ereignisse notwendigerweise von diesen Aspekten abstrahieren muss, um ihre Bedeutung richtig einschätzen zu können. Es ist nicht möglich, einer rein lokalen Interpretation der Ereignisse zum Nachteil einer internationalen Interpretation den Vorzug zu geben, oder umgekehrt. Es ist notwendig, beides zu verfolgen. Diese Handvoll Thesen sind nur ein erster Versuch.

II

Der vielschichtige Angriff der Hamas muss zunächst in den Kontext der aktuellen geoökonomischen Situation gestellt werden. Ganz allgemein muss er in der Phase der Krisen der Globalisierung eingeordnet werden, zu einem Zeitpunkt, an dem sich die gegensätzlichen kapitalistischen Projekte für eine postglobalisierte Welt deutlicher abzuzeichnen beginnen. kapitalistischen Projekte für eine postglobalisierte (de-globalisierte?) Welt deutlicher abzuzeichnen beginnen. Konkret geht es um die Neupositionierung der wichtigsten Akteure im Nahen Osten in der globalen Konfrontation zwischen den USA und China. Die Vereinigten Staaten und China.

III

Da sind zunächst die von den USA geförderten regionalen Integrationsprozesse (zuletzt mit dem Abraham-Abkommen), die die endgültige Normalisierung der ökonomischen und diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und einer Reihe von arabischen Ländern in Nordafrika sowie im Nahen und Mittleren Osten auf die Tagesordnung setzen, allen voran die Vereinigten Arabischen Emirate. Mit den Anschlägen der letzten Woche hat die Hamas deutlich gemacht, dass eine solche Normalisierung entweder die palästinensische Frage einschließen und eine palästinensische Vertretung am Verhandlungstisch akzeptieren muss, oder sie wird über die Leichen von 5 Millionen Palästinensern gehen müssen. Der Dynamik des Abraham-Abkommens stehen die chinesischen Bemühungen um ein Tauwetter – aus offensichtlichen, für Israel unverdaulichen Gründen – zwischen dem vulgär als „schiitisch“ bezeichneten Block (Iran-Libanon-Syrien-Irak) und dem so genannten „sunnitischen“ Block gegenüber. Die Hamas bietet hier das perfekte Alibi für Saudi-Arabien, das Abraham-Abkommen nicht zu unterzeichnen und seine (vorübergehende?) Abkehr von Washington zu bestätigen. Dank der chinesischen Diplomatie.

IV

Wenn man die Schwere des historischen Moments aus palästinensischer Sicht verstanden hat, ist es müßig, sich mit Unterscheidungen zwischen Hamas und Palästinensern im Allgemeinen aufzuhalten. Dass der Angriff der gesamten palästinensischen Bevölkerung „aufgezwungen“ wurde, in primis (A.d.Ü., in/an erster Reihe) der Bevölkerung des Gazastreifens, die von der Hamas „als Geisel gehalten“ wird, bedeutet nichts anderes als die folgende Banalität: Die Menschen machen Geschichte unter Bedingungen, die sie sich nicht aussuchen können. Die grundlegende politische Tatsache ist, dass die Hamas auf absehbare Zeit sowohl im Gazastreifen als auch im Westjordanland der einzige bedeutende politische Akteur ist, auch wenn sie international nicht anerkannt wird, während die Palästinensische Autonomiebehörde, obwohl sie noch an der Macht ist, zur Bedeutungslosigkeit verdammt ist.

V

Durch die Entfesselung von Gewalt gegen die israelische Zivilbevölkerung in einem noch nie dagewesenen Ausmaß und die Verwicklung Israels in einen umfassenden Krieg zeigt die Hamas die Grenzen (die Unmöglichkeit) eines rein repressiven/militärischen Ansatzes in der Palästinafrage auf. Die „Hamas auszulöschen“ bedeutet für Israel nicht nur, im Gazastreifen Bodentruppen aufzustellen, was eine technisch schwierige Militäroperation mit ungewissem Ausgang bedeutet. Es bedeutet auch, sich der Wahrscheinlichkeit von Massenunruhen im Westjordanland und der Eröffnung einer weiteren militärischen Front an der Grenze zum Libanon (Hisbollah) auszusetzen. Das Ausmaß einer solchen Konfrontation würde jede Komponente der vielfältigen sozialen Struktur Israels vor das existenzielle Dilemma stellen: „Für Israel sterben?“ Diejenigen, die das Land wirklich kennen, wissen, dass die Antwort heute keineswegs eine ausgemachte Sache ist. Vielleicht war sie es 1967, vielleicht war sie es 1973, aber heute ist sie es nicht mehr. Sind die jungen bourgeois-bohemistischen aschkenasischen Doppelpass-Inhaber, für die Tel Aviv nur eine Vergnügungshauptstadt unter vielen ist, wirklich bereit, für das Vaterland zu sterben? Sind die russischsprachigen Juden, die kaum Hebräisch sprechen, die Haredim, die Zulagen erhalten, aber von der Wehrpflicht befreit sind, die israelischen Araber, die weiterhin als Staatsbürger zweiter Klasse behandelt werden, bereit, für Israel zu sterben? Dies ist die vexata quaestio, die die Aussicht auf einen umfassenden militärischen Konflikt hervorhebt.

VI

Die Politik Israels nach den Osloer Verträgen (1993) ist wirklich unverständlich, wenn man nicht die Vielfalt der „Stämme Israels“ („Limes“) und den unvollendeten, noch im Werden begriffenen Charakter der israelischen Nationenbildung in Betracht zieht. Diese Politik war weder das Ergebnis einer politischen Laune des Likud, noch hatte sie grobe buchhalterische Gründe, die ein grober Materialismus offenbaren würde. Die Vertreibung der palästinensischen Arbeitskräfte aus den Gebieten aus der israelischen Ökonomie, die stillschweigende oder ausdrückliche Unterstützung neuer Siedlungen, die verwaltungstechnische Zersplitterung des Westjordanlandes usw. versprachen, den inneren Zusammenhalt zu gewährleisten, indem sie den externen Konfliktfaktor anheizten. Dies setzte jedoch voraus, dass sich dieser in den Grenzen eines Konflikts geringer Intensität und überschaubaren Ausmaßes bewegte. In diesem wie in anderen Punkten hat der Hamas-Angriff die Karten auf dem Tisch radikal verändert. Debatten und Diktate darüber, inwieweit der Hamas-Angriff wirklich unerwartet kam, inwieweit die Nachrichtendienste versagt haben oder ob Warnungen auf höchster politischer Ebene ungehört verhallt sind usw., sind wenig oder gar nicht von Nutzen. Noch vor einer Woche schien das palästinensische Problem zu verschwinden, weil Israel scheinbar die Oberhand gewonnen hatte. Wenn das Image der israelischen Macht heute ernsthaft in Frage gestellt scheint, so hängt das nicht von dem Ereignis selbst oder einem bestimmten Aspekt davon ab (Anzahl der Opfer, Reaktionszeit der Armee usw.), sondern von den Rissen, die es in der israelischen Gesellschaft vertiefen kann.

VII

Tariq Ali (siehe Blog der New Left Review vom 13. Oktober 2023) irrt also, und mit ihm ein großer Teil der linken Intelligenz, wenn er glaubt, dass die Existenz Israels, nur weil es „ein von den USA bis an die Zähne bewaffneter Atomstaat“ ist, überhaupt nicht in Frage gestellt wird. Hinter der phantasmagorischen und ideologisierten Bedrohung durch die Einkreisung der „Achse des Widerstands“ steht die sehr reale Bedrohung, dass Israel nicht mehr in der Lage ist, die innere Geschlossenheit herzustellen, die notwendig ist, um sich im Ausland zu behaupten. Das heißt, es besteht die Gefahr, dass es trotz der bemerkenswerten ökonomischen und technologischen Entwicklung, die es erlangt hat, auf den Status eines gewöhnlichen gescheiterten Staates im Nahen Osten reduziert wird, eines amorphen Flickenteppichs von ethnischen Gruppen und Clans, der regelmäßig am Rande eines Bürgerkriegs steht.

VIII

Verglichen mit einem solchen Mosaik ist die Situation der Palästinenser so hoffnungslos, wie man es sich nur wünschen kann, aber sie hat den Vorteil einer außergewöhnlichen nationalen Homogenität, die gerade durch den mehr als siebzigjährigen Konflikt mit Israel entstanden ist. Die palästinensische Nation ist keine blasse Erfindung des britischen Kolonialismus, wie sie es zur Zeit des Mandats Palästina und noch nach der Nakba war, sondern erlangt vielleicht erst jetzt den Status einer historischen Nation im eigentlichen Sinne. Auf jeden Fall ist es viel mehr als in den 1970er Jahren, im goldenen Zeitalter des damaligen Dritte-Weltismus. Der Erfolg des Hamas-Anschlags beweist dies. Dies soll keine Entschuldigung für den Anschlag sein, sondern sein Ausmaß über seine spektakulärsten und grausamsten Aspekte hinaus messen, d. h. seinen Organisationsgrad, seine Komplexität und seine Entschlossenheit erfassen, die wenig mit den Anschlägen der Al-Qaida und des Islamischen Staats zu tun haben, mit denen er in den Mainstream-Medien verglichen wird.

IX

Wie in der übrigen arabischen Welt war auch in Palästina der Aufstieg des politischen Islams ein petite bourgeoiser Abstieg aus der Krise des säkularen und sozialistischen Nationalismus, wenn nicht gar der arabischen Nation schlechthin, ein Abstieg, der oft von seinen schärfsten lokalen und internationalen Gegnern gefördert und unterstützt wurde. Der Weg der islamistischen Kräfte wurde jedoch immer von dem spezifischen Kontext bestimmt, in dem sie Wurzeln geschlagen haben, nämlich im palästinensischen Kontext von der plebejischen „Widerstands“-Bewegung gegen Israel. Für die Hamas sind der Rückgriff auf diese Bewegung, die politische Umsetzung der Aufstände (Erste und Zweite Intifada) und das Erreichen einer zumindest vorläufigen Lösung der palästinensischen Frage die notwendigen Schritte, um die mittelfristigen Klasseninteressen zu verwirklichen, die ihr als politische Kraft zugrunde liegen: der Aufstieg der „petite Bourgeoisie“ des Gazastreifens in den Status einer vollwertigen palästinensischen Bourgeoisie, die eine neue Dynamik der kapitalistischen Beziehungen in einem relativ kleinen, aber dicht von jungen und gebildeten Arbeitskräften bevölkerten Gebiet auslösen kann. In der Tat steht die politische Entwicklung der Hamas im Widerspruch zur sozialen Entwicklung des palästinensischen Proletariats, für das „Israel“ immer weniger ein Arbeitgeber-Kapital und immer mehr eine reine Repressions- und Militärmacht ist.

X

Damit sind wir wieder bei dem unmöglichen Dilemma, vor dem Israel steht: In den Gazastreifen eindringen, aber um was zu tun? In anderen Zeiten und unter anderen Umständen hätte Israel die Palästinenser zu einem seiner „Stämme“ machen können. Heute ist diese Option nicht mehr an der Tagesordnung: „zwei Völker für einen Staat“ ist keine praktikable Lösung, wenn eines der beiden Völker, das vermeintlich dominante, zur Zersplitterung neigt. Die Aussicht auf einen groß angelegten Krieg erfordert eine Präzisierung des strategischen Horizonts. Unter den derzeitigen Bedingungen ist die „Ausrottung der Hamas“ bestenfalls utopisch und schlimmstenfalls ein Euphemismus für einen Genozid. Die Art der asymmetrischen Kriegsführung, die notwendig wäre, um den Gazastreifen zu „säubern“ (und zu gewinnen), würde eine Reihe von Bedingungen voraussetzen, die nicht gegeben sind, in erster Linie die Neutralität oder Duldung eines nicht unbedeutenden Teils der lokalen Bevölkerung. Natürlich schließt der irreale Charakter der Operation nicht aus, dass sie durchgeführt wird, noch schließt er aus, dass sich ihre tatsächlichen oder erklärten Ziele im Laufe der Zeit ändern, selbst im blutrünstigsten De profundis. Aber Vorsicht: Seit einigen Jahren sind die Variablen, die im Spiel sind, nicht mehr dieselben. Die globale Konfrontation zwischen den Vereinigten Staaten und China überlagert alles. Wir setzen nicht auf die guten Gefühle Xi Jinpings zur Rettung der Palästinenser, sondern auf die politische „Entbehrlichkeit“ der Palästinafrage im Rahmen der sich abzeichnenden neuen Bipolarität. Das wäre zwar keine proletarische Revolution, aber vielleicht eine gute Nachricht für die Zukunft der Palästinenser, die heute so ungewiss und düster erscheint.

]]> Il lato cattivo – Covid-19 und darüber hinaus https://panopticon.blackblogs.org/2020/04/24/il-lato-cattivo-covid-19-und-darueber-hinaus-2/ Fri, 24 Apr 2020 19:15:30 +0000 http://panopticon.blogsport.eu/?p=943 Continue reading ]]> Text von Il lato cattivo zum Coronavirus.

Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes.“1

In einer wirtschaftlich beschädigten, doch politisch stagnierenden Welt muss der Schock manchmal „von aussen“ kommen, von Faktoren oder Ereignissen, die ursprünglich weder strikt wirtschaftlich noch politisch sind, und, im gegenwärtigen Fall, nicht einmal strikt menschlich. Nicht dass Epidemien als rein biologisches Phänomen qualifiziert werden könnten2, doch es scheint uns offensichtlich, dass diese Episode des ewigen Kampfes zwischen dem Menschen und den Krankheitserregern, der heute den Namen Covid-19 trägt, deswegen eine so dramatische Wende nimmt, weil er mit jener besonderen Umwelt verbunden ist – die ihrerseits rein gesellschaftlich ist – in welcher er sich abspielt. Dass auf wirtschaftlicher Ebene ein „perfekter Sturm“ aufziehen würde, das wussten wir schon lange3. Dass er mit einer grossflächigen Pandemie einhergehen würde, war schwer vorauszusehen. Diese Tatsache ist definitiv ein neues Element im Szenario, das vorsichtig und nüchtern analysiert werden muss: Zu häufig ist gesagt worden, dass nichts mehr wie zuvor sein würde aufgrund irgendwelcher absolut unbedeutender Verschiebungen. Trotzdem ist die konkrete Lebensweise eines steigenden Teils der Weltbevölkerung schon stark davon betroffen (auf dem Papier etwa drei Milliarden in Quarantäne am 25. März) und die Tendenz wird wahrscheinlich weiter in diese Richtung gehen. Die wenigen Leute, die glauben, dass sie nach drei Wochen leichter Quarantäne in Begleitung von Netflix ihren grauen Alltag wiederfinden werden, dürften letztendlich enttäuscht sein. Nicht nur und nicht wirklich, weil der berühmte Höhepunkt der Epidemie auf sich warten lässt, sowohl in Italien, als auch anderswo (Frankreich, Spanien usw.), sondern vor allem, weil die Rückkehr zu einer scheinbaren Normalität in der wirtschaftlichen Aktivität und der täglichen Mobilität zu einem Zeitpunkt erfolgen wird, wo die Epidemie immer noch andauern und beträchtliche Kontrollmassnahmen und Sicherheitsdispositive zur Folge haben wird, um eine zweite Welle der Ansteckung und des Todes zu verhindern. Das gilt allen voran für jene Länder, wo die neomalthusianische Versuchung der „Herdenimmunität“ mehr oder weniger abgelehnt worden ist.

In der Zwischenzeit bleibt der Gegenstand der kommunistischen Theorie immer der gleiche: Das kapitalistische gesellschaftliche Verhältnis als Träger seiner eigenen Überwindung oder seiner Reproduktion auf einer höheren Ebene – ein Ausbeutungsverhältnis zwischen antagonistischen Klassen, das, unter all jenen, die historisch existierten, zum widersprüchlichsten und somit zum dynamischsten gehört. Inmitten eines Gewühls der Tatsachen und der Diskurse über die Tatsachen geht es darum, die in dieses Verhältnis eingebrachten Auswirkungen der gegenwärtigen Entwicklungen zu erfassen, sowohl kurz- als auch langfristig. Was, es sei nur nebenbei gesagt, das Gegenteil der Leichtigkeit darstellt, mit welcher einige den „Zusammenbruch des Kapitalismus“ heraufbeschwören – ein Ausweg, dank welchem alles einfach wird, weil man die Wirklichkeit einfach verschwinden lässt, obwohl sie ungleiche sozioökonomische und institutionelle Deklinationen, Temporalitäten der Ausbreitung des Virus und der Ansteckung und verschiedene Strategien der Reaktion auf den Gesundheitsnotstand hervorbringt. Darüber hinaus sollte man die ungleiche Verteilung der Verluste zwischen den verschiedenen individuellen Kapitalfraktionen im Kontext der Wirtschaftskrise nicht vergessen. Die Ungleichmässigkeit der Entwicklung ist immer noch die Regel im historischen Prozess. Die folgenden Anmerkungen – kaum mehr als ein Patchwork – sind nur eine leichte Anpassung im Fokus, zu unserem Gebrauch und für jene, die mitlesen.

Es soll zuerst gesagt werden, dass die von der internationalen Ausbreitung der Pandemie determinierte Situation definitiv eine gewisse Anzahl dem generell als „Globalisierung“ definierten Akkumulationszyklus inhärenter Grenzen entblösst und gleichzeitig von den betroffenen Akteuren (Unternehmen und Machtzentren auf jeder Ebene) verlangt, sich diesen Grenzen zu stellen, indem sie dringend unmittelbare Antworten vorbereiten müssen, wovon sich einige (die wenigsten) – wie immer im Rahmen der Konkurrenz – als angemessen und zur Verallgemeinerung geeignet herausstellen, während andere (die meisten) im Mülleimer der Geschichte landen werden. Um eine Formel wieder aufzugreifen, auf welcher wir oft beharrt haben, „das geheime Labor der Produktion“ ist genau das: Ein Labor, wo sich die Agenten der Akkumulation unablässig bewegen – sogar in den hoffnungslosesten Situationen – um sich den jedes Mal neu gegebenen Bedingungen anzupassen und sie zu ihrem Vorteil zu modifizieren, sobald sich dazu die Gelegenheit bietet. Nehmen wir als eine kurze Untersuchung der erwähnten Grenzen vor, nicht ohne einige Hypothesen bezüglich der Antworten aufzustellen, welche sie auslösen werden.

Allen voran bringt die aktuelle Notsituation die Zerbrechlichkeit der globalisierten supply chains und der Option zero stock ans Licht. In den USA hat man feststellen können, inwieweit die Versorgung mit Medikamenten und medizinischem Material von den Pazifik überquerenden Lieferungen abhängt. Es ist allgemein bekannt, dass sich die Ausbreitung von Covid-19 in China deutlich verlangsamt hat und die Produktion wieder aufgenommen wird. Der Höhepunkt der Epidemie in den USA dürfte hingegen im April oder im Mai mit einer voraussichtlichen Inzidenzrate von 30 bis 40% der Bevölkerung erreicht sein. Die Erhöhung der Nachfrage wird massiv sein. Es ist also wahrscheinlich, dass die USA gezwungen sein werden, Massnahmen zur Relokalisierung der Produktion in diesem Sektor zu ergreifen, sei es nur teilweise, für gewisse pharmazeutische Produkte oder medizinische Geräte. Die durch den Defense Production Act erlaubte Requisition von General Motors zur Fabrikation von Beatmungsgeräten ist ein erster Schritt in diese Richtung. Falls sich diese Tendenz verstärkt, wäre es eine beträchtliche Beschleunigung des chinesisch-amerikanischen decoupling, das in anderen Sektoren schon begonnen hat (allen voran in der Militärindustrie). Im Vereinigten Königreich haben die durch den Ansturm auf die Supermärkte ausgelösten Verknappungen die Abhängigkeit bezüglich Nahrungsmittel eines Landes deutlich hervorgehoben, welches 50% seiner Nachfrage nach Grundnahrungsmittel mit Importen abdeckt (hauptsächlich aus der EU) und in welchem der sprunghafte Anstieg der städtischen Bodenrente die Lagerkapazitäten beträchtlich reduziert hat, gleichzeitig hat er zum Niedergang der lokalen Landwirtschaft beigetragen4. In Frankreich hat der Wirtschaftsminister Bruno Le Maire während einer Pressekonferenz am 9. März die zutage tretenden Szenarien zur Kenntnis genommen:

„Ich bin überzeugt, dass es ein Zuvor und Danach bezüglich dieser Epidemie des Coronavirus und der Organisation der globalen Wirtschaft geben wird. Es ist klar, inwieweit es in gewissen Bereichen wichtig ist, über eine bessere Organisation der Verwertungsketten, die Relokalisierung gewisser strategischer Aktivitäten, besonders im Gesundheitssektor, und den Aufbau einer Globalisierung nachdenken zu müssen, wo die Verwertungsketten besser geschützt und unabhängiger sind, damit auf diese Art und Weise manchmal nutzlose Bewegungen vermieden werden, wenn gewisse Produkte in der Nähe hergestellt werden können.“

Die Tatsache, dass man eine solche Rede halten und sich dabei immer noch auf die Globalisierung beziehen kann, obwohl man in Wirklichkeit von ihrer Demontage spricht, ist nur ein für einen Politiker typisches Oxymoron: Die Würfel sind gefallen. Man könnte unendlich viele ähnliche Beispiele, Hinweise und Vorschläge aufzählen.

Zweitens bringt die aktuelle Notsituation jene Risiken ans Licht, welchen die kapitalistische Akkumulation in einem Kontext der Unterfinanzierung der öffentlichen Gesundheitssysteme und der Infrastrukturen im Allgemeinen ausgesetzt ist. Vergessen wir nicht, dass die Notwendigkeit und die Strenge der Massnahmen der Ausgangsbeschränkung hauptsächlich von der Fähigkeit des Gesundheitssystems abhängen, die wirklichen Ansteckungen innerhalb der Bevölkerung ausfindig zu machen und sich um sie zu kümmern. In einem hypothetischen Szenario einer Überfülle an Spitalbetten und einer massiven und unmittelbaren Verfügbarkeit der Tests wäre die Ausgangssperre alles andere als unumgänglich und könnte vermieden werden. Ohne sich Illusionen zu machen über den Weitblick oder die edle Gesinnung der Entscheidungsträger und Regierenden dort, war das klar ersichtlich in Südkorea, ein Land, das nicht so gross ist wie China, aber auch nicht so klein wie San Marino (50 Millionen Einwohner), und obwohl das Durchschnittsalter zweifellos niedriger ist als jenes Italiens (42.1 gegen 46.3), hatte es Anfang März zweimal mehr offizielle Ansteckungsfälle. Man wird nicht erstaunt sein, dass in Südkorea die Anzahl Spitalbetten pro 1‘000 Einwohner 12.27 beträgt, gegenüber 3.18 in Italien (Zahlen von 2017). Was Italien betrifft, hat unlängst ein Bericht des Observatoriums GIMBE5 die Budgetkürzungen im Bereich der öffentlichen Gesundheit zwischen 2010 und 2019 auf 37 Milliarden geschätzt, etwa die Hälfte davon betraf die Infrastrukturen, die Geräte und das Material und die andere Hälfte die Neuanstellungen und die Lohnerhöhungen (besonders Ärzte, Verwaltungs- und Führungspersonal). Wir werden freilich nicht jene beklagen, welche Marx als Mitzehrer der Surplusvalue anprangerte, doch es soll gesagt sein, dass die hohen Löhne gewisser Berufskategorien nicht nur die Auslösung von Prestige oder Ehrfurcht seitens der Benutzer oder des untergeordneten Personals zum Ziel haben, sondern auch den Korpsgeist und die Bereitschaft zur individuellen Aufopferung unter den Betroffenen – ausser man glaubt, es wäre wünschenswert, dass ein Chirurg den Operationssaal mit der gleichen Haltung betritt wie ein spezialisierter Arbeiter sich ans Fliessband begibt. Insoweit als dass diese Einkommensniveaus in sich zusammenfallen, geschieht das selbe mit ihrer subjektiven Konsequenz. Was soll man sagen über die pensionierten Ärzte in der Lombardei, wovon sich nur 10% bereit erklärt haben, wieder zum Dienst anzutreten? Was soll man sagen über die Region Lombardei, die gezwungen war, Ärzte und Virologen aus China, Kuba, Venezuela und Russland zu importieren? Die Tatsache, dass der Ostwind angefangen hat, über der Hauptstadt des eurokompatiblen Autonomismus der Liga des Nordens und der linken Movida zu wehen, deren Forderung der Aperitif um jeden Preis ist, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Gleichzeitig scheint es in Venetien, als ob der Präsident der Region Luca Zaia von der koreanischen Schule bekehrt worden ist: massive Früherkennung mit mehr als 20‘000 Tests pro Tag über drei Wochen hinweg. Es ist auf jeden Fall klar, dass die drastischsten Massnahmen der Ausgangsbeschränkung, die eingeführt worden sind, um die Implosion eines häufig sowieso schon atemlosen Gesundheitssystems zu verhindern, bezüglich der Auswirkungen auf die wirtschaftliche Aktivität extrem schmerzhaft sind. Der daraus hervorgehende Widerspruch ist also, dass die ständige Bemühung um die Verschonung des Gesundheitssystems zeigt, dass ein etwas aggressiveres und tödlicheres Virus reicht, damit das BIP zehn Punkte verliert. Ausser man entscheidet sich, die Leute einfach krepieren zu lassen.

Drittens bringt die aktuelle Notsituation – besonders innerhalb der Europäischen Union – die Defekte einer multilevel governance zutage, welche nunmehr zwangsläufig, aufgrund der „Subsidiarität“ und der Umverteilung der Kompetenzen des Nationalstaates gegen unten und oben (Regionen und internationale Organismen), unfähig ist, irgendwelche Ordnung hervorzubringen. Das ist nicht neu: Man konnte es schon während der Migrationskrise 2015 beobachten. Aber heutzutage ist die Sache viel schlimmer, zumindest in Italien, besonders weil die Regionen direkt betroffen sind, sie sind verantwortlich für die Planung und die Organisation der Gesundheitsdienste. Und wir haben gesehen, wie in diesem Bereich jeder tut, was er für richtig hält. Die verschiedenen Länder der EU halten das übrigens ebenfalls so. In einem in Le Monde am 23. März erschienenen Interview hat der Vorstehende der Nationalbank Italiens, Ignazio Visco, einmal mehr den den Umständen entsprechenden Wunsch nach einer ever closer Union wiederholt: „Die Krise des Coronavirus muss es uns erlauben, in Richtung eines vereinigten Europas zu gehen.“ Aber wer glaubt noch daran? Ob uns das gefallen mag oder nicht, Marine Le Pen ist unvergleichbar mehr im Einklang mit der Wirklichkeit, als sie vor den Mikrophonen von RT France (25. März) verkündet, dass „die Europäische Union das erste Opfer des Coronavirus ist“. Es ist eine neue Tatsache, dass das Diktat einer strengen Haushaltspolitik nun auch in Deutschland gefallen ist, was die Gefahr einer allgemeinen Lockerung der Sparzwänge mit sich bringt. Macron hat von der Gelegenheit profitiert, indem er schon am 25. März einen „massiven“ Investitionsplan für das Gesundheitssystem angekündigt hat. Jenseits der schönen Worte wird sich zeigen, wie viel Geld wirklich auf den Tisch gelegt werden wird. Doch wenn die EU nicht mehr fähig ist, ihre Mitglieder (PIIGS oder auch nicht) zu disziplinieren, wird sie für diese (oder ihre künftigen Mitglieder) zu einer Melkkuh verkommen und wird somit komplett nutzlos, sogar für jene, welche bis anhin in ihrem Schatten fett geworden sind.

Zum Thema der governance schrieben wir vor fast drei Jahren:

„Die Integration zwischen Staat und privater Unternehmung […] ist zu gross geworden, sogar vom rein kapitalistischen Standpunkt ihrer optimalen Funktionsweise aus betrachtet. [D]iese Koexistenz/Kombination des Managements und der parasitären Verwaltung der staatlichen Sphäre mit all ihren Verflechtungen beschränkt die Effizienz und die Reaktivität des staatlichen Handelns in seinem Verhältnis gegenüber der Gesellschaft beträchtlich, vor allem in einer Situation der Verknappung des Mehrwerts. […] Vom Standpunkt der heute zerstreuten ‚Partei der Subversion‘ aus betrachtet, ist der aktuelle Zerfall des getrennten Staates eine gute Neuigkeit, denn sie verkündet die Möglichkeit einer kompletten institutionellen Lähmung in Anbetracht eines eventuellen aufständischen Bruches. Doch hüten wir uns vor einem einfachen Optimismus: Ein revolutionärer Aufschwung, oder womöglich einfach eine starke fordernde Dynamik, könnte dieser Tendenz entgegenwirken, statt sie zu verstärken.“6

Der prinzipielle Mangel dieser Analyse ist, dass sie die Funktionsstörung des Nationalstaates nur vom Standpunkt des „Endziels“ bewertet und ihre unmittelbaren Auswirkungen auf die „Bewegung“ vernachlässigt. Ist eine institutionelle Lähmung in Abwesenheit einer unmittelbaren revolutionären Perspektive wünschenswert, wenn dazu – hypothetisch – noch eine schlimme Gesundheitskrise kommen würde? Es steht jedem frei, in seinem tiefsten Inneren das Chaos oder die Apokalypse herbeizusehnen, aber es soll sich dann niemand beklagen darüber, dass seine Eltern und Grosseltern letztendlich wie Hunde krepieren, zu Hause oder in Gängen von ausser Kontrolle geratenen Spitälern. Zudem ist der Inhalt der gesellschaftlichen Instanzen und Forderungen, insoweit als die Funktionsstörungen des Operettenstaates7, mit welchen wir heute konfrontiert sind, heftige Auswirkungen auf das alltägliche Leben jener haben, welche keine Alternative zum öffentlichen Dienst haben – nicht nur auf die Arbeiter und Angestellten, d.h. den wesentlichen Teil der aktiven proletarischen Armee, sondern auch immer mehr auf die niederen Mittelkassen, entlohnt oder nicht – von dieser Sachlage überdeterminiert. Zusammengefasst kann man sagen, dass, je weniger der Staat funktioniert, die Frage der Reform in einem souveränistischen Sinn desto mehr den alltäglichen Klassenkampf und die politischen Launen der sogenannt „subalternen“ Klassen kontaminiert und in verschiedener Ausprägung mit der direkten Konfrontation mit diesem oder jenem anderen Kapital oder Chef kombiniert wird. Wenn man nicht den Bauchredner der Kämpfe der anderen spielen und ihnen in den Mund legen will, was uns passt, ist es unmöglich, die Tatsache zu verschweigen, dass während der immer noch andauernden Streikwelle in Italien die Forderungen über die Arbeitsbedingungen (Sicherheitsmassnahmen) und die Unterbrechung der unwesentlichen Sektoren gleichzeitig an die Arbeitgeber und den Staat gerichtet sind und letzteren verpflichten, sich gegenüber Confindustria und Co. weniger gefällig zu verhalten, d.h. eine relative Autonomie gegenüber der dominanten Fraktion der Arbeitgeberschaft an den Tag zu legen. Ging die latente Bedrohung der Plünderungen, welche Giuseppe Conte dazu bewegt hat, die Einführung von Lebensmittelgutscheinen anzukündigen, nicht in die gleiche Richtung – objektiv, oder gar subjektiv betrachtet? Werden diese Massnahmen, zusammen mit anderen, die schon ergriffen worden sind oder noch ergriffen werden, nicht endlich die europäische Zwangsjacke zerreissen?

In Bezug zum vorhergehenden Punkt heben die Ausbreitung und die Folgen von Covid-19 die Grenzen der liberalen Subjektivität, des souveränen Individuums mit seinem freien Willen und Inhaber seines eigenen Körpers hervor. In Anbetracht der Ansteckung oder der Gefahr der Ansteckung für sich selbst und die anderen zeigen die Prinzipien „ich mache, was ich will“ oder „mein Körper gehört mir“8 all ihre Relativität auf, dies aus dem einfachen Grund, dass die Verbindung des Individuums mit der Gesellschaft, sowie seine Abhängigkeit von ihr, ihre Ansprüche geltend machen. Man muss eine erfolgreiche Schriftstellerin sein und sich darüber empören, nicht ins Schuhgeschäft gehen zu können, oder ein Philosoph der Biopolitik mit einem Heiligenstatus innerhalb der radikal-schicken Intelligenzia, um das nicht zu erkennen. Muss man noch erstaunt darüber sein, dass Liberale und Libertäre sich in der Verurteilung vermeintlich „freiheitsbedrohender“ Massnahmen Seite an Seite wiederfinden?

(Fuani Marino: „Wir sind dabei, wesentliche Dinge wie das Recht auf Bildung, die Sozialität und schliesslich die Wirtschaft im Namen jener Leute zu opfern, welche älter als 75 Jahre sind.“; Giorgio Agamben: „Der Ausnahmezustand ausgelöst von einer ungerechtfertigten Dringlichkeit.“)

Sowohl von einem theoretischen als auch von einem praktischen Standpunkt stellt die Notsituation von Covid-19 ein viel tiefergehendes Problem dar als die individuelle Moral oder die Solidarität zwischen Generationen, das – wenn man genau hinschaut – die Grundlage sowohl der einen als auch der anderen ist: Was ist die Gesellschaft? Diese Frage ist alles andere als unerheblich und zwingt uns, die Wurzel der Dinge zu betrachten. In dieser Hinsicht hat der gute alte Karl einige aufschlussreiche Passagen hinterlassen. Hier einige davon:

„Daß der gesellschaftliche Zusammenhang, der durch den Zusammenstoß der unabhängigen Individuen entsteht, zugleich als sachliche Notwendigkeit, und zugleich als ein äußerliches Band gegenüber ihnen erscheint, stellt eben ihre Unabhängigkeit dar, für die das gesellschaftliche Dasein zwar Notwendigkeit, aber nur Mittel ist, also den Individuen selbst als ein Äußerliches erscheint, im Geld sogar als ein handgreifliches Ding. Sie produzieren in und für die Gesellschaft, als gesellschaftliche, aber zugleich erscheint dies als bloßes Mittel ihre Individualität zu vergegenständlichen. Da sie weder subsumiert sind unter ein naturwüchsiges Gemeinwesen, noch andrerseits als bewußt Gemeinschaftliche das Gemeinwesen unter sich subsumieren, muß es ihnen als den Unabhängigen Subjekten gegenüber als ein ebenfalls unabhängiges, äußerliches, zufälliges, Sachliches ihnen gegenüber existieren.“9

„Je tiefer wir in der Geschichte zurückgehen, je mehr erscheint das Individuum, daher auch das produzierende Individuum, als unselbständig, einem größren Ganzen angehörig: erst noch in ganz natürlicher Weise in der Familie und in der zum Stamm erweiterten Familie; später in dem aus dem Gegensatz und Verschmelzung der Stamme hervorgehenden Gemeinwesen in seinen verschiednen Formen. Erst in dem 18. Jahrhundert, in der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘, treten die verschiednen Formen des gesellschaftlichen Zusammenhangs dem Einzelnen als bloßes Mittel für seine Privatzwecke entgegen, als äußerliche Notwendigkeit. Aber die Epoche, die diesen Standpunkt erzeugt, den des vereinzelten Einzelnen, ist gerade die der bisher entwickeltsten gesellschaftlichen (allgemeinen von diesem Standpunkt aus) Verhältnisse. Der Mensch ist im wörtlichsten Sinn ein ζῷον πολιτικόν, nicht nur ein geselliges Tier, sondern ein Tier, das nur in der Gesellschaft sich vereinzeln kann.“10

Was wir „Gesellschaft“ nennen, ist nichts anderes als der gegenseitige Zusammenhang zwischen Individuen als von den Individuen selbst autonomer Zusammenhang, es ist ihre eigene Gemeinschaft, die ausserhalb von ihnen selbst hervorgebracht und reproduziert wird und die fähig ist, sich jedem als äussere Zwangsmacht aufzudrängen. Diese von den Individuen unabhängige Gesellschaft findet ihre Verlängerung im Staat, ohne sich auf denselben zu beschränken. Letzterer artikuliert sich nicht gegenüber der Gesellschaft als äusserer Körper, als Parasit: Er macht nichts anderes, als die Entfremdung zu vergegenständlichen – hier verstanden ohne jegliche humanistische, essentialistische oder psychologische Konnotation – d.h. die Diskrepanz zwischen individueller und global gesellschaftlicher Tätigkeit. Eine Diskrepanz, welche die grossen modernen bürgerlichen Denker unaufhörlich thematisierten, von Mandeville bis Max Weber, und dazwischen Hobbes, Vico, Smith und Hegel, einerseits in ihrer optimistischen Form der privaten Laster, die zu öffentlichen Tugenden werden, andererseits in der pessimistischen Form der guten Vorsätze, welche den Weg zur Hölle pflastern.

Im Gegensatz zum Verhältnis zwischen Proletariat und Kapital ist der Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft kein Widerspruch, er ist der Motor von nichts und untergräbt nicht die Grundlagen seiner eigenen Reproduktion; doch das bedeutet nicht, dass er nicht konkrete Auswirkungen hervorbringt. Bezüglich diesem die Individuen transzendierenden Zusammenhang zwischen Individuen muss allen voran der unabwendbare Druck unterstrichen werden, welche er unmittelbar auf die Individuen selbst ausübt. Der verbindliche Zwang der Gesellschaft könnte nicht besser dargestellt werden als im berühmten Bild des Leviathans, dessen Körper eben genau aus einer Vielzahl von Individuen besteht. Gemäss Hobbes ist der Leviathan der grösste Zwang, denn er „kommt von allen“, und niemand kann sich ihm entziehen, denn jeder ist ungewollt daran beteiligt. Im Gegensatz zu den verworrenen Konzeptionen der Vertragstheorie, die auf ihn folgen, ist der (komplett fiktive) Gesellschaftsvertrag von Hobbes nicht ein Vertrag zwischen dem Staat und den Individuen, sondern ein Vertrag zwischen den Individuen, der logischerweise dem Staat vorausgeht und seine Existenz gründet. Was ist dieser imaginäre Vertrag, wenn nicht die ideologische Übertragung – der Vertrag als Resultat einer „freien Entscheidung“ – eines objektiven Zusammenhanges, den das Individuum als immer schon vorhanden vorfindet? Obwohl letzteres ihn – wie es Marx formuliert – als reines Mittel benutzen kann, um seine eigene Individualität zu vergegenständlichen, erweist sich dieser instrumentale Gebrauch jenseits einer gewissen Schwelle als konterproduktiv. Das ist der wahre Kern, der im an uns als Teenager von unseren Eltern gerichteten Vorwurf enthalten ist: „…und wenn es alle so machen würden wie du?“ Wir zuckten natürlich mit den Schultern und sahen – unter Androhung von lauten Ohrfeigen – von der einzigen Antwort ab, die uns in den Sinn kam („Das ist uns scheissegal!“). Aber wenn man die Frage ernst nehmen möchte, müsste man antworten, dass die Gesellschaft fähig ist, sich zu verteidigen. Dort, wo sich der gesellschaftliche Druck auf das Individuum (durch Verbote, Bräuche, Normen usw.) lockert, verkehrt sich der anfängliche Gewinn an individueller Autonomie, wenn er dazu tendiert, sich zu verallgemeinern, in sein Gegenteil, denn das Zusammenleben verschlechtert sich dermassen, dass die privaten Ziele aller kompromittiert sind. Und zu diesem Zeitpunkt wird ein Verteidigungsmechanismus aktiviert, der zum Ziel hat, ein Umfeld wieder herzustellen, in welchem die Ermächtigung des Individuums wieder möglich wird. Diesbezüglich geht es selbstverständlich nur um die Grenzen, innerhalb welcher sich die – stets partielle – Hervorbringung des gesellschaftlichen Individuums innerhalb gesellschaftlicher und besonders kapitalistischer Klassenformationen in einem Kontext des relativen zivilen Friedens bewegt. Dieser Diskurs stellt weder die Unterteilung der Gesellschaft in Klassen, noch den Klassencharakter des Staates in Frage. Doch er erklärt, weshalb sich die Individuen und besonders die proletarischen Individuen unter gewissen Bedingungen veranlasst sehen, den gesellschaftlichen Druck zu verstärken, d.h. den Spielraum der individuellen (gesellschaftlich akzeptierten und/oder juristisch erlaubten) Autonomie als Anerkennung der Effizienz ihres gegenseitigen Zusammenhanges zu reduzieren. Gibt es für die Schwächsten eine andere Art und Weise, gegen den Neomalthusianismus zu kämpfen, wenn die persönliche Freiheit die Freiheit des Virus im freien Hühnerstall ist?

Betreffend dieser Verbindung muss die aussergewöhnliche Widerstandsfähigkeit unterstrichen werden. Die Anhänger „des Zusammenbruches des Kapitalismus“ und andere Kollapsologen haben nicht nur ein kurzes Gedächtnis, sondern auch eine total verdinglichte Sichtweise der gesellschaftlichen Verhältnisse. In China hat der Zusammenbruch der industriellen Produktion 1961 fast 40% erreicht; in Russland 1992 25%. In den USA betrug er zwischen Juli 1929 und März 1933 insgesamt 52%. Wieso haben solche Katastrophen, die allenfalls Hungersnöte oder demographischen Zusammenbruch zur Folge haben, nie gereicht, um zum Verfall der bestehenden Produktionsverhältnisse zu führen? Schlicht und einfach, weil die Gesellschaft nicht eine Addition von Individuen und/oder Gegenständen (seien es Fabriken) ist. Das dürfte reichen, um sich von zwei alles in allem ziemlich banalen Dingen zu überzeugen:

• Erstens sind die gesellschaftlichen Verhältnisse etwas vom unergründlichsten und unentzifferbarsten und die Reproduktion der kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse erfordert manchmal immense Opfer unter ihren materiellen Trägern (Dinge und Personen);

• zweitens und aus dem gleichen Grund können diese Verhältnisse weder absichtlich modifiziert, noch von einem Automatismus der Geschichte (einem „Zusammenbruch“ zum Beispiel) aufgelöst werden. Das bedeutet nicht, dass die kapitalistische Produktionsweise ewig ist, aber dass die Frage, wie sie überwunden werden kann, eine theoretische Frage im wahrsten Sinne des Wortes ist, die ernst genommen und systematisch behandelt werden muss. Jene, welche sich damit begnügen, Parolen zu brüllen, machen sich nicht nur lächerlich, sondern umgehen auch die Frage, statt sie zu beantworten.

Es sollte schliesslich angemerkt werden, dass die Demontage der Globalisierung sehr wahrscheinlich einen Widerruf jener Postulate implizieren wird, bezüglich welchen sich die heftigsten Kritiker des Kapitalismus und seine Apologeten eine Zeit lang einig sein konnten, besonders der antidialektischen Überzeugung, die Ära des Staatskapitalismus und der damit verbundenen Problematiken sei definitiv überwunden. Die Überwindung der Globalisierung, sollte sie gelingen, wird gewiss keine Rückkehr zum alten Keynesianismus sein. Sind wir allerdings nicht schon dabei, ein neues Ende des laisser-faire zu erleben? In diesem Sinne sollte angemerkt werden, dass, entgegen unserer eigenen Prognosen11, die big bazooka weiterhin schiesst. Und nicht nur ein bisschen! Man kann jedoch jetzt schon bekräftigen, dass ihre zukünftigen Auswirkungen und Modalitäten im Verlauf der Monate immer weniger jenen der vorhergehenden Schüsse ähneln werden. Trotz den wiederholten Versuchen, eine Kettenreaktion der Konkurse zu verhindern und verfaulte Banken durch eine massive Injektion von Geldflüssigkeit und einfachen Krediten zu retten, besteht der Graben zwischen rentablen Unternehmen mit wirklichen Kapazitäten der Selbstfinanzierung und Investition – die nicht zahlreich sind, aber sie existieren sehr wohl – und den untergehenden Unternehmen fort und vertieft sich. Nur erstere werden sich auf autonome Art und Weise dem aus dem aktuellen Schlamassel hervorgehenden wirtschaftlichen und produktiven Ökosystem anpassen können. Wahrscheinlich werden viele andere gerettet und eventuell verstaatlicht werden müssen, doch das wird nur unter gewissen Bedingungen geschehen und nur wenn sie als strategisch betrachtet werden. Donald Trump hat schon seine Unterstützung für die Idee eines Verbots der buybacks – d.h. des Kaufs der eigenen Titel, um ihren Wert an der Börse zu steigern – für die geretteten Unternehmen ausgedrückt12: Dies würde schon ein erstes Kriterium der Konditionalität (die Wiederbelebung der Investitionen) für den bailout setzen. Zudem drohen die Entwicklungen der nächsten Monate, in Anbetracht des von den amerikanischen Unternehmen Ende 2019 erreichten Verschuldungsgrades (15.5 Billionen Dollar sowohl grosser als auch kleiner und mittlerer Unternehmen), die alte Frage des Beginns des letzten Jahrhunderts zum Verschwinden zu bringen: Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus?13 Es versteht sich von selbst, dass das nicht ohne eine Umstellung einer beträchtlichen Fraktion der amerikanischen und – indirekt – internationalen kapitalistischen Klasse weg von der Verteidigung des ultraliberalen Status Quo hin zu einer offenen Haltung gegenüber hohen Dosen an gelenkter Volkswirtschaft und Dirigismus geschehen wird.

Und auf der anderen Seite des Pazifiks? China ist selbstverständlich weder in keiner Weise geschützt vor der ausbrechenden allgemeinen Krise, noch unbeteiligt an den wirtschaftlichen Pathologien, die den Rest der Welt heimsuchen (besonders die Überverschuldung). Die von der Wirtschaftspresse veröffentlichten Zahlen sprechen von einer Senkung von 13.5% der industriellen Produktion Chinas zwischen Januar und Februar. Das ist kein Pappenstiel und es ist auch möglich, dass die Zahl zu tief geschätzt ist, doch führen wir uns vor Augen, dass es sich in diesem Fall nur um zwei Monate handelt, während die Daten sich in den weiter oben zitierten Beispielen auf viel längere Zeiträume beziehen. Fortsetzung folgt. Die grundlegende Unbekannte ergibt sich aus der auf chinesischem Boden gültigen Dreiteilung der Kapitale (Staatsunternehmen, chinesische Privatunternehmen, ausländische oder hybride Unternehmen), die in den Auslegungen in Begriffen der nationalen Buchhaltung (BIP usw.) regelmässig verschleiert werden: Wie werden die Verluste unter diesen drei Fraktionen aufgeteilt werden? Die chinesische Wirtschaft ist nicht im Block gegossen, sie ist eine Cremeschnitte. Kann man dennoch die Tatsache vernachlässigen, dass der chinesische Staat im Moment bezüglich internationaler Beziehungen die einzige Macht ist, die eine Anziehung, eine Zentripetalkraft ausübt?

„Im Verlauf der letzten Wochen hat China die Erzählung der Epidemie neu geschrieben und sie von einer Geschichte der Skandale, der Verschleierung und der schlechten Verwaltung der chinesischen Regierung in eine Geschichte des Triumphs, der Kraft und der Grosszügigkeit der Chinesen, oder gar der Überlegenheit ihres Regierungssystems verwandelt. Die Funktionsstörungen des Weissen Hauses, und vielleicht bis zu einem gewissen Grad auch jene von Downing Street, haben der chinesischen Regierung gewiss geholfen, diese Erzählung zu konsolidieren.“14

„Es gibt keine Solidarität Europas. Es ist ein Märchen auf Papier. Ich glaube an meinen Bruder und Freund Xi Jinping und an die Hilfe Chinas. Was alle anderen betrifft, danke, dass ihr nichts getan habt.“15

„Die Afrikanische Union hat schon 2‘000 Test-Kits von der chinesischen Regierung bekommen und rechnet mit 10‘000 weiteren sowie anderen dringend notwendigen medizinischen Lieferungen, die gebraucht werden, um die Ausbreitung von Covid-19 auf dem Kontinent zu bekämpfen. Die Verteilung der gespendeten medizinischen Ausrüstung ist von den Afrikanischen Zentren für Krankheitsbekämpfung und Schutzmassnahmen der Afrikanischen Union in Äthiopien zentralisiert worden. Jack Ma, ein chinesischer Tech-Milliardär und Mitgründer der Online Shopping Plattform Alibaba, versprach, mithilfe seiner Stiftungen 20‘000 Test-Kits, 100‘000 Masken und 1‘000 Schutzanzüge an jeden der 54 afrikanischen Staaten zu spenden.“16

Die im letzten Zitat erwähnten Spenden mögen peanuts sein, doch was taten die anderen Riesen der Welt in der Zwischenzeit? Nichts. Grossbritannien, Frankreich und Japan schickten im Januar einige Masken nach China, um den Schein zu wahren, sie hofften tief im Herzen, dass die Epidemie der Welt alle Probleme und Rückstände dessen ans Licht bringen würde, was in ihren Augen grundsätzlich nie aufgehört hat, the sick man of Asia zu sein. Jetzt zeigt sich: Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. Dies bringt uns zum chinesisch-amerikanischen decoupling und zur Thukydides-Falle zurück. Vor genau 160 Jahren prophezeite Marx:

„Dann wird der Stille Ozean dieselbe Rolle spielen wie jetzt das Atlantische und im Altertum und Mittelalter das Mittelländische Meer – die Rolle der großen Wasserstraße des Weltverkehrs; und der Atlantische Ozean wird herabsinken zu der Rolle eines Binnensees, wie sie jetzt das Mittelmeer spielt.“17

Das ist unsere jüngste Vergangenheit und unsere Gegenwart. Vielleicht nicht mehr lange. Es ist unmöglich, zu wissen, was darauf folgen wird. Um einen anderen berühmten und kontroversen Deutschen zu paraphrasieren: Das Schicksal der Weltgeschichte wird einmal mehr eine Geschichte des Kampfes von Seemächten gegen Landmächte und von Landmächten gegen Seemächte sein – ein Kampf, wovon der kriegerische Ausgang immer noch der wahrscheinlichste ist.

Eben genau betreffend der militärischen Frage zeigt die jüngste Exhumierung des Themas der „Aufstandsbekämpfung“18 einmal mehr die Kluft zwischen einem gewissen aktivistischen oder „radikalen“ storytelling und der Wirklichkeit. Dass die Doktrinen und die Praktiken der Aufstandsbekämpfung zum Ziel haben, Massenbewegungen niederzuschlagen oder in Schach zu halten, ist schlicht und einfach absurd. In Wirklichkeit betreffen sie Kontexte der militärischen Intervention im Ausland, in welchen die Feinde minoritäre kriegführende Subjekte sind, die jedoch unübersichtlich und innerhalb einer bunt gemischten, mehrheitlich feindlichen Zivilgesellschaft zerstreut sind, welche von der Besatzungsmacht so gut wie möglich kooptiert werden muss. Die insurgency gegen die counterinsurgency ist der Bandenkrieg, die Guerilla, die Handlung der Partisanen. Es handelt sich nicht um riot, insurrection, uprising oder upheaval. Es ist natürlich möglich, dass diese Doktrinen und Praktiken gegen Bevölkerungen des gleichen Staates benutzt werden können wie jener, welchem die sie anwendende Armee angehört – obwohl es nicht ihr ursprünglicher oder vorherrschender Zweck ist. Doch das setzt einen ähnlichen Kontext voraus wie jener einer Intervention im Ausland, so wie wir sie eben beschrieben haben, zum Beispiel ein Sezessionsversuch nationaler Minderheiten. Was den Rest betrifft, kann der – wie auch immer geartete – Einsatz der Armee nie etwas anderes als ergänzend zu jenem der Polizei sein, aus dem einfachen Grund, dass der Kontext nicht undurchsichtig ist und die Funktionen der intelligence und der Kontrolle des Territoriums – auf eine mit den verfügbaren Mitteln kompatible Art und Weise – schon abgedeckt sind. Somit kommt Zweifel auf: War die berühmte „Militarisierung der Territorien“ – in Italien und anderswo – nur ein Projektionsschirm, hinter welchem sich die Unterfinanzierung der Bullen versteckte?

Doch das ist nicht alles. Wenn es, wie es der Fall ist, wahr ist, dass die Doktrinen der Aufstandsbekämpfung Gegenstand zahlreicher, vom Ort ihrer Herkunft selbst (der amerikanischen Armee) kommender Kritiken waren und eine – freilich nicht einheitliche – Gegenbewegung der „Rückkehr zu den Grundlagen“19 auslösten, so hängt das nicht nur mit den unglücklichen Resultaten der Missionen im Irak, in Afghanistan usw. zusammen – vor allem, wenn man sie mit den Kosten und der banalen Feststellung vergleicht, dass „vollständig reguläre bewaffnete Kräfte, ohne Doktrin der Aufstandsbekämpfung oder besonderem Training, in der Vergangenheit regelmässig Aufständische besiegten, indem sie einige bewährte Methoden benutzten“20. Denn der Ansatz der Aufstandsbekämpfung ist gleichwesentlich mit dem unipolaren amerikanischen Moment: Eine Welt, in welcher die militärische Intervention und Besatzung als etwas konzipiert werden konnten, das losgelöst von einem konsequenten Einsatz von Bodentruppen und der Einsetzung einer Regierung oder Verwaltung im besetzten Territorium war; eine Welt, in welcher man glauben konnte, dass es keine grossen Kriege mehr geben würde, ausser gegen das Proletariat oder die „Verdammten dieser Erde“ in den peripheren Ländern. Das Problem ist, dass sich diese Welt in Benghasi und Aleppo in Schall und Rauch verwandelt hat. Jene, welche beim Bericht der NATO von 2003 („Urban Operations in the Year 2020“21) stehen geblieben sind, haben womöglich einige Episoden im Verlauf der letzten 17 Jahre verpasst.

Das Vorhergehende ändert nichts oder fast nichts an der Gesamtlage: Das Eintreten in eine besonders krampfhafte und entscheidende historische Phase, deren Ausgang offen ist und in letzter Instanz vom Klassenkampf abhängen wird (und dies vor allem auf beiden Seiten des Pazifiks). Je weiter wir im Unwetter fortschreiten, desto geringer wird die „Sichtweite“. Und insoweit als akkumulierte/übermittelte „revolutionäre“ Gewissheiten der alltäglichen Erkundung Platz machen werden müssen, werden Überlegungen wie diese und die Existenz theoretischer „Pole“ selbst wie unserem ihre Daseinsberechtigung verlieren. Es ist weniger eine Frage der Wahl, denn eine Frage einer allgemeinen Änderung der „Atmosphäre“: Die ruhigen Zeiten sind vorbei.

1Elias Canetti

2Die Auslösung der gegenwärtigen Pandemie selbst – genau wie jene der notorischsten Epidemien der jüngsten Vergangenheit (Ebola, SARS, MERS, Zika usw.) – kann nicht als ein strikt „natürliches“ Ereignis betrachtet werden, da der sogenannte spillover, d.h. die Übertragung „neuer“ Virenarten von den Tieren auf die Menschen, durch den Druck der kapitalistischen Produktionsweise auf die Umwelt begünstigt wird. Siehe Laura Scillitani, „Aids, Hendra, Nipah, Ebola, Lyme, Sars, Mers, Covid…“, 18. März 2020.

3Vor mehr als einem Jahr machten wir eine Bestandesaufnahme der Überverschuldung, sowohl corporate als auch non-financial. Siehe Il lato cattivo, „Il demos, il Duce, la crisi“, Januar 2019.

4„Heute ist [in Grossbritannien] ein Hektar Land hundertmal rentabler, wenn auf ihm gebaut, als wenn er für die Landwirtschaft genutzt wird.“ Michael Roberts, „Land and the Rentier Economy“, 15. Dezember 2019.

6Il lato cattivo, „Foto dal finestrino“, September 2017.

7AdÜ: Behelfsmässige Übersetzung des Begriffs stato minchione, den Bordiga im Text „Struttura economica e sociale della Russia d‘oggi“ verwendete. Eine deutsche Übersetzung davon scheint nicht zu existieren.

8Präzisieren wir, falls es notwendig ist, dass das Recht auf Abtreibung oder die Verhütungspille – die wir ohne zu zögern als aussergewöhnliche Errungenschaften hinsichtlich der bewussten Regulierung seiner eigenen Reproduktion durch das menschliche Geschlecht definieren – hier nicht in Frage gestellt werden.

9Urtext von „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ in Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin, Dietz Verlag, 1953, S. 909.

10Einleitung von 1857 in MEW, Bd. 13, S. 615.

11Siehe Il lato cattivo, „Il demos, il Duce, la crisi“, op. cit.

13Werner Sombart.

14Yangyang Cheng, Cornell University.

15Aleksandar Vučić, Präsident der Republik Serbiens, 17. März 2020

17Karl Marx, Friedrich Engels, „Revue“ in Neue Rheinische Zeitung, Januar/Februar 1850 in MEW, Bd. 7, S. 221.

18Siehe Chuang, „Soziale Ansteckung. Mikrobiologischer Klassenkampf in China“, Februar 2020, mehrere Übersetzungen davon zirkulieren online. Ein freilich sehr interessanter Text, der jedoch mit Vorbehalt gelesen werden muss. Abgesehen von einigen mehr als zweifelhaften Irrungen bezüglich der Aufstandsbekämpfung und einer gewissen Ambivalenz über das gesellschaftliche Wesen des maoistischen Chinas, ist die Einschätzung der Massnahmen gegen Covid-19 in der Region Hubei klar durch eine Unterschätzung der Reaktionsfähigkeit des Zentralstaats verzerrt. Der gewiss stimulierendste Vorschlag des Textes, der am ehesten geteilt werden kann, ist folgender: „Auf theoretischer Ebene bedeutet dies, zu verstehen, dass die Kapitalismuskritik verarmt, wenn sie von den harten Wissenschaften abgetrennt wird.“ (AdÜ: Der letzte Teil des Textes wurde in der Übersetzung von Wildcat kommentarlos weggelassen, während die Passage in einer anderen Übersetzung fälschlicherweise als eine „Kritik an den ‚harten Wissenschaften‘“ dargestellt wird. Wer des Englischen mächtig ist, liest am besten die Originalversion.)

19Für jene, welche das Thema vertiefen möchten, gibt es eine ausschweifende Bibliographie. Der heftigste Kritiker der Aufstandsbekämpfung innerhalb der amerikanischen Armee ist der Oberst Gentile. Siehe Gian P. Gentile, „A Strategy of Tactics: Population-Centric COIN and the Army“ in Parameters, Nr. 39, Herbst 2009; Gian P. Gentile, „Les mythes de la contre-insurrection et leurs dangers: une vision critique de l‘US Army“ in Sécurité globale, Nr. 10, 2009, S. 21-34; Gian P. Gentile, Wrong Turn: America‘s Deadly Embrace of Counterinsurgency, The New Press, 2013.

20Edward N. Luttwak, „Modern War: Counterinsurgency as Malpractise“ in Politique étrangère, 2006/4, S. 859-861.

21Link zum Buch: https://translationcollective.wordpress.com/2012/08/17/militar-in-den-strasen-einige-fragen-zum-nato-bericht-urban-operations-in-the-year-2020/]

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