Jacques Camatte – Soligruppe für Gefangene https://panopticon.blackblogs.org Für die Anarchie! Knäste, Staat, Patriarchat und Kapital abschaffen! Sat, 24 Feb 2024 08:26:16 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.1 https://panopticon.blackblogs.org/wp-content/uploads/sites/1233/2020/02/cropped-discharge-degenerik-blog-1-32x32.jpg Jacques Camatte – Soligruppe für Gefangene https://panopticon.blackblogs.org 32 32 (Jacques Camatte, Gianni Collu) Von der Organisation https://panopticon.blackblogs.org/2024/02/19/jacques-camatte-gianni-collu-von-der-organisation/ Mon, 19 Feb 2024 10:53:39 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5582 Continue reading ]]>

Übersetzt aus dem Englischen ‚De l’organisation‘ unter Zuhilfenahme des französischen Originals, sowie der spanischen Version desselben Textes. In Zusammenarbeit mit Libri Felis Nigrae übersetzt und korrigiert.

In dem hier vorliegende Text von Jacques Camatte kritisiert er alle Organisation (in Form spezifischer Gruppen/Parteien, etc.), weil diese sich nur vom Proletariat trennen können, von diesem getrennt sind und daher nur darauf streben diesen zu lenken/anführen. Camatte nennt dies die Trennung der formellen von der historischen Partei, wobei letzte sich immer nur dann bildet (ganz nach Marx) wenn das Proletariat kämpft und dadurch über sich selbst Bewusstsein erlangt und daher sich zur revolutionären Kraft (sprich Partei) bildet. Dies habe eben nichts mit der früheren sozialdemokratischen Vorstellung der Partei zu tun (Kautsky, Bernstein,…) und seinen späteren bolschewistischen Nachahmern und Schülern zu tun (Lenin, Trotsky, Stalin, Mao, sprich sämtliche leninistische Avantgard-Parteien der Welt).

Aus dem Grund, und weil auch die kapitalistische Gesellschaft auf Konkurrenz und Wettbewerb basiert (Nation-Staat vs. Nation-Staat, Unternehmen vs. Unternehmen, Prolet vs. Prolet) und dadurch ‚Rackets‘ einen System-inhärente Funktion ausüben, teilen wir den Kern der Kritik von Camatte die nach der Autonomie der Praxis, weg vom Fetisch und der Mythologie der Organisation-Partei, des Proletariats setzt. Sprich handelt es sich (auch) um eine Kritik an der Formalität, die aber nicht in in anderen Fetischen und Mythologien zerfallen soll.

Soligruppe für den sozialen Krieg und für Gefangene


Franz. Original: De l’organisation; in „Invariance“, Anne V, serie II, no. 2, 1972

Englisch: On organization; in „This world we must leave, and other essays“, Autonomedia, 1995

Spanisch: Sobre la organización


Einleitende Worte

Jacques Camatte ist ein französischer Theoretiker, der lange Zeit in der (italienischen) bordigistischen Gruppe PCI aktiv war. Nach inhaltlichen Überwerfungen gründete er in Frankreich das Magazin Invariance, dessen langjähriger Herausgeber er ist. Invariance ist auch ein Ausdruck seiner theoretischen Entwicklung, war er eben lange Zeit Teil der bordigistischen Kommunisten in Italien und entwickelte dann über Ideen, die sich eher der Tendenz der Kommunisierung zurechnen lassen zu einem Kritiker der Zivilisation und eines Vordenkers der primitivistischen Kritik.

Die hier vorliegende Kritik an Organisationen nutzt das Konzept des Rackets zu einer Beschreibung des Bandencharakters von Gruppen und besonders politischen Organisationen. Der Begriff stammt ursprünglich aus der juristischen Fachsprache vor allem der USA, wo er benutzt wird um spezifische Formen der (bandenmäßigen) Erpressung zu beschreiben und auch für die Strafverfolgung zu definieren.

Die Verwendung des Begriffs in (marxistischen) Theorien ist nicht neu. Bereits Ende der 30er, Anfang der 40er verwendeten die Vertreter der Kritischen Theorie ausgehend von Felix Weil und besonders Max Horkheimer diesen Begriff um eine Gesellschaftstheorie des Rackets zu entwickeln. Im Gegensatz zu Camatte sollte hierbei der Begriff des Rackets als Ausgangspunkt einer vollumfänglichen Gesellschaftsanalyse dienen, die das Racket/ die Bande als Kernform menschlicher Gesellschaft sieht. Offensichtlich wurden diese Ansätze nie zu Ende entwickelt und die Rackettheorie der Kritischen Theorie blieb immer fragmentarisch auf einzelne kürzere Essays beschränkt, bzw. auf einige randständige Erwähnungen in ihren Arbeiten. In der späteren Schaffensphase der Frankfurter verlor der Begriff dann auch seine Relevanz.

Camattes Versuch einer Verwendung des Rackets als Beschreibung spezifischer Gruppendynamiken und damit als Ausgangspunkt einer konkreten Kritik eben jener, dadurch fällt aber ein wichtiger Aspekt unter den Tisch: der Konflikt der Banden untereinander. Das Racket verlangt absolute Unterordnung seiner Mitglieder und ermöglicht absolute Grausamkeit gegenüber den außerhalb der eigenen Bande stehenden Menschen. Genau dies ist auch eine Rechtfertigung des Staates: der Schutz seiner Bevölkerung gegenüber den anderen Rackets bzw. den Rackets und dem Verbrechen. Für eine diejenigen, die das Projekt der Überwindung des Bestehenden ernsthaft angehen wollen, das heißt das Bestehende zu verstehen um es kritisieren zu können, ist dieses Verhältnis des Staates als Racket, als Schutz vor dem Racket und der Gefahr des Rackets Thematiken, die unumgänglich sind. Dieser Text ist ein Anfang.

Fabian Hayek für Edition Provokation


(Jacques Camatte, Gianni Collu) Von der Organisation

Der folgende Brief den wir veröffentlichen (vom 04.09.69) führte zur Auflösung der Gruppe, die sich auf der Grundlage der in Invariance1 dargelegten Positionen zu bilden begonnen hatte. Dieser eröffnete eine wichtigen Debatte-Reflexion, die seither andauert und dessen Schlussfolgerungen bereits in der Nummer acht der Serie I von „Transition“ diskutiert wurden.

Einige der in den Briefen aufgeworfenen Punkte wurden zwar teilweise angegangen, andere wurden jedoch kaum behandelt. Deshalb ist es notwendig – angesichts der Wichtigkeit eine sauberere Zäsur mit der Vergangenheit zu vollziehen – den Brief jetzt zu veröffentlichen. Die Veröffentlichung soll es den Leser ermöglichen, die bisher geleistete Entwicklung der Arbeit zu würdigen und zu erkennen, was noch zu tun ist.

Da es sich gleichzeitig um eine Zäsur (und damit um eine Schlussfolgerung) und um einen Ausgangspunkt handelt, enthält der Brief eine gewisse Anzahl von Ungenauigkeiten, Keime möglicher Fehler. Wir werden die wichtigsten davon in einer Anmerkung aufführen. Da es uns damals, nachdem wir die Methode/Modus der Gruppe abgelehnt hatten, möglich war, „konkret“ zu skizzieren, wie man Revolutionär sein kann, hätte unsere Ablehnung der Splittergruppen2 als Rückkehr zu einem mehr oder weniger Stirnerschen Individualismus interpretiert werden können. Als ob die einzige Garantie von nun an die von den einzelnen Revolutionär gepflegte Subjektivität sein würde! Weit gefehlt. Es war notwendig, eine bestimmte Wahrnehmung der sozialen Realität und die damit verbundene Praxis öffentlich abzulehnen, da sie ein Ausgangspunkt für den Prozess der Racketisierung3 waren. Wenn wir uns also völlig aus der Bewegung der politischen Splittergruppen zurückzogen, dann nur um gleichzeitig mit jeden anderen Revolutionären, die eine analoge Zäsur vollzogen hatten, in Verbindung treten zu können. Wir wollten ein Konvergenzphänomen hervorheben. Jetzt gibt es eine direkte Produktion von Revolutionären, die den Punkt, an dem wir unsere Zäsur vollziehen mussten, fast direkt übertreffen. Es gibt also eine potenzielle „Vereinigung“, die in Frage käme, wenn wir die Zäsur mit dem politischen Standpunkt nicht bis in die Tiefen unseres individuellen Bewusstseins tragen würden. Da das Wesen der Politik im Wesentlichen Repräsentation ist, versucht jede Gruppe ständig ein eindrucksvolles Bild auf der gesellschaftlichen Leinwand zu projizieren. Die Gruppen erklären immer, wie sie sich selbst darstellen, um von bestimmten Leuten als die Avantgarde für die Vertretung der Anderen, der Klasse, anerkannt zu werden. Dies zeigt sich in dem berühmten „Was uns unterscheidet“ der verschiedenen Splittergruppen auf der Suche nach Anerkennung. Jede Abgrenzung ist eine Begrenzung und führt oft sehr schnell zu einer Reduzierung der Abgrenzung auf einige repräsentative Slogans für das racketeeristische Marketing. Jede politische Repräsentation ist ein Bildschirm und damit ein Hindernis für eine Verschmelzung der Kräfte. Sie kann sowohl auf der individuellen als auch auf der Gruppenebene stattfinden, wäre der Rückgriff auf die erste Ebene für uns eine Wiederholung der Vergangenheit.

Camatte, 1972

„Wir beide geben keinen Pfifferling für Popularität. Beweis z.B., im Widerwillen gegen allen Personenkultus, habe ich während der Zeit der Internationalen die zahlreichen Anerkennungsmanöver, womit ich von verschiednen Ländern aus molestiert ward, nie in den Bereich der Publizität dringen lassen und habe auch nie darauf geantwortet, außer hie und da durch Rüffel. Der erste Eintritt von Engels und mir in die geheime Kommunistengesellschaft geschah nur unter der Bedingung, daß alles aus den Statuten entfernt würde, was dem Autoritätsaberglauben förderlich.“ Marx an Wilhelm Blos – 10.11.1877, MEW 34, S. 308.

„Kann man im bürgerlichen Umgang oder Trade dem Schmutz entgehn? Nur ist er in letztrem an seinem naturwüchsigen Ort. […] Die ehrliche Niederträchtigkeit oder niederträchtige Ehrlichkeit zahlungsfähiger […] Moral steht mir keinen Deut höher als die irrespektable Niedertracht, von der weder die ersten christlichen Gemeinden, noch der Jakobinerklub, noch unser weiland „Bund“ sich ganz rein halten konnten. Nur gewöhnt man sich, im bürgerlichen Verkehr das Gefühl für die respektable Niedertracht oder niederträchtige Respektabilität zu verlieren.“ Marx an Ferdinand Freiligrath – 29.02.1860, MEW 30, S. 492.

Die Bildung des Kapitals in der materiellen Existenz und damit in der sozialen Gemeinschaft, geht einher mit dem Verschwinden des Kapitalisten als traditionelle Figur, der relativen und manchmal absoluten Verkleinerung des Proletariats und dem Wachstum neuer Mittelschichten. Jede menschliche Gemeinschaft, und sei sie noch so klein, ist durch die Existenzweise der materiellen Gemeinschaft bedingt. Die gegenwärtige Existenzweise ergibt sich aus der Tatsache, dass das Kapital nur dann in der Lage ist, sich selbst zu verwerten, also zu existieren und sich zu entwickeln, wenn ein Teilchen von ihm, zur gleichen Zeit, in der es sich veräußert, dem gesellschaftlichen Ganzen entgegentritt und sich in Beziehung zum Gesamten vergesellschafteten Äquivalent, dem Kapital, setzt. Es braucht diese Konfrontation (Konkurrenz, Wetteifer); es existiert nur durch Differenzierung. Von diesem Punkt aus bildet sich ein soziales Gefüge, das auf dem Wettbewerb rivalisierender „Organisationen“ (Rackets) beruht.

„Er reproduziert eine neue Finanzaristokratie, eine neue Sorte Parasiten in Gestalt von Projektenmachern, Gründern und bloß nominellen Direktoren; ein ganzes System des Schwindels und Betrugs mit Bezug auf Gründungen, Aktienausgabe u n d Aktienhandel. Es ist Privatproduktion ohne die Kontrolle des Privateigentums.“ Das Kapital, 3. Band, MEW 25, S. 454.

„Die Expropriation erstreckt sich hier von den unmittelbaren Produzenten auf die kleineren und mittleren Kapitalisten selbst. Diese Expropriation ist der Ausgangspunkt der kapitalistischen Produktionsweise; ihre Durchführung ist ihr Ziel, und zwar in letzter Instanz die Expropriation aller einzelnen von den Produktionsmitteln, die mit der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktion aufhören, Mittel der Privatproduktion und Produkte der Privatproduktion zu sein, und die nur noch Produktionsmittel in der Hand der assoziierten Produzenten, daher ihr gesellschaftliches Eigentum, sein können, wie sie ihr gesellschaftliches Produkt sind. Diese Expropriation stellt sich aber innerhalb des kapitalistischen Systems selbst in gegensätzlicher Gestalt dar, als Aneignung des gesellschaftlichen Eigentums durch wenige; u n d der Kredit gibt diesen wenigen immer mehr den Charakter reiner Glücksritter.“ Das Kapital, 3. Band, MEW 25, S.455 f.

Das Unternehmen als Sitz des Produktionsprozesses (Wertschöpfung) ist ein Ort, der die Bewegung des Kapitals bremst, es also fixiert. Es muss also diese Fixierung überwinden, diesen festen Charakter verlieren. So entsteht das eigentumslose Unternehmen, das noch eine mystifizierte Ertragsform des Mehrwerts zulässt. Hier ist das konstante Kapital gleich Null, sodass nur ein kleiner Kapitalvorschuss nötig ist, um das „Geschäft“ ins Rollen zu bringen. Schließlich gibt es sogar fiktive Unternehmen, dank derer sich die unkontrollierteste Spekulation entwickelt.

„Heute tritt das Kapital ständig in Form einer „Organisation“ auf.“ Hinter diesem Wort – in den glorreichen Tagen der Arbeitskämpfe gleichbedeutend mit Brüderlichkeit im offenen Kampf, heute aber nur noch eine heuchlerische Fiktion über das gemeinsame Interesse von Unternehmern, Verwaltern, Technikern, Hilfsarbeitern, Robotern und Aufpassern -, hinter den nichtssagenden und anti-mnemonischen Markenzeichen der Unternehmen, hinter den Begriffen „Elemente der Produktion“ und „Stimulierung des Staatseinkommens“ erfüllt das „Kapital“ noch immer seine alte, abstoßende Funktion; eine Funktion, die weit unwürdiger ist als die des Unternehmers, der zu Beginn der bürgerlichen Gesellschaft seine Intelligenz, seinen Mut und seinen wahren Pioniergeist persönlich eingebracht hat.

Die Organisation ist nicht nur der moderne entpersonalisierte Kapitalist, sondern auch der Kapitalist ohne Kapital, denn sie braucht kein Kapital…

Die Unternehmensorganisation hat ihren eigenen Plan. Es wird kein zuverlässiges Unternehmen mit Vermögenswerten gegründet, sondern eine „Firmenfront“ mit einem fiktiven Kapital4. Wenn etwas im Voraus gezahlt wird, dann nur, um die Sympathie der staatlichen Stellen zu gewinnen, die Angebote, Vorschläge und Verträge prüfen.

Dies offenbart die Falschheit der dummen Doktrin, dass die Staats- oder Parteibürokratie eine neue herrschende Klasse darstellt, die Proletarier und Kapitalisten gleichermaßen ausnimmt – eine lächerliche Hypothese, die aus marxistischer Sicht leicht zu verwerfen ist. Heute ist der „Spezialist“ ein Raubtier, der Bürokrat ein erbärmlicher Speichellecker.

Die Organisation unterscheidet sich von der Kommune der Arbeit (eine libertäre Illusion, die in keinem definierten Rahmen zu finden ist) dadurch, dass es in jeder Form statt Gleichheit der Leistung in einer gemeinsamen Arbeit eine Hierarchie der Funktionen und Leistungen gibt. Es kann nicht anders sein, wenn das Unternehmen auf dem Markt autonom ist und eine profitable Bilanz vorlegen muss.

Jüngste Berichte aus Rußland über die regionale Dezentralisierung und erweiterte Selbständigkeit einzelner Konzerne zeigen, daß die Tendenz zu einer explosionsartigen Ausweitung des Vertragssystems geht, bei dem sich der Staat in allen Wirtschaftsbereichen an Organisationen verdingt, die faktisch Geschäftsbanden sind, mit wechselnder und schwer faßbarer personeller Zusammensetzung. Dies ähnelt den verschiedenen gierigen Formen, die die moderne Bauindustrie in allen zeitgenössischen kapitalistischen Systemen kennzeichnen.“

A. Bordiga, „The Economic and Social Structure in Russia Today“ in Il programma comunista, no. 7, 1957. Edition de L’oubli 1975, pp. 230-31.

Der Staat vermietet sich nicht nur an Gangs, sondern wird selbst zu einer Gang (Racket). Trotzdem spielt er immer noch die Rolle des Vermittlers.

„Die absolute Monarchie, selbst schon Produkt der Entwicklung des bürgerlichen Reichtums zu einer mit den alten Feudalverhältnissen unverträglichen Stufe, bedarf entsprechend der gleichförmigen allgemeinen Macht, die sie fähig sein muß auf allen Punkten der Peripherie auszuüben, als des materiellen Hebels dieser Macht des allgemeinen Äquivalents, des Reichtums in seiner stets schlagfertigen Form, worin er durchaus unabhängig ist von besondren lokalen, natürlichen, individuellen Bezi[ehun]gen.“ Karl Marx, Urtext Fragment des Urtextes von „Zur Kritik der politischen Ökonomie“, II. Kapitel. [2. Das Geld als Zahlungsmittel]

Der Staat erschien in seiner reinen Form, mit der Macht des allgemeinen Äquivalents, in der Zeit des Wachstums des Wertgesetzes in der Periode der einfachen Warenproduktion. In der Phase der formellen Herrschaft des Kapitals, als das Kapital das Wertgesetz noch nicht beherrschte, war Staat ein Vermittler zwischen diesem und den Resten der anderen fortbestehenden Produktionsweisen und dem Proletariat selbst. Außerdem war in dieser Epoche das Kreditsystem noch unentwickelt und hatte noch nicht in großem Umfang fiktives Kapital hervorgebracht. Das Kapital brauchte noch einen starren Goldstandard. Mit dem Übergang zur realen Herrschaft schuf das Kapital sein eigenes allgemeines Äquivalent, das nicht mehr so starr sein konnte wie in der Periode der einfachen Zirkulation. Der Staat selbst musste seine Starrheit verlieren und zu einer Gang werden, die zwischen den verschiedenen Gangs und zwischen dem Gesamtkapital und den Einzelkapitalen vermittelt.

Die gleiche Art von Wandel können wir im politischen Bereich beobachten. Das Zentralkomitee einer Partei oder das Zentrum jeder Art von Gruppierung spielt dieselbe Rolle wie der Staat. Dem demokratischen Zentralismus gelang es nur, die für die formale Herrschaft charakteristische parlamentarische Form nachzuahmen. Und der organische Zentralismus, der lediglich in negativer Weise als Ablehnung der Demokratie und ihrer Form (Unterwerfung der Minderheit unter die Mehrheit, Abstimmungen, Kongresse usw.) bekräftigt wird, bleibt in Wirklichkeit nur in den moderneren Formen gefangen. Dies führt zu einer Mystifizierung der Organisation (wie beim Faschismus). So hat sich die PCI (Internationale Kommunistische Partei) zu einer Gang entwickelt.

Da das Proletariat vernichtet wurde, stößt diese Bewegung des Kapitals auf keinen wirklichen Widerstand in der Gesellschaft und kann sich daher umso effizienter selbst produzieren. Das wirkliche Sein des Proletariats wurde geleugnet, es existiert nur noch als Objekt des Kapitals. In ähnlicher Weise wurde die Theorie des Proletariats, der Marxismus, zerstört, indem sie zunächst durch Kautsky´s revisionistischen Werken und dann von Bernstein liquidiert wurde. Dies geschah auf endgültige Art und Weise, denn seither ist es keinem Angriff des Proletariats gelungen, den Marxismus wieder zu etablieren. Dies ist nur eine andere Art zu sagen, dass es dem Kapital gelungen ist, seine reale Herrschaft zu etablieren. Um dies zu erreichen, musste das Kapital die Bewegung, die es negiert, das Proletariat, absorbieren und eine Einheit herstellen, in der das Proletariat lediglich ein Objekt des Kapitals ist. Diese Einheit kann nur durch die Krise, wie sie von Marx beschrieben wurde, zerstört werden. Daraus folgt, dass alle Formen der politischen Organisation der Arbeiterklasse verschwunden sind. Stattdessen stehen sich Gangs in einem obszönen Wettbewerb gegenüber, regelrechte Rackets, die in dem, was sie anbieten, miteinander rivalisieren, aber in ihrem Wesen identisch sind.

Die Existenz der Gangs ergibt sich also aus der Tendenz des Kapitals, seine Widersprüche zu absorbieren, aus seiner Bewegung der Negation und aus seiner Reproduktion in einer fiktiven Form. Das Kapital negiert die Grundprinzipien, auf denen es sich aufbaut, oder neigt dazu, sie zu leugnen, aber in Wirklichkeit lässt es sie in einer fiktiven Form wieder aufleben. Das Sein der Gang ist ein deutlicher Ausdruck dieser Dualität:

– Der Anführer, der befiehlt (und seiner Clique) = Karikatur des traditionellen Individuums.

– Die kollektive Form = Karikatur der auf gemeinsamen Interessen beruhenden Gemeinschaft.

Eine Wiederaufsaugung der Bewegung der Negation wird in der Gang stattfinden, die die Verwirklichung der Erscheinung ist. Die Gang erfüllt auch eine andere Forderung des Kapitals: Sie ersetzt alle natürlichen oder menschlichen Voraussetzungen durch vom Kapital bestimmte Voraussetzungen.

In ihren Außenbeziehungen neigt die politische Gang dazu, die Existenz der Clique zu verschleiern, da sie verführen muss, um zu rekrutieren. Sie schmückt sich mit einem Schleier der Bescheidenheit, um ihre Macht zu vergrößern. Wenn sich die Clique an Außenstehende wendet (Zeitschriften, Zeitschriften und Flugblättern), meint sie, auf der Ebene der Masse sprechen zu müssen, um verstanden zu werden. Sie will sich daher mit Hilfe von unmittelbaren Daten als Vermittler etablieren. Da sie alle Menschen außerhalb (A.d.Ü., der Gang) für schwachsinnig hält, fühlt sie sich verpflichtet, Banalitäten und Blödsinn zu veröffentlichen, um sie erfolgreich zu verführen. Am Ende verführt sie sich selbst durch ihren eigenen Schwachsinn und wird so vom umgebenden Milieu aufgesogen. Aber eine andere Gang wird ihren Platz einnehmen, und ihr erstes theoretisches Wimmern wird darin bestehen, jede Missetat und jeden Fehler denen zuzuschreiben, die ihr vorausgegangen sind, und auf diese Weise nach einer neuen Sprache zu suchen, um wieder mit der großen Praxis der Verführung zu beginnen; um verführen zu können, muss sie anders als die anderen erscheinen.

Einmal in der Gang (oder irgendeiner Art von Unternehmen) ist das Individuum durch alle psychologischen Abhängigkeiten der kapitalistischen Gesellschaft an sie gebunden. Zeigt er irgendwelche Fähigkeiten, werden diese sofort ausgebeutet, ohne dass das Individuum eine Chance gehabt hätte, die von ihm akzeptierte „Theorie“ zu meistern. Im Gegenzug erhält er eine Position in der Clique, er wird zu einem Anführerchen5 ernannt. Wenn er seine Fähigkeiten nicht unter Beweis stellt, findet trotzdem ein Austausch statt: zwischen seiner Aufnahme in die Gang und seiner Pflicht, deren Position zu verbreiten. Selbst in den Gruppen, die sich den sozialen Gegebenheiten entziehen wollen, setzt sich der Bandenmechanismus aufgrund des unterschiedlichen theoretischen Entwicklungsstandes der Mitglieder der Gruppierung durch. Die Unfähigkeit, sich theoretischen Fragen eigenständig zu stellen, führt dazu, dass sich das Individuum hinter die Autorität eines anderen Mitglieds, das objektiv zum Anführer wird, oder hinter die Gruppeneinheit, die zur Gang wird, zurückzieht. In seinen Beziehungen zu Personen außerhalb der Gruppe nutzt das Individuum seine Zugehörigkeit, um andere auszuschließen und sich von ihnen abzugrenzen, und sei es nur, um sich – in letzter Konsequenz – vor der Feststellung seiner eigenen theoretischen Schwächen zu schützen. Dazugehören, um auszugrenzen, das ist die innere Dynamik der Gang, die auf einem – zugegebenen oder nicht zugegebenen – Gegensatz zwischen dem Äußeren und dem Inneren beruht. Selbst eine informelle Gruppe verkommt zu einem politischen Racket, dem klassischen Fall, dass die Theorie zur Ideologie wird.

Der Wunsch, einer Gang anzugehören, entspringt dem Wunsch, mit einer Gruppe identifiziert zu werden, die ein gewisses Prestige verkörpert, theoretisches Prestige für Intellektuelle und organisatorisches Prestige für sogenannte Praktiker. Auch die kommerzielle Logik fließt in die „theoretische“ Bildung ein. Mit einer wachsenden Masse an ideologischem Warenkapital, das es zu verwerten gilt, wird es notwendig, eine tiefe Motivation zu schaffen, damit die Menschen Waren kaufen. Die beste Motivation dafür ist: mehr lernen, mehr lesen, um oben zu sein, um sich von der Masse abzuheben. Prestige und Ausgrenzung sind die Zeichen des Wettbewerbs in all seinen Formen; so auch bei diesen Gangs, die sich ihrer Originalität, ihres Prestiges rühmen müssen, um aufzufallen. So entstehen der Kult um die Organisation und die Verherrlichung der Eigenheiten der Gang. Von da an geht es nicht mehr um die Verteidigung einer „Theorie“, sondern um die Bewahrung der Kontinuität einer Organisation (vgl. Die PCI und ihre Vergötterung der italienischen Linken).6

Der häufigste Fall hingegen ist, dass der theoretische Aneignung dazu dient, Manöver durchzuführen: zum Beispiel, um den Zugang zur Position des Anführers zu rechtfertigen oder um die Liquidierung des aktuellen Anführers zu ermöglichen.

Die Opposition zwischen Innen und Außen und die Bandenstruktur entwickeln den Geist des Wettbewerbs auf ein Höchstmaß. Angesichts der unterschiedlichen theoretischen Kenntnisse der Mitglieder wird die Aneignung von Theorien faktisch zu einem Element der politischen natürlichen Auslese, einem Euphemismus für Arbeitsteilung. Im zweiten Fall wird über die bestehende Gesellschaft theoretisiert; im ersten, unter dem Vorwand sie zu negieren, wird eine ungezügelte Konkurrenz gefördert, die in einer Hierarchisierung endet, die noch extremer ist als in der Gesellschaft im Allgemeinen; zumal sich die Innen-Außen-Opposition intern in der Spaltung zwischen dem Zentrum der Gang und der Masse der Militanten reproduziert.

Die politische Gang erreicht ihre Vollkommenheit in den Gruppen, die vorgeben, die bestehenden Gesellschaftsformen (wie den Kult des Individuums, des Anführers und der Demokratie) ablösen zu wollen. In der Praxis bedeutet die Anonymität – einfach als Anti-Individualismus verstanden – die hemmungslose Ausbeutung der Bandenmitglieder zum Profit der Führungsclique, die aus allem, was die Gang produziert, Prestige gewinnt. Die Affirmation der organische Zentralismus wird zur Verallgemeinerung der Heuchelei, denn die Gemeinheiten, die man in den Gruppen findet, die den demokratischen Zentralismus für sich beanspruchen, findet trotzdem statt, auch wenn man leugnet, dass sie stattfindet.

Was die scheinbare Einheit im Schoß der Gang aufrechterhält, ist die Erpressung mit Ausschluss. In der Tat, diejenigen, die sich nicht an die Normen halten, werden mit Verleumdungen ausgeschlossen; das Ergebnis ist dasselbe wenn sie es sind die rausgehen. Auf der anderen Seite, wirkt dies als psychologische Erpressung für diejenigen, die bleiben. Derselbe Prozess tritt in den verschiedenen Arten von Gangs auf unterschiedliche Weise auf.

In den Gangs für Geschäfte, der modernen Form des Unternehmens, wird das Individuum einfach entlassen und findet sich auf der Straße wieder.

In der straffälligenGangs (die die Wiedereingliederung der Revolte in die Gesellschaft in ihrer unmittelbaren Form, der Kriminalität, zum Ausdruck bringen, da das isolierte Individuum in die Gang eintritt, weil es nicht stark genug ist und ihm der Schutz fehlt) wird der Einzelne verprügelt oder getötet.

In der politischen Gang wird der Einzelne mit Verleumdungen ausgeschlossen, die nichts anderes als die Sublimierung des Meuchelmords sind. Die Verleumdung rechtfertigt seinen Ausschluss oder dient dazu, ihn zu zwingen, „aus freien Stücken“ auszutreten.

Es ist klar, dass die oben genannten Nuancen in der Realität in der einen oder anderen Art von Gang vorkommen können. So wie es Morde im Zusammenhang mit Geschäften gibt, so gibt es auch Abrechnungen, die zu Mord führen.

Daher ist der Kapitalismus also der Triumph der Organisation, und die Form, die sie annimmt, ist die Gang: dies ist der Triumph des Faschismus. In den Vereinigten Staaten ist das Racket auf allen Ebenen der Gesellschaft zu finden; in der UdSSR ist es dasselbe. Die Theorie des hierarchischen bürokratischen Kapitalismus ist im formalen Sinne eine Absurdität, da die Gang ein informeller Organismus ist.

Es existiert eine Alternative auf der theoretischen Ebene, die Verherrlichung der Disziplin, die Forderung nach der Reinheit des Militanten (vgl. die Gruppe „Rivoluzione comunista“, die 1964 mit der KPI in der Frage der Schaffung einer echten Elite von Militanten brach, die nichts anderes tun würde, als die Positionen des „Ultrabolschewismus“ wiederzubeleben, den Lukács als Alternative zur opportunistischen Massenpartei sah, zu der die KP Deutschlands innerhalb von zwei Jahren geworden war (vgl. „Methodisches zur Organisationsfrage“, in Geschichte und Klassenbewusstsein). Auch auf der Ebene des Sexuallebens ist die Alternative zur Auflösung der Sitten die Askese. Allerdings bewegt sich eine solche Alternative im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft. Sie ist nicht mit dem Wesen der Klasse und damit mit ihrer Zukunft verbunden. Da eine solche Vision von der Realität abstrahiert, entsteht zudem eine Kluft zwischen Theorie und Praxis.

All dies ist Ausdruck der zunehmenden Trennung des Individuums von der menschlichen Gemeinschaft, der Misere im Sinne von Marx. Die Bildung der Gang ist die Konstituierung einer illusorischen Gemeinschaft. Im Falle der deliktiven Bande ist sie das Ergebnis der Fixierung auf den Urinstinkt der Revolte in ihrer unmittelbaren Form. Die politische Gang hingegen will ihre illusorischen Gemeinschaft als Modell für die ganze Gesellschaft hochhalten. Dabei handelt es sich um utopisches Verhalten ohne jede reale Grundlage, denn die Utopisten bildeten Gemeinschaften – die alle mitsamt vom Kapital absorbiert wurden – von denen sie erwarteten, dass diese (A.d.Ü., die Gemeinschaften) die gesamte Menschheit einbeziehen würden und von dieser nachgeeifert werden würden. Daher ist dieser Satz aus der Eröffnungsrede der Ersten Internationale aktueller denn je: „Die Emanzipation der Arbeiter muss die Aufgabe der Arbeiter selbst sein.“

Entweder nimmt das Proletariat heute die kommunistische Gesellschaft vorweg und verwirklicht die Theorie, oder es bleibt, was die Gesellschaft bereits ist. Die Mai-Bewegung 1968 war der Beginn dieser Vorwegnahme: Daraus folgt, dass das Proletariat sich in keiner wie auch immer gearteten Organisation wiedererkennen kann, weil es bereits in anderen Formen unter ihnen leidet. Die Mai-Bewegung hat dies deutlich gezeigt.7

Da das Proletariat zerstört wurde, ist seine Seinsform in der unmittelbaren Wirklichkeit der Prozess des Kapitals selbst. Zu Marx‘ Zeiten bestand das Schicksal der Arbeiterparteien, die die Frucht der unmittelbaren Bewegung des Proletariats in der damaligen Gesellschaft waren, darin, sich in das Spiel der bourgeoisen parlamentarischen Regeln einzufügen. Heute, da die scheinbare Gemeinschaft, die sich im Himmel der Politik durch die Parlamente und ihre Parteien konstituiert, durch die Entwicklung des Kapitals aufgelöst wurde, sind die „Organisationen“, die behaupten, proletarisch zu sein, nicht mehr als bloße Gangs oder Cliquen, die dank der Vermittlung des Staates dieselbe Rolle spielen wie alle anderen Gruppen, die direkt im Dienst des Kapitals stehen. Es handelt sich um die Phase der Splittergruppen, in der diese Parteien und Gruppierungen im Gegensatz zu den Sekten zu Zeiten von Marx, die durch die Einheit der Arbeiterbewegung überwunden werden mussten, die Abwesenheit des Klassenkampfes zum Ausdruck bringen. Sie bestreiten die Überreste des Proletariats; sie theoretisieren die unmittelbare Realität des Proletariats und stellen sich gegen seine Bewegung. In diesem Sinne erfüllen sie die Forderungen der Eindämmung des Kapitals. Das Proletariat muss sie also nicht überwinden, wie im Falle der Sekten, sondern sie vernichten.

Die Kritik des Kapitals sollte daher eine Kritik des Rackets in all seinen Formen sein, des Kapitals als sozialer Organismus; das Kapital wird zum realen Leben des Individuums und seiner Seinsweise mit anderen (vgl. hierzu: Marcuse, Der eindimensionale Mensch und Galbraith, Der neue Industriestaat). Die Theorie, die das Racket kritisiert, kann ihn nicht reproduzieren. Also Ablehnung jeglichen Gruppenlebens (sonst Illusion der Gemeinschaft). Zu diesem Thema können wir die Kritik von Engels auf dem Kongress von Sonvillers wieder aufgreifen. Was er damals über die Internationale sagte, kann heutzutage an die Gruppe angewendet werden. Man kann es wie folgt zusammenfassen: Zu Marx‘ Zeiten konnte das Proletariat nicht so weit gehen, sich selbst zu negieren – in dem Sinne, dass es sich im Laufe der Revolution als die herrschende Klasse etablieren musste: 1848, 1871, 1917. Es gab eine endgültige Trennung zwischen der formalen Partei und der historischen Partei. Heute kann die Partei nur noch die historische Partei sein. Jede formelle Bewegung ist die Reproduktion dieser Gesellschaft, und das Proletariat steht im Wesentlichen außerhalb dieser Gesellschaft. Eine Gruppe kann auf keinen Fall vorgeben, die Gemeinschaft zu verwirklichen, ohne sich an die Stelle des Proletariats zu setzen, das allein dazu in der Lage ist. Daher die Einleitung einer Verzerrung, die theoretische Zweideutigkeit und praktische Heuchelei hervorruft.

Es reicht nicht aus, die Kritik des Kapitals zu entwickeln oder gar zu behaupten, dass es keine organisatorischen Zusammenhänge gibt; es ist notwendig, die Reproduktion der Gangstruktur zu vermeiden, da sie das spontane Produkt der Gesellschaft ist. Dies sollte die Grundlage der Kritik der italienischen Linken und unserer Existenzweise seit dem Zäsur mit der PCI sein.

Der Revolutionär darf sich nicht mit einer Gruppe identifizieren, sondern muss sich in einer Theorie wiedererkennen, die weder von einer Gruppe noch von einer Zeitschrift/Publikation abhängt, weil sie Ausdruck eines bestehenden Klassenkampfes ist. Das ist eigentlich der korrekte Begriff der Anonymität und nicht die Negation des Individuums (die die kapitalistische Gesellschaft selbst hervorbringt). Die Zustimmung ist also die zu einer Arbeit, die bereits im Gange ist und die weiterentwickelt werden muss. Aus diesem Grund sind theoretische Kenntnisse und der Wunsch nach theoretischer Entwicklung absolut notwendig, wenn sich das Professor-Schüler-Verhältnis – eine andere Form des Widerspruchs zwischen Geist und Materie, Anführer und Masse – nicht wiederholen und die Praxis der Gefolgschaft wiederbeleben soll. Außerdem muss sich der Wunsch nach theoretischer Entwicklung auf autonome und persönliche Weise verwirklichen und nicht durch eine Gruppe, die sich als eine Art Diaphragma zwischen dem Individuum und der Theorie aufstellt.

Es ist notwendig, auf Marx‘ Haltung nach 1851 gegenüber allen Gruppen zurückzukommen, um zu verstehen, wie der Bruch mit der Praxis der Gangs erfolgen muss::

– sich weigern, eine Gruppe, und sei es auch nur eine informelle, wiederzugründen (vgl. den Briefwechsel zwischen Marx und Engels, verschiedene Werke über die Revolution von 1848 und Pamphlete wie „Die großen Männer des Exils“, 1852).

– ein Netz von persönlichen Kontakten zu Personen unterhalten, die den höchsten Grad an theoretischem Wissen erreicht haben (oder dabei sind, dies zu tun): Antimitläufertum, Antipädagogik; die Partei in ihrem historischen Sinn ist keine Schule.8

Die Aktivität von Marx bestand immer darin, die wirkliche Bewegung, die zum Kommunismus führt, aufzuzeigen und die Errungenschaften des Proletariats in seinem Kampf gegen das Kapital zu verteidigen. Daher die Position von Marx im Jahr 1871, als er den „unmögliche Kommunismus“ in der Aktion der Pariser Kommune aufdeckte oder erklärte, dass die Erste Internationale weder das Kind einer Theorie noch einer Sekte war. Es ist notwendig, die gleiche Aktivität jetzt anzugehen. Diejenigen, die sich mit dem in dieser Publikation/Zeitschrift dargelegten Werk in Verbindung setzen wollen, um es weiterzuentwickeln und für eine detailliertere, präzisere und klarere Darstellung zu sorgen, sollten ihre Beziehungen in die Richtung lenken, die oben in der Diskussion des marxschen Werkes angegeben wurde. Wenn sie dies nicht tun, werden sie in die Praxis der Gang zurückfallen.

Daraus folgt, dass es auch notwendig ist, eine Kritik an der Konzeption des „Programms“ der italienischen kommunistischen Linken zu entwickeln. Dass dieser Begriff des „kommunistischen Programms“ nie ausreichend geklärt wurde, zeigt die Tatsache, dass an einem bestimmten Punkt die Martov-Lenin-Debatte im Herzen der Linken wieder aufflammte. Die Polemik war bereits das Ergebnis der Tatsache, dass die Marx’sche Konzeption der revolutionären Theorie zerstört worden war, und sie spiegelte eine vollständige Trennung zwischen den Konzepten von Theorie und Praxis wider. Für das Proletariat ist der Klassenkampf im Sinne von Marx gleichzeitig Produktion und Radikalisierung des Bewusstseins. Die Kritik des Kapitals ist Ausdruck eines Bewusstseins, das bereits durch den Klassenkampf hervorgebracht wurde und dessen Zukunft vorwegnimmt. Für Marx und Engels ist die proletarische Bewegung = Theorie = Kommunismus.

„Herr Heinzen bildet sich ein, der Kommunismus sei eine gewisse Doktrin, die von einem bestimmten theoretischen Prinzip als Kern ausgehe und daraus weitere Konsequenzen ziehe. Herr Heinzen irrt sich sehr. Der Kommunismus ist keine Doktrin, sondern eine Bewegung; er geht nicht von Prinzipien, sondern von Tatsachen aus. Die Kommunisten haben nicht diese oder jene hilosophie, sondern die ganze bisherige Geschichte und speziell ihre gegenwärtigen tatsächlichen Resultate in den zivilisierten Ländern zur Voraussetzung […] Der Kommunismus, soweit er theoretisch ist, ist der theoretische Ausdruck der Stellung des Proletariats in diesem Kampfe und die theoretische Zusammenfassung der Bedingungen der Befreiung des Proletariats.“ Die Kommunisten und Karl Heinzen, zweiter Artikel, MEW 4, S. 321 f.

Das Problem des Bewusstseins, das von außen kommt, gab es für Marx eigentlich nicht. Es gab keine Frage der Entwicklung von Militanten, des Aktivismus oder des Akademismus. Auch die Problematik der Selbsterziehung der Massen im Sinne der Rätekommunisten (falsche Jünger von R. Luxemburg und echte Jünger des pädagogischen Reformismus) stellte sich für Marx nicht. Rosas Luxemburgs Theorie der Klassenbewegung, die von Beginn des Kampfes an die Bedingungen für ihre Radikalisierung in sich selbst findet, kommt der Position von Marx am nächsten (vgl. ihre Position zur „Kreativität der Massen“, die zeigt, dass er das Proletariat über seine unmittelbare Existenz hinaus zu begreifen vermochte).

Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die bourgeoise Form der Wahrnehmung und Vorstellung der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu überwinden und, wie Marx es tat, Hegels Nachweis des vermittelnden Charakters jeder Form von Unmittelbarkeit wieder aufzugreifen. Denn es ist charakteristisch für das „wissenschaftliche“ Denken, die unmittelbare Tatsache als den eigentlichen Gegenstand der Erkenntnis zu akzeptieren, ohne die ihr zugrunde liegende Vermittlung wahrzunehmen und zu begreifen. Auf der Grundlage einer solchen Gnoseologie wird in der kapitalistischen Gesellschaft der gesellschaftliche Schein zur Wirklichkeit und umgekehrt. Das wirkliche Wesen des Proletariats wird verborgen und die Klasse wird in ihrer scheinbaren Lebensform wahrgenommen. Daraus ergibt sich das Problem des Bewusstseins, das von außen kommt, und die Tatsache, dass, wenn das Proletariat sein wahres Wesen offenbart (1905-1917), alle verblüfft und entgeistert sind.

Die italienische kommunistische Linke hat trotz ihrer besseren theoretischen Fähigkeiten im Bereich des Proletariats 1950 keine endgültige Zäsur mit ihrer Vergangenheit (1919-1926) vollzogen. Ihre Kritik am Trotzkismus, am Rätekommunismus usw. führte nicht zu einer vollständigen Wiederherstellung der Marx’schen Vorstellungen von der Partei und vom Proletariat. Aus diesem Grund schwankten ihre offizielle Position und ihr tatsächliches Wesen zwischen einer programmatischen Auffassung als „marxistische Schule“ und einem kleinlichen Aktivismus trotzkistischer Prägung. Dieser zweite Aspekt wurde nach 1960 dominant, da eine Clique von Gangstern, die der Theorie und dem Proletariat völlig fremd waren, die „Schule“ in Besitz nahm, vor allem dank ihrer anhaltenden Zweideutigkeit bei einigen lebenswichtigen Problemen: der Gewerkschafts- und Syndikatsfrage und dem Begriff der „Avantgarde des Proletariats“, der in den Akten und in der offiziellen Diskussion eigentlich abgelehnt wurde, aber im offiziellen Kanon der Partei fortbestand. Damals wurde die Martow-Lenin-Debatte über die Frage der Organisation wiederbelebt, was zeigte, dass diese Strömung definitiv tot war, und zu ihrem Begräbnis dritter Klasse im Mai ’68 führte.

Es sei darauf hingewiesen, dass wir seit unserem Austritt aus der PCI versucht haben, die diskutierte Zweideutigkeit zu beseitigen, indem wir unser Bestes taten, um die positiven Aspekte der Linken aufzuzeigen. Dies führte nur dazu, dass wir die Linke kultivierten und zu ihrem extremsten Ausdruck wurden (vgl. Die Artikel von Invariance). Und das führte dazu, dass wir in eine Gruppenpraxis zurückfielen. Obwohl wir unsere Gruppe als „informell“ betrachteten, brachte sie die unvermeidliche Tendenz mit sich, sich an die Stelle des Proletariats zu setzen. Es geht nicht mehr darum, über die Anpassung im Herzen der Linken zu streiten, sondern anzuerkennen, dass, wenn es eine Anpassung gegeben hat, dies darauf zurückzuführen ist, dass die Theorie nicht von Anfang an eine integrale Theorie des Proletariats war. Daher reicht es nicht mehr aus, zu sagen, dass die Gründung der Partei 1943 verfrüht war; man muss sagen, dass sie eine Absurdität war. Dementsprechend ist es notwendig, mit unserer Vergangenheit zu brechen und zu der Position von Marx zurückzukehren.

Dieser Brief wurde nicht so sehr als eine endgültige und erschöpfende Behandlung des besprochenen Themas verfasst; er ist als eine Zäsur mit der Vergangenheit der „ganzen“ Gruppe gedacht. Die folgenden Unterschriften sollen diesen Bruch unterstreichen und bedeuten nicht, dass wir unsere frühere Position zum Thema Anonymität aufgegeben haben.

Jacques Camatte – Gianni Collu


1Invariance ist eine Zeitschrift, die 1968 unter anderem auf Initiative von Jacques Camatte gegründet wurde, kurz nachdem dieser 1966 mit der Internationalen Kommunistischen Partei gebrochen hatte. Hier kann man auf Französisch bis 1980, die Zeitschrift gibt es noch, lesen.

2A.d.Ü., im Original groupuscule gemeint sind kleine, radikale Gruppen, und/oder Splittergruppen.

3A.d.Ü., aus dem Englischen racket, siehe Einleitung.

4„Fiktiv“ kommt im italienischen Original von finto, was nicht dem Begriff „fiktiv“ im Kapital entspricht, ihm aber nahe kommt (Anmerkung des Übersetzers der englischen Fassung).

5A.d.Ü., die Körpergröße spielt hier gar keine Rolle, es geht nur darum die Figur des Anführers lächerlich darzustellen, aus dem Französischen cheffaillon.

6A.d.Ü., hierbei handelt es sich um die Internationale Kommunistische Partei (bordigistisch) Partito Comunista Internazionalista.

Amadeo Bordiga und die ihm nahestehenden Theoretiker wurden als die italienische kommunistische Linke bezeichnet. Genauer gesagt, bezieht sich „die italienische Linke“ auf die italienische linkskommunistische Tradition: die linke Opposition in der Sozialistischen Partei Italiens (1910/12, 1921), die Leitung der Kommunistischen Partei Italiens (1921-24), die linke Opposition in der Kommunistischen Partei Italiens (1924-26), die linkskommunistische Fraktion in Belgien und Frankreich (Bilan und Prometeo: 1926-43), den Wiederaufbau des italienischen Linkskommunismus (Battaglia Comunista, Prometeo 1944-52) und die Internationale Kommunistische Partei (il programma comunista: 1952-70; Bordiga starb 1970). (Anm. d. Übersetzers der englischen Fassung)

7A.d.Ü., gemeint ist die aus dem Jahr 1968.

8Von der Wiederaufnahme einer Haltung zu sprechen, die Marx zu einem bestimmten Zeitpunkt seiner revolutionären Tätigkeit eingenommen hatte, entspringt dem tiefgreifenden Missverständnis, dass die Phase der formalen Herrschaft des Kapitals vollständig vorbei sei. Nun musste Marx nur noch in dieser Periode Stellung beziehen. Andererseits war sein theoretisches Verhalten in der Frage der Partei nicht so starr, wie der Brief vermuten lässt. Das inakzeptabelste an den obigen Aussagen ist jedoch, dass sie über den Umweg einer elitären Theorie der Entwicklung der revolutionären Bewegung den Weg für eine neue, von außen kommende Bewusstseinstheorie öffnen könnten.
Die Ablehnung jeglicher Organisation ist nicht einfach eine anti-organisatorische Position. Das Verbleiben in der Organisation wäre nur die Äußerung eines Verlangens nach Originalität, ein Versuch, sich von der Masse abzuheben und so eine gewisse Anzahl von Elementen anzuziehen… Von dort aus würde sich der Prozess der Racketisierung wieder entfalten.
Unsere Position zur Auflösung der Gruppen ergibt sich zum einen aus dem Studium der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise und zum anderen aus unserer Charakterisierung der Mai-Bewegung. Wir sind zutiefst davon überzeugt, dass das revolutionäre Phänomen im Gange ist und dass, wie immer – besonders in diesem Bereich – das Bewusstsein der Aktion folgt. Das bedeutet, dass die Revolutionäre in der großen Bewegung der Revolte gegen das Kapital ein bestimmtes Verhalten an den Tag legen werden – das nicht ein für alle Mal garantiert werden kann -, das mit dem entscheidenden und entschlossenen Kampf gegen das Kapital vereinbar ist.
Wir können den Inhalt einer solchen Organisation vorhersehen. Sie wird das Streben nach menschlicher Gemeinschaft mit der Bejahung des Individuums verbinden, was das charakteristische Merkmal der gegenwärtigen revolutionären Phase ist. Sie wird die Versöhnung des Menschen mit der Natur anstreben, denn die kommunistische Revolution ist auch ein Aufstand der letzteren gegen das Kapital; andererseits werden wir nur durch ein neues Verhältnis zur Natur überleben können und damit den zweiten Begriff der Alternative beschwören, vor der wir heute stehen: Kommunismus oder Vernichtung der menschlichen Gattung.
Um diese organisatorische Entwicklung besser zu verstehen, um das, was kommen wird, zu erleichtern und nicht zu behindern, ist es von nun an wichtig, alle alten Formen abzulehnen und ohne Vorurteile an der großen Bewegung unserer Befreiung teilzunehmen. Diese entwickelt sich auf globaler Ebene, und alles, was den revolutionären Wandel behindern könnte, muss beseitigt werden. Die revolutionäre Strömung wird sich unter den gegebenen Umständen und im Zuge konkreter Aktionen nicht nur passiv und spontan strukturieren, sondern die Anstrengung des Nachdenkens immer auf die Frage richten, wie das wahre Gemeinwesen und der soziale Mensch zu verwirklichen sind, was die Versöhnung des Menschen mit der Natur voraussetzt. (Anmerkung von 1972).

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Jacques Camatte – Gewalt und Zähmung (1980)

Zum Werdegang der Gattung Mensch vom unmittelbaren Gemeinwesen zum aufgetauchten kosmischen und im Kosmos integrierten Gemeinwesen

1 – Gewalt erscheint und tritt auf, sobald in einem Prozess ein Bruch eintritt. Sie ist das, was in einem physischen, kosmischen oder menschlichen Milieu den Bruch erlaubt. Ebenso wird, vor allem auf menschlicher Ebene, Gewalt ausgeübt, um die Integrität dieses bedrohten Prozesses zu verteidigen. Gewalt impliziert, dass mehr oder weniger gerichtete Energie in Bewegung versetzt versetzt wird, dass sich also Kräfte äußern.

2 – Die Gewalt hat also eine natürliche Realität, d.h. in der Natur sind Phänomene der Gewalt feststellbar. Sie hat jedoch gerade in den Gemeinschaften, in den menschlichen Gesellschaften eine bedeutsame Rolle inne, weil hier meistens ein eingestandenes oder nichteingestandenes Ziel verfolgt wird, und weil gewisse menschliche Gruppen die Gewalt zu beherrschen und sie zu ihren Gunsten wirken zu lassen versuchen.

3 – Es könnte scheinen, dass, sobald Gewalt auftritt, wichtige Kräfte im Spiel sein müssten. Doch ist das nicht allgemein der Fall. Es kann Gewalt geben, ohne dass Kräfte entfaltet würden. So wirkte die Gewaltlosigkeit Gandhis, die keine direkte Aktion auf den politisch-ökonomischen Apparat der Britischen Herrschaft über Indien darstellte, trotzdem wie eine Gewalt, weil sie den Gesamtproduktionsprozess hinderte. Die gesetzliche Gewalt, die sich durch kodifizierte Gesetze ausdrückt, ist ein anderes Beispiel: die Gesetze implizieren die latente und potentielle Gewalt, die sich äußern kann, wenn die Individuen sie verweigern, und andrerseits setzen sie Gewalt zu ihrer Aufstellung voraus.

Umgekehrt wird jedes Phänomen als gewaltsam bezeichnet, das zu seiner Äußerung gewichtige Kräfte einsetzt und eine große Quantität Energie entfaltet. Doch muss es nicht zwangsläufig an tatsächlicher Gewalt teilhaben. Nur zu leicht tritt hier eine Sinnverschiebung ein, die für das Verständnis der menschlichen Beziehungen sehr nachteilig ist.

4 – Gewalt erscheint im menschlichen Werden wie eine unveränderliche Bestimmung, selbst wenn sie sich nicht immer auf dieselbe Weise ausgedrückt hat.

Gewalt kam erstmals anlässlich der Trennung und Loslösung der Menschen von der ursprünglichen Gemeinschaft zur Wirkung und ermöglichte damit den Beginn des Individualisierungsprozesses, der, als potentielle Negation der Gemeinschaft, eine Gewalt schuf, auf die diejenige der Gemeinschaft antwortete, um den Prozess zu hemmen und zu verhindern.

Im Übrigen hat diese Trennung ein Ungleichgewicht hervorgerufen, und die Gesellschaft ist nicht mehr im Stande, sich selbst zu regulieren:

Es entsteht die Tendenz zum Bevölkerungswachstum, was die gemeinschaftlichen Strukturen seinerseits auch wieder in Frage stellt; daher das Auftauchen der Politik und dessen, was der Staat werden wird. Die Gemeinschaften reagieren darauf mit Gewalt und versuchen zu vernichten und an der Verselbständigung zu hindern, was da auftaucht. Wenn die Gewalt nicht immer bis zum Kriege geht, (der von Clastres analysierte Fall), so nimmt sie verschiedene Wege, insbesondere denjenigen des Tabus, um einen Prozess zu hemmen, der denjenigen des vorausgehenden Lebens negiert.

5 – Die verschiedenen Brüche des Gleichgewichts im umgebenden Milieu, seien sie durch geologische Phänomene (Vergletscherungen, Veränderungen der Höhe des Meeresspiegels, Veränderungen von Flussläufen, Erdbeben und Vulkanausbrüche) oder durch menschliche Handlungen verursacht, zwangen die menschlichen Wesen, sich und die Umgebung anzupassen. Die Männer wurden Jäger und die Frauen erfanden darauf die Landwirtschaft. Später übt die Gattung ihre Gewalt durch die Zähmung der Tiere und Pflanzen anders aus.

6 – Ein Moment voller äußerster Gewalt war derjenige der Unterwerfung der Frau unter den Mann. Darauf verselbständigen sich die Macht und die Politik und entsteht mit dem Anwachsen der Bevölkerung und der größeren Arbeitsteilung etc.. der Staat, der sich an die Stelle der ursprünglichen Gemeinschaft stellt und sie vorstellt. Der Staat ist die konzentrierte Gewalt; er ist ihr allgemeines Äquivalent. Nur im Westen individualisieren sich die Klassen und lassen den Staat entstehen.

7 – Von diesem Zeitpunkt an beobachtet man drei Arten, wie die menschliche Gattung die Gewalt verwaltet hat, die nicht mehr gebremst und abgeschafft werden konnte.

1. Die mehr oder weniger archaische Art der Verwaltung bei nicht-verfallenen Gemeinschaften, wo die Politik und a fortiori der Staat sich nicht verselbständigen können. Gewalt, sofern sie in kinetischer Form auftritt, ist Angelegenheit der ganzen Gemeinschaft.
2. Der Staat verwaltet die Gewalt, verselbständigt sich hingegen nicht von der Gemeinschaft, die despotisch ist.
3.Der Staat verwaltet die Gewalt und gibt den Individuen, die sich verselbständigt haben und ihm Gewalt, Macht etc. … über, auf Grund der Klassen, sehr komplexe Mechanismen delegiert haben, mehr oder weniger wichtige Garantien. Gerade die Existenz von Klassen bringt vehement die Gewalt ins Spiel, weshalb auch, damit eine Koexistenz möglich ist, ein Versöhnungsmechanismus notwendig ist, der nicht nur den Staat betrifft, sondern die Gesamtheit der Männer und Frauen: die Demokratie. Man könnte sie, auf dieser Ebene, als Prozess der Verinnerlichung der Gewalt und deshalb als wesentlichen Motor der Zähmung bezeichnen.

8 – Die Zähmung ist ein Prozess, durch den die Gattung, die ihn erleidet, aus ihrem natürlichen Lebensprozess gerissen und unter die Abhängigkeit eines Lebensprozesses einer andern Gattung gestellt wird. Im Falle der Tiere und Pflanzen wird man von ihrer Ausbeutung, im Falle der menschlichen Wesen von ihrer Zähmung sprechen. Sie ist – als Verlängerung dessen, was Menschen den Tieren auferlegen – gleichbedeutend mit dem Hinnehmen der etablierten Ordnung in der (zumindest in der Endphase des Prozesses) Zwang besteht; Zähmung ist die Beseitigung aller Instinkte und Triebe.

Also ein Prozess der Verstümmelung. Die Menschen konnten also die durch ihr Werden selbst entfesselte Gewalt nur noch im Keime ersticken (der Moment der Loslösung von der alten Gemeinschaft und der Entfesselung der Gewalt ist vielleicht die Grundlage dessen, was in der religiösen Vorstellung der Sündenfall, die Urkatastrophe etc. … ist), indem sie sich zähmten. (Zivilisation und Höflichkeit sind Euphemismen dafür.)

9 – Man kann also nicht die Gewalt an sich beurteilen, ohne sich auf das andere Phänomen zu beziehen, das nun schon seit Jahrtausenden existiert und die Tendenz hat, die Gattung in den äußersten Verfall zu führen: die Zähmung. „Wenn man die verschiedenen Gesellschaften allein unter dem Gesichtspunkt der Gewalt analysiert, könnte man diejenigen des Westens, wo die Demokratie den Sieg davongetragen hat, als menschlicher betrachten als die – im geläufigen Sinne des Wortes – barbarischen des Ostens, wo lange zeit die Asiatische Produktionsweise (APW) herrschte. Darum konnte ich in „Marx und das Gemeinwesen“ schreiben: „Was die politische Demokratie betrifft, ist es wahr, dass sie den Verdienst hat, die Auswüchse der Gewalt einzuschränken.“ Es ist hier unbedingt beizufügen, dass das nur insofern der Fall war, als sie enorme Gewalt auf das Proletariat und die farbigen Völker ausübte. Man muss sich darüber Rechenschaft ablegen, was das grundsätzliche Resultat der Demokratie war: die Zähmung. Die Demokratie ist nur wahrhaft wirksam, wenn diese daran ist, verwirklicht zu werden oder schon verwirklicht ist und die Menschen zu neutralen Partikeln werden. Man kann sich also fragen, ob die Demokratie wirklich einen Vorteil für die Gattung darstellt.

10 – Ebenso muss für eine Beurteilung der Gewalt der Umwandlungsprozess ins Auge gefasst werden, den sie bewirkt. Das Anders-Werden, das sie impliziert, bringt sie zum Entfremdungsprozess in Beziehung; dieser kann jedoch nicht immer negativ sein: Enteignung, Verfremdung; denn er kann auch gleichsam ein Fortschreiten sein. Ebenso lässt sich sagen, dass die Gewalt positiv ist, wenn sie ein Fortschreiten zu einem Stadium eines weiter entfalteten Lebens gestattet, dass sie hingegen negativ ist, wenn sie uns zwingt, unter Herrschaft, Ausbeutung, etc. … zu leben. Auf individueller Ebene könnte man beifügen: Gewalt ist negativ, wenn sie aus uns, aus unserm Lebensprozess, hervorbricht, ohne dass sie uns erlaubte, uns bei uns selbst wiederzufinden.

Da nun aber die positive Möglichkeit gegeben ist, ist es klar, dass der Gebrauch der Gewalt gefordert werden konnte, und daher die Schwierigkeit die war, sie unter Kontrolle zu halten.

11 – Im Weltmaßstab ist heute eine Konvergenz im Gange zwischen der Kapitalgemeinschaft, deren Errichtung im Westen erst von dem Augenblick an möglich ist, wo der Demokratisierungs- und Homogenisierungsprozess und der Ausgleich der Unterschiede zu Ende gebracht worden sind, und der APW, wobei das Kapital die APW erst ausstechen kann, wenn es sich als Gemeinwesen konstituiert hat. Seine Herrschaft erlaubt ihm, die demokratische Phase zum Verschwinden zu bringen und die Zähmung zu vollenden.

In all diesen Fällen existiert die Gewalt überall. Sie ist nur in den Institutionen resorbiert, oder durch die demokratische Mystifizierung kaschiert. Es wird indessen in der gegenwärtigen Epoche immer schwieriger, nicht nur die aktuelle Gewalt, sondern auch die im Verlauf der Jahrhunderte angehäufte, einzudämmen. Die einzige Lösung im Rahmen der Kapitalgemeinschaft ist die Zähmung, die in der Tat nichts anderes als gelierte Gewalt ist, da sie, noch vor der Zerstörung, die absolute Hemmung ist.

12 – Die Stellungsnahme in Bezug auf die Gewalt ist abhängig von der Wahrnehmung und Haltung gegenüber dem Prozess, dem Bruch und dem Phänomen, das die Gewalt verursacht. Insbesondere stellt sich die Frage: ist der Bruch notwendig? Eine Stellungsnahme hängt davon ab, ob man die Zähmung annimmt oder nicht.

Gewisse Verhaltensforscher, wie Konrad Lorenz, nehmen an, dass Der Mensch eine Gattung ist, die sich selbst zähmt und betrachten den Zähmungsprozess, der ein Sozialisierungsprozess ist – der Enteignung der Individuen –, als positiv, da er die Gewalt durch Hemmung der Aggressivität, die eine Konstitutive unserer Gattung darstelle, zu beseitigen vermöge. Sie neigen deshalb zur besonderen Betonung der Riten und Rollen, die den gesellschaftlichen Menschen bilden und das menschliche Wesen hindern.

13 – Der Prozess der Trennung von den unmittelbaren Lebensbedingungen wurde mehrere Male gebremst und die Menschen bildeten mehr oder weniger beständige Gemeinschaften. Mit dem Kapital wird der Trennungsprozess in einem größeren Maßstab, sowohl in Bezug auf die Weite wie auch die Tiefe, wiederaufgenommen.

Das hat Marx analysiert und sagt, dass die Trennung der erste Begriff des Kapitals ist, und zeigt, bis zu welchem Punkte die Gewalt Grundlage des Aufschwungs des Kapitals ist. Dieser Trennungsprozess, der sich auf alle Aspekte des menschlichen Lebens auswirkt, lässt sich durch den ganzen Entstehungsprozess des Kapitals verfolgen, wenn er auch, das ist ebenfalls wahr, durch einen Vereinigungsprozess aufgewogen wird, in dem die Menschen durch seine Vermittlungen wiederzusammengesetzt werden.

Gewalt geschieht als Entäußerung; was aus den Männern und Frauen herausgepresst worden ist, wird in den Lebensprozess des Kapitals einverleibt. Im übrigen entstehen die die Einheit wiederherstellenden Vermittlungen aus den Elementen, die einstmals unveräußerlichen Bestandteil der menschlichen Wesen bildeten.

14 – Die Menschen haben gegen diese Unterdrückung-Enteignung gekämpft, meistens jedoch ohne im Stande zu sein, deren wahre Realität zu erkennen; deshalb kamen denn auch die Revolutionen, die im 16. Jh. einsetzten – Gewaltakte par excellence, da sie einen Prozess gesellschaftlichen Lebens zerschlagen sollten, um den Beginn eines andern zu ermöglichen – der Dynamik des Kapitals zugute, denn diese Revolutionen erlaubten die Beseitigung einer Reihe Hindernisse zu seiner freien Entwicklung.

Die Befreiung ist ebenfalls Gewalt, denn auch sie besteht aus der Zerstörung der Fesseln, die einen Lebenswillen hemmen. Dieser Prozess führte zur Verarmung, denn die Männer und Frauen befreiten sich, indem sie sich verschiedener Bestimmungen enteigneten und entäußerten, was später ihre Zähmung erleichterte.

Bruch eines Prozesses, Trennung, Revolution und Emanzipation implizieren alle die Gewalt. Im Falle der Revolution, verstanden als Rückkehr zu einer früheren Lebensform, stellt sich die Gewalt als das Phänomen dar, was abschaffen soll, was eine Gewalt hervorgebracht hat.

Gerade in Bezug auf die Revolutionen hat man den Gebrauch der Gewalt gerechtfertigt, ja geradezu gefordert. Und das war sicher, unmittelbar gesehen, richtig. Die geschichtlichen Gegebenheiten haben indessen bewiesen, dass die Gewalt immer aus den Händen entglitten ist und dass es schwierig ist, sie zu kontrollieren, weil sie in Tiefen verwurzelt ist, wo man nicht hingelangen konnte und wäre es nur, weil man ihre Existenz nicht geahnt hatte.

Abgesehen davon, dass die Folge der Revolutionen abgeschlossen ist, verwerfen wir den Prozess ‚Revolution‘ und die Exaltation der Dynamik der Befreiung, weil das endgültig Weisen und Momente des Zugangs des Kapitals zu seiner vollständigen Herrschaft sind. Es muss ein anderer Weg zur Beseitigung der Gewalt und der Zähmung gefunden werden.

15 – In gleicher Weise wird die Gewalt als Mittel beansprucht, das den Aufbau der neuen Gesellschaft beschleunigen soll, indem drakonisch alle Hindernisse für ihre Entwicklung beiseite geschafft werden sollen. Die verschiedenen Revolutionen haben jedoch gezeigt, dass es unmöglich war, Gewalt zu leiten, und dass sie nur durch eine äußerst straffe, grausame Diktatur hatte unter Kontrolle gehalten werden können, was gegen das revolutionäre Projekt ist (obwohl das versucht worden ist). Außerdem ist in der gegenwärtigen Kapitalgemeinschaft, die von Gewalt, versteckter, offener oder potentieller, übersättigt ist, jeder Versuch, Gewalt in eine bestimmte Richtung zu führen, auf Grund der extremen Zerstückelung der Menschheit zum Scheitern verurteilt.

Das ist in keiner Weise eine Verurteilung des Projekts der Revolutionäre des vergangenen Jahrhunderts, insbesondere desjenigen von Marx und Engels. Sie dachten an eine Gesellschaft, die weniger entwickelt war in Bezug auf die Gewalt als die heutige.

Es ist zu betonen, dass sie die Anleihe eines bestimmten Mittels forderten; unter der Bedingung des Eintritts des Kapitals in die Kapitalgemeinschaft jedoch ist dieser Weg nicht mehr benutzbar und unverträglich mit unserer Sehnsucht nach einem menschlichen Gemeinwesen.

Letztlich ist es nicht gesagt, dass wir jede Gewalt werden vermeiden können, doch können wir wenigstens vermeiden, dieselbe Art von Gewalt zu gebrauchen wie das Kapital.

16 – Im Laufe der Geschichte kann zwei Formen bemerken, wie sich Gewalt äußert: diejenige der Unterdrückten und Ausgebeuteten, die ein menschliches Gemeinwesen wiederzubilden trachten und diejenige der Herrschenden und Herren, die immer wieder die Loslösung von der ursprünglichen Gemeinschaft aktualisieren wollen, die als Austritt des Menschen aus dem Tierreich dargestellt wird. Sie bekräftigen als Herrschafts- und Machtprinzip, dass der Mensch kein Tier ist und man die Männer und Frauen organisieren muss, dass sie nicht mehr ins Tierische oder das Chaos fallen. So äußert sich Gewalt im schon seit langer Zeit behaupteten Willen, organisieren und dem Chaos Form geben zu wollen. Das drückt sich in den verschiedenen menschlichen Verhalten aus, insbesondere in der Kunst.

Da nun aber das Prinzip des Fortschritts – der Austritt aus dem Tierreich – von allen verinnerlicht worden ist, Herren und Knechten, Ausbeutern und Ausgebeuteten, versteht man, dass die Herrschaft über die menschlichen Wesen von beiden gesellschaftlichen Polen, von allen Klassen ausgegangen ist.

17 – Die verschiedenen gegenwärtigen Äußerungen der Gewalt entstehen auf der Grundlage der aktuellen Gemeinschaft des Kapitals, sie haben jedoch gleichzeitig eine historische Dimension, die ihre Intensität verstärkt. Ursache davon ist die Tatsache, dass die Widersprüche im Laufe der Zeit einverleibt, nicht aber gelöst worden sind. Sie erzeugen ebenfalls immense potentielle Gewalt.

18 – Die Trennung von der ursprünglichen unmittelbaren Gemeinschaft rief eine immense Störung hervor, ein Gefühl der Unsicherheit (Problem der Gewissheit, zu existieren, der Gegenwart in der Welt). Männer und Frauen suchten einen Rahmen, eine versichernde Welt. Diese Suche veranlasste sie, jede Äußerung zu hemmen oder zunichte zu machen, die den mehr oder weniger beständigen Rahmen in Frage stellen konnte, den sie sich geschaffen hatten.

Gewalt kann ganz einfach aus dem Wegfallen der Schranken und Grenzen entstehen, die das raum-zeitliche und repräsentative Gebiet umgeben, in dem die menschlichen Wesen Wohnung bezogen haben. Es tritt dann Panik auf, und die Energie, die vorher kanalisiert war, wird abrupt frei und will in einem zerstörerisch-schöpferischen Effekt, wie durch Magie, einen neuen versichernden Rahmen stiften. Dabei entwickeln sich beschwörerische Praktiken.

Diese Erscheinung tritt in unsern Tagen bei allen menschlichen Gruppen auf, die durch die allzu brüske Einführung des Kapitals über den Haufen geworfen werden.

Es gibt ein Phänomen des Entkommens, das man einzig in dem Masse auf die Gewalt zurückführen kann, wie es zur Zerstörung eines gewissen Lebensprozesses beiträgt.

Es ist die eine Art Wahnsinn (der Wahnsinn resultiert aus einer Gewalt über ein menschliches Wesen und kann seinerseits Gewalt sein, die einen gewissen Lebensprozess einrichten oder wiedereinrichten will), der von demjenigen zu unterscheiden ist, der sich auf Grund der vollständigen Enteignung des Menschen durch das Kapital einstellt. Die vollständig ihres Eigenen beraubten, unnütz gewordenen Menschen können – infolge der Entwicklung der Technik – nicht mehr eine harmonische Verbindung der Tätigkeit der Hand und der Tätigkeit des Hirns herstellen und haben eine Quantität Energie, die sie nicht mehr entfalten können, weshalb sie sie in „blinder Gewalt“ loslassen, wie das schon beschrieben worden ist und z.B. darin bestand, dass die Jungen sich daran machten, alles zu zerstören, ohne eine Forderung verlauten zu lassen.

Die in ihrem Lebensprozess blockierten und gehemmten Wesen können bis zur Selbstzerstörung gehen; damit trifft die Gewalt das Subjekt selbst, das sie entfaltet.

19 – Die menschlichen Wesen haben verschiedene Wege geschaffen, um die verlorene Sicherheit wiederzufinden. Wenn die Religion noch eine solch durchschlagende Kraft hat (siehe den Islam), verdankt sie das nicht nur dem Umstand, dass sie eine Gemeinschaft ist, sondern auch der Tatsache, dass sie versichert, indem sie die Menschen definiert und ihnen ihr Lebensgebiet weist. Daher stammt denn auch der religiöse Fanatismus, den die Angst, die Sicherheit zu verlieren, erzeugt. Das Gebiet ihrer Gewissheit soll nicht hinterfragt werden, ansonsten Zweifel die Nutzlosigkeit ihrer Anwesenheit auf der Welt bedeuten könnten.

Die Religion stellt den Menschen, vor allem im Westen, in einen Lebensprozess, der von Entsagung beherrscht wird: ein Lebensprozess, der nicht pflanzlich, tierisch, menschlich sein darf. Es ist das eine Neubildung der Gemeinschaft auf einer Basis, die vollständig entfremdet ist.

Verständlicherweise gab es dagegen mehrere Versuche, Naturreligionen zu begründen.

Die Macht des Staate stammt aus denselben Elementen.

Dieser Wunsch nach Ordnung und Sicherheit findet sich gleichermaßen in der Wissenschaft, deren Macht sich aus der Tatsache ableitet, dass sie a priori ihr Gültigkeitsgebiet, die Schranken, innerhalb derer sie wirken will, bestimmt. Auch die Wissenschaft ist nicht vor dem Fanatismus geschützt.

Außerdem gründet die experimentelle Wissenschaft direkt auf der Gewalt, denn es ist ihr Vorgehen, die verschiedenen physikalischen und biologischen Prozesse zu zerbrechen, um sie zu verstehen. Wenn die Religion in der Gewalt über die Menschen endet, beginnt die Wissenschaft als Gewalt über die Lebewesen und gelangt heute mit der Soziologie und Psychologie dazu, Gewalt auf die Menschenwesen auszuüben. Gewalt ist hier durch das Prinzip der Überlegenheit des Menschen über das Tier und durch das Prinzip der Ordnung gerechtfertigt.

Schließlich suchten sich die Menschenwesen mit der Kunst ein Universum zu schaffen, wo sie das Maß aller Dinge wären.

20 – Mit der Loslösung von der ursprünglichen Gemeinschaft taucht die Dichotomie außen – innen und vor allem diejenige zwischen sich und dem Andern auf, die hinsichtlich zweier Gesichtspunkte das Problem der Identität begründet:

1. Das Problem der Identität hinsichtlich des Subjekts, des Selbst. In diesem Falle ist die Identität synonym mit Eigentlichkeit und Gesamtheit der Merkmale, die das Subjekt in seiner Individualität bestimmen.

2. Der Gesichtspunkt des Andern; hier geht es darum, zu wissen, welches seine Beziehung zum Selbst ist, welches sein mehr oder weniger grosser Unterschied ist und ob dieser vereinbar ist, etc. … Es ist sicher, dass die Frage der Identität vollständig mit derjenigen der Sicherheit verbunden ist, weil das Auftauchen des Andern in seiner Verschiedenheit die Identität des Selbst, des Subjekts in Frage stellen kann, was gleichzeitig beweist, dass dieses mit dem Individualisierungsprozess in Verbindung steht.

Die Behauptung einer Verschiedenheit ist immer als eine Aggression und Bedrohung für die Identität im Sinne 1. empfunden worden. (Siehe den Fall der jüdischen Gemeinschaft.)

Möglicherweise entsteht der Wahnsinn mit der Zerschlagung der Gemeinschaft, denn das Andere ist ein Verschiedenes, das das Selbst in Frage stellt und der Wahnsinnige ist derjenige, der die Gemeinschaft bedroht. Das sich individualisierende Wesen, das aus seiner Gemeinschaft auftaucht, gelangt schwerlich dazu, sich bei sich wiederzufinden, nachdem es diesen Streifzug außerhalb der Gemeinschaft gemacht hat, die von nun an die Tendenz hat, es zu verstoßen.

Die Gewalt äußert sich ebenso im Identifizierungsprozess, in dem das Individuum dank einer Handlung, die ihm erlaubt, sich von seiner ursprünglichen Umgebung zu lösen, in eine gegebene Gemeinschaft eintritt. Von jetzt an hat es das Recht, sich mit ihr zu identifizieren; das Individuum hat sich eine Identität erworben.

Dieses Phänomen spielt teilweise bei der Initiation mit: Bruch mit dem alten Lebensabschnitt im Fall der primitiven Initiation; Bruch mit der alten Lebensweise im Falle der Mystiker (siehe den ausserordentlichen Fall von Milarepa). Die Abwesenheit der Initiation in der heutigen Welt bewirkt, dass ein gewisses Quantum Energie da ist, das sich auf beliebige Weise freisetzen kann.

Heute ist jeder Lebensprozess gestört, zerhackt und deformiert; all die Versagen resultieren daraus, weil die Menschen nichts Wirkliches mehr finden können, wo sie sich entfalten könnten, und nur noch zu existieren vermögen, indem sie (sich) zerstören; denn zerstören ist ein Versuch zu schaffen und zu beschwören.

Das ist innerhalb der verschiedenen Rackets im Gange, die sich in der Kapitalgemeinschaft vervielfachen (Bildung z.B. von Mikrogemeinschaften auf Grund einer gegebenen Handlungsweise, die verschiedene Möglichkeiten realisiert, die sich gegenseitig ausschließen, woraus die Gewalt entstammt. Das Kapital triumphiert somit als Kombinatorium). Auch die Gewalt zwischen Männern und Frauen ist ein Resultat der Infragestellung der Rollen, die ihre Identität begründeten.

21 – Die Entwicklung der Kapitalgemeinschaft sichert dem Individuum Identität und Sicherheit zu, d.h. sie gesteht ihm ein gewisses Sein zu, das man entweder als gesellschaftlich, um seinen Ursprung anzugeben, oder als gemeinschaftlich bezeichnen kann, um besser hervorzuheben, in welchem Stadium wir uns heute befinden. Die Menschen fühlen immer mehr, dass sie in einer Abstraktion leben (die Entwicklung des Kapitals wird von einem immensen Abstraktionsprozess begleitet und setzt ihn voraus; auch er deutet auf den Trennungsprozess hin und verwirklicht ihn) und dass sie nur durch Vermittlungen zur Wirklichkeit gelangen. Daraus erwächst eine offensichtlich unerklärliche, irrationale Gewalt, die das einengende gesellschaftliche Wesen (und seine andern Seinsweisen: „Person“ = Maske und „Rolle“) zerschlagen möchte, um eine oft schwierig definierbare Unmittelbarkeit wiederzufinden.

Solcherart ist der Ausdruck einer – im allgemeinen verurteilten – Gewalt gegen eine kristallisierte Gewalt, die strukturiert ist, als sei sie und gehe sie von selbst. Denn die Rationalität einer Welt entgeht uns, die eine Wahrnehmung zur Folge hat, die recht gut durch den Gedanken illustriert wird vom Sein, das wie durch eine Fatalität in die Welt geworfen ist, der man sich zu beugen hat: dass also alles schon von Anfang an gespielt ist.

Die Reduktion des Lebens auf eine absurde Routine (und das Absurde enthält die direkte, auf uns abstellende, und die indirekte Gewalt: ihre Umwendung-Entwendung) drückt sich hinsichtlich des Erwachsenen gut im „metro, boulot, dodo“ (zur Arbeit fahren, arbeiten und Schlafen) aus, während das Kind in der Schule darauf vorbereitet wird. Gerade heute erfährt in Folge der immer mächtiger werdenden Abstraktionsbewegung die Phase der Kindheit eine Verkürzung. Die Kinder, denen man schon früh Abstraktionen beizubringen versucht, rebellieren auf vielerlei und oft hinterhältige Art und Weise dagegen und verwirren Soziologen und Psychologen.

Man auferlegt uns einen Lebensrhythmus, eine bestimmte Art der Ernährung, die zu gewissen Tageszeiten einzunehmen ist, und eine Kleidermode auf. Man zwingt jederman zu demselben Vorgehen, ohne auch nur die Frage zu stellen, ob das mit der Realität unseres biologischen Wesens übereinstimmt.

Insoweit das Phänomen der Vermaßung und Homogenisierung gehemmt wird, beruht die Diversifizierung nicht auf Individuen, die spontan ihre Verschiedenheit behaupten könnten, sondern wird durch die Mikrogemeinschaften getragen (s. 20).

Sprache ist eine Zwangsstruktur, die als besondere Sprache durch ihren Bezug zum Staat noch verstärkt wird. Diese Sprache stellt uns Fallen und hemmt die Schöpfung.

Um die Gewalt zu überwinden müssen wir wissen, was Mann und Frau sind, und unsere Wurzeln verstehen. So sind auch die Ablagerungen der Kenntnisse, die sich in einer gegebenen Sprache, in einer gegebenen Kultur abstrahieren, in die wir vollständig eingetaucht sind, zu dechiffrieren.

22 – Für die Verhaltensforscher steht die Gewalt in direkter Verbindung mit der menschlichen Aggressivität und diese äußere sich insbesondere in der Verteidigung des Territoriums. Man hat jedoch vollständig vergessen, die Beziehung zwischen der Sicherheit und dem Raum zu studieren, der durch ein gewisses Territorium bestimmt wird, das eine bestimmte Vorstellung erlaubt. Es handelt sich nicht einfach um ein Phänomen von Privateigentum, sondern um eine Frage der Vorstellung, wie man sich dessen vergewissern kann, wenn man die verschiedenen kosmogonischen Vorstellungen studiert, die von den verschiedenen menschlichen Wesen sich zu eigen gemacht worden sind, und man die Schwierigkeiten sieht, die es immer gegeben hat, sie zu widerrufen. (Siehe den Kampf der Kirche gegen das heliozentrische Weltbild.)

Letztlich kann die wahnsinnige Bevölkerungsvermehrung nur zu einer weiteren Zähmung und zum allgemeinen Despotismus führen, wenn nicht sogar die Gefahr der Explosion besteht. Dieses Wachstum vermindert den für ein Wesen verfügbaren Raum, was, nach Konrad Lorenz, unausweichlich zu gewaltsamen Konflikten führen muss, wenn die Riten, die bis an hin zu ihrer Vermeidung dienten, wie die Unterordnung und Hierarchisierung, wegfallen. Was jedoch bestimmend ist, ist die immer häufiger beklagte Unmöglichkeit, sich vorzustellen; die Menschen haben keine Grundlage mehr. Das macht sich innerhalb der städtischen Bevölkerung immer heftiger bemerkbar, die jede Weite der Perspektive verliert und deren Triebe kastriert sind.

Die Reduktion der Männer und Frauen auf Raum und Zeit ließ ihnen noch die Möglichkeit, sich vorzustellen; ihre Vertreibung aus Raum und Zeit reduziert sie auf neutrale Partikel, macht sie vom Lebensfeld des Kapitals abhängig. Sie sind seine Domestiken.

Um Reibungen zu verhindern, ist es immer noch das beste, alle Leute identisch zu machen; daher die gegenwärtige Homogenisierung (der die Erscheinung der Demokratisierung vorangeht). Um herrschen und organisieren zu können, muss jede und jeder auf dieselbe Situation reduziert werden.

23 – Die andern Lösungen, um die Gewalt zu beseitigen, landen auch in der Zähmung: Toleranz und Relativismus. Tolerieren läuft aufs Akzeptieren hinaus, ja sogar häufig auf die Verteidigung der Positionen der andern (geschichtlich gesehen darum, weil sich die menschlichen Gruppen nicht mehr durchzusetzen vermochten). Der Relativismus entsteht mit der Behauptung, dass es nichts Absolutes gebe (kein Dogma) und er wird durch den Gedanken gestützt, dass im Grunde alles möglich sei, und durch den Zweifel an der Gültigkeit dessen getragen, was vorgegangen ist. In beiden Fällen gelangt man dazu, alles anzunehmen, vor allem, weil die Adepten der Toleranz und des Relativismus gleichermaßen Parteigänger der Freiheit sind. Doch ist es unmöglich, Freiheit auf ein bestimmtes Gebiet einzuschränken, weshalb denn auch an ihrer – häufig erreichten – Grenze Freiheit das Recht ist, debil zu sein.

Toleranz und Relativismus haben ihre Grundlage auf dem Prinzip der Rechtfertigung, das ein Prinzip der Annahme des Unmittelbaren ist; sie florieren als Immediatismus.

Indem die Männer und Frauen postulieren und tolerieren, dass alles relativ ist (Prinzip des Nichtunterscheidens), hemmen sie ihre Triebe, beschränken sich selbst und äußern sich nur mit geringer Intensität und zurückhaltend, sodass umgekehrt die kräftige Bejahung der eigenen Wesensart und Gedanken, etc. …, die sichere und bestimmte Behauptung also, als Intoleranz, Gewalt und Despotismus betrachtet werden.

Das ist gegenwärtig sehr augenscheinlich, wo viele Personen, vom Nazismus, Stalinismus und andern Terrorismen traumatisiert, es am besten finden, alles neutral zu akzeptieren (siehe Cioran). Der Verlust der Leidenschaft und der Energie wird als Ideal angestrebt. Mehr und mehr hat man es mit lebenden Suizidierten zu tun.

Toleranz und Relativismus sind als Reaktion gegen den Despotismus entstanden; die antiautoritäre Bewegung ist aus der Opposition gegen den rigiden Autoritarismus hervorgegangen, der mit dem Despotismus des Kapitals während seiner Phase formaler Herrschaft über die Gesellschaft verbunden war. Auch sie hat nur einen Teil der Realität begriffen und endet in der Zähmung. Denn die antiautoritäre Erziehung führt zur Abdankung der Verantwortung der Eltern, wenn sie keine Bezugspunkte und keinen Gesamtzusammenhang für die Entwicklung der Kinder darstellen.

Das hat zu einem Verlust des Energiepotentials der Kinder geführt und es ist nicht erstaunlich, dass die nach den antiautoritären Prinzipien aufgezogenen Generationen in der Droge eine leichter zugängliche Realität suchen, die sich nicht entzieht; jede Anstrengung ist also gebannt. Denn die Folge des Energieverlustes ist die Flucht vor der Anstrengung, die in allen Fällen als Zwang und Gewalt verstanden wird.

Die „permissive“ Gesellschaft ist die Gesellschaft der Zähmung.

Toleranz und Relativismus bilden den integralen Teil des Rekuperationsprozesses des Kapitals, sodass es heute praktisch unmöglich ist, dagegen zu sein, als Revolutionär verstanden zu werden, weshalb denn auf die Gewalt zurückgegriffen wird, die endlich erlaubt, als Gegner anerkannt zu werden und der sich denn auch gewisse gegenwärtige Revolutionäre hingeben.

24 – Es ist noch auf Erscheinungen hinzuweisen, die als heftig charakterisiert werden, ohne unbedingt an Gewalt teilzuhaben, was nicht heißt, dass diese vollständig fehlt und nicht die Gefahr besteht, dass sie auch einwirkt. Die Intensität dieser Phänomene einschränken zu wollen, um eine rein hypothetische, d.h. unmögliche Gewalt zu beschwören, ist jedoch gleichbedeutend mit der Kastration und Zähmung der Wesen. Je mehr das angestrebt wird, umso mehr deutet das auf den Verlust von Energie der Menschen, auf ihre Degeneration, hin. Man hat allzusehr vergessen, dass leben das Leben riskieren heißt.

So weisen in der Liebe viele die Leidenschaft zurück (indem ich eine solche Trennung mache, begebe ich mich auf den Boden dieser Personen, jedoch, um mich besser verständlich zu machen), weil die Liebe heftig ist. Das ist wahr, wie es auch wahr ist, dass Liebe Gewalt sein kann, nicht weil das nichtgeliebte Wesen dasjenige, das es liebt, zerstören, sondern weil die nicht in ihrer Gänze erfüllte Liebe zum Wahnsinn führen kann.

Die Selbst-Behauptung – in einer Welt, wo jeder furchtbar durch die Wirklichkeit des Kapitals verneint wird und die tolerante Neutralität in Ehren ist – wird von den andern oft als Aggression erlebt.

Diese Phänomene zeigen die Degeneration der Gattung an, die mit dem Verlust von Territorium und Raum, mit ihrer Unterwerfung unter eine mechanische Zeit, mit dem Verlust der kosmischen Dimension und der biologischen Kraft verbunden ist, da sie ihre Wurzeln verloren hat und die Gemeinschaft auf eine nukleare Familie und manchmal noch weniger reduziert worden ist. Man versteht darum, dass es Leute gegeben hat (v.a. seit Ende des letzten Jahrhunderts, insbesondere Gobineau), die, wegen dieser Degeneration bestürzt, im Kult der Elite eine Lösung und ein Heilmittel sahen. Dieser Elitarismus lauft aber darauf hinaus, einer großen Menge von Menschenwesen ihre Möglichkeiten abzusprechen, sie zu negieren und zu hemmen; er ist also ein Sprungbrett für den Rassismus.

25 – Es gibt menschliche Verhalten, die als selbstverständlich, sozusagen neutral angeschaut werden, letztlich jedoch Gewalt in gemässigterer Form enthalten: Gewalt in Form der Hemmung, die darin besteht, das Werden eines Prozesses zu blockieren.

Wenn jemand zu viel gibt, um anerkannt zu werden und sich behaupten zu können, so legt er sich nicht darüber Rechenschaft ab, dass seine sogenannte Gabe für die Entwicklung des Andern ein Hemmnis ist. Es ist ein Egozentrismus, ein Wunsch nach Verwertung und Kapitalisierung etc. … Nun besteht gerade heute die große Tendenz, dass Menschen als notwendige und momentan absolute Vermittler auftreten, was nichts als Abhängigkeit schafft. Beim Andern Abhängigkeit zu schaffen, heißt ihn sich gefügig zu machen.

Das ist wesentlich in der Beziehung zum Kind. Fast alle Erziehungs- und Lehrmethoden hängen von Gewalt ab, denn sie respektieren den Lebensprozess des Kindes nicht, das seinen eigenen Rhythmus hat. Sie hängen in Wirklichkeit von der Dressur und Zähmung ab.

Alle Formen der Hemmung lassen sich aus der Tatsache ableiten, dass diejenigen, die sie hervorrufen, der Anerkennung und der Bestätigung bedürfen. Sie haben deshalb immer die Tendenz, ihre Akte materiellen und immateriellen Gebens (mit Bedeutungen, Wohlwollensäußerungen, etc. …) zu überladen. Abhängige Wesen können sich nur retten, indem sie andere abhängig machen. Sie können nicht die Gleichzeitigkeit der Leben leben, was vollständig jenseits des einfachen Akzeptierens der andern ist. Darum wird auch das Schweigen – ein Moment der Ruhe und Dichte der Aufnahme des Andern in seiner Situation auf der Welt, also in seinem kosmischen Bezug und in seiner Vertrautheit, wobei seine eigene Realität gewahrt bleibt – so selten in der Kommunikation zwischen Männern und Frauen.

Die Existenz der Abhängigkeit verbindet sich mit der Suche nach Autonomie und führt sehr oft in dem Masse zu andern Formen der Gewalt, wie die Menschen, um zu ihr zu gelangen, die Bande ihres Lebensprozesses unterbrechen. Das könnte positiv sein, doch wird diese Verselbständigung, die innerhalb einer individualistischen Dynamik geschieht, vom kapitalistischen Prozess der Trennung der menschlichen Wesen und ihrer Reduktion auf neutrale Partikel absorbiert. Das führt zur Einsamkeit.

Die Gefahr der Autonomie ist die Zerstörung einer jeden Möglichkeit des Gemeinwesens.

26 – Die Kapitalgemeinschaft hat Mittel zur Integration der Männer und Frauen in ihren Prozess entwickelt, die sich nicht mehr als Gewalt bezeichnen lassen, denn sie bringen keine direkt zwangsmäßigen Kräfte ins Spiel, die Schaden verursachen könnten. Eines der am besten ausgearbeiteten Mittel ist der Marketing. Die Publizität ist eine seiner Stützen. Sie ist wie die Mode, die Verführung des Kapitals, die darin besteht, in den menschlichen Wesen eine gewisse Sensibilität zu erregen und eine Haltung einzuführen, die sie die materiellen und immateriellen Produkte suchen lassen, die der Gesamtprozess des Kapitals erzeugt.

Die Verführung ist für gezähmte Wesen eine Gewalt. Das stellt andrerseits die Frage nach ihrem Gehalt und Bestand in den menschlichen Beziehungen, die noch nicht durch das Kapital verwüstet worden sind.

In der Mode tritt die Nachahmung ins Spiel, eine tiefgehende Erscheinung, wobei Männer und Frauen Seinsweisen und Verhalten suchen, um eine Grundlage in der Welt zu haben. Die Perversion dieses Triebes ist eine Gewalt, die auf die Gattung ausgeübt wird. Menschen suchen ebenso ein Mittel, um sich mit einer Gruppe zu identifizieren und sich von der Situation trennen zu können, in der sie sich gegenwärtig befinden.

27 – Eine häufig unbemerkte und dennoch sehr mächtige Form der Gewalt, die die Menschen ihrer Wurzeln der Realität beraubt, stellt die Verinnerlichung des Postulates dar, es sei kein Genuss möglich. Marx betrachtet es zurecht als charakteristisch für das Kapital. Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen: einerseits sollen die Frauen und Männer abgestumpft werden (mangelnder Enthusiasmus, die Schwierigkeit, sich einer Sache oder einem Wesen ganz hinzugeben: sie werden mittels verschiedener psychologischer Therapien zu heilen versucht), andrerseits soll die Intensität des Phänomens, das den Genuss erzeugen soll, gesteigert werden. Das steht ebenfalls mit der wachsenden Aggressivität des Milieus in Beziehung, in dem man lebt. Daraus ergibt sich nun eine widersprüchliche Situation: je mehr die Menschenwesen neutral werden, der Energie ermangeln und damit unfähig sind, der Gewalt zu begegnen, umso größere Stimulantien brauchen sie, um zu Emotionen zu kommen. Das Bedürfnis nach Drogen ist die beste Illustration für die Unfähigkeit zu genießen. Das Resultat ist die Zerstörung der Wesen, ihre Zähmung, denn sie werden immer mehr von der Kapitalgemeinschaft abhängig.

Auf diesem Gebiet, das den ganzen Lebensbereich umfassen möchte, äußert sich die Gewalt durch ihren Schein und nicht so sehr durch ihre Wirklichkeit. Es ist ein Spektakel der Gewalt, das sehr gut zu den passiven und abhängigen Wesen passt.

Diese Analyse bewahrheitet sich auch im Fall der Liebe, wo immer mehr der Sadismus und (wahrscheinlich besonders auch) der Masochismus Eingang findet, der am besten die Abhängigkeit der Wesen veranschaulicht. Dennoch ist es schwer, die genaue Beziehung zwischen dem, was Perversion genannt wird, und der Gewalt zu bestimmen.

Durch den Kredit und die Inflation werden die Menschen dazu gebracht, einen Genuss zu suchen, der niemals zugänglich ist und sich nie entfaltet.

28 – Der Terrorismus ist die heftigste Gewalt, weshalb er auch die Möglichkeit des Auslöschens und der Vernichtung einschließt. Er wurde – in der Revolution von 1789 – befürwortet, um einen Prozess, der eben eingesetzt hatte, zu verteidigen. Marx ließ sich davon inspirieren und theoretisierte die Notwendigkeit des Gebrauchs des roten Terrors (s.die Artikel der Neuen Rheinischen Zeitung).

Gewalt wurde in gleicher Weise – von den französischen Revolutionären und von Marx – als einziges Mittel betrachtet, um den Transformationsprozess zu beschleunigen und die Quantität der Gewalt klein zu halten. Als Geburtshelferin der Geschichte angesehen, sollte der Gebrauch des Terrors Gewalt auf ein Minimum reduzieren.

Es musste ein Mittel gefunden werden, um den Terror zu kontrollieren und daran zu hindern, sich zu verselbständigen; Robespierre appellierte dabei an die „vertu“ und Marx an die bewusste und homogene Organisation der Partei (was von Lenin und den Bolschewiki in die Tat umgesetzt worden ist ).

Die revolutionäre Gewalt hatte nicht nur eine Rechtfertigung nötig, nämlich ihr Ziel einen Prozess zu begründen, innerhalb dessen die Männer und Frauen endlich ihre Humanität sollten entwickeln können, sondern auch eine Vermittlung und zeigte damit ihre Heteronomie. Im übrigen ist die „vertu“ z.B. ein allgemeines Äquivalent wie Gott, Freiheit, Gerechtigkeit, etc. … Sie stammt aus einer und impliziert eine Gewalt, um zu sein, was das Schicksal eines jeden allgemeinen Äquivalentes ist, das nur zum Preis eines Reduktions- und Abstraktionsprozesses möglich ist.

29 – Der Terrorismus zielt nicht nur auf die ab, die er direkt berührt, sondern auch auf jene, die er nicht erreicht (er ist Gewalt und Hemmung in einem). Es wird tatsächlich eine Botschaft übertragen, die im Falle, wo der Terror vom Pol der herrschenden Macht ausgeht, eine Warnung mit der Bedeutung sein kann, dass jede Revolte unmöglich und jeder Versuch zur Niederlage und zu einer großen Repression verurteilt ist (also keine Möglichkeit besteht, den Prozess zu brechen). Im Falle, wo der revolutionäre Pol Ausgangspunkt des Terrors ist, exaltiert er die Notwendigkeit, den Prozess des Kapitals zu brechen; er bedeutet die Unerträglichkeit der Existenz in einer gegebenen Gesellschaft; er zeigt, dass der König nur König ist, weil seine Untergebenen ihn als solchen anerkennen; er ruft die „Identität“, d.h. die den Ausgebeuteten eigene Realität wieder ins Leben, wie das F. Fanon und der Black Power gezeigt haben, insbesondere mit ihrem Slogan: „Black is beautiful“.

Es ist klar, dass der Terrorismus die Frage der Sprache stellt (insbesondere nach ihrer hemmenden Dimension), die Frage der Kommunikation zwischen dem Individuum und der Gruppe, zwischen der Gruppe und der Klasse und dem Volk. Ein gewaltsamer Akt ist notwendig, um die gegebene Vorstellung zu brechen und zu zerschlagen, damit die Massen zu einem gewissen Verständnis der Realität gelangen (eine Thematik der Populisten: derjenigen, die das Proletariat aus seiner Lethargie herausholen möchten und derjenigen, die wie Mussolini ihre Zeitgenossen als Kadaver betrachten, auf die man ungelöschten Kalk werfen muss, um sie wieder zum Leben zu erwecken).

Da es jedoch keinen König mehr gibt, demokratisiert sich auch der Terrorismus und wird umso mörderischer, denn er muss treffen, um einen Sinn zu haben, und ein Kräftezentrum schaffen, wo sich viele Personen polarisieren.

Die Massenmedien sind deshalb immer mehr dafür bestimmt, die Menschen passiv zu machen und sie zu zähmen. In den am höchsten entwickelten Zonen der Kapitalgemeinschaft besteht keine Notwendigkeit mehr, der Zähmung wegen auf den Krieg zurückzugreifen. Man lebt mit einem mehr oder weniger verinnerlichten und zur Schau gestellten Terrorismus.

In der Kapitalgemeinschaft taucht der Terrorismus auf, um Unterschiede zu schaffen und den Flux wiederherzustellen, ohne den die Aushebung Stagnation hervorriefe; die Menschen selbst greifen zum Terrorismus zurück, um sich zu unterscheiden und anerkannt zu werden. Und da das Kapital nur noch Vorstellung ist, wird im übrigen alles eine Frage der Macht und diese kann nur durch eine Manifestation ihrer Stärke in Erscheinung treten. Die Welt nährt sich mehr und mehr von der Gewalt.

Der Terrorismus kann auch mit dem Ende der Politik und dem Verschwinden gewisser Regeln in Zusammenhang gebraucht werden, die bis dahin die Gewalt zu kontrollieren vermochten (die Politik regiert nichts mehr).

Die Tatsache, dass die revolutionäre Gewalt leicht zum Terrorismus wird, um wirksam zu bleiben, ist durch den immer größeren Verlust an Energie und die Apathie der Leute bedingt. Es braucht immer stärkere Stimulantien, um sie zu bewegen, denn die Leute sind durch die Massenmedien mit Gewalt übersättigt, die eine Banalität wird; wie vieles Anderes, was aufregend ist, erscheint ihnen alles natürlich. Der Terrorismus möchte jedoch die Realität in ihrer wesentlichen Bestimmung hervortreten lassen, damit die menschlichen Wesen gezwungen würden, in Bezug auf sie Stellung zu nehmen.

30 – Gewisse meinten, das einzige Mittel, die Entfaltung von Gewalt und Terror zu vermeiden, bestehe darin, nur in dem Moment einzuschreiten, wo die Situation dafür reif ist. Sie stützten sich auf die Theorie von Marx, die besagt, dass sich ein sozialer Umsturz nur ereignen kann, wenn die Produktivkräfte einen gewissen Stand der Entwicklung erreicht haben und in Konflikt mit den gesellschaftlichen Beziehungen treten, die gesellschaftliche Gesamtheit also in einen Umwandlungsprozess geschleudert wird und es aus der Tatsache heraus, dass die riesengroße Mehrheit der Bevölkerung betroffen wird, deshalb keine überbordende Gewalt geben kann. Das war die Perspektive der Sozialdemokratie, die man in ihrer gemässigteren bei Kautsky, ihrer radikaleren Form bei Rosa Luxemburg beobachten kann.

Das große Problem war die Bestimmung dieses Momentes der Reife und das Darauf-warten-können, was den am meisten Entrechteten schnell einmal nahelegte, ihren Wunsch nach Veränderung zurückzuhalten. Daraus bildete sich das repressive Bewusstsein und eine gesellschaftliche und geschichtliche Hemmung.

Die Intervention bleibt deshalb sehr beschrankt; der Wille hat keine Bedeutung und wird als Mangel betrachtet.

Diese Auffassung konnte nur gültig sein, wenn der Lebensprozess des Kapitals auf das Verhalten des Arbeiters keine Folgen hatte. Marx hatte jedoch im Buch 1 des Kapitals klargemacht, dass der Arbeiter tendenziell gezähmt wird, da er die Herrschaft des Kapitals als ein Naturphänomen betrachtet; in einer zweiten Phase, wo er vom einfachen Produzenten zum Produzenten-Konsumenten wird, achtet er die Herrschaft nicht einmal, denn er hat sie verinnerlicht. Er ist integriert. Möglicherweise war die revolutionäre Intervention, die Marx wollte, notwendig, um diese Phase zu überspringen; das zöge auch die Möglichkeit in Betracht, dass der Kapitalismus nicht unbedingt im Kommunismus enden muss. Damit dem so sei, müssten die menschlichen Wesen immer bereit sein, zu handeln, immer voller revolutionärer Wut sein.

31 – In der Geschichte gab es häufig Augenblicke, in denen die Gewalt und der Terrorismus entglitten: in Genozide und in Momenten kollektiven Wahnsinns. Gegenwärtig werden Gewalt und Terrorismus aufgrund der Notwendigkeit von Neuem frei, die Phantasie der in Passivität versunkenen Leute immer heftiger anzuregen, die durch das Wegfallen der Rollen orientierungslos geworden sind.

Man stellt allgemein fest, dass der Terrorismus sich am Ende von Perioden entwickelt, wenn es schwierig geworden ist, sich zu orientieren. Der individualanarchistische Terrorismus Ende des letzten Jahrhunderts zeigte das Ende der bourgeoisen Gesellschaft an, das sich im Kriege 14/18 vollstreckte. Der gegenwärtige Terrorismus äußert den potentiellen Tod des Kapitals. Es werden andere Katastrophen sein, als ein sehr unwahrscheinlicher 3. Weltkrieg, die es real zerstören werden.

Der Terrorismus rührt in diesem Falle von der Unmöglichkeit her, die Wurzel des Übels zu begreifen. In den Momenten, wo bis auf den Grund der Dinge gegangen werden sollte, erreicht die Gewalt, die die Ursachen dessen, was die Gesellschaft unterminiert, abzuschaffen sucht, ihr Objekt nicht und macht sich, entkommt.

32 – Angesichts der Tatsache, dass der Ausweg aus der gegenwärtigen Sackgasse nicht mehr innerhalb der Kapitalgemeinschaft, sondern außerhalb von ihr zu suchen ist, dass diese Welt also verlassen werden muss, besteht die Notwendigkeit einer Intervention und deshalb auch einer Gewalt, weil wir uns von dem durch das Kapital beherrschten Lebensprozess losreißen müssen. Andrerseits ist es gewiss, dass dieses – sobald das Phänomens des Aussteigens eine gewisse Breite erreicht haben wird – wird einschreiten müssen. Das Erscheinen eines Unterschieds erzeugt Gewalt von Seiten dessen, was sich bedroht fühlt. Man wird sich verteidigen müssen.

Man kann der Gewalt nicht aus dem Wege gehen, doch kann man, wiederholen wir es, vermeiden, sich auf den Boden der Gewalt des Kapitals zu begeben. Unsere Gewalt wird darin bestehen, uns außerhalb seiner Sphäre zu stellen. Das ist das einzige Mittel, die Intervention bis zu deren Wurzeln zu tragen und so eine große Anzahl gewaltsamer Erscheinungen ihrer Grundlage zu berauben.

Man kann dagegen der Zähmung entgehen. Unser Ausstieg aus der Welt zielt darauf ab, zu einem Energiepotential Zugang zu finden, das ein immenses Verweigerungspotential sein wird; unser Anderswerden wird die Abschaffung der vieltausendjährigen Irrnis bedeuten und wir werden uns endlich als Gattung-Phylum wiederfinden, die das Phänomen der Reflexion des Lebens in Symbiose mit allen Lebewesen verwirklichen soll. Es geht um die Erreichung und Verwirklichung der Individualität und des Gemeinwesens innerhalb der Gattung, wo Mann und Frau gleichzeitige, einander durchdringende Lebensformen leben werden.

33 – Bevor wir auf die Möglichkeit eines Weges außerhalb des Kapitals weisen, müssen wir noch die Gewalt als ein menschliches Verhalten in der Natur betrachten, d.h. als Eingriff der Gattung. Es ist schon aufgezeigt worden, dass die Jagd, die Landwirtschaft, die Zähmung und Aufzucht von Tieren ebenfalls Gewaltakte sind. Das gilt auch für die medizinischen und wissenschaftlichen Eingriffe. Das Problem der Gewalt führt also auch zur Frage der Gültigkeit der Intervention und konsequenterweise zur Frage der Therapie, da diese doch im allgemeinen dafür verwendet wird, die Nachteile auszuflicken, die sich als unerwünschte Resultate einer Intervention ergeben. Es ist klar, dass die Ablehnung eines jeden Eingriffs die Gattung in eine Passivität führte und sie wieder ganz in der Natur versinken ließe. Das bedeutete eine Rückkehr in den ersten Zustand, aber auch eine totale Degeneration. Die Intervention in die Natur soll jedoch in vollständiger Kenntnis der verschiedenen Lebensprozesse vonstatten gehen und so oft als möglich so, dass an ihre Stelle keine Prothesen und kein Ersatz treten sollen. Das lässt der Gattung das Feld der Intervention offen, die Schöpfung in Funktion all der Bestimmungen der Gattung ist, deren wesentlichste ihre Reflexivität ist. Diese ist im Phänomen des gesamten Lebensprozesses einbegriffen, dessen Entfaltung wir zulassen dürfen.

34 – Das Phänomen der Geburt veranschaulicht aufs Beste unsere Positionen. Es ist das ein Prozess, der in kontinuierlicher Weise das Wesen aus dem aquatischen Stadium in ein Lebensstadium an der Luft hinüberbringt. Zu diesem Zwecke interveniert eine Serie von Mechanismen, die dem Fötus erlaubt, über Phasen hinweg, die sich in strenger Ordnung folgen und deren jede ihre eigene Dauer hat, als menschliches Junges zu erscheinen. Es tritt dabei keine Gewalt auf, was nicht heisst, dass das Ereignis nicht heftig, also mit viel Kraft verbunden ist und eine grosse Menge Energie freisetzt. Tatsächlich sind die Anstrengungen des Kindes, aus der mütterlichen Höhlung herauszukommen und diejenigen der Mutter, das Kind hinauszustoßen, von großer Weite. Gewalt entsteht jedoch dort, wo dem Prozess entgegengearbeitet wird, wie das fast immer der Fall war, als die Entbindungsmethode nach Leboyer noch nicht bekannt war.

Auch die Erziehung des Kindes und seine Bildung sollten gewaltlose Übertragungen sein, d.h. geeignet, das Kind die verschiedenen Schritte zur Reife tun zu lassen, ohne dass an seinem Lebensrhythmus gerührt würde. (Was am Beispiel der Geburt gezeigt wurde, gilt ebenfalls für die Entwöhnung, die Pubertät, etc …) Es braucht eine Art Initiation, die das Kind nicht zu seiner Autonomie, sondern zu seiner Realität gelangen lässt, die nie parzellär ist, da in jedem von uns sich die Gemeinwesens-Identität entwickelt.

Es scheint, dass die Initiation, wie sie ursprünglich ablief, ein Moment im Leben des Kindes war, in dem zwei Phasen des Lebens nebeneinander existierten und es im Laufe des Rituals, in dem sich alles zuspitzte, dem Kinde möglich wurde, vielleicht nicht schmerzlos, aber sicher ohne Gewalt, den Schritt von einer Phase in die andere zu vollziehen. Die Initiation enthielt die Vorstellung all dessen, was auf das Kind zukommen sollte, ermöglichte also eine Stellungsnahme dazu und eine gewisse Beherrschung des Zukünftigen. Das Kind steht also nicht einfach vor einem Unbekannten, das es terrorisieren könnte.

Um die Gewalt zu vermeiden, müssen die Beziehungen zwischen Phylogenese und Ontogenese respektiert werden. Im Verlaufe der letzteren werden teilweise Phasen der ersteren wiederholt.. Dasselbe spielt sich auch in den Beziehungen zwischen Individualität und Gattung ab. Indem man die Aufeinanderfolge der Phasen allzu stark forciert oder sogar versucht, sie zu überspringen, produziert man Krüppelwesen. Denn wenn der Prozess – und das gilt vor allem für die Ontogenese – nicht vollständig vollendet wird und lückenhaft bleibt, stellt sich beim nicht vollendeten Wesen der Hang ein ein, den Prozess noch einmal zu durchleben, um endlich zu seiner Erfüllung zu gelangen. Daher bringt diese Welt Erwachsene hervor, die überhaupt noch nicht erwachsen sind und vollständig von einer noch nicht vollendeten mehr oder entfernten Jugend abhängen.

In gewissen Fällen hat die gegenwärtige Bildungsmethode Erfolg und die Kinder erlangen die außergewöhnliche Abstraktion, die die Entwicklung des Kapitals verlangt. Das geschieht auf Kosten ihrer Affektivität und Spontaneität… Es bilden sich Wesen, bei denen jede Sensibilität unterernährt ist; sie werden die geeigneten Chefs für die Kapitalgemeinschaft sein.

35 – Sicher muss man zu einer Abstraktionsfähigkeit gelangen (vollständige Verwirklichung der Reflexivität), doch der Weg zu ihr soll langsamer zurückgelegt werden und für jedes Individuum ein eigener sein. Die Abstraktion wird man auf Weisen erlangen, die niemals ausschließen und die Ganzheit konstant in Rechnung gezogen wird. Die Menschen müssen die vorangegangenen Phasen einbeziehen können, die Momente des Lebens ihrer Vorfahren sind. Nur so haben diese nicht für nichts gelebt und hält sich die Kontinuität zwischen den Generationen aufrecht. Denn in der Unterbrechung dieser Kontinuität ist Gewalt enthalten. So werden die verschiedenen Etappen der Erlernung des Schreibens, des Lesens, des mathematischen Denkens und der verschiedenen Logiken, aber auch der Geschichte, Philosophie, etc. … (bedenkt man das gegenwärtig getrennte Wissen, denn es ist klar, dass die Kenntnisse nicht mehr nach Disziplinen aufgefächert sein werden) ganz anders angegangen werden müssen, als das zur Stunde geschieht, wobei die Grundlage, die Lebensweise, viel weniger abstrakt sein wird, als heute.

Ein Wesen, das die verschiedenen Prozesse, die es aufbauen sollen, nicht auf harmonische Weise vollendet hat, ist ein abhängiges Wesen, und das umso mehr, als es nicht zur Wahrnehmung der Wurzel dieser Gebrechlichkeit gelangt, denn wir haben gesehen, dass der Prozess, der uns als männliche oder weibliche Wesen hervorbringt, in sich sehr alte Phasen birgt, die Teile der Phylogenese bilden. Im übrigen greift ein solches abhängiges Wesen häufig auf die Gewalt zurück, um seinen Mangel zu verhüllen.

36 – Letzten Endes ist die größte Gewalt, die die Gattung hervorgebracht hat, diejenige gegen sich selbst, indem sie sich verselbständigt und sich ihrem biologischen Wesen entfremdet hat. Diese enorm groß gewordene Kluft begründet die Notwendigkeit aller Arten von Eingriffen und Gewalt.

Die ihrer Anlage nach früchteessende Gattung ist fleischfressend geworden, daraufhin omnivor-carnivor und isst zu viel Gekochtes und Verfälschtes. Die Küche ist die schlimmste Erfindung und erlaubte die Zähmung; sie hat eine Menge Krankheiten hervorgerufen, die ihrerseits die Entwicklung verschiedener medizinischer Praktiken erforderten, die, vor allem was die modernen Therapien betrifft, dazu beitragen, Männer und Frauen zu entwurzeln und sie ausserhalb ihrer Natur zu stellen.

Dasselbe geschieht mit der Enteignung der Geste, des Wortes und der Phantasie: die technische Gattung wird – bis auf eine immer kleinere Minderheit – vom Kapital und denjenigen, die sich gegen die Technik auflehnen und in ihr das Übel sehen, ihrer Technologie beraubt.

Die Technik ist nicht nur das, wie Aristoteles dachte, was notwendig ist, um dem Ungenügen der Natur abzuhelfen, sondern sie ist das grundsätzliche Element, das erlaubt, alle Möglichkeiten, die von andern Gattungen verwirklicht worden sind, zu reaktualisieren. Über die Gattung Mensch entwickelt sich das Leben nicht, indem es immer ärmer wird.

37 – Mit der Gewalt Schluss zu machen impliziert die Abschaffung der Abhängigkeit, die die Trennung zwischen sich und andern sanktioniert und der ursprünglichen Gewalt, der Ursache der Irrung, ihre Weihe erteilt, impliziert die Zerstörung der Grundlage der Zähmung. Abhängigkeit zu beseitigen heisst nicht, die Bande zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaft aufzulösen, sondern fordert ganz im Gegenteil die notwendige Beseitigung der Trennung. Denn diese erfordert die Herstellung äußerer Vermittlungen, um die Vereinigung wieder herzustellen. Der Begriff der Symbiose mag das Gegenteil von Abhängigkeit bedeuten.

Die Ablehnung der Abhängigkeit drückt sich im Willen aus, den Körper wieder zu entdecken (damit wird der Abstraktion und der Exaltation der Trennung begegnet). Es ist der Wille, sich zu gehören und sich selber in die Hand zu nehmen. Eine Konsequenz daraus ist die Verweigerung der Macht der Medizin, jeder Therapie und die Suche einer gesunden Ernährung, die unserm biologischen Wesen entspricht, was über den Problemkreis der gegenwärtig modischen biologischen Landwirtschaft hinausgeht.

Es wird auch weiterhin die Möglichkeit der Gewalt zwischen Menschen bestehen, denn sie werden weiter werden und dieses Werden wird nicht ohne Brüche im Prozess vonstatten gehen; das Gemeinwesen wird aber in der Lage sein, das Phänomen Gewalt, wie auch das Anders-Werden (die Entfremdung) einzuschränken. Das ist wesentlich, denn die Theoretisierung der Gewaltlosigkeit ist die Bestätigung eines Willens- und Energieverlustes der Menschen: das Verschwinden einer jeden kräftigen Behauptung und das tolerante Dahinschwinden. Auf der Beseitigung der zerstörerischen Gewalt zu beharren beinhaltet nicht die Forderung, stumpf und debil zu sein. Im Gegenteil: je mehr man wiederhergestellt ist, umso mehr wird man fähig sein, heftige, außerhalb jeder Monotonie stehende Phänomene zu leben.

Das Gemeinwesen muss im Stande sein, äußerst energiegeladene Impulse aufzunehmen, oder man postuliert eine Gemeinschaft utopischen Stils, wo alle Wesen identisch und harmonisch sind. Die Harmonie ist häufig die Abwesenheit tiefer Schwingungen.

38 – Um zum menschlichen, in den Kosmos integrierten Gemeinwesen zu gelangen, muss man mit dieser Welt brechen. Die Mehrheit der Männer und Frauen fühlen, dass ein anderer Weg gefunden werden muss als derjenige, den man bis dahin benutzt hat; nur, sie haben Angst, den Sprung zu machen, eine Angst, die durch den vom Kapital aufoktroyierten Lebensstil aufrechterhalten wird.

„Hier ist die Angst, hier sollst du springen“. Wir werden auf niemanden Gewalt ausüben, wer immer es sei, diesen Sprung zu machen. An jedem und jeder liegt es, die eigene Angst zu überwinden und zu begreifen, was Großes auf dem Spiele steht, und das künftige Leben zu erahnen. Wir können auch nicht die nahezu sichere Eventualität kommender Katastrophen benutzen, um einen terroristischen Diskurs an die große Glocke zu hängen, um Zweifel und Angst zu besiegen.

Alle Männer und Frauen, die sich individuell selbst in die Hand nehmen, müssen ihre Anstrengungen da hinführen ein neues Gemeinwesen hervorzubringen. Gegenwärtig besteht zwischen der alten Lebensweise und der Möglichkeit einer andern Koexistenz. Der Übergang von der einen zur andern ist ein Prozess der Geburt. Angesichts der unzähligen angehäuften und im Laufe der Jahrtausende nicht gelösten Widersprüche jedoch und der Degeneration der Gattung ist es klar, dass die Gewalt nicht wird vermieden werden können. Wir fordern sie nicht. Wir konstatieren sie nur, wie wir uns auch bewusst sind, dass die Dynamik des Ausstiegs aus dem Kapital eine Gewalt gegen seinen Gesamtprozess darstellt.

39 – Es muss ein Lebens- und Reflexionszentrum außerhalb der Gewalt und der Zähmung gebildet werden.

]]> Jacques Camatte: Die demokratische Mystifikation https://panopticon.blackblogs.org/2023/04/24/jacques-camatte-die-demokratische-mystifikation/ Mon, 24 Apr 2023 12:53:57 +0000 http://panopticon.blackblogs.org/?p=4930 Continue reading ]]> Gefunden auf der Seite von Grupo Barbaria, die Übersetzung ist von uns. Dieser Text von Jacques Camatte kann nicht ohne ein paar Anmerkungen zu seiner Person gemacht werden.

Jacques Camatte, geboren 1935, war bis 1966 Mitglied der IKP (Internationale Kommunistische Partei) aber verließ diese als Konflikte mit Amadeo Bordiga sich zuspitzten. Bis zu diesem Zeitpunkt vertrat Camatte was bekannterweise als die italienische kommunistische Linke Position gilt, ob despektiv oder korrekt, auch bekannt als Bordigismus. Ab dem Moment begann er mit anderen Personen die Publikation Invariance zu veröffentlichen, die bis heutzuzage formell existiert, wo er sich über die Jahren anderen Ideen annähern würde die innerhalb der IKP keinen Platz hatten, seien es dass was bekannterweise als deutsch-holländische kommunistische Linke bezeichnet wird, auch bekannt als Rätekommunismus, und später auch anarchistischen Positionen. Diese Publikation soll aufgrund späterer Beiträge einen Einfluss sowohl bei Fredy Perlman wie bei John Zerzan ausgeübt werden.

Fernab der Entwicklung von Camatte nachdem er die IKP verließ, interessiert uns sehr die Thematik die sich mit der radikalen Kritik an der Demokratie beschäftigt. Deshalb haben wir diesen Text übersetzt, bei dem noch Positionen, Gedanken usw. vorkommen die wir nicht teilen und seiner Zeit der IKP noch zurückzuführen sind. Sei es das Verteidigen des Konzeptes der historischen Partei des Proletariats, oder der Diktatur des Proletariats. Was uns hier interessiert ist die Kritik an der Demokratie, eine Kritik an der sich Anarchistinnen und Anarchisten auch ausüben müssten, anstatt diese immer wieder zu verteidigen.

Wenn auch einige Gruppen und Projekte es nicht verstehen, oder verstehen wollen, warum wir auch solche Texte veröffentlichen, trotz Differenzen hier und da, welche wir auch erwähnen, ist und wird der Grund immer derselbe sein, die Kritik muss verschärft werden, die Kritik muss direkter und tiefer werden, die Kritik und das Wissen ist eine Waffen in den Händen derer die die bestehende Realität des Kapitalismus und des Staates ein Ende setzen wollen, es reicht nicht sich vulgärer Begriffe zu bedienen. Wer dies nicht verstehen will, wird am Ende genau das verteidigen was er oder sie angeblich angreift und zerstören will. Beispiele gibt es in der Geschichte und in der Gegenwart wie Sand am Meer.


Jacques Camatte: Die demokratische Mystifikation

Wir veröffentlichen die Übersetzung, die von der GCI-IKG in Miriam Qarmats Ausgabe: Gegen die Demokratie gemacht wurde, ohne ihre hinzugefügten Kommentare und mit unseren Überarbeitungen aus dem Original, das hier verfügbar ist. Sie kann auch als .pdf heruntergeladen werden

Die demokratische Mystifikation

Jacques Camatte
Invariance, Serie I, Nr. 6 (April-Juni 1969)

Der Ansturm des Proletariats auf die Zitadellen des Kapitals hat nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn die revolutionäre Bewegung des Proletariats der Demokratie ein für alle Mal ein Ende setzt. Die Demokratie ist die letzte Zuflucht aller Renegaten, allen Verrats, denn sie ist die erste Hoffnung derjenigen, die glauben, dass die gegenwärtige Welt, die bis in ihre Grundfesten verrottet ist, gesäubert und wiederbelebt werden muss.

Alles gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizism[us] veranlassen, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und in dem Begreifen dieser Praxis.“ Karl Marx, 8. These über Feuerbach

These 1

Ganz allgemein können wir Demokratie als das Verhalten des Menschen, die Organisation des Menschen definieren, wenn er seine ursprüngliche organische Einheit mit der Gemeinschaft verloren hat. Sie existiert dann während der gesamten Periode zwischen dem primitiven Kommunismus und dem wissenschaftlichen Kommunismus.

These 2

Die Demokratie entsteht in dem Moment, in dem es eine Aufteilung unter den Menschen und eine Verteilung des Habens gibt, d.h. sie entsteht mit dem Privateigentum, den Individuen und der Aufteilung der Gesellschaft in Klassen, mit der Bildung des Staates. Sie wird also in dem Maße reiner und reiner, in dem das Privateigentum verallgemeinert wird und die Klassen in der Gesellschaft deutlicher hervortreten.

These 3

Die Demokratie setzt ein gemeinsames Gut voraus, das verteilt werden muss. In der antiken Gesellschaft setzte die begrenzte Demokratie die Existenz eines ager publicus voraus, und Sklaven waren keine Menschen. In der modernen Gesellschaft ist dieses Gut universeller (es umfasst eine größere Anzahl von Menschen), abstrakter und illusorisch: das Vaterland.

These 4

Die Demokratie schließt Autorität, Diktatur und den Staat keineswegs aus. Im Gegenteil, sie braucht sie als Grundlage. Wer könnte sonst die Verteilung garantieren, wer könnte die Beziehungen zwischen den Einzelnen und zwischen den Einzelnen und dem Gemeinwohl regeln, wenn es den Staat nicht gäbe?

In einer voll entwickelten kapitalistischen Gesellschaft tritt der Staat in doppelter Hinsicht als Hüter der Verteilung in Erscheinung, um zu verhindern, dass der Mehrwert vom Proletariat aufgefressen wird, und um dafür zu sorgen, dass er in Form von Industrie- und Handelsgewinnen, Zinsen, Mieten usw. auf die verschiedenen kapitalistischen Sphären verteilt wird.

These 5

Demokratie impliziert also die Existenz von Individuen, von Klassen und des Staates; Demokratie ist also gleichzeitig eine Regierungsform, eine Form der Herrschaft einer Klasse und der Mechanismus der Vereinigung und Versöhnung.

In der Tat spalten ökonomische Prozesse an ihrem Ursprung die Menschen (Prozess der Enteignung), die in der primitiven Gemeinschaft vereint waren. Die alten sozialen Beziehungen werden dadurch zerstört. Das Gold wird zu einer realen Macht, die die Autorität der Gemeinschaft ersetzt. Materielle Antagonismen bringen die Menschen so gegeneinander auf, dass sie die Gesellschaft zum Explodieren bringen könnten und sie lebensunfähig machen. Die Demokratie erscheint als Mittel zur Versöhnung von Gegnern, als die politische Form, die am besten in der Lage ist, zu vereinen, was geteilt wurde. Sie stellt die Versöhnung zwischen der alten Gemeinschaft und der neuen Gesellschaft dar. Die mystifizierende Form liegt in der scheinbaren Wiederherstellung einer verlorenen Einheit. Die Mystifizierung war fortschrittlich.

Am entgegengesetzten Pol der Geschichte, in unseren Tagen, hat der ökonomische Prozess zur Vergesellschaftung der Produktion und der Menschen geführt. Die Politik hingegen neigt dazu, sie zu spalten und sie als bloße Tauschflächen für das Kapital zu erhalten. Die kommunistische Form gewinnt in der alten kapitalistischen Welt immer mehr an Macht. Die Demokratie erscheint als Versöhnung zwischen der Vergangenheit, die noch in unserer Gegenwart wirkt, und der Zukunft: der kommunistischen Gesellschaft. Die Mystifizierung ist reaktionär.

These 6

Es wird oft behauptet, dass in den Ursprüngen des Lebens unserer Spezies, im primitiven Kommunismus, Keime der Demokratie zu finden waren. Manche behaupten sogar, dass es Formen von ihr gab. Dabei wird jedoch übersehen, dass wir in der niederen Form Keime der höheren Form finden können, die sich sporadisch manifestiert. Diese „Demokratie“ trat unter genau definierten Umständen auf, nach deren Erfüllung es eine Rückkehr zur alten Organisationsform gab; zum Beispiel die Militärdemokratie in ihren Ursprüngen. Die Wahl des Anführers fand zu einem bestimmten Zeitpunkt und im Hinblick auf bestimmte Operationen statt. Sobald die Operationen abgeschlossen waren, wurde der Anführer wieder in die Gemeinschaft aufgenommen. Die Demokratie, die sich vorübergehend manifestierte, wurde wieder absorbiert. Dasselbe geschah mit den Formen des Kapitals, die Marx als prä-diluvianisch bezeichnete. Der Wucher ist die archaische Form des Geldkapitals, die sich in den alten Gesellschaften manifestieren konnte. Aber seine Existenz war prekär, weil die Gesellschaft sich gegen seine auflösende Kraft wehrte und ihn verbannte. Nur wenn der Mensch in eine Ware verwandelt wird, kann sich das Kapital auf einer soliden Grundlage entwickeln, ohne dass es wieder aufgesaugt werden kann. Die Demokratie kann sich erst ab dem Moment wirklich manifestieren, in dem die Menschen völlig gespalten sind und die Nabelschnur, die sie mit der Gemeinschaft verbindet, durchtrennt wurde, d.h. wenn es nur noch Individuen gibt.

Der Kommunismus mag sich manchmal in dieser Gesellschaft manifestieren, aber er wird immer wieder aufgesaugt. Er kann sich erst in dem Moment wirklich entwickeln, in dem die materielle Gemeinschaft zerstört wird.

These 7

Das demokratische Phänomen tritt in zwei historischen Perioden deutlich zutage: zur Zeit der Auflösung der Ur-Gemeinschaft in Griechenland und zur Zeit der Auflösung der Feudalgesellschaft in Westeuropa. Es ist unbestreitbar, dass das Phänomen in dieser zweiten Periode am stärksten in Erscheinung tritt, weil die Menschen wirklich auf den Zustand von Individuen reduziert wurden und weil die bisherigen sozialen Beziehungen sie nicht mehr zusammenhalten konnten. Die bourgeoise Revolution erscheint immer als eine Massenmobilisierung. Daher das bourgeoise Dilemma: wie kann man die Massen vereinen, sie halten und in den neuen Gesellschaftsformen fixieren? Daher auch die institutionelle Krankheit und die Entfesselung des Rechts in der bourgeoisen Gesellschaft. Die bourgeoise Revolution ist sozial mit einer politischen Seele.

In der kommunistischen Revolution werden die Massen bereits durch die kapitalistische Gesellschaft organisiert sein. Sie werden nicht nach neuen Organisationsformen suchen, sondern ein neues kollektives Wesen, die menschliche Gemeinschaft, aufbauen. Das wird deutlich, wenn die Klasse als historisches Wesen handelt, wenn sie sich als Partei konstituiert.

Innerhalb der kommunistischen Bewegung wird oft festgestellt, dass die Revolution kein Problem der Organisationsformen ist. Für die kapitalistische Gesellschaft ist im Gegenteil alles ein Organisationsproblem. Am Anfang ihrer Entwicklung spiegelt sich das in der Suche nach guten Institutionen wider, am Ende in der Suche nach den Strukturen, die am besten geeignet sind, die Menschen in die Gefängnisse des Kapitals zu sperren: der Faschismus. Bei beiden Extremen steht die Demokratie im Mittelpunkt der Suche: zuerst die politische Demokratie, dann die soziale Demokratie.

These 8

Die Mystifizierung ist kein Phänomen, das von den Menschen der herrschenden Klasse gewollt ist, sie ist kein von ihnen erfundener Betrug. Wenn es so wäre, würde eine einfache Propaganda ausreichen, um es aus den Gehirnen der Menschen zu entfernen. In Wirklichkeit entsteht es in den Tiefen der sozialen Struktur, in den sozialen Beziehungen.

Daß ein gesellschaftliches Produktionsverhältnis sich als ein außer den Individuen vorhandener Gegenstand und die bestimmten Beziehungen, die sie im Produktionsprozeß ihres gesellschaftlichen Lebens eingeben, sich als spezifische Eigenschaften eines Dings darstellen, diese Verkehrung und nicht eingebildete, sondern prosaisch reelle Mystifikation charakterisiert alle gesellschaftlichen Formen der Tauschwert setzenden Arbeit.“ Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie

Es ist daher notwendig zu erklären, in welchem Sinne die Wirklichkeit mystifiziert wird und wie diese Mystifizierung, die zunächst einfach ist, immer größer wird und mit dem Kapitalismus ihren Höhepunkt erreicht.

These 9

Die menschliche Gemeinschaft war ursprünglich der Diktatur der Natur unterworfen. Sie musste gegen die Natur kämpfen, um zu überleben. Die Diktatur ist direkt und unterjocht die Gemeinschaft als Ganzes.

Mit der Entwicklung der Klassengesellschaft präsentiert sich der Staat als Vertreter der Gemeinschaft und behauptet, den Kampf des Menschen gegen die Natur zu verkörpern. Aber angesichts der schwachen Entwicklung der Produktivkräfte ist die Diktatur der Produktivkräfte immer wirksam. Diese Diktatur ist indirekt, wird durch den Staat vermittelt und trifft in erster Linie die am meisten benachteiligten Bevölkerungsschichten. Wenn der Staat den Menschen definiert, nimmt er in Wirklichkeit den Menschen der herrschenden Klasse als Substrat seiner Definition. Die Mystifizierung ist total.

These 10

Im Kapitalismus haben wir eine erste Periode, in der die Bourgeoisie zwar die Macht ergriffen hat, das Kapital aber nur eine formale Herrschaft ausüben kann. Viele Überbleibsel der vorangegangenen gesellschaftlichen Formationen bestehen fort und behindern seine Herrschaft über die Gesellschaft als Ganzes. Es war die Zeit der politischen Demokratie, in der die individuelle Freiheit und der freie Wettbewerb propagiert wurden. Die Bourgeoisie präsentierte sie als Mittel zur Befreiung der Menschen. Das ist eine Mystifikation, denn „nicht die Individuen sind frei gesetzt in der freien Konkurrenz; sondern das Kapital ist frei gesetzt.“ (Karl Marx, Grundrisse) [und er fährt fort:].

Daher andrerseits die Abgeschmacktheit, die freie Konkurrenz als die letzte Entwicklung der menschlichen Freiheit zu betrachten; und Negation der freien Konkurrenz = Negation individueller Freiheit und auf individueller Freiheit gegründeter gesellschaftlicher Produktion. Es ist eben nur die freie Entwicklung auf einer bornierten Grundlage – der Grundlage der Herrschaft des Kapitals. Diese Art individueller Freiheit ist daher zugleich die völligste Aufhebung aller individuellen Freiheit und die völlige Unterjochung der Individualität unter gesellschaftliche Bedingungen, die die Form von sachlichen Mächten, ja von übermächtigen Sachen – von den sich beziehenden Individuen selbst unabhängigen Sachen annehmen.

Die Entwicklung dessen, was die freie Konkurrenz ist, ist die einzig rationelle Antwort auf die Verhimmlung derselben durch die Middleclasspropheten oder ihre Verteufelung durch die Sozialisten.“

These 11

Nach ihrem Sieg durch Waffen und Terror sind Demokratie und Parlamentarismus für die Bourgeoisie unverzichtbar, um eine in Klassen gespaltene Gesellschaft zu beherrschen.“ Battaglia comunista, Nr. 18 (1951)

Die Versöhnung war notwendig, um zu herrschen, da es unmöglich war, die Herrschaft allein durch Terror aufrechtzuerhalten. Nach der Machtergreifung durch Gewalt und Terror braucht das Proletariat keine Demokratie mehr, nicht weil die Klassen von einem Tag auf den anderen verschwinden, sondern weil das Proletariat keine Masken und keine Mystifikationen besitzt. Die Diktatur ist notwendig, um jede Möglichkeit der Wiederherstellung der gegnerischen Klasse zu verhindern. Außerdem ist der Zugang des Proletariats zum Staat seine eigene Negation als Klasse sowie die Negation anderer Klassen. Es ist der Beginn der Vereinheitlichung der Spezies, der Bildung der Gemeinschaft. Die Forderung nach Demokratie würde die Forderung nach einer Versöhnung zwischen den Klassen implizieren, was bedeuten würde, dass man bezweifelt, dass der Kommunismus die Lösung aller Antagonismen ist, dass er die Versöhnung des Menschen mit sich selbst ist.

These 12

Mit dem Kapital ist die ökonomische Bewegung nicht mehr von der sozialen Bewegung getrennt. Mit dem Kauf und Verkauf von Arbeitskraft findet die Vereinigung statt, aber auf der Grundlage der Unterwerfung des Menschen unter das Kapital. Letzteres konstituiert sich als materielle Gemeinschaft und es gibt keine Politik mehr, da das Kapital selbst die Sklaven organisiert.

Bis zu dieser historischen Phase gab es eine mehr oder weniger klare Trennung zwischen Produktion und Verteilung. Die politische Demokratie konnte als Mittel zur gerechteren Verteilung der Produkte gesehen werden. Aber wenn die materielle Gemeinschaft verwirklicht ist, sind Produktion und Verteilung untrennbar miteinander verbunden; die Erfordernisse der Zirkulation bedingen die Verteilung. Erstere ist nun nicht mehr etwas, das außerhalb der Produktion liegt, sondern im Gegenteil ein wesentliches Moment des Gesamtprozesses des Kapitals. Es ist also das Kapital selbst, das die Verteilung bedingt.

Alle Menschen erfüllen eine Funktion für das Kapital, die dessen Existenz im Wesentlichen voraussetzt. Als Gegenleistung für die Erfüllung dieser Funktion erhalten die Menschen eine bestimmte Verteilung der Produkte in Form von Lohn. Wir haben also eine soziale Demokratie. Die Einkommenspolitik ist ein Mittel zu diesem Zweck.

These 13

In der Periode der formalen Herrschaft des Kapitals (politische Demokratie) ist die Demokratie keine Organisationsform, die sich dem Kapital entgegenstellt, sondern ein Mechanismus, den die kapitalistische Klasse einsetzt, um die Gesellschaft zu beherrschen. Es ist die Zeit, in der alle gesellschaftlichen Kräfte um das gleiche Ergebnis kämpfen. Deshalb kann das Proletariat für eine gewisse Zeit auch auf diesem Terrain intervenieren. Andererseits entwickeln sich auch innerhalb derselben Klasse Gegensätze, zum Beispiel zwischen der Industrie- und der Finanzbourgeoisie. Das Parlament ist also der Schauplatz, an dem die verschiedenen Interessen aufeinanderprallen. Das Proletariat kann die parlamentarische Tribüne nutzen, um die demokratische Mystifizierung anzuprangern und das allgemeine Wahlrecht als Mittel zur Organisierung der Klasse einzusetzen.

Wenn das Kapital seine reale Herrschaft erreicht und sich als materielle Gemeinschaft konstituiert hat, ist das Problem gelöst: es hat sich des Staates bemächtigt. Die Eroberung des Staates von innen heraus ist keine Frage mehr, denn sie ist „nur eine Formalität, die hohe Vorliebe des Volkslebens, eine Zeremonie. Das konstituierende Element ist die gesetzlich sanktionierte Lüge von Verfassungsstaaten, die sagen, dass der Staat das Interesse des Volkes ist oder dass das Volk das Interesse des Staates ist.“ (Karl Marx)1

These 14

Der demokratische Staat vertritt die Illusion, dass der Mensch die Gesellschaft steuert – dass er das ökonomische Phänomen steuern kann – er verkündet den souveränen Menschen. Der faschistische Staat ist die Verwirklichung der Illusion – in diesem Sinne kann er als deren Negation erscheinen: der Mensch ist nicht souverän. Zugleich ist der faschistische Staat aus diesem Grund die reale, erklärte Form des kapitalistischen Staates: die absolute Herrschaft des Kapitals. Das gesellschaftliche Ganze konnte mit der Trennung zwischen Theorie und Praxis nicht leben. Die Theorie sagte: der Mensch ist souverän; die Praxis bestätigte: es ist das Kapital. Es gab nur eine Möglichkeit der Verzerrung, solange das Kapital die Gesellschaft nicht absolut beherrschte. Im faschistischen Staat unterwirft die Realität die Idee, um sie zu einer realen Idee zu machen. Im demokratischen Staat unterwirft die Idee die Realität, um sie zu einer imaginären Realität zu machen. Die Demokratie der Sklaven des Kapitals unterdrückt die Mystifizierung, um sie besser zu verwirklichen. Die Demokraten wollen ihr neue Kraft verleihen, wenn sie glauben, dass sie das Proletariat mit dem Kapital versöhnen können.

Die Gesellschaft hat das Wesen ihrer Unterdrückung gefunden – das, was die Dualität, die Wirklichkeits-Verzerrung des Denkens, beseitigt. Ihm muss das befreiende Wesen entgegengesetzt werden, das die menschliche Gemeinschaft repräsentiert: die kommunistische Partei.

These 15

Das erklärt, warum die meisten Theoretiker des 19. Jahrhunderts Etatisten waren. Sie glaubten, sie könnten soziale Probleme auf der Ebene des Staates lösen. Sie waren Mediatoren. Sie haben nicht verstanden, dass das Proletariat nicht nur den alten Staatsapparat zerstören, sondern auch einen neuen an seine Stelle setzen sollte. Viele Sozialisten glaubten, man könne den Staat von innen heraus erobern, Anarchisten glaubten, sie könnten ihn über Nacht abschaffen.

Die Theoretiker des 20. Jahrhunderts sind Korporativisten, weil sie denken, dass es nur darum geht, die Produktion zu organisieren, sie zu humanisieren, um alle Probleme zu lösen. Sie sind Immediatisten. Das ist ein indirektes Bekenntnis zur Gültigkeit der Theorie des Proletariats. Die Behauptung, dass es notwendig wäre, das Proletariat mit der ökonomischen Bewegung zu versöhnen, bedeutet anzuerkennen, dass nur auf diesem Terrain die Lösung entstehen kann. Dieser Immediatismus ergibt sich aus der Tatsache, dass die kommunistische Gesellschaft innerhalb des Kapitalismus selbst immer mächtiger wird. Es geht nicht darum, sie zu versöhnen, sondern darum, die Macht des Kapitals und seiner organisierten Kraft, des kapitalistischen Staates, zu zerstören, der das private Monopol aufrechterhält, wenn alle ökonomischen Mechanismen dazu tendieren, es zum Verschwinden zu bringen. Die kommunistische Lösung ist ein Mittelweg. Die Realität scheint den Staat zu verbergen, es ist notwendig, ihn aufzuzeigen und gleichzeitig auf die Notwendigkeit eines anderen Übergangsstaates hinzuweisen: die Diktatur des Proletariats.

These 16

Der Übergang zur sozialen Demokratie war von Anfang an deutlich:

Solange die Macht des Geldes nicht das Band der Dinge und Menschen war, mussten die sozialen Beziehungen politisch und religiös organisiert werden.“ Karl Marx2

Marx prangerte stets die politische Überheblichkeit an und legte die wirklichen Verhältnisse offen:

Die Naturnotwendigkeit also, die menschlichen Wesenseigenschaften, so entfremdet sie auch erscheinen mögen, das Interesse halten die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft zusammen, das bürgerliche und nicht das politische Leben ist ihr reales Band.“ Karl Marx, Die heilige Familie

„Eben das Sklaventum der bürgerlichen Gesellschaft ist dem Schein nach die größte Freiheit, weil die scheinbar vollendete Unabhängigkeit des Individuums, welches die zügellose, nicht mehr von allgemeinen Banden und nicht mehr vom Menschen gebundne Bewegung seiner entfremdeten Lebenselemente, wie z.B. des Eigentums, der Industrie, der Religion etc., für seine eigne Freiheit nimmt, während sie vielmehr seine vollendete Knechtschaft und Unmenschlichkeit ist. An die Stelle des Privilegiums ist hier das Recht getreten.“ Karl Marx, Die Heilige Familie

Die Problematik der Demokratie wiederholt lediglich in anderer Form den trügerischen Gegensatz zwischen Wettbewerb und Monopol. Die materielle Gemeinschaft vereinigt beide. Mit dem Faschismus = soziale Demokratie werden auch Demokratie und Diktatur integriert. Deshalb ist sie ein Mittel zur Überwindung der Anarchie.

„Die Anarchie ist das Gesetz der von den gliedernden Privilegien emanzipierten bürgerlichen Gesellschaft, und die Anarchie der bürgerlichen Gesellschaft ist die Grundlage des modernen öffentlichen Zustandes, wie der öffentliche Zustand wieder seinerseits die Gewähr dieser Anarchie ist. So sehr sich beide entgegengesetzt sind, so sehr bedingen sie sich wechselseitig.“ Karl Marx, Die Heilige Familie

These 17

Jetzt, da die bourgeoise Klasse, die die Revolution angeführt hat, die die Entwicklung des Kapitals ermöglicht hat, verschwunden ist und durch die kapitalistische Klasse ersetzt wurde, die vom Kapital und seinem Verwertungsprozess lebt, jetzt, da die Herrschaft des Kapitals gesichert ist (Faschismus) und daher keine politische Schlichtung mehr nötig ist, weil sie oberflächlich ist, sondern eine ökonomische Schlichtung (Korporativismus, Doktrin der Bedürfnisse…), sind es die Mittelklassen, die zu Unterstützern der Demokratie werden. Doch je mehr der Kapitalismus gestärkt wird, desto mehr schwindet die Illusion, die Führung mit dem Kapital teilen zu können. Alles, was bleibt, ist die Forderung nach sozialer Demokratie, der politische Schein: demokratische Planung, Vollbeschäftigung… Indem die kapitalistische Gesellschaft jedoch soziale Sicherheit schafft und versucht, Vollbeschäftigung aufrechtzuerhalten, verwirklicht sie die fragliche soziale Demokratie: die der Sklaven des Kapitals.

Mit der Entwicklung der neuen Mittelklassen wird die Forderung nach Demokratie – nur – als Kommunismus dargestellt.

These 18

Was oben gesagt wurde, bezieht sich auf den euro-amerikanischen Raum und gilt nicht für alle Länder, in denen lange Zeit die asiatische Produktionsweise vorherrschte (Asien, Afrika) und in denen diese Produktionsweise immer noch vorherrscht (zum Beispiel Indien). In diesen Ländern ist das Individuum nicht produziert worden. Das Privateigentum ist zwar entstanden, aber es ist nicht autonom geworden, und das gilt auch für das Individuum. Das hängt mit den geo-sozialen Bedingungen dieser Länder zusammen und erklärt, warum sich der Kapitalismus nicht entwickeln kann, solange er sich nicht als Gemeinschaft konstituiert hat. Mit anderen Worten: erst wenn dieses Stadium erreicht ist, kann der Kapitalismus die alte Gemeinschaft ablösen und große Gebiete erobern. In diesen Ländern können sich die Menschen nicht so verhalten wie im Westen, und die politische Demokratie ist zwangsläufig ausgeschlossen. Wir können höchstens eine soziale Demokratie haben.

Deshalb finden wir in den Ländern, die am stärksten von der kapitalistischen Durchsetzung geprägt sind, ein doppeltes Phänomen: eine Versöhnung zwischen der realen Bewegung und der primitiven Gemeinschaft und eine weitere Versöhnung mit der zukünftigen Gemeinschaft: den Kommunismus. Daher die Schwierigkeit, diese Gesellschaften zu verstehen.

Mit anderen Worten: ein großer Teil der Menschheit kennt die demokratische Mystifizierung, wie der Westen sie kennt, nicht. Das ist eine positive Tatsache für die zukünftige Revolution.

Was Russland betrifft, so haben wir einen Zwischenfall. Hier hatte der Kapitalismus enorme Schwierigkeiten, sich zu etablieren. Dafür war eine proletarische Revolution notwendig. Auch hier hatte die westliche politische Demokratie keinen Raum, sich zu entwickeln, und wir können sehen, dass sie sich nicht entfalten konnte. Wir haben, wie heute im Westen, die soziale Demokratie. Leider hat auch dort die Konterrevolution Gift in Form der proletarischen Demokratie gebracht, und für viele ist die Ursache dafür, die Involution der Revolution, dass sie nicht verwirklicht wurde.

Die kommunistische Bewegung wird ihren Marsch fortsetzen, indem sie diese Tatsachen anerkennt und ihnen ihre ganze Bedeutung beimisst. Das Proletariat wird sich als Klasse und damit als Partei neu konstituieren und den engen Rahmen aller Klassengesellschaften hinter sich lassen. Die menschliche Spezies wird endlich in der Lage sein, sich zu vereinen und ein einziges Wesen zu bilden.

These 19

Alle historischen Formen der Demokratie entsprechen Phasen der Entwicklung, in denen die Produktion begrenzt war. Die verschiedenen Revolutionen, die aufeinander folgten, waren Teilrevolutionen. Ohne die Ausbeutung einer Klasse war eine ökonomische Entwicklung, ein Fortschreiten, unmöglich. Wir können sehen, dass diese Revolutionen seit der Antike zur Emanzipation einer wachsenden Masse von Menschen beigetragen haben. Daher die Idee, dass wir uns auf die perfekte Demokratie zubewegen, d.h. eine Demokratie, die alle Menschen zusammenbringt. Deshalb sind viele schnell dabei, die Gleichsetzung zu behaupten: Sozialismus = Demokratie. Es stimmt, dass mit der kommunistischen Revolution und der Diktatur des Proletariats eine größere Masse von Menschen als zuvor in das Feld dieser idealen Demokratie eintritt; dass das Proletariat durch die Verallgemeinerung seines proletarischen Zustands auf die gesamte Gesellschaft die Klassen beseitigt und die Demokratie verwirklicht – im Manifest heißt es, dass die Revolution die Eroberung der Demokratie ist. Es ist jedoch unabdingbar, hinzuzufügen, dass dieser Schritt zur Grenze, diese Verallgemeinerung, gleichzeitig die Zerstörung der Demokratie ist. Denn gleichzeitig wird die menschliche Masse nicht auf eine einfache Summe von Individuen reduziert, die alle rechtlich gleich sind, sondern in der Tat. Dies kann nur die Realität eines kurzen Moments in der Geschichte aufgrund einer erzwungenen Gleichstellung sein. Die Menschheit wird zu einem kollektiven Wesen, dem Gemeinwesen. Dieses wird außerhalb des demokratischen Phänomens geboren, und es ist das als Partei konstituierte Proletariat, das es an die Gesellschaft weitergeben wird. Wenn wir uns in die zukünftige Gesellschaft begeben, wird es nicht nur eine quantitative, sondern auch eine qualitative Veränderung geben. Die Demokratie „ist das antimarxistische Reich dieser Quantität, die ewig unfähig ist, sich in Qualität zu verwandeln“ (Amadeo Bordiga, A.d.Ü., 2005). Die Demokratie für die postrevolutionäre Gesellschaft zu beanspruchen, bedeutet, ihre Ohnmacht zu beanspruchen. Andererseits ist die kommunistische Revolution nicht länger eine partielle Revolution. Sie markiert das Ende der progressiven Emanzipation und die Verwirklichung der radikalen Emanzipation. Das bedeutet auch einen Qualitätssprung.

These 20

Die Demokratie basiert auf einem Dualismus und ist das Mittel, diesen zu überwinden. Die Demokratie löst den Dualismus zwischen Geist und Materie, der dem zwischen großen Menschen und Massen entspricht, durch die Delegation von Befugnissen auf; den zwischen Staatsbürger und Mensch, durch den Stimmzettel, das allgemeine Wahlrecht. Unter dem Vorwand, die Realität des totalen Seins zu erreichen, wird die Souveränität des Menschen an den Staat delegiert. Der Mensch wird von seiner menschlichen Macht losgelöst.

Die Gewaltenteilung braucht ihre Einheit und diese wird immer durch den Verstoß gegen eine Verfassung erreicht. Diese findet ihre Grundlage in der Trennung zwischen der faktischen Situation und der rechtlichen Situation. Der Übergang vom einen zum anderen wird durch Gewalt sichergestellt.

Das demokratische Prinzip ist in Wirklichkeit nichts anderes als die Akzeptanz einer Tatsache: die Spaltung der Wirklichkeit, der mit der Klassengesellschaft verbundene Dualismus.

These 21

Es wird sehr oft behauptet, der Demokratie im Allgemeinen, die ein leeres Konzept wäre, eine Form der Demokratie entgegenzusetzen, die der Schlüssel zur menschlichen Emanzipation wäre. Aber was kann etwas sein, dessen Besonderheit nicht nur im Widerspruch zu seinem allgemeinen Konzept steht, sondern dessen Negation sein muss? Eine bestimmte Demokratie (z. B. die proletarische) zu theoretisieren, bedeutet in der Tat, den qualitativen Sprung zu umgehen. Denn entweder steht die betreffende demokratische Form wirklich im Widerspruch zum allgemeinen Konzept und ist daher etwas anderes – warum dann Demokratie – oder sie ist mit diesem Konzept vereinbar und kann nur einen quantitativen Widerspruch aufweisen (z. B. eine größere Anzahl von Menschen umfassen), und in diesem Fall überschreitet sie die Grenzen nicht, auch wenn sie dazu neigt, sie zu verwerfen.

Diese These taucht oft in der Form auf: die proletarische Demokratie ist nicht die bourgeoise Demokratie, und man spricht von direkter Demokratie, um zu zeigen, dass, wenn die letztere einen Schnitt, eine Dualität (Delegation der Macht) erfordert, die erstere sie verweigert. Die zukünftige Gesellschaft wird dann als die Verwirklichung der direkten Demokratie definiert.

Dies ist nur die negative Negation der bourgeoisen Gesellschaft und keine positive Negation. Außerdem soll der Kommunismus durch eine Organisationsform definiert werden, die für verschiedene menschliche Erscheinungsformen besser geeignet ist. Aber Kommunismus ist die Bejahung eines Wesens, des wahren Gemeinwesens des Menschen. Die direkte Demokratie würde als Mittel zur Verwirklichung des Kommunismus erscheinen. Aber der Kommunismus braucht keine solche Vermittlung. Kommunismus ist keine Frage des Habens und Tuns, sondern eine Frage des Seins.


1A.d.Ü., wir haben diese Stelle gesucht, aber da wir nicht wissen aus welchen Werk und nichts ähnliches gefunden haben, haben wir es aus dem spanischen so Übersetzt, was mit absoluter Sicherheit nicht mit dem Originaltext sich überschneidet.

2A.d.Ü., wie bei Fußnote Nummer Drei.

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