Karl Korsch – Soligruppe für Gefangene https://panopticon.blackblogs.org Für die Anarchie! Knäste, Staat, Patriarchat und Kapital abschaffen! Tue, 07 May 2024 18:28:40 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.1 https://panopticon.blackblogs.org/wp-content/uploads/sites/1233/2020/02/cropped-discharge-degenerik-blog-1-32x32.jpg Karl Korsch – Soligruppe für Gefangene https://panopticon.blackblogs.org 32 32 (1932/1938) Karl Korsch, Zur Geschichte der marxistischen Ideologie in Rußland https://panopticon.blackblogs.org/2024/04/03/1932-1938-karl-korsch-zur-geschichte-der-marxistischen-ideologie-in-russland/ Wed, 03 Apr 2024 09:26:32 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5630 Continue reading ]]>

Gefunden auf marxists.org, es gibt selten bessere Texte als wenn Kommunisten und Kommunistinnen selbst den Leninismus kritisieren.


(1932/1938) Karl Korsch, Zur Geschichte der marxistischen Ideologie in Rußland

In: Gegner (Berlin), 6. Jg., Nr.3 (5.2.1932), S.9-12.
Erweiterte englische Fassung in: Living Marxism, Chicago, Bd.4, Nr.2 (März 1938). S.44-50
Deutsche Übersetzung des Anhanges: Joachim Perels.1

Es handelt sich um ein besonders deutliches Beispiel für jenen frappierenden Widerspruch, welcher in der einen oder anderen Form in allen Phasen der geschichtlichen Entwicklung des Marxismus bemerkbar ist. Er ist zu charakterisieren als der Widerspruch zwischen der marxistischen Ideologie einerseits und der unter dieser ideologischen Verkleidung jeweils verborgenen wirklichen geschichtlichen Bewegung andererseits.

[Es ist fast ein Jahrhundert her, seit ein besonderer von Berlin bestellter Zensor, der den lokalen Regierungsstellen in Köln die schwierige Aufgabe abnehmen sollte, mit dem „ultra-demokratischen“ Presseerzeugnis des 24 Jahre alten Karl Marx fertig zu werden, der preußischen Regierung berichtete, daß der Rheinischen Zeitung gefahrlos ihr Weitererscheinen erlaubt werden könne, nachdem der „Spiritus Rector des ganzen Unternehmens, Dr. Marx“ sich endgültig aus seiner Position zurückgezogen habe; es gebe keine Möglichkeit einen Nachfolger zu finden, der in der Lage wäre, die „abstoßende Dignität“ zu erreichen, die diese Zeitung bis jetzt ausgezeichnet habe, oder „ihre Politik mit Energie fortsetzen könne“. Dieser Ratschlag wurde jedoch von den preußischen Regierungsstellen nicht befolgt. Sie wurden in dieser Angelegenheit, wie inzwischen bekannt geworden ist, vom russischen Zar Nikolaus 1. bestimmt, dessen Vizekanzler, Graf Nesselrode, dem preußischen Botschafter in Moskau androhte, „den infamen Angriff, den die in Köln erscheinende Rheinische Zeitung kürzlich gegen das russische Kabinett richtete“ vor die Augen Seiner Kaiserlichen Majestät zu bringen. Das geschah in Preußen 1843.

[Drei Jahrzehnte später gestatteten die Zensurbehörden des zaristischen Rußlands ausdrücklich die Veröffentlichung von Marx Werk in Rußland – die erste Übersetzung des Kapitals, die jemals in einer anderen als der deutschen Sprache erschien. Die Entscheidung wurde mit diesem erhellenden Argument begründet: „Obgleich die politischen Überzeugungen des Autors vollkommen sozialistisch sind und obgleich das ganze Buch einen deutlichen sozialistischen Charakter trägt, ist die Form der Darstellung gewiß nicht so beschaffen, daß das Buch allen offen steht; hinzukommt, daß das Buch in einem strengen mathematisch wissenschaftlichen Stil geschrieben ist, so daß die Untersuchungsbehörde das Buch von der gerichtlichen Verfolgung ausnimmt.“

[Das zaristische Regime, das so eifrig auch den geringsten, von jedem europäischen Land ausgehenden Angriff gegen die russische Vorherrschaft unterdrückte, und das äußerst sorglos die Gefahren von Marx wissenschaftlicher Bloßstellung der kapitalistischen Welt als ganzer hinnahm, wurde tatsächlich nie berüht von den scharfen Angriffen von Marx, die er in seiner späteren Laufbahn gegen die „ungeheuerlichen, auf keinen Widerstand stoßenden Übergriffe dieser barbarischen Macht, deren Kopf St. Petersburg ist und deren Hände in jedes Kabinett Europas dringen“, richtete. Diese Macht sollte jedoch jener offensichtlich nur entfernten Drohung erliegen, die sich in dem trojanischen Pferd verborgen hielt, dem unachtsam der Zugang zu dem Gebiet es heiligen Zarenreiches eröffnet worden war. Dieses Reich wurde schließlich überrannt von der Masse der russischen Arbeiter, deren Vorhut ihre revolutionäre Lektion von jenem „mathematisch wissenschaftlichen“ Werk eines einsamen Denkers gelernt hatte: dem Kapital.]

Anders als im Westen, wo die marxistische Theorie in der abschließenden Periode der bürgerlichen Revolution entstanden ist und eine real bereits vorhandene Tendenz zur Überschreitung der Ziele der bürgerlich-revolutionären Bewegung, die Tendenz der durch die kapitalistische Entwicklung selbst erzeugten und über sie hinausstrebenden proletarischen Klasse zum Ausdruck brachte, was in dem vorkapitalistischen Rußland der sechziger Jahre der von der gesamten fortschrittlichen Intelligenz begierig als das letzte Wort Europas aufgenommene „Marxismus“ von Anfang an eine von außen angenommene Ideologie. Und mit einer erstaunlichen Prägnanz erwies sich nun auch an dieser marxistischen Ideologie die Wahrheit jenes kritisch materialistischen Prinzips, welches von Marx und Engels in der revolutionären Sturm- und Drangperiode der vierziger Jahre als ein allgemeines Prinzip für die Beurteilung aller geschichtlichen Ideologien aufgestellt worden war. Die wirkliche Geschichte korrigierte die dogmatische Einseitigkeit, mit der schon Marx und Engels selbst, und erst recht ihre mehr oder weniger „orthodoxen“ Epigonen, dieses kritische Prinzip immer nur gegenüber den gegnerischen Ideologien und andernfalls noch gegenüber den innerhalb der marxistischen Schule von der jeweils kanonisierten „reinen Lehre“ abweichenden Lehrmeinungen geltend gemacht hatten. Das kritisch-materialistische Prinzip des Marxismus erwies sich als gültig auch gegenüber der marxistischen Ideologie selbst: „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. […] So wenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, das es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr das Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären.“2

Sieht man von allen ideologischen Verkleidungen ab, unter denen sich die verschiedenen Generationen und die verschiedenen einander bekämpfenden Richtungen des russischen Marxismus den in der wirklichen gesellschaftlichen Entwicklung ihres Landes ausgebrochenen Konflikt zum Bewußtsein gebracht und ihn ausgefochten haben, so bleibt die nackte Tatsache übrig, daß der russische Marxismus in all seinen Entwicklungsphasen und in allen seinen Richtungen von Anfang an weiter nichts gewesen ist, als die ideologische Form für den materiellen Kampf um die Durchsetzung der kapitalistischen Entwicklung im zaristisch-feudalistischen Rußland.

Die im Westen bereits voll entwickelte bürgerliche Gesellschaft bedurfte zu ihrem geschichtlichen Durchbruch im Osten eines neuen ideologischen Kostüms, weil sie sich für die Durchsetzung ihrer materiellen Ziele hier nicht noch einmal jener geschichtlich bereits verbrauchten Illusionen und Selbsttäuschungen bedienen konnte, mit denen sie in ihrer ersten heroischen Durchbruchsphase im Westen den bürgerlich beschränkten Inhalt ihrer Entwicklungskämpfe sich selbst verborgen und ihre Leidenschaft auf der Höhe der großen geschichtlichen Tragödie gehalten hatte. Und die vom Westen übernommene marxistische Ideologie konnte der bürgerlichen Umwälzung in Rußland diesen Dienst erweisen, weil sie – im Gegensatz zu der bodenständigen russischen Ideologie des revolutionären Volkstümlertums – aus ihren eigenen geschichtlichen Entstehungsbedingungen heraus die kapitalistische Zivilisation als die unter allen Umständen notwendige historische Durchgangsstufe für Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaft voraussetzte.

Jedoch bedurfte die marxistische Lehre, um der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft in Rußland solche ideologischen Geburtshelferdienste leisten zu können, auch in ihrem ideologisch-theoretischen Inhalt einiger Umformungen. Hier liegt die Wurzel für die sonst schwer erklärlichen theoretischen Konzessionen, die Marx und Engels in den siebziger und achtziger Jahren an die ihrem Wesen nach mit der marxistischen Theorie völlig unvereinbare Ideologie des russischen Volkstümlertums gemacht haben und die ihren letzten zusammenfassenden Ausdruck in dem bekannten Orakelspruch des Vorworts zur zweiten russischen Übersetzung des Kommunistischen Manifests von I882 gefunden haben:

Das Kommunistische Manifest hatte zur Aufgabe, die unvermeidlich bevorstehende Auflösung des modernen bürgerlichen Eigentums zu proklamieren. In Rußland aber finden wir, gegenüber rasch aufblühendem kapitalistischen Schwindel und sich eben erst entwickelndem bürgerlichen Grundeigentum, die größere Hälfte des Bodens im Gemeinbesitz der Bauern. Es fragt sich nun: Kann die russische Obschtschina, eine wenn auch stark untergrabene Form des uralten Gemeinbesitzes am Boden, unmittelbar in die höhere des kommunistischen Gemeinbesitzes übergehen? Oder muß sie umgekehrt vorher denselben Auflösungsprozeß durchlaufen, der die geschichtliche Entwicklung des Westens ausmacht? Die einzige Antwort hierauf, die heutzutage möglich, ist die: Wird die russische Revolution das Signal einer proletarischen Revolution im Westen, so daß beide einander ergänzen, so kann das jetzige russische Gemeineigentum am Boden zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen.3

In diesen Sätzen von Marx und in den zahlreichen ähnlichen Äußerungen von Marx und Engels, die sich um dieselbe Zeit in ihrem Briefwechsel, besonders in den Briefen an den russischen volkstümlerischen Theoretiker Nikolai-on, in dem Brief an Vera Sassulitsch und in der Erwiderung an Michailowski4 vorfinden, ist in einem gewissen Sinne schon die ganze spätere Entwicklung des russischen Marxismus und vor allem auch der immer weiter auseinanderklaffende Widerspruch zwischen der Ideologie und dem wirklichen geschichtlichen Inhalt dieser Entwicklung vorweggenommen.

Mögen auch Marx und Engels, ganz ähnlich wie später unter weiterentwickelten, aber sonst analogen Verhältnissen der Marxist Lenin, die vorsichtige Bedingung hinzufügen, daß nur zusammen mit einer durch sie ausgelösten Arbeiterrevolution im Westen die russische Revolution aus dem vorkapitalistischen Zustand unter Überspringung der kapitalistischen Entwicklung unmittelbar zum sozialistischen Zustand übergehen könne, mag auch der russische „Mir“, dem Marx noch im Jahre 1882 eine solche gewaltige zukünftige Rolle bedingungsweise zugesprochen hat, in den folgenden Jahrzehnten spurlos verschwunden sein, so können doch auch noch die heutigen Ideologen der „marxistisch-leninistischen“ Theorie des „Aufbaus des Sozialismus in einem Lande“ sich für ihren Mißbrauch des Marxismus als ideologische Verschleierung einer in ihrer wirklichen Tendenz kapitalistischen Entwicklung nicht nur auf den orthodoxen Marxisten Lenin, sondern auch auf Marx und Engels berufen. Auch Marx und Engels waren unter bestimmten Bedingungen bereit, ihre kritisch-materialistische „marxistische“ Theorie zugunsten einer revolutionären Bewegung im Osten durch entsprechende Modifikationen zu der bloßen ideologischen Verkleidung einer angeblich sozialistischen, aber ihrem wirklichen Wesen nach bürgerlichen beschränkten revolutionären Bewegung umzuformen.

So beginnt also jener eigentümliche geschichtliche Funktionswandel, durch den sich der von den russischen Revolutionären „rezipierte“ Marxismus in der weiteren Entwicklung aus dem theoretischen Ausdruck einer proletarisch-sozialistischen Revolutionsbewegung in die „sozialistische“ Ideologie einer bürgerlich-kapitalistischen Aufbaubewegung verwandelt hat, und die hierzu erforderliche auch theoretische Metamorphose der ursprünglich mehr oder weniger „orthodox“ rezipierten marxistischen Lehre selbst im Wege einer gegenseitigen Durchdringung und Verschmelzung volkstümlerischer und marxistischer ideologischer Elemente tatsächlich schon zu Lebzeiten und unter bewußter und aktiver Mitarbeit von Marx und Engels selbst. Sie wollten mit ihren Konzessionen an das revolutionäre russische Volkstümlertum die zeitweise Umbildung ihrer „marxistischen“ Theorie zu einem revolutionären Mythos zulassen, und sie taten damit, da die von ihnen damals erwartete „russische Revolution“ und dadurch ausgelöste „Arbeiterrevolution im Westen“ in den achtziger Jahren tatsächlich ausblieb, in Wirklichkeit den ersten Schritt zu der dauernden Umformung ihrer revolutionären Theorie in eine für die wirkliche revolutionäre Entwicklung letzten Endes hemmende und schädliche bloße Ideologie.

Es ist ein merkwürdiges Schauspiel, wie sich nun dieser geschichtliche Prozeß der ideologischen Entartung der marxistischen Theorie in Rußland in allen folgenden Phasen der Entwicklung bis zum heutigen Tage immer weiter fortgesetzt hat. Schon in jenen heftigen Auseinandersetzungen über die Perspektive der kapitalistischen Entwicklung in Rußland, die die nächste Entwicklungsphase, von den neunziger Jahren bis zum Ausbruch der russischen Revolution, erfüllen und ihren wichtigsten theoretischen Niederschlag in dem ökonomischen Hauptwerk Lenins, Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland5 gefunden habe“, wurde im Grunde von keiner Seite mehr die marxistische Theorie als theoretischer Ausdruck einer proletarisch-sozialistischen Bewegung vertreten.

Selbstverständlich nicht von den sogenannten „legalen Marxisten“, die in ähnlicher Weise wie in der nächsten Periode die menschewistischen Theoretiker der russischen sozialdemokratischen Partei und der sozialdemokratische Marxismus in den westlichen Ländern, zwar in der Theorie ein kleineres oder größeres Stück der marxistischen Lehre in unverfälschter „Reinheit“ konservierten, dafür aber in ihrer Praxis alle über die bürgerlichen Zielsetzungen hinausgehenden Konsequenzen des marxistischen Prinzips preisgaben. Aber auch nicht von den beiden anderen Richtungen, die damals in der einen oder anderen Form die Anerkennung der transitorischen Notwendigkeit der kapitalistischen Entwicklung in Rußland mit einer wirklichen Verneinung und Bekämpfung des durch diese Entwicklung geschaffenen Zustandes zu vereinen gesucht haben. Das war auf der einen Seite besonders der marxistisch geschulte Narodnik Nikolai-on, der Anfang der neunziger Jahre von der orthodoxen volkstümlerischen Theorie der Unmöglichkeit des Kapitalismus in Rußland überging zu der marxistisch revidierten volkstümlerischen Theorie von der Unmöglichkeit einer normalen und organischen Entwicklung des Kapitalismus in Rußland.6 Das war andererseits sein großer geschichtlicher Widersacher, der orthodoxe Marxist W.I. Lenin und die ganze an ihn anschließende, in ihrer Theorie und Praxis angeblich streng orthodoxe Bewegung des bolschewistischen Marxismus.

Es besteht für uns, wenn wir von unserem heute gewonnenen Erfahrungsstandpunkt auf die theoretischen Auseinandersetzungen jener früheren Entwicklungsphase zurückblicken, ein ganz offenbarer Zusammenhang zwischen der volkstümlerischen Theorie von der „Unmöglichkeit“ einer normalen und organischen Entwicklung des Kapitalismus in Rußland, wie sie in jener Periode vom marxistischen Narodnik Nikolai-on vertreten und damals von den Marxisten aller Richtungen, den „legalen“ wie den „revolutionären“, bekämpft worden ist, und den beiden scheinbar diametral entgegengesetzten Theorien, die sich heute im Lager des sowjetrussischen Marxismus als herrschender „Stalinismus“ und oppositioneller „Trotzkismus“ gegenüberstehen. Sowohl die heute herrschende neu-leninistische These Stalins über die Möglichkeit des Aufbaus des Sozialismus in einem Lande, als auch, paradoxerweise, die diesem stalinistischen „Nationalsozialismus“ von dem Internationalisten Trotzki entgegengestellte These der „permanenten“, d.h. über die Verwirklichung der bürgerlichen Revolutionsziele im russischen und zugleich im europäischen bzw. im Weltmaßstab hinaus sofort zur Verwirklichung des Sozialismus übergehenden Revolution, beruhen auf der gemeinsamen ideologischen Grundlage einer neu-narodnikischen Verneinung der Möglichkeit einer normalen und organischen Entwicklung des Kapitalismus in Rußland.

Aber auch der orthodoxeste unter den orthodoxen Marxisten, zugleich der entschiedenste und geschichtlich entschiedenste Vertreter des russischen Marxismus, Lenin, hat den erbitterten Kampf, den er sowohl in der vorrevolutionären Periode gegen das Nikolai-onsche Narodnikotum und gegen die Parvus-Trotzkische Theorie der permanenten Revolution, als auch nach dem Oktober gegen die von den Theoretikern des sogenannten „Kriegskommunismus“ unternommene „sozialistische“ Idealisierung einer in Wirklichkeit noch keineswegs sozialistischen Tendenz geführt hat, am Ende damit beschlossen, daß er in einem entscheidenden Augenblick gegen die Wirklichkeit, für den Mythos und damit zugleich für die endgültige Ideologisierung der marxistischen Theorie in Rußland optiert hat.7

Es war nicht erst der leninistische Epigone Stalin, sondern der orthodoxe Marxist Lenin, der an jenem historischen Wendepunkt der revolutionären Entwicklung, wo er mit dem Übergang zur „NEP“ die bis dahin unentschiedene Tendenz der russischen Revolution praktisch entschieden auf die bürgerlichen Zielsetzungen beschränkte, zugleich die für die Vollziehung dieser Beschränkung unentbehrliche ideologische Ergänzung hinzufügte. Es war der orthodoxe Marxist Lenin, der um die Jahreswende 1920/21 vollkommen bewußt entgegen all seinen früheren Erklärungen den neuen marxistischen Mythos von dem an sich sozialistischen Charakter des Sowjetstaates und der dadurch grundsätzlich garantierten Möglichkeit der Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaft in Sowjetrußland aufgestellt hat.8 Mit dieser Entartung der ursprünglich revolutionären Theorie von Marx und Engels zu einer förmlichen Staatsreligion, zu der ideologischen Rechtfertigung eines in seiner tatsächlichen Entwicklungstendenz kapitalistischen und die revolutionäre Bewegung des Proletariats unterdrückenden Staates, hat die Geschichte der marxistischen Ideologie in Rußland ihren vorläufigen Abschluß erreicht. Hinter dieser Feststellung aber erhebt sich die allgemeine und tiefergehende Frage, in welchem Verhältnis diese besondere geschichtliche Entwicklung des Marxismus in Rußland zu der allgemeinen geschichtlichen Entwicklung des Marxismus steht. Nicht nur in Rußland, sondern in anderen Formen auch im Westen hat sich der Marxismus in seiner neueren Entwicklung aus einer revolutionären Theorie und Praxis immer mehr in eine bloße Ideologie umgewandelt, die von der praktischen Bewegung zwar in Worten anerkannt, aber in der Tat verleugnet wird. Sollte also ein west- europäischer Marxist über den „ideologischen“ Charakter des russischen Marxismus pharisäisch die Achseln zucken oder sich optimistisch damit beruhigen, daß im Westen die Sache noch lange nicht so schlimm stehe, so müßte man ihm das Wort zurufen, welches einst Karl Marx mit Bezug auf die von ihm im Kapital geschilderten Zustände der englischen Industrie- und Ackerbauarbeiter den deutschen Lesern zurief: „De te fabule narratur!“9

Anhang

Neufassung des Schlußteils

(1938)

Trotzki wie Stalin gründeten ihre Version der marxistischen Ideologie auf die Autorität Lenins. Tatsächlich hat sogar der orthodoxeste unter den orthodoxen Marxisten, der vor dem Oktober 1917 einen erbitterten Kampf sowohl gegen das Nikolai-onsche Narodnikotum wie gegen die Parvus-Trotzkische Theorie der „permanenten Revolution“ führte, und der in gleicher Weise höchst konsequent sich den nach dem Oktober vorherrschenden Tendenzen widersetzte, die mageren Errungenschaften des später so genannten „Kriegskommunismus“ von 1918-1920 zu glorifizieren, diesen lebenslangen Kampf für kritisch-revolutionären Realismus beschlossen, indem er in einem entscheidenden Augenblick das neo-populistische Konzept eines selbstgemachten russischen Sozialismus entgegen den aktuell vorherrschenden Bedingungen aufrechterhielt. Innerhalb weniger Wochen entdeckten diejenigen, die sich der sozialistischen Idealisierung der ersten Jahre widersetzten und die auf die erste Ankündigung der NEP von 1921 hin noch ganz nüchtern erklärten, daß diese „neue ökonomische Politik des Arbeiter- und Bauernstaates“ ein notwendiger Schritt zurück hinter die weitergehenden Versuche des Kriegskommunismus sei, die sozialistische Natur des Staatskapitalismus und der nur genossenschaftlich tangierten, im Kern aber bürgerlichen Wirtschaft. So war es nicht erst der leninistische Epigone Stalin, sondern der orthodoxe Marxist Lenin, der an dem historischen Wendepunkt der revolutionären Entwicklung, an dem die bis jetzt unentschiedenen praktischen Tendenzen der Russischen Revolution „ernsthaft und für eine lange Zeit“ auf die Restauration einer nicht-sozialistischen Wirtschaft gelenkt wurden, gleichzeitig die ihm unentbehrlich scheinende ideologische Ergänzung für jene schließliche Beschränkung auf diese praktischen Ziele hinzufügte. Es war der orthodoxe Marxist Lenin, der im Gegensatz zu allen seinen früheren Erklärungen, zuerst den neuen marxistischen Mythos des inneren sozialistischen Charakters des Sowjetstaates und der damit grundsätzlich garantierten Möglichkeit der vollständigen Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaft in einem isolierten Sowjetrußland begründet hat.

Mit dieser Entartung der marxistischen Theorien zu einer bloßen ideologischen Rechtfertigung dessen, was in seiner tatsächlichen Tendenz ein kapitalistischer Staat ist, ein Staat der damit unvermeidlich auf der Unterdrückung der fortschrittlichen revolutionären Bewegung der proletarischen Klasse beruht, hat die erste Phase der Geschichte der marxistischen Ideologie in Rußland ihren Abschluß gefunden. Dies ist gleichzeitig die einzige Phase, in der die Entwicklung des Marxismus in Rußland einen unabhängigen Charakter aufzuweisen schien. Von seinem umfassenderen Standpunkt aus sollte jedoch festgestellt werden, daß ungeachtet der Erscheinungsformen und vieler realer Differenzen, die durch bestehenden spezifischen Bedingungen zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Ländern hervorgerufen werden, die historische Entwicklung des russischen Marxismus (einschließlich seiner letzten leninistischen und stalinistischen Stadien) im Kern die gleiche ist, wie die des sogenannten westlichen (oder sozialdemokratischen) Marxismus, von dem der russische Marxismus in Wirklichkeit ein integrierter Bestandteil war und ist, obgleich gegenwärtig äußerlich von jenem abgetrennt. So wie Rußland niemals das einzigartige und heilige Land war, von dem die Panslavisten träumten, ebenso besaß der Bolschewismus niemals die krude und rückständige Form einer pseudomarxistischen Theorie, die den primitiven Bedingungen des zaristischen Regimes entsprochen hätte, eine Theorie, die von den Möchtegern-Marxisten Englands, Frankreichs und auch Deutschlands repräsentiert wurde. Insofern ist die bürgerliche Degeneration des Marxismus in Rußland in nichts grundlegend von dem unterschieden, was als Ergebnis einer Serie ideologischer Transformationen den verschiedenen Strömungen des sogenannten westlichen Marxismus während des Krieges und der Nachkriegsperiode und, noch deutlicher, nach der Vernichtung aller früheren marxistischen Bastionen durch die widerstandslose Heraufkunft des Faschismus und Nazismus zustieß. So wie der „Nationalsozialismus“ des Herrn Hitler und der „korporative Staat“ Mussolinis mit dem „Marxismus“ Stalins in dem Versuch wetteifern, durch den Gebrauch einer pseudo-sozialistischen Ideologie direkt in die Köpfe und Seelen der Arbeiter wie in ihre physische und soziale Existenz einzudringen, so unterscheiden sich das „demokratische“ Regime der Volksfrontregierung unter dem „Marxisten“ Leon Blum oder, besser noch, unter Camille Chautemps, von dem gegenwärtigen sowjetischen Staat nicht in der Substanz, sondern nur in der weniger wirkungsvollen Ausbeutung der marxistischen Ideologie. Weniger als je zuvor dient der Marxismus als theoretische Waffe im unabhängigen Kampf des Proletariats für das Proletariat und mit dem Proletariat. Alle sogenannten „marxistischen“ Parteien scheinen, sowohl theoretisch wie in ihrer gegenwärtigen Praxis, als Junior-Partner der führenden Vertreter der Bourgeoisie ihren Teil zu der Lösung des Problems beizutragen, das der amerikanische „Marxist“ L.B. Boudin kürzlich so benannte: „Das größte Problem des Marxismus ist unsere Beziehung zum Kampf in der kapitalistischen Gesellschaft.“


1In der Neufassung wurden drei zusätzliche Ansätze nach dem ersten Absatz eingefügt und der Letzte Absatz wurde durch zwei Absätze ersetzt. Die Einfügung wird durch eckige Klammer gekennzeichnet und die Ersetzung findet man im Anhang.

2Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie. Vorwort (1859), MEW Bd.13, S.9.

3Karl Marx u. Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, Vorrede zur zweiten russischen Ausgabe (1882), MEW, Bd.19, S.296.

4Die Briefe von Marx und Engels an [Nikolai Franzewitsch] Danielson (bekannt unter dem Schriftstellernamen Nikolai-on) wurden 1929 in Leipzig von G. Mayer und K. Mandelbaum in den Neudrucken marxistischer Seltenheiten herausgegeben. Vgl. Brief vom 24.2.1893, MEW, Bd.39, S.36-38; Brief vom 8.10.1893, MEW, Bd.39, S.148-150; Karl Marx an V.I. Sassulitsch (8.3.1881), MEW, Bd.19, S.242; Erster Entwurf, S.384; Zweiter Entwurf, S.396; Dritter Entwurf, S.401; Friedrich Engels an V.I. Sassulitsch (6.3.1884), MEW, Bd.36, S.119; Friedrich Engels an V.I. Sassulitsch (6.3.1884), MEW, Bd.36, S.303-307; Karl Marx, [Brief an die Redaktion der Otetschestwennje Sapiski] vom Nov. 1887, MEW, Bd.19. S.107-112.

5W.I. Lenin, Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland (1896-1899), Werke Bd.3.

6Nikolaj Franzewitsch Danielson, Umrisse unserer Volkswirtschaft nach der Bauernbefreiung (1893) russ.

7Hier beginnt die Neufassung aus dem Jahre 1938; s. Anhang.

8Lenin zitiert 1921 in seiner Schrift Über die Naturalsteuer einen Text von 1918: „Kein Kommunist hat wohl auch bestritten, daß die Bezeichnung ‚Sozialistische Sowjetrepublik‘ die Entschlossenheit der Sowjetmacht bedeutet, den Übergang zum Sozialismus zu verwirklichen, keineswegs aber, daß die jetzigen ökonomischen Zustände als sozialistisch bezeichnet werden.“ Werke, Bd.32, S.342; vgl. auch S.355.

9De te fabula narratur! (Über dich wird hier berichtet!). Aus den Satiren des Horaz, Buch 1, Satire 1. Von Karl Marx zitiert in: Das Kapital, 1. Band, Vorwort zur ersten Auflage (1867), MEW, Bd.23, S.12.

]]> (1939 Karl Korsch) Staat und Konterrevolution https://panopticon.blackblogs.org/2024/03/17/1939-karl-korsch-staat-und-konterrevolution/ Sun, 17 Mar 2024 18:46:41 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5606 Continue reading ]]> Text gefunden auf marxists.org, was wir hier vorfinden ist ein Text von Karl Korsch, der sich Fragen um den modernen (also kapitalistischen) Staat stellt. Korsch erkennt, vor allem anhand des Beispieles der Sowjetunion, dass die Idee des Staates, als ein Werkzeug für die Befreiung falsch ist, da dieser sich in einen Werkzeug, in den Händen der Bolschewiki, der Konterrevolution wurde. Nun kann man sagen dass Anarchistinnen und Anarchisten recht behalten haben in ihrer historischen Kritik am kapitalistischen Staat, wenn auch dieser manchmal sehr dürftig war. Genau deswegen ruft er im Text dazu auf, sich dringlichst mit dieser Frage auseinander zu setzen sowie wie mit „Proudhon, Bakunin und die späteren Wortführer des revolutionären Anarchismus und Syndikalismus“. Heutzutage stehen wir nochmals anders wie damals, es sind wir die eigenen Anarchistinnen und Anarchisten die an die sogenannte anarchistische Bewegung appellieren die eigenen Ziele nicht zu vergessen, anstatt genau dass Gegenteilige zu tun, nämlich dass zu schützen was wir zerstören müssen. Schwierige Zeiten für die Feinde des Staates und des Kapitals.


(1939 Karl Korsch) Staat und Konterrevolution

I

Mehr als jede frühere Periode der jüngsten Geschichte ist unsere Zeit nicht eine Zeit der Revolution, sondern der Konterrevolution. Das ist gleichermaßen wahr, ob wir nun diesen vergleichsweise neuen Begriff der Gesellschaftswissenschaften als bewußte Gegenaktion gegen einen vorausgegangenen revolutionären Prozeß definieren, oder ob wir ihn – gemeinsam mit einigen Italienern der jüngsten Vergangenheit und ihren Vorläufern im Nachkriegsfrankreich – im wesentlichen als „präventive Konterrevolution“ verstehen. Es handelt sich uni eine Gegenaktion der vereinigten Kapitalistenklasse gegen alles, was heute vom ersten großen Aufstand des Proletariats im kriegszerrissenen Europa, der seinen Höhepunkt in der russischen Revolution vom Oktober 1917 hatte, geblieben ist. Außerdem umfaßt sie eine Reihe von „präventiven“ Maßnahmen der herrschenden Minderheit gegen solche neue revolutionäre Gefahren, wie sie sich in höchster Deutlichkeit in den jüngsten Ereignissen in Frankreich und Spanien offenbart haben und wie sie unter den gegenwärtigen Verhältnissen eines jeden Teiles von Europa überall eintreten können, sei es das „rote“ Sowjetrußland oder das faschistische Italien, Nazideutschland oder eines der alten „demokratischen“ Länder. Wie es der gesteigerten Bewußtheit des konterrevolutionären Geistes im Gegensatz zu den nur konservativen und reaktionären Tendenzen entspricht, ist das gemeinsame Ziel solcher Aushängeschilder der heutigen europäischen Politik wie Hitler und Mussolini, Daladier und Chamberlain nicht nur die zeitweilige Brechung des Widerstandes der Arbeiter gegen die wachsende Unterdrückung und Pauperisierung. Ihr wirkliches Ziel besteht darin, im nationalen und internationalen Maßstab Bedingungen zu schaffen, durch die jede künftige Bewegung der Arbeiterschaft „ernstlich und für eine lange Zeit“ unmöglich gemacht wird. Diesem Ziel zuliebe sind alle Staatsmänner der sogenannten demokratischen Länder Europas bereit, mit jeder geheiligten Tradition zu brechen und jede in der Vergangenheit hochgehaltene „Idee“ aufzugeben. Für dieses Ziel opfern sie nicht nur – wie sie es immer getan haben – die Freiheit und Wohlfahrt ihrer Völker, sondern sogar einen Teil der Privilegien, die ihre Klasse bisher besaß. Sie sind sogar gewillt; einige ihrer traditionellen materiellen und ideellen Vorrechte, die persönliche Würde eingeschlossen, aufzugeben, und sie bemühen sich, als Juniorpartner an den Gewinnen teilzunehmen, die sie von der den Arbeitern durch die neuen konterrevolutionären Formen weitestgehender politischer, sozialer und kultureller Versklavung aufgezwungenen gesteigerten Ausbeutung erwarten.

II

Die vorhergehende Darstellung handelt von den allgemeinen Aspekten der heutigen europäischen Konterrevolution, wie sie sich nach der vernichtenden Niederlage aller Versuche, die Revolution von 1917 auszuweiten, entwickelt haben und deren Zweck es war, der neuen proletarischen Gesellschaft in Rußland eine passende, zeitgemäße Umgebung in anderen europäischen und außereuropäischen Ländern zu geben. Ein besonderer und besonders trauriger Aspekt ergibt sich für alle – außer den hartnäckigsten und verblendetsten Anhängern der kommunistischen Parteipolitik – daraus, daß auch der aus dem ersten proletarischen Sieg in Sowjetrußland hervorgegangene neue Arbeiterstaat seinen eindeutig revolutionären Charakter schon lange verloren hat. In einem historischen Prozeß, der vorläufig und im Hinblick auf weitere Untersuchungen als eine schrittweise Degeneration beschrieben werden mag, hat der russische Staat in seiner inneren Funktionsweise seine früheren revolutionären und proletarischen Züge immer mehr aufgegeben. Durch die Folgerichtigkeit und die umfassende Natur seiner antidemokratischen und totalitären Entwicklung hat er die sogenannten faschistischen Züge der offen konterrevolutionären Staaten Europas und Asiens oft vorweggenommen. Sogar heute gehen die Strafen für kleinste Abweichungen von den vorgeschriebenen Verhaltens- und Meinungsmustern weit über die Gewaltmaßnahmen hinaus, die im faschistischen Italien oder im Nazideutschland gegen Nonkonformismus angewandt werden. Auf der internationalen Bühne nahm das neue russische Commonwealth immer mehr am Spiel der imperialistischen Politik, an Militärbündnissen mit bestimmten Gruppen von bürgerlichen Staaten gegen andere Gruppen von bürgerlichen Staaten teil. Es leistete auch seinen vollen Beitrag zu dem, was in der irreführenden Sprache moderner bürgerlicher Diplomatie als Förderung des „Friedens“, der „kollektiven Sicherheit“ und „Nichteinmischung“ bezeichnet wird. So ist zumindest die führende Bürokratie des sogenannten Arbeiterstaates unabänderlich in den konterrevolutionären Aspekt der heutigen europäischen Politik verwickelt. Unter den weitgehend veränderten Bedingungen des Klassenkampfes der Arbeiter gilt heute mehr als zuvor, was Lenin im Vorwort seiner Streitschrift Staat und Revolution über die zunehmende Bedeutung der Frage des Staates sowohl für die Theorie als auch für die Analyse der praktischen Politik schrieb. Der imperialistische Krieg und die Weiterentwicklung seiner Ergebnisse während der vergangenen 20 Jahre haben sowohl die Umwandlung des Monopolkapitalismus in den staatsmonopolistischen Kapitalismus als auch die ungeheuerliche Unterdrückung der arbeitenden Massen durch den immer inniger mit den allmächtigen Kapitalistenverbänden verschmelzenden Staat beträchtlich beschleunigt und intensiviert. Sogar die anscheinend vorübergehenden und kriegsbedingten Wirkungen dieser Entwicklung sind dauerhaft geworden und in der Tat normale Züge des heutigen Kapitalismus als Ganzes. Es besteht heute kein Zweifel am dauerhaften Charakter des von Lenin vor 20 Jahren beschriebenen Prozesses, durch den „die fortgeschrittenen Länder […] – wir sprechen von ihrem ‘Hinterlande‘ – in Militärzuchthäuser für Arbeiter“ umgewandelt werden.1 Jedoch ist es unter den Bedingungen einer existenten Konterrevolution heute keineswegs ausreichend, nur jene eindrucksvollen Feststellungen zu wiederholen, mit denen Lenin 1917 die revolutionäre Marxsche Theorie des Staates und des Verhältnisses der proletarischen Revolution zum Staat wiederherstellte. Es ist abwegig, wenn sich die Trotzkisten heute auf „Lenins glänzende Formulierung“ als auf eine am Vorabend der Oktoberrevolution geschriebene Arbeit beziehen, „die den Massen nicht nur Rußlands, sondern der ganzen Welt zukünftig (als Leitfaden, wenn die Bolschewiki ihr Ziel nicht erreichen sollten) die Bedeutung der Arbeiterdemokratie erklären sollte.. Das war nie das Ziel jenes großen Umsetzers der traditionellen marxistischen Theorie in die Aktion. Als der Ausbruch der politischen Krise den Abschluß seiner theoretischen Arbeit verhinderte, fügte er seiner Streitschrift die frohlockende Bemerkung hinzu, daß es „angenehmer und nützlicher“ ist, „die ‘Erfahrungen der Revolution‘ durchzumachen, als über sie zu schreiben“.2

III

Heute hat sich die gesamte Lage grundlegend geändert. Es hat keinen Zweck, in der ideologischen Sphäre der Irrealität die materialistische und völlig praktische Philosophie des revolutionären Staates, wie sie Marx und Engels ausgearbeitet haben und Lenin sie neu formuliert hat, fortzusetzen. Wir könnten ebenso mit Plato über die vollkommenste Form des idealen Staates und seine schließliche Wiederherstellung durch das konterrevolutionäre Reich Hitlers philosophieren, dieser wahren irdischen Erfüllung des hochmütigen Platoschen Traumes des Überganges von der verderbten Demokratie zur „edlen Tyrannis, die sich von allen vorhergehenden Formen unterscheidet, die vierte und letzte Krankheit des Staates“.3 Es war für das russische Proletariat und seine bolschewistischen Führer sehr nützlich, 1917 die Erfahrung der wirklich beginnenden Revolution zu machen, statt über sie zu philosophieren oder zu schreiben. Die Arbeiterschaft in und außerhalb Rußlands kann heute den ständigen Vormarsch der Konterrevolution nicht einfach hinnehmen, ohne mit allen ihr zugänglichen Mitteln darüber nachzudenken. Durch sorgfältige Prüfung der Vergangenheit muß sie sowohl die objektiven als auch die subjektiven Ursachen des Sieges des faschistischen Staatskapitalismus herausfinden. Sie muß seine gegenwärtige Entwicklung genau beobachten, um alle alten und neuen Widersprüche und Antagonismen, die in dieser Entwicklung auftreten, zu erkennen. Sie muß schließlich einen praktischen Weg finden, um zunächst einmal als Klasse dem weiteren Vordringen der Konterrevolution Widerstand zu leisten und später vom aktiven Widerstand zu einer noch aktiveren Gegenoffensive überzugehen, die dann zur Abschaffung sowohl der neuen Form des Staatskapitalismus als auch der allen alten und neuen Formen der bürgerlichen Gesellschaft und ihres Staates inhärenten Prinzipien der Unterdrückung und Ausbeutung führt. Wir brauchen vor allem eine richtige und umfassende Analyse der neuen Aspekte, die die allgemeine Theorie des Staates angesichts der existenten Konterrevolution erhält. Diese besondere Aufgabe wurde bisher ohne jeden Zweifel vernachlässigt. Das gilt trotz der gewaltigen Arbeit, die auf diesem Gebiet durch Marx, Engels und ihre konsequentesten Fortsetzer bis zu Luxemburg, Lenin und Trotzki auf der einen Seite und durch Proudhon, Bakunin und die späteren Wortführer des revolutionären Anarchismus und Syndikalismus auf der anderen Seite geleistet wurde.

IV

Allerdings wäre es nicht notwendig, eine besondere Untersuchung über den konterrevolutionären Staat durchzuführen, wenn, entsprechend den übertreibenden Verallgemeinerungen der Anarchisten, jeder Staat zu jeder Zeit – der aus der proletarischen Revolution hervorgehende Arbeiterstaat eingeschlossen – seinem Wesen nach den proletarischen Zielen entgegenstünde. Dieser abstrakte Grundsatz hinderte jedoch den großen proletarischen Denker Proudhon nicht, den Staatsstreich vom 2. Dezember 1851 als einen historischen Sieg der sozialen Revolution zu begrüßen. Wenn wir auf dieses erste Auftreten einer quasi-faschistischen Gegenrevolution nach dem Scheitern der französischen Revolution von 1848 zurückschauen, bemerken wir eine überraschende Ähnlichkeit zwischen den jüngsten Äußerungen einiger angeblich fortschrittlicher und revolutionärer Schriftsteller über Hitler und Mussolini und den ersten Reaktionen praktisch aller progressiven Schulen, Marx und Engels nicht ausgeschlossen, auf den Staatsstreich Louis Napoleons im Jahre 1851. So wie der gemäßigt bürgerlich-fortschrittliche Exminister Guizot auf die Nachricht vom Staatsstreich in den Alarmruf ausbrach: „Das ist der vollständige und endgültige Sieg des Sozialismus!“, so wie Proudhon über die „Soziale Revolution, aufgezeigt am Staatsstreich4 vom 2. Dezember“5 philosophierte, gab sich Marx der gleichen Täuschung hin, obgleich er sich über die persönliche Ungeeignetheit Louis Bonapartes für die von ihm für eine kurze Zeit usurpierte quasirevolutionäre Rolle viel mehr im klaren war. Ein Beweis ist seine paradoxe Feststellung: Nicht in seinen unmittelbaren tragikomischen Errungenschaften brach sich der revolutionäre Fortschritt Bahn, sondern umgekehrt in der Erzeugung einer geschlossenen, mächtigen Konterrevolution, in der Erzeugung eines Gegners, durch dessen Bekämpfung erst die Umsturzpartei zu einer wirklich revolutionären Partei heranreifte.6 Es ist in der Tat nur ein kleiner Schritt von dieser Marxschen (und auch Guizotschen und Proudhonschen) Selbsttäuschung zu den bemerkenswerten Illusionen, denen sich die deutschen Kommunisten und ihre russischen Herren nach der Machtübernahme Hitlers hingaben. Sie begrüßten den Sieg eines unverfälschten und offenen Faschismus über das, was sie bis dahin als eine verkappte, aber um so hassenswertere Form des Sozialfaschismus beschrieben hatten, d.h. die politische Herrschaft der Sozialdemokratischen Partei im Nachkriegsdeutschland. Sie sagten einen schnellen Zusammenbruch der neuen konterrevolutionären Regierung voraus, der zu einer proletarischen Revolution führen werde, und begrüßten so ihre eigene Niederlage sowie außerdem die dauernde Niederlage aller fortschrittlichen Tendenzen in Deutschland und in ganz Europa als einen „Sieg des Kommunismus“.

V

Es ist die Meinung des Schreibers dieser Zeilen, daß die offenbare Unkenntnis der besonderen Natur konterrevolutionären Geschehens, die bei diesen Gelegenheiten von den älteren und neueren marxistischen Schulen gezeigt wurde, nicht bloßer persönlicher Zufall ist. Sie ist vielmehr in einer verborgenen Weise mit dem ganzen geschichtlichen Charakter der Marxschen Theorie der proletarischen Revolution verbunden, die, wie an anderer Stelle gezeigt wird, in vieler Hinsicht, in Inhalt und Form noch die Muttermale der bürgerlichen revolutionären Theorie des Jakobinismus und Blanquismus7 trägt. Das gilt besonders für die politischen Aspekte der Marxsten Theorie, für die Marxschen Lehren von der sogenannten „Permanenten Revolution“8 und der „Diktatur des Proletariats“ und von der Leninschen Lehre von der Führerschaft der revolutionären politischen Partei vor, während und nach der Eroberung des bürgerlichen Staates, wie sie in den Leitsätzen über die Rolle der Kommunistischen Partei in der proletarischen Revolution9, die vom 3. Kommunistischen Weltkongreß 1920 angenommen wurden, niedergelegt ist. Unter diesem Gesichtspunkt wird es sogar möglich, in rationaler Weise an jene beunruhigenden Probleme heranzugehen, die während der letzten 20 Jahre die besten marxistischen Revolutionäre immer wieder bedrängt und gequält haben, wenn diese sich der tiefen Widersprüche zwischen dem ununterbrochenen Fortbestand einer sogenannten proletarischen Diktatur und der wachsenden Unterdrückung nicht nur aller proletarischen und sozialistischen, sondern sogar der elementärsten demokratischen und fortschrittlichen Tendenzen in Sowjetrußland bewußt geworden waren. Wie geschah es, daß der aus der russischen Revolution von 1917 hervorgegangene Arbeiterstaat ohne „Thermidor“ oder „Brumaire“ langsam aus einem Instrument der proletarischen Revolution in ein Instrument der gegenwärtigen europäischen Konterrevolution umgeformt wurde? Was ist die Ursache für die besonders große Ähnlichkeit zwischen der kommunistischen Diktatur in Rußland und ihrem anscheinend größten Widersacher und Gegenspieler, den faschistischen Diktaturen in Italien und Deutschland?

VI

In den Grenzen dieses kurzen Artikels kann nicht auf die Einzelheiten der konkreten geschichtlichen Entwicklung eingegangen werden. Es soll nur jene unheimliche Zweideutigkeit, mit der eine revolutionäre Diktatur von ihren Anfängen an ihre mögliche künftige Umformung in einen konterrevolutionären Staat einschließt, bis auf eine entsprechende Zweideutigkeit der revolutionären Marxschen Theorie selbst zurückverfolgt werden. Wenn die politischen Konzepte des Marxismus sich aus der großen Tradition der bürgerlichen Revolution ableiten, wenn die Nabelschnur zwischen Marxismus und Jakobinismus nie durchschnitten wurde, dann erscheint es als weniger paradox, daß der revolutionär-marxistische Staat in seiner gegenwärtigen Entwicklung den großen geschichtlichen Prozeß des Niederganges widerspiegelt, in dem heute in jedem europäischen Land die führenden Fraktionen der Bourgeoisie ihre früheren politischen Ideale aufgeben. Es hört auf, unbegreifbar zu sein, daß der russische Staat in seiner gegenwärtigen Struktur als ein mächtiger Hebel der Faschisierung Europas dient. Trotzdem enthält diese der politischen Lehre von Marx eigene Zweideutigkeit in sich nichts anderes als die abstrakte Möglichkeit jener radikalen Entartung. Wie die proletarische Revolution gemäß dem materialistischen Prinzip von Marx nicht ausschließlich oder in erster Linie eine bewußte, gewollte Aktion von isolierten Gruppen, Parteien oder sogar „Klassen“ ist, so ist die heutige kapitalistische Gegenrevolution in erster Linie das Ergebnis einer objektiven ökonomischen Entwicklung der Gesellschaft – obgleich natürlich weder eine revolutionäre noch eine gegenrevolutionäre Aktion mit Notwendigkeit aus der bloßen Tatsache entsteht, daß sie ökonomisch möglich geworden ist. Folglich kann die wirkliche Ursache des Überganges des revolutionären Arbeiterstaates in Rußland in seine gegenwärtige gegenrevolutionäre Gestalt nicht in irgendwelchen Besonderheiten seiner politischen Form gefunden werden, mag das nun der Grundsatz der „revolutionären Diktatur“ oder die Diktatur einer (einzigen) Partei im Gegensatz zu einer Diktatur der revolutionären Sowjets oder der proletarischen „Klasse“ als Ganzes sein. Wir müssen vielmehr die Ursache dieser allmählichen Verwandlung des politischen Überbaues in einer ihr zugrunde liegenden ökonomischen Entwicklung der Klassenkräfte suchen. Aus dieser materialistischen Sicht ist es wenig verwunderlich, daß der russische Arbeiterstaat seinen ursprünglichen proletarischen Charakter nicht aufrechterhalten konnte, als er nach der Niederwerfung aller revolutionären Bewegungen außerhalb Rußlands zum bloßen Treibriemen reduziert wurde, der die drosselnden und zerstörenden Wirkungen der kapitalistischen Weltwirtschaft auf die höchst bescheidenen Anfänge einer wirklichen sozialistischen Wirtschaft übertrug, wie sie in Sowjetrußland in der Periode des sogenannten Kriegskommunismus von 1919 geschaffen worden war. Das wirklich Bemerkenswerte, das es nie vorher in der Geschichte gab, besteht darin, daß gerade jene neuen, für antibürgerlich gehaltenen Züge des russischen Staates, die als Mittel der Verteidigung des proletarischen Gehalts der russischen Gesellschaft gedacht waren – zusammen mit den „neuen“ gegenrevolutionären, nach dem Modell der russischen Diktatur gestalteten Staaten – als Instrument nicht nur der Umkehrung des Sozialismus in Rußland, sondern auch einer neuen, bewußt gegenrevolutionären Umformung des gesamten traditionellen Rahmens der europäischen kapitalistischen Gesellschaft gedient haben sollten: „Ist es auch Wahnsinn, hat es doch Methode.“ Dieses erregende Problem durch eine nüchterne materialistische Untersuchung zu lösen, ist heute die Hauptaufgabe der marxistischen Erforschung des Problems des Staates und der Konterrevolution. Indem wir dies versuchen, dürfen wir mit Hobbes (als dieser im Behemoth auf die Entwicklung der englischen Revolution und Gegenrevolution 1640-1660 zurückblickte) erwarten, daß auch wir, die wir wie vom Berg des Teufels auf die geschichtliche Entwicklung der letzten 20 Jahre zurückschauen, „einen Überblick über alle Arten von Ungerechtigkeiten und Torheiten, die die Welt sich je leisten konnte, bekommen haben [würden. Wir würden sehen], wie diese Ungerechtigkeiten und Torheiten von den Müttern Heuchelei und „Dünkel geboren wurden, deren eine die doppelte Ungerechtigkeit, die andere die zwiefache Torheit verkörpert.“10 Aber gleichzeitig würden wir auch volle Einsicht in die Aktionen, die damals stattfanden, und in „ihre Ursachen, Vorwände, Gerechtigkeit, Reihenfolge, Listen und Erfolge“ finden.11
1Lenin, Staat und Revolution, Vorwort zur ersten Auflage, Werke, Bd.25, S.395. 2Ebd., Nachwort zur Auflage (30.11.1917), Werke, Bd.25, S.507. 3Platon, Der Staat, (Achtes Buch, 1. Kap.) 544c. 4Konterrevolutionärer Staatsstreich Louis Bonapartes. 5La Révolution sociale démontrée par le Coup d’État du 2 décembre, Paris 1868; deutsche Ausgabe: Die soziale Revolution durch den Staatsstreich vom 2. Dezember 1851, Bremen 1878. 6Karl Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850 (1850), MEW Bd.7, S.11. 7S. unsere Besprechung Das Problem von Staatseinheit – Föderalismus in der französischen Revolution, in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, hrsgg. von Carl Grünberg, Jg. 15, Leipzig 1930, S.126-146; die beiden Aufsätze über Revolutionäre Kommune, in: Die Aktion, Jg. 19, Nr.5/6 (Ende Sept. 1929), Sp.176-181 u. Jg. 21, Nr.3/4 (Juli 1931), Sp.60-64; Thesen über Hegel und die Revolution, in: Gegner, Jg. 6, Nr.3 (5.2.1932), S.11-12; Thesen zur Kritik des faschistischen Staatsbegriffs, in: Gegner, Jg. 6, Nr.4/5 (März 1932), S.20; außerdem die einschlägigen Stellen unseres kürzlich erschienenen Buches über Karl Marx, London-New York, 1938. 8Von der „Permanenten Revolution ist die Rede in: Karl Marx, Friedrich Engels, Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850, MEW, Bd.7. S.249 und 254. Zur Diktatur des Proletariats s. Arkadij Gurland, Marxismus und Diktatur, Leipzig 1930, insbes. S.97-109; dort findet man auch Hinweise auf die entsprechenden Quellen bei Marx und Engels. 9Der I. und II. Kongreß der Kommunistischen Internationale, hrsgg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED Berlin 1959, S.154-163; vgl. auch die Leitsätze über die kommunistischen Parteien und den Parlamentarismus, ebd., S.187-196 und die Leitsätze über die Grundlagen der Kommunistischen Internationale, ebd., S.243-259. 10Thomas Hobbes: [Behemoth] The History oftbe Civil Wars of England, From the year 1640 to 1660 (1679), erster Dialog. Deutsche Übersetzung nach: Behemoth oder das Lange Parlament, in: Julius Lips. Die Stellung des Thomas Hobbes zu den politischen Parteien der großen englischen Revolution, Leipzig 1927, S.102f. 11Hobbes, ebd., S.103.]]>