Kritik am Apellismus, Unsichtbares Komitee – Soligruppe für Gefangene https://panopticon.blackblogs.org Für die Anarchie! Knäste, Staat, Patriarchat und Kapital abschaffen! Tue, 18 Jun 2024 11:15:50 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.1 https://panopticon.blackblogs.org/wp-content/uploads/sites/1233/2020/02/cropped-discharge-degenerik-blog-1-32x32.jpg Kritik am Apellismus, Unsichtbares Komitee – Soligruppe für Gefangene https://panopticon.blackblogs.org 32 32 Gegen die Partei des Aufstands: Ein Blick auf den Appellismus in den U.S.A. https://panopticon.blackblogs.org/2024/06/11/gegen-die-partei-des-aufstands-ein-blick-auf-den-appellismus-in-den-u-s-a/ Tue, 11 Jun 2024 12:33:29 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5881 Continue reading ]]>

Gefunden auf scene noblogs, auch auf the anarchist library aufrufbar, die Übersetzung ist von uns. Hier eine weitere Kritik an den sogenannten ‚Appellismus‘ (Unsichtbares Komitee, Tiqqun, usw.), die wenn auch an vielen Stellen eine richtige Kritik formuliert, an anderen Stellen das verteidigen was der ‚Appellismus‘ selbst vorschlägt. Nicht desto trotz ein weiterer wichtiger Beitrag von anarchistischen Gefährtinnen und Gefährten, dieses Mal aus den Vereinigten Staaten, der die Konterrevolution aufs Korn nimmt.


Gegen die Partei des Aufstands: Ein Blick auf den Appellismus in den U.S.A.

Der Appellismus ist eine informelle Form des autoritären Kommunismus, die in den letzten zehn Jahren auf dem amerikanischen Kontinent an Bedeutung gewonnen hat. Diese Strömung, die sowohl Elemente der revolutionären Parteistruktur als auch des aufständischen Anarchismus aufgreift, stellt den autoritären Kommunismus als etwas dar, das wie informelle Netzwerke aussieht, aber wie eine Partei handelt.

Appellistinnen und Appellisten geben sich in der Regel nicht als Appellistinnen und Appellisten zu erkennen. Der Begriff „Appellist“ bezieht sich auf den Aufruf (L’Appel im französischen Original) des Unsichtbaren Komitees, der von einigen der gleichen Autoren wie die Zeitschrift Tiqqun 1999 verfasst wurde. Deshalb werden „Appellistinnen und Appellisten“ manchmal auch „Tiqqunisten“ genannt. Beides sind Begriffe, die von Anarchistinnen und Anarchisten verwendet werden, um der Behauptung der Appellistinnen und Appellisten entgegenzuwirken, sie hätten keine Ideologie und kein etabliertes politisches Netzwerk.

Die appellistische Verlogenheit in diesem Bereich ist Teil einer größeren Strategie, die darauf abzielt, nicht mehr als eigenständige Gruppe oder Milieu sichtbar zu sein (was sie als „Opazität“1 bezeichnen). Sie versuchen dann, unsichtbar verschiedene Aspekte des täglichen Lebens zu koordinieren, um eine Form des Kommunismus zu schaffen, wobei der Schwerpunkt auf dem Aufbau und der Kontrolle der Infrastruktur liegt. Gleichzeitig drängen sie darauf, in Momenten sozialer Konflikte entscheidend einzugreifen, damit diese Situationen eskalieren, die Kämpfe an Boden gewinnen und die Menschen in ihre Infrastruktur gezogen werden. Appellistinnen und Appellisten bezeichnen sich in der Regel als Partisanen, Autonome oder Kommunisten, obwohl es in Nordamerika häufiger vorkommt, dass sie sich auch als Anarchistinnen und Anarchisten bezeichnen.

Die bekanntesten Ausdrucksformen des Appellismus kommen aus Frankreich und sind das Werk des Unsichtbaren Komitees, insbesondere Der kommende Aufstand (2007) und An unsere Freunde (2014).

In den Vereinigten Staaten sind die wichtigsten Verfechter des Appellismus der Verlag Ill Will Editions, das Inhabit program und Social Media Accounts wie Vitalist International. Diese Projekte vertreten nicht nur ihre amerikanische Version des Appellismus, sondern übersetzen und veröffentlichen auch Analysen von Lundi Matin, der wichtigsten Appellistinnen und Appellisten-Plattform in Frankreich.

Aus der Ferne kann die „Partei des Aufstands “2 den Ideen und Aktivitäten vieler Anarchistinnen und Anarchisten zum Verwechseln ähnlich sehen, denn sie übernehmen bestimmte Schlüsselkonzepte des aufständischen Anarchismus, wie Autonomie und informelle Organisierung. Unterscheidungen treten typischerweise dann auf, wenn wir versuchen, bestimmte Prinzipien anzusprechen, oder wenn ihre Perspektiven auf die gesellschaftliche Position und die Praktiken rund um Macht und Avantgarde im Laufe der Kämpfe vor Ort bedeutsam werden. Appellistinnen und Appellisten kultivieren diese Art von Verwirrung, weil es ihrer Strategie nicht förderlich ist, ehrlich über ihre Ideen zu sprechen, die sie dazu zwingen, ihre Perspektiven und Prinzipien zu ändern, je nachdem, mit wem sie sprechen. Klare Positionen erschweren die Rekrutierung, da sie weniger Menschen ansprechen.

Die Ziele und Methoden der Appellistinnen und Appellisten sind mit den Zielen der Anarchistinnen und Anarchisten unvereinbar und untergraben die nicht-hierarchische Selbstorganisation, anstatt dass sie eine ähnliche Vision mit einem anderen Kampfweg verfolgen. Deshalb versuchen wir in diesem Artikel, die Methoden zu identifizieren, die dem antiautoritären Kampf schaden, und eine Kultur der Ehrlichkeit und der internen Kritik zu fördern, die uns helfen kann, besser zu verstehen, wofür wir alle kämpfen, mit wem und wie wir kämpfen wollen.

Im größten Teil dieses Textes werden wir unsere Ideen über den Appellismus in Bezug auf die appellistische Theorie formulieren, um zu zeigen, wie unsere Beobachtungen über das Milieu durch die Ideologie selbst untermauert werden und ihr inhärent sind. In Wirklichkeit sind die meisten Menschen im appellistischen Milieu jedoch keine Theoretiker, und sich auf die Theorie zu stützen, um auszudrücken, was am Appellismus falsch ist, wird der Hässlichkeit des appellistischen Verhaltens, das wir im wirklichen Leben erlebt haben, nicht wirklich gerecht. Viele unserer größten Probleme mit dieser Tendenz stammen aus persönlichen Erfahrungen und sind nur insofern überprüfbar, als sie Teil der gesammelten Erfahrungen einer Vielzahl von Anarchistinnen und Anarchisten sind, die im Laufe der Jahre auf diesem Kontinent mit Appellistinnen und Appellisten zu tun hatten.

Zusätzlich zu den spezifishen Projekten, die wir mit dieser Tendenz in Verbindung bringen können, gibt es in den USA eine Reihe von Menschen, die sich von appellistischen Strategien inspirieren lassen und versuchen, sie in ihren Netzwerken umzusetzen. Da sich keine dieser Individuen als Appellistinnen und Appellisten bezeichnen und oft abstreiten, dass es eine solche Tendenz überhaupt gibt, ist es unübersichtlich, von „Appellistinnen und Appellisten“ zu sprechen, zumindest in der gleichen Weise, wie wir von „Anarchistinnen und Anarchisten“ sprechen würden, da sich Anarchistinnen und Anarchisten selbst als solche bezeichnen. Auch wegen dieser Unklarheit halten wir es für sinnvoller, sich darauf zu konzentrieren, die Dynamik und die Methoden des Appellismus zu verstehen und die Projekte zu kritisieren, die sich der Förderung appellistischer Strategien widmen, als zu versuchen, abschließend zu bestimmen, wer ein Appellist oder eine Appellistin ist und wer nicht. Es gibt viele Menschen, die sich in der Welt der Appellistinnen und Appellisten bewegen, weil sie sich in denselben größeren Kämpfen engagieren oder aufgrund ihrer sozialen Nähe und nicht aufgrund ihres ideologischen Engagements für den Appellismus. Unsere Diskussion über den Appellismus in diesem Text soll diese Menschen nicht entfremden, sondern ihnen einen Kontext und einen Rahmen bieten, der ihnen hilft, ihre eigenen fundierten Entscheidungen zu treffen und sich nicht manipulieren zu lassen.

Viele der Probleme, die wir in diesem Text erörtern werden, sind keineswegs nur auf den Appellismus beschränkt. Informelle Hierarchien, miserable Analysen, abgrundtiefe Rassenpolitik, Frauenfeindlichkeit, Missbrauch, Alibifunktion und die Instrumentalisierung der Kämpfe anderer kommen auch in den meisten anarchistischen Szenen in den USA vor; wir haben sie alle schon erlebt. Was den Appellismus auszeichnet und was wir im Laufe dieses Artikels zu zeigen hoffen, ist, dass die Probleme, die wir hervorheben werden, durch die Ideen selbst gefördert und gerechtfertigt werden, anstatt im Widerspruch zu ihnen zu stehen – sie sind seit langem und durchgängig in appellistischen Schriften und Organisationen zu finden. Die Auseinandersetzung mit diesen Ideen und ihren Befürwortern muss nicht auf Kosten der Auseinandersetzung mit hierarchischen Verhaltensweisen und Einflüssen aus anderen Richtungen gehen, sondern sollte unsere Fähigkeit zur Kritik im Allgemeinen schärfen und uns helfen, uns tiefer in unseren gemeinsamen Prinzipien zu verwurzeln.

DAS PROGRAMM: TERRITORIUM & MACHT

Das „kleine orangefarbene Buch“ von Inhabit ist die prägnanteste Darstellung der Strategie der Appellistinnen und Appellisten in den USA, also fangen wir dort an. Inhabit bietet ein Programm an, das aus ein paar einfachen Schritten besteht, beginnend mit den folgenden: 1) „einander finden“ und 2) autonome Infrastrukturen oder „Hubs“ erschaffen (in der Regel ländliche Landprojekte oder andere Orte, an denen sie „die Kommune aufbauen“). In diesem Prozess des massenhaften „Ausstiegs“ und der allmählichen „Subtraktion des Territoriums von der Ökonomie“ erreichen wir schließlich die Schritte 8 und 9, in denen die Infrastruktur „zerstört“ wird und wir „unregierbar“ werden, weil wir genug Autonomie aufgebaut haben, um die Regierung und die Ökonomie überflüssig zu machen. Wenn diese schließlich verschwinden, werden die von Appellistinnen und Appellisten errichteten Kommunen und Infrastrukturen an ihre Stelle getreten sein: „Die Macht ergreifen, ohne zu regieren“.

Die Erschaffung einer autonomen Infrastruktur war für viele radikale Bewegungen auf der ganzen Welt und im Laufe der Geschichte von entscheidender Bedeutung, von konfliktreichen Hausbesetzungen über selbstorganisierte soziale Zentren in Europa bis hin zu befreitem Land in Lateinamerika. Die Vorschläge, die Inhabit für die Autonomie unterbreitet, haben jedoch mehrere erhebliche Probleme:

– Es ist nicht näher definiert, wen wir finden, wenn wir uns finden. Das lässt alle möglichen Bündnisse zu, auch problematische, wie zum Beispiel mit Politikern oder Menschen, die dem rechten Libertarismus zuneigen. Trotz der detaillierten Darstellung von Kämpfen und Vorschlägen für die Zukunft in Inhabit ist es auch sehr schwierig, klar zu verstehen, gegen wen und was das „Wir“ von Inhabit eigentlich ist.

– Wenn Siedlerinnen und Siedler in den USA oder Kanada Land kaufen und ein Landprojekt starten oder Geschäfte in gentrifizierenden Vierteln eröffnen, ist das in der Regel kein Befreiungsprojekt, sondern ein wesentlicher Aspekt der Funktionsweise unserer Feinde – der kolonialen Siedlerstaaten wie den USA und Kanada. Inhabit überspringt dieses Problem komplett und diskutiert den Siedlerkolonialismus nicht.

– Von Indigenen angeführte Kämpfe werden als inspirierende Beispiele angeführt, aber weder Rasse oder Gender noch Kolonisierung werden als ethische oder gar strategische Anliegen auf dem Weg ins Elend erwähnt. Das Thema Rasse in einem Kampf, der in den USA – oder überhaupt irgendwo – geführt wird, völlig auszublenden, kommt einer Variante des farbenblinden Rassismus gleich. Die Tatsache, dass die Diskussion über die Geschlechterrollen in der „Kommune“ einfach übergangen wird, ist ein weiterer Grund dafür, dass Inhabit so unnachgiebig das Gemeinsame betont. Die „Kommune“ wird zu einem mythischen, übergeordneten Gebilde, in dem die Individuen mit all ihren chaotischen Unterschieden und unterschiedlichen Erfahrungen mit systemischer Unterdrückung für das Gemeinwohl verschmelzen sollen.

– Das Konzept der „Destitution“3, das darauf hinausläuft, dass die Parteimitglieder die Ökonomie „aushungern lassen“, indem sie nicht an ihr teilnehmen, geht davon aus, dass der Kapitalismus und die dahinter stehende Staatsmacht verkümmern, wenn sich genügend Menschen ihrem Zugriff entziehen. Diese Vorstellung ist historisch einfach hoffnungslos unzutreffend und scheint unsere Kämpfe zu ermutigen, weniger konfliktreich zu sein, während in Wirklichkeit Konflikte ein wesentlicher Bestandteil jedes Kampfes gegen den Staat sind.

Die Einfachheit dieses Programms ist eine Marketingstrategie, die darauf abzielt, so viele Menschen wie möglich anzusprechen, und genau aus diesem Ansatz ergeben sich viele Probleme. Mit wem wir uns organisieren und zusammenleben, mit wem wir uns verbünden, unsere Komplizenschaft mit dem Kapitalismus und anderen Formen der Unterdrückung, die Notwendigkeit von Risikobereitschaft und Gewalt, das Verhältnis zwischen unseren persönlichen Wünschen und unserer Verantwortung für andere – all das sind komplexe Fragen, die wir auf unserem Weg zur Anarchie ständig navigieren. Kein kleines oranges Pamphlet, das für ein nett klingendes „gemeinsames Leben“ wirbt und die harten Realitäten von Rassismus, Gender und Siedlerkolonialismus beschönigt, kann die Antworten liefern.

Wir haben oft beobachtet, dass Appellistinnen und Appellisten falsche Gleichsetzungen zwischen ihren Landprojekten und den Versuchen der Indigenen, ihr angestammtes Territorium und ihre traditionellen Lebensweisen zu verteidigen bzw. zurückzugewinnen, herstellen. Das ist für den Erfolg letzterer konterproduktiv. Wie die Autorinnen und Autoren von „Another Word for Settle“ schreiben, bereitet diese Art von „‚Zurück aufs Land‘-Politik […] bereitet schlimmstenfalls die Bühne für die Entwicklung verdrehter Siedleransprüche auf indigenes Land“, Ansprüche, die „die Beziehungen, die wir mit antikolonialen indigenen Verbündeten anstreben sollten, erschüttern und reaktionäre Tendenzen der Siedler, die wir bekämpfen sollten, stärken “4.

Die Anweisung, Eigentum zu akkumulieren, taucht in dem ebenso programmatischen anonymen Text „How to Start a Fire“ (Wie man ein Feuer entfacht) wieder auf, der den Leser und die Leserin zwar nicht zur Brandstiftung anleitet, aber den lächerlich unbedarften Ratschlag gibt, „so bald wie möglich den Kauf von Wohnraum zu organisieren“ und „Raum zu mieten“. Oder noch besser, Gebäude zu kaufen und Eigentum zu erwerben“. Vieles von dem, was sie beschreiben, wie man etwas Gemeinsames aufbaut, ohne sich „über die Moral oder die ‚interne Dynamik‘ solcher Unternehmungen Gedanken zu machen“, könnte leicht jede Art von Kollektiv beschreiben – zum Beispiel eine Assoziation von Hausbesitzern. Die Momente, in denen sie beschreiben, wie ihre Vision von territorialer Autonomie tatsächlich aussehen könnte – zum Beispiel, wenn sie sich auf die Gründung von Unternehmen als Teil ihres revolutionären Projekts konzentrieren – zeigen, dass ihre Utopie schmerzhaft fade, sorgfältig verwaltet und (nach unserer Erfahrung) sehr wahrscheinlich mit Familienvermögen aufgebaut ist.5

DIE PERSPEKTIVEN: DIE ZUSAMMENSETZUNG DER PARTEI

Der Appellismus ist nicht die einzige radikale Strömung, die autoritäre Kampfansätze vorschlägt, sondernr nur eine, die für Anarchistinnen und Anarchisten unter Umständen weniger bemerkbar ist. Der Appellismus knüpft in erheblichem Maße an bestimmte kommunistische und andere linke6 Traditionen an, kleidet aber alte Ideen in eine heiße neue Sprache und Ästhetik, damit sie topaktuell erscheinen und sich unbemerkt einschleusen können.

Anarchistinnen und Anarchisten im Ausland haben behauptet, dass der Appellismus ein Nachkomme des Blanquismus ist. Bei dieser Ideologie handelt es sich um eine autoritäre kommunistische Variante des Aufstands, die auf der Idee von Louis Auguste Blanqui basiert, dass die Revolution von einer relativ kleinen Avantgarde hoch organisierter Verschwörer in einer geheimen Parteistruktur durchgeführt werden sollte, die die Aufständischen durch eine einheitliche Strategie anführt.

Die Autoren von „Blanqui oder die staatliche Insurrektion“ schreiben: „[Blanquis] Konzeption der Insurrektion als Resultat eines strategischen Zuges, und nicht als soziales Ereignis, brachte ihn zur Schlussfolgerung, dass der Zweck alle Mittel heiligt. Für ihn zählte nicht die Art und Weise, sondern das Resultat, mit anderen Worten, die effektive Eroberung der politischen Macht.“

Und weiter: „Wenn die Insurrektion trotz des Mutes und des Enthusiasmus derjenigen, die sich an ihr beteiligen, niedergeschlagen wird, dann liegt das daran, dass es ‚an Organisation mangelt. Ohne Organisation, keine Chance auf Erfolg.‘ Das wird auch stimmen, aber wie erlangt man diese Organisation, diese Koordination, diese Abmachung unter den Aufständischen? Durch die horizontale, im Voraus stattfindende und möglichst weite Verbreitung eines Bewusstseins, einer Aufmerksamkeit, einer Intelligenz gegenüber den Erfordernissen des Moments (libertäre Hypothese), oder durch die vertikale Einrichtung eines einheitlichen Kommandos, welches die Gehorsamkeit von allen verlangt, jenen allen, die bis anhin in Unwissenheit gehalten wurden (autoritäre Hypothese)?“. Diese autoritäre Theorie des Aufstands wird durch den Einfluss der italienischen Kommunisten der Autonomia in den 70er Jahren mit ihrer Betonung des lyrischen Stils und der Bildung von Netzwerken autonomer Räume sowie durch die Situationisten mit ihrer selbsternannten Position der intellektuellen Avantgarde erweitert.

Der Appellismus greift auch die traditionellere kommunistische Idee auf, dass die internationale Arbeiterklasse die Hauptfigur des antikapitalistischen Kampfes ist, verpackt diese Idee aber als „Imaginäre Partei“ der Aufständischen gegen das Kapital neu. In dieser informellen Form brauchen Individuen auf der ganzen Welt keinen Mitgliedsausweis, um in der Partei zu sein, und tatsächlich stimmen sie nur selten zu (oder werden darum gebeten), Teil der appellistische Strategie einbezogen zu sein. Dies unterscheidet sich stark von einem anarchistischen Rahmen des Internationalismus, da es verschiedene Kämpfe zusammenfasst und den Eindruck erweckt, dass jeder zu einem großen Plan beiträgt, der bereits von anderen in Gang gesetzt wurde, anstatt diese Kämpfe auf ihre eigene Art und Weise anzuerkennen.

Wie andere Spielarten des autoritären Kommunismus und die Linke im Allgemeinen fordert uns der Appellismus auf, uns unter einem (imaginären oder anderen) Fahne zu vereinen, unter dem individuelle Meinungsverschiedenheiten oder interne Konflikte als spalterisch oder kontraproduktiv für das vage formulierte gemeinsame Ziel angesehen werden. Im appellistischen Diskurs manifestiert sich dies vor allem in der Idee der „Zusammensetzung“ und den vagen gemeinsamen Zielen einer internationalen „Imaginären Partei“. Das heißt, ihre Politik stützt sich auf eine neu aufgelegte Version der Up-Down-Neuausrichtung (A.d.Ü., von oben nach unten), bei der Links-Rechts-Unterschiede innerhalb des Proletariats weniger wichtig sind als unser gemeinsamer Kampf gegen die „Elite“. Composition7 ist ihre Theorie darüber, wie diese verschiedenen Interessen, von den guten Bürgern bis zu jenen, welche sie als „schwarze Proletarier“ betrachten, sich als „historische Kraft“ vereinen können.

Composition versucht, verschiedene Sektoren eines Kampfes oder einer Bewegung in dieselbe Richtung zu lenken (in Richtung der appellistischen Vision des Sieges), indem sie einen Konsens über Ziele und Mittel herstellt (und durchsetzt) und widersprüchliche oder abweichende Stimmen unterdrückt. Composition wird oft als Rahmen für die Einbeziehung verschiedener Ansätze bei gleichzeitigem Kampf für ein gemeinsames Ziel dargestellt und zielt darauf ab, unterschiedliche Elemente in eine einheitliche Strategie einzubinden und grundlegende Meinungsverschiedenheiten zu verbergen, „die so entscheidend sind wie das Verhältnis zur Legalität und zu Institutionen (Parteien, Gewerkschaften, Medien usw.), die Anwendung von Gewalt und die offene Tür für Verhandlungen “8.

Der Text „The Strategy of Composition“, der Anfang 2023 von Ill Will veröffentlicht wurde, schafft ein falsches Dilemma, indem er Autonomie und Dezentralisierung als „Nicht-Beziehung (tolerante Trennung)“ darstellt, während Composition, „wenn wir einen Horizont des Sieges wiederherstellen wollen, […] unweigerlich bedeutet, Kompromisse zu akzeptieren“. Composition legt den Grundstein für eine einfache autoritäre Macht. Wenn die Autonomie einer Gruppe den Kompromissen der dominanten Gruppe in die Quere kommt, müssen die widerspenstigen Akteure auf Linie gebracht werden, sonst droht die „Zersetzung“ der Bewegung. Dieser Rahmen dient dazu, unkontrollierbare Situationen zu beruhigen und die klassische „gemeinsame Front“9 zu stärken, damit Konflikte und Widersprüche verschwinden, ohne dass man sich dabei auf „die Massen“ berufen muss – ein Begriff, der aus der Mode gekommen ist.

Es ist sinnvoll, zwischen der Imaginären Partei, die sie durch die Composition zu schaffen versuchen, und den Appellistinnen und Appellisten zu unterscheiden, die tatsächlich Bescheid wissen und die Strategien entwickeln, die sie breiteren Bewegungen aufzwingen wollen. Composition betont die abgehobene Vogelperspektive des Experten (des Compositionisten, wenn man so will), der den Überblick darüber hat, wo jeder hingehört, und so in der Lage ist, Gruppen und Individuen, die aus eigenen Gründen und auf eigene Weise kämpfen, ihre Strategie aufzuzwingen. Anarchistinnen und Anarchisten hingegen setzen nicht auf tolerante Trennung, sondern auf Koordination und freie Assoziation zwischen selbstorganisierten autonomen Netzwerken, die unterschiedliche Strategien und Taktiken haben können.

Appellistische Autorinnen und Autoren konstruieren ihre Argumente oft um ein „Wir“ herum, das sich nicht nur auf sie selbst bezieht, sondern sich auch anmaßt, für die Gefühle und Erfahrungen eines breiteren „Wir“ zu sprechen, zu dem auch die Leserinnen und Leser gehören. Sie sagen uns, wie „wir“ uns fühlen, und der Leser wird in die Schlussfolgerungen des Autors hineingezogen, von denen er glauben soll, dass er sie aus eigener Kraft erreicht hat. Wenn der Leser oder die Leserin Widerstand spürt oder zögert, ist er oder sie gezwungen, sich völlig zurückzuziehen und eine Position außerhalb dieser romantischen Gemeinschaft, außerhalb dieser „historischen Kraft“ einzunehmen, was gar nicht so einfach ist. Dadurch wird man als Leser oder Leserin in ihre Partei (oder Kraft, Kommune usw.) hineingezogen.

Die Theorie der „Undurchsichtigkeit“, die besagt, dass ihre Partei und ihre Netzwerke nach außen hin nicht sichtbar sein sollen, wird benutzt, um den Widerwillen der Appellistinnen und Appellisten zu rechtfertigen, die Existenz des Appellismus außerhalb ihrer inneren Kreise anzuerkennen. Dies ist eine Verzerrung der anarchistischen Vorstellungen von Informalität und Sicherheitskultur, um es zu erschweren, hierarchische Strukturen und autoritäre Bestrebungen zu erkennen und herauszufordern.

PERSPEKTIVEN AUF RASSE UND SOZIALE POSITION: EXTRAKTION UND AUSLÖSCHUNG

Der Titel von Der kommende Aufstand ist eine Hommage an Die kommende Gemeinschaft (1990), ein einflussreiches Werk des italienischen Philosophen Giorgio Agamben, der mit den Herausgebern von Tiqqun verbunden war. In diesem Buch vertritt Agamben die Ansicht, dass die größte Bedrohung für den Staat eine Gemeinschaft ist, die sich aus Individuen gebildet hat, die mit den besonderen Identitäten, die uns aufgezwungen werden, gebrochen haben, eine Gemeinschaft, die einfach ihr Zusammensein ohne „Prädikate“ oder Bedingungen der Zugehörigkeit genießt.10

Agamben und Tiqqun argumentieren (zu Recht), dass uns Identitäten wie Rasse, Gender und Nationalität zum Zweck der sozialen Kontrolle auferlegt werden. Es ist wichtig, dagegen anzukämpfen, dass der Staat uns dazu zwingt, uns mit sozial konstruierten Identitäten zu identifizieren, als wären sie ein wesentlicher Teil unserer individuellen Persönlichkeit. Die Autoren nehmen eine falsche Wendung, wenn dies dazu führt, dass sie „jegliche Identität ablehnen“ (Die kommende Gemeinschaft). Auch wenn wir danach streben, sozial konstruierte Identitäten zu beenden, ist dies nicht möglich, wenn die institutionellen Kräfte, die sie geschaffen und aufrechterhalten haben, noch intakt sind. Wenn wir uns weigern, darüber nachzudenken, wie unsere jeweilige gesellschaftliche Position dazu führen könnte, dass wir unbeabsichtigt oder auf andere Weise Aspekte der strukturellen Herrschaft, die wir angeblich bekämpfen, wiederholen, hilft uns das nicht dabei, sie zu überwinden.

Die Einstellungen der Appellistinnen und Appellisten zu Identitäten wie Rasse und Gender sind sehr unterschiedlich. Viele Appellistinnen und Appellisten und ihnen nahestehende Theoretiker ignorieren das Thema Rasse keineswegs und äußern sich sogar sehr lautstark zu seiner Bedeutung – allerdings auf eine Art und Weise, die die rassifizierten Bevölkerungsgruppen, über die sie sprechen, für ihre eigenen Zwecke benutzt.11 Es gibt auch den Fall von Inhabit, der es vermeidet, Rasse und Gender in Betracht zu ziehen, sondern auf einem klassenbasierten Rahmen besteht, wie wir später in diesem Abschnitt noch näher erläutern werden.

Ill Will Editions, die in den USA ansässige Website und eine Reihe von Social-Media-Accounts, veröffentlicht Essays von einer Vielzahl von Autoren, die diese vielfältigen und manchmal widersprüchlichen Standpunkte zu Rasse und sozialer Posiiton beleuchten. Ein roter Faden, der sich durch viele dieser Aufsätze und die Posts von Ill Will in den sozialen Medien zieht, ist die Tendenz, die Kämpfe anderer Menschen zu romantisieren und ihre eigenen politischen Vorstellungen auf sie zu projizieren. Oft scheint auch der Wunsch zu bestehen, die Rasse im Sinne von Agambens Ansatz (siehe oben) zu überwinden, obwohl sie in den Vereinigten Staaten nach wie vor eine wichtige prägende Kraft ist.

Diese Romantisierung und Projektion zeigt sich auch in Kommentaren zu den Aktivitäten von Subkulturen, denen der Autor eindeutig nicht angehört (z. B. in dem von Ill Will veröffentlichten Essay über Sideshows). Darin werden die Teilnehmer oft wie heroische Innovatoren behandelt, die die neuesten Taktiken für den kommenden Aufstand entwickeln. Diese Kommentare sind anmaßend und fühlen sich sehr wie anthropologische Studien an. Während die Appellistinnen und Appellisten eine Identität (die des Partisanen12) auf anonyme Gesetzesbrecher projizieren, können Anarchistinnen und Anarchisten von anderen Rebellinnen und Rebellen lernen, ohne sie etikettieren zu müssen, oder ihre Aktionen im Rahmen unserer eigenen Strategie lesbar machen.

Der Wunsch, die Bedeutung rassischer Unterschiede in den verschiedenen Kämpfen zu minimieren, zeigt sich in der Tendenz einiger appellistischer Autorinnen und Autoren, die Rasse unter die Klasse zu subsumieren, um für die Einheit zu werben. Dies wird in Inhabits „Kenosha, I Do Mind Dying“ deutlich, das 2021 bei Ill Will veröffentlicht wurde. Der Autor versucht während des gesamten Textes, die Krawalle 2020 für Black Lives auf den Klassenkampf zurückzuführen, er ordnet die Bedeutung von Rasse jener von Klasse immer wieder unter, doch den Kern davon erreichen wir mit der Diskussion über Kyle Rittenhouse und dem Begriff von „Brudermord“ des Autors.

„In uns allen schlummert eine erschreckende Wut, eine Fähigkeit zur Gewalt, die sowohl durch ‚legitime‘ Kanäle wie Bullen und Militär als auch durch illegale wie Gangs und Milizen zum Ausdruck kommt. Es ist kein Zufall, dass die andere Seite dieser Fähigkeit zur Gewalt das brüderliche Prinzip ist, auf ihm basieren all diese Organisationen. Der Wunsch nach Zugehörigkeit und Gemeinschaft ist im Kern der wahre Treiber dieser Gewalt: Leute sind bereit, zu töten, um sich zugehörig zu fühlen […] Kyle Rittenhouse repräsentiert den Ausdruck dieser Verzweiflung der Vorstädte durch die widerwärtige Fiktion des Kulturkampfes.

Die Überhöhung kultureller Unterschiede als politisch – oder gar ethnisch – ist vorteilhaft für die Eliten, denn, sollte Amerika mit dem durch sie ausgelösten Verderben zurechtkommen, könnten diese Hunderte von Millionen Schusswaffen womöglich neue Ziele finden. Sie würden es bevorzugen, dass wir einen Brudermord begehen, denn ein Bürgerkrieg zwischen links und rechts ist viel einfacher zu verwalten als die Möglichkeit, dass wir unter Umständen ihre Zivilisation im Endstadium verlassen könnten und unsere Arbeit gleich mitnehmen würden.“

Hier ignoriert der Autor bestimmte wichtige strukturelle Dynamiken, scheinbar um für eine Art Einigkeit mit Menschen auf der Rechten zu argumentieren, die aus einer ähnlichen Klassenposition kommen. Im ersten Absatz spricht der Autor über die Hinrichtungen von Schwarzen durch die Polizei und die Ermordung von BLM-Demonstranten durch Rittenhouse, als wären sie dasselbe wie die Gewalt von Gangs unter den ärmsten und rassistisch unterdrückten Bevölkerungsgruppen des Landes. All diese Beispiele von Gewalt, so unterstellt der Autor, sind einfach durch den Wunsch nach „Zugehörigkeit und Gemeinschaft“ motiviert. Dazu muss man die völlig anderen Umstände ignorieren, zum Beispiel, dass die Polizei (und die Polizeigewalt) existiert, um die Kontrolle des Staates über seine Bevölkerung zu schützen und, wie bei den Rittenhouse-Morden, ein Regime der rassischen und ökonomischen Unterordnung aufrechtzuerhalten.

Letztendlich sind wir alle Geschwister und sollten den Bürgerkrieg zwischen links und rechts überwinden, damit wir den Kapitalismus gemeinsam zu Fall bringen können. In diesem Essay wird eine Vision der Links-Rechts-Einheit formuliert, die in den appellistischen Medien oft aufgegriffen wird. So trug eine Person der Vitalist International in einem sehr merkwürdigen Solidaritätsvideo, das an die Kämpfenden in Hongkong gerichtet war, lässig eine Gadsden-Flagge. VI twitterte auch das Folgende über einen Protest, der von Patriot Prayer am Oregon State Capitol in den Wochen vor dem 6. Januar 2021 organisiert wurde: „Da sich die Demonstranten mit der Polizei prügeln, um eine autonome Zone am Capitol zu errichten, könnte sich die Polarisierung von links-rechts nach oben-unten verschieben […] Können ‚Patrioten‘ der Identitätspolitik entkommen und eine gemeinsame Sache mit anderen ausgebeuteten Menschen machen?“

Es ist interessant, dass hier der Begriff „Identitätspolitik“ verwendet wird. Das könnte auch ein Zitat des Anführers von Patriot Prayer, Joey Gibson, sein, der 2018 auf die Frage nach seinem Verhältnis zu den weißen Nationalisten sagte: „Ich würde ihnen dasselbe sagen, was ich jeder schwarzen oder mexikanischen nationalistischen Gruppe sagen würde: Wir müssen die Identitätspolitik aufgeben und uns auf das konzentrieren, was im Inneren ist.“ Behauptet VI, wie Gibson, dass der weiße Nationalismus einfach eine andere Variante der Identitätspolitik ist? Anarchistinnen und Anarchisten üben natürlich scharfe Kritik an der Auseinandersetzung der Linken mit Identitätsfragen, aber wenn man den Unterschied zwischen weißem Nationalismus und linker Identitätspolitik nicht erkennt, verpasst man einige wichtige Details darüber, wie Rasse und Macht in Amerika funktionieren.

Vielleicht ist VI wirklich aufgrund von Gibsons Behauptung verwirrt, Patriot Prayer sei lediglich eine Gruppe, die sich für „Frieden und Liebe“, „Freiheit“ und Jesus einsetzt, aber die Verbindungen zwischen Patriot Prayer und explizit faschistischen Gruppen sind kaum ein Geheimnis. Schon lange vor der Kundgebung 2020 im Oregon State Capitol haben Antifaschistinnen und Antifaschisten ausführlich dokumentiert, wie Patriot Prayer weiße Rassisten und Neonazis in seinen Reihen willkommen heißt. Darüber hinaus führt das offensichtliche Bestreben der Appellistinnen und Appellisten, jedem sozialen Konflikt ihre eigenen Ideen aufzudrücken (z.B. die Ausschreitung im Oregon State Capitol als „autonome Zone am Kapitol“ zu bezeichnen) zu einer beunruhigenden Verkennung der tatsächlichen Dynamik vor Ort. Gibson und seine Patriot Prayer Group sind weit davon entfernt, staatsfeindliche Rebellen zu sein, sondern sie arbeiten häufig mit der örtlichen Polizei zusammen. Sie sind dafür bekannt, dass sie Informationen über Antifaschistinnen und Antifaschisten an die Polizei in Portland weitergeben und Antifaschistinnen und Antifaschisten bei Patriot Prayer-Kundgebungen physisch an die Bullen ausliefern. Dass die „Patrioten“ und die Bullen auch schon mehrfach aneinandergeraten sind, ändert nichts daran, dass es ihnen nur darum geht, eine andere (faschistischere) Vision des Staates zu verteidigen und nicht darum, die Staatsmacht herauszufordern. In der blutigen Geschichte des 20. Jahrhunderts haben faschistische Gruppen die Polizei oft auf der Straße bekämpft. Das hat sie noch nie zu unseren Freundinnen und Freunden gemacht.

An anderer Stelle haben Appellistinnen und Appellisten an Gefühle appelliert, die, wenn nicht rechtsextrem sind, so doch zumindest Kennzeichen des amerikanischen Patriotismus sind. In Ill Wills „The Next Eclipse“ heißt es, dass „Amerika – obwohl fehlerhaft und unvollständig verwirklicht – untrennbar mit einer inspirierenden Vision des menschlichen Fortschritts verbunden war.“ 2012 fanden es die Mitglieder des Woodbine-Kollektivs angemessen, amerikanische Flaggen zu einer Demonstration nach dem Mord an Trayvon Martin mitzubringen. Mit ihrem Text „Nomos of the Earth“ (2014), in dem sie sich vorbehaltlos auf die Theorien des Nazi-Juristen Carl Schmitt berufen, hat sich Woodbine auch auf die dritte Position13 gestürzt.

Der Kapitalismus profitiert zwar von der rassischen und kulturellen Spaltung der ökonomisch unterdrückten Klassen, aber die Vorstellung, dass Rassismus nur als Werkzeug des Kapitalismus existiert, ist heutzutage meist veraltet und beleidigend. Um auf „Kenosha, I Do Mind Dying“ zurückzukommen: Der Autor dieses Artikels vermeidet es, im Stil des traditionellen Kommunismus von Klasse zu sprechen und verwendet stattdessen den Ausdruck „die Eliten“. Die Weigerung derjenigen unter uns, die gegen jegliche Unterdrückung und für die totale Befreiung kämpfen, Menschen wie Rittenhouse als „Brüder“ zu betrachten, ist nicht nur ein historischer Fehler, der die Chancen einer potenziell vereinten Arbeiterklasse beeinträchtigt hat. Wir sollten aus Prinzip nicht mit Rassisten sympathisieren, aber selbst wenn wir nur strategisch denken, waren rassistische Bürgerwehren schon immer ein wesentlicher Bestandteil für die Aufrechterhaltung des Landes, das wir zu zerstören versuchen.

Der Appellismus hat sehr starke populistische Unterströmungen/Untertöne; wie wir gesehen haben, führt seine Besessenheit, mit „normalen“ Menschen zu sprechen, dazu, dass er oft die Sprache des Liberalismus, des Patriotismus oder der reaktionären Rechten annimmt. Inzwischen kann fast alles und jeder Teil der Imaginären Partei sein. Das führt dazu, dass eine Reihe von populistischen Bewegungen unkritisch unterstützt wird, während ihre reaktionären Elemente beschönigt werden.

Nehmen wir zum Beispiel einen anderen Text von Woodbine, in dem es um die Maidan-Bewegung in der Ukraine im Jahr 2014 geht:

„In seiner sonderlichen tarngrau und eisblau gefärbten Tonalität ist der Maidan bloß die jüngste Ausführung dessen, was wir in den letzten Jahre gesehen und wovon wir Teil waren, es manifestiert sich in verschiedenen Sprachen, an verschiedenen Orten […] Angesichts dieser unglaublichen Abfolge von Aufständen ist die Frage „Wer sind die Aufständischen?“ – „Sind es die Arbeiterinnen und Arbeiter, nein, es ist die Mittelschicht, die Armen, Moment, wo sind die Armen? Die Weißen, die Schwarzen, nein, warte, wo sind die schwarzen Menschen? Wo sind die Frauen?“ – geht völlig am Thema vorbei, wenn man eine Situation als zu beurteilendes Objekt betrachtet und Lebewesen als eine Masse von Subjekten behandelt.[…]

Was sich heute auf der ganzen Welt abspielt – was du in den Augen des jungen Mannes siehst, der gerade vom Maidan zurück ist, in dem Grinsen durch das Gas, das Nacht für Nacht den Taksim füllt, in den Fußballvereinen, die Kairo verteidigen, in dir oder mir, die wir um 4 Uhr morgens in Zuccotti sind, in dem Jungen, den wir auf dem Weg zur Verteidigung des Parks getroffen haben, der es auf Reddit gesehen hat und einfach gehen musste, in diesen Frauen, die der Cocktailparty eine neue Bedeutung geben – das ist absolut einzigartig. Und daher historisch. Und daher alltäglich.“ – 1882 Woodbine, „The Anthropocene“, Short Circuit: A Counterlogistics Reader, 2015.

Sowohl der Maidan als auch Occupy waren komplizierte und oft widersprüchliche Momente des gesellschaftlichen Umbruchs. Beide Bewegungen enthielten in mehr oder weniger starkem Maße sowohl befreiende als auch reaktionäre Interventionen und Einflüsse. Wir können uns von dem erbitterten Widerstand der Maidan-Demonstranten gegen die massive staatliche Gewalt inspirieren lassen oder von den neuen Möglichkeiten der Selbstorganisation und des Angriffs, die in einigen Ecken der US-amerikanischen Occupy-Bewegung entwickelt wurden, aber es wäre unverantwortlich, nicht auch die reaktionären Elemente in beiden Bewegungen zu untersuchen. Die Beteiligung von Neonazis an der Maidan-Bewegung oder die Tendenz der nebulösen anti-elitären Rhetorik von Occupy, reaktionäre und rechtsextreme Elemente anzuziehen, sollten uns nicht nur beunruhigen, sondern auch dazu motivieren, anarchistische Visionen von Freiheit zu artikulieren und umzusetzen, die keinen Platz für diese Feinde haben.

Leider scheinen Appellistinnen und Appellisten nur selten an dieser Art der kritischen Beteiligung an sozialen Kämpfen interessiert zu sein. Für sie ist das „völlig am Thema vorbei“. Derselbe populistische Impuls, alles und jeden unter ihre Gemeinschaft, ihre wie auch immer geartete Einzigartigkeit oder ihre Partei zu subsumieren, führt nicht nur zu einer Auslöschung der sozialen Position, sondern auch zu einer Missachtung sinnvoller politischer Unterschiede. Es gibt keine Gemeinsamkeiten zwischen denjenigen von uns, die den rassischen Kapitalismus und die Klassengesellschaft in ihrer Gesamtheit zerstören wollen, und den Faschisten, die uns lieber tot sehen würden.

Ein weiteres Beispiel für die unbefriedigende Art und Weise, wie Appellistinnen und Appellisten und viele ihrer kommunistischen Assoziierten mit der sozialen Lage in den USA umgehen, ist die Vorstellung von „der Partei von George Floyd – der Zusammensetzung, die sich im Aufstand von 2020 angekündigt hat“, die die Organisation Spirit of May 28 kürzlich zu popularisieren versuchte. Die Organisation, die sich inzwischen aufgelöst hat, benutzte den Namen eines Schwarzen, der von der Polizei ermordet wurde, als Markenzeichen ihrer Partei und brandmarkte den darauf folgenden Aufstand als Beispiel für ihren eigenen, bereits bestehenden politischen Rahmen, anstatt zu versuchen, die Bewegung für schwarzes Leben und gegen die Polizei auf ihre eigene Art zu verstehen. Die Schriften der Organisation legen nahe, dass ihre Mitglieder von der armen und schwarzen Bevölkerung eine neue „revolutionäre Öffnung“ in den Vereinigten Staaten erwarten – eine Erwartung, die zu noch mehr rassistisch aufgeladenen Ressentiments und Enttäuschungen führen wird.14

DIE PRAXIS: ZWISCHEN REKUPERATION UND AUTORITARISMUS

Appellistinnen und Appellisten engagieren sich oft in denselben Kämpfen oder Szenen wie Anarchistinnen und Anarchisten, aber ihre Praktiken sind mit dem Anarchismus unvereinbar. Unser Ziel ist es nicht, jeden, der sich von ihren Ideen beeinflussen lässt, als Appellistin und Appellisten abzustempeln, sondern vielmehr diejenigen zu kritisieren, die wie verdeckte Politiker handeln und nach der uralten autoritären Logik handeln, dass der Zweck die Mittel heiligt. Wir beziehen uns hier auf diejenigen, die dir sagen, was sie denken, dass du hören willst, und dann weitergehen oder sehr vage werden, wenn die Diskussion zu sehr auf anarchistische Ideen zusteuert, so dass ihre Abkehr von anarchistischen Prinzipien für viele Menschen zunächst schwer zu erkennen ist. Unserer Erfahrung nach verachten Appellistinnen und Appellisten hinter verschlossenen Türen Anarchistinnen und Anarchisten als naiv15 und bezeichnen die Zusammenarbeit mit ihnen als eine ihrer vielen „unheiligen Allianzen“.

Der Anarchismus ist ein zentraler Bestandteil des appellistischen Mythos. Der Appellismus stellt sich selbst als logische Weiterentwicklung des Anarchismus dar, den sie als jugendliches Sprungbrett für ihre reiferen strategischen Schlussfolgerungen darstellen. Die Geschichte geht in etwa so: Wir haben den Anarchismus ausprobiert, bis klar wurde, dass er nicht „funktioniert“, d.h. uns nicht zu der Version des Sieges führt, die die Appellistinnen und Appellisten anstreben. Dieses Narrativ zieht Menschen an, oft mit akademischem und aktivistischem Hintergrund, die bereit sind, Kompromisse einzugehen, um Ergebnisse zu erzielen. In „How to Start a Fire“ stellen die Autoren fest, dass sie nach vier Jahren gemeinsamer „Kraftanstrengung“ gelernt haben, dass „die politischen Identitäten, die uns angeboten wurden – Anarchistinnen und Anarchisten, Umweltschützerinnen und Umweltschützer, Marxistinnen und Marxisten, Sozialistinnen und Sozialisten – für einen historischen Moment konstruiert wurden, der vorbei ist. Sie haben sich seit Jahrzehnten nicht mit den Mitteln ausgestattet, um tatsächlich zu kämpfen. Wir lassen das Gepäck zurück, das uns schwach und belastet hat, halten aber immer noch an dem fest, was uns Kraft gegeben hat.“

Appellistinnen und Appellisten reduzieren den Anarchismus oft – manchmal explizit, manchmal subtiler – auf eine weitere belastende „Identität“, die nur zu „Ohnmacht“16 und ‘Purismus“ führen kann, einem Hindernis für eine effektive Strategie. Diese theoretischen Spielereien sind notwendig, um die Ethik zu beseitigen, die für anarchistische Perspektiven grundlegend ist. Ohne den „Ballast“ einer „Identität“ können sie mit den Massenmedien sprechen, als Protestmarschalls auftreten (Atlanta), die Gentrifizierung von Ridgewood, New York, mit einem Yuppie-Café anführen,17 kämpferische Kämpfe in Verhandlungen mit dem Staat münden lassen, sich hierarchisch organisieren oder für den Stadtrat kandidieren wie der Ill Will-Autor Nicholas Smaligo. Auch Anarchistinnen und Anarchisten sind dafür bekannt, einige dieser Dinge zu tun. Deshalb geht es in diesem Text nicht nur um Appellismus, sondern auch darum, ehrlichere und kohärentere Praktiken als Anarchistinnen und Anarchisten zu entwickeln. Es besteht ein großer Unterschied zwischen dem Festhalten an den Bedingungen der Möglichkeit zur Autonomie und dem Schwenken des Anarchismus als „Flagge der Identität auf dem Markt der revolutionären Prozesse “18.

In Wirklichkeit sind die einzigen wertvollen Einsichten, die in den appellistischen Schriften verstreut sind, aus der anarchistischen Tradition vampirisiert worden: informelle Organisation, Autonomie, Betonung der Logistik und der Infrastrukturen der Herrschaft usw. Im ersten Abschnitt haben wir erörtert, wie der appellistische Fokus auf den Aufbau von Infrastruktur, der auf den ersten Blick unseren eigenen Zielen ähnelt, in Wirklichkeit dazu führt, dass bestehende rassische und koloniale Beziehungen zu Land und Ort, die für das weitere Funktionieren des Staates grundlegend sind, verstärkt werden. Außerdem weicht der appellistische Ansatz tendenziell von der Horizontalität anarchistischer Praktiken wie der gegenseitigen Hilfe ab. Während Projekte der gegenseitigen Hilfe darauf abzielen, Ressourcen als Teil des Aufbaus vertrauensvoller Beziehungen im Zuge eines gemeinsamen Kampfes zu teilen, neigen die Appellistinnen und Appellisten dazu, materielle Ressourcen und den Zugang zu ihnen in den Händen eines einzelnen Individuums oder einer Gruppe zu konzentrieren. Dadurch werden sie zu Torwächtern der materiellen Ressourcen, um ihre eigene Vormachtstellung in Schlüsselmomenten sozialer Kämpfe zu sichern.

Appellistinnen und Appellisten streben auch nach Macht und Kontrolle, indem sie Anführer und Machthaber in liberalen gemeinnützigen und legalistischen Organisationen ausfindig machen und sich unsichtbar mit ihnen, d.h. unter Anführern, organisieren (eine Methode, die durch die Theorie der Zusammensetzung gerechtfertigt ist). Indem sie diese Verbindungen auf Räume beschränken, in denen sie soziale, politische und entscheidungsrelevante Macht haben, nutzen appellistische Organisationen diese Räume der scheinbar horizontalen Begegnung, um ihr Programm zu bestätigen und ihre Macht zu stärken, während sie alle Entscheidungsräume, in denen sie keine Macht haben, delegitimieren.

Das Streben nach Macht bedeutet auch, dass viele ihrer Praktiken von optischer Symbolik angetrieben werden, einem Bedürfnis, den Kampf den Medien und „der Öffentlichkeit“ als legitim und/oder spektakulär zu präsentieren. Das liegt zum Teil daran, dass die Strategie der Composition die Rekrutierung einer großen Zahl von Menschen beinhaltet, aber es deutet für uns auch darauf hin, dass ihr Streben nach Macht sie dazu bringt, bei bestimmten Grundsätzen übermäßig viele Kompromisse einzugehen. Dieses Interesse an optischer Symbolik und öffentlicher Legitimität führt häufig dazu, dass sie sich weit vom Projekt des Aufbaus von Autonomie gegenüber den gesellschaftlichen Herrschaftsinstrumenten (wozu die Medien und die Spektakularisierung von Kämpfen gehören) entfernen.

In Frankreich spitzte sich die Unvereinbarkeit zwischen dem Streben der Anarchistinnen und Anarchisten nach Autonomie und dem Wunsch der Appellistinnen und Appellisten nach Macht und Legitimität in einem kritischen Moment zu, als es um die Verteidigung des Territoriums ging, das als ZAD von Notre-Dame-des-Landes („zu verteidigende Zone“) bekannt ist. In diesem Fall fielen die Appellistinnen und Appellisten anderen ZAD-Landverteidigerinnen und -verteidigern in den Rücken, drängten auf einen Deal mit dem Staat, um das Land legal zu erwerben, und nahmen den Bullen die Arbeit ab, indem sie die Verteidigungsanlagen der Zone selbst abbauten, um den Weg für Verhandlungen zu ebnen (und gleichzeitig den Bullen den Weg für eine Razzia frei zu machen, die sie in den folgenden Tagen durchführte). Wie sieht es nun in den USA aus, wo appellistische Gruppen, die das Ergebnis der ZAD als „Sieg“19 bezeichnen, in einigen wichtigen Volkskämpfen auftauchen?

Wie wir in diesem Abschnitt erörtert haben, werden appellistische Ideen durch eine Vielzahl autoritärer Verhaltensweisen und verdeckter hierarchischer sozialer Vereinbarungen umgesetzt, die sie vor Kritik abschirmen und die ideologische Grundlage, auf der sie operieren, verschleiern.20 Die Idee der „Undurchsichtigkeit“ äußert sich typischerweise in einer Fetischisierung von Normativität und Respektabilität, was dazu führt, dass soziale Normen wie Frauenfeindlichkeit und Missbrauch ungehindert fortbestehen können. Diese Verhaltensweisen sind nicht nur bei appellistischen Autoren anzutreffen, sondern werden von Manipulatoren und Managern aller Couleur reproduziert. Die besondere Art des appellistischen Autoritarismus, der nach außen hin subtil, aber explizit ausgeprägt ist, macht sie jedoch besonders effektiv darin, diese Verhaltensweisen und Regelungen in antiautoritäre Räume einzuschleusen.

Der relative Mangel an (jüngeren) anarchistischen Analysen in den USA hat ein Vakuum hinterlassen, in das sich die Appellistinnen und Appellisten gestürzt haben, um es zu füllen. Wir halten es für wichtig, appellistische Schriften nicht zu veröffentlichen oder zu verbreiten (es sei denn, wir wollen sie kritisch analysieren) oder zu ihren Projekten beizutragen, um ihnen keine weitere Legitimität zu verschaffen und es ihnen zu ermöglichen, weiterhin aus anarchistischen Räumen zu rekrutieren. Oft scheinen die Menschen, mit denen wir gesprochen haben und die appellistische Texte verbreiten oder lesen, die Theorie zu schätzen, aber nicht unbedingt die Praktiken zu unterstützen, die sich aus ihr ergeben. Wir möchten die Menschen dazu ermutigen, die Schlussfolgerungen, die die Autorinnen und Autoren aus ihren Analysen der aktuellen Situationen ziehen, und die praktischen Auswirkungen dieser Schlussfolgerungen genau zu prüfen. Man braucht keine schicke Website, um Schriften zu veröffentlichen, und Anarchistinnen und Anarchisten müssen ihre eigene Infrastruktur für Druck und Vertrieb entwickeln.

STATTDESSEN…

Anarchistische Ideen lassen sich nicht durch ein einfaches Programm in die Praxis umsetzen, aber genau das ist ein wichtiger Teil der Anarchie. Anarchie ist eher eine Reihe von Fragen, die wir in unserem Alltag und in unserem Kampf gegen Autorität und Unterdrückung stellen – dies wird oft als „Projektualität“ bezeichnet, im Gegensatz zu „Strategie“, denn Strategie ist ein Begriff, der oft verwendet wird, um auf die Notwendigkeit hinzuweisen, die Mittel dem Zweck zu opfern und die Aktionen anderer Menschen zu manipulieren.

„Der wesentliche Unterschied zwischen einer Einfluss nehmenden, aufständischen Minderheit und einer Avantgarde- oder populistischen Gruppe ist, dass die erstere ihre Prinzipien und horizontalen Beziehungen zur Gesellschaft wertschätzt und versucht, ihre Prinzipien und Modelle zu verbreiten, ohne sie als Besitzstand zu wahren. Eine Avantgarde hingegen versucht, diese zu kontrollieren – sei es durch Zwang, Charisma oder das Verbergen ihrer wahren Ziele. Eine populistische Gruppe bietet einfache Lösungen und nährt aus Angst vor Isolation die Vorurteile der Massen.[…]

Die Einfluss nehmende Minderheit wirkt durch Resonanz, nicht durch Kontrollen. Sie nimmt Risiken auf sich, um inspirierende Modelle und neue Möglichkeiten zu schaffen und um bequeme Lügen zu kritisieren. Sie genießt keine wesenhafte Überlegenheit, und auf die Annahme einer solchen zurückzufallen, würde zu ihrer Isolation und Irrelevanz führen. Wenn ihre Schöpfungen oder Kritiken niemand inspirieren, wird sie keinen Einfluss haben. Ihr Zweck ist nicht, Anhänger zu gewinnen, sondern soziale Gaben zu schaffen, die andere Menschen frei nutzen können.“ – Die Feuerrose ist zurückgekehrt! Der Kampf um die Straßen von Barcelona, 2012

Es ist viel schwieriger, unsere Projekte durch diese Brille zu betrachten, aber es gibt uns die Möglichkeit, kritisch zu denken und selbst zu handeln. Individuen und Kollektive, die sich auf diese Weise selbst ermächtigen, sind entscheidend für den letztendlichen Erfolg des anarchistischen Projekts, das von der Fähigkeit der Menschen abhängt, differenziert und kritisch zu denken. Dies ermöglicht eine genauere Einschätzung der Welt um uns herum und dessen, was wir in ihr tun. Das ist effektiver, als bestimmte Realitäten zu beschönigen, um die Welt weniger verwirrend zu machen und bequemere Wege für Aktionen zu finden.

Einige Fragen, die wir uns stellen könnten, ohne dabei unsere Ablehnung jeglicher Form von Autorität aus den Augen zu verlieren, sind:

– Wie stellen wir uns die möglichen Auswirkungen unserer Projekte vor? Wie bewegt sich dieses bestimmte Projekt, das ich durchführe, in Richtung Anarchie, Aufstand und kollektive Befreiung?

– Wie können wir Praktiken der Fürsorge, Beziehungen und Kollektive entwickeln, die in unseren Unterschieden Stärke finden, anstatt durch falsche Homogenität nach Gemeinsamkeiten zu streben?
– Welche Projekte und Beziehungen können wir aufbauen, die die rassischen und subkulturellen Gräben zwischen verschiedenen aufständischen Gruppen untergraben und gleichzeitig die rassischen und anderen unterdrückerischen Dynamiken bedenken, die immer noch existieren?

– Wie sieht es aus, wenn wir über die Momente des Aufstands hinausgehen, wenn es nicht mehr darum geht, die Barrikaden zu verteidigen, sondern sie zu versorgen? Wie beeinflusst die Vorbereitung auf diesen Wandel unseren Ansatz in der Gegenwart?

Die „Imaginäre Partei“-Struktur der appellistischen Bewegung bedeutet, dass diejenigen, die die Anführer in ihrem Handeln unterstützen, nicht mit der gesamten Strategie betraut sind. Die Anführer mögen zwar ein Charisma und einen Sinn für Organisation ausstrahlen, der ihnen Respekt einflößt, aber viele in ihrem Umfeld werden auch mit denselben Frustrationen konfrontiert, die in traditionellen linken Organisationsräumen anzutreffen sind: Hierarchie, fehlende Handlungsmöglichkeiten, entfremdende Normalität, sexuelle Gewalt und andere Unterdrückungen. So wie Anarchistinnen und Anarchisten oft versuchen, in die Rekrutierungsbemühungen der Linken zu intervenieren, indem sie Kritik an der Basis üben und mit ihren eigenen Projekten eine Alternative aufzeigen, können wir das Gleiche im Hinblick auf diejenigen tun, die in die Imaginäre Partei aufgenommen werden. Während wir dazu ermutigen, autoritäre Praktiken und die Schießwütigen des appellistischen Milieus abzulehnen, überlassen wir es den Leserinnen und Lesern, wie sie sich zum Rest ihrer Netzwerke verhalten wollen.

Indem wir die grundlegenden Prinzipien einer anarchistischen Ethik herausarbeiten und auf dieser Basis mit anderen zusammenarbeiten, können wir unsere Kämpfe für diejenigen mit autoritären Ambitionen unwirtlich machen, egal ob es sich um appellistische, tankie- oder DSA-Liberale handelt.


WEITERE LEKTÜRE (auf Englisch)

Another Word for Settle: A Response to ‘Rattachements’ and ‘Inhabit,’” mtlcounterinfo.org, 2021 (zur Frage, wie die appellistische Strategie eine Erweiterung des Siedlerkolonialismus ist)

Decisions, Compositions, Negotiations,” trans. Ungrateful Hyenas, in Decomposition: For Insurrection Without Vanguards, 2023 (für einen genaueren Blick auf die Logik und Praxis der Komposition)

Breaking Ranks: Subverting the Hierarchy and Manipulation Behind Earth Uprisings, 2023 (für eine weitere Diskussion über manipulative und avantgardistische Praktiken, die Spektakularisierung des Kampfes und den Einsatz von Radikalen als Stoßtrupps)

“Blanqui or the Statist Insurrection,” trans. Ungrateful Hyenas, in Decomposition: For Insurrection Without Vanguards, 2023 (um die Perspektive des autoritären Aufstandsalismus zu seinem Ursprung zurückzuverfolgen)


(und auf Deutsch)

Blanqui oder die staatliche Insurrektion“, 2011 (zur Zurückführung der Perspektive des autoritären Insurrektionalismus auf ihren Ursprung).

Anarchismus und Identität(en), ein falsches Verhältnis. Von uns auf unseren Bog veröffentlicht, mit Kritiken von Non Fides und Finimondo.


1A.d.Ü., Lichtundurchlässigkeit.

2Der Ausdruck „Partei des Aufstands“ wird in Proposition 14 von Comité d’occupation de la Sorbonne en exil (2006), Les mouvements sont faits pour mourir (2007), „The Kazakh Aufstand“ (Ill Will Editions, 2022), „Civil War, Dialectics, and the Possibility of Revolution“ (Spirit of May 28, 2023) und „On Destituent Power“ (Tronti, Ill Will Editions, 2022) verwendet.

3A.d.Ü., Entbehrung.

4„Wenn man territoriale Autonomie als Strategie zur Zerstörung des Kapitalismus und des Staates ansieht, bedeutet das auch, dass man langfristig Zonen entwickeln muss, in die die Bullen nicht vordringen können, in denen die Mittel zur Erhaltung und Reproduktion der dort lebenden Menschen vorhanden sind und in denen eine große Gruppe engagierter und vernetzter Menschen jeden Alters die Mittel und das Bedürfnis hat, dieses Gebiet über Generationen hinweg zu verteidigen. Wir können uns an Beispielen orientieren, wo diese Arbeit bereits seit Hunderten von Jahren geleistet wird: Wet’suwet’en-Gebiet, Elsipogtog, Barriere Lake, Six Nations, Tyendinaga, Kahnawá:ke und Kanehsatà:ke. Diese Arbeit ist im Großen und Ganzen seit Hunderten von Jahren nicht mehr von nicht-indigenen Gemeinschaften geleistet worden – wir fangen bei Null an, und selbst wenn es uns ethisch sinnvoll erscheinen würde, unsere eigene territoriale Autonomie in den Vordergrund zu stellen, wäre es wahrscheinlich nicht strategisch, denn Siedlergemeinschaften in einer Siedlergesellschaft haben viel weniger strukturelle Konflikte mit dem kolonialen System. Es macht uns nicht schwächer, wenn wir dem Kampf für die territoriale Autonomie von Gemeinschaften, denen wir nicht angehören, Priorität einräumen. Es macht uns stärker, wenn wir dadurch Beziehungen aufbauen, die zu revolutionären Kontexten beitragen, in denen die Ziele der revolutionären Netzwerke der Siedler mit denen der antikolonialen indigenen Gruppen zusammenlaufen“ (“Another Word for Settle: A Response to ‚Rapprochements‘ and ‚Inhabit’“, 2021).

5Aus Der kommende Aufstand (2007): „Sogar in den endlosen Subventionen, die viele Eltern ihrem proletarisierten Nachwuchs zu zahlen gezwungen sind, gibt es nichts, was nicht zu einer Art Mäzenentum für die soziale Subversion werden könnte.“ Aus „The Next Eclipse“ (2018): „Eine Craft-Brauerei oder ein Eiscreme-Unternehmen, das sein eigenes lokales Produktionsnetzwerk aufbaut, kann ein Projekt der Partisanen sein“. Aus „How to Start a Fire“ (2017): „Eigentum erwerben. Piratensender betreiben. Baue Öfen. Lerne zu kochen. Lerne Sprachen. Besorge dir Waffen. Öffne Straßenkarren und Geschäfte. Besetze Gebäude. Eröffne Cafés. Diners. Restaurants. Pizzaläden. Buchläden. (…) Das Haus am See der Familie wird umfunktioniert, um hundert Personen für ein sommerliches Strategietreffen unterzubringen. Langsam wächst etwas.“

6 Der Begriff „links“ stammt aus der parlamentarischen Unterteilung (in europäischen und anderen Ländern) zwischen rechts und links unter den gewählten politischen Vertretern. In den USA ist die Linke in ähnlicher Weise in die Mechanismen und Perspektiven eines radikalen Flügels einer politischen Strömung eingebettet, der solche Vertreterinnen und Vertreter angehören. Daher beinhaltet die Linke oft Organisationsansätze mit großen Zelten und die Tendenz, Kämpfe zu steuern und zu kontrollieren, was in der Regel mit den eher befreienden Prinzipien des Anarchismus in Konflikt gerät. Wir lehnen es ab, den Anarchismus in die Linke einzubeziehen, um uns klar von diesen kompromittierenden und managementorientierten Tendenzen abzugrenzen.

7A.d.Ü., Zusammensetzung, da aber auch der Begriff als Titel für einige Texte und Kritiken von großer Bedeutung ist, haben wir ausnahmsweise den engischen Begriff Composition so gelassen, das Kursive ist von uns.

8“Decisions, Compositions, Negotiations” (trans. Ungrateful Hyenas, 2023).

9A.d.Ü., oder auch Einheitsfront.

10„Was der Staat auf keinen Fall dulden kann … ist, dass die Singularitäten eine Gemeinschaft bilden, ohne eine Identität zu bejahen, dass die Menschen zusammengehören, ohne eine repräsentierbare Bedingung der Zugehörigkeit zu haben“ (The Coming Community, 86).

11Siehe zum Beispiel die Arbeit von Shemon Salam, die in Fußnote 9 besprochen wird.

12Partisan: „von oder zu einer Partei oder Fraktion gehörend“.

13A.d.Ü., Third Position ist eine Reihe von neofaschistischen politischen Ideologien, die erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg in Westeuropa beschrieben wurden. Sie entwickelte sich im Kontext des Kalten Krieges und erhielt ihren Namen durch die Behauptung, sie stelle eine dritte Position zwischen dem Kapitalismus des Westblocks und dem Kommunismus des Ostblocks dar.

14Mitbegründer Shemon Salam hat kürzlich einen öffentlichen Wutanfall qua Essay „Lost in the American Wasteland“ veröffentlicht, der von der staatsfeindlichen kommunistischen Zeitschrift Endnotes herausgegeben wurde und in dem er die radikale Tradition der Schwarzen verleugnete, weil sie die Revolution für ihn noch nicht vollbracht habe. Siehe auch den SM28-Beitrag (von Shemon und anderen) „Akron, Jayland Walker, and the Class War“, in dem die Autoren Akron besichtigen, nachdem ein Schwarzer erschossen wurde, und sich dann darüber beschweren, warum nicht mehr Menschen danach Ausschreitungen gemacht haben.

15Ein Interviewpartner von SM28 sagte: „Ich denke, dass der Anarchismus heute völlig aus den Fugen geraten ist und aufgegeben werden sollte. (…) Der Anarchismus ist unverbesserlich liberal.“

16Ein Zitat aus „‚Against‘ Anarchism: A Contribution to the Debate on Identities“ (2018), veröffentlicht auf Lundi Matin, der wichtigsten appellistischen Plattform in Frankreich, deren Inhalte Ill Will regelmäßig übersetzt und wiederveröffentlicht. Er stellt die These auf: „Diesen Aspekt auf den Tisch zu bringen, erscheint uns grundlegend. Sich selbst als Anarchist*in (oder eine andere „revolutionäre Identität“) zu bezeichnen, trägt überhaupt nichts bei oder erleichtert nichts, es stärkt weder unsere revolutionäre Kraft noch hilft es uns, uns besser zu organisieren. Stattdessen isoliert sie uns und macht uns zu einem leichten Ziel für Repressionen. Ideologische Identitäten sind ein Pfeiler, auf dem der Feind ruht, also liegt es an uns, ihnen abzuschwören.“

17Das sind nur einige der abscheulichen Dinge, die die Autoren in Nordamerika von appellistischen Menschen gesehen haben.

18„„Gegen“ den Anarchismus. Ein Beitrag zur Debatte über Identitäten“.

19„The Strategy of Composition“ (Hugh Farrell, 2023). Wir wollen nicht dazu beitragen, dass sich die appellistisch aufgeblasenen Ideen über den Einfluss ihrer Theorien auf Kämpfe wie Stop Cop City, deren Dynamik vor Ort die der Kompositionsintelligenz übersteigt und sich ihrer Erfassung entzieht, in den Vordergrund drängen. Wir wollen auch nicht nur das zitieren, was sie über sich selbst sagen, denn das vermittelt ein übertriebenes Bild von dem, was sie tun. Der Geist des 28. Mai ist zum Beispiel größenwahnsinnig über den Aufstand von George Floyd: „Keine andere politische Tendenz war in der Lage, in diesem Kampf Fuß zu fassen, oder hatte viel Interessantes dazu zu sagen. In der Vergangenheit war es unser Ziel, Räume der Begegnung zwischen verschiedenen Tendenzen zu schaffen. Aber heute ist klar, dass unsere Partei allein dasteht„ (“Among Friends: Reflections After the George Floyd Uprising”, 2021).

20Einige dieser Verhaltensweisen werden in einem Interview mit dem Titel „Conflict in Movement“ auf The Final Straw Radio sehr gut auf den Punkt gebracht.

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Identitäres Konstrukt und existenzielle Alternative

Dieser Text ist nicht eine kritische Studie der Thesen, die im Buch Der kommende Aufstand dargelegt werden, ebensowenig ist er ein Versuch, es „theoretisch auseinanderzunehmen“. Zuerst kam mir die Idee, es so anzugehen, und zweifelsohne bin ich nicht der Einzige. In der Tat könnten viele der in diesem Buch vorangetragenen Dinge diskutiert werden. Doch bald bekam ich das Gefühl der Sinnlosigkeit eines solchen Vorgehens. Dieses Gefühl, diese Intuition viel eher, war jene der Unmöglichkeit eines Dialogs mit diesem Buch, oder eines stets an einem bestimmten Punkt unterbrochenen Dialogs. Mir kam das entmutigende Gefühl, dieser Text könne nicht kritisiert werden: es schien mir, dass hier etwas anderes im Spiel war, etwas, worüber man nicht diskutieren kann, keine blossen Meinungsverschiedenheiten, es schien mir, dass das, was in diesem Text zentral war, nicht das war, was behauptet wurde, sondern die Behauptung selbst.

Dieser wütende Wille nach Behauptung ist das, was dem Text seine Stärke, jedoch auch seine Steifheit gibt, dies ist es, was ihn für den Dialog unzugänglich macht. Darin sehe ich nicht bloss einen Stileffekt, sondern eine tiefgreifende Struktur, so, wie sie allen doktrinären Darlegungen eigen ist.

Mir zeigte sich also dies: wenn DKA viele Ideen, eine Vorstellung der Welt oder ein politisches Projekt verteidigt, so ist das, was dieser Text zur Schau stellt, stets durch die Behauptung einer Identität bedingt. Dies ist der Blickwinkel, aus dem ich das Buch angehen werde.

Die Identität und ihre Eigenschaften

Es ist nicht notwendig, zu definieren, was eine Identität ist, um sie zu kennen, ebenso wie es nicht notwendig ist, eine Katze zu definieren, um zu wissen, was eine Katze ist.

Ein Individuum mag Macken haben, es ist ein Individuum; tausend Individuen, die dieselben Macken haben, das ist vielleicht ein Brauch oder eine Epidemie; tausend Individuen, die eine Macke verteidigen, das ist eine Identität.

Eine Identität ist das, was einer Gruppe zugrunde liegt, indem sie jedem Individuum, das sich für sie einsetzt, ermöglicht, sich aktiv durch sie zu definieren. Für das Individuum ist das ein Schritt aktiver Unterwerfung, der ihm ermöglicht, diese Identität für sich in Anspruch zu nehmen. Im Gegenzug verschafft die Identität dem Individuum den Vorteil einer subjektiven Stärkung. Der einfachste Vorteil besteht darin, sagen zu können: « Ich bin », und vor allem, « Ich bin nicht » dies oder das.

Eine Identität zeichnet sich durch gegenseitiges Einschränken, durch Grenzen und Ränder aus. Es gibt Uns und die Anderen, die sich im Verhältnis zu Uns definieren.

Die Identität will auffindbar sein. Daher Gesten, Kleider, Parolen und ihr direkter Nutzen: die Sichtbarkeit gewährleisten, indem man von der Identität abschneidet. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, ist es ziemlich offensichtlich, dass die Masken nicht da sind, um Gesichter zu verhüllen, sondern, um eine Identität zum Ausdruck zu bringen.

Eine Identität ist keine Lösung für irgendetwas, doch sie hat eine Antwort auf alles. Bei jedem Problem, jedem Widerspruch, jeder Gefährdung reagiert sie spontan, mit ihrer Wahrung und Stärkung zum einzigen Zweck. Wie sich hervorheben, wie ins Auge stechen, wie um sie herum die szenographische Ordnung ihrer Welt wiederherstellen: auf all das antwortet sie mit der Schnelligkeit eines lebenswichtigen Reflexes.

Die szenographische Ordnung ihrer Welt: keine Identität beruht auf einer blossen Vorstellung der Welt, sondern auf einem aktiven in Szene Setzen dieser. Die Welt wird aktiv aufgebaut, wie eine Erzählung, in deren Innern die Identität eine bedeutende oder tragische Rolle spielt. Die Identität kann das Überflüssige, das Unbestimmte, das, was nicht erlaubt, zu urteilen oder Position zu ergreifen nicht ausstehen. Die Identität liebt die Ordnung. „Ordnung in die Allgemeinplätze dieser Epoche bringen.“

Für das Individuum, das in dem sie wohnt, ist die Identität stets etwas zu konstruierendes. Irgendetwas entgeht immer der perfekten Identifizierung des Individuums: es gibt immer Schwachstellen, immer neue, noch zu kreierende Stärkungen. Die Identität ist immer eine Suche nach Identität.

Die Identität verschleiert den Feind, sobald sie ihn zum Vorschein kommen lässt. Denn sie lässt ihn nach ihren eigenen szenographischen Bedürfnissen erscheinen. Es gelingt ihr, ihn zu benennen, jedoch nicht, ihn zu kennen. Sie schleift sogleich dessen widersprüchliche und überflüssige Unebenheiten. Der Feind dient zu nichts anderem, als alles andere: als Vorwand für ihre eigenen Bestätigung. Die Identität, was dies betrifft und auch sonst, selektiert.

In sich selbst alles findend, was sie benötigt, bemerkt die Identität ihre eigenen Grenzen nicht: darin ähnelt sie dem Alkoholiker oder Drogensüchtigen, schreit nach Getränken und es fehlt nur noch der Abstieg. Eine Identität ist der permanente Rausch des Ichs.

Verlangen nach der Einheit des Ichs, nach dem Gleichförmigmachen der Ideen und des Lebens, Grauen vor dem Zweifel und dem Formlosen, Bedürfnis nach Behauptung, nach Kohärenz, Kohäsion, Kontraktion: Identität.

Eine Identität kann sich nicht als Identität erkennen, ohne sich zu gefährden. Dass die Philosophen des XVIII. Jahrhunderts fähig waren, die Gesten der Religion als Gesten aufzuzeigen, war der Beweis eines unheilbaren Risses in der christlichen Identität. Und umgekehrt.

Als sozialer Gegenstand, hat eine Identität ihre eigentliche Nützlichkeit in der Ökonomie des Sozialen. Vor allem die Randidentitäten nehmen eine Impffunktion für die Gesamtidentität (die Gesellschaft) ein, da sie helfen, sich neu zu definieren und sich zu stärken. Das Christentum hat schliesslich die Ketzereien, die es selbst produziert hat, nicht lange überlebt. Und umgekehrt.

Die Identität ist eine in den Individuen verankerte, in den Dienst von spezifischen sozialen Bedürfnissen gestellte kognitive Realität.

Usw., usf.

Am Anfang war das Ich

Diese kurze, etwas trockene und gezwungenermassen unvollständige Ausschweifung durch die allgemeine Beschreibung dessen, was ich unter dem Wort Identität verstehe, erlaubt, jene, die in DKA zum Ausdruck kommt, etwas besser zu begreifen.

Insbesondere wird verständlich, wieso es so sehr an die Problematiken des Ichs gebunden ist: es kann etwas daraus machen. DKA ist ein Identitätsangebot. Es fühlt sich in der Lage, den abdriftenden Ichs ein Lebensprojekt vorzuschlagen. Was es anbietet, ist weniger ein politisches Projekt, als eine existenzielle Alternative.

Was im Aufruf klar formuliert wurde, nämlich der Wille, ideologisch und existenziell deutliche und aufeinander abgestimmte Gruppen zu bilden, findet sich in verdünnter Form, in einer Version für das „breite Publikum“, in DKA wieder. Die Absicht blieb jedoch dieselbe: überzeugen, aufrufen, um sich sammeln. Die erste Stärkung, an die die Identität denkt, ist die zahlenmässige Stärkung. « Wir sind nicht genug zahlreich » bleibt ihr ewiges Lamento. Es gilt ohne Unterbruch zu überzeugen, die Einwände aus dem Weg zu räumen, die anderen Gruppen zur Übergabe zu treiben: zu bekehren.

Um dies zu tun, um dieses Angebot glaubwürdig und notwendig zu machen, zeichnet DKA zunächst das Bild einer Welt in Ruinen. Die sieben Kreise der Hölle sind nicht zu viel, um diese materielle und geistige Ruine zu beschreiben. Materiell zunächst, und alle wissen das, die Bildschirme und Statistiken überhäufen sich mit den Bildern der Katastrophe. Aber vor allem „geistig“ denn in Wirklichkeit ist es die angebliche Auflösung des Subjekts, die einen für den vorgeschlagenen identitären Wiederaufbau geeigneten Raum anbietet. Dies ist auch der Grund, weshalb die erste Figur der Hölle das Ich-ganz-alleine ist, das isolierte Subjekt und seine stolze Devise « Ich bin was ich bin ». Und hinter ihm das wirkliche Subjekt, leidend, nicht anpassungsfähig, deprimiert, das sich nur in der Revolte, das heisst, im auf sich Nehmen der vorgeschlagenen Identität wieder in Gewahr seiner eigenen Realität bringen kann. « Trete uns bei, und du wirst gerettet sein ».
Als existenzielle Alternative hat DKA eine „auswegslose Gegenwart“ vorauszusetzen, um so den Ich’s, die versucht wären, sich mit dieser unerträglichen Welt abzufinden, sich in ihr Nischen zu suchen den Weg zu versperren. Sie werden hingegen mit Abscheu die Kreise der Hölle durchqueren müssen, um so das Paradies eines Projektes, eines Ziels, einer Gewissheit zu finden: eine Lebensentscheidung.

Das Durchqueren der Kreise der Hölle und das Projekt, zu dem es führt, greift jene Erzähldynamik wieder auf, die der Identität, ausgelegt als aktives und zentrales Subjekt der Welt, innewohnt: Die Identität alleine gibt der Welt den Sinn, dessen sie durch sie selbst enteignet wurde.

Ich werde es nicht unterlassen, im Vorbeigehen meine relative Zustimmung zur Definition des Ich’s, als Durchgangspunkt einer singulären und kollektiven Erfahrung der Welt, und die rasche Kritik der identitären Eineckung anzumerken, die diese begleitet. Ich bedauere schlicht, dass die Konsequenzen daraus nicht gezogen wurden. Ich bedauere vor allem, dass sich diese Definition nicht auf das ausweitet, was sozial das Ich festlegt, sondern sich darauf beschränkt, aus ihm eine neutrale Sache zu machen, eine reine Subjektivität, verirrt in einer sozial undifferenzierten Welt. Und das Vergessen all dessen, was macht, dass die Welt für gewisse „Ich“’s weniger das ist, was sie durchdringt, als das, woran sie sich andauernd stossen.

Die singuläre Erfahrung als Realität des Subjektes verschwindet jedoch sehr schnell hinter der gesteigerten Wertbeimessung gegenüber der „Verbindung“. Man hat es also nur für einen Moment losgelöst, das Ich, um ihm eine Heidenangst, die Angst vor der Leere einzujagen, und um ihm aufs Neue die brüderliche Bindung vorzuschlagen. Das Band, das persönliche Band weitet sich aus. Und es ist nicht das alberne „soziale Band“, wovon die Politiker sprechen, was dem, von einem Schwindelanfall gepackten Ich erneut vorgeschlagen wird. Was bindet mehr als eine spezielle, umschränkte, herzliche und obendrein revolutionär auf alle ausweitbare Identität, das Wir?

Als Bekehrungswerkzeug entdeckt DKA die guten alten Methoden der Predigt wieder: erst Angst machen, in die Hölle einsehen lassen, und dann eine letzte Rettung vorschlagen. Eine rhetorische Methode. Auch eine Methode der Abrichtung und Aneignung; ein Baby in die Luft werfen, um es gleich wieder aufzufangen, einem Feind drohen, um ihm daraufhin die Hand zu reichen. Eine Identität ist allem voran ein Unterwerfungsprozess, und sie kennt und appliziert instinktiv all dessen Wirkungsbereiche.

„Der gute Moment, der nie kommen wird“

Und selbstverständlich hat das Ich keine Wahl: dem Weiterleben im anxiogenen Brutkasten der Welt, so wie sie ist, zuzustimmen, bedeutet, sich dazu zu verdammen, mit ihr zugrunde zu gehen.  Denn das Urteil wurde gesprochen: das globale Babylon geht seinem Zusammenbruch entgegen. Die einzige Alternative ist daher, mit ihr zugrunde zu gehen oder gegen sie zu leben. Schliesslich aufs Neue „die Freiheit oder der Tod“.

Nirgends wird die Möglichkeit in Betracht gezogen, und sei es nur als Hypothese, dass der Kapitalismus noch etwas andauert, dass sein Zusammenbruch leicht aufgeschoben werden, oder vielleicht so langsam sein könnte, dass er Gefahr läuft, mehrere Jahrhunderte zu brauchen. Was werden wir in diesem Fall tun? Soll diese Möglichkeit auf unser Handeln einwirken, oder ist es weiser, sie gar nicht zu bedenken? In welcher Zeitlichkeit verorten wir unser Handeln? Selbstverständlich, diese kleinlichen, rationalen, nach Liberalismus stinkenden Berechnungen widerstreben unserer revolutionären Identität, die von nichts anderem träumt, als erneut „das Banner der guten alten Sache“ zu schwingen und den Ansturm anzugehen, und soll sie dabei zugrunde gehen.

Szenographisc h betrachtet, sind Vorschläge wie « das ist vielleicht nicht der gute Moment » für eine Identität vollkommen nichtig. Eine Identität erbaut sich nicht auf Szenarien der Art von Désert des Tartares. Sie vernimmt viel lieber die Signalhörner der Schlacht. Man bildet keine Identitäten auf Ungewissheiten.

Darum ist es ziemlich unnütz, über die praktischen Schwierigkeiten oder den unangebrachten Charakter dieses oder jenes Unternehmens zu argumentieren, wofür sich die Identität einsetzt: mit einer Identität, die sich kundtun muss, diskutiert man nicht über praktische Probleme. Das Mögliche und das Unmögliche, das existiert für eine Identität nicht, und eben darin liegt ihre Stärke, denn die Stärke, nach der sie sucht, ist ihre eigene Verstärkung durch diejenigen Individuen, die sie tragen. Sie passt sich nicht unter Berücksichtigung von objektiven Realitäten der Welt an.

Zu sagen, dass der gute Moment niemals kommen wird, bedeutet, zu sagen, dass man niemals mit Gewissheit weiss, ob dies der gute Moment ist oder nicht: es ist eben nötig, den Schritt zu wagen, ohne die Gewissheit, erfolgreich zu sein. Das ist wahr, bedeutet aber nicht, dass es nicht nötig wäre, den Moment zu berücksichtigen, was heissen soll, die Wirklichkeit zu befragen, und nicht, darauf zu warten, dass sie auf unsere Verlangen antwortet. Wenn auch auf die Gefahr hin, im gekommenen Moment in die Menge zu stürmen.

Der „gute Moment“ für die Kämpfe hängt direkt von keinem der Beteiligten ab, er unterliegt nicht der Entscheidung oder Wahl irgendeines Komitees, unsichtbar oder nicht. Tatsächlich ist er stets Gegenstand eines Konfliktes. Dies ist insbesondere heute wahr, wo die Kämpfe immer weniger von Parteien und Gewerkschaften abhängig sind, während sie immer mehr danach streben, sich andere, zweifellos nicht „radikalere“, doch auf jeden Fall weniger greifbare Formen zu geben. Ein Beispiel dafür haben wir 2006 mit dem Kampf gegen das CPE gesehen, bei dem sich die Bewegung, von der man annahm, sie sei mit dem Zurückziehen des CPE’s beendet, trotzdem weitergezogen hat, schlicht, weil alle nicht damit einverstanden waren, es dabei zu belassen. Dennoch war es wohl erforderlich, anzuhalten, selbst mit Widerwillen, denn weiterzumachen wäre absurd gewesen. Auch eine soziale Bewegung ist wie eine Erzählung aufgebaut, mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende. Es gibt also, ob man es will oder nicht, Momente. Um das Beispiel von 2006 nochmal aufzugreifen, so wäre sein wirklich guter Moment gewesen, die „Bewegung“ fortsetzen zu können, obwohl „nicht mehr der Moment war“. Doch die „guten Momente“ kommen und gehen; sie hängen nicht nur von unseren Entscheidungen ab. Es geht nicht darum, der schlechten Zeitlichkeit der sozialen Bewegungen, die bloss das bleiben wollen, was sie sind, nachzugeben, sondern diese Zeitlichkeit in Konflikt zu stellen.

„das Gefühl des bevorstehenden Zusammenbruchs“

Der unmittelbar bevorstehende Tod des Kapitalismus, schon seit bald zwei Jahrhunderten predigt man ihn uns. Alle, die das Ende des Kapitalismus ersehnten, haben auch versucht, aus ihm ein historisches Schicksal zu machen. In den marxistischen Formulierungen erhob man Anspruch auf „tödliche Widersprüche“, auf den „Zerfall“. Jetzt ist es, dass er „in sich zusammenbricht“.

Der Zusammenbruch hat seine Merkmale: wenn ein Gebäude in sich zusammenbricht, liegt das daran, dass das Baumaterial, das es zusammenhält und ihm bis anhin ermöglichte, sich aufrecht zu halten, verfallen und verfault ist, so, dass es das Gebäude nicht mehr stützt. Er ist ein zunächst langsamer und kaum wahrnehmbarer Gesamtprozess, der eine kritische Phase und schliesslich eine plötzliche Beschleunigung erreicht, wobei die noch standfesten Bestandteile unter dem Gewicht jener nachgeben, die völlig verfault sind. Man kann ihn diagnostizieren, jedoch nicht seinen exakten Moment voraussehen.

Er ist ein Gesamtprozess, aber ein Prozess der Aufspaltung. Jedes Teil des Komplexes lösst sich von der Gesamtheit los, bildet nicht länger eine organische Einheit mit ihm. Aus biologischer Sicht ähnelt dies dem Zerfall eines Körpers.

Was dem Kapitalismus, und allgemeiner, der ganzen sozialen Welt durch die  Zusammenbruchsvorstellung abgesprochen wird, ist seine Fähigkeit, ein kohärentes Ganzes zu bilden.

Diesem angeblichen Mangel an Zusammenhalt stellt die Identität ihre eigene, dieser formlosen Sache unendlich überlegene, ethische Kohärenz entgegen. Dieser Aufspaltung stellt sich die Solidarität, die Dichte der Verbindungen, ja sogar die Undurchdringlichkeit der Gruppe gegenüber.

Diesen sich lösenden Verbindungen stellt die Identität die Macht jener Verbindungen entgegen, die sie wieder einrichtet. Jede Identität, ob Fanclub oder beliebige Sekte, hat ihren abspalterischen Moment, der ebenso jener ihrer Gründung ist.

Es ist ersichtlich, dass der Kapitalismus (oder das Empire, oder wie man will) in dieser Anschauung wie ein Ding, und wie etwas Äusseres ausgelegt wird. Er könnte auch eine Maschine sein, die durch den Verschleiss ihrer Teile schliesslich kaputt geht.

Das äussere Ding ist genau das, was eine Identität braucht, um sich zu bilden. Ihr Bemühen, alles zurück nach Aussen zu stossen, was nicht sie ist, erweckt in ihr Widerwillen gegen die Idee, dass sie Teil von dem sein könnte, was sie verabscheut. Der Kapitalismus ist der Feind. Der Feind kann nicht in Uns sein, er ist ausserhalb von Uns, er ist eine Äusserlichkeit, ein Ding.

Ihr Zusammenbruchsschicksal beschreibt das Kapital also als reine Äusserlichkeit, angesichts derer wir nur oberflächlich gezwungen sind, denn sie kann uns ja nur gelegenheitsmässig innewohnen oder uns in unseren Entscheidungen beeinflussen. Angesichts dessen sind das Klarheit schaffen und die zu erlernenden Tricks weit ausreichende Antworten.

Der Kapitalismus wird nicht nur als soziale Beziehung, sondern als erzwungene soziale Beziehung verleugnet. Die Tatsache, dass man zum Arbeiten gezwungen sein könnte, und dass eben darin das Problem liegt, wird völlig kaschiert.

Wenn der Kapitalismus in sich zusammenbricht, so ist das eigentlich weil er eine Fiktion geworden ist, an die niemand mehr glaubt. All die vom Empire gemachten Anstrengungen, um zu überleben, beschränken sich auf folgendes: die Fiktion seiner eigenen Existenz aufrechtzuerhalten. Diese Welt ist nicht wirklich, sie lässt es so scheinen, als ob sie existiert. Sie ist ein Nichts, eine Abstraktion, die es weniger zu bekämpfen als aus den Köpfen zu vertreiben gilt.

Das „unmittelbare Bevorstehen“ des Zusammenbruchs gibt den Abenteuern der Identität ihren tragischen Rahmen: es ist der Hintergrund, das Dekor ihrer Erzählung. Das „unmittelbare Bevorstehen“ schreibt diese Erzählung in eine Zeitlichkeit der permanenten Dringlichkeit ein. Die Zeit der Welt fliesst nicht mehr ohne vorbestimmte Richtung, je nach zufällig eintretenden Schwankungen dahin: sie hat einen Sinn, einen tragischen Sinn.

Wenn nichts wirklich präzises über den Zusammenbruch gesagt wird, so ist das, weil es nicht nötig ist, dass er wirklich ins Auge gefasst wird: was wichtig ist, ist im Grunde das Gefühl, das man davon hat. Die Überzeugung, in diesem Zusammenbruch zu leben, verstärkt das Bedürfnis nach der Identität, um die Furcht vor dem Zusammenbruch zu überwinden, darin zu überleben, aus ihm die Gelegenheit einer neuen Stärkung, ja sogar einer totalen Verwirklichung des identitären Inhalts zu machen. Als Mikro-Gesellschaftsvertrag verspricht die Identität jenen Schutz und Wohl, die ihr zustimmen.

Sollte der Zusammenbruch niemals kommen, ist das kein Problem: man wird immer die Anzeichen dafür entziffern können, bis in die Unendlichkeit. Die Millenaristen, die das Datum des Milleniums hundert mal vorausgesagt haben und es nie kommen sahen, liessen sich dennoch nicht entmutigen. Der Wahn, das heisst, die kollektiv organisierte Blindheit stützte sie.

Der „Zerfall der sozialen Beziehungen“ ist eine weit verbreitete Vorstellung. Zumeist stützt sie sich auf die Nostalgie nach „wahren“ sozialen Beziehungen von früher. Wird eine bessere Zeit vorausgesetzt, in der jeder seinen bestimmten, ein für alle Mal zugeschriebenen sozialen Platz innehatte. Diese etwas vage Nostalgie überlagert heute die bürgerliche Nostalgie nach den Trente glorieuses, nach einer Zeit, in der der Staat väterlich über uns Wachte.

Die Realität ist, dass der Kapitalismus einen stetigen sozialen Zerfall mit sich bringt, und dass dies seine Art ist, zu überleben. Er musste, um sich herauszubilden, eine tausendjährige Bauernwelt zerstören, um so eine Arbeiterwelt zu erschaffen, die ihrerseits zu zerstören (das heisst, neu zusammenzusetzen) er sich heute, zumindest in den entwickelten Ländern, zur Aufgabe macht. Diese lebenswichtige Dynamik der Zerstörung mit einem Zusammenbruch gleichzustellen, ist eine Täuschung, denn dies verweist den Lauf des Kapitals auf einen natürlichen Zerfallsprozess und erlaubt nicht, die Faktoren einzusehen, die in diesem Prozess zur Anwendung kommen.

Die Bedeutung eines Krieges kann man nicht durch die blosse Beschreibung der von ihm verursachten Schäden verstehen. Zu sagen, « man hat Dresten dem Erdboden gleichgemacht », sagt nichts über den Zweiten Weltkrieg aus. Zu sagen, « die sozialen Beziehungen lösen sich auf », sagt nichts über den Kapitalismus aus. Man muss noch aufzeigen, wieso sie sich auflösen.

Doch für eine Identität, die die Welt ohne Unterlass nach den Anforderungen der Erzählung ausrichten will, die ihr ermöglicht, in sie einzugreifen, bedeutet Verstehen Akzeptieren. Die Welt „wird erst dann unerträglich“, wenn sie „ohne Grund und Ursache“ scheint.

Die Identität, die sich um eine Verweigerung bildet, betrachtet die Tatsache, zu versuchen, das zu verstehen, was man verweigert, als ein Zugeständnis. Die Verweigerung genügt schon: was nützt es, zu versuchen zu verstehen? Verstehen wollen ist der Anfang des Verrats. Es genügt, seiner Verweigerung, seiner Revolte Ausdruck zu geben, und wenn man etwas verstehen muss, dann nur im Hinblick darauf, diese Revolte zu nähren. Der Rest ist überflüssig.

Es gibt viele Gründe und Ursachen für die kapitalistischen Welt, DKA setzt jedoch stillschweigend voraus, dass ihre Gründe irrsinnig sind, das heisst, nicht zu rechtfertigen. Dass der Kapitalismus ethisch nicht zu rechtfertigen ist, nimmt ihm, zu unserem Unglück, in keinster Weise weder seine Realität, noch seinen inneren Zusammenhalt. Die ethische Verweigerung genügt nicht. Die Gründe für den Kapitalismus sind gewiss nicht die unsrigen. Zu begreifen, was diese Gründe sind, ermöglicht, den unversöhnlichen Charakter dieses Konflikts zu bekräftigen, und ihn mit Präzision zu verorten.

„Was passiert, wenn Wesen sich finden“

Das Bild der tiefen Betrübnis, das uns DKA von der Welt zeichnet, mündet schliesslich in einer Idylle. Plötzlich finden sich „Wesen“.

Sorgfältig den Weg zu jeglicher Form von Gruppierung versperrt, die nicht sie wäre, stellt uns die Identität die Belohnung in Aussicht. Wir seien, schliesslich, „Wesen“. Keine sozialen, konfliktuell in einer Klasse verankerten Subjekte, Träger von Widersprüchen, sondern schlicht „Wesen“.

Endlich von allen Verbindungen losgelöste „Wesen“, frei und unterschiedslos, von aller Schlacke blank gescheuert, die die soziale Existenz dort abgesetzt hat. DKA spricht von den „Wesen“ wie der Humanismus vom Menschen sprach.

Die „Wesen“ besitzen die Reinheit von Engeln und schönen Abstraktionen. Sie können alle Formen annehmen, sich frei wählen. Endlich von aller Eigenheit gereinigt, sind sie bereit, die neuen Kleider überzuziehen, die man ihnen vorschlägt.

Den Konflikt nach Aussen gestossen, herrscht im Innern eine verschmelzende Atmosphäre, während versichert wurde, dass das, was sich zwischen den „Wesen“ bildet, nicht ein schreckliches „Milieu“ sein kann, denn die Milieus sind streng kritisiert worden. Die Verbindung zwischen den „Wesen“ ist von einer ganz anderen Natur, rein und unsagbar.

Die Identität kann sich nicht als Identität denken. Man sieht dennoch nicht recht, aufgrund welcher Magie diese jenigen „Wesen“ auf diese Art und Weise jeglicher Konfliktualität entwischen sollten, wenn nicht durch die Verabschiedung ihrer eigenen kritischen Urteilskraft.

Was sich hier durch das freie Bilden von „Wesen“ in „Kommunen“ abzeichnet, ist die Perspektive einer völlig befriedeten, in sich selbst transparenten Gesellschaft, ohne jegliche Antagonismen: der alte millenaristische Traum eines natürlichen Kommunismus, der auf der Idee einer kommunistischen Natur des Menschens ruht. Sei es in Form eines goldenen, edenhaften Zeitalters, oder in der anthropologischen Form eines „primitiven Kommunismus“, der dem Anbeginn des sozialen entspränge, es ist stets der Kommunismus, die absolute Gleichheit zwischen den Menschen, was vorausgesetzt wird, als ob es die wahre soziale Natur der Menschen wäre.

Man neigt also dazu, dem Stamm, der Bande, oder sogar der Meute gesteigerten Wert beizumessen, von denen man annimmt, dass sie natürlicher, wahrhaftiger sozial sind, als die „komplexen“ Gesellschaften der kapitalistischen Welt.

Vom „Primitiven“ nimmt man an, dass er keine Identitätsprobleme hat: er ist rein das, was er ist, das heisst, sein eigener Platz im Innern des Stammes. Er ist von der Last seiner eigenen Singularität losgelöst. Er ist eine reine, vervollständigte Identität. Er ist die anthropologische Essenz des Menschen: der Kommunismus.

Folglich ist die Revolution nur eine Frage materieller Organisation: Es genügt, allen Institutionen der komplexen Gesellschaft den Wind aus den Segeln zu nehmen, damit die soziale Veranlagung im Galopp zurückkommt: dies ist sofort der Kommunismus.

Der Kommunismus, als soziale Natur des Menschens, ist im Laufe der Geschichte vom Weg abgekommen: es genügt, ihm den Weg zu öffnen, damit er sogleich wieder aufersteht. Das Beispiel von natürlichen Katastrophen wie der Orkan Katharina hat es gezeigt: es genügt, dass sich in der kapitalistischen Organisation eine Bresche öffnet, damit sich die „Basis“ selbst organisiert, ihre teilenden Instinkte wiederfindet, sich kommunisiert.

Doch die Wirklichkeit ist sicherlich komplexer. Wenn der Mensch nicht die Kreatur von Hobbes ist, jene des ursprünglichen Krieges eines jeden gegen jeden, der allen sozialen Verträgen zugrunde läge, wenn er unmittelbar sozial ist, so drückt sich diese Gesellschaftlichkeit nicht nur durch eine angeborene Neigung zum Teilen aus. Die soziale Neigung zur Herrschaft, der sozialen Strukturierung rund um die Aneignung der Macht und/oder der Güter durch einige, und selbst jene zur manischen Akkumulation von Gütern, ist um einiges älter als der Kapitalismus (dem sie zweifellos den Weg geöffnet hat), und gewiss älter als der Mensch selbst. Der Mensch ist ein soziales Tier wie die anderen. Auch bei den Menschenaffen gab es Chefverhalten: das dominante Männchen macht sich den besseren Teil der Nahrung und die Weibchen zu eigen. Dies unterbindet nicht die gegenseitige Hilfe unter den Individuen der Gruppe. Nur ist es so, dass die Dominanten, aus Gründen bezüglich der natürlichen Selektion, umgehend Vorkehrungen in Stellung bringen, die sie noch stärker, und die Schwachen noch schwächer machen. Wieso sollte der Mensch von Natur aus anders sein?

Natürlich, der Mensch denkt sich seine eigenen Gesellschaften und handelt in ihnen. Seine soziale Formbarkeit ist derjenigen seiner nicht-menschlichen Artgenossen unendlich überlegen. Er hat eine Beziehung zu seiner eigenen Sozialität. Doch diese Beziehung ist nicht eine bloss zweckdienliche Beziehung: oft wirkt sie wie die Verehrung eines Götzenbildes. Der Mensch ist die Kreatur, die ihre eigene Gesellschaft fetischisiert. Und es ist der Fetisch, der schlussendlich die Kontrolle über seine Liebhaber übernimmt. Eine Identität ist nichts anderes als diese Art von Fetisch.

Der Kommunismus ist nicht eine besonders vorteilhafte Variante des sozialen Vertrages. Die Verbindungen auflösend, die um die Aneignung, die Herrschaft, die Akkumulation, das Territorium errichtet wurden, löst er nicht nur eine Gesellschaft auf, sondern das soziale Wesen selbst. Was die Kommunisierung kreiert, ist eine Welt jenseits der sozial eingewilligten Aufopferung eines Jeden zugunsten eines vorausgesetzten Ganzen: des Sozialen. Diese Idee ist heute ebenso schwer zu fassen, wie eine Welt ohne Gott im XIII Jahrhundert. Die Idee einer Welt jenseits des Sozialen ruft spontan nur Barbarei oder Rohheit ins Gedächtnis: sie macht Angst, genauso wie die Idee einer Welt ohne Gott einen Christen des Mittelalters mit Schrecken erfüllt hätte.

Eine solche Idee ist offensichtlich gefährlich, und man sieht gut all die Wahnsinnigkeiten, die sie hervorrufen kann. Es ist klar, dass diese Idee dazu geeignet ist, nicht nur bei denen, die sich ihr entgegenstellen würden, sondern selbst bei jenen, die sie annehmen könnten, eine irrationale Panik zu kreieren. Eine der Äusserungen dieser Panik ist die Konzeption eines verschmelzenden Zustands der Individuen, oder einer Verschmelzung der Individuen mit dem Sozialen, das heisst, eine rückschrittliche Konzeption der Übersteigung des Sozialen.

Das Soziale mit der Aussicht auf die Errichtung einer reinen, verschmelzenden Beziehung zwischen „Wesen“ zu verneinen, bedeutet, über das Soziale hinausgehen zu wollen, indem man es ignoriert. Die Negierung der sozialen Klassen ist nicht die Negierung ihrer Existenz, sie muss im Gegenteil ausgehend von deren in Konflikt stehender Existenz gedacht werden.

Die Existenz des Kapitalismus, der Klassen, der sozialen Beziehungen zu verneinen, ist das, worauf dieses identitäre Konstrukt, das DKA ist, notwendigerweise hinausläuft. Wir haben aufgezeigt, dass die Neigung zur Verweigerung des Realen im Kernpunkt jeder Identität liegt, denn eine Identität nimmt nicht das Reale, sondern nur ihre eigene Existenz als Identität wahr. Sie bekräftigt sich also, indem sie allem die Existenz abspricht, was nicht sie ist.

Doch die Existenz des Kapitalismus zu verneinen, wird ihn nicht verschwinden lassen. Und eben diese Verneinung findet ihre Wurzeln in der Wirklichkeit der kapitalistischen Welt, und vor allem in ihrer Wirklichkeit als Klassengesellschaft.

Das Klagelied der Mittelklassen (realistisches Lied)

Die sich für universell und demnach identitätslos haltende Identität ist in Wirklichkeit eine bestimmte soziale Klasse: die westliche obere Mittelklasse. Sie ist identitätslos, weil sie die soziale Normalklasse, die abstrakte Referenz aller anderen Klassen, und daher des Menschen im Allgemeinen ist. Dies ist, was sie „Universalismus“ nennt. Es ist eben sie, die, ohne jemals benannt zu werden, von DKA beschrieben wird. Es ist selbstverständlich auch an sie (und gegen sie), dass DKA seinen Diskurs richtet.

Sie ist es, die die Gesellschaft bloss als „nebelhaftes Aggregat“ von Institutionen und Individuen, als eine „endgültige Abstraktion“ wahrnimmt.

Sie ist es, die überall im „Wohnsiedlungs“-Leben nur Polizisten und junge Revoltierende sieht.

Eben sie ist es, für die Arbeiten bedeutet, zu verhandeln und das zum besten Preis zu verkaufen, was nicht mehr „Arbeitskraft“, sondern kognitive und zwischenmenschliche Kompetenz ist, und die logischerweise an dem leidet, womit sie arbeitet.

Sie ist es, die ihr wertvolles und problematisches Ich durch Eigenentwicklung, Yoga und Psychoanalyse kultiviert.

Sie ist es, die unter der „schulischen Kastration“ leidet und in ihrer Kindheit davon träumt, ihre Schule niederzubrennen, weil sie der erforderliche Weg für ihre Integration ist, und es, aus demselben Grund, nicht tut.

Auch sie ist es, die, umgeben von Waren, von denen sie ignorieren will, dass sie wohl produziert werden mussten, der Meinung ist, dass die Industriearbeit überholt ist, die Arbeiter überzählig sind, und dass die Ökonomie fortan „virtuell“ ist.

Sie ist es alleine, die politisch existiert, sich ökologisch kümmert und demokratisch wählt.

Sie ist es auch, von der sich ein Teil der Jugend gegen alle G20 der Welt als Schwarzer Block formen geht.

Sie ist schliesslich „die Klasse, die alle Klassen negiert“, nicht, damit sie verschwinden, sondern, damit sie auf ewig existieren.

Dies sei gesagt, nicht um diese Klasse aus dem Feld der Kämpfe zu verweisen, sondern, um aufzuzeigen, dass sich keine Identität ausserhalb einer sozial festgelegten Welt verorten kann.

„Die Freude, eine gemeinsame Stärke zu erleben“

Wenn dieser Text einen Nutzen hat, dann der, zu erreichen, etwas mehr Misstrauen gegenüber den Gruppen zu erwecken, zu deren Bildung wir veranlasst sind. Es ist notwendig, sich zu versammeln. Doch die volkstümliche Weisheit „Gleich und Gleich gesellt sich gern“ neigt allzu oft dazu, sich umzukehren. Es geht nicht darum, niemandem zu gleichen, sondern darum, aufmerksam zu sein, dass wir uns nicht von einer Identität überkommen lassen.

Beispielsweise sich nicht von einer Identität ihre Worte in den Mund legen lassen, sich nicht von dem Versprechen, einen grösseren Zusammenhalt zu erreichen als jener, den wir durch uns selbst erzeugen könnten verführen lassen, um den Preis, dass wir auf unsere Urteilsfähigkeit verzichten. Auch vor der Kohärenz muss sich in Acht genommen werden. Nichts ist kohärenter, nichts ist besser organisiert als ein Kristall, das letzte Stadium der Mineralisierung, es gibt aber auch nichts, dass so tot ist.

Die durch DKA vorangetragene Identität äussert sich heute unter anderem durch das Schwärmen von ihren Wörtern in zahlreichen Mündern: man hört „Freundschaften“, „Körper“, „Flüsse“, „sich organisieren“, man versteht das, was spricht, und man hört nichts mehr. Man entwickelt keine gemeinsame Sprache mit Papageien.

Doch es gibt nicht nur DKA: wenn ich vor allem von diesem spreche, dann weil es ausreichend deutlich und zusammenhängend, und auch genügend weit bekannt ist, um es als Ausgangspunkt für eine kollektive Diskussion zu nehmen. Es gibt andere Identitäten, zum Beispiel jene, für die die Wörter „Klassenkampf“ und „sozialer Krieg“ weniger Fragen sind, die sich stellen, als vielmehr Banner, die man schwenkt, um sich besser von der gegenüberliegenden Identität abzuheben. Der Kampf unter den Identitäten ist wortwörtlich ohne Ende.

Es ist klar, dass sich heute keine einzelne Gruppe von der Welt loslösen und den Kommunismus in ihrem Ecken verwirklichen kann. Was uns nicht davon abhält, und das tun wir bereits, anti-hierarchische Praktiken zu suchen, die Art und Weise unserer Teilnahme in Frage zu Stellen, etc. Stets in dem Wissen, dass auch dies in identitärer Eineckung erstarren kann.

Man kann sich an einer Gruppe beteiligen, ohne sich deswegen mit ihr zu identifizieren. Die Aufgabe einer Gruppe müsste es sein, jenen, die sich an ihr beteiligen, mehr Autonomie zu geben, um die Entwicklung ihrer Fähigkeiten zu ermöglichen. Das emotionale Überengagement in einer Gruppe endet allzu oft damit, nur Abhängigkeiten zu kreieren, und damit, liebevolles Chefverhalten hervorzurufen.

Eine Gruppe ist kein Selbstzweck. Die Freundschaft ist dabei nicht notwendig. Man kann sich provisorisch für eine präzise Aufgabe gruppieren und sich auf diesen Zweck verstehen, und die Gruppe kann nur zu diesem bestimmten Zweck bestehen, ohne sich deswegen über andere Bereiche auszustrecken. Es gibt Leute, die unsere Freunde sind, mit denen wir nichts tun, ausser gute Momente zu teilen, und andere, mit denen wir uns gruppieren, um eine Aufgabe umzusetzen, ein Projekt durchzuführen, und die deswegen nicht unsere Freunde sind. Der Kommunismus ist nicht die Gemeinschaft. Er hat nicht eine Gruppe jenseits der Zwecke fortbestehen zu lassen, für die wir sie benötigen.

Eine zu speziellen Zwecken gebildete Gruppe kann sich sogar erlauben, sich „Chefs“ zu geben, die präzise Aufgaben übernehmen. Um einen Dreimaster zu manövrieren, ist es dringend notwendig, dass jemand das Manöver leitet: das ist eine Frage der Koordination. Auf einen Kapitän kann man hingegen verzichten, und gemeinsam die das Schiffsleben bestimmenden Entscheidungen treffen, die einzuschlagende Richtung wählen, etc.

Wir haben spontan die Neigung, unsere Gruppen überzubewerten, und je randständiger eine Gruppe ist, desto intensiver ist diese Überbewertung. Sie ist ein essenzieller Mechanismus der identitäten Stärkung. Dies erkennen lassen und sich davor in Acht nehmen, bedeutet, bereits damit zu beginnen, ihr ein Riegel vorzuschieben.

Des weiteren bringt die identitäre Überbewertung randständiger (was schlicht schlicht bedeuten kann: „zahlenmässig begrenzter“) Gruppen diese dazu, sich noch mehr an den Rand zu drängen, indem sie diese dazu verleitet, nützliche Kontrastfiguren für die Gesamtheit der Gesellschaft zu werden. Ein paar Punks verstärken viele Rahmen. Und dies ist nicht ein strategischer Fehler seitens der Identitäten, es wird sozial produziert: schlussendlich werden wir zu dem, was man will, dass wir sind. Jede begrenzte Gruppe läuft also Gefahr, sich in ihre eigene Karikatur zu verwandeln, um nach der Art und Weise zu leben, die von ihr sozial erwartet wird.

Sich von Anfang an in dem Wissen zu bilden, dass man nur ein Teil einer umfassenderen Gesamtheit ist, im Innern derer man gleichermassen existiert, wie jene, die man als seine Feinde betrachtet, dass man in einer offenen, und nicht nach den Anforderungen der Erzählung ausgerichteten Welt lebt, das ist eine Grundlage, auf der man versuchen kann, Gruppen zu bilden, die sich nicht in Identitäten einschliessen. In den Kämpfen zu bestehen, die sie auf dieser Grundlage ermöglichen, wäre ein guter Anfang. Persönlich scheint es mir, einen Entwurf davon in der „AG en lutte“ der rue Servan, im Jahr 2006 in Paris zu sehen.

Es ist dennoch klar, dass die identitäre Einschliessung wohl oft etwas ist, in das wir weiterhin sozial getrieben werden. Wir können nur hoffen, dass diese Einschliessung ausfindig zu machen, sie dort sichtbar zu machen, wo sie erfolgt, es ermöglichen kann, damit zu beginnen, sie zu durchbrechen. Sich ihrer gänzlich zu entledigen, ist das Ziel einer kommunistischen Revolution.

Alain C.

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(Italien) Die Insurrektion und ihr Double https://panopticon.blackblogs.org/2022/03/05/italien-die-insurrektion-und-ihr-double/ Sat, 05 Mar 2022 18:28:38 +0000 http://panopticon.blackblogs.org/?p=2517 Continue reading ]]> (Italien) Die Insurrektion und ihr Double

Einleitung der Soligruppe für Gefangene

Der folgende Text war seit einiger Zeit fällig, erschien erstmals im Jahr 2009 in der italienischen anarchistischen Publikation Machete Nr. 6., die Grundlage haben wir aus der anarchistischen Seite Finimondo übernommen, der Link ist am Ende der Einleitung. Wir wollten diesen seit vielen Jahren schon veröffentlichen, mit vielen Jahren meinen wir vielleicht seit damals, kamen aber leider nie dazu. Kurz und knapp, es handelt sich um eine Kritik an dem Text Der kommende Aufstand, der 2007 in Frankreich veröffentlicht wurde. Im Gegensatz zu den Befürwortern und den Verleumdern dieses Textes sind wir, waren wir und werden weiterhin der Meinung sein, dass alles, was unter dem Namen eines Unsichtbaren Komitees unterschrieben wurde, nichts mit dem Anarchismus und mit dem Aufständischen Anarchismus, woanders auch nur rein als Insurrektionalismus (Insurrezionalismo, Insurreccionalismo, Insurrectionalism) betitelt, zu tun hat. Mag dies natürlich schon eine verlorene Schlacht sein, zumindest was die Wortbedeutung und Wortassoziation angeht, denn für diese Verwirrung haben hierzulande sehr viele Anarchisten und Anarchistinnen beigetragen. Wir werden aber weiterhin darauf hinweisen, dass diese falsche Assoziation nicht richtig ist. Auch haben wir weder damals, noch jetzt, wie auch nicht in der Zukunft verstanden, was an diesem Text so sonderlich gut sein sollte und niemand kann uns vorwerfen, dass wir nicht die Diskussion gesucht haben um daraus schlauer zu werden. Meistens erhielten wir sehr oberflächliche Antworten – um sie nicht als hirnamputiert zu bezeichnen-, wie: dieser Text sei schön, ein Kassenschlager, sogar die Frankfurter Allgemeine hätte darüber eine Rezension geschrieben, etc. Alles Antworten die für uns selbst keine waren, eine Feststellung ist weiterhin ja keine Erklärung, auch wenn dies weiterhin als Bares gilt. Während in südlichen Ländern dieser Text, also Der kommende Aufstand, nur eine Randnotiz spielte, meistens eher ignoriert, war dieser im deutschsprachigen Raum wie eine Oase mitten in einer Wüste, dies verstanden als eine Fata Morgana. Warum dies so war, wäre für eine zukünftige Debatte interessant, weil nicht was der Text selbst sagt, sondern was dieser im deutschsprachigen Raum hervorbrachte, sowie die Gründe dafür, sind immer noch ein Grund tiefgreifender Debatten eines Phänomens, was noch nicht unbedeutend sein mag, genauso was dies mit einer anarchistischen Bewegung zu tun haben mag. Wir werden sehen.

Alle Zitate aus Dem kommenden Aufstand haben wir aus der deutschsprachigen Übersetzung übernommen, mitsamt möglichen Übersetzungsdivergenzen. Alle kursiven Textstellen sind aus dem italienischen übernommen worden, außer im Falle von Der kommende Aufstand, wir taten dies um den Titel nur zu unterstreichen und dass es sich immer um diese Schrift handelte.

La insurrección y su doble, hier auf Spanisch

The Insurrection and Its Double, hier auf Englisch

L’insurrezione e il suo doppio, hier auf Italienisch


(Italien) Die Insurrektion und ihr Double

Bei der Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Romantik beobachtete Victor Hugo, dass jeder authentische Gedanke von einem beunruhigenden Double bespitzelt wird, der immer auf der Lauer liegt, immer bereit, mit dem Original zu verschmelzen. Ein Charakter von erstaunlicher Plastizität, der mit Ähnlichkeiten spielt, um auf der Bühne etwas Applaus zu bekommen. Dieses Double hat die einzigartige Fähigkeit, Schwefel in Weihwasser zu verwandeln und vom widerspenstigsten Publikum akzeptieren zu lassen. Auch die moderne Insurrektion, die gerne auf die Zentralkomitees und Sol dell’Avvenire1 verzichtet, hat es mit ihrem Schatten zu tun, mit ihrem Parasiten, mit einem Klassiker, der sie nachahmt, der ihre Farben trägt, sich in ihre Kleider kleidet, ihre Krümel aufsammelt.

Nach dem Medienrummel, der das Buch in Frankreich zu einem Bestseller machte, ist Der kommende Aufstand nun auch auf Italienisch erhältlich.

Das im März 2007 veröffentlichte und vom Unsichtbaren Komitee unterzeichnete Buch Der kommende Aufstand2 wurde in den transalpinen Nachrichten nach der gerichtlichen Untersuchung bekannt, die am 11. November 2008 zur Verhaftung von neun Subversiven in dem kleinen Dorf Tarnac führte, die beschuldigt wurden, an einer Sabotage gegen das Hochgeschwindigkeitseisenbahnnetz beteiligt gewesen zu sein. Wie so oft in solchen Fällen wollte der Richter sein Theorem auch vom „theoretischen“ Standpunkt aus untermauern, indem er einem der Verhafteten die Urheberschaft des fraglichen Buches zuschrieb. Herausgegeben von einem kleinen linken kommerziellen Verlag, im ganzen Land vertrieben und zum Zeitpunkt seines Erscheinens vom Establishment gut aufgenommen, wurde Der kommende Aufstand auf Beschluss der Staatsanwaltschaft zu einem gefährlichen und gefürchteten „Sabotage-Handbuch“3. Daher sein Erfolg, begünstigt außerdem durch die Intervention zu seinen Gunsten von einigen Klerikern der Intelligenzija (französische und nicht nur), besorgt über die ungebührliche polizeiliche Einmischung auf dem Gebiet der politischen Philosophie. Man spürt die Verblüffung derjenigen, die plötzlich entdeckt haben, dass die Partei zwar imaginär ist, die Polizei aber noch viel weniger, und noch weniger die Genugtuung des Herausgebers dieses Buches, der sich nie hätte vorstellen können, im Innenministerium eine so effiziente Werbeagentur zu finden. In jedem Fall wurden alle Verhafteten nach einigen Monaten aus dem Gefängnis entlassen und werden voraussichtlich diesen für eine lange Zeit nicht betreten. Wir können daher an dieser Stelle jeden Bezug zu diesem Ereignis schließen, das groteske Konnotationen hatte, da die Verbindung zwischen Der kommende Aufstand und den in Tarnac Verhafteten schließlich das Werk der französischen Justiz war. Es gibt also keinen Grund, sich weiter damit zu beschäftigen.

Bemerkenswert ist jedoch die kurze Vorbemerkung zur italienischen Ausgabe, in der die „Unsichtbaren Übersetzer“ (wenn man von dem Franchising der Politik spricht …) nicht zögern, die gerichtliche Untersuchung, von der wir sprechen, als praktische Demonstration des Wertes dieses Textes zu verwenden. Nachdem sie dem angeblichen Autor das Wort erteilt haben, demzufolge „das Skandalöse an diesem Buch ist, dass alles, was darin steht, rigoros und katastrophal wahr ist, und es beweist sich immer mehr“ (Zitat aus einem Interview, das der bekannten subversiven Zeitung Le Monde4 gewährt wurde), kommt der Unsichtbare Übersetzer zu dem bizarren Schluss, dass er nur deshalb verhaftet wurde, weil er verdächtigt wurde, „das Buch, das du in deinen Händen hältst“, geschrieben zu haben. In ihrer Aufregung behaupten sie, es übersetzt zu haben, „weil das, was er sagt, wahr ist, und vor allem, weil er es sagt“. Weshalb man „dem traurigen kleinen Theater der Anti-Terror-Gesetze … fast dafür danken sollte, dass dieses Buch in so großem Umfang, kollektiv und oft unter praktischen Gesichtspunkten gelesen wurde. Wären sie nicht gewesen, hätte die Freude, die dieses Buch verbreitet, wahrscheinlich nicht so viele Menschen erreicht“. Was ist von solchen Überlegungen zu halten, die in der Hingabe mit anderen Speichelleckereien der Prositu-Reminiszenz5 konkurrieren? Vielleicht sollte man sich daran erinnern, dass es nicht das erste Mal ist, dass eine subversive Schrift zur Unterstützung einer gerichtlichen Untersuchung verwendet wurde, ohne zum Evangelium zu werden. Das wäre so, als würde man behaupten, dass die Verhaftung einiger Stalinisten die Wahrheit der marxistisch-leninistischen Publikationen beweist, oder die einiger Anarchisten die Wahrheit der antiautoritären Bücher. Und gleichzeitig zu behaupten, die französische Macht sei nicht beunruhigt durch die Revolten, die das Banlieu entflammen, durch die periodischen radikalen sozialen Bewegungen, durch die direkten Aktionen, die sich im ganzen Gebiet/Territorium ausbreiten, oder durch ein mögliches Zusammentreffen all dieser Ereignisse – ach woher – , sondern durch einen Kommentar dazu, der für sieben Euro in jeder Buchhandlung erhältlich ist… dies ist ein typischer Trost gewisser Salonbarrikadisten6. Dass die Übersetzer, unsichtbar, aber vor allem daran interessiert, die Repression in einen Werbespot zu verwandeln, sagt nichts über dieses Buch, aber viel über sie. Vergesst dieses Elend, Der kommende Aufstand wird nicht warten.

Aber von welcher Insurrektion sprechen wir, der ursprünglichen, die von Frankreich ausgeht, oder der, die an anderen Orten landet, der Fanfarenstöße vorausgehen? Lassen wir uns nicht von Erscheinungen täuschen, denn sie sind ganz und gar nicht dasselbe. Die erste ist der Ausdruck eines Milieus, das in einer Welt der Zombies direkt auf den Erfolg abzielt, indem es den Leichnam der Avantgarde wieder auferstehen lässt, und stützt sich auf die Kulturindustrie. Die zweite, die das Pech hat, in einem Land präsentiert zu werden, in dem die Revolution vorerst keinen Markt hat, ist gezwungen, den Glanz der Ware mit dem Mantel der Verschwörung zu bedecken. Hätten die italienischen Leser, die diesen Text eifrig lasen, berauscht von dem subversiven Parfüm, das die Bullen (Flic) versprühten, dasselbe getan, wenn sie ihn in einem Regal bei Feltrinelli7 mit der Empfehlung eines Insiders als einzige Referenz gefunden hätten? Das wollen wir bezweifeln. Aber wie auch immer, es ist sinnlos, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Beginnen wir also, uns dem Text über seinen Inhalt zu nähern, außerhalb seines spezifischen Kontextes, auf den wir am Ende kurz zurückkommen werden. Offensichtlich sind es die Uneinigkeiten und nicht die Einigkeiten, die unsere Aufmerksamkeit erregt haben.

Neben einem Prolog besteht das Buch aus sieben Kreisen und vier Kapiteln. Im ersten Teil führt uns das Unsichtbare Komitee, in dantesquer Verkleidung durch die Hölle der heutigen Gesellschaft und illustriert sie mit zahlreichen Beispielen. Im zweiten Teil stellt es uns das Paradies der Insurrektion vor, die durch die Vermehrung der Kommunen erreicht werden soll. Wenn der erste Teil sehr leicht eine eindeutige Zustimmung erhält, mit einem Panoramablick auf die Welt, die uns einen Blick auf die kontinuierlichen Verwüstungen bietet, hinkt der zweite Teil und nicht wenig. Beide haben jedoch ein gemeinsames Merkmal: eine gewisse Unbestimmtheit, die durch den trockenen und zwingenden Stil gut kaschiert wird. Aber sind wir sicher, dass dies ein Mangel ist und nicht, im Gegenteil, eine wesentliche Zutat des Erfolgs dieses Buches?

Als Verfasser eines Essays über politische Philosophie, hat das Unsichtbare Komitee eine starke Verachtung für Spekulationen und eine ausgeprägte Neigung zur Praxis. Was auch gut so ist, zumal sie damit den Beifall, sowohl vitaminabstinenter Gelehrter als auch wissenshungriger Aktivisten gewinnen können. In Abgrenzung zu den zahlreichen marxistischen Sekten mag das Unsichtbare Komitee keine großen Analysen, die alles subsumieren und erklären und alles erklären und subsumieren. Intelligente Analysen, wenn man so will, in Ordnung, aber die sind nach anderthalb Jahrhunderten schon nervtötend. Sie sind unsicher, diskutabel, manchmal sogar erbärmlich. Es geht ihr nicht darum, die Welt in ihrer Gesamtheit (Totalität) zu kritisieren. Aber wie die verschiedenen marxistischen Sekten ist auch das Unsichtbare Komitee geil darauf, ihre eigene Vision durchzusetzen. Da aber heute ein Diskurs, der ernst genommen werden will, weil er auf „wissenschaftlichen“ Annahmen beruht, urkomisch wäre, ist es besser, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, besser, ihn als wahr auszugeben, weil er auf Feststellungen beruht. Genug der Analyse, der Kritik, der Studien, macht Platz für die Beweise und ihre Granit-Objektivität, die dir direkt in die Fresse schlägt. So legt das Unsichtbare Komitee mit affektierter Bescheidenheit von Anfang an fest, dass es sich damit begnügt, „ein bisschen Ordnung in die verschiedenen Allgemein-plätze dieser Epoche zu bringen, in das, was an den Tischen der Bars, was hinter verschlossenen Schlafzimmertüren gemurmelt wird.“, das heißt, „Sie haben nur die nötigen Wahrheiten fixiert“. Auch sehen sich die Mitglieder nicht als Autoren dieses Buches: „Sie haben sich zu den Schreibern der Situation gemacht. Es ist das Privileg der radikalen Umstände, dass die Richtigkeit in logischer Konsequenz zur Revolution führt. Es reicht aus, das zu benennen, was einem unter die Augen kommt, und dabei nicht der Schlussfolgerung auszuweichen.“ Wir wetten, dass ihr sicher nicht daran gedacht habt: Die Gemeinplätze sind die notwendigen Wahrheiten, die umgeschrieben werden müssen, um den Sinn für Präzision zu wecken, der logischerweise zur Revolution führt. Offensichtlich, nicht wahr?

Wir werden dann in die sieben Kreise eintauchen, in die die zeitgenössische soziale Hölle unterteilt ist, und wir werden nur wenige Ideen zum Nachdenken finden, aber viele Geisteszustände zum Teilen. Wie bereits gesagt, vermeiden es die Autoren dieses Textes, ihren Diskurs auf eine Theorie zu stützen. Um nicht Gefahr zu laufen, altbacken zu wirken, ziehen sie es vor, das Erlebte in seiner Alltäglichkeit festzuhalten, wo alles familiär wird, als Gemeinplatz eben. In diesem klaren und gut artikulierten Fluss der alltäglichen Banalität – bestehend aus Anekdoten, Witzeleien, Werbesprüchen, Umfragen usw. – jeder findet etwas, in dem er sich wiedererkennt. Bei der apokalyptischen Betrachtung des bevorstehenden Weltuntergangs und der verschiedenen sozialen Bereiche, in denen er sich abspielt, beschränkt sich das Unsichtbare Komitee auf die unmittelbar wahrnehmbaren Auswirkungen, während es über die möglichen Ursachen schweigt. In der Tat informiert es uns, dass „ das allgemeine Unglück wird unerträglich, sobald es als das erscheint, was es wirklich ist: ohne Grund und Ursache.“ Ohne Ursachen und Gründe? Man sollte keine radikale Kritik am Bestehenden erwarten, etwa eine Mischung aus kommunistischer Kapitalismuskritik und anarchistischer Staatskritik: Das ist altmodisch und sollte vermieden werden, wenn man originell erscheinen will. Die politische Ohnmacht, der ökonomische Bankrott und der soziale Verfall dieser Zivilisation werden zwar bezeugt, aber immer nur von innen gesehen. Ohne Enttäuschung für das, was ist, aber auch ohne jeden Anstoß für das, was sein könnte. Deshalb wurde Der kommende Aufstand in Form einer Editions-Ware geboren und ist so konzipiert und geschrieben, dass er das „große Publikum“ erreicht. Und das „große Publikum“ besteht aus Zuschauern, die gierig nach Emotionen sind, die sie an Ort und Stelle und im Verlauf von Situationen konsumieren können, und ist widerspenstig gegenüber Ideen, die einem ganzen Leben einen Sinn geben können. Wenn man das „große Publikum“ verführen will, muss man ihm einfache Bilder anbieten, in denen es sich ohne allzu große Anstrengung spiegeln kann (wie die unvergleichlichen italienischen Übersetzer süffisant erklären, „ohne Versprechen auf Verständnis, das am Ende von wer weiß wie vielen Interpretationen erreicht wird“). Es ist fast banal zu erwähnen, dass der Geist von Guy Debord den gesamten Text heimsucht, der stellenweise auch an Fight Club erinnert. Ja, der berühmte Film nach dem Roman von Chuck Palahniuk, der für seinen „harten, innovativen, nihilistischen Stil“ bekannt ist. Das Unsichtbare Komitee erinnert uns an Edward Norton, der mit einem Ikea-Katalog in der Hand auf der Toilette sitzt und kurz davor ist, zu explodieren und sich in einen wilden Brad Pritt zu verwandeln. Dieselbe „Schizophrenie“, dieselben Phrasen, die aus nächster Nähe abgefeuert werden.

– Dies ist dein Leben, und es endet von Minute zu Minute.

– Nach dem Kampf wird alles in deinem Leben leißer … du kannst es nachher mit allem aufnehmen!

– Es war direkt vor jedermanns Nase, Tyler und ich haben es einfach sichtbar gemacht. Es lag jedem auf der Zunge, Tyler und ich gaben ihm einfach einen Namen.

– Mord, Verbrechen, Armut, das sind Dinge, die mir keine Sorgen bereiten. Was mir Sorgen bereitet, sind Promi-zeitschriften, Fernsehen mit fünfhundert Kanälen, der Name eines Mannes auf meiner Unterwäsche, Rogaine, Viagra, Olestra.

– Erst wenn wir alles verloren haben, sind wir frei zu handeln.

– Wir sind die verfluchten Kinder der Geschichte, entwurzelt und ziellos. Wir haben weder einen großen Krieg noch die große Depression erlebt. Unser großer Krieg ist der geistige Krieg, unsere große Depression ist unser Leben.

– Wir sind mit dem Fernsehen aufgewachsen, das uns davon überzeugt hat, dass wir eines Tages Millionäre, Filmlegenden oder Rockstars werden würden. Aber es ist nicht passiert. Und das wird uns langsam bewusst, was uns sehr sauer macht.

– Ihr seid nicht euer Job, ihr seid nicht euer Girokonto, ihr seid nicht das Auto, das ihr besitzt, ihr seid nicht der Inhalt eurer Brieftasche, ihr seid nicht eure Designerklamotten, ihr seid die singende, tanzende Scheiße der Welt!

– Warum diese Gebäude, warum diese Kreditkartenfirmen? Wenn die Schuldenquote eliminiert wird, gehen wir alle zurück auf Null. Es wird ein totales Chaos verursachen.8

…. Und so weiter bis zum Untergang der Metropole.

In diesem ästhetisch-nihilistischen Klima stellt Der kommende Aufstand das Ende des zivilen Zusammenlebens mit der Distanz nach, die sentimentale Liedchen von der Kriegstreiberei des militantesten Rap trennt. Das Ende der Familie zeigt sich in der Atmosphäre von Langeweile und Verlegenheit, die über den rituellen gemeinsamen Mahlzeiten liegt. Das Ende der Ökonomie lässt sich an den Witzen ablesen, die unter den Managern kursieren. Das Ende der Städte hat die Form einer Werbetafel. Am Ende des siebten Kreises ist das Fazit klar: Wie das Duo Norton/Pitt verdient das Unsichtbare Komitee den ganzen Applaus.

Die Tatsache, dass es nicht so schwierig ist, überzeugend zu sein, wenn man nur das tägliche Grauen beschreibt, dem wir alle zum Opfer fallen, spielt keine Rolle. Und wen kümmert es, wenn diese lange Reihe objektiver Beobachtungen hier und da ein paar subjektive Ticks offenbart? Komm schon, sei nicht so pedantisch. Knurrt nicht vor der wiederholten Apologie des kollektiven Wir, begleitet von der drängenden Verachtung des individuellen Ichs. Das Individuum, das bereits als Inspiration für den Reebok abgetan wurde, wird dann als Synonym für „Identität“, „Problem“, „Zwangsjacke“ herausgeschmuggelt. Angehende Hirten sonnen sich gerne im Gestank der Herde. Alles, was sie brauchen, um glücklich zu sein, ist die Beschwörung einer Straßengang oder eines politischen Kollektivs mit ihren Anhängern, die kämpfen und marschieren, um die mafiöser Kontrolle über das „Territorium“ zu erpressen. Die Einzigartigkeit ist abzulehnen, weil sie keinen Handlungsspielraum schafft. Der Nullpunkt des Bewusstseins ist die Stille, in der die Slogans am lautesten ertönen, das weiße Papier, auf dem die Aufrufe zum Mitmachen gedruckt sind.

Man sollte auch nicht die Stirn runzeln angesichts der byzantinischen Unterscheidung zwischen der Politik und dem Politiker, angesichts des verzweifelten Versuchs, zu retten, was zu retten ist, nachdem man erkannt hat, dass man Schiffbruch erlitten hat. Das Feuer, das jede Forderung verbrennt, hat ebenso wie die Wut, die jede zivilisierte Konfrontation scheut, sicherlich eine politische Bedeutung. Aber für wen? Nicht für die anonymen Aufständischen, die Tabula Rasa machen und einfach ihren Wünschen freien Lauf lassen wollen. Jedes politische Anliegen gehört nur dem „staatlichen biomechanischen Apparat“. Und schnaubt nicht über die Wiederholung dialektischer Spielchen, über unvermeidlich ineinandergreifende Spiele, die die Abfolge der Ereignisse zu einem gut geölten Mechanismus machen (wenn für Marx und Engels „die Bourgeoisie die Waffen hergestellt hat, die ihren Tod verursachen“9, so produziert für das Unsichtbare Komitee „die Metropole (…) die Mittel ihrer eigenen Zerstörung.“). Wenn dich das alles an etwas Altes und Düsteres erinnert, dann nur, weil du von alten und düsteren ideologischen Vorurteilen durchdrungen bist.

Das Unsichtbare Komitee ist sich der Tatsache bewusst, dass „entledigen uns nicht von dem, was uns fesselt, ohne gleichzeitig das zu verlieren, worauf sich unsere Kräfte ausüben könnten “, und hält daher eine sorgfältige Distanz zu jeder irreduziblen Andersartigkeit. Es ist besser, die „Sezession“ nicht zu übertreiben, besser, sie bleibt „politisch“. Diese Gesellschaft sei unbewohnbar geworden, heißt es immer wieder, aber erst nachdem man festgestellt hat, dass sie ihre Versprechen nicht einhält. Man fragt sich: Was sonst? Wer weiß, wenn wir nicht, „unserer Sprache enteignet durch die Schule (wurden)“, oder „unserer Lieder durch die Hitparade “, oder „unserer Stadt durch die Polizei“… vielleicht wären wir immer noch glücklich, in unserer eigenen Welt zu leben. Während wir darauf warten, etwas wiederzuerlangen, was wir nie hatten, können wir leben und kämpfen, indem wir unsere Eltern ausnutzen („Aus dem, was es an Unbedingtem in verwandtschaftlichen Verbindungen gibt, beabsichtigen wir das Gerüst für eine politische Solidarität zu errichten, die für den staatlichen Zugriff so undurchdringbar ist wie ein Zigeunerlager. Sogar in den endlosen Subventionen, die viele Eltern ihrem proletarisierten Nachwuchs zu zahlen gezwungen sind, gibt es nichts, was nicht zu einer Art Mäzenentum für die soziale Subversion werden könnte.“), oder vielleicht durch die Teilnahme an der Wahlmesse10 („Diejenigen, die noch wählen, scheinen dies nur noch mit der Absicht zu tun, die Urnen durch pure Proteststimmen hochgehen zu lassen. Man fängt an zu erraten, dass gegen die Wahlen selbst weiter gewählt wird.“). Diese radikalen Philosophen, was für Spaßvögel! So sehr, dass sie die konformistischsten ihrer Leser misshandeln, indem sie sie mit der Beschwörung der Feuer des Winters 2005 erschrecken, sie mit der Apologetik der Vorstadt-Lumpen bedrohen, sie mit der Behauptung der praktischen Nutzlosigkeit des Staates überraschen und sie sogar beschuldigen, das Leben der Armen zu beneiden.

Wohin soll das alles führen? Für das Unsichtbaren Komitee hat diese Zivilisation nichts mehr zu bieten. Nur, dass es ein Sonnenuntergang ist, der keinen Sonnenaufgang ankündigt. Wie bei allen Formen des Nihilismus – und bekanntlich reizt nichts radikale Philosophen mehr als der Nihilismus – geht die utopische Spannung verloren. Außerhalb dieser Welt gibt es nur diese Welt. Es gibt keine Lösung, keine Zukunft. Alles, was bleibt, ist eine schnell zerfallende Gegenwart, in der man zumindest überleben kann. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn „autonom werden“ für die Schriftgelehrten einfach bedeutet, „lernen, auf der Straße zu kämpfen, sich leere Häuser zu nehmen, nicht zu arbeiten, sich wie verrückt zu lieben und in den Supermärkten zu klauen.“: eben auf das Schlimmste zu verzichten.

Aber dann, was ist mit der Insurrektion? Was soll’s, jetzt hast du’s kapiert. Nach der Beschreibung eines sozialen Unwohlseins ohne Ursache und Grund kommen wir nun zum zweiten Teil, in dem eine Insurrektion ohne Inhalt angekündigt wird. Auch hier gibt es von Anfang an eine Annäherung, die gut genug ist, um alle Gaumen zu befriedigen. Eine Insurrektion, beginnt das Unsichtbare Komitee, „wir können uns nicht mal mehr vorstellen, wo er beginnt“. Von einem Aufstand – es wurde mit Irritation darauf hingewiesen. Naaah, zu präzise. Es ist besser, die Angelegenheit in der Schwebe zu lassen, um möglichst viele Neugierige anzulocken und die Punkte zu vermeiden, an denen sich die Gemüter normalerweise scheiden. Denkst du, dass die Beziehungen zwischen Subversiven auf Affinität (d.h. auf einem etablierten Austausch von allgemeinen Perspektiven und Ideen) oder eher auf Zuneigung (d.h. auf einem momentanen Austausch von bestimmten Situationen und Gefühlen) basieren sollten? Keine Angst, das Unsichtbare Komitee braucht nur einen akrobatischen Sprung, um das Hindernis nonchalant zu überwinden und sich über eine sensationelle Überschneidung zu schwingen („Man hat uns an eine neutrale Idee der Freundschaft gewöhnt, wie reine Zuneigung ohne Konsequenzen. Aber jegliche Affinität ist Affinität in einer gemeinsamen Wahrheit.“). Der Trick ist einfach. Anstatt von individuellen Wünschen auszugehen, die notwendigerweise vielfältig und unterschiedlich sind, genügt es, von sozialen Zusammenhängen auszugehen, die leicht als gemeinsam wahrgenommen werden. Das Unsichtbare Komitee mag keine Ideen, die wir besitzen, es bevorzugt Wahrheiten, die uns besitzen: „Eine Wahrheit ist nicht eine Sicht auf die Welt, sondern das, was uns auf unreduzierbare Art mit ihr verbunden hält. Eine Wahrheit ist nichts, was man besitzt, sondern etwas, das einen trägt.“ Die Wahrheit ist äußerlich und objektiv, eindeutig und unbestreitbar. Das bevorstehende Ende der Welt um uns herum, zum Beispiel (wobei eine mögliche künstliche Verlängerung dieses Leidens ignoriert wird). Es genügt, das Gefühl dieser Wahrheit zu teilen, um sich selbst in Plattitüden wie „entsprechend muss man sich organisieren“ wiederzufinden. Brecht nicht den Bann. Nehmt diese Wahrheit als gegeben hin, dass die Sackgasse der sozialen Ordnung eine Autobahn zur Insurrektion ist, und wagt nicht zu fragen: Wie organisieren? Um was zu tun? Mit wem? Und warum?

Gehörst du zu denjenigen, die glauben, dass die Zerstörung der alten Welt unvermeidlich und die Vorstufe zu einer echten sozialen Umgestaltung ist? Oder bist du vielleicht davon überzeugt, dass es durch die unmittelbare Entstehung neuer Lebensformen gelingen wird, die alten autoritären Modelle zu entmachten, so dass eine direkte Konfrontation mit der Macht überflüssig wird? Kein Problem, denn das Unsichtbare Komitee ist wieder einmal in der Lage, mit dem Finger in der Wunde, Spannungen zu versöhnen, die schon immer gegensätzlich waren. Es hofft auf „eine Vielfalt von Kommunen, welche die Institutionen des Staates ersetzen würden: die Familie, die Schule, die Gewerkschaft, den Sportverein, etc..“, und stellt die Theorie auf, „die Anonymität, in die wir abgeschoben wurden, zu unserem Vorteil zu wenden und daraus, mittels der Verschwörung, der nächtlichen oder vermummten Aktion, eine unangreifbare Position des Angriffs zu machen“. Die fehlende Peinlichkeit der Schriftgelehrten, die die Evidenz begründen, ist peinlich. Es stimmt, dass die Geschichte der revolutionären Bewegung ein unermessliches Arsenal ist, theoretisch und praktisch, das es zu plündern gilt. Aber die Leichtigkeit, mit der sie jahrhundertealte Knoten auflösen, ist erstaunlich, weil sie die Frucht einer so groben Manipulation ist. Beobachten wir, wie sie den Begriff „Kommune“ in einen ideologischen Universalschlüssel verwandeln, der ihnen alle Türen öffnen kann. Um Unterstützung aus dem ganzen bunten Feld der Unzufriedenen zu gewinnen, sowohl unter den Feinden dieser Welt (für die die Kommune ein Synonym für das aufständische Paris von 1871 ist) als auch unter den Alternativen zu dieser Welt (für die die Kommune die glückliche Oase in der Wüste des Kapitalismus ist), machen sie sich selbst zu Sängern einer „Kommune“, die sie überall sehen: „Jeder wilde Streik ist eine Kommune, jedes kollektiv besetzte Haus, das auf einer klaren Basis steht, ist eine Kommune, die Aktionskomitees von 68 waren Kommunen, so wie es die Cimarrones geflohener Sklaven in den Vereinigten Staaten waren, oder Radio Alice in Bologna im Jahre 1977“. Und was noch? „Die Kommune ist die elementare Einheit der Realität der Partisanen. Eine aufständische Erhebung ist vielleicht nichts anderes als eine Vervielfachung der Kommunen, ihrer Verbindungen und ihres Zusammenspiels. Im Lauf der Ereignisse verschmelzen die Kommunen zu größeren Einheiten oder splittern sich auf. Zwischen einer Bande von Brüdern und Schwestern, verbunden »auf Leben und Tod«, und der Zusammenkunft einer Vielzahl von Gruppen, Komitees und Banden um die Versorgung und Selbstverteidigung eines Stadtteils, oder sogar einer aufständischen Region, gibt es nur einen Unterschied im Umfang, sie sind ununterscheidbar Kommunen.“ Natürlich sind alle Kühe gleich grau.

Es ist unglaublich, sich daran erinnern zu müssen, dass die Debatte über das Verhältnis zwischen revolutionärem Bruch und dem Experimentieren mit alternativen Lebensformen zu dem von den herrschenden sozialen Verhältnissen auferlegten einzigen Modell mindestens bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zurückreicht. In Italien manifestierte sie sich vor allem in den Diskussionen um die Kolonie Cecilia, während sie in Frankreich in den existenziellen Entscheidungen zweier Brüder, Emile und Fortuné Henry, zum Ausdruck kam (entschuldigung, aber jeder hat seine eigene Geschichte zu erzählen. Anders als das Unsichtbare Komitee denken wir an Anarchisten). Der erste der Brüder, der die Worte von Alexander Herzen „Wir bauen nicht auf, wir zerstören; wir verkünden keine neuen Enthüllungen, wir zerstören alte Lügen“ beherzigte, ging nach einigen Bombenanschlägen an den Galgen; der zweite gründete die Kolonie Aiglemont. Die Ausdrücke der Frage sind seitdem fast unverändert geblieben: Kann eine neue Lebensform nur während insurrektionlistischer Brüche entstehen oder auch außerhalb davon? Sind es die Barrikaden, die das Unmögliche möglich machen, indem sie jahrhundertealte Gewohnheiten, Vorurteile und Verbote außer Kraft setzen, oder kann dieses Unmögliche täglich am Rande der herrschenden Entfremdung ausgekostet und genährt werden?

Das Unsichtbare Komitee ist wie die Tugend: Es ist immer in der Mitte. Wie die heutigen Verfechter der „nicht-staatlichen Öffentlichkeit“ (von den arrogantesten anarchistischen Militanten bis hin zu den gerissensten „disobbedienti“ Negrianern11) behauptet es, dass „indem sie der staatlichen Kartographie ihre eigene Geographie aufzwingt, sie verschwimmen lässt, sie löscht, produziert die lokale Selbstorganisierung ihre eigene Sezession“. Doch während die ersten in der fortschreitenden Verbreitung von Erfahrungen der Selbstorganisation eine Alternative zur insurrektionalen Hypothese sehen, schlägt das Unsichtbare Komitee eine strategische Integration von Wegen vor, die bis jetzt als getrennt betrachtet wurden. Nicht mehr die Sabotage oder der Gemüsegarten, sondern Sabotage und der Gemüsegarten. Tagsüber pflanzen sie Kartoffeln, nachts fällen sie Strommasten. Die Tagesaktivität wird mit der Erfordernis gerechtfertigt, nicht von den Leistungen abhängig zu sein, die heute vom Markt und vom Staat erbracht werden, und somit eine gewisse materielle Autonomie zu gewährleisten („Wie können wir uns ernähren, wenn alles lahmgelegt ist? Die Geschäfte zu plündern, wie dies in Argentinien gemacht wurde, hat seine Grenzen“), die nächtliche durch die Erfordernis, den Fluss der Macht zu unterbrechen („Die erste Geste, damit etwas mitten in der Metropole hervorbrechen kann, damit sich andere Möglichkeiten eröffnen, besteht darin ihr Perpetuum Mobile zu stoppen.“). Mitgerissen vom Enthusiasmus für diese brillante Kombination, die noch nie zuvor in den Köpfen eines Revolutionärs aufgetaucht war, fragen sich die Schreiber, nachdem sie vorgeschrieben haben, dass „Die sich ausbreitende Bewegung der Bildung von Kommunen muss diejenige der Metropole unterirdisch überholen.“: „Warum können sich die Kommunen nicht ins Unendliche vermehren? In jeder Fabrik, in jeder Straße, in jedem Dorf, in jeder Schule. Endlich die Herrschaft der Basiskomitees!“. Die Antwort auf diese Frage ist am 11. November 2008 in Tarnac leicht zu erkennen: Die kommende Polizei. Ohne jegliche Originalität greift das Unsichtbare Komitee die alte, in den 1970er Jahren aktive Illusion einer „bewaffneten Kommune“ wieder auf, d.h. einer Kommune, die sich nicht in der Verteidigung ihres eigenen befreiten Raums verschanzt, sondern zum Angriff auf die anderen Räume übergeht, die in den Händen der Macht bleiben. Dies ist jedoch aus mindestens zwei Gründen nicht machbar.

Der erste ist, dass eine Kommune außerhalb eines insurrektionalistischen Kontextes in einem der Zwischenräume lebt, die die Herrschaft leer lässt. Ihr Überleben hängt von ihrer Harmlosigkeit12 ab. Solange es darum geht, Zucchini in Biogärten anzubauen, Mahlzeiten in Voküs zuzubereiten, Kranke in selbstverwalteten Kliniken zu behandeln, ist alles gut. Manchmal braucht man jemanden, der die Unzulänglichkeiten der sozialen Dienste ausgleicht. Schließlich ist ein Parkplatz für Randgruppen/Marginalisierte abseits der glitzernden Schaufenster des Stadtzentrums praktisch. Aber sobald man sich auf die Suche nach dem Feind macht, ändert sich alles. Früher oder später klopft die Polizei an die Tür und die Kommune endet oder wird zumindest kleiner. So viel zum Thema „Synchronisierung“ der Metropole! Alle Kommunen, die das Bestehende angegriffen haben, waren nur von kurzer Dauer.

Der andere Grund, warum der Versuch, „bewaffnete Kommunen“ außerhalb einer Insurrektion zu verallgemeinern, vergeblich ist, sind die materiellen Schwierigkeiten, mit denen sich solche Erfahrungen konfrontiert sehen, die in der Regel eine Unzahl von Problemen vor sich herschieben, begleitet von einem chronischen Mangel an Ressourcen. Da nur einige wenige Privilegierte in der Lage sind, jedes Problem so schnell zu lösen wie das Ausstellen eines Schecks (oder dessen Unterzeichnung durch die Mamas und Papas der Subversion), sind die Teilnehmer der Kommune fast immer gezwungen, ihre gesamte Zeit und Energie für das interne „Funktionieren“ der Kommune aufzuwenden. Kurz gesagt, um in der Metapher zu bleiben, neigt einerseits die Tagesaktivität mit ihren Anforderungen dazu, alle Kräfte zu Lasten der Nachtaktivität zu absorbieren; andererseits neigt die Nachtaktivität mit ihren Folgen dazu, die Tagesaktivität zu gefährden. Am Ende prallen diese beiden Spannungen aufeinander. Als Fortuné Henry eine intensive Propagandatätigkeit begann, die dazu führte, dass er nicht mehr in Aiglemont war, sah er sein soziales Experiment in kürzester Zeit scheitern (und niemand bedauerte es). Die französischen illegalistischen Anarchisten des frühen 20. Jahrhunderts hatten in der Kolonie Romanville gelebt, aber erst nach dem Scheitern dieses Gemeinschaftsversuchs und ihrer Rückkehr nach Paris wurden sie zu den „Autobanditen“.

Um es klar zu sagen. Damit soll die Wichtigkeit und der Wert solcher Experimente nicht negiert werden. Es bedeutet nur, sie nicht mit einer Bedeutung und Tragweite zu überladen, die sie nicht haben können. Malatesta formulierte 1913: „Wir haben nichts dagegen einzuwenden, dass einige Gefährten versuchen, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es wollen, und das Beste aus den Umständen zu machen, in denen sie sich befinden. Aber wir protestieren, wenn Lebensweisen, die nur Anpassungen an das gegenwärtige System sind und sein können, als anarchistisch dargestellt werden und, schlimmer noch, als Mittel zur Umgestaltung der Gesellschaft, ohne auf die Revolution zurückzugreifen.“ Ein In-vitro-Experiment, das begrenzt und umgrenzt ist, kann sicherlich gute Hinweise liefern und unter bestimmten Umständen mehr als nützlich sein, aber es stellt an sich keine Befreiung dar.

Das Konzept der Kommune auf alle rebellischen Manifestationen auszudehnen und ihre Summe mit einer Insurrektion gleichzusetzen, wie es das Unsichtbare Komitee tut, ist ein instrumenteller Trick, um das Problem zu umgehen und seinen Werbeslogan überall durchzusetzen. Wenn die Summe der subversiven Praktiken die Insurrektion ist, dann ist diese überhaupt nicht im Kommen: Sie ist schon da, sie war schon immer da. Hast du sie noch nicht bemerkt? Statt einer Feststellung, die Freude verbreitet, scheint sie uns ein Trost zu sein, der Selbstgefälligkeit verbreitet. Im rhetorischen Jargon könnte man es vielleicht als Metonymie bezeichnen, wobei ich mich für die Trivialität entschuldige. Laienhaft ausgedrückt, ein Austausch von Begriffen wie der, der darin besteht, den Namen der Ursache für den der Wirkung, das Behältnis für den Inhalt, das Material für das Objekt zu verwenden…. Diese Verwirrung ist für das Unsichtbare Komitee nützlich, denn sie erlaubt es ihm, sowohl denjenigen zu schmeicheln, die auf die Befriedigung alltäglicher Bedürfnisse abzielen, als auch denjenigen, die utopische Wünsche verwirklichen wollen ( „Schlussendlich hätte man die Wut nie von der Politik lösen sollen.“), sowohl diejenigen zu umschmeicheln, die sich dem „die Biologie des Plankton (…) zu verstehen“ verschrieben haben, als auch diejenigen, die Probleme haben wie „Wie können eine TGV-Linie oder ein Stromnetz unbrauchbar gemacht werden? Wie können die Schwachstellen der Computer-Netzwerke gefunden, wie die Radiofrequenzen gestört und die Flimmerkiste wieder zum Rauschen gebracht werden?“ Indem das Unsichtbare Komitee mit seinem praktischen Wesen prahlt – ein nobles Ziel, dem sich niemand zu widersetzen wagt – überspielt es alle Fragen, die zu Unstimmigkeiten führen könnten, und reibt sich die Hände über die „politische Fruchtbarkeit“, die es erreicht hat. Es wettert lautstark gegen diese Zivilisation und sagt kein Wort darüber, wofür es kämpft. Das praktische Ergebnis dieser Haltung? „Wir haben die Feindschaft gegenüber der Zivilisation, um weltweit Solidaritäten und Fronten aufzuspüren.“ Wäre die Feindseligkeit gegenüber dieser Zivilisation nämlich von der Leidenschaft für eine Existenz frei von jeglicher Form von Herrschaft begleitet, wären all diese gemeinsamen Fronten nicht möglich: Wer würde schon ein Bündnis mit einem Konkurrenten der Macht eingehen?

Wenn nicht mal das Warum, das Was, geschweige denn das Wie ausgedrückt wird! Auch hier wird das Vermeiden in ein stilistisches Gewand gekleidet: „Geht es darum, über Aktionen zu entscheiden, so könnte das Prinzip lauten: Jeder holt eigene Erkundungen ein, die Übereinstimmung der Nachrichten wird geprüft, und die Entscheidung wird von alleine kommen, ergreift uns mehr, als wir sie ergreifen.“ Es ergibt also keinen Sinn, Zeit mit langwierigen Debatten über die zu wählende Methode und das zu verfolgende Ziel zu vergeuden, die leider zu Meinungsverschiedenheiten führen: Lasst uns alle umherwandern und die Entscheidung wird sich von selbst ergeben. Schön, strahlend und gültig für alle. Wenn du dann etwas Klarheit brauchst, sieh dir ihre historischen Referenzen an und lass deiner Fantasie freien Lauf. Auch wenn es heißt: „Das Feuer von November 2005 bietet dafür das Vorbild“, scheint die Aktion, die den Schreibern vorschwebt, eher die einer von Blanqui angeführten Black Panther Party zu sein. Wenn du denkst, dass sie einem avantgardistischen, autoritären Mischmasch ähnelt, dann bist du hoffnungslos alt und überholt/ausrangiert. Da du dich nicht mit flüchtigen Qualitäten wie der „Dichte“ der Beziehungen oder dem „Geist“ der Gemeinschaft zufrieden geben kannst, wirst du die literarische Beschreibung dessen, was bei einer Insurrektion passieren könnte, mit der das Buch endet, vielleicht sogar als ekelerregend empfinden! Wir haben bereits auf die mangelnde Präzision hingewiesen, mit der dieser Text verfasst ist, was keineswegs sein Hauptmanko, seine schwache Seite ist, wie einige in ihrer Rezension behauptet haben. Im Gegenteil, es scheint seine Stärke zu sein. Der kommende Aufstand ist auf der Höhe der Zeit und absolut zeitgemäß. Er besitzt die begehrtesten Eigenschaften des Augenblicks, er ist flexibel und elastisch, er passt sich allen Umständen (im subversiven Milieu) an. Er präsentiert sich gut, hat Stil und spricht jeden an, weil er es jedem ein bisschen recht macht, ohne dass es jemandem bis zum Ende missfällt. Unter diesem Gesichtspunkt ist es ein ausgesprochen politisches Buch.

Abschließend noch ein paar Worte zu dem Kontext, aus dem dieses Buch stammt. Frankreich ist bekanntlich das Vaterland der Revolution und der Liebe. Aber auch der kulturellen Avantgarde. Das Futuristische Manifest, das als Ahnherr der Avantgarde gilt, wurde dort veröffentlicht; die Situationistische Internationale, die als deren letzter Ausdruck gilt, war dort aktiv. Das Unsichtbare Komitee ist der Nekromant dieser fauligen Tradition, die revolutionäre Spannungen und die Einnahme von Lebensmittelverkäufen miteinander verbinden möchte (indem es die Ersteren in den Dienst der Letzteren stellt). Wie seine Vorgänger macht es lediglich Themen publik, die schon immer von Einzelpersonen und Gruppen fernab und im Schutz der kulturellen und politischen Bühne behandelt wurden. Nachdem es aus den unterschiedlichsten Quellen des revolutionären Erbes geschöpft und die einzelnen Elemente gut miteinander vermischt hat, runzelt es die Stirn, als es diese schillernde subversive Mischung einem Publikum von Konsumenten von radikalem Nervenkitzel präsentiert und sich seiner Originalität rühmt. Das Unsichtbare Komitee ist zwar über die Widersprüche aufgeklärt, in die sich seine Väter/Paten verstrickt haben, folgt ihnen aber sowohl in der Tat als auch im Wort. Das Ergebnis ist ein Text, der von einem kommerziellen Verlag veröffentlicht wird, der aber gleichzeitig vor „kulturellen Milieus“ warnt, deren Aufgabe es ist, „alle aufkeimenden Intensitäten aufzuspüren und den Sinn dessen, was Ihr tut, zu unterschlagen“. Einerseits wird es von der FNAC13 zum Buch des Monats gewählt, andererseits warnt es, dass „die Literatur ist in Frankreich der Raum, den man selbstherrlich zur Unterhaltung der Kastrierten zugelassen hat. Sie ist die formelle Freiheit, die denen gewährt wurde, die sich nicht an die Nichtigkeit ihrer realen Freiheit gewöhnen“. Aber wie bereits erwähnt, braucht eine revolutionäre Bewegung, die von dem Wunsch beseelt ist, einen Bruch mit der bestehenden Ordnung zu erreichen, keine Bestätigung der sozialen Ordnung, die sie kritisiert. Überlassen wir den Opportunisten aller Couleur die Heuchelei, das, was in Wirklichkeit Kollaboration ist, als rücksichtsloses Eindringen in Feindesland zu bezeichnen. Es ist eine seltsame Idee der Abspaltung und der Autonomie von den Institutionen, die empfiehlt, einen Fuß in sie zu setzen und ohne zu zögern an ihr teilzunehmen.

Wir sind uns darüber im Klaren, dass die Fans dieses Buches Grund zur Freude haben: Nachdem die US-Ausgabe, die von Semiotext(e), einem auf poststrukturalistische französische Theorie spezialisierten Verlag, gedruckt wurde, von M.I.T. Press vertrieben wird (zum Preis von nur 12,95 $), verspricht der Erfolg dieses Buches planetarisch zu werden. Und worauf ist dieser Erfolg zurückzuführen? Trotz der Assonanzen, die darin zu finden sind, ist Der kommende Aufstand, in die Schaufenstern aller Buchhandlungen kommend, nur die Karikatur und Kommodifizierung14 jener Insurrektion, die sie alle zerschlagen könnte.

[aus Machete Nr. 5, November 2009].


1A.d.Ü., im Falle von Sol dell’Avvenire, handelt es sich um einen italienischen Dokumentarfilm aus dem Jahr 2008, über ehemalige Mitglieder der Roten Brigade und deren Geschichte, Erinnerungen, etc.

2A.d.Ü., L’Insurrection qui vient

3Anmerkung aus der englischen Übersetzung, „in dem Material was ich auf Englisch gelesen habe, ist der französische Innenminister soweit gegangen es als ein „Handbuch des Terrorismus“ zu bezeichnen.

4A.d.Ü., hier handelt es sich um eine sozialdemokratische Tageszeitung aus Frankreich.

5A.d.Ü., Prositu oder Pro-situ ist ein Begriff der eine Nähe zu den Situationistischen Internationale verkündet, kann sowohl negativ, wie positiv, verwendet werden.

6A.d.Ü., jeder kennt die Ausdrücke Salonkommunisten oder Salonanarchistin, also jene die anstatt die Revolution machen, nur darüber reden und sich selbst gerne zuhören, in diesem Falle führen die Autoren einen Neologismus ein und präsentieren eine ähnliche parasitäre Figur, nämlich den „barricaderi da salotto“, also den Salonbarrikadisten.

7Das größte Verlagshaus Italiens, das wiederum große, über das ganze Land verteilte Buchhandlungen besitzt.

8A.d.Ü., alle Zitate aus dem Film selbst.

9A.d.Ü., wir denken dass die Autoren und Autorinnen dieses Textes dies meinten: Mit der Entwicklung der großen Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst hinweggezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Sie produziert vor allem ihren eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich.“ Karl Marx und Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei

10A.d.Ü., hier handelt es sich um einen Wortspiel, fiera elettorale bedeutet eine Wahlmesse, aber auch eine Wahlbestie, da fiera sowohl Messe, als auch Bestie bedeutet.

11A.d.Ü., gemeint sind die Anhänger und Anhängerinnen von Toni Negri.

12A.d.Ü., im Originaltext wird der Begriff inoffensività verwendet, was als nicht-offensiv auch verstanden werden sollte.

13A.d.Ü., FNAC ist eine große Kette von Buchhandlungen.

14A.d.Ü., zur Ware werden.

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