Kritik am Leninismus – Soligruppe für Gefangene https://panopticon.blackblogs.org Für die Anarchie! Knäste, Staat, Patriarchat und Kapital abschaffen! Sat, 25 Jan 2025 12:14:10 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.1 https://panopticon.blackblogs.org/wp-content/uploads/sites/1233/2020/02/cropped-discharge-degenerik-blog-1-32x32.jpg Kritik am Leninismus – Soligruppe für Gefangene https://panopticon.blackblogs.org 32 32 Dritte-Weltismus und Sozialismus, Cajo Brendel https://panopticon.blackblogs.org/2025/01/18/dritte-weltismus-und-sozialismus-cajo-brendel/ Sat, 18 Jan 2025 21:03:10 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=6145 Continue reading ]]>

Gefunden auf archives autonomies, die Übersetzung ist von uns. Eine Kritik von Cajo Brendel an „nationalen Befreiungsbewegungen“.


Dritte-Weltismus und Sozialismus, Cajo Brendel

In den zwei Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg wurde die politische Bühne von den antiimperialistischen Kämpfen der kolonialisierten Völker beherrscht. Die chinesische Revolution ist nur der prominenteste Fall eines Kolonialvolkes, das in sehr harte Kämpfe gegen einen viel mächtigeren imperialistischen Feind verwickelt ist – Kuba, Algerien und Vietnam sind ebenfalls Beispiele unter vielen.

Während diese antiimperialistischen Kämpfe tobten, führte die metropolitane Arbeiterklasse nur wenige politisch bemerkenswerte Schlachten gegen ihre eigenen Herren; in keinem der Industrieländer erhob sich das Proletariat gegen die Bourgeoisie, um deren politische Macht in Frage zu stellen. Der ungarische Aufstand von 1956 war wie der Kronstädter Aufstand 1921 in Russland1 von politischer Bedeutung, aber da er in einem Land stattfand, in dem das Privateigentum an Produktionsmitteln bereits abgeschafft worden war, passte er nicht in die orthodoxe marxistische Analyse der gesellschaftlichen Dynamik, und seine tiefere Bedeutung blieb unbeachtet. Unter diesen Umständen entstanden die „Dritte-Weltismus“-Theorien.

Diese Theorien konzentrierten sich hauptsächlich auf die folgenden Punkte:

1.) Das Proletariat der Industrieländer revoltiert nicht, weil es von den Brosamen der Ausplünderung der kolonialen Welt gesättigt ist. Dieser Umstand erstickt seine revolutionäre Initiative. Das Proletariat in diesen Ländern ist korrupt und in die bourgeoise Ordnung integriert.

2.) Die Bevölkerung der kolonialen Länder, deren Arbeit die Rohstoffe liefert, die der Imperialismus benötigt, bildet ein Weltproletariat“ (auch wenn es sich um Bauern handelt, die nicht in eine industrielle Tätigkeit eingebunden sind). Im Weltmaßstab sind sie die revolutionäre Klasse. Und sie sind es, die sich in bewaffneten Aufständen gegen den Imperialismus erhoben haben. Die antikoloniale Revolution ist daher die sozialistische Revolution unserer Zeit.

3. Bauern auf der ganzen Welt werden den bewaffneten Kampf aufnehmen und die städtischen Zentren einkreisen (genau wie in China und Kuba). Außerdem werden diese Zentren in einer ökonomischen Krise zusammenbrechen (da ihnen die Rohstoffquellen, Märkte und Arbeitskräfte entzogen wurden). Das städtische Proletariat wird sich in dieser Phase der siegreichen Revolution der kolonialen Bauern anschließen.

Die drei oben genannten Punkte, die vielleicht bis zu einem gewissen Grad vereinfacht sind, stellen dar, was wir unter der Theorie des „Dritte-Weltismus“ verstehen. Wie jede andere Orthodoxie hat sie viele Varianten, von denen jede für sich beansprucht, die einzig authentische zu sein. Auf jeden Fall bilden diese drei Punkte den gemeinsamen Nenner derjenigen, die der „Dritte-Weltismus“-Ideologie anhängen.

Der „Dritte-Weltismus“-Marxismus ignoriert die grundlegenden Annahmen der marxistischen Gesellschaftsanalyse. Nach Marx ist eine Revolution nicht nur ein Aufstand gegen das Elend. Sie ist die Legitimation eines neuen Ensembles von sozialen Beziehungen, die vor der Revolution aufgrund einer neuen Produktionstechnologie entstanden sind. Nach Marx ist es nicht die Revolution, die eine neue Gesellschaft hervorbringt, sondern ein neues Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse, das eine Revolution hervorbringt und ihr dann die Möglichkeit gibt, sich zu entwickeln. So konnten die großen Revolutionen in England (1640) und Frankreich (1789) nur die Gesellschaftsordnung legitimieren, die die Bourgeoisie jahrzehntelang hervorgebracht hatte.

Welche Art von Gesellschaft reifte in den Kolonialländern vor ihrer Unabhängigkeit heran? Das Industrieproletariat in diesen Ländern war fast nicht existent und konnte keine entscheidende Rolle spielen. Der Kampf der Kolonialvölker war in erster Linie eine Bauernrevolte. Revolutionen, die von halbmilitärischen Parteien angeführt und durch militärische Kämpfe vollendet wurden, brachten Regime hervor, die zutiefst von ihren Ursprüngen geprägt waren. Die neuen politischen Strukturen sind ein Abbild der Formen des Machtkampfes: reglementiert, autoritär, doktrinär, bürokratisch. Neue Regime dieser Art können die Millionen von Menschen, die in den modernen Industrieländern leben, nicht inspirieren. Alle Revolutionen in einem unterentwickelten Land haben die absolute Herrschaft einer politischen oder militärischen Bürokratie hervorgebracht. Selbst wenn sie von ihrer eigenen Bevölkerung toleriert werden (oft nach der Inhaftierung oder Hinrichtung jeglicher Opposition – einschließlich der Linken), können diese Regime nicht als Modell oder Ziel für die Menschen in einer modernen Industriegesellschaft dienen.

Das bedeutet nicht, dass diese Revolutionen wertlos waren. Wo Tausende von Menschen verhungern, ist man fehl am Platz, wenn man sich über den Mangel an Demokratie beschwert. Selbst wenn die chinesischen, kubanischen oder algerischen Revolutionen nichts weiter getan hätten, als das Elend in diesen Kolonialländern zu verringern, wären sie nicht nutzlos gewesen. In Wirklichkeit haben sie mehr getan, als nur hungrige Bäuche zu füllen: Sie haben das Analphabetentum beseitigt, das Privateigentum an Land abgeschafft, die Industrialisierung eingeleitet und so weiter. Aber nichts davon kann weder implizit noch explizit so verstanden werden, dass es auch nur das Geringste mit Sozialismus zu tun hätte: Die fortgeschrittenen Länder haben viel mehr als das produziert, und wir kritisieren sie immer noch gnadenlos. Beim Sozialismus geht es um eine grundlegende Veränderung der Produktionsverhältnisse: die Abschaffung des Verhältnisses von Herrschenden und Beherrschten in den Produktionskräften und in allen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens. Die Revolten in der Dritten Welt bringen keine neue Art von Gesellschaftsordnung hervor, die für die Industriegesellschaft gültig ist.

Darüber hinaus ist der Spielraum für nationale politische Autonomie, der in solchen Staaten existiert, oft sehr begrenzt. Ökonomische und militärische Hilfe, allgegenwärtige „Berater“, das Erbe besonderer politischer Strukturen und etablierter Handelsströme neigen dazu, solche Staaten in einer Situation der Abhängigkeit von ihren früheren imperialistischen Herren zu belassen: siehe die Beziehungen Algeriens zu Frankreich. Wo die Revolte tiefer ging, entstehen neue politische Strukturen und neue Handelsströme, und in der Regel findet sich das Land zunehmend unter dem Einfluss anderer Supermächte wieder. Die kubanische Unterstützung für den russischen Einmarsch in die Tschechoslowakei zeigte, wie sehr Castro davon abhängig war, dass die Russen die Zuckerernte aufkauften – der Handel mit Prinzipien steht in direktem Zusammenhang mit dem Prinzip des Handels. Selbst wenn echte „politische“ Unabhängigkeit erlangt wird, wie im Fall Chinas, werden die Prinzipien den durch den Handel vermittelten Vorteilen geopfert. 1964 sabotierte die maoistische KP Japans einen Generalstreik im Zusammenhang mit ihren Bemühungen, den chinesisch-japanischen Handel zu fördern, und zwei Jahre später wurde bekannt, dass die Chinesen die USA mit Flach- und Rundstahl belieferten, der für ihre Kriegsanstrengungen in Vietnam unerlässlich war.

Auch wenn die „ökonomische Katastrophe“ der Ballungszentren nicht eintritt – wie jeder, der mit dem Primat des internen Marktes im modernen Kapitalismus vertraut ist, leicht hätte vorhersehen können – ist es so, dass die Industrieländer weniger von den unterentwickelten Ländern abhängig sind als diese von den Industrieländern. Nicht nur, dass Kunstfasern die Baumwolle ersetzen können, sondern auch, dass die baumwollproduzierenden Länder sehr arme Märkte für z.B. Autos oder Computer darstellen. Moderne Industrieländer sind im Vergleich zu früher immer weniger von ihren ehemaligen Kolonien abhängig, sowohl was Rohstoffe als auch was Märkte betrifft. Holland hat Indonesien verloren, Belgien den Kongo, die USA wurden aus Kuba hinausgeworfen, ohne dass ihre Ökonomien zusammengebrochen wären.

Dennoch haben die Kämpfe der Kolonialvölker etwas zur revolutionären Bewegung beigetragen. Die Tatsache, dass schlecht bewaffnete Bauernvölker den enormen Kräften des modernen Imperialismus entgegentreten konnten, erschütterte den Mythos der Unbesiegbarkeit der militärischen, technologischen und wissenschaftlichen Macht des Westens. Ihr Kampf hat auch Millionen von Menschen die Brutalität und den Rassismus des Kapitalismus vor Augen geführt und viele, vor allem junge Menschen und Studenten, dazu gebracht, den Kampf gegen ihre eigenen Regime aufzunehmen. Die Unterstützung der kolonialen Völker gegen den Imperialismus bedeutet jedoch nicht die Unterstützung irgendeiner der Organisationen, die an diesem Kampf beteiligt sind.

Unsere Weigerung, politische Organisationen zu unterstützen, die nationalistische, bourgeoise oder staatskapitalistische Programme verfolgen, ist nicht nur eine Frage der Treue zu revolutionären, moralischen und ideologischen Prinzipien. Es ist auch eine Frage der politischen Solidarität. In vielen Fällen kommt es vor, dass es in großen, reichen und lauten Organisationen kleine Gruppen von Militanten gibt, revolutionäre Internationalisten, die in einem sehr scharfen Konflikt nicht nur mit dem Imperialismus, sondern auch mit ihren eigenen nationalistischen „Partnern“ stehen. In China wurden z. B. sowohl Anarchisten als auch Trotzkisten auf dem Weg der KP zum Sieg zerschlagen. Die Anwälte des „Realismus“, die ihre Unterstützung mehr nach Größe als nach Programm, nach objektiven Bedingungen als nach subjektivem Bewusstsein gewähren, verraten nicht nur ihre revolutionären Prinzipien, sondern auch diejenigen, die in den betreffenden Ländern für dieselben Prinzipien kämpfen. Es ist die Politik derer, die sich den „objektiven Bedingungen“ anpassen, anstatt die Politik derer, die es wagen, sie herauszufordern und zu verändern.


1Vgl. Ungarn, 1956 von Andy Anderson; und Ida Mett, La Commune de Cronstadt, Crépuscule sanglant des Soviets (Die Kronstädter Kommune, Blutige Dämmerung der Sowjets), Spartacus Hefte. (A.d.Ü., Ida Mett, Kommune von Kronstadt, auch auf unseren Blog veröffentlicht)

]]> (1950) Willy Huhn – Karl Marx gegen den Stalinismus https://panopticon.blackblogs.org/2024/11/16/1950-willy-huhn-karl-marx-gegen-den-stalinismus/ Sat, 16 Nov 2024 09:59:00 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=6079 Continue reading ]]> Karl Marx gegen den Stalinismus

Was Marx und Engels unter „Kommunismus“ verstanden

Willy Huhn – 1950

I.

Wenn es etwas gibt, das noch erstaunlicher ist als die Arroganz, mit der die SED-Scholastiker die bolschewistische Ideologie mit der marxistischen Theorie gleichsetzen, dann ist es die Ignoranz, mit der heute in gewissen Kreisen der politischen Traditionsträgerin der marxistischen Arbeiterbewegung in Deutschland, der SPD, Kommunismus und Bolschewismus identifiziert werden. Aber auch bei klügeren Köpfen, die wohl wissen, daß der Bolschewismus ein „russifizierter Marxismus“ ist (Sering), findet man kaum eine richtige Auffassung des Kommunismus im marxistischen Sinne. Es ist also tatsächlich einmal notwendig, an Hand der Werke von Marx und Engels ihren Begriff des Kommunismus herauszuarbeiten. Wenn ein Philosophieprofessor, in der Regel also ein Ideologe, sich einmal über Marxens und Engels’ Kommunismus äußern soll, dann darf man sicher sein, daß dabei wieder nur eine neue Ideologie herauskommt, die logisch-genetisch mit dem ideologischen Denken irgendwelcher „Vorgänger“ zusammenhängt. Nach Professor Paul Vogel z.B. sahen Marx und Engels im Kommunismus „die folgerichtige Fortentwicklung der junghegelschen Philosophie“, soll er „zu Ende gedachter Hegelianismus“ gewesen sein.1

Wir behaupten nicht, daß diese Feststellung falsch ist, aber wir behaupten, daß sie einseitig ist und sich lediglich auf die theoretische Form bezieht. Der Marxismus ist aber Theorie der sozialen Praxis, keine Ideologie, die erst nach ihrer logischen Genesis an die gesellschaftliche Wirklichkeit mit recht überheblichen Ansprüchen auf „Verwirklichung“ herantritt. Genau dies gilt aber auch für den Kommunismus, soweit er mit dem Marxismus identisch ist. Er ist das Selbstbewußtsein des gesellschaftlichen Seins im Kapitalismus (Georg Lukàcs). Seine Forderungen an die sozialen Wirklichkeit stammen aus ihr selbst, nicht etwa aus einer ideologischen Sphäre. Er ist die kapitalistische Epoche, „in Gedanken erfaßt“; er spricht aus, was ist.

Aufhebung des Eigentums

Dieser Grundgedanke durch zieht alle Äußerungen von Marx und Engels, in denen sie das Verhältnis ihrer Theorie zur Arbeiterbewegung näher zu bestimmen versuchen. Schon 1841/1842 heißt es in bezug auf die Aufhebung des Privateigentums, daß diese Forderung kein Prinzip außerhalb und gegenüber der gesellschaftlichen Wirklichkeit sei, sondern das Prinzip der kapitalistischen Gesellschaft selbst:

„Wenn das Proletariat die Negation des Privateigentums verlangt, so erhebt es nur zum Prinzip der Gesellschaft, was die Gesellschaft zu seinem Prinzip erhoben hat, was in ihm als negatives Resultat der Gesellschaft schon ohne sein Zutun verkörpert ist.“2

Die Arbeiterbewegung, die für die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln kämpft, vertritt damit nicht ein der kapitalistischen Wirklichkeit widersprechendes, sondern ein ihr entsprechendes Prinzip, da der geschichtliche Prozeß innerhalb des Kapitalismus in einer solchen ständigen Negation des Privateigentums an den Produktionsmitteln besteht:

„Das Privateigentum treibt allerdings sich selbst in seiner nationalökonomischen Bewegung zu seiner eigenen Auflösung fort, aber nur durch eine von ihm unabhängige, bewußtlose, wider seinen Willen stattfindende, durch die Natur der Sache bedingte Entwicklung, nur indem es das Proletariat als Proletariat erzeugt, das seines geistigen und physischen Elends bewußte Elend, die ihrer Entmenschung bewußte und darum sich selbst aufhebende Entmenschung. Das Proletariat vollzieht das Urteil, welches „daß Privateigentum durch die Erzeugung des Proletariats über sich selbst verhängt (denn das Proletariat ist jene Klasse, die über keine individuellen Produktionsmittel mehr verfügt, W. H.), wie es das Urteil vollzieht, welches die Lohnarbeit „über sich selbst verhängt, indem sie den fremden Reichtum und das eigene Elend erzeugt.“3

Soweit also der Kommunismus seine Theorie in dem Ausdruck „Aufhebung des Privateigentums“ zusammenfaßt, handelt es sich lediglich um den „letzten und vollendetsten Ausdruck der Erzeugung und Aneignung der Produkte, die auf Klassengegensätzen, auf der Ausbeutung der einen durch die anderen beruht“, also auf der tatsächlich in der kapitalistischen Wirklichkeit vor sich gehenden Enteignung der Produzenten.

„Man hat uns Kommunisten vorgeworfen, wir wollten das persönlich erworbene, selbst erarbeitete Eigentum abschaffen; das Eigentum, welches die Grundlage aller persönlichen Freiheit, Tätigkeit und Selbständigkeit bilde. Erarbeitetes, erworbenes, selbstverdientes Eigentum! Sprecht Ihr von dem kleinbürgerlichen, kleinbäuerlichen Eigentum, welches dem bürgerlichen Eigentum vorherging? Wir brauchen es nicht abzuschaffen, die Entwicklung der Industrie hat es abgeschafft und schafft es täglich ab. Oder sprecht Ihr vom modernen bürgerlichen Privateigentum? Schafft aber die Lohnarbeit, die Arbeit des Proletariers ihm Eigentum? Keineswegs. Sie schafft das Kapital, d. h. das Eigentum, welches die Lohnarbeit ausbeutet, welches sich nur unter der Bedingung vermehren kann, daß es neue Lohnarbeit erzeugt, um sie von neuem auszubeuten. Das Eigentum in seiner heutigen Gestalt bewegt sich in dem, Gegensatz von Kapital und Lohnarbeit.“4

Der Kommunismus erhebt also nicht die Forderung nach der Aufhebung des Eigentums überhaupt, sondern die nach der Abschaffung des bürgerlichen Eigentums, das sich selbst schon in dem Gegensatz von Kapital und Lohnarbeit bewegt, also in dem Antagonismus von Eigentum und Nicht-Eigentum an den Produktionsmitteln. In diesem Sinne ist der Kommunismus nichts anderes als „die Lehre von den Bedingungen der Befreiung des Proletariats“5, also von der Aufhebung sowohl des Kapitals wie der Lohnarbeit.

Die sozialistischen Realitäten

Auch der Kommunismus ist also nur „Sohn seiner Zeit“, ein durch ein bestimmtes gesellschaftliches Sein erzeugtes Bewußtsein und mit ihm entstanden. Die marxistische Theorie geht in ihren Forderungen nicht über die Tendenzen der gegenwärtigen Welt hinaus. „Als der Gedanke der Welt erscheint“ auch sie „erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat“. Auch für das kommunistische „Ideal“ gilt das Wort Hegels, „daß erst in der Reife der Wirklichkeit das Ideale dem Realen gegenüber erscheint“.6

Wie könnte bei den Arbeitern ohne eine tendenziell kommunistische Wirklichkeit eine kommunistische Denkweise entstehen? Wenn das gesellschaftliche Sein das Bewußtsein bedingt, dann muß dies auch für das sozialistische Bewußtsein gelten. Worin bestehen aber jene sozialistischen Realitäten innerhalb des Kapitalismus, die es notwendig hervorbringen?

In Rußland, wo es den modernen Kapitalismus in entwickelterer Form so wenig gab wie das moderne europäische Proletariat, löste Lenin das Problem durch den Hinweis auf die Intelligenz, die den modernen Sozialismus in Westeuropa oder in seiner Literatur studiert hatte, um ihn dann den russischen Arbeitern „beizubringen“. Für Marx und seine ersten Schüler stand die Sache ganz anders: die Maschine hatte für sie das individualistische Gewerbe „in eine kommunistische Industrie umgewandelt“, damit war aus dem individualistischen „ein kommunistisches Produkt geworden“. Dadurch kam aber ein schneidender Widerspruch in die Produktionsweise hinein: während „der Organismus der Produktion und des Austausches die kommunistische Form annimmt“, blieb „die Aneignungsweise individualistisch“. In Wahrheit bedeutet dies aber, daß die „auf das Eigentum basierte Gesellschaft selbst“ ständig das kleinere Eigentum zerstört. Daher sind auch den Arbeitern in den modernen Fabriken die alten „Instinkte des Kleinbesitzers“ großenteils „ausgetrieben worden“:

„Das ungeheure Maschinengetriebe, an dem sie beschäftigt sind, stets vor Augen, begreifen sie instinktiv, daß es für sie unmöglich ist, dasselbe jemals individuell zu besitzen, daß es nur Gemeineigentum werden kann. Die mechanische Produktion hat die Idee des individuellen Besitzes aus den proletarischen Köpfen ausgetrieben und ihnen statt dessen die Idee des Gemeinbesitzes eingetrichtert. Diese geistige Revolution hat sich ohne Zutun der Kommunisten vollzogen; sie ist das Ergebnis der unter der Herrschaft der kapitalistischen Bourgeoisie organisierten mechanischen Produktion. Die kommunistischen Ideen existieren bereits im latenten Zustande in den Köpfen der Lohnarbeiter; die kommunistischen Agitatoren tun weiter nichts, als die Ideen zu erwecken und in Handlungen umzusetzen.“7

Lafargue, einer der ersten und begabtesten Schüler, später auch der Schwiegersohn von Marx, betonte daher ausdrücklich, daß die Kommunisten ihre Ideen „nicht von irgendwoher mitbringen, sondern (sie) aus den ökonomischen Erscheinungen ableiten, deren Spielball und Märtyrer die Arbeiter sind“ (ebenda).

Dieser Gedanke, daß der Kommunismus nicht eine utopistische Forderung an die Wirklichkeit darstellt, nach der sich die völlig entgegengesetzte Realität richten soll, indem sie „verwirklicht“ wird, sondern das innere tendenzielle Prinzip dieser Wirklichkeit selbst ist, das der Marxist nur in wissenschaftlicher Klarheit ausspricht, um das noch unklare Bewußtsein der Arbeiter zu klären und dadurch seine halbbewußten Reaktionen zu bewußten Aktionen zu erheben, zieht sich ebenfalls durch alle Werke von Marx und Engels.

II.

Schon 1844 bestimmt Marx im Unterschied zum „rohen“ Kommunismus, der zwar seinen Begriff bereits erfaßt habe, aber noch nicht sein Wesen, den vollendeten Kommunismus „als vollständige, bewußte und innerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen Entwicklung gewordene Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d.h. menschlichen Menschen.“ Die Arbeiterbewegung selbst stellt eben „die ihrer Entmenschung bewußte und darum sich selbst aufhebende Entmenschung“ dar (Vgl. das Zitat lt. Fußnote 3). In diesem Sinne hat auch Engels schon 1843 den Kommunismus als „wahre Freiheit und wahre Gleichheit“ erklärt!8 Doch nicht im Sinne ihrer Auffassung als „Ideale“, die der Wirklichkeit ideologisch gegenüberstehen und „verwirklicht“ werden sollen, sondern als reale Tendenzen der Befreiung und der Herstellung der Gleichheit in der proletarischen Bewegung selbst.

„Der Kommunismus ist … das wirkliche, für die nächste geschichtliche Entwicklung notwendige Moment der menschlichen Emanzipation und Wiedergewinnung. Der Kommunismus ist die notwendige Gestalt und ein organisches Prinzip der nächsten Zukunft, aber der Kommunismus ist nicht als solcher das Ziel der menschlichen Entwicklung- die Gestalt der menschlichen Gesellschaft.“9

Der Kommunismus ist kein Ideal

Der Kommunismus ist also kein Endziel der Geschichte, kein Ideal, sondern nichts anderes als die reale Bewegung des Kapitals und der Lohnarbeit selbst. Es ist eine in Gegensätzen ablaufende Bewegung, nämlich der Klassenkampf zwischen Monopolisten und Proletariern. Das gesellschaftliche Sein des tatsächlich vorhandenen Klassenkampfes zwischen den Kapitalseigentümern und Kapitalsfunktionären einerseits und den Lohnarbeitern andererseits ist die reale Basis des kommunistischen Bewußtseins. Das Wesen, d.h. der geschichtliche Sinn des Kommunismus, ist die Aufhebung der Entmenschung des Proletariats, und in diesem Sinne ist er „der durch Aufhebung des Privateigentums vermittelte Humanismus“. Er ist also „keine Flucht, keine Abstraktion, kein Verlieren der von den Menschen erzeugten gegenständlichen Welt. … Vielmehr erst das wirkliche Werden, die wirklich für den Menschen gewordene Verwirklichung seines Wesens und seines Wesens als eines wirklichen.“10

Die Existenz revolutionärer, kommunistischer Ideen in einer bestimmten Epoche setzt eben bereits die Existenz einer revolutionären, kommunistischen Klasse voraus. Aus ihrem unmittelbaren Klassenkampfe heraus empfanden, handelten und dachten die Arbeiter längst im kommunistischen Sinne, bevor es moderne proletarische kommunistische Theorien gab. Deshalb haben Marx und Engels 1845 ihren Standpunkt klar und deutlich bekannt:

„Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten habe. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.“11

Die wirkliche Bewegung aber, die den jetzigen Zustand aufhebt, geht sowohl auf der Seite des Kapitals wie auf der Seite der Lohnarbeit vor sich, denn sie bilden trotz ihrer Gegensätze „ein Ganzes“, stellen beide „Gestaltungen der Welt des Privateigentums dar“. Sowohl die Wandlungen des Kapitals (Abtrennung der Kapitalsfunktion vom Kapitaleigentum!) wie die Arbeiterbewegung sind in diesem marxistischen Sinne kommunistisch.

Praktische Materialisten

Die Bewegung, die den jetzigen Zustand aufhebt, ist aber auf selten des Kapitals eine widerwillige, notgedrungene; dagegen auf selten des Proletariats in zunehmendem Maße eine gewollte und bewußte. In dem Maße, in dem die Arbeiter vom theoretischen (abstrakten, naturwissenschaftlichen) Materialismus zum praktischen (konkreten, historischen) Materialismus übergehen, werden sie „praktische Materialisten, d. h. Kommunisten“, denen es sich darum handelt, „die bestehende Welt zu revolutionieren, die vorgefundenen Dinge praktisch anzugreifen und zu verändern“. Während die theoretischen Materialisten wie alle bloßen Theoretiker „nur ein richtiges Bewußtsein über ein bestehendes Faktum hervorbringen“ wollen, kommt es „dem wirklichen Kommunisten darauf an, dies Bestehende umzustürzen“. Was also den proletarischen (kommunistischen) Materialisten vom bürgerlichen (naturalistischen) Materialisten unterscheidet, ist dies, daß der erstere „die Notwendigkeit und zugleich die Bedingung einer Umgestaltung sowohl der Industrie wie der gesellschaftlichen Gliederung sieht“.12

„Der Kommunismus unterscheidet sich von allen bisherigen Bewegungen dadurch, daß er die Grundlage aller bisherigen Produktions- und Verkehrsverhältnisse umwälzt und alle naturwüchsigen Voraussetzungen zum ersten Mal mit Bewußtsein als Geschöpfe der bisherigen Menschen behandelt, ihrer Naturwüchsigkeit entkleidet und der Macht der vereinigten Individuen unterwirft.“13

Naturwüchsigkeit bedeutet in diesem Zusammenhang: Verhältnisse, die ohne bewußtes Zutun der Menschen entstanden und gegeben sind. So wird auch die naturwüchsige Form des weltgeschichtlichen Zusammenwirkens der Individuen, „die allseitige Abhängigkeit“, durch die kommunistische Revolution „in die Kontrolle und bewußte Beherrschung dieser Mächte“ verwandelt, jener Machte, die zwar aus dem Aufeinanderwirken der Menschen erzeugt werden, diese aber „bisher als durchaus fremde Mächte … beherrscht haben“. So setzt der Kommunismus an die Stelle der naturgegebenen und naturgesetzlichen Evolution die soziale Revolution als bewußte und gewollte ‘Tat der Vereinigung der Arbeiter. Während

„in allen bisherigen Revolutionen die Art der Tätigkeit stets unangetastet blieb und es sich nur um eine andere Distribution dieser Tätigkeit, um eine neue Verteilung der Arbeit an andere Personen handelte, richtet sich die kommunistische Revolution gegen die bisherige Art der Tätigkeit und beseitigt sie die (Lohn-) Arbeit und die Herrschaft aller Klassen mit den Klassen selbst.“

Revolution notwendig

Allerdings ist das Proletariat in seiner bisherigen Gestalt nicht ohne weiteres imstande, eine solche ungeheuere geschichtliche Aufgabe auf sich zu nehmen. Die kommunistische Revolution ist auch schon deswegen notwendig, weil die Arbeiterklasse „nur in einer Revolution kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen, um zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden.“14 Die Arbeiter können und ihre bewußten Elemente wollen auch nicht die alten Menschen bleiben, sie wissen, daß sie im Feuer der Klassenkämpfe umgewandelt werden.

„Stirner glaubt, … daß die kommunistischen Proletarier, die die Gesellschaft revolutionieren, die Produktionsverhältnisse und die Form des Verkehrs auf eine neue Basis, d. h. auf sich als die Neuen, auf ihre neue Lebensweise setzen, ‘die Alten’ bleiben. Die unermüdliche Propaganda, die diese Proletarier machen, die Diskussionen, die sie täglich unter sich führen, beweisen hinlänglich, wie wenig sie selbst ’die Alten’ bleiben wollen und wie wenig sie überhaupt wollen, daß die Menschen ’die Alten’ bleiben sollen. ’Die Alten’ würden sie nur dann bleiben, wenn sie mit Sankt Sancho (Stirner, W. H.) ’die Schuld in sich suchten’; sie wissen aber zu gut, daß sie nur unter veränderten Umständen aufhören werden, ’die Alten’ zu sein, und darum sind sie entschlossen, diese Umstände bei der ersten Gelegenheit zu verändern. In der revolutionären Tätigkeit fällt das Sich-Verändern mit dem Umändern der Umstände zusammen.“15

In den marxistischen Begriff des Kommunismus gehört also auch diese innere Bewegung der Arbeiterklasse, ihre sittliche und geistige Umformung hinein, wie sie sich aus ihren vereinigten Aktionen und Diskussionen ergibt. In diesem Sinne sagte Marx auch den Arbeitern im September 1850, daß sie die kommenden Bürgerkriege und Völkerkämpfe bis etwa zum Jahre 1900 nicht nur deswegen durchzumachen hätten, „um die Verhältnisse zu ändern, sondern um Euch selbst zu ändern“.

Die reale Bewegung

Wenn der Kommunismus aber die reale Bewegung der kapitalistischen Gesellschaft selbst, ihr immanent ist, wenn seine gesellschaftliche Wirklichkeit vor allem im Klassenkampfe der Arbeiterbewegung gegen das Kapital besteht, dann handelt es sich für den Marxismus lediglich darum, ihn innerhalb der kapitalistischen Erscheinungen als das Wesen des Kapitalismus zu entdecken, wenn seine Tendenzen zu manifestieren und in begrifflicher Form ins Bewußtsein zu heben. Er vollbringt damit eine ähnliche Arbeit wie die bürgerliche Nationalökonomie, als sie dem Wesen der bürgerlichen wirtschaftlichen Beziehungen nachspürte. „Wie die Ökonomen die wissenschaftlichen Vertreter der Bourgeoisklasse sind, so sind die Sozialisten und Kommunisten die Theoretiker der Klasse des Proletariats.“16

Klarer kann der Marxist in seinem Verhältnis zur Arbeiterklasse und in seiner Abgrenzung vom bürgerlichen Ökonomen überhaupt nicht bestimmt werden: die Kommunisten sind die wissenschaftlichen Vertreter der Proletarier. In diesem Sinne sprach auch Engels „vom Kommunismus … als dem theoretischen Ausdruck einer ’Bewegung’“. Und Marx hat diese praktische Bewegung, deren theoretischer Ausdruck der Kommunismus nur ist, und die der Kommunist als wissenschaftlicher Vertreter der Arbeiterklasse begrifflich zu erfassen sucht, in aller Klarheit wie folgt beschrieben:

„Da zum Beispiel das Privateigenthum nicht ein einfaches Verhältnis oder gar ein abstrakter Begriff, ein Prinzip ist, sondern in der Gesammtheit der bürgerlichen Produktionsverhältnisse besteht – es handelt sich nämlich nicht vom untergeordneten, untergegangenen, sondern vom bestehenden, bürgerlichen Privateigentum –, da diese sämmtlichen bürgerlichen Produktionsverhältnisse Klassenverhältnisse sind, eine Einsicht, die jeder Schüler aus seinem Adam Smith oder Ricardo sich angeeignet haben muß –, so kann die Veränderung oder gar Abschaffung dieser Verhältnisse natürlich nur aus einer Veränderung dieser Klassen und ihrer wechselseitigen Beziehung hervorgehen, und die Veränderung in der Beziehung von Klassen ist – eine geschichtliche Veränderung, ein Produkt der gesammten gesellschaftlichen Tätigkeit, das Produkt einer bestimmten, ’geschichtlichen Bewegung’.“17

III.

Aus dieser Grundauffassung des Kommunismus als der realen Bewegung des Proletariats in seinem Klassenkampf gegen das Kapital selbst ergeben sich ganz bestimmte Folgerungen für das Verhältnis der „Kommunisten“, d. h. der Marxisten, zu den Arbeitern. Es ist im „Kommunistischen Manifest“ deutlich genug bestimmt worden:

„Die theoretischen Sätze der Kommunisten beruhen keineswegs auf Ideen, auf Prinzipien, die von diesem oder jenem Weltverbesserer erfunden oder entdeckt sind. Sie sind nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfes, einer unter unseren Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung.“

Daher stellen die Kommunisten, die Theoretiker des Proletariats, auch „keine besonderen Prinzipien auf, wonach sie die proletarische Bewegung modeln wollen“, wenn sie auch „vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraushaben“. Sie haben also auch keine besonderen Interessen, die von denen des ganzen Proletariats verschieden wären.

Keine besondere Partei

Die Kommunisten bilden „keine besondere Partei gegenüber den anderen Arbeiterparteien“, sondern nur den im Sinne der „umwälzenden Praxis“ entschiedensten, immer weiter treibenden „Teil der Arbeiterparteien aller Länder“, in denen sie die internationalen Interessen der Proletarier zur Geltung bringen und auf den verschiedenen Entwicklungsstufen des Klassenkampfes zwischen Kapital und Lohnarbeit „stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten“. Ihr Ziel ist dasselbe wie das aller Arbeiterparteien: Organisation des Proletariats als Klasse, Entmachtung der Kapitals-Monopolisten, Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse.18

Ganz in diesem Sinne bestimmte der erste Artikel der „Statuten des Bundes der Kommunisten“ vom 8. Dezember 1847: „Der Zweck des Bundes ist der Sturz der Bourgeoisie, die Herrschaft des Proletariats, die Aufhebung der alten, auf Klassengegensätzen beruhenden bürgerlichen Gesellschaft und die Gründung einer neuen Gesellschaft, ohne Klassen und ohne Privateigentum“. Infolgedessen wurde der Kommunistenbund zwar als eine „geheime Gesellschaft“ organisiert, Marx betont aber ausdrücklich, daß sie „die Bildung nicht der Regierungs-, sondern der Oppositionspartei der Zukunft bezweckte.“

„Der Bund der Kommunisten war daher keine konspiratorische Gesellschaft, sondern eine Gesellschaft, die die Organisation der proletarischen Partei im geheimen bewerkstelligte, weil das deutsche Proletriat igni et aqua, von Schrift, Rede und Assoziation öffentlich interdiziert ist“ („Enthüllungen über den Kommunistenprozeß“, 1853. VI.).19

Aus dem hier dargestellten Material ergibt sich die Abgrenzung des Kommunismus oder Marxismus nach zwei Seiten hin: sowie nach derjenigen der reformistischen kleinbürgerlichen Demokratie („Sozialdemokratismus“ im engeren, deutschen Sinne), als auch nach derjenigen der radikalen kleinbürgerlichen Demokratie („Bolschewismus im russisch-jakobinischen Sinne).

Die sich rot nennen

Die kleinbürgerlichen Demokraten, „die sich jetzt rot und sozialdemokratisch nennen“, hat Marx in der „Ansprache der Zentralbehörde an den Bund der Kommunisten“ vom März 1850 folgendermaßen charakterisiert: Es gehe ihnen lediglich darum, den Druck des großen Kapitals auf das kleine, des Großbürgertums auf das Kleinbürgertum abzuschaffen. Mit der kleinbürgerlichen Demokratie sei für die revolutionäre Arbeiterpartei nur ein zeitweiliges Zusammengehen möglich, da ihre Forderungen derPartei desProletariatsnicht genügen können: „Die demokratischen Kleinbürger, weit entfernt, für die revolutionären Proletarier die ganze Gesellschaft umwälzen zu wollen, erstreben eine Änderung der gesellschaftlichen Zustände, wodurch ihnen die bestehende Gesellschaft möglichst erträglich und bequem gemacht wird.“

Man bemerkt mit Erstaunen, wie alt und „überlebt“ diese „sozialen“ Forderungen der kleinbürgerlichen Demokratie sind. Sie treten ferner dafür ein, daß der Herrschaft und raschen Vermehrung des Kapitals durch „Beschränkung des Erbrechts“ und „durch Überweisung möglichst vieler Arbeiten an den Staat“ entgegengewirkt werde.

„Was die Arbeiter angeht, so steht vor allem fest, daß sie Lohnarbeiter bleiben sollen wie bisher, nur wünschen die demokratischen Kleinbürger den Arbeitern besseren Lohn und eine gesicherte Existenz, und hoffen dies durch teilweise Beschäftigung von Seiten des Staates und durch Wohltätigkeitsmaßregeln zu erreichen, kurz, sie hoffen, die Arbeiter durch mehr oder minder versteckte Almosen zu bestechen und ihre revolutionäre Kraft durch momentane Erträglichmachung ihrer Lage zu brechen.“

Demgegenüber betont Marx, daß es sich für die Kommunisten nicht um die Veränderung des Privateigentums sondern nur um seine Vernichtung, nicht um die Vertuschung der Klassengegensätze, sondern um die Aufhebung der Klassen überhaupt, „nicht um Verbesserung der bestehenden Gesellschaft, sondern um Gründung einer neuen“ handeln könne.20

In diesem Sinne hat deshalb Engels noch 1890 in seiner „Vorrede“ zum „Kommunistischen Manifest“ die Bezeichnung desselben als „kommunistisch“ damit begründet, daß man sich damit einerseits von den Utopisten, andererseits aber von den „mannigfaltigen sozialen Quacksalbern, die mit ihren verschiedenen Allerweltsheilmitteln und mit jeder Art von Flickarbeit die gesellschaftlichen Mißstände beseitigen wollten, ohne dem Kapital und dem Profit im geringsten wehe zu tun“, habe distanzieren wollen.21

Kurz vor seinem Tode hat er erklärt weshalb weder er noch Marx für ihren Standpunkt die Bezeichnung „Sozialdemokrat“ hätten annehmen können, die übrigens auch für die deutsche Sozialdemokratie unpassend sei, weil ihr ökonomisches Programm (von Erfurt) „nicht bloß allgemein sozialistisch, sondern direkt kommunistisch und deren politisches Endziel die Überwindung des ganzen Staates also auch der (parlamentarischen, W.H.) Demokratie ist“.22

Die Abgrenzung des Kommunismus oder Marxismus gegenüber dem Bolschewismus läßt sich in unserem Zusammenhange besonders an dem Verhältnis der marxistischen oder kommunistischen „Partei“ zur Arbeiterklasse verdeutlichen. Nach Marx hatten die Kommunisten keine künftige Regierungspartei zu bilden, sondern die Oppositionspartei der Zukunft. Deren Hauptaufgabe bestand aber in der Organisation des Proletariats als Klasse und damit in der Förderung der selbständigen Arbeiterbewegung, da die Befreiung der Arbeiterklasse nur ihr eigenes Werk sein konnte. Das entsprach durchaus ihrer Auffassung des „wissenschaftlichen Sozialismus“ oder Kommunismus, der „nichts anderes ist als die reale Massenbewegung selbst, nur auf einen begrifflichen Ausdruck gebracht“.23

Jene zukünftige Oppositionspartei war also nicht die proletarische Klassenorganisation selbst, sondern nur die Organisation zur geistigen und politischen Vorbereitung derselben. Sollten doch die Marxisten oder Kommunisten keine besondere Partei bilden, sondern in den spontan entstehenden, historisch gewachsenen nationalen Arbeiterparteien den bewußtesten und entschiedensten Teil bilden, sozusagen das marxistische Ferment in der Arbeiterbewegung. Marx selbst hat nach der Auflösung des Kommunistenbundes im November 1852 dementsprechend gehandelt: er hat überall die realen, selbständigen Arbeiterparteien beraten und die I. Internationale derselben geistig geführt. Er konnte aber 1860 an Freiligrath mit Recht schreiben, daß „die Partei in diesem ganz ephemeren (vorübergehenden, W.H.) Sinne für mich seit acht Jahren zu existieren aufgehört hat“.

Er war seitdem der festen Überzeugung, daß seine „theoretischen Arbeiten der Arbeiterklasse mehr nutzten, als Einlassen in Verbindungen, deren Zeit auf dem Kontinent vorüber“ wäre. Man habe ihn deshalb wiederholt wegen seiner „Tatlosigkeit“ angegriffen. Er sei „Kritiker“ und habe genug „an den 1849 bis 1852 gemachten Erfahrungen“. Wie viele andere Vereinigungen sei auch der Kommunistenbund „nur eine Episode in der Geschichte der Partei, die aus dem Boden der modernen Gesellschaft naturwüchsig sich bildet.“

Für Marx gab es also eine aus dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft entstehende proletarische Partei, die ganz verschiedene Episoden in Gestalt verschiedener Organisationen durchlaufen konnte. Für ihn war also die Arbeiterpartei keine bestimmte Organisation, er sah sowohl die Organisation des Proletariats als Klasse wie auch die Bildung verschiedener politischer Arbeiter-Koalitionen als einen geschichtlichen Prozeß an. Und so schloß er seinen Brief an Freiligrath mit den Worten: „Ich habe … das Mißverständnis zu beseitigen gesucht, als ob ich unter ’Partei’ einen seit acht Jahren verstorbenen ’Bund’ oder eine seit zwölf Jahren aufgelöste Zeitungsredaktion verstehe. Unter Partei verstand ich die Partei im großen historischen Sinne.“24

Es genügt, diese Auffassung von Marx neben diejenige Lenins zu halten, der bereits im Jahre 1897 „gegen jede selbständige Arbeiterorganisation als solche“ war25. Fünf Jahre später rühmt Lenin an Lassalle dessen „verzweifelten Kampf gegen die Spontaneität“ der deutschen Arbeiterbewegung. Dann fordert er „eine militärische Organisation von Agenten“26, die imstande wäre „den gesamten Befreiungskampf des Proletariats zu leiten“:dazu bedarf es natürlich auch „einer stabilen und die Kontinuität wahrenden Führerorganisation“27. Für Lenin entsteht natürlich auch nicht das sozialistische bzw. kommunistische Klassenbewußtsein auf Grund der realen Massenbewegung der Arbeiter selbst. Nach seiner Auffassung „konnten die Arbeiter ein sozialdemokratisches Bewußtsein gar nicht haben“, es konnte ihnen vielmehr „nur von außen gebracht werden“. Aus eigenen Kräften gelangen die Arbeiter nur zu einem „trade-unionistischen“, d.h. nur zu einem gewerkschaftlichen Bewußtsein. Die spontane Arbeiterbewegung führe nur zur Herrschaft der bürgerlichen Ideologie, weil diese älter, vielseitiger und verbreiteter sei. Auf die Frage, woher dann überhaupt eine sozialistische Ideologie komme, antwortet Lenin, diese sei ein „natürliches und unvermeidliches Ergebnis der Ideenentwicklung der revolutionär-sozialistischen Intelligenz“.

„Die Lehre des Sozialismus ist hingegen aus den philosophischen, historischen und ökonomischen Theorien hervorgewachsen, die von den gebildeten Vertretern der besitzenden Klassen, der Intelligenz, ausgearbeitet wurden.“

Die theoretische Lehre der Sozialdemokratie sei „ganz unabhängig von dem spontanen Anwachsen der Arbeiterbewegung“ entstanden28. Für Lenin war also der Kommunismus nicht wie für Marx und Engels die wirkliche Bewegung der Arbeiterklasse, und der Marxismus nicht nur deren begrifflicher Ausdruck. Während für Lenin das Ziel seines Kampfes gegen die Spontaneität der Arbeiter darin besteht, die Proletarier „unter die Fittiche der revolutionären Sozialdemokratie“, d.h. der bolschewistischen Führerorganisation, „zu bringen“ (ebd.), verließ sich Marx für den schließlichen Sieg der im Manifest aufgestellten Sätze einzig und allein auf die .intellektuelle Entwicklung der Arbeiterklasse, wie sie aus der vereinigten Aktion und der Diskussion notwendig hervorgehen mußte.

„Die Ereignisse und Wechselfälle im Kampf gegen das Kapital, die Niederlagen noch mehr als die Erfolge, konnten nicht umhin, den Kämpfenden die Unzulänglichkeit ihrer bisherigen Allerweltsheilmittel klarzulegen und ihre Köpfe empfänglicher zu machen für eine gründliche Einsicht in die wahren Bedingungen der Arbeiteremanzipation.“29

Zu diesen Allerweltsheilmitteln wird man wohl heute auch die Theorie der bolschewistischen Parteidiktatur zählen müssen. Der Bolschewismus ist also kein Kommunismus.


1Paul Vogel, Hegels Gesellschaftsbegriff und seine geschichtliche Fortbildung durch Lorenz Stein, Marx, Engels und Lassalle, Berlin 1925, S. 239.

2Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1844), in: Marx-Engels Werke (MEW) Bd. 1, S. 391.

3Karl Marx, Die Heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik (1844/45), in: MEW 2, S. 37.

4Karl Marx/Friedrich Engels, Das Manifest der Kommunistischen Partei (1848), in: MEW 4, S. 475.

5Friedrich Engels, Grundsätze des Kommu­nismus (1847), in: MEW 4, S. 363.

6G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Ders., Werke Bd. 7, Frankfurt 1970, S. 28.

7Paul Lafargue, Kommunismus und Kapitalismus. Der Kommunismus und die ökonomische Entwicklung, Berlin 1894, S. 23.

8Friedrich Engels, Der Fortschritt der Sozialreform auf dem Kontinent (1843), in: MEW 1, S. 480 ff.

9Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), in: MEW-Ergänzungsband 1, S. 546.

10A.a.O., S. 583.

11Karl Marx/Friedrich Engels, Die Deutsche Ideologie (1845/46), in: MEW 3, S. 35.

12A.a.O., S. 42 und 45.

13A.a.O., S. 70.

14Ebd.

15A.a.O., S. 195.

16Karl Marx, Das Elend der Philosophie (1847), in: MEW 4, S. 143.

17Karl Marx, Die moralisierende Kritik und die kritische Moral. Gegen Karl Heinzen. (1847), in: MEW 4, S. 356.

18Marx und Engels, Manifest, a.a.O.

19Hermann Duncker, Materialien zur Geschichte des Bundes der Kommu­nisten, im Anhang seiner Ausgabe des Manifests, Berlin 1929. S. 58 und 78.

20A.a.O., S. 63 ff.

21Fridrich Engels, Vorwort zu vierten deutschen Auflage des Manifests von 1890, in: MEW 22, S. 58.

22Friedrich Engels, Internationales aus dem „Volksstaat“, Berlin 1894, S. 6 f.

23Max Adler, Marx als Denker, Berlin 1925, S. 83.

24Franz Mehring, Freiligrath und Marx in ihrem Briefwechsel (= Nr. 12 der Ergänzungs­hefte zur „Neuen Zeit“ vom 12. April 1912, S. 42 ff.).

25B. G. Gorew, Aus der Vergangenheit der Partei (Russischer Staatsverlag) 1924, zit. bei: W. I. Lenin, Sämtliche Werke, Bd. IV, 2. Halbband, S. 402.

26W. I. Lenin, Was tun? in: Ders., Ausgewählte Werke, Moskau 1946. Bd. I, S. 201 f.; Sämtliche Werke, Bd. IV, 2. Halbband, Fußnote auf S. 330. Diese fehlt in den Ausgewählten Werken, Bd. I, S. 309.

27Lenin, Was tun?, a.a.O., S. 262 und 267.

28Ebd.

29Friedrich Engels, Vorwort zur vierten deutschen Auflage …, a.a.O., S. 57.

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(1933) Helmut Wagner – Thesen über den Bolschewismus https://panopticon.blackblogs.org/2024/11/16/1933-helmut-wagner-thesen-ueber-den-bolschewismus/ Sat, 16 Nov 2024 09:50:00 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=6077 Continue reading ]]>

Hier eine weitere (historische) Kritik am Leninismus, weitere werden folgen. Von Helmut Wagner hatten wir auch  Der Anarcho-Syndikalismus und die spanische Revolution veröffentlicht.


(1933) Helmut Wagner – Thesen über den Bolschewismus

Veröffentlicht: Persdienst van de groep van Internationale Communisten, Nr. 7, April 1934; Räte-Korrespondenz, Nr. 3, August 1934; International Council Correspondence, Nr. 3, Dezember 1934.

Die Bedeutung des Bolschewismus

1. Der Bolschewismus hat sich in Sowjet-Wirtschaft und Sowjet-Staat ein geschlossenes Feld gesellschaftlicher Praxis geschaffen. Er hat sich mit der III. Internationale ein Werkzeug der Lenkung und Beeinflussung der Arbeiterbewegung auf internationalem Wege organisiert. Er hat seine grundsätzlichen und taktischen Richtlinien im „Leninismus“ herausgestellt. Ist nun, wie Stalin sagt, die bolschewistische Theorie Marxismus im Zeitalter des Imperialismus und der proletarischen Revolution, ist sie demgemäß die Achse der internationalen revolutionären Klassenbewegung des Proletariats?

2. Der Bolschewismus hat seinen internationalen Ruf in der proletarischen Klassenbewegung erhalten, erstens durch seine konsequente Politik des revolutionären und internationalen Kampfes gegen den Weltkrieg 1914-1918, zweitens durch die russische Revolution von 1917. Seine weltgeschichtliche Bedeutung liegt darin, daß er unter der stets konsequenten Führung Lenins die jeweiligen Probleme der russischen Revolution erkannt und sich zugleich in der bolschewistischen Partei das Werkzeug geschaffen hat, die Probleme praktisch zu lösen. Die Anpassung des Bolschewismus an die Fragestellung der russischen Revolution, die in zwanzigjähriger, mühseliger und konsequenter Entwicklung erfolgte, wurde mit Hilfe der Einsicht in die grundlegenden Klassenfragen dieser Revolution erreicht.

3. Die Frage, ob die geglückte Bewältigung seiner Aufgaben den Bolschewismus in Theorie und Taktik und Organisation zur Führung und Bewältigung der Aufgaben der internationalen proletarischen Revolution befähigt und berechtigt, ist zunächst einerseits die Frage nach den gesellschaftlichen Grundlagen und Voraussetzungen der russischen Revolution – andererseits die Frage der internationalen proletarischen Revolution in den großen kapitalistischen Ländern.

Die Voraussetzungen der russischen Revolution

4. Die russische Gesellschaft wurde entscheidend von ihrer Lage zwischen Europa und Asien bestimmt. Während die fortgeschrittenere wirtschaftliche Kraft und die stärkere internationale Position des europäischen Westens die Ansätze einer organischen handelskapitalistischen Entwicklung in Rußland bereits im Ausgang des Mittelalters vernichtete, schuf die politische Überlegenheit fernasiatischer Despotien die Grundlagen für das absolutistische Staatsgefüge des russischen Reiches. Rußland stand so nicht nur geographisch, sondern auch wirtschaftlich und politisch zwischen zwei Kontinenten, deren verschiedene Wirtschaftsverfassungen und politische Ordnungen auf seinem Boden in eigenartiger Weise miteinander verschmolzen.

5. Die internationale Doppelstellung Rußlands hat nicht nur seine Vergangenheit, sie hat auch die Problemstellung seiner Revolution im ersten Fünftel des 20. Jahrhunderts entscheidend beeinflußt. Das kapitalistische System hat sich im Zeitalter des imperialistischen Aufstiegs zwei entgegengesetzte, aber stark verflochtene Zentren geschaffen: das hochkapitalistische Zentrum aktiv imperialistischen Vorstoßes in dem stark industriellen Raum Westeuropas und Nordamerikas und das koloniale Zentrum passiv imperialistischer Ausplünderung in den ostasiatischen Agrargebieten. Die Klassenbedrohung des weltimperialistischen Systems erfolgt demgemäß aus diesen beiden Zentren heraus: Die internationale proletarische Revolution findet ihren Drehpunkt im westeuropäisch-nordamerikanischen Raum des Hochkapitalismus. Die nationale Agrarrevolution findet ihren Drehpunkt im Raum der fernasiatischen Bauernländer. In Rußland, das im Schnittpunkt der Einflußkreise beider weltimperialistischen Zentren stand, überkreuzten sich auch die Tendenzen beider Revolutionen.

6. Die russische Wirtschaft stellte eine Kombination asiatisch rückständiger Agrarproduktion mit europäisch moderner Industriewirtschaft dar. Die Leibeigenschaft bestand praktisch für die ungeheure Mehrzahl der russischen Bauern in verschiedenen Formen weiter. Die geringen Ansätze kapitalistischer Landwirtschaft konnten darum nicht zum Durchbruch kommen. Sie bewirkten nur eine Zersetzung des russischen Dorfes, das in unbeschreiblichem Ausmaße verelendete, ohne die Fesselung des Bauern an den ihn nicht mehr ernährenden Boden aufzuheben. Die russische Agrarwirtschaft, die vier Fünftel der russischen Bevölkerung und mehr als die Hälfte der russischen Gesamtproduktion umfaßte, war bis 1917 von kapitalistischen Elementen durchsetzte Feudalwirtschaft. Die Industrie Rußlands war dem Land durch das Zarentum aufgepfropft worden, das vor allem in der Herstellung des Heeresbedarfs vom Ausland unabhängig sein wollte. Da Rußland aber die Grundlagen einer entwickelten handwerklichen Produktion und die Ansätze der Herausbildung einer Klasse „freier Arbeiter“ fehlten, so trat dieser staatliche Kapitalismus zwar sofort als Großproduktion ins Leben, kannte jedoch keine Lohnarbeiterschaft. Er war Leibeigenschaftskapitalismus und hat sich im Lohnzahlungssystem, in der Kasernierung der Arbeiter, in der Sozialgesetzgebung und anderen Erscheinungen, die starken Reste dieser Besonderheit bis 1917 gewahrt. Das russische Proletariat wies demgemäß nicht nur einen empfindlichen Grad mangelnder technischer Reife auf, es war weitgehend analphabetisch und zu sehr starken Teilen direkt oder indirekt an das Dorf gebunden. In vielen Industriezweigen waren die Arbeiter bäuerliche Saisonarbeiter ohne ständige Bindung an die Stadt. Die russische Industriewirtschaft war bis zur Revolution von 1917 eine von feudalen Elementen durchsetzte kapitalistische Produktion. Feudale Agrarproduktion und kapitalistische Industrieproduktion hatten sich also in ihren Grundelementen gegenseitig durchsetzt und waren miteinander zu einem Wirtschaftssystem verfilzt, das weder nach feudalen Wirtschaftsprinzipien beherrscht werden konnte, noch die Grundlage für eine organische Entwicklung der kapitalistischen Elemente darstellte.

7. Wirtschaftlich war die russische Revolution die Aufgabe gestellt, erstens den versteckten Agrar-Feudalismus und die fortbestehende leibeigenschaftliche Bauernausbeutung zu beseitigen und die Landwirtschaft zu industrialisieren und unter die Bedingungen moderner Warenproduktion zu stellen, zweitens die unbegrenzte Schaffung einer Klasse tatsächlich „freier Arbeiter“ zu ermöglichen und die industrielle Entwicklung von allen feudalen Fesseln zu befreien. Die wirtschaftlichen Aufgaben der russischen Revolution waren somit in ihren Grundzügen die Aufgaben der bürgerlichen Revolution.

8. Auf diesem Fundament erhob sich der Staat des zaristischen Absolutismus. Die Existenz dieses Staates beruhte auf dem Gleichgewicht beider besitzender Klassen Rußlands, von denen jede unfähig war, die andere zu verdrängen. Lieferte der russische Kapitalismus dem absoluten Zarenstaat das wirtschaftliche Rückgrat, so stellte der grundbesitzende Feudaladel seine politische Stütze dar. „Verfassung“, Wahl“recht“ und „Selbstverwaltungs“system konnten die politische Entrechtung aller Klassen des Zarenstaates nicht verdecken, der unter den Bedingungen der wirtschaftlichen Rückständigkeit des Landes in seinen Herrschaftsmethoden eine Mischung von europäischem Absolutismus und ostasiatischer Despotie darstellte.

9. Politisch war der russischen Revolution die Aufgabe gestellt, den absoluten Staat zu zertrümmern, die Bevorrechtung des Feudaladels als des I. Standes zu beseitigen, eine politische Verfassung und einen staatlichen Verwaltungsapparat zu schaffen, die die Lösung der wirtschaftlichen Aufgabe der Revolution politisch sicherten. Die politischen Aufgaben der russischen Revolution waren also durchaus entsprechend ihren wirtschaftlichen Voraussetzungen, die Aufgaben der bürgerlichen Revolution.

Die Klassengruppierung der russischen Revolution

10. Entsprechend der besonderen gesellschaftlichen Kombination von feudalen und kapitalistischen Elementen war auch die russische Revolution vor kombinierte und komplizierte Aufgaben gestellt. Sie war ihrem Wesen nach ebenso grundlegend von der klassischen bürgerlichen Revolution unterschieden, wie sich die Gesellschaft des russischen Absolutismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der Gesellschaft etwa des französischen Absolutismus im 17. Jahrhundert unterschied.

11. Dieser dem andersartigen wirtschaftlichen Fundament entspringende Unterschied fand seinen politischen sichtbarsten Ausdruck in der Stellung der einzelnen Klassen Rußlands zum zaristischen System und zur Revolution. Ihrem ökonomischen Klasseninteresse nach mußten alle russischen Klassen grundlegend Gegner des Zarismus sein. In der politischen Praxis waren sie es jedoch nicht nur in verschiedenen Graden, sie waren es auch in ganz verschiedener Ziel- und Willensrichtung.

12. Der Feudaladel kämpfte grundlegend nur um die Erweiterung seines Einflusses auf den absoluten Staat, den er als Ganzes zur Sicherung seiner Privilegien durchaus erhalten wollte.

13. Die Bourgeoisie, die zahlenmäßig schwach, politisch unselbständig und durch den Protektionismus des Staates vielfach direkt an den Zarismus gebunden war, machte mehrfache Wandlungen in ihrer politischen Haltung durch. In der Dekabristenbewegung von 1825 führte sie ihren ersten und einzigen aktiv revolutionären Angriff auf das absolutistische System durch. Zur Zeit der Terroristenbewegung der Narodniki in den siebziger und achtziger Jahren unterstützte sie die revolutionäre Bewegung passiv, um den Druck auf das Zarentum zu verstärken. Die Rolle eines Druckmittels auf das absolutistische Regime gedachte sie auch den revolutionären Streitkämpfen bis zu den Oktoberkämpfen von 1905 zuschieben. Ihr Ziel war bereits nicht mehr die Beseitigung, sondern die Reform des Zarismus. Nach den Oktoberkämpfen von 1905 ging sie zur Politik der direkten Verständigung mit dem Zarismus in der parlamentarischen Periode von 1906 bis zum Frühjahr 1917 über. Schließlich gelangte die russische Bourgeoisie auf der Flucht vor den Konsequenzen des revolutionären Kampfes der proletarischen und bäuerlichen Massen zur bedingungslosen politischen Selbstaufgabe gegenüber der zaristischen Reaktion in der Periode des Kornilow-Putsches, der die alte Zarenmacht wieder herstellen sollte. Sie wurde konterrevolutionär bereits vor der Durchführung der Aufgaben ihrer eigenen Revolution. Das erste Klassenkennzeichen der russischen Revolution ist also die Tatsache, daß sie als bürgerliche Revolution nicht nur ohne, sondern direkt gegen die Bourgeoisie durchgeführt werden mußte. Damit ergab sich eine grundlegende Verschiebung ihres gesamten politischen Charakters.

14. Entsprechend ihrer ungeheuren Mehrheit wurden die Bauern zu der sozialen Schicht, die zumindest passiv die russische Revolution entscheiden. Die zahlenmäßig geringere kapitalistische Mittel- und Großbauernschaft vertrat zwar eine kleinbürgerliche liberalistische Politik, aber die überwiegende Zahl der hungernden und geknechteten Kleinbauern wurde mit elementarer Gewalt auf den Weg der gewaltsamen Enteignung des gutsherrlichen Grund und Bodens gedrängt. Zu eigener Klassenpolitik unfähig, fanden sich die russischen Bauernschichten stets in der Gefolgschaft anderer Klassengruppen. Bis zum Februar 1917 waren sie, wenn auch nur unter den Zuckungen wiederholter Aufstandsbewegungen, das im Ganzen unbewegliche Fundament des Zarismus gewesen. Ihrer massigen Unbeweglichkeit und ihrer Rückständigkeit zufolge scheiterte die Revolution von 1905. 1917 entschieden sie das Ende des Zarismus, der sie im Heer zu großen sozialen Einheiten zusammengefügt hatte, indem sie von sich aus passiv die Kriegsführung lahm legten. Indem sie im weiteren Verlauf der Revolution durch die primitive aber unwiderstehliche Erhebung im Dorfe den Großgrundbesitz ausrotteten, schufen sie die Voraussetzung für den Sieg der bolschewistischen Revolution, die sich in den Jahren des Bürgerkrieges allein, dank ihrer weiteren aktiven Hilfe halten konnte.

15. Das russische Proletariat war ungeachtet seiner Rückständigkeit, dank der erbarmungslosen Schule der verbündeten zaristischen und kapitalistischen Unterdrückung, von großer Kampfkraft. Es warf sich mit ungeheurer Zähigkeit in die Aktionen der russischen bürgerlichen Revolution hinein und wurde ihr schärfstes und verläßlichstes Werkzeug. Indem jede seiner Aktionen durch den Zusammenstoß mit dem Zarismus zur revolutionären Aktion wurde, entwickelte es ein primitives Klassenbewußtsein, das sich in Teilen an den Aktionen des Kampfes von 1917, vor allem in der elementaren Uebernahme maßgebender Betriebe, bis zur Höhe subjektiv kommunistischen Wollens erhob.

16. Die kleinbürgerliche Intelligenz spielte eine besondere Rolle in der russischen Revolution. Materiel und geistig unerträglich eingeengt, im beruflichen Aufstieg behindert, an den fortgeschrittensten Ideen des europäischen Wollens geschult, fanden auch die besten Kräfte der russischen Intellektuellentums sich in den vordersten Reihen der revolutionären Bewegung zusammen und prägten ihr führend ihren kleinbürgerlich jakobinischen Stempel auf. Vor allem ist die Bewegung der russischen Sozialdemokratie in ihrer berufsrevolutionären Führerschicht eine revolutionär-kleinbürgerliche Partei.

17. Für die klassenmäßige Bewältigung der Aufgaben der russischen Revolution ergab sich eine besondere Kräftegruppierung. Die ungeheuren Bauernmassen bildeten ihr passives Fundament, die ihnen gegenüber geringeren, aber revolutionär kampfstarken Proletariermassen stellten ihre aktive Kampfwaffe dar, die kleine Schicht der revolutionären Intellektuellen erhob sich zum führenden Kopf der Revolution.

18. Dieses Klassendreieck der russischen Revolution ergab sich zwangsläufig aus der Klassengruppierung der zaristisch absolutistischen Gesellschaft, die von dem absolutistisch selbständigen Staat politisch beherrscht wurde und deren Grundlagen die politisch beiderseits entmündigten besitzenden Klassen von Feudaladel und Bourgeoisie bildeten. Die eigenartige Aufgabenstellung der Durchführung der bürgerlichen Revolution ohne und gegen die Bourgeoisie ergab sich aus der Notwendigkeit für den Sturz des Zarismus den elementaren Interessenkampf des Proletariats und der Bauern zu mobilisieren und mit dem Zarismus zugleich die bestehenden Formen feudalistischer und kapitalistischer Ausbeutung zu sprengen. Die russischen Bauernmassen hätten ihrer Zahl nach allein die revolutionäre Aufgabe bewältigen können, sie waren aber dazu politisch außerstande, denn sie konnten ihr Klasseninteresse nur verwirklichen, indem sie sich der Führung einer anderen Klassenschicht unterwarfen, die in bestimmten Ausmaßen den Grad der Durchsetzung der Bauerninteressen bestimmte. Die russischen Arbeiter entwickelten 1917 die Ansätze selbständiger kommunistischer Klassenpolitik, aber ihnen fehlten die gesellschaftlichen Voraussetzungen ihres Sieges, der als Sieg der proletarischen Revolution zugleich Sieg über die Bauern hätte sein müssen. Das war den zehn Millionen proletarischen Schichten Rußlands unmöglich. So verfielen sie genau wie die Bauern der Führung einer ihren Interessen nicht organisch verbundenen Intellektuellenschicht.

19. Die Schaffung der Führerorganisation der russischen Revolution und die Entwicklung der ihr gemäßen Taktik ist das Verdienst der Bolschewiki. Sie haben sich der aussichtslosen Durchführung der Politik der Schaffung des widerspruchsvollen Bündnisses zwischen der um Privateigentum kämpfenden Bauernmasse und den um Kommunismus kämpfenden Arbeitern gestellt, die Revolution unter ihren schweren Bedingungen ermöglicht und ihren Erfolg durch die Verklammerung der entgegengesetzten Interessengruppierungen Bauern-Arbeiter mit den Klammern ihrer eisernen Parteidiktatur gesichert. Die Bolschewiki sind die Führerpartei der revolutionären kleinbürgerlichen Intelligenz Rußlands, die die historische Aufgabe der russischen Revolution Geschichtsanpassung auf dem Rücken der von ihnen zusammengefügten bürgerlich-revolutionären Bauernschicht und der proletarisch-revolutionären Arbeiterklasse zuführten.

Das Wesen des Bolschewismus

20. Der Bolschewismus zeigt alle grundlegenden Wesenszüge bürgerlich revolutionärer Politik, gesteigert durch die vom Marxismus übernommene Einsicht in die Gesetze der Bewegung der gesellschaftlichen Klassen. Lenins Satz: „Der revolutionäre Sozialdemokrat ist der mit der Masse verbundene Jakobiner“ ist mehr als äußerlicher Vergleich. Er verkündet vielmehr die innere technisch-politische Wesensverwandtschaft mit der Bewegung des revolutionären Kleinbürgertums der französischen Revolution.

21. Das tragende Prinzip der Politik des Bolschewismus ist jakobinisch: Machtergreifung und Machtausübung der Organisation. Das Richtmaß der großen politischen Perspektive und ihrer Verwirklichung durch die Taktik der um die Macht kämpfenden bolschewistischen Organisationen ist jakobinisch: Mobilisierung aller gesellschaftlich geeigneten Mittel und Kräfte zum Sturz des absolutistischen Gegners unter Anwendung sämtlicher Methoden, die Erfolg versprechen: Lavieren und Paktieren mit jeder gesellschaftlichen Kraft, die selbst für die geringste Zeitspanne und den unbedeutendsten Kampfabschnitt ausgenutzt werden kann. Der Grundgedanke der Organisation des Bolschewismus endlich ist jakobinisch: Schaffung einer straffen Organisation von Berufsrevolutionären, die ein militärisch diszipliniertes und gefügiges Werkzeug eines allmächtigen Führertums ist und bleibt.

22. Theoretisch hat der Bolschewismus keineswegs ein eigenes Gedankengebäude, das als abgeschlossenes System zu betrachten wäre, entwickelt. Er hat vielmehr die Klassenbetrachtungsmethode des Marxismus übernommen und der Situation der russischen Revolution angepaßt, d.h. ihren Inhalt unter der Beibehaltung der marxistischen Begriffe grundlegend verändert.

23. Als ideologische Eigenleistung des Bolschewismus ist die Verknüpfung seiner politischen Theorie als Gesamtheit mit dem philosophischen Materialismus zu betrachten. Als radikaler Vorkämpfer der bürgerlichen Revolution stößt der Bolschewismus auf die radikale philosophische Ideologie der bürgerlichen Revolution zu und macht sie zum Dogma seiner weltanschaulichen Orientierung. Die Festlegung auf den philosophischen Materialismus ist begleitet von einem fortgesetzten Rückfall in den philosophischen Idealismus, der die politische Praxis zuletzt als Ausfluß des Handelns von Führern betrachtet. (Verrat des Reformismus – Vergötterung Lenins und Stalins.)

24. Die Organisation des Bolschewismus entstand aus den sozialdemokratischen Zirkeln intellektueller Revolutionäre und entwickelte sich durch fraktionelle Kämpfe, Spaltungen und Niederlagen hindurch zu einer Führerorganisation, deren entscheidende Positionen in den Händen der kleinbürgerlichen Intelligenz verblieben. Ihr Aufbau festigte sie, gefördert durch die fortdauernde illegale Situation, zu einer politischen Organisation militaristischen Charakters, deren tragendes Gerüst von den Berufsrevolutionären gebildet wurde. Allein mit einem solchen straffen Führerinstrument konnte die bolschewistische Taktik umgesetzt und die geschichtliche Aufgabe der revolutionären Intelligenz Rußlands erfüllt werden.

25. Die Taktik des Bolschewismus, die der Umsetzung der Aufgabe der Machteroberung durch die Organisation diente, wies insbesondere bis zum Oktober 1917 eine gewaltige innere Geschlossenheit auf. Ihre fortgesetzten äußeren Schwankungen waren im wesentlichen nur die jeweiligen Anpassungen an geänderte Situationen und geänderte Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen. Nach dem Prinzip der absoluten Unterordnung der Mittel unter den Zweck wurde ohne jede Rücksicht auf die ideologische Wirkung auf die von ihnen geführten Klassen die Taktik selbst in den scheinbar grundlegenden Parolen dauernd herumgeworfen. Es war die jeweilige Aufgabe der Funktionäre, den „Massen“ jede der Schwankungen begreiflich zu machen. Umgekehrt nutzte der Bolschewismus jede ideologische Regung der Massen aus, selbst wenn sie grundlegend im Widerspruch zu den politischen Prinzipien des Parteiprogramms standen. Er konnte das, weil es ihm nur auf unbedingten Fang von Massen für seine Politik ankam. Er mußte das, weil diese Massen selbst – Arbeiter und Bauern – gegensätzliche Interessen und ein vollkommen unterschiedliches Bewußtsein hatten. In der taktischen Methode des Bolschewismus offenbart sich aber eben gerade deshalb seine Bindung an revolutionär-bürgerliche Politik, ist es doch deren Methode, die er verwirklicht.

Richtpunkte der bolschewistischen Politik

26. Die Zielsetzung, von welcher der Bolschewismus ausgeht, ist der Sturz des zaristischen Systems. Sie ist als Stoß gegen den Absolutismus von revolutionär-bürgerlichem Charakter. Dieser Zielsetzung ist das Ringen um die taktische Linie der russischen Sozialdemokratie unterworfen. Der Bolschewismus entwickelt in diesem Ringen seine Methoden und seine Losungen.

27. Die historische Aufgabe des Bolschewismus war es, die Rebellion des Proletariats und der Bauernmassen, die auf ganz verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen standen, durch ihre Führertaktik zur gemeinsamen Aktion gegen den feudalen Staat zusammenzuschweißen. Sie mußte die Bauernerhebung, die Aktion der bürgerlichen Revolution am Beginn der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, mit der Erhebung des Proletariats, der Aktion der proletarischen Revolution am Ausgang der Entwicklung der bürgerliche Gesellschaft, zu einer einheitlichen Aktion zusammenfügen. Sie konnte das nur, indem sie eine großzügige Strategie der Ausnutzung der verschiedensten Klassenregungen und -strömungen entfalteten.

28. Diese Ausnutzungsstrategie beginnt mit der Bereitschaft, die kleinsten Risse und Sprünge im gegnerischen Lager auszuwerten. Demgemäß begrüßt Lenin einmal die liberalen Gutsbesitzer als „Verbündete von morgen“, während er ein anderes Mal für die Unterstützung der Pfaffen eintrat, die sich wegen ihrer materiellen Zurücksetzung gegen die Regierung wandten. Ebenso war er bereit, die religiösen Sekten zu stützen, die vom Zarismus verfolgt wurden.

29. Die Klarheit der Taktik Lenins zeigt sich indes darin, daß er, vor allem infolge der Erfahrungen von 1905, die Frage der „Verbündeten der Revolution“ auf die richtige Linie stellt, indem er schärfer gegen alle Kompromisse mit den entscheidenden kapitalistischen Gruppen Front macht und die Politik des „Bündnisses“ und der Kompromisse auf die kleinbürgerlichen und kleinbäuerlichen Schichten beschränkt, d.h. auf die Schichten, die allein geschichtlich für die bürgerliche Revolution in Rußland mobilisiert werden konnten.

30. Die Zweiklassenbasis der bolschewistischen Politik äußert sich auf breiter Front in der taktischen Parole der „demokratischen Diktatur der Arbeiterschaft und des Bauerntums“, die 1905 zur allgemeinen Richtschnur der bolschewistischen Politik gemacht wurde und die in sich noch die illusionäre Vorstellung einer Art Parlamentarismus ohne Bourgeoisie trug. Sie wurde später ersetzt durch die Parolen des „Klassenbündnisses zwischen Arbeiterschaft und Bauerntum“. Hinter dieser Formel verbarg sich nichts als die Notwendigkeit, diese beiden Klassen für die Machtpolitik des Bolschewismus in Bewegung zu setzen.

31. Die jeweiligen Parolen, unter denen die beiden für die russische Revolution ausschlaggebenden Klassen von ihren entgegengesetzten ökonomischen Interessen aus mobilisiert werden sollten, waren rücksichtslos nur dem Zweck der Ausnutzung der Kräfte dieser Klassen untergeordnet. Um die Bauern zu mobilisieren, stellten die Bolschewiki bereits un 1905 herum die Losung der „radikalen Enteignung des Großgrundbesitzes durch die Bauern“ auf. Diese Losung konnte von den Bauern aus als Aufforderung zur Aufteilung des Großgrundbesitzes unter die Kleinbauernschaft aufgefaßt werden. Als die Menschewiki auf diesen reaktionären Inhalt der bolschewistischen Agrarparole hinwiesen, bedeutete ihnen Lenin, daß die Bolschewiki sich gar nicht im geringsten in der Frage festgelegt hätten, was mit dem enteigneten Boden zu geschehen habe. Das zu regeln, soll Angelegenheit der sozialdemokratischen Politik in der betreffenden Situation sein. Die Forderung der Uebernahme des Bodens der Großgrundbesitzer durch die Bauern trug also einen ausgesprochen demagogischen Charakter, packte die Bauern aber an dem entscheidenden Punkt ihres Interesses. In ähnlicher Weise haben die Bolschewiki auch Parolen in die Arbeiterschaft hineingeschleudert, wie z.B. die Räteparole. Entscheidend für ihre Taktik war lediglich der momentane Erfolg einer Parole, die durchaus nicht als prinzipielle Verpflichtung der Partei gegenüber den Massen betrachtet wurde, sondern als propagandistisches Mittel einer Politik, die die Machtergreifung der Organisation zum letzten Inhalt erhebt.

32. In der Periode von 1906-14 hat der Bolschewismus in der Verbindung von Legaler und illegaler Arbeit die Taktik des „revolutionären Parlamentarismus“ entwickelt. Diese Taktik entsprach der Situation von der bürgerlichen Revolution in Rußland. Mit ihrer Hilfe gelang es, den täglichen Kleinkrieg zwischen Arbeiterschaft und Zarismus und Bauerntum und Zarismus in die große Linie der Vorbereitung der bürgerlichen Revolution unter den russischen Bedingungen einzugliedern, zumal jeder Schritt parlamentarischer Betätigung der russischen Sozialdemokratie infolge der zaristischen Diktaturpolitik einen bürgerlich-revolutionären Charakter trug. In ihrer Taktik des „revolutionären Parlamentarismus“ haben die Bolschewiki die Politik der Mobilisierung der beiden entscheidenden Klassen der russischen Revolution in der veränderten Situation zwischen der Revolution von 1905 bis zum Weltkrieg fortgesetzt und die Duma als Tribüne ihrer Propaganda unter den Arbeitern und den Bauern benutzt.

Der Bolschewismus und die Arbeiterklasse

33. Der Bolschewismus hat die historische Aufgabe der bürgerlichen Revolution im feudalistisch-kapitalistischen Rußland mit Hilfe der aktiven Kampfwaffe Proletariat gelöst. Er hat zugleich die revolutionäre Theorie der Arbeiterklasse angeeignet und seinen Zwecken entsprechend umgeformt. Der „Marxismus-Leninismus“ ist nicht Marxismus, sondern Füllung der den Zwecken der bürgerlichen Revolution in Rußland angepaßten marxistischen Terminologie mit dem sozialen Inhalt der russischen Revolution. Diese Theorie wird in den Händen der Bolschewismus, trotzdem sie Mittel der Erkenntnis der Klassenstruktur und Klassentendenzen Rußlands ist, zugleich zum Mittel der objektiven Verschleierung des tatsächlichen Klasseninhalts der bolschewistischen Revolution. Hinter den marxistischen Begriffen und Parolen verbirgt sich der Inhalt einer bürgerlichen Revolution, die durch den vereinten Ansatz von sozialistisch orientiertem Proletariat und privatbesitzgebundener Bauernschaft unter Führung der revolutionären kleinbürgerlichen Intelligenz gegen Zarenabsolutismus, Grundbesitzadel und Bourgeoisie durchgeführt werden mußte.

34. Der absolute Führeranspruch der revolutionären, kleinbürgerlichen jakobinischen Intelligenz verbirgt sich hinter der bolschewistischen Auffassung von der Rolle der Partei in der Arbeiterklasse. Die kleinbürgerliche Intelligenz konnte ihre Organisation nur unter Heranziehung und Benutzung proletarischer Kräfte zur aktiv revolutionären Kampfwaffe ausbauen. Darum nannte sie ihre Partei des Jakobinismus proletarisch. Die Unterordnung der kämpfenden Arbeiterklasse unter die kleinbürgerliche Führung begründete der Bolschewismus mit der Theorie von der „Avantgarde“ des Proletariats, die er in seiner Praxis bis zu dem Grundsatz ausbaute: die Partei verkörpert die Klasse. Sie ist also nicht Werkzeug der Arbeiterschaft, sondern die Arbeiterschaft ist ihr Werkzeug.

35. Die Notwendigkeit der Stützung der bolschewistischen Politik auf die unteren Klassen der russischen Gesellschaft umschreibt der Bolschewismus mit dem Satz von dem „Klassenbündnis zwischen Proletariat und Bauernschaft“, in dem konsequent entgegengesetzte Klasseninteressen bewußt auf eine Linie gestellt werden.

36. Den Anspruch auf die unbedingte Führung des Bauerntums verkleidet der Bolschewismus mit dem Satz von der „Hegemonie des Proletariats in der Revolution“. Da das Proletariat seinerseits von der bolschewistischen Partei beherrscht ist, so bedeutet die „Hegemonie des Proletariats“ die Hegemonie der bolschewistischen Partei und ihren Anspruch auf Beherrschung der beiden Klassen der russischen Revolution.

37. Seinen höchsten Ausdruck findet der bolschewistische Anspruch auf dem Rücken zweier Klassen die gesellschaftliche Macht an sich zu reißen in der bolschewistischen Auffassung von „Diktatur des Proletariats“. In Verbindung mit der Auffassung der bolschewistischen Partei als der absoluten Führerorganisation der Klasse, bedeutet die Formel der proletarischen Diktatur von vornherein die Formel der Herrschaft der jakobinisch-bolschewistischen Organisation. Ihr Klasseninhalt wird weiterhin durch die bolschewistische Definition der Diktatur des Proletariats als des „Klassenbündnisses zwischen Proletariat und Bauerntum unter der Hegemonie des Proletariats“ (Stalin und das Programm der Komintern) vollkommen aufgehoben. Der Marxsche Grundsatz der Diktatur der Arbeiterklasse wird vom Bolschewismus zum Grundsatz der Beherrschung zweier in ihrem Interesse entgegengesetzter Klassen durch die jakobinische Partei umgedreht.

38. Der bürgerliche Charakter der bolschewistischen Revolution wird von ihm selbst unterstrichen in der von ihrem wiederbelebten Losung der „Volksrevolution“, d.h. des gemeinsamen Kampfes verschiedener Klassen eines Volkes in einer Revolution; sie ist die typische Losung jeder bürgerlichen Revolution, die hinter eine bürgerliche Führung kleinbürgerlich-bäuerliche und proletarische Massen zum Einsatz für ihre Klassenziele bringt.

39. Gegenüber dem Kampf um die Macht der Organisation über die revolutionären Klassen wird jede demokratische Haltung des Bolschewismus zum bloßen taktischen Schachzug. Bewiesen hat er das vor allem anderen in der Frage der Arbeiterdemokratie der Räte. Zunächst trägt die leninsche Parole vom März 1917: „Alle Macht den Räten“ das typische Zweiklassengesicht der russischen Revolution, denn die Räte waren „Arbeiter-, Bauern- und Soldaten- (d.h. wieder Bauern-) Räte“. Weiterhin aber war die Parole nur Taktik. Sie wurde von Lenin auf der Februarrevolution aufgestellt, weil sie den „friedlichen“ Übergang der Herrschaft von der sozialrevolutionären menschewistischen Koalition auf die Bolschewiki durch das Wachstum ihres Einflusses auf die Räte zu gewährleisten schien. Als nach der Niederlage der Julidemonstration der Einfluß der Bolschewiki auf die Räte sank, gab Lenin die Räteparole vorübergehend preis und forderte die Organisierung anderer Aufstandsorgane durch die bolschewistische Partei. Erst als im Gefolge des Kornilowputsches der bolschewistische Einfluß in den Räten wieder stark anstieg, griff die Partei Lenins die Räteparole wieder auf. Indem die Bolschewiki die Räte vorwiegend als Aufstandsorgane betrachteten, statt als die Organe der Selbstverwaltung der proletarischen Klasse, zeigen sie um ein übriges, daß es sich für sie in den Räten nur um ein Werkzeug handelt, mit dessen Hilfe ihre Partei die Macht an sich zieht. Praktisch hat der Bolschewismus das nicht nur mit der Organisierung des Sowjetstaates nach der Machteroberung allgemein bewiesen, sondern auch im speziellen Fall der blutigen Niederschlagung der Kronstadtrebellion. Die bäuerlich-kapitalistischen Forderungen dieses Aufstandes wurden durch die Neppolitik erfüllt, seine proletarisch-demokratischen aber in Strömen von Arbeiterblut erstickt.

40. Der Kampf um den Inhalt der russischen Räte führte bereits im Jahre 1920 zur Herausbildung einer im ganzen noch schwachen echten kommunistischen Strömung in der russischen Partei. Die Arbeiteropposition (Utjanikow) vertrat den Gedanken der Durchführung der Rätedemokratie für die Arbeiterklasse. Sie wurde, so wie später eine jede ernstliche Opposition dieser Richtung, mit Zuchthaus, Verbannung und Erschießung ausgerottet. Ihre Plattform aber bleibt der historische Ausgangspunkt einer selbständigen proletarisch-kommunistischen Bewegung gegen das bolschewistische Regime.

41. Vom Gesichtspunkt der Beherrschung und Führung der Arbeiterschaft durch die bolschewistische Partei ist ebenfalls die Haltung der Bolschewiki zur Gewerkschaftsfrage bestimmt. In Rußland haben sie den Gewerkschaften durch ihre praktische Verstaatlichung und Militarisierung wie durch ihren Zwangscharakter nach der Machteroberung den Charakter von Arbeiterorganisationen vollständig genommen. In den anderen Ländern haben sie im Endeffekt schützend vor den bürokratischen reformistischen Gewerkschaftsorganisationen gestanden und anstelle ihrer Zerschlagung die „Eroberung“ ihres Apparates propagiert. Sie waren erbitterte Gegner des Gedankens der revolutionären Betriebsorganisationen, weil diese die proletarische Demokratie verkörperten. Sie kämpften um die Eroberung oder Neuschaffung von Organisationen der zentralistischen Bürokratie, die sie von ihren Kommandostellen aus zu beherrschen gedachten.

42. Als Führerbewegung der jakobinischen Diktatur hat der Bolschewismus in allen seinen Phasen konsequent den Gedanken der Selbstbestimmung der Arbeiterklasse bekämpft und die Unterwerfung des Proletariats unter die bürokratisierte Organisation verlangt. In den Auseinandersetzungen, die in der Vorkriegszeit in die Organisationsfrage innerhalb der 2. Internationale geflochten wurden, war Lenin ein heftiger und gehässiger Gegner der Kommunistin Rosa Luxemburg und stützte sich ausdrücklich auf den zentristischen Kautsky, der seine klassenverräterische Linie in und nach dem Weltkriege vollkommen demaskierte. Der Bolschewismus hat bereits damals wie in der ganzen Folgezeit bewiesen, daß er für die Fragen der Entwicklung des Bewußtseins und der klassenmäßigen Organisation des Proletariats nicht nur kein Verständnis hat, sondern alle theoretischen und praktischen Ansätze tatsächlicher Klassenorganisation und Klassenpolitik mit allen Mitteln bekämpf.

Die bolschewistische Revolution

43. Der Bolschewismus hat die Revolution vom Februar 1917 als die bürgerliche und die vom Oktober 1917 als die proletarische Revolution Rußlands bezeichnet, um sein späteres Regime als proletarische Klassenherrschaft und seine Wirtschaftspolitik als Sozialismus ausgeben zu können. Die Unsinnigkeit dieser Zertrennung der Revolution von 1917 wird allein aus der Ueberlegung klar, daß dann eine Entwicklung von 7 Monaten genügt hätte, um die wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen der proletarischen Revolution in einem Lande zu schaffen, das eben in den Prozeß seiner bürgerlichen Revolution eingetreten war, d.h. eine ganze ökonomische und soziale Entwicklungsstufe von zumindestens Jahrzehnten einfach zu überspringen. In Wirklichkeit ist die Revolution von 1917 ein durchaus einheitlicher und sozialer Umschichtungsprozeß, der mit dem Zusammenbruch des Zarismus im äußeren Verlauf beginnt und mit dem bewaffneten, siegreichen Aufstand der Bolschewiki am 7. November seinen entscheidenden Höhepunkt erreicht. Dieser gewaltige Umschichtungsprozeß ist der Prozeß der bürgerlichen Revolution Rußlands unter den historisch gewachsenen, besonderen russischen Bedingungen.

44. In diesem Prozeß ergreift die Partei der revolutionären jakobinischen Intelligenz auf den beiden sozialen Wellen der bäuerlichen und der proletarischen Massenerhebung die Macht und schafft an der Stelle des geborstenen Herrschaftsdreiecks Zarismus-Feudaladel-Bourgeoisie das neue Herrschaftsdreieck Bolschewismus-Bauerntum-Arbeiterklasse. Wie der Staatsapparat des Zarismus über den beiden besitzenden Klassen verselbständigt herrschte, so begann sich der neue Staatsapparat des Bolschewismus über seiner Doppelklassenbasis zu verselbständigen. Rußland trat aus dem Zustand des zaristischen Absolutismus in den Zustand des bolschewistischen Absolutismus hinein.

45. Die Politik der Bolschewiki selbst erhebt sich in der Revolutionsperiode zur höchsten Höhe der Erfassung und Bewältigung der gesellschaftlichen Kräfte der russischen Revolution. Den Gipfelpunkt ihrer revolutionären Taktik erklimmt sie in der Vorbereitung und Durchführung des bewaffneten Aufstandes. Die Frage der gewaltsamen Erhebung wird für die Bolschewiki zur Frage der exakten, bis auf den Termin festgelegten, planmäßigen militärischen Aktion, deren Haupt sowie treibende und bestimmende Kraft die bolschewistische Partei mit ihren Militärformationen ist. Auffassung, Vorbereitung und Durchführung des bewaffneten Aufstandes durch die Bolschewiki tragen die deutlichen Stempel der in der russischen Revolution wiederum einzig möglichen Politik der jakobinischen Verschwörung, d.h. des Aufstandes unter den besonderen Bedingungen der Durchführung der bürgerlichen Revolution gegen die Bourgeoisie.

46. Der innere Charakter der bolschewistischen Revolution als bürgerliche Revolution offenbart sich in den wirtschaftlichen Parolen dieser Revolution selbst. Den Bauernmassen gegenüber vertraten die Bolschewiken in der radikalsten Weise die Forderung der gewaltsamen Aneignung der gutsherrlichen Guts und Bodens durch die spontane Aktion der landhungrigen Kleinbauernschaft. Sie drückten in ihrer Agrarpraxis und ihren Bauernlosungen (Friede und Land) vollkommen das Interesse der um Sicherung von Kleinprivatbesitz, also auf kapitalistischer Linie kämpfenden Bauern aus und waren so in der Agrarfrage rückhaltlos Verfechter des kleinkapitalistischen, also nicht des sozialistisch-proletarischen Interesses gegen den feudalen und kapitalistischen Großgrundbesitz.

47. Die wirtschaftlichen Forderungen der bolschewistischen Revolution waren aber auch gegenüber den Arbeitern nicht mit sozialistischem Inhalt gefüllt. Lenin wies mehrfach mit besonderer Schärfe den menschewistischen Vorwurf zurück, der Bolschewismus vertrete eine utopische Politik der Sozialisierung der Produktion in einem Lande, das hierfür die Bedingungen nicht aufzuweisen habe. Die Bolschewiken erklärten, daß es sich in der Revolution überhaupt nicht um die Sozialisierung der Betriebe handele, sondern um die Kontrolle der Produktion durch die Arbeiter. Die Losung der Produktionskontrolle diente dem Versuch, den Kapitalismus als Kraft technischer und wirtschaftlicher Organisierung der Produktion aufrecht zu erhalten, ihm aber seinen Ausbeutercharakter zu nehmen. Deutlicher als in der Losung der Kontrolle der Produktion konnte der bürgerliche Charakter der bolschewistischen Revolution und die bolschewistische Selbstbeschränkung auf diesen bürgerlichen ökonomischen Charakter im Gegensatz zu der bolschewistischen Firmierung der Resultate der Umwälzung von 1917 überhaupt nicht dargelegt werden.

48. Die elementare Wucht des Vorstoßes der Arbeitermassen auf der einen, die Sabotage des entthronten Unternehmertums auf der anderen Seite trieben indes die industrielle Wirtschaftspolitik des Bolschewismus weiter bis zur Uebernahme der industriellen Produktionsstätten durch die neue staatliche Bürokratie. Lenin bezeichnete die Staatswirtschaft, die zunächst in der ganzen Periode des Kriegskommunismus, vor lauter Organisation erstickte (Glavkismus), als Staatskapitalismus. Die Bezeichnung der bolschewistischen Staatswirtschaft als sozialistisch ist das Produkt der stalinschen Aera.

49. Lenin selbst hatte jedoch von der Sozialisierung der Produktion keine grundlegend andere Vorstellung als die einer bürokratisch geleiteten Staatswirtschaft gehabt. Vorbild für sozialistische Organisierung der Produktion waren ihm z.B. die deutsche Kreigsplanwirtschaft oder die Post, d.h. ausgesprochen bürokratisch zentralistisch von oben herunter geleitete Wirtschaftsorganisationen. Er sah nur die technische, nicht aber die proletarische gesellschaftliche Seite des Sozialisierungsproblems. Ebenso stützte sich Lenin und mit ihm der Bolschewismus überhaupt auf die Sozialisierungsvorstellungen des zentristischen Hilferding, der in seinem „Finanzkapital“ das idealisierte Bild eines durchorganisierten Kapitalismus aufgezeichnet hatte. An dem tatsächlichen Problem der Sozialisierung der Produktion, d.h. der Uebernahme der Betriebe und Organisierung der Wirtschaft durch die Arbeiterklasse und ihre Klassenorgane, die Wirtschaftlichen Räte, ist der Bolschewismus vollkommen vorbeigegangen. Er mußte daran vorbeigehen, weil der Marxsche Gedanke der Assoziation freier und gleicher Produzenten dem Wesen der Herrschaft der jakobinischen Organisation direkt entgegengesetzt ist, und weil Rußland die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen für den Sozialismus nicht aufzuweisen hatte. Der Sozialisierungsbegriff der Bolschewiki ist darum nichts als der Begriff einer vom Staat übernommenen und von seiner Bürokratie von außen und von oben geleiteten kapitalistischen Wirtschaft. Der bolschewistische Sozialismus ist staatlich organisierter Kapitalismus.

Der Internationalismus der Bolschewiken und die nationale Frage

50. Die Bolschewiken haben während des Weltkrieges einen konsequent internationalistischen Standpunkt unter der Parole der „Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg“ vertreten, sich dem Anschein nach als konsequente Marxisten verhalten. Ihr revolutionärer Internationalismus war jedoch ganz ebenso von ihrer Taktik im Kampf um die russische Revolution bestimmt, wie etwa später ihre Umstellung zur NEP-Politik in Russland selbst. Der Appell des Bolschewismus an die internationale Arbeiterschaft war nur eine Seite einer großangelegten Politik der internationalen Stützung der russischen Revolution. Die andere Seite war die Politik und Propaganda der „nationalen Selbstbestimmung“ der Völker, in der der Klassenanschauung noch stärker als im Begriff der „Volksrevolution“ zu Gunsten eines allgemeinen Appells an alle Klassen bestimmter Völker aufgegeben wurde.

51. Dieser doppelseitige „Zweiklasseninternationalismus“ der Bolschewiken entspringt der internationalen Situation Rußlands und seiner Revolution. Es steht zwischen den beiden Zentren des imperialistischen Weltsystems, geographisch und soziologisch. In Rußland, dem Schnittpunkt der aktiv imperialistischen und passiv kolonialen Tendenzen des Weltkapitals, brach dieses System auseinander. Die reaktionären Klassen Rußlands erwiesen sich als unfähig, es wieder zusammenzufügen, wie ihre entscheidende Niederlage im Kornilowputsch und später in der Periode des Bürgerkrieges bewiesen hat. Die einzige wirkliche Gefahr, die der russischen Revolution drohte, war die Gefahr des Eingriffs der imperialistischen Mächte. Nur die militärische Invasion des imperialistischen Kapitals konnte den Bolschewismus niederschlagen und den in das Weltsystem der imperialistischen Ausbeutung als Werkzeug und Material zugleich eingebauten Zarismus wiederherstellen. Das Problem der aktiven Gegenwehr des Bolschewismus gegen den Weltimperialismus bestand also darin, den Angriff auf ihn in den Zentren seiner Macht selbst vorzutragen. Das geschah durch die doppelseitige internationale Politik des Bolschewismus.

52. Mit dem Standpunkt der internationalen proletarischen Revolution propagierte der Bolschewismus den Angriff des mit seiner Revolution zu verbindenden internationalen Proletariats auf das Mittelpunkt des Weltimperialismus in den hochkapitalistischen Ländern. Durch die Politik des „Rechtes der Selbstbestimmung der Nationen“ propagierte der Bolschewismus den Angriff der unterdrückten Bauernvölker des fernen Ostens auf das koloniale Zentrum des Weltimperialismus. In einer auf gewaltige Perspektiven eingestellten zweiseitigen internationalen Politik versuchte der Bolschewismus den proletarischen und den bäuerlichen Arm seiner Revolution in den internationalen Raum des Weltkapitalismus hinein zu verlängern.

53. Die Stellung des Bolschewismus zur „nationalen Frage“ ist praktisch, also nicht allein ein Hilfsmittel der bürgerlichen Revolution seines Landes, die mit Hilfe der aufgespürten nationalen Instinkte der vielfältig unterdrückten Bauernschichten und Völkerschaften des russischen Reiches den Zarismus schlagen wollte. Sie ist zugleich der Bauerninternationalismus einer bürgerlichen Revolution, die im Zeitalter des Weltimperialismus vollzogen wurde und sich aus den Maschen des internationalen, imperialistisch hochkapitalistischen Netzes nur mit einer international orientierten und aktivierten Gegenpolitik heraushalten konnte.

54. Als Werkzeug der bolschewistischen Leitung dieser internationalistischen Stützungspolitik der auf nationalem russischen Boden vollzogenen bürgerlichen Revolution hat der Bolschewismus versucht, zwei internationale Organisationen zu schaffen: die III. Internationale als Organisation des Einsatzes der Arbeitermassen der hochkapitalistischen Länder und die Bauerninternationale als die Organisation des bolschewistischen Einsatzes der ostasiatischen Bauernvölker. Als letzter Leitgedanke dieser internationalen Doppelklassenpolitik des Bolschewismus erschien der Gedanke der Weltrevolution, in der die internationale europäisch-amerikanische proletarische und die nationale, in erster Linie ostasiatische bäuerliche Revolution unter der straffen Leitung Moskaus zu einer neuen internationalen Einheit bolschewistischer Weltpolitik zusammengeklammert werden sollte. Der Begriff der „Weltrevolution“ hat für die Bolschewiken also einen ganz anderen Klasseninhalt. Er hat nichts mehr mit dem Gedanken der internationalen proletarischen Revolution gemein.

55. Die internationale Politik des Bolschewismus lief also darauf hinaus, unter gleichzeitiger Ausnutzung der proletarischen und der bäuerlich-bürgerlichen Revolution die russische Revolution im Weltmaßstab zu wiederholen und die Leitung der bolschewistischen Partei Rußlands zum Kommandeur eines weltbolschewistischen Systems der Verkoppelung der kommunistisch-proletarischen und kapitalistisch-bäuerlichen Interessen zu machen. Diese Politik war insofern positiv, als sie den bolschewistischen Staat durch die dauernde Beunruhigung der kapitalistischen Staaten vor der imperialistischen Invasion geschützt und ihm Zeit gegeben hat, sich allmählich den kapitalistischen Methoden von Handelsbeziehungen, Wirtschaftsverträgen und militärischen Nichtangriffspakten neu in das weltimperialistische System einzubauen. Sie hat Rußland die Möglichkeit des ungehemmten nationalen Auf- und Ausbaus seiner eigenen inneren Position gegeben. Negativ war die internationale Zweifrontenpolitik des Bolschewismus insofern, als sie auf beiden Seiten zum Zusammenbruch des Versuchs der Uebertragung der aktiv-bolschewistischen Politik auf den Weltmaßstab geführt hat. Das Experiment der Bauerninternationale ist unter den Schlägen der Niederlagen der bolschewistischen Politik in China vollkommen zusammengebrochen. Die III. Internationale ist nach dem erbärmlichen Zusammenbruch der deutschen kommunistischen Partei kein Faktor der bolschewistischen Weltpolitik mehr. Der gigantische Versuch der Übertragung der bolschewistisch-russischen Politik auf den Weltmaßstab ist historisch gescheitert. Damit ist die national-russische Begrenzung des Bolschewismus historisch ebenfalls erwiesen. Immerhin hat das Experiment der internationalen bolschewistischen Machtpolitik Raum und Zeit für den Rückzug des Bolschewismus auf seine national-russische Position und die Umstellung auf die kapitalistisch-imperialistischen Methoden internationaler Politik geschaffen. Theoretisch fand dieser Rückzug seinen Ausdruck in der Formel vom „Sozialismus in einem Lande“, der den Begriff „Sozialismus“ seine internationale Bindung nahm, nachdem die russische Wirtschaftspraxis ihn bereits vorher seines proletarisch-klassenmäßigen Inhaltes beraubt und zu einer beim Reformismus und in den Bewegungen des kleinbürgerlichen Faschismus ebenso zu findendende Verkleidung staatskapitalistischer Tendenzen gemacht hatte.

56. Es ist sachlich nach dem Vorliegen der praktischen Resultate von 15 Jahren Politik des bolschewistischen Staates und der bolschewistischen Internationale unwesentlich, ob Lenin im Monat der Gründung der Komintern und vorher noch eine andere Vorstellung von der Wirksamkeit dieser bolschewistischen Internationale gehabt hat oder nicht. Praktisch hat der Bolschewismus mit seinem Begriff des Rechtes der „Selbstbestimmung der Nationen“ die Tendenzen einer weltbolschewistischen Machtpolitik entwickelt. Er hat zudem durch die Komintern entscheidend mit dazu beigetragen, daß sich das europäische Proletariat nicht zur Höhe revolutionärer kommunistischer Einsicht erheben konnte, sondern im Sumpf seiner vom Bolschewismus neu belebten und mit revolutionären Phrasen verbrämten reformistischen Vorstellungen gefangen blieb. So ist es dazu gekommen, daß der Begriff des „Russischen Vaterlandes“ zum Angelpunkt aller Politik der bolschewistischen Parteien wurde, während für den proletarischen Kommunismus die internationale Arbeiterklasse im Zentrum aller internationalen Orientierung steht.

Der verstaatlichte Bolschewismus und die Komintern

57. Die Aufrichtung des Sowjet-Staates war die Aufrichtung der Herrschaft der Partei des bolschewistischen Macchiavellismus. Die soziologische Basis der über den Klassen verselbständigten und die neue soziale Schicht der bolschewistischen Bürokratie bolschewistische Staatsgewalt, bildeten das russische Proletariat und das russische Bauerntum. Das russische Proletariat, mit den Methoden der Zwangsgewerkschaften und des tschekistischen Terrors gefesselt, bildete die Basis der bolschewistischen bürokratisch geleiteten Staatswirtschaft. Das Bauerntum hingegen verbarg und verbirgt heute noch in seinen Reihen die privatkapitalistischen Tendenzen der Sowjetwirtschaft. Der Sowjetstaat wurde in seiner inneren Politik fortgesetzt zwischen den beiden Tendenzen hin- und hergestoßen. Er hat sie durch organisatorische Gewaltmethoden, wie die Fünfjahresplanpolitik und die Zwangskollektivierung, zu meistern versucht. Praktisch hat er jedoch nur unter der unerträglichen Ueberspannung der Kräfte der Arbeiter und der Bauern die ökonomischen Schwierigkeiten bis zur Gefahr der Explosion der wirtschaftlichen Widersprüche gesteigert. Das Experiment der bürokratischen Staatsplanwirtschaft des Bolschewismus kann durchaus nicht als endgültig gelungen bezeichnet werden. Die Rußland bedrohenden großen internationalen Erschütterungen müssen die Widersprüche seines Wirtschaftssystems ins Unerträgliche steigern und können den Zusammenbruch des bisher gigantischen Wirtschaftsversuchs ungemein beschleunigen.

58. Der innere Charakter der russischen Wirtschaft wird durch die folgenden Umstände bestimmt: Sie beruht auf der Grundlage der Warenproduktion. Sie wird nach den Gesichtspunkten kapitalistischer Rentabilität geleitet. Sie weist ein ausgesprochen kapitalistisches Entlohnungs- und Antreibersystem auf. Sie hat die Raffinessen kapitalistischer Rationalisierung auf die Spitze getrieben. Die bolschewistische Wirtschaft ist Staatsproduktion mit kapitalistischen Methoden.

59. Diese Staatsproduktion produziert mit der Produktion Mehrwert, der im Höchstmaß aus den Arbeitern herausgepreßt wird. Der russische Staat hat zwar keine Klasse von Menschen auf, die individuell und direkt Nutznießer dieser Mehrwertproduktion sind, aber bezieht diesen Mehrwert als bürokratischer Schmarotzerapparat im Ganzen. Außer seiner eigenen, recht kostspieligen Erhaltung dient der erzeugte Mehrwert der Erweiterung der Produktion, der Stützung der Bauernklasse und der Begleichung der Auslandsverpflichtungen des Staates. Außer der ökonomischen Schmarotzerschicht der herrschenden Bürokratie sind also die russischen Bauern als ganze Schicht und Teil des internationalen Kapitals Nutznießer des von den russischen Arbeitern erzeugten Mehrwerts. Die russische Staatswirtschaft ist darum Profitproduktion und Ausbeutungswirtschaft. Sie ist Staatskapitalismus unter den historisch einzigartigen Bedingungen des bolschewistischen Regimes und stellt darum einen anderen und höheren Typus der kapitalistischen Produktion dar, als ihn die größten und fortgeschrittensten Länder aufzuweisen haben.

60. Diese Tatsache des bolschewistischen Staatskapitalismuns stellt das Problem der Befreiung des russischen Proletariats erneut auf die Tagesordnung. Die neue proletarische Revolution in Russland gegen die bolschewistische Bürokratie und ihren Staat, wie gegen die kapitalistischen in den Kollektiven politisch gestärkten Buernschaft kann nur in Anschluss an eine neue proletarische Revolution in den grossen kapitalistischen Staaten erfolgen. Sie ist eben so unvermeidlich wie diese selbst, zumal die Periode des bolschewistischen Staatskapitalismus und ihrer starken Industrialisierungspolitik ihre Aussichten stark gebessert haben.

61. Die Außenpolitik der Sowjetunion wurde den Gesichtspunkten der Sicherung der Machtposition der bolschewistischen Partei und des von ihr beherrschten Staatsapparates untergeordnet. Wirtschaftlich kämpfte die russische Regierung um Stützung ihres unter den größten Anstrengungen vorangetriebenen industriellen Aufbaues. Die Isolierung der Wirtschaft Sowjetrußlands erzeugte eine angestrengte Politik der Aufhebung der Zwangsautarkie des Landes unter Aufrechterhaltung der Kontrolleinrichtung des Außenhandelsmonopols. Wirtschafts- und Lieferungsverträge, Konzessionsabmachungen sowie umfangreiche Kreditabkommen stellten den Anschluß der russischen Staatswirtschaft an die kapitalistische Weltproduktion und ihre Märkte wieder her, in die sich Rußland teilweise als umworbener Abnehmer einschaltete, teilweise als empfindlicher Konkurrent. Auf der anderen Seite zwang die Politik des wirtschaftlichen Anschlusses an das Weltkapital die Sowjetregierung zur Pflege freundschaftlicher und friedlicher Beziehungen zu den kapitalistischen Mächten. Die immer noch propagierten Prinzipien von einer bolschewistischen Weltpolitik wurden opportunistisch dem nackten Handelsvertrag untergeordnet. Die gesamte Außenpolitik der russischen Regierungen erhielt das Gepräge typisch kapitalistischer Diplomatie und riß damit endgültig auf internationalem Felde die bolschewistische Theorie von der Praxis los.

62. In den Mittelpunkt der außenpolitischen Propaganda der Komintern stellte der Bolschewismus die den komplizierten Linien der imperialistischen Interessengegensätze mit ihren fortgesetzten wechselnden Gruppierungen nicht im entferntesten gerecht werdende These von der „imperialistischen Einkreisung der Sowjetunion“ auf. Er versuchte das internationale Proletariat für seine Außenpolitik zu mobilisieren, durch eine teilweise parlamentarische und putschistische Politik der kommunistischen Parteien die kapitalistischen Staaten von innen her zu beunruhigen und dadurch die diplomatische und wirtschaftliche Position der Sowjetunion zu stärken.

63. Die Gegensätze der Sowjetunion zu den imperialistischen Weltmächten führten zur ideologischen Gegenpropaganda der Komintern unter den Parolen: „Drohender Krieg gegen die UdSSR!“ „Schützt die Sowjetunion!“ Indem den Arbeitern diese Gegensätze als die einzigen und entscheidenden der Weltpolitik schlechthin immer wieder dargestellt wurden, wurde ihnen der Blick für die tatsächliche außenpolitische Wirklichkeit genommen. Die Anhänger der kommunistischen Parteien wurden vor allem zu blinden und opportunistischen Verteidigern der Sowjetunion gemacht und über die Tatsache hinweggetäuscht, daß die Sowjetunion längst zu einem ebenbürtigen Faktor der imperialistischen Weltpolitik geworden war

64. Die fortdauernde Verkündung der Schreckparole des bevorstehenden Krieges der vereinigten imperialistischen Staaten gegen die UdSSR diente innenpolitisch der Rechtfertigung der verstärkten Militarisierung der Arbeit und der erhöhten Anspannung des Druckes auf das russische Proletariat. Zugleich aber hatte und hat die Sowjetunion seit jeher das allergrößte Interesse an der unbedingten Vermeidung jedes kriegerischen Konfliktes mit anderen Staaten. Die Existenz der bolschewistischen Regierung hängt innenpolitisch in weitem Maße von der Fernhaltung aller außenpolitischen Erschütterungen ab, und zwar sowohl kriegerischer als auch revolutionärer. Die Komintern hat darum in ihrer Praxis und im schreienden Widerspruch zu ihrer alten Theorie und Propaganda eine Politik der Sabotage aller wirklich revolutionären proletarischen Entwicklung getrieben und in den kommunistischen Parteien ziemlich offen die Auffassung verbreitet, daß erst der Aufbau der Sowjetunion gesichert sein müsse, ehe die proletarische Revolution in Europa weitergetrieben werden könne. Auf der Gegenseite hat die russische Regierung zwar starke Prestigegesten gegenüber imperialistischen Mächten gebraucht, aber praktisch immer vor ihnen kapituliert. Der „Verkauf“ der manschurischen Bahn an den japanischen Imperialismus ist ein Beispiel der kampflosen Kapitulation der UdSSR vor dem kapitalistischen und imperialistischen Gegner. Die übereilige faktische Anerkennung der Sowjetunion durch die Vereinigten Staaten von Amerika zum gleichen Zeitpunkt ist umgekehrt Beweis dafür, daß die imperialistischen Mächte im Rahmen ihrer gegensätzlichen Interessenpolitik den Faktor Sowjetunion auch positiv einzuschätzen wissen. Vor allem aber hat die russische Regierung ihre Verbundenheit mit dem Kapitalismus dokumentiert, indem sie besonders feste Wirtschaftsbeziehungen mit dem italienischen Faschismus und mit Hitlerdeutschland angebahnt und ausgebaut hat. Die Sowjetunion erscheint als verläßliche wirtschaftliche und damit auch als politische Stütze der reaktionärsten Staaten der faschistischen Diktatur in Europa.

65. Die Politik der unbedingten Verständigung der UdSSR mit den kapitalistischen und imperialistischen Staaten hat nicht nur wirtschaftliche Gründe. Sie ist auch nicht nur Ausdruck einer militärischen Unterlegenheit. Die „Friedenspolitik“ der UdSSR ist vielmehr ganz entscheidend von der inneren Situation des Bolschewismus garantiert. Seine Existenz als verselbständigte Staatsmacht in Rußland selbst hängt davon ab, ob es ihr gelingt das Gleichgewicht zwischen der beherrschten Arbeiterklasse und dem Bauerntum zu wahren. Trotz des Fortschrittes der Industrialisierung des Landes ist die Position des russischen Bauerntums noch äußerst stark. Einmal ruht in ihren Händen trotz aller Zwangspolitik von oben immer noch weitgehend die Entscheidung über die Ernährung des Landes. Zweitens hat die Kollektivierung nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch die politischn Kraft des nach wie vor um privatkapitalistische Interessen kämpfenden Bauerntums vermehrt. Denn „Kollektivierung“ heißt in Rußland kollektiver Zusammenschluß privatbesitzender Bauern unter Aufrechterhaltung privatkapitalistischer Rechnungs- und Verteilungsmethoden. Zum dritten endlich würde ein Krieg mit neuer massenhafter Bewaffnung der Bauern die Voraussetzung für eine neuerliche gewaltige Bauernerhebung gegen das bolschewistische System schaffen, ganz wie umgekehrt, eine Revolution des europäischen Proletariats eine offene Rebellion auch der russischen Arbeiterschaft wahrscheinlich macht: Aus diesen Gründen ist die Politik der Verständigung der Sowjetregierung mit den imperialistischen Mächten eine Lebensnotwendigkeit des bolschewistischen Absolutismus.

66. Die Komintern selbst wurde zum Werkzeug des Mißbrauchs der internationalen Arbeiterklasse für die opportunistischen Zwecke der nationalen Aufhebung und der internationalen Sicherungspolitik des russischen Staates. Sie entstand in ihren außerrussischen Teilen aus der Zusammenfassung der revolutionären Kaders des europäischen Proletariats. Unter Ausnutzung der Autorität der bolschewistischen Revolution wurde ihr das Organisationsprinzip und die Taktik des Bolschewismus mit der brutalsten Rücksichtslosigkeit und unter sofortiger Spaltungen aufgepresst. Die EKKI-Zentrale ihrerseits, ein Werkzeug der Führung der staatlichen Bürokratie Rußlands, wurde zum unbeschränkten Kommandeur sämtlicher kommunistischer Parteien gemacht, und deren Politik restlos von den tatsächlichen revolutionären Interessen der internationalen Arbeiterklasse abgetrennt. Revolutionäre Phrasen und Resolutionen dienten der Verschleierung der konterrevolutionären Politik der Komintern und ihrer Parteien, die in ihrer bolschewistischen Art zu Parteien des gleichen Arbeiterbetrugs und der hemmungslosen Demagogie gemacht wurden, wie sie die sozialdemokratischen Parteien geworden waren. Ging der Reformismus im historischen Sinne an seiner apparatmässigen Verschmelzung mit dem Kapitalismus zugrunde, so scheiterte die Komintern an ihrer apparatmässigen Bindung an die kapitalistische Politik der Sowjetunion.

Der Bolschewismus und die internationale Arbeiterklasse

67. Der Bolschewismus ist im Prinzip, Taktik und Organisation, die Bewegung und Methode der bürgerlichen Revolution in einem vorwiegenden Bauernlande, das zur Zerschlagung des feudalistisch-kapitalistischen Absolutismus das sozialistisch orientierte Proletariat und das privateigentumsgebundene kapitalistisch orientierte Bauerntum unter der diktatorischen Führung der jakobinischen Intelligenz zur revolutionären Erhebung gegen absoluten Staat, Feudalität und Bourgeoisie brachte, und in einer großen Ausnutzungsstrategie die entgegengesetzten proletarischen und bäuerlichen Klasseninteressen mit Hilfe klassenmäßiger Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung zusammenkoppelte.

68. Der Bolschewismus ist darum als Richtpunkt der revolutionären Politik des internationalen Proletariats nicht nur untauglich, sondern er ist eines ihrer schwersten und gefährlichsten Hemmnisse. Der Kampf gegen die bolschewistische Ideologie, gegen die bolschewistischen Praktiken und demnach gegen alle politischen Gruppen, die ihn erneut im Proletariat verankern wollen, ist eine der ersten Aufgaben im Kampf um die revolutionäre Neuorientierung der Arbeiterklasse. Proletarische Politik kann nur vom Boden der proletarischen Klasse aus und mit den ihr gemäßen Methoden und Organisationsformen entwickelt werden.

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[AW2024] Bericht aus Prag https://panopticon.blackblogs.org/2024/08/19/aw2024-bericht-aus-prag/ Mon, 19 Aug 2024 09:39:05 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5983 Continue reading ]]>

Gefunden auf der Seite von Tridni Valka, die Übersetzung ist von uns.


[AW2024] Bericht aus Prag

Über die Aktionswoche und den Antikriegskongress / Prag / 20. bis 26. Mai 2024 /.
„Gemeinsam gegen die kapitalistischen Kriege und den kapitalistischen Frieden“.

Erster kurzer Versuch, eine Bilanz eines Experiments zu ziehen, das voller Versprechungen war … sich aber als organisatorisches Fiasko herausstellte.

ALS EINE ART „PRÄAMBEL“.

Versetzen wir uns zunächst in den Kontext. Es war ein Herbstabend, wir waren ein paar Gefährtinnen und Gefährten, die sich um einen Tisch versammelt hatten, um ein paar Gerichte zu essen, die stundenlang gekocht hatten, ein paar lokale Biere oder andere alkoholfreie Getränke zu genießen (je nach Geschmack und Wahl), und wir diskutierten wild über die neuesten Entwicklungen des Krieges in der Ukraine, die Ereignisse in Israel und Gaza, und ganz prosaisch über den zunehmenden Kurs in Richtung eines allgemeinen Krieges. Abgesehen von und gegen alle geostrategischen Analysen der Bourgeoisie und der extremen Linken des Kapitalismus betonten wir unsererseits vor allem die Notwendigkeit, sich zu organisieren und zu koordinieren, kurz gesagt, eine echte revolutionäre und defätistische Aktivität gegen den kapitalistischen Krieg und den kapitalistischen Frieden auf internationaler Ebene zu zentralisieren!

Wir planten daher ein internationales Treffen zwischen verschiedenen Gruppen und Gefährtinnen und Gefährten, die wir bereits kannten und mit denen wir schon eine Reihe von Aufgaben praktisch übernommen hatten: internationale Diskussionen, Übersetzung verschiedener programmatischer, aber auch Agitations- und Propagandamaterialien, Herausgabe und Verbreitung zahlreicher Beiträge usw. ohne jeglichen sektiererischen und parteipolitischen Geist. Ein maximal zweitägiges Treffen an einem Wochenende erschien uns nicht nur angemessen für diese Art von Treffen, sondern auch für die geringen militanten Kräfte, die wir und, wie wir annehmen, auch andere Gefährtinnen und Gefährten in dieser Periode haben, in der das Proletariat noch nicht die Initiative ergriffen hat und in der es nur wenige konsequente revolutionäre Minderheiten gibt, die vom Rest unserer Klasse sehr isoliert sind.

Aber schon bald begannen die Gefährtinnen und Gefährten, die diese Veranstaltung in Prag organisieren wollten, „größer“ zu denken (zu groß, wie wir später herausfinden werden)… Zu dem ursprünglichen internationalen Treffen kamen nun eine („kleine“) anarchistische Buchmesse und ein ‚Willkommenskonzert‘ hinzu. Wir sind also bereits bei drei Veranstaltungen angelangt, d. h. einem Abend und zwei vollen Tagen.

Wir versuchen auch sehr schnell zu reagieren und das hervorzuheben, was wir für uns und die Bedürfnisse der Militanten, die wir treffen wollen, als wesentlich erachten. Wir schrieben den Gefährtinnen und Gefährten, die die Initiative für die Organisation ergriffen hatten, Folgendes:

Was für uns am wichtigsten an eurem Vorschlag ist, ist die „nicht-öffentliche Konferenz“, d.h. eine praktische Diskussion darüber, wie man defätistische revolutionäre Aktivitäten organisieren kann.

Von dieser Diskussion erhoffen wir uns Folgendes:

  • dass sie zur Festigung und Organisierung der revolutionären und Klassenkräfte beiträgt und die Möglichkeiten für Aktionen im Kampf gegen den Krieg und im Klassenkampf allgemein erhöht ;
  • dass sie uns hilft, unsere Antwort auf den Krieg als Angriff des Kapitals auf das Proletariat zu koordinieren – gemeinsame Flugblätter und gleichzeitige Agitationskampagnen, Austausch von Informationen und Vorschlägen, Beziehungen und praktische Aktionen ;
  • dass sie uns hilft, unser Klassenprogramm weiter zu verdeutlichen, nicht nur im Hinblick auf den Kampf gegen den kapitalistischen Krieg, sondern auch im Hinblick auf den Kampf für die Verwirklichung des kommunistischen Projekts der menschlichen Gemeinschaft, von dem er ein integraler Bestandteil ist.

Wir halten es für notwendig, dass nur Individuen und Gruppen an dieser „Konferenz“ teilnehmen, die die vorgeschlagenen Programmpunkte nicht nur unterstützen, sondern sie vor allem auch in ihrer Praxis umsetzen. Uns geht es nicht um eine theoretische Einigung über bestimmte Punkte, sondern um die praktische Tätigkeit der individuellen Teilnehmer.

Was klar ist, und heute kritisieren wir uns dafür mehr denn je, ist, dass wir nicht entschlossen genug waren, um das Notwendige durchzusetzen und das Überflüssige, das Nebensächliche abzulehnen, wir haben zu viel zugelassen und die Struktur der Gefährtinnen und Gefährten ihren Weg „im Leerlauf“ fortsetzen lassen. Und dann kam der Plan einer „Aktionswoche“ mit verschiedenen Aktivitäten über mehrere Tage verteilt und immer eine „nicht-öffentliche Konferenz“ als Abschluss. Als Bonus wollten die Organisatoren sogar zu einer Demonstration auf der Straße aufrufen. Wir dachten uns, wenn wir (unsere kleine militante Struktur) nicht in der Lage sind, solche Veranstaltungen zu organisieren, dann sind es wahrscheinlich (mehr als wahrscheinlich, dachten wir) die Gefährtinnen und Gefährten, denen wir vertrauten… Die Entwicklung, die die Ereignisse nahmen, bewies uns das genaue Gegenteil…

Wir wollen hier nicht auf die Zweifel eingehen, die in uns aufkeimten, als wir uns dem schicksalhaften Datum des Beginns der „Aktionswoche“ näherten. Wir bekamen alarmierende Berichte von Organisatorentreffen, und Gefährtinnen und Gefährten, die glaubten, dass wir das Event organisierten (da wir die verschiedenen Einladungen, Aufrufe und Klarstellungstexte auf unserem Blog veröffentlicht und über unsere Mailinglisten weitergeleitet hatten), kontaktierten uns und baten uns um eine Antwort auf ihre Fragen, z. B. über den Empfang vor Ort, die Sicherheit und die versprochenen Unterkünfte, die diese Gefährtinnen und Gefährten erhalten hatten. Wir konnten ihnen nur antworten, dass wir die Organisatoren ansprechen würden, damit sie mit ihnen in Kontakt treten und den Organisationsprozess etwas beschleunigen würden. All das, auch wenn es nicht so aussieht, hat auch uns viel Zeit und Energie gekostet, die wir für andere zentrale Aktivitäten hätten aufwenden können.

Um diese „Präambel“ abzuschließen, möchten wir auch mit den unzähligen Gerüchten aufräumen, die sowohl vor als auch während der „Aktionswoche“ über uns in Umlauf gebracht wurden, vor allem aus Kreisen der sogenannten „kommunistischen Linken“ (aber nicht nur, auch einige „Anarchistinnen und Anarchisten“ waren Teil dieses Tratsches!), in denen behauptet wurde, dass unsere Gruppe (Tridni valka) die Organisatoren der Ereignisse in Prag seien. Einige behaupteten sogar, sie hätten die „manipulative unsichtbare Hand“ unserer Struktur hinter den „Organisatoren“ gesehen… All dies ist völlig und zweifellos FALSCH und gehört zur reinsten Phantasmagorie, die dazu zwingt, die praktische Bewegung zur Abschaffung der alten Welt zu betrachten und sie zu spalten, indem man die Kategorien unserer Feinde benutzt: auf der einen Seite die Manipulierten und auf der anderen die Manipulierenden, oder auch auf der einen Seite die Massen und auf der anderen die Anführer, etc. ad nauseam.

Der Gipfel der Dummheit in diesem Bereich ist wahrscheinlich die GIGC (die selbsternannte „Groupe International de la Gauche Communiste – Internationale Gruppe der Kommunistischen Linken“), die in ihrer Zeitschrift über den „Antikriegskongress“ großspurig erklärt: „ Die treibende Kraft scheint die revolutionäre Gruppe Klassenkrieg zu sein – auch bekannt unter ihrem tschechischen Namen Tridni Valka -, die mehr oder weniger aus der Internationalistischen Kommunistischen Gruppe (IKG) hervorgegangen ist oder von ihr beeinflusst wurde “. Danke für all diese Informationen, die die Geschichte sicherlich als sehr „wichtig“ bewerten wird, die aber die praktische Organisation revolutionärer Aktivitäten nicht ein Jota voranbringen; wir sehen aufrichtig und wirklich keinen Sinn darin, diese einseitigen Behauptungen und Fabulierungen zu verbreiten, außer die polizeiliche Version der Geschichte zu nähren und diejenigen zu denunzieren, die wir uns vorstellen, hinter jeder Aktion unserer Klasse im gigantischen Kampf für ihre Selbstemanzipation zu stehen.

WAS IST MIT DER „AKTIONSWOCHE“ ?

Kommen wir nun zur „Aktionswoche“ selbst und zum „Antikriegskongress“ zurück. Wenn wir uns von Anfang an zu keinem Zeitpunkt als Organisatoren dieser Veranstaltungen gesehen haben (aus den bereits oben genannten Gründen), so müssen wir uns über unsere Rolle bei der Organisation klar sein: Was haben wir getan? Nicht mehr (oder weniger), aber auch nicht weniger als das, was unsere täglichen Aufgaben und militanten Aktivitäten ausmacht: Lektüre und Kritik der verschiedenen Beiträge, Diskussionen auf internationaler Ebene, Übersetzung und/oder Verbreitung der betreffenden Dokumente, Hilfe bei ihrer Online-Stellung, Hilfe bei der Einrichtung von Mailinglisten zur Vorbereitung der Diskussionen auf dem Kongress usw. Kurz gesagt, nichts Außergewöhnliches, wenn man bedenkt, was wir normalerweise tun und was unserer Meinung nach das Minimum dessen darstellt, was heute zu tun ist.

Von Anfang an hatten wir die Organisatoren angesichts unserer geringen Kräfte gewarnt, dass sie nicht mit uns rechnen sollten für mehr als das, was wir hier in aller Kürze wiedergegeben haben, dass unsere Anwesenheit während der „Woche“ auf das Wochenende beschränkt sein würde, hauptsächlich für die nicht-öffentliche Versammlung des „Antikriegskongresses“ am Sonntag. Als wir ankamen, waren die Würfel bereits gefallen, als bekannt wurde, dass die Organisatoren die für die Wochenendaktivitäten gemieteten Räumlichkeiten nicht mehr zur Verfügung hatten… Und was wir dann sahen, d. h. ein solches Maß an Desorganisation, hat uns gelähmt oder zumindest erschreckt.

Wir wollen hier entschieden sagen, dass die „Aktionswoche“ aus unserer Sicht, aber auch aus der Sicht vieler anderer Gefährtinnen und Gefährten, eine totale Katastrophe, ein Fiasko, war, was die Organisation der Ereignisse betrifft. Die Organisatoren, oder besser gesagt das falsch benannte „Organisationskomitee“, waren unter aller Kanone und nicht in der Lage, wirklich Verantwortung zu übernehmen. Im Moment konzentrieren wir uns auf eine wahrscheinliche Überschätzung der tatsächlichen Fähigkeiten der Gefährtinnen und Gefährten, die sich selbst eine Perspektive gaben, die sie nachweislich nicht erfüllen konnten.

Darüber hinaus haben verschiedene Strukturen der sogenannten „kommunistischen Linken“, die übrigens nicht eingeladen waren, sondern sich selbst eingeladen haben (was wir uns hier zu kritisieren ersparen werden!), offensichtlich nichts unternommen, um „mit einem blauen Auge davonzukommen“, so sehr sie auch daran interessiert waren, einerseits ein „anarchistisches“ Experiment des Internationalismus in die Brüche gehen zu sehen und andererseits zu versuchen, Militante auf der Suche nach Zusammenhalt zu rekrutieren. Ganz zu schweigen von den schmutzigen Denunziationen, die der Okhrana und der Tscheka zusammen würdig sind (siehe unser Postskriptum weiter unten)!

Eine Gruppe von internationalistischen Gefährtinnen und Gefährten, die nicht an den „Vergnügungen“ der letzten Tage teilgenommen hatten, die bereits einen Teil des „Organisationskomitees“ kannten und deren Vertrauen genossen, machten sich daran, das Ruder herumzureißen – „als unsichtbare Lotsen im Volkssturm“, wie Bakunin es ausdrückte. All dies geschah inmitten des Getöses und der Beschimpfungen, die von allen Seiten während der von einigen hochtrabend als „selbstorganisierte Vollversammlung“ bezeichneten Veranstaltung kamen, die uns in der Tat wie eine Art Vogelscheuche erschien, die unter der Hauptleitung einiger Gruppen, die sich als „kommunistische Linke“ bezeichneten, einer Gruppe von Leninisten und anderen Bolschewiki, sowie einigen ihrer mehr oder weniger anarchistischen Anhänger, die vorgaben, einen Parallelkongress zu organisieren, welches aus dem Hut gezaubert wurde. Nach den Ereignissen wurde zeitweise sogar von „zwei Kongressen“ gesprochen!

Kurzum, diese internationalistischen Gefährtinnen und Gefährten, von denen wir anfangs sprachen, ermöglichten trotz der Beleidigungen und Beschimpfungen, trotz der herrschenden Lynchatmosphäre, dass am nächsten Tag, am Samstag, ein Teil des Programms der öffentlichen Sitzung des Antikriegskongresses“ an einem zwar kleinen, aber dennoch sicheren Ort stattfinden konnte, zumindest glaubten wir das. Zwei Vorträge von Gefährtinnen und Gefährten vom Balkan (Antipolitika) und aus Deutschland (AST) führten zu interessanten Diskussionen gegen den Krieg und den kapitalistischen Frieden; Begegnungen von Gefährtinnen und Gefährten, die sich nicht immer persönlich kannten, waren sehr herzlich und begeisternd; Perspektiven für zukünftige Aktivitäten konnten aufgezeigt werden…

Wir müssen nun auch einen Moment auf die „Entschuldigungen“ und „Vorwände“ zurückkommen, die von den „Organisatoren“ in Bezug auf die „Sabotage“ durch pro-ukrainische tschechische Regierungs-„Anarchistinnen und Anarchisten“ vorgebracht wurden; „Vorwände“, die uns absolut nicht zufrieden gestellt haben. Zunächst einmal ist das Wort „Sabotage“ semantisch gesehen vom „Sabot“ abgeleitet, d. h. von den Holzschuhen, die die Arbeiter trugen und die sie in die Maschinen warfen, um sie zu zerstören. Somit sind die „Saboteure“ aus programmatischer Sicht auf der höchsten Abstraktionsebene nicht sie, sondern wir! Es ist das revolutionäre Proletariat, das durch seine kompromisslosen Kämpfe die Ökonomie sabotiert, wir sind es, die den kapitalistischen Krieg (und seinen Frieden!) sabotieren werden, wenn sich das Kräfteverhältnis infolge der subversiven Aktion unserer Klasse zu unseren Gunsten verändert. Natürlich haben diese sogenannten Anarchistinnen und Anarchisten schon oft ihr wahres Wesen bewiesen: Sie sind Reformer des Kapitals, „alternative“ Sozialdemokraten, die „radikaler“ sind als die offiziellen, sie sind die extremen linken und sogar ultralinken Fraktionen des Kapitalismus und seiner Demokratie – ad nauseam! Und sie hatten bereits mehrfach Gelegenheit, in der Vergangenheit und sogar in der jüngsten Vergangenheit ihre wahren Fähigkeiten zur Schädlichkeit gegenüber jeglicher Äußerung, Manifestation des wahren Internationalismus zu beweisen, der allen Verteidigern dieser alten, verrotteten, sterbenden Welt ins Gesicht explodiert (nicht so sehr, wie wir im Moment hoffen, leider!). Aber es hieße wieder einmal, in die Falle des Mythos der Demokratie zu tappen, wenn man sich vorstellte, dass man auf internationaler Ebene eine echte revolutionäre und defätistische Aktivität gegen den kapitalistischen Krieg und Frieden organisieren, koordinieren und zentralisieren könnte, ohne dass die kapitalistischen Kräfte (sein Staat, seine Polizei, seine Gewerkschaften/Syndikate, seine Sozialdemokratie, ad nauseam…) reagieren, uns unterdrücken, uns unsere Versammlungsorte verbieten usw. Die Organisatoren sind also nicht die einzigen, die sich in der Lage sehen, eine solche Aktivität zu organisieren und zu koordinieren. Die „Organisatoren“ waren darauf nicht vorbereitet, und schließlich waren wir es in gewisser Weise auch nicht, trotz all der starken Vorbehalte, die wir im Vorfeld geäußert hatten. An dieser Stelle ist ein Wort zum Thema Demokratie notwendig…

MYTHOS UND FETISCHISMUS DER DEMOKRATIE

Wir möchten an dieser Stelle einen grundlegenden Punkt ansprechen, der die Demokratie und ihre Diktatur über unser Leben und unsere Aktivitäten betrifft, oder vielmehr die permanente Bruchlosigkeit gegenüber der Demokratie. Demokratie kann keineswegs auf jene Formen und Kategorien reduziert werden, die vulgär von allen akzeptiert werden: Wahlrecht, Versammlungsrecht, Pressefreiheit, Legalisierung von Parteien und Gewerkschaften/Syndikate, ad nauseam. Aus der Sicht der historischen Kritik der Kommunistinnen und Kommunisten ist die Demokratie vor allem die soziale Diktatur des Kapitals, der Ware, des Weltmarkts, des sich verwertenden Werts… Sie ist die praktische Negation des unversöhnlichen Antagonismus zwischen zwei sozialen Klassen, den Besitzern der Produktionsmittel und den Enteigneten der Existenzmittel… Die Demokratie ist auch das giftige Gift, das in jeden unserer Kämpfe, unsere Aktivitäten und sogar in unsere militanten Strukturen eindringt. Die Demokratie steht schließlich für die Bildung falscher Gemeinschaften: die der Nation, des „souveränen Volkes“, des Geldes… gegen die einzige befreiende Gemeinschaft: die Gemeinschaft des proletarischen Kampfes, die die wahre menschliche Gemeinschaft, das Gemeinwesen, ankündigt! Das bedeutet, dass der Kampf gegen die Demokratie „permanent“ sein wird, d.h. solange die kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse existieren, und erst mit der endgültigen Zerstörung dessen, was uns täglich zerstört, enden wird.

Um auf Prag zurückzukommen, haben einige von uns nach unserer Ankunft und angesichts des Chaos„, das sowohl von den „Organisatoren“ als auch von der so genannten „selbstorganisierten Vollversammlung“ entwickelt wurde, direkt auf diese entscheidende Frage hingewiesen: die Fetischisierung der Demokratie. Wir organisieren uns gegen das Kapital und seine Kriege und können uns daher nicht darauf verlassen, dass das Kapital und seine Demokratie uns in Ruhe unsere Aktivitäten strukturieren lassen, uns die „Meinungsfreiheit“ oder das „Versammlungsrecht“ garantieren, die „unterzeichneten Verträge“ einhalten etc. Zum einen sind dies Konzepte, die der kommunistischen Bewegung fremd sind, und zum anderen wendet das Kapital sie nur dann à la carte an, wenn es ihm passt, um seine Herrschaft zu bestätigen, aber niemals, wenn es bedroht ist (oder sich bedroht fühlt). Die „Organisatoren“ haben sich zu sehr auf die Demokratie (und ihre einschläfernde Atmosphäre) verlassen, um die Aktion so ablaufen zu lassen, wie sie war, sie haben sich zu sehr darauf verlassen, dass die demokratischen Kräfte nicht gegen uns vorgehen würden, was sie im Übrigen auch sind: die verschiedenen repressiven Kräfte, die Polizei, die Geheimdienste, die ukrainische (oder auch russische) Botschaft und ihre Avatare, die NATO, die defensiven und bellizistischen „Anarchistinnen und Anarchisten“, ad nauseam. Kurz gesagt, die „Organisatoren“ waren zu offen, zu demokratisch, zu konziliant, zu naiv, was unfreundlichen Kräften die Möglichkeit gab, sich einzumischen. Für die Zukunft und die Entwicklung zukünftiger subversiver Aktivitäten müssen wir uns mehr denn je bewusst sein, dass es sich tatsächlich um einen sozialen Krieg, eine Klassenkonfrontation handelt, und die Mittel, Formen und Maßnahmen dementsprechend wählen…

Ein Beispiel unter vielen für diese (zumindest) Naivität der „Organisatoren“, das wir hier mit dem Finger aufzeigen und kritisieren müssen, ist die Sicherheit der Veranstaltungen. Abgesehen von der Unfähigkeit der „Organisatoren“, etwas wirklich Praktisches zu organisieren, wie z. B. einfach nur den Empfang und die Unterbringung der Teilnehmer (obwohl sie sich vorgenommen hatten, die logistischen Probleme zu lösen), gab es während der gesamten „Aktionswoche“ ein großes Problem mit der Sicherheit der Teilnehmenden. Wir werden nicht über die Identitätskontrollen durch die tschechische Polizei bei der Montagsdemonstration sprechen, da wir nicht dabei waren. Aber es reicht natürlich nicht aus, Slogans wie „No photography“, „No video recording“ an die Wände und in den Blog zu schreiben, damit dies auch tatsächlich so geschieht. Die „Eskapaden“ eines pro-ukrainischen tschechischen Think Tanks auf dem Gelände des „Antikriegskongresses“ sind das beste Beispiel und der Beweis dafür, wie wirkungslos es ist, große Proklamationen über „Sicherheit“ zu machen, ohne die realen und praktischen Mittel zu haben, sie zu gewährleisten, und wie unfähig wir derzeit sind (angesichts unserer schwachen Kräfte und der Situation des Klassenkampfes in Tschechien und sogar in Europa), eine solche öffentliche Veranstaltung zu organisieren oder daran teilzunehmen, die für alle offen ist, mehr oder weniger.

WEN EINLADEN UND WEN NICHT EINLADEN?

Wir möchten hier eine Frage von relativer Wichtigkeit ansprechen. Bei der Vorbereitung der gesamten „Aktionswoche“ und unsererseits vor allem der nicht-öffentlichen Sitzung des „Antikriegskongresses“ stellte sich natürlich die Frage, wen man einladen sollte und wen nicht. Oft haben sich die Organisatoren an uns gewandt und uns gefragt, was wir von einer bestimmten Gruppe oder Organisation halten und ob es sich lohnt, sie für diese oder jene Ebene der Veranstaltungen einzuladen. Es gibt eine Sache, die uns von einigen sehr kritisiert wurde: Warum waren die „großen“ Strukturen und Organisationen der so genannten „kommunistischen Linken“ nicht zur „Aktionswoche“ willkommen, ja, warum wurden sie überhaupt nicht eingeladen? Wir möchten zunächst klarstellen, dass wir uns generell gegen ALLE ideologischen Familien („Anarchismus“, „Marxismus“, „Kommunismus“, „Rätekommunismus“ usw.) wenden, aber in diesem Fall und in diesem Kapitel richten wir unsere Kritik insbesondere an die selbsternannte „kommunistische Linke“.

Zunächst einmal stimmen wir nicht mit der Terminologie „Linkskommunismus“ überein, die zur Bezeichnung der revolutionären Kräfte verwendet wird, die aus der Periode 1917-21 hervorgegangen sind, obwohl es sich dabei um eine historische Bezeichnung handelt, die die historische Materialisierung der Brüche mit der Sozialdemokratie einschließt. Diejenigen, die von der Konterrevolution als „Linkskommunisten“ bezeichnet werden, sind größtenteils die wahren und einzigen authentischen Kommunisten aus dieser Periode. Sie haben programmatisch (trotz der gängigen, von der revisionistischen Geschichtsschreibung aufgezwungenen Terminologie) nichts mit denen gemeinsam, gegen die sie sich in Wirklichkeit während ihres gesamten Kampfes ständig gewehrt haben.

Die Tatsache, dass Lenin (und hinter ihm andere rot angemalte Sozialdemokraten, die „kommunistische“ Rhetorik verwendeten) darauf beharrte, die Praxis der Kommunistinnen und Kommunisten als „Kinderkrankheit“ und die Kommunistinnen und Kommunisten selbst als „Anarchistinnen und Anarchisten“, „Linke“, „Anti-Parteien“ usw. zu denunzieren, ist nur ein Beweis für die zunehmende und klarere Unterscheidung zwischen der konterrevolutionären Politik der Bolschewiki und den revolutionären Ausdrucksformen, die weiterhin gegen die Strömung des Zentrismus kämpften.

Die Definition des Begriffs „Kommunist“ wird, wie Marx sagte, nicht durch das bestimmt, was ein Militanter über sich selbst sagt, sondern durch das, was er tut, d. h. also durch seine tatsächliche kommunistische Aktion in Bezug auf historische Perspektiven.

Es gibt keinen Kommunismus der „Linken“, genauso wenig wie es einen Kommunismus der „Rechten“ oder der „Mitte“ gibt. Der Kommunismus definiert sich in und durch die revolutionäre Praxis von Männern und Frauen, die für die Zerstörung des Staates kämpfen und sich somit auf den Standpunkt der Zerstörung der Armee, der Nationen, der kapitalistischen Verwaltungsorgane, des Kapitals und der Arbeit usw. stellen.

Es ist nicht ohne Grund, dass die Linke der Sozialdemokratie so hartnäckig diejenigen als „infantil“ und „krank“ denunziert hat, die sich ihrer Politik des Wiederaufbaus und der Verwaltung des Staates widersetzten, die den revolutionären Krieg gegen Friedensabkommen mit der Bourgeoisie befürworteten, die gegen Entrismus in den Gewerkschaften/Syndikate und gegen revolutionären Parlamentarismus kämpften. Die Sozialdemokraten – und wir sprechen hier in historischen und nicht formalen Begriffen, in Begriffen von Kräften, die über ihre Bezeichnung hinaus praktisch die Reform der Welt übernehmen! – beabsichtigten sich den Titel „Kommunist“ (ohne weitere Bezeichnung) anzueignen, weil dies zu einem Zeitpunkt, als die Revolution auf der Tagesordnung stand, der beste Weg war, sich vor all jenen zu schützen, die ihre Praxis des Staatsumbaus als konterrevolutionäre Praxis anprangern würden.

Und da sie den revolutionären Charakter der Aktionen derjenigen, die sich ihnen widersetzten, nicht leugnen konnten, schrieben sie kommunistischen Militanten das Adjektiv „links“ zu, um sie als „krank“ und „infantil“ zu bezeichnen sowie um auf einer politischen Linie zu bleiben, auf der kein qualitativer Bruch zu erkennen ist, nicht einmal in der Terminologie.

Wenn wir manchmal Pleonasmen wie „revolutionäre Kommunisten“, „internationalistische Kommunisten“ oder sogar die Verzerrung „Linkskommunismus“ verwenden, obwohl wir die Terminologie unserer Feinde nicht akzeptieren, dann nur deshalb, weil das Gewicht der von Stalinisten und anderen rechten oder linken Bourgeois umgeschriebenen Geschichte wie alle Ideologien eine Kraft ist, die sich im Laufe der Jahrzehnte der Konterrevolution materialisiert hat. Wir müssen zu solchen sprachlichen Tricks greifen, um uns von all jenen zu unterscheiden – und das sind viele! – die in der Tat unsere Flaggen, Banner und Mottos gewaltsam geplündert haben.

Um es klar zu sagen: Es versteht sich von selbst, dass unsere programmatischen historischen Referenzen bei allen Militanten, Gruppen, Organisationen und Strukturen zu finden sind, die mit größter Entschlossenheit die Brüche mit der gesamten Ideologie und Praxis der Sozialdemokratie, einschließlich ihrer „Extreme“, vorangetrieben haben. Ob diese Brüche nun „kommunistische Linke“ oder „revolutionärer Anarchismus“ oder was auch immer heißen mögen … Aber wir lieben den Kommunismus als Projekt, als Bewegung, als Dynamik, als totale Subversion dieser Welt und des Bestehenden, als menschliche Gemeinschaft … zu sehr, um uns auf irgendeine „Linke“ zu berufen, die nur ein trauriges und trostloses Spiegelbild davon ist.

Um auf die „konkreteren“ Aspekte der Frage zurückzukommen, sagen wir klar und deutlich, dass keine Organisation, die offen zu einer der ideologischen Familien gehört, die zwar keine echten Internationalisten (in dem Sinne, wie wir es verstehen!) sind, sich aber dennoch auf internationaler Ebene organisieren und de facto „Internationalisten“ darstellen, den Kampf des Proletariats einrahmen wollen (sei es die besagte „kommunistische“ oder „marxistische“ Familie oder auch die „anarchistische“), nicht eingeladen wurden: Weder die CCI1 (Courant Communiste International), noch die TCI2 (Tendance Communiste Internationaliste), noch all ihre Ableger, noch die verschiedenen PCInt3 (Parti Communiste International), noch die IAA4 (Association Internationale des Travailleurs), noch die IFA5 (Internationale des Fédérations anarchistes), ad nauseam….

Für uns ging es nicht um Sektierertum, sondern darum, Kriterien festzulegen, um eine konstruktive Diskussion zu ermöglichen und Fortschritte bei der Aufgabe zu machen, den revolutionären Defätismus zu fördern und seine Entwicklung als Teil der proletarischen Bewegung zu unterstützen. Wir möchten betonen, dass wir eine echte Diskussion brauchen und nicht nur die Beiträge der anderen anhören, ohne zu einem gemeinsamen Punkt gelangen zu können.

Wir betrachteten die „Aktionswoche„ (bzw. die nichtöffentliche Sitzung des „Antikriegskongresses“ und ursprünglich sogar das internationale Treffen, wie wir es uns vorstellten) nicht als den Tag X, sondern als einen Moment im Prozess der Stärkung, Entwicklung und Konsolidierung der defätistischen revolutionären Gemeinschaft, wobei diese Gemeinschaft nicht erst aufgebaut werden muss, sondern bereits historisch präexistent ist und aus dem fruchtbaren Boden der Klassengesellschaften und der Notwendigkeit, sie abzuschaffen, hervorgeht. Ein Prozess, der den Austausch von Texten und Kritik, Diskussionen, die Organisation konkreter Aktionen, die Kontinuität der Gemeinschaft usw. umfasst, kurzum das genaue Gegenteil von dem, was uns die Linke und extreme Linke des Kapitals auf ihren Konferenzen und Kongressen gewohnt hat… Eine schonungslose Kritik des „Konferenzismus“ ‚ und des „Kongresstums“ ist mehr denn je notwendig und grundlegend…

Was wir uns erhofften (und weiterhin fördern), ist der Aufbau stärkerer Beziehungen im Lager des revolutionären Defätismus und, wenn möglich, das Erreichen eines gewissen Grades an programmatischer Zentralisierung bei gleichzeitiger Beibehaltung einer gewissen Dezentralisierung der Aktionen.

Leider (oder prosaischer hic et nunc!) können wir die „defätistischen“ Praktiken von Gruppen der so genannten „Kommunistischen Linken“ nicht so interpretieren, dass sie dieses Ziel verfolgen.

Basierend auf den Aktivitäten einiger Gruppen haben wir eher den Eindruck, dass ihr Ziel nicht der Aufbau einer echten Kampfgemeinschaft (die programmatisch zentralisiert, aber nicht unbedingt praktisch ist) ist, sondern der Aufbau einer „Partei“, noch dazu einer Massenpartei. Beispielsweise können wir in den Aktivitäten der Kollektive und der Plattform No War but the Class War den Versuch sehen, eine Art „Mindestprogramm“ zu schaffen, dem sich möglichst viele anschließen können, ohne dass es die Partikularismen der verschiedenen Elemente verschärft; insofern können wir darin nichts anderes als Rekrutierungsbüros erkennen. Wir können in diesen Praktiken gewisse Zugeständnisse an diejenigen sehen, die programmatisch nicht klar sind, damit sie ihren Aktivitäten eine Massendimension verleihen können. Wir für unseren Teil wollen genau das Gegenteil tun.

Natürlich haben wir nicht erwartet, dass alle zur „Aktionswoche“ eingeladenen Gruppen auf dem gleichen programmatischen Niveau sind, wir sind uns durchaus bewusst, dass die Kapitalismuskritik einiger Organisationen nicht in gleicher Weise entwickelt und vertieft wird. Aber unsere Hoffnung war, dass sie durch Diskussionen und gemeinsame Praxis ein höheres, dialektischeres und damit radikaleres Niveau des Verständnisses der Realität der auf Ausbeutung basierenden Welt erreichen und damit die Möglichkeit eines gemeinsamen Kampfes eröffnen.

Eine weitere Sache, die wir nicht gutheißen können, ist das Bemühen von Gruppen der so genannten „kommunistischen Linken“, so genannte „theoretische“ Diskussionen den Diskussionen über den tatsächlichen und praktischen Kampf der defätistischen revolutionären Bewegung vorzuziehen. Ihr methodischer Ansatz basiert zweifellos auf der Annahme, dass wir uns zuerst über den Ursprung des Krieges einigen sollten – der für die meisten von ihnen die Dekadenz des Kapitalismus zu sein scheint -, bevor wir irgendetwas anderes diskutieren.

Für uns sollte es keine Trennung zwischen einer sogenannten „theoretischen“ und einer „praktischen“ Diskussion geben. Was uns interessiert, ist in der Tat eine Diskussion darüber, wie man konkret gegen den kapitalistischen Krieg und den kapitalistischen Frieden kämpfen kann, was wir praktisch dagegen tun können. Und im Rahmen einer solchen Diskussion werden notwendigerweise auch theoretische und programmatische Fragen auftauchen und behandelt werden. Kurz gesagt, wir ziehen es vor, von der Praxis zur Theorie zu gehen, während es für alle diese Gruppen genau umgekehrt zu sein scheint.

Das hat die meisten dieser „großen“ Organisationen der sogenannten „kommunistischen Linken“ nicht daran gehindert, sich selbst einzuladen und noch mehr Chaos in das von den „Organisatoren“ hinterlassene Chaos zu bringen, kurz gesagt, der den „Organisatoren“ selbst innewohnenden Desorganisation noch eine ernsthafte Schicht der Desorganisation hinzuzufügen. Wie ein Gefährte, der vor Ort sehr aktiv war, sagte: Ihre Aktivitäten, die Kontrolle zu übernehmen oder zumindest ihre Agenda festzulegen, wurden durch das Chaos, das durch die Desorganisation verursacht wurde, erheblich verstärkt“.

Kurz vor der Aktionswoche, genauer gesagt am 1. Mai, veröffentlichte die TCI einen Blogeintrag, in dem sie ankündigte, dass sie entweder direkt oder über ihre Satellitenstrukturen wie die No War but the Class War-Kollektive nach Prag kommen würde. Darin hieß es unter anderem: „der Aufruf der Prager Aktionswoche im Wesentlichen nicht von den fünf grundlegenden Punkten, die wir von der Initiative „No War but the Class War“ (NWBCW) vertreten. […] Keiner der im Aufruf zur Aktionswoche in Prag benannten Punkte widerspricht den grundlegenden Zielen der NWBCW. In der Tat könnten wir diese fünf Punkte durchaus erweitern, um die acht Punkte von Prag (siehe unten) einzubeziehen“6.7

Einige, die sich selbst als „kommunistische Linke“ bezeichneten, wiesen darauf hin, dass keine der eingeladenen „anarchistischen“ Gruppen den Kriterien entsprach, die in den „acht Punkten“ entwickelt worden waren, während die Gruppen der „kommunistischen Linken“ dies taten. „Die ursprüngliche Einladungsliste enthielt etwa 60 Namen, die meisten von ihnen Anarchisten, Anarchokommunisten, Kommunisten und Schwarze Blöcke, die einem oder mehreren der Kriterien entsprechen konnten. Es fehlten die Namen von linken, italienischen oder deutsch-niederländischen, leninistischen Kommunisten mit internationalistischen Positionen, die alle Kriterien erfüllten.“ Auf diese Art von Argumenten antworten wir, wie wir bereits zuvor per Brief geantwortet hatten, dass zwar „theoretische Positionen“ diesen Kriterien entsprechen können, dass es aber eher die tatsächliche Praxis der Organisationen ist, die sich auf eine ideologische politische Familie berufen (hier im vorliegenden Fall und zur Erinnerung: die besagte „kommunistische Linke“), die sich nicht mit den in dem fraglichen Dokument vorgebrachten Punkten deckt.

Zum Beispiel: Es ist vor allem ihre „Position“ (und ihre tatsächliche Praxis) zu Lenin und den Bolschewiki und ihre gesamte Politik des Wiederaufbaus des Staates und der nationalen Ökonomie in Russland, der Repression von Streiks und proletarischen Kämpfen, die weniger mit dem vierten als vielmehr mit dem siebten Punkt übereinstimmt, nämlich:

  • Diejenigen Individuen und Gruppen, die gegen die Politik der „Verteidigung der nationalen Ökonomie“ und der „Aufopferung für die Kriegsökonomie“ kämpfen, diejenigen, die die Expansionstaktik der eigenen Bourgeoisie nicht akzeptieren, selbst wenn sie einem ökonomischen, politischen oder militärischen Angriff ausgesetzt sind.
  • An alle, die in ihrer Praxis erkennen, dass das Proletariat kein Vaterland zu verteidigen hat. Unser Feind sind nicht die in die Schützengräben getriebenen Proletarier auf der anderen Seite der Front, sondern die Bourgeoisie – in der Praxis vor allem die Bourgeoisie „im eigenen Land“, „unsere eigene“ Bourgeoisie, die unsere Ausbeutung direkt organisiert.

Insgesamt fordern oder befürworten alle Gruppen der so genannten „kommunistischen Linken“ den Vertrag von Brest-Litowsk (der ein echter Dolchstoß in den Rücken der Proletarier sowohl in Russland als auch in Deutschland und Österreich-Ungarn war – ein „Verrat“, wie manche sagen!), was im krassen Gegensatz zu dem steht, was wir unter revolutionärem Defätismus verstehen (in Punkt 6):

  • An alle, die den bourgeoisen Krieg in einen revolutionären Krieg verwandeln wollen, einen Krieg zwischen Staaten in einen Kampf um die Zerstörung aller Staaten.

Um die Frage von Brest-Litowsk und der Abkommen/Beziehungen, die das Proletariat mit seinem Klassenfeind entwickeln/unterhalten könnte, etwas zu vertiefen, sei nur gesagt: Nie und nimmer könnte irgendeine „proletarische Macht“, wie die Bolschewiki sich fälschlicherweise seit Oktober in Russland rühmten, eine solche bleiben, wenn sie Abkommen verhandelt, diskutiert, unterzeichnet, die gegen unsere Klasseninteressen gerichtet sind. Wenn eine „proletarische Macht“ sich mit dem bourgeoisen Staat an den Verhandlungstisch setzt (egal, welche formellen Vertreter ihm gegenüberstehen), dann hat der bourgeoise Staat bereits gewonnen und die „proletarische Macht“ verliert ihre subversive Substanz, wenn sie überhaupt eine solche hat. Wenn der Staat der Kapitalisten mit dem Proletariat „verhandelt“, dann bedeutet das, dass unser Kampf, unsere Offensive bereits sehr stark im Niedergang begriffen ist, dass wir in der Defensive sind, in der Klemme, dass wir bereits verloren haben… Der bourgeoise Staat „verhandelt“ mit uns nur, um uns besser und endgültig zerschlagen zu können…

Und wir wollen hier nicht über andere Meinungsverschiedenheiten sprechen, die wir mit den Gruppen der so genannten „kommunistischen Linken“ haben, wie ihre Beanspruchung (revendication) der Zimmerwald-Konferenz von 1915. Insgesamt ging es bei diesem Treffen von Pazifisten hauptsächlich darum, sich außerhalb der offiziellen Sozialdemokratie zu organisieren, aber nicht gegen sie; dieses Treffen führte zu spektakulären Reden und aufsehenerregenden Erklärungen, aber nicht zu einem wirklichen Bruch mit den Methoden, Praktiken und Programmen der Sozialdemokratie.

Und was die so genannte „Zimmerwalder Linke“ betrifft, so diente die Anwesenheit kommunistischer Militanter in diesem Chaos letztlich nur als radikale Bürgschaft, als Rekrutierungsbüro, um wirklich proletarische Äußerungen wieder in die Spur einer Sozialdemokratie zu bringen, deren Fassade man nur abgewetzt hatte. Kein Wunder also, dass praktisch alle Organisationen der so genannten „kommunistischen Linken“ heute ein „neues Zimmerwald“ machen wollen, das passt perfekt zu ihnen. Schließlich können wir, um Rosa Luxemburg (!!!) zu paraphrasieren, die Aktivitäten dieser „Zimmerwalder Linken“ grundsätzlich so zusammenfassen: „besser ein schlechter Zimmerwald als gar kein Zimmerwald“!

Die bolschewistische Partei und Lenin selbst haben das konterrevolutionäre und pazifistische Programm der Internationale und ihrer verschiedenen Mitgliedsparteien aktiv gefördert. Dies steht im Gegensatz zum fünften Punkt:

  • An alle, die sich nicht als Pazifisten, sondern als Revolutionäre verstehen. An alle, die keinen bourgeoisen Frieden anstreben, in dem die Ausbeutung unserer Arbeitskräfte unter etwas anderen Bedingungen weitergehen kann.

Darüber hinaus verteidigt die besagte „kommunistische Linke“ (mehr oder weniger, je nach den von jeder dieser Organisationen bevorzugten Nuancen) die Position der III. Internationale in der Kolonialfrage. Dies steht auch nicht im Einklang mit dem dritten Punkt:

  • Diejenigen, die nicht eine Fraktion der Bourgeoisie gegen die andere unterstützen, sondern gegen jede von ihnen kämpfen. Diejenigen, die die klassenübergreifenden Fronten nicht verteidigen oder an ihnen teilnehmen.

FASSEN WIR DIE EREIGNISSE IN PRAG KURZ ZUSAMMEN.

Es gab zwei verschiedene Ebenen mit ebenso verschiedenen Inhalten.

Auf der einen Seite gab es die „Aktionswoche“ mit Demonstrationen, Happenings und anderen „Feierlichkeiten“, die im Bereich des Spektakels blieben. Die Grundidee der Organisatoren war es, den revolutionären Defätismus sichtbarer zu machen, mit den kriegsbefürwortenden Anarchistinnen und Anarchisten zu konkurrieren und sich als „Anziehungspunkt für Unentschlossene“ anzubieten. Aber all das erwies sich als Illusion und vor allem als kontraproduktiv angesichts unserer schwachen Kräfte. Wir kritisierten die Organisatoren in diesem Sinne und machten deutlich, dass eine solche Veranstaltung keine Demonstration der Existenz der Antikriegsbewegung, der Bewegung gegen die kapitalistische Ausbeutung im Allgemeinen, sein kann, da diese Bewegung nur in Ansätzen existiert und sich derzeit auf einige verstreute Minderheiten in der ganzen Welt beschränkt. Wir haben auch betont, dass Revolutionäre diese Bewegung auf keinen Fall schaffen können. Sie können (und wollen) dem Proletariat keinerlei Bewusstseinsbildung bringen, denn diese kann nur aus den materiellen Bedingungen, in denen sich das Proletariat befindet, und aus dem Kampf unserer Klasse gegen diese Bedingungen entstehen. Die Aufgabe der Kommunistinnen und Kommunisten ist es, den unveränderlichen Inhalt, den wirklichen unmittelbaren Kampf der Arbeiterklasse gegen die Ausbeutung, der sich hinter den mehr oder weniger klaren Manifestationen des Proletariats verbirgt, zu entdecken, ihn mit anderen Kämpfen in der Gegenwart und in der Vergangenheit zu verbinden und ihn zu verallgemeinern. Wir erinnerten sie auch daran, dass unsere Aufgabe und unser einziges Interesse die potenzielle Stärkung der bereits existierenden defätistischen revolutionären Kräfte ist, die willens und in der Lage sind, sich sowohl programmatisch als auch praktisch dem Krieg zu widersetzen.

Wir haben nicht an diesen Veranstaltungen teilgenommen und haben zu keinem Zeitpunkt (auf unserem Blog, unseren Mailinglisten usw.) dieses Aktivitätsniveau gefördert, im Gegenteil, wir haben es kritisiert (leider allzu oft „privat“!). Gleichzeitig waren wir nicht stark genug, um den Organisatoren unsere Meinung aufzuzwingen und sie davon zu überzeugen, diese mehr als anekdotischen Veranstaltungen nicht zu veranstalten.

Andererseits gab es den „Antikriegskongress“ (oder die Konferenz oder das internationale Treffen), eine Veranstaltung, die wir für äußerst wichtig hielten und die wir öffentlich als Versuch propagierten, unsere defätistischen revolutionären Aktivitäten zu organisieren und zu zentralisieren, unsere bereits und vorab bestehende Kampfgemeinschaft zu stärken, die unter anderem (und soweit es die wenigen Minderheiten betrifft, die sich bereits kennen) auf der Praxis verschiedener Gruppen, auf gemeinsamen Diskussionen und praktischen Aktivitäten beruht. Für uns bestand der Zweck dieses internationalen Treffens wirklich darin, zu versuchen, ein gewisses Maß an Zentralisierung und Formalisierung der bestehenden Praktiken zu erreichen und zu versuchen, sie auf eine bestimmte Materialisierung auszurichten: eine gemeinsame Kampagne gegen den Krieg, wie wir in unserem Beitrag zur Mailingliste spezifiziert haben. Dies ist auch das, was wir in Prag zu entwickeln und zu fördern versucht haben. Die Zukunft wird zeigen, ob unsere Versuche vergeblich waren oder ob sie etwas Nützliches für den proletarischen Widerstand gegen den Krieg und für den sozialen Frieden hervorbringen werden.

In einer sehr brüderlichen Kritik, die wir einige Tage vor der „Aktionswoche“ erhielten, sagten uns Gefährtinnen und Gefährten über unsere Hoffnung, durch diese Aktion „unsere Isolation überwinden“ zu können, folgendes: „Es gibt keine Abkürzungen, es gibt keine magischen Formeln, es ist der unmittelbare Kampf des Proletariats gegen die Ausbeutung, für die Verteidigung seiner materiellen Bedürfnisse und die Entwicklung dieses Kampfes, der die Substanz liefert, die den Organisationsprozess des Proletariats ausmacht und die Aktionen der revolutionären Minderheiten bestimmt. Das Durchbrechen der Isolation – auf allen Ebenen – entwickelt sich nur in diesem Prozess, als Entwicklung des proletarischen Assoziationismus, alles andere gehört in die Welt des Spektakels und dient nur dazu, die verschiedenen Versuche unserer Klasse, sich zu organisieren, abzulenken und zu neutralisieren. Es ist wie der Mythos einiger Strömungen der Vergangenheit, die glaubten, dass der Aufruf zum Generalstreik die Grundlage sei, um die Revolution einzuleiten.

Das ist absolut richtig und wir stimmen dieser Ansicht voll und ganz zu. Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass wir weder eine Anti-Kriegs-Bewegung schaffen noch den Krieg stoppen können. Aber das bedeutet nicht, dass wir tatenlos auf die Entwicklung des Klassenkampfes warten sollten. In dem Maße, wie der Bruch mit den gesellschaftlichen Verhältnissen des Kapitals nur auf Minderheiten beschränkt ist, müssen wir die Elemente organisieren, die durch ihre Praxis den Bruch mit dem Kapital zum Ausdruck bringen, wir müssen unsere Positionen klären, die Lehren aus den gegenwärtigen und vergangenen Kämpfen des Proletariats, wir müssen die Erfahrungen zusammenfassen, die in der Entwicklung der Revolution und der Konterrevolution gesammelt wurden. Wir sind als kämpfende Klasse und Ausdruck dieses Prozesses ein integraler Bestandteil des Proletariats und müssen die realen und praktischen Aufgaben der subversiven Bewegung übernehmen, auch wenn wir wissen, dass die materiellen Folgen unserer Aktivität im Moment vernachlässigbar sind.

Schlussendlich zeigen uns die Ereignisse in Prag (um den Renegaten Lenin umgekehrt zu paraphrasieren), „was (nicht) tun“! Von Anfang an wollten wir kein öffentliches Treffen organisieren, geschweige denn eine Demonstration (um wem was zu beweisen!?), eine Buchmesse und verschiedene damit verbundene Aktivitäten, die unter dem Label „Aktionswoche“ zusammengefasst werden. Was uns wichtig war (und ist), ist die Notwendigkeit, uns zu koordinieren, unsere Aktivitäten mit anderen militanten Strukturen zu zentralisieren, nicht „nur“ gegen den Krieg und den sozialen Frieden, sondern um wirklich am vitalen Prozess, an der elementaren Dynamik der Umwandlung des kapitalistischen Krieges und Friedens in eine weltweite soziale Revolution, in eine Revolution für die Abschaffung der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse, in eine Revolution für den Kommunismus teilzunehmen!!!

Und um dies zu erreichen, bleibt ein nicht-öffentliches internationales Treffen von Gruppen und Strukturen, die sich bereits kennen und gemeinsam handeln, heute eine Notwendigkeit, die wir weiterhin mehr denn je betonen. Ohne Schminke und ohne Werbung, ohne vorherige donnernde Erklärung!!!

ALS POSTSKRIPTUM

Nach diesem riesigen organisatorischen Fiasko war es zu erwarten, und wir haben es erwartet: Die Neo-Torquemadisten haben wieder zugeschlagen, oder besser gesagt geifern, wie man es besser ausdrücken sollte, in diesem Fall durch diese Eiterbeule der Arbeiterklasse, die die unbedeutende kleine paranoide Sekte namens CCI darstellt. Wir können in der Tat den faulen Atem der Lehrmeister riechen, all diese Aasgeier, die nach den Ereignissen in Prag gelacht haben und zum vorletzten Mal kommen, um uns ihre düsteren Ratschläge zuzuflüstern, gemischt mit einigen Phrasen demagogischer Bewunderung, als gute „Bankräuber der Revolution“ (so Bordiga), die sie sind. Und es sind immer noch dieselben Geier, die seit Jahrzehnten über den Leichen der von der Repression massakrierten Proletarier kreisen und kichern: „Sie hätten nicht zu den Waffen greifen sollen“ (Plechanow).

Wenn es sich dabei nur um schäbige, verbitterte Kommentare von als Revolutionäre verkleideten sozialdemokratischen Hyänen handeln würde, könnte man sie ignorieren und mit einer festen Handbewegung an ihren Bestimmungsort zurückschicken: die Mülltonnen der Geschichte. Aber noch einmal, und das seit mehr als vierzig Jahren, wenn der CCI es sich erlaubt, von seinen ideologischen Kanzeln und den Balkonen des politischen Spektakels sein sententiöses Geplapper zu verbreiten, sind es immer die bösartigen Intrigen, die Verleumdungen, die Denunziationen und letztendlich die polizeiliche Version der Geschichte, die triumphieren. Zitieren wir also ein letztes Mal die giftige Galle dieser todbringenden Kapos aus ihren jüngsten Erklärungen zu den Ereignissen in Prag: „Was die Position des offiziellen Komitees zur Sicherheit betrifft, sollten wir auch darauf hinweisen, dass Tridni Valka eine gewisse Kontinuität mit dem Groupe Communiste Internationaliste behauptet, obwohl es in der Vergangenheit einige unausgesprochene Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen gab und die GCI als solche nicht mehr existiert. Aber die GCI war eine Gruppe, die einen sehr gefährlichen und destruktiven Kurs verfolgte – vor allem ein Flirt mit dem Terrorismus [Hervorhebung durch die Redaktion], der eine ernste Gefahr für die gesamte revolutionäre Bewegung darstellte.[8] Dazu gehörte eine Art Tarnkappenstrategie, die Tridni Valka anscheinend übernommen hat und die sicherlich zur Desorganisation der Woche und dem Misstrauen beigetragen hat, das viele der Teilnehmenden ihnen gegenüber entwickelten.“ Amen!

Die CCI kann, wie andere ähnliche Sekten, die Aktivitäten von Revolutionären nur als „Verschwörungen“ verstehen und anprangern. Aber verschwören heißt atmen, wie das Sprichwort sagt, und wir für unseren Teil behaupten laut und deutlich, gegen alle Versuche, unsere Klasse zu fesseln, die internationale Verschwörung des Proletariats! Ja, wir verschwören uns, wie „Dampf und Elektrizität sich gegen den Status quo verschwören“ (wie Marx sagte), wir verschwören uns „wie die Sonne gegen die Dunkelheit“ (idem)… Auf jeden Fall ist es sehr wahrscheinlich, dass die tschechischen (und anderen) Staatssicherheitsdienste sich über diese Art von „Enthüllungen“ und „Informationen“ über die angeblichen Verbindungen unserer Gruppe „zum Terrorismus“ freuen werden. Vielen Dank an die Spitzel des CCI, der sich besser in CCI-B umbenennen sollte, mit einem B für „Bolschewik“, aber vor allem für „Verräterinnen und Verräter“!8 Verdammte VERRÄTERINNEN UND VERRÄTER!!!


1A.d.Ü., Internationale Kommunistische Strömung.

2A.d.Ü., Internationalistische Kommunistische Tendenz.

3A.d.Ü., Internationale Kommunistische Partei.

4A.d.Ü., Internationale ArbeiterInnen-Assoziation.

5A.d.Ü., Internationale der Anarchistischen Föderationen.

6Zur Erinnerung: Die „Acht Punkte“, die erklären, an wen der Prager Appell gerichtet war, können auf dem Blog von Action Week gelesen werden: https: //actionweek.noblogs.org/francais/, sowie auf unserem eigenen Blog: https: //www.autistici.org/tridnivalka/semaine-daction-prague-20-26-mai-2024/.

7A.d.Ü., zitiert von An die InternationalistInnen die an der Prager Aktionswoche teilnehmen.

8A.d.Ü., in der englischen und in der französischen Version werden die Begriffe Betrayer (Verräterin und Verräter) und Balance (Rate) verwendet. Wie entschieden uns für erstere Möglichkeit.

]]> (Edizioni Anarchismo) Der Anarchismus in der Russischen Revolution https://panopticon.blackblogs.org/2024/07/05/edizioni-anarchismo-der-anarchismus-in-der-russischen-revolution/ Fri, 05 Jul 2024 20:23:32 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5921 Continue reading ]]>

L’anarchismo nella rivoluzione russa, veröffentlicht von Edizioni Anarchismo im Jahr 2015, Opuscoli provvisori N. 77, die Übersetzung ist von uns. Mit einer Einleitung von Alfredo Maria Bonanno.


Der Anarchismus in der Russischen Revolution

Einleitende Anmerkung

Für die Lektüre der hier veröffentlichten Texte ist es notwendig, einige Hinweise zu beachten. Paul Avrich war Historiker und als solcher mit einem enormen Wissen über das Problem (Anarchismus in der russischen Revolution) ausgestattet, außerdem war er russischer Muttersprachler. Aber leider war er ein Historiker und nicht mehr.

Die italienische Übersetzung, die viel umfangreicher ist als die hier veröffentlichten Auszüge, wurde 1976 von La Salamandra angefertigt und enthält daher neben anderen, weniger wichtigen Texten auch die Klarstellungen und Kommentare des Historikers. Nicht zu veröffentlichen. Als Beispiel haben wir hier seine (positiven) Überlegungen zu dem von der Sowjetmacht für das Kropotkin-Museum reservierten Bestimmungsort, einer Schule für Kinder, wiedergegeben, eine Wahl, die den alten Anarchisten laut Avrich glücklich gemacht hätte. Und was ist mit dem Konzept der Rekuperation? Und davon, dass man auch nur die geringsten Spuren einer Hartnäckigkeit auslöschen wollte, die 1967, dem Jahr von Avrichs Besuch, offensichtlich immer noch störend war? Nicht ein Wort.

Eine weitere Perle, über die nicht berichtet wurde, ist das Urteil, Bakunins aufständische Entscheidungen in Lyon mit Kropotkins interventionistischen Entscheidungen im Manifest der Sechzehn zu vergleichen. Ein unangemessenes Urteil.

Abgesehen von all dem und den unangebrachten Tiraden, die typisch für diejenigen sind, die sich an etwas erinnern, es aber sorgfältig vermeiden, etwas Neues vorzuschlagen, ist Avrichs Einleitung eine nützliche Lektüre.

Vor kurzem habe ich während einer öffentlichen Debatte unter Gefährtinnen und Gefährten, ich glaube in Mailand, die Notwendigkeit bekräftigt, im passenden Moment zuerst auf autoritäre Kommunisten zu schießen, bevor man vielleicht auf Polizisten schießt. Ich sah eine gewisse Unsicherheit im Publikum. Ich bin sicher, dass dieses Pamphlet auch heute noch eine wichtige Lektüre sein kann.

Triest, 17. Mai 2014 Alfredo M. Bonanno


Einleitung von Paul Avrich

Die Oktoberrevolution

„Die Leidenschaft zu zerstören ist auch eine schöpferische Leidenschaft“. Michail Bakunin, der Vater des russischen Anarchismus, schrieb diese berühmten Worte im Jahr 1842 und von da an sehnten sich seine Jünger nur noch nach einer sozialen Revolution, die das zaristische Regime stürzen und den Beginn eines goldenen Zeitalters ohne jede Regierung markieren würde. Im Februar 1917 schien dieser langgehegte Traum endlich Wirklichkeit zu werden. Als der Aufstand in St. Petersburg ausbrach, der die Monarchie in den Staub stürzte, feierten die Anarchisten ihn als den spontanen Aufstand, den Bakunin fünfundsiebzig Jahre zuvor vorausgesagt hatte. Obwohl sie sich nur wenig an dem Aufstand beteiligten, der im Wesentlichen ein spontanes Phänomen war und weder von einer politischen Gruppe organisiert noch gelenkt wurde, überzeugte sie der völlige Zusammenbruch der Autorität davon, dass das goldene Zeitalter angebrochen war, und sie machten sich daran, die Reste des Staates zu beseitigen und das Land und die Fabriken in die Hände des Volkes zu überführen.

Innerhalb weniger Wochen wurden in St. Petersburg und Moskau anarchistische Föderationen gegründet, um die beiden Hauptstädte in egalitäre Kommunen nach dem Idealbild der Pariser Kommune von 1871 zu verwandeln – eine Episode, die von den Anarchisten zur Legende erklärt wurde. Ihre Parole lautete: „Durch soziale Revolution zur anarchistischen Kommune“ – eine Revolution, die Regierung und Eigentum, Gefängnisse und Kasernen, Geld und Profit abschaffen und eine Gesellschaft ohne Regierung einführen würde, die auf der freiwilligen Zusammenarbeit freier Individuen beruht. „Es lebe die Anarchie! Lasst die Schmarotzer, Herrscher und Priester erzittern – alle Verräter!“ („Vol’nji Kronštadt“, 12. Oktober 1917, S. 4).

Als der Schwung der Revolution zunahm, breitete sich die Bewegung schnell auf andere Dörfer und Städte aus. Fast überall gab es anarchistische Gruppen, die sich in drei Kategorien einteilen ließen: Anarcho-Kommunisten, Anarcho-Syndikalisten und individualistische Anarchisten. Die Anarcho-Kommunisten, die sich von Bakunin und Kropotkin inspirieren ließen, stellten sich eine freie Föderation von Gemeinschaften vor, in der jedes Mitglied nach seinen Bedürfnissen belohnt wurde. Sie stellten das Goldene Zeitalter romantisch als Spiegelbild eines vorindustriellen Russlands dar, das auf landwirtschaftlichen Kommunen und Handwerksgenossenschaften basierte, und wussten nicht, was sie mit der Großindustrie und der bürokratischen Arbeitsorganisation anfangen sollten. Im Zuge der Unruhen nach der Februarrevolution konfiszierten sie eine Reihe von Privathäusern – die wichtigsten waren die Villa von P. P. Durnovo in St. Petersburg und der alte Kaufmannsclub in Moskau (der in Haus der Anarchie umbenannt wurde) – und machten sie zum Sitz der egalitären Kommunen. Die Anarcho-Syndikalisten hingegen setzten ihre Hoffnungen auf die Fabrikkomitees, die in der frühen revolutionären Periode entstanden waren, als Keimzellen der zukünftigen libertären Gesellschaft. Die Aussicht auf eine neue, auf industrieller Produktion basierende Welt war für sie keineswegs abstoßend. Im Gegenteil, manchmal zeigten sie eine fast futuristisch anmutende Hingabe an den Kult der Maschine. Sie bewunderten den technologischen Fortschritt nach westlichem Vorbild und standen damit im Gegensatz zur slawophilen Nostalgie der Anarcho-Kommunisten für eine unwiederbringliche Welt, die es vielleicht nie gegeben hat. Die Syndikalisten hielten jedoch nicht an einem unkritischen Kult der Massenproduktion fest. Tief beeinflusst von Bakunin und Kropotkin erkannten sie die Gefahr, dass der Mensch in den Rädchen und Hebeln einer zentralisierten Industriemaschine gefangen ist. Auch sie suchten nach einem Ausweg in der Vergangenheit, in einer dezentralisierten Gesellschaft, die auf einer Organisation der Arbeit basierte, in der die Arbeiter wirklich Herr über ihr eigenes Schicksal sein konnten. Das unmittelbare Ziel der Syndikalisten war die Einführung einer umfassenden Arbeiterkontrolle über die Produktion, was bedeutete, dass Fabrikkomitees in Fragen wie Einstellung und Entlassung, Festlegung von Vorschriften, Löhnen, Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen mitbestimmen sollten. Bis zum Herbst 1917 hatte sich in den meisten russischen Fabriken eine Form der Arbeiterkontrolle durchgesetzt, und in einigen Fällen gingen die Fabrikkomitees sogar so weit, dass sie die Bosse, Abteilungsleiter und Techniker selbst auswiesen und versuchten, die Fabriken selbst zu verwalten, indem sie Delegationen auf der Suche nach Brennstoffen, Rohstoffen und finanzieller Unterstützung zu Arbeiterkomitees in anderen Fabriken schickten. Allerdings hatte die Arbeiterkontrolle, zumindest in ihren extremsten Formen, ausgesprochen negative Auswirkungen auf die Produktion. Die Arbeiter mussten nicht nur gegen ein kaputtes Transportsystem und einen ernsthaften Mangel an Treibstoff und Rohstoffen ankämpfen, um den Betrieb aufrechtzuerhalten, sondern konnten mit ihren unzureichenden technischen und administrativen Kenntnissen kaum die Probleme beheben, die durch die Vertreibung der Ingenieure und Manager aus den Fabriken entstanden waren. Die anarchistische Anführerin Emma Goldman machte in diesem Zusammenhang eine aufschlussreiche Aussage: Eine große Fabrik in Petersburg sei während des Bürgerkriegs nur deshalb funktionsfähig geblieben, „weil der alte Besitzer und der Manager selbst in der Verantwortung geblieben waren“. (Living My Life, New York 1931, Bd. II, S. 791).

Mit ihrem Slogan „Arbeiterkontrolle“ übten die Syndikalisten jedoch schließlich einen Einfluss auf die Arbeiterbewegung aus, der proportional weit größer war als ihre zahlenmäßige Größe. Besonders erfolgreich waren sie bei den Bäckern, Bergarbeitern, Schiffern und Postarbeitern und spielten eine wichtige Rolle auf der nationalen Konferenz der Fabrikkomitees, die am Vorabend der Oktoberrevolution in Petersburg tagte. Da sie jedoch eine zentralisierte Parteiorganisation ablehnten, waren sie nie in der Lage, die Führung der Arbeiterbewegung in großem Umfang zu übernehmen. Dies wurde schließlich den Bolschewiki überlassen, die nicht nur über eine ordentliche Parteiorganisation verfügten, sondern, was den Syndikalisten fehlte, bewusst nach der Macht strebten und das Bündnis der Industriearbeiter in Fabrikkomitees und Gewerkschaften/Syndikaten suchten.

Die individualistischen Anarchisten lehnten sowohl die Landkommunen der Anarcho-Kommunisten als auch die Arbeiterorganisationen der Syndikalisten ab. Sie glaubten, dass nur Individuen, die keiner Organisation unterworfen sind, frei von Zwang und autoritärer Herrschaft sind und somit den anarchistischen Idealen treu bleiben können. In den Fußstapfen von Nietzsche und Max Stirner erhoben sie das Ego über alle kollektiven Ansprüche und legten in einigen Fällen einen ausgesprochen aristokratischen Handlungs- und Denkstil an den Tag. Die individualistischen Anarchisten hatten eine kleine Schar von Anhängern, die sich aus bohèmehaften Künstlern und Intellektuellen und gelegentlich aus einsamen Banditen zusammensetzten, die ihre soziale Entfremdung in Gewalt und Verbrechen ausdrückten und für die der Tod die ultimative Form der Selbstbehauptung war, der letzte Weg, um dem unterdrückenden Gefüge der organisierten Gesellschaft zu entkommen. Im Gegensatz dazu predigten hier und da Gruppen von Tolstojanern das christliche Evangelium der Gewaltlosigkeit – man sagte ihnen sogar nach, dass sie sich weigerten, die Läuse zu töten, die sie sich aus ihren Bärten zogen – und obwohl sie nur wenig Verbindung zu den revolutionären Anarchisten hatten, war ihr moralischer Einfluss auf die Bewegung beträchtlich.

Obwohl sie keine sehr große Anhängerschaft hatten, war der Einfluss der Anarchisten in der Revolution und im Bürgerkrieg unverhältnismäßig groß im Vergleich zu ihrer zahlenmäßigen Größe. Aus den lückenhaften Daten, die zur Verfügung stehen – Anarchisten verteilten natürlich keine „Parteibücher“ und mieden im Allgemeinen jeden formellen Organisationsapparat – geht hervor, dass es in der Blütezeit der Bewegung etwa 10.000 anarchistische Aktivisten in Russland gab, nicht mitgezählt die Tolstojaner, die Machno-Bauernbewegung in der Ukraine und die mehreren tausend Sympathisanten, die regelmäßig anarchistische Literatur lasen und die Aktivitäten der Bewegung aufmerksam verfolgten, ohne sich direkt daran zu beteiligen.

Anarchisten und Bolschewiki

Für alle anarchistischen Gruppen endeten die großen Hoffnungen, die die Februarrevolution geweckt hatte, mit einer bitteren Enttäuschung. Die Monarchie war zwar gestürzt worden, aber der Staat war stehen geblieben. Was war im Februar passiert, fragte sich eine anarchistische Zeitung in Rostow am Don? „Nichts Besonderes. Anstelle von Nikolaus dem Blutigen kam Kerenski der Blutige auf den Thron“. Die Anarchisten konnten nicht ruhen, bis die provisorische Regierung wie ihre zaristische Vorgängerin hinweggefegt war. Schon bald machten sie gemeinsame Sache mit ihren ideologischen Gegnern, den Bolschewiki, der einzigen anderen radikalen Gruppe in Russland, die für die sofortige Zerstörung des bourgeoisen Staates eintrat.

Die seit langem bestehende tiefe Feindschaft der Anarchisten gegenüber Lenin löste sich noch vor Ende 1917 auf. Beeindruckt von einer Reihe ultraradikaler Äußerungen, die Lenin nach seiner Rückkehr nach Russland machte, glaubten einige Anarchisten, dass der bolschewistische Führer das enge Gewand des Marxismus abgelegt hatte und eine revolutionäre Theorie vertrat, die ihrer eigenen ähnelte. Lenins „Aprilthesen“ zum Beispiel enthielten eine Reihe von ikonoklastischen Thesen, auf die sich anarchistisches Gedankengut schon lange bezog: die Umwandlung des „imperialistischen Raubkriegs“ in einen revolutionären Kampf gegen die kapitalistische Ordnung; der Verzicht auf eine parlamentarische Regierung zugunsten eines Sowjetregimes nach dem Vorbild der Pariser Kommune; die Abschaffung von Polizei, Armee und Bürokratie; die Angleichung der Einkommen. (Siehe V. I. Lenin, Socinenia [Opere complete], in 55 volumi, V edizione, Mosca 1958-1965, vol. XXXI, pp. 103-112).

Obwohl Lenins Wunsch, die Macht zu ergreifen, für einige ein Grund zum Zögern war, hielten nicht wenige Anarchisten seine Ideen für ausreichend übereinstimmend mit ihren eigenen, um als Grundlage für eine Zusammenarbeit zu dienen. Wenn sie noch einen Verdacht hegten, wurde dieser vorerst beiseite geschoben. Lenins Aufruf zu „einer Spaltung und einer Revolution, die tausendmal mächtiger ist als die vom Februar“ (ib., XXXII, S. 441), klang eindeutig bakuninistisch und war genau das, was die meisten Anarchisten hören wollten. Einer der anarchistischen Anführer in Petersburg war sogar davon überzeugt, dass Lenin beabsichtigte, Anarchie zu schaffen, indem er den Staat „wegfegt“, sobald er ihn in Besitz genommen hat. (Siehe B. D. Wolfe, Introduzione a I dieci giorni che sconvolsero il mondo, di J. Reed, New York, 1960, p. XXXI).

So kam es, dass in den acht Monaten zwischen den beiden Revolutionen von 1917 die Anarchisten und die Bolschewiki ihre Bemühungen auf dasselbe Ziel richteten, nämlich die Zerstörung der provisorischen Regierung. Obwohl beide Seiten immer noch mit einer gewissen Vorsicht agierten, stellte ein bekannter Anarchist fest, dass es in Bezug auf die wichtigsten Probleme eine „perfekte Parallelität“ zwischen den beiden Gruppen gab. (Volin, La rivoluzione sconosciuta, tr. it., Edizioni Franchini, Carrara 1976). Ihre Slogans – „Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der provisorischen Regierung! Kontrolle der Fabriken an die Arbeiter! Land an die Bauern!“ – waren oft identisch und das gemeinsame Ziel trug sogar dazu bei, dass sich zwischen den beiden ewigen Antagonisten eine gewisse Kameradschaft entwickelte. Als ein marxistischer Redner vor einem Publikum von Arbeitern in Petersburg sagte, dass die Anarchisten die Solidarität der Arbeiterklasse in Russland zerstörten, rief einer der Zuhörer in einem wütenden Ton: „Es reicht! Die Anarchisten sind unsere Freunde!“ Eine zweite Stimme hörte man jedoch murmeln: „Gott schütze uns vor solchen Freunden!“ (Vgl. „Novaia Zhizn“, 15. November 1917, S. 1).

Obwohl sich Anarchisten und Bolschewiki in ihrer Entschlossenheit, die provisorische Regierung zu stürzen, einig waren, kam es zwischen ihnen zu Meinungsverschiedenheiten über den Zeitpunkt. Im Frühjahr und Sommer 1917 drängten die anarcho-kommunistischen Militanten in der Hauptstadt und in Kronstadt auf einen sofortigen Aufstand, während das bolschewistische Komitee in Petersburg argumentierte, dass die Zeit noch nicht reif sei und dass ein undisziplinierter Aufstand der anarchistischen und bolschewistischen Basis leicht niedergeschlagen werden könnte und damit der Partei und der Revolution irreparablen Schaden zufügen würde. Die Anarcho-Kommunisten wollten jedoch von keiner politischen Gruppierung, auch nicht von den Bolschewiki, etwas von Hinhaltetaktik hören. In ihrer Vorfreude auf das Goldene Zeitalter verfolgten sie das Projekt eines bewaffneten Aufstandes. Die Agitatoren forderten ihren Zuhörern auf, sich unverzüglich zu erheben, und versicherten ihnen, dass die Unterstützung politischer Organisationen nicht nötig sei, „weil schon die Februarrevolution ausgebrochen war, ohne dass eine Partei die Führung übernommen hatte“. (L. Trotsky, Storia della rivoluzione russa).

Die Anarchisten brauchten nicht lange zu warten. Am 3. Juli begann eine Menge von Soldaten, Kronstädter Matrosen und Arbeitern einen offenen Aufstand in der Hauptstadt und forderte die Machtübernahme durch den Petersburger Sowjet (obwohl die Anarchisten unter ihnen mehr an der Zerstörung des Staates als an der Übergabe der Macht in die Hände der Sowjets interessiert waren). Der Petersburger Sowjet weigerte sich jedoch, diese verfrühte Rebellion zu unterstützen, und nach ein paar Tagen sporadischer Unruhen wurde der Aufstand niedergeschlagen. Es wäre übertrieben, die Julitage als eine „anarchistische Schöpfung“ zu bezeichnen, wie es ein Redner auf der anarchistischen Konferenz 1918 tat. (Siehe „Burevestnik“, 11. April 1918, S. 2). Andererseits sollte die Rolle der Anarchisten nicht unterschätzt werden. Gemeinsam mit der militanten bolschewistischen Basis und den unabhängigen Radikalen übernahmen sie die Rolle des Provokateurs, der die Soldaten, Matrosen und Arbeiter zu dem zum Scheitern verurteilten Aufstand anstachelte.

Die Revolution

Nach den Julitagen bewahrheiteten sich die Befürchtungen des bolschewistischen Komitees teilweise, da die Parteiführer verhaftet wurden oder untertauchen mussten. Die Bolschewiki waren jedoch weit davon entfernt, vernichtet zu werden. Tatsächlich hatten sie im Oktober immer noch genug Kraft, um den Aufstand gegen das Kerenski-Regime erfolgreich voranzutreiben, an dem sich die Anarchisten erneut aktiv beteiligten. (In dem von den Bolschewiki dominierten revolutionären Militanten Komitee, das den Staatsstreich vom 25. Oktober organisierte, saßen mindestens vier Anarchisten). Ungeachtet der Predigten von Bakunin und Kropotkin gegen politische Putsche beteiligten sich die Anarchisten an der Machtergreifung in dem Glauben, dass diese, einmal erobert, irgendwie verbreitet und beseitigt werden könnte.

Aber es verging noch kein Tag, an dem sie es sich anders überlegten. Als die Bolschewiki am 26. Oktober eine neue „Regierung der Sowjets“ ausriefen und einen zentralen Rat der Volkskommissare (Sovnarkom) schufen, der sich ausschließlich aus Mitgliedern ihrer Partei zusammensetzte, wurden viele Anarchisten an Bakunins und Kropotkins Warnungen erinnert, dass die „Diktatur des Proletariats“ in Wirklichkeit die „Diktatur der sozialdemokratischen Partei“ bedeuten würde. („Svobodnaia Kommuna“, 2. Oktober 1917, S. 2). Sie protestierten sofort mit der Behauptung, dass eine solche Konzentration der politischen Macht die im Februar begonnene soziale Revolution zerstören würde. Der Erfolg der Revolution, so betonten sie, hänge von der Dezentralisierung der politischen und ökonomischen Macht ab. Die Sowjets und Fabrikkomitees sollten dezentralisierte Einheiten bleiben, die nicht der Kontrolle von Parteiführern oder sogenannten Volkskommissaren unterworfen sind. Sollte eine politische Gruppe versuchen, sie zu Zwangsinstrumenten zu machen, musste das Volk bereit sein, wieder zu den Waffen zu greifen.

In anarchistischen Kreisen in Petersburg sprach man bald von einer „dritten und letzten revolutionären Phase“, einem entscheidenden Kampf zwischen „Autorität und Freiheit … zwischen zwei ewig widerstreitenden sozialen Idealen: dem marxistischen und dem anarchistischen“. Die Matrosen in Kronštadt begannen bedrohlich zu murmeln, dass die gleichen Kanonen, die das Winterpalais eingenommen hatten, auch Smolny (den Sitz der bolschewistischen Regierung) einnehmen würden, wenn der Sovnarkom es wagte, die Revolution zu verraten. „Wo die Autorität beginnt, endet die Revolution!“ („Golos Truda“, 4. November 1917, S. 1). Die Anarchisten hatten bald mehr und mehr Grund zur Beschwerde. Am 2. November veröffentlichte die neue Regierung eine Erklärung der Rechte des russischen Volkes, in der das „unveräußerliche Recht jeder Nation, sich selbst zu regieren, indem sie einen unabhängigen Staat errichtet“, festgehalten wurde. Für die Anarchisten bedeutete dies einen Rückschritt, den Verzicht auf ein internationalistisches und staatenloses Ideal.

Im Frühjahr 1918 war eine neue politische Polizei, die Tscheka, geschaffen worden, Land wurde verstaatlicht, Fabrikkomitees wurden der Kontrolle eines Netzwerks staatlicher Gewerkschaften/Syndikate unterstellt – kurzum, es war eine „Kommissarkratie, das Geschwür unserer Zeit“ geschaffen worden, wie die anarcho-kommunistische Vereinigung in Charkow es bissig nannte. („Bezvlastie“, März 1918, S. 1). Einem anarchistischen Pamphlet jener Zeit zufolge hatte die Konzentration der Macht in den Händen des Sovnarkom, der Tscheka und des Vesenkha (Oberster ökonomischer Rat) jeder Hoffnung auf ein freies Russland den Gnadenstoß versetzt: „Tag für Tag, Schritt für Schritt, beweist der Bolschewismus, dass die Staatsmacht unveräußerliche Eigenschaften besitzt; sie mag ihr Gewand, ihre „Theorie“ und ihre Diener wechseln, aber im Kern bleibt sie despotische Macht in neuer Form“. („Velikii opyt“, 1918).

Die Pariser Kommune, die einst als soziales Ideal beschworen wurde, um die provisorische Regierung zu ersetzen, wurde nun die anarchistische Antwort auf Lenins Diktatur. Die Arbeiter wurden aufgefordert, „die Worte, Befehle und Dekrete der Kommissare zurückzuweisen“ und ihre eigenen freiheitlichen Kommunen nach dem Vorbild von 1871 zu gründen. („Burevestnik“, 9. April 1918, S. 2). Gleichzeitig verachteten die Anarchisten den „Parlamentsfetischismus“ der Kadetten, revolutionären Sozialisten und Menschewiki gleichermaßen, und es war kein Zufall, dass ein anarchistischer Matrose aus Kronstadt, Anatoli Zhelezniakov, die Gruppe anführte, die die konstituierende Versammlung im Januar 1918 auflöste und ihre kurze Lebensdauer von nur einem Tag beendete.

Die Flut von Beschimpfungen gegen die Sowjetregierung erreichte im Februar 1918 ihren Höhepunkt, als die Bolschewiki die Friedensverhandlungen mit den Deutschen in Brest-Litowsk wieder aufnahmen. Die Anarchisten schlossen sich den anderen linken „Internationalisten“ – linken revolutionären Sozialisten, menschewistischen Internationalisten und linken Kommunisten – an und protestierten gegen jedes Abkommen mit dem deutschen „Imperialismus“. Lenin argumentierte, dass die Rote Armee zu erschöpft sei, um weiter zu kämpfen, und die Anarchisten entgegneten, dass eine Berufsarmee ohnehin fehl am Platz sei, da die Verteidigung der Revolution nun dem Volk obliege, das in Partisanenkernen organisiert sei. Einer der führenden Vertreter des Anarcho-Kommunismus, Alexandr Ge, sprach sich mit feurigen Worten gegen den Friedensvertrag aus: „Kommunistische Anarchisten verkünden Terror und Partisanenkrieg an zwei Fronten. Es ist besser, für die sozialistische Weltrevolution zu sterben, als durch ein Abkommen mit dem deutschen Imperialismus zu leben“. („Prava“, 25. Februar 1918, S. 2). Die Anarcho-Kommunisten und ihre syndikalistischen Gefährten argumentierten, dass spontan organisierte Guerillabanden in jedem Bezirk die Invasoren stören und demoralisieren würden, bis hin zu ihrer Vernichtung, wie es 1812 mit Napoleons Armee geschehen war. Volin, einer der einflussreichsten Syndikalisten, beschrieb diese Strategie kurz und bündig: „Was ihr tun müsst, ist durchhalten. Widerstand leisten. Gib nicht nach. Führt einen unerbittlichen Partisanenkrieg – hier, dort, überall. Rückt vor. Oder, wenn du dich zurückziehst, zerstöre. Quält, schikaniert und plündert den Feind.“

Doch der Appell der Anarchisten stieß auf taube Ohren. Der Vertrag von Brest-Litowsk, der noch härter war, als Ge und Volin befürchtet hatten, wurde von der bolschewistischen Delegation am 3. März 1918 unterzeichnet. Lenin bestand darauf, dass das Abkommen, so hart es auch war, eine dringend benötigte Atempause gewährte, die es seiner Partei ermöglichen würde, die Revolution zu konsolidieren und später voranzutreiben. Es war wirklich ein „dunkler Frieden“, wie sie ihn in Anlehnung an Lenins Worte nannten. (Bol’shevistkaia diktatura v svete anarkhizma, Paris 1928, S. 10). Als der Vierte Sowjetkongress am 14. März zusammentrat, um den Vertrag zu ratifizieren, stimmten Alexandr Ge und seine Gefährten (es waren vierzehn) alle gegen den Vertrag. („Izvestiia“, 17. März 1918, S. 2).

Der Streit um den Vertrag von Brest-Litowsk beseitigte alle Hemmungen, die aufkeimende Zwietracht zwischen den Anarchisten und der bolschewistischen Partei. Mit dem Sturz der provisorischen Regierung im Oktober 1917 hatte ihre Ehe ihren Zweck erfüllt. Im Frühjahr 1918 war die Enttäuschung über Lenin bei den meisten Anarchisten so groß, dass sie sich zweifellos einen endgültigen Bruch mit ihm wünschten, während die Bolschewiki ihrerseits über die Beseitigung ihrer ehemaligen Verbündeten nachdachten, die ihnen nicht mehr nützlich waren und deren unablässige Kritik das neue Regime nicht dulden konnte. Abgesehen von ihrer lästigen verbalen Aggression stellten die Anarchisten außerdem allmählich eine greifbarere Gefahr dar. Teilweise in Vorbereitung auf einen zukünftigen Guerillakrieg gegen Deutschland, teilweise um feindliche Manöver der sowjetischen Regierung abzuschrecken, organisierten anarchistische Kreise Kerne von „Schwarzen Wachen“ (die schwarze Flagge war das Banner der Anarchisten), die mit Gewehren, Pistolen und Granaten bewaffnet waren. Im April 1918, als die Tscheka eine Kampagne startete, um Moskau und Petersburg von den gefährlichsten anarchistischen Zellen zu befreien, kam es zum offenen Bruch. Die schwerste Aktion fand am 11. April statt, als nachts sechsundzwanzig anarchistische Hauptquartiere in Moskau überfallen wurden, wobei vierzig Anarchisten getötet oder verwundet und mehr als fünfhundert verhaftet wurden. Die Anarchisten protestierten und beschuldigten die Bolschewiki, eine Kaste von individualistischen Intellektuellen zu sein, die Verräter an den Massen und der Revolution seien.

Die politische Macht, so erklärten sie, korrumpiert immer diejenigen, die sie an sich reißen, und betrügt das Volk um seine Freiheit. Doch auch wenn ihnen das goldene Zeitalter entglitt, ließen sich die Anarchisten nicht entmutigen. Sie klammerten sich hartnäckig an den Glauben, dass ihre Vision einer Utopie jenseits des Staates am Ende triumphieren würde. „Lasst uns weiterkämpfen“, verkündeten sie, „und unser Motto wird sein: ‚Die Revolution ist tot! Es lebe die Revolution!’“ (G. P. Maksimov, The Guillotine at Work, Chicago 1940, S. 23).

Der Bürgerkrieg

Als die ersten Schüsse des russischen Bürgerkriegs fielen, standen die Anarchisten wie die anderen linken Oppositionsparteien vor einem schweren Dilemma. Auf welcher Seite sollten sie stehen? Als gute Libertäre waren sie mit der diktatorischen Politik von Lenins Regierung nicht einverstanden. Aber die Aussicht auf einen weißen Sieg schien noch schlimmer. Aktiver Widerstand gegen das Sowjetregime könnte den Ausschlag zugunsten der Konterrevolutionäre geben. Andererseits konnte die Unterstützung der Bolschewiki dazu dienen, ihre Macht so weit zu festigen, dass sie nicht mehr untergraben werden konnten, sobald die Gefahr der Reaktion vorüber war. Die Lösung war nicht einfach. Nach vielen Diskussionen und Grübeleien nahmen die Anarchisten verschiedene Positionen ein, die vom aktiven Widerstand gegen die Bolschewiki über passive Neutralität bis hin zur aktiven Kollaboration reichten. Die Mehrheit jedoch verband ihr Schicksal mit dem des bedrohten Sowjetregimes. Im August 1919, auf dem Höhepunkt des Bürgerkriegs, war Lenin von dem Eifer und dem Mut dieser „Anarchistinnen und Anarchisten der Sowjets“, wie ihre antibolschewistischen Gefährten sie verächtlich nannten, so beeindruckt, dass er sie zu den „treuesten Anhängern der Sowjetmacht“ zählte. (Lenin, Opere complete, vol. XXXIX, p. 161).

Ein besonders bemerkenswerter Fall in dieser Hinsicht war der von Bill Shatov, einem ehemaligen IWW-Agitatoren in den USA, der nach der Februarrevolution in seine Heimat Russland zurückkehrte. Als Offizier der 10. Roten Armee verteidigte Shatov im Herbst 1919 Petersburg mit aller Kraft gegen den Vormarsch von General Judenič. Im folgenden Jahr wurde er nach Čita berufen, wo er Verkehrsminister der fernöstlichen Republik wurde. Vor seiner Abreise versuchte Shatov, seine kollaborative Haltung gegenüber seinen libertären Freunden Emma Goldman und Alexandr Berkman zu rechtfertigen. „Ich will euch nur sagen“, erklärte er, „dass der gegenwärtige kommunistische Staat genau so ist, wie wir Anarchisten ihn immer beschrieben haben – eine stark zentralisierte Macht, die durch die Gefahren der Revolution noch stärker wird. Unter solchen Bedingungen kannst du nicht tun, was du willst. Du kannst nicht einfach auf einen Zug aufspringen und losfahren oder auf Puffern sitzend reisen, wie ich es in den USA getan habe. Du musst um Erlaubnis bitten. Aber glaube nicht, dass ich meine amerikanischen „Glücksfälle“ vermisse. Ich habe mein Leben Russland gewidmet, der Revolution und ihrer glorreichen Zukunft“. Die Anarchisten, so Schatow, waren die „Romantiker der Revolution“, aber man konnte nicht nur mit Idealen kämpfen. Zu dieser Zeit war das Hauptziel, die Reaktionäre zu besiegen. „Wir Anarchisten müssen unseren Idealen treu bleiben, aber in dieser Zeit dürfen wir nicht kritisieren. Wir müssen arbeiten und helfen, etwas aufzubauen.“ (Siehe A. Berkman, The Bolshevik Myth, New York 1925, S. 35-36).

Schatow war einer von vielen Anarchisten, einer regelrechten Armee, die im Bürgerkrieg gegen die Weißen zu den Waffen griffen. Andere nahmen kleinere Posten in der sowjetischen Regierung an und stachelten ihre Gefährten dazu an, dies ebenfalls zu tun oder zumindest von Aktivitäten Abstand zu nehmen, die der bolschewistischen Sache feindlich gegenüberstanden. Iuda Roshchin, ein ehemaliger Terrorist und unerbittlicher Feind der Marxisten, überraschte alle, als er Lenin als eine der größten Persönlichkeiten der Neuzeit begrüßte. Laut Victor Serge versuchte Roshchin sogar, eine „libertäre Theorie der Diktatur des Proletariats“ zu entwerfen. (Victor Serge, Memorie di un rivoluzionario 1901-1904, tr. it., La Nuova Italia, Firenze 1974). 1920 forderte er seine Gefährten in einer Rede vor einer Gruppe Moskauer Anarchisten auf, mit Lenins Partei zusammenzuarbeiten. „Es ist die Pflicht eines jeden Anarchisten“, erklärte er, „in herzlicher Zusammenarbeit mit den Kommunisten zu arbeiten, die die Avantgarde der Revolution sind. Lasst eure Theorien beiseite und leistet einen praktischen Beitrag zum Wiederaufbau Russlands. Es besteht ein großer Bedarf und die Bolschewiki erwarten euch mit offenen Armen“. (Ebd.).

Die Zuhörer, die Roshchin ansprach, waren nicht beeindruckt. Sie begrüßten seine Rede mit Buhrufen und Beschimpfungen und strichen ihn als Verräter der Sache des „sowjetischen Anarchismus“ und als Verräter an der Sache von Bakunin und Kropotkin von der Liste. Selbst in dieser prekären Zeit wollte ein großer und kämpferischer Teil der anarchistischen Bewegung kein Pardon mit den bolschewistischen Gegnern geben. Die anarchistische Föderation von Brjansk zum Beispiel forderte den sofortigen Sturz der „sozialen Vampire“ des Kremls, die das Blut des Volkes aussaugen würden. Als Reaktion auf diesen Aufruf verbündete sich eine Moskauer Terrororganisation, die so genannten „Geheimen Anarchisten“, mit dem linken Flügel der revolutionären Sozialisten und warf eine Bombe in die Zentrale des Kommunistischen Parteikomitees, wobei zwölf seiner Mitglieder getötet und fünfundfünfzig weitere verletzt wurden, darunter auch Bucharin. Im Süden, wo die Autorität des Staates völlig zerbrochen war, fand die anarchistische Gewalt den fruchtbarsten Boden. Überall tauchten bewaffnete Banden von Marodeuren auf, die unter Namen wie „Hurrikan“ und „Tod“ agierten und bei jeder sich bietenden Gelegenheit Städte und Dörfer überfielen. Die Partisanen von Bakunin aus Jekaterinoslaw sangen von einem neuen „Dynamit-Zeitalter“, das Unterdrücker aller Richtungen, ob rot oder weiß, willkommen heißen würde. Und in Charkow verkündete ein Kreis fanatischer Anarcho-Futuristen „Tod der Weltzivilisation!“ und stachelte die Massen dazu an, ihre Äxte zu ergreifen und alles um sie herum zu zerstören.

Friedlichere Anarchisten prangerten diese Gruppen an und nannten sie „sizilianische Banditen“, die die räuberische Natur ihrer Aktivitäten unter dem Deckmantel der Anarchie verbargen. Für die Gemäßigten waren Raubüberfälle und Terrorismus groteske Karikaturen der anarchistischen Doktrin, die nur dazu dienten, die wahren Anhänger der Bewegung zu demoralisieren und den Anarchismus in den Augen der Öffentlichkeit zu diskreditieren. Die gemäßigteren Anarchisten verzichteten auf gewaltsame Aktionen und griffen die sowjetische Diktatur nur mit Feder und Tinte an. Eines der Hauptargumente ihrer Kritik lautete, dass die bolschewistische Revolution nichts anderes getan habe, als den Privatkapitalismus durch einen „Staatskapitalismus“ zu ersetzen, und dass ein Großgrundbesitzer an die Stelle vieler kleiner Kapitalisten getreten sei, so dass die Bauern und Arbeiter nun unter der Fuchtel einer „neuen Klasse von Verwaltern – die hauptsächlich aus der Intelligenzija stammen“ – stünden. Ihrer Meinung nach erinnerte das, was in Russland geschah, stark an frühere Revolutionen, die in Westeuropa ausgebrochen waren: Sobald die Bauern und Handwerker in England und Frankreich den Landadel von der Macht verdrängt hatten, sprang die ehrgeizige Bourgeoisie in die Bresche und errichtete eine neue Klassenstruktur, in der sie sich selbst an die Spitze setzte; nicht anders waren die Privilegien und die Macht, die einst zwischen dem russischen Adel und der Bourgeoisie aufgeteilt waren, in die Hände einer neuen herrschenden Klasse übergegangen, die sich aus Parteifunktionären, Regierungsbürokraten und technischen Spezialisten zusammensetzte.

Als sich der Bürgerkrieg zuspitzte, wurde die Regierung immer weniger tolerant gegenüber Kritik und begann, anarchistische Gruppen in Moskau und Petersburg zu verfolgen. Zeitungen wurden verboten, Vereine und Organisationen gezwungen, ihre Türen zu schließen oder in die Klandestinität zu gehen. Um sich zu rechtfertigen, argumentierten die Regierungssprecher, dass sich das Land in einem tödlichen Kampf befand, bedroht von einer taumelnden ökonomischen Krise und mächtigen Feinden, die von allen Seiten auf die bolschewistische Macht eindrangen und sie stürzen wollten. Das bolschewistische Russland, so betonten sie, war trotz seiner Mängel der erste sozialistische Staat in der Geschichte, das erste Land, in dem Grundbesitzer und Kapitalisten ihrer jahrhundertealten Macht beraubt worden waren. Ein Sieg der Weißen hätte eine Rückkehr zu Ungerechtigkeit und Ausbeutung, zu der sterilen und anachronistischen Politik der Vergangenheit bedeutet; er hätte auch eine neue Diktatur bedeutet, aber eher eine antiproletarische als eine antibourgeoise. Die Bolschewiki hatten nicht die Absicht, Drohungen von irgendeiner Gruppe zu dulden, schon gar nicht von einer, die sich aktiv gegen den Vertrag von Brest-Litowsk ausgesprochen und Abordnungen von „Schwarzen Wachen“ organisiert hatte, die in der Hauptstadt schwere Unruhen auslösen konnten. In der Tat hing das Schicksal der Revolution, wie Trotzki sagte, jeden Tag an einem seidenen Faden.

Die Repressionen gingen also weiter. Infolgedessen begann ein Exodus von Anarchisten in die Ukraine, die schon immer eine Anlaufstelle für diejenigen war, die vor der Verfolgung durch die Zentralregierung flohen. 1918 entstand in der Stadt Charkow eine neue anarchistische Organisation, die Nabat (Alarm) Konföderation, die bald in allen großen Städten des Südens blühende Sektionen hatte. Wie zu erwarten war, standen die Nabat-Anhänger der Sowjetdiktatur äußerst kritisch gegenüber, doch sie waren der Meinung, dass die vordringlichste Aufgabe der anarchistischen Bewegung die Verteidigung der Revolution gegen die weiße Aggression sei, auch wenn dies ein vorübergehendes Bündnis mit den Kommunisten bedeuten könnte. Um die Revolution zu retten, setzten sie ihre Hoffnungen auf eine „Partisanenarmee“, die spontan von den revolutionären Massen selbst organisiert wurde.

Nestor Machno

Die Nabat- Anführer sahen in der Guerillagruppe von Nestor Machno, den seine Anhänger für einen neuen Sten’ka Razin oder Pugačëv hielten, der geschickt wurde, um ihren langjährigen Traum von Land und Freiheit zu verwirklichen, den Kern einer solchen Armee. Machno und seine Männer zogen zu Pferd in leichten Karren (Tachanki), auf denen sie Maschinengewehre montierten, schnell von einem Ende der Steppe zum anderen, zwischen dem Dnepr und dem Asowschen Meer, verwandelten sich unterwegs in eine kleine Armee und verbreiteten Angst und Schrecken in den gegnerischen Reihen. Banden von Guerillas akzeptierten Machnos Kommando und versammelten sich unter seiner schwarzen Flagge. Die Dorfbewohner versorgten sie bereitwillig mit Lebensmitteln und frischen Pferden, so dass die Machnowisten problemlos große Entfernungen zurücklegen konnten. Sie tauchten plötzlich dort auf, wo man sie am wenigsten erwartete, griffen Landbesitzer und Militärgarnisonen an und verschwanden dann so schnell, wie sie gekommen waren. In gestohlenen Uniformen drangen sie in die Reihen der Feinde ein, um deren Pläne zu stehlen oder sie aus nächster Nähe zu erschießen. Wenn sie mit dem Rücken zur Wand standen, vergruben die Machnowisten ihre Waffen, kehrten in ihre Dörfer zurück und nahmen ihre Arbeit auf den Feldern wieder auf, um auf das nächste Signal zu warten, ein weiteres Arsenal auszugraben und an den unerwartetsten Orten aufzutauchen. Victor Serge zufolge bewiesen Machnos Rebellen „eine wahrhaft epische Fähigkeit zur Organisation und zum Kampf“. (Op. cit.). Ein großer Teil ihres Erfolgs war jedoch auf die außergewöhnlichen Fähigkeiten ihres Anführers zurückzuführen. Machno war ein mutiger und einfallsreicher Befehlshaber, der einen eisernen Willen mit einem ausgeprägten Sinn für Humor verband und die Liebe und Ergebenheit seiner bäuerlichen Gefolgsleute gewann. Als er im September 1918 die weitaus zahlreicheren österreichischen Truppen im Dorf Dibrivski besiegte, gaben ihm seine Männer den liebevollen Spitznamen „Batko“, ihr „kleiner Vater“. (P. Aršinov, La rivoluzione anarchica in Ucraina, Tr. it., Sapere Edizioni, Mailand 1972).

Eine Zeit lang blieben die Beziehungen zwischen Machno und den Bolschewiki recht freundschaftlich und die sowjetische Presse pries ihn als „mutigen Partisanen“ und großen Revolutionsanführer. Die beste Zeit war im März 1919, als Machno und die Kommunisten einen Pakt schlossen, um gemeinsam militärisch gegen die Weiße Armee von General Denikin vorzugehen. Doch diese Haltung der guten Harmonie konnte nicht über die grundlegende Feindschaft zwischen den beiden Gruppen hinwegtäuschen. Den Kommunisten gefiel weder der unabhängige Charakter von Machnos aufständischer Armee noch die starke Anziehungskraft, die sie auf ihre Anhänger auf dem Lande ausübte; die Machnowisten ihrerseits befürchteten, dass die Rote Armee früher oder später versuchen würde, die Bewegung wieder in die Schranken zu weisen. Als die Spannungen zunahmen, hörten die sowjetischen Zeitungen auf, die Machnowisten zu loben und beschuldigten sie, Kulaken und „anarchistische Banditen“ zu sein. Im Mai wurden zwei Tscheka-Agenten, die ein Attentat auf Machno verüben sollten, gefangen genommen und hingerichtet. Im folgenden Monat ächtete Trotzki, der Oberbefehlshaber der bolschewistischen Streitkräfte, Machno und kommunistische Truppen führten einen Blitzangriff auf sein Hauptquartier in Gulyai-Polje durch.

Im Sommer wurde das unsichere Bündnis jedoch wiederhergestellt, als Denikins massive Offensive gegen Moskau sowohl die kommunistischen als auch die machnowistischen Kräfte ins Wanken brachte. Am 26. September 1919 startete Machno plötzlich einen erfolgreichen Gegenangriff auf das Dorf Peregonovka in der Nähe der Stadt Uman‘, wodurch der Nachschub für den Weißen General unterbrochen wurde und Unordnung und Panik in seinem Rücken entstand. Dies war die erste große Niederlage, die Denikin während seines dramatischen Vormarsches ins Herz Russlands erlitt, und eine der Hauptursachen, die seine Offensive gegen die bolschewistische Hauptstadt zum Stillstand brachte. Gegen Ende des Jahres zwang eine Gegenoffensive der Roten Armee Denikin zu einem raschen Rückzug an die Küste des Schwarzen Meeres.

Der Machnowismus erreichte in den Monaten nach dem Sieg bei Peregonowka den Höhepunkt seines Ruhms. Im Oktober und November besetzte Machno für mehrere Wochen Jekaterinoslaw und Alexandrowsk und hatte zum ersten Mal die Gelegenheit, die Konzepte der Anarchie auf das Stadtleben anzuwenden, was er bereits auf dem Land mit der Gründung der libertären Kommunen getan hatte. Machno strebte die Zerstörung aller Formen von Herrschaft und die Förderung der Selbstbestimmung im ökonomischen und sozialen Bereich an. Als zum Beispiel die Eisenbahner in Alexandrowsk protestierten, weil sie seit mehreren Wochen nicht bezahlt worden waren, riet er ihnen, die Kontrolle über die Eisenbahnlinien zu übernehmen und den Passagieren und Güterwagen den Tarif aufzuerlegen, der ihnen eine gerechte Entlohnung für ihre Leistung zu sein schien. Utopische Projekte dieser Art hatten jedoch keinen Erfolg, außer bei kleinen Minderheiten von Arbeitern, denn im Gegensatz zu den Bauern und Dorfhandwerkern, unabhängigen Produzenten, die es gewohnt waren, ihre eigenen Unternehmen zu führen, arbeiteten Fabrikarbeiter und Bergleute als voneinander abhängige Teile eines komplexen industriellen Mechanismus und waren ohne die Anleitung von Superintendenten und erfahrenen Technikern verloren. Außerdem konnten Bauern und Handwerker die Produkte ihrer Arbeit tauschen, während das Überleben der Stadtarbeiter von einem regelmäßigen Lohn abhing. Andererseits sorgte Machno für noch mehr Verwirrung, indem er alle von seinen Vorgängern – ukrainischen Nationalisten, Weißen und Bolschewiken – ausgegebenen Papiergelder als gleichwertig anerkannte. Er hat die komplexe Natur der städtischen Ökonomie nie verstanden, und es war ihm auch egal. Er verabscheute das „Gift“ der Städte und liebte vor allem die natürliche Einfachheit der bäuerlichen Umgebung, in der er geboren wurde. Dennoch fand Machno wenig Zeit, um seine ungewissen ökonomischen Pläne zu entwickeln. Er war immer in Bewegung und gönnte sich keine Ruhepause. In den Worten eines Gefährten des Batko war der Machnowismus eine „Republik in Tatschanka…. Wie immer erlaubte die instabile Situation keine endgültige Verpflichtung zur Arbeit“. (Volin, op. cit.).

Ende 1919 erhielt Machno von der Führung der Roten Armee die Anweisung, seine Armee an die polnische Front zu verlegen. Der Befehl zielte offensichtlich darauf ab, die Machnowisten aus ihrem Gebiet zu vertreiben, damit die bolschewistische Regierung dort eingesetzt werden konnte. Machno weigerte sich, sich zu bewegen. Trotzkis Antwort war hart und entschlossen: Er verbot die Machnowisten und schickte seine Truppen gegen sie. Es folgten acht Monate harter Kämpfe, mit schweren Verlusten auf beiden Seiten. Eine schwere Typhusepidemie erhöhte die Zahl der Opfer. Auf eine Minderheit reduziert, vermieden Machnos Partisanen offene Kämpfe und griffen auf die Guerillataktik zurück, die sie in mehr als zwei Jahren Bürgerkrieg perfektioniert hatten.

Die Feindseligkeiten wurden im Oktober 1920 abgebrochen, als Baron Wrangel, Denikins Nachfolger an der Südfront, von der Halbinsel Krim aus eine Großoffensive in Richtung Norden startete.

Erneut nahm die Rote Armee Machnos Hilfe in Anspruch. Im Gegenzug versprachen die Kommunisten allen Anarchisten in russischen Gefängnissen Amnestie und garantierten ihnen Propagandafreiheit, sofern sie nicht den gewaltsamen Umsturz der Sowjetregierung predigten. Nach nicht einmal einem Monat hatte die Rote Armee jedoch genug Gewinne erzielt, um den Sieg im Bürgerkrieg zu erringen, und die Sowjetführung kündigte ihre Vereinbarungen mit Machno. Die Machnowisten hatten nicht nur ihre Funktion als militärische Verbündete erschöpft, sondern solange die Batko frei blieb, würden der Geist des primitiven Anarchismus und die Gefahr einer bäuerlichen Jacquerie das instabile bolschewistische Regime weiterhin bedrohen. So wurden am 25. November 1920 die Kommandeure von Machno auf der Krim, die von ihrem Sieg über Wrangels Armee zurückkehrten, von der Roten Armee gefangen genommen und sofort erschossen. Am nächsten Tag befahl Trotzki den Angriff auf Machnos Hauptquartier in Gulyai-Polje, während die Tscheka gleichzeitig Mitglieder der Konföderation Nabat in Charkow verhaftete und im ganzen Land Razzien gegen anarchistische Zentren und Organisationen durchführte. Während des Angriffs auf Gulyai-Polye wurden die meisten von Machnos Mitstreitern gefangen genommen und inhaftiert oder einfach auf der Stelle getötet. Batko gelang es jedoch, mit den angeschlagenen Überlebenden einer Armee, die einst Zehntausende zählte, seinen Verfolgern zu entkommen. Nachdem er ein ganzes Jahr lang durch die Ukraine gewandert war, überquerte der erschöpfte Partisanenanführer, der unter seinen Wunden litt, den Fluss Dnestr, durchquerte Rumänien und fand schließlich in Paris Unterschlupf.

Repression

Der Fall von Machno bedeutete den Anfang vom Ende für den russischen Anarchismus. Drei Monate später, im Februar 1921, erlitt die Bewegung einen weiteren schweren Schlag, als Pjotr Kropotkin, fast 80 Jahre alt, an Tuberkulose erkrankte und starb. Die Familie Kropotkin lehnte das von Lenin angebotene Staatsbegräbnis ab und ein Komitee von Anarchisten wurde organisiert, um die Zeremonie durchzuführen. Lew Kamenew, der Präsident des Moskauer Sowjets, gewährte einer Gruppe von inhaftierten Anarchisten einen Tag Freiheit, damit sie an der Beerdigung teilnehmen konnten. Zehntausende Anarchisten trotzten dem eisigen Moskauer Winter und zogen zum Nowodewitschi-Kloster, der Grabstätte der Kropotkin-Fürsten. Sie hissten Fahnen und Plakate, auf denen sie die Freilassung aller Anarchisten forderten, und trugen Mottos wie „Es gibt keine Freiheit, wo es Autorität gibt“ und „Die Befreiung der Arbeiterklasse gehört nur den Arbeitern“. Sie skandierten im Chor „Ewiges Gedenken“. Als der Zug am Butyrsky-Gefängnis vorbeikam, rüttelten die Insassen an den Gitterstäben ihrer Zellen und sangen eine anarchistische Hymne zu Ehren der Toten. Emma Goldman hielt eine Ansprache an Kropotkins Grab, Studenten und Arbeiter legten Blumen neben seinem Grab nieder. Das Geburtshaus Kropotkins, eine große Villa im alten Adelsviertel Moskaus, wurde seiner Frau und seinen Gefährten geschenkt, die es in ein Museum umwandelten, in dem seine Bücher, Papiere und persönlichen Gegenstände aufbewahrt werden. Es wurde von einem Komitee anarchistischer Gelehrter geleitet und dank der Beiträge von Freunden und Bewunderern aus der ganzen Welt erhalten. Nach dem Tod von Kropotkins Witwe im Jahr 1938 wurde das Museum geschlossen. Im Jahr 1967 besuchte der Autor das Gebäude und entdeckte, dass es für einen Zweck genutzt wurde, den Kropotkin selbst gutgeheißen hätte: Es wurde als Schule für die Kinder von Beamten der britischen und amerikanischen Botschaften genutzt, mit einem Spielplatz im Garten und einem Innenraum voller Kinderbücher und deren Kunstwerke.

Bei Kropotkins Beerdigung wehte die Fahne der Anarchie zum letzten Mal durch die Straßen von Moskau. Zwei Wochen später brach der Aufstand in Kronštadt aus und eine neue Welle politischer Verhaftungen wurde im Land ausgelöst. Buchläden, Druckereien und anarchistische Zentren wurden geschlossen und die wenigen Kreise zerstört. Sogar Tolstois pazifistische Anhänger – von denen einige während des Bürgerkriegs erschossen worden waren, weil sie sich geweigert hatten, in der Roten Armee zu dienen – wurden inhaftiert oder verbannt. In Moskau wurde eine Gruppe bekannter „Anarchisten der Sowjets“, die so genannten „Universalisten“, unter fadenscheinigen Anschuldigungen wie „Banditentum und klandestine Aktivitäten“ verhaftet und ihre Organisation durch eine neue Gruppe, die so genannten „biokosmistischen Anarchisten“, ersetzt, die versprachen, die Sowjetregierung entschieden zu unterstützen, und feierlich ihre Absicht bekundeten, eine soziale Revolution „im interplanetarischen Raum, aber nicht auf sowjetischem Territorium“ durchzuführen. (Maksimov, op. cit., S. 362).

Die Repression ging in den folgenden Monaten unvermindert weiter. Im September 1921 ließ die Tscheka zwei bekannte Anarchisten – Fanja Baron und Lev Černyj, den Dichter – ohne Gerichtsverfahren und ohne formelle Anklage hinrichten. Emma Goldman war darüber so empört, dass sie daran dachte, eine theatralische Geste nach dem Vorbild der englischen Suffragetten zu machen, indem sie sich im Atrium des Saals, in dem der dritte Kongress der Komintern tagte, an eine Bank kettete und den Delegierten ihre Empörung ins Gesicht brüllte. Ihre Freunde rieten ihr davon ab, aber kurz darauf beschlossen sie und Alexandr Berkman, die vom Weg der Revolution zutiefst desillusioniert waren, das Land zu verlassen. „Dies sind graue Tage“, schrieb Berkman in ihr Tagebuch, „nach und nach ist jede Spur von Hoffnung verblasst. Terror und Despotismus haben das Leben, das im Oktober geboren wurde, vernichtet. Die Slogans der Revolution sind verraten worden, ihre Ideale im Blut des Volkes erstickt. Die Diktatur trampelt auf den Massen herum. Die Revolution ist tot; ihr Geist schreit in der Wildnis…. Ich habe beschlossen, Russland zu verlassen“.

Fazit

Fünfzig Jahre sind seit der Unterdrückung der russischen Anarchisten vergangen, und aus historischer Sicht erscheint die Rolle, die sie in der Revolution von 1917 spielten, rätselhafter denn je. Wenn man die Schriften aus der Revolutionszeit liest, ist man immer wieder erstaunt über die Schärfe ihrer Kritik am autoritären Sozialismus, den prophetischen Charakter ihrer Warnung vor der Gefahr einer zentralisierten Macht und die Relevanz ihrer Ideen für die Gegenwart. Mit ihrem Ideal einer dezentralisierten Gesellschaft und ihrem Programm der direkten Aktion haben die Anarchisten einen nachhaltigen Einfluss ausgeübt. Mit ihrer Kritik an der „neuen Klasse“, ihrem glühenden Antimilitarismus, ihrem Kampf für die Befreiung der Frau, der Gründung „freier Universitäten“ und ihrem ökologischen Anliegen eines Gleichgewichts zwischen Stadt und Land, zwischen Mensch und Natur, ganz zu schweigen von ihrem bombastischen Terrorismus und ihrem verächtlichen Verhalten vor Gericht, erscheinen sie auch heute noch erstaunlich aktuell. Das erklärt auch das erneute Interesse am Anarchismus in den letzten Jahren, vor allem unter jungen Menschen. Die Vitalität des anarchistischen Ideals ist heute deutlicher als je zuvor. Für eine wachsende Zahl junger Rebellen stellt der libertäre Sozialismus eine Alternative zum gescheiterten autoritären Sozialismus dar, insbesondere zu dem, der sich in Russland unter der kommunistischen Herrschaft entwickelt hat. Der Traum von einer dezentralisierten Gesellschaft mit autonomen Gemeinden und Gewerkschafts- und Syndikatsverbänden zieht immer mehr Menschen an, die einer zentralisierten, konformistischen und künstlichen Welt entfliehen wollen. Kein Wunder also, dass bei Demonstrationen an Universitäten in Berkeley und Paris hin und wieder die schwarze Flagge entrollt wird.

Die Betonung des Natürlichen, Spontanen und Nicht-Systemischen, der Wunsch nach einem einfacheren und gerechteren Leben, das Misstrauen gegenüber Bürokratie und zentraler Macht und die Überzeugung, dass die gesellschaftliche Emanzipation mit freiheitlichen und nicht mit autoritären Methoden erreicht werden muss – all das ist das Ergebnis der Erfahrungen der Anarchisten in der russischen Revolution. Denn Sozialismus ohne Freiheit ist, wie sowohl Proudhon als auch Bakunin feststellten, die schlimmste Form der Tyrannei. Das war vielleicht die wichtigste Lektion der Revolution.


Atheismus

Erhebt euch!

Erhebt euch! Erhebt euch, Leute! Ruft mit mächtiger Stimme: Genug! Ich will kein Automat sein. Keine Despoten und Parasiten mehr. Ich bin ein Mensch! Ich will leben und mein eigenes Leben gestalten. Ich habe das Recht zu leben und glücklich zu sein. Ich will, dass mein Glück auch das Glück der anderen ist. Ich will nicht länger ein Spielball in den Händen von despotischen himmlischen oder irdischen Göttern sein. In diesem Moment, in dieser Stunde, nehme ich mein Schicksal selbst in die Hand und lehne jede weitere Berufung auf sichtbare oder unsichtbare Gottheiten ab. Ihr unsichtbaren Himmelsgötter! Ihr nennt euch selbst Götter der Gerechtigkeit. Aber wo ist eure Gerechtigkeit? Ihr nennt euch Götter der Wahrheit. Aber wo ist eure Wahrheit? Ihr behauptet, dass ihr die Bösen bestraft. Aber was ist eure Bestrafung? Ihr seid omnipotent. Aber wo ist eure Macht? Du hast die Gabe der Allgegenwärtigkeit. Aber wo bist du dann? Ihr seid allwissende Götter – ihr wusstet von diesen Verbrechen und habt sie zugelassen. Und jetzt, wo die Menschen zu Tausenden umkommen und die ganze Welt in Blut ertrinkt, versagt ihr, die allmächtigen Götter, diesem dramatischen Albtraum der Menschheit ein Ende zu setzen. Ihr habt die Gabe der Allgegenwärtigkeit – und ihr starrt schweigend auf das Meer der Tränen und die Flüsse des Blutes. Ihr habt nicht einen Funken Mitgefühl für die Menschen, die ihr geschaffen habt. Ihr segnet diese Orgie der tierischen Leidenschaften. Ihr lebt vom Blut. Ihr lebt vom Tod. Ihr freut euch über das Unglück der Menschen. Ihr seid Götter nicht des Lebens, sondern des Todes, nicht des Glücks, sondern des Elends, nicht der Freiheit, sondern der Unterdrückung. Ihr seid Despoten, Verbrecher, Tyrannen. Blutdürstige Götter. Eure göttlichen Machenschaften offenbaren sich in diesen törichten Wünschen: – Ich will – also schaffe ich. Ich will – also nehme ich. Ich will – für mich allein. Ich will – damit er im Nebel bleibt.

Erhebt euch! Steht auf, Leute! Verscheucht den Albtraum, der euch umgibt. Ergreift die Stimme der Wahrheit. Macht Schluss mit den törichten Begierden der irdischen und himmlischen Götter. Sagt: „Genug, ich bin aufgestanden!“ Und du wirst frei sein.

[Selitsky, „Prosnis“, in „Vol’nyi Kronštadt“, 12. Oktober 1917, S. 2].  

Atheistisches Manifest

Es ist schwer zu sagen, wann das menschliche Denken zum ersten Mal die Existenz Gottes erkannt hat. Aber nachdem er sie erkannt hatte, lehnte er sie ab. Wahrscheinlich folgte die Ablehnung Gottes unmittelbar auf seine Vorstellung, auf die erste Erkenntnis seiner Existenz. Auf jeden Fall ist sie sehr alt, und die Saat des Unglaubens geht schon sehr früh in der Menschheitsgeschichte auf. Viele Jahrhunderte lang wurden diese bescheidenen Triebe des Atheismus jedoch von der giftigen Brennnessel des Theismus erstickt. Aber das Bedürfnis und die Vorstellung von Freiheit im menschlichen Denken sind zu stark, um sich nicht durchzusetzen. Und tatsächlich haben sie sich durchgesetzt. Unter ihrem Druck erweiterten alle Religionen ihren Horizont, gaben allmählich an allen Fronten nach und verwarfen, was noch eine Generation zuvor unverzichtbar schien. Im Kampf um das eigene Überleben ist die Religion viele Kompromisse eingegangen, hat Absurditäten akkumuliert und das Unvereinbare miteinander kombiniert.

Die naiven Legenden über den Ursprung der Erde, Legenden, die von einem Hirtenvolk zu Beginn des Lebens geschaffen wurden, wurden aufgegeben und in die Mythologie der „heiligen Texte“ verbannt. Unter dem Druck der Wissenschaft lehnte die Religion den Teufel und die Inkarnation der Gottheit ab. Gott offenbarte sich uns nun als Vernunft, Gerechtigkeit, Liebe, Frieden usw. Da es unmöglich war, den Inhalt der Religion zu retten, bewahrten die Menschen ihre Form, wohl wissend, dass sie jeden Inhalt, der ihr aufgezwungen wurde, formen würde.

Der sogenannte Fortschritt der Religion ist nichts anderes als eine Reihe von Zugeständnissen, um den Willen, das Denken und das Fühlen zu emanzipieren. Ohne ihre hartnäckigen Angriffe hätte die Religion noch heute ihren ursprünglichen, rohen und naiven Charakter. Das Denken hat jedoch andere Siege errungen. Sie zwang die Religion nicht nur auf den Weg des Progressivismus, oder genauer gesagt, sie zwang sie zu neuen Formen, sondern machte einen eigenständigen kreativen Schritt, indem sie sich immer mutiger auf einen offenen, militanten Atheismus zubewegte.

Und unserer ist ein militanter Atheismus. Wir glauben, dass es an der Zeit ist, offen und rücksichtslos gegen alle religiösen Dogmen zu kämpfen, egal welche Konfession sie haben und welches philosophische System sich hinter ihrem religiösen Kern verbirgt. Wir werden jeden Versuch bekämpfen, die Religion zu reformieren oder anachronistische Konzepte aus der Vergangenheit in das geistige Gepäck der heutigen Menschheit zu schmuggeln. Für uns sind alle Götter gleichermaßen abstoßend, blutrünstig oder menschlich, neidisch oder gütig, rachsüchtig oder vergebend. Entscheidend ist nicht, was für Götter sie sind, sondern die Tatsache, dass sie Götter sind – also unsere Herren, unsere Herrscher – und dass wir unsere geistige Freiheit zu sehr lieben, um uns vor ihnen zu verneigen.

Deshalb sind wir Atheisten. Wir werden den Atheismus mutig unter den arbeitenden Massen propagieren, die ihn mehr als alle anderen brauchen. Wir haben keine Angst vor dem Vorwurf, dass wir den Menschen durch die Zerstörung ihres Glaubens auch die moralische Grundlage entziehen, auf der sie ihre Existenz aufbauen – ein Vorwurf, der von jenen selbsternannten „Freunden des Volkes“ erhoben wird, die Religion und Moral für untrennbar halten. Wir behaupten im Gegenteil, dass die Moral frei von jeder Verbindung mit der Religion sein kann und muss, und diese unsere Überzeugung beruht auf den Lehren der modernen Wissenschaft. Nur durch die Zerstörung alter religiöser Dogmen werden wir das große, positive Ergebnis erzielen, das Denken und Fühlen von ihren alten, rostigen Ketten zu befreien.

Und was kann am besten dazu dienen, diese Fesseln zu sprengen?

In diesem Universum oder in der Geschichte der Völker gibt es keine objektiven Ideen. Eine objektive Welt ist ein Unsinn. Wünsche und Bestrebungen gehören ausschließlich zur Persönlichkeit des Individuums und es ist das freie Individuum, das wir über alles stellen. Wir wollen die alte, abstoßende religiöse Moral zerstören, die verkündet: „Sei gut, oder Gott wird dich bestrafen“. Wir widersetzen uns dieser Erpressung und verkünden: „Tu, was sich für dich richtig anfühlt, ohne dich mit irgendjemandem abzusprechen und nur weil es sich für dich richtig anfühlt“. Ist das wirklich nur ein zerstörerisches Werk?

Unsere Liebe für die menschliche Persönlichkeit ist so groß, dass wir zwangsläufig die Götter hassen müssen. Deshalb sind wir Atheisten. Der uralte und schwierige Kampf der Arbeiterklasse, um in Freiheit arbeiten zu können, kann noch länger dauern als bisher. Die Arbeiter müssen vielleicht noch härter schuften als bisher und ihr Blut opfern, um ihre Errungenschaften durchzusetzen. Auf ihrem Weg werden die Arbeiter zweifellos weitere Niederlagen und – noch schlimmer – Enttäuschungen erleiden müssen. Deshalb müssen sie ein Herz aus Stahl und einen starken Geist haben, der den Schlägen des Schicksals standhalten kann. Aber kann ein Sklave ein Herz aus Stahl haben? In den Augen Gottes sind alle Sklaven nur Nullen. Und kann man einen starken Geist besitzen, wenn man auf die Knie fällt und sich niederwirft, wie es die Gläubigen tun?

Deshalb werden wir unter den Arbeitern gehen und versuchen, die Reste ihres Glaubens an Gott zu zerstören. Wir werden sie lehren, aufrecht und stolz als Menschen zu stehen, die der Freiheit würdig sind. Wir werden ihnen beibringen, keine Hilfe zu suchen, außer in sich selbst, in ihrem eigenen Geist und in der Kraft der freien Organisationen. Es ist eine Verleumdung zu behaupten, dass unsere besten Gefühle, Gedanken, Wünsche und Handlungen nicht unsere eigenen sind, nicht von uns erlebt werden, sondern von Gott sind, von Gott bestimmt werden und dass wir nicht wir selbst sind, sondern nur ein Vehikel für den Willen des Herrn oder des Teufels. Wir wollen alle Verantwortung übernehmen. Wir wollen frei sein. Wir wollen keine Marionetten oder Hampelmänner sein. Deshalb sind wir Atheisten. Die Religion erkennt ihre eigene Unfähigkeit, das Bild des Teufels im Menschen lebendig und glaubwürdig zu halten, und lehnt es nun selbst ab, weil es diskreditiert ist. Aber das ist absurd, denn die Existenz des Teufels ist genauso plausibel wie die Existenz Gottes – nämlich gar nicht. Einst war der Glaube an den Teufel sehr stark. Der Teufel hatte Einfluss auf die Seele des Menschen, doch heute ist aus dieser bedrohlichen Figur, diesem Versucher der Menschheit, ein Operettenteufel geworden, der eher komisch als furchterregend ist. Das gleiche Schicksal ist für seinen Blutsbruder reserviert: Gott.

Gott, der Teufel, der Glaube. Die Menschheit hat für diese schrecklichen Worte mit einem Meer von Blut, einem Fluss von Tränen und endlosem Leid bezahlt. Genug von diesem Albtraum! Der Mensch muss dieses Joch endlich abschütteln, muss die Freiheit erobern. Früher oder später werden die Arbeiter den Sieg davontragen. Aber der Mensch muss bereit und geistig frei sein, um die egalitäre Gesellschaft zu betreten, oder er muss sich zumindest von dem göttlichen Müll befreit haben, den er tausend Jahre lang mitgeschleppt hat. Wir haben diesen giftigen Staub von unseren Füßen geschüttelt und deshalb sind wir Atheisten. Kommt mit uns, alle, die ihr die Menschen und die Freiheit liebt und die Götter und die Sklaverei hasst. Ja, die Götter sind am sterben! Es lebe der Mensch!

Union der Atheisten

[Sojus Ateistow, „Atheisticheskii manifest“, in „Nabat“, Kharhov, 12. Mai 1919, S. 3].

Mein Gott

Ich verneige mich nicht vor dem Götzen Vor dem die Verwahrlosten der Erde, Die Kinder der Welt, zertrampelt und versklavt, Gaben bringen und Belohnungen erflehen. Ich finde keinen Trost bei einem Gott der die Reichen gegen die Armen ausspielt, Der den Menschen Leid und Mühsal zufügt und aus dem Leid einen Kult macht. Sein strenger Blick, Die Blässe seiner traurigen Stirn entflammen nicht meine Brust Noch erwärmen sie nachts meinen Geist. Mein Gott ist eine Idee: ein neues Leben, Die Morgendämmerung heiterer und glücklicher Tage, Zum Kampf, zu einem harten Kampf, ruft er alle Tapferen. Bringt den Unterdrückern Rache entgegen Die die Menschen behandeln, indem sie ihr Blut vergießen! Mein Gott ist die Freiheit, groß und glorreich, Selbstbewusstsein, Stärke und Liebe!

[E. Zaidner-Sadd, „Moi Bog“, in „Ekaterinoslavskii Nabat“, 7. Januar 1920, S. 3]


Antimilitarismus

Antwort auf das Manifest der Sechzehn

Fast zwei Jahre sind seit dem Beginn dieses schrecklichen Krieges vergangen, eines Krieges, wie ihn die Menschheit noch nie erlebt hat, dem Millionen namenloser Gräber, Millionen von Krüppeln, Millionen von Witwen und Waisen zum Opfer gefallen sind. Waren im Wert von Milliarden, das Produkt jahrelanger menschlicher Arbeit, wurden in die Flammen geworfen und von einem bodenlosen Abgrund verschluckt. Unmenschlicher Schmerz, furchtbares Leid, tiefe Verzweiflung über die Menschheit – das ist die Folge.

Jetzt, wo überall die Schreie der Verzweiflung zu hören sind – „Kein Blutvergießen mehr! Keine Zerstörung mehr!“ – blicken wir mit großer Traurigkeit auf diejenigen, die einst unsere Gefährten waren, P. Kropotkin, J. Grave, C. Cornelissen, P. Reclus, C. Malato und andere Anarchisten und Antimilitaristen, die in ihrem jüngsten Manifest erklärten: „Nein, es hat zu wenig Blutvergießen, zu wenig Zerstörung gegeben. Es ist noch zu früh, um von Frieden zu sprechen!“.

Im Namen welcher Prinzipien und zu welchem Zweck halten sie es für möglich, die Notwendigkeit des Brudermordes zu verkünden? Was hat diese glühenden Verfechter des Friedens dazu gebracht, bewaffnete Konflikte zu unterstützen? Wir können das nicht verstehen, denn wenn man ihr Manifest liest, wird man von der Erbärmlichkeit der Idee überrascht, in deren Namen sie die Fortsetzung des Krieges bis zum Ende fordern.

Die Autoren des Manifests erklären, dass die Schuld für den Konflikt bei Deutschland liegt, das Belgien und die nördlichen Departements Frankreichs annektieren will und von letzterem hohe Reparationszahlungen verlangt hat und beabsichtigt, ihm in Zukunft seine Kolonien zu entziehen. Sie beschuldigen das deutsche Volk, der Regierung zu gehorchen, und erklären, dass von Frieden keine Rede sein kann, solange Deutschland die Eroberungspläne seiner Herrscher nicht ablehnt. Im gesamten Manifest wird die einseitige Haltung gegenüber der Entente deutlich. Diese Voreingenommenheit, die auf einer groben Überschätzung der zweifelhaften Überlegenheit der demokratischen Regime beruhte, führte zwangsläufig dazu, dass die Verfasser des Manifests viele Dinge nicht erwähnten, die den alliierten Mächten ernsthaft schadeten, dass sie bei der Bewertung derselben Aktionen der Kriegsparteien unterschiedliche Kriterien anwandten und schließlich die Wünsche des Volkes mit denen der Regierung, der es unterworfen war, verwechselten.

Die Unterzeichner des Manifests waren der Ansicht, dass die germanische Regierung die größte Verantwortung für den Konflikt trug. Es ist jedoch kein Geheimnis, dass sich alle Großmächte seit geraumer Zeit auf einen europäischen Krieg vorbereitet hatten. Und zwar nicht zu einem einfachen Verteidigungskrieg, nicht nur um sich vor einer deutschen Invasion zu schützen. Vielmehr bereiteten sie sich auf einen Eroberungskrieg, die Eroberung neuer Gebiete oder die ökonomische Beherrschung von Nachbarstaaten vor. War es nicht schon immer der Traum Englands, Deutschland als Rivalen auf den Meeren loszuwerden? Und ist der Wunsch Russlands, seine Souveränität an den Ufern des Bosporus auszuüben, nicht inzwischen allgemein bekannt? Blickt Russland nicht mit gierigem Blick auf Galizien? Und ist Frankreichs Traum, eine große Kolonialmacht zu werden, verflogen?

Alle Staaten bereiteten sich auf den Krieg vor. Und wenn er nicht vor 1914 ausbrach, dann nur, weil das Mordsprogramm in Deutschland noch nicht verbreitert, der Bau der britischen Flotte noch nicht abgeschlossen, die französische Armee noch nicht perfektioniert und in Russland noch keine neuen Divisionen aufgestellt worden waren. Und falls die deutschen gekrönten Piraten dank ihres organisatorischen Geschicks in der Lage waren, sich vor den anderen vorzubereiten, bevor diese beschlossen, Europa in Brand zu setzen, so schmälert dies in keiner Weise die moralische Verantwortung der englischen, russischen und anderen gekrönten Piraten für die hohe Zahl der Opfer, die auf dem Altar des Militarismus geopfert wurden.

Die Verfasser des Manifests protestierten gegen die mögliche Angliederung besetzter Gebiete an Deutschland ohne die Zustimmung der einheimischen Bevölkerung. Aber warum protestierten sie nicht gegen die Annexion Ägyptens, die England bereits während des Konflikts ohne die Zustimmung der ägyptischen Bevölkerung durchgeführt hatte? Warum haben sie kein Manifest gedruckt, das die Arbeiter zum Aufstand gegen das sklavenhaltende England aufruft? Liegt es nicht daran, dass ein solcher Akt den Anarcho-Militaristen den Boden unter den Füßen wegziehen würde? Müssten sie nicht deutlich machen, dass dieser Krieg ein Krieg zwischen zwei Gruppen von Raubtieren ist, die gleichermaßen Feinde der Freiheit sind? Die Verfasser des Manifests sind sich sicher, dass es den Plänen der germanischen Kriegspartei Vorschub leisten würde, zu diesem Zeitpunkt von Frieden zu sprechen, was die Invasion der benachbarten Nationen einschließen würde, eine Invasion, die jede Hoffnung auf menschliche Befreiung und Fortschritt zunichte machen würde. Wir hingegen sind der Meinung, dass nicht die germanische Invasion, sondern der Krieg selbst, für den alle Nationen, die direkt oder indirekt an ihm beteiligt sind, gleichermaßen verantwortlich sind, eine Bedrohung für alle Hoffnungen auf Befreiung und menschlichen Fortschritt darstellt. Und wir fordern die Menschen auf, nicht nur gegen die germanische Regierung zu kämpfen, sondern sich gegen alle zu erheben, die sie versklaven wollen. Wir begrüßen mit Freude die Demonstration von Frauen vor dem Reichstagsgebäude zur Verteidigung von Frieden und Brot. Alles, was gesund und rein ist, hat sich in diesen, wenn auch schwachen, Protesten manifestiert. Wir rufen die Arbeiter aller Länder zu einem stürmischen Protest, zu einem populären Aufstand auf, denn nur so können wir hoffen, die Menschheit zu regenerieren, und nicht durch die Fortsetzung des Krieges. Die Verfasser des Manifests rufen nur das germanische Volk zum Aufstand auf und rufen gleichzeitig die Völker der verbündeten Staaten in die Schützengräben. Sie sollen konsequent sein und Antimilitarismus und Revolution gleichzeitig ablehnen. Denn der Antimilitarismus in Frankreich oder revolutionäre Entwicklungen in Russland oder England werden Deutschland nur begünstigen. Und jede Form von Antimilitarismus oder Revolution außerhalb Deutschlands wird die Pläne der germanischen Nation begünstigen. Doch genau das hat Kropotkin getan. Zu unserem Entsetzen mussten wir feststellen, dass er schon vor dem Krieg ein Gegner des Kampfes gegen das Gesetz zur Einführung der dreijährigen Wehrpflicht in Frankreich war.

Aber können die Verfasser des Manifests wirklich nicht verstehen, dass nicht nur in diesem Krieg, sondern in allen Kriegen – rein formal gesehen – ein vermutlich mehr oder weniger großer Prozentsatz der Demokratie schuld ist? So werden sie immer an die Unschuldigsten appellieren, sich zu verteidigen; sie werden immer Sklaven der schändlichen Parole bleiben: „Baut die Kanonen und stellt sie wieder an ihren Platz!“ Selbst jetzt, wo sie von allgemeinen Phrasen über den Fortschritt und die germanische Bedrohung zu konkreten Aussagen über die möglichen Folgen eines deutschen Sieges übergehen, befürchten sie nur, dass Deutschland sich der französischen Kolonien bemächtigt und seinen Nachbarn durch Handelsabkommen ökonomisch unterjocht. Und nach all dem bezeichnen sich Kropotkin und die anderen Autoren des Manifests immer noch als Anarchisten und Antimilitaristen! Diejenigen, die das Volk zum Krieg auffordern, können weder Anarchisten noch Antimilitaristen sein.

Sie verteidigen eine Sache, die den Arbeitern fremd ist. Sie wollen die Arbeiter nicht im Namen ihrer Emanzipation an die Front schicken, sondern zum Ruhme des fortschrittlichen nationalen Kapitalismus und des Staates. Sie möchten den Geist der Anarchie zerstören und seine Überreste den Dienern des Militarismus überlassen.

Wir bleiben jedoch auf unserem Posten. Wir fordern die Arbeiter der Welt auf, ihre ärgsten Feinde anzugreifen, wer auch immer ihre Anführer sein mögen – der Kaiser von Deutschland oder der türkische Sultan, der russische Zar oder der französische Präsident. Wir wissen, dass Demokratie und Autokratie einander in nichts nachstehen, wenn es darum geht, den Willen und das Gewissen der Arbeiter zu korrumpieren. Wir machen keinen Unterschied zwischen akzeptablen und inakzeptablen Kriegen. Für uns gibt es nur eine Art von Krieg, den sozialen Krieg gegen den Kapitalismus und seine Verfechter. Und wir wiederholen unsere Slogans, die die Verfasser des schändlichen Manifests verleugnet haben: Nieder mit dem Krieg!

Nieder mit der Macht der Autorität und des Kapitals! Es lebe die Bruderschaft des freien Volkes!

Gruppe der kommunistischen Anarchisten von Genf

(Otvet, in „Put’k Svobode“, Genf, Mai 1917, S. 10-11)


Anti-Intellektualismus

Proklamation

Sohn der Straße, obdachlos und heimatlos, fasziniert von der Glut des Herdes, der Wärme und Behaglichkeit eines Zuhauses, den weichen Teppichen unter deinen Füßen, den wohlklingenden Tönen eines Klaviers. Alle Tore sind für dich verschlossen. Die Türen werden dir vor der Nase zugeknallt. Steine und Eis schneiden sich in deine nackten Füße, das Heulen des Wachhundes und die Schreie der Pfleger zerren an deinen Ohren. Während andere sich auf seidenen Kissen hinlegen, streift der Wind scharf unter deinen Lumpen hindurch. Brennende Leidenschaften toben zwischen den warmen Decken – aber deine Lippen gefrieren, dein Herz wird zu Asche, deine Hände werden zu Eis. Resigniert kauerst du in irgendeiner Ecke an der Wand und döst vor Schmerzen. Nicht weit entfernt schlendert eine Prostituierte hin und her. Sie ist deine Tochter und verkauft ihre junge Leidenschaft an alte Herzen, die mit Gold bedeckt sind.

Blöde Bettlerin! Gleich da drüben ist ein Haus, Wärme, Komfort. Tritt ein und lass dich nieder. Lass die Besitzer von Häusern und Palästen durch die Straßen ziehen und mit den Zähnen klappern. Lass ihre Töchter diejenigen sein, die sich verkaufen, weil sie sich weigern, eine neue Ordnung auf der Erde aufzubauen. Schaffe Anarchie! Unterdrückte und Verwahrloste, schürt die Flammen der Anarchie. Lasst euer Blut, das jetzt gefroren ist, sich in Feuer verwandeln. Verbrennt alles um euch herum. Entfacht kühn die Flammen der Anarchie. Erschafft die Anarchie!

Ausgestoßene, Gefallene, Verachtete, erhebt euch und zerstört diese Gesellschaft der „Edlen“ und „Niedrigen“. Erhebt euch und zeigt uns, dass ihr über uns steht, dass wir eurer Gesellschaft nicht würdig sind, dass wir nicht einmal eurer Verachtung würdig sind. Alles, was über euch war, wird unter euch sein. Schafft Anarchie! Sklaven, öffnet eure Augen, um eure Freiheit zu sehen! Die Verräter fesseln euch mit neuen Ketten. Wirf sie dem Teufel zu! Gehorcht niemandem. Erniedrigt euch nicht vor irgendjemandem. Schafft euch eure eigene Freiheit, euer eigenes Glück. Erschafft die Anarchie!

Analphabeten, zerstört diese berüchtigte Kultur, die die Menschen in „Gebildete“ und „Ungebildete“ unterteilt. Sie wollen euch in der Dunkelheit halten. Sie haben euch die Augen ausgerissen. In dieser Dunkelheit, in der dunklen Nacht der Kultur, haben sie euch beraubt.

Die Menschen, die Priester und Wissenschaftler haben euch beraubt, sie haben euch all eurer Gedanken, eurer Einfachheit, eurer Spontaneität und eurer Gefühle beraubt. Die Religion belügt euch, Leute, die schlaue Wissenschaft belügt euch. Das Himmelreich verhöhnt euch; die Priester täuschen euch; die zukünftige Ordnung, der zukünftige Sozialismus, von dem sie zu euch sprechen, ist nur ein Trick. Wissenschaftler und Professoren täuschen euch. Glaubt ihnen nicht. Sie hypnotisieren euch und entkleiden euch. Sie überzeugen euch mit dem schillernden Glanz ihres Intellekts.

Leute, euer Glück liegt nicht im Himmelreich, sondern hier auf der Erde, nicht in der Zukunft, sondern in der Gegenwart. Es liegt in euren Händen. Schafft Anarchie – vollständig, überall und jetzt. Zerstört die Kirchen, Nest der aristokratischen Lügen; zerstört die Universitäten, Nest der bourgeoisen Lügen. Vertreibe die Priester, die Wissenschaftler! Zerstört das falsche Paradies der Aristokraten und der Bourgeoisie. Stürzt ihre Peruns [Donnergott der slawischen Völker], ihre Götter, ihre Götzen. Es gibt nur einen Gott auf der Erde: Das bist du, das Volk, du, der Mensch. Menschen, ihr könnt glücklich sein, ihr müsst glücklich sein. Erschafft die Anarchie!

[Aus „Burevestnik“, Petersburg, 27. Januar 1918, S. 1]  

Pan-anarchistisches Manifest

Wörtlich bedeutet Pan-Anarchismus allumfassender Anarchismus, denn „pan“ bedeutet im Griechischen „alles“. Der Pan-Anarchismus ist eine allumfassende und artikulierte Form des Anarchismus. Neben dem Ideal der Abschaffung der Regierung, also dem eigentlichen Anarchismus, umfasst er vier weitere Ideale: den Kommunismus, demzufolge „alles allen gehört“; den Pädismus, d.h. die Befreiung von Kindern und Jugendlichen vom Laster der unterwürfigen Erziehung; den Kosmismus (Nationalkosmopolitismus), d.h. die vollständige Emanzipation der unterdrückten Nationen; und schließlich den Gyneanthropismus, d.h. die Emanzipation und Humanisierung der Frauen. Zusammengenommen bilden diese fünf Ideale die Essenz des so genannten Pan-Anarchismus.

Der Pan-Anarchismus setzt eine Synthese (Vereinigung) aller wichtigen Ideale, Bestrebungen und sozialen Aktionen voraus, die grundsätzlich auf den Umsturz und den ganzheitlichen Wiederaufbau der Gesellschaft abzielen – die Wirtschaft, die Familie, die Schule, die internationalen Beziehungen und die staatlichen Institutionen. Im ökonomischen Bereich zielt der Pan-anarchismus darauf ab, den Kapitalismus durch den Kommunismus zu ersetzen und das Privateigentum an Land, Produktionsmitteln und Konsumgütern abzuschaffen. Im Bereich der Familie strebt er die Wiedereinführung der Polygamie und des Frauentauschs auf der Grundlage wahrer Liebe zwischen männlichen und weiblichen Individuen an sowie die Abschaffung der männlichen Vorherrschaft in der Familienstruktur im Allgemeinen, sowohl rechtlich als auch de facto, die freie Teilnahme von Frauen in allen Arbeits- und Kunstbereichen und die gleiche Möglichkeit, die Vorteile der Gesellschaft zu genießen. Was die Schulbildung betrifft, so soll die heutige Indoktrination, die unsere Kinder mit religiösen und wissenschaftlichen Vorurteilen füllt, durch eine praktische Ausbildung auf technischer Grundlage ersetzt werden, die sich im Alltag als nützlich erweist und ihnen Freiheit, Selbstvertrauen und die Fähigkeit, selbst etwas Originelles zu schaffen, garantiert. Sie zielt auch darauf ab, das gegenwärtige territoriale System mit seinen Grenzen, Heimatländern, nationalem und privatem territorialem Eigentum durch eine national-kosmopolitische Ordnung ohne Heimatländer oder Grenzen zu ersetzen, sondern nur durch freie Zusammenschlüsse freier Völker, denen das ganze Land gemeinsam gehört. „Die ganze Erde gehört der ganzen Menschheit“ – das ist das Motto des Pan-anarchismus, im Gegensatz zum Territorialismus und Imperialismus der räuberischen Nationen, die erklären: „Die ganze Erde gehört mir“.

Im Bereich der staatlichen Organisation und ihrer Beziehung zum Individuum kämpft der Pan-anarchismus für die Abschaffung aller Formen von der Autorität, des Staates und des Zwanges – Gerichte, Gefängnisse, Armee usw. – und für die Verwaltung der Gesellschaft durch freiwillige Vereinbarungen und Konsultationen.

Der Pan-Anarchismus ist das Ideal der Union der Fünf Unterdrückten. Er ruft alle Unterdrückten dazu auf, eine weltweite Organisation zu gründen, eine Internationale der Unterdrückten, eine Weltunion der Fünf Unterdrückten zur Zerstörung der bestehenden Ordnung, die auf den fünf Formen der Unterdrückung beruht. Der Pan-anarchismus setzt sich für den Zusammenschluss aller fünf unterdrückten Gruppen in der heutigen Gesellschaft zu einer Internationale der Gelegenheitsarbeiter, einer Internationalen der Jugend, einer Internationalen der unterdrückten Nationalitäten, einer Internationalen der Frauen und einer Internationalen der Individuen sowie für die letztendliche Bildung einer einzigen Internationalen der Unterdrückten ein, die auf dem Prinzip der Gleichheit aller Unterdrückten beruht.

Der Pan-Anarchismus strebt nach Pan-Zerstörung, nach der Beseitigung aller fünf Arten von Unterdrückung in der Gesellschaft. Daher zielt der Pan-anarchismus nicht auf die Befreiung einer Gruppe von Unterdrückten durch die Unterdrückung anderer, wie z. B. durch die Errichtung der Diktatur des Proletariats, sondern auf die Befreiung aller Unterdrückten, der gesamten Menschheit, aller Ausgebeuteten. Außerdem steht der Pan-anarchismus für die Befreiung der Menschheit von den Fesseln des Kapitalismus, des Staates, der formalen Bildung, der Monotonie des häuslichen Lebens und des Nationalismus.

Der Pan-anarchismus wird alle fünf Formen der Unterdrückung in der heutigen Gesellschaft zerstören: (1) ökonomische, (2) politische, (3) nationale, (4) erzieherische und (5) häusliche. Vereinfacht ausgedrückt besagt der Pan-anarchismus, dass es weder Reiche noch Arme, weder Herrscher noch Untertanen, weder Sklavenlehrer noch Sklavenschüler, weder männliche Herrscher noch weibliche Sklaven geben sollte. Für den Pan-Anarchismus ist jede dieser Forderungen gleich wichtig. Jede Überlegenheit eines unterdrückten Elements über ein anderes, ob sie nun als Führung oder Herrschaft realisiert wird, ist für uns nichts anderes als eine Ausbeutung der Menschen durch eine bestimmte Klasse oder Gruppe.

Pan-Anarchismus bedeutet aber nicht nur die Emanzipation von den fünf Formen der Unterdrückung. Er bedeutet auch die Emanzipation der Menschheit, die durch zwei Formen der Täuschung unterdrückt wird: die Täuschung durch die Religion und die Täuschung durch die Wissenschaft, die im Grunde genommen nur zwei Varianten derselben Art von Täuschung sind, nämlich die der Unterdrückten durch die Unterdrücker. Der Pan-Anarchismus behauptet, dass Religion und Wissenschaft als Mittel erfunden wurden, um von der Unterdrückung und der realen, greifbaren Welt abzulenken und sie durch eine nicht greifbare Welt zu ersetzen, die entweder übernatürlich (Religion) oder abstrakt (Wissenschaft) ist. Der Pan-Anarchismus betrachtet die Wissenschaft als eine reformierte Religion und die Natur als einen reformierten Gott. Die Wissenschaft ist die Religion der Bourgeoisie, so wie die Religion die Wissenschaft des Adels und der Sklavenhalter war.

Der Pan-Anarchismus verkündet die universelle Abschaffung des Staates, kosmische Anarchie, Anarchie überall. Alle Formen von Religion und Wissenschaft sind nicht nur Instrumente der bourgeoisen Unterdrückung, Netze und Fanfaren, Trugbilder und Köder für die Unterdrückten. Sie sind auch betrügerisch und barbarisch, begrenzt und dumm, naiv und komisch, verwirrend und widersprüchlich. Die Wissenschaft ist ein Aspekt der Dummheit des europäischen Wilden, so wie die Religion ein Aspekt der Dummheit des asiatischen Wilden ist. Beide bilden ein und dasselbe Netz aus Verwirrungen und Widersprüchen: Gott und Nicht-Gott, Ursache und Nicht-Ursache; Gott, der wahre Schöpfer, und Gott, der aus dem „Nichts“ erschafft, was bedeutet, dass er selbst das absolutste „Nichts“ ist, ein Nicht-Gott; die Ursache, die auf die Hauptursache zurückgeführt wird und zur Ursache ihrer selbst wird oder ganz aufhört, sie selbst zu sein.

Gott und die Natur sind nach dem Bild des Menschen geschaffen, sie sind anthropomorph. Der Eskimojäger stellt sie in Form des weißen Bären dar (die Welt ist aus dem weißen Bären entstanden); der Jude identifiziert sie mit den Berufen (Gott Zimmermann, Schneider). Newton, Kant und Laplace stellen die Natur nach der europäischen Mechanik dar, Darwin und Spencer nach der Pferdezucht in Großbritannien (die natürliche Auslese folgte dem Muster der künstlichen Auslese in der Pferdezucht in Großbritannien). Die himmlische Ordnung und die natürliche Ordnung – Engel, Geister, Dämonen, Moleküle, Atome, Äther, göttliche/himmlische Gesetze und die Gesetze der Natur, Kräfte, der Einfluss eines Körpers auf einen anderen – all das sind Erfindungen, Formen, Schöpfungen der Gesellschaft (soziomorph).

Gott ist das Abbild des absoluten asiatischen Monarchen. Die himmlischen Gesetze, die astralen Gesetze, die Astrologie der Assyrer und Babylonier – das sind die Gesetze der Herrscher. Die Naturgesetze sind die Gesetze des Staates; Naturgewalt ist Zwang. Die Kräfte der Natur erinnern an die konstitutionelle Monarchie und die Bürokratie, und manchmal erinnert die Natur sogar an den Präsidenten einer demokratischen Republik!

Der Pan-Anarchismus lehrt, dass das Universum weder Mensch noch Gesellschaft ist. Es hat weder Anfang noch Ende, weder Ursprung (Kosmogonie) noch Ursache, weder Gesetze noch rachsüchtige Kräfte. Das Universum ist, wie alle natürlichen Phänomene, immer „selbst“, anarcho-individualistisch oder anarcho-kommunistisch, wenn du so willst. Das Universum und alle seine Phänomene sind spontan. Im Universum und allen Phänomenen gibt es nichts Fremdes, es gibt keine Zwangsordnung, sondern Anarchie, d. h. eine innere (immanente), unabhängige und spontane Ordnung. Es gibt keine natürliche Kraft, sondern nur Handlungen und Affinitäten; und Dinge, Handlungen und Affinitäten sind identisch. Für den Pan-Anarchismus besteht der grundlegende Fehler von Religion und Wissenschaft darin, dass erstere ein Produkt der Vorstellungskraft und letztere ein Produkt des Intellekts (mentale Konfigurationen oder Abstraktionen) sind. Deshalb betrachtet der Pan-Anarchismus nur Gefühle, oder besser gesagt Muskeln und technische Fähigkeiten, als echt. Der Pan-Anarchismus behauptet, dass nur technische Fähigkeiten die Kultur des Volkes, der Arbeiter, der Unterdrückten ausmachen, technische Fähigkeiten im weitesten Sinne des Wortes, d. h. einschließlich aller Berufe, praktischen Künste usw., die er als pan-technisch bezeichnet.

Was die Analyse der Gesellschaft angeht, lehnt der Pan-Anarchismus alle soziologischen Gesetze oder die soziale Evolution und Entwicklung ab und ersetzt sie durch die Soziotechnik, den Aufbau der Gesellschaft mit dem ausdrücklichen Recht auf Experimentieren, Improvisation und soziale Erfindung. Der Pan-Anarchismus, der sich in Technizismus hüllt, bedeutet nicht nur universelle und totale Anarchie, sondern Anarchie jetzt. Statt sozialdemokratischer Evolution und Reform gibt er die Parole der sozialen Revolution aus und berücksichtigt dabei vor allem die goldene anarchistische Regel: Direkt auf das Ziel!

Und deshalb:

Es lebe der Pan-Anarchismus!

[A. L. und V. L. Gordin, Pananarchistisches Manifest, Moskau 1918, S. 3-6].  

Anarcho-Futuristisches Manifest

Ah-ah-ah, ha-ha, ho-ho!

Geht auf die Straße! Diejenigen, die noch frisch und jung und nicht entmenschlicht sind, auf die Straße! Der dickbäuchige Mörser des Lachens ist auf die Straße gegangen, trunken vor Freude. Lachen und Liebe sind gepaart mit Melancholie und Hass, gegeneinander gepresst in der mächtigen, krampfhaften Leidenschaft der bestialischen Lust. Lang lebe die Psychologie der Gegensätze. Berauschte und glühende Geister haben die flammende Fahne der geistigen Revolution gehisst. Tod den Kreaturen der Routine, den Philistern, den Gichtkranken! Zerschmettert mit ohrenbetäubendem Lärm den Kelch der rächenden Stürme! Reißt die Kirchen und Museen, ihre Verbündeten, nieder! Sprengt die zerbrechlichen Götzen der Zivilisation in die Luft! Hey, ihr dekadenten Architekten des Sarkophags des Denkens, Hüter des universellen Bücherfriedhofs: Tretet zur Seite! Wir sind gekommen, um euch aus dem Weg zu räumen! Alles Alte muss begraben werden, die staubigen Archive mit der vulkanischen Fackel des kreativen Genies verbrannt werden. Vor der flatternden Asche der Verwüstung der Welt, vor den verbrannten Leinwänden pompöser Gemälde, vor den großen, dickbäuchigen Bänden der Klassiker, die nun verbrannt sind, marschieren wir, die Anarcho-Futuristen! Stolz entrollen wir das Banner der Anarchie über der riesigen, verwüsteten Fläche unseres Landes. Die Schrift hat keinen Wert! Es gibt keinen Markt für Literatur! Es gibt keine Gefängnisse, keine Grenzen für subjektive Kreativität! Alles ist erlaubt! Nichts ist verboten!

Die Kinder der Natur empfangen mit freudiger Verzückung den ritterlichen goldenen Kuss der Sonne und den fetten, nackten, lasziven Bauch der Erde. Die Söhne der Natur, die aus der schwarzen Erde hervorgehen, verkörpern die Leidenschaften der nackten, lüsternen Körper. Sie komprimieren sie alle in einen generativen, schwangeren Kelch! Tausende von Armen und Beinen verschlingen sich zu einem erstickenden, erschöpften Haufen! Die Haut entzündet sich in warmen, unersättlichen, beißenden Liebkosungen. Zähne versenken sich hasserfüllt in das lauwarme, saftige Fleisch der Liebenden! Weit aufgerissene, staunende Augen verfolgen den brennenden, trächtigen Tanz der Lust! Alles ist fremd, ungehemmt, elementar. Erregung, Fleisch, Leben, Tod, alles! Alles! Das ist die Poesie unserer Liebe! Mächtig, unsterblich und schrecklich sind wir in unserer Liebe! Der Nordwind wütet in den Köpfen der Söhne der Natur. Etwas Schreckliches ist erschienen – ein Vampir der Melancholie! Das Verderben – die Welt liegt im Sterben! Fangt ihn! Töte ihn! Nein, warte! Verzweifelte, durchdringende Schreie zerreißen die Luft. Wartet! Melancholie! Schwarze, gähnende Geschwüre der Agonie bedecken das bleiche, erschrockene Gesicht des Himmels. Die Erde zittert vor Angst unter den mächtigen, hasserfüllten Schlägen ihrer Söhne! Oh verfluchte, verachtenswerte Dinge! Sie zerreißen ihr zartes und fettes Fleisch und begraben ihre eigene erschöpfende und hungrige Melancholie im Strom von Blut und frischen Wunden ihres Körpers. Die Welt liegt im Sterben! Ah! Ah! schreien Millionen von Giftstoffen. Ah! Ah! brüllt die riesige Kanone des Alarms! Zerstörung! Chaos! Melancholie! Die Welt liegt im Sterben!

Das ist die Poesie unserer Melancholie! Wir sind frei von Hemmungen! Die klagende Sentimentalität der Humanisten ist nichts für uns. Vielmehr wollen wir die triumphale geistige Bruderschaft der Völker schaffen, geschmiedet mit der ironischen Logik der Widersprüche, des Hasses und der Liebe. Wir werden unsere freie Union von Afrika bis zu den beiden Polen mit den Zähnen gegen jede sentimentale Freundschaft verteidigen. Alles gehört zu uns! Außerhalb von uns gibt es nur den Tod! Wir hissen die schwarze Fahne der Rebellion und rufen alle Menschen auf, die nicht vom giftigen Atem der Zivilisation entmenschlicht und betäubt wurden! Alle auf die Straße! Vorwärts! Zerstören! Tötet! Nur der Tod lässt keine Rückkehr zu! Löscht alles aus, was alt ist! Donner, Blitz, die Elemente – alle gehören uns! Vorwärts!

Es lebe die internationale intellektuelle Revolution!

Freie Bahn für Anarcho-Futuristen, Anarcho-Hyperboreaner und Neo-Nihilisten!

Tod der Weltzivilisation!

Gruppe der Anarcho-Futuristen

(„Shturmovoi, opustoshaiushchii manifest anarkho-futuristov“, in „K Svetu“, Kharkov, 14. März 1919, S. l)


Individualismus

Nichts ist vergessen worden und nichts ist gelernt worden

Die Tatsache, dass das gemeine Volk nur ungern über andere herrscht und im Gegenteil die Autorität abschaffen will; seine Weigerung zu gehorchen oder sich unterzuordnen; sein instinktiver Hang zur Anarchie, eine echte Diktatur des Proletariats zu errichten, statt einer fiktiven in Form des Exekutivkomitees der Sowjets, eine Diktatur, das heißt, des Volkes selbst, in der jeder Herr über sich selbst ist – das ist die wahre Diktatur des Individuums. Ich bin Minister, Gesetzgeber, Diktator, Autorität über mich selbst. Das ist die wahre Diktatur des Volkes, eine normale, natürliche, physiologische Diktatur. Für einen Menschen ist es die natürlichste Sache der Welt, eine Macht auszuüben, eine physiologische Diktatur über die Teile seines eigenen Körpers, über seine Arme und Beine, sein eigenes Verhalten durch die Macht zu bestimmen, frei zu handeln, zu tun, was er für notwendig hält. Das ist die physiologische Diktatur, die einzig gerechte, natürliche und wahre Diktatur der Aktionsfreiheit. Das ist das Ideal der Anarchie. Ich bin eine Person – und es gibt keine höhere Autorität als mein „Ich“!

[A. L. und V. L. Gordin, „Nichego ne zabyli i nichemu ne nauchilis“, in „Anarkhist“, Rostov am Don, 22. Oktober 1917, S. 1-2]  

Anarchistisches Manifest

Revolution und Freiheit sind immer aus Blut und Leid entstanden. Sie haben viele Opfer gefordert, sowohl bei den heldenhaften Kämpfern für eine neue Gesellschaft als auch bei den verzweifelten Verteidigern der alten. Aber diese Opfer dürfen nicht umsonst gefallen sein. Es wartet eine Aufgabe von solchen Ausmaßen auf uns, wie sie die Menschheit noch nie erlebt hat. Das Land muss von Grund auf neu aufgebaut werden, denn es wurde durch die Korruption des vergangenen Regimes, den Krieg und die „von oben nach unten“ durchgeführten Experimente der verschiedenen politischen Parteien zerstört. Dieser Wiederaufbau darf nicht die alte Routine, den anachronistischen Dogmatismus derjenigen etablieren, die sich von Berufs wegen gegen das Glück der Menschen verschworen haben, sondern etwas Neues und Kreatives, das direkt vom Leben inspiriert ist und den Wünschen und Interessen derjenigen entspricht, von denen und für die die Revolution gemacht wurde.

Es ist an der Zeit, jeder Art von Überwachung ein Ende zu setzen, ganz gleich wie gut sie gemeint ist. Es ist an der Zeit, sich nicht mehr vertreten zu lassen, egal von wem. Jedes Individuum muss für seine eigene Sache einstehen. Das ist es, wozu uns die Anarchie aufruft!

Der Anarchismus ist die Lehre des Lebens! Der Anarchismus wurde geboren und lebt in jedem von uns, aber er wird durch Armut, Ängstlichkeit und Unterwürfigkeit gegenüber Männern und Theorien erstickt, die zu einem gewalttätigen und korrupten Leben tendieren. Was wir brauchen, ist ein wenig Mut, Aufklärung und Aktionsdrang, damit der Geist der Anarchie in jedem von uns geweckt wird, egal wie groß oder klein.

Anarchismus ist die Lehre von der Freiheit! Keine abstrakte, illusorische Freiheit, sondern lebendige, echte Freiheit. Alle anarchistische Kreativität wurzelt in der freien Persönlichkeit, frei vom Spiel der Institutionen und der Autorität der von anderen erfundenen Gesetze. Die Freiheit des Anarchisten ist die Freiheit für alle. Wenn es auch nur einen Sklaven gibt, ist der Anarchist nicht frei. Der Anarchist muss dafür kämpfen, dass alle frei sind. Für den Anarchismus gibt es keine Idole, nichts Absolutes außerhalb des Menschen, seiner Freiheit und seines Rechts, sich ohne Einschränkungen zu entwickeln. Unabhängig von der bestehenden Gesellschaftsordnung wird der Anarchist weiterhin nach einer neuen, vollkommeneren, vollständigeren und reineren Ordnung streben, die ihm von seinem freiheitlichen Gewissen diktiert wird.

Der Anarchismus ist die Lehre der Gleichheit! Jeder ist in seiner Freiheit gleich. Jeder ist der Architekt seines eigenen Schicksals. Und die Sphäre der individuellen Freiheit ist unantastbar.

Der Anarchismus ist die Lehre von der Kultur! Denn er lehrt nicht nur, sich selbst und die eigene Freiheit zu lieben, sondern auch die anderen und die Freiheit für alle. Er ist ein Aufruf zur Aktion, um sicherzustellen, dass seine Früchte nicht nur von unseren Zeitgenossen, sondern auch von unseren Brüdern in einer noch fernen Zukunft genossen werden. Es ist eine Aufforderung, für die Zerstörung des Zwangssystems zu kämpfen, aber keine Aufforderung zu Rache oder Gewalt gegen eine bestimmte Person.

Der Anarchismus ist die Doktrin des Glücks! Denn er glaubt an den Menschen und seine unendlichen Möglichkeiten. Er glaubt daran, dass er durch sein Handeln zum Wohle aller alle Zeitalter und alle Menschen verbrüdern wird. So ist die Freude an der Schöpfung entstanden – die größte Freude, die ein Mensch erleben kann!

[A. A. Borovoi, „Anarkhistskii manifest“, in seinem Anarkhizm, Moskau 1918, S. 168-169]

  Die Anarchistische Jugend

Gefährten!

Mittwoch, 16. April 1919

Gefährten!

Die revolutionären Horizonte weiten sich. Die Unterdrückten werden auf ihrem Marsch zur Befreiung immer stärker. Ihre Ketten fallen, alle Fesseln werden gesprengt, alles, was veraltet und für das neue Leben untauglich ist, wird weggefegt.

Auf der Fahne der Befreiung steht geschrieben:

Kämpft gegen alle Unterdrücker.

Kämpfe gegen alle, die Bildung zu einem Privileg der Wenigen gemacht haben und sie mit Lügen zum Nutzen der Mächtigen durchtränkt haben.

Kämpfe gegen alle Institutionen, die uns in der Kindheit und Jugend verkrüppeln, die uns zu blutarmen, blassen und wackeligen Kreaturen machen, die sich an Körper und Geist niederwerfen.

Kämpfe gegen die Gesellschaft, die uns in Fabriken und Schulen gefangen hält.

Kämpfe gegen die heutige Familie, die uns zu heuchlerischen Lügnern gemacht hat, die mit dem Gift der Korruption gefüttert wurden.

Kämpfe gegen die Autorität des Staates, die Unterdrückung und Ungleichheit fördert.

Dies sind die grundlegenden Punkte des Aufrufs, den wir jungen Anarchisten machen. Viele junge Menschen, die vom Gift des bourgeoisen Philistertums genährt werden, halten ihre Situation für normal. Es ist unsere Pflicht, sie aus ihrem Winterschlaf zu wecken, damit sie sich uns bei der kreativen Arbeit anschließen können. Lasst uns daher unverzüglich mit der produktiven Arbeit beginnen. Wenden wir ohne zu zögern diese Ideale an, die das Leben selbst uns vorschlägt!

Wir, die in Kreisen organisierte Jugend der Ukraine, müssen uns zusammenschließen, um effizient und produktiv zu arbeiten. Im Namen der gegenseitigen Hilfe und der Solidarität – mächtige Motoren des menschlichen Fortschritts – ist diese Einigkeit unabdingbar. Und um sie zu erreichen, müssen wir einen Kongress aller anarchistischen Jugendgruppen in der Ukraine einberufen. Der Kongress wird sich mit einer Reihe von lebenswichtigen Problemen befassen müssen, deren Dringlichkeit keinen Aufschub duldet.

Möge die schwarze Flagge, unter der wir kämpfen, für die Zerstörung und den Tod all der alten und verrotteten Institutionen stehen, die uns versklavt haben! Mögen die Kraft unserer Worte und unsere gemeinsamen Bestrebungen alle jungen Menschen vereinen, die heute verstreut und isoliert von revolutionärer Kreativität sind.

Unser Weg soll der der kulturellen und sozialen Kreativität sein. Unsere Parole wird lauten: Junge Menschen auf der ganzen Welt, vereinigt euch in revolutionärem und kulturellem Engagement!

Tritt mit Begeisterung in Aktion!

Organisationsgruppe für die Einberufung eines pan-ukrainischen Kongresses der anarchistischen Jugend

[„Tovarishchi!“ in „Biulleten‘ Initsiativnoi gruppy anarkhistov molodezhi Ukrainy ‚Nabat’“, Kharkov, April 1919, S. 1]


Bildung

Thesen zur kulturellen Organisation Russlands

Im Bereich Bildung und Kultur schlug die zweite pan-russische Konferenz der Anarcho-Syndikalisten vor:

A. In den proletarischen Massen ein Interesse an Kunst, Studium und kulturellen Themen zu wecken.

B. Nach Mitteln und Wegen zu suchen, um die Initiative und Kreativität der Massen zu entwickeln und so dazu beizutragen, ihre Bedingungen innerhalb der derzeitigen Struktur des bourgeoisen sozialistischen Staates zu verbessern. Außerdem soll das Proletariat die Möglichkeit erhalten, seine eigene sozialistische Kultur und Kunst – im Gegensatz zur bourgeoisen – zu schaffen, die die strahlende Schönheit und Großartigkeit des Sozialismus außerhalb des Staates widerspiegelt und der menschlichen Seele die weitesten Perspektiven und Möglichkeiten eröffnet.

C. Die Entwicklung der individuellen Persönlichkeit in all ihren verschiedenen Ausprägungen in jeder Hinsicht zu fördern, indem Vorurteile und vorgefasste Meinungen beseitigt werden und Fakten präsentiert werden, die dem Individuum helfen, sich seine eigene Meinung über die Dinge zu bilden.

D. Den proletarischen Massen den Gedanken eintrichtern, dass sie sich bei jeder Tätigkeit ausschließlich auf ihre eigene Kraft verlassen müssen, indem sie sich gewissenhaft an die denkwürdige und wertvolle Aussage der Ersten Internationale halten: „Die Befreiung der Arbeiter ist die einzige Aufgabe der Arbeiter“.

E. Alle Mittel einsetzen, um den proletarischen Massen die Gewohnheit zu vermitteln, unabhängig zu denken, denn die stärksten Überzeugungen sind die, zu denen wir aus eigener Kraft kommen.

F. Den Arbeitern zu helfen, sich selbst zu respektieren und von anderen respektiert zu werden, und zwar nicht nur ohne Gesetze, sondern trotz der Gesetze und trotz des „Universums der Macht“, das uns umgibt.

G. In der proletarischen Armee einen starken Willen und eine feste Intelligenz heranzuziehen; in den Arbeitern den Geist der Revolte zu nähren und sie zu bewussten, treuen, unermüdlichen und furchtlosen Kämpfern zu machen, im wahren Geist des Klassenkampfes ohne Rücksicht für eine großartige Zukunft, für den Anarchismus.

H. Alle proletarischen Organisationen zu vereinen und ihre Entwicklung auf jede Weise zu fördern.

I. Jeden Bedarf auf dem Gebiet der Kunst und Kultur durch die Organisation wahrhaft proletarischer Einrichtungen zu decken – Universitäten, Theater, Bibliotheken, Lesesäle, Schulen verschiedener Art, proletarische Paläste, Museen und Konservatorien usw.

J. Das Ziel des Anarcho-Syndikalismus muss daher die Abschaffung der Macht, aller Verpflichtungen und Autoritäten sein.

K. Die Entwicklung der oben genannten Institutionen zu fördern, durch die das Proletariat alle Bildungs- und Kulturfunktionen aus den Händen der Kirche und des Staates nehmen und zu seinen eigenen machen muss.

Folglich wird jede kulturelle und erzieherische Aktivität des Anarcho-Syndikalismus darauf beruhen:

A. Auf der Selbstdisziplin des Proletariats und nicht auf einer Disziplin, die durch Lügen und Verstellung vermittelt wird.

B. Auf der Abschaffung jedes obligatorischen Lehrplans, der individuelle Eigenschaften und persönliche Merkmale nivelliert und jeden Geist der Initiative, Selbstständigkeit und Verantwortung erstickt.

Bildung wird daher:

1. Vielfältig, aber ganzheitlich, da sie die Möglichkeit bietet, eine harmonische Entwicklung der gesamten Persönlichkeit zu erreichen und eine umfassende, vollständige Bildung zu garantieren, die alle Bereiche von Kunst und Wissenschaft abdeckt.

2. Rational, d. h. auf der Grundlage der Vernunft und der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse und nicht auf blindem Glauben; auf der Entwicklung der persönlichen Würde und Unabhängigkeit und nicht auf dem Gefühl der Unterwerfung und des Gehorsams; auf der Abschaffung von Fabeln über Gott, die falsch und schädlich für die Sache der Befreiung der Bauern und Arbeiter sind.

3. Koedukation, eine einheitliche Erziehung für beide Geschlechter, um alle groben Vorstellungen zu beseitigen und eine höhere Moral zu gewährleisten, die die Sache der Frauen mehr voranbringen wird als alle Gesetze zusammen, Gesetze, die nie einen anderen Zweck hatten, als sie zu Sklaven zu machen.

4. Libertär, weil sie alle Machtideale zugunsten des Prinzips der Freiheit aufgeben wird. Das Ziel der kulturellen und erzieherischen Tätigkeit ist nichts anderes als die Entwicklung des freien Menschen, der nicht nur seine eigene Freiheit, sondern auch die der anderen will.

Damit dieses große Bildungs- und Erziehungswerk gelingt, damit es wirklich revolutionär ist und nicht nur kultureller Dilettantismus, ist es notwendig, allen bäuerlichen und arbeiterschaftlichen Kultur- und Bildungsorganisationen in ihrem Zuständigkeitsbereich volle Freiheit und Autonomie zu geben. Aber sie müssen ihrerseits offen sein für einen freien Zusammenschluss von städtischen, bezirklichen und provinziellen Zentren, die sich mit technischen, kulturellen und erzieherischen Problemen befassen, die aufgrund ihrer Bedeutung über die Reichweite des kleinen Kreises lokaler Organisationen hinausgehen und bäuerliche und Arbeiterbildungsorganisationen auf jeder Ebene betreffen: Stadt, Bezirk, Provinz, regional und national.

Diese Organisationen und Zentren müssen den derzeitigen Staatsapparat ersetzen, der alle Kultur- und Bildungsaktivitäten monopolisiert.

[Vmesto programmy: rezoliutsii I i II Vserossiiskikh konferentskii anarkho-sindikalistov, Berlin 1922, S. 23-25]


Die zukünftige Gesellschaft

Die freie Kommune und die freie Stadt

Jeden Tag gibt es neue Beweise für die kontinuierliche Zunahme von Bauernkommunen. Das ist völlig verständlich. In der Tat wurde das soziale Leben der Menschen bis heute von der Regierung und dem Kapitalismus gewaltsam und künstlich zerschlagen. Diese Tatsache, die durch die Zerstörungen, die durch die Massaker an den Völkern auf der ganzen Welt verursacht wurden, noch verstärkt wurde, hat die ärmsten Bauern gezwungen, Zuflucht in der gemeinsamen Ausbeutung des Landes zu suchen. Indem wir die Struktur der Agrarkommunen analysieren, die in einzelnen Bezirken zur Deckung der lebensnotwendigen Bedürfnisse geschaffen wurden, möchten wir den Arbeitern unsere Vorstellung von der anarchistischen freien Kommune in der zukünftigen Gesellschaft erläutern.

Die freie Kommune ist ein Zusammenschluss von Produzenten, Verbrauchern und Vertreibern, der durch ökonomische Bedürfnisse und manchmal auch durch gegenseitige Sympathien bestimmt wird. Darüber hinaus wird dieser Zusammenschluss, der sich durch unabhängige Aktivität und organisierte Kreativität auszeichnet, durch gegenseitige Bedürfnisse anderer Art bestimmt. Die anarchistische Kommune als autonome, selbstverwaltete Einheit der Arbeit und als Einheit der gesellschaftlichen Produktion geht enge Verbindungen mit den anderen freien Arbeitsgemeinschaften ein. Gemeinsam bilden sie in einem vertikalen Sinne eine Föderation von Kommunen. Alle Gemeinden, die zu diesem Verband gehören, organisieren einen Warenaustausch, bei dem jede Gemeinde die Produkte erhält, die sie im Austausch für ihre Überproduktion benötigt. All dies geschieht in freier Vereinbarung und gegenseitigem Einverständnis. Von einer Legislative für die Gemeinden oder ihren Verband kann keine Rede sein, denn das würde unweigerlich zum Niedergang und Bankrott der Gemeinden selbst führen.

Wir sind keine Sozialisten, keine Anhänger des Staates und auch keine bolschewistischen Kommunisten, die die Macht an sich reißen und von oben herab mit Gesetzen und Dekreten gewaltsam und künstlich den Kommunismus einführen und jede ihrer Entscheidungen (ob gut oder schlecht) mit allen Mitteln, auch mit Waffengewalt, untermauern. Die Kommunisten, die den Staat unterstützen, entgegnen: „Ja, das ist alles schön und gut. Aber wir kümmern uns wenig darum, was in der Zukunft passieren wird. Das ist eine Angelegenheit für zukünftige Generationen. Zeig uns, wie eine anarchistische Kommune heute, in der heutigen Zeit, organisiert werden kann, und sei es auch nur in begrenztem Umfang“. Darauf entgegnen wir, dass die anarchistische Kommune im wahrsten Sinne des Wortes heute unvorstellbar ist. Was jedoch möglich ist, ist, dass die Arbeiterorganisationen für den anarchistischen Kommunismus kämpfen, indem sie alle staatlichen Hindernisse für seine Verwirklichung niederreißen.

Sobald der Kampf beginnt, können wir damit beginnen, die freie Kommune zu organisieren, wenn auch nur rudimentär. Wir sagen, dass der Staatskommunismus nichts mit dem anarchistischen Kommunismus gemein hat, und behaupten daher kategorisch, dass die Verwirklichung der Freiheit durch den Staatssozialismus (wie die Sozialisten behaupten) undenkbar ist. Denn der Staatskommunismus ist autoritär und der Weg dorthin ist der der Verstaatlichung, was bedeutet, dass alle Produktions- und Tauschmittel nicht den autonomen Gewerkschaften/Syndikate der Arbeiter gehören, sondern dem Staat. Der Staat übernimmt alles, nicht nur die Unternehmen, sondern auch die Arbeiterorganisationen. Er monopolisiert alles auf die vollständigste Art und Weise, einschließlich Kunst und Literatur, und zielt nicht auf die Errichtung des Sozialismus, sondern des Staatskommunismus ab, der die kapitalistischen Ausbeuter durch eine gigantische, zerstörerische Faust, den Staat, ersetzt. Der Staatskommunismus will das staatliche Gewalt- und Zwangssystem nicht abschaffen, sondern nur umstrukturieren, indem er die alten Formen des bourgeoisen Staates durch eine neue Form, die einer kommunistischen Staatsordnung, ersetzt.

Wir Anarcho-Syndikalisten stellen dem Kollektivismus (Staatskommunismus) den freien anarchistischen Kommunismus gegenüber, der das Recht des Menschen auf sein eigenes Leben und die volle Befriedigung seiner Bedürfnisse anerkennt. Dieses Recht wird nicht als vulgäres Verhandlungsobjekt oder als Belohnung für ein bestimmtes Maß an geleisteter Arbeit gesehen, sondern als Teilhabe jedes Individuums entsprechend seiner Fähigkeiten am produktiven Leben. Dieser Anspruch kommt in der Formel zum Ausdruck, die der anarchistische Kommunismus zur Grundlage der freien Organisation macht: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“. Kommunismus außerhalb des Staates bedeutet, dass alle Produkte und alle Produktions- und Tauschmittel in das gemeinsame Eigentum von Produktionsverbänden und Bauern- und Arbeitergemeinschaften übergehen.

Der anarchistische Kommunismus schafft alle Formen der Zentralgewalt ab und strebt eine Dezentralisierung an, indem er den Staat in eine Vielzahl von autonomen und unabhängigen Arbeitsgruppen und Kommunen zerschlägt, die bisher durch die Autorität des Staates künstlich zusammengehalten wurden. Für die Lösung von Problemen, die mehrere Gemeinden betreffen, wird die freie Gemeinde eine Delegation von Fachleuten ernennen, die Anweisungen von der gesamten Kommune erhalten. Die Kommune selbst wird die notwendigen Entscheidungen auf der Grundlage der Ergebnisse der Sitzungen dieser Spezialisten treffen.

Was die freie Stadt betrifft, so sind wir der Meinung, dass sie sich für die Zwecke der Produktion und Verteilung in Form einer kommunalen Vereinigung organisieren muss. In der freien Stadt wird sich eine Masse von Kommunen bilden, die sich in den Gewerkschaften/Syndikaten der nach den verschiedenen gewerblichen Tätigkeiten organisierten Produzentengruppen zusammenschließen werden. Diese Gruppen werden über alle enteigneten Produktions- und Tauschmittel verfügen und in enger Harmonie miteinander arbeiten. Zum Zeitpunkt des entscheidenden Bruchs und während des Übergangs von der kapitalistischen Gesellschaft zum freien Kommunismus werden die Bauern- und Fabrikkomitees, flankiert von den Gewerkschaften/Syndikate, eine grundlegende Rolle bei der Organisation von Produktion und Vertrieb auf der Grundlage neuer Kriterien spielen. Wir Syndikalisten sehen in den revolutionären Gewerkschaften/Sydikat die Keimzelle der ersten Produzentengruppen. Zur Zeit des sozialen Aufstands (syndikalistische Revolution) und der Ausrufung der freien Stadt wird ihr Leben und ihre Tätigkeit durch die Neuorganisation der Produktion wesentlich erleichtert werden. Die Verteilung von Lebensmitteln wird von Genossenschaften und Organisationskomitees übernommen, die sich zu Straßenkomitees, Blockkomitees, Nachbarschaftskomitees und schließlich zu Stadtkomitees zusammenschließen werden. Diese organisieren die Verteilung der Grundbedürfnisse und lösen alle Probleme in Bezug auf Lebensmittel, Kleidung und Wohnraum.

In der Kommune oder freien Gruppe wird es keine Disziplin geben, die von irgendjemandem auferlegt wird, sondern bewusste Selbstdisziplin. Die Kommunen müssen lebendige Gebilde sein. Alle ihre Mitglieder müssen sich mit Begeisterung der produktiven Arbeit widmen, sich mit vollem Einsatz einsetzen und andere durch ihr Beispiel beeinflussen. Das Hauptziel jeder Kommune muss die volle und freie Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit sein. Innerhalb der Kommune muss jeder Aspekt des Lebens von gegenseitiger Solidarität geprägt sein: in der Produktion, bei der Verteilung, bei der Verteidigung gegen äußere Angriffe usw.

Die anarchistische Kommune ist völlig frei und wählt ohne Einfluss von außen ihren eigenen Rat oder ihre eigene Verwaltung, die als Exekutivkommission der Kommune dient, aber mehr nicht. Jede Kommune wird sich natürlich auf eigene Faust und unter Berücksichtigung der spezifischen Bedingungen ihres Standorts organisieren und gegebenenfalls die Entscheidung treffen, sich aufzulösen.

[N. I. Pavlov, „Svobodnaia kommuna i vol’nyi gorod“, in „Vol’nyi Golos Truda“, Moskau, 16. September 1918, S. 2-3]  

Anarchistischer Kommunismus

Ihre Gegner werfen den Anarchisten vor, utopisch und abstrakt zu sein. Sie definieren das anarchistische Ideal als eine Utopie, die auf einer Rückkehr zur Produktion und zur natürlichen Ökonomie beruht. Zugegebenermaßen sind es oft die Anarchisten selbst, die den Vorwand für solche Angriffe liefern, Anarchisten, die die sozialen und ökonomischen Prinzipien noch nicht ganz verstanden haben, die die Grundlage für den Aufbau einer libertären Gesellschaft bilden. Aus den geflügelten Worten des Rebellen Bakunin – dass die Leidenschaft zu zerstören auch eine schöpferische Leidenschaft ist – haben viele Anarchisten von heute nur eine oberflächliche, zweidimensionale Vorstellung abgeleitet. Sie sind der Meinung, dass das derzeitige Produktionssystem mit seiner gigantischen Industrie und Millionen von Arbeitern – Sklaven der Maschine – zerstört und völlig erneuert werden muss. Aus ihren Angaben geht jedoch nicht hervor, inwieweit die mechanisierte Produktion, die sich in den Großstädten konzentriert, beseitigt werden soll und was in Zukunft an ihre Stelle treten wird. Wir werden versuchen, etwas Licht in diese Fragen zu bringen.

In der Sphäre der politischen Ideale bedeutet Anarchismus einfach Anarchie oder das Fehlen von Autorität. In der sozialen und ökonomischen Sphäre gehört dieses Ideal einer staatenlosen Gesellschaft zum Kommunismus. Die soziale und ökonomische Zelle, auf die sich die anarchistische Gesellschaft stützt, ist die freie und unabhängige Kommune. Aber was bedeutet es, die gesamte zukünftige Gesellschaft auf die Kommune zu gründen? Das erste Missverständnis, auf das man bei der Diskussion dieser Frage stößt, selbst bei Anarchisten selbst, ist die Identifizierung der Idee der „Kommune“ mit der einer sozialen Einheit, die an ein genau definiertes Territorium mit genau abgegrenzten territorialen Grenzen gebunden ist. Die Kommune ist also gleichbedeutend mit dem ländlichen Dorf, mit einer bestimmten landwirtschaftlichen oder ökonomischen Einheit, die von einer Gruppe von Menschen nach kommunistischen Kriterien organisiert wird.

Das zweite Missverständnis, das eng mit dem ersten zusammenhängt, besteht darin, die so territorial definierte Kommune als unabhängigen und autarken ökonomischen Organismus zu betrachten, der in der Lage ist, alle Bedürfnisse seiner Mitglieder (so weit wie möglich) selbständig zu befriedigen.

Das Ergebnis ist ein Bild der anarchischen Gesellschaft, in der die Menschheit – je nach den individuellen Eigenheiten der verschiedenen Bevölkerungsgruppen – in größere oder kleinere Gemeinschaften aufgeteilt ist, die völlig unabhängig voneinander sind und sich so weit wie möglich selbst versorgen. Eine solche Vorstellung des anarchistischen Ideals impliziert jedoch die Ablehnung bestehender Produktions- und Tauschformen, die Rückkehr zu einer natürlichen Ökonomie und einer parzellierten handwerklichen Produktion sowie die Beendigung der Verteilung von Industriegütern innerhalb der sozialen Struktur als Ganzes. Es ist kaum nötig zu sagen, dass eine solche Vorstellung von der anarchistischen Gesellschaft völlig falsch ist. Genau darauf beziehen sich die Gegner des Anarchismus, wenn sie den Anarchisten vorwerfen, Utopisten oder gar bourgeoise Idealisten zu sein. Es lässt sich jedoch nicht leugnen, dass diese Interpretation der anarchistischen Gesellschaft zum Teil die Schuld der anarchistischen Theoretiker selbst ist, die das Problem der Rolle der Anarchisten in der postkapitalistischen Gesellschaft nicht ausreichend entwickelt haben. Eine besonders ungenaue Einschätzung der Bedeutung des kapitalistischen Erbes in einer zukünftigen Gesellschaft findet sich in Kropotkins Werk, in dem er vor allem die Tendenz zur Dezentralisierung des derzeitigen Produktionssystems betont. Was als Tatsache akzeptiert wurde, ist lediglich eine Tendenz. Die Tendenz zur Dezentralisierung wurde in der Industrie vorschnell erkannt und übertrieben, so dass der Eindruck entstand, dass in der zukünftigen Gesellschaft alles, was die Mitglieder der Kommune brauchen, vor Ort von der Kommune selbst produziert werden könnte. Der erste Irrglaube – die Bindung der Kommune an ein bestimmtes Gebiet – wird in anarchistischen theoretischen Werken häufig verwendet. Doch die Kommune, die die Grundlage der zukünftigen Gesellschaft bildet, ist nicht unbedingt an ein bestimmtes Gebiet gebunden. Die Kommune ist einfach ein Zusammenschluss von Individuen, die zusammenarbeiten, um gemeinsame Ziele zu erreichen. Jeder solche Zusammenschluss, egal wie groß oder unbedeutend er sein mag, wie umfangreich oder begrenzt seine Aktivitäten sind, stellt eine Kommune dar. Diese Gemeinschaft, die nicht durch eine genaue territoriale Grenze abgegrenzt ist, wird als extraterritoriale Gemeinschaft bezeichnet. Und es ist die extraterritoriale Kommune, die die soziale und ökonomische Grundlage der anarchistischen Gesellschaft bildet. Die Beziehungen dieser Kommunen zueinander sind komplex und eng miteinander verflochten, so dass die Kommunen in jedem Bereich miteinander in Beziehung stehen und ein einziges, unteilbares soziales Gefüge bilden.

Der zweite Irrglaube, der den oberflächlichen Kritikern des Anarchismus Auftrieb gegeben hat – die Verbindung zwischen dem anarchistischen sozialen Ideal und dem handwerklichen Produktionssystem – ist eng mit dem ersten verknüpft, aber um ihn zu klären, müssen wir ihn aus einem etwas anderen Blickwinkel analysieren. Um die Frage zu definieren, müssen wir das Problem unserer Haltung gegenüber der Autorität in einer postkapitalistischen Gesellschaft offen und klar diskutieren. Ist es wahr, dass Anarchisten durch die Zerstörung des bourgeoisen Systems auch das industrielle System der heutigen Gesellschaft verändern werden? Werden Anarchisten nach ihrem Sieg das Erbe des Kapitalismus berücksichtigen oder werden sie ihm den Rücken kehren und neue und andere Formen der Ökonomie schaffen? Werden sie diese menschlichen Ameisenhaufen, Fabriken und gigantischen Fabriken unangetastet lassen? Wird es in der anarchistischen Gesellschaft Unternehmen geben, in denen Zehntausende von Arbeitern unter einem Dach arbeiten? Werden diese städtischen Giganten weiterhin ihre Verführungskraft behalten und die Bevölkerung in ihre magnetischen Tentakel ziehen? Werden wir in der anarchistischen Gesellschaft die Arbeitsteilung und die mechanisierte Produktion in großem Maßstab beibehalten?

Das sind die Fragen, deren Antworten eine genaue Vorstellung von der zukünftigen Gesellschaft liefern werden. Zunächst einmal sei gesagt, dass es eine für den Anarchismus fatale Utopie wäre, alles, was der Kapitalismus im Bereich der Produktion und Verteilung geschaffen hat, pauschal abzulehnen. Im Bereich der Produktion und des Austauschs müssen wir die Fortsetzer des Kapitalismus sein. Wir dürfen das kapitalistische Erbe nicht ablehnen, sondern müssen es uns vollständig zu eigen machen. In dem vom Kapitalismus geschaffenen Produktionssystem gibt es viele positive, fortschrittliche Aspekte im Hinblick auf die Entwicklung der Menschheit. Wir werden unseren Sieg nicht dazu nutzen, die Menschheit in einen primitiven Zustand zurück zu versetzen. Wenn wir die Produktion übernehmen, werden wir keine einzige Maschine zerstören und keinen einzigen Hebel beschädigen. Wir werden weder unsere Fabriken und Anlagen aufgeben, noch werden wir sie durch ein idyllisches Leben in Hütten auf Wiesen und in Wäldern unter freiem Himmel ersetzen.

Im Gegenteil, wir werden unsere befreite Energie in die Fabriken bringen. Wir werden unseren Maschinen neue Kraft geben. Wir werden mit Beton, mit Glas und mit Stahl bauen wie Giganten, die es bisher noch nicht gegeben hat. Wir werden die Industrie zu neuen, noch nie dagewesenen Höhen führen. Unsere Städte werden nicht zertrümmert und verstreut sein. Stattdessen werden sie mit blühenden Gärten gefüllt sein und Millionen von Menschen werden sich freudig in den sonnigen Straßen tummeln.

Die anarchistische Gesellschaft wird die Produktion nicht zertrümmern, sondern zunehmend konsolidieren. Mit Stahlschienen und Dampfschiffen werden wir die entlegensten Winkel der Erde miteinander verbinden und dem Handel neue Ausdehnung und neuen Schwung verleihen. Wir werden neue Fabriken bauen, in denen Tausende von Arbeitern untergebracht werden können. So müssen diejenigen, die die Richtung der Gegenwart richtig erkannt und sich aus den Fängen der Vergangenheit befreit haben, die zukünftige Gesellschaft sehen. Aber welche Rolle wird die Kommune in der zukünftigen Gesellschaft spielen? Was wird sie werden? Welche Art von Organisation wird die Aufgabe übernehmen, die Bedürfnisse einer solchen Gesellschaft zu erfüllen? Liegt es nicht auf der Hand, dass die Produktionsgenossenschaften in einer solchen Gesellschaft eine entscheidende Rolle spielen werden, indem sie nach vorne marschieren und nicht in die Vergangenheit? Das Fundament der gesamten Gesellschaft werden starke Produktionsgenossenschaften sein, die durch ökonomische Zwänge gebunden sind, die von den Bedürfnissen der Produktion selbst diktiert werden.

Die vage Vorstellung von der Kommune als sozialer und ökonomischer Grundlage der Gesellschaft erhält so einen klar definierten Inhalt. Die Kommune der zukünftigen Gesellschaft ist ein Zusammenschluss von Arbeitern zur Produktion oder Verteilung. Deshalb dürfen Anarcho-Kommunisten bei ihrer Arbeit die Tatsache nicht aus den Augen verlieren, dass die Produktionsgenossenschaften der Arbeiter das Wesen eben jener Kommunen darstellen, auf denen das zukünftige Gebäude des Anarcho-Kommunismus errichtet werden wird.

[A. Grachev, „Anarkhicheskii kommunizm“, in „Golos Truda“, Petersburg, 15. September 1917, S. 3-4]

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Seltsame Niederlage: Die chilenische Revolution, 1973 – PointBlank! https://panopticon.blackblogs.org/2024/04/03/seltsame-niederlage-die-chilenische-revolution-1973-pointblank/ Wed, 03 Apr 2024 09:29:18 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5632 Continue reading ]]> Gefunden auf materiales x la emancipación, die Übersetzung ist von uns. Hiermit leiten wir eine weitere Reihe an, nämlich eine kritische Auseinandersetzung mit dem „chilenischen Sozialismus“, also der sogenannten Allende-Zeit von 1970 bis 1973.

Als ‚cordon industrial‘ sind autonome Praxen (sprich Organe) des Proletariats damals in Chile zu verstehen die die Besetzung und Selbstverwaltung (in Richtung realer Enteignung und Vergesellschaftung) vorangetrieben haben und sehr oft mit der ‚fortschrittlichen und sozialistischen Regierung von Allende‘, sprich die Linke des Kapitals, in Konflikt standen.


Seltsame Niederlage: Die chilenische Revolution, 1973 – PointBlank!

PointBlank! war eine situationistisch und rätekommunistisch inspirierte, basierende revolutionäre Gruppierung, die in den 1970er Jahren in den USA existierte. Das unten wiedergegebene Dokument, dessen Übersetzung durch die Columna Negra wir in dieser Ausgabe leicht modifiziert haben, bringt vehement einige klare Positionen gegen den revolutionären Prozess zum Ausdruck, der unter der Regierung der sozialdemokratischen Unidad Popular (Volkseinheit) und dem anschließenden Militärputsch stattgefunden hat. Neben dem Wert, den sie an sich als Beweis für die zeitgenössische revolutionäre Kritik an der reaktionären Tätigkeit des Reformismus hat, die von der UP und ihrem linken Flügel vertreten wird, spiegelt der in den folgenden Zeilen verteidigte Inhalt allgemein das vitale Bedürfnis des Proletariats wider, seine Kämpfe autonom zu führen, bis es seine wirkliche Emanzipation erreicht hat, weshalb die Richtigkeit seiner Kritik und seiner Positionen nicht an Gültigkeit verliert. Dies ist jedoch kein historiographisches Dokument und wurde unmittelbar nach dem Putsch von geographisch weit entfernten Gefährten durchgeführt. Daher mag es einige historische Ungereimtheiten geben, von denen wir hoffen, dass sie kritisiert und im Zusammenhang verstanden werden. Das Originaldokument in englischer Sprache kann von der Website libcom.org Strange defeat: The Chilean revolution, 1973 – Pointblank! heruntergeladen werden.

***

I

In der spektakulären Arena der als „Nachrichten“ anerkannten Ereignisse wurde das Begräbnis der Sozialdemokratie in Chile von denjenigen als großes Drama inszeniert, die den Aufstieg und Fall von Regierungen intuitiver verstehen: andere Spezialisten der Macht. Die neuesten Szenen des chilenischen Drehbuchs wurden in verschiedenen politischen Bereichen entsprechend den Anforderungen bestimmter Ideologien geschrieben. Einige sind gekommen, um Allende zu begraben, andere, um ihn zu loben. Wieder andere behaupten, seine Fehler ex post facto1 anzuerkennen. Welche Gefühle auch immer zum Ausdruck gebracht werden, diese Nachrufe wurden lange im Voraus verfasst. Die Organisatoren der „öffentlichen Meinung“ können nur reflexartig und mit einer charakteristischen Verzerrung der Ereignisse selbst reagieren.

Während die jeweiligen Blöcke der Weltmeinung „ihre Seite wählen“, wird die chilenische Tragödie im internationalen Maßstab als Farce reproduziert; der Klassenkampf in Chile wird als Pseudokonflikt zwischen rivalisierenden Ideologien getarnt. In ideologischen Diskussionen wird nichts von denen zu hören sein, für die der „Sozialismus“ des Allende-Regimes angeblich gedacht war: die Arbeiter*innen und Bäuer*innen. Ihr Schweigen wurde nicht nur von denen zugesichert, die sie in ihren Fabriken, Feldern und Häusern mit Maschinengewehren bewaffnet haben, sondern auch von denen, die vorgaben (und weiterhin vorgeben), ihre „Interessen“ zu vertreten. Trotz tausend Fälschungen sind die Kräfte, die an dem „chilenischen Experiment“ beteiligt waren, noch nicht erschöpft. Sein wirklicher Inhalt wird sich erst herausstellen, wenn die Formen seiner Interpretation entmystifiziert sind.

Vor allem Chile hat die so genannte Linke in allen Ländern fasziniert. Und indem sie die Gräueltaten der gegenwärtigen Junta dokumentieren, versuchen alle Parteien und Sekten, die Dummheiten ihrer früheren Analysen in Einklang zu bringen. Von den Bürokraten an der Macht in Moskau, Peking und Havanna bis hin zu den Bürokraten im Exil der trotzkistischen Bewegungen bietet ein liturgischer Chor linker Thronanwärter ihre postmortalen Einschätzungen Chiles an, deren Schlussfolgerungen ebenso vorhersehbar sind wie ihre Rhetorik. Die Unterschiede zwischen ihnen sind nur hierarchischer Natur; sie teilen eine leninistische Terminologie, die 50 Jahre Konterrevolution in der ganzen Welt zum Ausdruck bringt.

Die stalinistischen Parteien des Westens und die „sozialistischen“ Staaten betrachten Allendes Niederlage zu Recht als ihre eigene Niederlage: Er war einer der ihren – ein Staatsmann. Mit der falschen Logik, die einen wesentlichen Mechanismus ihrer Macht ausmacht, verurteilen diejenigen, die viel über den Staat und die (Niederlage der) Revolution wissen, den Sturz eines bourgeoisen, konstitutionellen Regimes. Die „linken“ Hochstapler des Trotzkismus und Maoismus ihrerseits können das Fehlen einer „Avantgardepartei“ – des deus ex machina2 des senilen Bolschewismus – in Chile nur beklagen. Diejenigen, die die Niederlage der Revolution in Kronstadt und Shanghai geerbt haben, wissen, wovon sie sprechen: Das leninistische Projekt erfordert die absolute Auferlegung eines deformierten „Klassenbewusstseins“ (das Bewusstsein einer bürokratischen herrschenden Klasse) gegenüber denen, die in ihren Entwürfen nur „die Massen“ sind.

Die Dimensionen der „chilenischen Revolution“ liegen außerhalb der Grenzen einer bestimmten Doktrin. Während die „Antiimperialisten“ der Welt – aus sicherer Entfernung – die sehr bequemen Vogelscheuchen der CIA anprangern, müssen die wahren Gründe für die Niederlage des chilenischen Proletariats anderswo gesucht werden. Allende, der Märtyrer, war derselbe Allende, der in den Wochen vor dem Putsch die Arbeitermilizen von Santiago und Valparaiso entwaffnet und sie dem Militär, dessen Offiziere bereits in seinem Kabinett waren, schutzlos ausgeliefert hatte.

Diese Aktionen können nicht einfach als „Klassenkollaboration“ oder „Verrat“ erklärt werden. Die Bedingungen für die bizarre Niederlage der Unidad Popular wurden lange im Voraus vorbereitet. Die sozialen Widersprüche, die im August und September auf den Straßen und Feldern Chiles auftraten, waren nicht einfach nur Trennungen zwischen „links“ und „rechts“, sondern beinhalteten einen Widerspruch zwischen dem chilenischen Proletariat und den Politikern aller Parteien, einschließlich derer, die sich als die „revolutionärsten“ ausgaben. In einem „unterentwickelten“ Land war ein hochentwickelter Klassenkampf entstanden, der die Positionen all jener bedrohte, die die Unterentwicklung aufrechterhalten wollten, sowohl wirtschaftlich durch die fortgesetzte imperialistische Herrschaft als auch politisch durch die Verzögerung einer echten proletarischen Macht in Chile.

II

Überall erzeugt die Expansion des Kapitals seinen scheinbaren Widerstand in Form von nationalistischen Bewegungen, die sich die Produktionsmittel „im Namen“ der Ausgebeuteten aneignen und für sich so die soziale und politische Macht aneignen wollen. Die imperialistische Gewinnung von Mehrwert hat ihre sozialen und politischen Folgen nicht nur in der erzwungenen Armut der Menschen, die ihre Arbeiter*innen werden müssen, sondern auch in der sekundären Rolle, die der lokalen Bourgeoisie zugewiesen wird, die nicht in der Lage ist, ihre volle Hegemonie über die Gesellschaft zu errichten. Es ist genau diese Leere, die die „nationalen Befreiungsbewegungen“ zu besetzen versuchen und damit die Führungsrolle übernehmen, die nicht von der abhängigen Bourgeoisie gespielt wird. Dieser Prozess hat viele Formen angenommen – von Gaddafis religiöser Fremdenfeindlichkeit bis hin zu Maos bürokratischer Religion – aber in jedem Fall sind die Marschbefehle des „Antiimperialismus“ die gleichen, und diejenigen, die sie erteilen, sind in identischen Befehlspositionen.

Die imperialistische Verzerrung der chilenischen Wirtschaft bot eine Öffnung für eine populäre Bewegung, die eine nationale kapitalistische Basis schaffen wollte. Der relativ fortgeschrittene wirtschaftliche Status Chiles verhinderte jedoch die Art von bürokratischer Entwicklung, die in anderen Gebieten der „Dritten Welt“ mit Waffengewalt an die Macht gekommen ist (ein Begriff, der verwendet wurde, um die tatsächlichen Klassenunterschiede in diesen Ländern zu überwinden). Die Tatsache, dass die „fortschrittliche“ Unidad Popular als reformistische Koalition einen Wahlsieg erringen konnte, war ein Spiegelbild der eigentümlichen Gesellschaftsstruktur in Chile, die in vielerlei Hinsicht der der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder ähnelte. Gleichzeitig schuf die kapitalistische Industrialisierung die Voraussetzungen für die mögliche Überwindung dieser bürokratischen Alternative in Form eines ländlichen und städtischen Proletariats, das sich als die wichtigste Klasse mit revolutionären Bestrebungen herausbildete. In Chile sollten Christdemokraten und Sozialdemokraten die Widersacher einer radikalen Lösung der bestehenden Probleme sein.

Bis zur Ankunft der UP blieben die Widersprüche in der chilenischen Linken zwischen einer radikalen Basis von Arbeiter*innen und Bäuer*innn und ihren so genannten politischen „Vertretern“ weitgehend in Form eines latenten Antagonismus bestehen. Die linken Parteien waren in der Lage, eine populäre Bewegung allein auf der Grundlage der ausländischen Bedrohung durch das US-Kapital zu organisieren. Kommunisten und Sozialisten konnten ihr Bild von authentischen Nationalisten unter der christdemokratischen Regierung aufrechterhalten, da Frei’s Programm der „Chilenisierung“ (das eine Politik der Agrarreform einschloss, die später von Allende bewusst nachgeahmt wurde) ausdrücklich mit der von Nordamerika gesponserten „Allianz für den Fortschritt“ verbunden war. Die offizielle Linke konnte ihre eigene Allianz innerhalb Chiles aufbauen, indem sie sich nicht dem Reformismus an sich, sondern dem Reformismus mit externen Verbindungen entgegenstellte. Das Oppositionsprogramm der chilenischen Linken wurde trotz seines moderaten Charakters erst nach den – unabhängig von den Parteien organisierten – militanten Streiks in den 1960er Jahren angenommen, die die Existenz des Frei-Regimes bedrohten.

Die künftige UP würde sich in einem Raum bewegen, der durch die radikalen Aktionen der Arbeiter*innen und Bäuer*innen eröffnet wurde; sie setzte sich als institutionalisierte Vertretung proletarischer Anliegen durch, soweit sie in der Lage war, diese zu rekuperieren. Trotz des äußerst radikalen Charakters vieler früherer Streiks (zu denen auch Fabrikbesetzungen und die Verwaltung verschiedener Industriebetriebe, vor allem bei COOTRALACO3, gehörten), fehlte der Praxis des chilenischen Proletariats ein entsprechender theoretischer oder organisatorischer Ausdruck, und dieses Versäumnis, seine Autonomie zu behaupten, machte es anfällig für Manipulationen durch Politiker. Trotzdem war der Kampf zwischen Reform und Revolution noch lange nicht entschieden.

III

Die Wahl des Freimaurers Allende bedeutete zwar keineswegs, dass die Arbeiter*innen und Bäuer*innen ihre eigene Macht erlangt hatten, verschärfte aber dennoch den Klassenkampf in ganz Chile. Entgegen den Behauptungen der UP, die Arbeiter*innklasse habe einen großen „Sieg“ errungen, setzten sowohl das Proletariat als auch seine Feinde ihren Kampf außerhalb der herkömmlichen parlamentarischen Kanäle fort. Obwohl Allende den Arbeiter*innen ständig versicherte, dass beide einen „gemeinsamen Kampf“ führten, offenbarte er den wahren Charakter seines Sozialismus per Dekret gleich zu Beginn seiner Regierung, als er das Statut unterzeichnete, das formal garantierte, dass er die bourgeoise Verfassung treu einhalten würde. Nachdem die UP mit einem „radikalen“ Programm an die Macht gekommen war, geriet sie in Konflikt mit einer wachsenden revolutionären Strömung an ihrer Basis. Als das chilenische Proletariat zeigte, dass es bereit war, die Slogans des UP-Programms wörtlich zu nehmen – Slogans, die sich nur als leere Rhetorik und unerfüllte Versprechen der bürokratischen Koalition herausstellten – und sie in die Praxis umzusetzen, wurden die Widersprüche zwischen Form und Inhalt der chilenischen Revolution deutlich. Die Bäuer*innen und Arbeiter*innen Chiles begannen, für sich selbst zu sprechen und zu handeln.

Trotz seines „Marxismus“ war Allende nie mehr als ein Verwalter staatlicher Interventionen in einer kapitalistischen Ökonomie. Allendes Etatismus – eine Form des Staatskapitalismus, die den Aufstieg aller Verwalter der Unterentwicklung begleitete – war nichts weiter als eine quantitative Ausweitung der christdemokratischen Politik. Mit der Verstaatlichung der Kupferminen und anderer Industriezweige setzte Allende die Zentralisierung der Ökonomie unter der Kontrolle des chilenischen Staatsapparats fort – eine Zentralisierung, die der „Erzfeind der Linken“, Frei, eingeleitet hatte. Allende war nämlich gezwungen, bestimmte Unternehmen zu verstaatlichen, weil sie spontan von ihren Beschäftigten besetzt worden waren. Indem er die Selbstverwaltung der Industrie durch die Deaktivierung dieser Besetzungen verhinderte, stellte sich Allende aktiv gegen die Einführung sozialistischer Produktionsverhältnisse. Infolgedessen tauschten die chilenischen Arbeiter*innen nur eine Reihe von Bossen gegen eine andere aus: die herrschende Bürokratie statt Kennecott oder Anaconda, die ihre entfremdete Arbeit lenkten. Diese scheinbare Veränderung konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der chilenische Kapitalismus sich selbst aufrechterhält. Von den Profiten der multinationalen Konzerne bis hin zu den „Fünfjahresplänen“ des internationalen Stalinismus – die Akkumulation des Kapitals erfolgt immer auf Kosten des Proletariats.

Dass Regierungen und soziale Revolutionen nichts gemeinsam haben, zeigte sich auch in den ländlichen Gebieten. Im Gegensatz zur bürokratischen Verwaltung der „Agrarreform“, die vom Allende-Regime geerbt und fortgesetzt wurde, boten die spontanen bewaffneten Übernahmen von Großgrundbesitz eine revolutionäre Antwort auf das „Landproblem“. Trotz aller Bemühungen der CORA (Corporación de la Reforma Agraria), diese Enteignungen durch die Vermittlung von „Bauerngenossenschaften“ (Siedlungen) zu verhindern, ging die direkte Aktion der Bäuer*innen über diese illusorischen Formen der „Beteiligung“ hinaus. Viele der Landerwerbe wurden von der Regierung erst legitimiert, nachdem der Druck der Bäuer*innen es unmöglich machte, anders zu handeln. In der Erkenntnis, dass solche Aktionen sowohl ihre eigene Autorität als auch die der Landbesitzer in Frage stellten, ließ die UP nie eine Gelegenheit aus, „wahllose“ Enteignungen anzuprangern und zu einer „Verlangsamung“ aufzurufen.

Die autonomen Aktionen des städtischen und ländlichen Proletariats bildeten die Grundlage für die Entwicklung einer bedeutenden Bewegung zur Linken der Regierung Allende. Zugleich bot diese Bewegung eine weitere Gelegenheit für die politische Repräsentation, sich in den Realitäten des Klassenkampfes in Chile zu behaupten. Diese Rolle übernahmen die militanten Guevaristen der MIR und ihr ländliches Pendant, die MCR (Movimiento Campesino Revolucionario), denen es gelang, viele der radikalen Errungenschaften der Arbeiter*innen und Bäuer*innen zurückzufordern. Die miristische Parole der „bewaffneten Revolution“ und ihre obligatorische Ablehnung der Wahlpolitik waren bloße Gesten: Kurz nach den Wahlen von 1970 wurde ein Elitekorps der ehemaligen Stadtguerilla der MIR Allendes auserwählte persönliche Palastwache. Die Verbindungen zwischen der MIR-MCR und der UP gingen über rein taktische Erwägungen hinaus – beide hatten gemeinsame Interessen zu verteidigen. Trotz der revolutionären Haltung der MIR handelte sie in Übereinstimmung mit den bürokratischen Forderungen der UP: Wann immer die Regierung in Schwierigkeiten war, bewegten die Helfer der MIR ihre Militante um die Flagge der UP. Wenn die MIR es nicht schaffte, die „Vorhut“ des chilenischen Proletariats zu sein, dann nicht, weil sie nicht avantgardistisch genug war, sondern weil ihre Strategie von denen, die sie zu manipulieren versuchte, abgelehnt wurde.

IV

Die Aktivitäten der Rechten in Chile nahmen zu, nicht als Reaktion auf irgendeinen Regierungserlass, sondern wegen der direkten Bedrohung, die von der Unabhängigkeit des Proletariats ausgeht. Angesichts der wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten konnte die UP nur von „rechter Sabotage“ und dem Starrsinn einer „Arbeiteraristokratie“ sprechen. Trotz aller ohnmächtigen Denunziationen der Regierung waren diese „Schwierigkeiten“ soziale Probleme, die nur durch die Errichtung einer revolutionären Macht in Chile radikal gelöst werden konnten. Trotz ihres Anspruchs, „die Arbeiterrechte zu verteidigen“, erwies sich die Regierung Allende als machtloser Zuschauer im Klassenkampf, der außerhalb formaler politischer Strukturen geführt wurde. Es waren die Arbeiter*innen und Bäuer*innen selbst, die die Initiative gegen die Reaktion ergriffen und dabei neue und radikale Formen der gesellschaftlichen Organisation schufen, Formen, die Ausdruck eines hoch entwickelten Klassenbewusstseins waren. Nach dem Streik der Bosse im Oktober 1972 warteten die Arbeiter*innen nicht auf das Eingreifen der UP, sondern besetzten aktiv die Fabriken und begannen, ohne gewerkschaftliche oder staatliche „Unterstützung“ selbst zu produzieren. Die cordones industriales, die den Vertrieb der Produkte kontrollierten und koordinierten und die bewaffnete Verteidigung gegen die Bosse organisierten, bildeten sich in den Fabriken. Im Gegensatz zu den von der UP versprochenen „populären Vollversammlungen“, die nur auf dem Papier existierten, wurden die Absperrungen (cordones)von den Arbeiter*innen selbst errichtet. In ihrer Struktur und Arbeitsweise waren diese Komitees – zusammen mit den ländlichen Räten – die ersten Manifestationen einer Rätetendenz und stellten als solche den wichtigsten Beitrag zur Entwicklung einer revolutionären Situation in Chile dar.

Eine ähnliche Situation bestand in den Vierteln, in denen die ineffizienten, von der Regierung kontrollierten „Versorgungsausschüsse“ (JAP)4 durch die Ausrufung von „selbstverwalteten Vierteln“ und die Organisation kommunaler Kommandos durch die Bewohner überwunden wurden. Trotz ihrer Unterwanderung durch MIR-Loyalisten bildeten diese bewaffneten Enteignungen des sozialen Raums den Ausgangspunkt für eine echte proletarische Macht. Zum ersten Mal konnten Menschen, die zuvor von der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen waren, Entscheidungen über die grundlegendsten Realitäten ihres täglichen Lebens treffen. Die Männer, Frauen und Jugendlichen der Städte entdeckten, dass Revolution keine Frage der Wahlurne war; wie auch immer die Ortschaft/Gegend/Kiez hieß – Nueva Habana, Vietnam Heroico (Neu-Havanna, heldenhaftes Vietnam) -, was dort geschah, hatte nichts mit den entfremdeten Landschaften ihrer Namensvettern zu tun.

Obwohl die Errungenschaften der populären Initiativen beträchtlich waren, kam eine dritte Kraft, die eine revolutionäre Alternative zur Regierung und den Reaktionären darstellen konnte, nie ganz zum Vorschein. Den Arbeiter*innen und Bäuer*innen gelang es nicht, ihre Errungenschaften so weit auszuweiten, dass sie das Allende-Regime durch ihre eigene Macht ersetzten. Ihr so genannter „Verbündeter“, die MIR, benutzte ihren Diskurs über den Widerstand gegen den Bürokratismus mit den „bewaffneten Massen“ als Maske für ihre eigenen Intrigen. In ihrem leninistischen Schema wurden die cordones als „Kampfformen“ angesehen, die den Weg für zukünftige, weniger „eingeschränkte“ Organisationsmodelle ebnen könnten, deren Führung zweifellos von der MIR übernommen werden würde.

Bei aller Besorgnis über die Pläne des rechten Flügels, die seine Existenz bedrohten, hinderte die Regierung die Arbeiter*innen daran, positive Maßnahmen zur Lösung des Klassenkampfes in Chile zu ergreifen. Damit ging die Initiative aus den Händen der Arbeiter*innen an die Regierung über, und indem sich das chilenische Proletariat nach außen manövrieren ließ, ebnete es den Weg für seine künftige Niederlage. Als Reaktion auf Allendes Plädoyer nach dem gescheiterten Putsch vom 29. Juni besetzten die Arbeiter*innen weitere Fabriken, nur um sich hinter den Kräften zu verschanzen, die sie einen Monat später entwaffnen sollten. Diese Besetzungen wurden nach wie vor von der UP und ihren Vermittlern in der nationalen Gewerkschaft CUT definiert, die die Arbeiter*innen voneinander isolierten, indem sie sie innerhalb der Fabriken einschlossen. In einer solchen Situation war das Proletariat machtlos, einen unabhängigen Kampf zu führen, und sobald das Waffenkontrollgesetz unterzeichnet war, war ihr Schicksal besiegelt. Wie die spanischen Republikaner, die den anarchistischen Milizen an der aragonischen Front Waffen verweigerten, war auch Allende nicht bereit, die Existenz einer bewaffneten proletarischen Kraft außerhalb seines eigenen Regimes zu tolerieren. Alle Verschwörungen der Rechten hätten nicht einen Tag gedauert, wenn die chilenischen Arbeiter*innen und Bäuer*innen bewaffnet gewesen wären und ihre eigenen Milizen organisiert hätten. Obwohl die MIR gegen den Eintritt des Militärs in die Regierung protestierte, sprachen sie, wie ihre Vorgänger in Uruguay, die Tupamaros, nur über die Bewaffnung der Arbeiter*innen und hatten mit dem Widerstand, der stattfand, wenig zu tun. Die Losung der Arbeiter*innen „Un pueblo desarmado es un pueblo derrotado – Ein unbewaffnetes Volk ist ein besiegtes Volk“ sollte ihre bittere Wahrheit in den Massakern an Arbeiter*innen und Bäuer*innen finden, die dem Militärputsch folgten.

Allende wurde nicht wegen seiner Reformen gestürzt, sondern weil er nicht in der Lage war, die revolutionäre Bewegung zu kontrollieren, die sich spontan an der Basis der UP entwickelte. Die Junta, die an seiner Stelle installiert wurde, nahm die Bedrohung der Revolution klar wahr und widmete sich ihrer Beseitigung mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln. Es war kein Zufall, dass der stärkste Widerstand gegen die Diktatur in den Gebieten stattfand, in denen die Arbeiter*innenmacht am weitesten gegangen war. In der Textilfabrik SUMAR und in Concepción zum Beispiel war die Junta gezwungen, diese Macht durch Bombenangriffe aus der Luft zu liquidieren. Infolge der Politik Allendes konnte das Militär freie Hand bei der Vollendung dessen haben, was unter der UP-Regierung begann: Allende war ebenso wie Pinochet für die Massenmorde an Arbeiter*innen und Bäuer*innen in Santiago, Valparaiso, Antofagasta und anderen Provinzen verantwortlich. Die vielleicht aufschlussreichste aller Ironien, die mit dem Sturz der UP einhergingen, ist die Tatsache, dass viele von Allendes Anhänger*innen den Putsch zwar nicht überlebt haben, wohl aber viele seiner Reformen. Den politischen Kategorien wurde so wenig Bedeutung beigemessen, dass der neue Außenminister sich selbst als „Sozialist“ bezeichnete.

V

Radikale Bewegungen bleiben in dem Maße unterentwickelt, wie sie die Entfremdung respektieren und ihre Macht an externe Kräfte abgeben, anstatt sie selbst zu schaffen. In Chile beschleunigten Revolutionäre ihren eigenen Thermidor-Tag5, indem sie „Repräsentanten“ in ihrem Namen sprechen und handeln ließen: Obwohl die parlamentarische Autorität faktisch durch die cordones ersetzt worden war, gingen die Arbeiter*innen nicht über diese Bedingungen der Doppelherrschaft hinaus, um den bourgeoisen Staat und die Parteien, die ihn aufrechterhalten, abzuschaffen. Wenn zukünftige Kämpfe in Chile voranschreiten sollen, müssen die Feinde innerhalb der Arbeiter*innenbewegung praktisch überwunden werden; die Rätetendenzen in den Fabriken, Städten und auf den Feldern müssen alles oder nichts sein. Alle Avantgarde-Parteien, die sich weiterhin als „Führer der Arbeiter*innen“ ausgeben – sei es die MIR, eine klandestine KP oder irgendeine andere Untergrund-Splittergruppe – können nur den Verrat der Vergangenheit wiederholen. Dem ideologischen Imperialismus muss so radikal begegnet werden, wie der ökonomische Imperialismus enteignet wurde; Arbeiter*innen und Bäuer*innen können sich nur auf sich selbst verlassen, um über das hinauszukommen, was die cordones industriales erreicht haben.

Vergleiche zwischen der chilenischen Erfahrung und der spanischen Revolution von 1936 wurden bereits gemacht, und nicht nur hier findet man seltsame Worte von Trotzkisten, die die Arbeiter*innenmilizen loben, die gegen jede Form der Hierarchie kämpften. Es stimmt zwar, dass in Chile eine dritte radikale Kraft entstand, aber nur zögerlich. Anders als das spanische Proletariat haben die chilenischen Revolutionäre nie eine neue Gesellschaftsform auf der Grundlage einer Organisation von Räten geschaffen, und die chilenische Revolution wird nur dann triumphieren, wenn diese Formen (Gebiete, Kommandos) ihre soziale Hegemonie durchsetzen können. Die Hindernisse für seine Entwicklung sind ähnlich wie in Spanien: Die spanischen Räte und Milizen hatten zwei Feinde, in Form des Faschismus und der republikanischen Regierung, während die chilenischen Arbeiter*innen dem internationalen Kapitalismus und den sozialdemokratischen Manipulierer*innen und dem Leninismus gegenüberstanden.

Von den Favelas in Brasilien bis zu den Arbeitslagern in Kuba ist das Proletariat weder in Lateinamerika noch anderswo an der Macht, und diese Ohnmacht treibt es ständig zu neuen Aktionen. Die chilenischen Arbeiter*innen stehen mit ihrem Widerstand gegen die Kräfte der Konterrevolution nicht allein; die revolutionäre Bewegung, die in Mexiko mit den Guerillagruppen von Villa begann, ist noch nicht zu Ende. In den Arbeiter*innenmilizen, die 1965 in den Straßen von Santo Domingo kämpften, dem städtischen Aufstand in Córdoba, Argentinien, 1969, und den jüngsten Streiks und Besetzungen in Bolivien und Uruguay, den spontanen Arbeiter*innen- und Student*innenenrevolten in Trinidad 1970 und der anhaltenden revolutionären Krise in der Karibik, hat das lateinamerikanische Proletariat eine kontinuierliche Offensive gegen all jene aufrechterhalten, die versuchen, die gegenwärtigen Bedingungen aufrechtzuerhalten.

In seinem Kampf sieht sich das Proletariat mehreren Karikaturen der Revolution gegenüber, die sich als seine Verbündeten ausgeben. Diese Transvestiten haben wiederum in der so genannten „ultralinken“ Opposition eine falsche Bewegung gefunden. So bereitet der Ex-Faschist Perón den Aufbau eines korporativen Staates in Argentinien vor, diesmal in linker Verkleidung, während die trotzkistischen Kommandos der ERP ihn dafür anprangern, nicht „revolutionär“ genug zu sein, und der Ex-Guerillakämpfer Castro all jene schimpft, die nicht den Standards der „kommunistischen“ Disziplin entsprechen. Die Geschichte wird nicht daran scheitern, die Macht dieser Idioten aufzulösen.

Eine Verschwörung der Tradition – mit Agenten sowohl auf der linken als auch auf der rechten Seite – sorgt dafür, dass die bestehende Realität immer in Form von falschen Alternativen dargestellt wird. Die einzigen akzeptablen Alternativen zur Macht sind die zwischen konkurrierenden Hierarchien: den Obersten von Peru oder den Generälen von Brasilien, den Armeen der arabischen Staaten oder denen Israels. Diese Gegensätze sind nur Ausdruck von Spaltungen innerhalb des globalen Kapitalismus, und jede wirklich revolutionäre Alternative muss sich auf den Trümmern dieser spektakulären Konflikte einrichten. Den kombinierten Lügen der Bourgeoisie und der bürokratischen Macht muss eine revolutionäre Wahrheit in Waffen gegenübergestellt werden, überall auf der Welt wie in Chile. Es kann keinen „Sozialismus in einem Land“ oder in einer Fabrik oder einem Bezirk geben. Revolution ist eine internationale Aufgabe, die nur auf internationaler Ebene gelöst werden kann – sie kennt keine kontinentalen Grenzen. Wie jede Revolution erfordert auch die chilenische Revolution den Triumph ähnlicher Bewegungen in anderen Gegenden. Überall, bei den wilden Streiks in den Vereinigten Staaten und Westdeutschland, den Fabrikbesetzungen in Frankreich und den zivilen Aufständen in der UdSSR, werden die Grundlagen für eine neue Welt gelegt. Diejenigen, die sich in dieser globalen Bewegung erkennen, müssen die Gelegenheit ergreifen, sie mit allen ihnen zur Verfügung stehenden subversiven Waffen zu verbreiten.

Oktober 1973


1A.d.Ü., rückwirkend

2A.d.Ü., „(wenn) Gott aus einer Maschine (auftritt)“. So die Bedeutung aus dem Latein, heutzutage wird es auch verwendet um zu beschreiben wenn eine Person oder eine Begebenheit unerwartet auftritt.

3Im November 1968 traten 126 Arbeiter der Industrie „Andrés Hidalgo y Cia“ wegen der Schulden, die der Chef bei ihnen hatte, in den Streik. Nach einem Mobilisierungsprozess mit traditionellen Mitteln, der keine Früchte trug, beschlossen die Arbeiterinnen und Arbeiter, die Fabrik zu übernehmen und sie selbst zu verwalten. Ehemalige Kader linker Parteien und Arbeiter ohne Parteimitgliedschaft waren an dieser Initiative beteiligt: „Unter uns gibt es keine Frage, welcher Partei du angehörst. Unsere Definition lautet, ob du in der Praxis mit den Arbeitern oder gegen sie bist. Wir akzeptieren nicht, dass ideologische Differenzen uns lähmen. Wir stellen die traditionelle Gewerkschaftsbewegung in Frage, den Kampf innerhalb des Arbeitsrechts, ein Instrument der Ausbeutung der Bourgeoisie“ (Revista „Punto Final“ Nº 90, Oktober 1969). Anmerkung der vorliegenden Ausgabe.

4An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass die JAP nicht nur ein bloßes Instrument der Regierung waren, um auf das Horten zu reagieren (eine reaktionäre Maßnahme, die von Teilen der Bourgeoisie gefördert wurde, die mit der politischen Rechten verbunden sind), sondern dass sie, wie andere Erfahrungen an der Basis, in der Praxis die von der Macht auferlegten Grenzen überschritten. Darüber hinaus waren sie Räume, in denen der Protagonismus der Frauen betont wurde, indem sie in der Praxis mit der ihnen von der patriarchalischen Kultur zugewiesenen sekundären Rolle brachen, auch wenn diese Beteiligung zum Teil als Erweiterung der Räume des sozialen Kampfes, der traditionellen Frauenrollen in Bezug auf die Hausarbeit erreicht wurde. Auf der anderen Seite waren die JAPs Teil der Comandos Comunales. Anmerkung der vorliegenden Ausgabe.

5A.d.Ü., der Thermidor ist der elfte Monat nach dem republikanischen Kalender der französischen Revolution (1789-1799). In dem Sinne bezeichnet man auch eine Kehrtwendung von revolutionären Idealen oder Kämpfen in deren Enthauptung und infolgedessen zur (eigenwilligen) Niederlage. Der bekannte historische Beispiele der sich auf diesen Begriff stützt ist die Verhaftung von Robespierre in der französischen Revolution.

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(1932/1938) Karl Korsch, Zur Geschichte der marxistischen Ideologie in Rußland https://panopticon.blackblogs.org/2024/04/03/1932-1938-karl-korsch-zur-geschichte-der-marxistischen-ideologie-in-russland/ Wed, 03 Apr 2024 09:26:32 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5630 Continue reading ]]>

Gefunden auf marxists.org, es gibt selten bessere Texte als wenn Kommunisten und Kommunistinnen selbst den Leninismus kritisieren.


(1932/1938) Karl Korsch, Zur Geschichte der marxistischen Ideologie in Rußland

In: Gegner (Berlin), 6. Jg., Nr.3 (5.2.1932), S.9-12.
Erweiterte englische Fassung in: Living Marxism, Chicago, Bd.4, Nr.2 (März 1938). S.44-50
Deutsche Übersetzung des Anhanges: Joachim Perels.1

Es handelt sich um ein besonders deutliches Beispiel für jenen frappierenden Widerspruch, welcher in der einen oder anderen Form in allen Phasen der geschichtlichen Entwicklung des Marxismus bemerkbar ist. Er ist zu charakterisieren als der Widerspruch zwischen der marxistischen Ideologie einerseits und der unter dieser ideologischen Verkleidung jeweils verborgenen wirklichen geschichtlichen Bewegung andererseits.

[Es ist fast ein Jahrhundert her, seit ein besonderer von Berlin bestellter Zensor, der den lokalen Regierungsstellen in Köln die schwierige Aufgabe abnehmen sollte, mit dem „ultra-demokratischen“ Presseerzeugnis des 24 Jahre alten Karl Marx fertig zu werden, der preußischen Regierung berichtete, daß der Rheinischen Zeitung gefahrlos ihr Weitererscheinen erlaubt werden könne, nachdem der „Spiritus Rector des ganzen Unternehmens, Dr. Marx“ sich endgültig aus seiner Position zurückgezogen habe; es gebe keine Möglichkeit einen Nachfolger zu finden, der in der Lage wäre, die „abstoßende Dignität“ zu erreichen, die diese Zeitung bis jetzt ausgezeichnet habe, oder „ihre Politik mit Energie fortsetzen könne“. Dieser Ratschlag wurde jedoch von den preußischen Regierungsstellen nicht befolgt. Sie wurden in dieser Angelegenheit, wie inzwischen bekannt geworden ist, vom russischen Zar Nikolaus 1. bestimmt, dessen Vizekanzler, Graf Nesselrode, dem preußischen Botschafter in Moskau androhte, „den infamen Angriff, den die in Köln erscheinende Rheinische Zeitung kürzlich gegen das russische Kabinett richtete“ vor die Augen Seiner Kaiserlichen Majestät zu bringen. Das geschah in Preußen 1843.

[Drei Jahrzehnte später gestatteten die Zensurbehörden des zaristischen Rußlands ausdrücklich die Veröffentlichung von Marx Werk in Rußland – die erste Übersetzung des Kapitals, die jemals in einer anderen als der deutschen Sprache erschien. Die Entscheidung wurde mit diesem erhellenden Argument begründet: „Obgleich die politischen Überzeugungen des Autors vollkommen sozialistisch sind und obgleich das ganze Buch einen deutlichen sozialistischen Charakter trägt, ist die Form der Darstellung gewiß nicht so beschaffen, daß das Buch allen offen steht; hinzukommt, daß das Buch in einem strengen mathematisch wissenschaftlichen Stil geschrieben ist, so daß die Untersuchungsbehörde das Buch von der gerichtlichen Verfolgung ausnimmt.“

[Das zaristische Regime, das so eifrig auch den geringsten, von jedem europäischen Land ausgehenden Angriff gegen die russische Vorherrschaft unterdrückte, und das äußerst sorglos die Gefahren von Marx wissenschaftlicher Bloßstellung der kapitalistischen Welt als ganzer hinnahm, wurde tatsächlich nie berüht von den scharfen Angriffen von Marx, die er in seiner späteren Laufbahn gegen die „ungeheuerlichen, auf keinen Widerstand stoßenden Übergriffe dieser barbarischen Macht, deren Kopf St. Petersburg ist und deren Hände in jedes Kabinett Europas dringen“, richtete. Diese Macht sollte jedoch jener offensichtlich nur entfernten Drohung erliegen, die sich in dem trojanischen Pferd verborgen hielt, dem unachtsam der Zugang zu dem Gebiet es heiligen Zarenreiches eröffnet worden war. Dieses Reich wurde schließlich überrannt von der Masse der russischen Arbeiter, deren Vorhut ihre revolutionäre Lektion von jenem „mathematisch wissenschaftlichen“ Werk eines einsamen Denkers gelernt hatte: dem Kapital.]

Anders als im Westen, wo die marxistische Theorie in der abschließenden Periode der bürgerlichen Revolution entstanden ist und eine real bereits vorhandene Tendenz zur Überschreitung der Ziele der bürgerlich-revolutionären Bewegung, die Tendenz der durch die kapitalistische Entwicklung selbst erzeugten und über sie hinausstrebenden proletarischen Klasse zum Ausdruck brachte, was in dem vorkapitalistischen Rußland der sechziger Jahre der von der gesamten fortschrittlichen Intelligenz begierig als das letzte Wort Europas aufgenommene „Marxismus“ von Anfang an eine von außen angenommene Ideologie. Und mit einer erstaunlichen Prägnanz erwies sich nun auch an dieser marxistischen Ideologie die Wahrheit jenes kritisch materialistischen Prinzips, welches von Marx und Engels in der revolutionären Sturm- und Drangperiode der vierziger Jahre als ein allgemeines Prinzip für die Beurteilung aller geschichtlichen Ideologien aufgestellt worden war. Die wirkliche Geschichte korrigierte die dogmatische Einseitigkeit, mit der schon Marx und Engels selbst, und erst recht ihre mehr oder weniger „orthodoxen“ Epigonen, dieses kritische Prinzip immer nur gegenüber den gegnerischen Ideologien und andernfalls noch gegenüber den innerhalb der marxistischen Schule von der jeweils kanonisierten „reinen Lehre“ abweichenden Lehrmeinungen geltend gemacht hatten. Das kritisch-materialistische Prinzip des Marxismus erwies sich als gültig auch gegenüber der marxistischen Ideologie selbst: „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. […] So wenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, das es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr das Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären.“2

Sieht man von allen ideologischen Verkleidungen ab, unter denen sich die verschiedenen Generationen und die verschiedenen einander bekämpfenden Richtungen des russischen Marxismus den in der wirklichen gesellschaftlichen Entwicklung ihres Landes ausgebrochenen Konflikt zum Bewußtsein gebracht und ihn ausgefochten haben, so bleibt die nackte Tatsache übrig, daß der russische Marxismus in all seinen Entwicklungsphasen und in allen seinen Richtungen von Anfang an weiter nichts gewesen ist, als die ideologische Form für den materiellen Kampf um die Durchsetzung der kapitalistischen Entwicklung im zaristisch-feudalistischen Rußland.

Die im Westen bereits voll entwickelte bürgerliche Gesellschaft bedurfte zu ihrem geschichtlichen Durchbruch im Osten eines neuen ideologischen Kostüms, weil sie sich für die Durchsetzung ihrer materiellen Ziele hier nicht noch einmal jener geschichtlich bereits verbrauchten Illusionen und Selbsttäuschungen bedienen konnte, mit denen sie in ihrer ersten heroischen Durchbruchsphase im Westen den bürgerlich beschränkten Inhalt ihrer Entwicklungskämpfe sich selbst verborgen und ihre Leidenschaft auf der Höhe der großen geschichtlichen Tragödie gehalten hatte. Und die vom Westen übernommene marxistische Ideologie konnte der bürgerlichen Umwälzung in Rußland diesen Dienst erweisen, weil sie – im Gegensatz zu der bodenständigen russischen Ideologie des revolutionären Volkstümlertums – aus ihren eigenen geschichtlichen Entstehungsbedingungen heraus die kapitalistische Zivilisation als die unter allen Umständen notwendige historische Durchgangsstufe für Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaft voraussetzte.

Jedoch bedurfte die marxistische Lehre, um der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft in Rußland solche ideologischen Geburtshelferdienste leisten zu können, auch in ihrem ideologisch-theoretischen Inhalt einiger Umformungen. Hier liegt die Wurzel für die sonst schwer erklärlichen theoretischen Konzessionen, die Marx und Engels in den siebziger und achtziger Jahren an die ihrem Wesen nach mit der marxistischen Theorie völlig unvereinbare Ideologie des russischen Volkstümlertums gemacht haben und die ihren letzten zusammenfassenden Ausdruck in dem bekannten Orakelspruch des Vorworts zur zweiten russischen Übersetzung des Kommunistischen Manifests von I882 gefunden haben:

Das Kommunistische Manifest hatte zur Aufgabe, die unvermeidlich bevorstehende Auflösung des modernen bürgerlichen Eigentums zu proklamieren. In Rußland aber finden wir, gegenüber rasch aufblühendem kapitalistischen Schwindel und sich eben erst entwickelndem bürgerlichen Grundeigentum, die größere Hälfte des Bodens im Gemeinbesitz der Bauern. Es fragt sich nun: Kann die russische Obschtschina, eine wenn auch stark untergrabene Form des uralten Gemeinbesitzes am Boden, unmittelbar in die höhere des kommunistischen Gemeinbesitzes übergehen? Oder muß sie umgekehrt vorher denselben Auflösungsprozeß durchlaufen, der die geschichtliche Entwicklung des Westens ausmacht? Die einzige Antwort hierauf, die heutzutage möglich, ist die: Wird die russische Revolution das Signal einer proletarischen Revolution im Westen, so daß beide einander ergänzen, so kann das jetzige russische Gemeineigentum am Boden zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen.3

In diesen Sätzen von Marx und in den zahlreichen ähnlichen Äußerungen von Marx und Engels, die sich um dieselbe Zeit in ihrem Briefwechsel, besonders in den Briefen an den russischen volkstümlerischen Theoretiker Nikolai-on, in dem Brief an Vera Sassulitsch und in der Erwiderung an Michailowski4 vorfinden, ist in einem gewissen Sinne schon die ganze spätere Entwicklung des russischen Marxismus und vor allem auch der immer weiter auseinanderklaffende Widerspruch zwischen der Ideologie und dem wirklichen geschichtlichen Inhalt dieser Entwicklung vorweggenommen.

Mögen auch Marx und Engels, ganz ähnlich wie später unter weiterentwickelten, aber sonst analogen Verhältnissen der Marxist Lenin, die vorsichtige Bedingung hinzufügen, daß nur zusammen mit einer durch sie ausgelösten Arbeiterrevolution im Westen die russische Revolution aus dem vorkapitalistischen Zustand unter Überspringung der kapitalistischen Entwicklung unmittelbar zum sozialistischen Zustand übergehen könne, mag auch der russische „Mir“, dem Marx noch im Jahre 1882 eine solche gewaltige zukünftige Rolle bedingungsweise zugesprochen hat, in den folgenden Jahrzehnten spurlos verschwunden sein, so können doch auch noch die heutigen Ideologen der „marxistisch-leninistischen“ Theorie des „Aufbaus des Sozialismus in einem Lande“ sich für ihren Mißbrauch des Marxismus als ideologische Verschleierung einer in ihrer wirklichen Tendenz kapitalistischen Entwicklung nicht nur auf den orthodoxen Marxisten Lenin, sondern auch auf Marx und Engels berufen. Auch Marx und Engels waren unter bestimmten Bedingungen bereit, ihre kritisch-materialistische „marxistische“ Theorie zugunsten einer revolutionären Bewegung im Osten durch entsprechende Modifikationen zu der bloßen ideologischen Verkleidung einer angeblich sozialistischen, aber ihrem wirklichen Wesen nach bürgerlichen beschränkten revolutionären Bewegung umzuformen.

So beginnt also jener eigentümliche geschichtliche Funktionswandel, durch den sich der von den russischen Revolutionären „rezipierte“ Marxismus in der weiteren Entwicklung aus dem theoretischen Ausdruck einer proletarisch-sozialistischen Revolutionsbewegung in die „sozialistische“ Ideologie einer bürgerlich-kapitalistischen Aufbaubewegung verwandelt hat, und die hierzu erforderliche auch theoretische Metamorphose der ursprünglich mehr oder weniger „orthodox“ rezipierten marxistischen Lehre selbst im Wege einer gegenseitigen Durchdringung und Verschmelzung volkstümlerischer und marxistischer ideologischer Elemente tatsächlich schon zu Lebzeiten und unter bewußter und aktiver Mitarbeit von Marx und Engels selbst. Sie wollten mit ihren Konzessionen an das revolutionäre russische Volkstümlertum die zeitweise Umbildung ihrer „marxistischen“ Theorie zu einem revolutionären Mythos zulassen, und sie taten damit, da die von ihnen damals erwartete „russische Revolution“ und dadurch ausgelöste „Arbeiterrevolution im Westen“ in den achtziger Jahren tatsächlich ausblieb, in Wirklichkeit den ersten Schritt zu der dauernden Umformung ihrer revolutionären Theorie in eine für die wirkliche revolutionäre Entwicklung letzten Endes hemmende und schädliche bloße Ideologie.

Es ist ein merkwürdiges Schauspiel, wie sich nun dieser geschichtliche Prozeß der ideologischen Entartung der marxistischen Theorie in Rußland in allen folgenden Phasen der Entwicklung bis zum heutigen Tage immer weiter fortgesetzt hat. Schon in jenen heftigen Auseinandersetzungen über die Perspektive der kapitalistischen Entwicklung in Rußland, die die nächste Entwicklungsphase, von den neunziger Jahren bis zum Ausbruch der russischen Revolution, erfüllen und ihren wichtigsten theoretischen Niederschlag in dem ökonomischen Hauptwerk Lenins, Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland5 gefunden habe“, wurde im Grunde von keiner Seite mehr die marxistische Theorie als theoretischer Ausdruck einer proletarisch-sozialistischen Bewegung vertreten.

Selbstverständlich nicht von den sogenannten „legalen Marxisten“, die in ähnlicher Weise wie in der nächsten Periode die menschewistischen Theoretiker der russischen sozialdemokratischen Partei und der sozialdemokratische Marxismus in den westlichen Ländern, zwar in der Theorie ein kleineres oder größeres Stück der marxistischen Lehre in unverfälschter „Reinheit“ konservierten, dafür aber in ihrer Praxis alle über die bürgerlichen Zielsetzungen hinausgehenden Konsequenzen des marxistischen Prinzips preisgaben. Aber auch nicht von den beiden anderen Richtungen, die damals in der einen oder anderen Form die Anerkennung der transitorischen Notwendigkeit der kapitalistischen Entwicklung in Rußland mit einer wirklichen Verneinung und Bekämpfung des durch diese Entwicklung geschaffenen Zustandes zu vereinen gesucht haben. Das war auf der einen Seite besonders der marxistisch geschulte Narodnik Nikolai-on, der Anfang der neunziger Jahre von der orthodoxen volkstümlerischen Theorie der Unmöglichkeit des Kapitalismus in Rußland überging zu der marxistisch revidierten volkstümlerischen Theorie von der Unmöglichkeit einer normalen und organischen Entwicklung des Kapitalismus in Rußland.6 Das war andererseits sein großer geschichtlicher Widersacher, der orthodoxe Marxist W.I. Lenin und die ganze an ihn anschließende, in ihrer Theorie und Praxis angeblich streng orthodoxe Bewegung des bolschewistischen Marxismus.

Es besteht für uns, wenn wir von unserem heute gewonnenen Erfahrungsstandpunkt auf die theoretischen Auseinandersetzungen jener früheren Entwicklungsphase zurückblicken, ein ganz offenbarer Zusammenhang zwischen der volkstümlerischen Theorie von der „Unmöglichkeit“ einer normalen und organischen Entwicklung des Kapitalismus in Rußland, wie sie in jener Periode vom marxistischen Narodnik Nikolai-on vertreten und damals von den Marxisten aller Richtungen, den „legalen“ wie den „revolutionären“, bekämpft worden ist, und den beiden scheinbar diametral entgegengesetzten Theorien, die sich heute im Lager des sowjetrussischen Marxismus als herrschender „Stalinismus“ und oppositioneller „Trotzkismus“ gegenüberstehen. Sowohl die heute herrschende neu-leninistische These Stalins über die Möglichkeit des Aufbaus des Sozialismus in einem Lande, als auch, paradoxerweise, die diesem stalinistischen „Nationalsozialismus“ von dem Internationalisten Trotzki entgegengestellte These der „permanenten“, d.h. über die Verwirklichung der bürgerlichen Revolutionsziele im russischen und zugleich im europäischen bzw. im Weltmaßstab hinaus sofort zur Verwirklichung des Sozialismus übergehenden Revolution, beruhen auf der gemeinsamen ideologischen Grundlage einer neu-narodnikischen Verneinung der Möglichkeit einer normalen und organischen Entwicklung des Kapitalismus in Rußland.

Aber auch der orthodoxeste unter den orthodoxen Marxisten, zugleich der entschiedenste und geschichtlich entschiedenste Vertreter des russischen Marxismus, Lenin, hat den erbitterten Kampf, den er sowohl in der vorrevolutionären Periode gegen das Nikolai-onsche Narodnikotum und gegen die Parvus-Trotzkische Theorie der permanenten Revolution, als auch nach dem Oktober gegen die von den Theoretikern des sogenannten „Kriegskommunismus“ unternommene „sozialistische“ Idealisierung einer in Wirklichkeit noch keineswegs sozialistischen Tendenz geführt hat, am Ende damit beschlossen, daß er in einem entscheidenden Augenblick gegen die Wirklichkeit, für den Mythos und damit zugleich für die endgültige Ideologisierung der marxistischen Theorie in Rußland optiert hat.7

Es war nicht erst der leninistische Epigone Stalin, sondern der orthodoxe Marxist Lenin, der an jenem historischen Wendepunkt der revolutionären Entwicklung, wo er mit dem Übergang zur „NEP“ die bis dahin unentschiedene Tendenz der russischen Revolution praktisch entschieden auf die bürgerlichen Zielsetzungen beschränkte, zugleich die für die Vollziehung dieser Beschränkung unentbehrliche ideologische Ergänzung hinzufügte. Es war der orthodoxe Marxist Lenin, der um die Jahreswende 1920/21 vollkommen bewußt entgegen all seinen früheren Erklärungen den neuen marxistischen Mythos von dem an sich sozialistischen Charakter des Sowjetstaates und der dadurch grundsätzlich garantierten Möglichkeit der Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaft in Sowjetrußland aufgestellt hat.8 Mit dieser Entartung der ursprünglich revolutionären Theorie von Marx und Engels zu einer förmlichen Staatsreligion, zu der ideologischen Rechtfertigung eines in seiner tatsächlichen Entwicklungstendenz kapitalistischen und die revolutionäre Bewegung des Proletariats unterdrückenden Staates, hat die Geschichte der marxistischen Ideologie in Rußland ihren vorläufigen Abschluß erreicht. Hinter dieser Feststellung aber erhebt sich die allgemeine und tiefergehende Frage, in welchem Verhältnis diese besondere geschichtliche Entwicklung des Marxismus in Rußland zu der allgemeinen geschichtlichen Entwicklung des Marxismus steht. Nicht nur in Rußland, sondern in anderen Formen auch im Westen hat sich der Marxismus in seiner neueren Entwicklung aus einer revolutionären Theorie und Praxis immer mehr in eine bloße Ideologie umgewandelt, die von der praktischen Bewegung zwar in Worten anerkannt, aber in der Tat verleugnet wird. Sollte also ein west- europäischer Marxist über den „ideologischen“ Charakter des russischen Marxismus pharisäisch die Achseln zucken oder sich optimistisch damit beruhigen, daß im Westen die Sache noch lange nicht so schlimm stehe, so müßte man ihm das Wort zurufen, welches einst Karl Marx mit Bezug auf die von ihm im Kapital geschilderten Zustände der englischen Industrie- und Ackerbauarbeiter den deutschen Lesern zurief: „De te fabule narratur!“9

Anhang

Neufassung des Schlußteils

(1938)

Trotzki wie Stalin gründeten ihre Version der marxistischen Ideologie auf die Autorität Lenins. Tatsächlich hat sogar der orthodoxeste unter den orthodoxen Marxisten, der vor dem Oktober 1917 einen erbitterten Kampf sowohl gegen das Nikolai-onsche Narodnikotum wie gegen die Parvus-Trotzkische Theorie der „permanenten Revolution“ führte, und der in gleicher Weise höchst konsequent sich den nach dem Oktober vorherrschenden Tendenzen widersetzte, die mageren Errungenschaften des später so genannten „Kriegskommunismus“ von 1918-1920 zu glorifizieren, diesen lebenslangen Kampf für kritisch-revolutionären Realismus beschlossen, indem er in einem entscheidenden Augenblick das neo-populistische Konzept eines selbstgemachten russischen Sozialismus entgegen den aktuell vorherrschenden Bedingungen aufrechterhielt. Innerhalb weniger Wochen entdeckten diejenigen, die sich der sozialistischen Idealisierung der ersten Jahre widersetzten und die auf die erste Ankündigung der NEP von 1921 hin noch ganz nüchtern erklärten, daß diese „neue ökonomische Politik des Arbeiter- und Bauernstaates“ ein notwendiger Schritt zurück hinter die weitergehenden Versuche des Kriegskommunismus sei, die sozialistische Natur des Staatskapitalismus und der nur genossenschaftlich tangierten, im Kern aber bürgerlichen Wirtschaft. So war es nicht erst der leninistische Epigone Stalin, sondern der orthodoxe Marxist Lenin, der an dem historischen Wendepunkt der revolutionären Entwicklung, an dem die bis jetzt unentschiedenen praktischen Tendenzen der Russischen Revolution „ernsthaft und für eine lange Zeit“ auf die Restauration einer nicht-sozialistischen Wirtschaft gelenkt wurden, gleichzeitig die ihm unentbehrlich scheinende ideologische Ergänzung für jene schließliche Beschränkung auf diese praktischen Ziele hinzufügte. Es war der orthodoxe Marxist Lenin, der im Gegensatz zu allen seinen früheren Erklärungen, zuerst den neuen marxistischen Mythos des inneren sozialistischen Charakters des Sowjetstaates und der damit grundsätzlich garantierten Möglichkeit der vollständigen Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaft in einem isolierten Sowjetrußland begründet hat.

Mit dieser Entartung der marxistischen Theorien zu einer bloßen ideologischen Rechtfertigung dessen, was in seiner tatsächlichen Tendenz ein kapitalistischer Staat ist, ein Staat der damit unvermeidlich auf der Unterdrückung der fortschrittlichen revolutionären Bewegung der proletarischen Klasse beruht, hat die erste Phase der Geschichte der marxistischen Ideologie in Rußland ihren Abschluß gefunden. Dies ist gleichzeitig die einzige Phase, in der die Entwicklung des Marxismus in Rußland einen unabhängigen Charakter aufzuweisen schien. Von seinem umfassenderen Standpunkt aus sollte jedoch festgestellt werden, daß ungeachtet der Erscheinungsformen und vieler realer Differenzen, die durch bestehenden spezifischen Bedingungen zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Ländern hervorgerufen werden, die historische Entwicklung des russischen Marxismus (einschließlich seiner letzten leninistischen und stalinistischen Stadien) im Kern die gleiche ist, wie die des sogenannten westlichen (oder sozialdemokratischen) Marxismus, von dem der russische Marxismus in Wirklichkeit ein integrierter Bestandteil war und ist, obgleich gegenwärtig äußerlich von jenem abgetrennt. So wie Rußland niemals das einzigartige und heilige Land war, von dem die Panslavisten träumten, ebenso besaß der Bolschewismus niemals die krude und rückständige Form einer pseudomarxistischen Theorie, die den primitiven Bedingungen des zaristischen Regimes entsprochen hätte, eine Theorie, die von den Möchtegern-Marxisten Englands, Frankreichs und auch Deutschlands repräsentiert wurde. Insofern ist die bürgerliche Degeneration des Marxismus in Rußland in nichts grundlegend von dem unterschieden, was als Ergebnis einer Serie ideologischer Transformationen den verschiedenen Strömungen des sogenannten westlichen Marxismus während des Krieges und der Nachkriegsperiode und, noch deutlicher, nach der Vernichtung aller früheren marxistischen Bastionen durch die widerstandslose Heraufkunft des Faschismus und Nazismus zustieß. So wie der „Nationalsozialismus“ des Herrn Hitler und der „korporative Staat“ Mussolinis mit dem „Marxismus“ Stalins in dem Versuch wetteifern, durch den Gebrauch einer pseudo-sozialistischen Ideologie direkt in die Köpfe und Seelen der Arbeiter wie in ihre physische und soziale Existenz einzudringen, so unterscheiden sich das „demokratische“ Regime der Volksfrontregierung unter dem „Marxisten“ Leon Blum oder, besser noch, unter Camille Chautemps, von dem gegenwärtigen sowjetischen Staat nicht in der Substanz, sondern nur in der weniger wirkungsvollen Ausbeutung der marxistischen Ideologie. Weniger als je zuvor dient der Marxismus als theoretische Waffe im unabhängigen Kampf des Proletariats für das Proletariat und mit dem Proletariat. Alle sogenannten „marxistischen“ Parteien scheinen, sowohl theoretisch wie in ihrer gegenwärtigen Praxis, als Junior-Partner der führenden Vertreter der Bourgeoisie ihren Teil zu der Lösung des Problems beizutragen, das der amerikanische „Marxist“ L.B. Boudin kürzlich so benannte: „Das größte Problem des Marxismus ist unsere Beziehung zum Kampf in der kapitalistischen Gesellschaft.“


1In der Neufassung wurden drei zusätzliche Ansätze nach dem ersten Absatz eingefügt und der Letzte Absatz wurde durch zwei Absätze ersetzt. Die Einfügung wird durch eckige Klammer gekennzeichnet und die Ersetzung findet man im Anhang.

2Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie. Vorwort (1859), MEW Bd.13, S.9.

3Karl Marx u. Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, Vorrede zur zweiten russischen Ausgabe (1882), MEW, Bd.19, S.296.

4Die Briefe von Marx und Engels an [Nikolai Franzewitsch] Danielson (bekannt unter dem Schriftstellernamen Nikolai-on) wurden 1929 in Leipzig von G. Mayer und K. Mandelbaum in den Neudrucken marxistischer Seltenheiten herausgegeben. Vgl. Brief vom 24.2.1893, MEW, Bd.39, S.36-38; Brief vom 8.10.1893, MEW, Bd.39, S.148-150; Karl Marx an V.I. Sassulitsch (8.3.1881), MEW, Bd.19, S.242; Erster Entwurf, S.384; Zweiter Entwurf, S.396; Dritter Entwurf, S.401; Friedrich Engels an V.I. Sassulitsch (6.3.1884), MEW, Bd.36, S.119; Friedrich Engels an V.I. Sassulitsch (6.3.1884), MEW, Bd.36, S.303-307; Karl Marx, [Brief an die Redaktion der Otetschestwennje Sapiski] vom Nov. 1887, MEW, Bd.19. S.107-112.

5W.I. Lenin, Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland (1896-1899), Werke Bd.3.

6Nikolaj Franzewitsch Danielson, Umrisse unserer Volkswirtschaft nach der Bauernbefreiung (1893) russ.

7Hier beginnt die Neufassung aus dem Jahre 1938; s. Anhang.

8Lenin zitiert 1921 in seiner Schrift Über die Naturalsteuer einen Text von 1918: „Kein Kommunist hat wohl auch bestritten, daß die Bezeichnung ‚Sozialistische Sowjetrepublik‘ die Entschlossenheit der Sowjetmacht bedeutet, den Übergang zum Sozialismus zu verwirklichen, keineswegs aber, daß die jetzigen ökonomischen Zustände als sozialistisch bezeichnet werden.“ Werke, Bd.32, S.342; vgl. auch S.355.

9De te fabula narratur! (Über dich wird hier berichtet!). Aus den Satiren des Horaz, Buch 1, Satire 1. Von Karl Marx zitiert in: Das Kapital, 1. Band, Vorwort zur ersten Auflage (1867), MEW, Bd.23, S.12.

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Von Grupo Barbaria, die Übersetzung ist von uns. Ein hervorragender Text, der dennoch in seiner historischen Analyse einige klare Fehler macht, bzw. an einigen Stellen sich selbst widerspricht. Diese hier zu erklären würde sehr viel Platz einnehmen. Wir werden es noch nachholen.


Stalinismus: Die rote Fahne des Kapitals

Einleitung

Der Inhalt dieser Broschüre erscheint uns für diejenigen von uns, die diese Welt radikal umstürzen wollen, unerlässlich. Wir sind davon überzeugt, dass die soziale Energie zur Verleugnung und Überwindung des Kapitalismus immer stärker werden wird. Damit diese soziale Energie aber fruchtbar wird, ist es wichtig, sie mit dem historischen Programm der Revolution und des Kommunismus zu verbinden. Und dadurch das Terrain der Revolution von dem der Konterrevolution abzugrenzen. Diese Broschüre ist den theoretischen, politischen und historischen Ursprüngen der wichtigsten Konterrevolution des 20. Jahrhunderts gewidmet, die wir bequemerweise Stalinismus nennen. Der Name ist problematisch. Wenn wir von Stalinismus sprechen, beziehen wir uns nicht auf die Handlungen einer Person, Stalin, einer Art Superschurke, sondern auf ein politisches und praktisches Programm, das die Grundlagen des Kommunismus als echte Bewegung leugnete und alle Begriffe umkehrte. Internationalismus wurde durch Sozialismus in einem Land und Klassenunabhängigkeit durch Interklassismus1 ersetzt. Das kommunistische Ziel, eine klassen- und staatenlose Gesellschaft, wurde unter den Trümmern einer kapitalistischen ursprünglichen Akkumulation und einer Entschuldigung für Akkordarbeit hinweggefegt. Mit der stalinistischen Konterrevolution erleben wir ein wahres Lexikon der politischen Trickserei (Léxico de la truhanería política)2, wie Munis es ausdrückte. Alle Begriffe der Revolution und unserer historischen Bewegung wurden in ihr genaues Gegenteil verwandelt. Deshalb ist es so wichtig zu verstehen, was wir meinen, wenn wir von Kommunismus und menschlicher Befreiung sprechen. Der Kommunismus ist eine echte Bewegung und nicht eine Idee unter anderen, die die materiellen und kategorischen Grundlagen der Welt des Kapitals leugnet. Der Kommunismus ist die Bejahung der menschlichen Weltgemeinschaft, einer Gemeinschaft ohne Geld und Waren, ohne Staat und ohne soziale Klassen. Dies wurde auf der Grundlage der historischen Erfahrung unserer Klasse und des rigorosen Studiums der Gesellschaft des Kapitals durch unsere historische Partei, ausgehend von Marx, bekräftigt. Der Kommunismus als Weltgesellschaft erfordert eine politische Zwischenphase, die unsere Gefährtinnen und Gefährten die Diktatur des Proletariats nannten. Die Klassendiktatur ist die Gewalt, die das als Klasse und Partei konstituierte Proletariat gegen das Kapital und seine Kategorien sowie gegen die Bourgeoisie als Klasse ausübt. Die Existenz einer Klassengesellschaft bringt immer die Vorherrschaft einer Klasse über eine andere, einer Produktionsweise über die Bestätigung einer anderen mit sich. Diese Klassengewalt ist grundlegend und steht im Einklang mit dem Endziel des Kommunismus. Deshalb besteht das grundlegende Ziel der Diktatur des Proletariats darin, den revolutionären Prozess auf Weltebene auszuweiten, nationale Grenzen zu überwinden, die Kommodifizierung und den Einfluss des Kapitals auf die Gesellschaft so weit wie möglich zu reduzieren, den Arbeitstag zu reduzieren, den bewussten Protagonismus des Proletariats in der Ausübung seiner eigenen Diktatur auszudrücken… Antagonistische Realitäten, die im Gegensatz zu dem standen, was die stalinistische Konterrevolution behauptete, die den Nationalismus, die Verteidigung der russischen Grenzen als „revolutionäres“ Bollwerk, die Unterwerfung des Proletariats unter höllische Arbeitszeiten im Namen des Aufbaus des Sozialismus, in Wirklichkeit des russischen Staates und der kapitalistischen Industrie, und die physische Vernichtung von Millionen von Proletariern auf der ganzen Welt bekräftigte.

Deshalb ist der Marxismus eine Doktrin über die Konterrevolution. Denn es ist wichtig, Emanzipation von Ausbeutung, Kommunismus von Kapitalismus zu unterscheiden, wenn wir diese katastrophale Welt überwinden wollen, die an ihre inneren Grenzen stößt und das Aussterben unserer Spezies bedroht. Unsere Gefährtinnen und Gefährten, die sich in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts, als es die Mitternacht im Jahrhunderts war, die Aufgabe gestellt haben, sich von der Konterrevolution abzugrenzen, sahen die zwingende Notwendigkeit, unsere Theorie doktrinär zu rekonstruieren, zu ihren ursprünglichen Grundlagen zu gehen, um zu zeigen, dass der Stalinismus die konterrevolutionäre Negation unserer Doktrin ist. Er ist kein Kind von uns, weder legitim noch illegitim. Er ist die totale Negation unserer grundlegenden, theoretischen und materiellen Fundamente – man denke nur an die stalinistischen Massaker an echten Revolutionären). Auf diesen Seiten werden wir versuchen, die wichtigen Kämpfe zu rekonstruieren, die unsere Gefährtinnen und Gefährten gegen diese große Lüge führen werden, gegen diese verwirrende Lüge, die der Stalinismus war und heute in viel geringerem Maße ist, um das wichtige Buch von Anton Ciliga zu paraphrasieren.

Wir leben in turbulenten Zeiten, interessanten Zeiten. Es sind Zeiten der Katastrophe und Zeiten der Hoffnung auf eine neue Welt, die entstehen kann. Wir haben Beweise dafür, und zwar nicht nur negativer Natur. Es sind nicht nur die negativen Beispiele von Krieg, Klimawandel oder ökonomischen Krisen, die immer dramatischer werden. Wir sprechen auch von sozialen Umwälzungen überall und von den materiellen Möglichkeiten, heute in einer kommunistischen Gesellschaft zu leben. Der Kapitalismus negiert sich selbst. Der Hauptgrund für seine Krise ist, dass er immer weniger in der Lage ist, die Gesellschaft an die miserablen Zeiten seines gesellschaftlichen Maßes, des Tauschwerts und der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit, zu ketten. Schon heute wäre es möglich, global in einer Gesellschaft zu leben, in der die Arbeitszeit minimal wäre und die gesellschaftliche Produktion rationell und kostenlos verteilt würde, ohne Geld- oder Warenvermittlungen. Es sind der Kapitalismus und seine Widersprüche, die den Kommunismus zu einem realen Ziel machen und nicht zu einer idealen oder bloß moralischen Utopie, zu einem Don Quichotte-Abenteuer, wie Marx in Grundrisse sagte.

Entscheidend für die Bewegungen der zukünftigen sozialen Polarisierung ist, dass sie sich das historische Programm der Vergangenheit wieder aneignen, um die Praxis umzukehren, zu der der Kapitalismus uns verdammt. Der Kommunismus als wirkliche Bewegung verlangt, mit dieser kapitalistischen Praxis zu brechen, mit dem Warenfetischismus zu brechen, an einem bestimmten Punkt den kommunistischen Kopf und die bewussten Ziele ans Ruder zu setzen. Deshalb ist die Auseinandersetzung mit der vergangenen Konterrevolution so wichtig, und das umso mehr, als wir als weiteren der gegenwärtigen positiven Anlässe eine neue Generation sehen, die sich mit den vergangenen Debatten unserer Klasse auseinandersetzt. An sie richtet sich dieser Text in erster Linie. In sozialen Netzwerken oder in Diskussionen auf der Straße ist oft von einer Internationalen Kommunistischen Bewegung (IKB) die Rede. Was wäre diese IKB? Eine nominalistische Vereinigung, bei der ein gemeinsamer Name ausreicht, um uns alle mehr oder weniger zu nahen Verwandten zu machen. Wir sagen ein klares NEIN zu dieser Union Sacree. Wir sprechen ein klares Nein aus. Und das ist der Vektor, der diese Broschüre bewegt. Die Revolution von der Konterrevolution zu unterscheiden. Zu verstehen, mit Nachdruck zu spüren, dass der Stalinismus in seinen vielfältigen Versionen – vereint durch das Programm des nationalen „Kommunismus“, das Bündnis mit der Bourgeoisie und den faktischen Aufbau des Staatskapitalismus – ein Todfeind der Revolution und der Kommunisten ist, ein legitimes Kind der Welt des Kapitals. Und das Kapital, in welcher Form auch immer, bekämpfen wir erbarmungslos und mit aller Kraft. Deshalb gibt es kein Wir, sondern einen radikalen Antagonismus, den Antagonismus zwischen Bourgeoisie und Proletariat, zwischen Revolution und Konterrevolution, zwischen Kapitalismus und Kommunismus. In diesem Sinne ist unsere Kritik an der Konterrevolution keine Form des Anti-Stalinismus im üblichen Sinne, sondern sie erfolgt aus einem kompromisslosen Kommunismus heraus.

Die Prinzipien der Konterrevolution

Sozialismus in einem Land

Diese theoretische „Innovation“ Stalins wurde zur theoretischen Achse, um die sich die stalinistische Konterrevolution drehte und die bis heute anhält. Die Idee, dass der Sozialismus in einem einzigen Land aufgebaut werden kann, noch dazu mit einem rückständigen und ungleichen Kapitalismus wie dem russischen vor hundert Jahren. Eine Position, die sich radikal von der von Marx oder Engels unterscheidet – von der Kritik des Gothaer Programms bis zum Anti-Dühring -, die argumentiert hatten, dass der Kommunismus, ob in seiner niederen oder höheren Phase, eine Gesellschaft ohne soziale Klassen und den Staat, ohne Warenvermittlung zwischen Produktion und Verteilung der Produkte, ohne Geld voraussetzt. Vor dieser Phase, nach dem Triumph einer Revolution in einem bestimmten Gebiet, herrscht die politische Diktatur des Proletariats mit dem Ziel, sich weltweit auszudehnen, um den Kapitalismus zu zerstören und die Kräfte der kommunistischen Gesellschaft freizusetzen. Marx war sich über den Gegensatz zwischen nationalem Sozialismus und Kommunismus immer sehr im Klaren. Zum Beispiel sagte er in der Kritik des Gothaer Programms und in Bezug auf Lassalle:

Lassalle hatte, im Gegensatz zum Kommunistischen Manifest und zu allem früheren Sozialismus, die Arbeiterbewegung vom engsten nationalen Standpunkt gefaßt. Man folgt ihm darin – und dies nach dem Wirken der Internationalen!

Es versteht sich ganz von selbst, daß, um überhaupt kämpfen zu können, die Arbeiterklasse sich bei sich zu Haus organisieren muß als Klasse, und daß das Inland der unmittelbare Schauplatz ihres Kampfs. Insofern ist ihr Klassenkampf, nicht dem Inhalt, sondern, wie das Kommunistische Manifest sagt, „der Form nach“ national. Aber der „Rahmen des heutigen nationalen Staats“, z.B. des Deutschen Reichs, steht selbst wieder ökonomisch „im Rahmen des Weltmarkts“, politisch „im Rahmen des Staatensystems“. Der erste beste Kaufmann weiß, daß der deutsche Handel zugleich ausländischer Handel ist, und die Größe des Herrn Bismarck besteht ja eben in seiner Art internationaler Politik.

Und worauf reduziert die deutsche Arbeiterpartei ihren Internationalismus? Auf das Bewußtsein, daß das Ergebnis ihres Strebens „die internationale Völkerverbrüderung sein wird“ – eine dem bürgerlichen Freiheits- und Friedensbund entlehnte Phrase, die als Äquivalent passieren soll für die internationale Verbrüderung der Arbeiterklassen im gemeinschaftlichen Kampf gegen die herrschenden Klassen und ihre Regierungen. Von internationalen Funktionen der deutschen Arbeiterklasse also kein Wort!

Marx ist glasklar gegen den nationalen Sozialismus, dessen fortschrittlicher und innovativer Erbe Stalin war. Der Kapitalismus ist ein ökonomisches und politisches Weltsystem, daher kann der Inhalt des Kommunismus niemals national sein. Seine Form ist ebenso global wie die des Kapitalismus. Dem Weltcharakter des Kapitals kann nur eine Klasse entgegengesetzt werden, die ebenfalls weltumspannend ist, eben weil sie das Ergebnis der Entwicklung des Kapitalismus selbst ist, die Menge der Proletarier, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, um zu überleben. Es ist also gerade die Entwicklung des Kapitalismus, die den Weltkommunismus notwendig macht, um mit den Kategorien des Kapitals – von der Ware bis zum Nationalstaat – materiell zu brechen. Die internationale proletarische Union ist keine bloße humanitäre Phrase, nach dem Motto „Wir müssen miteinander auskommen und uns wie gute Freunde lieben“: Sie ist, wie Marx selbst sagt, ein gemeinsamer Kampf gegen die Gesamtheit der herrschenden Klassen und ihrer Staaten, die sich in der Heiligen Familie auch gegen das Proletariat zusammengeschlossen haben. Es ist ein weltweiter Antagonismus, Klasse gegen Klasse, Produktionsweise gegen Produktionsweise.

Dieser internationale Charakter der Revolution war eine unumgängliche Grundlage für die Bolschewiki. Für sie gab es keine russische Revolution an und für sich. Sie war eine Episode der Weltrevolution, die ausbrechen musste und ausbrach und in Deutschland (November 1918) ihre nächste Episode hatte. Ein Beispiel:

Als wir seinerzeit die internationale Revolution begannen, taten wir es nicht in dem Glauben, dass wir ihre Entwicklung vorgreifen könnten, sondern deshalb, weil eine ganze Reihe von Umständen uns veranlasste, diese Revolution zu beginnen. Wir dachten: Entweder kommt uns die internationale Revolution zu Hilfe und dann ist unser Sieg ganz sicher, oder wir machen unsere bescheidene revolutionäre Arbeit in dem Bewusstsein, dass wir selbst im Falle einer Niederlage der Sache der Revolution dienen und dass unsere Erfahrungen den anderen Revolutionen von Nutzen sein werden. Es war uns klar, dass ohne die Unterstützung der internationalen Weltrevolution der Sieg der proletarischen Revolution unmöglich ist. Schon vor der Revolution und auch nachher dachten wir: Entweder sofort oder zumindestens sehr rasch wird die Revolution in den übrigen Ländern kommen, in den kapitalistisch entwickelteren Ländern, oder aber wir müssen zugrunde gehen.3 4

Lenin sprach 1921 und stellte klar, dass es ihnen klar war, dass der Sieg der proletarischen Revolution ohne die Unterstützung der proletarischen Weltrevolution nicht möglich ist. Wenn diese nicht zu ihrer Hilfe käme, wenn wir nicht im Weltmaßstab triumphierten, wären wir dem Untergang geweiht, aber das sei in jedem Fall in Ordnung, denn sie hätten der Sache der Revolution gedient, und ihre Lehren würden dem Weltproletariat nützlich sein: kurzum, eine internationalistische Position, mit der Stalin radikal brechen wird. Das ist die tiefe, infame und konterrevolutionäre Bedeutung der Theorie des Sozialismus in einem Land. Wie wir bereits gesagt haben, wiederholt Lenin in Bezug auf Marx einfach, was die Gründer unserer historischen Partei gesagt haben. Schon Engels erklärte in seinen Grundsätzen des Kommunismus, die dem Manifest vorausgingen:

Wird diese Revolution in einem einzigen Lande allein vor sich gehen können? Nein. Die große Industrie hat schon dadurch, daß sie den Weltmarkt geschaffen hat, alle Völker der Erde, und namentlich die zivilisierten, in eine solche Verbindung miteinander gebracht, daß jedes einzelne Volk davon abhängig ist, was bei einem andern geschieht. Sie hat ferner in allen zivilisierten Ländern die gesellschaftliche Entwicklung so weit gleichgemacht, daß in allen diesen Ländern Bourgeoisie und Proletariat die beiden entscheidenden Klassen der Gesellschaft, der Kampf zwischen beiden der Hauptkampf des Tages geworden. Die kommunistische Revolution wird daher keine bloß nationale, sie wird eine in allen zivilisierten Ländern, d.h. wenigstens in England, Amerika, Frankreich und Deutschland gleichzeitig vor sich gehende Revolution sein.

Und das in der Zeit vor den bourgeoisen Revolutionen von 1848. Es liegt auf der Hand, dass diese Position 1917 und erst recht heute, da der Kapitalismus zum Weltkapitalismus geworden ist, wiederum eine Revolution voraussetzt, um ihn auch auf Weltebene zu bekämpfen und zu besiegen. Sogar Stalin selbst bis 1924: Man lese nur seine Über die Grundlagen des Leninismus, in denen er behauptet, dass die russische Revolution die Diktatur des Proletariats in Russland errichtet hat, ihr endgültiger Triumph aber eine Weltrevolution erfordert. Erst im Dezember 1924 veröffentlichte Stalin in der Prawda einen Artikel mit dem Titel „Die Oktoberrevolution und die Taktik der Kommunisten“, in dem er zum ersten Mal vom Aufbau des Sozialismus in einem einzigen Land sprach. Im Jahr 1925 wird er als Vorwort zu Stalins Buch „Oktoberweg“5 und in den folgenden Ausgaben von „Zu den Fragen des Leninismus“ erscheinen. Für Stalin kann das russische Volk nicht „in seinen Widersprüchen dahinvegetieren und verrotten, während es auf die ‚Weltrevolution‘ wartet“. Auf diese Weise rekonstruiert und manipuliert er, wie wir weiter unten genauer sehen werden, Texte, um sie mit der Notwendigkeit der Entwicklung des russischen Staates und seiner kapitalistischen Akkumulation in Einklang zu bringen. Die zentrale These vom Sozialismus in einem Land ist eine konterrevolutionäre Umkehrung des bisher Gesagten: Der Sozialismus wird in Russland aufgebaut und das Proletariat muss ihn in allen Ländern verteidigen. Eine These, die des Sozialismus in einem Land, die untrennbar mit dem Scheitern der Weltrevolution verbunden ist – die ihre letzten beiden großen Episoden in Deutschland 1923 und in China 1927 erlebte. Diese Isolierung der russischen Revolution angesichts des besiegten Weltproletariats erzeugt in Russland nationalen Druck für eine Normalisierung der Beziehungen zu den kapitalistischen Staaten auf diplomatischer und ökonomischer Ebene. Diese Normalisierung ist das, was der Idee des Sozialismus in einem Land zugrunde liegt. Wir sollten uns auf uns selbst und unsere Entwicklung konzentrieren. Geben wir die Schimären einer Weltrevolution auf. Der Sozialismus muss in Russland auf der Grundlage des Willens der Arbeiter und Bauern, verkörpert durch die Partei, aufgebaut werden. Und das Weltproletariat muss vom aktiven Subjekt der Weltrevolution zum Verteidiger des Heimatlandes des Sozialismus, der belagerten russischen Bastion, werden. In der Fortsetzung der Debatte innerhalb der Russischen Kommunistischen Partei war es Bucharin, der theoretisch viel kompetenter war als Stalin6, der die Perspektive des Sozialismus in einem Land aufgriff und dieser Idee auf dem XIV Parteitag der Kommunistischen Partei Russlands mehr theoretisches Gewicht verlieh. Stalin griff sie im Rahmen des Kampfes gegen Sinowjew und Trotzki endgültig wieder auf und gab sie nicht auf. Sein Text ist in dieser Hinsicht wichtig: Die Frage des Sieges des Sozialismus in einem Land. Stalin verwendet seine typische Prosa voller einfacher Fragen, die bejahend oder verneinend beantwortet werden. Eine Prosa, die eine Schule schaffen wird, die Schule der Konterrevolution. Stalin beginnt mit einer Selbstkritik an seiner Behauptung, dass der Triumph des Sozialismus den Triumph der Weltrevolution voraussetzt, eine Formel, die sich in Über die Grundlagen des Leninismus findet:

Aber die Macht der Bourgeoisie stürzen und die Macht des Proletariats in einem Lande errichten heißt noch nicht, den vollen Sieg des Sozialismus sichern. Das Proletariat des siegreichen Landes, das seine Macht gefestigt hat und die Führung über die Bauernschaft ausübt, kann und muss die sozialistische Gesellschaft aufbauen. Bedeutet das aber, dass es damit schon den vollständigen, endgültigen Sieg des Sozialismus erreichen wird, das heißt, bedeutet es, dass das Proletariat mit den Kräften eines Landes allein endgültig den Sozialismus verankern und das Land gegen die Intervention und folglich auch gegen eine Restauration völlig sichern kann? Nein, das bedeutet es nicht. Dazu ist der Sieg der Revolution wenigstens in einigen Ländern notwendig. Deshalb ist die Entwicklung und Unterstützung der Revolution in den anderen Ländern eine wesentliche Aufgabe der siegreichen Revolution. Deshalb soll sich die Revolution des siegreichen Landes nicht als eine sich selbst genügende Größe betrachten, sondern als Stütze, als Mittel zur Beschleunigung des Sieges des Proletariats in den anderen Ländern.

Stalin sagt, dass diese Formel bis zur Zerstörung der Opposition von Trotzki und Sinowjew innerhalb der russischen KP gerecht war. Sobald sie zerstört ist, ist klar, dass eine vollständige sozialistische Gesellschaft mit den Kräften Russlands allein und ohne Hilfe von außen aufgebaut werden kann.

Ihr Fehler liegt darin, dass sie zwei verschiedene Fragen zu einer einzigen verschmilzt: die Frage nach der Möglichkeit, den Aufbau des Sozialismus mit den Kräften eines einzigen Landes durchzuführen, eine Frage, die bejaht werden muss, und die Frage, ob ein Land mit einer Diktatur des Proletariats ohne eine siegreiche Revolution in anderen Ländern als vollständig garantiert gegen eine Intervention und damit gegen die Wiederherstellung des alten Regimes angesehen werden kann, eine Frage, die verneint werden muss. Ganz zu schweigen davon, dass eine solche Formulierung Grund zu der Annahme geben könnte, dass es unmöglich ist, die sozialistische Gesellschaft mit den Kräften eines einzigen Landes zu organisieren, was natürlich falsch ist.

Wie wir deutlich sehen können, sind alle Grundlagen des stalinistischen nationalen „Kommunismus“ bereits in dieser Formulierung enthalten. Dies ist der Kern der Konterrevolution. Die offenkundig falsche Behauptung vom Sozialismus in einem Land dient dazu, das Weltproletariat auf ein bloßes Anhängsel zur Verteidigung der geopolitischen und imperialistischen Interessen der UdSSR als kapitalistischer Staat zu reduzieren. Es gibt eine radikale Umkehrung der Pyramide des proletarischen Internationalismus, wie Bordiga auf der Sechsten Erweiterten Exekutive der Kommunistischen Internationale 1926 erklärte. Das Subjekt ist nicht mehr das Weltproletariat, das sich als Klasse konstituiert, durch seine Partei als Klassenorgan, und das den Triumph der Weltrevolution anstrebt. Das Proletariat ist lediglich ein passiver Akteur, der den russischen Staat als Vaterland des Sozialismus, eines selbsternannten Sozialismus, unterstützt. Das wird die Geschichte des Stalinismus von da an sein: die Reduzierung der kommunistischen Parteien auf Agenten zur Verteidigung der ökonomischen und politischen Interessen des russischen Staates. Letzterer, seine politischen Apparate und die Komintern selbst werden durch die Theorie des Sozialismus in einem Land als Agenten des russischen unpersönlichen Kapitals und der Weltbourgeoisie konstituiert. Das ist das Geheimnis des Stalinismus und seiner Konterrevolution, die sich im Sozialismus in einem Land verkörpert.

Zunächst einmal ist es wichtig, immer wieder zu betonen, dass der Sozialismus in einem Land unmöglich ist, denn Sozialismus bedeutet, wie Sinowjew selbst in der Diskussion gegen Stalin in Anlehnung an Marx sagte, die Abschaffung der Diktatur des Proletariats und die Auslöschung der sozialen Klassen. Der Sozialismus oder die erste Phase des Kommunismus, wie Marx sagte, ist eine Gesellschaft, in der die kapitalistischen Kategorien nicht mehr gelten: Lohnarbeit, Staat, Geld und Waren, soziale Klassen… Stalin und der Stalinismus, als unbewusster Ausdruck der unpersönlichen Kräfte des Weltkapitals, geben als Kommunismus aus, was ein Ausdruck des nationalen Kapitals ist. Wie wir bereits in unserem Text Stalins Kapitalismus7 erläutert haben, verteidigt dieser, dass die Existenz des Wertgesetzes, der Akkumulation von Waren zum richtigen Preis – denn dieser totalitäre proudhonianische Kapitalismus wäre exzessive, monopolistische Profite -, des Lohnsystems als Vermittlung zwischen Produktion und Konsum … der Aufbau des Sozialismus in Russland wäre, eines Sozialismus, den der Vater der Konterrevolution bereits 1931 proklamierte.

Diese Diskussion ist nicht nur terminologisch, denn es geht um die Verfälschung des Programms des Kommunismus. Eine Verfälschung, die bis heute anhält, wenn auch in abgeschwächter Form. Wir erleben junge Proletarier, die sich gegen den Kapitalismus radikalisieren und ihn auf revolutionäre Weise überwinden wollen, doch dafür finden sie in ihren vielen Familien die Instrumente der Konterrevolution in verschiedenen stalinistischen Apparaten verkörpert. Sie kommt aber auch selbst bei linken Kritikern des Stalinismus vor, wie z. B. den Kommunisierern8, die den Sozialismus mit dem verwechseln, was Stalin darüber gesagt hat – d. h. eine Gesellschaft, in der das Wertgesetz herrscht -, die die Notwendigkeit der Überwindung jeglicher Übergangsphase zum Kommunismus beteuern – und dabei die zentrale Bedeutung der Diktatur des Proletariats als revolutionäre politische Phase ignorieren – und damit Stalins voluntaristische Position radikalisieren. Der Kommunismus wäre sofort möglich, ohne Weltrevolution, nicht einmal auf nationaler Ebene, denn er würde sich im Kampf selbst, im Aufstand selbst, durchsetzen. Ohne es zu wissen, sind diese Theorien das Ergebnis dessen, was sie vorgeben zu kritisieren, nämlich die Vorstellungen der Konterrevolution, die sie als die von Marx und unserer historischen Bewegung ausgeben. Nein, der Sozialismus ist bereits Kommunismus, er ist keine Gesellschaft mit sozialen Klassen und einem Staat, sondern eine Klassendiktatur als Übergangsphase. Und der Kommunismus braucht diese Zwischenphase. Er entsteht nicht aus bloßem Willen, wie es die kommunizierende Ideologie voraussetzt9.

Aber um auf Sinowjew zurückzukommen: Im Kampf gegen Stalins Positionen sprach er bereits von der nationalen Beschränktheit des Georgiers und wie dieser den proletarischen Internationalismus leugnete. Trotzki und Sinowjew haben in ihrer Reaktion gegen den Stalinismus sehr viele Grenzen. Wir werden sie im Laufe unseres Textes und der Lehren, die wir heute als Kommunisten ziehen müssen, entwickeln und auch auf die Grenzen von Lenin selbst zurückkommen. Aber es ist wichtig, auf seine Reaktion hinzuweisen, auf die verwirrte, aber gerechte Verteidigung der Grundlagen des Kommunismus. Der Sozialismus ist eine klassenlose und staatenlose Gesellschaft, wie Trotzki in Die verratene Revolution von 1936 sagen wird.

Das Endergebnis der stalinistischen Konterrevolution kommt für uns als revolutionäre Kommunisten, die versuchen, die materialistische Methode auf die Geschichte anzuwenden, nicht überraschend. Eine proletarische Revolution, die in einem Land triumphiert, aber international isoliert ist, ist dem Untergang geweiht. Das ist das Geheimnis hinter dem russischen Schlamassel. Die russische Revolution war eine proletarische Revolution, deren Ziel es war, den Kommunismus zu erreichen. Dieses Ziel ist erst nach der Entwicklung und dem Sieg einer Weltrevolution möglich, die zwar stattgefunden hat, aber gescheitert ist. Wie Rosa Luxemburg in ihrer Analyse der russischen Revolution sagte, tragen die Bolschewiki das unvergängliche Verdienst in sich, es gewagt zu haben. Doch damit stellten sie eine Herausforderung dar, die nur vom internationalen Proletariat angenommen werden und in der Weltarena des Klassenkampfes triumphieren konnte. Die Isolierung der Revolution stärkte das Gewicht des Weltkapitalismus in Russland. Als historische Materialisten wissen wir, dass es nicht anders sein konnte. Im Gegensatz zu dem, was die Rätekommunisten später behaupteten, war die russische Revolution eine proletarische Revolution, die in einem kapitalistischen Kontext stattfand. Es konnte nicht anders sein: Das war die soziale Realität des damaligen Russlands und jedes anderen Landes seiner Zeit – obwohl die deutsche Entwicklung natürlich mehr dazu beigetragen hätte als die russische Situation – und das wird auch in unserer Zeit so sein, selbst wenn der Kapitalismus die gegenwärtige Reife des Kommunismus stark erweitert hat. In jedem Fall bedeutet eine siegreiche Revolution immer auch eine politische Übergangsperiode, die durch die revolutionäre Diktatur des Proletariats gekennzeichnet ist.

Wie wir sagen, führt ein Kontext der Isolation der Weltrevolution unweigerlich zu einer Anhäufung konterrevolutionären Drucks, der schließlich triumphiert. Unter diesen schwierigen Bedingungen agieren die Bolschewiki und das führt sie in eine Reihe von Fehlern. Inmitten der Isolation der Revolution, vor allem ab 1921, konzentrierten sich die Bolschewiki auf den Versuch, die nationale Ökonomie, die NEP, den Staatskapitalismus zu entwickeln, um eine kapitalistische Entwicklung zu erzeugen, während sie auf den Triumph der Weltrevolution warteten. Lenin geht sogar so weit, diesen Staatskapitalismus als einen Fortschritt auf dem Weg zum Sozialismus zu bezeichnen – in einer Perspektive, die sich zu sehr auf die nationale ökonomische Entwicklung konzentriert, sind die Übergänge zum Sozialismus, die zweifelsohne weltweit sind. Lenin argumentiert, dass das Beste, was sie in dieser Zeit für das Weltproletariat tun können, ist, sich auf ihre eigene ökonomische Entwicklung zu konzentrieren:

Mit unserer ökonomischen Politik greifen wir in die Weltpolitik ein; wenn wir dieses Problem lösen, werden wir auf internationaler Ebene sicher und endgültig gewinnen.10

Den Bolschewiki geht es immer darum, sich Luft und Zeit zu verschaffen, um durchzuhalten, bis die Weltrevolution wieder ausbricht, daher die Bedeutung, die die Kommunistische Internationale 1923 dem Triumph der deutschen Revolution beimessen wird. Es scheint uns sehr wichtig zu sein, den qualitativen Bruch zu betonen, den die bolschewistische Perspektive im Verhältnis zum Stalinismus impliziert. Wir verstehen zwar, dass dieser Druck bereits in der anfänglichen Entwicklung der russischen Revolution vorhanden war, aber wir verstehen auch, dass er ohne einen Triumph der Weltrevolution unvermeidlich war. Es ist unmöglich, eine gesunde proletarische Macht im Kontext einer kapitalistischen Welt- und Nationalökonomie auf Dauer zu erhalten. Lenin hat auf jeden Fall das Verdienst, die Situation beim richtigen Namen zu nennen. Was existiert und sich aus der bolschewistischen Macht entwickelt, ist eine Form des Staatskapitalismus, der volle Sozialismus wird nicht auf nationaler Ebene aufgebaut. Er selbst erkennt an, dass der Wagen des Staates seinen eigenen Weg geht, dass sie ihn nicht kontrollieren. Es wäre sehr wichtig gewesen, diesen Aspekt deutlicher herauszuarbeiten, um die bolschewistische Partei und die Kommunistische Internationale davor zu bewahren, Instrumente der Konterrevolution zu werden.

Und doch sind die Bolschewiki, angefangen bei Lenin, nicht klar genug. Die Konzentration auf die Entwicklung einer nationalen Ökonomie, während die Weltrevolution ausbricht, wird die Grundlage sein, die die stalinistische Konterrevolution später ausnutzen wird. Sie schafft Missverständnisse über den endgültigen Horizont der kommunistischen Revolution und erzeugt eine Reihe von Tendenzen, die automatisch, unpersönlich und für sich selbst funktionieren, wenn sie nicht durch die Ausdehnung der Weltrevolution und die internationale Macht des Proletariats durchbrochen werden. Andernfalls wird die Logik des Staates und der kapitalistischen Ökonomie schließlich jede revolutionäre Erfahrung verschlingen und brechen, was schließlich auch geschah. Die merkantile Logik der Kapitalakkumulation und die geopolitischen Interessen des russischen Staates legten die Rechnung für ihre Interessen vor und fanden in Stalin und seinem Kreis die Agenten und Funktionäre ihrer Logik11. Wir werden später auf diese Lektionen zurückkommen, aber es scheint uns sehr wichtig, sie jetzt hervorzuheben. Das Problem war nicht die Anwendung der NEP im Jahr 1921 oder gar Lenins Positionen zugunsten des Staatskapitalismus – wir teilen sie nicht, aber sie scheinen uns ein taktisches Problem zu sein, andere ökonomische Maßnahmen, die den Konsum und die proletarische Freizeit so weit wie möglich gefördert hätten, wären besser gewesen – solche Maßnahmen – merkantil – sind in einem gesellschaftlichen Kontext, der kapitalistisch bleibt, unvermeidlich. Was stärker hätte betont werden müssen, war, dass diese Maßnahmen ohne die proletarische Weltrevolution ihre Tage gezählt hatten, dass diese das A und O der revolutionären Macht sein muss und dass sich der russische Staat und die bolschewistische Partei gerade deshalb der Zentralisierung der Internationale unterwerfen mussten – wie Bordiga auf der Sechsten Erweiterten Exekutive der Kommunistischen Internationale betonte. Es war nicht möglich, die Illusion zu nähren, dass man sich außerhalb der Marktbörsen befände und dass deren Wirbelwind die Revolution nicht verhängnisvoll mit sich reißen würde. Wenn die Weltrevolution dem Kapitalismus nicht ein Ende setzte, würde der Kapitalismus am Ende in Moskau mit ihm abrechnen12. Und es musste berücksichtigt werden, dass, wenn die Zeit gekommen war, auf die politische Macht verzichtet werden musste, damit sie das Klassenorgan, die Weltpartei, nicht zerdrückte und deformierte. Wer diese Perspektive nicht berücksichtigt, wird am Ende den Prozess ruinieren und eine kapitalistische Konterrevolution herbeiführen, aber mit einer roten Fahne, die die revolutionären Möglichkeiten des Proletariats über Jahrzehnte hinweg unterdrückt hat. Deshalb ist es heute so wichtig, die Lehren aus der russischen Revolution und vor allem aus der Konterrevolution, die uns niedergeschlagen hat, klar zu erkennen.

An diesen Punkten sind Lenin und die Bolschewiki nicht klar genug. Ihr rechtschaffener Wille, durchzuhalten und Widerstand zu leisten, berücksichtigt nicht ausreichend die Gefahren, die entfesselt werden, und die Art und Weise, wie die Logik des Kapitals und der internationalen Diplomatie sie schließlich verschlingen wird. Schon sehr früh gibt es zwei Logiken, die nebeneinander existieren. Die eine ist die der Kommunistischen Internationale und die andere die der internationalen Verträge, in denen der russische Staat versucht, die Anerkennung durch die bourgeoise Staatengemeinschaft zu erlangen. Die ersten revolutionären Impulse waren im Abklingen begriffen. Tschicherin und Litwinow (Kommissare für auswärtige Angelegenheiten der UdSSR) unterscheiden sich stark von Trotzki, der behauptete, er wolle seinen Posten nutzen, um revolutionäre Propaganda unter deutschen und österreichischen Soldaten zu verbreiten, nur um dann die Tür des Ministeriums zu schließen. Jetzt, in den frühen 1920er Jahren, strebt der russische Staat nach internationaler Anerkennung, die er 1922 in Rapallo erlangt. Er machte geheime Vereinbarungen nicht mehr öffentlich, sondern schloss sie ab: zum Beispiel ein geheimes Protokoll mit Weimar-Deutschland, in dem die UdSSR den Bau von Fabriken für die heimliche Bewaffnung der deutschen Armee genehmigte; oder der Rückzug der UdSSR aus der Unterstützung für die Sowjetrepublik Guilan im Nordiran aufgrund des Abkommens zwischen der russischen und britischen Diplomatie von 1921; oder der Moskauer Vertrag von 1921 mit Atatürks Türkei, der sowjetische Militärhilfe für die Türken im Krieg mit den Griechen vorsieht, während Atatürk die türkischen Kommunisten verfolgt.

Wir sehen also einen engen Zusammenhang zwischen den Bewegungen der russischen Staatsdiplomatie, der Einbindung in die Gemeinschaft der kapitalistischen Staaten durch internationale Verträge und wie diese Dynamik nach und nach gegen die Interessen der Weltrevolution ausgespielt wird. Dies zu verstehen, ist der entscheidende Aspekt, und darüber waren sich die Bolschewiki trotz ihres Internationalismus nicht im Klaren. Dieser Mangel an Klarheit führte zusammen mit der internationalen Dynamik der Isolierung der Revolution zur Entstehung eines Teils der russischen Partei, der die Interessen der automatischen Dynamik des internationalen Kapitalismus verkörperte.

Interklassismus als Bündnis mit der fortschrittlichen Bourgeoisie

Wir haben die Hauptstütze der stalinistischen Konterrevolution, den Sozialismus in einem Land, der die logische Krönung der Interessen des russischen kapitalistischen Staates vor denen des Weltproletariats ist, bereits eingehend analysiert. Es ist die theoretische Ursache, die eine praktische Dynamik bestätigt, nämlich die der Zerstörung der kommunistischen Partei, die von einem proletarischen Organ in ein Instrument der bourgeoisen Weltkonterrevolution verwandelt wird. Diese konterrevolutionäre Position wird auf dem XV. Kongress 1927 als notwendige Bedingung für die Mitgliedschaft in der russischen KP und auf dem VI. Kongress 1928 in der Kommunistischen Internationale eingeführt. Von da an wurde die Behauptung von der Notwendigkeit des Sozialismus in einem Land zu einem Glaubensdogma der Konterrevolution.

Und das ist sehr wichtig, wenn man bedenkt, was wir in der Einleitung zu diesem Text gesagt haben. Viele der Organisationen, die sich heute als kommunistisch bezeichnen, sind in Wirklichkeit national-“kommunistisch“. Sie sind die Erben dieser Konterrevolution in Prinzip und Praxis, die die proletarische Bewegung zerfressen hat. Deshalb ist es, wie gesagt, so wichtig, sich von diesen Kräften zu distanzieren, sie im feindlichen Lager zu sehen und sie als konterrevolutionär zu bezeichnen.

Im Lexikon der politischen Tricks des Stalinismus wird der Sozialismus zum Nationalismus und der Internationalismus zur Verteidigung der geopolitischen Interessen des russischen Staates, wie wir bereits gesagt haben. Ein Internationalist zu sein bedeutet nicht, die Klassensolidarität hochzuhalten und gegen die Weltbourgeoisie zu kämpfen, sondern das Heimatland des Sozialismus zu verteidigen.

Wie wir bereits erahnen können, hat dies direkten Einfluss auf die internationale Politik der stalinistischen Komintern. Die Dritte Internationale wurde 1919 als Ausdruck der Weltpartei des Proletariats gegründet. Zweifellos war sie, mit all ihren Grenzen und Zögerlichkeiten, eine sehr klare Demonstration des Internationalismus, der der russischen Revolution und den Bolschewiki innewohnt. Die Politik des Sozialismus in einem Land verändert alles, denn dann geht es um die Verteidigung der Interessen des russischen Staates und die Bündnisse, die er mit den nationalen Bourgeoisien in zahlreichen Ländern eingeht. Seit 1927 sind die kommunistischen Parteien ein Anhängsel der Konterrevolution.

Um das oben Gesagte zu verdeutlichen, wollen wir uns mit verschiedenen revolutionären Prozessen und der opportunistischen und kriminellen Politik der Kommunistischen Internationale befassen. Wir werden über den Prozess der Bolschewisierung der Kommunistischen Internationale von 1923-24, das Anglo-Russische Komitee von 1925/26, die chinesische Revolution von 1927 und den Zickzackkurs der stalinistischen Politik von der Theorie des Sozialfaschismus zum Volksfrontismus und Antifaschismus als Bündnis mit der demokratischen Bourgeoisie sprechen. In einem späteren Abschnitt werden wir auf andere Prozesse der berüchtigten Politik des Stalinismus eingehen, wie zum Beispiel Spanien 1936.

Die Kommunistische Internationale durchlief von 1923 bis 1924 einen Prozess der Bolschewisierung aller kommunistischen Parteien, der 1926 seinen Höhepunkt erreichte. Im Rahmen dieses Prozesses wurde die Pyramide der Internationale völlig auf den Kopf gestellt. Wie Bordiga auf der IV Erweiterten Exekutive sagte:

Wir können unsere internationale Organisation mit einer Pyramide vergleichen. Diese Pyramide muss eine Spitze haben und Seiten, die zu dieser Spitze hin tendieren. So können Einheit und die notwendige Zentralisierung dargestellt werden. Aber heute ruht unsere Pyramide aufgrund unserer Taktik gefährlich auf ihrer Spitze. Die Pyramide muss daher umgedreht werden […]. Das ganze System muss von oben nach unten verändert werden.

Bordiga bringt die Prinzipien der organischen Zentralisierung, die die Internationale haben muss, klar zum Ausdruck. Sie muss sich auf ihre Basis stützen und auf eine Bewegung in zwei Richtungen, von unten nach oben und von oben nach unten, die eine Einheit auf der Grundlage gemeinsamer kommunistischer Positionen ermöglicht. Im Gegensatz dazu bedeutet Bolschewisierung – ein Begriff, den der französische Kommunist Albert Treint verwendet hat – die Schaffung einer internationalen Disziplin, die den revolutionären Geist der kommunistischen Parteien und der Kommunistischen Internationale verkrüppeln wird. Und wie die italienische Linke in der gleichen Exekutive erklärte:

Die Disziplin ist ein Ankunftspunkt, kein Ausgangspunkt, keine unveränderliche Plattform. Andererseits entspricht dies dem freiwilligen Charakter der Mitgliedschaft in unserer Organisation der Partei. Aus diesem Grund kann eine Art Parteistrafgesetzbuch kein Heilmittel für die häufigen Fälle von Disziplinlosigkeit sein. In unseren Parteien ist in letzter Zeit ein Terrorregime eingeführt worden, eine Art Sport, der darin besteht, einzugreifen, zu bestrafen, zu unterdrücken und zu vernichten. Und das alles mit einem ganz besonderen Vergnügen, als ob dies das Ideal des Parteilebens wäre.

Der anthropologische Typus des stalinistischen Militanten wurde hier geboren, aber es war ein Bruch mit den revolutionären Traditionen der frühen Jahre der Kommunistischen Internationale. Der Rubaschow in Koestlers Roman Sonnenfinsternis ist bereits jemand, der an dieser künstlichen Disziplin zerbrochen ist, die aus Infamien, Verrat und Denunziationen besteht, die die Verbindung zu einem wahren revolutionären Programm und zu einer Disziplin, die bewusst sein muss, korrumpieren und von innen heraus brechen. Die Bolschewisierung und ihr Triumph auf Kosten der Militanten, die die authentischen Traditionen unserer Klasse vertraten, ist die Erklärung für die organisatorische und moralische Logik des Stalinismus: von Säuberungen bis hin zu einem ständigen Zickzackkurs der taktischen Positionen und Prinzipien. Und das alles im Namen der Verteidigung der UdSSR als Heimatland des Sozialismus, der Verteidigung der „Eigenen“, um dem Feind keine Waffen zu geben. Mit anderen Worten: All das um den Preis, dass das wahre kommunistische Programm und die Ziele begraben werden. Es wird also bekräftigt:

Eine Methode der persönlichen Demütigung, die eine bedauerliche Methode ist, selbst wenn sie gegen politische Elemente eingesetzt wird, die es verdienen, hart bekämpft zu werden. Ich glaube nicht, dass es eine revolutionäre Methode ist. Ich denke, dass die meisten von denen, die heute ihre Rechtgläubigkeit beweisen, indem sie sich auf Kosten von Sündern und Verfolgten amüsieren, höchstwahrscheinlich aus ehemaligen Gegnern bestehen, die seinerzeit gedemütigt wurden […]. Dieser Selbstaufopferungswahn muss aufhören, wenn wir uns wirklich für die Führung des revolutionären Kampfes des Proletariats bewerben wollen.

Die Logik der Kritik und Selbstkritik wurde bereits 1926 als etwas beschrieben, das im Namen des kommunistischen Programms radikal bekämpft werden muss, als Zeichen dafür, dass die Konterrevolution zwar eine Frage des Inhalts und nicht der Form ist, die Methoden, die die kommunistische Organisation und Militanz aufbauen, aber nicht unabhängig von diesen Inhalten sind, sondern untrennbar mit ihnen verbunden sind. Es gibt eine ständige Beziehung zwischen Mitteln und Zielen. Und den Zielen der stalinistischen bourgeoisen Konterrevolution entsprechen die Mittel: Denunziation und Selbstaufopferung, die Zerstörung der kollektiven Reflexion und künstliche Disziplin, Personalismus und die unerbittliche Verfolgung von Sündern. Eine Logik, die den Antipoden der Organisation der Kommunisten entspricht. Ziele und Mittel sind im Stalinismus untrennbar miteinander verbunden, und seine Methoden sind weder unserer Bewegung noch dem bolschewistischen Zentralismus im Besonderen eigen, sondern sind seine eigentliche Negation als Produkt der Konterrevolution.

Der oben beschriebene Prozess der Bolschewisierung dauert nun schon drei Jahre an. Er ist das Ergebnis der langsamen Durchsetzung der Konterrevolution, die die Bolschewiki dazu bringt, sich in ihre belagerte Festung zurückzuziehen, und sie dazu bringt, zu versuchen, die Kommunistische Internationale zu kontrollieren, um sie in den Dienst des Vaterlandes des Sozialismus zu stellen. Paradox ist in diesem Sinne, was in der Kommunistischen Partei Italiens (KPI) geschah, wo die linke Führung 1923 von Moskau abgelöst und von Gramsci angeführt wurde, der von da an zum Verteidiger der Moskauer Linie wurde, die versuchte, die revolutionäre Unnachgiebigkeit der italienischen Partei – die sich gegen die politischen Einheitsfronten und die Arbeiterregierung oder den Zusammenschluss mit den Sozialisten von Serrati stellte13 – zu mildern. Gramsci, der sich offensichtlich sehr von dem berüchtigten Togliatti unterscheidet, wird die Kontrolle der Partei durch die Kommunistische Internationale unerbittlich durchsetzen, sogar mit einer Parteipolizei, die versuchte, die von den Militanten mitgeführten Dokumente und Papiere zu kontrollieren, um Fraktionslogiken zu verhindern, und mit so undemokratischen Methoden wie der Vergabe aller Stimmen an die Führung, die aufgrund der Geheimhaltung der Partei im faschistischen Italien nicht abgegeben werden konnten. Und trotz alledem war die Linke auf der Konferenz von Como (1924) immer noch in der Mehrheit, und erst 1926 wurde die Partei durch Gramsci vollständig von Moskau kontrolliert. Und, wie wir schon sagten, gab es immer noch eine gewisse Logik und einen gewissen Kameradschaftsgeist, der in den 1930er Jahren in der italienischen Partei wie auch in den anderen kommunistischen Parteien endgültig zerschlagen werden sollte.

Was wir gerade für Italien angedeutet haben, was auch dazu dient, das heutige geschönte Bild eines akademisch verbrämten Gramsci zu diskreditieren, lässt sich auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichen Klarstellungen auf alle kommunistischen Parteien der Welt verallgemeinern. In Frankreich wurde die Führung von Boris Souvarine, Rosmer und Monatte abrupt durch die Figur von Albert Treint ersetzt, der später zugunsten von Maurice Thorez eliminiert wurde. In Deutschland säubert die KPD zunächst – unter Paul Levi – die Mehrheit ihrer Militanz, woraus die KAPD entsteht. Nach der gescheiterten Revolution von 1923 wird Brandler durch die „Linken“ Maslow und Ruth Fischer ersetzt, und schließlich setzt sich der disziplinierte und unterwürfige Thälmann durch. Das ist das Geheimnis der stalinistischen Führer, Produkte der Konterrevolution, unterwürfige Menschen, die zu Moskau ja zu sagen wissen und die ihrerseits als kleine Väter oder Mütter des Proletariats gefeiert werden: von Dolores Ibárruri bis Tito, von Mao bis Thorez, von Dimitrov bis zum ungarischen Rákosi. In einigen Fällen handelt es sich um intelligente und berüchtigte Figuren wie Togliatti, die ihre Intelligenz in den Dienst der Konterrevolution stellen und die Säuberungen durch eine Kombination aus Glück, Fügsamkeit und vor allem einer hohen Dosis an Niedertracht überleben. In anderen Fällen werden die Kinder gegen ihre Eltern rebellieren. Das ist es, was Tito mit Stalin, Mao mit Chruschtschow oder Carrillo mit Ibárruri macht. Aber die konterrevolutionäre Logik ist identisch, das national-“kommunistische“ Programm treibt sie an und sie fordern einfach ihren eigenen Anteil am Kuchen. Aber darauf werden wir später zurückkommen. Für den Moment wollten wir betonen, dass sowohl die Bolschewisierung der Kommunistischen Internationale als auch die Bolschewisierung der russischen Partei selbst für den Erfolg der laufenden Konterrevolution entscheidend waren.

Das erste Beispiel, auf das wir eingehen wollten, um die Folgen dieser interklassistischen und versöhnlichen Politik der Komintern genau zu beobachten, ist der britische Fall. Im April 1925 wurde zwischen den sowjetischen und britischen syndikalistischen Anführern, die sich der „Linken“ zugewandt hatten, ein Abkommen unterzeichnet, das als „Anglo-Russisches Komitee“ bekannt wurde. Tatsächlich ist diese Vereinbarung untrennbar mit früheren diplomatischen Schritten verbunden. Im Januar 1924 kam die erste Labour-Regierung überhaupt an die Macht und erkannte die UdSSR am 1. Februar 1924 diplomatisch an. Sowjetische Diplomaten, darunter der syndikalistische Anführer Tomsky, treffen im Mai 1924 auf britischem Boden ein. Britische syndikalistische Anführer besuchen die UdSSR Ende 1924 und, wie bereits erwähnt, wird im April 1925 das berühmte Anglo-Russische Komitee zwischen den sowjetischen und britischen Gewerkschaften/Syndikate unterzeichnet. Diese Vereinbarungen bedeuteten die Unterordnung der Autonomie der Britischen Kommunistischen Partei (GBCP) unter diesen Ausschuss und die syndikalistische Logik der britischen linken Anführern: radikal in ihren Worten und absolut zaghaft in ihrem Handeln. Kurz gesagt, eine für den Syndikalismus typische Logik, die den Radikalismus der Arbeiterbewegung aufgreift und ihn in den politischen Rahmen des bourgeoisen Staates integriert, und genau das werden sie mit Hilfe der UdSSR tun. Lloyd George, der berühmte liberale Politiker, hatte bereits 1919 zu den syndikalistischen Anführern gesprochen und ihnen gesagt, dass ihre Funktion darin besteht, die soziale Ordnung aufrechtzuerhalten. Es ist allgemein bekannt, dass die Funktion das Organ bestimmt, in diesem Fall dem Syndikalistischen14.

Im Jahr 1926 erlebten wir in Großbritannien eine sehr wichtige Streikwelle, die durch den Kampf der Bergarbeiter vorweggenommen wurde. Am ersten Tag des Streiks, dem 4. Mai, war der Streik total. Alles ist still als Zeichen der potenziellen Macht des Proletariats im Kampf. Der Verkehr im Land steht komplett still, nur 3,5% der Personenzüge und 2-3% der Güterzüge fahren. Gleichzeitig ist die GBCP eine schwache Partei und den syndikalistischen Leitungen völlig untergeordnet. Wie wir bereits in El pasado de nuestro ser angedeutet haben, ist dies ein neuer Beweis für die Freiwilligkeit der Dritten Internationale, revolutionäre Situationen durch Abkürzungen zu schaffen. Doch hier vollziehen wir einen qualitativen Sprung, da die Politik der Komintern der Perspektive des Sozialismus in einem einzigen Land und den geopolitischen Interessen des russischen Staates untergeordnet ist.

Die britische Regierung und die Gewerkschaften/Syndikate fürchteten sich zu Tode vor der Radikalisierung und der proletarischen Offensive, die sich jeden Tag auf den Straßen manifestierte. Nach etwas mehr als einer Woche Streik beendeten sie den Streik am 12. Mai, um den Prozess der Radikalisierung der Klasse zu brechen und zu versuchen, den Prozess wieder in Richtung der Ordnung des Kapitals zu lenken. Die Bergarbeiter setzten den Streik allein fort, aber in Isolation. Mitte Oktober 1926 kehrten 200.000 Bergarbeiter an die Arbeit zurück, und bis zum Ende des Jahres waren es alle. Der Streik von 1926 war die Niederlage von Millionen von Proletariern im Kampf. Das lag zum einen an der politischen Schwäche des Proletariats im Kampf, zum anderen aber auch an einer Politik der Kommunistischen Internationale, die den Kampf der Logik der britischen Gewerkschaften/Syndikate und damit dem politischen Rahmen des britischen Kapitals unterordnete. Für Stalin war es vorrangig, eine Politik der kommunistischen Parteien zu gewährleisten, die die Sicherheit der UdSSR garantieren würde. In diesem Sinne diente das Anglo-Russische Komitee als Instrument des russischen Staates im geopolitischen Spiel mit dem britischen Imperialismus.

Vom Standpunkt der Weltrevolution aus gesehen sind die Ereignisse in China von 1925 bis 1927 noch wichtiger. Wir sind Zeugen einer echten proletarischen Radikalisierung, die aufgrund der Politik der Dritten Internationale, die das chinesische Proletariat der von der Kuomintang (KMT) vertretenen nationalen Bourgeoisie unterordnet, in Blutvergießen enden wird. Die Politik der Führung der Dritten Internationale, die bereits der Logik des Sozialismus in einem Land und einer Vision der Weltrevolution in Etappen und als nationale Revolutionen untergeordnet ist, die eine Revolution von der anderen in wasserdichte Abteile trennt, wird in China mit schrecklichen Folgen angewandt werden. Die erste, die Idee einer Revolution in Etappen, bedeutete, die chinesische Revolution auf eine bourgeoise Revolution mit antiimperialistischem Charakter zu reduzieren. In diesem Sinne war es notwendig, ein Bündnis mit den übrigen nationalen Klassen gegen den ausländischen Imperialismus zu suchen – eine Politik, die später von Mao in den 1930er und 1940er Jahren angesichts des vollständig stalinistischen Charakters des chinesischen bourgeoisen Nationalismus entwickelt werden sollte. Das heißt, dass er in erster Linie ein Bündnis mit der nationalen Bourgeoisie anstrebte, die von der KMT vertreten wurde, der Partei, die von Sun Yat Sen gegründet worden war und die nach seinem Tod im März 1925 Jiang Jieshi zu ihrem wichtigsten Anführer gemacht hatte. Die stalinistische Dritte Internationale zwang die junge Kommunistische Partei Chinas (KPCh), sich ganz der KMT unterzuordnen. Das ging so weit, dass sich die KPCh innerhalb der KMT auflöste, an ihren Strukturen teilnahm, ohne eine eigene politische Physiognomie zu haben, und die KMT sogar zu den Treffen der Dritten Internationale eingeladen wurde. Sie gehen sogar so weit, dass sie Jiang Jieshi als Vizepräsidenten der Dritten Internationale vorschlagen. Auf diese Weise wird eine antiimperialistische Einheitsfrontpolitik betrieben, die die Dritte Internationale auch in anderen kolonialen und halbkolonialen Ländern anwenden wird – mit katastrophalen Folgen.

Neben der etapistischen Unterordnung und einem bourgeoisen Programm der KPCh erleben wir, dass die chinesische Revolution ausschließlich in nationalen Begriffen betrachtet wird. Dies ist eine direkte Folge der konterrevolutionären Strategie des Sozialismus in einem Land. Die chinesische Revolution wird nicht als Teil der 1917 ausgebrochenen Weltrevolution betrachtet, sondern als eine Revolution, die ausschließlich in ihren nationalen Grenzen gefangen ist. Und doch ist es unmöglich, irgendetwas über die chinesische Revolution zu verstehen, wenn wir sie nicht als einen Moment im Gesamtprozess der Weltrevolution betrachten, als einen entscheidenden Moment, der die revolutionäre Ebbe, die seit 1921 im Gange war, hätte umkehren können. Mit ihren Grenzen und Schwächen geht die junge KPCh zaghaft auf diese Positionen der Dritten Internationale ein. Und natürlich stand der Prozess der Klassenbildung des chinesischen Proletariats durch Landbesetzungen, wilde Streiks und die Bildung bewaffneter Milizen im Gegensatz zum kapitalistischen Charakter der chinesischen Gesellschaftsformation. Wie die italienische kommunistische Linke im Exil damals behauptete, ging es ihr um die klassenmäßige und organisatorische Unabhängigkeit von der Bourgeoisie und um die Durchsetzung der Diktatur des Proletariats in China als Teil der Weltrevolution15.

Die kapitulierende und konterrevolutionäre Position der Dritten Internationale wird nicht nur in China, sondern international Gegentendenzen haben. Die Linke Opposition, die beginnt, sich mit Trotzki und zeitweise auch mit Kamenew und Sinowjew zu verbinden, stellt sich der selbstmörderischen und kriminellen Politik von Stalin und Bucharin entgegen. Sie gehen nicht so weit, dass sie für einen organisatorischen Bruch mit der KMT plädieren, aber sie verteidigen die Notwendigkeit der Unabhängigkeit der Politik der KPCh, die ihr eigenes proletarisches Programm in China verteidigen muss. Für Trotzki bedeutet dies die Entwicklung einer permanenten Revolution, die der chinesischen Revolution einen kommunistischen Charakter verleiht, auch wenn sie mit demokratischen und bourgeoisen Slogans gewürzt ist16. Diese sehr wichtigen Grenzen seiner Position können uns nicht über die radikalen Unterschiede zu Stalins Politik hinwegtäuschen. Für Trotzki ergibt sich das Element, das der chinesischen Bewegung Bedeutung verleiht, aus ihrem internationalen Charakter als Teil der Weltrevolution und aus den kommunistischen Zielen: Das heißt, die Revolution ist auf die Diktatur des Proletariats und die Enteignung der Bourgeoisie durch das kämpfende Proletariat gerichtet.

Sehr ähnliche Positionen werden, wenn auch zögerlich, von einigen KPCh-Führern vertreten. Li Dazhao zum Beispiel, neben Chen Duxiu der wichtigste Anführer jener Zeit, verband das chinesische und das britische Proletariat eindeutig als Teil desselben weltweiten Klassenkampfes. Chen Duxiu und der Rest der KPCh lehnten den Beitritt zur KMT zunächst ab, da dies zu Verwirrung führte und die proletarische Politik der KMT unterordnete. Die chinesische Führung beugte sich jedoch dem Druck und der Disziplin der Komintern, und die KPCh wurde so als Partei des Proletariats Teil des linken Flügels der nationalen Bourgeoisie. Li Dazhao gestand Peng Suzhi, dass sie die Arbeit von Nationalisten und nicht von Kommunisten machten, dass sie ihre Partei, die KPCh, im Austausch für die KMT aufgegeben hatten. Der Hintergrund der politischen und programmatischen Diskussionen ermöglicht uns ein besseres Verständnis der historischen Ereignisse, die André Malraux in seinen Romanen (Les Conquérants und So lebt der Mensch) verarbeitet hat. Am 30. Mai 1925 brach in Kanton und Hongkong ein Streik aus, aus dem der erste proletarische Sowjet in China hervorging, ein Streik, der durch die Ermordung von 10 Arbeitern durch die Polizei ausgelöst wurde. Ein Sowjet entsteht, wie wir sagen, mit bewaffneten proletarischen Milizen, die die Bewegung von Menschen und die Zirkulation von Waren kontrollieren, d.h. mit territorialer Kontrolle und Macht. Diese Logik der Klassenautonomie und der Verteidigung ihrer unmittelbaren und historischen Interessen als Proletarier wird durch die Unterordnung unter die KMT und ihr nationalistisches und bourgeoises Programm gebrochen.

Aber die Bedürfnisse des russischen Staates sind für Stalin und seine Politik von entscheidender Bedeutung. Er geht sogar so weit zu behaupten, dass die KMT die Herrschaft des Imperialismus im Osten beenden wird – als ob es möglich wäre, den Imperialismus zu beenden, ohne den Kapitalismus zu beenden. Stalin ist daran interessiert, einen politischen Verbündeten in China zu finden, um die geopolitischen und ökonomischen Interessen des russischen Staates zu verteidigen. So nimmt er in Kauf, dass die KPCh ihre Listen mit Militanten an die KMT aushändigt – was für die späteren Massaker von grundlegender Bedeutung sein wird. Die Revolution nimmt ihren eigenen Lauf aus der Klassenradikalisierung heraus, landlose Proletarier besetzen Land in Hubei und Hunan und organisieren bewaffnete Milizen. Doch das Zentrum der chinesischen Revolution liegt in Shanghai, wo 1927 Hunderttausende bewaffnete Arbeiter die Stadt kontrollieren. Am 21. März 1927, nach einem gescheiterten Versuch einen Monat zuvor, erobern 500.000 bis 800.000 Arbeiterinnen und Arbeiter die Stadt, bewaffnet mit Gewehren, Stöcken und Messern. Jiang Jieshi steht jedoch vor den Toren der Stadt und die bewaffneten Arbeiterinnen und Arbeiter, die von der KPCh beraten werden, halten ihn für einen Freund. Um 4 Uhr morgens am 11. April 1927 startete Jiang eine Militäroffensive gegen die Shanghaier Kommune, die zu einem brutalen Massaker an Proletariern führte. Von da an breitete sich die Repression wie ein Ölteppich aus. Unter dem Befehl von Jiang Jieshi, den die verbrecherische Politik von Stalin und Co. als Vizepräsidenten der Komintern vorgeschlagen hatte, werden mindestens 547.000 Arbeiter und Bauern ermordet17. Diese Katastrophe und das Scheitern der chinesischen Revolution sind einzig und allein auf die Politik der Kommunistischen Internationale zurückzuführen, auf ihre Idee einer Revolution in Etappen und national, einer Revolution, die isoliert und in rein nationalen Begriffen gedacht wird. Bei der Suche nach Bündnissen mit den nationalen Bourgeoisien, hinter denen sich in Wirklichkeit die imperialistischen Interessen des russischen Staates selbst verbergen. Das Studium der Vergangenheit und der chinesischen Revolution von 1927 muss uns dazu dienen, revolutionäre Lehren für die Gegenwart und die Zukunft zu ziehen. Und in dem Fall, der uns in diesem Text aufruft, dazu, den inhärent konterrevolutionären Charakter des Stalinismus von Anfang an zu verstehen.

Wir haben uns ausführlich mit dem chinesischen Fall befasst, weil er uns erlaubt, die ständigen Zickzackkurse der Politik der stalinistischen Komintern von nun an besser zu verstehen: Zickzackkurse, hinter denen sich, wenn wir an der Oberfläche kratzen, die geopolitischen Interessen des russischen Staates verbergen, der Versuch, einen Krieg mit den übrigen imperialistischen Mächten zu vermeiden, diplomatische und geopolitische Bündnisse zu schließen. Und zu diesem Zweck wird das Weltproletariat als Kanonenfutter benutzt.

So wurde auf dem Sechsten Kongress der Kommunistischen Internationale im Jahr 1928, der den Sozialismus in einem Land zur Pflichtaufgabe aller „kommunistischen“ Militanten machte, die Politik des Sozialfaschismus eingeleitet. Der Kapitalismus wäre nach der Stabilisierungsperiode von 1924 in eine dritte Periode eingetreten, die die revolutionären Wellen der Periode von 1918 wieder aufleben lassen würde, entweder aufgrund der Krise des Kapitalismus oder aufgrund der Radikalisierung des Proletariats. Die Verwirrung in den Reihen der Dritten Internationale ist angesichts der ständigen Schwankungen total. Sogar jemand, der so schlau und hinterhältig ist wie Togliatti, sagt in einem Brief zu sich selbst, dass er sich wünschte, Bordiga wäre anwesend, denn dann würde er ihnen wenigstens sagen, was los ist. Die Komintern war bereits ein Instrument der Konterrevolution in Aktion, voller nützlicher Idioten, die mit dem Machtapparat gefüttert wurden. Die Hauptlinie der Dritten Periode ist die des Sozialfaschismus, die Stalin mit seiner üblichen mittelmäßigen Klarheit zum Ausdruck bringt: „Die Sozialdemokratie ist objektiv der gemäßigte Flügel des Faschismus… sie sind Seelenverwandte“. Angesichts des neuen Zickzackkurses entstanden in den lokalen KPs neue Führungen – Togliatti gelang es mit seinem üblichen Geschick, sich zu retten -, die die neue Linie vertraten. Bullejos in Spanien zum Beispiel vertritt diese Linie, unter der Aufsicht und Kontrolle des Argentiniers Codovilla.

Die Position zum Sozialfaschismus ist eine theoretische Absurdität. Die Sozialdemokratie ist eine bourgeoise Strömung, aber sie ist weder Teil des Faschismus noch sein Seelenverwandter. In Wirklichkeit unterscheidet sich diese Position nicht so sehr von dem, was der Stalinismus später mit dem Antifaschismus machen wird. Er ist immer auf der Suche nach dem kleineren Übel, das er schlagen und besiegen kann. Zuerst wird es die Sozialdemokratie sein – die KPD wird so weit gehen, bei einer Volksabstimmung in Preußen gegen die Landesregierung von Otto Braun ein Bündnis mit den Nazis zu schließen – und dann der Faschismus mit der Politik der Volksfronten. Der Kampf gegen den Kapitalismus wird also nicht auf der Grundlage des Klassenkampfes organisiert, sondern ausschließlich gegen den „Sozialfaschismus“. Es ist nicht mehr die Bourgeoisie, die bekämpft wird, sondern nur noch einer ihrer Flügel, die Sozialdemokratie. Und das alles mit dem Ziel, eine „nationale Emanzipation“ durchzuführen, was die KPD zu einer Politik führte, die mit der der Nazis übereinstimmte, und das alles, um Deutschland einem Bündnis mit der UdSSR näher zu bringen18. Nach der Taktik des Sozialfaschismus kam eine neue Wendung. Es ist der Antifaschismus, die Politik der Volksfronten, der tödliche Feind ist jetzt der Faschismus. Es ist notwendig, sich mit den antifaschistischen nationalen Bourgeoisien zu verbünden. 1935 unterzeichnete Stalin ein Abkommen mit dem französischen Premierminister Pierre Laval. Damit billigt Stalin, und durch ihn die PCF, die französische Politik der Wiederbewaffnung und der nationalen Verteidigung. Geben wir Stalins Satrapen das Wort, damit sie die Bedeutung der neuen Politik verstehen, deren Ziel der Sozialismus in einem Land ist:

Heute bestimmen die Interessen der Verteidigung der UdSSR die grundsätzliche Linie des Weltproletariats im Angesicht des Krieges.19

Die Sowjetunion ist die Ursache des Weltproletariats, das Land, in dem der Sozialismus aufgebaut und verwirklicht wird, das sozialistische Vaterland aller Länder.20

Nur wenn wir diese Logik verstehen, die des Sozialismus in einem Land, können wir die ständigen Ausschläge der national-“kommunistischen“ Parteien und der Komintern verstehen. Was diesen Zickzackkursen einen Sinn gibt, sind die Interessen der UdSSR als kapitalistische Macht. Der letzte dieser Schlenker kam für viele Militante überraschend: der Molotow-Von Ribbentrop-Pakt, das Bündnis zwischen Stalins UdSSR und Hitler-Deutschland zu Beginn des Zweiten Weltkriegs. Auf diese Weise verteidigt die UdSSR ihre kapitalistischen und imperialistischen Interessen. Im Rahmen dieses Abkommens besetzt die UdSSR nach dem deutschen Einmarsch in Polen im September 1939 die baltischen Staaten und den östlichen Teil Polens. Das Einvernehmen zwischen den beiden Staaten wird durch gegenseitige „Geschenke“ hergestellt. Zum Beispiel übergibt Stalin 570 deutsche und österreichische Kommunisten an Hitler, ein verbrecherischer Pakt zwischen ebenso bourgeoisen Politikern21. Außerdem verhandelten die UdSSR und Nazi-Deutschland eine Zeit lang über die Ausweitung des Dreierpakts (Deutschland, Italien und Japan) auf die UdSSR. Schließlich werden die Verhandlungen durch Hitlers Einmarsch in die UdSSR im Juni 1941 abgebrochen und Stalins UdSSR wechselt im Zweiten Weltkrieg die imperialistische Seite. Wie wir sehen, ermöglicht nur ein Verständnis des imperialistischen Charakters der Politik des Sozialismus in einem einzelnen Land, die materiellen Wurzeln der stalinistischen Politik zu verstehen.

Die Grundlagen der Konterrevolution

Im letzten Abschnitt dieses Blocks möchten wir auf die programmatischen Beiträge zurückkommen, die die Gefährten der italienischen Linken im Exil in den 1930er Jahren geleistet haben. Wir sind der Meinung, dass sie grundlegende Beiträge zum Verständnis der stalinistischen Konterrevolution geleistet haben und uns darüber hinaus auf zukünftige Klassenkonfrontationen vorbereiten, die uns mit ähnlichen Schwierigkeiten konfrontieren werden wie die revolutionäre Welle von 1917-1921. Nicht zufällig lautete der Name der von diesen Gefährten herausgegebenen Zeitschrift BILAN, französisch für „Bilanz“, eine programmatische Bilanz der Revolution und Konterrevolution, immer mit der Perspektive des Kampfes für den Kommunismus und der Notwendigkeit, strategisch und theoretisch tiefer in die praktischen Probleme einzusteigen, was eine grundlegende methodische Lektion als Kommunisten ist.

Der erste Text, auf den wir uns beziehen wollen, ist der von Mitchell, einem belgischen Gefährten, Über die Probleme der Übergangszeit22. Mitchell untersucht die ökonomischen Probleme während der Diktatur des Proletariats anhand des russischen Beispiels. Grundlegend an diesem Text ist, wie er erkennt, dass die Ökonomie in einer solchen politischen Periode zwangsläufig kapitalistisch bleibt und dass eine kommunistische Gesellschaft – schon auf ihrer unteren Stufe – die Negierung von Geld, Waren und Wert als Maß für den gesellschaftlichen Reichtum impliziert. Dabei polemisiert er mit einem wichtigen Text aus der gleichen Zeit: Jan Appels und Henrik Canne-Meyers Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung. Darin versuchen die Rätekommunisten, sich ideell von den konkreten Problemen der Übergangszeit zum Kommunismus zu trennen. Sie erkennen die Existenz von Markt und Geld an, leiten daraus aber nicht die Vorherrschaft des Werts in der Produktion und Reproduktion der Gesellschaftsstruktur ab. Es wird also eine Art Marktsozialismus vorausgesetzt, in dem jeder Produzent das Produkt seiner Arbeit erhält. Diese ideale Verteilung des Produkts schließt, wie wir sagen, aus, dass in der Übergangszeit der kapitalistische Einfluss die ökonomischen Formen der Diktatur des Proletariats dominiert. Dies ist das große Problem und die größte Herausforderung, vor der uns nur die Weltrevolution retten kann.

Ähnlich ist Trotzkis Position, wenn auch mit einer anderen Lösung. Für Trotzki wäre auch eine Art von ökonomischer Politik in völliger Übereinstimmung mit sozialistischen Prinzipien möglich. Das zeigt sich in den ökonomischen Auseinandersetzungen in den 1920er Jahren zwischen der Linken Opposition und der Gruppe um Stalin und Bucharin. Erstere verteidigten die Notwendigkeit einer sozialistischen ursprünglichen Akkumulation – ein Ausdruck, den ihr Theoretiker Preobajenski in Wirklichkeit Kapitalakkumulation nannte -, die Russland die Industrialisierung ermöglichen würde. Während Bucharin die Theorie vertrat, dass der Sozialismus im Schneckentempo durch die Kommodifizierung des Landes erreicht werden würde, d.h. durch die Fortsetzung von Lenins NEP-Politik. Schließlich werden die Ungleichgewichte aufgrund der scherenartigen Entwicklung der Preise zwischen Stadt und Land Stalin dazu zwingen, die Industrie zu modernisieren und die Fünfjahrespläne sowie die Kollektivierung des Landes einzuleiten, eine brutale Politik der ursprünglichen Kapitalakkumulation, die den Tod von Millionen von Proletariern und Bauern zur Folge haben wird. Es ist wichtig, den kapitalistischen Charakter dieser ökonomischen Politik zu verstehen, was Trotzki nicht begreift, weil er immer noch in einer Vision gefangen ist, die den Sozialismus mit dem Staatseigentum an den Produktionsmitteln identifiziert. So verteidigt er in Die verratene Revolution die produktiven Fortschritte der UdSSR als Beispiel für die ökonomische Überlegenheit des Sozialismus – ohne zu verstehen, dass solche Fortschritte für einen jungen Kapitalismus wie den russischen charakteristisch sind und dass die Zunahme der Produktion von Kapitalgütern lediglich dessen kapitalistischen Charakter widerspiegelt. Wie Mitchell in seiner Polemik mit Trotzki sagt, geht es nicht darum, die Produktion zu beschleunigen, sondern die sozialen Beziehungen zu verändern, was eine Weltrevolution erfordert. Nur auf einer globalen Ebene ist der Kommunismus möglich.

Und letzteres ist zentral. Wir dürfen uns keine Illusionen über die Existenz kapitalistischer Gesellschaftsverhältnisse in der Zeit des Übergangs zum Kommunismus machen. Wir können und sollten versuchen, die Last der Kommodifizierung der Gesellschaft so weit wie möglich zu verringern, die Arbeitszeit zu verkürzen, die es dem Proletariat ermöglicht, eine führende Rolle in der Diktatur des Proletariats zu spielen – wie es BILAN oder andere Gefährten wie Munis befürworten. Aber wir dürfen uns keine Illusionen über die Art der ökonomischen sozialen Beziehungen machen, die in der Übergangsphase weiterhin vorherrschen werden. Sozialismus in einem Land ist nicht möglich. Ganz anders als Stalin ist dies paradoxerweise das, worüber sich Trotzki nicht im Klaren ist, wenn er von der UdSSR als Bastion des Sozialismus und einer sozialistischen ökonomischen Struktur spricht – durch die staatliche Verwaltung der Produktionsmittel und das Außenhandelsmonopol – und die Rätekommunisten selbst, wenn sie die Wirkungsweise des Wertgesetzes in der Übergangsphase ignorieren.

Wie BILAN in all seinen Texten aus dieser Zeit eindringlich darlegt, gibt es keine reifen und unreifen Länder für den Sozialismus: Die weltweite Verteilung der Produktivkräfte macht den Kommunismus sowohl für „fortgeschrittene“ als auch für „rückständige“ Länder unmöglich. Denn das Terrain des Sozialismus ist global, es ist die Weltrevolution. Wie Mitchell sagt, muss die proletarische Macht eine ökonomische Politik entwickeln, die so weit wie möglich mit den kommunistischen Zielen übereinstimmt, aber der zentrale Punkt ist die Entwicklung der Weltrevolution, die die wichtigsten politischen Zentren der Weltbourgeoisie zerstört. Nur aus dieser Weltrevolution kann der Kommunismus entstehen und die gesellschaftlichen Verhältnisse umgestaltet werden. Deshalb gibt es angesichts der bolschewistischen Schwächen auch keine Konkurrenz zwischen sozialistischer und kapitalistischer Ökonomie. Was es gibt, ist ein Antagonismus zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat. Die Weltrevolution ist der einzige Hebel, aus dem das Proletariat die Kräfte des Kommunismus befreien kann. Das große Problem ist zu glauben, dass die ökonomischen Grundlagen des Sozialismus geschaffen werden können.

Und dieser Internationalismus, als Grundposition der Kommunisten, wird in den folgenden Artikeln, die wir kommentieren werden, noch einmal eindringlich aufgegriffen. Sie stammen vom Hauptinitiator von BILAN, Ottorino Perrone, der unter dem Pseudonym Vercesi bekannt ist. Es sind die Artikel „Partei – Internationale – Staat“ und der darauf folgende Artikel in der Zeitschrift Octobre „Die Frage des Staates“, ein Text, der die Schlussfolgerungen des vorherigen aufgreift. Was sind die Hauptthesen von Vercesi?

1. Die Weltrevolution und die Revolution der Internationale haben Vorrang vor den nationalen Parteien. Das Ziel einer siegreichen Klassendiktatur ist nicht die ökonomische Reorganisation, um die ökonomische Leistung zu steigern, sondern um dem Bürgerkrieg des Proletariats den größtmöglichen Spielraum zu geben. Das Gegenteil ist die Suche nach Kompromissen mit den feindlichen Klassen, gerade in dem Moment, in dem die revolutionären Erfordernisse einen totalen Kampf gegen das Kapital verlangen. Das Zentrum ist immer das Weltproletariat.

2. Das Wesentliche ist immer der Inhalt des kommunistischen Programms und das erklärt das Wesentliche der Ausweitung der Revolution. Die Revolution ist eine Frage des Inhalts, obwohl sie nicht von ihren harmonischen Formen getrennt werden kann.

3. Wie er später in Octobre sagen wird, impliziert der leninistische Voluntarismus23 eine Mystifizierung der Gewalt, die es ermöglichen würde, die Probleme der Übergangsperiode zu lösen, wobei die Kontrolle der Partei über den Staat es ermöglichen würde, die unvermeidlichen Probleme der Isolierung der Revolution durch den Einsatz von Gewalt zu bewältigen, wenn sie gegen die proletarische Klasse selbst ausgeübt wird, was die Aufgabe der Klassenprinzipien bedeutet. Vercesi verweist ausdrücklich auf die bolschewistische Repression von Bewegungen wie der von Makhnov in der Ukraine oder Kronstadt im Jahr 1921. Auf diese Weise wurden die Substanz und die Grundlage des Staates in einem bourgeoisen Sinne verändert.

Was er in Octobre’s Text sagt, ist in dieser Hinsicht sehr wichtig:

Wenn es um grundlegende Probleme geht, dürfen wir nicht zögern: Es ist besser, den Kampf trotz der Gewissheit einer Niederlage aufzunehmen, als an der Macht zu bleiben, indem wir unsere proletarischen Prinzipien aufgeben.

Mit anderen Worten: Repression gegen das Proletariat bedeutet den Verzicht auf proletarische Prinzipien. In solchen Momenten ist eine Teilniederlage, aus der wir Lehren für die Zukunft ziehen können, besser als die Opferung von Klassenpositionen. Letzteres ist schließlich geschehen und hat die bolschewistische Partei und die Kommunistische Internationale zu Instrumenten der Konterrevolution gemacht. Diese Position von BILAN, in den 1930er Jahren, ist sehr wichtig für ihre Kohärenz. Im Mittelpunkt stehen die Internationale und der Triumph der Weltrevolution. Man kann eine Schlacht, eine Episode in der Weltrevolution verlieren – in diesem Fall die Klassendiktatur in Russland -, aber das Wichtigste ist, die revolutionären Positionen in der Internationale und in den Parteien als Klassenorganen kohärent aufrechtzuerhalten, im Gegensatz zu dem, was in der UdSSR geschah, wo am Ende das Verhältnis zum Rest der bourgeoisen Staaten die Aktionslinie bestimmte. Deshalb ist es, wie Vercesi sagte, wichtig zu verhindern, dass sich der proletarische Staat mit dem Rest der bourgeoisen Staaten verbindet.24

4. Ebenso problematisieren sie die Identifizierung zwischen Staat und Klassendiktatur. Der Staat ist immer Zwang und soziale Erhaltung. Deshalb steht er immer im Gegensatz zur Verwirklichung des kommunistischen Programms. Die Stärke der Klassendiktatur, so betont BILAN erneut, ist die Internationale und die Ausweitung der Weltrevolution. Von dort aus, aus der Übereinstimmung mit dem kommunistischen Programm, kann und muss die Diktatur des Proletariats ausgeübt und die Autonomisierung von Staat und bourgeoiser Logik verhindert werden. Solange es keine Weltrevolution gibt, neigt der innere und äußere Druck des Kapitalismus dazu, die Partei und die Klassendiktatur unter die Logik des Kapitalismus und des Staates zu subsumieren. Der Sozialismus in einem Land ist ein Versuch, die UdSSR – wo der Sozialismus angeblich verwirklicht wird – künstlich vom Rest der Welt zu trennen. Auf diese Weise werden alle Klassenprinzipien ins Gegenteil verkehrt. Das Problem der Entartung der russischen Revolution ist kein persönliches. Ob von außergewöhnlich guten Anführern (Lenin) oder von Abgesandten des Teufels, von Degeneration und Perversion (Stalin). Bei Lenin gibt es, wie wir gesehen haben, bereits Grenzen, die die sehr objektive Dynamik der Isolierung der Revolution zum Ausdruck bringen, wie in seinem Text Über die Genossenschaft (1923) zu sehen ist. Es ist kein Zufall, dass sich die Fälscher auf sie stützen, um die Theorie des Sozialismus in einem Land zu skizzieren. Aber Stalin ist der Ausdruck der gesellschaftlichen Kräfte, die aus der Isolation der russischen Revolution, aus der Ebbe der revolutionären Welle seit 1921, Kraft schöpfen. Die neuen Umstände hatten die Klassendiktatur ihrer natürlichen Stütze, dem Weltproletariat, beraubt, das vom Feind besiegt worden war. Der Versuch, sich unter diesen Umständen um jeden Preis an der Macht zu halten, wird die Kluft zwischen der Realität und dem Wesen dieser Macht und den kommunistischen Prinzipien immer größer werden lassen. Stalin und seine kapitalistische Diktatur wurden in diesem Riss geboren. Und schließlich wurde der russische Staat zum Ausdruck der Logik des Kapitals, ebenso wie die bolschewistische Partei, die von der offiziellen Partei des Proletariats zur Partei der Bourgeoisie wurde25. Daher sind „die Ursachen der gegenwärtigen Degeneration auf dem Terrain des Klassenkampfes zu suchen und nicht bei den Individuen“.

Wir haben BILAN´s Beiträge sehr synthetisch zusammengefasst, die uns sehr wichtig erscheinen, um die Kämpfe von morgen vorzubereiten, die uns wieder vor ähnliche Probleme stellen werden, wie sie unsere Gefährtinnen und Gefährten vor hundert Jahren zu bewältigen hatten. Dies in dem Wissen, dass, wie Vercesi selbst sagte, die Prinzipien der russischen Revolution und der Dritten Internationale nicht als Endpunkt betrachtet werden dürfen, sondern als ein weiterer Schritt auf dem Weg, den das Proletariat auf dem Weg zu seiner Befreiung gehen muss.

Die acht Schritte, mit denen die Konterrevolution aufgebaut wird

Bisher haben wir die Grundlagen gesehen, auf denen der Stalinismus als rotes Banner des Kapitals aufgebaut ist: der Sozialismus in einem Land und der Interklassismus als Politik der Bündnisse mit der internationalen Bourgeoisie. Wir werden uns nun kurz auf einige logische und historische Konsequenzen dieser Positionen konzentrieren, die uns erklären, was der Stalinismus historisch gewesen ist.

Diplomatie am Kommandoposten

Wir haben bereits gesehen, dass der russische Staat und seine Bedürfnisse nach Verteidigung oder Eroberung an den Kommandoposten rücken. Dies ist das Herzstück der internationalen Politik des Stalinismus. Kommunistische Parteien und die „marxistische“ Ideologie werden zur Verteidigung dieser Interessen eingesetzt. Wir sind also Zeuge eines Fälschungswerks, das in der Geschichte beispiellos ist. Es ist dieses Werk der Fälschung, das Orwell in seiner Metapher von 1984 im Sinn hatte. Wir haben bereits einige Beispiele im frühen Stalinismus gesehen: das Bündnis der Komintern mit der KMT und die anschließende Unterwerfung und das Massaker an der KPCh, die Bündnisse mit den westlichen Demokratien gegen den Faschismus und mit Hitler gegen eben diese westlichen Demokratien, die jetzt Plutokratien genannt werden. Aber die Beispiele sind unendlich, auch wenn sie durch die linke Mystifizierung im Laufe der Zeit nur wenig bekannt geworden sind. Zum Beispiel unterstützen die UdSSR und Kuba Videlas Argentinien – ja, das der Militärdiktatoren – oder Maos China verteidigt Pinochets Diktatur und tauscht mit seinem großen national-“kommunistischen“ Rivalen bei der Verteidigung einer Militärdiktatur. Im Gegenzug werden die Vereinigten Staaten, die mit China verbündet sind, auch die Roten Khmer in Kambodscha unterstützen. Die ganze Geschichte des Stalinismus ist voll von solchen Beispielen, die eine linke Logik konstruiert haben, die im Namen des Antiimperialismus die schlimmsten bourgeoisen Satrapen verteidigt: von Gaddafi bis Saddam, vom syrischen al-Assad bis zum sandinistischen Nicaragua oder dem chavistischen Venezuela.

Der Aufbau des nationalen Kapitalismus

Wir wissen bereits, dass man, wenn man vom Aufbau des Sozialismus in einem einzelnen Land spricht, in Wirklichkeit den nationalen Kapitalismus aufbaut. Das ist es, was Stalin mit seinen Fünfjahresplänen und den Prozessen der Zwangskollektivierung aufgebaut hat: 8,5 bis 9 Millionen Tote aufgrund der allgemeinen Knappheit, die er verursachte, geben uns eine Vorstellung davon, was diese enorme ursprüngliche Kapitalakkumulation zur Folge hatte26. Alle Staaten des falsch benannten „Realsozialismus“ sind nur Beispiele für diese Entwicklung eines nationalen Kapitalismus, in dem alle Kategorien des Kapitals beibehalten werden: Wert, Ware, Geld, Lohnarbeit, die Logik des Unternehmens … in dem auch auf dem Land wichtige Anteile des Privateigentums vorherrschen, zum Beispiel in den Kolchosen – die Genossenschaften sind – oder in einer Vielzahl von Subunternehmern, die durch Verträge mit den Staatsbetrieben verbunden sind, um sie mit Waren zu versorgen. Eine kapitalistische Logik, die weniger wettbewerbsfähig ist als die des Westens und die letztlich zum Zusammenbruch der meisten „realsozialistischen“ Ökonomien geführt hat, da diese nicht in der Lage waren, sich an die größere Effizienz und Produktivität der Vereinigten Staaten anzupassen. Andere stalinistisch-kapitalistische Ökonomien wie China und Vietnam waren in der Lage, sich weiterzuentwickeln. Aber es handelt sich dabei immer um kapitalistische Ökonomien, die die grundlegenden Kategorien des einzigen existierenden Kapitalismus beibehalten, abgesehen von den Besonderheiten, die bei der Reproduktion derselben abstrakten Kategorien auftreten können.

Die Rhythmen der Arbeit: Stachanowismus

Einer der Aspekte, in denen die kapitalistische Logik in den stalinistischen Ländern am deutlichsten sichtbar wird, ist die Frage nach dem brutalen Rhythmus der Arbeit. Die ursprüngliche Kapitalakkumulation, die den Fünfjahresplänen Stalins ihren Sinn gab, beinhaltete eine enorme Konzentration von Akkordarbeit. Der Aufbau einer ganzen Infrastruktur von Kapitalgütern zur Steigerung der russischen Wettbewerbsfähigkeit erfolgte auf der Grundlage der massiven Extraktion des absoluten Mehrwerts aus dem russischen Proletariat. Dies geschah durch höllische Arbeitszeiten – laut H. Schwartz 15-16 Stunden pro Tag -, durch Akkordlöhne für 50-60% der Proletarier in den Bergwerken und der Großindustrie, die 1928 auf 90% für die Arbeiter in der Großindustrie stiegen, und durch die Erhöhung der Lohnskala auf 17 verschiedene Typen. Außerdem gab es Arbeitsbrigaden und Vorzeigearbeiter als Arbeitshelden wie Stachanow, die idealisierte Figur des Proletariers, der sich wild ausbeutete und im Gegenzug einen höheren Lohn erhielt. Inzwischen machten Lebensmittel 40-50% des Familieneinkommens aus, und die Wohnungspreise verdreifachten sich zwischen 1921 und 1925, so dass die Bevölkerung im Durchschnitt nur noch 6 Quadratmeter pro Kopf zur Verfügung hatte.27 Das Strafgesetzbuch wurde vollständig an das neue sozialistische System angepasst.

Das Strafgesetzbuch ist vollständig an diese kapitalistische Logik angepasst, in der die Verteidigung des bourgeoisen Eigentums – ob privat oder staatlich – im Mittelpunkt steht. Jeder kann ab einem Alter von 12 Jahren eingesperrt werden und die Strafe für Diebstahl ist höher als die Strafe für die Entführung eines Kindes. Ebenso brutal sind die Änderungen im Familiengesetzbuch, die eine konterrevolutionäre Invasion bewirken, sei es bei den Frauenrechten oder bei der Entwicklung von Gesetzen zur Verfolgung von Homosexualität während des Stalinismus28, durch ein Dekretgesetz von Stalin im Jahr 1936 und das Familienedikt von 1944.

Doch fahren wir mit einigen Straftaten fort, die von den sowjetischen Strafgesetzbüchern erfasst wurden: das so genannte „Fünf-Ohren-Gesetz“ vom August 1932, das diejenigen zum Tode verurteilte, die sich eines geringfügigen Diebstahls schuldig machten, um nicht zu verhungern; die Anti-Arbeiter-Dekrete von 1940, die jede Verzögerung der Arbeit um mehr als 20 Minuten mit einem Sabotageakt gleichsetzten; das Dekret vom 4. Juni 1947, das sich aus dem Gesetz vom 7. August 1932 ableitete und Zehntausende von Frauen wegen eines geringfügigen Diebstahls von Milch oder Brot, um ihre hungernden Kinder zu ernähren, in den Gulag schickte.29

Nahrung für Maschinen, Hunger für Menschen ist ein Satz, der die Logik des Kapitalismus perfekt zusammenfasst, eine Logik, die von der UdSSR mit einer unerbittlichen repressiven Dynamik umgesetzt wird. Ihr kapitalistischer Charakter zeigt sich deutlich darin, wie sie der Akkumulation von Produktionsmitteln Vorrang vor der Produktion von Konsumgütern einräumt:

 19131928193219371940
Produktios-mittel44,3%32,8%53,3%57,8%61%
Konsum-mittel55,7%67,2%46,7%42,2%39%

So betrug der Milchverbrauch pro Person und Jahr 1928 189 Liter, während er 1937 nur noch 132 Liter betrug, während der Fleischverbrauch pro Person und Jahr 1928 bei 27,5 kg lag, während er 1937 nur noch 14 kg betrug. All dies gibt einen Eindruck vom Lebensstandard des russischen Proletariats im „Vaterland des Sozialismus“. In anderen Ländern des Realsozialismus werden wir ähnliche Phänomene erleben, wie der ständige Klassenkampf zur Verteidigung der unmittelbaren Bedürfnisse zeigt, der sich durch alle Länder zieht: Man denke nur an Berlin 1953 bis Poznań 1956, wo es aufgrund eines Kaufkraftverlustes von bis zu 30-40% im Falle der deutschen Hauptstadt zu proletarischen Ausbrüchen kam.

Staatlicher Totalitarismus

Die UdSSR zu Stalins Zeiten war ein wahres Konzentrationsuniversum. Aber wie wir gesehen haben, können wir dieses Universum nicht von seinen materiellen Grundlagen trennen: einer Konterrevolution zur revolutionären Bewegung von 1917 und einer brutalen Bestätigung der ursprünglichen Kapitalakkumulation. Die UdSSR war ein konzentrationalistisches Universum, das sich durch Repression und die brutale Kapitalakkumulation entfaltete. Gab es 1928 in der UdSSR 30.000 Häftlinge in Gefängnissen und Konzentrationslagern, waren es 1933-1935 bereits 5 Millionen und 1939 9 Millionen. Die stalinistischen Gulags sind Ausdruck einer offensichtlichen Klassengewalt gegen das Proletariat und einer präzisen Ideologie, die darauf ausgerichtet war, die Akkumulation des Kapitals in den 1930er Jahren zu rechtfertigen, eine Ideologie, die daher antikommunistisch war. Um die Fünfjahrespläne durchzusetzen, wurde im Juni 1929 beschlossen, dass man bei mehr als drei Jahren Haft direkt in die von der GPU betriebenen Arbeitslager kommt. 1934 wurden die Gulags und das Konzentrationslager-System verwaltungstechnisch eingerichtet. Die Verurteilungen konnten wegen unerlaubten Berufswechsels, Verstoßes gegen die Passvorschriften, Rowdytums, Schmarotzertums oder Profitmacherei, Beschädigung oder Diebstahl von sozialistischem Eigentum erfolgen. Die Gründe für die Verurteilungen geben diesem Zustand einen klaren Klassensinn.

Zwischen 1930 und 1953 starben 1.800.000 Menschen. Nicht mitgezählt sind die staatlichen Hinrichtungen, zum Beispiel die 750.000 zwischen August 1937 und November 1938, während der Zeit der großen Säuberungen und der Moskauer Prozesse: Diese 750.000 Hinrichtungen entsprechen durchschnittlich 50.000 pro Monat, 1.600 pro Tag. Ein Prozent der erwachsenen Russen wird durch den „klassischen“ Schuss in den Hinterkopf beseitigt, hinzu kommen 800.000 Menschen, die zu mehr als 10 Jahren Zwangsarbeit im Gulag verurteilt wurden. Im Jahr 1951, zwei Jahre vor Stalins Tod, befanden sich noch 2.700.000 Menschen im Gulag.

Das Repressionsfieber lässt sich durch konterrevolutionäre Gefräßigkeit erklären. Stalins Regime wusste, dass es schwach war und musste vor allem jede Art von Opposition auslöschen, die an die revolutionäre Vergangenheit erinnerte. Dazu musste es sich auch mit der unterwürfigen militanten stalinistischen Anthropologie umgeben, von der wir oben gesprochen haben. Stalin hatte nicht alles selbst in der Hand. Auf dem 17. Parteitag der KPdSU (1934) strichen 292 Delegierte seinen Namen aus dem Zentralkomitee. Stalin war der Kandidat mit den wenigsten Stimmen auf der einzigen Liste für das Zentralkomitee. Von den 63 Mitgliedern der Wahlkommission, die den Kongress organisierte, wurden 60 bei den Säuberungen getötet. Die verschiedenen Prozesse finden nicht nur in Moskau und in der UdSSR oder gegen internationalistische Revolutionäre in allen Teilen der Welt statt – von Spanien bis Griechenland, von Italien bis Frankreich, von China bis Vietnam – sondern auch in den Reihen der stalinistischen Dritten Internationale selbst. Wie wir bereits gesagt haben, massakriert Stalin genauso viele Anführer der KPD wie Hitler und liefert sogar viele von ihnen an ihn aus, damit der deutsche Kriegsherr die Arbeit zu Ende bringen kann. Er rottete die Führung der polnischen Partei aus – mit der autorisierten Unterschrift von Togliatti und mit der lobenswerten Arbeit des Antifaschisten Dimitrov, der die Termine in seinem Büro organisierte, wo sich auch der damalige offizielle Henker Djezov befand -, fast alle lettischen und türkischen Exilanten, 2000 italienische Kommunisten, 1.000 Bulgaren, 800 Jugoslawen… Niemand in den mittleren oder oberen Rängen des internationalen Stalinismus war sich eines solchen Maßes an Infamie bewusst, einer Infamie, die einen gewissen unterwürfigen Militanten und Diener der Konterrevolution prägte.30

Der Voluntarismus

Hinter der Theorie der stalinistischen Konterrevolution verbirgt sich ein tiefgreifender Idealismus. Die Vorstellung, dass der Sozialismus in einem einzigen Land aufgebaut werden kann, selbst wenn es isoliert ist, ist bereits ein Hinweis auf den Subjektivismus, der diese Konzeption ständig durchdringt. Stalin ging sogar so weit zu sagen, dass die Ablehnung der Theorie vom Sozialismus in einem Land bedeute, kein Vertrauen in die Macht des russischen Proletariats und der Bauernschaft zu haben. Seine Gegner wären nichts anderes als Defätisten, die dem westlichen Kapitalismus nachgeben. Die Entschuldigung für die Macht der großen Männer, der brillanten Anführer, der Väter des Volkes, ist daher auch der Kern der Theorie der Konterrevolution. Die Anführer sind durch die Kraft ihres Willens zu allem fähig. Das Proletariat hat ihnen alles zu verdanken. Deshalb sind Heiligsprechung und Personenkult Elemente, die dem Wesen des Stalinismus selbst innewohnen. Es ist nicht nur Stalin, alle national-“kommunistischen“ Parteien neigen dazu, ihre Anführer zu vergöttern, von Dolores Ibárruri bis Ceaucescu, von Kim Il Sung bis Ho Chi Minh. Es wird in der Tat eine von Maos Antworten auf Chruschtschow sein: die Bekräftigung, dass Stalin ein großer Marxist-Leninist ist31. Daher die stereotypen Formulierungen im Stalinismus, die vom „Mao Tse Tung-Gedanken“ oder „Gonzalo-Gedanken“ sprechen, um auf den peruanischen Anführer des Leuchtenden Pfads, Abimael Guzman, anzuspielen. Der Personenkult ist ein konstantes Merkmal des Stalinismus und ergibt sich aus seinem konterrevolutionären politischen Wesen. Die Beseitigung der theoretischen Grundlagen des Marxschen Werkes, seiner Untersuchung der Kategorien Kapital und Kommunismus als Negation und Auflösung dieser Kategorien, verlangt, dass das Kriterium der Wahrheit in die taktische und brillante Intelligenz des jeweiligen Anführers gelegt wird. Wichtig ist nicht mehr das kritische und rigorose Studium der Anatomie der bourgeoisen Gesellschaft, sondern das, was der brillante Anführer sagt, der – wie im Fall von Stalin – alles weiß, wie ein neuer irdischer Gott.

Deshalb ist es so wichtig, als Kommunistinnen und Kommunisten zu der theoretischen Lehre zurückzukehren, die Marx für das Studium der Klassengesellschaften und ihre Auflösung im Kommunismus aufgestellt hat. Diese theoretische Lehre basiert auf der materialistischen Geschichtsauffassung, auf der Kritik der politischen Ökonomie und auf der Methode der materialistischen Dialektik. Das ist unser unpersönliches Fundament und nicht die allwissenden Worte eines großen Mannes.

Die Unterwerfung der Kommunistischen Internationale unter die Weisungen Moskaus

Wir haben bereits gesehen, dass ein weiteres Merkmal des frühen Stalinismus die Umkehrung der Pyramide ist. Alles ruht auf einer Spitze, die über alles und jeden entscheidet. Das erklärt die Verwandlung der Kommunistischen Internationale von einem Weltorgan des kämpfenden Proletariats in einen Apparat, der den imperialistischen Interessen Russlands dient. Wir haben oben bereits auf verschiedene Beispiele hingewiesen: von England 1926 bis China 1927, von Deutschland in den 1930er Jahren bis zur gesamten Politik der UdSSR während und nach dem Zweiten Weltkrieg.

Wir möchten diese Tatsache auch am Beispiel Spaniens während des Bürgerkriegs veranschaulichen. In diesem Fall ist die PCE keine autonome Partei, die ihre Entscheidungen auf der Grundlage ihrer eigenen Analyse der Situation trifft. Nein, die PCE ist eine Partei, die von Abgesandten der Komintern aus Moskau gelenkt wird: zuerst der Argentinier Codovilla und ab 1937 Palmiro Togliatti – der sich Alfredo nennt -, sekundiert von anderen Abgesandten wie dem Bulgaren Stepanov, dem Ungarn Erno Gerö – dem finsteren Pedro, der 1936/37 gegen die echten Revolutionäre in Barcelona vorgehen wird – oder dem NKVD-Agenten Orlov, der Nin und andere Militante verschwinden lassen wird. Stalin hat große Angst vor dem, was in Spanien passiert. Er fürchtet vor allem ein revolutionären Aufstieg des spanischen Proletariats. Er befürchtet, dass die Wiedererlangung der authentischen Traditionen des Internationalismus die laufende Konterrevolution in Frage stellen wird. Deshalb misst er der Intervention in Spanien so große Bedeutung bei. Sie ist kein Beispiel für altruistische Solidarität, wie die naive Linke glaubt. Nein, es ist eine bewusste Intervention, um den Klassenkampf dort zu belassen, wo er war, nämlich auf dem Terrain der Konterrevolution, um Mitternacht im Jahrhundert, wie Victor Serges gleichnamiger Roman es ausdrückt. Stalins Absichten sind konterrevolutionär und werden von allen spanischen republikanischen und bourgeoisen Politikern als solche gedankt. Außerdem sind sie eindeutig. Es genügt, den Brief zu lesen, den er 1936 an den spanischen Premierminister der Zweiten Republik, den Sozialisten Largo Caballero, schrieb:

Wir halten es für unsere Pflicht, im Rahmen unserer Möglichkeiten der spanischen Regierung zu helfen, die den Kampf aller Arbeiter, der gesamten spanischen Demokratie, gegen die militärische und faschistische Clique führt, die nichts anderes als ein Instrument der internationalen faschistischen Kräfte ist. […] Die spanische Revolution geht Wege, die sich in vielerlei Hinsicht von denen Russlands stark unterscheiden. Das liegt an den unterschiedlichen historischen und geografischen sozialen Bedingungen, an den Erfordernissen der internationalen Situation, die sich sehr von denen unterscheiden, denen sich die russische Revolution stellen musste. Es ist gut möglich, dass sich der parlamentarische Weg in Spanien als ein effektiveres Verfahren der revolutionären Entwicklung erweisen wird als in Russland… Besondere Aufmerksamkeit sollte den Bauern gewidmet werden, die in einem Agrarland wie Spanien so wichtig sind. Es wäre wünschenswert, eine Agrar- und Steuergesetzgebung zu erlassen, um die Interessen dieser Arbeiter zu schützen. Es wäre auch wünschenswert, diese Bauern für die Armee zu gewinnen und mit ihnen im Rücken der faschistischen Armeen Guerillagruppen zu bilden. […] Es wäre auch ratsam, die kleine und mittlere Bourgeoisie der Städte auf die Seite der Regierung zu ziehen oder ihnen zumindest die Möglichkeit zu geben, eine neutrale Haltung einzunehmen, die die Regierung begünstigt, sie vor Beschlagnahmungsversuchen schützt und ihnen so weit wie möglich Handelsfreiheit zusichert … Es gibt keinen Grund, die Anführer der republikanischen Parteien abzulehnen, sondern im Gegenteil, sie anzuziehen, ihnen näher zu kommen und sie mit den gemeinsamen Bemühungen der Regierung zu verbinden … Es muss verhindert werden, dass die Feinde Spaniens darin eine kommunistische Republik sehen, um so ihre erklärte Intervention zu verhindern, die die größte Gefahr für das republikanische Spanien darstellen würde…. Die Gelegenheit sollte genutzt werden, um über die Presse zu erklären, dass die Madrider Regierung Angriffe auf das Eigentum und die legitimen Interessen der in Spanien ansässigen Ausländer nicht dulden wird.…

Bei all dem, worauf wir in diesem Heft hingewiesen haben, passt alles zusammen: Der Sozialismus in einem Land führt zu einer nationalistischen Vision, die einige Revolutionen von anderen trennt; der Etapismus32, der die Revolution auf die Verteidigung des bourgeoisen und kapitalistischen Rahmens reduziert; die geopolitischen Interessen, Vereinbarungen mit bourgeoisen und kapitalistischen Mächten zu treffen… Die scheinbaren Widersprüche des stalinistischen Diskurses passen perfekt zusammen. Es gibt keine Trennung zwischen seinem Antifaschismus und den Säuberungen, die überall „Freunde“ und Feinde ausrotten. Es gibt keine Trennung oder Widersprüche, sondern immer dasselbe Programm: die kompromisslose Verteidigung der bourgeoisen und kapitalistischen Ordnung, die unnachgiebige Verteidigung ihrer Interessen als kapitalistische und imperialistische Macht. Zu diesem Zweck benutzt sie das Proletariat der Welt als Kanonenfutter und die „kommunistischen“ Parteien als Instrumente, mit denen sie in der nationalen Politik der verschiedenen bourgeoisen Staaten agiert. Der Sozialismus in einem Land ist die theoretische Rechtfertigung, die es dem konterrevolutionären Bauwerk ermöglicht, zu stehen, deshalb ist es wichtig zu klären, was er wirklich bedeutet: die Theorie der kapitalistischen Konterrevolution zu sein. Die rote Fahne des Kapitals zu sein.

Die nationalen Wege zum Sozialismus

Der Stalinismus trägt die Ursprünge seines Zerfalls in sich selbst. Die Verteidigung des Sozialismus in einem einzigen Land impliziert, wie wir gesehen haben, die Zerschlagung der einheitlichen Bewegung der Weltrevolution. Was dazu neigt, jede Revolution und jede proletarische Bewegung zu denken, wird in engen nationalen Begriffen gelesen. Die UdSSR als kapitalistischer und imperialistischer Staat nutzt die Komintern für ihre eigenen Zwecke, aber die Gegentendenzen, bei denen jede kommunistische Partei dazu tendiert, sich von der Kontrolle Moskaus zu emanzipieren und ihre eigenen Machtquellen zu suchen, sind immer eine lauernde Gefahr. Stalin selbst schaffte die Komintern 1943 ab, um sich bei seinen Verbündeten im Zweiten Weltkrieg einzuschmeicheln und ihnen zu zeigen, was sie bereits wussten: dass die Dritte Internationale kein revolutionäres Instrument war. Nach dem Beginn des Kalten Krieges und der Ausweitung des imperialistischen Lagers der UdSSR auf Osteuropa baute Stalin die Komintern wieder auf, jetzt unter dem Namen Kominform (1947). Doch 1947 kam es zum ersten Bruch innerhalb des Stalinismus: Titos Jugoslawien. Tito hatte mit eigenen Mitteln die Macht in Jugoslawien ergriffen und wollte sie behaupten, auch um den Preis der Konfrontation mit Stalin. In allen kommunistischen Parteien der Welt bricht ein unerbittlicher Kampf aus. Stalins beliebtester Leutnant, Tito, wurde 1948 über Nacht zum Symbol des inneren Feindes. Tito verteidigte sich, indem er Stalins Gefolgsleute in Jugoslawien inhaftierte und italienische National-“Kommunisten“, die in dem ehemaligen Land aufgrund der Existenz italienisch besiedelter Gebiete sehr zahlreich waren, in Konzentrationslager sperrte. Stalin verfolgte unerbittlich vermeintliche oder potenzielle Titoisten innerhalb der kommunistischen Parteien. Die Prozesse kehrten zurück, diesmal nicht in Moskau oder Barcelona – gegen die POUM oder die Trotzkisten – sondern in Osteuropa unter der Kontrolle der russischen Armee (von 1950 bis 1952). Nach Stalins Tod und Chruschtschows Eingeständnis der Fehler des Personenkults auf dem 20. Kongress der KPdSU (1956)33 kam es erneut zu einer teilweisen Versöhnung zwischen dem Bund der jugoslawischen Kommunisten und der KPdSU.

Doch innerhalb der Konterrevolution entstanden neue Casus Belli der Desintegration34, und hier spielen wir auf den chinesisch-sowjetischen Konflikt nach Stalins Tod an. Auch hier ist der Grund derselbe: Mao und Konsorten wollen die Quellen ihrer eigenen politischen Macht präsentieren, die sie während des Bürgerkriegs zwischen 1946 und 1949 erobert haben. Darüber hinaus kommt es in den ersten fünf Jahren der 1960er Jahre zu zahlreichen territorialen Konflikten, die zu Tausenden von kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Armeen führen. Dies ist der wahre Grund für Maos stalinistische Orthodoxie im Gegensatz zum Sozialrevisionismus der Russen – so Mao, der zuvor Chruschtschows Rede nach dem XX Kongress gebilligt hatte. Erst nach den territorialen Zwischenfällen – und der Notwendigkeit, sich vom russischen imperialistischen Block zu distanzieren – ergriff er die Gelegenheit, im Namen der stalinistischen Orthodoxie mit Moskau zu brechen. Und so ist die Anprangerung des Personenkults auf dem 20. Parteitag der KPdSU nicht mehr „ein großer und mutiger Kampf“ („Volkszeitung“, offizielle Zeitung der KPCh im Jahr 1956), denn in einem anderen Artikel derselben Zeitung heißt es 1963, dass „Chruschtschow Stalin mit Beleidigungen überzieht“. Was zwischenzeitlich passiert ist, ist der imperialistische Konflikt zwischen Russland und China. Mao nimmt Stalin angesichts seiner eigenen kapitalistischen Interessen in Schutz.

Im Übrigen ist Mao ein theoretischer und praktischer Stalinist, der immer die Lehren seines Meisters fortgesetzt hat, indem er den Sozialismus in einem Land und den bourgeoisen Etapismus gegenüber der Revolution verteidigte:

Kann ein Kommunist als Internationalist gleichzeitig auch ein Patriot sein? Wir sind der Meinung, daß er das nicht nur kann, sondern auch muß. Der konkrete Inhalt des Patriotismus wird durch die historischen Bedingungen bestimmt. Es gibt einen „Patriotismus“ der japanischen Aggressoren und Hitlers, und es gibt unseren Patriotismus. Den sogenannten „Patriotismus“ der japanischen Aggressoren und Hitlers müssen die Kommunisten entschieden bekämpfen. […].eshalb müssen die chinesischen Kommunisten den Patriotismus mit dem Internationalismus verbinden. Wir sind Internationalisten, und wir sind auch Patrioten; unsere Losung lautet: Kampf zur Verteidigung des Vaterlands gegen die Aggressoren! Für uns ist Defätismus ein Verbrechen, die Erringung des Sieges im Widerstandskrieg aber eine unabweisliche Pflicht. Denn nur durch den Kampf zur Verteidigung des Vaterlands können wir die Aggressoren besiegen und die nationale Befreiung erreichen. Und nur wenn die Nation befreit ist, kann die Befreiung des Proletariats, des ganzen werktätigen Volkes herbeigeführt werden. Der Sieg Chinas und die Zerschlagung der Imperialisten, die China überfallen haben, werden auch eine Hilfe für die Völker der anderen Länder sein. Deshalb ist der Patriotismus die Verwirklichung des Internationalismus im nationalen Befreiungskrieg. Das ist der Grund, warum jeder Kommunist höchste Aktivität entfalten, tapfer und entschlossen auf das Schlachtfeld des nationalen Befreiungskriegs ziehen und das Gewehr auf die japanischen Aggressoren anlegen muß.35

Wir sehen, dass sich der Kampf für die kommunistische Revolution in einen patriotischen nationalen Befreiungskrieg auflöst, der auf eine Neue Demokratie abzielt, in der, in Maos Worten, der Hauptwiderspruch nicht mehr zwischen Proletariat und Bourgeoisie, sondern zwischen uns, dem Volk, und dem Imperialismus besteht. Dieses Wir, das Volk, besteht aus dem Block der vier nationalen Klassen – einschließlich der Bourgeoisie -, die durch die vier gelben Sterne auf der offiziellen Flagge des derzeitigen chinesischen bourgeoisen Staates repräsentiert werden. Maos gesamte theoretische Rhetorik: seine Idee der Neuen Demokratie, die Existenz von Haupt- und Nebenwidersprüchen, die sich je nach den Umständen ändern, sein Internationalismus, der ihn dazu bringt, Regime wie das von Reza Pahlevi oder Pinochet zu unterstützen… machen Mao zu einem würdigen Erben von Marschall Stalin36.

Wir haben zu Beginn dieses Pamphlets gesagt, dass wir den Stalinismus als theoretische und politische Strömung der Konterrevolution nicht mit der Figur Stalins verwechseln dürfen. Der Stalinismus ist ein konterrevolutionäres und bourgeoises Programm zum Aufbau des Sozialismus (Kapitalismus) in einem Land und zum Bündnis mit der nationalen Bourgeoisie unter dem roten Banner des Proletariats. Das ist ihre Mystifizierung: eine nationalistische und klassenübergreifende Mystifizierung37. Daher scheint es uns in diesem Abschnitt besonders wichtig zu verstehen, dass wir uns mit Stalinismus nicht nur auf diejenigen beziehen, die sich explizit auf Stalin beziehen. Wir beziehen uns auf ein Programm, das sich durch Nationalismus – der sich als Klassendiskurs tarnt – und logischerweise durch das Bündnis mit bürgerlichen Fraktionen auszeichnet. Dieses Programm wird heute von zahlreichen Strömungen geteilt, die trotz ihrer Unterschiede Erben desselben Programms sind: von den Maoisten bis zu den spanischen Stalinisten der PCPE-PCTE, von den Erben des Eurokommunismus38, wie Podemos oder den offiziellen kommunistischen Parteien fast überall, bis zu den fehlgeleiteten Anhängern von Enver Hoxha von Roberto Vaquero und Co.

Eine ethische Investition

Der Kommunismus ist eine Frage des Inhalts und nicht der Form. Aber wie wir bereits ausführlich in diesem Text gesehen haben, lassen sich Inhalt und Methoden nicht voneinander trennen. Kommunistische Militanz treibt – auf praktische Weise – die Kämpfe des Proletariats voran und verteidigt stets dessen allgemeine und historische Perspektive und Interessen. Sie ist zu jedem historischen Zeitpunkt Ausdruck der langen Kette, die seit der Entstehung der Spezies aus der Kooperation danach strebt, die Ausbeutung und Unterdrückung der Klassengesellschaften zu überwinden, um einen ganzheitlichen Kommunismus zu erreichen. Sie ist Ausdruck der Tendenz des Proletariats, sich als Klasse und Partei zu konstituieren, als Organ der Klasse, das in Übereinstimmung mit seinem Programm versucht, die kommunistische Gesellschaft, für die wir kämpfen, von jetzt an vorzubereiten.

Wir sind die Antipoden der stalinistischen Doppelzüngigkeit, der Korridormanöver, der aufgezwungenen Disziplin, der Unterwürfigkeit gegenüber den großen Anführern, des begleitenden Personalismus, der Säuberungen und Massaker im Namen einer glorreichen Zukunft – einer Zukunft, die aus denselben Formen und denselben Prinzipien besteht wie die des Kapitals. Diese Frage erscheint uns besonders wichtig, weil sie eine unüberwindbare Grenze zwischen Revolution und Konterrevolution zieht und weil sie diese Kohärenz zwischen Methoden und Programmen als wichtiges Element des Programms für den Kommunismus festschreibt.

Fazit

Wir sind nun am Ende dieses Textes angelangt. Das zentrale Ziel ist es, Prozesse der Klärung und theoretischen Klärung über das Wesen des Kommunismus zu begünstigen. Wir sprechen vom Kommunismus als einer realen Bewegung und einem lebendigen Programm und nicht als einem Namen, der von seinen größten Feinden enteignet wurde, von denen, die unerbittlich zur Zerstörung der revolutionären Welle von vor 100 Jahren beigetragen haben. Zu diesem Zweck haben wir versucht, konsequent unsere theoretische Methode anzuwenden, eine materialistische Sicht der Geschichte, die den Grund für die Konterrevolution erklärt und verständlich macht, das Programm, das sie definiert und dem Kommunismus entgegensetzt.

Heute hat der Stalinismus glücklicherweise weitgehend seinen bourgeoisen Charakter eingestanden. Die zahlreichen Parteien, in denen zig Millionen Proletarier in allen Teilen der Welt organisiert waren, haben sich aufgelöst. Wir haben es in der Gegenwart mit Strömungen zu tun, die im Vergleich zur Vergangenheit einen winzigen Einfluss haben. Das ist ein Element, das uns für die Zukunft sehr wichtig zu sein scheint. Jede Revolution zieht eine Gegenrevolution nach sich. Die zukünftigen Revolutionen, die unweigerlich aus den anhaltenden Widersprüchen eines Kapitalismus entstehen, der an seine inneren Grenzen stößt, werden nicht den mächtigen Feind haben, der der Stalinismus in der Vergangenheit war. Sein Triumph ermöglichte eine politische und ideologische Konterrevolution, die erst in den 1960er und 1970er Jahren zu erodieren begann, eine konterrevolutionäre Epoche, von der wir glauben, dass wir langsam beginnen, sie zu überwinden. Wir befinden uns in einer Scharnierperiode zwischen Vergangenheit und Zukunft39, einer Periode, die aufgrund der materiellen Widersprüche des Kapitalismus zu einer sozialen Polarisierung tendiert, die nicht nur Massenprotestbewegungen hervorbringt, sondern auch das Entstehen kleiner Klassenminderheiten bewirkt, die versuchen, sich in eine revolutionäre Richtung zu orientieren. Das Ziel dieses Papiers ist es, eine solche Orientierung in einem authentisch revolutionären Sinne zu fördern.


1A.d.Ü., klassenübergreifend.

2Siehe diesen Artikel in der virtuellen Bibliothek von barbaria.net.

3V.I. Lenin: Referat über die Taktik der KPR, 05. Juli 1921.

4A.d.Ü., wenn man diesen Text von Lenin weiterließt, wird dieser den Brest-Litowsker Frieden dennoch verteidigen, obwohl genau dieser ein weiterer Grund, wie viele weitere, die Revolution zu erdrosseln und nur im herrschenden Interesse der Bolschewiki zu handeln. Typisch Lenin, Zickzack-Kurs, Stalin lernte vom Meister.

5A.d.Ü., den Originaltitel dieses Textes haben wir nicht gefunden.

6Einmal, auf einer Parteiversammlung, sagt David Rjasanow, der russische Marxologe, zu ihm: „Gib es auf, Koba! Mach dich nicht lächerlich. Jeder weiß ganz genau, dass die Theorie nicht deine Stärke ist“, als Stalin Trotzki kritisierte.

7A.d.Ü., auf Spanisch hier und auf Deutsch hier.

8A.d.Ü., gemeint ist die Strömung der Kommunisierung.

9Siehe zu diesem Thema unter anderem den Text von Leon de Mattis über kommunistische Maßnahmen: https://colectivobrumario.wordpress.com/2015/12/22/las-medidas-comunistas-leon-de-mattis

10Zitat aus BILAN´s Artikel: „Partido, Internacional y Estado“.

11Stalin beruft sich dabei auf Texte von Lenin, die diese Notwendigkeit des Durchhaltens und der Maßnahmen unterstreichen, die angewendet werden müssen, um Schritte in Richtung Sozialismus zu unternehmen, um die industriellen Grundlagen für den Sozialismus zu schaffen. Auf jeden Fall spricht Lenin nie von der Möglichkeit, den Sozialismus in Russland aufzubauen, da er ganz klar sagt, dass Sozialismus eine klassenlose Gesellschaft bedeutet. Selbst wenn er sich zweideutig ausdrückt, wie in seinem Text Über die Genossenschaften (1923), spricht Lenin von einem Bündnis zwischen Arbeitern und Bauern, um den sozialistischen Aufbau voranzutreiben. Natürlich bleibt eine Gesellschaft mit Arbeitern und Bauern, mit Waren und Geld, eine kapitalistische Gesellschaft. Lenin wusste ganz genau, und er wiederholt es ständig, dass der Triumph der internationalen Revolution die unabdingbare Voraussetzung für den Triumph der russischen Revolution ist. Er fragt sich nur, was zu tun ist, bis die Revolution in anderen Ländern ausbricht (siehe Bericht über die Naturalsteuer, 1921).

12Das ist es, was Bordiga in seinem Text Dialog mit den Toten feststellt.

13Um diese Debatten innerhalb der Kommunistischen Internationale zu verstehen, die bereits die Schwierigkeiten der bolschewistischen Mehrheit widerspiegeln, eine revolutionäre Unnachgiebigkeit angesichts der Ebbe der revolutionären Welle zu verteidigen, siehe unseren Text el pasado de nuestro ser auf barbaria.net.

14Vgl. auf barbaria.net [Audio] Contra los Sindicatos

15Vgl. hierzu den wichtigen Text von Vercesi: „La tattica del Comintern (1926-1940)“, der zwischen 1946 und 1947 in Prometeo veröffentlicht wurde und wertvolle programmatische Hinweise gibt.

16Über die Idee der permanenten Revolution bei Trotzki und die Grenzen dieser Politik kannst du unseren Artikel Sobre la decadencia del capitalismo, la revolución permanente y la doble revolución in barbaria.net lesen.

17Daten von Pierre Broué in seiner Histoire de l’Internationale Communiste.

18Wir verweisen in diesem Zusammenhang auf den bereits erwähnten Text von Vercesi über La tattica della Comintern. Und auf die hervorragende Broschüre des Programma Comunista, in der die Verflechtungen zwischen der KPD und dem deutschen Nationalismus im Detail erklärt werden. Und wie all dies koexistiert es mit der Entwicklung einer nationalbolschewistischen Strömung: https://internationalcommunistparty.org/images/pdf/testi/Nazionalismo_e_internazionalismo.pdf.

19Manuilsky, russischer Anführer der Komintern.

20Dimitrov, Rede auf dem Siebten Kongress der Komintern.

21Pierre Broué gibt in seiner Histoire de l’Internationale Communiste die Anzahl der von Hitler und Stalin getöteten Anführer der KPD an, wobei die Rechnung nicht zugunsten Hitlers ausfällt.

22Diesen Artikel, wie auch die beiden anderen Artikel von Vercesi, die wir kommentieren werden, findest du im Abschnitt unserer Seite, der der Bibliothek der historischen Texte gewidmet ist.

23Siehe in diesem Zusammenhang auch El pasado de nuestro ser.

24Litwinow, Auslandskommissar unter Stalin, sprach vor Chruschtschow von der „friedlichen Koexistenz von Kapitalismus und Sozialismus“. Wie wir sehen können, waren die Erfolge der kapitalistischen Logik bereits in vollem Gange.

25Wie Bordiga später kommentierte: „Die historische Situation, dass der proletarische Staat nur in einem Land konstituiert worden war, während es ihm in den anderen nicht gelungen war, die Macht zu erobern, machte es für die russische Sektion schwierig, die klare organische Lösung zu finden, das Ruder der Weltorganisation in der Hand zu halten. Die [kommunistische] Linke war die erste, die bemerkte, dass das Verhalten des russischen Staates sowohl in seiner inneren Ökonomie als auch in den internationalen Beziehungen anfing, Abweichungen zu zeigen, und sie warnte auch davor, dass sich ein Unterschied zwischen der Politik der historischen Partei, d.h. aller revolutionären Kommunisten der Welt, und der Politik einer formalen Partei, die die Interessen des kontingenten russischen Staates verteidigt, herausbilden würde“, Überlegungen zur organischen Tätigkeit der Partei, wenn die allgemeine Lage historisch ungünstig ist. So wurde die russische Partei unweigerlich und in perfekter Logik mit dem Determinismus des historischen Materialismus zu einer Leine des russischen Staates und seiner Bedürfnisse nach Kapitalakkumulation. Der Kampf, der geführt werden musste, und deshalb ist die Konterrevolution politisch und nicht unvermeidlich, bestand natürlich darin, die Partei und die Internationale vor der kompromisslosen Verteidigung des kommunistischen Programms zu bewahren. Eine isolierte Revolution kann die Klassendiktatur nicht auf Dauer aufrechterhalten. Die Anerkennung dieser Tatsache durch Revolutionäre ist die wichtigste Lehre, die wir ziehen können, um die schlimmste aller Konterrevolutionen zu vermeiden: diejenige, die die Bourgeoisie mit den von unserer Klasse im Kampf geschaffenen Instrumenten ausstattet. Deshalb argumentiert BILAN eindringlich, dass die Konterrevolution in erster Linie politisch und ideologisch ist. Das Scheitern der Klassendiktatur war unvermeidlich, die Degeneration der Partei nicht. Und genau auf diese Logik müssen wir, die Kommunisten von heute und morgen, uns vorbereiten.

26Zu den Daten siehe das Buch von Graziano Giusti: I conti con nemico. Über den kapitalistischen Charakter der Ökonomie der ehemaligen UdSSR, siehe unsere Broschüre Stalins Kapitalismus auf barbaria.net.

27Alle diese Daten sind dem großartigen Werk von Graziano Giusti: I conti col nemico entnommen. Giusti ist ein Gefährte der internationalistischen kommunistischen Gruppe Pagine marxiste.

28Das sowjetische Strafgesetzbuch von 1933 verurteilte das Verbrechen der männlichen Homosexualität nach Artikel 121 mit bis zu 5 Jahren Zwangsarbeit im Gefängnis, im Gegensatz zum Gesetzbuch von 1922, das sie entkriminalisiert hatte.

29Siehe das Buch von Jean Jacques Marie: Le rapport Khrouchtchev.

30Die Daten stammen aus dem oben erwähnten Buch von Pierre Broué. Ich möchte nur hinzufügen, dass diese Art von Militanten der Konterrevolution der Gegenpol zu den Zehntausenden von Kommunistinnen und Kommunisten, Anarchistinnen und Anarchisten und Revolutionären im Allgemeinen ist, die sich der konterrevolutionären Schandtat mutig entgegenstellten. Die Geständnisse, die die Henker und Richter – manchmal nur durch brutale Folter – erpresst haben, haben nicht verhindert, dass der Zusammenbruch dieser schändlichen Regime uns dem wahren Geständnis näher gebracht hat: dem kapitalistischen Charakter dieser Staaten.

31Im Oktober 1961 legte Chu En-Lai einen Kranz an Stalins Sarkophag nieder, der dem „großen Marxisten-Leninisten Joseph Wissarionowitsch Stalin“ gewidmet war. Damit reagierte er auf die Kritik, die Chruschtschow seit dem 20. Kongress geübt hatte. Uns geht es darum zu betonen, dass der stalinistische Personenkult aus dieser personalistischen und voluntaristischen Sichtweise resultiert, die typisch für die bourgeoise Politik ist.

32A.d.Ü., der Etapismus ist die Idee die vorsieht dass die „Revolution“ in Etappen durchgehen muss. Wenn diese nicht vorhanden sind, kann sie auch nicht stattfinden.

33In Wirklichkeit handelt es sich um einen Versuch, das stalinistische kapitalistische Regime zu reformieren, das bereits Anzeichen einer tiefen Krise aufwies.

34Die Fälscher von gestern und heute bezeichnen das Lager der Konterrevolution als die Internationale Kommunistische Bewegung. Wir denken, dass in diesem Pamphlet deutlich gemacht wurde, warum wir es für wichtig halten, die Dinge beim richtigen Namen zu nennen und die Realität nicht mit Bezeichnungen zu verwechseln, die sie leugnen.

35Mao: Der Platz der Kommunistischen Partei Chinas im nationalen Krieg. Die Kursivschrift ist von uns.

36Wir können der Kritik an dem Konterrevolutionär Mao keine ausführlichere Studie widmen, da dieses Pamphlet bereits umfassend genug ist. Wir möchten uns in nicht allzu ferner Zukunft damit befassen, weil seine Figur bei jungen Generationen von radikalisierenden Proletariern nach wie vor für große Verwirrung sorgt.

37Ein Programm, das sich von dem offiziellen Programm der evolutionistischen und reformistischen Sozialdemokratie der Zweiten Internationale unterscheidet. Letztere gab vor, den Kapitalismus mit schrittweisen Mitteln zu überwinden, und stützte sich dabei auf ein Klassenprogramm, das sich formal von dem der Bourgeoisie unterschied. In Inhalt und Form war es ganz offensichtlich ein bourgeoises Programm, auf das unsere damaligen Gefährtinnen und Gefährten die ihm gebührende Antwort gaben. Wir wollen lediglich darauf hinweisen, dass der Reformismus von damals ernster war, wie es ein Gefährte, der beide konterrevolutionären Strömungen bekämpfte, ausdrückte.

38 Der Eurokommunismus ist der endgültige Bruch der westlichen KPs – insbesondere der italienischen, spanischen und französischen Parteien – mit der UdSSR aufgrund der offensichtlichen Krise des Stalinismus, einer Krise, die die politische Stärke dieser nationalen Parteien selbst schwächt, was die Suche nach einem eigenen, unabhängigen Weg zum Sozialismus verstärkt.

39Siehe dazu auf unserer Website unsere Broschüre 10 Anmerkungen zur revolutionären Perspektive und andere Texte.

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Über Toni Negri (1933 – 2023) – Empire und seine Fallen – Toni Negri und der verwirrende Weg des italienischen Operaismus. https://panopticon.blackblogs.org/2024/02/24/ueber-toni-negri-1933-2023-empire-und-seine-fallen-toni-negri-und-der-verwirrende-weg-des-italienischen-operaismus/ Sat, 24 Feb 2024 08:02:14 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5586 Continue reading ]]>

Gefunden auf dndf, die es selbst von info kiosques übernommen haben, Original auf spanisch hier, die Übersetzung ist von uns, wir haben uns an der französischen Version orientiert. Toni Negri starb am 16. Dezember 2023. Da man nicht schlecht über Tote redet, haben wir diesen Text übersetzt der sein Werk kritisiert und zur Schau stellt. Zum Schluss verteidigt der Text Positionen die wir nicht teilen, aber dass ist nicht der Grund warum wir ihn übersetzt haben, sondern weil er Negris Denken als ein falschen darstellt und angreift.

Kampf diesen und jeden Propheten.


Über Toni Negri (1933 – 2023)

Hier ist ein Artikel, der eine Kritik an Negris Denken in einer relativ ruhigen und dokumentierten Art und Weise vorbringt, für diejenigen, die nicht von der neuen italienischen Linken begeistert sind, noch vom garantierten Lohn und anderen Ablenkungen des Kampfes. Hier bekommt ihr auch eine gute Einführung in den historischen Kontext des Italiens der 1970er Jahre, die vor spannenden Debatten und Engagements sprudelten, von denen wir noch viel zu entdecken haben.“


Empire und seine Fallen – Toni Negri und der verwirrende Weg des italienischen Operaismus.

Aus: A contretemps Nr. 13, September 2003

Man hat bisher geglaubt, die christliche Mythenbildung unter den römischen Kaiserreich sei nur möglich gewesen, weil man den Buchdruck noch nicht erfunden hatte. Grade umgekehrt. Die Tagespresse und der Telegraph, der ihre Erfindungen im Nu über den ganzen Erdboden ausstreut, fabrizieren mehr Mythen (und das Bourgoisrind glaubt und verbreitet sie) in einem Tag, als früher in einem Jahrhundert fertiggebracht werden konnten.“ Marx an Kugelmann, 27. Juli 1871. Band 33 MEW.

BAUDELAIRE bezeichnete die Autoren von Abhandlungen, die im Handumdrehen die Kunst darlegen, wie man reich, gelehrt und glücklich wird, als „Unternehmer des öffentlichen Glücks“. Mir scheint, dass diese Definition perfekt auf die Autoren des Empire zutreffen könnte, die uns versichern, dass sie befriedigende Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit haben1. Das Buch, das als Bibel der Anti-Globalisierungsbewegung angepriesen wurde, war Gegenstand einer groß angelegten Werbekampagne, zuerst in den USA (2000), dann in Frankreich und schließlich in Italien und dem Rest der Welt. Empire war ein echter internationaler Erfolg (bis heute wurden eine halbe Million Exemplare verkauft) und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt, darunter Chinesisch und Arabisch, und wurde von der amerikanischen und europäischen Presse als ein wichtiger Beitrag zum Verständnis der neuen Weltordnung aufgenommen. Die neokonservative Tageszeitung The New York Times zögerte nicht, das Buch als „das wichtigste Werk des letzten Jahrzehnts“ zu bezeichnen, was nicht ohne Witz ist, wenn man bedenkt, dass die Autoren sich selbst als Radikale bezeichnen und nichts weniger als eine Aktualisierung des Kommunistischen Manifests anstrebten. In Lateinamerika hingegen waren die Reaktionen eher lauwarm und manchmal sogar offen feindselig, wenn auch, wie wir später sehen werden, aus den falschen Gründen.

EIN NEUER ANSTRICH FÜR EINE ALTE IDEOLOGIE

Um es gleich vorweg zu sagen: Empire ist kein Manifest und noch weniger ein Handbuch für Aktivisten.

Es ist ein langes Buch (über 500 Seiten), vollgepackt mit obskuren Begriffen wie Biomacht, globalen Kommandos, imperialer Souveränität, Selbstverwertung, Deterritorialisierung, immaterieller Produktion, Hybridisierung, Multitude und vielen anderen, die für ungeübte Leser schwer zugänglich sind. Ein perfektes Verständnis des Buches erfordert zweifellos eine gewisse Vertrautheit mit verschiedenen Denkschulen: dem französischen Poststrukturalismus, soziologischen Theorien aus Nordamerika und, wie wir sehen werden, dem italienischen Operaismus. Zu all dem sollte man neben dem besten Willen der Welt auch eine gewisse Kenntnis der politischen Philosophie von Aristoteles über Polybios, Machiavelli und Carl Schmitt bis hin zu John Rawls hinzufügen.

Ich muss zugeben, dass es mich in meinem Fall einige Monate Anstrengung gekostet hat, das gesamte Werk zu lesen, einschließlich der notwendigen langen Unterbrechungen. Laut seinen eigenen Autoren eignet sich Empire für mehrere Lesarten: Die Leser können von Anfang bis Ende, von Ende bis Anfang oder auch nach Teilthemen vorgehen und das Werk nach ihren Interessensgebieten unterteilen. Man wird mir erlauben, einen weiteren Vorschlag hinzuzufügen: das Lesen nach Slogans oder Schlüsselwörtern – Schlüsselwörter, deren elegante Handhabung heute das Zeichen der Zugehörigkeit zur neuen Linken ist oder, prosaischer, das Zeichen eines intellektuellen Aggiornamento, das für jeden, der in den angesagten literarischen Salons eine gute Figur machen will, unerlässlich ist. Das Buch will die neue Konfiguration des kapitalistischen Systems, die durch die neoliberale Globalisierung hervorgerufen wird, erforschen und die grundlegenden Kategorien der Politik, die von der Moderne geerbt wurden, in Frage stellen. Die Autoren stehen in der marxistischen Tradition, obwohl sie zugeben, ohne es explizit zu sagen, dass der orthodoxe Marxismus-Leninismus nicht mehr relevant ist. Wenn man diese Abkehr von einer Ideologie, die den Interessen des Totalitarismus so gut gedient hat, begrüßen muss, wie kann man sich jedoch nicht wundern, wenn man feststellt, dass diesem Buch nicht nur eine ernsthafte ökonomische Analyse fehlt, sondern auch und vor allem der Standpunkt der Kritik der politischen Ökonomie, die in meinen Augen das einzige lebendige Erbe eben dieser marxistischen Tradition bleibt. Darüber hinaus ist es bemerkenswert, dass Empire zwar Dutzende von Seiten der Untersuchung der Verfassung der Vereinigten Staaten widmet, aber keine ernsthafte Reflexion über die Russische Revolution und den Leninismus enthält. Dennoch ist es heute klar, dass das sowjetische Modell den Raum für die Revolutionen des 20. Jahrhunderts gleichzeitig öffnet und schließt. Sein Scheitern ist nicht ohne Zusammenhang mit dem Entstehen der neuen Weltordnung, die das Thema des Buches ist.

Die Debatte über die Tragödie von Revolutionen, die sich selbst auffressen, wird nicht erwähnt, und es gibt keinen Versuch, den Beitrag der kritischen Strömungen des Sozialismus, sowohl der marxistischen als auch der libertären, die bislang unter dem Scheffel standen, angemessen zu bewerten. Auf den wenigen Seiten, die dem Zusammenbruch des Ostblocks gewidmet sind, beschränken sich die Autoren auf die Feststellung, dass die Disziplin in der Sowjetunion „absterben“ würde, und behaupten, dass es sich nicht um totalitäre Gesellschaften, sondern um eine bürokratische Diktatur handle2.

Gehen wir der Reihe nach vor. Empire wurde zwischen 1994 und 1997 geschrieben, d.h. nach dem Beginn der zapatistischen Revolte und vor der Schlacht von Seattle. Nach Fertigstellung des Buches stellte sich Negri, ein politischer Anführer der italienischen außerparlamentarischen Linken der 1970er Jahre, Universitätsprofessor und Autor umfangreicher Abhandlungen über Marx und Spinoza, nach 14 Jahren Exil in Frankreich der italienischen Justiz, um sich vor dieser wegen Straftaten im Zusammenhang mit dem bewaffneten Kampf zu verantworten. Seit einigen Monaten lebt er unter Hausarrest in seiner römischen Wohnung, wo er an Band II von Empire arbeitet. Hardt ist Professor für Literatur an der Duke University in North Carolina. Ich kenne seinen Werdegang nicht und möchte daher hier auch nicht seinen Beitrag analysieren.

Da es sich hier um ein sehr ehrgeiziges Buch handelt, sollten wir uns zunächst fragen, inwiefern es zu einem besseren Verständnis der heutigen Welt beitragen kann. Meine Antwort ist, dass es in Wahrheit sehr wenig dazu beiträgt. Die Hauptthese, die in den ersten Zeilen formuliert und später fast zwanghaft wiederholt wird, lautet: Mit dem Aufkommen der Globalisierung und der Krise des Staates-Nation entstehen neue Formen der Souveränität und ein neuartiges soziales System, das „Imperium“, dessen Attribute hervorgehoben werden müssen. Unsere Autoren erklären, dass die USA darin einen wichtigen, aber nicht zentralen Platz einnehmen, aus dem einfachen Grund, dass das Empire kein Zentrum hat. Es handele sich gewissermaßen um ein Imperium ohne Imperialismus, eine Illusion, die mit dem neokonservativen Denken geteilt wird. Das Imperium, so sagen sie uns, ist in der Tat ein grenzenloser, dezentralisierter und „deterritorialisierter“ Nicht-Ort, der sich die Gesamtheit des sozialen Lebens aneignet. Keine Grenze kann seine Macht einschränken, da es „eine Ordnung, die Geschichte vollständig suspendiert und dadurch die bestehende Lage der Dinge für die Ewigkeit festschreibt“3. Aus solchen Behauptungen geht hervor, dass das Imperium nicht mit dem imperialistischen System souveräner Staaten, die miteinander konkurrieren, übereinstimmt. Im Gegensatz zu diesen hat es weder ein Zentrum noch eine Peripherie und weder ein „Innen“ noch ein „Außen“, was bedeutet, dass man nicht mehr von den alten Unterteilungen in Erste und Dritte Welt oder gar von imperialistischen Kriegen sprechen kann. Wenn Negri und Hardt die Existenz innerimperialistischer Widersprüche anerkennen, argumentieren sie, dass diese nicht auf klassische Mechanismen reduziert werden können. Wie steht es im Übrigen um die sozialen Klassen im Imperium? Es gibt kein Proletariat mehr, geschweige denn eine Bauernschaft4. Was es jedoch gibt, ist ein neues – und mysteriöses – revolutionäres Subjekt, die Multitude (in der Einzahl, wie der Heilige Geist), deren Existenz die Autoren bereits in der Einleitung feiern, ohne sich darum zu kümmern, die Konturen des Konzepts zu präzisieren.

Nach der Lektüre dieser Vorbemerkungen hat der kritische Leser mehrere Möglichkeiten. Er kann natürlich darauf verzichten, sich mit einem so abstrusen Text zu befassen, aber er kann sich auch mit Geduld wappnen und den Inhalt der 470 Seiten (ohne die etwa 40 Seiten Anmerkungen), die auf die Einleitung folgen, durchgehen. Dies hat Atilio Boron getan, der, entsetzt über die Extravaganzen von Negri und Hardt, ihnen ein ganzes Buch widmet5. Diese Entscheidung hat zwar den Vorteil, dass der Leser eine umfangreiche, wenn auch nicht erschöpfende Bestandsaufnahme des Unsinns in dem Buch erhält, aber Boron ist auf dem Holzweg, wenn er die Autoren als postmodern bezeichnet, obwohl sie in Wahrheit Konzepte von Foucault (Biomacht, Biopolitik) oder Deleuze (Deterritorialisierung, Nomadismus), doch ihre Argumentation ist direkt auf den so genannten italienischen Operaismus zurückzuführen, eine Strömung, der Negri in den 1960er Jahren angehörte und die er nie verleugnet hat.

Die Überlegungen der Autoren des Buches entspringen weder dem Wunsch, die „großen Erzählungen“ in Frage zu stellen, noch einer postmodernen Sensibilität, die „auf die Singularität der Ereignisse achtet“6, sondern vor allem einem gefräßigen und totalisierenden hegelianischen Willen: Da die Autoren ebenfalls gegen die Moderne und die Postmoderne sind, befinden sie sich tatsächlich in einer Art „post-marxistischem“ Äther7.

Daher kann die Kritik, anstatt die – manchmal offen gesagt wahnwitzigen – Thesen des Buches Punkt für Punkt zu wiederholen, einen anderen Weg einschlagen und sich für die Erforschung der Ursprünge des Feldes entscheiden, in das sie sich einfügen. Dieser Versuch ist umso weniger müßig, als das ideologische Arsenal von Negri und Hardt nach den USA und Europa nun auch Lateinamerika erobert. Unserer Meinung nach kann man Empire nicht verstehen, wenn man nicht zumindest in seinen bedeutendsten Zügen die Stärken und Schwächen des italienischen Operaismus kennt. In längst vergangenen Zeiten leistete diese Strömung einen unbestreitbaren Beitrag zum Wiederaufbau der revolutionären Praxis und des kritischen Denkens. Ihre Interpretation des Marxismus prägte eine Epoche des sozialen Konflikts in Italien, aber es herrscht ziemlich große Verwirrung über ihre tiefere Natur. In der spanischsprachigen Literatur wird beispielsweise vom „marxismo autonomista“ und in der englischsprachigen vom „autonomist marxism“8 gesprochen, Begriffe, die die Idee einer Forderung nach „Autonomie“ der sozialen Bewegungen gegenüber politischen Organisationen und Parteien hervorrufen, was, wenn es nur um Toni Negri und Mario Tronti – die beiden bekanntesten Vertreter dieser Strömung außerhalb Italiens – geht, bei weitem nicht der Wahrheit entspricht.

ES WAR EINMAL DIE ARBEITERKLASSE

Die marxistische Strömung, die in Italien unter dem Namen Operaismus bekannt ist, entstand in den 1960er Jahren rund um die Zeitschriften Quaderni Rossi und Classe Operaia. Zu ihren wichtigsten Mitarbeitern gehörten Raniero Panzieri, Romano Alquati, Mario Tronti, Sergio Bologna, Alberto Asor Rosa, Gianfranco Faina und Antonio Negri selbst9. Zu dieser Zeit erlebte Italien das Ende des Agrarkapitalismus und des ökonomischen Wunders. Es waren die dunklen Jahre des Kalten Krieges und das Land litt unter der doppelten Einmischung der USA und der UdSSR. Hinter einer bedrohlichen Fassade akzeptierte die Kommunistische Partei Italiens bereitwillig die Spielregeln, die ihre ständige Entfernung von der Zentralmacht mit sich brachte, im Austausch für einen (geringen) Anteil an lokaler Macht.

Die dominierende Figur in den sozialen Kämpfen war der Berufsarbeiter, d.h. der Arbeiter, der noch eine gewisse Kontrolle über den Produktionsprozess hat, der über ein großes technisches Wissen verfügt und der sich bewusst ist, dass er den Betrieb besser verwalten kann als der Chef. In diesem Fall handelte es sich um Arbeiter mit einem starken Gedächtnis und einem ausgeprägten antifaschistischen Bewusstsein, die mit Stolz erklärten, „zur Arbeiternation zu gehören“10.

Die Dinge änderten sich bald. Die Landflucht, der industrielle Aufschwung, das Wachstum des Dienstleistungssektors und die Verbreitung des Massenkonsums – all das veränderte die soziale Struktur des Landes grundlegend. Die Existenz von Sektoren mit ungelernten Arbeitern war zwar nichts Neues, aber zu dieser Zeit hatten die Industrien im Norden einen wachsenden Bedarf an billigen Arbeitskräften, um die Entwicklung der Automobil- und Petrochemiebranche voranzutreiben. Die Produktion wurde fragmentiert und mit der Verbreitung des Fließbands entstand eine neue Generation junger Emigranten aus dem Süden, die weder über die politische Kultur noch über die Werte des Widerstands verfügten. Sie befanden sich in einer besonders schwierigen Situation, da die lokale Gesellschaft sie nicht akzeptierte und die Gewerkschaft/Syndikate ihnen misstraute. Dennoch sollten sie bald zu Akteuren wichtiger sozialer Protestbewegungen werden.

Die Reflexion von Quaderni Rossi, deren erste Ausgabe 1961 erschien, war der Analyse dieser neuen und komplexen Realität gewidmet. Die Zeitschrift wurde in Turin herausgegeben, dem Nervenzentrum von Fiat und den neuartigen Formen der Arbeitsorganisation. Ihr Herausgeber, Raniero Panzieri, war ein ehemaliger Führer der Sozialistischen Partei mit luxemburgischen Tendenzen, der Beziehungen zur internationalen nicht-stalinistischen Linken unterhielt. Einige Jahre zuvor hatte er in polemischen Thesen über die Arbeiterkontrolle die Idee einer Arbeiterbasisdemokratie verteidigt und die Auffassung vertreten, dass die Partei, die zunächst als Klasseninstrument gedacht war, zum Selbstzweck wird, ein Instrument für die Wahl von Abgeordneten […] und ein Element der Selbsterhaltung“11.

Panzieri versuchte, den Marxismus von der Kontrolle der politischen Parteien zu emanzipieren und einen „Arbeiterstandpunkt“ anzunehmen, indem er Marx vom Klassenkampf her neu las12. Er konzentrierte sich auf die Planung und interpretierte das Kapital als gesellschaftliche Macht und nicht mehr nur als Privateigentum an Produktionsmitteln. Da der Staat direkt in die Produktion eingriff, war er nicht mehr nur der Garant, sondern auch der Organisator der Ausbeutung. Im vierten Abschnitt von Band I des Kapitals fand er die Begriffe „kapitalistischer Befehl“, „gesellschaftlicher Arbeiter“ (in der spanischen Übersetzung, die ich konsultiert habe, „kollektiver Arbeiter“)13 und „Antagonismus“, die seitdem zu den unverzichtbaren theoretischen Referenzen des Operaismus geworden sind. Darüber hinaus war er einer der ersten, der bis dahin praktisch unbekannte Werke von Marx wie die Grundrisse (insbesondere den Abschnitt über die Maschinerie) und das unveröffentlichte VI. Kapitel des Kapitals untersuchte, indem er das grundlegende Konzept der „Kritik der politischen Ökonomie“ und die Kategorien der „formalen“ und realen Unterwerfung“ der Arbeit unter das Kapital wieder aufgriff14. Während die offizielle Linke sich in der Entwicklungsideologie verhedderte, untersuchte Panzieri die Verflechtung von Technik und Macht, was ihn zu der Idee führte, dass die Eingliederung der Wissenschaft in den Produktionsprozess ein Schlüsselmoment des kapitalistischen Despotismus und der Organisation des Staates ist. Auf diese Weise vollzog Panzieri eine Umkehrung des orthodoxen Marxismus – eine echte kopernikanische Revolution – und ebnete den Weg für die Kritik soziologischer Ideologien, insbesondere der Organisationstheorie, die er als Techniken zur Neutralisierung von Arbeiterkämpfen interpretierte (15). Mehr als andere versuchte dieser früh verstorbene Autor (er starb 1964), ein politisches Denken aufzubauen, das sich vom kommunistischen Denken unterschied, indem er sich vom Schema des „organischen Intellektuellen“ emanzipierte, in dem der Intellektuelle viel weniger ein organischer Ausdruck der Arbeiterklasse als der Partei allein ist.

Eine weitere wichtige Person in dieser frühen Phase des Operaismus war Romano Alquati, der empirische Untersuchungen in den Fabriken durchführte und dabei die Methode der „partizipativen Untersuchung“15 (italienisch: conricerca) anwandte, die eine gleichberechtigte Begegnung zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Untersuchung – d.h. zwischen Intellektuellen und Arbeitern – mit dem Ziel einer gemeinsamen Befreiung beinhaltete. Alquati nannte das neue politische Subjekt „Massenarbeiter“ (engl. unskilled worker oder mass production worker): den unqualifizierten, von den Produktionsmitteln völlig getrennten Wanderarbeiter, der dabei war, den Berufsarbeiter zu verdrängen. Der Massenarbeiter war die Umsetzung von drei parallelen Phänomenen: 1) Fordismus, d.h. Massenproduktion und Marktrevolution; 2) Taylorismus, d.h. wissenschaftliche Arbeitsorganisation und Fließband; 3) Keynesianismus, d.h. weit reichende kapitalistische Wohlfahrtsstaatspolitik. All diese Maßnahmen waren die Antwort des Kapitals auf die Arbeiter, die in den 1920er und 1930er Jahren „den Himmel stürmten“.

Die Operaisten waren der Meinung, dass die großen fordistischen Veränderungen in Italien und anderswo bereits abgeschlossen waren und dass die Phase der „Arbeitsverweigerung“ begonnen hatte, d.h. die völlige Entfremdung der Arbeiter von den Produktionsmitteln, die zu Absentismus und einer radikaleren Infragestellung des Ausbeutungsmechanismus führte. Aus dieser Perspektive erschien die Geschichte der Arbeiterklasse wie ein gewaltiger epischer Roman, in dem die großen produktiven Veränderungen von der industriellen Revolution bis zur Automatisierung die allmähliche Verwirklichung des ältesten Traums der Menschheit zu versprechen schienen: sich von der Anstrengung bei der Arbeit zu befreien. Ein solcher Ansatz wich radikal von der Arbeitsethik, dem Steckenpferd der KPI, ab. Laut Sergio Bologna „zermalmte Quaderni Rossi die Hegemonie auf den Pressen von Mirafiori“, was eine Art zu sagen war, dass die Zeitschrift sich von den Gedanken des Parteigründers Antonio Gramsci entfernte16. Meiner Meinung nach war die Beziehung der Operaisten zu Gramsci komplexer als es scheint: Während sie Gramscis Historismus kaum billigten (Tronti und Asor Rosa waren z.B. Schüler von Galvano Della Volpe, einem überzeugten Anti-Gramscianer, gewesen), schätzten sie die Notizen über „Amerikanismus und Fordismus“, in denen Gramsci den Übergang zu neuen Formen kapitalistischer Herrschaft vorausahnte. Wie er verfolgten sie aufmerksam die Veränderungen des amerikanischen Kapitalismus: „In Amerika“, schrieb Gramsci, „hat die Rationalisierung die Notwendigkeit bestimmt, einen neuen Menschentypus zu entwickeln, der dem neuen Typus der Arbeit und des Produktionsprozesses entspricht.“17

Bald waren sich die Operaisten sicher, dass das Phänomen der inneren Emigration dazu tendierte, die alten Ungleichgewichte zwischen Nord und Süd, Gramscis Hauptanliegen, aufzuheben. Und das nicht, weil der italienische Kapitalismus sie beseitigt hatte, sondern im Gegenteil, weil die „Südfrage“ sich auf das ganze Land ausdehnte, insbesondere auf die Fabriken im Norden, wo sich die Wut dieses neuen Proletariats staute.

Eine der Errungenschaften dieser Autoren war die Entwicklung des Konzepts der „Klassenzusammensetzung“. So wie bei Marx die organische Zusammensetzung des Kapitals eine Synthese zwischen technischer Zusammensetzung und Wert ausdrückt, so betont bei den Operaisten die Klassenzusammensetzung die Verbindung zwischen „objektiven“ technischen Merkmalen und „subjektiven“ politischen Merkmalen. Die Synthese beider Aspekte bestimmt das subversive Potenzial der Kämpfe, und das ermöglicht es, die Geschichte in Perioden zu unterteilen, von denen jede durch die Präsenz einer „dynamischen“ Figur gekennzeichnet ist. Jedes Mal reagiert das Kapital auf eine bestimmte Klassenzusammensetzung mit einer Umstrukturierung, auf die eine politische Neuzusammensetzung der Klasse folgt, d.h. das Auftauchen einer neuen dynamischen“ Figur18. Ebenso begünstigen die verschiedenen Ausdrucksformen dieser Neuzusammensetzung eine „Zirkulation der Kämpfe“.

Eine erste Manifestation dieser neuen Zusammensetzung war im Sommer 1960 zu beobachten, als anlässlich eines Parteitags der neofaschistischen Partei, die damals an einer Mitte-Rechts-Regierung beteiligt war, in Genua eine Reihe von gewalttätigen Demonstrationen in dieser und einigen anderen Städten stattfand.

Es gab mehrere Tote, fast alle junge Männer, und die Presse sprach abfällig von einer „Rebellion krimineller Rocker“ (von „Teddy Boys“, wie es damals hieß). In einer Kolumne eines Autors, der dem Operaismus nahesteht, heißt es hingegen: „Die Ereignisse im Juli sind die Klassendemonstration dieser neuen Generation, die im Klima der Nachkriegszeit aufgewachsen ist. […] Eine Generation außerhalb der Parteien“19. 1962 brach die Fiat-Affäre aus. Nach dem Auslaufen der Arbeitsverträge in der Automobilbranche geriet der Konzern in einen schweren Arbeitskonflikt, der zu den gewalttätigen Auseinandersetzungen auf der Piazza Statuto (7., 8. und 9. Juli) in Turin führte. Die offiziellen Gewerkschaften/Syndikate wurden beschuldigt, Müllverträge unterzeichnet zu haben, und wurden von Zehntausenden streikenden Arbeitern ignoriert, die eine regelrechte Stadtrevolte auslösten. Die Polizei konnte die Piazza Statuto erst nach dreitägigen Zusammenstößen und nach Verstärkung aus anderen Städten zurückerobern. Die Protagonisten der Ereignisse waren wieder einmal junge Südländer.

Die KPI bezog sofort Stellung und verurteilte die Aufständischen als „faschistische Provokateure“. Dies war der Beginn einer neuen Etappe in der italienischen Geschichte: In dem Maße, in dem neue Praktiken der Klassenkonfrontation auftauchten, wurde die Distanz zwischen der historischen Linken und den Protestbewegungen immer größer. Die Diskussion innerhalb von Quaderni Rossi war sehr lebhaft und führte 1963 zu einem ersten Bruch. Obwohl sich alle Mitglieder über das revolutionäre Potenzial der neuen Situation einig waren, gab es große Unterschiede in der Frage, welche Haltung man einnehmen sollte. Panzieri war für Vorsicht, während Tronti, Alquati, Negri, Bologna, Asor Rosa und Faina zur Tat schreiten wollten. Im Jahr 1964 gründeten sie Classe Operaia, „eine politische Zeitschrift der kämpfenden Arbeiter“. Die Gruppe wollte nicht nur zur theoretischen Forschung beitragen, sondern auch das Netz von Beziehungen und Kontakten festigen, das in den Jahren zuvor entworfen worden war20.

DIE PARADOXIEN VON MARIO TRONTI

Der von ihrem Direktor Mario Tronti unterzeichnete Leitartikel der ersten Ausgabe von Classe Operaia – „Lenin in England“ – wies den Weg: „Wir sehen eine neue Epoche des Klassenkampfes heraufziehen. Die Arbeiter haben sie den Kapitalisten mit der objektiven Kraft der organisierten Kräfte in den Fabriken aufgezwungen. […] Die Arbeiterklasse führt und erzwingt eine bestimmte Art der Kapitalentwicklung. […] Ein neuer Anfang ist notwendig.“21 Als streitbarer und paradoxer Denker war Tronti überzeugt, dass die jüngste Verschärfung der Arbeiterkämpfe den Weg für eine revolutionäre Umgestaltung ebnete. Aber anstatt wie Panzieri auf die Spontaneität der Massen zu vertrauen, glaubte er eher an die Intervention der Partei. Seine Ideen fanden ihre endgültige Formulierung 1966 mit der Veröffentlichung von Operai e Capitale, einem Buch voller brillanter Einsichten und suggestiver Bilder, das den Glanz und das Elend der zweiten Phase des Operaismus zusammenfasste. Während sich Neomarxisten anderswo in endlosen Diskussionen über Krisentheorien und den Zusammenbruch des Kapitalismus aufgrund seiner eigenen Widersprüche verloren, bekräftigte Tronti die politische Zentralität der Arbeiterklasse, betonte den subjektiven Faktor und schlug eine dynamische Analyse der Klassenbeziehungen vor. Die Fabrik war nicht mehr der Ort der kapitalistischen Herrschaft, sondern der Kern des antagonistischen Konflikts. Sein Ansatz widersprach der reformistischen Tradition: Der Kampf um den Lohn wurde als ein unmittelbar revolutionärer Kampf betrachtet, sobald es gelang, die Macht des Kapitals zu beugen. Die Krise wurde nicht mehr als Produkt abstrakter innerer Widersprüche verstanden, sondern als Ergebnis der Fähigkeit der Arbeiter, dem Kapital Einkommen abzutrotzen. Trontis Rede konzentrierte sich auf Trends, was in Zukunft eine Konstante im operaistischen Denken sein sollte: Es ging darum, ein theoretisches Modell zu konstruieren, das es ermöglichen würde, den Lauf der Dinge vorwegzunehmen. Deshalb musste man „Marx in Detroit“ setzen, d.h. die Verhaltensweisen des Proletariats in dem am weitesten fortgeschrittenen Land untersuchen, wo der Konflikt in seiner reinsten Form auftauchte.

Eine solche Herangehensweise mag verlockend erscheinen, aber die praktischen Vorschläge, die man daraus ableitete, waren ehrlich gesagt enttäuschend: „Die Organisationstradition der amerikanischen Arbeiterklasse ist die politischste der Welt, weil die Stärke ihrer Kämpfe die ökonomische Niederlage des Gegners ankündigt und sie nicht der Eroberung der Macht näher bringt, um eine andere Gesellschaft in einem Vakuum aufzubauen, sondern der Explosion der Lohnarbeit, um das Kapital und die Kapitalisten auf eine untergeordnete Position in derselben Gesellschaft zu reduzieren“22. Niederlage des Gegners? In den Vereinigten Staaten? Nein, sagte Tronti: „Der reine gewerkschaftliche/syndikalistische Kampf kann uns nicht aus dem System herausführen […], wir brauchen eine Organisation vom leninistischen Typ“23.

Interessanter war dagegen die Analyse der Beziehung zwischen Fabrik und Gesellschaft: „Auf der höchsten Stufe der kapitalistischen Entwicklung wird die gesamte Gesellschaft zu einem Gelenk der Produktion. Mit anderen Worten: Die ganze Gesellschaft lebt in Abhängigkeit von der Fabrik, und die Fabrik dehnt ihre Herrschaft auf die ganze Gesellschaft aus.“24 Gegen die Interpretation, dass die Ausweitung des tertiären Sektors eine Schwächung der Arbeiterklasse bedeute, argumentierte Tronti, dass mit der Verallgemeinerung der Lohnabhängigen eine immer größere Zahl von Menschen proletarisiert werde, was den Antagonismus nur vergrößere, statt ihn zu verringern. Obwohl Operai e Capitale zu einer Pflichtlektüre für 68er Militante geworden ist, ist es merkwürdig, dass der Autor dieses Buches nie aus der KPI ausgetreten ist und bis heute Mitglied der postkommunistischen PDS ist. Mehr noch: Vor kurzem erklärte Tronti, dass die linke Interpretation seines Buches das Ergebnis eines Irrtums gewesen sei. „Ich war nie ein Spontaneist. Ich war immer der Meinung, dass das politische Bewusstsein von außen kommen muss.“25

Unabhängig von den Ansichten, die Tronti heute vertritt, ist es jedoch offensichtlich, dass er und die Operaisten in den 1960er Jahren eine Front gegen die national-populäre Tradition der italienischen Linken eröffneten, die nicht nur die Politik, sondern auch die Kultur (Philosophie, Literatur, Film und Geisteswissenschaften) umfasste, und dass sie eine erste Antwort auf die Theorien der „totalen Herrschaft“ gaben, die von allen, auch von der kritischen Linken, akzeptiert wurden. Was in Operai e Capitale am aktuellsten erscheint, ist sicherlich die Kritik am technisch-produktivistischen Logos, sowohl am marxistischen als auch am liberalen, und an der – bereits bei Panzieri vorhandenen – Idee, dass das Wissen mit dem Kampf verbunden ist, dass es nicht neutral, sondern parteilich ist.26

Trontis Buch bleibt ein ernsthafter Versuch, den Marxismus zu erneuern, auch wenn er zu nichts geführt hat27. Sein „Subjektivismus“ war Ausdruck einer Rebellion gegen den Objektivismus des Vulgärmarxismus, einschließlich der Frankfurter Schule, wenn man von Marcuse absieht. Tronti erkannte das „Projekt“ des Kapitals, die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zu kontrollieren, aber im Gegensatz zu Adorno interpretierte er es als eine Strategie, um den Arbeiterprotest einzudämmen28. Dieser Subjektivismus war gleichzeitig die Quelle vieler Irrtümer, von denen der schwerwiegendste darin bestand, dass er davon ausging, dass die Logik der kapitalistischen Entwicklung nicht auf der Extraktion von Profit, sondern auf der Kampfkraft der Arbeiter beruhte. Ein solcher Ansatz entfernte ihn von Panzieri und dem frühen Operaismus, der Kapital und Arbeiterklasse als zwei antagonistische, gleichermaßen „objektive“ Realitäten begriff. Panzieri beging zudem nicht den Fehler, zu glauben, dass Lohnerhöhungen einen Systembruch herbeiführen könnten29.

Ohne um jeden Preis einen „wahren“ Marxismus beanspruchen zu wollen, scheint es offensichtlich, dass Trontis Ansatz auf einer partiellen Lektüre von Marx und, mehr noch, auf einer groben Vereinfachung der Realität beruht. Es ist zwar richtig, dass Marx schrieb, dass der Klassenkampf der Motor der Geschichte ist, aber seine Analyse konzentriert sich auf die soziale Beziehung zwischen zwei widersprüchlichen Polen: auf der einen Seite das Kapital als gesellschaftliche Macht, „tote“ Arbeit, reine Objektivität, Weltgeist, und auf der anderen Seite die „lebendige“ Arbeit, die Arbeiterklasse, die Teil und Grundlage der Beziehung ist, aber gleichzeitig ihre Negation begründet. Der Ursprung des Widerspruchs liegt in der Doppelnatur der Arbeiterarbeit, die sowohl abstrakte Arbeit, die Mehrwert produziert, als auch konkrete Arbeit, die Gebrauchswerte produziert, ist. Das Problem – so fügte er hinzu – besteht darin, dass „der Wert nicht auf seiner Stirn eingeschrieben trägt, was er ist“30. Marx zufolge können die Antinomien zwischen „Subjektivismus“ und „Objektivismus“ nicht in der Theorie, sondern in der Praxis gelöst werden31, da nur die Schaffung einer neuen Produktionsweise – die berühmte Negation der Negation oder Enteignung der Expropriateure – dies bewirken kann.

Bei Tronti hingegen gibt es sehr wohl eine Hypostasierung des subjektiven Pols: „das Kapital als Funktion der Arbeiterklasse“32. Dies führte dazu, dass er die Arbeiterklasse zur ontologischen Grundlage der Realität machte. Subjektivität war nicht mehr die konkrete Kraft bewusster Individuen, die sich organisieren, um die Welt zu verändern, sondern – für Tronti – eine einfache hermeneutische Kategorie für das Verständnis des Kapitalismus. Was das Negative betrifft, so hatte es sich in Rauch aufgelöst.

Es sollte erwähnt werden, dass fast vierzig Jahre später das gleiche Schema in Empire ständig am Werk ist. Hier wird der extreme Subjektivismus, das Lesen der Geschichte aus der „Arbeiter-Macht“ heraus, zum reinen Delirium: „Von der Manufaktur bis zur Großindustrie, vom Finanzkapital bis zur transnationalen Umstrukturierung und der Globalisierung des Marktes sind es immer die Initiativen der organisierten Arbeiterschaft, die die Konfigurationen der kapitalistischen Entwicklung bestimmen.“ Oder: „Damit kommen wir zu dem heiklen Übergang, durch den die Subjektivität des Klassenkampfes den Imperialismus in ein Empire verwandelt.“ Deshalb ist es notwendig, „den globalen Charakter des proletarischen Klassenkampfes und seine Fähigkeit zu verstehen, die Entwicklungen des Kapitals hin zur Verwirklichung des Weltmarktes vorwegzunehmen und zu präfigurieren“33. In dieser und vielen ähnlichen Passagen verblasst die Arbeiter-Kapital-Dialektik – diese „Grammatik der Revolution“, wie Alexander Herzen es so schön formulierte – in der Apologie einer widerspruchsfreien Gegenwart.

Wenn die Arbeiter schon jetzt so stark und mächtig sind, warum sollten sie dann die Revolution machen?

BRÜCHE

Die Hauptfunktion von Classe Operaia bestand wahrscheinlich darin, die verschiedenen lokalen Gruppen, die sich an verschiedenen Orten des Landes mit der Arbeiterfrage befassten, zusammenzubringen. Die Gruppe hatte jedoch nur ein kurzes Leben, da sie 1966 sabotiert wurde34. Und warum? Bei einem Treffen in Florenz gegen Ende 1966 stellten Tronti, Asor Rosa und Negri selbst die Frage nach der Dringlichkeit einer politischen Wende. Das zentrale Thema war die Beziehung zwischen Klasse und Partei: Die Klasse verkörperte die Strategie und die Partei die Taktik. Es gab jedoch ein Problem: Während erstere sich der vor ihr liegenden Abrissarbeit sehr bewusst war, war letztere dabei, die Orientierung zu verlieren. Anstatt Öl in das Feuer der Arbeiterproteste zu gießen, musste man unter diesen Umständen in den Gewerkschaften/Syndikate und vor allem in der KPI Entrismus betreiben. Die Idee war, eine Art Arbeiterführung zu bilden, um sie als „Keil“ (so der Ausdruck) in die Partei zu bringen und dadurch das innere Gleichgewicht der Partei zu verändern35.

Es muss erwähnt werden, dass der Operaismus bis dahin ein kollektives Laboratorium gewesen war, eine Art informelles Netzwerk von Intellektuellen, Gewerkschaftern/Syndikalisten, Studenten und Revolutionären verschiedener Richtungen, die alle eine antibürokratische Sensibilität und die Entdeckung einer neuen Welt der kämpfenden Arbeiter gemeinsam hatten. Mit Ausnahme von Tronti hatte sich niemand offen mit der Frage des Leninismus auseinandergesetzt. Man akzeptierte den Lenin, der die Konvergenz von Ökonomie, politischer Krise und der Tendenz der Arbeiter zur Autonomie verstanden hatte, aber die Frage der Partei wurde nicht angegangen.

Eine libertäre Minderheit, die von Gianfranco Faina, Ricardo d’Este und anderen Militanten aus Genua und Turin gebildet wurde, akzeptierte diese Entscheidung für den Entrismus nicht. Der Operaismus, wie sie ihn verstanden, basierte auf der Idee, dass sich subversive Kräfte außerhalb der Logik der offiziellen Parteien und Gewerkschaften/Syndikate zusammenfinden. Sie fanden ihre Inspiration im Rätekommunismus36, bei den spanischen Anarchisten und bei Amadeo Bordiga37. In den folgenden Jahren teilten sie die libertären Positionen der Gruppe Socialisme ou Barbarie und der Situationistischen Internationale und brachen endgültig mit allen Ansprüchen, die Bewegung zu „führen“38. Eine andere Tendenz, die von Sergio Bologna angeführt wurde, versuchte, am ursprünglichen Operaismus festzuhalten, indem sie zu ihrer mühvollen Kleinarbeit bei Fiat und in einigen Fabriken in der Lombardei zurückkehrte39. So kam es nicht zu der angekündigten Wende und Tronti musste zugeben, dass es nicht gelungen war, „den tugendhaften Kreislauf von Kampf, Organisation [nicht Selbstorganisation, Anm. d. Ü.] und Besitz des politischen Terrains zu verwirklichen“40.

Zur gleichen Zeit erschwerten wichtige Ereignisse den Plan, die KPI zum Operaismus zu bekehren41. 1968 begann die soziale Temperatur in Italien auf ein besorgniserregendes Niveau zu steigen. Neue und immer intensivere kulturelle Fermente begannen sich auszubreiten. Die nationalen Probleme vermischten sich mit der internationalen Situation der späten 1960er Jahre (Proteste gegen den Vietnamkrieg, Black Panthers usw.) und leiteten eine Zeit großer Veränderungen ein. Die ersten, die sich in Bewegung setzten, waren die Studenten, die die wichtigsten Universitäten des Landes besetzten: Trient, Mailand, Turin und Rom. Sie begannen damit, den Autoritarismus der Universitäten in Frage zu stellen, und endeten mit Kritik am Kapitalismus, am Staat, am Vaterland, an der Religion, an der Familie etc. Sie zeigten eine besondere Verachtung für die linken Parteien, die sie beschuldigten, zu einem fundamentalen Zahnrad des Regimes geworden zu sein. Ende 1968 und vor allem 1969, als sich die Proteste der Arbeiter verschärften, geriet das System in eine Krise. Der große soziale Bruch, der anderswo in wenigen Monaten verpufft war, erstreckte sich in Italien über fast zehn Jahre, und darin liegt zweifellos die Einzigartigkeit dieser Bewegung. Es versteht sich von selbst, dass diese Explosion der Radikalität die kühnsten operaistischen Hypothesen legitimierte. Die „Strategie der Verweigerung“ war im Begriff, sich zu verwirklichen. Tronti sagte jedoch, dass dies nicht die Geburt einer neuen Epoche sei, sondern vielmehr der letzte und verzweifeltste Ausbruch eines Zyklus von Kämpfen, der sich seinem Ende näherte.

Heute kann man in diesem Pessimismus unbestreitbare Wahrheiten erkennen, aber damals schien alles noch in der Schwebe zu sein. Plötzlich verlieh Tronti dem Staat Attribute, die alles, was er bis dahin geschrieben hatte, negierten. Es gibt keine „Autonomie, keine Selbstversorgung, keine Selbstreproduktion der Krise außerhalb des Systems der politischen Vermittlung der sozialen Widersprüche“ mehr, präzisierte er. In eine klarere Sprache übersetzt bedeutete dies, dass der ökonomische Kampf nicht mehr politisch sein konnte und dass die Arbeiterklasse, die bis dahin als antagonistische Kraft betrachtet worden war, zur einzigen Rationalität des modernen Staates“42 wurde. In Wirklichkeit war die Utopie in Trontis Augen am Ende, und das wollte er mit dem Begriff der „Autonomie der Politik“ ausdrücken, einer Ideologie, die ein kurzes Leben hatte, obwohl sie die Entwicklung eines Teils der Operaisten – des Literaturkritikers Alberto Asor Rosa oder des jungen Germanisten Massimo Cacciari – hin zum Akademismus und zur KPI begleitete, wo sie als reuige Reueempfänger aufgenommen wurden. Der Glaube an die Existenz einer „reinen“ politischen Sphäre innerhalb des Staates diente anderen als Rechtfertigung, um einen langen Marsch durch die Institutionen anzutreten.

Innerhalb der KPI gab es eine (kurze) Debatte darüber, ob man den Tiger der Bewegung reiten sollte, aber am Ende setzten sich die konservativsten Positionen durch, so dass die Manifesto-Gruppe (Rossanda, Pintor, Magri) ausgeschlossen wurde. So endete auf wenig ruhmreiche Weise der Weg eines Sektors der „autonomen Marxisten“. Die Mehrheit der anderen, darunter Antonio Negri, sah in der neuen Situation die Möglichkeit, eine revolutionäre Politik außerhalb und sogar gegen die linken Parteien zu betreiben. 1969 gab es eine Vielzahl von linksextremen Gruppen und Grüppchen, die alle das Ziel verfolgten, die bolschewistische Strategie – in ihren verschiedenen Versionen: leninistisch, trotzkistisch, stalinistisch und maoistisch – in Italien nachzuahmen, indem sie eine reine und harte Partei gründeten, die die Macht übernehmen sollte. Die Operaisten gründeten Potere Operaio und Lotta Continua, die sich ebenfalls im Umfeld des Marxismus-Leninismus bewegten, obwohl sie keine besondere Sympathie für das sowjetische oder – zugegebenermaßen – das chinesische Modell zeigten.

Während das Projekt unwirklich war, waren die Konflikte echt, und als die subversiven Gruppen an Boden gewannen, wurde der Staat immer aggressiver. Das Ende war die „Strategie der Spannung“, eine Reihe von Anschlägen und Morden, die der italienische Geheimdienst zwischen 1969 und 1980 mit der Komplizenschaft der jeweiligen Regierungen verübte. Es besteht in der Tat nicht der geringste Zweifel daran – und es gibt Dutzende von Dokumenten, die dies belegen -, dass der Terrorismus in Italien zunächst eine Domäne des Staates selbst und nicht der linksextremen Bewegungen war43.

Da die Geschichte dieser tragischen Ereignisse außerhalb der Ziele dieser Studie liegt44, möchte ich hier nur auf die folgenden drei Punkte hinweisen: 1) Indem die KPI 1974 die Strategie des historischen Kompromisses annahm – die für die Kommunisten darauf abzielte, durch ein strategisches Bündnis mit den Christdemokraten in die Regierung einzutreten -, rückte sie noch weiter nach rechts und trug damit zur Legitimierung der Kriminalisierung jeglicher abweichender Meinung bei ; 2) diese Entwicklung sowie die staatlichen Massaker überzeugten schließlich eine große Zahl von Militanten davon, dass der einzig gangbare Weg der militärische sei und dass eine vertikal strukturierte, hierarchische und klandestine Partei notwendig sei; 3) der bewaffnete Kampf war ein Fehler mit unkalkulierbaren Folgen, der die Bewegung in eine blutige – und zum Scheitern verurteilte – Konfrontation mit dem Staat führte.

DIE MISSGESCHICKE DES SOZIALEN ARBEITERS

Vor diesem Hintergrund müssen wir das Denken desjenigen analysieren, der die Nachfolge des Operaismus antrat: Antonio Negri. Er hat seinen Werdegang oft selbst erzählt. Er stammte aus einer einfachen Familie und studierte an der Universität Padua, wo er über den deutschen Historismus promovierte, bevor er seine Studien in Deutschland und Frankreich ausdehnte. Er verfolgte eine erfolgreiche akademische Karriere und veröffentlichte etwa 20 Bücher sowie eine beeindruckende Anzahl von Artikeln in Zeitschriften auf der ganzen Welt. Ab Ende der 1950er Jahre und neben seiner Lehrtätigkeit engagierte er sich politisch, zunächst in katholischen Sektoren, dann in der Sozialistischen Partei und schließlich in der Bewegung der Operaisten45.

In der ersten Phase bis hin zu Classe Operaia war Negris Beitrag nicht entscheidend, aber mit der Gründung von Potere Operaio wurde er zum entscheidenden Faktor. Die Gruppe entstand im Sommer 1969 vor dem Hintergrund einer Krise der Studentenbewegung, deren Ursache aus marxistisch-leninistischer Sicht darin bestand, dass die Studentenrevolten nur dann einen Sinn hatten, wenn sie einer „Arbeiterhegemonie“, d.h. der Linie der Organisation, untergeordnet waren. In diesem Sinne war es dringend notwendig, eine politische Führung aufzubauen, die sie in diese Richtung lenken konnte. Negri impulsierte die Idee, eine zentralisierte, „unterteilte“ und vertikale Partei aufzubauen. „Unsere Analyse stützt sich auf die Werke der Klassiker, Marx, Lenin und Mao. In unserer Organisation gibt es keinen Platz für Stimmungen oder Wünschen“, schrieb er in einem Text, der kaum „autonomistische“ Interpretationen zulässt46.

Im Gegensatz zu Lotta Continua (LC), einer eher aktivistischen Gruppe, legte Potere Operaio (PO) Wert auf die theoretische Entwicklung, die sich um eine extremistische Interpretation des ursprünglichen Operaismus drehte. Die Subjektivität lag nicht mehr in der Klasse, sondern in der kommunistischen Avantgarde, d.h. in der PO-Gruppe. Daher war es angebracht, die spontanen Antagonismen zu zentralisieren und zu radikalisieren, um sie in eine aufständische Aktion gegen den Staat umzuwandeln. Wieder einmal scheiterte dieser Versuch. Der Anfang der 1970er Jahre begonnene Zyklus von Kämpfen trat in seine schwächste Phase ein, und einer seiner letzten Ausdrucksformen war die Besetzung des Fiat-Werks Mirafiori (in Turin), die im März 1973 die Zeit der großen Auseinandersetzungen zwischen Arbeitern und Kapital beendete. Eines der Vermächtnisse dieses Kampfes war das Statut der Arbeiter, eine Reihe von günstigen Bestimmungen für die Arbeitswelt, die heute zu einer leeren Hülle geworden sind.

Während des späten Jahrzehnts hielten die sozialen Konflikte an, aber ihr Gravitationszentrum lag nicht mehr in den Fabriken. Während die wichtigsten außerparlamentarischen Gruppierungen in eine Krise gerieten (PO löste sich 1973 auf und LC 1976), entstand eine Konstellation von kleinen Gruppen unter dem Motto „Lasst uns die Stadt erobern“. Einige dieser Gruppen nannten sich „Großstadtindianer“ oder „Jugendproletariat“. Sie besetzten Gebäude, bildeten soziale Zentren, gründeten Zeitschriften, brachten alternative Kommunikationsprojekte auf den Weg und gründeten feministische und ökologische Vereinigungen.

Mit einer militanten Basis sowohl in den Fabriken als auch in den Stadtvierteln begannen diese Gruppen, sich von den alten Vorstellungen einer separaten Partei und des leninistischen Dirigismus zu verabschieden und nach Alternativen in der Organisation von Räumen der Koexistenz und des sozialen Austauschs zu suchen, die von der herrschenden Legalität autonom waren. Um ihre politische Unabhängigkeit hervorzuheben, verwendeten sie Kürzel, in denen das Wort „autonom“ vorkam – z. B. „Autonome Proletarier“ oder „Autonome Vollversammlung“ -, so dass sie allmählich als „Zone der Arbeiterautonomie“47 identifiziert wurden.

Negri interpretierte die neue Phase mit einem militanten Triumphalismus, der das extreme Gegenteil von Trontis Pessimismus (und seiner „Autonomie des Politischen“) war. Für ihn gab es kein Zurück mehr: Die Ablehnung der tayloristischen Arbeit hatte die Mauern, die die Fabrik vom Territorium trennten, niedergerissen. Der gesamte soziale Prozess wurde nun für die kapitalistische Produktion mobilisiert, was die Bedeutung der produktiven Arbeit erhöhte. In dieser neuen Situation verließ der Massenarbeiter die Fabrik, um sich in das Territorium, die diffuse Fabrik, zu bewegen und zum sozialen Arbeiter zu werden, dem neuen Subjekt, dessen Zentralität unser Autor zu verkünden begann. Techniker, Studenten, Lehrer, Arbeiter, Emigranten und Hausbesetzer landeten alle im selben Sack, ohne dass Negri ihren Unterschieden, Besonderheiten und Widersprüchen auch nur die geringste Aufmerksamkeit schenkte.

In seinem Bemühen, die Marxschen Kategorien umzukehren (italienisch: rovesciare), führte er die Kategorie der Selbstverwertung in seine Analyse ein (dieselbe Kategorie, die ein Vierteljahrhundert später ohne weitere Erklärungen in Empire wieder auftauchen sollte)48. Worum handelt es sich dabei? Während die kapitalistische Verwertung auf dem Tauschwert beruht, soll die Selbstverwertung – der Dreh- und Angelpunkt von Negris Theoriegebäude – auf dem Gebrauchswert und den neuen Bedürfnissen der Proletarier beruhen. Durch die Verallgemeinerung der Selbstverwertungspraktiken auf dem gesamten Territorium – der diffusen Fabrik – sollte der soziale Arbeiter von nun an für den „garantierten Lohn“ kämpfen.

Von da an verlagerte sich bei Negri der Kern des Konflikts (und damit auch der Analyse) auf den Staat. Er war der Meinung, dass der keynesianische Staat – den er Planstaat nannte – die Errungenschaften der Oktoberrevolution in das Herz der kapitalistischen Entwicklung eingeschrieben hatte, indem er die „Arbeitermacht“ in eine „unabhängige Variable“ verwandelte. Für ihn fand der Hauptkampf nun auf dem Gebiet der Selbstverwertung statt, und da es keine Reproduktion des Kapitals außerhalb des Staates mehr gab, hörte die „Zivilgesellschaft“ auf zu existieren und ließ zwei große Gegner allein, die sich gegenüberstanden: die Proletarier und den Staat49.

Trotz ihrer scheinbaren Schlüssigkeit ging diese Argumentation von einer falschen Interpretation des marxistischen Wertbegriffs aus. Für Negri drückte der Gebrauchswert die Radikalität der Arbeiter, ihre subjektive Potentialität, als antagonistisch zum Tauschwert aus. Er war gewissermaßen die „gute“ Seite der Beziehung. Doch wenn man den Standpunkt der Kritik der politischen Ökonomie einnimmt, ergibt ein solcher Ansatz keinen Sinn, denn wie Marx im ersten Kapitel von Band I des Kapitals erklärte, ist der Gebrauchswert keineswegs eine moralische Kategorie, sondern die materielle Grundlage des kapitalistischen Reichtums, die Bedingung für seine Akkumulation.

Wenn sich die Gebrauchswerte zu irgendeinem Zeitpunkt des Zirkulationsprozesses nicht in Tauschwerte verwandeln, hören sie auf, Werte zu sein, und in diesem Sinne begrenzen und bedingen sie den Verwertungsprozess.

Eine von Negris Quellen war Agnes Heller, eine der bekanntesten Exponentinnen der Budapester Schule, die das Konzept der radikalen Bedürfnisse in den Mittelpunkt ihrer Auseinandersetzung mit Marx gestellt hatte. Sie hütete sich jedoch davor, in eine Apologie der unmittelbaren Bedürfnisse zu verfallen. „Das ökonomische Bedürfnis“, schrieb sie, „ist ein Ausdruck der kapitalistischen Entfremdung in einer Gesellschaft, in der der Zweck der Produktion nicht die Befriedigung der Bedürfnisse, sondern die Verwertung des Kapitals ist, in der das System der Bedürfnisse auf der Arbeitsteilung und der Nachfrage des Marktes beruht.“50 Negri hingegen vermied die Apologie nicht und entfernte sich damit vom kritischen Marxismus, wobei er vergaß, dass man eine entfremdete Welt nicht auf eine entfremdete Weise bekämpfen kann. Autonomie kann sich zudem nicht unter den unmittelbaren Bedingungen der Klasse ausdrücken. Unter der Herrschaft des Kapitals ist Autonomie ein Projekt, eine Tendenz oder, genauer gesagt, eine Spannung. Sie kann sich nur in Momenten des Bruchs, in entkolonialisierten Räumen, als praktische Realität konstituieren. Wenn diese praktische Realität sozialisiert wird, dann kommen die großen Momente der Krise der Verwaltung, wie in Frankreich 1968 oder in Italien 1977. Im Gegensatz zu Negri ist der Kommunismus nicht das „dynamische konstitutive Element des Kapitalismus“51, sondern eine andere Gesellschaft ohne antagonistische Klassengegensätze, ohne Staatsmacht und ohne merkantilen Fetischismus.

Was ist mit der Partei? „In meinem revolutionären Bewusstsein und meiner revolutionären Praxis kann ich dieses Problem nicht ignorieren“, schrieb der Mann, der sich selbst als der italienische Lenin sah, und erklärte, dass es „dringend notwendig sei, die Debatte über die kommunistische Diktatur zu beginnen“52. Die Partei blieb in der Tat eine ungelöste Aufgabe, obwohl sie bereits in Ansätzen existierte, zusammen mit der Organisierten Autonomie (mit Großbuchstaben, um sie von der anderen Autonomie zu unterscheiden), d.h. der Gesamtheit der halbklandestinen Organisationen und ihrer militarisierten Ordnungsdienste, die, angetrieben durch die staatliche Repression, den Klassenkampf mit der Absicht praktizierten, den Antagonismus der Massen in Erwartung des Endkampfes zu „filtern“ und neu „zusammenzusetzen“.53

Das Ergebnis war katastrophal. Der Traum von der Machtergreifung scheiterte schnell an den Klippen der Realität. Ab 1977, der letzten großen kreativen Saison des „Italien-Labors“, bildete die KP eine Einheitsfront mit den herrschenden Christdemokraten. Die Repression trat in eine neue Phase ein und zerschlug alles, was jenseits der parlamentarischen Linken lag, und hob den Unterschied zwischen Terrorismus und sozialem Protest auf.

Jeder für sich und oft in Konkurrenz zueinander setzten die Organisierte Autonomie – oder vielmehr einige ihrer Organisationen54 – und die neostalinistischen Roten Brigaden ihren absurden Angriff auf das „Herz des Staates“ (als ob der Staat ein Herz hätte!) fort und rissen das reiche und komplexe Gewebe der Autonomie mit einem kleinen „a“55 mit in den Ruin.

Noch 1978, anlässlich der Hinrichtung von Aldo Moro durch die Roten Brigaden (einer der schlimmsten Fehler mit den meisten negativen Folgen, die je von einer revolutionären Gruppe begangen wurden), konnte Negri, obwohl er seine Ablehnung zum Ausdruck brachte, schreiben, dass die positive Seite der Aktion darin bestand, dass sie der Bewegung die „Frage der Partei“ auferlegt hatte56. Am 7. April 1979 endete die Halluzination auf tragische Weise, als Negri und Dutzende von Militanten der Autonomie unter der (falschen) Anschuldigung, Ideologen der Roten Brigaden zu sein, inhaftiert wurden. Sie sollten zwischen zwei und sieben Jahren im Gefängnis verbringen, von der Kleingeistigkeit der Machthaber als würdige Opfer bezeichnet, die auf dem Altar des sozialen Friedens geopfert werden sollten57. 1980 markierte der letzte Versuch, die Mirafiori-Fabrik zu besetzen, das symbolische Ende eines langen Zyklus sozialer Konflikte, in dem – einzigartig in der europäischen Geschichte – die Kämpfe der Arbeiter und Studenten sowie die Bewegungen für die Neuerfindung des Lebens sich gemeinsam in einem gewaltigen Versuch der kollektiven Befreiung entwickelt hatten58.

DIE HELDENTATEN DER MULTITUDE

In den folgenden zwei Jahrzehnten gab Negri die Gewohnheit, soziale Bewegungen als Verifizierung seiner Thesen zu lesen, nicht auf und schrieb zahlreiche (und kryptische) Bücher, ohne jemals auch nur den Hauch einer Selbstkritik zu skizzieren.

Von Foucault, Deleuze und Guattari hat unser Autor eine starke Abneigung gegen die Dialektik geerbt59. Bereits in seiner Studie über die Grundrisse, die das Ergebnis eines Seminars in Paris war, schrieb er, dass „der methodische Horizont von Marx sich niemals auf den Begriff der Totalität konzentriert“. Stattdessen ist er „durch die materialistische Diskontinuität der realen Prozesse gekennzeichnet“, so dass der Materialismus die Dialektik sich selbst unterordnet60.

Negri sieht die kapitalistische Gesellschaft als ein Feld von Kräften, die sich in einem ständigen Kampf befinden. Im Unterschied zu den französischen Poststrukturalisten glaubt er jedoch, dass die treibende Kraft hinter den sozialen Prozessen die Trennung oder, anders ausgedrückt, der soziale Antagonismus ist. Es ist die Aufgabe der Reflexion, den entscheidenden Antagonismus zu identifizieren, seine Tendenzen zu erforschen und ihn zur Explosion zu bringen. Unmittelbar danach bewegt sich die Analyse zu einem neuen Feld, definiert es neu und so weiter61. Das Kapital wird nicht mehr als prozessierender Widerspruch (Marx), sondern als progressive Affirmation eines im Voraus bekannten Subjekts begriffen.

In Spinoza, die wilde Anomalie, das Negri im Gefängnis schrieb, präzisierte er nach und nach sein Projekt: an der materiellen Konstitution der radikalen Subjektivität im Westen zu arbeiten, indem er die Kluft zwischen den Philosophien der Macht und denen der Subversion aufreißt. Um Spinoza herum sah er eine „anomale“ Tradition sich verdichten, die die Produktivität des Subjekts bejaht und von Machiavelli bis Marx reicht, gegen die Achse, die durch die Triade Hobbes-Rousseau-Hegel verkörpert wird62. Negri fand in Spinoza eine vorweggenommene Kritik der Hegelschen Dialektik und die Geburt des revolutionären Materialismus. So dass Negri der stalinistischen Erfindung des Diamat einen neuen ontologischen Horizont entgegenstellt, der sich auf die spinozistische Kategorie der Macht stützt. Dieser Ansatz ignoriert die Kritik am sowjetischen Marxismus, die fünfzig Jahre zuvor von linken Kommunisten geäußert wurde, nämlich dass der Marxsche Materialismus weder eine Philosophie noch eine Ökonomie ist, sondern die revolutionäre Theorie des kämpfenden Proletariats. Die dialektische Bewegung war für die Linksradikalen nie Ausdruck eines universellen Geschichtsgesetzes und schon gar nicht einer Wissenschaft, sondern „der spezifischen Logik eines spezifischen Objekts“, des Kapitalismus, eines undurchsichtigen Gesellschaftssystems, das auf Fetischismus“63 beruht.

In seinem Buch über Spinoza taucht bei Negri zum ersten Mal der Begriff der Multitude auf, mit anderen Worten, das neue globale Subjekt, das nach und nach den sozialen Arbeiter verdrängen und ihn fast zwanzig Jahre später in den unbestreitbaren Helden des Empire verwandeln wird64. Woher kommt diese mit großem Getöse angekündigte Multitude65? An der Schwelle zur Moderne nannten Hobbes und die Philosophen der Souveränität die Gesamtheit der Menschen so, bevor sie zum Volk wurde66. Die Menge war für sie jedoch etwas rein Negatives, das sich auf eine undifferenzierte und wilde menschliche Gesamtheit bezog, die noch nicht in einem Staat organisiert war. Negri kehrt das Konzept um und nimmt es als unverzichtbare Grundlage für eine radikale Demokratie67. Die zeitgenössische Multitude wäre die Form der sozialen und politischen Existenz der „Mehreren“, des „offenen Ensembles“, das sich als Alternative zur Konstellation Volk-Generalwille-Staat aufbaut.

Während das Volk zu Identität und Homogenität tendiert, erklärt Negri, würde die Multitude auf jenes Jenseits der Nation verweisen, das angesichts der Krise des Staates das pluralistische Subjekt einer neuen, offenen, einschließenden und postmodernen verfassungsgebenden Gewalt wäre68.

Hier stellt sich eine Frage: Wie geht unser Autor das Problem des Sprungs vom 17. Jahrhundert in die Gegenwart an? Und, konkreter, wie kommt man vom sozialen Arbeiter zur Multitude? Negri stellt sich diese Frage nicht. Stattdessen versucht er, seinem neuen Werk soziologische Substanz und Tiefe zu verleihen, indem er sich einerseits auf Marx und andererseits auf die umfangreiche Literatur stützt, die mit der Computerrevolution einhergeht.

Mit der Krise des Fordismus, so Negri, verlor die industrielle Arbeiterklasse ihre zentrale Position in der Gesellschaft. Ein beträchtlicher Teil der Arbeitskräfte ist heute mit immaterieller Arbeit beschäftigt, d.h. mit Tätigkeiten, die sich mit der Handhabung von Zeichen, technisch-wissenschaftlichem Wissen, Nachrichten und Kommunikationsflüssen befassen69. Nach und nach, so Negri, tendiert das Element des akkumulierten menschlichen Wissens dazu, die Oberhand zu gewinnen.

Es gibt nichts gegen diese Behauptungen einzuwenden, die sich auf das berühmte Maschinenfragment der Grundrisse stützen, wo Marx feststellt, dass mit der Entwicklung der Großindustrie die Schaffung von Reichtum „selbst wieder in keinem Verhältnis steht zur unmittelbaren Arbeitszeit, die ihre Produktion kostet, sondern vielmehr abhängt vom aügemeinen Stand der Wissenschaft und dem Fortschritt der Technologie, oder der Anwendung dieser Wissenschaft auf die Produktion.“70 Marx fügte hinzu: „Sobald die Arbeit in ihrer unmittelbaren Form aufhört, die Hauptquelle des Reichtums zu sein, hört die Arbeitszeit auf, ihr Maß zu sein, und muss aufhören, es zu sein; folglich hört der Tauschwert auf, das Maß des Gebrauchswerts zu sein. Die Mehrarbeit der Masse hat aufgehört, die Bedingung für die Entwicklung des gesellschaftlichen Reichtums zu sein, so wie die Nicht-Arbeit einiger weniger aufgehört hat, die Bedingung für die Entwicklung der allgemeinen Kräfte des menschlichen Insekts zu sein. Auf diese Weise bricht die auf dem Tauschwert beruhende Produktion zusammen, und der unmittelbare Produktionsprozess verliert seine Form des dringenden Bedarfs und seinen antagonistischen Charakter.“71 Es ist gut, darauf hinzuweisen, dass diese oft zitierten und unbestreitbar visionären Sätze von Marx dennoch etwas unklar sind. Sie sind es deshalb, weil die Bedeutung der Aussage „Produktion auf der Grundlage des Tauschwerts“ nicht ganz klar ist. Bedeutet dies, dass der Kapitalismus von seiner eigenen Entwicklung überholt wurde und sich seinem Ende nähert? Oder dass der Antagonismus zwischen Arbeitern und Kapital endlich gelöst ist? Ich persönlich glaube das nicht, aber die Frage bleibt offen. Was den visionären Aspekt dieser Passage betrifft, so ist er unbestreitbar. Diese Sätze geben uns anregende Schlüssel, um die heutige Zeit und insbesondere die Bedeutung der Computerrevolution zu lesen.

Marx fährt fort: Die Produkte der Industrie werden nun zu „Organen des menschlichen Gehirns, die von menschlicher Hand geschaffen wurden: eine objektivierte Kraft des Wissens“. Die Entwicklung des fixen Kapitals enthüllt, wie weit das allgemeine gesellschaftliche Wissen oder knowledge zu einer unmittelbaren Produktivkraft geworden ist und folglich, wie weit die Widersprüche des gesellschaftlichen Lebensprozesses selbst unter die Kontrolle des general intellect gekommen sind und in Bezug auf diesen umgestaltet (wurden)“72. Aus dieser Passage von Marx lässt sich ableiten, dass die Widersprüche der verarbeitenden Produktion auf die Sphäre der „immateriellen“ Arbeit ausgedehnt werden. Negri hat daher Recht, wenn er behauptet, dass sich in einer solchen Situation das Problem des revolutionären Subjekts anders stellt. Sobald die Zentralität der Fabrik überwunden ist, vervielfältigen sich die möglichen antagonistischen Subjekte, während gleichzeitig jede Idee von Notwendigkeit“ wegfällt. Aber warum dann eine einzige Kategorie vorschlagen, die Multitude, die zwangsläufig jeden Unterschied aufhebt?

Es gibt noch mehr. In einer einseitigen Interpretation der Aussagen von Marx scheint Negri zu argumentieren, dass der Kapitalismus als Produktionsweise bereits ausgestorben ist und nur als reine Herrschaft oder „Kontrollvorrichtung“ überlebt73. Und als ob das nicht genug wäre, schielt er auf alle technologischen Utopien, vom „Ende der Arbeit“ bis hin zu den Mythen der postindustriellen Gesellschaft und den Anthropologien des Cyberspace. „Im Ausdruck ihrer eigenen kreativen Energie scheint die immaterielle Arbeit somit das Potenzial für eine Art spontanen und elementaren Kommunismus bereitzustellen.“74 In Negris Interpretation entspringt der Kommunismus nicht mehr aus dem Antagonismus oder der kollektiven Ablehnung der kapitalistischen Kooperation, sondern im Gegenteil aus ihrer größeren Ausdehnung durch Wissenschaft und Technik. Er unterstützt die ältesten neoliberalen Ursachen: den neuen Föderalismus, die Europäische Union und sogar die „sozialisierten Unternehmer“ (italienisch: imprenditorialità comune) in Venetien, all diejenigen, die ihre Energie, ihre Intellektualität, ihre Arbeitskraft und ihre Erfindungskraft [ist das eine neue „marxistische“ Kategorie? Anm. d. Ü.] in den Dienst der Gemeinschaft gestellt haben“75. So schließt sich der Kreis: Negris Operaismus führt zu einer Apologie der Produktivkräfte, die derjenigen sehr ähnlich ist, die Panzieri rund 40 Jahre zuvor so treffend abgelehnt hatte. Und genau wie bei Tronti verschwindet jede Vorstellung von einer konkreten Autonomie, die auf der unabhängigen Aktion der kämpfenden sozialen Subjekte beruht, so dass die beiden Gegner von vor dreißig Jahren wieder zusammenkommen76.

Schließlich ist es zumindest komisch, dass Negri und Hardt am Ende ihres Buches den Heiligen Franziskus als paradigmatische Figur des neuen Militanten erwähnen77. In den heutigen sozialen Bewegungen wird ihm das Wort „Aktivist“ vorgezogen, das weniger furchterregend ist und mehr auf die direkte Aktion verweist. Die festlichen Aktionen von jungen (und weniger jungen) Menschen, die seit den Tagen von Seattle die Mächtigen der Erde um den Schlaf bringen, haben wenig mit „Militanz „ zu tun78. Was sie stattdessen unterstützt, ist ein spielerischer Wille, „die Perspektive umzukehren“, mit der traditionellen Politik Schluss zu machen und neue Formen der Gemeinschaft zu schaffen79.

Um auf das Thema des Konzepts der Multitude zurückzukommen und seine Wirksamkeit zu messen, ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Gesamtheit der Veränderungen, die der Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten erfahren hat, jedes Gravitationszentrum in den Anti-System-Kämpfen vollständig aufgelöst hat. Der Marxismus selbst ist nur noch eine von vielen Theorien, die neue Bewegungen benutzen können, um sich konzeptionell zu wappnen. Es gibt noch andere: Anarchismus, traditionelle Kosmovisionen, Befreiungstheologie, etc. Die Geschichte wird nicht mehr nur im Westen gemacht. Heute sind soziale Bewegungen per Definition pluralistisch.

Was haben die Ureinwohner von Chiapas und die Fiat-Arbeiter, die französischen Öko-Landwirte und die argentinischen Aufständischen, die Bauern von Karnakata und die Cyberpunks der postmodernen Metropolen gemeinsam? Zweifellos eine Menge, wie uns zum Beispiel Kommandant Mister von der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) erklärt: „Die Regierungen denken, dass wir Indianer die Welt nicht kennen. Nun, sie sollen wissen, dass wir sie kennen und dass wir von den Todesplänen wissen, die gegen die Menschheit geschmiedet werden, und auch von den Kämpfen der Völker für ihre Befreiung. Wir kennen die Welt und sogar Japan. Denn wir kennen all die Männer und Frauen, die in unsere Dörfer gekommen sind und uns von ihren Kämpfen, ihren Welten und all dem, was sie tun, erzählt haben. Durch ihre Worte sind wir gereist, haben mehr Land gesehen und kennengelernt als jeder Intellektuelle.“80 Es ist wichtig, diese Welt, die uns nicht gehört, so schnell wie möglich neu zu gestalten. Jedes Subjekt, jede Bewegung, jede Gemeinschaft im Kampf sucht die Begegnung mit dem Anderen und verlangt gleichzeitig, eine eigene Perspektive und Identität zu bewahren. Und das scheint mir ein großer Schritt nach vorn zu sein. Es ist kein Zufall, dass z. B. in den indigenen Bewegungen Mesoamerikas immer weniger von Interkulturalität und immer mehr von Multikulturalität gesprochen wird. Während das erste Konzept eine zwingende Synthese postuliert, bewahrt das zweite die Spannungen und Besonderheiten.

Es ist unbestritten, dass wir neue Konzepte brauchen, um diese Unterschiede hervorzuheben, und es ist richtig, dass Negri das Konzept des „Volkes“ kritisiert. Aber warum sollte man sie dann zerschlagen, indem man sie innerhalb einer drei Jahrhunderte alten philosophischen Abstraktion aufhebt? Wie ihr Vorgänger, der soziale Arbeiter, ist die Multitude ein erzwungenes Konzept. Am Ende seines Weges kommt Negri auf die Erbsünde des italienischen Operaismus zurück: die unaufhörliche Suche nach einer „Zentralität“, was immer das auch sein mag, der Fetischismus der produktiven Arbeit, die Unfähigkeit, über den Horizont der Fabrik hinauszugehen81. Das Ergebnis ist ein Subjekt ohne Geschichte, eine Form ohne Inhalt, die letzte Anpassung der alten Verdrehung, mit der die Arbeiterklasse nie aufhört, den Kapitalismus zu belästigen.

EPILOGUE. DAS ENDE DES STAATES-NATION?

Trotz seiner erklärten Abneigung gegen dialektisches Denken hat Negris theoretisches Konstrukt nie aufgehört, hegelianisch zu sein82. Sowohl in Empire als auch in seinen früheren Büchern findet man bei Negri immer unterschwellig die Idee einer notwendigen Theologie, einer zirkulären Bewegung und eines glücklichen Endes, die schon in den Anfängen vorhanden war. So wird uns beispielsweise mitgeteilt, dass die Revolutionen des 20. Jahrhunderts nie besiegt wurden, sondern dass sie „alle nach vorne drängten und die Bedingungen der Klassenkonflikte veränderten, indem sie die Voraussetzungen für eine neue politische Subjektivität schufen“83. Mit anderen Worten, sie bereiteten das Ereignis der letzten Realität unserer Zeit, des Empires, und seines notwendigen Feindes, der Multitude, vor. So wie sich der Weltgeist allmählich in der Geschichte manifestiert, indem er von einer Seite der Welt auf die andere springt, verkörpert sich die imperiale Epiphanie in bemerkenswerten Etappen und Figuren, die ihr zu jedem Zeitpunkt unverwechselbare Charaktere verleihen.

Das Epos beginnt in Spinozas Laden und eine seiner zentralen Episoden ist, wie es scheint, die amerikanische Verfassung, weil sie auf „Exodus, auf affirmativen, nicht dialektischen Werten und auf Pluralismus und Freiheit“84 beruht. Wir erleben hier die Rückkehr der alten operaistischen Verbundenheit mit den Vereinigten Staaten, die nun mit einigen (unglücklichen) Behauptungen von Hannah Arendt über die amerikanische Revolution gewürzt wird85.

Noam Chomsky, zweifellos einer der besten Analysten der Vereinigten Staaten, hat uns jedoch gelehrt, dass „die Verfassung dieses Landes nur eine Schöpfung ist, um den Pöbel an seinem Platz zu halten und zu verhindern, dass er, und sei es auch nur aus Versehen, auf die schlechte Idee kommen könnte, sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen“86. Im gleichen Sinne argumentiert Boron, dass das Dokument entgegen Negris Annahme ein klares Beispiel für das hohe Maß an volksfeindlichem und antidemokratischem Bewusstsein seiner Schöpfer ist. Sollte man also bei Negri und Hardt Einfallsreichtum, Opportunismus oder einen Sinn für Marketing sehen? Und gibt der Anarchist Chomsky dem Bolschewiken Antonio Negri am Ende nicht doch eine Lektion in Sachen Marxismus? Eine weitere neoliberale Fantasie, die von den Autoren von Empire unterstützt wird, ist die Behauptung, dass der Staat-Nation am Aussterben sei. Wir müssen zugeben, dass es zumindest amüsant ist, dass Negri – ein Bewunderer Lenins und außerdem ein alter Stratege der staatlichen Machtübernahme – heute einen solchen Unsinn aus dem Ärmel zieht87. Umso mehr, als unter den wenigen praktischen Vorschlägen des Empire der Soziallohn (eine Wiederbelebung des alten „garantierten Lohns“ von Potere Operaio) und die globale Staatsbürgerschaft zu finden sind. Mit anderen Worten: Bedingungslose Grundeinkommen und Papiere für alle, unabhängig von der Nationalität, der Klasse und der sozialen Stellung eines jeden Einzelnen. Ohne hier in die Diskussion über den politischen Sinn und die Zweckmäßigkeit solcher Forderungen einsteigen zu wollen, können wir dennoch auf ihren paradoxen Aspekt hinweisen: Wenn der Staat bereits nicht mehr existiert, an wen wenden sich dann Negri und Hardt?

Der Prozess der Entwicklung des Staates ist in Wirklichkeit sehr widersprüchlich. Auf der einen Seite hat die Privatisierungswelle seine Umverteilungsfunktionen und seine Glaubwürdigkeit ausgehöhlt, indem sie die öffentlichen Bereiche zugunsten des Privatsektors zerstört hat. Auf der anderen Seite war sie durch die Erhöhung des Konfliktniveaus gezwungen, ihre repressiven Funktionen zu verstärken. Deshalb haben wir es heute nicht mit den abgespeckten Staaten zu tun, von denen die von Negri unterstützten Neoliberalen sprechen, sondern vielmehr mit einer Art Kriegskeynesianismus, der die öffentlichen Ressourcen verschlingt, den Armen nimmt, um den Reichen zu geben, und zwar in einem nie zuvor erreichten Ausmaß88, und zu diesem Zweck wird ewig die Vogelscheuche des Krieges gegen „Schurkenstaaten“ (Irak, Korea, Libyen, Libanon usw.) oder gegen Feinde im Inneren geschwenkt89. Aus all dem lässt sich schließen, dass sowohl in der Ökonomie als auch in der Politik die Funktionen des Staates für den Kapitalismus unverzichtbar bleiben, da er keine Woche überleben könnte, wenn der Staat nicht nur die politischen und militärischen Garantien, die er braucht, sondern auch enorme ökonomische Ressourcen bereitstellen würde. In dieser Hinsicht ist der Fall der USA bezeichnend: Die astronomischen Subventionen für die Landwirtschaft oder die Unterstützungsmaßnahmen für den Lufttransportsektor nach 9/11 sind ein einfacher Beweis dafür, dass der Appetit auf diese Art von Subventionen nicht nachzulassen scheint.

Was die Frage des Imperialismus betrifft, so gehen Negris Überlegungen wie immer von legitimen Bedenken aus. Man kann ihm natürlich nur zustimmen, dass alte Theorien überarbeitet werden müssen, aber um dies zu tun, müsste man zunächst anerkennen, dass – obwohl sich die Dynamik ihrer Beziehungen ständig ändert90 – alle Staaten potenziell imperialistisch sind. Zweitens müsste man zugeben, dass heute kein Staat in der Lage ist, mit den USA militärisch, ökonomisch, politisch oder kulturell zu konkurrieren, wodurch eines der Hauptmerkmale des klassischen Imperialismus, wie ihn Rosa Luxemburg analysierte, hinfällig wird, nämlich die Existenz eines gewissen Niveaus von Wettbewerb zwischen Staaten um Märkte, Territorien oder Rohstoffe91. Seit dem Zusammenbruch des Ostblocks ist kein Staat und keine geopolitische Region mehr in der Lage, der Macht der USA entgegenzuwirken. Wie soll man diese neue Realität bezeichnen? Imperium? Imperialismus? Der Name spielt eigentlich keine Rolle, da klar ist, dass ein einziges Land, die USA, ein globales System von Vasallenstaaten mit begrenzter Souveränität aufzwingt, das – Ironie der Geschichte – dem System sehr ähnlich ist, das die Sowjetunion ihren Satelliten jahrzehntelang aufgezwungen hat92. Dieses System verlangt von den Staaten, die es bilden, dass sie nach außen hin schwach sind, d. h. formbar und empfänglich für die Bedürfnisse der USA, aber nach innen hin stark, d. h. repressiv und in der Lage, diese Bedürfnisse ihren Untergebenen aufzuzwingen.

Diese neue Weltordnung führt jedoch immer wieder zu Reibung und Unbehagen, insbesondere – aber nicht nur – zwischen den „gefährlichen Klassen“ einer Welt, die zunehmend von Armut, Unsicherheit und Umweltproblemen geplagt wird. Die Zapatisten in Chiapas, die argentinischen Piqueteros, die Cocaleros in Bolivien, Lula in Brasilien, Chavez in Venezuela und der Neue Kurs in Ecuador sind allesamt Anzeichen für eine Krise im Hinterhof des Imperiums selbst. In Europa hat der Wind von Genua 2001 nicht aufgehört zu wehen und die Demonstrationen gegen den Krieg haben sich vervielfacht. Die Brüche, wenn es sie gibt, entstehen aus den sozialen Bewegungen, wie ein allgemeines „Ya basta“, und nicht durch die Vermittlung der politischen Parteien, die, mit wenigen Ausnahmen, die etablierte Ordnung akzeptieren, selbst wenn sie links sind. Wir sind also weit entfernt von diesem de-zentrierten und deterritorialisierenden Imperium, das von unseren Autoren theoretisiert wird. Die Ereignisse vom 11. September und die Reaktion, die sie in der Bush-Regierung hervorriefen, beweisen einmal mehr das Scheitern ihres theoretischen Modells: Diese Reaktion ist die eines imperialistischen Staates, der den Anspruch hat, den Planeten seinen Interessen anzupassen93.

Eric Hobsbawm stellt fest: „Heute, wie im gesamten 20. Jahrhundert, gibt es einen völligen Mangel an einer effektiven globalen Autorität, die in der Lage ist, bewaffnete Konflikte zu kontrollieren oder zu lösen. Die Globalisierung ist in fast allen Bereichen – Ökonomie, Technologie, Kultur und sogar Sprache – vorangeschritten, außer in einem, dem militärischen und politischen Bereich. Die Territorialstaaten sind immer noch die einzigen wirksamen Autoritäten“94. Das Ende des Staates zu verkünden, nützt uns daher nichts. Es ist sogar ein schädlicher Gedanke, da er in keiner Weise zur Aktion beiträgt. Und obwohl diese Behauptung wie eine schreckliche Banalität erscheinen mag, ist es nicht unnütz, sie in Erinnerung zu rufen, wenn wir in der Zeitschrift Rebeldía lesen, dass diejenigen, die sie machen, sich als Teil einer „Linken fühlen, die nicht mehr bereit ist, weiterhin ihre Zeit um den Streit um eine nationale Macht, die nicht mehr existiert, zu verlieren“95 (Hervorhebung von mir). Denn nichts ist falscher. Es ist eine Sache, wie John Holloway – und vor ihm die Zapatisten und noch viel früher die Libertären aller Richtungen – zu sagen, dass die Welt nicht verändert werden kann, indem man die Staatsmacht „übernimmt“, und eine andere, ganz andere Sache ist es, zu erklären, dass die nationale Macht nicht mehr existiert96. Wer schickt die Panzer nach Chiapas? Wer bewaffnet die Para-Militärs? Wer steckt hinter dem Plan Puebla Panama? Der berühmte de-zentrierte und deterritorialisierende Apparat? Nicht im geringsten! Es ist sehr wohl eine sehr identifizierbare nationale Macht: der mexikanische Staat. Die Staaten-Nationen existieren weiterhin, und sie sind sowohl unsere Feinde als auch unsere Gesprächspartner. Wenn wir ihnen gegenüberstehen, dürfen wir nicht nachlassen: Wir müssen Druck auf sie ausüben, gegen sie kämpfen und sie belästigen. Wir werden gelegentlich mit ihnen verhandeln müssen, und wir werden dies autonom tun. Die Zapatisten haben gezeigt, dass dies möglich ist, und auch wenn die Ergebnisse nicht ihren Erwartungen entsprachen, so haben sie im Gegensatz zu anderen zumindest ihre Würde bewahrt. Unser Weg, der Weg der Bewegungen für Menschlichkeit und gegen den Neoliberalismus, ist nicht frei von Hindernissen. Wie Michael Albert, Moderator der Zeitschrift Z Magazine (und der Website Znet), vorschlägt, setzt er neben theoretischer und praktischer Radikalität auch Flexibilität, Geduld und eine gewisse Dosis Pragmatismus voraus97. Denn wir müssen es noch einmal wiederholen: Kapitalismus und Staat-Nation, diese beiden vom Westen geschaffenen Monster, sind zusammen gekommen und werden zusammen verschwinden. Und wenn wir es nicht schaffen, sie in einem Meer von Gelächter zu ertränken, werden sie uns noch eine Weile Gesellschaft leisten, wie Tito Monterrosos Dinosaurier98.

Claudio Albertani
Tepoztlán, Morelos, México,
November 2002-Januar 2003.

Text (unveröffentlicht), aus dem Spanischen übersetzt von Miguel Chueca.

* Ich danke Gianni Armaroli, Gianni Carrozza, Clara Ferri, Malena Fierros, John Holloway, Furio Lippi, Raúl Ornelas und Tito Pulsinelli für ihre Kommentare und Vorschläge.


1Michael Hardt und Antonio Negri, Empire, Harvard University Press, 2000.

2Empire, „Die Agonie der sowjetischen Disziplin“, S. 337-341.

3Empire, S. 19.

4M. Hardt, „Il tramonto del mondo contadino nell’Impero“ in der Zeitschrift Posse. Política. Filosofia. Moltitudini, Manifestolibri Edizioni, Mai 2002.

5Atilio A. Boron, Imperio. Imperialismo. Una lectura crítica de Michael Hardt y Antonio Negri, Buenos Aires, CLACSO, 2002.

6Michel Foucault, Microfísica del poder, Ediciones de la Piqueta, 1978, S. 7.

7Negri und Hardt hatten sich bereits von der Postmoderne distanziert in ihrem Buch Il lavoro di Dioniso. Per la critica dello Stato postmoderno, Manifestolibri, 1995, S. 25-28. In Empire führen sie aus: „Die verschiedenen postmodernen Denkrichtungen [sind] Symptome eines Bruchs in der Tradition der modernen Souveränität“, die „den Übergang zur Verfassung des Empire anzeigen“ (S. 186).

8Vor einigen Jahren war Negri der Referenzautor einiger amerikanischer Marxisten. Einer von ihnen, Harry Cleaver, schrieb, dass „wenn Marx nicht gemeint hat, was Negri sagt, nun, dann ist es eben schlecht für Marx“ (sic). (Vgl. George Katsiafikas, The Subversion of Politics. European Autonomous Social Movements and the Decolonization of Everyday Life, Humanities Press International, New Jersey, 1997, S. 226).

9Diese kurze Rekonstruktion stützt sich auf das Buch von Nanni Balestrini und Primo Moroni, L’Orda d’Oro. 1968-1977. La grande ondata rivoluzionaria e creativa, politica ed esistenziale, Feltrinelli, Mailand, 1997, und auf das Buch von Oreste Scalzone und Paolo Persichetti, La Révolution et l’Etat. Insurrections et „contre-insurrection“ dans l’Italie de l’après-68 (Aufstände und Aufstandsbekämpfung im Italien nach 1968), Dagorno, 2000. Man sollte auch Futuro Anteriore lesen. Dai Quaderni Rossi ai movimenti globali: ricchezze e limiti dell’operaismo italiano, Derive/Approdi, Roma, 2002. Ich habe auch die Website http://www.intermarx.com (insbesondere die ausgezeichneten Schriften von Maria Turchetto und Damiano Palano), die Zeitschriften Vis-à-Vis und Primo Maggio sowie einen alten Aufsatz konsultiert, den ich anonym unter dem Titel „Proletari se voi sapeste“ in Al tramonto. Operaismo italiano e dintorni, Beilage der Zeitschrift Insurrezione (Renato Varani editore, Mailand, 1982).

10Franco Alasia, Danilo Montaldi, Mailand, Corea, Feltrinelli, 1978, S. 184.

11R. Panzieri, La crisi del movimento operaio. Scritti, interventi, lettere, 1956-1960, Lampugnani, 1973. Panzieri war Direktor der theoretischen Zeitschrift des PSI, Mondo Operaio.

12Vgl. R. Panzieri, Spontaneità e Organizzazione. Gli anni dei Quaderni Rossi. Scritti Scelti, Biblioteca Franco Serantini, 1994.

13K. Marx, El Capital, Editorial Librerías Allende, 1977, S. 328-330. [Der gleiche Ausdruck „kollektiver Arbeiter“ wird auch in der französischen Fassung verwendet, Anm. d. Ü.).

14Vgl. K. Marx, Das Kapital. Buch I, Kapitel VI (unveröffentlicht), Union générale d’éditions, 1971.

15A.d.Ü., wahrscheinlich ist hier die Rede von Militanten Untersuchungen.

16Sergio Bologna, „Il rapporto fabbrica-società come categoria storica“, Primo Maggio, Nr. 2, Mailand, 1974.

17Antonio Gramsci, Quaderni del Carcere, herausgegeben von Valentino Gerratana, Einaudi, Turin, 1977, Heft 22, „Americanismo e fordismo“, S. 2146.

18R. Alquati, Composizione organica del capitale e forza-lavoro alla Olivetti, Quaderni Rossi, Nr. 2, 1962, S. 63-98. Im Jahr 1975 stellte dieser Autor seine Schriften in Sulla Fiat e altri scritti zusammen, Mailand: Feltrinelli.

19 Danilo Montaldi, „Il significato dei fatti di luglio“, Quaderni di Unità Proletaria, Nr. 1, 1960. Montaldi war ein libertärer Intellektueller, der der Gruppe Socialisme ou Barbarie nahestand. Ohne dem Netzwerk anzugehören, übte er einen starken Einfluss auf die frühen Operaisten aus.

20Neben den bereits erwähnten Protagonisten sind unter den Mitgliedern von Classe Operaia Giairo Daghini, Luciano Ferrari-Bravo, Guido Bianchini, Enzo Grillo (Übersetzer der Grundrisse ins Italienische), Oreste Scalzone, Franco Piperno, Franco Berardi, Gianfranco Della Casa, Gaspare de Caro, Gianni Amaroli und Ricardo d’Este zu erwähnen.

21Classe Operaia, Nr. 1, Januar 1964. Abgedruckt in Mario Tronti, Operai e Capitale, Einaudi, Turin, 1966 (neue Ausgabe, 1971), S. 89-95. (Eine französische Version dieses Textes erschien bei Christian Bourgois).

22Tronti, op. cit., S. 298-299.

23Tronti, op. cit., S. 81 und 84.

24Tronti, op. cit., S. 53.

25Tronti, Interview, erschienen in L’Unità, Rom, 8. Dezember 2001. In einem früheren Interview vom 8. August 2000 sagte Tronti: „Wir waren Opfer einer optischen Täuschung.“

26Tronti, a. a. O., S. 14.

27In seinen Considerations on Western Marxism (New Left Book, London, 1976) widmet Perry Anderson dem italienischen Operaismus nicht eine Zeile.

28 In der Negativen Dialektik bekräftigte Adorno die Vorherrschaft des „Gegenstandes“ (italienische Übersetzung, Einaudi, 1975, S. 156-157).

29Siehe z. B. R. Panzieri, „Plusvalore e capitale“, a.a.O., wo der Autor auf die Einheit des Kapitalismus als soziale Funktion hinweist.

30Marx, El Capital, Band I, S. 88.

31Seiten von Karl Marx. Ausgewählt, übersetzt und eingeleitet von Maximilian Rubel. 1. Kritische Soziologie, Payot, 1970, S. 103.

32Tronti, op. cit., S. 221.

33Empire, S. 261 und 291.

34Die letzte Ausgabe der Zeitschrift erschien im März 1967.

35Gianni Armaroli (genuesischer Mitarbeiter von Classe Operaia), Brief an den Autor, 30. Dezember 2002.

36Die wichtigsten Theoretiker der Arbeiterräte waren die holländischen Tribunalisten (so genannt nach der von ihnen herausgegebenen Zeitschrift De Tribune) Anton Pannekoek und Herman Gorter; neben den Deutschen Karl Korsch, Otto Rühle und Paul Mattick.

37Im Gegensatz zu dem, was oft gesagt wird (siehe z. B. Octavio Rodríguez Araujo, Izquierdas e izquierdismos. De la Primera Internacional a Porto Alegre, Siglo XXI editores, 2002, S. 115), war Bordiga kein Rätekommunist, sondern ein überzeugter Anhänger der bolschewistischen Idee einer Partei. Siehe dazu seine Polemik mit Gramsci in Antonio Gramsci-Amadeo Bordiga. Debate sobre los consejos de fábrica, editorial Anagrama, 1973. Es war jedoch Bordiga – der Gründer und erste Sekretär der KPI – und nicht Gramsci, der sich der Bolschewisierung der westlichen Parteien widersetzte, die ab 1923 von der Kommunistischen Internationale durchgesetzt wurde.

38Um 1967 entstanden in Genua der Circolo Rosa Luxemburg, die Lega Operai-Studenti und Ludd-Consigli Proletari (die auch in Rom und Mailand vertreten waren). In Turin wurde 1970 die Organizzazione Consiliare und 1971 Comontismo gegründet. Als kleine, aber bedeutende Gruppen wurden diese Gruppen aus den Geschichten der 1968er Bewegung praktisch ausgelöscht.

391969 gründeten Sergio Bologna und andere die Zeitschrift La Classe, die als Sprachrohr für die Arbeiterkämpfe bei Fiat diente. Bologna war an der Gründung von Potere Operaio beteiligt, bevor er in den 1970er und 1980er Jahren die Zeitschrift Primo Maggio, eine Bastion des ursprünglichen Operaismus, betreute.

40Tronti, zitiertes Interview, 8. August 2000.

41Zwischen 1968 und 1971 mündete der Versuch in die Gründung der Zeitschrift Contropiano, die von Asor Rosa und Cacciari herausgegeben wurde und an der sowohl Tronti als auch Negri mitarbeiteten.

42M. Tronti, Sull’autonomia del politico, Feltrinelli, 1977, S. 7, 19 und 20.

43Eduardo di Giovanni, Marco Ligini, La strage di Stato, Samonà e Savelli, 1970 (Neuauflage Avvenimenti, 1993).

44Zu Negris kuriosesten Ideen gehört die Lobpreisung der „Abwesenheit von Erinnerung“. Siehe Antonio Negri, Du Retour. Abécédaire biopolitique, Calmann-Lévy, 2002, S. 111.

45Vgl. A. Negri, Du retour.

46Antonio Negri, Crisi dello Stato-piano, comunismo e organizzazione rivoluzionaria, Feltrinelli, 1972, S. 181. Dieser „aufständische Neoleninismus“ wird systematisiert in A. Negri, La fabbrica della strategia. 33 lezioni su Lenin, Libri Rossi, 1977.

47Eine der bekanntesten Gruppen dieser Tendenz war das Collettivo di via dei Volsci in Rom, das bald Radio Onda Rossa, einen noch existierenden Sender der Bewegung, gründen sollte.

48Negri hat das Thema der Selbstverwertung in Il dominio e il sabotaggio. Sul metodo marxista della trasformazione sociale. Feltrinelli, 1978. Vgl. auch Empire, S. 491 und 493.

49A. Negri, Proletari e Stato. Per una discussione su autonomia operaia e compromesso storico, Feltrinelli, 1976, S. 30. Die Frage der Auflösung der Zivilgesellschaft im Staat wird in Empire, S. 51, 398-399 wieder aufgegriffen.

50Agnes Heller, La teoria dei bisogni in Marx, Feltrinelli, 1977, S. 26.

51A. Negri, Marx oltre Marx. Quaderno di lavoro sui Grundrisse, Feltrinelli, 1979, S. 194.

52A. Negri, Il dominio…, S. 61 und 70.

53In den 1970er Jahren gab es in Italien Dutzende, wahrscheinlich sogar Hunderte von Gruppen, die den bewaffneten Kampf praktizierten. Neben den Roten Brigaden sind unter vielen anderen die Nuclei Armati Proletari (NAP), Prima Linea, Mai più senza fucile, Azione Rivoluzionaria und Proletari Armati per il Comunismo zu nennen.

54Im Gegensatz zu dem, was ich in Memoria, Nr. 167 (Januar 2003, S. 5) gelesen habe, gab es in Italien nie eine Gruppe namens „ Autonomia Operaia“ (Arbeiterautonomie). Negri leitete eine der vielen Organisationen, die das Lager der Arbeiterautonomie bildeten.

55Über die tragische Bilanz des bewaffneten Kampfes siehe Cesare Bermani, Il nemico interno. Guerra civile e lotte di classe in Italia (1943-1976), Odradek, 1997.

56Rosso, Mai 1978. Die in Mailand herausgegebene Zeitschrift war das Organ der Gruppo Gramsci, einerOrganisation, die von Negri geleitet wurde.

57 Nach zwei Jahren Haft wurde Negri dank seiner Wahl zum Abgeordneten auf den Listen der Radikalen Partei freigelassen. 1983 ging er ins Exil nach Frankreich.

58In den 1980er und 1990er Jahren blieb das Projekt eines libertären Operaismus in den Überlegungen einiger Kollektive wie Primo Maggio, Collegamenti-Wobbly und Vis-à-Vis lebendig.

59Empire, S. 183 und 187.

60A. Negri, Marx oltre Marx, S. 55.

61A. Negri, Marx oltre Marx, S. 24-25.

62A. Negri, Spinoza, S. 394. Diese Ausgabe enthält: L’anomalia selvaggia (1980), Spinoza sovversivo (1985) und Democracia e eternità in Spinoza (1994), die wichtigsten spinozistischen Texte von Negri.

63Siehe z. B.: Karl Korsch, Karl Marx, Laterza, 1970, S. 101.

64A. Negri, Spinoza, S. 35.

65Ich habe in Negris Werk erfolglos nach einer befriedigenden Erklärung für den Begriff der „Multitude“ gesucht. Einer seiner Schüler, Paolo Virno, hat diese Aufgabe offenbar übernommen in: Grammatica della moltitudine. Per un analisi delle forme di vita contemporanee, Derive/Approdi, 2002.

66Norberto Bobbio-Michelangelo Bovero. Sociedad y Estado en la filosofía moderna. El modelo iusnaturalista y el modelo hegeliano-marxiano, FCE, México, 1994, S. 94.

67A. Negri-M. Hardt, Il lavoro di Dioniso, S. 27.

68Empire, S. 140.

69Empire, S. 354-359.

70K. Marx, Grundrisse, Bd. II, S. 228.

71 Grundrisse, S. 228-229.

72Grundrisse, S. 230.

73Abrufbar unter www.intermarx.com: Maria Turchetto, „Dall operaio massa all’imprenditorialità comune. La sconcertante parabola dell’operaismo italiano“.

74 Empire, S. 359.

75Negris Brief aus dem Gefängnis von Rebibbia (Rom), datiert vom 10. September 1997, laut der im Internet verbreiteten Version.

76In Il lavoro di Dioniso, S. 29-30, gibt Negri zu, Mario Trontis Theorien über die Autonomie der Politik zu akzeptieren. In Empire hingegen informiert er uns über das Verschwinden des „Begriffs der Autonomie der Politik“ (S. 375).

77Empire, S. 496.

78Laut dem Wörterbuch der Real Academia ist ein „Militant“ jemand, der sich der Militanz verschrieben hat… Die erste Kritik an der Figur des Militanten geht auf das Jahr 1966 zurück und wurde von der Situationistischen Internationale geäußert. Siehe De la misère en milieu étudiant (Über das Elend im Studentenmilieu), das in etwa zwanzig Sprachen übersetzt wurde.

79Es ist kein Zufall, dass Negris Hauptjünger, die Disobiedenti (früher bekannt als Tute bianche – Weiße Overalls – oder Association Ya Basta), ein großer Verwirrungsfaktor in der so genannten Antiglobalisierungsbewegung sind. Sie vereinen das Schlimmste der Politik der alten Linken und das Schlimmste des Medienaktivismus. Im Ausland radikal (1998 wurden sie mit großem Getöse aus Mexiko ausgewiesen), sind sie in Italien zu allen Kompromissen bereit; als überzeugte Pazifisten verbreiten sie wahnwitzige Kriegserklärungen an die Adresse der italienischen Regierung (können aber nicht konsequent sein); als erklärte Zapatisten sind sie auf der Suche nach Wahlämtern… Zu den Inkonsequenzen der Tute bianche (heute Disobbidienti) siehe „Paint it Black. Blocchi neri, tute bianche e zapatisti nel movimento contro la globalizzazione“ von Claudio Albertani, der gleichzeitig in Collegamenti-Wobbly, Nr. 1, Januar 2002 und in französischer Sprache in der Nr. 12 von Les Temps maudits (Januar-April 2002) erschien. Eine englische Version erschien in New Political Science, London, Dezember 2002). Für weitere Informationen über die Aktivitäten der Disubbidienti siehe www.ecn.org/movimento.

80„Zapatistische Reden, Demonstration in San Cristóbal de Las Casas, Chiapas, 1. Januar 2003“, abrufbar unter http://chiapas.indymedia.org.

81Zum Arbeitsfetischismus bei Negri siehe G. Katsiafikas, a.a.O., S. 225-232.

82Ich übernehme dieses Argument aus Maria Turchettos Essay „L’impero colpisce ancora“ (http://www.intermarx.com).

83Empire, S. 474.

84Empire, S. 459.

85Hannah Arendt, On Revolution, (Neuauflage: Vicking Press, 1996), insbesondere Kapitel III. Negri machte bereits eine Lanze für die amerikanische Verfassung in Il potere costituente. Saggio sulle alternative del moderno (Saggio sulle alternative del moderno), SugarCo, 1992.

86Zitiert in: Boron, a.a.O., S. 110.

87In einem Versuch, Gott und den Teufel zu schonen, formuliert Negri die folgende Frage: „Was ist mit dem Leninismus unter den neuen Bedingungen der Arbeitskraft zu tun? […] Welche Subjektivität muss für die heutige Machtergreifung des immateriellen Proletariats erzeugt werden? Und er antwortet: „Man muss Lenin über Lenin hinausführen, […] zur absoluten Demokratie der Multitude“ (!) Vgl. Toni Negri, „Che farne del Che fare? Ovvero il corpo del General Intellect“, Posse, Mai 2002, S. 123-133.

88Siehe dazu Bushs jüngste Maßnahmen zugunsten von Finanzspekulanten, die eine Steuersenkung von 300 Milliarden US-Dollar auf die Dividenden der Aktionäre vorsehen.

89Krieg gegen ein Individuum, manchmal, wie man bei Bin Laden gesehen hat. Wenn man den jüngsten Erklärungen des Weißen Hauses Glauben schenken darf, wird dieser Zyklus wahrscheinlich mindestens 30 Jahre dauern.

90Einer von Lenins Fehlern war, dass er glaubte, der Imperialismus sei lediglich eine „Etappe“ des Kapitalismus, während er in Wirklichkeit von Anfang an in dessen Logik eingebettet war.

91Stefano Capello, „L’imperialismo da Disraeli a Bush“, Collegamenti Nr. 2, 2002.

92Tito Pulsinelli, „Sobre el señor y los vasallos. Estados Unidos en el atardecer del neoliberalismo“. Zu finden unter www.lafogata.org/02inter/8internacional/sobre.htm

93Negri fühlte sich angesichts dieser Ereignisse übrigens sehr unsicher. Er interpretierte den Fall der Twin Towers zunächst als eine interne Angelegenheit des Imperiums, etwas, das ihm „gehört“, und korrigierte sich dann, indem er argumentierte, dass wir es mit einer imperialistischen Reaktion gegen das Imperium zu tun haben. Hardt unterstützte diese zweite Version in einem kürzlich erschienenen Artikel, in dem er „die Eliten aufforderte, in ihrem eigenen Interesse als de-zentriertes imperiales Netzwerk zu handeln und so den Prozess der Umwandlung der USA in eine „imperialistische Macht nach altem europäischen Muster“ zu unterbrechen“. Ein merkwürdiger Aufruf von einem Propheten der „Multitude „! Von Rückkehr, S. 185 und S. 209. Interview erschienen in Il Manifesto, 14. September 2002.

94Eric Hobsbawm, „La guerra y la paz en el siglo XX“, La Jornada, México, 24. März 2002.

95Rebeldía, Leitartikel der Nr. 1, México, Nov. 2002.

96ohn Holloway, Change the World without Taking Power, Pluto Press, 2002. Zu Unrecht haben viele Kommentatoren Holloway und Negri in einen Topf geworfen.

97Benedetto Vecchi, „Democrazia in Movimento“, Il Manifesto, 18. Januar 2003.

98Claudio Albertani bezieht sich hier auf eine berühmte Kurzgeschichte des Romanciers Tito Monterroso, die die Besonderheit aufweist, dass sie nur einen einzigen Satz enthält: „Al día siguiente, cuando despertó, el dinosaurio seguía todavía ahí“, was übrigens völlig unübersetzbar ist, da das Subjekt des Nebensatzes nicht erklärt wird und nicht klar ist, ob es sich um „él“, „ella“ oder sogar „Usted“ handelt: „Als er am nächsten Tag erwachte [oder: „als sie erwachte“ oder: „als Sie erwachten“ oder „erwachte“], war der Dinosaurier immer noch da. „ (Anm. d. Ü.).

]]> (IRK 1937) Revolution und Konterrevolution in Spanien https://panopticon.blackblogs.org/2024/02/11/irk-1937-revolution-und-konterrevolution-in-spanien/ Sun, 11 Feb 2024 15:56:34 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5411 Continue reading ]]> Gefunden auf aaap, ursprünglich erschienen in Internationale Rätekorrespondenz: Theoretisches und Diskussionsorgan für die Rätebewegung. – Ausg[abe]. der Gruppe Int[ernationaler]. Kommunisten, Holland. – 1937, Nr. 22 (Juli).

Genauso wie im vorherigen Text, (Helmut Wagner, 1937) Der Anarcho-Syndikalismus und die spanische Revolution, setzt er sich mit Fragen auseinander, aber schon nach den berühmt berüchtigten Mai-Ereignissen in Barcelona. Genauso wie der Text von Helmut Wagner, setzt sich dieser mit Fragen auseinander die nicht an Relevanz verloren haben. Wir würden uns hier nur mit der Einleitung des Textes von Helmut Wagner wiederholen.


Revolution und Konterrevolution in Spanien

Die allgemeine Bilanz

„Die republikanische Valencia – Regierung hat, nachdem es gelang, den anarchistischen Elementen Herr zu werden oder ihren Einfluss ganz zu brechen und ein verhältnismäßig diszipliniertes Heer aufzubauen, beschlossen, dass dieselbe Politik auch in Katalonien durchgeführt werden soll. Sie hat dem Herrn Companys1 und der Generalidad angeraten, jetzt endlich jenes Dekret, welches bis dahin lediglich auf dem Papier stand und welches die Entwaffnung der Extremisten der libertären Bewegung anordnet, zur Durchführung zu bringen. Die Anarchisten, die in Barcelona, was ihre Stärke und die Stärke ihrer Bewaffnung anbetrifft, die größte Macht darstellen, nahmen daraufhin unverzüglich ihre Maßnahmen [in Angriff] und begannen mit der individuellen Entwaffnung der Guardias de Asalto. So begann der Kampf auf den Straßen; und seine ersten Resultate waren derart, dass die Regierung es für nötig achtete, mit den Libertären zu einer Übereinstimmung zu kommen und von deren Entwaffnung Abstand zu tun. In diesem Moment beschloss die Regierung in Valencia zu intervenieren und die Aufrechterhaltung der Ordnung in Katalonien in ihre Hände zu nehmen. Der General Pozas wurde mit dem Kommando der geregelten Kräfte der Generalidad belastet. Gleichzeitig schickte die zentrale Regierung motorisierte Einheiten und gab drei Kriegsschiffen den Auftrag, sich nach Barcelona zu begeben“.
(Le Temps, 8. Mai)

Die Ereignisse in Barcelona waren der Beginn einer neuen Phase im Kampf zwischen Revolution und Konterrevolution. Die Phrase von der „Antifaschistischen Einheitsfront“ ist für alle, die sehen wollen, eindeutig widerlegt. Von einer Einheitsfront zwischen Bourgeoisie und Proletariat kann auch in Spanien keine Rede sein.

Zum ersten Male in der Ära der Volksfront standen sich die beiden Klassen der kapitalistischen Ordnung wieder offen gegenüber. Die Frage nach der Macht in der Gesellschaft wurde mit aller Deutlichkeit gestellt. Dieser Kampf um die Macht ist allerdings vorläufig beendet, ohne eine definitive Entscheidung gebracht zu haben. Die Arbeiter haben sich durch die Führer ihrer Organisationen zur Beendigung des Kampfes überreden lassen, sie haben sich mit Versprechungen und bedeutungslosen Zugeständnissen begnügt.

Alle wirklichen Vorteile dagegen sind der Bourgeoisie in den Schoss gefallen. Sie, die überhaupt sich auf dem Gebiete des auf geschliffene Weise Unterminierens der Machtpositionen der Arbeiterschaft mehr zu Hause fühlt als auf dem Gebiete des offenen Kampfes, in dem sie ja ihr konterrevolutionäres Gesicht gar zu deutlich zeigen müsste, konnte ihre Politik von vor dem 5. Mai nicht nur fortsetzen, sondern sogar verschärfen. Es gelang ihr, die ganze Regierungsmacht in ihren Händen zu vereinigen und wichtige militärische und ökonomische Positionen neu zu besetzen. Sie begann mit der Entwaffnung der revolutionären Arbeiter und hat die Verfolgung derselben eröffnet. Das Resultat der Ereignisse des 3.-5. Mai ist ein noch weiteres Aufrücken der bourgeoisen Kräfte gegenüber dem Proletariat.

Aber der Kampf ist noch nicht zu Ende, er hat den Proletariern nicht einzig und allein Nachteile gebracht. Allerdings sind die Arbeiter zurückgedrängt, geschlagen jedoch sind sie nicht.

Sie haben zwar viele materielle Positionen verloren, aber der Gegensatz zur Bourgeoisie ist verschärft, und das ist ein Gewinn.

Noch gelingt es der Bourgeoisie mit Hilfe ihrer Handlanger den größten Teil der Proletarier zu missleiten und ihm den Glauben an ein freies und demokratisches Spanien unter kapitalistischer Herrschaft aufzuschwätzen. Dieses aber wird von Tag zu Tag schwieriger, die Revolutionäre in Spanien erhalten damit ein stets dankbareres Arbeitsfeld. Die wachsende Verfolgung der revolutionären Kräfte in Spanien ist der Beweis nicht allein für das Anwachsen der Konterrevolution, sondern auch für einen Aufschwung des revolutionären Bewusstseins.

Es ist schwierig, über den zukünftigen Verlauf des Kampfes zwischen Revolution und Konterrevolution sichere Voraussagen zu machen. Das spanische Proletariat weiß, dass es im Falle der konsequenten Durchsetzung seiner Revolution die Bourgeoisie aller Länder gegen sich vereinigt sehen wird. Dieses Wissen ist eine die revolutionäre Entwicklung stark bremsende Kraft, Stalinisten und Sozialdemokraten machen von ihr weitgehend Gebrauch. Sie sollen auch in Zukunft alles tun, um das Gefühl der Ohnmacht zu verstärken, indem sie immer und immer wieder betonen, dass Franco ohne die Hilfe der Bourgeoisie nicht zu besiegen ist. Es ist von großer Bedeutung festzustellen, dass demgegenüber bereits andere Stimmen hörbar werden, die der Beweis sind für eine tiefere Einsicht in die tatsächliche Lage der Dinge. Die „Bolschewiki-Leninisten“, die Trotzkisten, die der offiziellen p.o.u.m.-Leitung oppositionell gegenüber stehen, die mit der Volksfront-Politik derselben nicht einverstanden sind, schreiben in einem zum ersten Mai ausgegebenen Manifest unter der Überschrift „Gegen Faschismus und bürgerliche Reaktion – die Diktatur des Proletariats!“ das Folgende: „Einem spanischen Proletariat, das die Macht eroberte, wird die Solidarität des Weltproletariats im ungleich höherem Masse als gegenwärtig zuteilwerden. Die demokratischen Imperialisten helfen Spanien nicht, weil sie fürchten, die Arbeiter könnten die Waffen, die sie dann erhalten würden, gegen ihre eigene Bourgeoisie richten. Dagegen steht es fest, dass z. B. das englische Proletariat einem proletarischen Baskenland viel mehr Hilfe zukommen lassen würde, als es heute katholischen Nationalisten gegenüber tut. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass die baskische Reaktion den Kampf sabotiert und über die Köpfe der Arbeiter hinweg einen Waffenstillstand vorbereitet.

„Ohne Weltrevolution sind wir verloren“ sagte Lenin. Dies gilt ganz besonders für Spanien; aber um das Weltproletariat zum Aufstand zu bringen, müssen wir mit unserem Vorbild voran gehen.

Um das französische Proletariat zu veranlassen, mit der Volksfront zu brechen, ist es notwendig, die Volksfrontpolitik unserer eigenen Führer zu zerbrechen und ihr die revolutionäre Front der Arbeiter gegenüber zu stellen.

Die Entwicklung des Kampfes in Spanien hängt ab von der Entwicklung in der ganzen Welt, aber auch das Umgekehrte ist wahr. Die proletarische Revolution ist international, die Reaktion ist es ebenfalls. Jede Aktion der spanischen Proletarier findet ihr Echo in der übrigen Welt und jedes Aufflammen des Klassenkampfes hier, ist eine Stütze für die spanischen proletarischen Kämpfer.

Wird auch im Moment das spanische Proletariat zurückgedrängt, sein Kampf ist noch nicht verloren, denn er ist lediglich eine Phase in der internationalen Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit, diese aber wird weitergehen. In ihr gibt es Zeiten des Aufstiegs und des Niedergangs, doch der Sieg der Proletarier ist gewiss. Die Pflicht des revolutionären Arbeiters ist darum, seine Sache unentwegt bis zum Äußersten hoch zu halten und niemals das Ziel, die Befreiung seiner Klasse aus dem Auge zu verlieren. All sein Handeln muss ihm untergeordnet sein.

Eine der ersten Vorbedingungen der Entwicklung des Kampfes im proletarisch-revolutionärem Sinne ist das Wissen der Proletarier von der Notwendigkeit dieses unversöhnlichen Klassenkampfes. Deswegen ist ein Aufräumen mit der Ideologie jener 0rganisationen, die sie an die Volksfront binden, im höchstem Masse notwendig. Trotz alles und allem dürfen die revolutionären Arbeiter niemals vergessen, die Schädlichkeit der Volksfrontpolitik aufzudecken. In diesen Rahmen fällt auch die Entlarvung der c.n.t. und f.a.i., die ebenfalls, und mögen sie es auch ableugnen, die Volksfront und damit die bürgerliche Reaktion unterstützen.

Die Haltung der C.N.T. vor den 3. Mai

Wieder einmal haben die Ereignisse den Bankrott der anarcho-syndikalistischen Grundsätze ans Licht gebracht. Im selben Augenblick, in dem der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie offen losbrach, hat die c.n.t., trotz der Tatsache, dass sie selbst in den Zusammenstoß der Kräfte einbezogen war, trotz der Tatsache, dass die Militanten aus ihren Reihen seit Tagen eine deutliche Antwort auf die Frage, ob die Arbeiter sich entwaffnen lassen sollten oder nicht, formuliert hatten, sich zum politischen Schacher verleiten lassen und hat damit geholfen, den Widerstand der Arbeiter zu zerbrechen. Die c.n.t. ist eine der Hauptschuldigen an der Unterdrückung des Aufstands, weil sie das Proletariat in dem Augenblick, in dem es gegen die demokratische Reaktion in Bewegung kam, demoralisierte. Man kann diese Haltung der c.n.t. nicht scharf genug anprangern, denn sie beweist den definitiven Bruch dieser Organisation mit dem revolutionären Klassenkampf und verstärkt ihre Verbindung mit der Volksfront und mit der kapitalistischen Reaktion.

Immerhin jedoch ist es notwendig, sich über die Ursachen klar zu werden, welche die c.n.t. zu dieser Haltung veranlassten. Es wäre nämlich ein Irrtum etwa anzunehmen, dass die c.n.t. einen gemeinen Verrat durchgeführt habe, indem sie sich bewusst gegen die Arbeiterrevolution gewandt hätte. Ein ebenso großer Irrtum wäre auch die Auffassung, dass diese Haltung nicht in Übereinstimmung mit dem Willen des größten Teiles der Arbeiterklasse gewesen sei. Es ist gerade umgekehrt, die c.n.t. brachte nichts anderes zum Ausdruck als das Bestreben der großen Masse der katalonischen Arbeiter, die zwar bis zum Äußersten den Kampf gegen den Faschismus und für ihre Befreiung führen wollen, aber die gesellschaftlichen Probleme nicht klar genug erkennen, um den revolutionären Kampf vom Reformismus, um bürgerliche Demokratie, von proletarischer, um Kapitalismus von Kommunismus zu unterscheiden. Die c.n.t. drückte nichts anderes aus als die Meinung des schwankenden, politisch noch unreifen Teiles des Proletariats. Und ebenso wenig als man die nicht revolutionär – bewussten Arbeiter als Klassenverräter kennzeichnen kann, weil die Angst vor Franco sie in ihrem Kampf gegen die „demokratische“ Reaktion schwächt, ebenso wenig kann man dies gegenüber den Organisationen tun, die ihre Auffassungen verkörpern. Viel besser ist es, die Ursachen und Motive dieser Haltung begrifflich zu erfassen, nicht in seiner Auswirkung, sondern an seiner Wurzel anzugreifen. Die c.n.t., die Millionen Arbeiter umfasst, die die einzige revolutionäre Organisation von Bedeutung in ganz Spanien war, die nach dem 19. Juli praktisch die gesamte katalonische Arbeiterbevölkerung als Anhängerschaft zählen konnte, ist trotzdem nie eine wirkliche Klassenorganisation gewesen. Die c.n.t., die alle Politik stets kategorisch ablehnte, die alle Staats- und Parteidiktatur verurteilte, hat sich nun so verirrt in Parteipolitik und Regierungsschacher, dass sie als revolutionäre Organisation daran zugrunde gehen musste. Der Widerspruch zwischen Theorie und Handeln erscheint riesenhaft, aber ist nur oberflächlich. Der Vorwurf ausländischer Anarchisten, dass die c.n.t. ihre anarchistischen Prinzipien verraten habe, ist keineswegs angebracht. Die c.n.t. konnte gar nicht anders handeln mit ihren absolut wirklichkeitsfremden Grundsätzen, sie musste sich einer der kämpfenden Mächte anschließen.

Gerade ihre anarchistischen Grundsätze‚ ihre Illusion, dass sie die Organisation sei, die den Kampf der Arbeiter verkörpere, hielt sie ab von der Vorbereitung der wirklichen Klassenorganisation und trieb sie in die Arme der Bourgeoisie, wo sie als revolutionäre Klassenkampforganisation ihren Untergang fand.

Der Syndikalist vom 29. August 1931 schrieb:

„Es gibt im nationalen Komitee der c.n.t. eine Anzahl Kämpfer, die nicht glauben, dass die c.n.t. in ihrem augenblicklichen Stadium nicht imstande ist, die Produktionsleitung zu übernehmen, sie möchten Zeit haben, sehr viel Zeit, um die c.n.t. besser zu organisieren.“

Diese Äußerung ist charakteristisch für die gesamte anarcho-syndikalistische Bewegung bis auf den gegenwärtigen Tag. In den Augen der spanischen anarcho-syndikalistischen Bewegung ist der Kommunismus eine Angelegenheit der Übernahme der Produktion durch die c.n.t. und der Leitung derselben durch die Syndikate, also nicht das Werk der Arbeiterklasse insgesamt mittels seiner eigenen Räteorganisationen.

Diese Auffassung, die kennzeichnend ist für eine Gewerkschaft, die infolge besonderer Umstände kampfkräftig blieb und nicht reformistisch entartete, ist darum nicht weniger im Widerspruch zur Wirklichkeit.

Hier liegt der wesentliche Grund, warum die c.n.t. ihrer revolutionären Aufgabe nicht gewachsen ist.

Wie sehr diese Auffassung das ganze Denken und Handeln der c.n.t. beherrscht, so dass sie selbst die leiseste Spur einer wirklichen Klassenpolitik vernichtete, ist deutlich ersichtlich aus den Materialien, die die c.n.t. anlässlich der Ereignisse in Katalonien herausgegeben hat. Wir verweisen auf das in deutscher Sprache erschienene Informationsbulletin der a.i.t. (i.a.a.) vom 11. Mai 1937:

„Wir müssen jedoch auch einsehen, dass eine der beiden Gewerkschaften, c.n.t. oder u.g.t., allein nicht imstande sein wird, um diese Arbeit (nämlich das Vorwärtsschreiten nach konkreten Formen des ‚freien Sozialismus‘) zu erfüllen. Die u.g.t. kann sich der c.n.t. nicht aufdrängen, aber auch das Gegenteil ist unmöglich, das würde Bürgerkrieg bedeuten. Es können auch keine zwei Produktionsformen nebeneinander bestehen. Die Arbeiter in den Betrieben haben die Lösung in dem praktischen Zusammenwirken beider Richtungen gefunden. Dies muss im Landesmaßstabe auch geschehen. Wenn wir für den Ausbau der Industrieföderationen und die Allianz c.n.t.-u.g.t. arbeiten, dann werden wir die Fundamente jener neuen iberischen Wirtschaft legen, die wesentlich verschieden ist von allen bisherigen sozialen Experimenten, die Ausdruck unseres Volkes ist.“

Die c.n.t. sieht also die Lösung der Gegensätze zwischen Sozialdemokratie und Anarchismus in einer Einheitsfront der Organisationen, die jedoch an den Zielstellungen derselben nichts verändern kann. Welche Politik muss diese Einheitsfront nun führen, eine sozialdemokratische oder eine anarchistische? Oder muss sie zwischen beiden Richtungen hindurchlavieren? Die Sozialdemokratie denkt in ihren „revolutionärsten“ Augenblicken vielleicht einmal an eine allgemeine Nationalisierung der Ökonomie, während sie in der Praxis jede Veränderung des ökonomischen Lebens sabotiert. Die Anarchisten stehen prinzipiell jeder Staatsmacht feindlich gegenüber und wollen die Produktion unter die Führung der Gewerkschaften bringen und dies, wie sie meinen, als Ausdruck einer selbständigen Arbeitermacht. Ein Kompromiss zwischen einer solchen Arbeitermacht und der Sozialdemokratie ist jedoch ein unmögliches Ding. Falls ein Kompromiss zwischen Sozialdemokraten und Anarchisten aber doch besteht, muss es notwendig einen anderen Charakter haben als den oben angegebenen. Und in der Tat, es ist so. Es bedeutet nichts anderes als eine Reihe von Konzessionen der c.n.t. an die Sozialdemokratie mit der Hauptverpflichtung, die bestehende bürgerliche „Demokratie“ nicht anzugreifen. Die notwendige Folge hiervon ist, dass die Gewerkschaftsorganisationen als bereits jetzt schon mehr oder minder verbürokratisierte Apparate in kurzer Zeit vollkommen mit dem Staat verwachsen, der Arbeiterschaft total entfremdet werden und dann von selbst als überflüssiger Ballast verschwinden. So erscheint der Kompromiss zwischen Sozialdemokratie und Anarchismus nicht als ein Kompromiss zwischen c.n.t. und u.g.t., sondern als ein vollkommener Sieg der Sozialdemokratie und des Bürgertums.

Aber die c.n.t. kann dies nicht einsehen. Nach ihrer Meinung ist es bereits Sozialismus, wenn die Gewerkschaften die Leitung der Produktion übernehmen.

Warum sich also Sorgen machen über die verschiedenen politischen Richtungen? Die Produktion unter gemeinsamer Leitung der Syndikate, das ist zugleich Beginn und Ende der Revolution. Das ist Kommunismus nach ihrer Auffassung. Der ganze Rest ist eine Angelegenheit technischer Art und weiter nichts. Die fortwährende politische Diskussion jedoch [steht] der Einheit im Wege und darum, fort mit aller Politik! Gemeinschaftliche Leitung durch die Gewerkschaften! Wenn nur die Sozialdemokraten wollen, dann ist alles in Ordnung! Dann sind diese, mögen sie sich noch so sehr gegen die Tatsache sträuben, Anarchisten geworden. Sie haben dann doch immerhin verwirklicht, was die Anarcho-Syndikalisten sich als Ziel gestellt hatten, der freie Kommunismus ist also geboren.

Die Anarchisten begreifen nicht, dass revolutionäre Klassenmacht etwas ganz anderes ist. Gewiss ist die Einheit der Arbeiterklasse notwendig, aber gerade die Scheineinheit des Kompromisses der Organisationen verhindert das Zustandekommen der revolutionären Klasseneinheit. Es ist keine Einheit möglich zwischen der sozialdemokratischen Auffassung, die die Macht in die Hände des bürgerlichen Staates legen will, welche die Arbeiter zu entwaffnen versucht, sobald sich ihr die Möglichkeit bietet, jede Vergesellschaftung rückgängig macht und jenen revolutionären Auffassungen die Parole : „Alle Macht dem Proletariat“ als Ausgangspunkt nehmen. Wenn die Arbeiterklasse sich in einem revolutionären Kampf organisiert, dann geschieht das nicht, um die Macht einer Volksfrontregierung zu übergeben und sich durch diese entwaffnen zu lassen – sondern um alle Macht selbst auszuüben.

Die Organisationen, die Parteien so gut als die Gewerkschaften, verkörpern die verschiedenen politischen Strömungen, welche in der Arbeiterklasse vorhanden sind und die sich beziehen auf die innerhalb des Kapitalismus gegen die Bourgeoisie zu führende Politik. In einem revolutionären Kampfe traten den Arbeitern jedoch neue Probleme entgegen. Die sie nur lösen können auf der Basis der konkreten Forderungen des Augenblicks. Hierzu ist eine völlige Umwälzung in den Köpfen der Arbeiter notwendig.

Die alten Organisationen ließen den Ideenkampf zu einen Kampf um überlieferte Dogmen erstarren; sie stehen der geistigen Erneuerung der Arbeiter im Wege. Auch darum müssen sich die Arbeiter von ihnen lösen, denn sie bedrohen die Revolution ebenso durch ihren geistigen als auch materiellen Einfluss. An Stelle des Kompromisses zwischen c.n.t. und u.g.t. gilt es die Losung: „Alle Macht an die Arbeiterräte“ zu stellen. Die Arbeiter müssen ihre Macht unmittelbar ausüben, und nicht auf dem Umwege über eine Bürokratie, die sich ihnen, je länger je mehr, entfremden muss. Ihre geistige Befreiung aus den Fesseln des Kapitalismus kann ebenfalls nur ihre eigene Aufgabe sein. Sie kann sich keinesfalls durch Kuhhandel und Abkommen der Bürokraten vollziehen.

Aus diesem Grunde sind die revolutionären Oppositionen so bedeutungsvoll, nicht allein, weil sie die Einzigen sind, die mehr oder weniger klar einen revolutionären Standpunkt vertreten, sondern auch weil sie den erstarrenden Einfluss der alten Organisationen brechen. Sie verwandeln den Kampf der Organisationen in einen Kampf der Auffassungen, die nicht länger mehr nach ihrer Herkunft beurteilt werden können, sondern allein nach ihrem Wert für die Revolution. Sie verkörpern selbst dort, wo sie unzulänglich erscheinen, den geistigen Befreiungskampf des Proletariats.

„Mit klarem Blick für die Möglichkeiten des Augenblickes erklärte die c.n.t., dass sie auf eine sofortige Verwirklichung ihres eigentlichen Zieles, des freien Kommunismus verzichte. Doch setzte sie sich ein für die Kollektivierung der Groß- und Mittelbetriebe durch die Arbeitergewerkschaften und für die fortschreitende Zersetzung der alten Staatsinstitutionen durch neue wirtschaftliche und politische und kulturelle Organe unter Kontrolle der Arbeitersyndikate. Da die c.n.t. sich schon vor dem 19. Juli darüber klar war, dass sie allein diese Aufgabe nicht durchführen könnte, erklärte sie als Mittel zur Erreichung dieser Gegenwartsziele die revolutionäre Allianz zwischen den anarchistischen und sozialistischen Gewerkschaften, d.h. zwischen c.n.t. und u.g.t.. Von diesem Gesichtspunkt ausgehend gestand die c.n.t. der u.g.t. selbst in Katalonien in allen Komitees Parität zu, obwohl in Katalonien eine u.g.t. nicht bestanden hatte und erst nach dem 19. Juli geschaffen wurde als Zufluchtsstätte gewisser gehobener Arbeiterschichten und des gesamten Kleinbürgertums.“
(Aus demselben Bulletin).

„Wir sehen die Dinge so wie sie sind, ohne Brille, ohne doktrinäre Voreingenommenheit. Es handelt sich um eine Revolution und nicht um gelehrte Diskussionen über dieses oder jenes Prinzip. Prinzipien dürfen nicht strenge Gebote sein, sondern handliche Formen zur Bewältigung und Gestaltung der Wirklichkeit. Garantiert diese unsere Plattform die Errichtung des reinen freiheitlichen Kommunismus am Tage nach der Revolution? Sicherlich nicht. Aber sie garantiert die Zerschlagung des Kapitalismus und die Vernichtung seiner Stütze, des Faschismus. Sie garantiert die Errichtung eines proletarischen, demokratischen Regimes ohne Ausbeutung und ohne Klassenprivilegien und ein breites Zugangstor zu einer freiheitlichen Gesellschaft im weitesten Sinne.“ (Deutsches Bulletin der a.i.t. vom 11. Mai 1937).

Hier erreicht die anarchistische Verwirrung ihren Höhepunkt. Welches sind nun gemäß der c.n.t. oder i.a.a. die konkreten Aussichten dieses Kampfes? Nicht der freie Kommunismus‚ wohl aber die Vernichtung des Kapitalismus, Errichtung eines proletarisch demokratischen Regimes ohne Ausbeutung und Klassenprivilegien. Aber wenn dies noch kein freier Kommunismus ist, was ist es dann wohl?

Wir waren immer der Meinung, dass nach der Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise und der Aufhebung der Ausbeutung in Verbindung mit der Durchführung der proletarischen Demokratie, der Kommunismus verwirklicht sein würde. Anscheinend haben wir uns geirrt. Oder – sollte die c.n.t. unter proletarischer Demokratie, Aufhebung der Ausbeutung usw. etwas anderes verstehen als wir?

Angesichts der Praxis ist die Antwort nicht schwierig. Die Verwirklichung dessen, was die i.a.a. als ein Minimum-Programm bezeichnet, können wir in der gegenwärtigen Praxis erkennen.

Proletarische Demokratie? Gemeint ist: Gleichmäßige Vertretung der Gewerkschaftsverbände in der Regierung, also Verhinderung der revolutionären Einheit mittels einer Scheineinheit, dargestellt durch den Kompromiss und den Konkurrenzkampf der Meinungsfraktionen.

Aufhebung des Kapitalismus? Gemeint ist: Ausschaltung der Kapitalisten, jedoch ohne dass die ökonomische Macht über die Betriebe in den Besitz der Arbeiter gelangt.

Aufhebung der Klassenprivilegien? Gemeint ist: Die Arbeiterorganisationen dürfen neben den bürgerlichen in der Regierung Platz nehmen, während das Arbeitslose Einkommen der Besitzer [?] bestehen bleibt.

Aufhebung der Ausbeutung? Gemeint ist: Aufhebung der Ausbeutung durch die Privatkapitalisten, die Übergabe der Produktionsleitung an die Syndikate.

Da die Syndikate jedoch bürokratische Organisationen sind, in denen der Einfluss der Arbeiter absolut ausgeschaltet ist – die Praxis hat dies auch in Spanien zur Genüge bewiesen (Siehe auch Rätekorrespondenz, Nr. 21) –, bedeutet dies, dass die Arbeiter das Bestimmungsrecht über Produkt und Produktionsmittel aus den Händen geben und zwar an eine bürokratische Organisation, die ihnen entfremdet ist. Das bedeutet, dass eine über den Arbeitern stehende herrschende Schicht über die durch diese erzeugten Produkte verfügt und dieselben nach eigenem Gutdünken verteilt. Das bedeutet letzten Endes, dass die Arbeiter anstatt durch Privatkapitalisten durch die Gewerkschaftsbürokratie ausgebeutet werden. Hieraus muss sich dann notwendig eine neue Staatsherrschaft bilden, da nun einmal keine Überherrschung ohne Staat existieren kann.

Dies sind also die Programmpunkte, wie sie in konkreten Fällen durch die c.n.t. ausgearbeitet wurden. Wenn dies ihr Minimum-Programm ist, dann hat sie allerdings recht, wenn sie meint, dass dies kein freier Kommunismus ist. Aber sie hat auch doppelt unrecht, wenn sie behauptet, dass es die Eingangspforte zum freien Kommunismus weit öffnet.

Kapitalismus und Kommunismus sind Begriffe, welche die c.n.t. anscheinend nicht gut unterscheiden kann. Ihre ganze Handlungsweise trägt den Stempel dieses Unvermögens. Überall proklamiert sie die „Proletarische Demokratie“. Und darum schließt sie die Einheitsfront mit der u.g.t., von der sie selbst schreibt, dass sie: „in Katalonien nicht bestanden hatte und erst nach dem 19. Juli geschaffen wurde als Zufluchtsstätte gewisser gehobener Arbeiterschichten und des gesamten Kleinbürgertums.“

Und mit Hilfe dieser Organisation will sie die proletarische Demokratie errichten, den Kapitalismus vernichten, die Ausbeutung aufheben, die Sonderstellung der Klassen abschaffen!

„Die im Lande verbliebene kleine und mittlere Bourgeoisie, die Berufspolitiker, Parlamentarier, Angestellten reformistischer Arbeiterorganisationen und vor allem die Kommunisten leiteten jedoch eine immer aktiver werdende Politik zur Wiederherstellung der alten Verhältnisse ein. Der korrupte bürgerliche Parlamentarismus wurde als Ideal des kämpfenden antifaschistischen Volkes hingestellt. Eine große Offensive gegen die revolutionären Komitees setzte ein, die‚ zusammengesetzt aus c.n.t. und u.g.t. oder diesen beiden Gewerkschaften und den antifaschistischen Parteien, alle wesentlichen Funktionen des öffentlichen Lebens übernommen hatten.“

Die Konterrevolution, umfassend die Reste der Bourgeoisie, Berufspolitiker, Parlamentarier, Beamter der reformistischen Organisationen, Kommunisten, also Esquerra, p.s.u.c., u.g.t., griffen also die Revolution an, die in den revolutionären Komitees verkörpert war, welche aus Gewerkschaften und Parteien bestanden, d.h. ebenfalls aus Esquerra, p.s.u.c., u.g.t., und c.n.t.-f.a.i..

Wie steht es denn nun eigentlich mit den Stalinisten, Sozialdemokraten, und Bürgerlichen? Sind sie revolutionär oder konterrevolutionär? Augenscheinlich sind sie revolutionär in den Komitees und konterrevolutionär in der Regierung. Und doch führen sie an beiden Stellen dieselbe Politik…

Es ist übrigens genügend bekannt, dass von den Anarchisten fortwährend Konzessionen den Richtungen und Organisationen gemacht wurden und werden, die sie selbst als konterrevolutionär bezeichnen.

„Die c.n.t. […] opferte der antifaschistischen Einheit manche Forderung, die von den revolutionären Arbeitern als unveräußerlich betrachtet worden war. Die Massen der c.n.t. hielten Disziplin und bissen die Zähne zusammen.“
(Im selben Bulletin).

Hier geht es um die Vernichtung der anarchistischen Machtpositionen an der französischen Grenze, um die direkte Vorbereitung zum konterrevolutionären Angriff. Die Anarchisten geben hier im Interesse der Einheit eine der wichtigsten Positionen preis und schneiden sich selbst die Verbindung zum französischen Proletariat ab. Dies alles zu Gunsten einer „Einheit“, die nur existieren konnte durch die absolute Niederlage des einen Teils, nämlich des kämpfenden Proletariats. Und dies, während die Anarchisten selbst erklären:

„Für die revolutionären Arbeiter Spaniens hatte die Verteidigung gegen den Faschismus nur Sinn als gleichzeitiger Kampf gegen das kapitalistische Regime.“
(selbes Bulletin).

Aber wir müssen wiederholen; die Widersprüche zwischen diesen Äußerungen und den Taten sind nur scheinbar. In Wirklichkeit besteht Übereinstimmung, weil die Anarchisten nun einmal unter Kapitalismus und Kommunismus, Revolution und Reformismus etwas Anderes verstehen als wir. Bei ihnen ist die Revolution nichts weiter als eine einfache Übernahme der Produktion durch die c.n.t. und Kommunismus nichts anderes als die Leitung der Produktion durch die Gewerkschaften. Wird dieser Maßstab angelegt, dann erhält das Zurückweichen der c.n.t. nur den Charakter ziemlich unbedeutender Konzessionen, während es in Wirklichkeit eine vollständige Kapitulation vor der Reaktion darstellt.

Die Haltung der C.N.T. während der Maitage

Nach alledem braucht die Haltung der c.n.t. während der Maitage keine Verwunderung mehr zu erregen. Wir erinnern an das scharfe Manifest der iberischen libertären Jugend2, welches die Anklage der anarcho-syndikalistischen Jugend gegen die Volksfrontpolitik enthielt und zur Kenntnis des spanischen Volkes gekommen ist. Hier handelt es sich um einen Teil der anarchistischen Bewegung, die sich mitten im revolutionären Kampf befindet und darum die Gegensätze zwischen Revolution und Konterrevolution scharf erkennt. Mit der offiziellen c.n.t. steht es dagegen ganz anders, sie hat sich im Laufe der Monate zu einem Teil des Regierungsapparates entwickelt. Ihre Komitees sind ein Teil des Staates. Ihre Leute sitzen in den Ministerien und hohen Armeepositionen. Aber sie sitzen dort nicht (natürlich nicht) als Vollstrecker des Willens der Arbeiter, sondern als Agenten des herrschenden Regimes. Die Regierungskrisis in Katalonien, die Ernennung eines Regierungsgenerals zum Kommandanten der katalanischen Miliztruppen, – der Versuch der Besetzung der Telefonzentrale hatte für sie nur die Bedeutung von Zwischenfällen. Sie widersetzte sich diesen Versuchen und billigte den Widerstand ihrer Anhänger gegen diese Maßregeln; aber sie ging nicht weiter, weil sie nicht begreifen konnte, dass diese Maßnahmen nur Teilaktionen im Rahmen eines großangelegten Versuches der Bourgeoisie, die Arbeiterklasse zu entwaffnen, darstellten. Die Anarchisten erhielten „Genugtuung“, indem einzelne „Provokateure“ ihrer Funktion enthoben und durch andere Offiziere zwecks Aufrechterhaltung der Ordnung ersetzt wurden. Und schon rief die c.n.t. ihre Anhänger zur Einstellung aller Aktionen auf. Der Zwischenfall war für sie erledigt, die Konterrevolution hatte gesiegt. Doch Letzteres scheint die c.n.t. nicht zu wissen.

„Wir sind ermächtigt zu erklären, dass weder die c.n.t. noch die f.a.i. noch irgendwelche andere verantwortliche Organisation, die von diesen abhängt, die antifaschistische Einheitsfront gebrochen oder dazu irgendeinen Versuch unternommen haben.
Die Gewerkschaften und die anarchistischen Organisationen arbeiten weiter mit voller Loyalität, wie bis heute, mit allen anderen gewerkschaftlichen und politischen Sektoren der antifaschistischen Front zusammen. Beweis dafür ist, dass die c.n.t. weiter an der Regierung der Republik, wie an der Generalidad von Katalonien mitarbeitet, wie auch in allen Gemeinden. Als der Konflikt in Barcelona hervorgerufen wurde, haben die c.n.t. im regionalen und Landesmaßstab alles getan, um den Konflikt so rasch wie möglich lösen zu können. Am zweiten Tage des Konfliktes kamen in Barcelona der Sekretär des Nationalkomitees der c.n.t. und der Justizminister, ebenfalls ein bekanntes Mitglied der c.n.t., an und taten alles Menschenmögliche, damit der Bruderkampf aufhörte. Außer den Schritten, die sie bei den Verantwortlichen der anderen politischen Sektoren unternahmen, richteten sie an die Bevölkerung von Barcelona Reden, die die ganze Welt gehört hat; sie muss erkennen, dass aus ihnen nur Ernst und Wille zur Einigkeit in der Aktion gegen den gemeinsamen Feinde, den Faschismus, sprachen.“

Der Sekretär des Nationalkomitees, Mariano Vasques, sagte in seiner Rede vor dem Mikrofon der Generalidad am 4. Mai folgendes:

„Wir müssen aufhören mit dem was hier vorgeht. Wir müssen aufhören, damit unsere Genossen an der Front wissen, dass wir uns die Realitäten des gegenwärtigen Augenblickes vor Augen gehalten haben, und damit sie wissen, dass wir gewillt sind uns miteinander zu verständigen. Keinen Augenblick darf dieses Gefühl der Unsicherheit im Hinterlande bestehen, darf der Faschismus Hoffnung haben. Stellt das Feuer ein, Genossen! Aber niemand soll diesen Waffenstillstand dazu benützen, Positionen zu erobern. Wir sind hier vereinigt und werden solange diskutieren, wie es notwendig ist, aber wir werden die Lösung finden, einen Akkord zwischen allem, weil es unsere Pflicht ist, weil es der Selbsterhaltungstrieb uns befiehlt, dass in diesem Punkte alle antifaschistischen Kräfte der Generalidad in Katalonien unter sich einig werden. Wir hier Versammelten und insbesondere das Exekutiv-Komitee der u.g.t. und das Nationalkomitee der c.n.t., wir sind in größter Eile hierher gekommen, um die schwere Situation, in der sich Barcelona befindet, zu beendigen und wir kommen mit der Absicht, das Gemeinsame zu finden, damit ein Ende gemacht wird mit dem, wir wiederholen es, was nur dem gemeinsamen Feind, dem Faschismus nützen kann.“
(aus Nr. 44 des Bulletin der i.a.a.).

„Stellt das Feuer ein, Kameraden!“ so spricht der anarchistische Vorsitzende aus dem Gebäude der Generalidad, welches durch die revolutionären Anarchisten belagert wird. „Stellt das Feuer ein“! Wir werden solange diskutieren, bis Revolution und Konterrevolution zur Übereinstimmung gekommen sind.

Die konföderale Presse hat verschiedene Aufrufe zur Wiederaufnahme der Arbeit erlassen. Die durch [das] Radio gegebenen Noten an die Syndikalisten, an die Verteidigungskomitees waren nichts anderes als Aufrufe zum Ernst und zur Befriedigung der Geister.

Ein weiterer Beweis dafür, dass die c.n.t. nicht die antifaschistische Einheitsfront brechen wollte, besteht darin, dass sie am 5. Mai die Bildung einer neuen katalonischen Regierung ermöglichte, an welcher der Sekretär des Regionalkomitees der c.n.t. selbst teilnimmt.

Wir sind weiterhin ermächtigt zu erklären, dass die c.n.t. und die f.a.i. in keinem Falle die öffentliche Gewalt, noch die Einrichtungen des Staates oder der Generalidad angegriffen haben. An keinem Orte, für den die Mitglieder der c.n.t. verantwortlich waren, ist ein ‚erster Schuss‘ gefallen.

Die verantwortlichen Männer der Konföderation, die an der Spitze des Kriegsministeriums stehen, haben Befehle an sämtliche Kräfte gegeben, die vom Ministerium abhängen, dass sie in keiner Weise in den Konflikt eingreifen sollen. Sie haben auch darüber gewacht, dass diese Befehle durchgeführt wurden.

Die verantwortlichen Genossen der konföderalen Verteidigungskomitees der c.n.t. und f.a.i. gaben die Parole aus, dass aus den Bezirken niemand sich entfernen und niemand auf Provokationen antworten soll, Befehle, die ebenfalls überall durchgeführt wurden.

Die Regionalkomitees der c.n.t.-f.a.i. haben weiterhin die Parole ausgegeben, dass sich in ganz Katalonien niemand bewegen und die Ordnung nirgends gestört werden solle.

Als es sich darum handelte, das normale Leben der Stadt wiederherzustellen, waren die c.n.t. und die FAI die ersten, die ihre Mitarbeit anboten, die ersten, die die Parole zum Einstellen des Feuers gaben. Als die Zentralregierung beschloss, die öffentliche Ordnung selbst in die Hand zu nehmen, war die c.n.t. die erste, die der öffentlichen Ordnung ihre Kräfte zur Verfügung stellte. Als die Zentralregierung beschloss, Kräfte nach Barcelona zu schicken, um die politischen Elemente, die sich der Kontrolle zu entziehen versuchten, zu überwachen, war die c.n.t. wieder die erste, die in allen katalonischen Bezirken den Durchmarsch dieser Kräfte erleichterte, und ermöglichte so, dass diese nach Barcelona kamen. (Nr. 44 des i.a.a.-Bulletins).

Arbeiterdemokratie! Die Losung der c.n.t. Garantiert durch ihr Programm und durch die Verbündung mit der u.g.t. Was aber ist die Wirklichkeit?

Ministerkonferenzen, Aufrufe, den Kampf zu beenden, Verbote, die die Bewegungsfreiheit der Arbeiter einschränken, Begünstigung der Truppentransporte nach Barcelona, Bewachung jener „Elemente, die sich der Kontrolle entziehen“. Und die Arbeiter – sie müssen den Parolen gehorchen und abwarten, was Mariano Vasques mit Herrn Caballero und seinesgleichen verabredet. Und dann: Gehorsam! Keine Opposition, in jedem Falle keinen Kampf. Diskutieren. – So verteidigt die c.n.t. die Arbeiterdemokratie! So verteidigt sie die Revolution!

Aber nochmals: Es ist dies die logische Konsequenz der ganzen Entwicklung der c.n.t. und ihrer Auffassungen. Bedeutet nämlich Arbeiterdemokratie nichts anderes als paritätische Vertretung der Organisationen, dann muss der Kompromiss mit der u.g.t. um jeden Preis gerettet werden. Ein c.n.t.-General, Mariano Vasques, hat aufgerufen, den Kampf zu beenden. Er ist c.n.t.-Mann, also: Er personifiziert das katalonische Proletariat. Was wollen die Arbeiter noch mehr? Ihr Vertreter diskutiert mit Caballero, ist dies nicht die beste Garantie dafür, dass sie zu ihren Rechten kommen? Arbeiter Kataloniens, geht nur ruhig nach Hause, Mariano Vasques wird sowohl die Demokratie als auch die Revolution retten.

Das einen Tag später erschienene Bulletin vom 11.5., aus dem wir bereits einige Zitate entnahmen, gibt zwar einen einigermaßen anderen Eindruck von den Ereignissen, obwohl die konkreten Tatsachen dieselben sind. Während sich in dem zitierten Manifest der c.n.t.-f.a.i. diese Organisationen jeder Solidarität verschließen, schreibt das Bulletin der i.a.a. vom 11. Mai:

„Der 3. Mai bewies jedoch Barcelona von neuem, was der katalonische Anarcho-Syndikalismus ist. Wie am 19. Juli, so wurde auch an diesen Tagen eine Totalmobilmachung der Arbeiterbevölkerung der Stadt durchgeführt. Diese Bewegung war ein Plebiszit auf den Straßen. Alle Arbeiterviertel der Stadt, alle ohne Ausnahme, waren mit einem Schlage in Festungen der c.n.t. verwandelt. Die Wohnbezirke der proletarischen Massen Barcelonas stehen zur c.n.t. – heute wie immer.“

Inzwischen wurden auch hier dieselben Tatsachen bezüglich der Aufrufe zur Niederlegung der Waffen wiederholt. Noch einmal wird der Beweis geliefert, dass die Anarcho – Syndikalisten außerstande sind, den Klassenkampf als Klassenkampf zu sehen. Ihnen erscheint die ganze Angelegenheit nur als ein Kampf für diese oder jene Organisation. Obgleich sie selbst konstatiert, dass: „ Wo in diesen Stadtteilen, Kasernen und Wachen der Polizei und der republikanischen und marxistischen Milizen vorhanden waren, stellten sich diese entweder, wie die Polizei in Sans und San Gervasio, auf die Seite der Arbeiter oder sie erklärten ihre Neutralität wie die Soldaten der kommunistischen Kaserne in Sarria.

“[…] Die alte Polizei, die Marxisten und die Republikaner hingegen hielten die bürgerlichen Wohngegenden und das Stadtinnere besetzt, wo die durch sie vertretenen Bevölkerungsteile ansässig sind.“
(aus demselben Bulletin).

Die Folgen der Liquidation

Die c.n.t. half den Kampf in den Straßen Barcelonas mit allen Mitteln zu liquidieren. Man lese, wie i.a.a. die Folgen der Liquidation in ihrem, bereits oft zitierten Bulletin beurteilt:

„Am Abend des 5. Mai wurde eine neue katalonische Regierung gebildet. Sie ist zusammengesetzt aus je einem Vertreter der c.n.t., der u.g.t., der bürgerlichen Linken und der Kleinbauern. Nachdem das Feuer überall eingestellt und die Barrikaden auf Anordnung des Komitees der c.n.t. und f.a.i. zum großen Teil wieder abgebaut waren, griff auch die Regierung von Valencia ein. Es kamen in Barcelona 5000 Mann neue Guardia de Asalto an, die – so wird angegeben – die bisherige katalonische Polizei ablösen sollen. Wie es im Autonomiestaat Kataloniens für innere Unruhen vorgesehen ist, übernahm die Zentralregierung außerdem provisorisch die Kontrolle der öffentlichen Ordnung in Katalonien. Der Minister Aiguade und der Polizeichef Rodriguez Salas sind aus ihren Funktionen ausgeschieden. Zwei ausgesprochene Feinde der revolutionären Arbeiter, für die die Aufrechterhaltung der ‚öffentlichen Ordnung‘ gleich bedeutend war mit der Ausrottung der c.n.t. und der f.a.i., sind damit ausgeschaltet worden. Die von Valencia einsetzten neuen Verantwortlichen der öffentlichen Ordnung, denen jetzt die Polizeikräfte und die antifaschistischen Kontrollpatrouillen unterstehen, versichern, ihre Aufgabe unparteiisch erfüllen zu wollen. Die nächsten Wochen werden es zeigen.“

Es will uns scheinen, dass die Arbeitermacht – von der Ernennung einiger Polizeioffiziere abhängig – auf eine sonderbare Weise gesichert ist. Eine anarchistische Forderung heißt, „Die Arbeiter ernennen ihre Kommandanten selbst“. Jetzt aber ernennen die Kommandanten ihre Untergebenen. Lasst uns also hoffen, dass sie ihre Aufgabe unparteiisch erfüllen, sie haben es doch versprochen. (Aiguade und Salas etwa nicht?) „Die kommenden Wochen sollen es zeigen“. Aber bereits der 6. Mai hat es gezeigt. Auf derselben Seite desselben Bulletins lesen wir:

„Noch nachdem c.n.t. und u.g.t. am Morgen des 6. Mai einen gemeinsamen Aufruf zur Wiederaufnahme der Arbeit erlassen hatten, stürmten Kommunisten und Polizei das Ledersyndikat der c.n.t., wo sie die gesamte Einrichtung zertrümmerten, andere Syndikate, wie Sanität und Distribution wurden ebenfalls angegriffen und durch die Beschießung fast zerstört. Massenhaft wurden in der inneren Stadt Genossen der c.n.t.-f.a.i. entwaffnet und verhaftet, trotzdem sie wie alle anderen antifaschistischen Elemente zum Waffentragen autorisiert sind. In den Arbeitervierteln der Stadt jedoch gingen auch die bewaffneten Proletarier energisch vor gegen diejenigen Polizeikräfte, die sich gegen die Arbeiter gestellt hatten. So ergab sich z.B. nach heftigem Kampf eine Kaserne der Zivilgarde und 400 Mann Polizei fielen in die Hände der c.n.t. In ihrer Kaserne fand man faschistische und monarchistische Abzeichen. Trotzdem behandelte man die Gefangenen menschlich und gab sie wie alle anderen von den Arbeitern entwaffneten und festgesetzten Polizisten nach dem Waffenstillstand wieder frei.“

Für dieses Handeln der c.n.t. gibt es nur eine Bezeichnung, nämlich verbrecherisch. Die Arbeiter, die die Kaserne der reaktionären Guardia Civil stürmten, taten dies sicherlich nicht, um ihnen anschließend die Freiheit zu geben. Sie haben die Polizisten im guten Vertrauen der c.n.t. übergeben und diese hat die bewaffneten Faschisten und Monarchisten wieder frei gelassen! War dies vielleicht der Preis, den sie für ihre Ministersessel bezahlte? In derselben Zeit wurden Genossen der c.n.t.-f.a.i. massenweise arrestiert! Und diese Tatsache erscheint der c.n.t. so nebensächlich, dass sie die „kommenden Wochen abwarten will, um die Loyalität des neuen Kommandanten kennen zu lernen“. Ist es nicht dieser Haltung zu danken, wenn die c.n.t. von der Bourgeoisie zum alten Eisen gerechnet wird? Und hat die Arbeiterklasse viel dabei verloren?

Die Erklärung für dieses jämmerliche Verhalten ist in der Angst vor Franco zu suchen. Die Angst vor Franco bringt die c.n.t. dazu, sich und die Arbeiterklasse an jene „Demokratie“ auszuliefern, die nichts lieber will, als den Kampf gegen Franco durch einen Kompromiss mit demselben zu beenden. Es ist dieselbe Demokratie, die der Aragonfront die Waffen vorenthält, die die revolutionären Arbeiter ins Gefängnis wirft und den Verräter von Malaga beschützt. Es ist dieselbe „Demokratie“, die die reaktionäre Guardia Civil neu formiert und faschistische Spione unter ihren Schutz nimmt. Und dieser „Demokratie“, der Bundesgenossin des internationalen Kapitals will man die Macht geben aus Angst vor einem Siege Francos. Sie ist nichts anderes als die Verkörperung der Konterrevolution. Ihr müssen die Arbeiter denselben Widerstand entgegensetzen wie Franco, oder aber sie werden der dunkelsten Reaktion ausgeliefert sein. Es gibt für die Arbeiterschaft nur eine Hoffnung und nur eine Möglichkeit: der unversöhnliche Kampf gegen Faschismus und Reaktion bis zum Äußersten. Dies aber hat die CNT vergessen.

Im Bulletin, Nr. 45 der i.a.a. scheint die c.n.t. eine wichtige Entdeckung über den Charakter der Regierung zu machen: „Bereits seit Monaten war deutlich zu erkennen, dass die großen Arbeiterorganisationen (c.n.t. und u.g.t.) aus der Leitung der öffentlichen Angelegenheiten ausgeschaltet werden mussten. Die verkappte Konterrevolution forderte es und ausländischen Mächte, deren Dienerin die Konterrevolution ist, haben es soweit gebracht.“

Die verkappte Konterrevolution forderte es. Und die c.n.t. diskutierte und gehorchte.

„Der spanische Antifaschismus treibt nun steuer- und richtungslos dahin, es ist traurig, aber es muss laut gesagt werden. Ein Haufen von Nutznießern dieser Situation will das Steuer nach rechts herumreißen und so schnell wie möglich in den Hafen eines sogenannten Friedens einlaufen, der nicht der Sieg über den Faschismus wäre.“
(Bulletin, Nr. 45).

Die c.n.t., die stets von sich behauptete, dass sie das „wirkliche katalonische Volk und damit den wirklichen Antifaschismus repräsentiere“ erkennt also selbst ihre Ohnmacht. Wenn der spanische Antifaschist nun Steuer und Richtung verloren hat, dann heißt das nichts anderes, als dass die c.n.t. nicht mehr im Stande ist, ihm diese zu geben, dass sie außerstande ist, die Aufgabe, die sie auf sich nahm, zu erfüllen.

„Man will die Zukunft Spaniens, die Zukunft des Proletariats, das sein Blut im Kampfe vergießt, man will sie verschachern; verschachern zusammen mit der internationalen Demokratie und dem internationalen Faschismus. Aber das Proletariat ist nicht in den Kampf gezogen für die Verteidigung einer verfälschten demokratischen Republik, sondern für den Sieg der Revolution, für ein neues Leben, für die moralische und ökonomische Umgestaltung des Landes. Die Konterrevolution jedoch wollte den Vormarsch der Massen nicht länger dulden, die sich zum Kampf bereithielten und auf die Straße gingen, nur auf sich, aber nicht auf gewisse Mächte vertrauend, die nichts anderes wollen als eine Rückkehr zur Vergangenheit. Hier liegt der Schlüssel zum Verständnis der Ereignisse in Barcelona, der Hauptstadt des revolutionären spanischen Proletariats.“
(Bulletin, Nr. 45).

Und wer hat mitgeholfen, den Aufmarsch der Massen zurückzudrängen? Die c.n.t.!

Aber auch jetzt, wo das Fiasko der bisherigen Haltung der c.n.t. offensichtlich ist, kann sie vom bisherigen Weg nicht mehr zurückkehren. Ihr ganzer organisatorischer Apparat ist nun einmal eingestellt auf den Versuch, das ökonomische Leben mittels der Gewerkschaften zu verwalten. Hiervon kann sie nicht loslassen. Hierin liegt dann auch die Ursache, dass die c.n.t. auch jetzt noch die Parole der Zusammenarbeit mit der u.g.t. anhebt.

„Jetzt mehr denn je Allianz c.n.t.-u.g.t. Jetzt mehr denn je: Arbeiter Spaniens, vereinigt euch!“
(Bulletin, Nr. 45).

Jawohl, vereinigt Euch, aber nicht in der Allianz c.n.t.-u.g.t.. Das wäre die Allianz mit der Konterrevolution!

Der Anarcho-Syndikalismus hat seine Unfähigkeit bewiesen!


1A.d.R., damalige Präsident von Katalonien.

2A.d.R., gemeint ist die FIJL Federación Ibérica de las Juventudes Libertarias.

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