Auf libcom und auf archives autonomies gefunden, die Übersetzung ist von uns.
Gewalt und Klassenbewusstsein im revolutionären Kampf
In diesem Text, der von der L‘ Ouvrier Communiste verfasst wurde, werden ihre Ansichten über die Entwicklung des Klassenbewusstseins im Proletariat und seine Verflechtung mit Gewalt dargelegt. Ursprünglich veröffentlicht in „L’Ouvrier Communiste N°12 – Octobre 1930“.
Alle oder fast alle sogenannten Anführer der proletarischen Bewegung haben die Möglichkeit einer autonomen Entwicklung des Arbeiterbewusstseins geleugnet und es auf das reine ökonomische Bewusstsein, auf das Bauchgefühl, auf das Arbeiterbewusstsein beschränkt, oder sie waren der Meinung, dass sich dieses Bewusstsein nach bereits festgelegten Richtlinien entwickeln muss, die von ihnen vorgegeben werden. Die Sozialdemokraten, die Bolschewisten, fast alle jene Politiker, die sich nie entschieden haben, sich endgültig von der nicht arbeitenden Klasse, aus der sie stammen, abzuwenden, oder die das Proletariat, in dessen Mitte sie geboren wurden, verlassen haben, haben die Ideologie eifersüchtig von der proletarischen Bewegung getrennt und den Eindruck erweckt, dass diese Ideologie ein exklusives Produkt ihrer Gehirne sei. Selbst die Anarchisten, wenn sie die Unsterblichkeit der anarchistischen Idee verkünden, trennen ihre Ideologie von der proletarischen Bewegung. Anarchistische Idealisten, wie die von „Studi Sociali“, lassen ihre Ideologie über die Massen siegen, sie machen sie zu einer besonderen Mystik privilegierter Gehirne, Offenbarer des anarchistischen Wortes. Und darin unterscheiden sie sich überhaupt nicht von Lenins Gedanken, der die kommunistische Ideologie als notwendiges Produkt der intellektuellen Ausarbeitung der großen Denker aus der bourgeoisen Klasse betrachtete. Auf diese Weise wird das Problem des proletarischen Bewusstseins dogmatisch und a priori gelöst. Wenn die Ideologie der Arbeiterbewegung vorausgeht, wenn sie eine intellektuelle Vorwegnahme ist, dann muss sich die Arbeiterbewegung selbst nur noch von dieser Ideologie durchdringen lassen, um ihr revolutionäres Bewusstsein zu entwickeln. Aber es gibt noch mehr: Da das Proletariat sich heute, unter dem kapitalistischen Regime, nicht selbst erziehen kann – dies ist vor allem ein Gedanke von Rosa Luxemburg, die zwar nicht die Qualität einer Anführerin, aber die einer Heldin hat – bleibt es ihm nur, den Kommunisten zu vertrauen, die, sobald die Revolution stattgefunden hat, in der Lage sein werden, dieses Bewusstsein für es zu schaffen.
Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass diese besondere Art, das Problem des proletarischen Bewusstseins in der Revolution zu betrachten, einen Teufelskreis darstellt. Wenn dieses Bewusstsein in allen Fällen, vor und nach der Revolution, nur eine Folge ist, wird es niemals revolutionär sein; und das Proletariat und folglich die neue soziale Gesamtheit werden immer einer Ideologie der Elite, einer Herrschaft der intellektuellen Elite, unterworfen sein. Diese Theorie hat daher einen ausgesprochen bourgeoisen Aspekt, da sie zu Skepsis und Entmutigung führt, da sie die tatsächliche Entwicklung der geistigen und spirituellen Energien der Massen als unmöglich ansieht. Die Massen haben und werden keine eigenen intellektuellen Initiativen haben, da die Revolution, selbst wenn sie stattfindet, nur bereits ausgearbeitete und entwickelte Theorien übernehmen muss.
Und es ist immer noch eine unbestreitbare Tatsache, dass diese Theorie in völligem Widerspruch zur materialistischen Dialektik steht, d.h. zur Auffassung der Geschichte als einem Prozess von Konflikten zwischen Kräften, die auf der Grundlage der ökonomischen Kraft wirken. Tatsächlich erlaubt uns diese Art, die Entwicklung der Geschichte zu sehen und zu beobachten, in keiner Weise, die Ideologie, d.h. die bewusste Reflexion der Realität, als etwas zu betrachten, das diese Realität übersteigt und außerhalb von ihr steht. Die Esoterik, d.h. die schwierige und geheimnisvolle Form, die die Ideologie zu allen Zeiten annimmt, erscheint eher als eine besondere List, die darauf abzielt, sie für einfache Gemüter, für nicht allzu entwickelte Gehirne unzugänglich zu machen. Es ist bezeichnend, dass die ungeheure Schwierigkeit, die Theoretiker aller angeblich revolutionären politischen Schulen der ideologischen Verdauung zuschreiben, dass sie sich wie Vogelscheuchen gebärden, wenn sie von etwas Schwierigem sprechen, das ist, was sie mit bourgeoisen Philosophen wie Hegel, Kant und Schopenhauer gemeinsam haben, die wie die ägyptischen Priester die hermetischen Geheimnisse der bourgeoisen Ideologie bewahrten. Viele sagen: Nicht alle Arbeiter können Theoretiker werden; daher ist es unwichtig, ob die wenigen, die dazu in der Lage sind, weiterhin Gesetze machen, ob sie nun Kommunisten oder Anarchisten sind.
Offensichtlich hat der Idealist, der zugibt, dass der Geist sozusagen keine materielle Energie ist, keine Funktion der Materie, wie Engels sagen würde, gute Gründe, etwas Ähnliches zu behaupten. Aber in diesem Fall, wenn der Geist, wenn die intellektuelle Tätigkeit kein Element der Entwicklung ist, wird die Sache plötzlich beschleunigt, da die Revolution auf dieser Grundlage eine reine Willkür der bewussten Eliten bleibt, ein Umbruch des Denkens in der intellektuellen Aristokratie. Aber es gibt noch viel mehr, was für die komische Natur der Doktrin dieser unbewussten Hegelschen Minnesänger spricht, die im 20. Jahrhundert unter dem Balkon einer romantischen alten Dame tiefe anachronistische Seufzer ausstoßen. Und ihre Revolution würde in einem so erbärmlichen Zustand enden, dass wir am Ende sagen würden, dass sie es nicht wert war.
Das Seltsame ist, dass sich diese bourgeoise Mentalität unter den Vertretern der marxistischen Dialektik manifestiert, unter denen, die sich selbst exkommunizieren und wieder exkommunizieren, manchmal von Moskau, manchmal von Konstantinopel aus: Es wäre besser zu sagen: was komisch ist.
Im Allgemeinen ist der Parteimann so, er nimmt wichtige karikierte Posen ein, die unsere proletarische Nachwelt zum Lachen bringen werden.
Karl Marx hat nie wirklich geglaubt, dass das proletarische Bewusstsein eine exakte Kopie seiner Gedanken sein müsse, und andererseits war er nicht der Ansicht, dass er dem Proletariat eine neue Weltanschauung, d.h. eine neue Philosophie, angeboten habe, als er dachte, dass das Proletariat durch die Kritik an bourgeoisen Philosophien alle Philosophien in die Luft werfen und sie durch Erfahrung, d.h. experimentelle Wissenschaften, ersetzen müsse. Marx sprach eher von einem Sprung von der Welt der Sklaverei in die Welt der Freiheit. Was ist diese Welt der Sklaverei, wenn nicht der Kapitalismus, in dem die ökonomischen Kräfte den Produktionsprozess, die soziale Organisation und auch ihren ideologischen Überbau beherrschen? Wo sind dann die Gehirne mit dem dominierenden Spiel der bourgeoisen Kräfte verbunden? Und wenn dies eine Tatsache ist, folgt daraus, dass, wenn Formen der proletarischen Ideologie auftauchen und sich durchsetzen, dies genau auf den sich entwickelnden Klassenkampf zurückzuführen ist. Und diese ideologischen Formen stehen keineswegs über den Formen des Kampfes, sondern, obwohl sie von ihnen beherrscht werden, spiegeln sie nur auf synthetische Weise, wenn man so will, die Stimmung der Massen wider, und sehr oft, und es ist schade, dass sie sich manchmal sogar widersprechen, wie Lenin sagte, bleiben sie weit hinter den Formen des Kampfes und der Stimmung der Massen zurück, und das ist im Übrigen nur natürlich. Wie wir sehen, folgen die Hüter der ideologischen Wahlurnen der Realität Schritt für Schritt und verfälschen sie sogar sehr oft.
Es bleibt daher eine Tatsache, dass die Erfahrung, die die Grundlage theoretischer Formen bildet, die Grundlage jeder bewussten Entwicklung ist und dass das Proletariat sein Klassenbewusstsein durch Erfahrung erlangen kann. Und es ist keine Tatsache, dass bloßer ökonomischer Komfort eine Quelle bewusster Entwicklung ist. Die Tatsache, dass wir heute im Gegenteil eine psychologische Korruption unter den Arbeiteraristokratien beobachten müssen, lässt uns glauben, dass nur harte Erfahrung sie auf den Weg der Klasseneinheit zurückbringen kann, aber nur teilweise. Folglich kann niemand glauben, dass dieses Arbeiterbewusstsein eine kontinuierliche und allmähliche Entwicklung auf der Grundlage einer ewigen bourgeoisen Demokratie erfahren wird; dass es der Prozess einer friedlichen Evolution oder das Produkt einer einfachen Propagandaarbeit sein wird. Es ist das Produkt einer Reihe von Elementen: Es ist unbestreitbar, dass es falsch wäre zu behaupten, dass das Gehirn der Arbeiter in der letzten historischen Periode keine Fortschritte gemacht hat und dass auch die lange Phase der ökonomischen Kämpfe keine Ergebnisse gebracht hat; ein großer Teil der Arbeiter hat gelernt, mit dem Gehirn zu denken, wenn auch auf unzureichende Weise. Natürlich endete diese Entwicklung der Mentalität der Arbeiter in einer Degeneration, da sie in der Blütezeit des Kapitalismus diesen als etwas Stabiles betrachteten, mit dem es sich zu leben lohnte, wenn auch in gewisser Übereinstimmung mit ihm. Aber jetzt folgt eine neue Epoche, jetzt geht der Wohlstand des Kapitalismus zurück, und hier stehen wir an der Schwelle zu immer gigantischeren Krisen, hier stehen wir in Frage, mitten in einer ökonomischen Periode. Und nun muss dieses Arbeiterbewusstsein einen weiteren Schritt nach vorne machen, da das Denken der Arbeiter mit größeren Problemen konfrontiert ist. In Italien zum Beispiel führt dieser neue Schritt nach vorne des proletarischen Bewusstseins die Arbeiterklasse zur Besetzung der Fabriken. In dieser Periode der Geschichte der italienischen Arbeiterbewegung standen zwei Elemente im kollektiven Geist des Proletariats im Konflikt: die sozialdemokratische Tradition und der neue revolutionäre bewusste Faktor: die Enteignung des Kapitals. Leider war es der erste Faktor, der die Oberhand behielt. Von Kampf zu Kampf, im Bürgerkrieg, steigerte das Proletariat als Masse seine bewusste Stärke immer mehr: Nur ein Element, das Element der Hoffnung auf eine friedliche Entwicklung hin zum Sozialismus, behielt die Oberhand. Aber auch wenn dieser Faktor schwer wiegt, ist eine andere Tatsache klar geblieben: Damit das Proletariat seine Zögerlichkeit überwindet und zu einer höheren Bewusstseinsstufe übergeht, war Gewalt ein notwendiges Element. Der Klassenkampf in Italien und Westeuropa ist in eine neue Phase eingetreten: Dieser Faktor, der in den Augen der Prahler der parlamentarischen Politik immer mehr zu schwinden schien, taucht in der Geschichte erneut als entscheidendes Element auf. Die Bourgeoisie, die sich in der tödlichen Phase ihrer endgültigen Krise befindet, greift hier offen an und errichtet das Terrorregime, wie in Italien: Dort beginnt sie, ihre reaktionäre Offensive zu starten, wie in Österreich und Deutschland. Überall schärft sie ihre Waffen, überall bereitet sie sich durch Zwangsschlichtung oder Sozialversicherung, wie in Frankreich, auf den Angriff gegen die Lohnempfänger, gegen den Lebensstandard der Arbeiterklasse vor.
Die Aussichten des Kampfes werden immer deutlicher. Überall sieht sich das Proletariat mit dem Schauspiel der Brutalität der Polizei oder der Faschisten konfrontiert. In Italien scheint diese Methode die einzige zu sein, um gegen das Regime zu kämpfen. Gewalt: die Gewalt einiger weniger heute, die Gewalt vieler morgen, die der Massen. Männer treten aus dem Herzen der Arbeiterklasse hervor und streiken. Sie sind isoliert, aber nicht wie Bresci, Passannante1 und andere Vorreiter des revolutionären Epos.
Wenn diese großen epischen Figuren der proletarischen Bewegung in ihrer Isolation noch schöner waren, so erhebt sich heute hinter den Lucetti, hinter den Donati, den Della Maggiora und den anderen ein zustimmendes Raunen, eine dumpfe Stimme des Gewissens, die sich entwickelt, eine Flut von aufständischen Geistern, die ihnen dicht auf den Fersen folgt. Diese Männer, die ihr Leben gaben, um den neuen proletarischen Geist zu schaffen und an der Bildung der neuen Ebene des proletarischen Bewusstseins mitzuwirken – dreißig Jahre im Gefängnis sind auch ein Tod –, dürfen nicht einfach nur gerechtfertigt werden, sondern sie müssen verehrt und nachgeahmt werden. Gewalt anzuwenden, zuzuschlagen, zu neuen Kämpfen, neuen Konflikten anzustacheln, ist eine Pflicht für Revolutionäre. Der alte Witz über die Feiglinge, die aus Angst vor der Reaktion nicht streikten, hat heute keine Anhänger mehr, außer unter den politischen Speichelleckern, unter den Profiteuren der Konzentration und den bolschewistischen Söldnern, die im Interesse der russischen neubourgeoisen Kaste 1924 das Signal zum Ende des Bürgerkriegs gaben, unter den wehleidigen Anhängern des Opfers Matteotti, die die Luft mit ihrer Feigheit verpestet haben, und den schmutzigen Verleumdern von Lucetti2, die dem Proletariat Italiens die Schande der Bombacci-Farce3 angetan haben. Und auch unter den Profiteuren der Auswanderung in Frankreich und den Herausgebern dieses schmutzigen Pariser „Käseblattes“, das L’Humanité heißt, die heute in der individuellen Tat eine Methode sehen, die der Revolution schadet. Diese Ansammlung von Feiglingen, diese geballte Feigheit, um den Ausdruck des tapferen alten Mannes Paolo Schicchi zu verwenden, der den offenen Kampf und den Frontalangriff fürchtet, diese dreckige Bande von Söldnern kann heute nur noch das Heldentum derer diffamieren, die sie niemals nachahmen, sondern immer leugnen werden.
Und in diesem komplexen Prozess, in dem sicherlich neue Enttäuschungen für das Proletariat vorbereitet werden, wird die Arbeiterklasse die Mittel finden, bewusst zuzuschlagen und bewusst zu gewinnen.
Bewusstsein und Gewalt sind zwei Faktoren, die sich gegenseitig ergänzen und sich nicht getrennt voneinander entwickeln können. Und in den neuen Kämpfen, in der neuen Phase des Bürgerkriegs, die sich in Italien erneut abzeichnet und auf die wir in Deutschland, Österreich und den anderen kapitalistischen Ländern hoffen, hoffen wir, dass das Bewusstsein der Arbeiter das Niveau erreicht, das ausreicht, um zu gewinnen.
Und das auch ohne Ihre theoretischen Ergüsse oder sogar die alten Mumien der marxistischen Orthodoxie.
1Gaetano Bresci: Attentat auf König Humbert I., 1900; Passannante: Attentat auf denselben König, 1878.
2War Mitglied der Arditi del popolo und für ein Attentat auf Mussolini verantwortlich.
3Bombacci gehörte der Minderheit der PCd’I an, die im Gegensatz zur Parteilinie die Aktion der Arditi del popolo befürwortete. 1926 aus der PCd’I ausgeschlossen, näherte er sich dann deutlich den Faschisten an.
]]>Gefunden auf la jauria de la memoria, die Übersetzung ist von uns. Eine weitere Kritik an der miserablen Figur von Toni Negri. Der Artikel weißt Fehler auf die in der Einleitung korrigiert werden. Wollten auch nur darauf hinweisen.
Italien-Chile, 2005: Wer ist Toni Negri und warum ist er hier?
Toni Negri während des Prozesses am 7. April. Hinter ihm stehen einige seiner Mitangeklagten. Einige Zeit später wurde Negri nicht mehr vom Staat angeklagt, sondern nahm im Parlament an dem Prozess teil.
Anmerkung der Redaktion: Hier ist ein alter kritischer Text über den angesehenen Professor Negri, einen gatopardo1 mit einer raffinierten Fähigkeit, dorthin zu gehen, wo die Sonne aufwärmt. Es ist kein Zufall, dass seine beiden Besuche in Chile in die Zeit nach akuten sozialen Konflikten fielen, 2005 mit den Erfahrungen der Proteste beim APEC-Gipfel und 2011, als die Studentenbewegung alle Prognosen über den Haufen geworfen hatte.
Professor Negri ist eine jener Kuriositäten, die sich im revolutionären Milieu tummeln: Obwohl er nie ein Kämpfer war, erlangte er in der Welt der revolutionären sozialen Kämpfe der 1960er und 1970er Jahre enormen Ruhm. Er gründete Potere Operaio und stellte Theorien auf, eine Menge Theorien. So ähnlich wie Alberto Mayol in Chile, der auf der Grundlage einer gelegentlich konfliktreichen Bewegung lebte. So lebte er zwischen seinen Professuren für Staatstheorie an der Universität Padua und seinen Beiträgen zu verschiedenen marxistischen Zeitschriften, als er im Prozess vom 7. April 1979 verhaftet und (zusammen mit anderen Forschern an der Universität Padua, Journalisten und militanten Gründern von Potere Operaio wie Emilio Vesce, Oreste Scalzone, Franco Piperno, Luciano Ferrari Bravo, Alessandro Serafini und Alisa Del Re) verschiedener Anschuldigungen beschuldigt wurde. Der Professor wurde als Drahtzieher des Todes von Aldo Moro angeklagt (könnte man ihn vielleicht wegen irgendeiner nicht-intellektuellen Tat anklagen?), was dazu führte, dass er einige Jahre im Gefängnis verbrachte. An sich bedeutete der ganze Prozess vom 7. April die umfassende Umsetzung des Calogero-Theorems (auch Umwelttheorie genannt), das der Richter und Militante der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) Pietro Calogero vorgeschlagen hatte und das durch Amalgamierungen und Syllogismen all diejenigen auf der Linken der PCI, von der autonomen Bewegung bis zu den Roten Brigaden, in den großen Sack einer „bewaffneten Partei“ warf, die von cleveren und perfiden „schlechten Meistern“ geführt wurde. Der Glaube an diese Hypothesen über die intellektuelle Urheberschaft war so groß, dass Pietro Calogero, mittlerweile im Ruhestand und in den 70ern, 2010 seine Erinnerungen in seinem Buch Terror Rojo veröffentlichte . De la autonomía al partido armado, zusammen mit Michele Sartori, Journalist bei L’Unità (einer Mitgliedsorganisation der PCI), und Carlo Fiuman, Professor an der Universität Padua. Darin schwärmt er weiterhin unbeirrt von Verschwörungen und Geheimnissen, trotz gegenteiliger Zeugenaussagen und Gerichtsurteile.
Im September 1982 erschien Professor Negris Unterschrift neben der von Paolo Virno und anderen Gefangenen im Rebibbia-Gefängnis, Mitgliedern von Potere Operario, Guerriglia Comunista, Unità Comuniste Combattenti und vielen anderen aus dem Bereich der Arbeiterautonomie, auf dem Text Una Generazione Politica Detenuta, bekannt als „das Manifest der 51“, einem Dokument der Distanzierung (Ablehnung des bewaffneten Kampfes, aber auch der Denunziation). Die „Strategie der Distanzierung“ war ein Versuch des Staates, den revolutionären bewaffneten Kampf in Italien zu entzweien und tiefe Gräben in der autonomen Bewegung aufzureißen. Mit den Worten von Rolando d’Alessandro: „Dank der akribischen Arbeit aller konterrevolutionären Kräfte wurde das, was nie den Bereich einer Debatte über politische Zweckmäßigkeit hätte verlassen dürfen, zu Sätzen mit moralischen Konnotationen und es wurden neue Wahrheiten aufgedrängt, wie “in der Demokratie kann alles ohne Gewalt erreicht werden„ oder dass “Gewalt zu Unvernunft führt“, Wahrheiten, die in zahlreichen Pseudo-Analysen, die innerhalb der verfeindeten Gebiete selbst geschmiedet werden sollten, nachhallen sollten, wie „die Waffen brachten die Stimmen der Bewegung zum Schweigen“, die viel propagandistische Wirkung, aber keinen politischen Tiefgang hatten. Dieses Phänomen wurde seinerzeit in der Schrift El fin de la clase política de la Autonomía Obrera Organizada (Das Ende der politischen Klasse der organisierten Arbeiterautonomie ) und später und kurz von Salvatore Verde in seinem Buch Máxima Seguridad behandelt. De las cárceles especiales al Estado penal (insbesondere in den Kapiteln Las cárceles especiales y el „pentitismo “ und El fin de la emergencia).
Im darauffolgenden Jahr, 1983, wurde Professor Negri während der Verbüßung seiner Untersuchungshaft als Abgeordneter für die sozialdemokratische Radikale Partei nominiert und gewählt, erhielt Immunität und konnte wieder auf die Straße gehen, bis seine Immunität aufgehoben wurde. Doch da befand er sich bereits im Exil in Mitterrands sozialdemokratischem Frankreich und nutzte das politische Asyl, das ihm angeboten worden war, während dieselbe Regierung Türen eintrat und Wohnungen und Soziale Zentren auf der Suche nach Gefährten der Action Directe und der außerparlamentarischen Linken durchsuchte. Von dort kehrte er 1997 zurück, um seine auf 12 Jahre reduzierte Strafe zu verbüßen. Seit 2003 kann er in regelmäßigen Abständen freigelassen werden.
Der Prozess vom 7. April endete mit 80 Angeklagten, 70 Freisprüchen, 60.000 verhörten Personen und 25.000 Verhaftungen. Scalzone wurde zu 8 Jahren verurteilt, Piperno zu 2 Jahren, aber er ging ins französische Exil, bis die Verjährungsfrist abgelaufen war. Vesce wurde freigesprochen.
Sicherlich hat Professor Negri immer versucht, die italienische autonome Bewegung der 1970er Jahre anzuführen („autonom“, verstanden als staatsfeindlich, kommunistisch und anarchistisch), und als sie sich abnutzte, entwickelte er seine Figur als falscher Kritiker weiter, indem er ohne Ekel von der Straße ins Parlament ging, wo geredet wird und ein Dialog mit den anderen Mächten des Staates stattfindet. Man darf nicht vergessen, dass ein Parlamentarier eine Macht des Staates ist, also ist er Teil des Staates und trägt dazu bei, ihn aufrechtzuerhalten; auch wenn er davon träumt, dass er ihn verändern kann: Nur Albträume können das Individuum aufwecken. Nur Aktionen sind in der Lage, die Realität, die objektiven materiellen Bedingungen, zu verändern. Professor Negri weiß eine Menge darüber. Und wir bestehen darauf, ihn Professor zu nennen, denn das ist es, was er ist: niemals ein Revolutionär.
Ungeachtet der Unterschiede, die es zum Kommunismus, zum Marxismus geben mag, kann man die revolutionäre Bedeutung, die diese Bewegung in der Geschichte der ausgebeuteten Gruppen hatte, nicht ignorieren. Es reicht schon, sich daran zu erinnern, unter welchen Ideen der bewaffnete Widerstand gegen die Diktatur in Ländern wie Argentinien, Chile oder Brasilien artikuliert wurde.
Ebenso ist es notwendig, die Verärgerung zu verdeutlichen, die wir empfinden, wenn wir auf dieser Seite eine Notiz der Leute von Comunizacion.org hinterlassen, die Gefährtenwie Gabriel Pombo da Silva mit Adjektiven behandelt haben, die wir nicht wieder aufgreifen wollen. Aber ein Text wird nicht dadurch unbrauchbar, wer ihn schreibt, und die Notiz von Comunizacion.org dient in diesem Fall dazu, einen Kontext zu dem zu schaffen, was hier erzählt wird. Nur in diesem Fall.
Obwohl dieses Pamphlet Toni Negri gut entlarvt, gibt es ein kleines anonymes Buch mit dem Titel Bárbaros, la insurgencia desordenada (Englisch | Italienisch)2, das 2002 von Edizioni NN veröffentlicht wurde und als anarchische Antwort auf das Buch Empire entstand. Es endet mit einer heftigen Kritik an Negri, einer viel affineren und gefährtschaftlichen Kritik, ohne die typischen Anspielungen und Hochrufe auf das Proletariat, die eher wie religiöse Beschwörungen einer toten sozialen Klasse als revolutionäres Projekt wirken. Wir behaupten nicht, dass das Proletariat nicht existiert oder ähnliches, aber es muss klar sein, dass die Arbeiterklasse nicht revolutionär ist, weder von sich aus, noch weil irgendeine Ideologie das behauptet.
Wenn es im folgenden Text heißt, dass der Tod von Aldo Moro verübt wurde, als „die Roten Brigaden (…) bereits infiltriert waren und unter der Kontrolle der Geheimpolizei standen“, ist das ein typischer Verteidigungsmechanismus der Situationisten, Snobs und so vieler anderer Zuschauer der Revolution, die davon schwärmten, dass die Roten Brigaden, die Bewaffneten Proletarischen Kerne und andere bewaffnete Gruppen infiltriert waren. Dieselbe Kritik wurde zum Beispiel in Chile von der Kommunistischen Partei (die historisch gesehen eine Tendenz zur Legalität hat) gegenüber einigen Aktionen der Revolutionären Linken in den 70er und 80er Jahren geäußert und dann auf die MAPU-Lautaro (90er Jahre) oder in den letzten Jahren auf die Bombenanschläge von Anarchisten bezogen.
Der Tod von Aldo Moro ereignete sich 1978 inmitten der Kampagne „Angriff auf das Herz des Staates“, mit der der historische Kompromiss zwischen der PCI (Kommunistische Partei Italiens) und der Christdemokratie bekämpft werden sollte und bei der Moro einer der überzeugten Anführer war. Später spalteten sich die Roten Brigaden ab und setzten den bewaffneten Kampf bis weit in die 1980er Jahre hinein fort, als sie zusammen mit den Gefährten der Action Directe (Frankreich) und der Roten Armee Fraktion (Bundesrepublik Deutschland) die Antiimperialistische Front förderten. Natürlich wurden die Gefährten von der Polizei und den Sicherheitsbehörden unterwandert, wie es leider bei vielen Guerillas der Fall war, aber zu behaupten, dass sie vom Staat oder der PCI selbst angeführt wurden, wie es Herr Debord– „ein Intellektueller des Hofes des Proletarierprinzen“, wie er von einigen Gefährten in Italien so treffend bezeichnet wurde – mehr als einmal andeutete, ist einfach eine dumme Behauptung, die durch nichts gestützt wird, außer durch den schlechten Glauben derjenigen, die sie ausspucken.
Um es mit den Worten von Alessandro Stella zu sagen: „Mehr als dreißig Jahre später und obwohl alle Polizeiberichte und Gerichtsurteile belegen, dass die bewaffneten Gruppen jener Jahre aus Arbeitern, Studenten, Proletariern und Intellektuellen bestanden, dass ihre Beweggründe sozialer Natur waren, dass sie eine kommunistische Ideologie hatten und einen radikalen politischen Wandel wollten, halten die Meinungsmacher weiterhin an einer mysteriösen Interpretation oder Vision der Geschichte fest. Hinter den Roten Brigaden und anderen bewaffneten Gruppen muss zwangsläufig jemand anderes gestanden haben – auch wenn er nie genannt und nie entdeckt wurde -, der im Schatten agierte und ganz andere Ziele verfolgte als diese Brigadisten, die so naiv waren, dass sie nicht merkten, dass sie manipuliert wurden. Neben anderen Journalisten, Politikern und Professoren veranschaulicht auch der Politikwissenschaftler Giorgio Galli dieses magische Denken. In seinem 2004 erschienenen Buch Plomo Rojo. Die komplette Geschichte des bewaffneten Kampfes in Italien von 1970 bis heute – mit einem Titel aus dem alten Westen und dem Untertitel einer Universitätsarbeit – stellt er auf mehr als fünfhundert Seiten erneut die These von der Manipulation der bewaffneten linken Gruppen durch eine verborgene Macht auf.
Die Verschwörungstheorie, die Verbindungen zu ausländischen Geheimdiensten, die ganze Diärologie (das Studium dessen, was dahinter liegt, der verborgenen Ursachen von Ereignissen) hat ihren Ursprung in einem tief im Unterbewusstsein des bourgeoisen – nicht nur italienischen – elitären Denkens verankerten Klassennegationismus. Sie können nicht zugeben, dass Menschen, die als Arbeiter angesehen werden, die Intelligenz haben könnten, Aktionen durchzuführen, die nicht nur die großen Industrieunternehmen, sondern auch die höchsten Stellen des Staates in Verlegenheit bringen würden. Sie müssen Manipulateure sehen, Marionetten, die die Fäden der Brigadisten für ihre eigenen geheimnisvollen Ziele ziehen. So beschuldigten Richter Calogero und andere wahnhafte Gestalten unter anderem Intellektuelle, Universitätsprofessoren, Journalisten, Dichter und Schriftsteller, die Roten Brigaden und eine imaginäre bewaffnete Partei anzuführen. All das, weil sie nicht in der Lage waren, zuzugeben, dass Arbeiter wie Mario Moretti oder Rocco Micaletto weder gute noch schlechte Lehrer brauchten, um zu denken“.
Die Unterwanderung ist etwas, das ausschließlich von Gefährten untersucht werden sollte, die der Guerilla verpflichtet sind, und ihre Version wird immer die genaueste sein, wenn auch niemals exakt. Alle anderen Verschwörungsanalysen kommen entweder vom Staat oder von denen, die sie postulieren, und in beiden Fällen sind sie Unsinn.
Diese Theorie, diese großstädtische Legende über die Möglichkeit einer geheimdienstlichen Unterwanderung, gibt es schon seit Jahren.Sie ist auch heute noch in aller Munde.In Wirklichkeit hat sie niemand wirklich bewiesen.
Ich war fast als letzte verhaftet worden, am 19. Juni 1985, und ich kenne alle Genossen der Roten Brigaden.Wenn mir jemand sagen könnte, wer ein Infiltrator ist, wäre ich sehr dankbar, denn ich kenne ihn nicht.Wenn ihn jemand kennt, stelle ihn mir bitte vor.
Barbara Balzerani,
3. März 2016
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Hommodolars Anmerkung: Die folgende Einleitung erklärt den Kontext des letzten Besuchs von Toni Negri, einem sehr modischen Theoretiker, der als „linker Intellektueller“ seine Funktion des „Sprechens“ und „Studierens“ von Marx mit dem Anschein einer „Tiefe“ voll erfüllt, die nichts anderes als reine Phraseologie ist, um das Wesentliche seines praktischen revolutionären Denkens zu liquidieren und das Lob der „Linken“ und natürlich des Kapitals zu erhalten. Bei seinem ersten Besuch Ende Oktober 2005 wurde ein anonymer Text verteilt, in dem die Funktion dieser Figur deutlich gemacht wurde und den wir dank einer solidarischen Zusammenarbeit wiedergeben. Ah! Wenn du den Ausdruck „falscher Kritiker“ noch nie verstanden hast, könnte dir das vielleicht helfen… (die Figur wird an der Diego Portales Universität sein, mit der Konferenz „Das Gemeinsame und die politische Aktion heute ‚ und dem Kolloquium ‘Biopolitik des Gemeinsamen“).
Anmerkung: Vor genau sechs Jahren besuchte der angesehene Professor Negri Chile, wo er von der in einem bestimmten Hörsaal der Arcis Universität versammelten Universitätsgemeinschaft beklatscht und bewundert wurde. Trotz der ekstatischen Begeisterung des Publikums verlief die Veranstaltung nicht ohne Schattenseiten. Während des Vortrags gelang es einigen Leuten, die mit der Anwesenheit von Professor Negri überhaupt nicht einverstanden waren, die Stromversorgung zu unterbrechen, so dass das Geplapper des Dozenten zeitweise völlig unhörbar war. Von Zeit zu Zeit kamen auch beleidigende Rufe gegen den Maestro aus dem lustlosen Publikum, und in einem Moment relativer Ruhe hatte einer der Unzufriedenen die Geistesgegenwart, ihn für seine leere pseudointellektuelle Aufgeblasenheit zu tadeln. Negri spielte natürlich den Narren.
Es ist erwähnenswert, dass die erwartungsvollen Zuschauer beim Betreten des Konferenzsaals zur Begrüßung einen interessanten anonymen Text in die Hand gedrückt bekamen, der auf einem Blatt Papier gedruckt war und den Titel „Wer ist Toni Negri und warum ist er hier? Während der Rede und in den darauffolgenden Tagen verteilte eine unbestimmte Anzahl nutzloser Subversiver weiterhin einige tausend Exemplare dieses Pamphlets in verschiedenen Teilen Santiagos. Sicherlich wäre das alles unwiederbringlich in Vergessenheit geraten, wenn nicht heute andere Akademiker beschlossen hätten, den einzigartigen venezianischen Professor zu einem besonders günstigen Zeitpunkt nach Chile zurückzubringen.
Auch mehrere Jahre nach dieser denkwürdigen Episode ist der Text immer noch eine sehr unterhaltsame Lektüre. Vor allem aber ist er prophetisch: Negris erneuter Besuch in diesen unruhigen Ländern in den kommenden Tagen sollte im Lichte der Aussagen in den letzten Absätzen der folgenden Broschüre gesehen werden.
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Wer ist Toni Negri und warum ist er hier?
„Die Welt dreht sich um die Erfinder neuer Werte, sie dreht sich unsichtbar. Aber um die Komödianten drehen und winden sich das Volk und der Ruhm; und so geht die Welt weiter“.
Nietzsche
Schon in jungen Jahren träumte Toni Negri davon, ein intellektueller Anführer der Arbeiterklasse zu werden. Die Geschichte gab ihm seine Chance: Kurz nach seinem Abschluss als Philosoph erlebte der Klassenkampf auf der ganzen Welt einen bemerkenswerten Aufschwung. Damals (in den 1960er Jahren) waren die Proletarier von ihrer eigenen Kampffähigkeit überzeugt, so dass es ihnen egal war, ob ein überheblicher kleiner Intellektueller in die Fabriken kam und ihnen sagte, was sie tun sollten. Diese unbekümmerte Haltung der Arbeiter gab Toni einen Einblick in die Realität der Industriezentren Italiens, wo die Arbeiter wilde Streiks führten, die Autos ihrer Chefs abfackelten, Spitzel verprügelten und so weiter.
Aus diesen Kämpfen zog Toni eine banale Schlussfolgerung, die er jedoch als seine große theoretische Entdeckung verkündete: In den Betrieben liegt das Epizentrum der Kämpfe gegen das Lohnsystem und den kapitalistischen Profit. Natürlich haben die Ausgebeuteten das schon immer gewusst, aber Toni verdrehte gerne die Worte, um öffentliches Aufsehen zu erregen. So verstand er es, die Autonomia Operaia-Bewegung (A.d.Ü., auf spanisch Movimiento Autonomía Obrera) (eine halbanarchistische, amorphe und heterogene Strömung) zu nutzen, um sich als „engagierter Intellektueller“ zu profilieren.
Mitte der 1970er Jahre erreichte der Klassenkampf in Italien extrem hohe Temperaturen und brachte verschiedene militante Gruppierungen des Proletariats hervor. Gruppen wie Insurrection, die italienische Sektion der Situationistischen Internationale und die Roten Brigaden, versuchten, den Kampf durch theoretische Klarstellungen und bewaffnete Propagandaaktionen zu beleben. Toni hatte schon seit einigen Jahren die Fäden der Gruppe Potere Operaio in der Hand, aber in den extremsten Kreisen des italienischen Proletariats war er fast unbekannt. Um dieses Problem zu lösen, ließ er sich von jedem Journalisten, der ihm über den Weg lief, fotografieren und interviewen, bis sein Name in der Presse auftauchte.
Das Ergebnis dieser Berühmtheit war grotesk: Als sich die repressiven Kräfte Ende der 70er Jahre auf die Bewegung stürzten, um sie zu vernichten, wählten sie den armen Toni als Sündenbock, um dem Proletariat eine Lektion zu erteilen. In einer Atmosphäre von Paranoia, Denunziationen, Reue und Inszenierungen wurde Toni Negri beschuldigt, der Ideologe der Roten Brigaden zu sein und an der Entführung und Ermordung des christdemokratischen Anführers Aldo Moro beteiligt gewesen zu sein (ein Anschlag, den die Roten Brigaden verübten, als sie bereits unterwandert waren und unter der Kontrolle der Geheimpolizei standen). In Wirklichkeit kannte niemand in den Roten Brigaden Negri, und Moros Ermordung war von den Regierungsparteien organisiert worden, um die Krise einzudämmen. Aber Toni „der Schlaue“ nutzte die Gelegenheit: Er organisierte eine Unterstützungskampagne, die sich auf ihn selbst konzentrierte (als in Italien Tausende von sozialen Kämpfern im Gefängnis saßen); und er verteidigte sich halbherzig, indem er andeutete, dass er kein Terrorist, aber auch nicht ganz unschuldig war. Dann wurde er berühmt.
Toni verbrachte vier Jahre im Verborgenen. 1983 nutzten seine Anhänger ein juristisches Schlupfloch, um ihn aus dem Gefängnis zu holen: Sie stellten ihn bei den Parlamentswahlen als Kandidaten der Radikalen Partei auf, er wurde zum Abgeordneten gewählt und das Parlamentsprivileg erlaubte es ihm, ohne Weiteres frei zu kommen. Danach ging er nach Frankreich ins Exil, wo er mit der postmodernen intellektuellen Elite in Verbindung gebracht wurde. In diesem Umfeld schrieb er seinen ersten Bestseller: Marx beyond Marx, in dem er behauptete, dass Marx‘ bekanntes Werk Das Kapital das Proletariat in die Niederlage geführt habe. Diese Dummheit brachte ihm großen Beifall von der Linken ein, die sein Buch als „eines der wichtigsten Dokumente des europäischen Marxismus “ bezeichnete (etwa zur gleichen Zeit bezeichnete die Linke Foucault als den kritischsten Denker der Welt, weil er gesagt hatte, dass der Kapitalismus niemals abgeschafft werden könne). In Wirklichkeit kümmerte sich die fortschrittliche Bourgeoisie Europas wenig um Negris theoretische Qualität, sondern sah in ihm einen Scharlatan, der ihnen in ihrem ideologischen Krieg gegen die Proletarier von großem Nutzen sein konnte. Und genau das ist passiert.
Sehen wir mal: Als Negri zum ersten Mal mit den proletarischen Kämpfen in Berührung kam, waren diese so kämpferisch, dass man nur sagen konnte: „Marx hatte recht: In der Fabrik ist der Kampf gegen Lohnarbeit und Eigentum“. Toni wiederholte nur, was alle marxistischen Theoretiker schon immer gewusst hatten: dass die Kämpfe der Arbeiterklasse in den Betrieben die Achse des sozialen Kampfes waren und sein sollten. Was geschah dann? Die Reaktion startete eine gewalttätige Kampagne des verdeckten Terrorismus, schleuste Spitzel und Provokateure in die aufständischen Milieus ein, schmuggelte Drogen in die Slums und organisierte eine Entlassungswelle in den am stärksten betroffenen Fabriken. Dann wurde klar, dass der „Operaismus“ italienischer Marxisten wie Tronti und Panzieri – ein Ansatz, den Negri nachplapperte – nicht ausreichte, um den Charakter des Kampfes und seine Niederlage zu erklären. Einige versuchten, die Niederlage abzutun, indem sie den Historischen Kompromiss zwischen Stalinisten und Christdemokraten guthießen. Andere lebten und kämpften weiter im Dunkeln unter den Ausgebeuteten, weil sie verstanden, dass Erklärungen von der Arbeiterbewegung selbst kommen mussten, die gezwungen war, die Katastrophe zu verarbeiten, um die Offensive wieder aufzunehmen. Was tat Negri, abgesehen davon, dass er die Niederlage ausnutzte, um berühmt zu werden? Er hat geschwiegen.
Obwohl es richtiger wäre zu sagen, dass er nicht nur schwieg, um nicht über sein schändliches Verhalten sprechen zu müssen, sondern auch die Proletarier zum Schweigen aufforderte: „Das proletarische Gedächtnis ist nur die Erinnerung an die vergangene Entfremdung: Der kommunistische Übergang ist die Abwesenheit von Erinnerung“. In dem Moment, als er das schrieb, wurde Negri zum Kollaborateur der Polizei. Aber das war noch nicht alles. Während er die Ausgebeuteten dazu aufrief, ihren eigenen Kampf zu vergessen, nutzte Toni der Gedächtnishafte die Ruhe des Gefängnisses, um die Geschichte des modernen politischen Denkens zu studieren. Er machte keinen Versuch, eine Bilanz des verzweifelten Kampfes in den Straßen und Fabriken zu ziehen, keine Erklärung für die Niederlage, keine Vorschläge für den Wiederaufbau der Arbeiterbewegung. Aber was konnte man schon anderes erwarten? Toni Negri ist weder ein revolutionärer Militanter noch ein Stratege des kommunistischen Kampfes; er ist ein bezahlter Denker, ein Metaphysiker und ein Opportunist: eine Marionette. Deshalb hat er auch keine konkrete Analyse zur Entwicklung des Klassenkampfes oder zu einer internationalen Kampfstrategie der Ausgebeuteten beigesteuert: Stattdessen hat Negri die 1980er Jahre damit verbracht, über „konstituierende Macht“, „Multitude“ und „radikale Subjektivität“ zu spekulieren; er hat versucht, revolutionäre Theorie mit konterrevolutionärer Theorie, Kommunismus mit Postmodernismus, Feuer mit Wasser zu verbinden… Wie konnte unser Professor nur auf so ein dummes Amalgam kommen?
Als der proletarische Kampf aufkam, beschrieb Negri den Kapitalismus als politische Herrschaft über den Produktionsprozess am Arbeitsplatz und Besetzungen und Streiks als direkte Kämpfe gegen das Lohnsystem und das Eigentum (all das war Marxismus für Schulkinder). Später erkannte Toni, dass sich die kapitalistische Herrschaft über den Arbeitsplatz hinaus auf alle Aspekte des täglichen Lebens erstreckte – etwas, das die Situationisten früher und besser verstanden hatten als er. Dann kam die Niederlage, und Negri, der keinen wirklichen Beitrag zur Bewegung geleistet hatte, entschied, dass die Schuld für das Scheitern bei den Arbeitern selbst lag, die sich durch ihren Kampf für höhere Löhne und die Kontrolle der Produktion „mitschuldig am kapitalistischen Betrug“ gemacht hatten. Marx hat die Lohnabhängigen nie idealisiert; er sagte nur, dass sie die wichtigste revolutionäre Kraft seien, weil sie an der Basis der kapitalistischen Produktion sitzen und diese in die Luft sprengen könnten, wenn sie ihren ökonomischen Kampf in einen politischen Kampf um die Macht verwandeln würden. Das war der Sprung, den die Arbeiter in Italien und dem Rest der Welt in der Krise der 1970er Jahre nicht geschafft haben, und diese Schwäche musste erklärt werden, um sie in den kommenden Kämpfen zu überwinden.
Aber das war zu viel für Professor Negri. Seine Lösung war viel einfacher: Er verachtete die lohnabhängigen Proletarier, die er einst liebte (er nannte sie „Massenarbeiter“), und verliebte sich in die nicht lohnabhängigen Proletarier: Studenten, Arbeitslose, Prekäre (die „Sozialarbeiter“), die er nun als das „neue autonome Subjekt“, die treibende Kraft der Revolution, die „Multitude“ bezeichnete. Das Problem mit seiner „Theorie“ ist, dass sie keine Hinweise darauf gibt, wie der Kampf dieses diffusen Proletariats zu organisieren ist, wogegen er sich richten soll und welches Ziel er genau verfolgt. Während der Kampf der Arbeiter die Produktionsbasis des Kapitals direkt bedroht, reduziert sich der Kampf der „Multitude“ auf die Wahl zwischen verschiedenen Lebensstilen innerhalb der heutigen Gesellschaft und löst sich in eine Vielzahl von oberflächlichen, ästhetischen und symbolischen Widerständen auf, die kein gemeinsames Ziel und keine gemeinsame Strategie haben und daher für die kapitalistische Ordnung harmlos sind. Diese von Negri theoretisierten „autonomen Widerstände“ entsprechen der „Mikrophysik der Macht“ von Foucault, allerdings in marxistischer Sprache.
Die Bewunderung der Bourgeoisie für beide Figuren ist kein Zufall: Foucault kritisierte den Marxismus, indem er behauptete, dass der Klassenkampf der Vergangenheit angehöre und dass es nur lokal begrenzte und verstreute Mikro-Machtverhältnisse gebe, die nur durch Mikro-Praktiken des lokalen Widerstands angefochten werden können usw. Negri hingegen behauptete, dass Marx selbst den Klassenkampf als eine Angelegenheit kleiner, verstreuter, dezentraler und lokaler Widerstände definiert habe und dass die großen Ideen über den Klassenkampf nichts weiter als ein Missverständnis gewesen seien. So schwachsinnig diese Behauptungen auch sein mögen, Tatsache ist, dass die Millionäre auf der ganzen Welt Mitte der 1980er Jahre Dinge wie diese hören mussten: sanft, klein und beruhigend, denn sie zitterten immer noch vor Angst wegen der jüngsten Klassenauseinandersetzungen. Deshalb zögerten sie nicht, die Bücher, Zeitschriften, Lehrstühle und Reisen zu finanzieren, die der angesehene Professor Negri machen wollte, solange er weiterhin seinen ideologischen Schrott produzierte. Diese Interessenübereinstimmung zwischen dem Philosophen und den Investoren gab Negris Autonomismus Gestalt: eine vulgäre Mischung aus marxistischer Rhetorik, postmodernem Geschwätz und billigem Mystizismus.
Mit anderen Worten: Negris radikale Phraseologie verbirgt seine Unterwürfigkeit gegenüber den Interessen des Kapitals. Schon in den frühen 1980er Jahren kam seine Affinität zu Foucault zu einer Zeit, als dieser den Gebrauch von Drogen als eine Form des „Widerstands gegen die Macht“ verteidigte, während alle Staaten den Einsatz von Rauschgift zur Liquidierung des aufständischen Proletariats förderten. Später, in seinem Buch Empire, sagte Negri, dass die Isolation zwischen den verschiedenen Kämpfen und das Fehlen von Organisationsstrukturen die größte Stärke der Arbeiter sei, während diese Einschränkungen sie in Wirklichkeit immer wieder zu den blutigsten Niederlagen geführt haben. Indem er sagt, dass der Klassenkampf durch eine „hybride, pluralistische, flexible, multikulturelle“ Realität ersetzt wurde, deutet Negri an, dass die Gesellschaft den Kapitalismus hinter sich gelassen hat, dass die streitenden Klassen zu einer „begehrenden Multitude“ verschmolzen sind und dass der Feind „überall und nirgends“ ist, was nichts bedeutet. Wenn er das „Imperium“ und die „Multitude“ beschreibt, feiert Professor Negri die Schwächen des Proletariats und die Stärken des Kapitals, und selbst darin ist er nicht originell, denn er wiederholt nur die alten Themen des bourgeoisen Liberalismus: Er lässt die Arbeiterklasse in einer amorphen Masse singulärer Subjekte mit autonomen Interessen verschwinden; er reduziert den sozialen Kampf auf eine chaotische Ansammlung lokalisierter Widerstände; er leugnet die Möglichkeit, kapitalistische Strukturen gewaltsam zu zerstören; er ersetzt alle strategischen Überlegungen zur sozialen Auseinandersetzung durch metaphysische Vorstellungen über die Singularität des Individuums, die unendliche Macht des Willens, die Allgegenwart der Macht usw. Negri ist ein demokratischer Idealist.
Warum wird Negri ständig eingeladen, auf „alternativen“ Sozialforen und an fortschrittlichen Universitäten zu sprechen? Weil sein wirres und leeres Gerede dem bourgeoisen Linkstum in seinem ideologischen Kampf gegen die Massen dient. So sagte Negri zum Beispiel, als 2002 inmitten einer heftigen Krise das zentrale Problem des argentinischen Proletariats darin bestand, seinen Kampf in einem eindeutig antikapitalistischen Sinne zu vereinheitlichen : „Das Wichtigste ist, die Formen der kollektiven Verwaltung zu diskutieren, die ganze Aufmerksamkeit gilt den Formen der Verwaltung“. Im Einklang mit dieser schwachsinnigen Ansicht behauptet Negri in seinem Buch Empire, dass das Ziel der Unterdrückten nicht darin besteht, sich den Prozessen der Warenglobalisierung zu widersetzen, sondern sie „zu reorganisieren und auf neue Ziele umzulenken“. Aber solche Prozesse, die sich aus der kapitalistischen Produktionsweise ergeben, stärken unweigerlich die herrschenden Klassen und schwächen das Proletariat, und es ist unmöglich, sie durch „neue Formen der Verwaltung“ zu „reorganisieren“.
Indem Negri den Kampf auf ein Problem der „Formen der Verwaltung“ reduziert, behauptet er, dass der proletarische Kampf nicht über die ökonomische Ebene hinausgehen darf und dass er sich die Überwindung des Kapitalismus nicht als allgemeines politisches Ziel setzen darf. Diese Betonung der unmittelbaren Formen zum Nachteil des historischen Inhalts des Kampfes ist die absolute Negation dessen, was revolutionäre Kommunisten immer behauptet haben. Negri fordert die Arbeiter auf, zu resignieren. Und damit wir seinen reformistischen Schwachsinn schlucken, will er uns davon überzeugen, dass wir nicht durch Lohnsklaverei und Warenproduktion bestimmt werden, sondern durch die „Produktion von Sprachen und Subjektivität“ in einer Welt der „immateriellen Arbeit“. Lohnsklaven? Keineswegs. Laut Professor Negri müssen wir uns als eine „Multitude“ begreifen, die nicht für die Zerstörung der gegenwärtigen Produktionsweise kämpft, sondern für den Ausdruck ihrer Subjektivität und die Selbstverwaltung der kapitalistischen Verhältnisse. Streikposten, Besetzungen und Vollversammlungen sind für ihn in Ordnung, solange sie nicht über die Selbstverwaltung des Bestehenden hinausgehen, solange sie nicht über die Grenzen der guten demokratischen und zivilisierten Verständigung hinausgehen, bei der die Kapitalisten immer gewinnen.
Armer Toni, er erträgt den Anblick der schrecklichen Kämpfe nicht, die noch kommen werden! Um diesen Albtraum zu vertreiben, besuchte er die argentinischen Piqueteros und ein paar Stunden später die Politiker, die die brutale Repression gegen sie angeordnet hatten, und beglückwünschte sie alle zu ihrer Leistung! Negri, armer Wicht! Mit seinem eisigen Lächeln rief er die argentinischen Proletarier auf, friedlich zu kämpfen, während er mit den Bürokraten anstieß, die gerade die Erschießung gegen sie angeordnet hatten. Das ist Toni Negri, dieser Abschaum, der angeheuert wurde, um die Ausgebeuteten zu verwirren und zu entwaffnen: ein Freund von Streikposten, Unterstützer von Vollverammlungen, Geschäftsleuten und Bullen. Deshalb bezeichnete die New York Times, die Weltbastion der bourgeoisen Propaganda, sein Buch Empire als „the next Big Idea“; deshalb wurde der Bestseller von der Harvard University, der Brutstätte liberaler Ideologen, herausgegeben, und deshalb nannte das reaktionäre Time Magazine es „das kluge Buch des Augenblicks“. Als Negri in der besetzten Grissinopolis-Fabrik in Argentinien einen Vortrag hielt, wollte ihm deshalb kein Arbeiter zuhören und er musste vor einem kleinmütigen Publikum aus Reportern, Akademikern und bezahlten Aktivisten weiterplappern. Deshalb bringt ihn der Tod von Vergewaltigern und Mördern in europäischer Uniform im Irak zum Weinen. Und deshalb, weil er ein Feuerlöscher des Klassenkampfes ist, ist er heute in Chile.
In Chile fürchten die Bosse der Linken und der Rechten, dass sich die Ausgebeuteten wieder erheben werden. Sie wissen, dass wir, wenn unsere Zeit gekommen ist, viel mehr tun werden, als nur „Gut, dass wir ihn los sind“ zu schreien. Deshalb bringt die bourgeoise Linke Negri ins Spiel, um uns mit ihren Lügen zu verdummen. Genau wie 1973 haben sie Angst vor uns und wollen uns in der Unterwerfung halten. Heute setzen sie Toni Negris ideologischen Müll gegen uns ein, aber wenn das nicht mehr hilft, werden sie Bleikugeln einsetzen… Für all das, Männer und Frauen des Proletariats: Genug des Wiederkäuens von betäubenden Ideologien, bereitet euch auf den Kampf vor!
1A.d.Ü., gatopardo bedeutet auf Spanisch Leopard, ist auch der Name eines Romans und seiner Gleichnamigen Verfilmung, aber auch um eine Person oder eine Sache zu beizeichnen die alles ändert, damit nichts sich verändert.
2A.d.Ü., hier die deutschsprachige Version: Crisso und Odoteo – Barbaren – Unordentlicher Aufruhr
]]>Gefunden auf anarchist library, ursprünglich veröffentlicht von Elephant Editions, die Übersetzung ist von uns. ine weitere Kritik an ‚nationalen Befreiungsbewegungen‘ und die Mythologien mit denen sie sich ernähren.
Jenseits der Sturmhauben im Südosten Mexikos
Charles Reeve, Sylvie Deneuve, Marc Geoffroy
Einleitung
„Bis auf den heutigen Tag ist das Revolutionsprinzip dabei geblieben, nur gegen dieses und jenes Bestehende anzukämpfen, d. h. reformatorisch zu sein.“ Max Stirner
Bücher, Konferenzen, Videos, T-Shirts, Aufkleber, Märsche, Komitees und Benefizveranstaltungen gibt es in Hülle und Fülle, die die vielen Ausdrucksformen dessen zeigen, was als „die Internationale der Hoffnung“ bezeichnet wird. Dennoch wurde keine Kritik am „aufständischen Chiapas“ und der Zapatistischen Nationalen Befreiungsarmee aus subversiver Sicht veröffentlicht. Auch viele Anarchistinnen und Anarchisten haben ihren Beitrag geleistet, ohne ein Wort der Kritik. Warum ist das so?
Die Texte zu dieser Frage, vor allem die EZLN-Kommuniqués und -Dokumente, geben sicherlich Stoff zum Nachdenken (z. B. die Organisation der von den „Zapatisten“ kontrollierten Gebiete, die Schaffung einer „revolutionären provisorischen Regierung“, die Verhängung „revolutionärer Steuern“, „revolutionärer Gesetze“ und sogar „revolutionärer Gefängnisse“). Aber warum spricht man von der zapatistischen Armee, als wäre sie eine Organisation, die über den Marxismus-Leninismus hinausgegangen ist, ein libertäres Experiment usw.?
Weil man nur das sieht, was man sehen will. Mit anderen Worten: Die zapatistische Ideologie ist nur ein weiteres Indiz für das Elend, das allgemein herrscht. Das Spektakel hat zu all dem beigetragen: das Bild der Sturmhaube, das Geheimnis des Waldes, die Faszination exotischer Orte; und dann ist da noch Marcos mit seinen poetischen Texten („schwul in San Francisco, Anarchist in Spanien…“, „ein Land, in dem das Recht zu tanzen in der Verfassung verankert sein wird…“) und sein Geschick, mit dem Begriff der Macht zu spielen. Was jedoch mehr als alles andere dazu beigetragen hat, ist die Perspektivlosigkeit, die übel riechende Einheitsfront einer Linken, die am Ende das Recht auf Arbeit und demokratische Garantien gegen den „Neoliberalismus“ verteidigt, den alle, von Stalinisten bis Anarchisten, zu bekämpfen vorgeben, und die Abwesenheit eines revolutionären Diskurses, der das radikale Problem – die Zerstörung des Staates, die Abschaffung der Ökonomie und die verallgemeinerte Selbstverwaltung – jenseits der Leere der historischen Feierlichkeiten in radikale Worte fassen könnte.
Der Mangel an Ideen und Wünschen macht uns in zweifacher Hinsicht blind. Erstens, indem sie das wahre Wesen der Organisationsformen verschleiert, die die Ausgebeuteten in der sozialen Konfrontation überall auf der Welt entwickeln (in diesem speziellen Fall die Methoden der EZLN und der sogenannten „indigenen Autonomie“). Zweitens, indem sie das Problem dieser Formen und Inhalte von der konkreten Arena des Aufstands wegführt, wo sie hingehören. Andererseits: Warum um alles in der Welt sollten diejenigen, die Rebellion hier zu Hause oder den Vorschlag, dass der Staat nicht von alleine zusammenbricht, sondern dass etwas Konkretes dagegen getan werden muss, für wild und rücksichtslos halten, sich für den Guerillakrieg an exotischen, fernen Orten begeistern? Verbindet etwas das Bild der „zapatistischen“ Sturmhaube mit dem täglichen Leben derjenigen, die arbeiten, konsumieren, wählen und Steuern zahlen – so etwas wie Passivität, die sie vielleicht sogar mit Waffen verteidigen?
Der Wert der kämpferischen Fassade der EZLN ist in letzter Zeit in der Börse der revolutionären Ideologien tatsächlich gesunken. Ihre Übereinstimmung mit der französischen institutionellen Linken, die bewegende Umarmung von Marcos und dem Anführer der reformierten Kommunistischen Partei Italiens (Rifondazione Communista), Bertinotti, hat vielleicht diejenigen enttäuscht, die die Aufständischen von Asturien, Durruti oder Flores Magòn auf der Suche nach historischen Vorbildern, mit denen sie ihre Unterstützung für die Zapatistische Nationale Befreiungsarmee rechtfertigen können, beunruhigt hatten. Zweifellos gibt es eine Menge weniger anspruchsvoller Unterstützer, die darauf warten, ihren Platz einzunehmen.
Die folgenden Texte enthalten – zum ersten Mal – die notwendige Kritik an der EZLN und dem kommerziellen Indigenismus. Grundlegender gesunder Menschenverstand, wenn du so willst. Jeder wird darin etwas finden, worüber er nachdenken kann. Doch bevor wir diese kurzen Notizen beenden, möchten wir noch einen kurzen Blick auf die „Internationale der Hoffnung“ werfen – also auf die zapatistische Bewegung. Es ist interessant, einige der Transkriptionen und Zusammenfassungen der Diskussionen zu lesen, die während des interkontinentalen („intergalaktischen“) Treffens im August 1996 in Chiapas stattfanden. In Bezug auf die Ökonomie (eine Frage, die speziell an einem der fünf „Debattiertische“ behandelt wurde) findet sich folgende Prämisse: „Der Globalismus des Neoliberalismus macht es notwendig, in Bezug auf ebenso globale Alternativen zu denken. Der Kampf muss auf weltweiter Ebene geführt werden. Abstrakt betrachtet können wir dem Konzept des Globalismus durchaus zustimmen.“ Problematisch wird es, wenn es darum geht, etwas dagegen zu tun. Wie wir alle wissen, sind es nicht die Antworten, sondern die Fragen, die das Wesen eines Projekts offenbaren.
Schauen wir uns einige der angesprochenen Punkte an. „Es ist dringend notwendig, die Macht über die ökonomische Politik zurückzugewinnen, um Probleme wie die Situation der Arbeiterinnen und Arbeiter und die Lohnungleichheit zu lösen“. Wer kann zum Beispiel das „Problem“ der Lohnunterschiede angehen, wenn nicht diejenigen, die die Steuern erheben, also die Regierung? An wen ist diese Frage also gerichtet? Was sie mit dem „Globalismus des Neoliberalismus“ meinen, wird in folgendem Satz deutlich: „Der Neoliberalismus trifft auch Länder mit einer ökonomischen Verwaltung wie Kuba, das Opfer einer Verschärfung des Embargos der Vereinigten Staaten ist.“ Geht es darum, dass Kuba mit seinem bürokratischen Kapitalismus ein Beispiel für Arbeit und „Einkommensgleichheit“ liefern soll? Oder dass der „Neoliberalismus“ eine Art unmenschliche Übertreibung des Kapitals darstellt, die irgendwie abgemildert werden könnte? Aber kommen wir zu den „globalen“ Vorschlägen. „Wir schlagen folgende Losung vor, um Kämpfe auszulösen, die sich auf der ganzen Welt wiederholen lassen: Erlass (manche sprechen einfach von einer Reduzierung!) der Schulden der armen Länder, Senkung der Zinssätze, Selbstorganisation der Schuldner, Arbeitszeitverkürzung, Lohngleichheit und die Schaffung von Kampfnetzwerken von Arbeiterinnen und Arbeitern, Arbeitslosen, Ausgegrenzten usw.“ Nochmal: Wer kann die Schulden der armen Länder abschreiben? Wer sind die „Schuldner“, die sich selbst organisieren sollten? Die Fragen können niemals revolutionär – mit anderen Worten: global – sein, wenn die Antworten vom Feind, d. h. den Bossen, abhängen. Die Kämpfe der Ausgebeuteten wären dann nur ein Mittel, um Druck auf den Staat und das Kapital auszuüben (die zugrundeliegende Theorie der Sozialdemokratie), nicht aber die reale Möglichkeit der revolutionären Zerstörung der letzteren. Eine „extremistische“ Weiterentwicklung dieses Diskurses, die Übernahme der Verwaltung der Macht (und definitiv keine verallgemeinerte Selbstverwaltung), ist in der Tat leninistisch.
Was mit Globalismus gemeint ist, ist also nichts anderes als ein breiter Reformismus, eine Politische Internationale. Ein Diskurs wird nicht einfach dadurch global, dass überall die gleichen Slogans verwendet werden oder dass Informationen ausgetauscht werden. Eine globale Dimension wird erreicht, wenn alle sozialen Beziehungen und alle Lebensbedingungen in die Kritik geraten: wenn Probleme konkret, d.h. in ihrem gesamten Kontext, angegangen werden. Ein Kampf für eine Arbeitszeitverkürzung – ein Problem, dem sich das Kapital selbst durch das Spektakel und die Reservearmee der Konsumenten stellt – wird nicht dadurch global, dass er in Belgien, Spanien, Italien, Mexiko oder wer weiß wo zur gleichen Zeit stattfindet. Global bedeutet, das Konzept der Arbeit an sich zu kritisieren, wie Löhne, soziale Organisation, die Macht der Waren, moralische Opfer usw., unabhängig von der Anzahl der Beteiligten.
Andere Debatten bestätigen das oben Gesagte nur. In der Niederschrift der Diskussionen an „Tisch 5“ (mit dem Titel „Viele haben ihren Platz in dieser Welt verloren“) lesen wir: „Die Achtung der Identität der Völker muss als ein Recht anerkannt werden, das durch die Unterstützung ihrer vollen kulturellen und materiellen Entwicklung politisch wird“. Auch auf die Gefahr hin, pedantisch zu wirken: Unterstützung durch wen, wenn nicht durch den Staat? Die Behauptung, dass der Staat Selbstbestimmung unterstützt, die, wenn sie real ist – wenn es sich nicht gerade um ein Recht handelt – letzteres beseitigen würde, ist entweder dumm oder eine Mystifizierung, subversiv, auf keinen Fall. Um dies besser zu demonstrieren: „Auf der anderen Seite treten Staaten nicht nur die Rechte ihrer eigenen Volksgruppen mit Füßen, sondern verweigern auch anderen Staaten das Recht auf Selbstbestimmung (Vereinigte Staaten – Kuba und der Rest Lateinamerikas)“. Selbstbestimmungsrecht der Staaten?
Um den Leser nicht länger zu langweilen, kommen wir zum Schluss zu den beiden letzten, drängenden Fragen. Erstens: „Sollten bestimmte kulturelle und sozioökonomische Regionen innerhalb von Staaten völlige Autonomie oder Unabhängigkeit erlangen?“ (Dieses Problem ist für Autonome von weitaus größerem Interesse als für Revolutionäre – was viel über das Konzept der Autonomie aussagt). Zweitens: „Wir fragen uns, ob die Abwesenheit der offiziellen Linken bei diesem Treffen bedeutet, dass sie den Kampf gegen den Neoliberalismus aufgegeben hat?“ (Bertinotti, wo bist du?) Um zum Schluss zu kommen: „Parallele Handelsnetze“, „alternativer Tourismus“ und „Volksabstimmungen“ sind Lösungen, die alle sehr gut zu den angesprochenen Problemen passen.
„Die Gesellschaft, die wir aufbauen, verfügt nicht über die traditionellen Instrumente und Waffen der neoliberalen Staaten, wie Armee, Grenzen und nationalistische Ideologien“, so ein Mitglied der EZLN. Nicht schlecht für eine Organisation, die sich selbst die Zapatistische Nationale Befreiungsarmee nennt. Kein Geringerer als Subkommandant Marcos bekräftigt in seinem letzten Gruß, nachdem er poetisch gesagt hat, dass „der Kreis der Macht sich um die Rebellen schließt, die dennoch jederzeit die ganze Menschheit hinter sich haben“, politisch versichert: „Wir Zapatisten haben vorgeschlagen, für eine bessere Regierung hier in Mexiko zu kämpfen.“ Wie du siehst, funktioniert der zapatistische Diskurs auf drei Ebenen: die „revolutionäre Regierung“ für die Leninisten; die Verteidigung der Demokratie gegen den „Neoliberalismus“ für die Militanten der linken Parteien; die Poesie gegen die „Macht“ und den Mythos der souveränen Vollversammlung für die Libertären. Aber der Reformismus bleibt genau das, selbst wenn er zu den Waffen greift, selbst wenn er die Mächtigen schlecht redet oder neben Arbeit auch Gerechtigkeit und eine neue Verfassung fordert; selbst wenn er das Recht zu tanzen verlangt.
Es ist klar, dass ein Slogan wie „für die Menschlichkeit gegen den Neoliberalismus“ alle Geschmäcker anspricht, genauso wie es klar ist, dass der Begriff „Hoffnung“ einen religiösen Beigeschmack hat. Trotzdem ist es sinnvoll, den tatsächlichen Inhalt des Zapatismus zu kritisieren, und zwar nicht, um die Revolten in Mexiko oder anderswo zu unterschätzen (was nicht mit ihrer spektakulären Darstellung und ihrem kommerziellen Konsum verwechselt werden sollte). Im Gegenteil, sie zielt darauf ab, sie besser zu verstehen und ihre Globalität zu verwirklichen; den Bereich der subversiven Theorie und Praxis zu erkennen, der durch das Spektakel der Revolution und der Bewegungen, die nichts als reformistische Negation darstellen, kolonisiert wurde. Mit anderen Worten: Eine antiautoritäre und subversive Internationale, eine Internationale, die es wirklich versteht, die Todesprojekte des Staates zu stören, muss erst noch erfunden werden. Ihr Gegenteil zu erkennen und zu kritisieren ist nur der erste Schritt.
Massimo Passamani.
Zur Einführung…
(…) ich mache hier die Schranken der Gegenwart und Vergangenheit nicht zu Schranken der Menschheit, der Zukunft (…)
Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums.
Denn sofortige Bewunderer und plötzlich Überzeugte sind selten das Salz der Erde.
B. Traven, Dans l’Etat le plus libre du monde.1
Es ist nicht unsere Absicht, die kollektive Revolte der Proletarierinnen und Proletarier von Chiapas auf die Organisationsformen zu reduzieren, die sie sich selbst gegeben haben oder, und das muss noch bestätigt werden, die sich selbst auf ihren Kampf aufgepfropft haben. Wir glauben, dass es eine Beziehung zwischen den beiden Dingen gibt, eine Beziehung, die es zu Recht verdient, analysiert zu werden.2 Die Aufgabe derjenigen, die sich für soziale Emanzipation entscheiden, muss immer danach streben, so weit wie möglich das zu betonen, was in einem Kampf autonom ist, und die Organisationen zu kritisieren, die behaupten, die Kämpfenden zu vertreten. Das bedeutet, dass man sich von jeglicher Bevormundung distanzieren muss, die per Definition unegalitär ist und dazu neigt, die Ausgebeuteten im Kampf in bestimmte Kategorien einzuschließen, die auf ihrer Identität beruhen oder nicht. Wer bereit ist, für andere das zu akzeptieren, was für ihn selbst inakzeptabel ist, ist nahe dran, das Unannehmbare zu akzeptieren. Im Namen der Taktik werden künftige Forderungen als rückläufig betrachtet. Wer im Wesentlichen nachgibt, wird zum Jünger des Realismus und fällt hinter die staatstragenden Projekte der hierarchischen Organisationen zurück.
Gegen Ende der 80er Jahre wurde ein Freund, ein Verleger in Madrid, zur Buchmesse in Managua (Nicaragua) eingeladen. Damals waren die Zeiten für die Bewunderer des autoritären Sozialismus einfacher: Die Kommandanten versprachen, dass die glorreiche Zukunft in ihrem kleinen Land nahe sei. Am Flughafen entdeckte ein eifriger Beamter (natürlich ein Revolutionär) anarchistische Texte im Gepäck unseres Freundes und beeilte sich, sie zu beschlagnahmen. Auf seinen Protest hin erklärte ein politischer Kommissar (noch revolutionärer), dass diese Bücher nicht in Umlauf gebracht werden dürften, sondern den Bestand der Bibliothek des Sandinistischen Komitees bereichern würden. So könnten sich die Kommandanten mit Ideen vertraut machen, die für das Volk verboten seien. Wie wir wissen, ließen ihnen die Arroganz des amerikanischen Imperialismus und der Zusammenbruch der UdSSR keine Zeit. Damals gaben die Libertären ihre Energie, manchmal sogar ihr Leben, für die sandinistische Revolution. In aller Aufrichtigkeit, aber auch in aller Naivität. Heute könnte man fragen, was aus diesen Texten geworden ist: Wurden sie „der nagenden Kritik der Mäuse unterworfen“? Wurde die Bibliothek von den neoliberalen Idioten privatisiert, die die sandinistischen Bürokraten ablösten und nun in der Geschäftswelt recycelt werden? Wie dem auch sei, die Menschen in Nicaragua, die in das Elend der postrevolutionären Katastrophe gestürzt sind, haben die glorreiche Zukunft verpasst, die ihnen versprochen wurde, und haben Bakunin immer noch nicht gelesen…
Im Goldenen Zeitalter des „wirklich nicht existierenden Sozialismus“ wurden Reisen in die Länder der glorreichen Zukunft organisiert. Die Frommen wurden eingeladen, ihre Begeisterung für eine Realität zu zeigen, die von den Gutsherren inszeniert wurde. So besuchte man die UdSSR des sowjetischen Sozialismus, das China des maoistischen Sozialismus, das Albanien des Miniatursozialismus, das Kuba des bärtigen Sozialismus, das Nicaragua des sandinistischen Sozialismus, usw. Wehe dem, der die objektive, wissenschaftliche und unbestreitbare Natur dieser erfundenen Realitäten anzweifelte. Bis zu dem Tag, an dem diese Systeme zusammenbrachen. Wir dachten, wir hätten gesehen, aber wir hatten nichts gesehen! Haben wir aus all dem etwas gelernt? Offensichtlich nicht! Heute hat sich das Epizentrum der Revolte in diesen Regionen nach Norden verlagert. In den lakandonischen Wäldern und ihrer Umgebung wurden die etablierten Wahrheiten der traditionellen marxistisch-leninistischen Politik durch die Umwälzungen in der Welt auf den Kopf gestellt. Da eine neue Weltordnung die alte Zweiteilung in zwei Blöcke ersetzt hat, haben die politischen Kommissare ihre Identität aktualisiert und sind sogar bereit, Bakunin zu zitieren, auch wenn sie aus Vorsicht die theologischen Texte der christlichen Befreiung oder sogar Shakespeare vorziehen. Das genügte den Libertären in Frankreich und Navarra, um sich davon zu überzeugen, dass es diesmal wirklich so war und dass eine politische und militärische Bewegung Trägerin der Ideale der sozialen Emanzipation werden konnte. War es die bloße Erwähnung von Zapatas Namen und die Erinnerung an „Mexiko-auf-der-Spitze-des-Vulkans“, die sie verleitete? Wie kann man sich naiv in die Unterstützung einer Bewegung stürzen, die als Vehikel für die Werte von Identität und Patriotismus fungiert, und das mitten in den barbarischsten Gegenden der Welt?3 Diese Anhänger des Zapatismus wiederum sind nicht in der Lage, uns Informationen oder direkte Berichte über die tatsächlichen Geschehnisse auf dem mexikanischen Land zu liefern, sei es über die Besetzungen, die von den kämpfenden Bauern gewählten Organisationsformen oder ihre politischen Ziele und Perspektiven4. Sie sind ebenso wenig in der Lage, auch nur das kleinste Element der Kritik zu liefern, das es uns ermöglichen würde, unser Verständnis der avantgardistischen Organisation, die den bewaffneten Kampf anführt, zu vertiefen. Schließlich ist die Unterstützung für die EZLN ein Gefangener ihres im Wesentlichen nationalistischen Charakters geblieben. Während die soziale Lage in allen Gesellschaften Lateinamerikas explosiv geworden ist und sich die Bewegungen zur Landfrage mehr oder weniger überall ausbreiten und radikalisieren, bleiben die Komitees, die die EZLN unterstützen, auf Mexiko fixiert. Ihr Desinteresse an den Revolten und den jüngsten Massakern an den verarmten Bauern in Brasilien ist signifikant.5 Natürlich begünstigt das Fehlen charismatischer Anführer nicht die Inszenierung eines Medienspektakels.
Die Unterstützungsbewegung für die EZLN ist dabei, die Krise zu offenbaren, in der libertäre und sozialistische Kreise debattieren. Die Anarchistinnen und Anarchisten und allgemein die libertären Strömungen scheinen vom Zusammenbruch des staatskapitalistischen Modells mit voller Wucht getroffen worden zu sein. Während einige erwartet hatten, dass sie das ideologische Vakuum, das dieser Zusammenbruch hinterlässt, ausnutzen würden, ist genau das Gegenteil passiert. Diese Strömungen wurden in die Ohnmacht getrieben, und die Verwirrung ist groß. Was paradox erscheinen mag, ist es nicht wirklich, wenn man bedenkt, dass die Dynamik und die polemische Energie dieses Milieus durch die Existenz eines „Bruderfeindes“ angeheizt wurde. Sobald die antikommunistische Dimension verschwand, blieb die libertäre Strömung mit ihrer Schwäche bei der Analyse des modernen Kapitalismus zurück, der inzwischen zu einem globalen System geworden ist. Viele von ihnen sind aufgrund ihres kurzsichtigen Aktivismus nicht mehr in der Lage, kritisches Denken zu entwickeln. Das Ergebnis ist, dass sie in die Richtung des sozialdemokratischen Humanismus geführt werden. Nur diejenigen, die an den Prinzipien einer staatsfeindlichen und antikapitalistischen libertären Ethik festhalten, schaffen es zu überleben. Unter den Jüngern des Zapatismus herrscht große Verwirrung. Ohne das geringste Zögern geht man von Marcos zu Guy Debord über, soziale Bewegungen, die sich in offener Revolte gegen das System befinden, werden mit den großen patriotischen Massen der EZLN auf eine Stufe gestellt. Alles ist gleich, und es herrscht Unklarheit. Noch gravierender ist, dass sich dieses Milieu bereitwillig den identitätsbasierten und nationalistischen Ideen unterwirft, die den Kern des zapatistischen Projekts bilden. Zunächst wurde versucht, diese Unterstützung im Namen der Taktik abzuschwächen. Jetzt werden Stimmen laut, die das beibehalten wollen: „Auch wenn die Idee der Nation durch den ideologischen Gebrauch der Bourgeoisie besudelt wurde, bewahrt sie die Idee der pluralistischen Freiheit, die den politischen Parteien fehlt. Auch wenn die Nation auf einen rein fiktiven Zustand reduziert wurde, trägt sie immer noch die Idee der Emanzipation in sich.“6 Das lässt erahnen, welche Strecke in so kurzer Zeit zurückgelegt wurde! In diesem Sinne offenbart die Vernarrtheit in die Zapastistas die Krise breiter Teile des libertären Milieus, die nicht in der Lage sind, internationalistische Positionen angesichts der Konsequenzen der sich vollziehenden kapitalistischen Globalisierung zu verteidigen .
Paris, Mai 1996
Jenseits der Sturmhauben im Südosten Mexikos
Die Gemeinden der Indigene: Mythos oder Entfremdung?
Der autoritäre Charakter der Maya- und Inka-Gesellschaften ist heute eine anerkannte Tatsache. Trotzdem hält sich der Mythos einer idyllischen indianischen Gemeinschaft hartnäckig. Dieser Mythos wird zum Teil durch die Vorstellungen, die die Menschen von Gemeinschaft haben, aufrechterhalten. Als ob die gemeinschaftliche Form vorkapitalistischer Gesellschaften eine straff strukturierte Hierarchie, zentralisierte Macht und barbarische Formen der Ausbeutung von Arbeitskräften irgendwie ausschließen würde. Bei den Mayas zum Beispiel, zu deren Gebiet das heutige Chiapas gehörte, diente die Mehr(wert)arbeit der Bauern dazu, eine Minderheit von Aristokraten und Priestern zu ernähren, die die herrschende Klasse dieser Stadtstaaten bildeten.7 Wenn man von „lokalen Traditionen der demokratischen Entscheidungsfindung“ spricht und die Regeln, nach denen sie sich richteten, als Formen primitiver Demokratie darstellt, ignoriert man die Autorität der Ältesten und Häuptlinge, die von einer zentralen Theokratie abhängig waren, die ihre Befehle durchsetzte und ihre Interessen verteidigte. Die Organisation der sozialen Beziehungen ließ wenig Raum für Anfechtungen oder gar Diskussionen. In diesen Gemeinschaften war die Solidarität die der Verengung. Entscheidungen über die grundlegenden Probleme des materiellen Lebens entgingen den Mitgliedern dieser Gemeinschaft, und der soziale Zusammenhalt beruhte auf der Unterordnung unter die Autorität. Zu diesem Thema genügt es, auf aztekische Abhandlungen zu verweisen, die die Normen und Prinzipien verbreiteten, die das soziale Leben leiten sollten: „Sei liebevoll, dankbar, respektvoll; sei ängstlich, schau mit Furcht, sei unterwürfig, tu, was das Herz deiner Mutter wünscht, und auch das deines Vaters, denn es ist ihr Verdienst, ihre Gabe; denn sie haben von Rechts wegen Anspruch auf Dienst, Unterwerfung, Ehrerbietung. […] Erniedrige dich, verneige dich, senke dein Haupt, verneige dich!“8.
Im 9. Jahrhundert verfiel das Maya-Reich, das von den Azteken besiegt wurde, dem Niedergang. Der Autoritarismus, der die sozialen Beziehungen durchzog, verschwand trotzdem nicht, obwohl der Zusammenbruch des alten politischen Systems den Stämmen und Gemeinschaften mehr Autonomie ließ, vor allem denjenigen, die an den Rändern des Reiches lebten. Sie zollten ihren neuen Herren weiterhin Tribut, hielten sich aber dennoch an die alten Regeln der Hierarchie. Diese neue Situation erklärt den Widerstand, den einige Maya-Stämme gegen die europäischen Eroberer leisteten. Wir wissen, dass die Spanier militärische Siege über die „strukturierten“ Reiche leichter errangen als über die Stämme, die nicht in staatsähnliche Formen eingebunden waren. Das lässt sich leicht erklären. Die Bewohner eines Reiches wie der Inkas waren bereits an die corvées (Zwangsarbeit) für den Kaiser oder für die Tempel der Sonne und des Mondes gewöhnt. Der Übergang vom Kaiser zum spanischen encomendero verlief sicherlich nicht friedlich, sondern wurde durch die Anwendung von Gewalt ermöglicht. Bei den freien Völkern ohne staatlichen Rahmen hingegen reichte die Gewalt nicht aus: Der Krieg wurde zum Massaker und die Überlebenden wurden in die Sklaverei getrieben.9 Die Maya-Stämme in der Peripherie befanden sich in einer Zwischensituation. „Im Gegensatz zu den Azteken gab es keine zentrale Autorität, die hätte gestürzt werden können und das ganze Reich mit sich gerissen hätte. Genauso wie die Mayas keinen Krieg im üblichen Sinne führten. Sie waren Dschungel-Guerillas.“10 Auf diese Weise erhielt diese Region seit der Eroberung eine Besonderheit, die sich auf die Bildung der mexikanischen Nation auswirken sollte.
Nach ihrer Versklavung durch die bürokratischen Imperien und die europäischen Kolonialherren wurden diese indianischen Menschen von der kapitalistischen Maschinerie zerschlagen. Nachdem sie von ihrem Gemeindeland vertrieben worden waren, wurden viele Indigene zu Proletariern, die der Gewalt des Lohnarbeitsverhältnisses ausgesetzt waren. Diejenigen, die sich heute als Vertreter der „indianischen Gemeinschaften“ präsentieren, vergessen nie, patriotisch ihre Verbundenheit mit den Idealen der mexikanischen Unabhängigkeit zu verkünden! Doch wir wissen, dass dies ein entscheidendes Element bei der Umwandlung der indigenen Bevölkerung in arme Bauern und landlose Proletarier war. Fast ein Jahrhundert später stammten diejenigen, die während der mexikanischen Revolution den größten Teil der zapatistischen Armee stellten, aus dem Bundesstaat Morelos, „praktisch dem einzigen südlichen Bundesstaat, in dem überall kapitalistische Produktionsverhältnisse herrschen“11.
Wenn es ihre Verbundenheit mit den Sehnsüchten eines vergangenen indianischen Gemeinschaftslebens war, die ihre Revolte angestachelt hatte, erklärt dies auch ihre Unfähigkeit, in ihrer Emanzipation weiterzukommen. Diese Bauern und Bäuerinnen waren tief in ihrem Land und ihren Traditionen verwurzelt. Sie kämpften vor allem für die Wiederherstellung des enteigneten Gemeindelandes und für das Recht, ein individuelles Grundstück zu besitzen. Für diejenigen, die nach der historischen Wahrheit jenseits der Legende suchen, scheint es, dass „die zapatistische Bewegung weder sozialistisch noch ‚fortschrittlich‘ in dem Sinne ist, dass sie ganz Mexiko revolutionär verändern will. (…) Sie ist nur insofern ‚revolutionär‘, als sie eine Antwort auf die Bestrebungen einer kommunitären indianischen Vergangenheit war (…). Sie setzt weder einen Bruch voraus noch schlägt sie ihn vor.“ Oder, wenn man es vorzieht: „Der Traditionalismus der zapatistischen Bewegung war die Grundlage für ihre Einsamkeit und Isolation und vor allem für ihre Ungereimtheiten, Zweideutigkeiten und tiefgreifenden Widersprüche. Und diese Originalität ermöglichte ihr das Überleben; gleichzeitig legitimierte sie ihre Unfähigkeit, sich dynamisch in Richtung Selbsttransformation zu entwickeln und ihr regionales ‚Ghetto‘ wirklich zu verlassen.“12 Außerdem ist es bezeichnend, dass es der Regierung im selben Zeitraum gelang, die aufständischen Yaquis vorübergehend zu befrieden, indem sie ihren Häuptlingen versprach, ihnen das Gemeindeland zurückzugeben und Kirchen zu bauen… 13…. Mit dem Ende der Revolution hat die Expansion des Kapitalismus die Zerstörung der traditionellen Formen der indianischen Gemeinschaft beschleunigt, indem die meisten ihrer Mitglieder in die „Gemeinschaft des Kapitals“ integriert wurden.
In Chiapas wurde der Prozess der kapitalistischen Modernisierung durch die Stärke der Großgrundbesitzer, die dort auf fast feudale Weise herrschten, lange Zeit verzögert. In einer Region, in der die Revolution nur wenige Umwälzungen verursacht hatte, konnten sie von der Geschlossenheit und dem Traditionalismus der indianischen Gemeinschaften profitieren und die von ihnen Ausgebeuteten gegen den offiziellen Plan der Agrarreform und der Befreiung der Leibeigenen mobilisieren.14 Dieser Widerstand gegen die zentrale Bourgeoisie vereinte Ausbeuter und Ausgebeutete bei der Erhaltung der indianischen Gemeinschaften zum Vorteil der Großgrundbesitzer in Chiapas. Ab den 40er Jahren sollten „die trockenen Berge der Altos del Chiapas, die durch Cardenas‘ heuchlerische Agrarreform geteilt wurden, zu einem perfekten Arbeitskräftepool für die Latifundien des Centro, der Fraylesca und des Soconusco werden, die plötzlich nicht mehr all diese Mäuler außerhalb der Erntesaison zu stopfen brauchten, da sie mehr oder weniger auf dem kommunalen Land überleben konnten.“15 Nach und nach überlebten viele der Gemeinden nur dank der Lohnarbeit der auf den Kaffeeplantagen beschäftigten Indianer.16 Die Ahnenwerte, die in ihrem armseligen materiellen Überleben verwurzelt blieben, sind größtenteils Werte der Unterwerfung.
Diese kamen den Großgrundbesitzern zweifelsohne entgegen. Die Gemeinschaften, deren demokratische und emanzipatorische Traditionen heute zum Mythos erhoben werden, bildeten jahrzehntelang die soziale Struktur, die die Ausgebeuteten in die Hände der Großgrundbesitzer fallen ließ. Erst die Entwicklung der proletarischen Verhältnisse und das damit verbundene Aufbrechen der kommunitären Formen lösten Revolten aus, die Elemente der sozialen Emanzipation enthielten. Die Revolte in Chiapas ist die jüngste Episode in der langsamen und besonderen Integration, die diese Randregion des mexikanischen Kapitalismus durchlaufen hat.
Revolten der armen Bauern und Landbesetzungen sind endemische Phänomene in den lateinamerikanischen Gesellschaften. In Mexiko wie auch anderswo wurde die Art dieser Kämpfe von den Erschütterungen aller Gesellschaften der Dritten Welt beeinflusst: Vertreibung der armen Bauern vom Land, soziale Ausgrenzung, Migration, Proletarisierung. Um das Wesen der Revolte in Chiapas zu verstehen, müssen wir einen kurzen Blick auf die Besonderheiten dieser Region und den Platz, den sie in der Entwicklung der sozialen Spannungen in Mexiko einnimmt, werfen.
Aufgrund des Fortbestehens eines quasi-feudalen Besitzsystems gehörten die Bauern der Ejidos (Gemeinschaftsgrundstücke) und die Kleinbesitzer in Chiapas zu den Ärmsten in Mexiko. Trotzdem begannen Ende der 50er Jahre zahlreiche indianische Bauern und Bäuerinnen, die von ihren individuellen Grundstücken vertrieben worden waren, nach Chiapas auszuwandern. Obwohl diese Bewegung im Wesentlichen spontan war, wurde sie von der Regierung gefördert. Die vertriebenen Bauern (expulsados) wurden aufgefordert, sich in den Wäldern niederzulassen. „In sozialer Hinsicht war die lakandonische Grenze ein Sicherheitsventil; eine Region fernab des Machtzentrums, in der die potenziell explosiven indigenen und bäuerlichen Massen aus den tieferen Schichten Mexikos arbeiten konnten. Es war, wenn man so will, ein Naturschutzgebiet für die Ärmsten der Armen.“18 In nur wenigen Jahren siedelten sich über 150.000 landlose Indianer in den Wäldern und Bergen an.19 Wie jede kapitalistische Landverteilung verlief auch diese auf ungleiche Weise. Die Neuankömmlinge fanden sich auf dem ärmsten Land in den Bergen wieder und hatten nie Zugang zu den fruchtbaren Tälern. Kurze Zeit später wurde dieses Land entweder aufgegeben (weil es zu trocken war) oder enteignet (mit Gewalt oder auf legalem Wege). Die Tatsache, dass es sich bei diesen armen Bauern hauptsächlich um Indianer handelte, erleichterte es den wohlhabenden, mit der Agrarindustrie verbundenen Landbesitzern, sich ihr Land anzueignen.
Die Bedingungen für das Entstehen neuer sozialer Konflikte waren nun gegeben, und das „Sicherheitsventil“ wurde zu einer Zeitbombe. Der Niedergang der alten indianischen Gemeinschaften ging einher mit der Entstehung einer neuen armen Bauernschaft, die sich aus einer gemischten Bevölkerung (Maya und Nicht-Maya-Indianer und Métis) zusammensetzte. Bereits Anfang der 70er Jahre begannen die alten Gemeinschaften, die in der Vergangenheit strukturiert worden waren, die Auswirkungen eines intensiven Prozesses der internen sozialen Differenzierung zu zeigen, der ihre Mechanismen des Zusammenhalts und der Selbstverteidigung auffraß. Bauern und Bäuerinnen, die weder Land noch Arbeit hatten, begannen, sich in den elenden Vororten (der Städte von Chiapas) zu konzentrieren. „Anfang der 80er Jahre hatte sich die Zahl der verfügbaren Arbeitskräfte verdoppelt, während gleichzeitig die Politik der verbrannten Erde der Regierung Rios Montt in Guatemala mehr als 80.000 Maya-Flüchtlinge nach Chiapas trieb, die aus dem Nachbarland flohen, um sich der Reservearmee von Arbeitskräften auf der mexikanischen Seite der Grenze anzuschließen.“20 Die enteigneten Indianer wurden oft an den Rand gedrängt, da die Landbesitzer es vorzogen, sie durch guatemaltekische Arbeiterinnen und Arbeiter zu ersetzen, die noch prekärer lebten und sich oft illegal im Land aufhielten.21
Kurz gesagt: „Das alte System des Kaufs und Verkaufs und der Reproduktion der Arbeitskräfte wurde also unterbrochen, ohne dass es durch ein neues System ersetzt wurde, das in der Lage war, eine wachsende Masse von arbeitslosen Arbeiterinnen und Arbeitern in der Landwirtschaft aufzunehmen. Verzweiflung und Krise hatten begonnen, ihre perversesten Auswirkungen zu entfalten.“22 Die Sozialstruktur erfuhr einen tiefgreifenden Umbruch. Die Entflechtung des ländlichen Raums ging mit einer chaotischen, unkontrollierten Verstädterung der Gemeinden einher. Heute kann man in Chiapas wie in Guatemala alle Formen der Enteignung sehen, die die indianischen Gemeinden bedrängen“23.
In Mexiko war die Verbundenheit der armen Bauernschaft mit dem Land von den Bestrebungen der gemeinschaftlichen indianischen Vergangenheit durchdrungen und wurde durch das Erbe der Revolution verstärkt. Diese Bestrebungen verblassten mit der Enteignung des Gemeindelandes und der Einführung des Kapitalismus auf dem Lande. Ein paar Hinweise können helfen, dies zu verstehen und den Mythos des Kommunitarismus zu überwinden. Das Familieneigentum an kommunalem Land war der erste Schritt dieser Enteignung. Obwohl fast ein Drittel des Landes Teil der Ejidos ist oder den Kleinbauern gehört, werden nur 10 % der Ejidos kollektiv bewirtschaftet. Außerdem sind die meisten Bewirtschafter der Ejidos (etwa 80 %) jetzt gezwungen, für die Großgrundbesitzer zu arbeiten, wenn sie überleben wollen, was einen Eindruck davon vermittelt, wie arm das Gemeindeland ist. In den 80er Jahren wurde die Enteignung der Ejidos überall beschleunigt. Durch die Verschuldung der Bauern und Bäuerinnen griff der Bankensektor nach dem Gemeindeland und zwang die armen Bauern und Bäuerinnen, „Partner“ der reichen Grundbesitzer zu werden.24 Die Krise des Gemeindelandes führte so zu einem schnellen Prozess der Proletarisierung der Bauern und Bäuerinnen. In einem solchen Kontext, der von der privaten Form des Landbesitzes dominiert wurde, gingen die Forderungen der Bauernkämpfe selten über die Grenzen der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse hinaus. Es ist nur natürlich, dass die avantgardistischen politischen Organisationen, die sich parallel zu den ländlichen Bewegungen entwickelten, die Achtung des Privateigentums an Grund und Boden zu einem der Grundelemente ihres eigenen reformistischen Kampfes machten. Die Revolte in Chiapas fand statt, als sich dieser Prozess seinem Ende näherte. Als letzte Region, die unter den Auswirkungen der Enteignung kommunaler Ländereien zu leiden hatte, wurde Chiapas zu einer Pufferzone, in der sich alle Probleme des Landes konzentrierten, und wurde genau zu dem Zeitpunkt zum Pulverfass Mexikos, als die Globalisierung der Ökonomie auf der Tagesordnung stand. Diese Revolte ist eine Revolte aller Ausgeschlossenen, der landlosen und arbeitslosen Proletarier, der ausgegrenzten, armen Bauern und städtischen Lumpenproletarier, die dort festsitzen, wo sie sind, zwischen dem Wald, den Bergen und dem Meer. Es ist die Revolte der „neuen Gehängten“. Tatsächlich hat die Masse der jungen Menschen keinen Zugang zum Land und kann in den Städten keine Arbeit finden.25 „Heute besteht die zapatistische Armee hauptsächlich aus dieser Masse junger, moderner, emanzipierter Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen und einige Erfahrung mit Lohnarbeit haben. Sie haben nicht viel Ähnlichkeit mit den isolierten Indianern, die man sich vorstellt.“26 Wer darauf besteht, die Revolte als eine spezifisch indianische Bewegung darzustellen, verweigert sich selbst die notwendigen Mittel, um sie zu verstehen. Wer nicht über die demokratischen Forderungen der EZLN hinausgeht, verkennt, dass die politischen Ziele der Organisationen, die im Namen der beteiligten Völker sprechen, möglicherweise nicht mit deren Wünschen und Wut übereinstimmen. Außerdem ist es unwahrscheinlich, dass die jungen Rebellen in Chiapas für Land kämpfen, egal ob es sich um privates oder kollektives Land handelt.
Im Oktober 1968 massakrierte die mexikanische Regierung, verblüfft von der Größe einer beispiellosen Studentenbewegung, rund 300 Demonstranten auf der Plaza der drei Kulturen in Mexiko-Stadt. Gleichzeitig wurde eine brutale Repression gegen die Organisationen der extremen Linken eingeleitet. Nach diesen tragischen Ereignissen beschloss die marxistisch-leninistisch-maoistische Gruppe Politica Popular, das Studentenmilieu zu verlassen und ihre Aktivitäten auf die „arbeitenden Massen“ zu konzentrieren. Sie siedelte sich in den Städten im Norden des Landes an, wo durch die Landflucht riesige Gebiete mit Elendsvierteln entstanden waren – ein günstiges Terrain für militante Linke. Ihr Ziel war es, „rote Basen“ zu schaffen: ein Netzwerk von Organisationen, die alle Bereiche des sozialen Lebens abdecken und die Kontrolle über diese armen Gebiete erlangen sollten. Die Taktik wurde von den linken Tendenzen der chinesischen Kulturrevolution übernommen: Die politische Führung der Organisation sollte nie an die Öffentlichkeit treten, sondern ihre Entscheidungen immer als Ergebnis von Beratungen mit den Massen in Komitees und Vollversammlungen präsentieren. Dies ist das klassische Projekt einer autoritären Avantgarde-Organisation, die Massen von Menschen übernimmt und manipuliert, indem sie sich mit dem demagogischen Diskurs der Basisdemokratie maskiert. Bei der Organisation ihrer „politischen Arbeit“ auf diesem Terrain trafen die mexikanischen Maoisten unweigerlich auf ältere militante, progressive katholische Priester. Maoisten und Priester, die beide um die Kontrolle über dieselben Massen konkurrierten, kamen schnell zu einer Einigung. Aus ihrer wundersamen Zusammenarbeit entstand der „Torreonismus“ (nach der großen Stadt Torreon im Norden), das mexikanische Modell für die „Arbeit an den Massen“.27 Mitte der 70er Jahre setzte die mexikanische Regierung, beunruhigt über den Erfolg dieser Strömung, eine brutale Repression gegen sie in Gang, in deren Verlauf viele militante Mitglieder getötet wurden. Auch hier revidierte die Führung der Organisation ihre Positionen: Die „Massenlinie“, die den Schwerpunkt auf die politische Arbeit in den städtischen Gebieten legte, wurde durch die „proletarische Linie“ ersetzt, die den Schwerpunkt auf die Verankerung unter den armen Bauern und Bäuerinnen legte. Die Verabschiedung dieser neuen Linie bedeutete für die mexikanischen Maoisten den Rückzug in Gebiete, in denen sie glaubten, weniger Repressionen ausgesetzt zu sein: Es war ihr „Langer Marsch“. Dies war eine unruhige Zeit im Leben der Gruppe, die durch eine ganze Reihe von gescheiterten „Einpflanzungen“, Spaltungen, Verzicht und internen Abrechnungen gekennzeichnet war.28 Erst Ende der 70er Jahre trafen die ersten „Brigaden“ der maoistischen Avantgarde in Chiapas ein, wo sie auf ihre „Mitstreiter“ aus der „fortschrittlichen“ Kirche trafen, die bereits in den armen Bauerngemeinden präsent waren.
Es ist heute nicht einfach, einen klaren linearen Zusammenhang zwischen der Zeit, in der sich diese Organisation etablierte, und der Geburtsstunde der EZLN herzustellen. Sicher ist jedoch, dass es diese Verbindung gibt. Nach einiger Zeit kamen andere maoistische Gruppen in Chiapas an. Marcos selbst gehörte anscheinend zu einer der letzten „Brigaden“29 Viele militante und politische Anführer verschwanden infolge der gnadenlosen Repression durch die Armee und die von den Großgrundbesitzern eingesetzten Söldner. Die Überlebenden mussten einige ihrer Ideen entsprechend den örtlichen Gegebenheiten überarbeiten. Schließlich ist bekannt, dass die grundlegende Taktik der linken Maoisten in den Bauernkämpfen wieder auftauchte: der ständige Rückgriff auf Vollversammlungen als Mittel, um die politische Führung zu verstecken und zu schützen.
Wie ihre peruanischen Pendants vom Leuchtenden Pfad (Partido Comunista del Perú – Sendero Luminoso) hatten die mexikanischen Maoisten auf ihre Weise die guevaristische Idee des Foquismo30 (Aufstandsherde) kritisiert. Sie hatten verstanden, dass die politische „Einpflanzung“ zum Scheitern verurteilt war, wenn sie sich auf Aktionen einer kleinen Gruppe beschränkte, die in geschlossenen indianischen Gemeinden abgesetzt wurde, die allem, was von außen kam, feindlich gegenüberstanden. Aus taktischen Gründen verkündeten sie von Anfang an die Einzigartigkeit der indianischen Kultur. Die kleinen Gruppen von Militanten mussten sich in die Gemeinden integrieren, indem sie u. a. ihre Verbindungen zur „indigenen Kirche“ nutzten. In einer zweiten Phase passte die politische Organisation ihre Vorstellung von Führung an die neuen historischen Bedingungen an, die durch den Zerfall der ländlichen Gemeinschaften und die Proletarisierung der indianischen Bauern gekennzeichnet waren. Die Gründung von Bauernverbänden entsprach dieser zweiten Phase. Im Jahr 1991 wurde die „Unabhängige Bauernallianz Emiliano Zapata“ zu einer nationalen Organisation. Dies bedeutete einen grundlegenden politischen Sprung: Die Arbeit zur Schaffung einer „Massenbasis“ war abgeschlossen und die „regionalistischen“ Vorstellungen – die von den autarken indianischen Gemeinschaften gefordert und von der „indigenen Kirche“ verteidigt wurden – waren überholt. Die Zeit für bewaffnete Aktionen war gekommen. Nach diesem Modell sollte die Gründung der militärischen Organisation die letzte Phase eines langen politischen Prozesses der „Einpflanzung“31 in die lokale Bevölkerung sein. Heute ist die zapatistische Armee, die aus diesen „Massen“-Organisationen hervorgegangen ist, lediglich eine der Strukturen der Organisation; sie ist ihr sichtbarer Teil. Die Texte der EZLN und die Aussagen von Marcos kommen oft auf diese Frage zurück. Der Erfolg der neo-zapatistischen Organisation erklärt sich zu einem großen Teil aus der politischen Intelligenz, die ihre militanten Mitglieder während dieser langen Zeit an den Tag legten.
Dennoch wird die Strategie der EZLN von anderen Strömungen der mexikanischen avantgardistischen extremen Linken kritisiert, die Zweifel an ihren Erfolgschancen haben. Sie bezeichnen die EZLN als „reformistische bewaffnete Organisation“, deren soziale Isolation ihre Betonung auf Verhandlungen erklärt: „Wie kann eine nationale Befreiungsarmee behaupten, über ihr eigentliches Ziel, die Macht zu ergreifen, zu verhandeln? Und wie kann man mit dem Staat über ein solches Ziel verhandeln?“32 Die EZLN hat sich offensichtlich ein Medienimage aufgebaut, das nicht ihrem wahren Wesen entspricht, mit dem taktischen Ziel, ihre eigene Schwäche zu verschleiern. Zunächst zur Avantgarde: „Die EZLN behauptet weiterhin, sie sei keine Avantgarde. Das führt zu Verwirrung. Natürlich ist eine Avantgarde genau das, was sie sind, auch wenn sie das Gegenteil behaupten. Es kommt darauf an, was du tust, nicht was du sagst. Wenn du anfängst zu kämpfen, wenn du Menschen in verschiedene Lager bringst, dann musst du die Verantwortung dafür übernehmen, den Widerstand organisieren und die beteiligten Kräfte koordinieren.“33 Zur Frage der Friedensforderung: “Frieden ist für die herrschenden Klassen in Ordnung. Sie haben schon immer ‚mit dem Frieden‘ gelebt und so haben sie ihre Macht erhalten. (…) Marcos ruft ständig nach der Unterstützung von Teilen der Gesellschaft, die, wenn es ernst wird, nichts mehr von den Zapatistas hören wollen.“34 Die EZLN hat keine Wahl: Sie muss auf Zeit spielen und eine Unterstützungsbewegung außerhalb von Chiapas aufbauen, daher der ständige Appell an die ‚Zivilgesellschaft‘. Doch auf lange Sicht führt das Beharren auf Verhandlungen unweigerlich zu einer Stagnation der Positionen der Organisation und dem Ende der Unterstützung von außen. ‚ Was den Zapatistas in Realität aber gerade grausam fehlt, ist massive Unterstützung von der Straße, wie im Januar (1995), als sie einen Waffenstillstand forderten. Und die viel zu wenig kritisierte Vagheit der „Zivilgesellschaft“, die sich nur als kläglicher Umschlag ohne eigene Kraft entpuppt. Der einzige Ort, an dem sie eine starke Realität ist, ist hier. Und die Menschen vor Ort ziehen es vor zu sagen: „Das Volk in der Rebellion“35 Hier sind wir beim Kern unserer Kritik angelangt. Die Originalität der EZLN ist im Begriff, zu ihrer größten Schwäche zu werden. Zehn Jahre lang konnte diese Bewegung von den besonderen Bedingungen in einer geografisch isolierten Region profitieren, in der es keine Probleme mit den Sicherheitskräften und bewaffneten Auseinandersetzungen gab. Diese Isolation, die es ihr ermöglichte, sich leicht zu entwickeln, ist nun zu einer Falle geworden. Sobald die EZLN offen auftrat, wurde sie militärisch eingekreist, isoliert und jeder Rückzugsmöglichkeit im Falle eines Angriffs durch die mexikanische Armee beraubt.36
Indigene Demokratie im Zeitalter des Internets
Die Kontrolle der Sprache ist ein Aspekt des bürokratischen Charakters der EZLN. Die Stimmen der Rebellen in Chiapas werden auf eine einzige reduziert, die im Namen aller anderen spricht und schreibt. Die Tatsache, dass einige der kaviar-linken Bourgeois Marcos aufgrund eines elitären Verständnisses verteidigen, ist kaum überraschend. Er ist ein „Künstler“ und „der beste zeitgenössische lateinamerikanische Schriftsteller“, der Vertreter „einer Handvoll sehr begabter junger Menschen“. „Er (Marcos) spricht nicht in ihrem Namen, er macht seine Gefährten zu Figuren in Erzählungen oder Kurzgeschichten. Mit dieser zur Schau gestellten, aber kollektiven Subjektivität erfindet er eine neue Art, ‚Ich‘ zu sagen, die wie ‚wir‘ klingt, ohne sich selbst zu ersetzen, ein offenes und wandelbares ‚Ich‘, das jeder so nehmen kann, wie er will, und das er auf seine eigene Weise erweitern kann.“37 Enthusiastische Militante sind gelegentlich von dem Spektakel des Subcomandante verunsichert. Sie geben sich alle Mühe, uns zu versichern, dass Marcos im Namen des Volkes spricht, dessen Sprecher er lediglich ist. Es besteht keine Gefahr von Caudillismus. Aber wie kannst du die Stimme des Volkes erkennen, wenn du nur Marcos hörst? Das kann natürlich nur Marcos! Und wir drehen uns im Kreis. Andere schließlich haben keine Angst vor dem Gestank des Totalitarismus und erklären das: „Die Maske sagt, dass alle durch den Mund eines Mannes sprechen können. Die Maske sagt, dass niemand unersetzlich ist.“38 Weil alle gleich sind, könnten wir zynisch hinzufügen. Der Subcomandante seinerseits rechtfertigt sich: „Das Neue ist nicht die Abwesenheit des Caudillo, sondern die Tatsache, dass er ein gesichtsloser Caudillo ist.“39 Für uns ist die Anonymität des Anführers natürlich nicht das Ende des Anführers; im Gegenteil, sie ist die abstrakte Form der Autorität. Der Heldenkult wird nicht verdrängt – er erscheint in seiner reinen Form. Die Moderne präsentiert sich uns in Form einer Karikatur der Vergangenheit: Wir dachten, wir wären die bolschewistische Avantgarde los, nur um bei der Avantgarde des Zorro zu landen. Die EZLN ist Dirigismus mit einer demokratischen Sturmhaube.
Wenn man jedoch die Prosa der EZLN genau liest, erkennt man eine klare Trennung zwischen „uns“ (der Befreiungsarmee) und „ihnen“ (den Massen). Dem aufmerksamen Beobachter fällt es nicht schwer, in diesen Worten die Grundprinzipien des linken Maoismus und des „Torreonismus“ der 70er Jahre zu erkennen. Die zapatistische Organisation entspricht diesem Modell: Vollversammlungen an der Basis, klandestine politische Komitees an der Spitze (das Generalkommando, dem Marcos untersteht). Man sagt uns auch, dass die Organisation sich unermüdlich mit der Basis berät: Es gibt Plebiszite, Vollversammlungen, Volksabstimmungen.
Es ist ein „demokratischer politischer Prozess“, ein „neues politisches Projekt“, eine „autonome Demokratie für alle (sic) Ebenen der mexikanischen Gesellschaft“, eine „neue politische Synthese“ usw. In einem Interview nach dem anderen, in einem Kommuniqué nach dem anderen wiederholt Marcos seine eigene Litanei aus demokratischen Klischees, die sein Publikum gerne hört. Er spricht unermüdlich von den demokratischen Anliegen der EZLN. Das geht so weit, dass scharfe Köpfe im Rausch der schönen Worte zu zweifeln beginnen, ob er selbst auch nur ein Wort davon glaubt. Sobald du über die abgedroschenen Phrasen hinauskommst und versuchst, den wirklichen Inhalt der Strukturen zu erkennen, die die Macht ausüben werden, ist Annäherung die Regel. Der Mann, der das moderne Internet nutzt, um seine eigenen Texte zu verbreiten, entpuppt sich als eingefleischter Anhänger der Vergangenheit: „Wenn eine Gemeinschaft ein Problem hat, trifft sie sich zur Vollversammlung, die Menschen analysieren es und lösen es gemeinsam… Diese Form der Demokratie ist angeboren und natürlich, man muss sie nicht lehren. Sie stammt von unseren Vorfahren und deren Vorfahren und wird ein Leben lang weitergegeben.“40 Man könnte es wagen, nach dem mythischen Gehalt dieser kommunitären Demokratie zu fragen, doch das würde missbilligt werden. Hat man uns nicht gesagt, dass „die indigene Demokratie nicht aus den Zeichensälen kommt. Sie wird bergauf und bergab diskutiert, sie verdichtet sich in der Umgebung, in den Flüssen, den Wasserlöchern und den Höhlen. Du siehst sie nicht, du spürst sie.“41 Sich des respektvollen Schweigens seiner Gesprächspartner sicher, zögert Marcos nicht, dieses Modell der Repräsentation als Regierungsmodell für moderne Gesellschaften vorzuschlagen, scheinbar ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass er damit lediglich eine vereinfachte Version dessen vorschlägt, was bereits existiert. „Lasst uns die Welt so organisieren, lasst uns die Macht ausüben, jemanden ernennen, der uns vertritt; aber wir werden ihn beobachten, und wenn er seine Arbeit nicht macht, werden wir ihn absetzen, ihm die Macht nehmen, so wie es in den indianischen Gemeinschaften gemacht wird“42.
Der patriotische Nationalismus ist neben der kommunitären Demokratie die zweite Säule im Diskurs der EZLN. Ein Beobachter, der mit den Aktionen der EZLN sympathisiert, konnte dennoch nicht umhin festzustellen, dass „Marcos selbst einen fanatischen Patriotismus ausstrahlt“.43 Die patriotische Hysterie, die einer der gröbsten Fehler des maoistischen Extremismus war, konnte sich problemlos an die neue Situation anpassen. Tatsächlich hat die EZLN eine beachtliche Fähigkeit bewiesen, sich an eine Situation anzupassen, die aus dem Zusammenbruch des Staatskapitalismus und dem Ende der Teilung der Welt in zwei Blöcke entstanden ist. Sie ist die erste Guerillabewegung der postkommunistischen Zeit, die versucht, einen Weg zu finden, in der Ära der neuen Weltordnung zu agieren. Ihre marxistisch-leninistischen Kader haben den ausbeuterischen Charakter der zusammengebrochenen Systeme nie kritisiert. Manchmal gehen sie sogar so weit, sie als „Länder, die frei leben konnten“44zu bezeichnen. Meistens beschränken sie sich darauf, das Verschwinden dessen festzustellen, was für sie Sozialismus war: „Die Sowjetunion ist am Ende – es gibt kein sozialistisches (sic) Lager mehr; in Nicaragua haben wir die Wahlen verloren; in Guatemala wurde ein Friedensabkommen unterzeichnet; in El Salvador wird über Frieden diskutiert. Kuba ist isoliert; niemand will mehr etwas über den bewaffneten Kampf hören, noch weniger über den Sozialismus; von nun an sind alle gegen die Revolution, egal ob sozialistisch oder nicht.“45 Was bleibt den Marxisten-Leninisten, die die Unterstützung der ‚Bruderländer‘ verloren haben, also anderes übrig, als sich einem kruden antiimperialistischen Patriotismus, dem Lob der Nation und der Achtung der parlamentarischen Demokratie hinzugeben. Die EZLN ist keine Bewegung, die „die Vergangenheit mit der Zukunft vereint“,46 und noch weniger ist sie die „erste Revolution des kommenden Jahrhunderts“. Sie ist eine Bewegung der Vergangenheit, die versucht, sich an die neuen Gegebenheiten einer Gegenwart anzupassen, die keine Zukunft hat. Sie ist die letzte Bewegung alten Stils in einem Jahrhundert, das sich dem Ende zuneigt.
Die Interessen Gottes und die Frauen haben genug
Wir haben gesehen, dass sich die marxistisch-leninistischen Gruppen und die katholische Kirche vor Ort von Anfang an einig waren. Die politischen Militanten passten sich sehr gut an eine „einheimische Kirche“ an, die auf dem Prinzip der Autonomie der Diözesen und der Fähigkeit der militanten Basis beruhte, die Aufgabe der Evangelisierung und der Feier der Messe zu übernehmen. Die Dominikaner, die in Chiapas die Mehrheit stellten, akzeptierten diese Vereinbarung, die es ihnen ermöglichte, ihre „Arbeit an den Seelen der Menschen“ fortzusetzen, während die Maoisten sie als Mittel zur Infiltration der Gemeinden nutzten. Viele indianische Kader der EZLN wurden auf diese Weise rekrutiert, nachdem sie sich vor Ort in den religiösen Gemeinschaften und Bauernorganisationen engagiert hatten.47 Außerdem ist ihr politisches Denken von den vereinfachenden Prinzipien der Befreiungstheologie durchdrungen: Es gibt „falsche Ideen“ und „wahre Ideen“, genauso wie es je nach Perspektive eine falsche und eine wahre Interpretation des Evangeliums gibt. Mehrere Themen der EZLN-Ideologie passen perfekt zu den Positionen dieser religiösen Strömung: Ablehnung der Zentralmacht, Kult der Gemeinschaft usw. Wenn einer der Comandantes sagt: „Wenn Christus sein Leben gegeben hat, wenn er sein Blut vergießen ließ, um seine Brüder zu befreien, dann denke ich, dass wir die gleichen Waffen haben werden“,48 dann wiederholt er damit nur die Behauptung der Befreiungstheologie, die den militanten politischen Kampf als Weg zur Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden darstellt.49 Für die Befreiungstheologie wird der Zugang zur religiösen „Gnade“ durch das Engagement als Militanter erreicht. Gnade ist die Gabe, die einen Menschen überzeugt, zu vertrauen. Aus Vertrauen entsteht Einheit. Und Einheit ermöglicht Organisation. In diesem Sinne steht die Gnade im Gegensatz zur bestehenden Machtstruktur.50
Daher wäre es ein Fehler, daraus zu schließen, dass die Kirche und die EZLN die gleiche Strategie verfolgen. Die Partei, die von der katholischen Kirche vertreten wird, versucht auf ihre Weise, die Situation auszunutzen und die für sie charakteristischen Ziele zu verfolgen. Dies gilt umso mehr, als die protestantischen Sekten seit den 60er Jahren mit den katholischen Sekten um die Kontrolle über die Seelen der Menschen konkurrieren. Zehntausende von indianischen Bauern in Chiapas wurden unter dem Vorwand von ihrem Gemeindeland vertrieben, dass sie zum Protestantismus konvertierten und sich „den Vertriebenen“ in den Bergen anschlossen.51
Die EZLN konnte diese religiöse Konkurrenz nicht ignorieren. Deshalb betont sie ihre Unabhängigkeit von den Kirchen und nimmt Evangelisten und Mitglieder anderer protestantischer Sekten auf. Die Funktionäre der katholischen Kirche grenzen sich ihrerseits von der EZLN ab, respektieren aber gleichzeitig ihre politische Tätigkeit. Der Priester Ruiz, Bischof von San Cristobal und eine Schlüsselpersönlichkeit bei den Verhandlungen zwischen der EZLN und dem Regime, ist zudem ein alter Kenner der mexikanischen Linken, die er seit den 70er Jahren frequentiert.52
1990, während die EZLN ihre militante Arbeit im Verborgenen fortsetzte, hängten der Priester Ruiz und seine Untergebenen Fotos von Föten an die Fassade der Kathedrale von San Cristobal,53 um auf diese Weise gegen das Gesetz über das Recht auf Schwangerschaftsunterbrechung zu protestieren, das gerade vom Provinzparlament verabschiedet worden war.54 Wie überall war die Frage der Fortpflanzung eine politische Frage der sozialen Kontrolle, und die Caciques der PRI [Partido Revolucionario Institucional, die regierende Partei in Mexiko] sahen darin ein Mittel, um die Geburtenrate unter den Armen zu senken. Die gefeierte „fortschrittliche Kirche“ – ein Verbündeter der Zapatisten – offenbarte ohne Skrupel ihre reaktionäre Natur. Heute gilt Ruiz als „Dissident“ der Kirche, unter anderem weil er das Zölibat der Priesterschaft kritisiert. Er weiß, dass das Überleben seines kleinen Unternehmens auf dem Spiel steht. Denn die Konkurrenz der Protestanten ist nicht nur eine einfache Frage der Theologie. Die Protestanten haben sich leicht in den Gemeinden eingenistet, weil ihre Organisation flexibler ist und weil Männer die Aufgaben des Kirchenamtes problemlos erfüllen können. Ruiz und seine Clique haben das verstanden und versucht, sich dem Zug anzuschließen. Laut dem ‚Katechismus des Exodus‘ der ‚Progressiven‘ können die Gemeinden Diakone wählen, aber Tatsache ist, dass es immer noch keine einheimischen Priester gibt… Und das aus gutem Grund: „In den indigenen Gemeinschaften ist immer der ältere, der erwachsene Mann das Familienoberhaupt. Ein Mann ist nicht erwachsen, solange er unverheiratet ist.“55 Der Zusammenhalt der Gemeinschaft ist für das Überleben der Partei der katholischen Kirche notwendig (genauso wie für die EZLN) und die Priester lehnen den Kampf für Geburtenkontrolle als Theorie der ‚Ersten Welt‘ ab.56 (Es ist interessant, diese Position mit der der rassistischen Strömungen der nordamerikanischen schwarzen Islamisten zu vergleichen, für die das Recht auf Verhütung und Schwangerschaftsunterbrechung Teil eines Plans der Weißen ist, der auf die Ausrottung der schwarzen Gemeinschaft abzielt.) Wenn sie schon dabei sind, unterstützen sie den politischen Kampf, indem sie behaupten, dass die Mittel zum Lebensunterhalt vorhanden sind und das Problem darin besteht, „zu wissen, wer sie kontrolliert und wer sie verteilt.“57 So ergibt sich am Ende eine Konvergenz mit der EZLN.
Für alle, die es noch nicht verstanden haben: Diese Macho- und Pro-Geburtenraten-Diskurse stellen die Lebensbedingungen der Frauen in den Gemeinden nicht in Frage. In diesen armen Regionen sind die Lebensbedingungen der Frauen extrem hart, der Alkoholismus richtet verheerende Schäden an und verstärkt die männliche Gewalt. In Chiapas ist die Geburtenrate sehr hoch, im Durchschnitt gibt es etwa sieben Kinder pro Frau. „60 % der Bevölkerung sind unter 20 Jahre alt; viele heranwachsende Mädchen werden in die Ehe verkauft, bevor sie fünfzehn Jahre alt sind. 117 von 100.000 Frauen sterben bei der Geburt (die häufigste Todesursache in Mexiko), und die Kindersterblichkeit ist doppelt so hoch wie die nationale Rate. Und schließlich sprechen 30-40 % der Frauen nur eine (indigene) Sprache und 60 % können weder lesen noch schreiben.“58 Es ist sicherlich richtig, dass die EZLN für Frauen besonders attraktiv ist, denn sie stellen rund ein Drittel der Truppen und mehr als die Hälfte der militanten Mitglieder. Dieses Phänomen ist keine Besonderheit der Situation in Chiapas, sondern gilt für alle Gesellschaften, die sich in einem Transformationsprozess befinden, in dem sich Guerillagruppen gebildet haben. Die EZLN hat ihr Frauengesetz zu Beginn des Aufstands definitiv unter dem Druck der Frauen erlassen, die ihre Gemeinden verlassen haben, um zu kämpfen.
Mit ihrem Engagement bestätigen die Frauen den reaktionären Charakter der indianischen Gemeinden, den die zapatistischen Anführer weiterhin als das neue Modell der Demokratie präsentieren, das überall eingeführt werden soll. Andererseits bleibt die Integration der Frauen in die militärischen Strukturen der sicherste Weg, das subversive Potenzial ihrer Entscheidung, mit der Vergangenheit zu brechen, zu entschärfen. Jeder Wunsch, die sozialen Beziehungen zwischen den Geschlechtern zu verändern, wird so im Keim erstickt. Die jüngste historische Erfahrung zeigt, dass Frauen oft im Kampf eingesetzt und dann neuen allgemeinen Interessen untergeordnet werden, ja sogar einer neuen Politik, die eine höhere Geburtenrate begünstigt. Das Beispiel Algerien sollte ausreichen, um an den sozialen „Errungenschaften“ zu zweifeln, die die Anführer der EZLN gerne für sich in Anspruch nehmen. Seit wann ist die Beteiligung von Frauen an militärischen Aufgaben und ihr Aufstieg in der Befehlskette ein Beweis für die Emanzipation der Frauen? Man kann behaupten, dass „der Aufstand selbst einen Prozess der Umwälzung des traditionellen Lebens und der Herrschaftsverhältnisse darstellt.“59 Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass die Guerillaarmee insofern eine modernistische Kraft ist, als sie es den Frauen ermöglicht, den sozialen Beziehungen der traditionellen Gemeinschaften zu entkommen. Trotzdem werden immer noch keine Details über die neuen Beziehungen in den „befreiten“ Zonen genannt. Es ist zu befürchten, dass die Militarisierung der Frauen an die Stelle ihrer Unterwerfung unter die kommunitären Beziehungen treten wird. Und wir sollten darauf hinweisen, dass abgesehen von einigen seltenen Äußerungen der „comandantes“ kaum Worte von Frauen in den Texten der EZLN zu finden sind.
Die Landfrage: Die EZLN zwischen Besatzung und Verhandlung
Die Sympathisanten der EZLN wollen uns um jeden Preis glauben machen, dass ihre Existenz einen Schutzwall darstellt, eine Selbstverteidigungskraft der armen Bevölkerung gegenüber dem Staat und den Kapitalisten. Und das ist natürlich ein extrem elitäres Argument: Die schwachen Menschen brauchen einen bewaffneten Flügel, der sie verteidigen kann. Die Realität sieht jedoch anders aus. Die EZLN ist keine klassische bewaffnete Gruppe, sie ist der bewaffnete Flügel einer Organisation, die ein kleines Gebiet kontrolliert. Wenn es zu Zusammenstößen jenseits der kontrollierten Zone kommt, fehlen ihr die Mittel, um einzugreifen, und die aufständischen Bauern und Bäuerinnen werden dann von den bewaffneten Söldnern, die von den Großgrundbesitzern bezahlt werden (der „weißen Garde“), hemmungslos beschossen. Ihre Unterstützung für die Landbesetzungen ist, gelinde gesagt, zaghaft. In der letztgenannten Frage hat die EZLN einige Schwierigkeiten, sich mit der direkten Aktion der armen Bäuerinnen und Bauern und der Landarbeiterinnen und Landarbeiter zu verbinden. Natürlich hat die EZLN eine programmatische Position zur Landfrage: das Revolutionäre Gesetz zur Agrarreform. Sein Inhalt ist besonders moderat: Es spricht von der Achtung des Privateigentums, der Enteignung eines Teils des Landes der großen Plantagen, der Aufforderung zur Gründung von Genossenschaften und Produktionskollektiven auf dem enteigneten Land, der Notwendigkeit der Verstaatlichung der Vermarktungsbehörden, und das alles im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Ökonomie.60 Inzwischen haben die zapatistischen Aktionen die Bauern und Bäuerinnen nicht nur in Chiapas, sondern auch in anderen südlichen Bundesstaaten zur Landbesetzung ermutigt. Anfang ’95 gab es allein im Bundesstaat Chiapas mehr als 500 besetzte Grundstücke. Die pro-zapatistischen Politiker machen keinen Hehl daraus: „(Die Bauern) hatten schon so lange versucht, das Land mit legalen Mitteln zu bekommen, ohne jedes Ergebnis, dass sie in ihrer Verzweiflung begonnen haben, das Land zu besetzen. Die Regierung hat sie vertrieben, aber sobald das passiert ist, holen sich die Bauern das Land wieder zurück.“61 Aus Angst vor der Notwendigkeit, mit der Machtstruktur zu verhandeln, scheinen sie diese Bewegung jedoch zu fürchten. Bei dieser Gelegenheit trällern sie das gleiche alte Lied über die Manipulation der Massen und Provokationen. Während die Bauern und Bäuerinnen mit den Vertreibungsbefehlen und dem legalen Kampf beschäftigt sind, lenkt die Regierung sie ab, um sie von der Teilnahme an der großen nationalen Konsultation (die von der EZLN organisiert wird) abzuhalten.62
Auf all den Seiten, auf denen die Revolte in Chiapas verherrlicht wird, findet sich kaum Material über die tatsächliche Bewegung der Individuen, die an diesen Besetzungen beteiligt sind. Umso wertvoller sind die wenigen Dokumente, in denen sie erwähnt werden.63 Es stellt sich heraus, dass die aktivsten Militanten „vor Ort“ nicht mit der EZLN, sondern mit einer anderen Organisation, der Union Campesina y Popular Francisco Villa, verbunden sind. Obwohl auch sie die Zapatistas unterstützen, scheinen die Villas nicht mit der Guerillaaktion einverstanden zu sein und stehen der Verhandlungstaktik kritisch gegenüber. Sie sagen, sie bevorzugen „die Verteidigung von zurückerobertem Land und die Ausbildung der ‚compañeros‘“64 Diese politischen Divergenzen erklären vielleicht auch die Haltung der Zapatistas gegenüber einer Besatzungsbewegung, die ihnen entgeht. Wie organisieren die Arbeiterinnen und Arbeiter die Produktion auf den besetzten Grundstücken? Es scheint, dass dort weiterhin im Akkord gearbeitet wird, auch wenn es keine täglichen Aufgaben mehr gibt65 und der Lohn erhöht wurde. Schließlich wurde auch die Arbeitsorganisation selbst nicht verändert. Es ist schwer zu verstehen, welches organisatorische Verhältnis zwischen den Militanten, die die Besetzungen anführen, und der Masse der Arbeitenden entstanden ist, wenn man nur bedenkt, dass die Anführer weniger (oder gar nicht…) zu arbeiten scheinen und dazu neigen, sich als Chefs zu äußern (z. B. „Wir verlieren lieber die Ernte, als Mitarbeiter einzustellen“)66. Wer hat das Sagen und wie? Schließlich bleibt das Vermarktungsnetzwerk das gleiche. Wenn man weiß, dass die mafiösen Zwischenhändler die soziale Basis der Regierungspartei (der PRI) bilden, kann man verstehen, dass sie sich nicht allzu sehr um die Berufe kümmern. Außerdem freuen sich die örtlichen Ladenbesitzer, weil die Bauern und Bäuerinnen ihren Lohn jetzt direkt in ihren Läden ausgeben, ohne die Geschäfte auf den Grundstücken zu passieren. Hier sollte ein besonders obskurer und beunruhigender Aspekt hervorgehoben werden. Es scheint, dass auf den besetzten Ländereien die alten guatemaltekischen Arbeiterinnen und Arbeiter entlassen wurden, weil sich die villista Militanten weigerten, „ihrerseits zu Ausbeutern zu werden“67.
Es ist nicht klar, warum die Einwanderer nicht an den Besetzungen teilnehmen und wie die Indianer bezahlt werden können, es sei denn, Fremdenfeindlichkeit und mexikanischer Patriotismus haben sie übermannt. Die Beispiele und die verfügbaren Informationen vermitteln den Eindruck, dass die Bauern und Bäuerinnen nicht sonderlich an dem Land oder seiner kollektiven Nutzung interessiert sind. Versuche, ihnen dabei zu helfen, ihre Produktion wieder in Gang zu bringen, sind auf wenig Begeisterung gestoßen68 und dort, wo das Land besetzt wurde, wurde die Idee, es aufzuteilen, nur vage geäußert.69 Die Besetzungen scheinen eher als ein Akt der Klassenrache an den Großgrundbesitzern gelebt worden zu sein, denn die armen Bauern sind sich der Schwäche ihrer eigenen Kräfte bewusst. Sobald das Land besetzt ist, begnügen sie sich damit, am Existenzminimum zu produzieren. Es stimmt, dass die Großgrundbesitzer seit einigen Jahren die einheimischen Arbeiterinnen und Arbeiter für rachsüchtig halten und sie durch zugewanderte Arbeiterinnen und Arbeiter ersetzen.
Man muss schon eine gehörige Portion romantischer Naivität (von der Art der Stachanows) haben, um in all dem die Prämisse einer sozialen Revolution zu sehen. „Man empfindet eine Art verrückte Freude, wenn man sieht, wie sie sich aus den Vorräten der Bosse bedienen, uns zu einem dreigängigen Mittagessen einladen, schweißgebadet, aber mit zufriedenen Gesichtern von den Feldern zurückkommen und laut mit denjenigen unter ihnen scherzen, die genau die Karten lochen, mit denen die Verwaltung die Körbe [des Kaffees] zählt, die jeder Arbeiter gepflückt hat.“70 Leider sind wir in Chiapas weit davon entfernt, die Anfänge einer Veränderung der sozialen Beziehungen zu sehen, geschweige denn einer Umwälzung der kapitalistischen Verhältnisse. Die Situation lässt sich nicht mit anderen jüngeren Erfahrungen von Bauernbewegungen vergleichen, die die Frage der landwirtschaftlichen Produktion zum Gegenstand eines Bruchs gemacht haben, sei es im sandinistischen Nicaragua (1979-1982) oder unter dem Regime der Unidad Popular in Chile (1970-1973) oder während der portugiesischen Revolution von 1974. Die multinationalen Agrarkonzerne sind ebenso wie die mexikanischen Großgrundbesitzer kaum durch die Bauernbewegung in Chiapas bedroht. Ebenso gibt es im Diskurs der EZLN nur wenige Hinweise auf ein Projekt zur Neuorganisation von Produktion und Gesellschaft auf einer neuen Grundlage, und die Schwäche ihrer Vorschläge zur sozialen Frage ist auffällig.
Sicherlich: „Der zapatistische Aufstand hat eine neue Realität, ein neues Kräfteverhältnis geschaffen und die Verwirklichung alter Träume ermöglicht, die bis dahin unerreichbar waren.“71 Die EZLN betrügt die jungen Lumpenproletarier, die ihre Basis bilden, doppelt. Sie bietet ihnen eine kollektive Identität in einer Zeit intensiver sozialer Destrukturierung, kanalisiert ihre Revolte aber in einen militärischen Rahmen und macht sie so kontrollierbar und verhandelbar in hohen Positionen. Die EZLN ist heute ein Faktor der sozialen Befriedung in Chiapas und ihre Anführer zögern nicht, dies zu betonen. „Wenn wir verschwinden würden, würde alles wild und hoffnungslos werden. Es wäre wie Jugoslawien im Süden Mexikos. Der Bundesstaat hätte keine Gesprächspartner mehr, sondern nur noch Feinde.“72 Dieses ‚neue Kräfteverhältnis‘ stellt also auch eine Schwäche dar, wenn es um die Entwicklung der Fähigkeit der Ausgebeuteten zur Eigeninitiative geht. Solange die mexikanischen Proletarierinnen und Proletarier sich nicht die Mittel geben, um ihre eigenen Schwächen zu überwinden, solange sie sich allein auf die Stärke der EZLN verlassen, werden sie betrogen. Denn die eigene Stärke durch die Stärke der Partei zu ersetzen, ist die Daseinsberechtigung (raison d’etre) einer Avantgarde-Organisation.
Patrioten gegen den Neoliberalismus, oder die Sackgassen der EZLN
Die Ereignisse in Chiapas ereignen sich zu einer Zeit, in der der Kapitalismus eine besondere historische Phase durchläuft. In der Ära der Teilung der Welt in zwei Blöcke bedeutete jedes nationale Unabhängigkeitsprojekt die Angleichung der neuen herrschenden Klasse an die eine oder andere kapitalistische Macht. Das Ziel der so genannten „Befreiungsbewegungen“ war es jedoch, die Verbindung dieses oder jenes Landes mit dem amerikanischen Imperialismus zu lösen. Damals identifizierte sich die marxistisch-leninistische Ideologie mit dem Nationalismus der neu entstehenden Staaten. Seit der Errichtung der „neuen Weltordnung“, die aus dem Zusammenbruch des staatskapitalistischen Systems entstanden ist, kann das nationalistische Projekt einen solchen Bruch nicht mehr anstreben. Jede avantgardistische Organisation muss ihre Taktiken und Strategien überdenken, um nicht zum Verschwinden verurteilt zu sein. Eine solche Organisation muss nicht nur nationalistische Forderungen aufstellen, die sich die antiimperialistische Stimmung zunutze machen, die in den von den kapitalistischen Zentren abhängigen Ländern immer noch sehr lebendig ist, sondern sie muss sich auch in das politische Leben vor Ort integrieren und Allianzen ausschließlich im Rahmen der Widersprüche innerhalb der herrschenden Klassen eingehen.
Wir wissen, dass die militärische Aktion der EZLN in Chiapas zeitgleich mit dem Inkrafttreten des NAFTA-Abkommens – dem Freihandelsabkommen zwischen den drei nordamerikanischen Ländern – stattfand. Ziel dieses Abkommens ist es, einen formalen Rechtsrahmen zu schaffen, um einen Prozess zu regeln, der seit Jahren im Gange ist: die Vorherrschaft der Vereinigten Staaten über ihre beiden Nachbarländer, Kanada im Norden und Mexiko im Süden. Aufgrund seiner strukturellen ökonomischen Schwäche leidet Mexiko unter der schlimmsten Rezession seit den 30er Jahren. Die Investitionen gehen zurück, nicht wettbewerbsfähige Industriebetriebe werden geschlossen, die Arbeitslosigkeit schießt in die Höhe, die Inflation erreicht Rekordwerte, die traditionelle landwirtschaftliche Produktion wurde zerstört und die Mehrheit der Bevölkerung verarmt.73 Hinzu kommt eine drastische Zerrüttung der herrschenden Klasse, denn die mexikanische Ökonomie ist durch starke staatliche Eingriffe gekennzeichnet. Der Bruch der über Jahrzehnte aufgebauten Verbindungen zwischen der Bürokratie der einzigen Partei – der PRI – und der privaten Kapitalistenklasse steht nun auf der Tagesordnung. Dadurch ist das gesamte System von Klientelismus und Korruption bedroht. Der Zusammenbruch der politischen Klasse – der Partei der Institutionellen Revolution (PRI) – und der bürokratischen Kontrolle der Zivilgesellschaft ist nicht neu: Die Studentenrevolten der 60er Jahre und die Bewegungen der Selbstorganisation nach dem Erdbeben in Mexiko hatten dies bereits angekündigt. Heute ist die Fäulnis zur Norm geworden und die Situation ist so, dass an der Spitze der PRI eine blutige Abrechnung stattfindet. Die „neoliberale“ Tendenz fordert die Beseitigung der bürokratischen Zwänge, die die Grundlage für das Überleben der antiquierten Sektionen der PRI bilden. Natürlich sind die Bündnisse zwischen den verschiedenen Tendenzen alles andere als eindeutig, denn viele Befürworter des Neoliberalismus kommen auch aus den korrupten und spekulativen Sektoren der PRI. Hier, wie auch anderswo, werden Mitglieder der Staatsbürokratie zu erbitterten Verfechtern eines ungezügelten Privatkapitalismus.
Innerhalb der mexikanischen Bourgeoisie gibt es viele, die es vorziehen, sich den Forderungen des nordamerikanischen Kapitalismus nicht anzupassen. Wir können davon ausgehen, dass die militärische Aktion der EZLN und die Beunruhigung, die sie in den Kreisen des multinationalen Kapitals ausgelöst hat, zu einem Faktor im Konflikt zwischen dieser Tendenz und den Verteidigern der amerikanischen Interessen geworden sein könnten. Der Übergang zur amerikanischen Kontrolle über das mexikanische Öl, der unter dem Deckmantel der Schuldentilgung durchgeführt wurde, hat diese Antagonismen reaktiviert und die nationalistischen Gefühle der Bourgeoisie verstärkt. Auch die sozialdemokratische Opposition, die sich in der Revolutionären Demokratischen Partei (PRD) zusammengeschlossen hat, musste sich einen neuen Platz auf der politischen Bühne suchen. Zunächst versuchte der linke Flügel der PRD, sich mit der Führung der EZLN zu verbünden, indem er seine eigenen institutionellen Verbindungen, seine politischen und gewerkschaftlichen/syndikalistischen Strukturen und seinen Einfluss in den Medien zur Verfügung stellte. Dieses Bündnis hat jedoch die Entwicklung der Situation nicht überlebt. Die EZLN konnte ihre Aktivitäten nicht in die nationale Strategie der PRD einbinden, die von bestimmten Sektoren der mexikanischen Bourgeoisie zu sehr kompromittiert wurde. Nach den Wahlen im August ’94, bei denen die PRD eine Niederlage erlitt und die neoliberale katholische Strömung der Partei der Nationalen Aktion (PAN) an die Macht kam, wurden die Differenzen noch deutlicher. Die Anführer der EZLN wissen ihrerseits genau, dass sie angesichts der historischen Situation und der Machtverhältnisse nicht in der Lage sind, die Macht des Zentralstaates allein zu beanspruchen. Andererseits sind die Zapatistas in der Lage, über die Macht zu verhandeln, die marginalisierten und ausgeschlossenen Schichten des Proletariats zu vertreten, eine Macht, die sie dank der durch ihre Aktionen geweckten Sympathie erlangt haben. Mit ihrer Umwandlung in die FZLN versucht die EZLN, einen Platz in dem politischen Vakuum zu besetzen, das links von der PRD besteht.
Die Wichtigkeit, die die FZLN dem Patriotismus beimisst, bekommt dadurch ihre volle Bedeutung. Die Zapatistas präsentieren sich immer mehr als Hüter der Werte des mexikanischen Nationalismus. Sie suchen immer mehr Allianzen mit Teilen der politischen Klasse. Dabei stoßen sie immer mehr auf die Schwierigkeiten eines solchen Projekts. Deshalb wenden sie sich immer wieder an die „wahren Patrioten“, an diejenigen, die „immer noch dieses unerklärliche Gefühl in ihrem Herzen spüren, den Nationalismus, das Gefühl für die Nation, die eigene Geschichte, das eigene Land“74 Angesichts der drohenden militärischen Aktion beschwören sie die faschistische Bedrohung und appellieren an die Patrioten der Armee und die „Ehrenmänner“ in ihren Reihen. „Wenn es einen faschistischen Ausgang gibt, können sie mit diesem Land machen, was sie wollen: das Öl und alles andere nehmen… warum nicht auch die Nationalflagge?“75 Das ist nichts Neues. Diese lächerlichen Ausbrüche entsprechen ganz dem Wesen der zapatistischen Anführer und erinnern nur allzu sehr an die der chilenischen Linken unmittelbar vor dem Militärputsch. Aber in der Ära der „neuen Weltordnung“ sind sie gezwungen, ihre Analysen der nationalen Frage zu überarbeiten. Als Modernisten halten sie sich fest an Chomsky, da der alte Joe nun nicht mehr im Mittelpunkt steht. Aus der Erkenntnis der Zerstörung der Nationen durch die Bewegung des Kapitals erwächst ihr großes Bedauern: „… denn in Mexiko haben die herrschende Klasse, die Banken und andere sehr empfindlich auf den Prozess der Globalisierung reagiert, und zwar so sehr, dass sie alle ethischen oder moralischen Werte und Normen vergessen haben. Und damit meine ich nicht die religiösen ethischen und moralischen Standards, sondern das, was die Menschen früher ihr Land, ihr Nationalgefühl nannten. In diesem Sinne glaube ich, dass Chomsky Recht hat, wenn er sagt, dass die Nation-Staaten am Ende sind und die besitzenden oder regierenden Klassen verschwunden sind.“76 Für die Zapatistas ist die ‚nationale Zerstörung‘ das, was die neue neoliberale Phase des Weltkapitalismus kennzeichnet. Sie präsentieren ihren Patriotismus als Antwort darauf. Und da „es sehr schwer vorstellbar ist, dass es noch Teile der Regierung gibt, die bereit sind, das nationale Projekt zu verteidigen“77, ist es an der „nationalen Befreiungsbewegung“, darauf allein zu reagieren, da sie nicht in der Lage ist, dies in einer vereinten Front zu tun. Gleich zu Beginn haben die Zapatistas zwei große Rückschritte gemacht. Erstens greifen sie das klassische marxistisch-leninistische Schema auf. „Ein revolutionärer Prozess muss mit der Wiederentdeckung des Konzepts von Nation und Land beginnen“78. Als Nächstes schlagen sie natürlich eine mystifizierende Alternative zur kapitalistischen Globalisierung vor. Offensichtlich betrachten die Zapatistas die gegenwärtige Phase der Globalisierung nicht als einen historischen Moment des Kapitalismus. Sie stellen sie als Irrweg dar: „Das neoliberale Projekt impliziert diese Internationalisierung der Geschichte, es bedeutet, dass die nationale Geschichte ausgelöscht und internationalisiert wird. (…) Tatsache ist, dass für das Finanzkapital nichts existiert, nicht einmal das eigene Land oder der eigene Besitz“79, schreit der Subcomandante entsetzt! Für die Zapatistas ist der Internationalismus nichts anderes als die Summe der Anfälle von Nationalismus und Protektionismus gegen das kapitalistische System. Die Zukunft, die sie vorschlagen, entpuppt sich als das Projekt einer vergangenen Vergangenheit.
Die Zukunft hat immer noch ein Gesicht
Die Explosion der Mexikokrise und ihre finanziellen Folgen haben den Mythos eines neoliberalen ökonomischen Wunders auf dem gesamten amerikanischen Kontinent zerstört. In dem Glauben, mit NAFTA ein gutes Geschäft zu machen, sehen sich die amerikanischen Kapitalisten in Mexiko mit einer Situation konfrontiert, die explosiv werden könnte. Und wenn es zu einer Explosion kommt, müssen sie sich einerseits mit der Unzufriedenheit der Einwanderer – nicht nur der mexikanischen, sondern der hispanischen – in den Vereinigten Staaten selbst auseinandersetzen80 und andererseits mit der Gefahr, dass die Revolte auf andere Länder Lateinamerikas übergreift. Was auch immer geschieht, die politische Zukunft der FZLN-EZLN kann nicht von den Auseinandersetzungen innerhalb der herrschenden Klasse über die Frage der Abhängigkeit vom amerikanischen Kapitalismus getrennt werden. Die Aktivitäten der Zapatistas sind jetzt Teil des Schauplatzes der bourgeoisen Politik und von nun an Teil dieses Unterfangens. Die große Unbekannte wird die Aktion des mexikanischen Proletariats sein und seine Fähigkeit, sich von der Kontrolle der bürokratischen Organisationen zu befreien, sowohl der alten (PRI und PRD) als auch der modernen (EZLN). Wenn sie sich auf autonome und unabhängige Aktionen einlassen, werden sie feststellen, dass die Kluft zwischen ihren Klasseninteressen und den nationalistischen Interessen dieser Parteien und Organisationen immer größer wird. Dann werden wir sehen, wie die alten caciques und die neuen Anführer mit Sturmhauben gemeinsam am Verhandlungstisch sitzen und sich beeilen, die „unrealistischen“ Forderungen der jungen lumpenproletarischen Rebellen zurückzuweisen. Mit dem „Beweis ihrer Verantwortung“ werden die neuen gesichtslosen Anführer ihr wahres Gesicht offenbaren. Wie ein Revolutionär zur Zeit Zapatas bemerkte: „Der Personenkult kann nur unter den Unwissenden oder denjenigen, die auf öffentliche Ämter und Einnahmen aus sind, Bekehrte gewinnen.“81
Paris, August 1995 Sylvie Deneuve, Charles Reeve
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Über ‚Solidarität mit den Zapatisten‘
Anfang 1995 startete die Hamburger Zeitschrift Die Aktion eine Solidaritätskampagne für die Zapatistas.82 Dieser Text wurde als Reaktion auf diese Initiative geschrieben.
Ich weigere mich, euren Aufruf zu unterschreiben oder aktiv an der Informationskampagne mitzuarbeiten, die ihr ins Leben gerufen habt. Ich tue bereits so wenig „politisch“, dass es für mich eine Zeitverschwendung wäre, mich daran zu beteiligen. Schlimmer noch, es würde meinen Überzeugungen, die ich seit den Anfängen meiner politischen Gedanken und Aktivitäten vertrete, eklatant widersprechen.
Jetzt soll ich plötzlich eine Armee unterstützen (wie kommt es, dass Individuen ihre Organisationsform so nennen; das hat mich nachdenklich gemacht), während ich immer die Idee verteidigt habe, dass sich die soziale Revolution immer auf dem Terrain der Produktions- und Verteilungsorganisation abspielt und nicht auf dem Terrain der militärischen Konfrontation. Außerdem nennt sich diese „Armee“ selbst eine nationale Befreiungsarmee. Erinnert euch das an etwas? Abgesehen davon, dass dieses Wort in der stalinistisch-maoistisch-guevaristischen Tradition steht, wie kann jemand die „nationale“ Befreiung verteidigen, wenn ich der Überzeugung bin, dass die „Nation“ eine Struktur ist, die der bourgeoisen Gesellschaft eigen ist, und dass die Emanzipation der Menschheit notwendigerweise über die Sprengung dieses Zwangs erfolgen muss, um sich als menschliche Gemeinschaft, als Subjekt ihres Werdens, behaupten zu können? Diese beiden Aspekte bildeten schon immer das ABC meines kritischen Denkens.
Darüber hinaus gibt es noch eine ganze Reihe anderer Dinge. Der ständige Verweis auf das Volk, auf die Rechte des Volkes, auf die Ehre des mexikanischen Volkes (oder übrigens auch jedes anderen), auf sein Blut und anderen Unsinn löst bei mir Ekel und einen Drang zum Kotzen aus. Gütiger Gott, all die Schwindler und Ausbeuter der Nationen der Welt, in der Dritten Welt und anderswo, deren Münder überquellen, wenn sie von „ihrem“ Volk sprechen (zu dem sie natürlich gehören), obwohl sie nicht dessen „natürliche“ Wortführer sind und es darum geht, ihren Anteil an den auf planetarischer Ebene erpressten Profiten zu verteidigen oder zu erhöhen. Wenn das Wort „Volk“ in den Mund genommen wird, sind es immer die Ausgebeuteten selbst, die Gefahr laufen, dass ihre Ketten modernisiert und sie mit Gewalt der Diktatur des Kapitals unterworfen werden. Wenn man die mexikanische Regierung nur als Erfüllungsgehilfin des amerikanischen Kapitalismus und des IWF sehen will, übergeht man stillschweigend die Existenz einer nationalen Bourgeoisie (und sogar ihrer konkurrierenden Fraktionen), die entschlossen ist, ihre eigenen Interessen innerhalb des kapitalistischen Ausbeutungssystems zu verteidigen, sei es durch Diplomatie oder durch Waffen (je nach den Umständen) in der Assoziation von Banditen, die die Nationalstaaten sind.
Wenn dies wirklich eine „indianische“ Bewegung wäre, würde sie sich nicht um nationale Grenzen scheren. Ich werde weiter unten auf das Thema der sozialen Bewegung zurückkommen. Aber die Verwirrung ist total, wenn die Leute zu sagen scheinen, dass die Indianer die Ausgebeuteten sind, als ob Schwarze und Weiße die Ausbeuter wären. Es ist richtig, dass sich in Lateinamerika im Allgemeinen die Mehrheit der herrschenden Klassen aus Weißen rekrutiert (nicht überall, wie der Fall Haiti zeigt); aber die Mehrheit der Weißen und fast alle Schwarzen gehören zu den Ausgebeuteten. Das kann man nicht einfach ignorieren. Und wie ist es dann möglich, in der indianischen Tradition die Erinnerung an eine Gemeinschaft zu sehen, die angeblich frei und autonom war. Gerade die Gesellschaften der Inka und Maya waren lange vor der Ankunft der blutrünstigen Eroberer durch eine gewaltige soziale Hierarchie und brutale Ausbeutung gekennzeichnet. Paradoxerweise unterwarfen sich diese indigenen Völker gerade deshalb der neuen Ausbeutung aus Europa, weil sie jahrhundertelang ausgebeutet worden waren, ohne allzu viel Widerstand zu leisten, und ihre einzelnen Mitglieder konnten mehr oder weniger überleben. Die indianischen Bevölkerungsgruppen, die den Formen des primitiven Kommunismus am nächsten standen, leisteten einen viel entschlosseneren Widerstand. Es war nicht möglich, sie auszubeuten; sie mussten liquidiert werden. Die Spuren, die sie auf dem nordamerikanischen Kontinent hinterließen, kann man an der Leere erkennen, die zurückblieb und die durch einen massiven Nachschub an schwarzen Sklaven gefüllt werden musste.
Aber kommen wir zurück zur EZLN und ihrem Subkommandeur. Es gibt nicht nur das „Volk“, sondern auch die Nationalflagge (natürlich besudelt), das Land (natürlich verkauft), die nationale Souveränität, Landesverräter und als Krönung: „Alles für alle, nichts für uns“. Das zeigt ganz nebenbei, wie weit die EZLN („wir“) und die Bewegung („alle“) davon entfernt sind, sich einig zu sein, sondern stattdessen gegensätzlich sind. Ich finde diesen „Dem Volk dienen“-Opfergeist sehr suspekt.
Und dann ist da noch der berühmte „Dialog“, den die EZLN mit der Regierung führen will. Was ist mit Dialog gemeint? Wie kann es einen friedlichen „Dialog“ zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten über die Abschaffung der Ausbeutung geben? Diese implizite Anerkennung des Staates als die geeignete Institution, um das bourgeoise Credo von „Frieden, Gerechtigkeit und Gleichheit“ zu verwirklichen, sagt viel über den nicht-subversiven Charakter der EZLN aus.
Subkommandeur Marcos, der zugibt, dass er nichts weiter als eine recycelte Guerilla ist, hat seine Intelligenz, seinen Sinn für Humor und sogar einen Sinn für Poesie unter Beweis gestellt. Das gebe ich gerne zu. Das ändert nichts an der Tatsache, dass der Inhalt dürftig ist und dass er es genießt, die Rolle des bescheidenen Helden zu spielen, der unbekannten und geheimnisvollen Persönlichkeit mit dem maskierten Gesicht (Zorro!). Ich sehe in ihm alle Anzeichen für einen bestimmten Stil des lateinamerikanischen Machismo. Seine Enttäuschung darüber, dass er wenig Zuspruch von Frauen erhält, kann man als Ironie deuten; für mich hat er den widerlichen Gestank des starken Mannes, der im Mittelpunkt der Blicke bewundernder Frauen steht. Ein echter Caudillo.
Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass Marta Duren, die gekommen war, um die Indianer zu interviewen, am Ende aus ‚praktischen Gründen‘ (?) ihren Dolmetscher interviewte. Hier werden wir wieder einmal mit der Delegation von Macht auf Lebenszeit konfrontiert. Und das stört sie nicht im Geringsten! Außerdem scheint es Marcos auch nicht peinlich zu sein, zu keinem Zeitpunkt besteht er darauf, die Rolle eines echten Übersetzers zu spielen und andere ‚Kämpfer‘ zu Wort kommen zu lassen, noch weniger tut er dies für einfache Bauern (oder eher Halbproletarier, wie der Text von Garcia Leon ziemlich deutlich zeigt, was zumindest einige Zweifel am ‚indianischen‘ Charakter der Bewegung aufkommen lässt, während es sich, wenn es eine Bewegung gibt, um eine soziale Bewegung handelt, die an die Situation dieser Bevölkerung in der Gesamtproduktion der Gesellschaft gebunden ist).
Lass uns ein bisschen darüber reden. In Lateinamerika sind Landbesetzungsbewegungen von halbproletarisierten Bauern und Bäuerinnen (sehr oft Frauen), die sich gegen die Übergriffe der Großgrundbesitzer wehren, ein weit verbreitetes Phänomen. Einerseits sind diese Bewegungen ein Beispiel für sozialen Kampf, für Ungehorsam, andererseits waren sie nie in der Lage, sich mit den städtischen sozialen Bewegungen zu verbinden und sind oft von vagen Vorstellungen über Landbesitz, die „Rückkehr“ zur Natur oder die Forderung nach finanzieller und rechtlicher Unterstützung durch den Staat durchdrungen, so dass die subversiven Elemente der modernen Gesellschaft in ihnen selten sind. Diese Bewegungen haben meine volle Sympathie, sind aber weit davon entfernt, mir Hoffnung auf einen totalen Umsturz der Strukturen der kapitalistischen Gesellschaft zu machen.
Da es mir also schon schwerfällt, in diesen sozialen Bewegungen eine Quelle der Hoffnung zu sehen, bin ich besonders deprimiert über Individuen in Europa, die sich mit einer sozialrevolutionären Vision identifizieren, sich nicht für die soziale Bewegung begeistern, sondern stattdessen offenbar vom Spektakel der Masken und Waffen, vom Mythos des bewaffneten Widerstands fasziniert sind. Für mich ist das das Problem: Wie weit muss man angesichts der alltäglichen Realität wirklich verzweifelt sein, um sich an die Persönlichkeit eines Schönredners klammern zu müssen? Es ist auffallend, dass in all den Dokumenten, die ihr veröffentlicht habt, und trotz der Tatsache, dass der Zugang zu den „befreiten“ Zonen relativ einfach ist, keine einzige auch nur annähernd detaillierte Beschreibung des Alltagslebens, der Arbeit, der Aufgabenteilung, der Verteilung der Güter, der Entscheidungsfindung, der Beziehungen zwischen den Generationen, zwischen den Geschlechtern, der Bildung usw. zu finden ist. Warum misst man politischen Erklärungen, so poetisch sie auch sein mögen, mehr Bedeutung bei als den Mechanismen des materiellen und sozialen Funktionierens der vermeintlich aufständischen Bevölkerungen?
Ich hatte noch keine Gelegenheit, auf die Rolle Mexikos in der Ökonomie der Vereinigten Staaten, auf die Nutzung der EZLN durch die mexikanische Regierung bei internationalen Verhandlungen oder auf die Einbindung von Chiapas in die sozialen Spannungen in anderen Regionen Mexikos einzugehen. Um zu verstehen, was im Lakandonischen Wald und in der Umgebung wirklich vor sich geht, müsste man sich mehr Zeit für diese Themen nehmen. Das wird aber nichts an meiner grundsätzlichen Haltung gegenüber der von euch eingenommenen Position ändern.
Marc Geoffroy, Berlin Juni 1995.
‚Indigenismus‘ und Macht
Dieser Text, verfasst von Libertären in Peru, wurde im Januar 1995 in der Zeitschrift Contrafluxo mit Sitz in Medellin (Kolumbien) veröffentlicht.
Ein politischer und kommerzieller Handel im Namen des Volkes – oder wie die „indigene Kultur“ zu einem Ball wird, den die Politiker hin und her werfen, und zu einer weiteren Ware
Jeden Tag sehen wir auf immer offensichtlichere Weise, wie der Zusammenbruch des autoritären Sozialismus zur Flucht seiner professionellen Parteigänger (Intellektuelle, Politiker, Mitglieder der NGOs) in zwei sich ergänzende ideologische Refugien geführt hat: den „demokratischen“ Sozialismus und den regionalen Nationalismus oder „Indigenismus von oben gesehen“. Das erste ist nichts anderes als Sozialdemokratie: das System, das die ökonomische Macht in den Händen einer Minderheit präsentiert, die niemand wählt, im Namen eines Kapitalismus mit menschlichem Antlitz. Aber es ist die zweite, mit der wir uns hier beschäftigen werden.
Wie wir im Text „Der Mythos des Vaterlandes“ betont haben, verwüstet das Phänomen des ethnischen Nationalismus die Welt wie ein Stier, der auf den Ruinen des „realen Sozialismus“ tanzt und sich von der wachsenden Armut ernährt, die durch die große Offensive des Kapitals seit Anfang der 70er Jahre entstanden ist, und zwar sowohl im Norden als auch im Süden des Planeten. Ethnischer Nationalismus nimmt je nach Herkunftsort unterschiedliche Formen und Merkmale an. Die besondere Form, die er im heutigen Peru annimmt, würden wir den „Indigenismus der Macht“ nennen. Vor allem, um ihn von dem Indigenismus zu unterscheiden, den es in anderen historischen Epochen gab und der folglich eine inhaltliche und soziale Basis hatte, die nicht unbedingt identisch war.
1. Die politischen und kulturellen Ausdrucksformen des „Indigenismus von oben“
Der Bürgermeister von Cuzco, Daniel Estrada, hat beschlossen, seine linke Identität gegen die eines „unabhängigen Indigenisten“ einzutauschen. Sein Wahlkampfträger, die „Frente Unido“, will eine Kraft sein, die allen gefällt. So wie die Bewegung von Javier Perez de Cuellar. Estradas Widerstand gegen Fujimori erklärt sich im Wesentlichen aus der Bedrohung durch dessen zentralistische Politik gegenüber allen regionalen Gouverneuren, wie Estrada, Belmont, Caceres und anderen. Es ist ihre eigene Macht, die auf dem Spiel steht. Der Bürgermeister von Cuzco repräsentiert somit eine politische Strömung, die mit einem breiten Sektor der regionalen Intelligenz verbunden ist und sich von einer politischen Identität gelöst hat, um nicht mit „veralteten“ ideologischen Tendenzen identifiziert zu werden. Auf diese Weise fanden sie eine neue Identität im „Indigenismus“, der bis dahin nur ein populistisches Anhängsel ihrer Diskurse war. Diese Identität zeigt sich beharrlich in den verschiedensten Bereichen: in Universitätsvorlesungen und Treffen von NGOs, in Denkmälern, die von der Gemeinde errichtet werden, und in Zuschüssen für Publikationen. Diese neuen Indigenisten versuchen, sich mit den Arbeiterklassen zu identifizieren, da der Indigenismus (wie alle Formen des Nationalismus) in bestimmten historischen Momenten die Form eines „Banners der Unterdrückten“ angenommen hat. Wir verweisen insbesondere auf die Widerstandsbewegungen von Tupac Amaru dem Ersten im XI. Jahrhundert und von Tupac Amaru dem Zweiten im XVII. Jahrhundert sowie auf die Tahuantinsuyo-Bewegung zwischen 1905 und 193983.
Die neue indigenistische Avantgarde will vom Ruhm dieser Revolutionäre profitieren, ohne den Preis dafür zahlen zu müssen. Ihr Ziel ist es, sich das Image des Revolutionärs anzueignen, ohne dafür Risiken eingehen zu müssen. Sie berufen sich auf 500 Jahre Widerstand, aber der einzige Widerstand, der sie wirklich interessiert, ist der aus der Kolonialzeit. Ihr Indigenismus steht in direktem Zusammenhang mit ihrem nationalistischen Plan für ein „vereintes Peru“, in das sie die indigenen Bevölkerungsgruppen integrieren möchten, um so die Konflikte zu vermeiden, die das soziale Gefüge des Landes auf dem Weg der kapitalistischen Entwicklung zerstören.
Diese besondere historische Vision des Indigenismus kommt in einer ihrer unzähligen kulturellen Manifestationen deutlich zum Ausdruck: dem Wandgemälde von Juan Carlos Bravo in der Avenida de la Sun. Ohne seine Qualitäten in Frage stellen zu wollen, sollten wir anmerken, dass darin die sozialen Kämpfe nur bis zur nationalen Unabhängigkeit dargestellt werden. An diesem Punkt der Geschichte angekommen, entführt uns der Künstler plötzlich in eine blühende Morgendämmerung, in der das ganze Volk einen Regenbogen bestaunt. Dieser historische Sprung von 1821 in unsere Zeit ist nichts anderes als die offizielle Darstellung der letzten anderthalb Jahrhunderte. All die Gewerkschafts-, Bauern- und Guerillakämpfe und andere, die das „Cuzco Rojo“ jener Jahre so tief geprägt haben, werden ganz einfach aus dem Werk getilgt, aus der Geschichte gelöscht. Als ob die sozialen Konflikte im XIX. Jahrhundert mit dem Beginn der Unabhängigkeit und der Intensivierung der kapitalistischen Entwicklung verschwunden wären.
Der Indigenismus ermöglicht es den regionalen Behörden und ihren intellektuellen Verbündeten in privaten und öffentlichen Einrichtungen heute, sich mit den Unterdrückten zu identifizieren, dank einer unvollständigen und mythisierten Geschichte, die sie über die vielfältigen kulturellen und pädagogischen Kanäle, die sie selbst kontrollieren, verbreiten. Auf diese Weise versuchen sie, ihren Status als Vertreter des Volkes gegenüber einer Bevölkerung zu rechtfertigen, die den Eliten, die behaupten, in ihrem Namen zu sprechen, schon immer misstraut hat.
Wenn der Indigenismus von einer befreienden Vision getrennt wird, die sich auf die tatsächlichen Realitäten stützt und von oben manipuliert wird, kann er dem herrschenden System ohne allzu viele Widersprüche dienen. Eine solche Situation ist nicht neu. Schon während der Kolonialzeit stand das Inkareich im Mittelpunkt der großen Mythen, die es verherrlichten, während die indigenen Nachfahren der Inkas weiterhin ausgebeutet wurden. Seitdem erlebt die indigene Bevölkerung eine doppelte Sklaverei: im Verhältnis zu ihren wahren Herren und im Verhältnis zu ihrer eigenen Vergangenheit.
2. Indigene Kultur als kommerzielles Produkt
Indigenismus ist ein Diskurs, der behauptet, die Volkskultur aufzuwerten. Aber was ist diese Kultur?
Der Kapitalismus neigt dazu, alles, was das menschliche Sozialleben betrifft, in Waren zu verwandeln, und die Kultur eines Volkes entgeht dieser Regel nicht. Diese ökonomische Aktivität garantiert das Wohlergehen einer Minderheit. Genau diese Minderheit (Mittel- und Oberschicht) profitiert nun von der indigenen Kultur durch ihre ökonomischen Kontakte mit der Außenwelt, wie z. B. dem Tourismus. Das Bild des „Indianers“ mit seiner romantischen Armut illustriert die Touristenbroschüren und lockt Besucher an, die ihr Geld in den Hotels, Geschäften, Restaurants und anderen Orten des Konsums ausgeben. Aber kommen diese Gewinne aus der Populärkultur auch den arbeitenden Klassen zugute? Diejenigen, die glauben, dass der Tourismus die beste ökonomische Wahl für Peru ist, sollten sich Länder wie Brasilien oder Mexiko ansehen. Diese Länder erzielen viel höhere Einnahmen aus dem Tourismus als Peru. Dennoch handelt es sich um Länder, in denen die soziale Armut besonders groß geworden ist.
Der derzeitige Prozess der Privatisierung der Tourismusindustrie hat keinen anderen Zweck als die Bereicherung einer kleinen Gruppe, die Millionen von Dollar ausgibt, um die zum Verkauf stehenden Unternehmen zu kaufen.
Die Kommerzialisierung hat zur Folge, dass die einheimische Kultur eine Standardisierung ihres Kunsthandwerks und ihrer Kleidung für den Verkauf und den Export erfährt. Dieser wichtige Handwerkszweig bildet die Grundlage für eine neue Abhängigkeit, die sich im Land etabliert.84 Eine Abhängigkeit, die nicht befreit, sondern im Gegenteil die Produzenten in die Sklaverei treibt. Jeder, der die Sozial- und Arbeitsbedingungen der Menschen beobachtet, die sich an der Basis der Pyramide dieser „indigenen Industrie“ befinden, kann das selbst sehen.
Letztendlich gehorcht die indigene Kultur heute weitgehend den Gesetzen des Marktes. Das sind die Gesetze, die sie definieren und verzerren, je nach den Bedürfnissen desselben Marktes. Die Kultur ist Teil der Tourismusindustrie, einer Industrie wie jeder anderen, in der Ausbeutung vorherrscht.
In der Zwischenzeit werden die sozialen Kämpfe, die mit den Forderungen der Indigenen verbunden sind, in die „lebenden Museen“ der Ruinen, Denkmäler und Archive verbannt. Das Bild von der Macht des Inkareichs wird benutzt, um seine heutigen Nachkommen machtlos zu machen, indem eine Kultur der Unterwerfung unter alle Formen der Autorität aufrechterhalten wird. Der Indigenismus ist zu einer historischen Last auf den Schultern der vielen Menschen geworden, die ihn tragen müssen. Tag und Nacht wachen der Pachachtec auf der einen und das Weiße Kreuz auf der anderen Seite über die Bewegungen der Einwohner von Cuzco wie George Orwells „Großer Bruder“. Diese beiden Monumente stehen für alte Legenden, die von nun an dazu dienen, die Angst und Unterwerfung der Bevölkerung zu verstärken. Der Tag, an dem sie fallen, wird ein glücklicher Tag für die Männer und Frauen sein, die den Weg ihrer Emanzipation suchen.
Fazit
Wir haben die Wiedergeburt der indigenistischen Idee in den globalen Kontext des ethnischen Nationalismus und seiner Suche nach einer historischen Identität gestellt. Im Gegensatz zu einem Indigenismus, der wie in Mexiko den politischen Rahmen sprengt, hat der Indigenismus in Peru seine frühere Maske als „Ideologie der Befreiung“ verloren, auch wenn populistische Politiker ihn weiterhin instrumentalisieren. In den meisten Fällen haben Ideologien oder Bewegungen, die sich auf ethnische Identität stützen, in den letzten Jahren auf internationaler Ebene dazu geführt, dass Klassenbewegungen, die sich gegen falsche Spaltungen wehrten, kurzfristig abgelenkt und auseinandergerissen wurden. Mehr noch: Sobald der Indigenismus seinen Klassencharakter verliert, wird er zum Gefangenen der Interessen politischer Eliten, die nach einer einfachen Möglichkeit suchen, sich mit dem „Volk“ zu identifizieren. Außerdem dient der Indigenismus in den Anden über seine kulturellen Erscheinungsformen direkt den ökonomischen Interessen derjenigen, die mit allem spekulieren, was mit indigener Kultur und Geschichte zu tun hat, indem sie genau die „Indigenen“ ausbeuten, deren Identität auf dem Tourismusmarkt fetischisiert und zynisch gefeiert wird. Hier wird die Ironie schmerzhaft. Alles „Indigene“ wird in den Dienst der Tourismusindustrie gestellt. Diese Industrie wiederum steht im Dienst der viel gepriesenen nationalen „Entwicklung“ oder des „Fortschritts“. Manchmal wird sie sogar als das wichtigste Element angesehen. Aber ist diese „Entwicklung“ nicht der Vorwand, in dessen Namen indigene Völker seit 500 Jahren brutalisiert und ausgegrenzt werden? Der Verkauf der indigenen Kultur ist die Garantie für ihr Verschwinden.
1Anmerkung des Übersetzers (T.N.): Dies ist eine Übersetzung der französischen Version. Die englischsprachige Version, die in „The Kidnapped Saint and other stories“ veröffentlicht wurde, lautet: ‚Solch rasche Begeisterung und schnell erworbene Überzeugungen sind selten das Salz, das man in Fällen wie diesen zum Würzen verwendet.‘ Wir bevorzugen die obige Version. Der Text geht weiter: “Das wahre Bedürfnis besteht nicht darin, die große Masse zu überzeugen, sie zu flammender Begeisterung aufzupeitschen und sie zu einer Resolution zu bewegen. Vielmehr geht es darum, einzelne Menschen zu überzeugen. Die Menschen der Zukunft und die Menschen, die sich auf das Kommende vorbereiten, sollten nicht unüberlegt argumentieren; sie sollten nicht bedingungslos glauben; vielmehr sollten sie von dem Bewusstsein erfüllt sein, dass diese Revolution richtig und machbar ist, während die andere bourgeoise Ordnung falsch und nicht machbar ist. Die Menschen, die heute den Willen zur zukünftigen Entwicklung in sich tragen, sollten nicht im Vertrauen auf den Verstand eines klugen Führers für die kommende Gesellschaft arbeiten, sondern mit ihrem eigenen Verstand, mit ihrem eigenen Herzen und mit ihrer eigenen Seele.
Das können sie aber nur tun, wenn sie wissen, worum es geht, und wenn sie auch genau wissen und verstehen, was sie selbst wollen.“
2Die erste Version des Textes Au-dela des passes-montagnes wurde 1995 geschrieben, nachdem einer von uns in gesunder Wut über die romantische Unterstützung für die Aktivitäten der EZLN (siehe Anhang 1) erregt wurde. Als Reaktion darauf gingen einige unserer Freunde durch die Decke, und ein paar unbedeutende Feinde offenbarten sich. Wie konnten wir es wagen, eine so schöne Sache zu kritisieren, die die Jugend mobilisierte und die alten Aktivisten inspirierte? Radikalen Verlegern, die wir kontaktierten, fehlte es an Begeisterung. Schließlich wurde der Text selbstbewusst über das Lokal einer kleinen Anti-Establishment Assoziation in Paris namens La Bonne descente verbreitet . Wir behielten den ursprünglichen Geist des Textes bei, überarbeiteten ihn aber, indem wir zusätzliche Analysen einfügten, die wir aus den seit 1995 veröffentlichten Texten entnommen hatten.
3Siehe dazu den letzten Bericht einer der Säulen des Pariser „ready-to-think“ (Bereit zum Denken) nach seiner Rückkehr aus Chiapas: „Marcos hat die Geschichte Mexikos im Blut. Er ist ein seltsamer Libertärer, der wie ein Patriot denkt, eine hierarchische Armee befehligt und nicht individualistisch, sondern kommunitär reagiert.“ Regis Debray, „La guerilla autrement“, Le Monde, Paris, 18. Mai 1996.
4Eine Ausnahme: Das Werk von Nicolas Arraitz (Tendre venin, Edido) teilt nicht die Faszination des Autors für „den Unterschied“, weder seine Analysen noch seine politischen Schlussfolgerungen (in denen er versucht, die demokratischen und nationalistischen Positionen der EZLN-Aufständischen neu zu bewerten), schon gar nicht seine verächtlichen Worte über die „selbstgefälligen Sklaven“ der sogenannten entwickelten Gesellschaften. Wir müssen ihm zugute halten, dass er einer der ersten war, der uns Informationen aus erster Hand darüber lieferte, wie die Menschen in diesen Regionen des aufständischen Mexiko, insbesondere in Chiapas und Guerrerro, wirklich leben. Er hat sich nicht damit begnügt, die Anführer zu interviewen. Er ging in die besetzten Fincas.
5Siehe den beigefügten Text über die Situation in Brasilien.
6Yves Le Manach, „La résignation est un suicide quotidien“,Alternative Libertaire, Brüssel, April 1996.
7Siehe: J.Eric S.Thompson, Grandeur et décadence de la civilisation maya‚, Paris, Bibliotheque Historique Payot, 1993.
8„Témoinages de l’ancienne parole“, S.48, übersetzt aus dem Nuhauti von Jacqueline de Thirand-Forest, Paris, La Difference, 1995).
9Ruggiero Romano, Les méchanismes de la conquete coloniale: les conquistadores (S. 46), Paris, Flammarion).
10Michael Coe, The Mayas, zitiert in ‚Insurgent Mexico‘,Fifth Estate, Sommer 1994 (französische Übersetzung).
11Americo Nunes, Les révolutions du Mexique (S.151), Paris, Flammarion, 1975) In dieser brillanten Kritik an den progressiven Mythen der mexikanischen Revolution zeigt der Autor insbesondere, dass „die libertäre Parole ‚Land und Freiheit‘ (Tierra y Libertad) fälschlicherweise der zapatistischen Bewegung zugeschrieben wurde“, während es sich in Wirklichkeit um den Slogan der (anarchistischen) liberalen Partei der Brüder Magon handelte. Siehe auch: Ricardo Flores Magon, La révolution mexicaine, Paris, Spartacus, 1979.
12Ebd., S. 148, 150.
13Im Bundesstaat Sonora (Nordwestmexiko) revoltierte der Stamm der Yacqui immer wieder gegen die Enteignung des Landes. Er wurde schließlich 1926 von Obregon, einem revolutionären General, der mit den Zapatisten verbündet war, militärisch niedergeschlagen…
14Siehe dazu das interessante Kapitel „Le sang, le joug et la foret“, Nicolas Arraitz, Tendre Venin, Editions du Phenomene, Paris, 1995.
15Nicolas Arraitz, Ibid, S. 219. 5. Antonio Garcia de Leon, Los motivos de Chiapas, Barcelona, die Zeitschrift Etcetera, November 1995.
16Antonio Garcia de Leon, Los motivos de Chiapas, 16. Rebellion from the Roots, John Ross, Common Courage Press, 1995, S. 257.
17A.d.Ü., wir denken dass der Titel eine mögliche Anspielung auf das Buch von B.Traven Die Rebellion der Gehängten macht.
18Rebellion from the Roots, John Ross, Common Courage Press, 1995, S. 257.
19Katerina, Mexiko ist nicht nur Chiapas, Noch ist der Aufstand in Chiapas eine mexikanische Angelegenheit, März 1995, Hamburg.
20Antonio Garcia de Leon, op. Cit.
21Die armen Bauern in Chiapas – wo Grenzen historisch gesehen wenig bedeuten – wer ist indianisch? wer ist mexikanisch? wer ist guatemaltekisch? Die treuen Anhänger der zapatistischen Sache schweigen seltsamerweise über die Anwesenheit dieser Gruppe von Einwanderern. Welche Maßnahmen gedenkt die EZLN zu ergreifen, um dieses „Problem“ zu lösen? Gibt es überhaupt ein Problem?
22Antonio Garcia de Léon, op. cit.
23Nicolas Arraitz, a.a.O., S. 221.
24Katarina, a.a.O.
25Heute sind 60 % der Bevölkerung von Chiapas unter 20 Jahre alt.
26Antonio Garcia de Leon, a.a.O.
27In diesem Teil des Textes haben wir uns ausgiebig auf das Werk von John Ross, Rebellion From the Roots, siehe Anmerkung 15, gestützt, insbesondere auf die Kapitel „Back to the Jungle“ und „Into the Zapatist Zone“.
28Zu dieser Zeit wurden die Verbindungen zwischen den politischen Bossen der Regierungspartei PRI und den Anführern der Politica Popular geknüpft. Zwei große maoistische Anführer aus dieser Zeit sind heute hochrangige Kader der PRI in der offiziellen Bauernorganisation…: siehe dazu John Ross, op. cit. S. 276.
29John Ross, a.a.O., S. 278.
30A.d.Ü., hier ist die Rede der sogenannten Fokustheorie. Eine von Che Guevara entwickelte Theorie, die auf den Sieg der Kubanischen Revolution von 1956 basierte, nämlich dass für eine sozialistische Revolution kein Proletariat mehr als treibende Kraft notwendig sei, sondern das Landproletariat und die Kleinbauern, was unter anderem heißt, dass die Revolution nur im Trikont stattfinden kann. Es finden sich zwischen dieser Theorie und Maos Ideen viele Parallelismen.
31Siehe die interessante Analyse von Julio Mogel in La Jornada, 19. Juni 1994; zitiert von John Ross, op. cit.
32Salvador Castaneda, „Es wird schwierig für die EZLN“, Interview, Analyse & Kritik Nr. 373. Castaneda war einer der Anführer der MAR (Movimiento de Accion Revolucionaria), einer Organisation des bewaffneten Kampfes in den 70er Jahren.
33Ebd.
34Ebd.
35N. Arraitz, op. cit.
36Um damit umzugehen, schlug ein Teil der mexikanischen extremen Linken der EZLN die Bildung einer Einheitsfront politischer Organisationen vor. Trotz der Kontakte zur EZLN weigert sie sich im Moment, irgendeine Möglichkeit in Betracht zu ziehen, in der sie nicht eine dominante Position einnehmen würde.
37Regis Debray, „A demain Zapata“, Le Monde, Mai 1995.
38N. Arraitz, a.a.O., S. 273.
39Interview in La véridique légende du sous-commandant Marcos, ein Film von T. Brissac und T. Castillo, La Seot/Arte, Paris 1995.
40Marcos, Interview in Brecha, Montevideo, Oktober 1995 (übersetzt und veröffentlicht von Alternative Libertaire, Brüssel, März 1996.
41Grundsatzerklärungen der EZLN, zitiert von N. Arraitz, op. cit, Titelseite.
42Marcos, Interview, a. a. O.
43John Ross, a.a.O., S. 294.
44Interview mit Tacho und Moises, N. Arraitz, a.a.O., S. 343.
45Interview, La véridique légende du sous-commandant Marcos,a. a. O.
46„Jahr 03“, Text eines Berichts der Komitees zur Unterstützung der EZLN in Deutschland, Hamburg, 18. Februar 1996.
47Siehe das Interview mit den Kommandanten Acho und Moises, N. Arraitz, op. Cit.
48Ebd.
49Diese mystische Version der Politik unterscheidet sich nicht sehr von der des militanten Islam.
50Entnommen aus Téologia Pastoral Operaria (Arbeiterpastoraltheologie – Lehrtexte der brasilianischen Strömung der libertären Theologie), Domingos Barbe, Sao Paolo, 1983.
51John Ross, op. Cit.
52Ebd. Damals erlebte Ruiz die Arbeit von Maoisten und „fortschrittlichen“ Priestern in einer Stadt im Norden Mexikos aus erster Hand.
53Das Ereignis wird von John Ross, ebd. berichtet.
54Ebd.
55Samuel Ruiz, Interview, El Pais, 5. Oktober 1995.
56Ebd.
57Ebd.
58Ebd.
59„Jahr 03“, op. cit.
60Katarina, op. Cit.
61A. Avendano (Rebellengouverneur von Chiapas), Interview, Solidarité Chiapas no. 2, Paris, September 1995. Siehe auch N. Arraitz, op. cit., S. 203.
62Avendano, op. Cit.
63N. Arraitz, op. cit.
64Worte eines ihrer militanten Mitglieder, ebd., S. 204.
65Diese Information stammt aus N. Arraitz, a.a.O., siehe insbesondere das Kapitel „La Saga des Orantes“.
66Ebd. S. 205.
67Ebd. S. 205.
68Ebd. S. 308.
69Ebd. S. 206.
70Ebd. S. 211.
71Ebd. S. 204.
72Marcos, Aussage aufgezeichnet von Régis Debray, „La guerilla autrement“, op. cit. Hervorhebung von uns.
73Seit der Unterzeichnung des NAFTA hat der Peso 50 % seines Wertes verloren, mehr als tausend Fabriken wurden geschlossen, eine Million Arbeiterinnen und Arbeiter wurden entlassen und der Konsum ist um 25 % gesunken (Le Monde, 9. August 1995).
74Marcos, Interview, La Jornada, Mexiko, 25. bis 27. August 1995, abgedruckt in Solidarité Chiapas no. 2, Paris, September 1995
75Ebd.
76Ebd.
77Interview mit Marcos, Brecha, Montevideo: siehe Anmerkung 36.
78Ebd.
79Ebd.
80Trotz der Verstärkung der Patrouillen bleibt die Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten ein Sieb. Millionen Mexikanerinnen und Mexikaner leben und arbeiten in den Vereinigten Staaten, wo ihr militantes Engagement in den Schulen, Wohnvierteln und an den Arbeitsplätzen immer sichtbarer wird.
81Ricardo Flores Magon, op. Cit.
82„Unsere Solidarität mit den Zapatistas“, 13. Februar 1995, Die Aktion, (Am Brink, 10, 21029 Hamburg). Dieser Aufruf wurde in der Zeitschrift Etcetera (Apt. 1.363, 08080 Barcelona) nachgedruckt.
83Die beiden letztgenannten hatten einen forderungsorientierten Charakter, der mit sozialrevolutionären Elementen durchtränkt war, die weit über eine rein „indigenistische“ Plattform hinausgingen, wie sie in der offiziellen Version der Geschichte gerne dargestellt werden. Wir denken dabei an die Metis-Ursprünge von Tupac Amaru II und insbesondere an den anarchistischen Einfluss in der Tahuantinsuyo-Bewegung – ein Einfluss, der sich in ihrer Ideologie von den ausgebeuteten Menschen der ganzen Welt, aller Kulturen und Ethnien zeigt. Siehe Flores Galindo, Societe coloniale et soulevements populaires, 1976 und Kapsoli, Ayllus du soleil-anarchisme et utopie andine, 1984.
84Während die Abhängigkeit im traditionellen Sinne der Präsenz ausländischen Kapitals in wichtigen Industrien entspricht (Petroperu, die Tintaya-Minen usw.), basiert diese „neue Abhängigkeit“ auf der Dienstleistungsindustrie und der kulturellen Produktion, die den Tourismus kennzeichnen, sowie auf der Akzeptanz der vom IWF und der Weltbank auferlegten Prinzipien. Infolgedessen ist Peru auf dem Weg, ein Land der Bettler zu werden: von den Kindern, die an den Türen der Touristenrestaurants und -bistros betteln, bis hin zu den Fachkräften, die darum kämpfen, Hilfe von außerhalb des Landes zu erhalten.
Mit Abhängigkeit meinen wir eine universelle Beziehung zwischen Kapital und Proletariat, nicht eine feste Beziehung zwischen Ländern oder geografischen Blöcken.
]]>Gefunden auf anarchist library, die Übersetzung ist von uns. Wir haben die Reihenfolge der Texte geändert, damit es verständlicher ist. Eine weitere Kritik an ‚nationalen Befreiungsbewegungen‘ und die Mythologien mit denen sie sich ernähren.
‚Die EZLN ist nicht anarchistisch: Oder Kämpfe an den Rändern und revolutionäre Solidarität‘ und ‚Eine zapatistische Antwort auf „Die EZLN ist nicht anarchistisch“’
Anmerkung der Redaktion: Da diese Debatte in den letzten Ausgaben von GA viel Platz eingenommen hat, hielten wir es für wichtig, den Menschen, die tatsächlich am zapatistischen Kampf für Autonomie und Freiheit beteiligt sind, ein letztes Wort zu geben. Wir haben den Artikel „Die EZLN ist NICHT anarchistisch“ ursprünglich nicht als Verurteilung der zapatistischen Bewegung gedruckt, von der wir sicherlich viel lernen könnten, sondern eher als kritische Analyse einer populären Volksbewegung, die in der Romantik liberaler oder linker Publikationen oft fehlt. Ja, wir haben einige Orientierungsunterschiede mit vielen, die am Kampf der Zapatisten beteiligt sind, insbesondere in Bezug auf Technologie, Reformen und Marxismus, aber wir unterstützen ihren Kampf für Selbstbestimmung. Der Autor dieser Antwort zeigt einige der subtilen kolonialistischen Tendenzen nordamerikanischer Aktivisten und Anarchistinnen und Anarchisten auf, derer wir uns stets bewusst sein und an deren Veränderung arbeiten müssen. Als grüne Anarchistinnen und Anarchisten wollen wir sicherlich niemandem eine auf Europa basierende Ideologie aufzwingen, vor allem nicht denjenigen, die eine starke indigene Basis haben, denjenigen, die direkter unter dem Kolonialismus leiden, und denjenigen, die noch mit der Erde verbunden sind. Auch wenn wir einige der Formulierungen bedauern, die der Autor im Originalartikel verwendet hat, freuen wir uns, dass er eine wichtige Diskussion ausgelöst hat, aus der wir hoffentlich alle viel gelernt haben und an der wir gewachsen sind.
Schließlich ist unklar, wessen Stimme diese zapatistische Antwort ist, die das „wir“ benutzt, um bei so wichtigen Themen für alle zu sprechen. Wir stimmen voll und ganz zu, dass Arroganz gegenüber den Kämpfen in Mexiko in keinem Kommentar vorkommen sollte. Vielleicht lohnt es sich auch zu fragen, ob Zentralisierung und Repräsentation antiautoritär sein können? Aus diesen Gründen hegen wir ein tiefes Misstrauen gegenüber der Linken und dem Staat und hoffen, dass sich die laufende Bewegung in Mexiko gegen sie durchsetzt. Für einen interessanten und nachdenklich stimmenden Blick auf die EZLN verweisen wir auf den ausgezeichneten Artikel „A Commune In Chiapas “, der in der staatsfeindlichen kommunistischen/autonomen Zeitung Aufheben erschienen ist und auf deren Website www.chanfles.com zu finden ist. Dieser Artikel wurde auch in Form einer Broschüre von Venomous Butterfly Publications vervielfältigt und kann für zwei Dollar bei der folgenden Adresse bestellt werden: Venomous Butterfly Publications PO Box 31098 Los Angeles, CA 90031.
Die EZLN ist nicht anarchistisch: Oder Kämpfe an den Rändern und revolutionäre Solidarität
Willful Disobedience Band 2, Nummer 7
In einer zukünftigen revolutionären Periode werden die subtilsten und gefährlichsten Verteidiger des Kapitalismus nicht die Leute sein, die pro-kapitalistische und pro-etatistische Parolen rufen, sondern diejenigen, die den möglichen Punkt des totalen Bruchs verstanden haben. Weit davon entfernt, Fernsehwerbung und soziale Unterwerfung zu preisen, werden sie vorschlagen, das Leben zu verändern … aber zu diesem Zweck fordern sie zuerst den Aufbau einer echten demokratischen Macht. Wenn es ihnen gelingt, die Situation zu beherrschen, wird die Schaffung dieser neuen politischen Form die Energie der Menschen aufbrauchen, radikale Bestrebungen vereiteln und die Revolution wieder zu einer Ideologie machen, da das Mittel zum Zweck wird... – Gilles Dauve
Die gegenwärtige Umstrukturierung des Kapitals und seine globale Expansion dringen immer stärker in das Leben derer ein, die am Rande der Gesellschaft leben. Bauern und indigene Völker in nicht-westlichen Ländern der so genannten „Dritten Welt“, die bisher ein gewisses Maß an Kontrolle über ihren Lebensunterhalt hatten, sehen sich gezwungen, ihr Land zu verlassen oder ihre Aktivitäten an die Bedürfnisse des kapitalistischen Weltmarkts anzupassen, nur um zu überleben. Es ist daher nicht verwunderlich, dass unter diesen Menschen in vielen Teilen der Welt Bewegungen des Widerstands gegen die verschiedenen Aspekte des kapitalistischen Eindringens entstanden sind.
In früheren Ausgaben von Willful Disobedience habe ich über die West Papua Freedom Movement (OPM) geschrieben. Diese Bewegung der Ureinwohner West Papuas, von denen viele noch immer so leben, wie sie es jahrhundertelang vor der Ankunft der Kolonialmächte getan haben, wehrt sich ganz klar gegen das „moderne Leben“ – also gegen den Staat, das Kapital und alles, was die industrielle Zivilisation vorschreibt. Oder wie sie in Kommuniqués gesagt haben: „Wir wollen in Ruhe gelassen werden!“ Aber das ist die eine Sache, die das Kapital und der Staat niemals gewähren werden. Obwohl die OPM Delegierte entsandt hat, um Gespräche mit der indonesischen Regierung zu fordern, sind sich die West Papuas zunehmend der Aussichtslosigkeit solcher Verhandlungen bewusst. In den jüngsten Kommuniqués ist immer häufiger davon die Rede, dass sie notfalls bis zum Tod kämpfen werden. Denn sich dem Eindringen des Kapitals zu beugen, würde in jedem Fall ihren geistigen Tod bedeuten. Ihre Klarheit darüber, was sie nicht wollen, hat wahrscheinlich maßgeblich dazu beigetragen, dass diese Bewegung zwar bewaffnet ist, aber nie eine eigenständige militärische Organisation entwickelt hat, sondern mit den traditionellen Methoden ihrer Kultur kämpft. Andererseits sind sie der Ideologie des Nationalismus nicht ganz entkommen, oder zumindest dem Versuch, damit vor der Weltöffentlichkeit glaubwürdig zu sein. Dennoch steht diese Bewegung dafür, dass sie sich nur wenige Illusionen darüber macht, was die zivilisierte Gesellschaftsordnung und ihre Institutionen zu bieten haben.
Ein weiterer Kampf am äußersten Rand der kapitalistischen Expansion ist der des Volkes von Bougainville, einer Insel etwa fünf Meilen westlich der Salomonen, die seit 1975 unter der Herrschaft von Papua-Neuguinea (nicht zu verwechseln mit Westpapua) steht. Die Bewohner der Insel wurden zur Revolte getrieben, als die CRA, eine australische Tochtergesellschaft von Rio Tinto Zinc, eine Kupfermine errichtete, durch die Hunderte von Einheimischen ihre Häuser, ihr Land und ihre Fischereirechte verloren und einen Großteil des Dschungels zerstörten. Die Mine dehnte sich aus, bis sie einen halben Kilometer tief war und einen Durchmesser von sieben Kilometern hatte. Proteste, Petitionen und Forderungen nach Entschädigung blieben erfolglos. Deshalb stahlen 1988 eine Handvoll Insulanerinnen und Insulaner Sprengstoff von der Bergbaufirma und begannen, deren Strukturen und Maschinen zu zerstören. Als die Regierung von Papua-Neuguinea (PNG) ihre Streitkräfte schickte, wurde die Bougainville Revolutionary Army (BRA) gegründet, um das PNG-Militär und seine australischen Berater zu bekämpfen. Nur mit selbstgebauten Gewehren bewaffnet, mit einer totalen Blockade der Insel durch australische Boote und Hubschrauber konfrontiert und von der Außenwelt weitgehend ignoriert, hat das Volk von Bougainville fast seine Autonomie erreicht. 1997 wurde ein Friedensprozess eingeleitet und die PNG-Soldaten, die sich noch auf der Insel aufhielten, wurden in ihre Kasernen zurückgeschickt. Eine unabhängige Regierungsbehörde hat begonnen, sich zu entwickeln – sicherlich, um einem autonomen Bougainville in den Augen der Staaten der Welt Glaubwürdigkeit zu verleihen – und das wird sich wahrscheinlich auf den Wiederaufbau der Gemeinschaft und der Umwelt auswirken und es Bougainville erleichtern, in die ökonomische Weltordnung einbezogen zu werden. Wie in Terra Selvaggio gesagt wurde: „Die Geschichte der Rebellion ist viel zu voll von Befreiern, die sich in Kerkermeister verwandeln, und Radikalen, die ihre Programme zur sozialen Veränderung ‚vergessen‘, sobald sie die Macht ergriffen haben.“ Die geringen Ausmaße der Insel und das Fehlen von städtischen Zentren erschweren jedoch den Aufbau der Staatsmacht. Und die Entschlossenheit der Menschen, die Wiedereröffnung der Mine nicht zuzulassen, ist ihr bester Schutz gegen die Expansion des Kapitals auf der Insel.
Während die indigene Bevölkerung Westpapuas und Bougainvilles noch nicht wirklich in den kapitalistischen Markt integriert wurde – was ihnen gewisse Vorteile verschafft, sowohl was die Klarheit darüber angeht, was sie zu verlieren haben, als auch in Bezug auf das Wissen über das immer noch größtenteils wilde Terrain, auf dem sie kämpfen -, sehen andere Indigene und Kleinbauern, die bereits bis zu einem gewissen Grad in die Ökonomie eingebunden waren, aber eine gewisse reale Kontrolle über ihren Lebensunterhalt behalten haben, dieses letzte Stückchen Selbstbestimmung nun aufgezehrt und reagieren.
In Indien haben sich Gruppen von Bauern und Bäuerinnen organisiert, um gentechnisch veränderte Nutzpflanzen anzugreifen. Sie haben die gentechnische Veränderung von Saatgut und die Patentierung von genetischen Strukturen als Methoden erkannt, mit denen multinationale Konzerne die Kontrolle über die Nahrungsmittelproduktion, selbst auf der Ebene der Selbstversorgung, endgültig übernehmen. Aber diese Gruppen üben keineswegs eine klare Kritik am Kapitalismus oder am Staat. Neben diesen direkten Angriffen fordern die Gruppen den indischen Staat auf, Gesetze zu erlassen, die sie schützen und ihren Platz in der bestehenden Gesellschaftsordnung bewahren. In ihrer jetzigen Form bleibt ihre Bewegung eine Anti-Globalisierungs-Bewegung.
Der wohl bekannteste indigene Kampf ist der in Chiapas, Mexiko. Dieser Kampf trat mit dem Aufstand vom 1. Januar 1994 ans Licht der Weltöffentlichkeit. Die Stärke des Aufstands, die Präzision seiner Ziele und die allgemeine Situation, aus der er hervorging, weckten sofort die Sympathie von Linken, Progressiven, Revolutionären und Anarchistinnen und Anarchisten auf der ganzen Welt. Der Aufstand wurde von der Zapatistischen Armee für Nationale Befreiung (EZLN) angeführt. Die Sympathie für diesen Kampf ist verständlich, ebenso wie der Wunsch, sich mit dem indigenen Volk von Chiapas zu solidarisieren. Was aus anarchistischer Sicht nicht verständlich ist, ist die meist unkritische Unterstützung für die EZLN. Die EZLN hat keinen Hehl aus ihrer Agenda gemacht. Ihre Ziele sind bereits in der Kriegserklärung, die sie zum Zeitpunkt des Aufstandes 1994 herausgegeben hat, klar erkennbar, und diese Ziele sind nicht nur nicht anarchistisch, sondern nicht einmal revolutionär. In dieser Erklärung wurden die Implikationen des Namens der Armee durch eine nationalistische Sprache verstärkt. Es heißt dort: „Wir sind die Erben der wahren Erbauer unserer Nation“, und sie berufen sich auf das verfassungsmäßige Recht des Volkes, ‚seine Regierungsform zu ändern oder zu modifizieren‘. Sie sprechen wiederholt vom „Recht, politische Vertreterinnen und Vertreter frei und demokratisch zu wählen“ und von „Verwaltungsbehörden“. Und die Ziele, für die sie kämpfen, sind „Arbeit, Land, Wohnung, Nahrung, Gesundheitsversorgung, Bildung, Unabhängigkeit, Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit und Frieden“. Mit anderen Worten: nichts Konkretes, das nicht auch vom Kapitalismus bereitgestellt werden könnte. Nichts in späteren Erklärungen dieser produktiven Organisation hat dieses grundlegend reformistische Programm geändert. Stattdessen ruft die EZLN zum Dialog und zu Verhandlungen auf und erklärt ihre Bereitschaft, Zeichen des guten Willens von der mexikanischen Regierung zu akzeptieren. So verschickt sie Aufrufe an die mexikanische Legislative und lädt sogar Mitglieder dieses Gremiums ein, an dem EZLN-Marsch in die Hauptstadt teilzunehmen, um die Regierung aufzufordern, das 1995 vom Komitee Cocopa ausgearbeitete Friedensabkommen von San Andres durchzusetzen. Wir sehen also, dass die EZLN, obwohl sie bewaffnet und maskiert ist, eine reformistische Organisation ist. Sie behauptet, im Dienste der indigenen Bevölkerung von Chiapas zu stehen (so wie Maos Armee behauptete, im Dienste der Bauern und Arbeiter Chinas zu stehen, bevor Mao an die Macht kam), aber sie bleibt eine spezialisierte militärische Organisation, die vom Volk getrennt und nicht vom bewaffneten Volk ist. Sie haben sich zum öffentlichen Sprachrohr des Kampfes in Chiapas gemacht und ihn in reformistische Forderungen und Appelle an Nationalismus und Demokratie kanalisiert. Es gibt Gründe, warum die EZLN zum Liebling der Antiglobalisierungsbewegung geworden ist: Ihre Rhetorik und ihre Ziele stellen keine Bedrohung für diejenigen Elemente in dieser Bewegung dar, die lediglich eine stärkere nationale und lokale Kontrolle des Kapitalismus anstreben.
Natürlich kann man nicht erwarten, dass die sozialen Kämpfe der ausgebeuteten und unterdrückten Menschen einem abstrakten anarchistischen Ideal entsprechen. Diese Kämpfe entstehen in bestimmten Situationen, ausgelöst durch bestimmte Ereignisse. Die Frage der revolutionären Solidarität in diesen Kämpfen ist daher die Frage, wie man auf eine Art und Weise intervenieren kann, die mit den eigenen Zielen übereinstimmt und das revolutionäre anarchistische Projekt vorantreibt. Um das zu tun, muss man klare Ziele und eine klare Vorstellung von seinem Projekt haben. Mit anderen Worten: Man muss seinen eigenen täglichen Kampf gegen die gegenwärtige Realität mit Klarheit und Entschlossenheit führen. Eine unkritische Unterstützung der oben beschriebenen Kämpfe zeigt, dass es an Klarheit darüber mangelt, was ein anarchistisches revolutionäres Projekt sein könnte, und eine solche Unterstützung ist ganz sicher keine revolutionäre Solidarität. Jeder unserer Kämpfe entspringt aus unserem eigenen Leben und unseren eigenen Erfahrungen mit Herrschaft und Ausbeutung. Wenn wir diese Kämpfe im vollen Bewusstsein der Natur des Staates und des Kapitals, der Institutionen, mit denen diese Zivilisation unsere Existenz kontrolliert, angehen, wird klar, dass nur bestimmte Methoden und Praktiken zu dem von uns gewünschten Ziel führen können. Mit diesem Wissen können wir unsere eigenen Projekte klären und unser Bewusstsein für die Kämpfe auf der ganzen Welt zu einem Werkzeug machen, mit dem wir unseren eigenen Kampf gegen die gegenwärtige Gesellschaftsordnung verfeinern können. Revolutionäre Solidarität bedeutet, gegen die Gesamtheit einer Existenz zu kämpfen, die auf Ausbeutung, Beherrschung und Entfremdung beruht, wo immer man sich befindet. Vor diesem Hintergrund muss die revolutionäre Solidarität die Waffe der unnachgiebigen, gnadenlosen Kritik an allen reformistischen, nationalistischen, hierarchischen, autoritären, demokratischen oder klassenkollaborierenden Tendenzen ergreifen, die die Autonomie und Selbstaktivität der Kämpfenden untergraben und den Kampf in Verhandlungen und Kompromisse mit der bestehenden Ordnung lenken könnten. Diese Kritik muss auf einer klaren Vorstellung von der Welt beruhen, die wir zerstören müssen, und von den Mitteln, die für diese Zerstörung notwendig sind.
Eine zapatistische Antwort auf „Die EZLN ist nicht anarchistisch“
Zuallererst muss gesagt werden, dass nur kleine Teile des Frente Zapatista bereit sind, sich auf eine Debatte mit unbedeutenden Elementen entlang eines ideologischen Randes einzulassen. Man würde sogar noch weniger Kämpfer innerhalb des Ejercito Zapatista finden, die bereit wären, sich auf unfassbare rhetorische Schlachten mit Leuten einzulassen, deren größte Tugend es ist, ihren Mangel an Verständnis und Wissen in Zeitungen und Zeitschriften zu verbreiten. Aber der Artikel mit dem Titel „Die EZLN ist NICHT anarchistisch“ spiegelt eine solch kolonialistische Haltung arroganter Ignoranz wider, dass einige von uns beschlossen haben, eine Antwort an dich zu schreiben.
Du hast Recht. Die EZLN und ihre größere populistische Organisation, die FZLN, sind KEINE Anarchistinnen und Anarchisten. Das wollen wir auch nicht sein und das sollten wir auch nicht sein. Damit wir in unseren sozialen und politischen Kämpfen konkrete Veränderungen bewirken können, dürfen wir uns nicht auf eine einzige Ideologie festlegen. Unser politischer und militärischer Körper umfasst ein breites Spektrum an Glaubenssystemen aus einer Vielzahl von Kulturen, die sich nicht unter einem engen ideologischen Mikroskop definieren lassen. Es gibt Anarchistinnen und Anarchisten in unserer Mitte, genauso wie Katholiken, Kommunisten und Anhänger der Santeria. Wir sind Indigene auf dem Land und Arbeiterinnen und Arbeiter in der Stadt. Wir sind Politiker im Amt und obdachlose Kinder auf der Straße. Wir sind schwul und heterosexuell, männlich und weiblich, wohlhabend und arm. Was wir alle gemeinsam haben, ist die Liebe zu unseren Familien und unserem Heimatland. Was wir alle gemeinsam haben, ist der Wunsch, die Dinge für uns und unser Land zu verbessern. Nichts davon kann erreicht werden, wenn wir Mauern aus Worten und abstrakten Ideen um uns herum errichten.
In den letzten 500 Jahren wurden wir einem brutalen System der Ausbeutung und Erniedrigung unterworfen, wie es nur wenige in Nordamerika je erlebt haben. Uns wurde schon Land und Freiheit verwehrt, bevor es euer Land überhaupt gab, und wir haben daher eine ganz andere Sicht auf die Welt als ihr. Wir wurden durch die Kolonialherrschaft zuerst von den Spaniern, dann von den Franzosen und Deutschen und zuletzt von den Nordamerikanern unterworfen. Jahrhundertelang waren Mexikanerinnen und Mexikaner Sklaven und Futter und wurden als weniger als Menschen behandelt; eine Tatsache, die uns bis heute schmerzt und die wir nicht vergessen können und dürfen. Unsere Vergangenheit hat uns zu dem gemacht, was wir heute sind, und bei dem Versuch, diesen historischen Trend der Ausbeutung zu durchbrechen, haben wir uns mehrfach erhoben, um unsere Menschlichkeit zurückzufordern und unser Leben zu verbessern. Zuerst kämpften wir mit Juarez und Hidalgo gegen die spanische Krone, dann mit Zapata und Villa gegen den Porfiriato. Jetzt kämpfen wir gegen die verschiedenen Gesichter desselben Kopfes, der versucht, uns als untermenschliche Diener des Kapitals zu versklaven. Das ist kein Kampf, den wir aus einem Buch oder einem Film aufgeschnappt haben, sondern ein Kampf, den wir alle in dem Moment geerbt haben, in dem wir das Licht des Lebens erblickt haben. Es ist ein Kampf, der uns allen vor Augen steht und sogar durch unser Blut fließt. Es ist ein Kampf, für den viele unserer Väter und Großväter gestorben sind und für den wir selbst bereit sind zu sterben. Ein Kampf, der für unser Volk und unser Land notwendig ist. Deine herablassende Sprache und deine arrogante Kurzsichtigkeit machen deutlich, dass du nur sehr wenig über die mexikanische Geschichte oder die Mexikaner im Allgemeinen weißt. Wir mögen „grundsätzlich reformistisch“ sein und für „nichts Konkretes arbeiten, das der Kapitalismus nicht bereitstellen könnte“, aber sei versichert, dass Nahrung, Land, Demokratie, Gerechtigkeit und Frieden furchtbar kostbar sind, wenn du sie nicht hast. Kostbar genug, um um jeden Preis dafür zu kämpfen, selbst auf die Gefahr hin, ein paar bequeme Menschen in einem fernen Land zu verärgern, die ihr Glaubenssystem für wichtiger halten als die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse. Wertvoll genug, um mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, dafür zu kämpfen, sei es durch Verhandlungen mit dem Staat oder durch Vernetzung in der Volkskultur. Unser Kampf tobte schon, bevor Anarchismus überhaupt ein Wort war, geschweige denn eine Ideologie mit Zeitungen und Anhängern. Unser Kampf ist älter als Bakunin oder Kropotkin. Auch wenn Anarchistinnen und Anarchisten und Gewerkschaften/Syndikate tapfer mit uns gekämpft haben, sind wir nicht bereit, unsere Geschichte für eine engstirnige Ideologie herabzusetzen, die aus denselben Ländern exportiert wird, gegen die wir in unseren Unabhängigkeitskriegen gekämpft haben. Der Kampf in Mexiko, ob zapatistisch oder nicht, ist ein Produkt unserer Geschichte und unserer Kultur und kann nicht so verbogen und manipuliert werden, dass er in die Formel eines anderen passt, schon gar nicht in eine Formel, die nichts über unser Volk, unser Land oder unsere Geschichte weiß. Du hast Recht, wir als Bewegung sind keine Anarchistinnen und Anarchisten. Wir sind Menschen, die versuchen, unser Leben selbst in die Hand zu nehmen und eine Würde zurückzuerlangen, die uns in dem Moment gestohlen wurde, als Cortes an die Macht kam.
Wenn wir für diese Ziele kämpfen, müssen wir das tun, was für uns alle am effektivsten ist, ohne der Versuchung zu erliegen, uns in kleine Grüppchen aufzuteilen, die von denen, die uns versklavt halten, leichter zu kaufen sind. Diese Lektion haben wir von La Malinche gelernt, als sie Cortes dabei half, 30 Millionen Mexikaner in eine leicht zu erobernde Gruppe von Streithähnen aufzuteilen. Wir haben diese Lektion von der Herrschaft des Porfiriato nach der Unabhängigkeit und dem Verrat durch die reichen Mächte nach der Revolution gelernt. Wir sehen engstirnige Ideologien wie Anarchismus und Kommunismus als Werkzeuge, um die Mexikanerinnen und Mexikaner in leichter ausbeutbare Gruppen zu zerlegen. Anstatt unsere Feinde als Gruppen zu betrachten, die gegeneinander ausgespielt werden können, ziehen wir es vor, als gemeinsames Volk mit einem gemeinsamen Ziel zusammenzuarbeiten. In deinem Artikel wird das Wort „Kompromiss“ verwendet, als wäre es ein Schimpfwort. Für uns ist es der Kitt, der uns alle in einem gemeinsamen Kampf zusammenhält. Ohne diese Kompromisse, die es uns ermöglichen, zusammenzuarbeiten, wären wir nirgendwo; einsame Sklaven, die darauf warten, ausgebeutet zu werden, so wie wir es in der Vergangenheit waren. Dieses Mal werden wir uns nicht kaufen lassen. Wir werden uns nicht als Einzeleinheiten behandeln lassen und Gefälligkeiten von den Mächten annehmen, die aus unserem Unglück Reichtum schöpfen. Und so wie wir die Dinge im Moment angehen, funktioniert es auch. 60 Millionen Menschen haben Petitionen unterschrieben, um den Krieg in Chiapas zu beenden. Der Zapatismus ist wieder lebendig. Wir haben Zellen in jeder Stadt, in jedem Bundesstaat und im ganzen Land, die sich aus Menschen aus dem gesamten demografischen Spektrum zusammensetzen. Wir sind organisiert. Wir sind mächtig. Wir werden in unserem Kampf erfolgreich sein, weil wir einfach zu groß und zu gut organisiert sind, um von den Mächten ignoriert oder unterdrückt zu werden. Was wir haben, mag nicht perfekt sein. Es mag nicht ideal sein. Aber es funktioniert für uns jetzt auf eine sehr sichtbare Weise. Und wir würden nicht zögern zu sagen, dass ihr, wenn ihr in unserer Lage wärt, dasselbe tun würdet. Aber was uns in eurem Artikel wirklich wütend gemacht hat, war das altbekannte Gesicht des Kolonialismus, das durch eure guten Absichten hindurchscheint. Viele Nordamerikanerinnen und Nordamerikaner kommen nach Mexiko und rümpfen die Nase über unser Essen und unseren Lebensstil und behaupten, dass wir nicht so gut sind wie das, was sie „zu Hause“ haben. Der Autor deines Artikels tut dasselbe in seinen „Kritiken“ am Zapatismus. Hätten diese „Kritiken“ eine ausführliche Diskussion über unsere Taktik mit Bezug auf unsere Geschichte und unsere aktuelle Position in der Welt beinhaltet, wäre das keine große Sache gewesen, nichts, was wir nicht ständig innerhalb unserer eigenen Organisationen tun. Aber die Tatsache, dass er den Zapatismo einfach als Avantgarde der reformistischen Nationalisten abtat, ohne auch nur einen Hauch von Analyse, warum das so ist, zeigt einmal mehr, dass wir Mexikanerinnen und Mexikaner nicht so gut sind wie der allwissende nordamerikanische Imperialist, der sich für bewusster, intelligenter und politisch ausgefeilter hält als der dumme Mexikaner. Diese Haltung, auch wenn sie sich hinter einem dünnen Schleier der Objektivität verbirgt, ist dieselbe Haltung, mit der wir es seit 500 Jahren zu tun haben: Jemand anderes in einem anderen Land aus einer anderen Kultur denkt, dass er besser weiß, was das Beste für uns ist als wir selbst. Noch abstoßender war für uns die Zeile „Die Frage der revolutionären Solidarität in diesen Kämpfen ist also die Frage, wie man auf eine Art und Weise interveniert, die zu den eigenen Zielen passt, auf eine Art und Weise, die das eigene revolutionäre anarchistische Projekt voranbringt.“ Es wäre schwierig für uns, eine prägnantere Liste von kolonialen Wörtern und Haltungen zu entwerfen als die in diesem Satz verwendeten. „Intervenieren?“ „Das eigene ‚Projekt‘ vorantreiben?“ Die Mexikaner haben ein sehr ausgeprägtes Verständnis davon, was „Intervention“ bedeutet. Versuch mal, Conquista und Villahermosa und Tejas und Maximilian in einem Geschichtsbuch nachzuschlagen, um auch nur einen kleinen Eindruck davon zu bekommen, was wir sehen, wenn Nordamerikaner von „Intervention“ sprechen. Aber noch einmal: Die Anarchistinnen und Anarchisten in Nordamerika wissen besser als wir, wie man einen Kampf führt, den wir schon 300 Jahre vor der Gründung ihres Landes geführt haben, und können deshalb sogar daran denken, uns als Mittel zu benutzen, um „ihr Projekt voranzubringen“. Das ist genau die gleiche Einstellung, mit der Kapitalisten und Reiche Mexiko und den Rest der Dritten Welt in den letzten fünfhundert Jahren ausgebeutet und erniedrigt haben. Auch wenn in diesem Artikel viel von Revolution die Rede ist, unterscheiden sich die Einstellungen und Ideen des Autors nicht von denen von Cortes, Monroe oder jedem anderen imperialistischen Bastard, den du dir vorstellen kannst. Deine Intervention ist nicht erwünscht, und wir sind auch kein „Projekt“, aus dem einige hochgesinnte Nordamerikaner Profitabilität schlagen können. Der Autor spricht viel von revolutionärer Solidarität, ohne den Begriff jemals zu definieren. Was bedeutet revolutionäre Solidarität für ihn? Aus der Haltung seines Artikels geht hervor, dass revolutionäre Solidarität für ihn mehr oder weniger dasselbe ist, was „Profitabilität“ und „Kosten-Nutzen-Analysen“ für Konzernimperialisten sind, nämlich Mittel und Wege, jemand anderen für den eigenen Vorteil zu benutzen. Solange nordamerikanische Anarchistinnen und Anarchisten kolonialistische Überzeugungen vertreten, werden sie in der Dritten Welt immer ohne Verbündete dastehen. Die Bauern und Bäuerinnen in Bolivien und Ecuador werden deine herablassende koloniale Haltung genauso wenig zu schätzen wissen wie die Freiheitskämpfer und -kämpferinnen in Papua-Neuguinea oder anderswo auf der Welt, auch wenn sie noch so sehr mit deiner starren Ideologie übereinstimmen.
Der Kolonialismus ist einer der vielen Feinde, die wir in dieser Welt bekämpfen, und solange die Nordamerikaner in ihren „revolutionären“ Kämpfen koloniale Denkmuster verstärken, werden sie niemals auf der Seite eines antikolonialen Kampfes stehen, egal wo. Wir haben die Welt darum gebeten, den historischen Kontext, in dem wir uns befinden, zu respektieren und über die Aktionen nachzudenken, mit denen wir uns aus der Unterdrückung befreien wollen. Gleichzeitig solltet ihr eure eigenen Kämpfe in eurem eigenen Land betrachten und die Gemeinsamkeiten zwischen uns erkennen. Nur so können wir eine globale Revolution machen.
]]>Gefunden auf der Seite von Tridni Valka, die Übersetzung ist von uns.
[AW2024] Bericht aus Prag
Über die Aktionswoche und den Antikriegskongress / Prag / 20. bis 26. Mai 2024 /.
„Gemeinsam gegen die kapitalistischen Kriege und den kapitalistischen Frieden“.
Erster kurzer Versuch, eine Bilanz eines Experiments zu ziehen, das voller Versprechungen war … sich aber als organisatorisches Fiasko herausstellte.
ALS EINE ART „PRÄAMBEL“.
Versetzen wir uns zunächst in den Kontext. Es war ein Herbstabend, wir waren ein paar Gefährtinnen und Gefährten, die sich um einen Tisch versammelt hatten, um ein paar Gerichte zu essen, die stundenlang gekocht hatten, ein paar lokale Biere oder andere alkoholfreie Getränke zu genießen (je nach Geschmack und Wahl), und wir diskutierten wild über die neuesten Entwicklungen des Krieges in der Ukraine, die Ereignisse in Israel und Gaza, und ganz prosaisch über den zunehmenden Kurs in Richtung eines allgemeinen Krieges. Abgesehen von und gegen alle geostrategischen Analysen der Bourgeoisie und der extremen Linken des Kapitalismus betonten wir unsererseits vor allem die Notwendigkeit, sich zu organisieren und zu koordinieren, kurz gesagt, eine echte revolutionäre und defätistische Aktivität gegen den kapitalistischen Krieg und den kapitalistischen Frieden auf internationaler Ebene zu zentralisieren!
Wir planten daher ein internationales Treffen zwischen verschiedenen Gruppen und Gefährtinnen und Gefährten, die wir bereits kannten und mit denen wir schon eine Reihe von Aufgaben praktisch übernommen hatten: internationale Diskussionen, Übersetzung verschiedener programmatischer, aber auch Agitations- und Propagandamaterialien, Herausgabe und Verbreitung zahlreicher Beiträge usw. ohne jeglichen sektiererischen und parteipolitischen Geist. Ein maximal zweitägiges Treffen an einem Wochenende erschien uns nicht nur angemessen für diese Art von Treffen, sondern auch für die geringen militanten Kräfte, die wir und, wie wir annehmen, auch andere Gefährtinnen und Gefährten in dieser Periode haben, in der das Proletariat noch nicht die Initiative ergriffen hat und in der es nur wenige konsequente revolutionäre Minderheiten gibt, die vom Rest unserer Klasse sehr isoliert sind.
Aber schon bald begannen die Gefährtinnen und Gefährten, die diese Veranstaltung in Prag organisieren wollten, „größer“ zu denken (zu groß, wie wir später herausfinden werden)… Zu dem ursprünglichen internationalen Treffen kamen nun eine („kleine“) anarchistische Buchmesse und ein ‚Willkommenskonzert‘ hinzu. Wir sind also bereits bei drei Veranstaltungen angelangt, d. h. einem Abend und zwei vollen Tagen.
Wir versuchen auch sehr schnell zu reagieren und das hervorzuheben, was wir für uns und die Bedürfnisse der Militanten, die wir treffen wollen, als wesentlich erachten. Wir schrieben den Gefährtinnen und Gefährten, die die Initiative für die Organisation ergriffen hatten, Folgendes:
„ Was für uns am wichtigsten an eurem Vorschlag ist, ist die „nicht-öffentliche Konferenz“, d.h. eine praktische Diskussion darüber, wie man defätistische revolutionäre Aktivitäten organisieren kann.
Von dieser Diskussion erhoffen wir uns Folgendes:
Wir halten es für notwendig, dass nur Individuen und Gruppen an dieser „Konferenz“ teilnehmen, die die vorgeschlagenen Programmpunkte nicht nur unterstützen, sondern sie vor allem auch in ihrer Praxis umsetzen. Uns geht es nicht um eine theoretische Einigung über bestimmte Punkte, sondern um die praktische Tätigkeit der individuellen Teilnehmer. „
Was klar ist, und heute kritisieren wir uns dafür mehr denn je, ist, dass wir nicht entschlossen genug waren, um das Notwendige durchzusetzen und das Überflüssige, das Nebensächliche abzulehnen, wir haben zu viel zugelassen und die Struktur der Gefährtinnen und Gefährten ihren Weg „im Leerlauf“ fortsetzen lassen. Und dann kam der Plan einer „Aktionswoche“ mit verschiedenen Aktivitäten über mehrere Tage verteilt und immer eine „nicht-öffentliche Konferenz“ als Abschluss. Als Bonus wollten die Organisatoren sogar zu einer Demonstration auf der Straße aufrufen. Wir dachten uns, wenn wir (unsere kleine militante Struktur) nicht in der Lage sind, solche Veranstaltungen zu organisieren, dann sind es wahrscheinlich (mehr als wahrscheinlich, dachten wir) die Gefährtinnen und Gefährten, denen wir vertrauten… Die Entwicklung, die die Ereignisse nahmen, bewies uns das genaue Gegenteil…
Wir wollen hier nicht auf die Zweifel eingehen, die in uns aufkeimten, als wir uns dem schicksalhaften Datum des Beginns der „Aktionswoche“ näherten. Wir bekamen alarmierende Berichte von Organisatorentreffen, und Gefährtinnen und Gefährten, die glaubten, dass wir das Event organisierten (da wir die verschiedenen Einladungen, Aufrufe und Klarstellungstexte auf unserem Blog veröffentlicht und über unsere Mailinglisten weitergeleitet hatten), kontaktierten uns und baten uns um eine Antwort auf ihre Fragen, z. B. über den Empfang vor Ort, die Sicherheit und die versprochenen Unterkünfte, die diese Gefährtinnen und Gefährten erhalten hatten. Wir konnten ihnen nur antworten, dass wir die Organisatoren ansprechen würden, damit sie mit ihnen in Kontakt treten und den Organisationsprozess etwas beschleunigen würden. All das, auch wenn es nicht so aussieht, hat auch uns viel Zeit und Energie gekostet, die wir für andere zentrale Aktivitäten hätten aufwenden können.
Um diese „Präambel“ abzuschließen, möchten wir auch mit den unzähligen Gerüchten aufräumen, die sowohl vor als auch während der „Aktionswoche“ über uns in Umlauf gebracht wurden, vor allem aus Kreisen der sogenannten „kommunistischen Linken“ (aber nicht nur, auch einige „Anarchistinnen und Anarchisten“ waren Teil dieses Tratsches!), in denen behauptet wurde, dass unsere Gruppe (Tridni valka) die Organisatoren der Ereignisse in Prag seien. Einige behaupteten sogar, sie hätten die „manipulative unsichtbare Hand“ unserer Struktur hinter den „Organisatoren“ gesehen… All dies ist völlig und zweifellos FALSCH und gehört zur reinsten Phantasmagorie, die dazu zwingt, die praktische Bewegung zur Abschaffung der alten Welt zu betrachten und sie zu spalten, indem man die Kategorien unserer Feinde benutzt: auf der einen Seite die Manipulierten und auf der anderen die Manipulierenden, oder auch auf der einen Seite die Massen und auf der anderen die Anführer, etc. ad nauseam.
Der Gipfel der Dummheit in diesem Bereich ist wahrscheinlich die GIGC (die selbsternannte „Groupe International de la Gauche Communiste – Internationale Gruppe der Kommunistischen Linken“), die in ihrer Zeitschrift über den „Antikriegskongress“ großspurig erklärt: „ Die treibende Kraft scheint die revolutionäre Gruppe Klassenkrieg zu sein – auch bekannt unter ihrem tschechischen Namen Tridni Valka -, die mehr oder weniger aus der Internationalistischen Kommunistischen Gruppe (IKG) hervorgegangen ist oder von ihr beeinflusst wurde “. Danke für all diese Informationen, die die Geschichte sicherlich als sehr „wichtig“ bewerten wird, die aber die praktische Organisation revolutionärer Aktivitäten nicht ein Jota voranbringen; wir sehen aufrichtig und wirklich keinen Sinn darin, diese einseitigen Behauptungen und Fabulierungen zu verbreiten, außer die polizeiliche Version der Geschichte zu nähren und diejenigen zu denunzieren, die wir uns vorstellen, hinter jeder Aktion unserer Klasse im gigantischen Kampf für ihre Selbstemanzipation zu stehen.
WAS IST MIT DER „AKTIONSWOCHE“ ?
Kommen wir nun zur „Aktionswoche“ selbst und zum „Antikriegskongress“ zurück. Wenn wir uns von Anfang an zu keinem Zeitpunkt als Organisatoren dieser Veranstaltungen gesehen haben (aus den bereits oben genannten Gründen), so müssen wir uns über unsere Rolle bei der Organisation klar sein: Was haben wir getan? Nicht mehr (oder weniger), aber auch nicht weniger als das, was unsere täglichen Aufgaben und militanten Aktivitäten ausmacht: Lektüre und Kritik der verschiedenen Beiträge, Diskussionen auf internationaler Ebene, Übersetzung und/oder Verbreitung der betreffenden Dokumente, Hilfe bei ihrer Online-Stellung, Hilfe bei der Einrichtung von Mailinglisten zur Vorbereitung der Diskussionen auf dem Kongress usw. Kurz gesagt, nichts Außergewöhnliches, wenn man bedenkt, was wir normalerweise tun und was unserer Meinung nach das Minimum dessen darstellt, was heute zu tun ist.
Von Anfang an hatten wir die Organisatoren angesichts unserer geringen Kräfte gewarnt, dass sie nicht mit uns rechnen sollten für mehr als das, was wir hier in aller Kürze wiedergegeben haben, dass unsere Anwesenheit während der „Woche“ auf das Wochenende beschränkt sein würde, hauptsächlich für die nicht-öffentliche Versammlung des „Antikriegskongresses“ am Sonntag. Als wir ankamen, waren die Würfel bereits gefallen, als bekannt wurde, dass die Organisatoren die für die Wochenendaktivitäten gemieteten Räumlichkeiten nicht mehr zur Verfügung hatten… Und was wir dann sahen, d. h. ein solches Maß an Desorganisation, hat uns gelähmt oder zumindest erschreckt.
Wir wollen hier entschieden sagen, dass die „Aktionswoche“ aus unserer Sicht, aber auch aus der Sicht vieler anderer Gefährtinnen und Gefährten, eine totale Katastrophe, ein Fiasko, war, was die Organisation der Ereignisse betrifft. Die Organisatoren, oder besser gesagt das falsch benannte „Organisationskomitee“, waren unter aller Kanone und nicht in der Lage, wirklich Verantwortung zu übernehmen. Im Moment konzentrieren wir uns auf eine wahrscheinliche Überschätzung der tatsächlichen Fähigkeiten der Gefährtinnen und Gefährten, die sich selbst eine Perspektive gaben, die sie nachweislich nicht erfüllen konnten.
Darüber hinaus haben verschiedene Strukturen der sogenannten „kommunistischen Linken“, die übrigens nicht eingeladen waren, sondern sich selbst eingeladen haben (was wir uns hier zu kritisieren ersparen werden!), offensichtlich nichts unternommen, um „mit einem blauen Auge davonzukommen“, so sehr sie auch daran interessiert waren, einerseits ein „anarchistisches“ Experiment des Internationalismus in die Brüche gehen zu sehen und andererseits zu versuchen, Militante auf der Suche nach Zusammenhalt zu rekrutieren. Ganz zu schweigen von den schmutzigen Denunziationen, die der Okhrana und der Tscheka zusammen würdig sind (siehe unser Postskriptum weiter unten)!
Eine Gruppe von internationalistischen Gefährtinnen und Gefährten, die nicht an den „Vergnügungen“ der letzten Tage teilgenommen hatten, die bereits einen Teil des „Organisationskomitees“ kannten und deren Vertrauen genossen, machten sich daran, das Ruder herumzureißen – „als unsichtbare Lotsen im Volkssturm“, wie Bakunin es ausdrückte. All dies geschah inmitten des Getöses und der Beschimpfungen, die von allen Seiten während der von einigen hochtrabend als „selbstorganisierte Vollversammlung“ bezeichneten Veranstaltung kamen, die uns in der Tat wie eine Art Vogelscheuche erschien, die unter der Hauptleitung einiger Gruppen, die sich als „kommunistische Linke“ bezeichneten, einer Gruppe von Leninisten und anderen Bolschewiki, sowie einigen ihrer mehr oder weniger anarchistischen Anhänger, die vorgaben, einen Parallelkongress zu organisieren, welches aus dem Hut gezaubert wurde. Nach den Ereignissen wurde zeitweise sogar von „zwei Kongressen“ gesprochen!
Kurzum, diese internationalistischen Gefährtinnen und Gefährten, von denen wir anfangs sprachen, ermöglichten trotz der Beleidigungen und Beschimpfungen, trotz der herrschenden Lynchatmosphäre, dass am nächsten Tag, am Samstag, ein Teil des Programms der öffentlichen Sitzung des Antikriegskongresses“ an einem zwar kleinen, aber dennoch sicheren Ort stattfinden konnte, zumindest glaubten wir das. Zwei Vorträge von Gefährtinnen und Gefährten vom Balkan (Antipolitika) und aus Deutschland (AST) führten zu interessanten Diskussionen gegen den Krieg und den kapitalistischen Frieden; Begegnungen von Gefährtinnen und Gefährten, die sich nicht immer persönlich kannten, waren sehr herzlich und begeisternd; Perspektiven für zukünftige Aktivitäten konnten aufgezeigt werden…
Wir müssen nun auch einen Moment auf die „Entschuldigungen“ und „Vorwände“ zurückkommen, die von den „Organisatoren“ in Bezug auf die „Sabotage“ durch pro-ukrainische tschechische Regierungs-„Anarchistinnen und Anarchisten“ vorgebracht wurden; „Vorwände“, die uns absolut nicht zufrieden gestellt haben. Zunächst einmal ist das Wort „Sabotage“ semantisch gesehen vom „Sabot“ abgeleitet, d. h. von den Holzschuhen, die die Arbeiter trugen und die sie in die Maschinen warfen, um sie zu zerstören. Somit sind die „Saboteure“ aus programmatischer Sicht auf der höchsten Abstraktionsebene nicht sie, sondern wir! Es ist das revolutionäre Proletariat, das durch seine kompromisslosen Kämpfe die Ökonomie sabotiert, wir sind es, die den kapitalistischen Krieg (und seinen Frieden!) sabotieren werden, wenn sich das Kräfteverhältnis infolge der subversiven Aktion unserer Klasse zu unseren Gunsten verändert. Natürlich haben diese sogenannten Anarchistinnen und Anarchisten schon oft ihr wahres Wesen bewiesen: Sie sind Reformer des Kapitals, „alternative“ Sozialdemokraten, die „radikaler“ sind als die offiziellen, sie sind die extremen linken und sogar ultralinken Fraktionen des Kapitalismus und seiner Demokratie – ad nauseam! Und sie hatten bereits mehrfach Gelegenheit, in der Vergangenheit und sogar in der jüngsten Vergangenheit ihre wahren Fähigkeiten zur Schädlichkeit gegenüber jeglicher Äußerung, Manifestation des wahren Internationalismus zu beweisen, der allen Verteidigern dieser alten, verrotteten, sterbenden Welt ins Gesicht explodiert (nicht so sehr, wie wir im Moment hoffen, leider!). Aber es hieße wieder einmal, in die Falle des Mythos der Demokratie zu tappen, wenn man sich vorstellte, dass man auf internationaler Ebene eine echte revolutionäre und defätistische Aktivität gegen den kapitalistischen Krieg und Frieden organisieren, koordinieren und zentralisieren könnte, ohne dass die kapitalistischen Kräfte (sein Staat, seine Polizei, seine Gewerkschaften/Syndikate, seine Sozialdemokratie, ad nauseam…) reagieren, uns unterdrücken, uns unsere Versammlungsorte verbieten usw. Die Organisatoren sind also nicht die einzigen, die sich in der Lage sehen, eine solche Aktivität zu organisieren und zu koordinieren. Die „Organisatoren“ waren darauf nicht vorbereitet, und schließlich waren wir es in gewisser Weise auch nicht, trotz all der starken Vorbehalte, die wir im Vorfeld geäußert hatten. An dieser Stelle ist ein Wort zum Thema Demokratie notwendig…
MYTHOS UND FETISCHISMUS DER DEMOKRATIE
Wir möchten an dieser Stelle einen grundlegenden Punkt ansprechen, der die Demokratie und ihre Diktatur über unser Leben und unsere Aktivitäten betrifft, oder vielmehr die permanente Bruchlosigkeit gegenüber der Demokratie. Demokratie kann keineswegs auf jene Formen und Kategorien reduziert werden, die vulgär von allen akzeptiert werden: Wahlrecht, Versammlungsrecht, Pressefreiheit, Legalisierung von Parteien und Gewerkschaften/Syndikate, ad nauseam. Aus der Sicht der historischen Kritik der Kommunistinnen und Kommunisten ist die Demokratie vor allem die soziale Diktatur des Kapitals, der Ware, des Weltmarkts, des sich verwertenden Werts… Sie ist die praktische Negation des unversöhnlichen Antagonismus zwischen zwei sozialen Klassen, den Besitzern der Produktionsmittel und den Enteigneten der Existenzmittel… Die Demokratie ist auch das giftige Gift, das in jeden unserer Kämpfe, unsere Aktivitäten und sogar in unsere militanten Strukturen eindringt. Die Demokratie steht schließlich für die Bildung falscher Gemeinschaften: die der Nation, des „souveränen Volkes“, des Geldes… gegen die einzige befreiende Gemeinschaft: die Gemeinschaft des proletarischen Kampfes, die die wahre menschliche Gemeinschaft, das Gemeinwesen, ankündigt! Das bedeutet, dass der Kampf gegen die Demokratie „permanent“ sein wird, d.h. solange die kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse existieren, und erst mit der endgültigen Zerstörung dessen, was uns täglich zerstört, enden wird.
Um auf Prag zurückzukommen, haben einige von uns nach unserer Ankunft und angesichts des Chaos„, das sowohl von den „Organisatoren“ als auch von der so genannten „selbstorganisierten Vollversammlung“ entwickelt wurde, direkt auf diese entscheidende Frage hingewiesen: die Fetischisierung der Demokratie. Wir organisieren uns gegen das Kapital und seine Kriege und können uns daher nicht darauf verlassen, dass das Kapital und seine Demokratie uns in Ruhe unsere Aktivitäten strukturieren lassen, uns die „Meinungsfreiheit“ oder das „Versammlungsrecht“ garantieren, die „unterzeichneten Verträge“ einhalten etc. Zum einen sind dies Konzepte, die der kommunistischen Bewegung fremd sind, und zum anderen wendet das Kapital sie nur dann à la carte an, wenn es ihm passt, um seine Herrschaft zu bestätigen, aber niemals, wenn es bedroht ist (oder sich bedroht fühlt). Die „Organisatoren“ haben sich zu sehr auf die Demokratie (und ihre einschläfernde Atmosphäre) verlassen, um die Aktion so ablaufen zu lassen, wie sie war, sie haben sich zu sehr darauf verlassen, dass die demokratischen Kräfte nicht gegen uns vorgehen würden, was sie im Übrigen auch sind: die verschiedenen repressiven Kräfte, die Polizei, die Geheimdienste, die ukrainische (oder auch russische) Botschaft und ihre Avatare, die NATO, die defensiven und bellizistischen „Anarchistinnen und Anarchisten“, ad nauseam. Kurz gesagt, die „Organisatoren“ waren zu offen, zu demokratisch, zu konziliant, zu naiv, was unfreundlichen Kräften die Möglichkeit gab, sich einzumischen. Für die Zukunft und die Entwicklung zukünftiger subversiver Aktivitäten müssen wir uns mehr denn je bewusst sein, dass es sich tatsächlich um einen sozialen Krieg, eine Klassenkonfrontation handelt, und die Mittel, Formen und Maßnahmen dementsprechend wählen…
Ein Beispiel unter vielen für diese (zumindest) Naivität der „Organisatoren“, das wir hier mit dem Finger aufzeigen und kritisieren müssen, ist die Sicherheit der Veranstaltungen. Abgesehen von der Unfähigkeit der „Organisatoren“, etwas wirklich Praktisches zu organisieren, wie z. B. einfach nur den Empfang und die Unterbringung der Teilnehmer (obwohl sie sich vorgenommen hatten, die logistischen Probleme zu lösen), gab es während der gesamten „Aktionswoche“ ein großes Problem mit der Sicherheit der Teilnehmenden. Wir werden nicht über die Identitätskontrollen durch die tschechische Polizei bei der Montagsdemonstration sprechen, da wir nicht dabei waren. Aber es reicht natürlich nicht aus, Slogans wie „No photography“, „No video recording“ an die Wände und in den Blog zu schreiben, damit dies auch tatsächlich so geschieht. Die „Eskapaden“ eines pro-ukrainischen tschechischen Think Tanks auf dem Gelände des „Antikriegskongresses“ sind das beste Beispiel und der Beweis dafür, wie wirkungslos es ist, große Proklamationen über „Sicherheit“ zu machen, ohne die realen und praktischen Mittel zu haben, sie zu gewährleisten, und wie unfähig wir derzeit sind (angesichts unserer schwachen Kräfte und der Situation des Klassenkampfes in Tschechien und sogar in Europa), eine solche öffentliche Veranstaltung zu organisieren oder daran teilzunehmen, die für alle offen ist, mehr oder weniger.
WEN EINLADEN UND WEN NICHT EINLADEN?
Wir möchten hier eine Frage von relativer Wichtigkeit ansprechen. Bei der Vorbereitung der gesamten „Aktionswoche“ und unsererseits vor allem der nicht-öffentlichen Sitzung des „Antikriegskongresses“ stellte sich natürlich die Frage, wen man einladen sollte und wen nicht. Oft haben sich die Organisatoren an uns gewandt und uns gefragt, was wir von einer bestimmten Gruppe oder Organisation halten und ob es sich lohnt, sie für diese oder jene Ebene der Veranstaltungen einzuladen. Es gibt eine Sache, die uns von einigen sehr kritisiert wurde: Warum waren die „großen“ Strukturen und Organisationen der so genannten „kommunistischen Linken“ nicht zur „Aktionswoche“ willkommen, ja, warum wurden sie überhaupt nicht eingeladen? Wir möchten zunächst klarstellen, dass wir uns generell gegen ALLE ideologischen Familien („Anarchismus“, „Marxismus“, „Kommunismus“, „Rätekommunismus“ usw.) wenden, aber in diesem Fall und in diesem Kapitel richten wir unsere Kritik insbesondere an die selbsternannte „kommunistische Linke“.
Zunächst einmal stimmen wir nicht mit der Terminologie „Linkskommunismus“ überein, die zur Bezeichnung der revolutionären Kräfte verwendet wird, die aus der Periode 1917-21 hervorgegangen sind, obwohl es sich dabei um eine historische Bezeichnung handelt, die die historische Materialisierung der Brüche mit der Sozialdemokratie einschließt. Diejenigen, die von der Konterrevolution als „Linkskommunisten“ bezeichnet werden, sind größtenteils die wahren und einzigen authentischen Kommunisten aus dieser Periode. Sie haben programmatisch (trotz der gängigen, von der revisionistischen Geschichtsschreibung aufgezwungenen Terminologie) nichts mit denen gemeinsam, gegen die sie sich in Wirklichkeit während ihres gesamten Kampfes ständig gewehrt haben.
Die Tatsache, dass Lenin (und hinter ihm andere rot angemalte Sozialdemokraten, die „kommunistische“ Rhetorik verwendeten) darauf beharrte, die Praxis der Kommunistinnen und Kommunisten als „Kinderkrankheit“ und die Kommunistinnen und Kommunisten selbst als „Anarchistinnen und Anarchisten“, „Linke“, „Anti-Parteien“ usw. zu denunzieren, ist nur ein Beweis für die zunehmende und klarere Unterscheidung zwischen der konterrevolutionären Politik der Bolschewiki und den revolutionären Ausdrucksformen, die weiterhin gegen die Strömung des Zentrismus kämpften.
Die Definition des Begriffs „Kommunist“ wird, wie Marx sagte, nicht durch das bestimmt, was ein Militanter über sich selbst sagt, sondern durch das, was er tut, d. h. also durch seine tatsächliche kommunistische Aktion in Bezug auf historische Perspektiven.
Es gibt keinen Kommunismus der „Linken“, genauso wenig wie es einen Kommunismus der „Rechten“ oder der „Mitte“ gibt. Der Kommunismus definiert sich in und durch die revolutionäre Praxis von Männern und Frauen, die für die Zerstörung des Staates kämpfen und sich somit auf den Standpunkt der Zerstörung der Armee, der Nationen, der kapitalistischen Verwaltungsorgane, des Kapitals und der Arbeit usw. stellen.
Es ist nicht ohne Grund, dass die Linke der Sozialdemokratie so hartnäckig diejenigen als „infantil“ und „krank“ denunziert hat, die sich ihrer Politik des Wiederaufbaus und der Verwaltung des Staates widersetzten, die den revolutionären Krieg gegen Friedensabkommen mit der Bourgeoisie befürworteten, die gegen Entrismus in den Gewerkschaften/Syndikate und gegen revolutionären Parlamentarismus kämpften. Die Sozialdemokraten – und wir sprechen hier in historischen und nicht formalen Begriffen, in Begriffen von Kräften, die über ihre Bezeichnung hinaus praktisch die Reform der Welt übernehmen! – beabsichtigten sich den Titel „Kommunist“ (ohne weitere Bezeichnung) anzueignen, weil dies zu einem Zeitpunkt, als die Revolution auf der Tagesordnung stand, der beste Weg war, sich vor all jenen zu schützen, die ihre Praxis des Staatsumbaus als konterrevolutionäre Praxis anprangern würden.
Und da sie den revolutionären Charakter der Aktionen derjenigen, die sich ihnen widersetzten, nicht leugnen konnten, schrieben sie kommunistischen Militanten das Adjektiv „links“ zu, um sie als „krank“ und „infantil“ zu bezeichnen sowie um auf einer politischen Linie zu bleiben, auf der kein qualitativer Bruch zu erkennen ist, nicht einmal in der Terminologie.
Wenn wir manchmal Pleonasmen wie „revolutionäre Kommunisten“, „internationalistische Kommunisten“ oder sogar die Verzerrung „Linkskommunismus“ verwenden, obwohl wir die Terminologie unserer Feinde nicht akzeptieren, dann nur deshalb, weil das Gewicht der von Stalinisten und anderen rechten oder linken Bourgeois umgeschriebenen Geschichte wie alle Ideologien eine Kraft ist, die sich im Laufe der Jahrzehnte der Konterrevolution materialisiert hat. Wir müssen zu solchen sprachlichen Tricks greifen, um uns von all jenen zu unterscheiden – und das sind viele! – die in der Tat unsere Flaggen, Banner und Mottos gewaltsam geplündert haben.
Um es klar zu sagen: Es versteht sich von selbst, dass unsere programmatischen historischen Referenzen bei allen Militanten, Gruppen, Organisationen und Strukturen zu finden sind, die mit größter Entschlossenheit die Brüche mit der gesamten Ideologie und Praxis der Sozialdemokratie, einschließlich ihrer „Extreme“, vorangetrieben haben. Ob diese Brüche nun „kommunistische Linke“ oder „revolutionärer Anarchismus“ oder was auch immer heißen mögen … Aber wir lieben den Kommunismus als Projekt, als Bewegung, als Dynamik, als totale Subversion dieser Welt und des Bestehenden, als menschliche Gemeinschaft … zu sehr, um uns auf irgendeine „Linke“ zu berufen, die nur ein trauriges und trostloses Spiegelbild davon ist.
Um auf die „konkreteren“ Aspekte der Frage zurückzukommen, sagen wir klar und deutlich, dass keine Organisation, die offen zu einer der ideologischen Familien gehört, die zwar keine echten Internationalisten (in dem Sinne, wie wir es verstehen!) sind, sich aber dennoch auf internationaler Ebene organisieren und de facto „Internationalisten“ darstellen, den Kampf des Proletariats einrahmen wollen (sei es die besagte „kommunistische“ oder „marxistische“ Familie oder auch die „anarchistische“), nicht eingeladen wurden: Weder die CCI1 (Courant Communiste International), noch die TCI2 (Tendance Communiste Internationaliste), noch all ihre Ableger, noch die verschiedenen PCInt3 (Parti Communiste International), noch die IAA4 (Association Internationale des Travailleurs), noch die IFA5 (Internationale des Fédérations anarchistes), ad nauseam….
Für uns ging es nicht um Sektierertum, sondern darum, Kriterien festzulegen, um eine konstruktive Diskussion zu ermöglichen und Fortschritte bei der Aufgabe zu machen, den revolutionären Defätismus zu fördern und seine Entwicklung als Teil der proletarischen Bewegung zu unterstützen. Wir möchten betonen, dass wir eine echte Diskussion brauchen und nicht nur die Beiträge der anderen anhören, ohne zu einem gemeinsamen Punkt gelangen zu können.
Wir betrachteten die „Aktionswoche„ (bzw. die nichtöffentliche Sitzung des „Antikriegskongresses“ und ursprünglich sogar das internationale Treffen, wie wir es uns vorstellten) nicht als den Tag X, sondern als einen Moment im Prozess der Stärkung, Entwicklung und Konsolidierung der defätistischen revolutionären Gemeinschaft, wobei diese Gemeinschaft nicht erst aufgebaut werden muss, sondern bereits historisch präexistent ist und aus dem fruchtbaren Boden der Klassengesellschaften und der Notwendigkeit, sie abzuschaffen, hervorgeht. Ein Prozess, der den Austausch von Texten und Kritik, Diskussionen, die Organisation konkreter Aktionen, die Kontinuität der Gemeinschaft usw. umfasst, kurzum das genaue Gegenteil von dem, was uns die Linke und extreme Linke des Kapitals auf ihren Konferenzen und Kongressen gewohnt hat… Eine schonungslose Kritik des „Konferenzismus“ ‚ und des „Kongresstums“ ist mehr denn je notwendig und grundlegend…
Was wir uns erhofften (und weiterhin fördern), ist der Aufbau stärkerer Beziehungen im Lager des revolutionären Defätismus und, wenn möglich, das Erreichen eines gewissen Grades an programmatischer Zentralisierung bei gleichzeitiger Beibehaltung einer gewissen Dezentralisierung der Aktionen.
Leider (oder prosaischer hic et nunc!) können wir die „defätistischen“ Praktiken von Gruppen der so genannten „Kommunistischen Linken“ nicht so interpretieren, dass sie dieses Ziel verfolgen.
Basierend auf den Aktivitäten einiger Gruppen haben wir eher den Eindruck, dass ihr Ziel nicht der Aufbau einer echten Kampfgemeinschaft (die programmatisch zentralisiert, aber nicht unbedingt praktisch ist) ist, sondern der Aufbau einer „Partei“, noch dazu einer Massenpartei. Beispielsweise können wir in den Aktivitäten der Kollektive und der Plattform No War but the Class War den Versuch sehen, eine Art „Mindestprogramm“ zu schaffen, dem sich möglichst viele anschließen können, ohne dass es die Partikularismen der verschiedenen Elemente verschärft; insofern können wir darin nichts anderes als Rekrutierungsbüros erkennen. Wir können in diesen Praktiken gewisse Zugeständnisse an diejenigen sehen, die programmatisch nicht klar sind, damit sie ihren Aktivitäten eine Massendimension verleihen können. Wir für unseren Teil wollen genau das Gegenteil tun.
Natürlich haben wir nicht erwartet, dass alle zur „Aktionswoche“ eingeladenen Gruppen auf dem gleichen programmatischen Niveau sind, wir sind uns durchaus bewusst, dass die Kapitalismuskritik einiger Organisationen nicht in gleicher Weise entwickelt und vertieft wird. Aber unsere Hoffnung war, dass sie durch Diskussionen und gemeinsame Praxis ein höheres, dialektischeres und damit radikaleres Niveau des Verständnisses der Realität der auf Ausbeutung basierenden Welt erreichen und damit die Möglichkeit eines gemeinsamen Kampfes eröffnen.
Eine weitere Sache, die wir nicht gutheißen können, ist das Bemühen von Gruppen der so genannten „kommunistischen Linken“, so genannte „theoretische“ Diskussionen den Diskussionen über den tatsächlichen und praktischen Kampf der defätistischen revolutionären Bewegung vorzuziehen. Ihr methodischer Ansatz basiert zweifellos auf der Annahme, dass wir uns zuerst über den Ursprung des Krieges einigen sollten – der für die meisten von ihnen die Dekadenz des Kapitalismus zu sein scheint -, bevor wir irgendetwas anderes diskutieren.
Für uns sollte es keine Trennung zwischen einer sogenannten „theoretischen“ und einer „praktischen“ Diskussion geben. Was uns interessiert, ist in der Tat eine Diskussion darüber, wie man konkret gegen den kapitalistischen Krieg und den kapitalistischen Frieden kämpfen kann, was wir praktisch dagegen tun können. Und im Rahmen einer solchen Diskussion werden notwendigerweise auch theoretische und programmatische Fragen auftauchen und behandelt werden. Kurz gesagt, wir ziehen es vor, von der Praxis zur Theorie zu gehen, während es für alle diese Gruppen genau umgekehrt zu sein scheint.
Das hat die meisten dieser „großen“ Organisationen der sogenannten „kommunistischen Linken“ nicht daran gehindert, sich selbst einzuladen und noch mehr Chaos in das von den „Organisatoren“ hinterlassene Chaos zu bringen, kurz gesagt, der den „Organisatoren“ selbst innewohnenden Desorganisation noch eine ernsthafte Schicht der Desorganisation hinzuzufügen. Wie ein Gefährte, der vor Ort sehr aktiv war, sagte: Ihre Aktivitäten, die Kontrolle zu übernehmen oder zumindest ihre Agenda festzulegen, wurden durch das Chaos, das durch die Desorganisation verursacht wurde, erheblich verstärkt“.
Kurz vor der Aktionswoche, genauer gesagt am 1. Mai, veröffentlichte die TCI einen Blogeintrag, in dem sie ankündigte, dass sie entweder direkt oder über ihre Satellitenstrukturen wie die No War but the Class War-Kollektive nach Prag kommen würde. Darin hieß es unter anderem: „der Aufruf der Prager Aktionswoche im Wesentlichen nicht von den fünf grundlegenden Punkten, die wir von der Initiative „No War but the Class War“ (NWBCW) vertreten. […] Keiner der im Aufruf zur Aktionswoche in Prag benannten Punkte widerspricht den grundlegenden Zielen der NWBCW. In der Tat könnten wir diese fünf Punkte durchaus erweitern, um die acht Punkte von Prag (siehe unten) einzubeziehen“6.7
Einige, die sich selbst als „kommunistische Linke“ bezeichneten, wiesen darauf hin, dass keine der eingeladenen „anarchistischen“ Gruppen den Kriterien entsprach, die in den „acht Punkten“ entwickelt worden waren, während die Gruppen der „kommunistischen Linken“ dies taten. „Die ursprüngliche Einladungsliste enthielt etwa 60 Namen, die meisten von ihnen Anarchisten, Anarchokommunisten, Kommunisten und Schwarze Blöcke, die einem oder mehreren der Kriterien entsprechen konnten. Es fehlten die Namen von linken, italienischen oder deutsch-niederländischen, leninistischen Kommunisten mit internationalistischen Positionen, die alle Kriterien erfüllten.“ Auf diese Art von Argumenten antworten wir, wie wir bereits zuvor per Brief geantwortet hatten, dass zwar „theoretische Positionen“ diesen Kriterien entsprechen können, dass es aber eher die tatsächliche Praxis der Organisationen ist, die sich auf eine ideologische politische Familie berufen (hier im vorliegenden Fall und zur Erinnerung: die besagte „kommunistische Linke“), die sich nicht mit den in dem fraglichen Dokument vorgebrachten Punkten deckt.
Zum Beispiel: Es ist vor allem ihre „Position“ (und ihre tatsächliche Praxis) zu Lenin und den Bolschewiki und ihre gesamte Politik des Wiederaufbaus des Staates und der nationalen Ökonomie in Russland, der Repression von Streiks und proletarischen Kämpfen, die weniger mit dem vierten als vielmehr mit dem siebten Punkt übereinstimmt, nämlich:
Insgesamt fordern oder befürworten alle Gruppen der so genannten „kommunistischen Linken“ den Vertrag von Brest-Litowsk (der ein echter Dolchstoß in den Rücken der Proletarier sowohl in Russland als auch in Deutschland und Österreich-Ungarn war – ein „Verrat“, wie manche sagen!), was im krassen Gegensatz zu dem steht, was wir unter revolutionärem Defätismus verstehen (in Punkt 6):
Um die Frage von Brest-Litowsk und der Abkommen/Beziehungen, die das Proletariat mit seinem Klassenfeind entwickeln/unterhalten könnte, etwas zu vertiefen, sei nur gesagt: Nie und nimmer könnte irgendeine „proletarische Macht“, wie die Bolschewiki sich fälschlicherweise seit Oktober in Russland rühmten, eine solche bleiben, wenn sie Abkommen verhandelt, diskutiert, unterzeichnet, die gegen unsere Klasseninteressen gerichtet sind. Wenn eine „proletarische Macht“ sich mit dem bourgeoisen Staat an den Verhandlungstisch setzt (egal, welche formellen Vertreter ihm gegenüberstehen), dann hat der bourgeoise Staat bereits gewonnen und die „proletarische Macht“ verliert ihre subversive Substanz, wenn sie überhaupt eine solche hat. Wenn der Staat der Kapitalisten mit dem Proletariat „verhandelt“, dann bedeutet das, dass unser Kampf, unsere Offensive bereits sehr stark im Niedergang begriffen ist, dass wir in der Defensive sind, in der Klemme, dass wir bereits verloren haben… Der bourgeoise Staat „verhandelt“ mit uns nur, um uns besser und endgültig zerschlagen zu können…
Und wir wollen hier nicht über andere Meinungsverschiedenheiten sprechen, die wir mit den Gruppen der so genannten „kommunistischen Linken“ haben, wie ihre Beanspruchung (revendication) der Zimmerwald-Konferenz von 1915. Insgesamt ging es bei diesem Treffen von Pazifisten hauptsächlich darum, sich außerhalb der offiziellen Sozialdemokratie zu organisieren, aber nicht gegen sie; dieses Treffen führte zu spektakulären Reden und aufsehenerregenden Erklärungen, aber nicht zu einem wirklichen Bruch mit den Methoden, Praktiken und Programmen der Sozialdemokratie.
Und was die so genannte „Zimmerwalder Linke“ betrifft, so diente die Anwesenheit kommunistischer Militanter in diesem Chaos letztlich nur als radikale Bürgschaft, als Rekrutierungsbüro, um wirklich proletarische Äußerungen wieder in die Spur einer Sozialdemokratie zu bringen, deren Fassade man nur abgewetzt hatte. Kein Wunder also, dass praktisch alle Organisationen der so genannten „kommunistischen Linken“ heute ein „neues Zimmerwald“ machen wollen, das passt perfekt zu ihnen. Schließlich können wir, um Rosa Luxemburg (!!!) zu paraphrasieren, die Aktivitäten dieser „Zimmerwalder Linken“ grundsätzlich so zusammenfassen: „besser ein schlechter Zimmerwald als gar kein Zimmerwald“!
Die bolschewistische Partei und Lenin selbst haben das konterrevolutionäre und pazifistische Programm der Internationale und ihrer verschiedenen Mitgliedsparteien aktiv gefördert. Dies steht im Gegensatz zum fünften Punkt:
Darüber hinaus verteidigt die besagte „kommunistische Linke“ (mehr oder weniger, je nach den von jeder dieser Organisationen bevorzugten Nuancen) die Position der III. Internationale in der Kolonialfrage. Dies steht auch nicht im Einklang mit dem dritten Punkt:
FASSEN WIR DIE EREIGNISSE IN PRAG KURZ ZUSAMMEN.
Es gab zwei verschiedene Ebenen mit ebenso verschiedenen Inhalten.
Auf der einen Seite gab es die „Aktionswoche“ mit Demonstrationen, Happenings und anderen „Feierlichkeiten“, die im Bereich des Spektakels blieben. Die Grundidee der Organisatoren war es, den revolutionären Defätismus sichtbarer zu machen, mit den kriegsbefürwortenden Anarchistinnen und Anarchisten zu konkurrieren und sich als „Anziehungspunkt für Unentschlossene“ anzubieten. Aber all das erwies sich als Illusion und vor allem als kontraproduktiv angesichts unserer schwachen Kräfte. Wir kritisierten die Organisatoren in diesem Sinne und machten deutlich, dass eine solche Veranstaltung keine Demonstration der Existenz der Antikriegsbewegung, der Bewegung gegen die kapitalistische Ausbeutung im Allgemeinen, sein kann, da diese Bewegung nur in Ansätzen existiert und sich derzeit auf einige verstreute Minderheiten in der ganzen Welt beschränkt. Wir haben auch betont, dass Revolutionäre diese Bewegung auf keinen Fall schaffen können. Sie können (und wollen) dem Proletariat keinerlei Bewusstseinsbildung bringen, denn diese kann nur aus den materiellen Bedingungen, in denen sich das Proletariat befindet, und aus dem Kampf unserer Klasse gegen diese Bedingungen entstehen. Die Aufgabe der Kommunistinnen und Kommunisten ist es, den unveränderlichen Inhalt, den wirklichen unmittelbaren Kampf der Arbeiterklasse gegen die Ausbeutung, der sich hinter den mehr oder weniger klaren Manifestationen des Proletariats verbirgt, zu entdecken, ihn mit anderen Kämpfen in der Gegenwart und in der Vergangenheit zu verbinden und ihn zu verallgemeinern. Wir erinnerten sie auch daran, dass unsere Aufgabe und unser einziges Interesse die potenzielle Stärkung der bereits existierenden defätistischen revolutionären Kräfte ist, die willens und in der Lage sind, sich sowohl programmatisch als auch praktisch dem Krieg zu widersetzen.
Wir haben nicht an diesen Veranstaltungen teilgenommen und haben zu keinem Zeitpunkt (auf unserem Blog, unseren Mailinglisten usw.) dieses Aktivitätsniveau gefördert, im Gegenteil, wir haben es kritisiert (leider allzu oft „privat“!). Gleichzeitig waren wir nicht stark genug, um den Organisatoren unsere Meinung aufzuzwingen und sie davon zu überzeugen, diese mehr als anekdotischen Veranstaltungen nicht zu veranstalten.
Andererseits gab es den „Antikriegskongress“ (oder die Konferenz oder das internationale Treffen), eine Veranstaltung, die wir für äußerst wichtig hielten und die wir öffentlich als Versuch propagierten, unsere defätistischen revolutionären Aktivitäten zu organisieren und zu zentralisieren, unsere bereits und vorab bestehende Kampfgemeinschaft zu stärken, die unter anderem (und soweit es die wenigen Minderheiten betrifft, die sich bereits kennen) auf der Praxis verschiedener Gruppen, auf gemeinsamen Diskussionen und praktischen Aktivitäten beruht. Für uns bestand der Zweck dieses internationalen Treffens wirklich darin, zu versuchen, ein gewisses Maß an Zentralisierung und Formalisierung der bestehenden Praktiken zu erreichen und zu versuchen, sie auf eine bestimmte Materialisierung auszurichten: eine gemeinsame Kampagne gegen den Krieg, wie wir in unserem Beitrag zur Mailingliste spezifiziert haben. Dies ist auch das, was wir in Prag zu entwickeln und zu fördern versucht haben. Die Zukunft wird zeigen, ob unsere Versuche vergeblich waren oder ob sie etwas Nützliches für den proletarischen Widerstand gegen den Krieg und für den sozialen Frieden hervorbringen werden.
In einer sehr brüderlichen Kritik, die wir einige Tage vor der „Aktionswoche“ erhielten, sagten uns Gefährtinnen und Gefährten über unsere Hoffnung, durch diese Aktion „unsere Isolation überwinden“ zu können, folgendes: „Es gibt keine Abkürzungen, es gibt keine magischen Formeln, es ist der unmittelbare Kampf des Proletariats gegen die Ausbeutung, für die Verteidigung seiner materiellen Bedürfnisse und die Entwicklung dieses Kampfes, der die Substanz liefert, die den Organisationsprozess des Proletariats ausmacht und die Aktionen der revolutionären Minderheiten bestimmt. Das Durchbrechen der Isolation – auf allen Ebenen – entwickelt sich nur in diesem Prozess, als Entwicklung des proletarischen Assoziationismus, alles andere gehört in die Welt des Spektakels und dient nur dazu, die verschiedenen Versuche unserer Klasse, sich zu organisieren, abzulenken und zu neutralisieren. Es ist wie der Mythos einiger Strömungen der Vergangenheit, die glaubten, dass der Aufruf zum Generalstreik die Grundlage sei, um die Revolution einzuleiten. “
Das ist absolut richtig und wir stimmen dieser Ansicht voll und ganz zu. Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass wir weder eine Anti-Kriegs-Bewegung schaffen noch den Krieg stoppen können. Aber das bedeutet nicht, dass wir tatenlos auf die Entwicklung des Klassenkampfes warten sollten. In dem Maße, wie der Bruch mit den gesellschaftlichen Verhältnissen des Kapitals nur auf Minderheiten beschränkt ist, müssen wir die Elemente organisieren, die durch ihre Praxis den Bruch mit dem Kapital zum Ausdruck bringen, wir müssen unsere Positionen klären, die Lehren aus den gegenwärtigen und vergangenen Kämpfen des Proletariats, wir müssen die Erfahrungen zusammenfassen, die in der Entwicklung der Revolution und der Konterrevolution gesammelt wurden. Wir sind als kämpfende Klasse und Ausdruck dieses Prozesses ein integraler Bestandteil des Proletariats und müssen die realen und praktischen Aufgaben der subversiven Bewegung übernehmen, auch wenn wir wissen, dass die materiellen Folgen unserer Aktivität im Moment vernachlässigbar sind.
Schlussendlich zeigen uns die Ereignisse in Prag (um den Renegaten Lenin umgekehrt zu paraphrasieren), „was (nicht) tun“! Von Anfang an wollten wir kein öffentliches Treffen organisieren, geschweige denn eine Demonstration (um wem was zu beweisen!?), eine Buchmesse und verschiedene damit verbundene Aktivitäten, die unter dem Label „Aktionswoche“ zusammengefasst werden. Was uns wichtig war (und ist), ist die Notwendigkeit, uns zu koordinieren, unsere Aktivitäten mit anderen militanten Strukturen zu zentralisieren, nicht „nur“ gegen den Krieg und den sozialen Frieden, sondern um wirklich am vitalen Prozess, an der elementaren Dynamik der Umwandlung des kapitalistischen Krieges und Friedens in eine weltweite soziale Revolution, in eine Revolution für die Abschaffung der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse, in eine Revolution für den Kommunismus teilzunehmen!!!
Und um dies zu erreichen, bleibt ein nicht-öffentliches internationales Treffen von Gruppen und Strukturen, die sich bereits kennen und gemeinsam handeln, heute eine Notwendigkeit, die wir weiterhin mehr denn je betonen. Ohne Schminke und ohne Werbung, ohne vorherige donnernde Erklärung!!!
ALS POSTSKRIPTUM
Nach diesem riesigen organisatorischen Fiasko war es zu erwarten, und wir haben es erwartet: Die Neo-Torquemadisten haben wieder zugeschlagen, oder besser gesagt geifern, wie man es besser ausdrücken sollte, in diesem Fall durch diese Eiterbeule der Arbeiterklasse, die die unbedeutende kleine paranoide Sekte namens CCI darstellt. Wir können in der Tat den faulen Atem der Lehrmeister riechen, all diese Aasgeier, die nach den Ereignissen in Prag gelacht haben und zum vorletzten Mal kommen, um uns ihre düsteren Ratschläge zuzuflüstern, gemischt mit einigen Phrasen demagogischer Bewunderung, als gute „Bankräuber der Revolution“ (so Bordiga), die sie sind. Und es sind immer noch dieselben Geier, die seit Jahrzehnten über den Leichen der von der Repression massakrierten Proletarier kreisen und kichern: „Sie hätten nicht zu den Waffen greifen sollen“ (Plechanow).
Wenn es sich dabei nur um schäbige, verbitterte Kommentare von als Revolutionäre verkleideten sozialdemokratischen Hyänen handeln würde, könnte man sie ignorieren und mit einer festen Handbewegung an ihren Bestimmungsort zurückschicken: die Mülltonnen der Geschichte. Aber noch einmal, und das seit mehr als vierzig Jahren, wenn der CCI es sich erlaubt, von seinen ideologischen Kanzeln und den Balkonen des politischen Spektakels sein sententiöses Geplapper zu verbreiten, sind es immer die bösartigen Intrigen, die Verleumdungen, die Denunziationen und letztendlich die polizeiliche Version der Geschichte, die triumphieren. Zitieren wir also ein letztes Mal die giftige Galle dieser todbringenden Kapos aus ihren jüngsten Erklärungen zu den Ereignissen in Prag: „Was die Position des offiziellen Komitees zur Sicherheit betrifft, sollten wir auch darauf hinweisen, dass Tridni Valka eine gewisse Kontinuität mit dem Groupe Communiste Internationaliste behauptet, obwohl es in der Vergangenheit einige unausgesprochene Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen gab und die GCI als solche nicht mehr existiert. Aber die GCI war eine Gruppe, die einen sehr gefährlichen und destruktiven Kurs verfolgte – vor allem ein Flirt mit dem Terrorismus [Hervorhebung durch die Redaktion], der eine ernste Gefahr für die gesamte revolutionäre Bewegung darstellte.[8] Dazu gehörte eine Art Tarnkappenstrategie, die Tridni Valka anscheinend übernommen hat und die sicherlich zur Desorganisation der Woche und dem Misstrauen beigetragen hat, das viele der Teilnehmenden ihnen gegenüber entwickelten.“ Amen!
Die CCI kann, wie andere ähnliche Sekten, die Aktivitäten von Revolutionären nur als „Verschwörungen“ verstehen und anprangern. Aber verschwören heißt atmen, wie das Sprichwort sagt, und wir für unseren Teil behaupten laut und deutlich, gegen alle Versuche, unsere Klasse zu fesseln, die internationale Verschwörung des Proletariats! Ja, wir verschwören uns, wie „Dampf und Elektrizität sich gegen den Status quo verschwören“ (wie Marx sagte), wir verschwören uns „wie die Sonne gegen die Dunkelheit“ (idem)… Auf jeden Fall ist es sehr wahrscheinlich, dass die tschechischen (und anderen) Staatssicherheitsdienste sich über diese Art von „Enthüllungen“ und „Informationen“ über die angeblichen Verbindungen unserer Gruppe „zum Terrorismus“ freuen werden. Vielen Dank an die Spitzel des CCI, der sich besser in CCI-B umbenennen sollte, mit einem B für „Bolschewik“, aber vor allem für „Verräterinnen und Verräter“!8 Verdammte VERRÄTERINNEN UND VERRÄTER!!!
1A.d.Ü., Internationale Kommunistische Strömung.
2A.d.Ü., Internationalistische Kommunistische Tendenz.
3A.d.Ü., Internationale Kommunistische Partei.
4A.d.Ü., Internationale ArbeiterInnen-Assoziation.
5A.d.Ü., Internationale der Anarchistischen Föderationen.
6Zur Erinnerung: Die „Acht Punkte“, die erklären, an wen der Prager Appell gerichtet war, können auf dem Blog von Action Week gelesen werden: https: //actionweek.noblogs.org/francais/, sowie auf unserem eigenen Blog: https: //www.autistici.org/tridnivalka/semaine-daction-prague-20-26-mai-2024/.
7A.d.Ü., zitiert von An die InternationalistInnen die an der Prager Aktionswoche teilnehmen.
8A.d.Ü., in der englischen und in der französischen Version werden die Begriffe Betrayer (Verräterin und Verräter) und Balance (Rate) verwendet. Wie entschieden uns für erstere Möglichkeit.
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„Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den Krieg, bis ich heraus fand, dass es welche gibt, die nicht hingehen müssen.“ Erich Maria Remarque
Seit dem Beginn des Einmarsches/Überfalls der Russischen Streitkräfte in der Ukraine haben sich viele Gruppen, Parteien, Organisationen, Initiativen, Individuen, ob formell oder informell – obwohl der Konflikt dort nicht seit 2022, sondern seit 2014 läuft – der radikalen Linken des Kapitals ganz gemäß ihrer Haltung/Theorie/Ideologie, sich einer der Kriegsparteien zugeordnet und diesen Krieg gerechtfertigt. Das heißt die Interessen einer Fraktion des Kapitals ideologisch zu rechtfertigen und zu verteidigen.
Sei es die sogenannte „pro-russiche“ Position, die zu wenig kritisiert wird, die sich stellvertretend als die anti-imperialistische Position definiert, die weltweit sehr verbreitet ist und durch die Umkreisung von NATO-Mitgliedsländer den Einmarsch der Armee der Russischen Föderation eine Legitimation in die Ukraine gibt. Dieser Ansicht nach handelt es sich um einen Krieg gegen den Imperialismus der NATO, also der USA und deren Marionetten. In diesem Narrativ spielt nur der Imperialismus eine Rolle, die Zwänge des Kapitalismus, die diesem vorausgehen, spielen gar keine Rolle. Böser Westen.
Oder die sogenannte „pro-ukrainische“ Position, die auch zu wenig kritisiert wird, die sich stellvertretend auch als eine anti-imperialistische Position definiert, nur mit dem Zusatz sogenannter nationaler Befreiung, als die endgültige Befreiung vom imperialistischen russischen Joch, die sich gegen die schon als deterministisch imperialistischen Zwänge Russlands wehren muss. Als handele es sich um einen Krieg gegen den Imperialismus Russlands, das versucht eine neues Imperium mittels Waffengewalt zu erreichen. In diesem Narrativ spielen weder Kapitalismus noch die imperialistischen Zwänge, die mit diesem einhergehen auch gar keine Rolle. Böse Russen.
Und zuletzt die sogenannte „pazifistische“ Position, die sich nach nichts anderem sehnt als dem friedlichen Krieg des Kapitalismus, in dem tausende von Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken, abertausende von Flüchtlingen, angetrieben von Elend, Hunger, Umweltkatastrophen – alle vom Kapitalismus verursacht – die Sahara überqueren und dort von Schleusern am Wegrand dahingeworfen werden, tausende weltweit verhungern, ausgebeutet werden, usw. jene Position die das Ende bewaffneter und militärischer Konflikte und Kriege will, aber nichts gegen ihre Ursache unternehmen will. Jene Position die denkt, dass der Kapitalismus seine Massaker auf alle Spezies dieses Planeten auch ohne Waffengewalt durchziehen kann. Denn Frieden ist nur ein Waffenstillstand in einem endlosen Krieg. Dies lehrt uns die Geschichte, dies lehrt uns die Herrschaft des Kapitalismus.
Nun, seit dem Anbeginn dieses weiteren Krieges, einer von vielen die gerade tausende von Arbeiterinnen und Arbeiter in den Schützengräben Stacheldraht und Kugeln für die Interessen ihrer nationalen Bourgeoisie fressen lassen, haben nicht sehr viele Gruppen/Initiativen/Organisationen, ob formell oder informell, sich dafür stark gemacht, dass alle Kriege nur die Kriege des Kapitalismus sind, dass darin nur die Interessen einer herrschende Klasse gegen eine andere ganz im Sinne von Von Clausewitz zum Ausdruck kommen, dass Kriege ein fundamentaler Ausdruck des Kapitalismus sind, um ökonomische Krisen zu lösen, sei es durch zu große Akkumulation von Waren, dem Verlust von Wert der Waren, neue Erschließung-Kontrolle-Verteidigung durch Monopol von neuen Märkten, etc. geschützt werden. Das darin der jetzige Staat und sein ideologisierte Verkörperung die Nation eine fundamentale Rolle spielt, um Arbeiterinnen und Arbeiter mittels falscher Antagonismen und Dichotomien (Vaterland, Nation, Rasse, Glaube, Volk, Patriarchat, etc…) dazu zu bringen sich für die Interessen jener, die sie im eigenen Land ausbeuten, im Knast einsperren, aus der Wohnung werfen, usw., sich gegenseitig mit jenen umzubringen, mit denen sie eigentlich dieselbe kapitalistische Realität erleiden müssen. Die Klassengesellschaft teilt uns nicht nur in Klassen auf, sondern die herrschende Klasse teilt uns Arbeiterinnen und Arbeiter mittels Rassismus, Grenzen, Nationen, Kulturen, Patriarchat etc. nochmals auf, um nur ihren Interessen zu dienen. Darin spielt die Demokratie eine enorme Rolle, denn sie vereint nämlich die Gesellschaft die in Klassen aufgeteilt ist, indem sie die Antagonismen verschwinden lässt. Auch sie erschafft eine falsche menschliche Gemeinschaft um den Staat, die Nation und das Volk, wir sind am Ende nämlich alle freie Staatsbürgerinnen und -bürger. Wir haben das Recht, zu wählen, uns frei entscheiden zu können, wo wir ausgebeutet werden, usw. Aber wir haben ganz nach Hegel, auch die Pflicht für unser Land zu morden, wenn dieser uns zu den Fahnen unserer Nation aufruft.
Nun um über diese Fragen, so wie viele andere, die nicht erwähnt worden sind, um darüber wie eine revolutionäre Bewegung sich diesen Fragen stellen könnte, wie gegen den kapitalistischen Krieg und Frieden, wie gegen die falsche Kritikerinnen und Kritiker dieser gekämpft werden kann, um darüber diskutieren zu können, wurde dazu aufgerufen sich Ende Mai 2024 in Prag bei der sogenannten Action Week zu treffen.
Wir von der Anarchistischen Buchmesse Berlin und von der Soligruppe für Gefangene haben auch soweit wie möglich versucht an der Verbreitung dieses Treffens mitzuhelfen, indem wir viele der Ankündigungen und Texte übersetzt haben, indem wir mit Menschen über die Notwendigkeit eines solchen Treffens gesprochen haben, weil wir das Anliegen dieses Treffens für sehr wichtig halten, weil es auch ein wichtiges Anliegen dieses Treffens sein sollte, dass sich Revolutionäre aus der ganzen Welt treffen sollten, mit einem wichtigen Fokus gerade auch auf Ost-Europa und wir die Intentionen und die Punkte, die dieses Treffen vorschlug, nach wie vor für richtig halten. Also hatte das Treffen nicht nur einen internationalistischen Charakter, sondern verteidigte den Internationalismus ganz klar, was heutzutage wieder von enormer Wichtigkeit ist.
Gerade weil der Internationalismus in der Regel als eine Akkumulation verschiedener nationaler Befreiungsbewegungen (nationalistisch und reaktionär) oder als eine Akkumulation verschiedener Nationen und Nationalismen verstanden wird, wie es der Fall in der Komintern war, und dies nicht seiner revolutionären Intention entspricht, ganz nach dem Motto, das Proletariat hat kein Vaterland, sondern auf einmal – wieder – unendlich viele, wo am Ende nur die Interessen aufstrebender herrschender Klasse verteidigt werden.
Es war durchaus sehr ambitioniert, gerade auch weil verschiedene anarchistische und (links)kommunistische Gruppen/Initiativen/Organisationen und Individuen, sowie unterschiedliche Tendenzen innerhalb dieser, für das Treffen eingeladen wurden – den genaueren Grund dafür kennen nur die Organisierenden – wo der gemeinsame Nenner manchmal nur die allgemeine, aber dennoch richtige, Ablehnung und Kritik an den Krieg und den Frieden des Kapitalismus war. Also ein durchaus ambitioniertes Vorhaben, vielleicht zu sehr sogar.
Eine ganz Woche mit Aktionen, Kundgebungen, Demonstrationen und Diskussionen sollten stattfinden.
Wie wir schon erwähnten, gibt es reformistische und konterrevolutionäre Gruppen und Individuen, die, nicht anders wie der Wolf sich im Schafspelz tarnt, sich als Revolutionäre geben, als unversöhnliche Feinde des Kapitalismus und des Staates, aber in Realität sind sie nichts anderes als ihre Bluthunde. Es gibt, wie gesagt, marxistisch-leninistische Gruppen/Parteien/etc. – also die Linke des Kapitals – die die Invasion von der Russischen Föderation verteidigen, bzw. legitimieren, aber es gibt auch jene falschen Anarchistinnen und Anarchisten – in diesem Fall auch die Linke des Kapitals – die dasselbe auf der Seite der NATO und der Ukraine tun. Letztere hassen und verachten alle, die sie aufgrund ihres falschen Anarchismus und deren Inkohärenz öffentlich kritisieren und angreifen. Was logisch ist, sie wollen ja die Absolution für das, was sie im Namen des Anarchismus zu verteidigen versuchen.
Nun sind letztere Stimmen in Ost- und Zentraleuropa verbreiteter, laut, anders wie an anderen Orten auf der Welt, wo die verbreitete Haltung es ist bedingungslos hinter Russland zu stehen. Typischer Manichäismus des Anti-Imperialismus, wo alles, was gegen die USA und die NATO ist, gut ist, egal wie reaktionär und konterrevolutionär es sein mag. Alles Positionen, die wir für falsch und konterrevolutionär halten, in diesem wie in jedem kapitalistischen Krieg und kapitalistischen Frieden.
Im Treffen, das in Prag Ende Mai hätte stattfinden sollen, zumindest so wie es angekündigt war, spitzte sich aber genau dieser Konflikt zu, zwischen jene die für die Zerstörung aller Nationen-Staaten, dem Kapitalismus, dem Patriarchat, usw., sind und jenen, die diese verteidigen. Wir sagen zuspitzen, weil es seit dem Beginn dieses Krieges, der schon tausenden von Arbeiterinnen und Arbeitern aus der Ukraine, aus Russland, Flüchtlingen aus aller Welt, die sich als Söldner mit dem Versprechen einer besseren Staatsbürgerschaft verpflichten haben lassen, Gefangenen, die aus dem Knast raus geholt wurden, denen die Freilassung versprochen wurde, sollten sie diese Massaker überleben, das Leben gekostet hat, eine international geführte Auseinandersetzung darüber gibt, wo eben zwei sich antagonistische Positionen gegenüber stehen.
Wir gehen an dieser Stelle nicht darauf ein, wie diese NATO-Anarchistinnen und Anarchisten, was, gelinde gesagt, ein Euphemismus ist, alle revolutionäre Anarchistinnen und Anarchisten denunzieren und diffamieren, dazu später mehr, aber es ist wichtig nochmals zu betonen, wie energisch sie versuchen diese Debatte moralisch aufzuladen, genauso wie mit Lügen, denn von Inhalten kann hier nicht die Rede sein, aber in Prag erreichte dieser Konflikt einen weiteren Zenit.
Ob durch Zufall oder nicht, am selben Wochenende sollte in Prag eine Anarchistische Buchmesse stattfinden, die schon von Anfang an klar gemacht hat, dass die Action Week und sie nichts miteinander zu tun hatten und haben würden1. Ob mitorganisierend von dieser oder nicht, aber die Anarchistische Föderation (AF) von Tschechien hatte schon klar an mehreren Stellen2 ihre kriegstreibende Haltung deutlich gemacht und alle Initiativen und Gruppen, die sie im Territorium der Tschechischen Republik verortete, ob dies stimmte war regelrecht belanglos, wie die Antimilitaristische Initiative (AMI) und die Gruppe Tridni Valka (Klassenkrieg), um ein paar Beispiele zu nennen, als Gespenstergruppen zu bezeichnen, als Gruppen und Initiativen die niemand kennen würde und die nicht ein Teil der anarchistischen Bewegung seien. Was für eine absurde, infantile und lächerliche Anschuldigung, wir kennen auch die AF nicht, ergo existiert sie nicht?
Dies gilt nur als ein weiteres Beispiel dafür, dass sich eben jene, die sich als Anarchistinnen und Anarchisten bezeichnen, aber nur die Wachhunde des Kapitals und des Staates sind, die vorgeben mit allen diskutieren zu wollen, alles und jeden angreifen und diffamieren müssen, der ihnen durch eine Kritik an der kriegstreibenden Haltung einen Spiegel vor die Nase halten, was AMI und Tridni Valka unter einigen auch immer wieder getan haben.3
Eine weitere Anschuldigung der AF war auch, dass die Action Week in Realität sich nur als eine enorme Blase und Verarsche herausstellen würde, dass die Übersetzung der Aufrufe in zwölf Sprachen4 nur eine Finte wäre, etc., all dies verbreiteten diese kriegstreibenden Gruppen. Sie wollten jeden davon abhalten auf dieses Treffen zu gehen.
Wenn der Anti-Militarismus, die weltweite Perspektive und Notwendigkeit der sozialen Revolution von einer Minderheit verteidigt wird, sollten sich doch alle Anarchistinnen und Anarchisten auf der Welt fragen, ob diese Frage entlang der Messeinheit von Minderheiten und Mehrheiten relevant ist oder nur eine Frage zwischen den Feinden und den Verteidigern aller Staaten-Nationen und des Kapitalismus.
Wie gesagt, wir haben auch hier in Berlin seit dem Beginn des Krieges mehrere solche Gerüchte über andere Gruppen gehört, die für diese Kriegstreiber unbequem sind, vor allem in Ost-Europa, die entweder als dogmatische Spinner oder als insignifikant bezeichnet werden. Ein Beispiel wären die Gruppe aus Charkow Assembly oder die anarchosyndikalistische Organisation aus Russland KRAS-AIT. Es hat schon Vorfälle gegeben, wo Namen der Mitglieder unbequemer Gruppen veröffentlicht wurden, was selbstverständlich der Repression direkt in die Hände spielt.
Für uns sind dies nichts weiteres als Bullenmethoden, jede „Anarchistische Gruppe“ die sich solcher Methoden bedient, hört sofort auf solch eine zu sein, wenn sie diesen Weg beschreitet, egal aus welchem Grund. Nur Helfershelfer des Staates.
Schon vor dem Treffen bahnten sich Konflikte an und die Organisierenden machten darauf aufmerksam, dass ein solidarisches Event aufgrund uns nicht bekannter Gründe abgesagt werden musste. Wir sagen ehrlich unbekannten Gründen, weil wir vielen der Gerüchten keine Aufmerksamkeit schenken wollen.
Das Treffen in Prag, der Beginn von einer Katastrophe
Wir konnten selbst erst am Freitag hinfahren, aber uns wurde schon am Donnerstag von Menschen, die vor Ort waren, gesagt, dass das Treffen, eine absolute Katastrophe war. Auf einer Kundgebungen und einer Demonstration, die als Teil der Action Week hätten stattfinden sollen, war kein Mensch der Organisierenden vor Ort, es gab Probleme mit den Unterkünften, es kamen viele Menschen von außerhalb und dass die Schule für das Treffen (offizieller Konferenzort), die schon im Februar 2024 für die Tage im Mai gemietet wurde, gekündigt wurde.
Es bahnte sich auf jeden Fall ein enormes Problem an, weil aufgrund des schlechten Wetters, es regnete und es war Starkregen angesagt, konnten die Diskussionen schlecht im Offenen geführt werden und es gab immer noch das Problem der Unterbringung. Nun wir fuhren selbst zu der Schule, wo das Treffen hätte stattfinden sollen und trafen niemanden an. Wir konnten erfahren, dass ein alternativer Ort aufgesucht werden konnte und dort das Treffen stattfinden könnte und dass man schauen würde, was alle anwesenden Individuen/Gruppen/etc. machen könnten.
Ein Treffen voller Generäle ohne Armeen
Rückblickend hatte der Freitag und die Hälfte des Samstags einen skurrilen Hauch des Filmes von Monty Python Das Leben des Brians, wir selbst waren anfangs genervt, haben uns aber sehr schnell amüsiert, die Situation selbst hat es forciert und wir lachen auch gerne.
Also kamen wir an diesem alternativen Treffpunkt an – an dieser Stelle muss gesagt werden, dass evtl. einigen der Teilnehmenden unsere Schilderung missfallen wird, sie ja sogar als absurd und/oder unnötig empfinden, dies ist uns aber egal, wir geben nichts wichtiges preis, sondern wollen mit dieser Schilderung unsere Kritik verständlicher und ausführlicher formulieren können – und trafen eine auffallende Traube an Leute die im Kreis saßen. Die Begrüßung uns entgegen wirkte eher wie ein Verhör wie von der Tscheka, wer wir denn seien und woher wir kommen würden. Die Stimmung war verständlich mies. Eine berechtigte Frage, wenn sie auch erwidert wird, aber es war offensichtlich und klar dass die Gemüter aufgeheizt waren. Uns ging es auch nicht besser, auch wir waren von der chaotischen Situation genervt.
Nach den Formalitäten näherte sich ein Mensch und erklärte uns die Lage. Niemand hatte anscheinend die Organisierenden gesehen, niemand wusste wer die Aktionswoche organisierte und alles schien sehr improvisiert. Aus der Not eine Tugend machend wollte man trotzdem ein Treffen halten und diskutieren. Wir fragten uns, ob die Organisierenden überhaupt von diesem Ort in Kenntnis gesetzt wurden und wie weitere Teilnehmende den Ort finden sollten?
Für uns war die Situation nicht nur absurd, sondern wir erhielten immer wieder sehr widersprüchliche Informationen und konnten wenig oder genau, weder überprüfen noch bestätigen, was uns gesagt wurde. Für uns war es in diesem Moment viel wichtiger herauszufinden, wie und warum die Lage so war, wie sie war, anstatt absurde internationalistische Bekundungen herauszusprechen, was der Fall war, was wir so oder so auf einem Treffen für absurd halten.
So ging das Treffen weiter, wo alle Anwesenden mit einer exakten, auf die Sekunde genauen Zeitangabe, es waren fünf Minuten, ihre Analysen für die Gründe des Krieges darstellten und wie überhaupt gegen Kriege vorgegangen werden sollte. Da wir spät angekommen waren, konnten wir nicht an der Entscheidung teilnehmen, wie, auf welche Art, das Treffen von statten gehen würde. Da waren wir also zwischen Fehlinformationen und Bekundungen gegen den Krieg etwas hin und her gerissen.
Die meisten der Aussagen waren für uns nicht nur surreal, sondern sie füllten mehr eine chaotische Situation mit leeren Kampfparolen und leeren Analysen, als dass wir genaueres miteinander ausdiskutierten.
Über die Stunden tauchten immer mehr Gruppen und Personen auf, die dieselbe chaotische Situation antrafen, bis gesagt wurde, dass die Organisierenden des Treffens bald auftauchen würden. Hassparolen gegen Tridni Valka wurden von Einzelnen ausgesprochen, Schläge gedroht, wobei es immer noch nicht klar war, ob diese Gruppen überhaupt diesen Treffen direkt vor Ort organisiert hatten.
Jetzt machte auch die Runde, dass das ganze Treffen von der Anarchistischen Buchmesse, von der Anarchistischen Föderation und weiteren NATO-Anarchistinnen und Anarchisten sabotiert und boykottiert wurde. Dort fanden auch Veranstaltungen für den Krieg von unter anderem ABC Belarus, Solidarity Collectives… statt
Dass sie Druck auf die Direktion der Schule gemacht hätten, damit das Treffen nicht stattfinden könnte. Dass das Treffen als Pro-Russisch und gewalttätig dargestellt wurde. Letzteres in Zusammenhang eines Textes, der auf der Seite des Kongresses veröffentlicht wurde, wo schon auf die Angriffe solcher Gruppen und Individuen hingewiesen wurde und dass sie die Action Week gegen solche Angriffe und Provokationen verteidigen würden.
Nun schlugen die Menschen die angekommen waren – zwischen Anschuldigungen und Anfeindungen – vor, dass für den Samstag ein Raum organisiert wurde, der zwar nicht für das ursprüngliche Treffen ausreichen würde, aber die Diskussionen könnten stattfinden. „Lügner“, „verpisst euch“, „ihr habt hier nichts mehr zu melden, das Volk hat gesprochen“ (the people have spoken) und ähnliches wurde ausgerufen. Eine Situation, die abwechselnd amüsant und pathetisch war, zumindest was das Verhalten von Anwesenden anbelangt.
Wir haben es im diesen Moment noch nicht so genau wahrgenommen, aber es war schon klar, dass in der schon chaotischen Situation Gruppen das Treffen zusätzlich zu den Angriffen von NATO-Anarchistinnen und Anarchisten von innen zu sprengen versuchten, wo andere Konflikte zwischen Gruppen in dem Moment ausgetragen wurden. Ganz voran links-kommunistischen Gruppen.
Obwohl versucht wurde das Treffen soweit wie möglich zu retten, eskalierte die Situation auf einer theatralischen Art, die man nur mit Popcorn begleiten konnte. Neben uns stand eine Frau, die sogar sagte, dass die Leute die gerade angekommen waren, wie Bullen ausschauen würden. Wir wiesen sie schnell zurecht und sagten, dass man solche Anschuldigung nicht aus dem Nichts machen sollte.
Es war klar, dass das Treffen, so wie es hätte stattfinden sollen, gescheitert war, es war nur noch eine Frage von wie kann die restliche Zeit (Samstag und Sonntag) gerettet werden. Aus unserer Sicht haben sich nur ganz wenige Personen darum gekümmert und aus einer sehr prekären Situation das unmögliche gemacht, um die Action Week stattfinden zu lassen.
Die ganze Zeit wurde immer wieder von einigen wiederholt, dass der Ort für den Samstag auch erfunden sei, es wäre wahrscheinlich eine Höhle im Wald („wie eine Art Mordor“), dass nichts geplant wäre, dass der morgige Tag eine Wiederholung des Freitags wäre. Ein Teil der Anwesenden – also die nervigen links-kommunistischen Gruppen – fing in ihrer Manier die Massen lenken zu wollen an, ein alternatives Treffen für den Samstag vorzuschlagen. Uns ging das imaginäre Popcorn langsam aus und wir erhofften eine Schlägerei, was das Ganze noch amüsanter gemacht hätte, diese blieb jedoch aus.
Wir hofften auf jeden Fall auf einen kommenden besseren Tag.
Der Samstag, die noch absurdere Fortsetzung vom Freitag
Schnell stellte sich heraus, dass der Samstag die Fortsetzung vom Freitag war. Wir sind zum Treffpunkt gegangen, wo wir dachten, dass das Treffen hätte stattfinden sollen, das am vorherigen Tag vorgeschlagen wurde. Aber wir waren im „alternativen“ Treffen gelandet,mea maxima culpa,außer der Spaziergang durch Prag, war alles für die Katz. Nach weiteren Bekundungen, nach weiteren historischen Parolen, nach weiteren Hasstiraden gegen die Organisierenden, machte sich die Traube in Richtung eines Ortes auf, im Freien, wo wir miteinander diskutieren sollten.
Wir wollten die ganze Zeit nur wissen, wo das andere Treffen war, wir wollten nur so schnell wie möglich weg. Die links-kommunistischen Gruppen hatten ihr Ziel erreicht, das ständige hin und her, die Fehlinformationen, die Gerüchte, alles hatte dazu geführt, dass die Leute nicht mehr wussten, was sie in einer Stadt machen sollten, die sie (nicht) kannten. Ab dem Moment war die Action Week definitiv gesprengt worden und zwar von außen und von innen.
Das ad absurdum erreichte dann seinen Zenit, als darüber diskutiert werden sollte, ob der jämmerliche Rest der Leute, die übrig geblieben waren, sich einig waren oder nicht, ob dies eine Art Zimmerwald Konferenz 1915 sei oder nicht. Wir warteten nur auf die Adresse für den Ort, wo die Räumlichkeiten für die Action Week sein sollten, als wir diese erhielten verpissten wir uns so schnell wie möglich. Die Lage war nicht nur so entmutigend und verwirrend, einige der Anwesenden hatten auf einmal sogar vor auf die Anarchistische Buchmesse zu gehen, die auch für diese Situation verantwortlich war. Von unserer Seite aus wiesen wir Leute darauf hin, aber da sie vom Konflikt keine Ahnung zu haben schienen und uns keinen Glauben schenkten wollten, gingen sie trotzdem hin. Es war surreal.
Freitag für’n Arsch, halber Samstag auch, aber ab dem Moment hatten wir am Ende doch die Möglichkeit das zu machen. wofür wir nach Prag gefahren sind. Die Diskussionen waren sehr interessant und wir konnten Menschen aus verschiedenen Ländern kennenlernen, mit denen wir interessante und fruchtbare Gespräche und Diskussionen führten.
Die Sabotage und Angriffe von außen
Ein Beispiel für die von uns erwähnte Konfrontation, hier aus dem Flyer, der auf der Anarchistischen Buchmesse in Prag ausgelegt wurde:
„Anti-War“ Congress, Prague 24-26 May
Anti-militarism can be different
We feel the urge to talk about the ideological difference between us, anti-militarist and „anarcho-putinists“, who are trying to be part of the international anarchist movement, but refuse to support Ukraine. There is still not enough reflection about sabotage of „anarcho-putinists“ and its consequences. This group, which emerged since the full-scale invasion, starts to be visible only today and unfortunately, has some influence on Western anarchist movement.
Adherents of „anarcho-putinism“, despite their support of refusal to participate in the war, rarely claim to be pacifists. They usually only say that the real enemy of anarchists is the capitalist class, and that workers´ fight against each other is contrary to international solidarity. They usually refer to the experience of World War I, pointing out that anarchists will never support either side of imperialist war. They are inspired by such anarchist classics as Malatesta or Nettlau, and they claim that Russian war in Ukraine is an imperialist war, and therefore anarchists should remain neutral and not support either side.
But why does „anarcho-putinists“ attempt to apply the theoretical constructs of the anarchists classis to the current conflict doesn´t make sense? Most probably, because their interpratation of theory doesn´t correspond to reality. For example, Errico Malatesta writes in „Anarchists have forgotten their principles“:
„I am not a “pacifist.” I fight, as we all do, for the triumph of peace and of fraternity amongst all human beings; but I know that a desire not to fight can only be fulfilled when neither side wants to, and that so long as men will be found who want to violate the liberties of others, it is incumbent on these others to defend themselves if they do not wish to be eternally beaten; and I also know that to attack is often the best, or the only, effective means of defending oneself. Besides, I think that the oppressed are always in a state of legitimate self-defense, and have always the right to attack the oppressors. I admit, therefore, that there are wars that are necessary, holy wars: and these are wars of liberation, such as are generally “civil wars”—i.e., revolutions.“
The supporters of „anarcho-putinism“ agree with the above, saying that the oppressed must fight against their oppressors. But they reduce oppression to economic aspect. However, to think that liberation is achieved only through economic expropiation and does not include the struggle for cultural autonomy is a primitve perception of the anarcho-syndicalist approach to selg-liberation. Anti-militarist and anarcho-syndicalist Alexei Borovoy claimed that the preservation of cultural identity does not contradict anti-militarism;
„Militarism is a product of imperialism, a peculiar outcome of bourgeois-capitalist culture. And if militarism in inconceivable outside nation boundaries, it does not mean that any awareness by people of their uniqueness and self-affirmation of their individual existence, which is the main core of anarchism itself, is always associated with the burdnes and immorality of militarism“. In other words, like most anarchists, he shared the idea that the participation of proletariat in the war, not as proletariat, but as people with their own distinctive culture is incompatible with the idea of unification and expansion, i.e. a manifestation of imperialism. Some people can defend their identity witout infringing on the identity of others. Such war is, by definition, a liberating war.
And Malatesta, in his another essay, „The War and the Anarchists“, says:
„We abhor war, which is always fratricidal and damaging, and we want a liberating social revolution; we deplore strife between peoples and champion the fight against the ruling classes. But if, by some misfortune, a clash were to erupt between one people and another, we stand with the people that are defending their independence.“
In fact, many of the anarchist classical theorists see the national liberation struggle as deserving of anarchist support. Ukranian anarchist Denis Khromyi wrote an article about it: „Vadim Damier´s Myth of Classical Anarchist Internationalism“, which thoroughly proves that the war of liberation includes not only economic revolution, but also the defense of national identity and regional autonomy, and that the main oppressor of Ukranian people at this point is not the national bourgeoisie, but the imperialist Russia, claiming for „historical lands“.
It is widely known that anarchists support cultural diversity and economic autonomy of individuals. Therefore, when we, anti-miliarists, say that we support Ukranian in a war for their independence and freedom, we don´t want to exterminate Russian peope. We want to preserve the cultural and political independence of Ukranian people, who are suffering from Russian military aggresion. And who are facing the threat of assimilation and extermination by Russian State. We collectiverly express solidarity with Ukranians not only as representatives of the oppressed economic class, but also as individuals and as representatives of regional communities with diverse linguistic and cultural traditions.
Russian aggresion can´t be stopped by frozing the frontline, as people on occupied territories will continue to face repressions based on ethnic identity. Ukranian man on occupied territories will be first to be conscripted on the next russian attempt to attack Ukraine and will be forced to fight their own people, as it happened in Donetsk and Lugansk.
When „anarcho-putinists“ attack our anti-militarism, they promote the agenda of neutrality, or more precisly, indifference to war, they call the activists, who can assist and solidaize with the oppressed people of Ukraine, for indifference and neutrality.
As anti-militarists, we will never be neutral nor indifferent.
We will continue to support Ukranian people in their fight for independence and freedom, and encourage Russian people to fight against their repressive imperialist state!“
Hier das Flugblatt
Hier die Übersetzung:
„Antikriegs“-Kongress, Prag 24-26 Mai
Antimilitarismus kann anders sein
Wir haben das Bedürfnis, über den ideologischen Unterschied zwischen uns, den Antimilitarist*innen, und den „Anarcho- Putinist*innen“ zu sprechen, die versuchen, Teil der internationalen anarchistischen Bewegung zu sein, sich aber weigern, die Ukraine zu unterstützen. Es gibt immer noch nicht genug Reflexion über die Sabotage der „Anarcho-Putinist*innen“ und ihre Folgen. Diese Gruppe, die seit der Invasion entstanden ist, wird erst heute sichtbar und hat leider einen gewissen Einfluss auf die westliche anarchistische Bewegung.
Die Anhänger des „Anarcho-Putinismus“ behaupten selten, Pazifist*innen zu sein, obwohl sie die Verweigerung der Teilnahme am Krieg unterstützen. Sie sagen meist nur, dass der wahre Feind der Anarchist*innen die Kapitalistenklasse ist und dass der Kampf der Arbeiter*innen gegeneinander der internationalen Solidarität widerspricht. Sie verweisen meist auf die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und betonen, dass Anarchist*innen niemals eine der beiden Seiten eines imperialistischen Krieges unterstützen werden. Sie lassen sich von anarchistischen Klassikern wie Malatesta oder Nettlau inspirieren und behaupten, dass der russische Krieg in der Ukraine ein imperialistischer Krieg ist und Anarchist*innen deshalb neutral bleiben und keine der beiden Seiten unterstützen sollten.
Aber warum versuchen „Anarcho-Putinist*innen“, die theoretischen Konstrukte der anarchistischen Klassiker*innen auf den aktuellen Konflikt anzuwenden, was keinen Sinn ergibt? Wahrscheinlich, weil ihre Interpretation der Theorie nicht mit der Realität übereinstimmt. Zum Beispiel schreibt Errico Malatesta in „Anarchistinnen und Anarchisten haben ihre Prinzipien vergessen“:
„Ich bin kein »Pazifist«. Ich kämpfe, wie wir alle, für den Triumph von Frieden und Brüderlichkeit unter allen Menschen; doch ich weiß, dass der Wunsch, nicht zu kämpfen, nur dann erfüllt werden kann, wenn keine Seite dies tun möchte, und dass, solange es Menschen gibt, die die Freiheiten anderer verletzen, diese anderen sich verteidigen müssen, wenn sie nicht ewig geschlagen werden wollen; und ebenso weiß ich, dass Angriff häufig die beste, oder einzige, Verteidigung ist. Außerdem denke ich, dass die Unterdrückten immer in einer Situation legitimer Selbstverteidigung sind und immer das Recht haben, die Unterdrücker anzugreifen. Ich räume deshalb ein, dass es notwendige, heilige Kriege gibt: Kriege der Befreiung, die in der Regel »Bürgerkriege«, d.h. Revolutionen sind.“
Die Anhänger des „Anarcho-Putinismus“ stimmen dem zu und sagen, dass die Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker kämpfen müssen. Aber sie reduzieren die Unterdrückung auf den ökonomischen Aspekt. Die Vorstellung, dass Befreiung nur durch ökonomische Ausbeutung erreicht wird und den Kampf für kulturelle Autonomie nicht einschließt, ist jedoch eine frühzeitliche Auffassung des anarchosyndikalistischen Ansatzes zur Selbstbefreiung. Der Antimilitarist und Anarchosyndikalist Alexei Borovoy behauptet, dass die Erhaltung der kulturellen Identität nicht im Widerspruch zum Antimilitarismus steht;
„(Der) Militarismus ist ein Produkt des Imperialismus, ein spezielles Ergebnis der bourgeois-kapitalistischen Kultur. Und wenn der Militarismus außerhalb der nationalen Grenzen undenkbar ist, bedeutet das nicht, dass das Bewusstsein der Menschen für ihre Einzigartigkeit und die Selbstbestätigung ihrer individuellen Existenz, die den Kern des Anarchismus selbst ausmachen, immer mit den Belastungen und der Unmoral des Militarismus assoziiert werden“. Mit anderen Worten: Wie die meisten Anarchist*innen teilte er die Auffassung, dass die Teilnahme des Proletariats am Krieg nicht als Proletariat, sondern als Volk mit einer eigenen, unverwechselbaren Kultur unvereinbar ist mit der Idee der Vereinheitlichung und Expansion, d.h. einer Manifestation des Imperialismus. Manche Menschen können ihre Identität verteidigen, ohne die Identität der anderen zu verletzen. Ein solcher Krieg ist per Definition ein Befreiungskrieg.
Und Malatesta sagt in einem anderen Aufsatz, „Der Krieg und die Anarchistinnen und Anarchisten“
„Wir verabscheuen den Krieg, der immer brudermörderisch und schädlich ist, und wir wollen eine befreiende soziale Revolution; wir beklagen den Zwist zwischen den Völkern und setzen uns für den Kampf gegen die herrschenden Klassen ein. Aber wenn es durch ein Unglück zu einem Zusammenstoß zwischen zwei Völkern kommt, stehen wir an der Seite der Völker, die ihre Unabhängigkeit verteidigen.„
Tatsächlich sind viele der klassischen Anarchist*innen der Meinung, dass der nationale Befreiungskampf anarchistische Unterstützung verdient. Der ukrainische Anarchist Denis Khromyi schrieb einen Artikel darüber: „Vadim Damiers Mythos des klassischen anarchistischen Internationalismus“, der gründlich belegt, dass der Befreiungskrieg nicht nur die ökonomische Revolution, sondern auch die Verteidigung der nationalen Identität und der regionalen Autonomie umfasst und dass der Hauptunterdrücker des ukrainischen Volkes zu diesem Zeitpunkt nicht die nationale Bourgeoisie, sondern das imperialistische Russland ist, das Anspruch auf „historisches Land“ erhebt.
Es ist allgemein bekannt, dass Anarchist*innen die kulturelle Vielfalt und ökonomische Autonomie des Individuums unterstützen. Wenn wir Antimilitarist*innen sagen, dass wir die Ukrainer in ihrem Krieg für ihre Unabhängigkeit und Freiheit unterstützen, wollen wir deshalb nicht die russischen Menschen ausrotten. Wir wollen die kulturelle und politische Unabhängigkeit des ukrainischen Volkes bewahren, das unter der russischen militärischen Aggression leidet. Und die von der Assimilierung und Ausrottung durch den russischen Staat bedroht sind. Wir solidarisieren uns kollektiv mit den Ukrainer*innen nicht nur als Vertreter der unterdrückten ökonomischen Klasse, sondern auch als Individuen und als Vertreter regionaler Gemeinschaften mit unterschiedlichen sprachlichen und kulturellen Traditionen.
Die russische Aggression kann nicht gestoppt werden, indem man die Frontlinie einfriert, denn die Menschen in den besetzten Gebieten werden weiterhin Repressionen aufgrund ihrer ethnischen Identität ausgesetzt sein. Die ukrainischen Menschen in den besetzten Gebieten werden beim nächsten russischen Angriffsversuch auf die Ukraine als Erste eingezogen und gezwungen sein, gegen ihre eigenen Leute zu kämpfen, wie es in Donezk und Lugansk geschehen ist.
Wenn „Anarcho-Putinist*innen“ unseren Antimilitarismus angreifen, propagieren sie die Agenda der Neutralität, oder genauer gesagt, der Gleichgültigkeit gegenüber dem Krieg, und rufen die Aktivist*innen, die den unterdrückten Menschen in der Ukraine helfen und sich mit ihnen solidarisieren können, zur Gleichgültigkeit und Neutralität auf.
Als Antimilitarist*innen werden wir niemals neutral oder gleichgültig sein.
Wir werden das ukrainische Volk weiterhin in seinem Kampf für Unabhängigkeit und Freiheit unterstützen und das russische Volk ermutigen, gegen seinen repressiven imperialistischen Staat zu kämpfen!“
(Das Flugblatt auf einem Büchertisch während der Buchmesse in Prague, unten mittig.)
Wir beschweren uns nicht über die Angriffe, Lügen und verdrehten Anschuldigungen all dieser falschen „Anarchisten und Anarchistinnen“, keineswegs, alle Menschen sollten sich ihrer dreckigen Methoden bewusst sein und diese Gruppen und Menschen lassen auch nichts aus, um ihre konterrevolutionären Ziele zu erreichen, nein, was wir eher bedauern ist, dass obwohl klar war, dass Angriffe stattfinden würden, von den Organisierenden keine ausreichenden Maßnahmen dagegen, also Absicherungen, unternommen wurden. Der Kongress stand auf wackeligen Füßen und wenig war notwendig, um ihn komplett zu sabotieren.
Eine Reflexion – unsere Kritik und wie geht es weiter
Trotz aller Angriffe von und innen und von außen kann klar gesagt werden, dass die Leute vor Ort komplett, verständlich, überfordert waren und man kann klar die Frage stellen, ob sie sich nicht nur übernommen, sondern auch die Lage aufgrund der permanenten Angriffe überschätzt haben. Wir loben ihren Elan trotz aller Widrigkeiten, komme was wolle, trotzdem versucht zu haben dieses Treffen stattfinden zu lassen, aber es war gerade aufgrund dieser permanenten Angriffe anscheinend eine Fehleinschätzung. Zu wenige Leute konnten erstens nicht nur alles nicht stemmen, sondern auch, wie wir gesehen haben, führten die Ereignisse zu einem eigentlichen nicht-stattfinden des Kongresses. Und trotzdem haben einige Gruppen alle Steine, die es zu drehen gab, gedreht damit das Treffen nicht nur am Samstag, sondern auch am Sonntag stattfinden konnte. Nicht nur der Aufwand war groß, sondern auch die Kosten waren dafür sehr groß. Das, was für eine Selbstverständlichkeit gehalten wird, aber wir wissen sehr genau, dass es nicht so ist, weil sehr wenige Gruppen und Individuen sich heutzutage so verhalten.
Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass aufgrund der Anwesenheit einiger nicht erwünschter Gruppen, unter anderem die IKT und die IKS, auch wenn alles mit den Räumlichkeiten geklappt hätte, das Treffen nicht besser gewesen wäre. Es wäre nur anders verlaufen. Wir hätten bis zum Umfallen auch über die Zimmerwald Konferenz diskutiert und ob wir nun die Erben sind oder nicht. Was uns angeht, sagen wir da klar nein.
Daher sind wir der Meinung, dass vom ersten Moment die Organisierenden ehrlicher hätten sein sollen, dass sie eben alleine nicht so viel auf die Beine stellen konnten und das, was sie auf die Beine stellten, stand auf wackeligen Füßen.
Trotz des bitteren Nachgeschmacks dieses Wochenendes sollte dies aber dazu führen, dass solche Anstrengungen um sich zu Treffen, um kollektiv Aktionen, Kämpfe und Kampagnen gegen den Frieden und den Krieg des Kapitalismus zu organisieren, um zu diskutieren, um eine Kampfgemeinschaft aufzubauen gemacht werden müssen. Denn der Versuch kollektiv und international eine Kampfgemeinschaft aufzubauen, die ein gemeinsames revolutionäres und anarchistisches Programm verteidigt und unterstützt, ist immer noch notwendig und wichtig. Das Programm der Anarchie ist klar, eine Gesellschaft frei von Klassen, Lohnarbeit, Nationen, Staaten, Grenzen, Wert, Armeen, Polizei, Knäste, Patriarchat, Rassismus, Geld, Schulen, Religionen, Kriegen, Zerstörung der Natur und anderer Spezies….
Wir freuen uns, dass wir trotz alledem da waren.
Unser allerliebster Investigativreporter Peter Nowak
Peter Nowak, der nicht nur nicht in Prag auf dem Kongress war, hatte zwei Artikel über das Treffen geschrieben, die gänzlich falsch sind. Wir verstehen nicht, wie man so was ruhigen Gewissens machen kann, er hat, ob gezielt oder nicht, falsche Informationen veröffentlicht und verbreitet, wie zum Beispiel:
„Da wären Kontakte und interessante Diskussionen sicher garantiert gewesen. Doch die Repression verhinderte das. Denn die Schulleitung kündigte die bereits im Februar 2024 angemieteten Räume für den Antikriegskongress wenige Stunden vor dem geplanten Auftakt. Nach einiger Verwirrung fanden sich dann neue Räume viele Kilometer entfernt. Manche Teilnehmer:innen wurden über den erzwungenen Ortswechsel des Kongresses zu spät informiert. Etwas erstaunlich war, dass diese massive Einschränkung des Antikriegskongresses und damit einer Veranstaltung der antiautoritären Linken auf den anarchistischen Buchtagen nicht thematisiert und verurteilt wurde. Selbst von einer Protestresolution war nichts zu hören, geschweige von anderen Aktionen.“ Gegen Staat, Kapital und Militär in Prag
Oder wie im Artikel Prager Zimmerwald Konferenz: Gedanken zur antimilitärischen Aktionswoche Gegen alle Querfronten, ob für den kapitalistischen Frieden oder den kapitalistischen Krieg es für ihn auch wichtiger ist über die Zimmerwald Konferenz zu reden.
Dazu nur ein paar Wörter für diejenigen, die es immer noch nicht verstanden haben, die Zimmerwald Konferenz 1915 war weder revolutionär noch sonst was, dort traf sich der jämmerliche Rest der II. Internationalen, der nicht den Kriegstrommeln der Ländern, die sie entweder regierten oder zu regieren anstrebten, gefolgt sind. Was die Mehrheit der Anwesenden der Konferenz damals aber wollte, war ein Friedensabkommen zwischen allen Kriegsparteien. Es wurde für den kapitalistischen Frieden plädiert. Wir wissen daher nicht, was an dieser Konferenz so aufregendes sein soll. Aber die Auseinandersetzung mit dieser wäre ein Text für sich.
Ach ja, es scheint niemandem aufgefallen zu sein, uns auch nicht, die Anarchistische Buchmesse Berlin-Kreuzberg wird exakt an denselben Tagen wie die Zimmerwald Konferenz stattfinden, nämlich vom 05. bis zum 08. September, nur halt 109 Jahre später und inhaltlich komplett antagonistisch.
Als letztes
Zuletzt, nur als Erinnerung, es ist nicht das erste Mal das „Anarchistinnen und Anarchisten“ zum Krieg aufrufen, denn schon im Ersten Weltkrieg riefen Kropotkin und weitere dazu auf gegen den Imperialismus des Deutschen Kaiserreichs zu kämpfen, obwohl sie nicht geleugnet haben, dass Frankreich, das Britische Empire oder das Russische Zarenreich imperialistische Mächte gewesen wären, wie es die „Anarcho-Militaristen“, die „NATO-Anarchisten“ usw., tun.
Daher hier ein paar Zeilen von einer Gruppe von anarchistischen Kommunistinnen und Kommunisten aus dem damaligen Russischen Zarenreich, die im Exil in der Schweiz sich dazu äußerten und die an ihrer Aussagekraft nichts verloren haben:
„Und nach all dem bezeichnen sich Kropotkin und die anderen Autoren des Manifests immer noch als Anarchisten und Antimilitaristen! Diejenigen, die das Volk zum Krieg auffordern, können weder Anarchisten noch Antimilitaristen sein.
Sie verteidigen eine Sache, die den Arbeitern fremd ist. Sie wollen die Arbeiter nicht im Namen ihrer Emanzipation an die Front schicken, sondern zum Ruhme des fortschrittlichen nationalen Kapitalismus und des Staates. Sie möchten den Geist der Anarchie zerstören und seine Überreste den Dienern des Militarismus überlassen.
Wir bleiben jedoch auf unserem Posten. Wir fordern die Arbeiter der Welt auf, ihre ärgsten Feinde anzugreifen, wer auch immer ihre Anführer sein mögen – der Kaiser von Deutschland oder der türkische Sultan, der russische Zar oder der französische Präsident. Wir wissen, dass Demokratie und Autokratie einander in nichts nachstehen, wenn es darum geht, den Willen und das Gewissen der Arbeiter zu korrumpieren. Wir machen keinen Unterschied zwischen akzeptablen und inakzeptablen Kriegen. Für uns gibt es nur eine Art von Krieg, den sozialen Krieg gegen den Kapitalismus und seine Verfechter. Und wir wiederholen unsere Slogans, die die Verfasser des schändlichen Manifests verleugnet haben: Nieder mit dem Krieg!
Nieder mit der Macht der Autorität und des Kapitals! Es lebe die Bruderschaft des freien Volkes!
Gruppe der kommunistischen Anarchisten von Genf“ (Otvet, in „Put’k Svobode“, Genf, Mai 1917, S. 10-11)
1„Misinformation has begun to appear on the internet that the bookfair will be starting on 20th of May and that it is part of some sort of Days of Action „Together Against Capitalist Wars and Capitalist Peace.“ It is not part of them and it will not be. We don’t know who wrote the text, who is organising the event, who is circulating it on the internet, we have not been contacted to participate in the event and to contribute to the text of the call. We have no confidence in this action.“
2Zwei Beispiele: https://www.afed.cz/text/7872/propadaji-anarchiste-valecne-horecce
https://www.afed.cz/text/7947/anarchiste-podporuji-pravo-ukrajiny-na-sebeurceni
3(Tridni Valka und Antimilitaristische Initiative) Was gibt es Neues im „Anarchismus“? Nationale Selbstbestimmung und die Übereinstimmung von Interessen mit dem Kapital?!
(AMI) Die Linke des Kapitals sabotiert die anarchistische Bewegung: Wehren wir uns!
]]>
Gefunden auf libcom.org, die Übersetzung ist von uns.
Krieg gegen den Anarchismus – Bill Beech
Eine Antwort auf zwei Artikel von Wayne Price die in der anarchistischen Zeitschrift Black Flag erschienen sind.
Krieg ist die Gesundheit des Staates. Er setzt automatisch in der ganzen Gesellschaft die unwiderstehlichen Kräfte der Uniformität in Bewegung, die leidenschaftlich mit der Regierung zusammenarbeiten und die Minderheitengruppen und Individuen, denen der größere Herdengeist fehlt, zum Gehorsam zwingen. Der Staatsapparat legt die drastischen Strafen fest und setzt sie durch. Die Minderheiten werden entweder durch Einschüchterung zum Schweigen gebracht oder durch subtile Überzeugungsarbeit, die sie scheinbar bekehren soll, langsam zur Vernunft gebracht. Natürlich wird das Ideal der vollkommenen Loyalität, der vollkommenen Einheitlichkeit nie wirklich erreicht. […] Im Allgemeinen erlangt die Nation in Kriegszeiten eine Einheitlichkeit der Gefühle, eine Hierarchie der Werte, die in der unbestrittenen Spitze des Staatsideals gipfelt, die unmöglich auf andere Weise als durch den Krieg erreicht werden kann. Randolph S. Bourne, Der Staat (1918)1
Die Spaltung in der anarchistischen Bewegung zwischen Antimilitarist*innen und Natopolitanischen Anarchist*innen2 hat sich seit Februar 2022 vertieft. Die Natopolitaner unterstützen weiterhin die Aufrüstung des ukrainischen Staates, die Eskalation der Feindseligkeiten, sowohl in Bezug auf die Waffen als auch auf das Ausmaß, ungeachtet der Zahl der toten Ukrainerinnen und Ukrainer, ungeachtet der Bedrohung durch einen Atomkonflikt, ungeachtet der Realität dieses Krieges und des unendlichen Leids, das der Arbeiterklasse der Ukraine zugefügt wird. Auf diese Weise führen sie Krieg gegen den Anarchismus, hier, dort und überall.3
Wären die Natopolitanischen Anarchist*innen doch nur so ehrlich gewesen wie Pjotr Kropotkin während des Ersten Weltkriegs. Er vertrat den Standpunkt, dass der deutsche Imperialismus der abscheulichste aller Imperialismen war, und deshalb stellte er sich auf die Seite des imperialen Bündnisses, um dessen Niederlage herbeizuführen. Die Position der Natopolitaner ist ein „Anarchismus“, der sogar noch degenerierter ist als der von Kropotkin, weil sie die Existenz des US-Imperialismus (und seiner EU-Klientelstaaten) bei der Provokation dieses Krieges oft nicht anerkennen, geschweige denn dessen entscheidende Rolle. Wenn sie Kropotkins Position des geringeren Übels wahrheitsgemäß vertreten wollten, würden sie den russischen Staat unterstützen, da er am Untergang des größten und tödlichsten Imperiums der Welt arbeitet.4 Das würde bedeuten, dass sie zumindest einen gesunden Antagonismus gegenüber ihrer eigenen herrschenden Klasse hegen.
Stattdessen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Natopolitanischen Anarchist*innen nichts anderes als gute Liberale sind5, die glauben, dass sie, als Russland bei seinem Einmarsch in die Ukraine das Völkerrecht brach, angesichts der Tatsache, dass keine Wiedergutmachung möglich war, zum Weltpolizisten (den USA) eilen mussten, nur dieses eine Mal, in diesem moralischsten aller Kriege, nur bis der russische Hitler zurückgeschlagen wurde. Um den Widerspruch zwischen ihrem liberalen und ihrem anarchistischen Selbst zu verbergen, haben sie seit Februar 2022 eine Reihe von Mythen verbreitet. Wayne Price ist ein typisches Beispiel für diese Sorte von Natopolitanischen Anarchist*innen. Deshalb ist es sinnvoll, einige seiner auf den Seiten von Black Flag veröffentlichten Aussagen zu untersuchen.
Das Volk
Price zitiert Malatesta (in seinen Schriften über libysche und kubanische Unabhängigkeitskämpfe), um Unterstützung für „das ukrainische Volk“ zu gewinnen, das vom russischen Staat angegriffen wird:
Welches Licht werfen Malatestas Ansichten auf den ukrainischen Krieg? Sicherlich wäre er gegen einen innerimperialistischen Krieg zwischen Russland und den USA und ihren NATO-Verbündeten – falls es jemals dazu kommen sollte – genauso wie er den Ersten Weltkrieg anprangerte. Der Krieg zwischen dem russischen Staat und dem ukrainischen Volk ist eine andere Sache. Russland ist ein imperialistischer Aggressor. Die Ukraine ist ein schwaches, armes und nicht imperialistisches Land.6
Diese Phrase überlebt den Kontakt mit der Realität nicht. In Wirklichkeit ist „das ukrainische Volk“ eine Waffe des Klassenkriegs, ein nationalistisches Projekt des ukrainischen Staates, das seit 2014 in krassen ethno-nationalistischen Begriffen gezeichnet wird. Der Maidan-Putsch leitete ein Projekt der ethnischen Entmischung ein – um Teil des ukrainischen Volkes zu sein, durfte man nicht mehrere Identitäten und Vermächtnisse haben, seien sie sowjetisch, russisch usw. Teil des ukrainischen Volkes zu sein, bedeutete auch zunehmend, dass man antirussisch sein musste, und die letzten Menschen, die gegen die Russen kämpften, waren die banderitischen Helden des Zweiten Weltkriegs, so der Mythos. Die Ukrainer (und ihre Unterstützer) sollten daher ignorieren, dass die Banderisten auch Faschisten waren, die sich eifrig an den rassistisch motivierten Genozid der Nazis beteiligten. Als der Krieg im Donbass begann und eskalierte, wurde das banderitische Erbe (in seiner weichen und harten Version) daher mit dem Projekt der ukrainischen Selbstbestimmung gleichgesetzt.7
Dieses staatliche Projekt einer ethnisch reinen Ukraine wird im Inneren durchgesetzt und ins Ausland projiziert, wobei es auf ethnische Entmischung und ethnische Säuberung setzt. Aus diesem Grund wurde der SS-Offizier Yaroslav Hunka (der im Alter von 98 Jahren friedlich seinen Lebensabend verbringt) am 22. September 2023 im kanadischen Parlament in Anwesenheit von Zelensky mit stehenden Ovationen gefeiert.8 Aus diesem Grund wurde das Asow-Bataillon (eine Organisation, die vom US-Kongress und verschiedenen EU-Staaten als „Neonazi“ geächtet wird) im Mai 2024 im britischen Parlament als „Helden“ willkommen geheißen, wo Boris Johnson für ein Foto mit ihrer Nazi-Flagge posierte.9 Ich will damit nicht sagen, dass alle Ukrainerinnen und Ukrainer Nazis sind, sondern dass die Nazis, die das ukrainische Nationalprojekt derzeit gestalten, unsere Nazis sind.
Es gibt eine perfekte Kontinuität zu den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, in denen die CIA und die NATO an der Nazifizierung der Ukraine gearbeitet haben. Zunächst durch die Abschirmung von Bandera in Westdeutschland (bis der KGB ihn ermordete) und das Schüren des bewaffneten antisowjetischen Widerstands, dann durch einen anderen Faschisten, Mykola Lebed, der in den USA festgehalten wurde. Das CIA-Projekt hieß AERODYNAMIC und wurde 1970 in QRPLUMB/QRDYNAMIC10 umbenannt. Es lief bis 1991, als die Ukraine offiziell von der NATO für die Integration in das Militärbündnis angesprochen wurde.11 Für dieses Projekt, ein reines ukrainisches Volk aufzubauen (zu entmischen), musste man ignorieren, dass der antirussische Präsident Poroschenko zu Hause Russisch sprach und dass Zelensky Ukrainisch lernen musste, um sich an die Nation zu wenden (was zu peinlichen Fauxpas führte, während er die Sprache im Dienst lernte). Der derzeitige Oberbefehlshaber der Ukraine, Syrsky, ist ein ethnischer Russe, der in Russland geboren wurde und dessen Eltern und Bruder in Russland leben. Alle drei Männer haben sich im Dienste des ukrainischen Staates ethnisch entmischt. Seit 2019 sind Russisch, Belarussisch und Jiddisch aus dem öffentlichen Leben verbannt.12 19 Millionen Bücher in russischer Sprache wurden aus den Bibliotheken entfernt13 – das Ziel ist, 100 Millionen davon zu vernichten.14
Es sollte klar sein, dass es kein reinrassiges faschistisches ukrainisches Volk gibt, sondern dass es sich um ein staatliches Projekt zur Zerstörung einer Vielzahl von heterogenen Traditionen und Völkern handelt. Wenn Anarchist*innen den Mythos von einem ukrainischen Volk unterstützen, unterstützen sie dieses ethno-nationalistische und faschistische Projekt. Sie schwächen jede lokale Initiative, die sich dagegen wehrt. In den NATO-Ländern schwächen sie antimilitaristische Initiativen, stärken den Einfluss des Staates darauf, dass die Wahrheit über den Krieg gesagt wird, und unterstützen den Staat bei der Kriminalisierung von Andersdenkenden.
Der andere Sinn des Begriffs „ukrainisches Volk“ ist der einer einheitlichen Bevölkerung ohne Klassen- oder regionale Unterschiede. Selbst im Jahr 2022 war dieser Mythos offensichtlich, aber jetzt, im dritten Jahr des Krieges, können die Brüche in der ukrainischen Gesellschaft nicht ignoriert werden. Schätzungsweise 6,4 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer sind aus dem Land geflohen, darunter schätzungsweise 650.000 Männer im kampffähigen Alter.15 Die verbleibenden Männer entziehen sich weiterhin in großer Zahl der Wehrpflicht. Von staatlichen Banden auf den Straßen gejagt, kauern sie sich in den Häusern zusammen. Auf der Flucht ertrinken sie bei dem Versuch, die Theiß auf dem Weg nach Rumänien zu überqueren.16 Die Korruption bei der Wehrpflicht war so weit verbreitet und ein so bekannter Skandal, dass der ukrainische Staat gezwungen war, alle Rekrutierungschefs im Jahr 2023 zu entlassen.17 Dies offenbart den Klassenkampf innerhalb der mythischen Einheit des ukrainischen Volkes. Es ist immer die Arbeiter*innenklasse, die in den Krieg der herrschenden Klasse geschickt wird. Deshalb bleibt die herrschende Klasse in Kiew und im Ausland unantastbar, während sich die Mittelklasse von der Wehrpflicht freikauft. Hör dir die Worte der ukrainischen Anarchist*innen von Assembly in Charkow im August 2022 an:
(W)ir sollten verstehen, dass die nationale Einheit der Ukrainer um Zelenskys Macht nur auf der Angst vor einer äußeren Bedrohung beruht.18
Und das sagten sie auch in einem Interview im Februar 2024:
Assembly ist ein Online-Newsletter, und wenn wir den Deserteuren in irgendeiner Weise helfen können, dann nur, indem wir ihnen eine politische Rechtfertigung für ihre Taten geben, so dass sie nicht unter Gewissensbissen leiden, sondern stolz darauf sind, dass sie sich weigern zu wählen, entweder Vladolf Putler oder François Zevalier zu dienen, Personifikationen der dunkelsten Reaktion, die im heutigen Europa nur möglich ist, der Weigerung, zwischen der kolonialen Besatzungsexpedition und der Verteidigung dessen zu wählen, was sich die ukrainische herrschende Klasse seit 1991 angeeignet hat.19
Wie hohl klingen im Gegensatz dazu die Worte von Wayne Price:
Es stimmt, dass das ukrainische Volk keine Anarchist*innen oder Sozialist*innen sind; sie akzeptieren ihren Staat und den Kapitalismus. Heißt das, dass Anarchist*innen sie bestrafen sollten, indem sie sich weigern, sie zu verteidigen, wenn sie von einem starken Feind angegriffen werden, der ihr Volk massakriert und ihre Städte zerstört?20
Die Position von Assembly ist anarchistisch, die von Price stinkt nach dem gönnerhaften und bekehrenden Eifer des liberalen Imperialismus, der sich hinter dem Mythos der nationalen Selbstbestimmung verbirgt. Um diesen Mythos aufrechtzuerhalten, muss Price auch den Mythos einer Volksarmee aufrechterhalten.
Die Volksarmee
Zwei Tage nach der russischen Invasion zeigte uns die BBC, wie ukrainische Frauen Molotowcocktails herstellen.21 Diese Inszenierung war offenbar für so leichtgläubige Menschen wie Wayne Price gedacht. Zu dieser Zeit war die ukrainische Armee die größte NATO-Vertretung, die je zusammengestellt, ausgebildet und ausgerüstet wurde. Ihr Erfolg im Feld hing nicht vom Guerillakrieg ab, wie in den darauffolgenden Monaten überdeutlich geworden ist.
Kurz darauf entstand der Natopolitanische Anarchismus, eine weitere Erscheinungsform der NAFO.22 Mit der Gewinnung eines großen Teils der westlichen anarchistischen Bewegungen und Szenen war dies ein Sieg für das militaristische Projekt. Ein gutes Beispiel dafür ist die folkloristische Wohlfühlgruppe „Good Night Imperial Pride“ (Gute Nacht, Imperialer Stolz), die per Crowdfunding Scharfschützen, Drohnen usw. für sogenannte „anarchistischen Kämpfer*innen“ finanziert, die in die ukrainische Armee integriert werden. GNIP ist im Internet populär, wird von anarchistischen Gruppen unterstützt und hatte sogar einen Stand auf der Londoner Anarchist Bookfair 2023.23 Nur jemand, der von Tugendhaftigkeit völlig verwirrt ist, kann glauben, dass seine Crowdfunding-Spende für die „ukrainische anarchistische Sache“ das Zünglein an der Waage sein wird, wenn alle staatlichen Ökonomien der NATO-Länder Geld und Material in einem bisher nicht gekannten Ausmaß schicken.24 Die unglücklichen Anarchist*innen, die von der NAFO-Psyche überrumpelt wurden, endeten tot in den Fleischwölfen von Bakhmut und Avdeevka, Höllenkreisen, die der ukrainischen Arbeiterklasse vom ukrainischen Staat aufgezwungen wurden. Für sie war die NAFO die Hauptlinie zur FAFO. Sie hatten etwas Besseres verdient als Ältere wie die Natopolitanischen Anarchist*innen, die sie in die Irre führten.
Wayne Price plappert die Wortführer des Weißen Hauses nach, wenn er schreibt:
Russland führt keinen Stellvertreterkrieg, sondern führt eine direkte Aggression. Auch die Ukrainer führen keinen Stellvertreterkrieg. Sie sind es, die ihr Blut vergießen und direkt gegen die Eindringlinge in ihrem Land kämpfen. Was auch immer die USA an Rüstungsgütern bezahlen, die Ukrainer bezahlen es mit ihrem Leben. Was auch immer die Motive der USA und ihrer NATO-Verbündeten sein mögen und was auch immer die Motivation des ukrainischen Staates ist, die Menschen haben ein eigenes Interesse daran, die Besatzer und Massenmörder zu vertreiben. Dass sie Waffen von den westlichen Regierungen annehmen, bedeutet wenig – sie brauchen Waffen und woher sollen sie sie sonst bekommen?25
Als ob es sich hier um ein Gerangel um ein paar Kugeln in letzter Minute handeln würde, als ob die NATO nicht schon seit 1991 an der Ausbildung und Versorgung der ukrainischen Armee beteiligt wäre.26 Als ob die Ukraine nicht schon vorher einen wichtigen Beitrag zu den NATO-Einsätzen geleistet hätte, insbesondere im Irak, in Afghanistan und im Kosovo, wie George Bush 2008 betonte, als er sich für einen NATO-Beitritt der Ukraine aussprach.27 Als ob die CIA nach dem Putsch auf dem Maidan nicht 12 geheime Stützpunkte gegenüber Russlands eingerichtet hätte.28 Als ob das Streben nach einer NATO-Mitgliedschaft nicht 2019 in die ukrainische Verfassung aufgenommen und damit die ukrainische Neutralität aufgehoben worden wäre.29 Als ob NATO-Generäle nicht direkt in die Auswahl russischer Ziele involviert wären.30 Als ob all dies die Ukraine nicht de facto zu einem NATO-Mitglied machen würde, wenn nicht sogar de jure. Ein hartnäckiger Mythos des natopolitanischen Anarchismus ist, dass jeder, der auf die Fingerabdrücke des US-Imperialismus hinweist, die „ukrainische Handlungsfähigkeit“ leugnet. Als ob sich der Welthegemon mit seinen fast 800 Militärstützpunkten auf der ganzen Welt einen Dreck um die nationale Souveränität scheren würde, selbst um die seiner sogenannten Verbündeten (weshalb er Deutschland durch die Sprengung der Nord-Stream-Pipelines gewaltsam von Russland abgekoppelt hat).31 Um die Wahrheit dieses von den USA geschürten Konflikts zu verschleiern, halten die natopolitanischen Anarchist*innen den Mythos der ukrainischen Handlungsfähigkeit und des Volkswiderstands aufrecht.
Die Realität des Krieges ist die Einberufung und die Einberufung ist Sklaverei. Sie wird durch Nationalismus und Patriotismus gestützt (beide nähren sich parasitär von einem echten Bedürfnis nach Selbstbestimmung), die Waffen gegen die Arbeiterklasse sind. Hier noch einmal einige Worte der Gruppe Assembly über die Realität der Wehrdienstverweigerung in der Ukraine:
[Charkow ist ein] Gefängnis, in dem um 21 Uhr das Licht ausgeht, grob gesagt. Wenn im Jahr 2020 laut dem damaligen Bürgermeister Kernes das Durchschnittsalter in Charkow bei 35 Jahren lag, gab es zu Beginn des Krieges hauptsächlich Rentner, und jetzt liegt das Durchschnittsalter der Bevölkerung bei etwa 50 Jahren. Das ist allerdings nur ein optischer Eindruck von öffentlichen Plätzen, denn Männer im wehrpflichtigen Alter (in der Ukraine liegt es zwischen 18 und 60 Jahren, und für die meisten von ihnen ist das Verlassen des Landes verboten) trauen sich oft nicht aus dem Haus und versuchen, sich nur mit dem Auto durch die Straßen zu bewegen. Depressionen, Alkoholismus und völlige Traurigkeit. Das Schiff liegt schon lange auf dem Grund, aber die Passagiere haben sich in ihren Kabinen eingeschlossen und denken, dass es genug Luft gibt, bis sie jemand rettet…32
Wenn das Durchschnittsalter auf der Straße in Charkow 50 Jahre beträgt, liegt das Durchschnittsalter an der Front im Februar 2024 bei 43 Jahren.33 Das liegt daran, dass die jungen Männer tot sind, sich verstecken oder geflohen sind. Und Zelensky lügt, wenn er sagt, dass die Zahl der Toten 31.000 beträgt.34 Das Ausmaß dieser Lüge ist ungeheuerlich. Die wirklichen Zahlen werden sorgfältig gehütet, aber die Zahl der Opfer liegt wahrscheinlich näher bei 500.000, wie der ehemalige Leiter des ukrainischen Innenministeriums Jurij Luzenko vor kurzem sagte.35 Nachdem ich die Frontlinie täglich verfolgt habe, glaube ich, dass die Zahl der Toten nahe bei einer halben Million liegt und dass es ebenso viele oder mehr Schwerverletzte gibt. Die Ukrainer wissen, dass diese Wehrpflichtigen durch Selbstmorddrohnen oder Drohnengranaten, die vom Himmel fielen, in Minenfeldern, unter „Flammenwerfer“-Thermobomben, unter weißem Phosphor, unter Streubomben, unter FAB-Gleitbomben mit einer Sprengkraft von 500 bis 1500 kg, unter Artilleriebeschuss und Marschflugkörpern, in Panzerschlachten, unter Hubschrauberraketen, in Gewehrschlachten, unter Granatenbeschuss, Scharfschützenbeschuss gestorben sind usw. usw. Der Boden ist so vernarbt, dass er wie die Oberfläche des Mondes aussieht, die Dörfer und Städte sind leere Betonhüllen, die Wälder sind zu Asche verbrannt. Natopolitanische Anarchist*innen sprechen nie über die Frontlinie. Über Videos von eingezogenen Ukrainern, die unter FPV-Drohnen um ihr Leben betteln oder mit abgesprengten Beinen durch den Schlamm kriechen. Bestenfalls posten sie einen Link zu jenem glamourösen und schaurigen Fotoshooting, das der ukrainische Staat organisiert hat und bei dem amputierte Veteranen in Abendkleidern mit einem Pornostar posieren mussten.36
Anstatt einer selbstorganisierten Volksarmee ist Zelenskys Vision für die Ukraine die eines vollständig militarisierten Staates mit Garnisonen, wie Israel. Sein Plan für das Land nach dem Krieg lautet folgendermaßen:
Wir werden definitiv ein „großes Israel“ mit eigenem Gesicht werden. Es wird uns nicht überraschen, dass wir in allen Einrichtungen, Supermärkten und Kinos Vertreter der Streitkräfte oder der Nationalgarde haben werden, es wird Menschen mit Waffen geben. Ich bin mir sicher, dass die Sicherheitsfrage in den nächsten zehn Jahren an erster Stelle stehen wird.37
Anstatt seine Bevölkerung zu unterstützen, führt der ukrainische Staat einen Klassenkrieg, indem er neoliberale Schockreformen durchführt, die vom Kredithai namens IWF gesteuert werden. In einem Artikel von Open Democracy heißt es dazu:
Anstatt sich darauf zu konzentrieren, die Ökonomie an die Bedürfnisse des Krieges anzupassen, haben die ukrainischen Behörden ein umfangreiches Privatisierungsprogramm gestartet. Unter Ausnutzung des Kriegsrechts und der Demonstrationsbeschränkungen hat die Regierung außerdem das Arbeitsrecht abgeschafft und eine Reihe anderer unpopulärer Maßnahmen durchgesetzt.38
Während natopolitanische Anarchist*innen wie Wayne Price uns auffordern, uns hinter das ukrainische Volk (das eine Fiktion ist) und den ukrainischen Staat zu stellen (nur bis er die Russen besiegt hat), führt der ukrainische Staat einen Klassenkrieg.
Es selbstvertretend halten
Und obwohl es keinen Zweifel daran gibt, dass die Ukrainer*innen inmitten der Hölle von Bürgerkrieg, Invasion und Klassenkrieg um ihr Überleben kämpfen, ist auch klar, dass die USA ihre Hegemonie nur aufrechterhalten können, wenn sie ihre Klientenstaaten unterstützen. Deshalb hat der US-Kongress im April 2024 nach monatelangen Verzögerungen und politischem Gezänk 95 Milliarden Dollar für die Unterstützung ihrer Klientenstaaten bewilligt: Ukraine, Israel und Taiwan.39 Ein großer Teil dieser Mittel sind Kredite oder Schmiergelder für die US-Rüstungsindustrie im eigenen Land. Ein erheblicher Teil davon ist jedoch für die Ukraine bestimmt, um Russland zu schwächen und wenn möglich zu zerstückeln.40 Wie im US-Senat wiederholt festgestellt wurde:
Die Vereinigten Staaten unterstützen die Ukraine und ihr Volk, damit sie dort gegen Russland kämpfen können und wir hier nicht gegen Russland kämpfen müssen.41
Dies (zusammen mit dem Überblick über die Eroberung des ukrainischen Staates durch die NATO, den ich oben gegeben habe) wäre ein ebenso prägnanter Ausdruck der Politik, der finanziellen Unterstützung und der Strategie zur Unterstützung der Ukraine als Stellvertretermacht. Aber das reicht den natopolitanischen Anarchist*innen nicht aus, die die US-Staatslinie nachplappern, wonach sie ein schwaches Land im Kampf gegen die unkontrollierte russische Aggression unterstützen, die ungehindert durch Polen und das Baltikum marschieren wird. Das Argument wird immer von den US-Interessen und den Manövern des ukrainischen Staates weg auf das zeitlich (eine Invasion, die im Februar 2022 begann) und räumlich (die Ukraine ist ein kleines, souveränes Land) begrenzte Bild verschoben. Obwohl Wayne Price behauptet, dass der Krieg zwischen Vietnam und den USA ein Spiegelbild des Krieges zwischen der Ukraine und Russland ist, protestiert er lautstark dagegen, dass es sich auch hier um einen Stellvertreterkrieg handelt. Stattdessen stellt er lehrbuchmäßige Bedingungen auf, wie ein innerimperialistischer Konflikt aussehen würde:
Diese Analyse würde sich unter anderen Umständen ändern. Es wäre vor allem ein Krieg zwischen imperialistischen Seiten, wenn zum Beispiel die USA ihre Armee in die Ukraine schicken würden, um die Russen zu bekämpfen, oder wenn Raketen zwischen Russland und den NATO-Ländern hin- und hergeschickt würden. Dann sollten beide Seiten dagegen sein, denn das Hauptthema wäre der Krieg zwischen imperialistischen Mächten. Aber das ist nicht passiert.42
Der Grund dafür, dass ein direkter Austausch von Atomwaffen von beiden Lagern vermieden werden soll und weder während noch nach dem Kalten Krieg stattgefunden hat, ist die Existenz von jeweils beträchtlichen Atomwaffenarsenalen. Aus diesem Grund waren Stellvertreterkriege (Korea, Vietnam, Kongo, Nicaragua, Afghanistan usw.) zwischen den USA und der UdSSR in der Vergangenheit das Mittel der Wahl, um die andere Seite zu schwächen.43 Wer das nicht versteht, missversteht das Wesen der Weltordnung insgesamt. Es ist sicherlich der Schlüssel zum Verständnis des Krieges in der Ukraine, seines Verlaufs und seines möglichen Endes.
Die Gefahr einer nuklearen Eskalation ist der Grund dafür, dass die NATO alles tut, um zu eskalieren und gleichzeitig ihre Spuren zu verwischen (indem sie ihre Truppen „abzieht“, die Bestreitbarkeit von Zielen und Überwachung aufrechterhält und die Verantwortung bei den Ukrainern belässt), während Russland alles tut, um die ukrainische Armee zu vernichten, anstatt Territorium zu erobern. Es ist ein gefährliches Spiel, das durch die hohen Einsätze für alle drei Staaten noch unberechenbarer wird: Russlands mögliche Niederlage (die es als existenzielle Bedrohung ansieht, was den Einsatz von Atomwaffen wahrscheinlicher macht), der entflammte Ethno-Nationalismus, der den Kern des ukrainischen Nationalprojekts ausmacht und zum Verlust der Krim und des Donbass geführt hat (mit der laufenden Strategie, den Konflikt auf Russland auszuweiten und die NATO direkt auf den Kriegsschauplatz zu ziehen), und die schwindende und zunehmend verzweifelte globale Hegemonie der USA im Zuge des so genannten Übergangs zur Multipolarität.
Welche Rolle für Anarchist*innen?
Im April 2022 sagte Noam Chomsky auf die Frage nach Empfehlungen an die Linke und die Progressiven in den USA zum Krieg in der Ukraine:
Zuallererst sollten wir als Linke gegen jeglichen Imperialismus sein, sollten gegen den Sturz von Regierungen, gegen Aggression und Gewalt sein. Und als Menschen, die vernünftig und moralisch sind, sollten wir unsere Aufmerksamkeit, Energie und unseren Aktivismus auf das konzentrieren, was wir tun können. Das sind in erster Linie die Aktionen unserer eigenen Regierung, die zufällig der Anführer in der Welt ist. Sie ist mit Abstand Weltmeister in der Ablehnung von Souveränität, in Aggression, Gewalt und Einmischung, in Terrorismus und so weiter. Wir sollten uns dagegen wehren, dass Russland unsere Aktionen nachahmt. Was können wir dagegen tun? Nun, ich denke, das ist ganz klar. Es gibt zwei Optionen.[…] Die eine Option ist die, die wir annehmen. Wir kämpfen bis zum letzten Ukrainer […] und sorgen dafür, dass […] Putin und seine Kreise mit dem Rücken zur Wand stehen, keinen Ausweg mehr haben und somit die grundsätzliche Option haben, die Ukraine zu zerstören und auf einen globalen Krieg zuzusteuern.[…]
Es gibt eine andere Option. Die Politik aufgeben, unsere offizielle Politik […] Einen Status für die Ukraine akzeptieren, der Mexiko, Österreich und Finnland seit Jahrzehnten ähnelt […] Die Drohungen gegenüber Russland zurücknehmen […] Eine Art Minsk-II-Vereinbarung für ein hohes Maß an Autonomie für die östliche Region anstreben, vielleicht im Rahmen einer föderalen Regelung. Erkenne die Realität an, dass die Krim, ob es dir gefällt oder nicht, vom Tisch ist, sie ist jetzt keine Verhandlungsoption mehr. Das ist hässlich, aber die Alternative ist, dass wir weiter versuchen, die Ukraine zu zerstören und auf einen internationalen Krieg zusteuern. Das sind die Alternativen. Die Welt ist kein schöner Ort. Du hast nicht die Wahl, Martin Luther King an die Spitze jeder Regierung zu wählen.44
Die Situation ist jetzt viel schlimmer, die Zahl der Todesopfer ist höher und die Gefahr, dass die Ukraine aufhört zu existieren und ein größerer Konflikt ausbricht, wächst täglich.45 Die grundlegenden Fakten bleiben jedoch dieselben. Man muss nicht mit dem völlig umsetzbaren Pragmatismus von Chomsky einverstanden sein, um zu sehen, dass er zu Recht von der Auseinandersetzung mit der Rolle des (imperialen) Staates ausgeht. Das ist etwas, wovor die natopolitanischen Anarchist*innen Anarchisten zurückschrecken. Wayne Price greift zum Beispiel den an die US-Regierung gerichteten Slogan „Out Now!“ aus der Zeit des Vietnamkriegs auf und deklamiert in einem Anfall von Inspiration:
Natürlich wird es Gespräche geben, aber die zentrale Frage bleibt: Das russische Militär muss die Ukraine verlassen, die ganze Ukraine, jeden Quadratzentimeter. „Raus jetzt!“46
Ich kann ihm versichern, dass die Russen nicht zuhören. Indem er sich auf die Seite des US-Staates schlägt, wird Price zu dessen Handlanger in der anarchistischen Bewegung. Die Ironie ist ihm nicht entgangen: Wo er sich früher gegen die Aktionen seiner Regierung gestellt hat, feuert er sie jetzt an. Ihm zur Seite stehen „linke“ Koryphäen wie Slavoj Žižek und Paul Mason, allesamt eifrige Handlanger. Sich hinter die herrschende Klasse und ihren Stellvertreterkrieg zu stellen, hat eine abschreckende Wirkung auf die Bewegung, denn die natopolitanischen Anarchist*innen löschen, verfolgen und unterdrücken die Stimmen der Antimilitarist*innen. Die Kriegstrommel weiter zu schlagen und das Mantra zu wiederholen, dass die Ukraine gewinnen kann und muss, dient als Rettungsanker für den schwindenden westlichen imperialen Kern und verringert den ohnehin schon geringen Handlungsspielraum für Anarchist*innen in der Ukraine und den NATO-Ländern.47
Stattdessen sollten wir das Anti-Kriegs-Manifest aus dem Jahr 1915 entstauben, das unter anderem von Emma Goldman, Errico Malatesta und Alexander Berkman unterzeichnet wurde. Es enthält grundlegende Wahrheiten für den Widerstand gegen den Militarismus, die herrschende Klasse und den innerimperialistischen Konflikt. Und eine Warnung für den kommenden Krieg, wenn das US-Imperium China ins Visier nimmt:
Es gab und gibt keinen Zweifel daran – und die heutigen schrecklichen Ereignisse bestärken diese Zuversicht -, dass der Krieg permanent in der bestehenden Gesellschaft brütet und dass bewaffnete Konflikte, seien sie spezifisch oder allgemein, in den Kolonien oder in Europa, die natürliche Folge und das notwendige, unausweichliche Schicksal eines Regimes sind, das auf der ökonomischen Ungleichheit seiner Staatsbürger*innen beruht, sich auf den ungezügelten Kampf der Interessen verlässt und die Welt der Arbeit unter die enge, schmerzhafte Aufsicht einer Minderheit von Parasiten stellt, die sowohl die politische Macht als auch die wirtschaftliche Macht innehaben.48
Es wäre einfach, die Form einer antimilitaristischen Anstrengung innerhalb der NATO-Länder zu skizzieren. Sie in die Praxis umzusetzen, ist eine größere Aufgabe, aber sie wartet auf uns:
– Lasst uns den Imperialismus und Militarismus unserer Staaten in Frage stellen und die Möglichkeiten für andere erhöhen, dies zu tun. Nein zum Nationalismus. Nein zu einer Rückkehr zur Wehrpflicht, nein zur Wehrpflicht. Keine Unterstützung für die USA in ihrer kriegerischen Politik über Israel (gegenüber dem Nahen Osten), die Ukraine (gegenüber Russland) und Taiwan (gegenüber China). Untergraben wir die Unterstützung für die Kriege der herrschenden Klasse.
– Lasst uns die Existenz der NATO (und die Militarisierung der EU) untergraben, indem wir die Wahrheit über ihre Kriege sagen. Nein zu NATO-Stützpunkten, nein zu US-Raketen in unserer Nachbarschaft, nein zu Atomwaffen. Nein zu Waffenfabriken in unseren Städten, nein zu Waffenverkäufen – lasst uns den militärisch-industriellen Komplex, seine Profitabilität und seinen Einfluss auf den Staat in Frage stellen.
– Unterstützen wir alle organisierten und unorganisierten ukrainischen Gruppen, die sich gegen banderistischen Nationalismus und ethnische Entmischung, gegen Raubtierkapitalisten (westliche oder einheimische) und gegen die Wehrpflicht wehren.
– Unterstützen wir den Widerstand gegen den russischen Nationalismus und stellen wir uns gegen verschiedene Neostalinisten, die in Russland eine antifaschistische und antiimperialistische Kraft sehen. Moskau und Washington sind zwei Seiten derselben Münze.
– Lasst uns die internationalen Verbindungen über die Konfliktlinien hinweg aufrechterhalten und ausbauen, zwischen Russland, der Ukraine und den NATO-Ländern, unter Einbeziehung der jüngsten russischen und ukrainischen Emigranten.
– Lasst uns die Traditionen des Antimilitarismus wiederentdecken und eine neue Kultur des Antimilitarismus fördern, wo immer wir sind.
1https://www.humanities.mcmaster.ca/~peace_health/courses/PtHCourse/Bourne-1918.htm
2„Der heute nicht mehr gebräuchliche Begriff ‚Natopolitaner‘ wurde Ende der 1970er Jahre von dem britischen marxistischen Historiker EP Thompson geprägt. Er bezog sich nicht nur auf die NATO selbst, sondern auch (in einer späteren Glosse von Edward Said) auf ‚eine Mentalität, deren Netz sich über viel mehr Aktivitäten und Gedanken erstreckte‘.“ Gabriel Carlyle, Rezension des Buches „Natopolitanism“, Peace News, Dev 2023 https://peacenews.info/node/10810/grey-anderson-ed-natopolitanism-atlantic-alliance-cold-war
3Das ist in den NATO-Ländern während des NATO-Angriffs auf Serbien, Libyen oder Afghanistan nie wirklich passiert. Es ist ein Zeichen für die gegenwärtige Entartung der westlichen Anarchist*innen.
4Professor Galtung behauptet, dass das US-Imperium seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zwischen 13 und 20 Millionen Menschen in 37 Ländern getötet oder deren Tötung unterstützt hat (https://dailypost.ng/2017/02/06/exclusive-us-killed-13-million-people-since-end-world-war-ii-prof-galtung/) Das Projekt „Costs of War“ der Brown University schätzt: 3,6-3,8 Millionen indirekte Todesopfer in den Kriegsgebieten nach dem 11. September, darunter Afghanistan, Pakistan, Irak, Syrien und Jemen. Die Gesamtzahl der Todesopfer in diesen Kriegsgebieten könnte sich auf mindestens 4,5-4,7 Millionen belaufen, wobei die genaue Zahl der Todesopfer unbekannt bleibt.“ (https://watson.brown.edu/costsofwar/papers/2023/IndirectDeaths)
5Heutzutage ein guter Liberaler zu sein, bedeutet, dass du ein Fahnenschwenker für den Woke Imperialism (Kreuzzug der liberalen Hegemonie) bist, der seinen Willen durch geschlechtsneutrale Bomben durchsetzt. Viele haben darüber geschrieben und gesprochen, hier ist nur ein Beispiel: https://peacediplomacy.org/2022/06/27/woke-imperium-the-coming-confluence-between-social-justice-and-neoconservatism/
6‘Malatesta on War and National Self-Determination: Lessons for Anarchists Considering the Ukrainian War’ by Wayne Price, Black Flag, Vol. 2, No. 2, Summer 2022
7Wer den Einfluss des Banderismus auf den ukrainischen Staat bezweifelt, sollte wissen, dass Valerii Zaluzhnyi während der Kriegsjahre als Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte nicht nur ein, sondern gleich zwei Porträts von Stepan Bandera an der Wand seines Büros hängen hatte. Und wer denkt, dass es sich hier nur um einen „faulen Apfel“ handelt, sollte sich fragen, wie lange es ein britischer General aushalten würde, wenn er zwei Porträts von Oswald Mosley in seinem Büro aufhängen würde? Weniger als eine Woche. Denn der Faschismus ist eine besiegte Ideologie. Es ist eine der größten ukrainischen Tragödien, dass der Banderismus den ukrainischen Staat so stark vereinnahmt hat, aber das ist keineswegs einzigartig, wie das Wiederaufleben der nazistischen/faschistischen Rehabilitierung in den baltischen Staaten zeigt. Wie in der Ukraine ist der Hauptmotor dieses Prozesses ein unbändiger Hass auf Russland (und nicht der rationale Wunsch, sich von Russland abzuwenden).
8https://www.cbc.ca/news/canada/yaroslav-hunka-canada-nazi-germany-faq-1.6981437
9https://mossrobeson.medium.com/azov-brigade-invades-london-greeted-as-liberators-5facc63517b0
10https://www.telesurenglish.net/news/US-Tried-to-Impose-Nazi-Leader-on-Ukraine-in-WWII-CIA-Leak–20160523-0003.html
11https://www.nato.int/cps/en/natohq/topics_37750.htm
12https://www.venice.coe.int/webforms/documents/?pdf=CDL-AD(2019)032-d
13https://www.newsweek.com/fact-check-has-ukraine-banned-19-million-russian-books-its-libraries-1779446
14https://imi.org.ua/en/news/more-than-100-million-propaganda-books-to-be-withdrawn-from-libraries-book-institute-director-i4573
15https://www.politico.eu/article/ukraine-a-struggle-for-the-ages/
16https://www.bbc.co.uk/news/world-europe-67120904
17https://www.reuters.com/world/europe/ukraines-top-general-criticizes-presidents-firing-recruitment-chiefs-media-2023-12-18/
18https://antimilitarismus.noblogs.org/files/2024/04/INTERVIEW-WITH-THE-UKRAINIAN-ANARCHIST-GROUP-ASSEMBLY_FINAL.pdf
19https://antimilitarismus.noblogs.org/files/2024/04/INTERVIEW-WITH-THE-UKRAINIAN-ANARCHIST-GROUP-ASSEMBLY_FINAL.pdf Lies das ganze Interview, um ein Gefühl für die Paranoia und den Stress zu bekommen, die damit verbunden sind, während einer Invasion deines Landes durch eine weit überlegene feindliche Armee den Wehrdienst zu verweigern.
20‘Malatesta on War and National Self-Determination: Lessons for Anarchists Considering the Ukrainian War’ by Wayne Price, Black Flag, Vol. 2, No. 2, Summer 2022
21https://www.bbc.co.uk/news/av/world-europe-60540341
22North Atlantic Fella Organisation ist eine von der NATO geleitete Mobilisierung von Staatsbürgern in den sozialen Medien, die sich am Propagandakrieg gegen Russland beteiligt und die Mythen, Desinformationen und Argumente der NATO unterstützt und verbreitet https://en.wikipedia.org/wiki/NAFO_(Gruppe)
23https://anarchistbookfair.london/stall/good-night-imperial-pride/
24Dies zeigt, dass aufgrund der endemischen Korruption die verschiedenen Einheiten der Armee Zugang zu unterschiedlichen Vorräten haben und es oft vom Geld und den politischen Verbindungen abhängt, was deine Einheit im Einsatz hat. Im Zweifelsfall haben die Banderiten die gesamte Ausrüstung, die sie brauchen.
25‚Lessons for Anarchists About the Ukraine War from Past Revolutions‘, Wayne Price, Black Flag, Vol. 3, No. 1, Spring 2023
26Lies noch einmal die Zeitleiste auf der NATO-Website: https://www.nato.int/cps/en/natohq/topics_37750.htm
27http://edition.cnn.com/2008/POLITICS/04/01/bush.nato/index.html
28https://www.pravda.com.ua/eng/news/2024/02/25/7443679/
29„WAR IN UKRAINE – Making Sense of A Senseless Conflict“, Medea Benjamin und Nicolas J.S. Davies, OR Books, 2022, S. 112
30https://www.politico.eu/article/germany-taurus-missiles-ukraine-war-russia-leaked-audio/
31https://seymourhersh.substack.com/p/how-america-took-out-the-nord-stream
32https://antimilitarismus.noblogs.org/files/2024/04/INTERVIEW-WITH-THE-UKRAINIAN-ANARCHIST-GROUP-ASSEMBLY_FINAL.pdf ab Februar 2024
33https://www.politico.eu/article/ukraine-a-struggle-for-the-ages/
34https://www.bbc.co.uk/news/world-europe-68397525
35https://www.eurasiantimes.com/it-will-be-a-shock-ukraine-lost-500000-soldiers-in-war/
36https://nypost.com/2024/03/18/world-news/ukrainian-porn-star-josephine-jackson-poses-with-soldiers-who-lost-limbs/
37https://www.president.gov.ua/en/news/dlya-ukrayinskoyi-derzhavi-pitannya-bezpeki-maye-buti-na-per-74113
38https://www.opendemocracy.net/en/odr/ukraine-workers-fight-anti-labour-policies-russia/
39https://www.defensenews.com/congress/2024/04/24/congress-sends-ukraine-israel-taiwan-aid-package-to-presidents-desk/
40Der estnische Premierminister Kaja Kallas sagte als jüngster NATO-Botschafter: https://twitter.com/eeldenden/status/1792880764498935872/video/1
41https://www.politico.com/news/2020/01/22/adam-schiff-opening-argument-trump-impeachment-trial-102202
42‚Lessons for Anarchists About the Ukraine War from Past Revolutions‘, Wayne Price, Black Flag, Vol. 3, No. 1, Spring 2023
43http://www.defenddemocracy.press/how-the-pentagon-uses-a-secretive-program-to-wage-proxy-wars/
44https://chomsky.info/20220408/
45Die Natopolitaner reden gerne darüber, wie isoliert Russland ist und wie seine Niederlage ohne das Risiko eines größeren Krieges herbeigeführt werden könnte. Ich erinnere sie daran, dass Indien und China nach der Invasion im Jahr 2022 Truppen für gemeinsame Militärübungen auf russisches Territorium geschickt haben – eine ziemlich klare Absichtserklärung. Alle drei sind Atommächte mit mehr als einem Drittel der Weltbevölkerung. https://www.aljazeera.com/news/2022/9/1/russias-war-games-with-china-all-you-need-to-know
46‚Lessons for Anarchists About the Ukraine War from Past Revolutions‘, Wayne Price, Black Flag, Vol. 3, No. 1, Spring 2023
47Es gibt ein oft wiederholtes Argument, mit dem die natopolitischen Anarchist*innen versuchen, ihre kriegstreiberischen Thesen zu untermauern. Es lautet: Die Position eines prinzipiellen Antimilitarismus ist ein Fall von „Westplaining“, während die Unterstützung des blutrünstigsten imperialistischen Bündnisses der Welt die richtige und „undogmatische“ Position ist, die zudem von den anarchistischen Bewegungen in Osteuropa (die den Gefahren des russischen Imperialismus am meisten ausgesetzt sind) eifrig unterstützt wird. Eine genauere Analyse der Positionen der Anarchist*innen im Osten und Westen entlarvt dies jedoch als Mythos. Fast alle seit langem bestehenden anarchistischen Organisationen im Osten (mit Ausnahme der tschechischen Anarchistischen Föderation und der in Westeuropa ansässigen Emigrantenorganisationen aus Belarus und Russland) haben nämlich solide antimilitaristische Positionen vertreten. Besonders hervorzuheben ist die anarchistische Bewegung auf dem Balkan (mit ihrem Kern in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens), die alle Versuche zurückgewiesen hat, die libertäre Bewegung in den Dienst der NATO oder des russischen Imperialismus zu stellen. Eine Untersuchung der Positionen von Kollektiven im Osten Europas (deren „gelebte Erfahrung“ als Beweis dafür angeführt wird, dass Anarchist*innen aus diesem Teil der Welt die Ukraine im Krieg unterstützen und sie nicht nur als NATO-Marionettenregime sehen), zeigt, dass es sich in der Regel um Gruppen handelt, die nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine 2014 gegründet wurden, und dass es sich in den meisten Fällen um linksliberale subkulturelle Gruppen handelt. Auf der anderen Seite gibt es im Westen Europas eine große Anzahl noch länger bestehender anarchistischer Organisationen, Kollektive oder Publikationen, die zumindest zweifelhafte und unklare Positionen zum Krieg vertreten und in den schlimmsten Fällen (wie das britische Outlet FREEDOM) offen kriegshetzerische Positionen einnehmen und solchen Ideen Raum geben. Die Ausnahmen sind Organisationen (wie die italienische FAI-IFA oder die spanische CNT-IWA) und Bewegungen in Ländern mit den traditionell stärksten libertären Bewegungen, wie Spanien und Italien. (Ich bin dem Gefährten E.M. dankbar für den Hinweis).
48https://www.marxists.org/archive/malatesta/1915/manifesto.htm; oder hier oder hier bei uns.
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Wir haben für die Übersetzung die englische Version genommen, die hier auf libcom zu finden ist, wir haben aber auch sowohl die spanische Übersetzung und das Original zum Vergleichen verwendet.
Der folgende Text setzt sich mit der Besetzung und in Wiederbetriebsaufnahme des Unternehmens LIP in Form der Selbstverwaltung auseinander und zeigt auf alle Widersprüche und Grenzen solcher Unternehmungen im Kapitalismus. Ein historischer Dokument, weitere Texte die sich mit dieser Thematik beschäftigen werden folgen.
LIP UND DIE SELBSTVERWALTETE KONTERREVOLUTION
aus Negation, Nr. 3 1973
VERÖFFENTLICHUNGSHINWEISE
Dies ist eine Übersetzung von „Lip et la contre-révolution auto-gestionnaire“, die erstmals 1973 in der französischen Zeitschrift Négation und offenbar auch als eigenständiges Pamphlet veröffentlicht wurde. Die Übersetzung (A.d.Ü., auf Englisch) wurde von Peter Rachleff und Alan Wallach angefertigt und 1975 als Broschüre bei Black & Red in Detroit veröffentlicht.
Négation war der Nachfolger einer rätekommunistischen Gruppe namens Archinoir, die 1968 in Grenoble gegründet wurde und 1969/70 drei Ausgaben der gleichnamigen Zeitschrift herausgab. Archinoir hatte mit der Gruppe Informations et Correspondances Ouvrières zusammengearbeitet. Négation verließ die ICO im September 1972. négation einleitung: Sie brachte drei Ausgaben ihrer Zeitschrift heraus, bevor sie verschwand.
EINLEITUNG VON NÉGATION
Es ist eine beeindruckende Anzahl von Broschüren und Texten erschienen, die sich mit dem Lip-Konflikt beschäftigen. Diese theoretischen Aktivitäten folgten in der Regel auf praktische oder agitatorische Aktivitäten der Autoren in Bezug auf diesen seit 1968 einzigartigen Konflikt.
Die Verfasser dieses Pamphlets haben sich nicht an diesen Aktivitäten beteiligt. Sobald der Kampf der Arbeiterinnen und Arbeiter von LIP seine für andere attraktive Form annahm, wurde uns klar, dass dieser Kampf – in seinem Inhalt – nicht der unsere war; daher blieb die Kritik, die wir damals äußerten, auf seine unmittelbaren Aspekte bezogen und wir sahen uns nicht gezwungen, sie zu veröffentlichen.
Mit der Entwicklung des Konflikts zogen einige von uns eine kurze Veröffentlichung in Betracht, die sich auf die inneren Grenzen dieses Kampfes der Arbeiterinnen und Arbeiter konzentrieren und ihn mit den derzeit unter den Arbeiterinnen und Arbeitern vorherrschenden Formen des Widerstands (Absentismus, Sabotage usw.) kontrastieren sollte.
Da sich die Zusammenarbeit, die diese Gefährten und Gefährtinnen zu diesem Zweck mit anderen begannen, als unmöglich erwies, trafen wir uns erneut, um ihren ursprünglichen Text so umzugestalten, dass wir zu einer fortschrittlichen Reflexion gelangten. Tatsächlich wurde uns immer klarer, dass „LIP“ nicht nur einen Kampf darstellte, in dem wir keine unserer Bestrebungen für eine menschliche Gesellschaft erkannten, sondern dass dieser Kampf gleichzeitig ein besonderer Ausdruck der gegenwärtigen kapitalistischen Bewegung und eine Art Vorwegnahme der Entstehung unseres Feindes war: der kapitalistischen Konterrevolution. Es ist daher nicht überraschend, dass dieser Text dicht ist, denn es war notwendig, die Kritik des Lip-Konflikts mit einer langen Analyse der Arbeiterinnen und Arbeiter und der kapitalistischen Bewegung einzuleiten, wenn auch notwendigerweise in gekürzter Form. Es ist auch nicht überraschend, dass er über eine einfache Kritik hinausging, indem er eine Analyse der selbstverwalteten Konterrevolution einleitete.
Dieser letzte Punkt wird später präzisiert und durch verschiedene Texte und vielleicht durch eine Veröffentlichung, die sich speziell mit den revolutionären und konterrevolutionären Bewegungen befasst, weiterentwickelt.
NACHWORT DES ÜBERSETZERS [1975]
Wir haben die Übersetzung dieses Textes in Angriff genommen, weil wir ihn für eine der anregendsten Analysen eines Themas hielten, die uns seit langer Zeit begegnet sind. Obwohl wir nicht mit allen Aspekten der Analyse einverstanden waren, hatten wir das Gefühl, dass wir bei der Auseinandersetzung mit dem Text sehr viel gewonnen haben. Wir haben die Broschüre in der Hoffnung übersetzt, dass auch du von der Auseinandersetzung mit ihr profitieren wirst. Wir ermutigen euch, eure Reaktionen darauf untereinander zu diskutieren und sie sowohl uns (c/o Black & Red) als auch den Originalautoren (Nicolas Will, 151 rue de Belleville, 75019 Paris, Frankreich) mitzuteilen. Wir möchten Ron Rothbart und Fredy Perlman unseren besonderen Dank aussprechen. Wir hoffen, dass dieser Text den ständigen Dialog zwischen uns allen fördert, die wir die Welt, in der wir leben, besser verstehen wollen, um sie gemeinsam vollständig zu verändern.
Für weitere Informationen und alternative Standpunkte zum Kampf um die LIP können wir dir die folgende (keineswegs erschöpfende) Bibliographie empfehlen:
„Lip : une brèche dans le mouvement ouvrier traditionnel“, Mise au point, Nr. 2.
„Lip revu et corrigé“, La lanterne noire.
„Lip: The Organization of Defeat“, Internationalism, Nr. 5.
„Lip: c’est bien fini“, Lutte de classe, März 1974.
Peter Rachleff Alan Wallach
Kapitel I
DIE BEWEGUNG DER ARBEITERINNEN UND ARBEITER UND IHR NIEDERGANG
1. Die Enteignung der Enteigner
Die Bewegung der Arbeiterinnen und Arbeiter entstand mit den ersten Entwicklungen des Kapitals. Sie war die Bewegung der Proletarier im Kampf gegen die formale Herrschaft des Kapitals über die Arbeit, die erste historische Form der Herrschaft des Kapitals.
Kennzeichnend für die Funktionsweise dieses Modus ist die Extraktion des absoluten Mehrwerts. Der Arbeitsprozess besteht in erster Linie aus menschlicher Arbeit. Der Inhalt dieser Arbeit ist handwerklich und qualifiziert. In dieser ersten Periode begnügt sich das Kapital damit, die Trennung zwischen den Produktionsmitteln und dem Produzenten herbeizuführen – die notwendige Bedingung für den Tausch von Arbeitskraft gegen Lohn – und den Arbeitsprozess auf die Ebene der Produktion auszudehnen.
Der Proletarier ist also gleichzeitig ein „Proletarier“ (der gezwungen ist, seine Arbeitskraft gegen Lohn zu tauschen, weil er keine sozialen Reserven hat) und ein „Arbeiter“ (der „arbeitet“ oder dessen Gebrauchswert qualitativ wichtig für den Produktionsprozess ist).
Daraus ergibt sich der ursprüngliche Inhalt der Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung: einerseits der Kampf für die Verkürzung der Arbeitszeit, da die Extraktion des absoluten Mehrwerts eine Verlängerung des Arbeitstages impliziert, und die Schaffung von Organen zur Verteidigung des Preises der Arbeitskraft (Handwerks- und später Industriegewerkschaften).
Auf der anderen Seite bestimmt die Bewahrung des vorkapitalistischen Inhalts des Arbeitsprozesses im Proletarier ein Produzentenbewusstsein, das dadurch verstärkt wird, dass der Kapitalist ihm gegenüber als fauler Parasit erscheint. Da er „als Handwerker“ arbeitet, aber für die Kapitalakkumulation und unter der Leitung eines Kapitalisten, zielt der Kampf des proletarischen Produzenten auch auf die Wiederaneignung der Produktionsmittel, „die Enteignung der Enteigner“.
Aber wenn der Angriff der Produzenten auf das Eigentum an den Produktionsmitteln im Mittelpunkt der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts stand und die Frage des Sozialismus sich in der Frage des Eigentums zusammenzufassen schien, dann auch deshalb, weil dieses Eigentum unter dem Deckmantel des Privateigentums sowohl willkürlich als auch schädlich für die Arbeiterinnen und Arbeiter erschien.
Da der vorkapitalistische Arbeitsprozess fortgesetzt wird, ändert der Eintritt des Kapitalisten in das Eigentum nichts an der Produktion selbst, sondern nur an ihrem Umfang. Es scheint, dass der Kapitalist nichts für die Produktion tut, sondern sich damit zufrieden gibt, davon zu leben, während die Arbeiterinnen und Arbeiter alles tun.
Er erscheint damit umso mehr als bloßer Träger eines Eigentumstitels. Die Funktion, die er dennoch übernommen hat, nämlich die Organisation des Verkaufs von Produkten und des Kaufs von Rohstoffen und Arbeitskraft, bleibt relativ einfach, so dass ihre Übernahme durch die Assoziation der Arbeiterinnen und Arbeiter kein Problem zu sein scheint – weder technisch noch ökonomisch.
In dieser Zeit des allgemeinen Wohlstands des Kapitals und der relativen Unabhängigkeit der Kapitalien voneinander erscheint die Funktion der Verwaltung des Kapitals – die Kontrolle über seine Einfügung in den Zirkulationsprozess (sowohl vor als auch nach der Produktion selbst) und die ebenso notwendige Kontrolle über seine Reproduktion – weniger als eine separate Funktion, die eine Entschädigung verdient, sondern als ein Privileg, das mit dem Eigentum an Kapital und Produkt verbunden ist. Selbst zur Zeit der Charta von Amiens (1906), in der es heißt, dass „die Gewerkschaft, die heute eine Organisation des Widerstands ist, morgen die Organisation der Produktion und des Vertriebs, die Grundlage der gesellschaftlichen Neuordnung sein wird“, war die Frage der Verwaltung des Kapitals noch nicht als solche gestellt worden.
Das persönliche Eigentum an den Produktionsmitteln ist willkürlich und außerdem schädlich für die Produzenten. Denn die schwache Vereinheitlichung des kapitalistischen Prozesses auf gesellschaftlicher Ebene lässt dem Eigentümer einen großen Spielraum für soziale Verantwortungslosigkeit. Das Unternehmen, das er besitzt, ist noch klein und befindet sich auf einem begrenzten Markt. Wenn er es für notwendig oder nützlich hält, kann er es schließen, ohne großes Aufsehen zu erregen. Die anderen Kapitalisten (abgesehen von den Gläubigern) werden sein Verschwinden wohlwollend oder gleichgültig betrachten, je nachdem, wie sich die Märkte aufteilen. Die Arbeiterinnen und Arbeiter, die aus demselben Grund ebenfalls isoliert sind, können durch ihre Reaktion andere Sektoren nicht gefährden. Darüber hinaus ermöglicht das Fortbestehen anderer Produktionsweisen innerhalb der Gesellschaft – und das ist ein wichtiges Merkmal der rein formalen Herrschaft des Kapitals – zumindest einem Teil der entlassenen Arbeiterinnen und Arbeiter, auf andere Weise zu überleben, oft durch die Rückkehr in die handwerkliche Produktion oder die Landwirtschaft. Die anderen verstärken die Reservearmee, die in den Städten wächst.
Diese drei Merkmale (das Bewusstsein der Arbeiterinnen und Arbeiter, ein Produzent zu sein, aufgrund der Aufrechterhaltung des früheren Arbeitsprozesses; die scheinbare Willkür des Eigentums, bei der sich die Frage der Verwaltung nicht stellt; schließlich die soziale Verantwortungslosigkeit, die mit dem persönlichen Eigentum verbunden ist) erklären, warum die praktische Form, die die Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts annahm, die der Produktionsgenossenschaften war. Jenseits der defensiven Gewerkschaften/Syndikate und nach der Abkehr von der Utopie einer Rückkehr zu kleinteiligem Individuumseigentum bleibt eine Idee bestehen. Es ist die Idee – die später von den Gewerkschaften/Syndikaten (Anarchosyndikalismus) aufgegriffen wurde – dass die Arbeiterinnen und Arbeiter gleichzeitig Assoziation und Eigentümer ihrer gemeinsamen Produktionsmittel sein können. Wie der nicht-produzierende Eigentümer übernehmen sie dadurch die Rolle des Verwalters, oder sie verkaufen und teilen das „ganze Produkt“ ihrer Arbeit unter sich auf (die Parole von Proudhon bis zum Gothaer Sozialdemokratischen Programm), je nach dem Bewusstsein der Epoche.
Im Gegensatz zum kapitalistischen Eigentümer ist der kollektive Produzent-Eigentümer (der sich einem variablen Kapital gegenübersieht, das nur er selbst ist) außerdem sozial verantwortlich für den Fortbestand und das reibungslose Funktionieren des Unternehmens. „. . . [d]er Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit wird in [den genossenschaftlichen Fabriken] überwunden, wenn auch zunächst nur dadurch, dass die assoziierten Arbeiter zu ihrem eigenen Kapitalisten gemacht werden, d.h. dass sie in die Lage versetzt werden, die Produktionsmittel für die Beschäftigung ihrer eigenen Arbeit zu nutzen.“1
2. Tote Arbeit
Die kapitalistische Expansion und Konzentration am Ende des 19. Jahrhunderts, der Krieg von 1914-1918 und die darauf folgende revolutionäre Periode markierten einen wichtigen Wendepunkt in der Geschichte der Arbeiterinnen und Arbeiter. Diese Periode ist der Beginn des schmerzhaften Übergangs zur wirklichen Herrschaft des Kapitals über die Arbeit, der erst nach zwei Weltkriegen und der großen Depression der 30er Jahre abgeschlossen wurde.
In dieser zweiten historischen Phase des Kapitals wird der Produktionsprozess spezifisch kapitalistisch. Er basiert auf der Extraktion des relativen Mehrwerts durch die ständige Steigerung der Produktivität aufgrund der Perfektionierung der Techniken, der Entwicklung der Produktivkräfte und ihrer zunehmenden Vergesellschaftung. Die Gewinnung von Mehrwert hängt vor allem von diesen Prozessen ab, die den Preis der Waren senken, um den in ihnen enthaltenen Mehrwert zu erhöhen, indem die notwendige Arbeitszeit verringert wird. Der Anteil der menschlichen Arbeit am Produktionsprozess sinkt nun im Vergleich zur toten Arbeit; die „Arbeiterinnen und Arbeiter“ verschwinden und nur der „Proletarier“ bleibt übrig. Der Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft verliert seine Bestimmtheit und hängt nur noch von der mehr oder weniger großen Menge an Mehrwertarbeit ab, die mit ihr produziert werden kann. Dies ist die Epoche der „wissenschaftlichen Organisation der Arbeit“ und des Auftretens des „Ouvrier specialize‘ ‚ (‘spezialisierter Arbeiter“). Der Begriff „spezialisierter Arbeiter“ ist nur ein Euphemismus, um zu verdeutlichen, dass die „Arbeit“ dieser Arbeiterinnen und Arbeiter von jeglicher Qualität befreit wurde. Ihre Arbeit erfordert keine Ausbildung, keine Lehre. Die Arbeitskraft wird dann logischerweise absolut austauschbar, denn das Einzige, was zählt, ist die Fähigkeit, Arbeitszeit aufzuwenden. Alle Fähigkeiten stecken jetzt in der Maschine, und die „spezialisierten Arbeiterinnen und Arbeiter“ sind gute oder schlechte Arbeiterinnen und Arbeiter, je nachdem, ob sie pünktlich an ihrem Arbeitsplatz erscheinen oder nicht.
Die zunehmend abstrakte Beziehung der Arbeiterinnen und Arbeiter zum Arbeitsprozess lässt das gesamte „Produzentenbewusstsein“ verschwinden. Das zeigt sich deutlich in den aktuellen Ausbrüchen von Absentismus, Sabotage und hoher Fluktuation. Sicherlich sind diese Formen des Kampfes nicht neu und haben auch die sogenannten „traditionellen“ Lohnkämpfe nicht ersetzt. Aber wie viele andere Phänomene erhalten sie in unserer Epoche ihre volle Bedeutung, indem sie sowohl die untergeordnete Rolle des Menschen im eigentlichen Arbeitsprozess als auch seine entscheidende Position für das Kapital reflektieren. Die Zunahme der organischen Zusammensetzung des Kapitals zeigt nicht nur die Dequalifizierung der Arbeit und die Austauschbarkeit der Arbeiterinnen und Arbeiter, sondern auch den Druck, den dies auf die Gewinne ausübt. Dadurch wird eine Beschleunigung erzwungen, die den Menschen auf das Niveau einer zusätzlichen, aber entscheidenden Maschine für die kapitalistische Produktionsweise reduziert. Aus der Sicht der Arbeiterinnen und Arbeiter sind diese Formen des Kampfes also menschliche Reaktionen, elementar angesichts einer Produktionsweise, die nur überleben kann, indem sie diejenigen, von denen sie lebt, ständig verleugnet. Der entscheidende Unterschied zu der Epoche, in der Pouget Sabotage als Druckmittel gegen den Chef befürwortete, ohne durch Streiks Lohneinbußen hinnehmen zu müssen, ist, dass diese Reaktionen nicht mehr durch eine einfache Lohnerhöhung neutralisiert werden können. Es ist sogar notwendig geworden, die „Arbeitsbereicherung“ zu erfinden, um zu versuchen, die unumkehrbare Tatsache wegzuzaubern, dass das Proletariat heute nicht mehr die Klasse der Arbeit ist.
Schon aus diesem Grund kann der Kampf des Proletariats nicht mehr der Kampf der Arbeiterinnen und Arbeiter sein, weder in seinen Zielen noch in seinen Mitteln. Es geht nicht mehr darum, dass die assoziierten Proletarier ihr eigener Kapitalist werden, sondern darum, die kapitalistische Form selbst, das Unternehmen, zusammen mit der Lohnarbeit und dem Markt zu zerstören.
3. Das variable Kapital und die Gewerkschaften/Syndikate
a) Die CGT und die Entwertung
In der Zeit, in der das Kapital die tatsächliche Herrschaft über die Arbeit und die Gesamtheit der sozialen Beziehungen erlangt, wird auch der zutiefst widersprüchliche Charakter des Kapitals deutlich.
Die Zunahme der organischen Zusammensetzung des Kapitals, die eine unmittelbare Steigerung der Unternehmensgewinne ermöglicht, führt schnell zu einem Rückgang der Profitrate im gesellschaftlichen Maßstab: Das Wachstum der Masse des Profits, das durch das Wachstum des investierten Kapitals bewirkt wird, ist mit der relativen Zunahme des konstanten Kapitals verbunden, da es dem Kapital durch seine überlegene Produktivität gelingt, seine Konkurrenten zu absorbieren. Kurz gesagt, der Prozess der Verwertung2 kann heute nur durch den Prozess der Entwertung erfolgen; der Kapitalist, dem nichts anderes als der Tauschwert am Herzen liegt, ist unablässig bestrebt, diesen zu senken.
Dieser Widerspruch beinhaltet einen weiteren: Das Wertgesetz, die Produktionsverhältnisse, stehen der Entwicklung der Produktivkräfte zunehmend entgegen und setzen immer mehr totale Krisen in Gang, wie die, in die wir heute geraten.
Als Folge der zunehmenden Entwertung wird das traditionelle System des Privateigentums an den Produktionsmitteln in Frage gestellt, was sich am deutlichsten in Verstaatlichungen zeigt. Im Grunde genommen besteht die Verstaatlichung darin, dass dem Staat ein Kapital anvertraut wird. Da sich der Staat mit weniger Profit zufrieden gibt, wird der Anteil der anderen Kapitale an der Verteilung des gesamten Mehrwerts erhöht, und so geht alles weiter, „als ob“ das verstaatlichte Kapital weniger wert wäre, da es weniger Mehrwert erwirtschaftet.
Verstaatlichungen sind jedoch nur ein Extremfall der Vergesellschaftung von Kapital, die mit der Entwertung einhergeht. Im Allgemeinen verliert das Unternehmenskapital seine Unabhängigkeit, wenn es, um die Senkung der Profitrate durch die Vergrößerung seiner Masse zu kompensieren, notwendig wird, das Individuum so zu vergrößern, dass immobiles Eigentum, Finanzkapital und das Unternehmenskapital in verschiedene Hände übergehen. Die Gründung von Kapitalgesellschaften durch den Verkauf von Aktien ist der erste Schritt in diesem Prozess. Zu dem vom Unternehmen selbst akkumulierten Kapital kommt ein Kapital externen Ursprungs hinzu, das nur Anspruch auf Zinsen erhebt und somit nicht in den Ausgleich der Profitrate einfließt. Dieses Kapital wird schnell fiktiv, sobald die Einnahmen auf der Grundlage eines Zinssatzes „kapitalisiert“ werden.
Der nächste Akt im Prozess der Vergesellschaftung des Kapitals ist sogar noch direkter mit der Entwertung verbunden. Wenn die Gewinne zu gering geworden sind und der Appell an das Kapital der Aktionäre nicht mehr für die erweiterte Reproduktion des Kapitals ausreicht, wird es notwendig, langfristige Kredite zu suchen. Auf einer allgemeinen Ebene gibt das Kapital selbst vor, seine Widersprüche durch seine „Umwandlung“ in Fiktion zu überwinden.3
Entwertung bedeutet also, dass das Finanzkapital die Kontrolle über die gesamte Ökonomie übernimmt. Das Finanzkapital, das selbst hochkonzentriert ist, spielt die Rolle des „allgemeinen Kapitalisten“ auf dieselbe Weise wie der Staat, wenn es die am stärksten entwerteten Sektoren direkt in die Hand nimmt, aber noch totaler, da der Kredit zum Dreh- und Angelpunkt der Produktion in allen Sektoren wird. Das Bankensystem ist außerdem sehr eng mit dem Staat verbunden, der es entsprechend seiner Natur unterstützt und „kontrolliert“.
Im Rahmen der Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung zerfallen die Genossenschaften (Firmen, die von Anfang an schwach an konstantem Kapital sind und deren Expansion sich auf ihre Selbstfinanzierung beschränkt) dann genauso wie alle Firmen mit ähnlicher organischer Zusammensetzung. Eine große Zahl von Genossenschaften für Arbeiterinnen und Arbeiter entsteht in Zeiten, in denen es aufgrund einer strukturellen oder konjunkturellen Desorganisation des Austauschs möglich ist, in halbhandwerklichen Sektoren (z. B. Druckereien) Unternehmen mit einem sehr begrenzten konstanten Kapital und einer anständig bezahlten qualifizierten Arbeitskraft zu gründen. Diese Perioden waren: 1830-1848 und besonders 1848-18504: dann die Jahre 1919, 1936, 1945, soweit es Frankreich betrifft.
Einige Genossenschaften von Arbeiterinnen und Arbeitern aus der Mitte des 19. Jahrhunderts überlebten über einen langen Zeitraum, wenn auch nicht, ohne ihre Prinzipien zu kompromittieren (zum Beispiel durch die Beschäftigung von Lohnarbeitern, die keine Mitglieder waren). Allerdings haben sie heute keine vergleichbar langlebigen Erben, wenn die Lebensdauer von 75 % solcher Unternehmen nicht mehr als zwei Jahre beträgt.5
Für Marx war auch klar, dass ein System der Kreditfinanzierung für die Entwicklung der Genossenschaften unerlässlich war:
„Ohne das aus der kapitalistischen Produktionsweise entspringende Fabriksystem könnte sich nicht die Kooperativfabrik entwickeln und ebensowenig ohne das aus derselben Produktionsweise entspringende Kreditsystem. Letztres, wie es die Hauptbasis bildet zur allmählichen Verwandlung der kapitalistischen Privatunternehmungen in kapitalistische Aktiengesellschaften, bietet ebensosehr die Mittel zur allmählichen Ausdehnung der Kooperativunternehmungen auf mehr oder minder nationaler Stufenleiter.“6 [6] Außerdem war dies nicht nur die Perspektive von Marx, sondern die der gesamten Arbeiterinnen und Arbeiter des 19. Jahrhunderts. (Anders als Marx sah diese Bewegung darin die Errichtung des Sozialismus.)
Tatsächlich erwies sich die Finanzierung der Genossenschaften durch Kredite als unmöglich. Der Kredit, der sich aus der Zusammenlegung ihrer nicht sofort wieder investierten Gewinne ergab, erwies sich als völlig unzureichend, während ihre Eingliederung in das allgemeine Kreditsystem aufgrund mangelnder kapitalistischer Glaubwürdigkeit unmöglich war.
Diese praktische Unmöglichkeit aufgrund der Entwicklung des Kapitalismus im Allgemeinen in Verbindung mit dem Zusammenbruch des „Produzentenbewusstseins“ unter den Arbeiterinnen und Arbeitern in den meisten wichtigen Sektoren führte zu einer Krise in der Arbeiterbewegung. Dennoch kam es zu einem Umschwung, aber dieser wurde von den Gewerkschaften/Syndikate vollzogen, die zu Föderationen wurden, die das variable Kapital im Rahmen des nationalen Systems vertraten und nicht mehr von einem „revolutionären“ Geist oder dem Ziel der Schaffung von Assoziationen von Produzenten und Eigentümern angetrieben wurden. Der Anarchosyndikalismus starb – oder fast – mit der Genossenschaftsbewegung. Die Gewerkschaften/Syndikate, die in der Phase der absoluten Extraktion des Mehrwerts (Verlängerung des Arbeitstages) einen echten Widerstand gegen das Kapital darstellten, wurden mit dem allgemeinen Übergang zum relativen Mehrwert zu rein kapitalistischen Betrieben integriert.
Der Erste Weltkrieg, der eine kapitalistische Krise überdeckte, markiert eine Spaltung zwischen der Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung und dem Syndikalismus/der Gewerkschaftsbewegung, aus der eine Zeit lang die Realität und die Idee der „Autonomie der Arbeiterinnen und Arbeiter“ erwuchs. Die Arbeiterinnen- und Arbeiterräte, die am Ende des Krieges in Deutschland entstanden, waren nicht nur Ausdruck dieser Autonomisierung, die sich aus der Notwendigkeit ergab, dem Angriff des Kapitals auf die Lebensbedingungen der Arbeiterinnen und Arbeiter erneut Widerstand zu leisten, sondern sie sind auch Ausdruck der Tendenz des Proletariats, sich in einer Zeit, in der die Reproduktion des Kapitals blockiert war, als eigene Klasse zu konstituieren.
Die besondere Rolle der Gewerkschaften/Syndikate in ihrer Phase, die man als sozialdemokratisch bezeichnen könnte, erklärt sich aus der Tatsache, dass der Widerspruch Verwertung/Entwertung, der allgegenwärtig wurde, in der Arbeitskraft verkörpert wurde, deren Preis die Gewerkschaft/das Syndikat aushandelt und gleichzeitig kontrolliert. So werden sie nicht nur zu Verwaltern der Arbeitskraft7, sondern auch zu Förderern von Reformen, die die Entwertung bestätigen und in Krisenzeiten die Rolle der nationalen Verwalter des gesamten Kapitals anstreben.
In Phasen, in denen die erweiterte Reproduktion des Kapitals ohne Schwierigkeiten abläuft, tritt der Widerspruch nicht als solcher in Erscheinung, sondern scheint inexistent oder aufgelöst. Doch dann übernimmt die Gewerkschaft/das Syndikat virtuell und „theoretisch“ die Verantwortung für diesen Widerspruch und arbeitet Reformprogramme aus, die zum Standpunkt der Entwertung des Kapitals passen: ein Programm der Verstaatlichung von Sektoren mit niedrigen Profitraten und insbesondere des Kreditsektors. Diese Reformprogramme entfalten jedoch erst dann ihre volle Tragweite und erscheinen plausibel, wenn das Kapital in eine Krise gerät und gezwungen ist, seine Widersprüche zu erkennen, die sich dann sichtbar auf die Existenz der lebendigen Arbeit konzentrieren. Dann wird es für die Gewerkschaft/das Syndikat sofort praktisch, sich dieses Widerspruchs anzunehmen.
Die CGT entstand aus diesen „alten“ Gewerkschaften/Syndikaten in den Industrien, die während der Entwicklung und Konzentration des Kapitalismus am Ende des 19. Jahrhunderts entstanden sind, was den Syndikalismus im Allgemeinen und den Anarchosyndikalismus selbst zu begrenzten Organisationsformen machte.
Dennoch gelang es der CGT, die gleich zu Beginn der Übergangsphase in Frankreich zwischen den beiden Formen der Unterwerfung der Arbeit unter das Kapital gegründet wurde, bei ihrer Gründung einige besonders anarchosyndikalistische Züge zu bewahren (vgl. die Charta von Amiens), die sie jedoch schnell wieder aufgab, als ihre Integration durch den Einsatz für die Sache während des Ersten Weltkriegs vollzogen wurde.
In den Jahren nach dem Krieg hat sich die CGT nahtlos in den expandierenden öffentlichen Sektor eingegliedert (dessen Expansion unmittelbar widersprüchlich ist: gleichzeitig ein Entwertungsfaktor, weil er keine Gewinne abwirft, und als Infrastruktur für eine zur Kapitalisierung neigende Gesellschaft absolut unverzichtbar); die CGT hat sich auch in den privaten Sektoren eingegliedert, die mit den ehemaligen Großindustrien (Eisenbahnen, Bergwerke) verbunden waren, deren Verstaatlichung sie seit Anfang der 1920er Jahre gefordert hat.
Die Krise der 30er Jahre und die daraus resultierende Volksfront von 1936 machten diese Forderungen publik und verbreiteten sie, die in den Verstaatlichungswellen nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Erfüllung fanden: Das Kapital begann seine eigentliche Herrschaft über die französische Gesellschaft.
In der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde die CGT mit verschiedenen staatlichen Aufgaben betraut, da mehrere gewerkschaftliche/syndikalistische Bürokraten in Regierungspositionen befördert wurden. Als Konföderation (A.d.Ü., gemeint ist die CGT) grub sie sich ein, indem sie die Verantwortung für den kapitalistischen Widerspruch übernahm, der während des Krieges eine Zeit lang gelöst worden war, und dann für die Verstaatlichungen. Aufgrund ihrer neuen Situation war die CGT in Wirklichkeit am stärksten vom Staat abhängig, der immer tiefer in die gesamte Maschinerie der Ökonomie eindrang. Ihre feudale Beziehung zur PCF,8 die während der tiefen Krise begonnen und bis zum Ende des Krieges endgültig vollzogen wurde, ist die Folge und nicht die Ursache, wie manche behaupten, dieser Verwaltung des Widerspruchs, die in der Umsetzung ihres Programms gipfelte.
Die CGT wird immer unfähiger, Reformen für das Kapital im Herzen der sozialen Bewegungen zu manipulieren. Der Abstieg der PCF in eine Oppositionsrolle, sobald ihre Aufgabe erfüllt ist, bringt diese Gewerkschaft/Syndikat zunehmend dazu, die Forderungen der Arbeiterinnen und Arbeiter direkt auf die Wahlebene zu übertragen, mit der Perspektive, dass die KP wieder an der Spitze des Staates steht.
Der 30. Kongress der CGT im Juni 1955 brachte diese Situation offen zum Ausdruck: „Die Mehrheit (mit überwältigender Mehrheit: 5.334 gegen 17 in der Minderheit) folgt M. Benoit Frachon und beschließt, das 1953 verabschiedete ökonomische Programm, das Strukturreformen und vor allem neue Verstaatlichungen vorsah (ein Programm, das sich auch im ‚gemeinsamen Programm‘ der politischen Linken wiederfindet), aufzuheben, um es durch ein Aktionsprogramm zu ersetzen, das ausschließlich aus Forderungen besteht.“9
Die CGT beschränkt sich meist darauf, die sogenannten „Gefahren“ der Reprivatisierung bestimmter Sektoren wie Regie Renault anzuprangern!
In Krisenzeiten muss die CGT sogar die „am härtesten geführten“ Kämpfe der Arbeiterinnen und Arbeiter „liquidieren“, da dies eine Bedingung für die Glaubwürdigkeit der Linken und insbesondere der KP ist (ohne dabei die Frage zu berücksichtigen, ob sich diese Glaubwürdigkeit heute in der Verwaltung des Staates konkretisieren kann; mit anderen Worten, ob die Konterrevolution von nun an diese Art von Linken braucht. Auf jeden Fall wird man später sehen, dass die Volksfront, wie sie in der letzten Krise auftrat, nicht mehr die geeignetste Form der Konterrevolution in Frankreich ist).
Von nun an ist es die konföderale Position der CGT, die ihre spezifischen Positionen in Konflikten bestimmt, und das führt gelegentlich zu Divergenzen zwischen der Konföderation und dieser oder jener Unternehmenssektion, die sich an Kämpfen beteiligt, die „zu weit gehen“.
b) Die CFDT und die Selbstverwaltung
Nachdem das Programm der sozialdemokratischen Gewerkschaften/Syndikate im Zuge der Krise der 30er Jahre, des letzten Weltkriegs und des Wiederaufbaus verwirklicht worden war, geht der widersprüchliche Prozess des Kapitals auf einer höheren Ebene weiter und die wenigen Reformen, die noch möglich waren, reichen nicht mehr aus, um die sich entwickelnde Krise zu lösen. Die eigentliche Bedeutung des Problems der Verwaltung und die damit verbundenen Mythen ergeben sich aus der zunehmenden Entwertung des Kapitals.
Die Verwaltung eines Unternehmens wird zu einem sehr „technischen“ Problem: Der allgemeine Rückgang der Profitrate und die extreme Interdependenz der Märkte verbieten den Erfolg von Dilettantismus (oder der Willkür der Eigentümer).
Vor allem die Kontrolle der Arbeitskraft gewinnt eine entscheidende Bedeutung, und gleichzeitig erhält die Verwaltung eines Unternehmens eine gesellschaftliche Tragweite, die davon abhängt, inwieweit (anders als im 19. Jahrhundert) die Vereinheitlichung des kapitalistischen Prozesses und die zunehmende Interdependenz so eng werden, dass ein Bruch an einem Punkt der Gesellschaft schnell zu Konsequenzen fast überall führt. Der Konkurs von Rolls Royce in England löste zum Beispiel sofort Reaktionen in Seattle aus, wo ein Flugzeug hergestellt wird, das Rolls Royce-Triebwerke benötigt. Ähnlich verhält es sich, wenn ein Unternehmen sein Personal entlässt und damit die Einnahmen einer Stadt oder Region bedroht. Kurz gesagt, die allgemeinen Bedingungen des Kapitals sind heute so, dass jeder Teil des Kapitals von allen anderen verlangt, dass sie sich gegenüber der Gesamtheit des Kapitals verantwortungsvoll verhalten. (Diese ökonomische Verantwortung, sowohl von Seiten des Chefs als auch der Gewerkschaft/des Syndikats, ist der eigentliche Staatsbürgersinn [civisme] der realen Herrschaft: Es gibt keine andere Möglichkeit mehr, an der Gesellschaft teilzuhaben, ein Staatsbürger zu sein, als sich um die Probleme des Kapitals in seiner Gesamtheit zu „kümmern“).
Die Verwaltung des Unternehmens entgeht dem kapitalistischen Unternehmer jedoch ebenso wie das Eigentum am Kapital, sobald sich Aktiengesellschaften und die allgemeine Nutzung von Bankkrediten durchgesetzt haben. Parallel zu dieser Enteignung geht die Leitung des Unternehmens auf einen Vorstand über, der theoretisch die Aktionäre vertritt, und wird von angeheuerten „Managern“ (A.d.Ü., als Synoymn zu Verwalter zu verstehen) oder „Technokraten“ ausgeübt, die von Bankkonzernen abhängig sind, die nicht einmal mehr fiktive Eigentümer sind, sondern lediglich die Gläubiger des Unternehmens, die aber dennoch die tatsächliche Macht über das Produkt und die Reproduktion des Kapitals besitzen. Wie der verstorbene Serge Mallet, Theoretiker der Selbstverwaltung, schrieb: „Die Übernahme der Unternehmensführung durch eine von den Aktionären unabhängige Schicht von Technikern wird nur dadurch möglich, dass die Vorstände nicht in der Lage sind, die Betriebskosten und die für die Expansion erforderlichen neuen Investitionen allein durch den Verkauf von Aktien zu decken.“10
In dieser Bewegung des Kapitals muss „der Kapitalist“ verschwinden und den anonymen Kreditmächten auf der einen Seite und den angestellten Managern auf der anderen Seite Platz machen. „Auf der einen Seite steht der bloße Kapitaleigentümer, der Geldkapitalist, dem funktionierenden Kapitalisten gegenüber, während das Geldkapital selbst mit dem Vormarsch des Kredits einen gesellschaftlichen Charakter annimmt, indem es in den Banken konzentriert und von ihnen statt von seinen ursprünglichen Eigentümern verliehen wird, und da auf der anderen Seite der bloße Manager, der keinerlei Anspruch auf das Kapital hat, sei es durch Kreditaufnahme oder auf andere Weise, alle realen Funktionen des funktionierenden Kapitalisten als solchem ausübt, bleibt nur der Funktionär übrig und der Kapitalist verschwindet als überflüssig aus dem Produktionsprozess.“11 Wenn er dennoch versucht, sich selbst zu erhalten, wird er zunehmend in Sektoren verbannt, die einem langsamen Tod entgegengehen. Die juristische Form des Eigentums wird zu einem Hindernis, das das Kapital durch Reformen umgeht, aber nicht verdrängen kann, weil das Privateigentum seine notwendige Voraussetzung bleibt, genauso wie die Entwicklung des fiktiven Kapitals mit dem Wertgesetz kollidiert und es zu „übertreffen“ sucht, ohne es verdrängen zu können, denn das hieße, sich selbst zu negieren.
Darüber hinaus tendiert nicht nur die Verwaltung des Unternehmens, sondern auch die des Finanzkapitals selbst dazu, als eine einfache technische Funktion sozialer Art zu erscheinen. „Wir bewegen uns auf eine Art Scheidung zwischen Eigentum und Kapital zu; das Kapital wird zunehmend vom Eigentum getrennt, während es verwässert, verdeckt oder sogar als Eigentum kollektiver Organismen in Verstaatlichungen, Vergesellschaftungen und Nationalisierungen dargestellt wird, die vorgeben, keine Formen der kapitalistischen Verwaltung mehr zu sein.12 Durch das Spiel der Fiktionalität gibt das Finanzkapital auch vor, keine Form des Privateigentums mehr zu sein, sondern ein unabhängiger sozialer Regulator der Produktionsverhältnisse, die es zu übertreffen vorgibt.
Diese ganze Struktur beruht jedoch auf dem Realkapital, dem Wertgesetz und der Abschöpfung des Mehrwerts. „Die Dynamik des kapitalistischen Prozesses bleibt intakt und in ihrer rücksichtslosesten Form: aber dieses ökonomische Verhältnis ist alles andere als neu.“13 Dies ist die Beziehung, die das Proletariat hervorbringt. „Die Tatsache, dass der investierende Kapitalist seine Funktion, die Werktätigen für sich arbeiten zu lassen oder Produktionsmittel als Kapital einzusetzen, nur als Verkörperung der Produktionsmittel gegenüber den Werktätigen wahrnehmen kann, wird im Widerspruch zwischen der Funktion des Kapitals im Reproduktionsprozess und dem bloßen Besitz von Kapital außerhalb des Reproduktionsprozesses vergessen.“14
Aber die Gewerkschaftsbewegung/der Syndikalismus – ihrem Wesen als Vertreterin des variablen Kapitals entsprechend – erhebt mit ihrem Anspruch auf die nationale Verwaltung Anspruch auf die Verwaltung jedes einzelnen Unternehmens und entfernt sich zunehmend von der gesamten sich entwickelnden proletarischen Basis. Dabei versucht sie, sich wieder der Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung anzuschließen, während sich die Selbstverwaltungsbewegung grundlegend von der Genossenschaftsbewegung unterscheidet; die Gemeinsamkeit besteht jedoch darin, dass, so wie früher die Infragestellung des Kapitaleigentums vom Standpunkt der Arbeiterinnen und Arbeiter aus die proletarische Frage der Kapitalvernichtung (die die der Unternehmensform unabhängig von ihrem Eigentümer einschließt) verdeckte, so verdeckt heute die Infragestellung der Verwaltung des Kapitals die Frage seiner Vernichtung (die die der Unternehmensform einschließt, unabhängig davon, wer ihr Manager ist).
Die Geschichte der CFDT wirft ein Licht auf diese Erneuerung der Gewerkschaftsbewegung/des Syndikalismus. Zu Beginn der 50er Jahre durchlief der französische Kapitalismus eine Transformation, die nur die Fortsetzung und volle Verwirklichung einer Tendenz war, die sich bereits vor dem Krieg abzeichnete: Die Grundstoffindustrien – Öl, Chemie und Petrochemie (unter anderem, aber vor allem diese) – wurden nach und nach zur Grundlage des neuen Akkumulationszyklus. Man kann sagen, dass die CFDT (1964) in erster Linie aus der Einbindung der ehemaligen CFTC in diese neuen „Schlüsselsektoren“ der Industrie entstanden ist.
Um dies zu belegen, reicht es aus, die wachsende Bedeutung der Gewerkschaft/des Syndikats der Chemischen Industrie aufzuzeigen, deren Generalsekretär Edmond Maire Generalsekretär der Konföderation wurde, und die kürzliche Beförderung von J. Moreau, Maires Nachfolger als Generalsekretär der Gewerkschaft/des Syndikats der Chemischen Industrie, auf einen Posten im politischen Bereich des Komitees zu erwähnen.
Neben der Elektronik sind die Grundstoffindustrien die Sektoren, in denen die Automatisierung des Produktionsprozesses naturgemäß am weitesten vorangetrieben wird; ein kleiner Teil der lebendigen Arbeit ist dort integriert, wobei die Techniker und Forscher ein wesentliches Element darstellen.
Außerdem sind dies die Bereiche, die am stärksten von der Trennung zwischen juristischem Eigentum und Kapital betroffen sind, da sie sich nicht selbst finanzieren können.
So sehen sich die Techniker, Ingenieure und Forscher direkt mit der Verwaltung am Arbeitsplatz konfrontiert: Wer ist der beste Verwalter, derjenige, der den Produktionsprozess jeden Tag kontrolliert, oder derjenige, der willkürlich zur Unternehmensleitung befördert wird, weil er direkt oder indirekt der Bankengruppe angehört, die in Wirklichkeit der Eigentümer ist?
Hier finden wir, übertragen auf die endgültigen Grenzen der kapitalistischen Produktion (Quasi-Automatisierung), dieselbe professionelle Empörung gegenüber den „Qualifikationen der Kapitalisten“, die ihre Anfänge kennzeichnete; aber ihr Inhalt ist völlig anders. Um die sich immer weiter ausbreitende Forderung nach (Selbst-) Verwaltung als grundlegende Forderung zunächst des „fortgeschrittenen“ Randes der CFTC und dann der CFDT zu verstehen, lässt man am besten Serge Mallet, einen Pionier in dieser Sache, zu Wort kommen, denn seine Ausführungen sind an sich schon ausreichend
„Die Besonderheit der Arbeitsbedingungen im Unternehmen (soweit es sich um die betreffenden Sektoren handelt), die Verbindung zwischen den Forderungen und der ökonomischen Situation des Unternehmens, die Tatsache, dass das Unternehmen an sich eine mächtige homogene Produktionseinheit sein kann, auch wenn seine verschiedenen Niederlassungen geografisch isoliert sind, zwingen die Gewerkschaft/das Syndikat zunehmend dazu, sich auf der Grundlage des Unternehmens selbst zu organisieren, also nicht der Fabrik oder des Labors, sondern des Unternehmens, der kompletten ökonomischen Einheit. In der Gewerkschaftsbewegung/im Syndikalismus entsteht eine neue Organisationsstruktur, die nach und nach die Handelsstruktur und die territoriale Struktur ersetzen und mit der industriellen Struktur verschmelzen wird, indem sie diese entbürokratisiert.“15
Entbürokratisierung bedeutet nach Mallets Auffassung, dass die Gewerkschaftsbewegung/der Syndikalismus an die neue Realität des Unternehmens angepasst wird, die die traditionelle Struktur (die im besten Fall von der CGT repräsentiert wird) nutzlos macht, weil sie nicht mehr funktioniert. Auf dieser Ebene seiner Analyse stimmt er mit der folgenden journalistischen Äußerung der fortschrittlichen Verwaltung überein: „Genauso wie das Unternehmen, wenn es für seinen Markt produziert, sich über die Absatzmärkte und die Produkte, die es dort verkaufen wird, im Klaren sein muss (das ist die Aufgabe der Werbung), muss es sich auch bei den Verhandlungen mit den Vertretern der Arbeiterinnen und Arbeiter über das Arbeitsangebot im Klaren sein. . . Einer der Gründe, warum die Gewerkschaften/die Syndikate in den letzten Konflikten aus dem Tritt gekommen sind, liegt darin, dass sie auf der Ebene der Branche organisiert sind: Hier verhandeln sie. . . Wir erleben eine „Atomisierung“ der sozialen Konflikte: Jeder wird für sich selbst kämpfen, mit seinen Waffen und Zielen, und es wird notwendig sein, viel mehr auf der Ebene des Unternehmens zu verhandeln; aber die Anführer der Unternehmen haben sich daran gewöhnt, dass die Schlichtung durch Spezialisten und ihre Berufsverbände erfolgt. Da dies nicht mehr möglich sein wird, werden sie selbst zu den Verhandlungen gehen müssen und sich folglich vorbereiten.“16
Mallet fährt fort: „Neben der politischen und traditionellen Front, die von den Parteien aufrechterhalten wird, und der sozialen Front, die von den Gewerkschaften/den Syndikaten aufrechterhalten wird, erleben wir also die Eröffnung einer dritten Front im immerwährenden Kampf zwischen Kapital und Arbeit: Es handelt sich um eine ökonomische Front, mit der die Arbeiterinnen und Arbeiter das kapitalistische System bekämpfen, und zwar nicht aufgrund ideologischer Entscheidungen oder sozialer Forderungen, sondern aufgrund der praktischen Erfahrungen mit der Unfähigkeit dieses Systems, eine harmonische und ununterbrochene Entwicklung der Produktivkräfte zu gewährleisten. Durch den gleichen Prozess wird die traditionelle Rollenverteilung zwischen der Gewerkschaftsbewegung/des Syndikalismus und der politischen Bewegung der Arbeiterklasse in Frage gestellt, und die Gewerkschaften/die Syndikate als ökonomische Organisationen werden dazu gebracht, sich im wahrsten Sinne des Wortes zu politisieren, d.h. nicht stumpf die Wahlslogans dieser oder jener politischen Partei nachzuplappern, sondern mit den ihnen eigenen Mitteln und Aktionsformen aktiv in das politische Leben des Landes einzugreifen. . . Die Entwicklung der modernen Gesellschaft integriert die politischen und ökonomischen Prozesse vollständig. Es ist für eine ernstzunehmende gewerkschaftliche/syndikalistische Organisation unmöglich, nicht direkt als gewerkschaftliche/syndikalistische Kraft in politische Probleme einzugreifen, sofern sie ihre Rolle als gewerkschaftliche/syndikalistische Kraft effektiv spielen will. . . Der Schutz bereits erworbener Vorteile erfordert heute nicht die Regulierung des bestehenden ökonomischen Systems, sondern die Organisation der ökonomischen Totalität, in der die Arbeiterinnen und Arbeiter leben müssen. Und ökonomische Forderungen, die einen totalen Charakter haben, sind natürlich mit politischen Problemen in einem modernen Staat verbunden.“17
Er kommt zu dem Schluss: „Der Absentismus [Fernbleiben vom Arbeitsplatz] des Staatsbürgers, die heute von allen guten demokratischen Gewissen beklagt wird, wird durch die Entwicklung eines Verantwortungsbewusstseins innerhalb der sozioökonomischen Organisationen kompensiert. Dies ist wahrscheinlich die interessanteste und schwerwiegendste Konsequenz der Entwicklung der Gewerkschaftsbewegung/des Syndikalismus in den Unternehmen. In der Tat werden wir dazu gebracht, unsere politischen Gewohnheiten und unsere Vorstellungen von demokratischen Praktiken grundlegend zu überdenken.“18
Mallet drückt damit nur soziologisch die Vereinnahmung von Politik und Demokratie durch das Kapital aus, die sie als besondere Tätigkeitsbereiche zerstört. Diese Bewegung vollzieht sich durch die vollständige Eroberung des Staates durch das Kapital und spiegelt das Ausmaß seiner Widersprüche wider:
Der Kapitalismus hat sich auf der Grundlage des Wertgesetzes in der kleinteiligen Warenproduktion entwickelt und stellt den Wert in Bewegung dar. Solange seine Herrschaft nur formal ist, reaktiviert er die Demokratie, indem er den durch die bourgeoise Revolution „befreiten“ Produzenten in den Vordergrund rückt.19
Sobald es vollständig an den Wert gebunden ist, gerät das Kapital in Widerspruch zu seiner Existenzgrundlage. Es versucht immer wieder, sie zu überwinden, ohne dies erreichen zu können. Es kann auch die Demokratie nicht wirklich unterdrücken, also verschlingt es sie.
Aufgrund der Entwicklung dieses Widerspruchs neigt das Kapital fortan dazu, die Staatsbürgerschaft durch den produktiven Akt und den Akt der Arbeit im Allgemeinen zu verleihen (wer seine Arbeitskraft nicht verkaufen kann, ist nach kapitalistischer Logik kein „Mensch“).
Im Zentrum dieser Bewegung steht, wie Mallet andeutet, dass das Unternehmen seine Allgegenwart dadurch erlangt, dass es sich gleichzeitig von den juristischen Formen des Eigentums und seiner eigenen Finanzierung emanzipiert. Diese „Autonomisierung“ wiederum gibt dem Unternehmen die Fähigkeit, seine eigene Planung und Selbstorganisation im Sinne der grundlegenden und einzigartigen Dynamik des Systems auszuüben: der Verwertung des Kapitals.
Das Eingreifen des Staates wird immer wichtiger, da er zunehmend durch direkte oder indirekte Finanzoperationen tätig wird.
Die berühmte „demokratische Planung“, die von der CFTC seit 1959 entwickelt wurde, ist Ausdruck dieser neuen Phase der zeitgenössischen kapitalistischen Entwicklung. Sie ist insofern demokratisch, als sie diese „autonome“ Planung des Unternehmens berücksichtigt; diese „Autonomie“ verbietet von nun an jede einseitige zentralisierte Planung. Auf der Ebene des Staates würde diese Planung vor allem in der Organisation des Kredits durch dessen vollständige Verstaatlichung bestehen: „Wenn der Staat die wenigen großen privaten Geschäftsbanken mit den vier Kreditbanken, die er besitzt, verbindet, würde er damit die französische Industrie vollständig kontrollieren, ohne die geringste Änderung des theoretischen Eigentums an den industriellen Produktionsmitteln vorzunehmen. Es bleibt abzuwarten, wer den Staat kontrolliert und wem er dient!“20
Diese Art von „Kontrolle“ über die Industrie könnte nur durch die Unterwerfung des Staates unter die einzige kapitalistische Dynamik – das Unternehmen – entstehen, die sich in einem Kontext extremer Entwertung bewegt.
Dies würde zu folgender Absurdität führen: Das „emanzipierte“ Unternehmen, das alle Aktivitäten um sich herum und für sich selbst organisiert, kann nicht auf das Wertgesetz reagieren! Da diese Sektoren mit hoher Entwertung (Schlüsselindustrien) die Schlüsselsektoren für die Akkumulation sind, unterscheiden sie sich von ihren Vorkriegspendants, die die Infrastruktursektoren waren bzw. aus ihnen bestanden. Nur durch die Existenz von Transformationsindustrien mit einer ausreichenden Profitrate konnten diese Schlüsselsektoren durch das System des Profitratenausgleichs und der Abtretung von Überschussgewinnen aufrechterhalten werden.
Auf einer solchen Ebene des Widerspruchs zwischen den Produktionskräften und den Produktionsverhältnissen muss der Ausbruch einer allgemeinen Krise aufgrund der völligen Unmöglichkeit der erweiterten Reproduktion des Kapitals dazu führen, dass die Arbeitskraft den Widerspruch selbst in die Hand nimmt, d. h. sie nimmt sich selbst in die Hand. Diese Selbstverwaltung ist das Ergebnis der Atomisierung des Proletariats, die sich in der „Autonomie“ des Unternehmens niederschlägt, wie wir sie oben definiert haben; sie ist Ausdruck der Notwendigkeit einer Kontrolle über die Proletarier, die nicht mehr von ihrem ersten Chef, sondern nur noch von ihnen selbst ausgeübt werden kann.
Diese Atomisierung macht jedoch nicht an den Türen des Unternehmens halt; die soziale Invasion des Unternehmens geht mit der Atomisierung des Proletariats in der gesamten Gesellschaft einher: Die Krise, in der der Wert verfällt, und mit ihr die politische Demokratie, wird die Beförderung des Produzenten zum einzig erkennbaren Staatsbürger bewirken. Die Selbstverwaltung wird zwangsläufig verallgemeinert werden. (Im letzten Teil dieses Textes werden wir uns mit mehreren konkreten Modalitäten der selbstverwalteten Konterrevolution in den Ländern auseinandersetzen, in denen sie möglich ist).
Wie Mallet gezeigt hat, haben einige von ihnen im Herzen der Konterrevolution eine große Bedeutung erlangt. Diese Bedeutung bedeutet aber auch, dass sich außerhalb der Gewerkschaften/der Syndikate eigene Organisationen von Arbeiterinnen und Arbeitern bilden (von denen einige von den Gewerkschaften/den Syndikaten angetrieben und kontrolliert werden). Schon während der italienischen Minikrise21 von 1968-69 entstanden Komitees und andere Betriebsräte, die Funktionen übernahmen und ausführten, die die gewerkschaftliche/syndikalistische Struktur nicht mehr wahrnehmen konnte.
Diese Art der Existenz des Kapitals ist sicherlich nicht neu, sondern existiert tendenziell schon, seit das Kapital seine reale Herrschaft über den Arbeitsprozess in einem bestimmten Sektor erlangt hat. Sobald diese Sektoren die industrielle Gesamtheit geprägt haben (und sei es nur auf der Ebene der Marktorganisation), wird die Vorbereitung allgemeiner Reformen für das Kapital noch notwendiger, damit diese Sektoren (wie in Frankreich und Italien) mit Sektoren koexistieren können, die sich auf dem Weg zur wirklichen Unterwerfung befinden und denen sie auf dem Weg zur vollständigen Unterwerfung ihre Art der Verwaltung übertragen wollen. Umgekehrt können aber nur diese „archaischen“ Sektoren, in denen der Anteil der Arbeitskräfte noch relativ groß ist und die eine Bewegung der Arbeitskraft implizieren, diese Reformen durchführen.
Dass die Arbeitskraft jetzt in unterschiedlichem Maße die Verantwortung für sich selbst übernimmt, ist eine unmittelbare Notwendigkeit, weil die Reifung bestimmter Sektoren heute gleichbedeutend mit einer Krise ist; die Arbeitskraft kann nur durch die immer widersprüchlichere Bewegung des Werts intervenieren.
Auch wenn die Stärke der CFDT in den Sektoren der Entwertung letztlich nur einen kleinen Teil ihrer Gesamtstärke ausmacht:
a) hat ihre Gründung als Gewerkschaft/Syndikat ihren Ursprung in der widersprüchlichen Dynamik der kapitalistischen sozialen Bewegung, auf der ihre eigene theoretische und praktische Dynamik beruht.
b) Diese Dynamik bedient sich u. a. lokaler und wirklich sektoraler Konflikte kleiner Produktionseinheiten in allgemein „benachteiligten“ Regionen, in denen die CFDT ein schnelles Wachstum erfahren hat. Diese Konflikte sind in der Regel durch direkten Widerstand gegen das Eigentumsrecht gekennzeichnet (Sitzstreiks, Beschlagnahmung von Beamten usw.). Sie sind nicht die Laboratorien der CFDT für Experimente in Sachen Selbstverwaltung, sondern bilden vielmehr die lokalen Ausgangspunkte für den Prozess der Krisenbewältigung, der selbst noch lokal begrenzt ist.
Die Divergenzen zwischen der CFDT und der CGT in Bezug auf das gemeinsame Programm der Linken spiegeln ihre jeweiligen Positionen wider: Die CFDT setzt auf soziale Kämpfe, um die Reformen der Krise durchzusetzen, während die CGT sich der Wahlpolitik unterwirft. Diese Divergenzen kommen in den aktuellen Konflikten [März 1974] voll zum Tragen, insbesondere in Houillères in Lothringen, wo sie sich in spektakuläre Gegensätze verwandeln. Die Verschärfung der Krise könnte dazu führen, dass die konföderalen Vereinbarungen, die in den letzten Jahren schrittweise zwischen diesen beiden Gewerkschaften/Syndikaten getroffen wurden, in Frage gestellt werden. Dies ist der Zeitpunkt für die CFDT, ihre gewerkschaftliche/syndikalistische Führungsrolle inmitten der sich formierenden Konterrevolution zu bekräftigen und zu demonstrieren; außerdem hat die CGT trotz ihrer lautstarken Erklärungen bereits einige wichtige Merkmale der CFDT-Pläne übernommen.22
Kapitel II
DER FALL (von) LIP
„. . . Dieser Sozialismus würde nicht darin bestehen, den Arbeitern zu erlauben, die Fabrik mit einem Paar Schuhen über der Schulter zu verlassen; und zwar nicht, weil sie dem Chef gestohlen worden wären, sondern weil dies eine lächerlich langsame und plumpe Verteilung von Schuhen für alle bedeuten würde.“ Amadeo Bordiga,Eigentum und Kapital
Als entlassene Arbeiterinnen und Arbeiter sich ihren Lohn selbst auszahlten, indem sie in Eigenregie produzierte Waren verkauften, war ihre Geste spektakulär und wurde berühmt. Der Kampf der Arbeiterinnen und Arbeiter von LIP richtete sich gegen das Recht auf Privateigentum an den Produktionsmitteln und zielte auf die Wiederaneignung des Produkts durch die Produzenten ab. Damit schien er sich mit einer Bewegung zu vereinen, die versucht hatte, die Verwaltung des gesellschaftlichen Produktionsapparats in die Hände der Arbeiterklasse zu legen. Diese Perspektive war jedoch die einer Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung, die aus einer Epoche des Klassenkampfes hervorging, in der das Kapital den Arbeitsprozess und die Gesellschaft nur formell beherrschte.
Falls der Kampf der Arbeiterinnen und Arbeiter von LIP zunächst als Ausdruck der Arbeiterbewegung erscheinen konnte, dann deshalb, weil er im Kontext der Firma LIP durch die sozialen Beziehungen zwischen dem Kapital und den Proletariern bestimmt war, die weitgehend mit denen identisch waren, die die Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung hervorgebracht hatten. Aber auch der viel größere Kontext der nationalen und internationalen kapitalistischen Gesellschaft hat die Realität dieses Kampfes geprägt: Das persönliche Eigentum an den Produktionsmitteln ist heute zu einem Hindernis für die kapitalistische Produktion geworden, die keine Eigentümer mehr braucht, sondern nur noch Verwalter. Außerdem entspricht die Realität des Kampfes der Arbeiterinnen und Arbeiter von LIP nicht der Tendenz zur Wiederaneignung, sondern viel mehr der Tendenz zur Verwaltung des Kapitals durch die Arbeiterinnen und Arbeiter selbst: LIP ist zu einem Basar für Selbstverwaltung geworden. Außerdem geschah dies ohne die bewusste Absicht der Arbeiterinnen und Arbeiter von LIP, die lediglich einen Chef forderten, der ihr Überleben garantiert.
1. LIP, eine Fabrik in der Epoche der realen Herrschaft des Kapitals
Der LIP-Konflikt fand in einem Sektor (der Uhrenindustrie) statt, in dem das Kapital noch keine wirkliche Vorherrschaft erlangt hat. Genauer gesagt, hat die reale Herrschaft des Kapitals über die gesamte Gesellschaft den spezifisch kapitalistischen Arbeitsprozess dort noch nicht etabliert.
Die formale Unterwerfung geht der realen Unterwerfung historisch voraus. Aber in bestimmten Produktionszweigen „kann diese letztere Form, die am weitesten entwickelt ist, ihrerseits die Grundlage für die Einführung der ersten bilden.“23
In der Uhrenproduktion übernimmt die kapitalistische Produktionsform, die der realen Unterwerfung der Arbeit unter das Kapital entspricht, zunächst die Kontrolle über die Produktion von Komponenten: Diese Produktion wird von Werkzeugmaschinen durchgeführt, die von den O.S. („spezialisierten Arbeiterinnen und Arbeitern“) bedient werden. Das hohe Produktivitätsniveau bei der Herstellung von Komponenten hat die Einführung der kapitalistischen Form in der Uhrenherstellung durch die formale Herrschaft des Kapitals über den Arbeitsprozess ermöglicht: die Montage von Uhren in einer einzigen Fabrik. (Vor der Zeit der Manufaktur wurde die Montage von Uhren im Rahmen einer handwerklichen Produktionsweise von den Uhrmacherinnen und Uhrmachern des Jura und der Franche-Comte, der „traditionellen Uhrenregion“, durchgeführt.) Als die kapitalistische Produktionsweise die Kontrolle über die Montage von Uhren übernahm, war ihre Vorherrschaft zunächst formal: Die technischen Prozesse unterschieden sich in dieser Phase kaum von denen der handwerklichen Produktionsweise. Die Montage von Uhren konnte auch dann noch fortgesetzt werden, wenn die Arbeiterinnen und Arbeiter aus der Fabrik vertrieben worden waren: Das zeigt, wie wichtig die menschliche Arbeit in dieser Phase der Produktion war. Da LIP die letzte Uhrenfabrik ist, stellt ihre Schließung ein ernsthaftes Beschäftigungsproblem dar: Die Arbeiterinnen und Arbeiter von LIP „konnten keine andere Arbeit finden, die ihren Fähigkeiten entsprach.24
Außerdem basiert die Produktion in der Fabrik auf einer kaum entwickelten Arbeitsteilung: Sie umfasst die Herstellung der Materialien, die für die komplette Fertigung einer Uhr notwendig sind (das ist die berühmte Abteilung der mechanischen Produktion).
Im Grunde genommen hat das LIP-Kapital, das auf einem zu begrenzten Niveau arbeitet, eine Menge Arbeit in sein Produkt eingebaut, die über dem gesellschaftlichen Durchschnitt liegt. Die großen amerikanischen und japanischen Hersteller produzieren im Maßstab der Massenproduktion:
Die Größe ihres Kapitals erlaubt es ihnen, den Rückgang der Profitrate (der durch die Höhe ihrer organischen Zusammensetzung entsteht) durch die Masse des Profits und durch Überprofite zu kompensieren, weil ihre größere Produktivität den Ausgleich der Profitraten zu ihren Gunsten wirken lässt. Von da an, mit der realen Herrschaft des Kapitals über die Gesellschaft auf nationaler und internationaler Ebene, musste eine Reifungskrise das LIP-Kapital treffen, dessen Form der Beherrschung der Arbeit archaisch war und sich im Rahmen der verarbeitenden Produktion manifestierte: LIP musste als unabhängiges Kapital und als Hersteller verschwinden.
Es gab noch ein weiteres archaisches Merkmal: Das LIP-Kapital war das Eigentum einer konkreten Person, Fred Lip. Als Eigentümer seines Kapitals versuchte er, die Reifungungskrise, die seine Enteignung erforderlich machen würde, abzuwenden oder zumindest zu verlangsamen. Er versuchte, seine Produktion zu rationalisieren, indem er bei der Montage von Uhren ein gewisses Maß an Taylorismus einführte und seine Aktivitäten durch die Schaffung eines Werkzeugmaschinensektors und eines Sektors für militärische Ausrüstung diversifizierte. Diese Versuche, seine Produktion wieder rentabel zu machen, waren nur Notlösungen. Es ist nicht so, dass er Fehler in der Unternehmensführung gemacht hat, weil er launisch und ungeschickt war, sondern weil die einzige konsequente Unternehmensführung darin bestanden hätte, die Integration seines Kapitals in eine größere Organisation zu akzeptieren und seine Produktion aufzugeben; er hat sich nur geirrt, weil er die Unabhängigkeit seines Kapitals aufrechterhalten wollte, und um das zu erreichen, musste er sich mit Hilfsmitteln behelfen, die als „Fehler in der Unternehmensführung“ bezeichnet wurden (was sicherlich den ambivalenten Charakter des LIP-Konflikts zeigt, ein Kampf der Nachzügler inmitten einer fortgeschrittenen Situation). Diese berühmten Managementfehler waren nur die Folge der defensiven Aktion eines Eigentümers, der mit der Drohung seiner Enteignung konfrontiert war.
Der Aufstieg des Kapitals zur realen Herrschaft geht mit der Auflösung des persönlichen Eigentums am Kapital einher. Dass der Fall von LIP auf allen Ebenen der Gesellschaft einen solchen Widerhall gefunden hat, liegt vor allem daran, dass die französische kapitalistische Gesellschaft dabei ist, diesen Wandel zu vollziehen. Im Laufe des Konflikts äußerten einige Vertreter des Kapitals und der Gewerkschaften/Syndikate eine Kritik am Privateigentum, hinter dem und zu dessen Verteidigung Managementfehler begangen worden sein könnten, Fehler, deren soziale Folgen diese Vertreter betonten: „Das gegenwärtige Gesetz ist der allmächtige Beschützer des Privateigentums an den Produktionsmitteln. Zwischen den Bossen, denen ihre Gewinne nicht hoch genug sind, und den Arbeiterinnen und Arbeitern, die Gefahr laufen, auf die Straße gesetzt zu werden, wirkt das Gesetz zugunsten der Ersteren.“25
„Die Lohnempfänger dürfen nicht die finanziellen Risiken des Scheiterns eines Managements tragen.“26
„Managementfehler werden später oft von denen bezahlt, die sie nicht begangen haben… Es ist nicht hinnehmbar, ein Unternehmen in die Pleite zu führen, sich rechtzeitig zurückzuziehen und ruhige Tage verstreichen zu lassen, während Hunderte von Arbeiterinnen und Arbeitern von Arbeitslosigkeit bedroht sind.“27
Um diese Unzulänglichkeit zu beheben, erließ die Regierung ein Gesetz, das die Rechte der Lohnempfänger im Falle eines Konkurses garantierte, und die lokalen Behörden waren zur Zeit des Konflikts mit der Situation der Besançoner Kaufleute beschäftigt, die mit dem Verschwinden von 1300 Arbeitsplätzen und zahlreichen Unteraufträgen konfrontiert waren.
Es ist bekannt, dass Fred Lip den schrittweisen Verlust der Kontrolle über sein Kapital nicht vermeiden konnte: 1967 übernahm Ebauches S.A. 33% der Aktien, 1970 43% und 1973 die Mehrheit. Diese schrittweise Durchdringung durch die Ebauches S.A. hätte mit der Umwandlung der Uhrenproduktion von einer einzigen Fabrik, die alle Materialien und Komponenten selbst herstellt, in eine mit Komponenten aus anderen Zweigen der Ebauches S.A. versorgte Anlage zur Montagefabrik einhergehen müssen, wodurch eine größere zwischenbetriebliche Arbeitsteilung entstanden wäre.
Unter diesem Gesichtspunkt wäre es notwendig gewesen, die überschüssige Arbeitskraft zu entlassen: Von 866 Personen hätte die Zahl der Beschäftigten in der Uhrenherstellung auf 620 sinken müssen.28 Girauds Plan sah vor, die Zahl der Beschäftigten in der Uhrenindustrie beizubehalten, aber er sah die Schaffung eines Sektors für die Herstellung von Verpackungen vor, wodurch die Zahl der Entlassungen auf ein für die streikenden Arbeiterinnen und Arbeiter akzeptableres Niveau gesenkt werden konnte. Dass er damit falsch lag, bewies die Ablehnung der Vereinbarung von Dijon.
Aber Giraud wurde auch von den Bossen abgelehnt, und wenn die Arbeiterinnen und Arbeiter seinen Plan akzeptiert hätten, wäre er möglicherweise nicht in der Lage gewesen, die notwendige Finanzierung zu erhalten. Die Bosse warfen ihm vor, zu viele Zugeständnisse an die Belegschaft zu machen:
„M. Giraud ist dabei, ein Monster für uns zu schaffen“, erklärte ein hochrangiger Beamter, der ganz persönlich an der Lösung der LIP-Affäre interessiert war.29
„Nur eine totale Umstrukturierung kann LIP wieder auf ein gleichwertiges Niveau bei den Produktionskosten und damit bei den ökonomischen Chancen bringen. Aber es ist jetzt schon sicher, dass dieser große Hausputz nicht stattfinden wird“, bestätigte ein Uhrmacher aus Besançon.30
Am Vorabend des Abkommens von Dijon war François Ceyrac sehr vorsichtig: „Es ist notwendig, dass der Chef des Unternehmens seine Freiheit im Bereich der Beschäftigung behält.“31
Girauds Plan hatte in den Augen der Bosse noch einen weiteren Mangel: Er sah vor, auf Ebauches S.A. zu verzichten. Da Ebauches S.A. aber der größte europäische Hersteller von Einzelteilen für Uhren ist, ist seine Beteiligung an Palente bei weitem die profitabelste Situation; außerdem war es der Hauptgläubiger von LIP.
Ein Überblick über Lips Schulden: 30 Millionen32 an Ebauches S.A.; 15 Millionen an Lieferanten (Armbänder, Gehäuse); 10 Millionen an Bankkrediten.33 Der Verzicht auf Ebauches S.A. bedeutete also, dass die Schulden zurückgezahlt werden mussten, und der Giraud-Plan benötigte daher eine Finanzierung von mindestens 40 bis 50 Millionen Franken. Mit einem solchen finanziellen Handicap in Verbindung mit einem Produktionssektor, in dem es zu viele Arbeitskräfte gab, war das Projekt zum Scheitern verurteilt.
Der Interfinexa-Plan vom November 1973 litt unter demselben finanziellen Nachteil. Seine Finanzierung belief sich auf 40 Millionen, denn auch er wollte auf Ebauches S.A. verzichten und sich an die französische Uhrenindustrie wenden.34 Die Société Générale weigerte sich, diesen Plan zu finanzieren, und man müsste schon ein Herr Rocard35 sein, um zu denken oder zu sagen, dass diese Ablehnung politisch motiviert war.
Der Plan Interfinexa-Bidegain-Neuchwander, der von den Bossen angenommen worden war und den die Arbeiterinnen und Arbeiter mangels anderer Möglichkeiten schließlich akzeptieren mussten, sieht selbst Kredite in Höhe von 10 Millionen an privatem Kapital und 15 Millionen an staatlicher Beihilfe vor36, zu denen noch ein Restbetrag von 2 Millionen aus den Wildverkäufen hinzukommt!
Dieser Plan markiert die Reintegration von Ebauches S.A. als Protagonist in das Geschäft und verbessert die ökonomische Finanzierung und die Rentabilitätsaussichten: Das neue Kapital wird doppelt so groß sein wie das vorherige; Neuchwander gibt an, dass das Ziel darin besteht, eine Million Uhren pro Jahr herzustellen, während die Produktion bisher nur 500.000 betrug.37 Das ist die Lösung für die Reifungskrise durch den Eintritt der Uhrenproduktion von LIP in die reale Herrschaft.
Aus der Sicht der Interessen des Kapitals ist dies auch die Lösung für den Widerspruch, der den Forderungen der Arbeiterinnen und Arbeiter von LIP zugrunde lag: Sie wollten eine gute Verwaltung des Kapitals, die sie vor Entlassungen schützt, aber eine gute Verwaltung konnte nichts anderes sein als der Übergang des Kapitals von LIP zur realen Herrschaft, und das bedeutete die Entlassung der überzähligen Arbeitskräfte. Der Neuchwander-Bidegain-Plan „versöhnt“ die beiden Pole des Widerspruchs, indem er die mehr oder weniger vollständige Reintegration der Arbeiterinnen und Arbeiter dem erfolgreichen Funktionieren des neuen Unternehmens unterordnet.
Die andere Forderung, die Nichtentlassung, wurde ebenfalls im Sinne der Interessen des Kapitals gelöst. Der Werkzeugmaschinensektor in Ornans ist seit November 1973 unabhängig, und in Palente wurden die Uhrenherstellung und die militärischen Ausrüstungen von einer Holding übernommen, einer juristischen Struktur, die Kapital und Gewinne in eine gemeinsame Hand legt und keine technische Verbindung im Bereich der Produktion zulässt.
Dieser Abschnitt kann nicht enden, ohne darauf hinzuweisen, dass in der „Europäischen Gesellschaft für Uhren und mechanische Entwicklung“ vor allem Vertreter des französischen Kapitals wie B.S.M., Rhône-Poulenc und Sommer im Vorstand sitzen, die alle im chemischen und petrochemischen Sektor tätig sind: Wir haben im vorherigen Kapitel gesehen, welche Stellung und Bedeutung diese Sektoren im Rahmen der realen Herrschaft des Kapitals einnehmen.
2. Die Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung in LIP
„Das klassische sozialistische Ziel ist die Abschaffung der Lohnarbeit. Nur die Abschaffung der Lohnarbeit kann die Abschaffung des Kapitalismus bewirken. Da es aber nicht gelungen ist, die Lohnarbeit in dem Sinne abzuschaffen, dass die Arbeiter die Absurdität und Rückständigkeit des Verkaufs ihrer Arbeitskraft erkennen, hat die sozialistische Bewegung von Anfang an die Abschaffung der Marktwirtschaft angestrebt.“ Amadeo Bordiga, Eigentum und Kapital
Was auch immer sich später entwickelte, die Ursprünge des LIP-Konflikts waren zweifellos proletarisch in dem Sinne, dass die Unfähigkeit des Unternehmens, die kapitalistische Reproduktion fortzuführen, bedeutete, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter entlassen würden. Wie schon oft festgestellt wurde, bedrohten die Schwierigkeiten des Unternehmens in keiner Weise das Überleben des Eigentümers F. Lip. Im Gegensatz dazu war die Existenz der Arbeiterinnen und Arbeiter direkt bedroht, und außerdem konnten sie (wie bereits erwähnt) nirgendwo anders eine ähnliche Arbeit finden, bei der sie auf die gleiche Weise beschäftigt werden. Um zu überleben, waren sie gezwungen, zu reagieren. Aber wie? Wir werden sehen, dass der sich entfaltende Konflikt durch die grundsätzliche Isolierung der Arbeiterinnen und Arbeiter bestimmt wurde, die aus zwei Blickwinkeln betrachtet werden kann, dem kapitalistischen und dem proletarischen.
Aus proletarischer Sicht betraf die Unfähigkeit des Unternehmens, den Kreislauf der kapitalistischen Reproduktion fortzusetzen, „das Proletariat von LIP“, nicht aber den Rest der Gesellschaft. Es ist offensichtlich, dass diese Isolation der eigentliche Grund für die Niederlage der Arbeiterinnen und Arbeiter von LIP in Bezug auf ihre Ziele und für ihre Nicht-Radikalisierung ist. Das ist auch der Grund dafür, dass sie bei dem Versuch, ihr Einkommen zu verteidigen, zu einem Kompromiss mit dem Kapitalismus gezwungen wurden. Aber sie hatten keine Wahl und es wäre falsch anzunehmen, dass sie radikalere Methoden hätten wählen können. Sie handelten in Übereinstimmung mit ihrer realen Isolation von anderen Arbeiterinnen und Arbeitern im Kampf gegen den Verlust ihrer Existenzgrundlage. Dazu waren sie (unter anderem) gezwungen, kleine soziale Rücklagen zu bilden (Beschlagnahmung von Lagerbeständen fertiger Uhren und Teile, Solidaritätsfonds). Die illegalen Mittel, die sie einsetzten, könnten uns zu der Annahme verleiten, dass im Laufe des Konflikts eine gewisse Radikalisierung möglich geworden wäre, zumindest wenn es den Gewerkschaften/den Syndikaten nicht gelänge, die sich entwickelnde Radikalisierung zu verraten. Aber das hieße, den Gewerkschaften/den Syndikaten eine Macht zu geben, die sie nicht besaßen. Da der Inhalt der illegalen Aktionen die Bildung von Vorräten war – die nur in Geld umgewandelt werden konnten -, wurde eine spätere Radikalisierung ausgeschlossen, die zumindest potenziell die Zerstörung von Kapital und Lohnarbeit beinhaltete. Und so fielen die Arbeiterinnen und Arbeiter in ihre Isolation zurück. Nur eine Bewegung, die in den spezifisch kapitalistischen Sektoren Fuß fasst, hätte es ihnen ermöglicht, über die eigentlichen Grenzen ihres Kampfes hinauszugehen und damit seinen rein proletarischen Charakter zu negieren und ihn einen Schritt weiter zu bringen. Diese Art von Solidarität wäre offensichtlich das Gegenteil der politischen Solidarität der Befürworter der Selbstverwaltung jeder Couleur gewesen, die nichts anderes wollten, als die Fixierung der Arbeiterinnen und Arbeiter von LIP auf ihren eigenen isolierten Betrieb zu verstärken.
In Ermangelung einer echten Solidaritätsbewegung setzte sich der arbeiteristische Charakter des Kampfes im Laufe des Konflikts gegenüber seinem proletarischen Ursprung durch. In ihrer Isolation waren die Arbeiterinnen und Arbeiter von LIP nicht in der Lage, über die unmittelbaren Bedingungen, mit denen sie von Anfang an konfrontiert waren, hinauszugehen, und von dieser engen Basis aus stürzten sie sich in den Kampf. In ihrer isolierten Fabrik fest verankert, stärkten sie ihr Bewusstsein, Produzenten zu sein, und versuchten, dieses Bewusstsein praktisch umzusetzen. Sie nahmen die Produktion von Uhren wieder auf. Die „LIP´s“ – und das ist der Ursprung ihres ekelhaften Spitznamens – wurden zu einem kollektiven Kapitalisten.
Was bemerkenswert ist und gleichzeitig die LIP´s auf ihrem Höhepunkt als Arbeiterbewegung am meisten charakterisiert, ist, dass die kämpfenden Arbeiterinnen und Arbeiter versuchten, die Folgen der Schließung ihrer Fabrik (mit anderen Worten die Abschaffung der Lohnarbeit) praktisch zu negieren, indem sie sich ihre Löhne so auszahlten, wie sie es vor dem 12. Juni, dem Tag, an dem das Unternehmen die Aussetzung der Löhne ankündigte, gewohnt waren: „Wir haben unsere üblichen Löhne ausgezahlt bekommen, die uns die alte Konkursverwaltung schuldete.“38
Aber es ging nicht nur darum, den Streik durch die Produktion und den Verkauf von Uhren zu finanzieren, so wie die Arbeiterinnen und Arbeiter in Cerisay die Blusen verkauften, die sie mit ihren eigenen Mitteln hergestellt hatten, oder die Arbeiterinnen und Arbeiter in Bouly (die in einer Fabrik in Fourmies Strümpfe und Kragen herstellten), die beschlossen, ihre Hobbys zu nutzen, um einen Solidaritätsfonds zu bilden: „Einige strickten, häkelten, nähten, während andere Holzarbeiten und Schmiedearbeiten ausführten; die so gewonnenen Produkte wurden zum Verkauf angeboten“39 — sondern es ging vor allem darum, ihre Löhne zu sichern. Nicht nur, dass die Geldsumme – nach dem Verständnis der Arbeiterinnen und Arbeiter von LIP – mit ihrem früheren Lohn identisch war, sondern darüber hinaus „erhielt jede Arbeiterinnen und Arbeiter ihren Lohnbrief, der regelmäßig mit einer Abrechnung über die Abzüge für Versicherung, Sozialversicherung und Rentenfonds gefüllt war. . .“40
Der Garantielohn wurde also buchstabengetreu in Form eines „wilden Lohns“ umgesetzt, und das entsprach ganz dem Willen der Arbeiterinnen und Arbeiter selbst.41
Im Grunde gab es drei Möglichkeiten, wie viel Geld jeder Arbeiter und jede Arbeiterin bekommen würde: 1) ein gleicher Betrag für alle; 2) der übliche Lohn abzüglich eines Prozentsatzes; 3) der übliche Lohn mit einem Solidaritätsfonds, in den jeder geben konnte, was er wollte. Man entschied sich für die letzte dieser Lösungen.42
Sicherlich, wie B. in dem oben zitierten Interview sagt, unterstützte der Delegierte der Gewerkschaft/des Syndikats diese Lösung, aber es wäre falsch zu glauben, dass die Annahme dieser Maßnahme das Ergebnis einer Abstimmung in der Vollversammlung der Arbeiterinnen und Arbeiter gewesen wäre. Dies wurde von den Befragten bestätigt: „Da wir etwas Kohle hatten, warum sollten wir die niedrigste Summe akzeptieren. . .“ — „Wenn der Chef uns 200.000 gegeben hat, warum dann nur 150.000?“
Sicherlich wäre für einige eine höhere Entlohnung denkbar gewesen, aber dann hätte man ihnen Verantwortungslosigkeit vorgeworfen, weil sie das Firmenkapital verprasst hätten, und das hätte dem allgemeinen Sinn des Kampfes widersprochen. „Keine Entlassungen“ bedeutete die Beibehaltung der Gehälter und nichts anderes. „Der übliche Lohn für alle Arbeiterinnen und Arbeiter, das war wirklich etwas, und ich denke, es wäre gut, wenn es so gemacht würde; und das zweite (der übliche Lohn abzüglich eines Prozentsatzes) auch, und…
Ich bin jetzt genauso glücklich, wenn ich das bekomme, was sie mir geben können.“43
Darüber hinaus ist auch der Preis, zu dem die Uhren verkauft werden würden, von Bedeutung; dies aus dem von der Fabrik veröffentlichten LIP-Katalog: „Der Verkaufspreis der Uhren enthält den Preis der Teile, den Mehrwert, die Steuern, die Abschreibung und den Ersatz der Maschinen, den Lohn der Arbeiterinnen und Arbeiter und sogar den Gewinn der Eigentümer.“44 Aber was könnte der objektive Grund für eine solche Entscheidung sein, da die Arbeiterinnen und Arbeiter nicht die Absicht hatten, Kapital zu akkumulieren; aber auch, wenn sie in der Lage gewesen wären, z. B. alle Uhren zum gleichen Preis zu verkaufen, welches Modell für die Preisgestaltung würden sie dann anwenden? Für ihre Entscheidungen über Löhne und Preise gab es keine anderen Gründe als den Wunsch, dass alles so weitergeht wie bisher: Die Erhaltung ihrer Löhne erforderte die Erhaltung des Firmenkapitals. „Keine Entlassungen, kein Abbau“ bedeutete, „das Unternehmen zu schützen“45, mit anderen Worten das Unternehmenskapital. In dem kapitalistischen Reproduktionszyklus sind die verschiedenen Werte, aus denen sich das Gesamtkapital zusammensetzt, durch die Notwendigkeit miteinander verbunden, dass das Gesamtkapital den Reproduktionszyklus durchläuft.
Von diesem Zeitpunkt an konnten die Arbeiterinnen und Arbeiter von LIP ihren üblichen Lohn nicht mehr durch den Verkauf von Uhren zu jedem beliebigen Preis sichern – nicht, dass es für sie unmöglich gewesen wäre, den Kampf zu finanzieren -, denn das hätte das Verhältnis zwischen dem Preis der Uhren und ihrem normalen Lohn zerstört; und dieses Verhältnis zwischen Preis und Lohn zu zerstören, hätte den Kreislauf der kapitalistischen Reproduktion zerstört und damit zur Liquidation des Unternehmens geführt; genau das Gegenteil von dem, was die Arbeiterinnen und Arbeiter wollten.
So wie der Preis der Uhren nicht außerhalb des kapitalistischen Reproduktionszyklus bestimmt werden konnte, konnten auch die Löhne der Arbeiterinnen und Arbeiter nicht ohne eine wirksame Kontrolle über die Art und Weise, wie sie ihre Zeit verbrachten, gezahlt werden. In der Ornans-Fabrik stempelten die Arbeiterinnen und Arbeiter weiterhin jeden Tag, wenn die Arbeit begann. In Palente war die Kontrolle nicht so eng, aber es gab sie immer noch auf den Vollversammlungen. „Wisst ihr“, sagte eine Arbeiterinnen und Arbeiter in Mutualité (12. Dezember), „es wäre ungerecht, wenn einige zwar Lohn bekämen, aber nur am Zahltag in der Fabrik erscheinen würden.“ Das ist, kurz gesagt, das Bewusstsein des Produzenten, des ehrlichen Arbeiters und der ehrlichen Arbeiterin, das sich hier ausdrückt.
Am Ende trugen die Arbeiterinnen und Arbeiter auch noch lange nach der Schließung der Fabriken ihre Arbeitshemden und stellten sie bei Unterstützungsvollversammlungen in ganz Frankreich aus. Dieses kleine Detail verdeutlicht vielleicht am besten das Produzentenbewusstsein, das den LIP-Konflikt als Kampf der Arbeiterinnen und Arbeiter charakterisierte, und die Rückständigkeit dieser Bewegung im Verhältnis zu den vorherrschenden Formen des aktuellen proletarischen Widerstands wie Absentismus und Sabotage.
Ein kapitalistisches Unternehmen kann jedoch nicht allein durch die Produktion wiederbelebt werden. Das Kapital existiert nur dann weiter, wenn es seinen Reproduktionszyklus auf harmonische Weise durchläuft. Die Rettung des Lohns, also des Unternehmenskapitals, durch die Wiederaufnahme der Produktion ergibt keinen Sinn, wenn der Rest des Reproduktionszyklus nicht funktioniert. Daher die Notwendigkeit, die Uhren zu vermarkten.46
Schnell entstand ein „wilder“ oder „paralleler“ Markt, der gleichzeitig ein Uhrenmarkt, eine formale Solidaritätsmesse und ein bisschen Gaunerei war. Um ihre Uhren zu verkaufen, setzten die „LIP´s“ moderne Marketingtechniken ein,47 mit denen sie den Einzelhandel umgingen (daher die Proteste der Uhrmacher und Juweliere) und ihre Gewinnspanne erhöhen konnten. Die „LIP´s“ verkauften ihre Uhren auf politischen Kundgebungen, bei Freunden und Bekannten, so wie Tupperware bei geselligen Zusammenkünften oder von Tür zu Tür verkauft wird. Außerdem gehörte dieser Uhrenmarkt zu den unproduktiven Ausgaben wie bei jedem anderen kapitalistischen Unternehmen. Vor allem mussten die Reisen der Arbeiterinnen und Arbeiter bezahlt werden, die ebenso oft unternommen wurden, um Uhren zu verkaufen wie um den Kampf zu popularisieren (Popularisierung = öffentliche Meinung = Werbung). Wenn es tatsächlich stimmt, dass die Reisekosten nicht durch den Verkauf, sondern durch solidarische Spenden gedeckt wurden,48 dann hatte die selbstverwaltete LIP noch einen weiteren ökonomischen Trumpf (neben ihren Marketingmethoden), da die Reisekosten nicht mit dem Firmenkapital verrechnet werden konnten.
Doch zum Leidwesen der „LIP’s“ erreichte der linke Gutmenschenmarkt schnell seinen Sättigungspunkt. Die Enge des Gutmenschenmarkt entsprach in der Tat dem unrentablen Charakter des LIP-Unternehmens.
Dieser Parallelmarkt war gleichzeitig ein ideologischer Marktplatz. Im Austausch für die verkauften Uhren erhielten die Arbeiterinnen und Arbeiter allerlei Ermutigungen und Ratschläge, um den Kampf fortzusetzen.49 Die Unterstützungsvollversammlungen und politischen Kundgebungen boten verschiedenen politischen Strömungen die Möglichkeit, ihre Propaganda für die Selbstverwaltung oder die Kontrolle der Arbeiterinnen und Arbeiter auszuprobieren. Dieser ideologische Marktplatz war die unabdingbare Voraussetzung für den Kampf. Die Arbeiterinnen und Arbeiter konnten die Ratschläge nur als bare Münze nehmen und zusehen, wie sich der Geist des Kampfes nach und nach auf das Bild eines Unternehmens konzentrierte, das nun auf einer neuen Grundlage lief: der Selbstverwaltung. Ein befragter Arbeiter sagte:
Es gibt einige Leute, die nach Marseille gegangen sind, einige, die in Lyon waren, überall wurde ihnen das Gefühl gegeben, sie seien große Männer. Sie kamen mit Millionen von Projekten und Ideen im Kopf zurück, die von überall her kamen. Sie dachten, dass ihre Ideen umgesetzt werden sollten und gerieten so mit den Männern hier aneinander, die unter dem Druck der Gewerkschaften7der Syndikate – der CGT oder CFDT – standen und völlig demoralisiert waren.50
Den mangelnden Enthusiasmus der Arbeiterinnen und Arbeiter in Besançon dem Druck der Gewerkschaften/der Syndikate zuschieben zu wollen, würde ihren wahren Charakter verschleiern. Als die Arbeiterinnen und Arbeiter mit dem Geld aus dem Uhrenverkauf nach Besançon zurückkehrten, mussten sie feststellen, dass ihr Geld nicht in zusätzliches Kapital umgewandelt werden konnte. Die zweite Phase des Zyklus (die Umwandlung von Waren in Geld) konnte mehr oder weniger durchgeführt werden, aber sie war nur halb wirksam, da die dritte Phase des Zyklus (die Umwandlung von Geld in produktives Kapital) die Umwandlung von Geld nur in variables Kapital und nicht in konstantes Kapital beinhaltete. Das war die lebendige Realität der „LIP´s“ in Besançon – eine Realität, die die Gewerkschaften/die Syndikate nur reflektierten. Diese Grenzen ergaben sich nicht aus dem Scheitern der Verallgemeinerung der Selbstverwaltung, sondern im Gegenteil aus der „logischen Absurdität“ des Kampfes: der Selbstverwaltung eines bankrotten Unternehmens durch die Arbeiterinnen und Arbeiter. In diesem Zustand des Unternehmens konnten die „LIP´s“ nichts anderes tun, als in denselben Trott zu verfallen wie ihr ehemaliger Chef.51
Den Handelsreisenden blieb nichts anderes übrig, als erneut zu anderen gesättigten Märkten aufzubrechen: „Da gab es zum Beispiel Leute wie P., der an einem Tag mit uns aus Paris zurückkehrte und am nächsten Tag wieder nach Lyon ging. Dann kommt er aus Lyon zurück, bleibt einen Tag hier, wird nervös, angewidert. Er fährt wieder nach Marseille und kommt am nächsten Morgen zurück. Und dann muss er auch noch diesen ganzen Mist planen.“52
Das führt uns zum zweiten Aspekt der Isolation der Arbeiterinnen und Arbeiter von LIP. Aus kapitalistischer Sicht schließt das politische oder ideologische Wohlwollen, das LIP von der Regierung oder dem Eigentümer entgegengebracht wird, nicht aus, dass das Unternehmen ökonomisch aufgegeben wird. Lip hatte mehrere Jahre lang seine Unfähigkeit bewiesen, sich innerhalb der kapitalistischen Gemeinschaft zu behaupten. Und für den Kapitalismus zählt keine Solidarität außer dem Gesetz des Profits. Um wieder profitabel zu werden, musste LIP eine tiefgreifende Umstrukturierung durchlaufen.
Ein Beweis dafür ist die Summe (etwa zwei Millionen Franken), die die „LIP´s“ aus Respekt vor der Kontinuität des Reproduktionskreislaufs zusätzlich zu den verbleibenden Vorräten an die neuen Eigentümer abtreten mussten. Das ist der Betrag, den sie in sieben Monaten Arbeit angesammelt hatten. Wenn wir anerkennen, dass diese Summe nur einen Monatslohn (für 900 Arbeiterinnen und Arbeiter) abdeckt, und wenn wir diesen Betrag mit den 15 Millionen vergleichen, die den Lieferanten geschuldet wurden, dann sehen wir, wie sehr die organische Zusammensetzung des LIP-Kapitals abgenommen hatte und wie unrentabel es war.
Allerdings hielten die „LIP´s“ als kollektive Kapitalisten länger durch als ihr alter Chef. Das lag an den Unterschieden zwischen ihnen und ihrem alten Chef und an der außergewöhnlichen Situation, die sie geschaffen hatten. Sie hatten keinen Grund, den gesamten Kreislauf „ihres“ Kapitals in die Hand zu nehmen. Die „LIP´s“ konnten sich die Tatsache zunutze machen, dass nur ein Bruchteil des Kapitals einen schnellen Kreislauf durchlief (zirkulierendes Kapital, d.h. Löhne, Rohstoffe, Teile). Sie leugneten jedoch das grundlegende Problem: die Rotation des gesamten Kapitals. Sie waren nie gezwungen, das konstante Kapital zu erneuern, und sie tilgten auch keine der Schulden, die das alte Management gemacht hatte. Außerdem erneuerten sie den Teilebestand nur in dem Maße, in dem sie dazu in der Lage waren. All dies trug zu dem Vorteil bei, den sie gegenüber der alten Geschäftsführung hatten – wie wir bereits erwähnt haben. Sie waren kein Beweis für die Überlegenheit der „LIP´s „-Verwaltung, sondern zeigten stattdessen, dass es unmöglich war, das LIP-Kapital auf der alten Grundlage erfolgreich zu verwalten.
3. Die Frage der Gewerkschaften/der Syndikate
Über die Rolle der Gewerkschaften/der Syndikate in den LIP-Betrieben ist schon viel gesagt worden: die Unstimmigkeiten zwischen der CGT und der CFDT, das Verhältnis zwischen der CFDT und den nicht gewerkschaftlich/syndikalistisch organisierten Komitees, die gebildet wurden. Während die CFDT sofort die Führung des Kampfes übernahm, die Aktionskomitees weitgehend förderte und vor illegalen Aktionen warnte, stöhnte die CGT über ihre übliche Forderung nach dem „Recht auf Arbeit“, behauptete, sie sei wie immer realistisch, und wurde schließlich von konvergierenden Kräften von der Bildfläche verdrängt. Die Aktivitäten der Gewerkschaften/Syndikate schienen darauf ausgerichtet zu sein, die Arbeiterinnen und Arbeiter mit der gewerkschaftlichen/syndikalistischen Bewegung zu verheiraten, und hätten dem alten „revolutionären Syndikalismus“ wieder ein wenig Glanz verleihen können.
Unter der Oberfläche ihrer jeweiligen Erklärungen waren die Meinungsverschiedenheiten zwischen der CGT und der CFDT in LIP nicht das Ergebnis einer wirklichen Wahl zwischen den Aktionsformen, die jede von ihnen getroffen hätte, sondern ein Zwang, der aus den herausragenden Differenzen resultierte, die generell zwischen ihnen bestanden und die sich in den Besonderheiten der Situation in LIP getreu widerspiegelten. In LIP kamen die Differenzen zwischen der CGT und der CFDT, die im Mai ’68 ins Licht der Öffentlichkeit gerückt wurden und bei bestimmten Streiks (vor allem bei Joint Français) mehr oder weniger deutlich zum Ausdruck kamen, am deutlichsten zum Ausdruck. Der Führungsanspruch der CFDT wurde bei LIP durch die Ausarbeitung und Veröffentlichung von Plänen deutlich konkretisiert, während die CGT zu diesem Thema bewusst schwieg. Auf die Gefahr hin, bei den Arbeiterinnen und Arbeitern völlig in Misskredit zu geraten, war die CGT gezwungen, den Schwanz einzuziehen, während sie das „Abenteurertum“ der CFDT in diesem Fall mehr oder weniger ständig kritisierte.
Die kurzzeitige Rückkehr der gewerkschaftlichen/syndikalistischen Einheit während der Verhandlungen in Dijon, bei denen die Gewerkschaften/die Syndikate Entlassungen grundsätzlich akzeptierten, fiel mit einer erneuten, ebenfalls völlig vorläufigen Scheidung zwischen der Arbeiterbewegung und den Gewerkschaften/den Syndikaten zusammen, da die Tatsachen für die Arbeiterinnen und Arbeiter (die sie als Proletarier aufgriffen) erneut die grundsätzliche Frage der Entlassung der überzähligen Arbeitskräfte aufwarfen. Für die CFDT war dies nur eine zweitrangige Frage.
Im Bewusstsein der bevorstehenden Ablehnung durch die Basis – und da die CFDT ohne die Unterstützung der Basis nicht existieren konnte – sah sich die CFDT zu einer schnellen Kehrtwende gezwungen und übernahm auf der Sitzung am 12. Oktober erneut die Position des Aktionskomitees gegen alle Entlassungen und stellte den Inhalt des Dijon-Kompromisses (Entlassungen mit Wiedereinstellungsgarantie), den sie noch am Vortag verteidigt hatte, nicht zur Abstimmung. Diese schnelle Kehrtwende wurde natürlich durch die „basisnahe“ Position der CFDT ermöglicht.
Die Gründung eines Aktionskomitees bei LIP mag zunächst überraschen, zum einen, weil in den letzten Jahren in Frankreich bei keinem noch so langen und erbittert geführten Streik eine eigene Arbeiterinnen- und Arbeiterorganisation entstanden war, abgesehen von einigen kurzlebigen Streikkomitees; vor allem aber, weil die CFDT offensichtlich vollständig in den Kampf eingebunden war.
Wir haben gesehen, dass die CFDT aufgrund ihres Charakters dazu veranlasst wurde, die Gründung solcher Komitees zu unterstützen, sobald die Belegschaft sich selbst in die Hand nahm. LIP ist ein konkretes Beispiel für dieses Phänomen in einem isolierten Kontext.53 Indem sie sich selbst übernahm, benötigte das variable Kapital in LIP angesichts der totalen Rückeroberung des Kapitalismus eine Organisation, die gleichzeitig von der CFDT ausging und doch eine gewisse Autonomie von ihr besaß, da der Inhalt dieser Art von Tätigkeit zeitweise jenseits der Aushandlung des Preises für die Arbeitskraft lag – was die grundlegende Aufgabe der Gewerkschaften ist. In bestimmten Momenten kann sich diese relative Autonomie in eine virtuelle Opposition verwandeln; das liegt in der Natur der Sache, wie es in dem kurzen Zeitraum zwischen dem Abkommen von Dijon und der Sitzung der beratenden Vollversammlung der Fall war. Aber die Bewegung in Richtung Autonomie war kein wirklicher Ausdruck dafür, dass das Aktionskomitee über die Gewerkschaft/das Syndikat hinausgegangen war; in Bezug auf den Inhalt der Aktion – die Rettung des Unternehmens – konnte es keinen Bruch geben. Die Gewerkschaft/das Syndikat hatte immer den Schlüssel zum Problem in der Hand. Um dies zu verdeutlichen, genügt es, die endgültige, einstimmige Annahme des Neuchwander-Bidegain-Plans (siehe oben) zu bemerken, der die endgültige, totale Niederlage des proletarischen Ursprungs des Konflikts durch seinen kapitalistischen Inhalt konkretisierte; diese Niederlage war, wie wir gesehen haben, den Anfängen des Konflikts inhärent; und da sie unumkehrbar war, blieb nur die Frage, wann und wie sie eintreten würde. So schien das Problem der Entlassungen, das bei der Ablehnung des Dijon-Abkommens von entscheidender Bedeutung war, bei der Annahme der Dole-Abkommen plötzlich zu verschwinden. Die einzige Einschränkung, die Bidegain und die Gewerkschaften/die Syndikate bei der Ausarbeitung eines neuen Plans auf dieser Ebene machten, erklärt keineswegs die scheinbar plötzliche Kehrtwende. Ihre Einschränkung war im Gegenteil das natürliche Ergebnis des sozialen Kräfteverhältnisses, das zu Beginn der Wiederherstellung des kapitalistischen Kreislaufs entstanden war.
Die Gründung des Komitees der Aktion LIP und die Praxis, auf die es sich stützte, reflektiert zweifellos das Ende der Arbeiterinnen und Arbeiter als fortschrittliche historische Kraft. In der Tat konnten sich die entlassenen Arbeiterinnen und Arbeiter im Kampf nur auf zwei Arten aus dem Griff der Gewerkschaften/der Syndikate befreien: auf reaktionäre Weise (Tendenz zur Rückkehr zur Kleinproduktion und zum Vertrieb über die Märkte) oder auf revolutionär-kommunistischer Grundlage (Zerstörung des Werts, der Lohnarbeit, des Unternehmens selbst und des Marktes). Das waren die Szenarien der rätekommunistischen Ultra-Linken, die nur in die Katastrophe führen konnten.54 „Wir machen, wir verkaufen, wir werden bezahlt – es ist möglich“, sang das Komitee der Aktion LIP zusammen mit den verwirrten Ultra-Linken und maoistischen Hintermännern, die einen großen Teil der Öffentlichkeitsarbeit leisteten. Aber nein, es war nicht möglich. Die Entwicklung und Vergesellschaftung der Produktivkräfte durch den Kapitalismus verbietet jede Rückkehr zu einer solchen niederen Produktionsweise und einem merkantilen Tausch, es sei denn, sie wird in begrenzten oder allgemeinen Krisen (mit anderen Entwicklungen) als Mittel benutzt, um die Unmöglichkeit der Fortsetzung des kapitalistischen Reproduktionszyklus zu verbergen. In diesem Fall hat das Ende der Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung sofort das Erbe dieser Entwicklung zum Inhalt: die Rückverwandlung ihrer Theorie und Praxis in die potenzielle Konterrevolution.
Das sollte nur diejenigen verwundern, die die historische Bewegung oder den direkten Zusammenhang zwischen Revolution und Konterrevolution nicht in Betracht ziehen.
Kapitel III
KRISE UND SELBSTVERWALTUNG
Das ist der Weg, der eingeschlagen werden muss:
Erstens, die Arbeiterinnen und Arbeiter mehr zu motivieren, als sie es jetzt sind.
Das heißt, nicht zuzulassen, dass neun Stunden Arbeit
ohne eine Besprechung vergehen, damit jede Arbeiterinnen und jeder Arbeiter versteht
was im Unternehmen als Ganzes passiert,
wohin es geht, warum wir arbeiten und was das für die Gesellschaft bedeutet.
Dann wird es für die Gesellschaft notwendig sein
auf die Bestrebungen der Arbeiterinnen und Arbeiter reagieren….
Es könnte sein, dass einige Leute Verantwortung übernehmen,
es könnte Verantwortungen geben, die rotiert werden;
Wenn man Verantwortung übernimmt, passiert etwas;
lernt man dann, viele andere Dinge zu akzeptieren;
wenn man versteht, warum,
dann kann man viele andere Dinge sehr gut akzeptieren.
– Charles Piaget, Interview mit Lip
1. Die Gemeinschaft der Arbeiterinnen und Arbeiter und die menschliche Gemeinschaft
Neben der Selbstverwaltung wurde in Bezug auf LIP viel über menschliche Wärme, die Wiederentdeckung der Lebensfreude usw. gesprochen, nicht nur auf den großen Treffen und Solidaritätsmärschen (wir haben bereits gesehen, wofür sie stehen), sondern auch im Unternehmen selbst. Diese Ideen tauchen immer wieder in den Interviews mit den „LIP´s“ auf; endlich können wir uns selbst erkennen; jeder konnte sich ausdrücken. . . Selbst viele von denen, die die Grenzen des Kampfes erkannten, ließen sich von der karnevalistischen Atmosphäre am Anfang mitreißen; sie glaubten, dass etwas von dieser Atmosphäre erhalten bliebe und dass die Form des Kampfes der „LIP´s“ eine ganz eigene „Dynamik“ hätte, unabhängig von ihrem begrenzten Inhalt.
Tatsächlich hielt der archaische Charakter des Produktionsprozesses der LIP Uhrenfabrik die Arbeiterinnen und Arbeiter nicht nur nicht davon ab, ihr Unternehmen mit allen Mitteln zu schützen, sondern ermöglichte es ihnen auch, eine homogene Gruppe zu bilden, die dem personifizierten Feind gegenüberstand: ihrem Chef. Als der Chef in Konkurs ging und verschwand, weil sein Kapital nicht mehr wettbewerbsfähig war, sahen sich die Arbeiterinnen und Arbeiter mit ihren Werkzeugen und ihrem Produktionsprozess negiert und untätig. Die Forderung, den Produktionsprozess selbst in Gang zu setzen, konnte nur durch die Art von Enthusiasmus aufrechterhalten werden, die ein neu gefundenes Gemeinschaftsgefühl bekräftigte.
Jede Art von Zusammenbruch innerhalb einer Gemeinschaft führt früher oder später zur Bildung einer neuen Gemeinschaft, die anfangs Begeisterung in der neu gebildeten Gemeinschaft hervorruft. Für die Arbeiterinnen und Arbeiter der LIP Uhrenfabrik war der Bruch mit ihrer bisherigen Gemeinschaft jedoch nicht nur deshalb so tiefgreifend, weil sie als Proletarier der Mittel zum Lebensunterhalt beraubt wurden (was der Ursprung ihres neu gefundenen Gemeinschaftsgefühls war), sondern vor allem, weil sie wieder Gebrauch von den Gegenständen und Bewegungen machen konnten, derer sie beraubt worden waren; die Neuformierung der LIP-Gemeinschaft als kollektiver Kapitalist auf der Grundlage des Verschwindens des „äußeren“ Zwangs von Chefs, Direktoren usw. muss ganz plötzlich ein gewaltiges Gefühl der Begeisterung ausgelöst haben.
Zunächst einmal können wir diese Art der Verbrüderung direkt mit der Verbrüderung vergleichen, die die Bildung von Arbeiterinnen und Arbeitern im neunzehnten Jahrhundert kennzeichnete, und in jüngerer Zeit mit den zahlreichen Arbeitsgemeinschaften, die am Ende des letzten Krieges in Frankreich entstanden sind. Tatsächlich gibt es selbst auf dieser einfachen Ebene grundlegende Unterschiede, aber bevor wir sie aufgreifen, müssen wir die Gemeinsamkeiten und ihren Ursprung verstehen.
Die Arbeitsgemeinschaften, die aus dem Krieg hervorgingen, entwickelten sich in Gebieten, in denen die Zerstörung der Produktivkräfte groß gewesen war, und in den Produktionsbereichen, in denen es anfangs wenig konstantes Kapital gab. Generell wurde die Wiedergeburt solcher Gemeinschaften in einer Form, die den Arbeiterinnen und Arbeitern nahe kommt, durch die Verjüngung des Betriebskapitals während des Krieges in Verbindung mit dem allgemein archaischen Charakter des französischen Kapitalismus als Ganzes ermöglicht. Die wenigen Individuen, die an diesen neuen Produktionseinheiten beteiligt waren, verkündeten gleiche Löhne und Gleichheit in der Verwaltung und glaubten offenbar aufrichtig, dass sie sozialistische Unternehmen nach dem Vorbild der Arbeiterinnen und Arbeiter des 19. Jahrhunderts gründen würden! Ein gutes Beispiel dafür ist die Arbeitsgemeinschaft Boimondau (Hersteller von Dauphine-Uhrengehäusen) in Valence in der Drôme.
Diese Gemeinschaft wurde von christlichen Sozialisten, Anarchosyndikalisten und anderen militanten Sozialisten gegründet, die in der Résistance in Vercours bekannt waren (die Region Drome und Ardéche erlebte dank dieser wichtigen Résistance-Zelle eine enorme Vernichtung von Menschen und Material). Es handelte sich um eine Uhrenfabrik, um die herum eine Stadt gebaut wurde, in der dieses Minikapitalistenkollektiv und seine Familie lebten. Das Ensemble aus Fabrikwohnungen erhielt den vielsagenden Namen La Cité Horlogère (Die Uhr-Stadt). Regelmäßig wurden Vollversammlungen abgehalten, um kollektive Entscheidungen zu treffen, die vom Betrieb bis zur Freizeitgestaltung reichten; so wurde zum Beispiel versucht, per Dekret „sexuelle Freiheit“ einzuführen.
In ähnlicher Weise gab es in der neuen LIP die Tendenz, ein Gemeinschaftsleben rund um das Unternehmen zu schaffen: Treffen, Sandwiches und kleine Feste wurden, wie es scheint, fast täglich abgehalten.
Aber hier endet der Vergleich, denn während in Boimondau von Anfang an eine echte Lohngleichheit herrschte, haben wir in LIP gesehen, dass die Aufrechterhaltung einer Lohnhierarchie eine zwingende Notwendigkeit bei der Schaffung des kollektiven Kapitalisten war: In Boimondau ermöglichte der Rahmen der allgemeinen Reakkumulation des französischen Kapitalismus, dass die Gemeinschaft der Arbeiterinnen und Arbeiter in relativer „Reinheit“ Gestalt annahm. Die Unmöglichkeit der kapitalistischen Reproduktion in LIP konnte jedoch dazu führen, dass das Kollektiv in LIP nur als „Bastard“-Arbeiterinnen und Arbeiter existierte.55 Boimondau war ein Produkt der Zerstörung der Produktionskräfte. LIP wurde durch ihre widersprüchliche Entwicklung geschaffen. In LIP wurde kein neues Unternehmen geboren. Vielmehr wurde das alte durch eine Art von Modernisierung gerettet.
Rocard erklärt zur Rechtfertigung dieser Art von Verwaltung vergeblich, dass gleich nach dem Krieg mehrere hundert Arbeitsgemeinschaften gegründet wurden56: Einige Soziologen haben vergeblich das Boimondau-Experiment wiederbelebt.57 Doch heute hat die Idee, dass die Ware Arbeitskraft die Kontrolle über ihre eigene Situation übernimmt, eine ganz andere Bedeutung.
Aus denselben Gründen trat ein weiterer grundlegender Unterschied zutage: Zu den Arbeiterinnen und Arbeitern von LIP gesellten sich neben externen Organisationen und militanten Gruppen zahlreiche Außenseiter aus dem Stadtteil Palente in Besançon und aus anderen Teilen Frankreichs.
Diese Konzentration in Palente hatte zwei komplementäre Gründe: Da die französische Gesellschaft kapitalistisch ist, war das Überleben von LIP, wie wir gesehen haben, für die Stadt und die umliegende Region von entscheidender Bedeutung. Außerdem konnte sich diese materielle Gemeinschaft nur im Widerspruch zu ihren eigenen Grundlagen entwickeln; sie konnte in ihrer üblichen Form nicht mehr die Gesamtheit der Menschen organisieren, die sie vorgab, in sich aufzunehmen (z. B. Hippie-Kommunen usw.). Diejenigen, die nicht zu den „Randgemeinschaften“ gehörten, waren der widersprüchlichen Bewegung ausgesetzt, die mit der Zersetzung der sozialen Beziehungen einherging: daher die Zunahme der „Kriminalität“. Die Instabilität der materiellen Gemeinschaft des Kapitalismus,58 der tiefere Ursprung seines unerträglichen Charakters, macht jede Art der Zersetzung attraktiv, selbst wenn sie auf der reaktionären Grundlage der Lohnarbeit und der Aneignung des Produkts für den Verkauf auf dem Markt durch den Produzenten selbst erfolgt, wie es bei LIP der Fall war.
Die gewalttätigen Auseinandersetzungen nach der Besetzung der Fabrik von der CRS [Nationalgarde] können als eine Art proletarischer Ausbruch betrachtet werden – nicht als Ausdruck der Solidarität zur Verteidigung der Fabrik selbst (die Verhafteten sagten, sie seien gekommen, „um zu sehen“ oder „um sich zu amüsieren“), sondern als gewalttätiger Ausdruck des Wunsches, an einem Zusammenbruch teilzunehmen, wenn sich die Gelegenheit bietet.59 Es war kein Zufall, dass viele der Verurteilten straffällig geworden waren. Außerdem haben sich solche Ereignisse seit mehreren Jahren mehr oder weniger regelmäßig ereignet, wann immer die Bedingungen für eine Ausschreitung oder den kleinsten Aufruhr gegeben waren. Das ist der Ursprung und der scheinbar unerklärliche Inhalt der Gewalt, die sich durch ihren „Hooligan“-Stempel auszeichnet – also ihr Tiefgang und ihre Begrenzung.
Im Gegensatz zu den Arbeiterinnen und Arbeitern von LIP ist die Masse der Proletarierinnen und Proletarier, die ihre Arbeitskraft in den spezifisch kapitalistischen Produktionsprozessen einsetzen, so austauschbar, dass ihnen die Existenz und das Leben dieses oder jenes Unternehmens völlig egal ist. Als anonyme Opfer der steigenden organischen Zusammensetzung des Kapitals sind sie arbeitslos (für die Jungen bedeutet das oft, dass sie keine Möglichkeit haben, in den globalen Produktionsprozess einzusteigen) und fühlen sich nicht gezwungen, sich gegen einen bestimmten Gegner zu organisieren.60 Der Feind, dem sie zum Opfer gefallen sind, ist kein bestimmter Kapitalist, sondern die kapitalistische Gesellschaft als Ganzes, die sie mehr oder weniger verwirrt wahrnehmen.
Ohne eine allgemeine Krise ist die Ablehnung der Arbeitskraft nichts anderes als eine der Reproduktionsnotwendigkeiten des globalen Kapitalismus. Diese Proletarier bilden eine industrielle Reservearmee, die für die allgemeine Expansion des Kapitalismus notwendig ist, da sie einen Druck ausüben, der die Löhne niedrig hält. Der grundlegende Unterschied zwischen der Armee der Arbeitslosen des neunzehnten Jahrhunderts und der heutigen besteht jedoch darin, dass letztere sich in den am weitesten entwickelten kapitalistischen Metropolen als relativ stabile Gemeinschaften von Lebensarbeitslosen sammeln können, deren Größe nur durch das Ausmaß der Entwicklung der Produktivkräfte in Bezug auf die Produktionsverhältnisse begrenzt ist. So haben sich in den letzten zwanzig Jahren in den USA Ghettos von schwarzen Proletariern entwickelt, die durch ihre Aufstände, wie 1965, ihr Bedürfnis nach einer menschlichen Gemeinschaft zum Ausdruck bringen konnten; aber diese Revolten stießen sofort an ihre Grenzen und wurden dadurch gebremst, dass es in dieser Zeit der allgemeinen Expansion unmöglich war, das Herz des Kapitalismus anzugreifen: die Produktionsverhältnisse.
Wenn es jedoch keine allgemeine Krise gibt, wird die Schwäche der vorübergehend Eingeschlossenen und der dauerhaft Ausgeschlossenen zu einer potenziell revolutionären Kraft, wenn die Krise die gesamte Gesellschaft erfasst – das heißt, wenn die Bewegung zur Entwertung am Ende über die Bewegung zur Verwertung siegt und die kapitalistische Produktionsweise gezwungen ist, ihren Ruin zu offenbaren.
Da der allgemeinen Krise das Wesen des Kapitalismus zugrunde liegt, das in der Akkumulation durch autonome Unternehmen besteht, kann sich das Proletariat nur dann als Klasse formieren, wenn es das Unternehmen (und nicht mehr die Gruppen innerhalb des Unternehmens) überwindet, um eine einheitliche Produktionsweise zu schaffen, die von dem durch den Tauschwert geschaffenen Umweg zwischen Produktion und Konsumtion befreit ist und die in einer Krise ihre Absurdität offenbart.
Die durch ihre Arbeit undifferenzierte proletarische Masse, die diese „Klasse innerhalb der bourgeoisen Gesellschaft, die zugleich keine Klasse der bourgeoisen Gesellschaft ist“, in der Krise auf banale Weise verkörpert, sieht sich gezwungen, das letzte Glied zu zerschlagen und kann sich nicht mehr als Kategorie des Kapitals reproduzieren. Diese Klasse an sich neigt dazu, sich als historische Partei zu organisieren, die ihre Zukunft in der menschlichen Gemeinschaft bejaht; diese Klasse hat keine „Zukunft“ außer in ihrer eigenen Unterdrückung. Die Bildung der menschlichen Gemeinschaft ist das Ergebnis der Entwicklung der Produktivkräfte durch die Gemeinschaft des Kapitals und ist die einzige historisch mögliche Ablösung der Gemeinschaft des Kapitals. Durch die Integration dieser Entwicklung, durch die sie die Arbeit radikal umwandelt, zerstört die menschliche Gemeinschaft auf positive Weise die Ideologie der Arbeit, die der Kapitalismus zu etwas Negativem gemacht hatte: Die Arbeitszeit verschwindet schließlich als einziges Maß des gesellschaftlichen Reichtums zugunsten der „freien Zeit“.
Tatsächlich bringt der Kommunismus das Ende der Aufteilung von Arbeitszeit/Freizeit mit sich, indem er alle Tätigkeiten zu Tätigkeiten verschmilzt, die für die Produktion und Reproduktion der Menschheit notwendig sind; die daraus resultierende Verschmelzung würde folglich nicht auf der Grundlage der Arbeit von zu Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern entfremdeten Menschen erfolgen, wie es in der Arbeitergemeinschaft der Fall war. So wird die zeitgesteuerte Produktion der Zeitproduzenten, die die LIP Uhrenfabrik war, in der guten Gesellschaft des Geldes gleich doppelt negiert.
Aber wenn die Organisation des Proletariats als eine Klasse für sich selbst, die sich auf den Aufbau der menschlichen Gemeinschaft ausrichtet, ebenso ein Produkt der globalen Entwicklung des Kapitalismus ist wie die Unfähigkeit des Kapitals, sich selbst zu reproduzieren, dann ist das Ergebnis nicht automatisch oder unvermeidlich.
„Lasst uns die UNTERNEHMEN wieder aufbauen
mit Hilfe der Selbstverwaltung
und sie nicht zerstören. . .“
– Serge Mallet,
La nouvelle classe ouvrière
„Der Sozialismus besteht vollständig
in der revolutionären Verneinung des
des kapitalistischen UNTERNEHMENS,
nicht in der Überlassung des Unternehmens
an die Arbeiterinnen und Arbeiter.“
– Amadeo Bordiga, Eigentum und Kapital
2. Die selbstverwaltete Konterrevolution
In der kapitalistischen Gesellschaft bilden Revolution und Konterrevolution ein verbundenes Paar, obwohl sie einander radikal entgegengesetzt sind. Beide sind in der widersprüchlichen Bewegung verbunden, die für die kapitalistische Reproduktion unverzichtbar ist und gleichzeitig diese Reproduktion fesselt. Die Krise, die gleichzeitig die Explosion des Widerspruchs und der Beginn seiner Auflösung ist, impliziert somit das ständige Auftauchen von Revolution und Konterrevolution.
Beide werden durch die vorherrschende Bewegung der Entwertung vorangetrieben: die Konterrevolution, weil diese wichtige Entwertung für eine spätere Aufwertung notwendig ist; die Revolution, weil eine solche Periode der Entwertung ihre Verkommenheit ausstrahlt.
Während die Revolution also jede spätere Entwertung abkürzen muss, muss die Konterrevolution zunächst die Entwertung übernehmen, in der Hoffnung, die Widersprüche zu rationalisieren. Angesichts der Tiefe der gegenwärtigen Widersprüche kann die Konterrevolution jedoch nur eine Perspektive für eine kapitalistische Lösung entwickeln: die massive Zerstörung der Produktivkräfte.
Diese Entwicklung führt dazu, dass die revolutionäre Bewegung gehemmt wird und sporadische Revolten ihre Ziele nicht erreichen und niedergeschlagen werden (man denke nur an die Repression von Revolten in wenig entwickelten oder unterentwickelten kapitalistischen Ländern, die bereits die ersten heftigen Schläge der Krise erlitten haben: Griechenland, Indien, Äthiopien, Bolivien usw.).
Auf einer unmittelbareren Ebene der proletarischen Aktivität und des Bewusstseins spiegeln Revolution und Konterrevolution die Unmöglichkeit wider, die kapitalistische Gemeinschaft zu reproduzieren, die im globalen Maßstab das Leben der desorientierten Proletarier desorganisiert hat. Die Auflösung der Bewusstseinsform, die den materiellen Bedingungen in einem Zustand der Selbstzerstörung entspricht, setzt die Bildung eines neuen Bewusstseins voraus, das die neuen Bedingungen reflektiert.
Für das Proletariat in einem krisengeschüttelten Kapitalismus wird die Auflösung des Bewusstseins, das durch die Ideologie mit der Selbstverwertung des Kapitals verbunden ist, unmittelbar in das Bewusstsein umgesetzt, eine Klasse ohne Reserven zu sein, die nur ihre Arbeitskraft besitzt.
Das Proletariat, das gezwungen ist, Maßnahmen zu ergreifen, um seine verlorenen Existenzmittel zu reproduzieren – oder einen viel niedrigeren Lebensstandard zu erreichen, weil die Reallöhne brutal gesunken sind -, sieht in der Situation, mit der es konfrontiert ist, die Möglichkeit von zwei Arten von Reaktionen:
1) eine spontane Tendenz, die historische Bewegung der Produktivkräfte zu personifizieren, die das Ende der kapitalistischen Produktionsweise ankündigt und nach einer gemeinschaftlichen Organisation auf menschlicher Basis ruft;
2) eine Tendenz, den Ursprung all dieser Übel in sekundären kapitalistischen Phänomenen zu suchen, die die Wurzeln des Widerspruchs verschleiern und die historische Bewegung behindern.61
Es entsteht ein oberflächlicher Antikapitalismus, der sich aus verschiedenen Ideologien speist und zu dessen Entwicklung die frühere Auflösung des Bewusstseins beiträgt. Diese Ideologien haben den gemeinsamen Wunsch, die Krise für das Proletariat zu lösen, indem sie an der proletarischen Revolution sparen und einen Mischmasch aus reaktionären und reformistischen Maßnahmen vorschlagen. Sie spiegeln eine Tendenz zu kommunitären Reformen auf der dünnen Basis des fortbestehenden Kapitalismus wider.
So bedeuteten die faschistischen und demokratischen Antworten (Volksfront) auf die Krise von 1929/30 ein beispielloses Festhalten am Prinzip der Lohnarbeit genau zu dem Zeitpunkt, als sich die Lohnarbeit im Prozess der Selbstzerstörung befand. Ermöglicht wurde dies durch die Zerstörung der revolutionären Bewegung.
Wenn das Proletariat die Klasse des Bewusstseins ist, wird der Zusammenbruch seiner entfremdeten Gemeinschaft weder aus dem Aufstieg einer neuen Produktionsweise resultieren noch automatisch damit einhergehen. Anders als frühere revolutionäre Klassen wird das Proletariat nicht von der unwiderstehlichen Kraft des Werts getragen, den es zerstören muss. Um seine Arbeit zu verrichten, hat es nichts als seine Menschlichkeit.
Daher die Bedeutung der revolutionären Theorie in der kommunistischen Bewegung. „Klassenbewusstsein“ bedeutet nicht, dass „die Revolution zuerst im Kopf stattfindet“, wie verschiedene Akademiker und andere Modernisten vorgeben. Sie spiegeln lediglich die Tendenz des Kapitalismus wider, jede Form von sozialer Aktivität und sozialer Existenz für einen wachsenden Teil seiner Sklaven zu unterdrücken. Die „Bedeutung der Theorie“ bedeutet nicht, dass das Proletariat gezwungen werden muss, bewusst zu werden, wie es alle möglichen militanten Pädagogen versucht haben (zum Beispiel, den Arbeiterinnen und Arbeitern von LIP zu sagen, dass sie ihre Praxis überwinden können oder müssen).62 Ganz einfach: Die kommunistische Theorie, die der widersprüchlichen Bewegung des Kapitals inhärent ist, wird dazu neigen, auf der Ebene der praktischen revolutionären Maßnahmen spontaner und breiter produziert zu werden als heute.
Heute, da die traditionelle Figur des kapitalistischen Unternehmers tendenziell völlig verschwindet, zeigt sich die Tiefe der Krise daran, dass die Selbstverwaltung in einigen Ländern zu einer plausiblen konterrevolutionären Kraft wird. Zweifellos ist sie nur eine der Komponenten der Konterrevolution und wird wahrscheinlich mit anderen Formen koexistieren oder sich ihnen entgegenstellen, aber es ist möglich, die praktische Funktion der Selbstverwaltung zu skizzieren, die sich bereits aus dem inhärenten Charakter und Inhalt der Krise ergibt. Wenn die Tiefe der Krise das Ausmaß bestimmt, in dem die Arbeitskraft sich selbst in die Hand nimmt, dann kann sich die Selbstverwaltung (d.h. die Reorganisation der Krise der kapitalistischen Gesellschaft) nur in den Industrieländern entwickeln, in denen die organische Zusammensetzung des Kapitals nicht sehr hoch ist, vor allem in Frankreich und Italien. Die Krise ist per Definition ein Mangel an Profit. In diesen Ländern ist der Anteil des variablen Kapitals noch groß genug, so dass es in einer ersten Phase möglich sein könnte, gegen das Verschwinden der Profite anzukämpfen, indem man den Wert der Arbeitskraft radikal senkt. Natürlich würde dies auch in Ländern mit einer sehr hohen organischen Zusammensetzung des Kapitals geschehen, aber mit dem Unterschied, dass die Rolle der lebendigen Arbeit in diesen Ländern relativ gering ist und daher keine speziell auf dieses Ziel ausgerichtete Art der sozialen Organisation erforderlich wäre. Wie wir gesehen haben, ist in diesen Ländern – insbesondere in den USA – die Logik des Überschussprofits bereits im Profit selbst enthalten.
Die Selbstverwaltung ist eine Möglichkeit, den Widerspruch zwischen Verwertung und Entwertung durch die Arbeitskräfte zu kontrollieren, denn dann wäre die gesamte Gesellschaft so organisiert, dass der Wert der lebendigen Ware Arbeit gesenkt wird. Es geht darum, dass die Bevölkerung Tätigkeiten übernimmt, die bisher vom Kapital ausgeführt wurden und die folglich die Kosten für den Unterhalt der Arbeitskräfte erhöhen. Die Inhalte dieser Art von Selbstverwaltung können wir bereits teilweise in verschiedenen parallelen Überlebensnetzwerken sehen, die in den letzten Jahren entstanden sind (Parallelschulen, inoffizielle Kindergärten, Kliniken, Lebensmittelkooperativen usw.). Es ist bezeichnend, dass die Massenmedien mit Beginn der Krise begonnen haben, einige dieser Experimente zu veröffentlichen (z. B. die positive Darstellung der „freien Kliniken“ in der Fernsehsendung vom 31. März 1974).
Auf Unternehmensebene entwickelt sich die Selbstverwaltung zunächst in den Sektoren, in denen die niedrige Profitrate nicht durch eine Steigerung der Produktivität über eine Erhöhung der technischen Zusammensetzung des Kapitals kompensiert werden kann, da die Krise gerade ein Mangel an Kapital ist, das für solche Investitionen notwendig ist. Eine Produktivitätssteigerung kann jedoch durch eine weitere Unterwerfung der Arbeitskräfte unter den Produktionsprozess erreicht werden: Durch die Beseitigung verschiedener Formen des proletarischen Widerstands gegen die reale Herrschaft des Kapitals (Absentismus, Sabotage) ist es möglich, die Intensität und Geschwindigkeit des Arbeitsprozesses zu erhöhen. Verschiedene Versuche zur „Anreicherung der Arbeit“ und insbesondere die Organisation autonomer Arbeitsgruppen (Donelly, General Food, Volvo … ) fallen in diese Richtung, da sie aus den Schwierigkeiten des Kapitalismus mit der Verwertung seit Ende der 1960er Jahre resultieren; sie bleiben jedoch sehr begrenzte Experimente, da der Kapitalismus sie noch nicht im globalen Maßstab reproduzieren konnte.
Die Verschärfung der Krise, die die Frage der Selbstverwaltung aufwirft, wird solche Experimente verallgemeinern und ausweiten, denen ein angemessener Rahmen gegeben werden muss.63 Aus dieser Perspektive werden neue Gewinne aus der Steigerung der Produktivität und der Senkung der unproduktiven Kosten erzielt, da die Selbstverwaltung, wie der Name schon sagt, darin besteht, einen Teil der Aufgaben der Kapitalverwaltung an die Arbeitskräfte selbst zu übertragen.
Die Funktion der Selbstverwaltung im Unternehmen besteht also nicht darin, den Wert der Arbeitskräfte zu senken, sondern darin, den geeigneten Rahmen zu bilden, in dem die Arbeitskräfte militarisiert und an diese Art der Rationalisierung der Produktion angepasst werden.
In dieser hypothetischen Entwicklung, die den – wenn auch nur vorübergehenden – Sieg der Konterrevolution darstellt, bindet die Selbstverwaltung die Arbeiterinnen und Arbeiter an das Unternehmen; sie erhält die für das soziale Gefüge wesentliche Verbindung aufrecht, während sie gleichzeitig eine Bewegung durchführt, die über das Unternehmen hinausgeht – eine Bewegung, die die Gesellschaft in eine Gemeinschaft der Armut verwandelt. Die konzentrierte Selbstverwaltung ist die konterrevolutionäre Antwort auf die potenzielle Überwindung des Unternehmens durch austauschbare Arbeiterinnen und Arbeiter, die die Selbstverwaltung an den populären Nationalstaat bindet und in ihm versammelt. Wenn die Selbstverwaltung in den Industrieländern mit einer geringen organischen Zusammensetzung des Kapitals praktiziert wird, ist dies nicht nur auf die Produktionsstruktur dieser Länder zurückzuführen, sondern auch auf das Niveau der Ökonomie der Welt. Gebiete mit einer viel höheren organischen Zusammensetzung des Kapitals haben immer mehr Schwierigkeiten, die für die Reproduktion des Kapitals notwendigen Gewinne zu erzielen, aber ihre höhere organische Zusammensetzung ermöglicht es ihnen, den Werttransfer im Zuge des Austauschs mit weniger entwickelten Gebieten (ungleicher Austausch) zu ihren Gunsten zu gestalten. Dieser Wertzuwachs bildet die für sie immer notwendigeren Überschussgewinne, die sich daraus ergeben, dass die verkaufte Ware weniger Arbeit enthält als die, gegen die sie getauscht wird. Damit dieser Transfer funktioniert, muss jedes Land mit einer hohen organischen Zusammensetzung seine Fläche ständig vergrößern, was erklärt, warum die am weitesten entwickelten Länder immer zum freien Austausch gezwungen sind (z. B. die USA und der Gemeinsame Agrarmarkt).
Da der Bedarf an Überschussprofiten in einer Krisensituation steigt, werden die Länder mit einer hohen organischen Zusammensetzung des Kapitals versuchen, andere Länder in ihre Tauschzone zu zwingen. In einer weltweiten Krisensituation werden diese anderen Länder jedoch weniger denn je bereit sein, diese Wertflucht zu tolerieren, und werden versuchen, sich dagegen zu wehren, indem sie ihre Autarkie organisieren. Die Selbstverwaltung wird eine Rolle bei der Organisation dieser Autarkie und bei der allgemeinen Militarisierung der Bevölkerung gegen die überentwickelten Länder spielen, die dann als Feind definiert werden. (Dieser Antagonismus zeichnet sich bereits heute zwischen Frankreich und den USA ab.)
Die Selbstverwaltung könnte so zu einem Kriegsmechanismus für die ökonomisch schwachen Länder werden, zu einem Mechanismus des Dritten Weltkriegs, den ein solcher Interessenkonflikt auslösen kann.
Die Militarisierung der Arbeit und der Organisation durch die Nachbarschaft, die der Selbstverwaltung zugrunde liegt, würde sich natürlich auch auf die Militarisierung des Staatsbürgers ausweiten. Selbstverwaltung gibt es nur in Bezug auf die Gesamtheit und die Organisation von oben nach unten aller kapitalistischen Kategorien.
Die Begründung für einen solchen „selbstverwalteten Staat“ wäre der Antiimperialismus, den er noch verschärfen würde. Die kapitalistische extreme Linke wird dazu aufgerufen, eine zentrale Rolle in diesem Kriegsmechanismus zu spielen, wie die patriotische Mobilisierung im LIP-Konflikt und ihre Unterstützung für das eine Lager gegen das andere im letzten arabisch-israelischen Krieg zeigen. Es ist bezeichnend, dass sich in einer Partei wie der Sozialistischen Partei Frankreichs, die sich als Regierungspartei präsentiert, eine Fraktion – die CERES – auf der Grundlage der Selbstverwaltung und des gewalttätigen Anti-US-Imperialismus bilden kann. Nicht weniger bedeutsam ist, dass die Kommunistische Partei Frankreichs selbst der Meinung ist, dass „sich die Art und Weise, wie die Frage der Selbstverwaltung heute gestellt wird, positiv entwickelt hat“ und „Kommunisten auf dem Gebiet der Selbstverwaltung unübertroffen sind.“64 Schließlich müssen wir feststellen, dass die rein gaullistische Fraktion mit dem „US-Imperialismus“ auf Kriegsfuß steht – die „Progressive Front“ stimmt mit den linken Organisationen in der gesamten Bandbreite ihrer Programme überein (ganz zu schweigen von den Royalisten der N.A.F., die sich zu Parteigängern der Selbstverwaltung erklärt haben)
Die Selbstverwaltung scheint auf dem Weg zu sein, die neue Form der Union Sacrée (Heiligen Union) zu werden.
Allerdings droht die Autarkie der selbstverwalteten Länder bestimmte Widersprüche zu verstärken. Es stimmt zwar, dass diese Länder im Durchschnitt eine geringe organische Zusammensetzung des Kapitals haben, aber wir haben gesehen, dass sie auch hoch entwickelte Unternehmen haben, die kein Interesse an Autarkie haben können. Sie stoßen auch auf die Feindseligkeit anderer, weniger entwickelter Unternehmenszweige, die sinkende Gewinne nicht verkraften können und im Zentrum der Krise stehen, die gleichbedeutend mit der Liquidierung der kleineren ökonomischen Sektoren ist. So entsteht ein Interessenkonflikt über die Art und Weise, wie der Mehrwert aufgeteilt wird, wobei die weniger entwickelten Unternehmen und Sektoren versuchen, Mechanismen einzurichten, um den Wertverlust auf Sektoren mit einer höheren organischen Zusammensetzung des Kapitals abzuwälzen.
Dieser ungleiche Austausch spiegelt die ungleiche Entwicklung der verschiedenen Regionen wider, die mit dem Aufkommen der Krise zu einem Aufschwung regionalistischer Gewalt und damit einhergehend zu Thesen über eine „Neokolonisierung des Inneren“ führt.
Auf einer akuteren Ebene könnten diese Antagonismen zu einem kapitalistischen Bürgerkrieg führen, der einen Teil der für das Kapital notwendigen Zerstörung der Produktivkräfte vollzieht.
Die Selbstverwaltung könnte sich auch als politische oder eher administrative Form der Bewältigung der inneren Antagonismen entwickeln. Wenn wir „administrativ“ sagen, dann deshalb, weil diese unlösbaren Interessenkonflikte einer der Gründe für eine autoritäre Organisation der Gesellschaft wären. Wenn die Konterrevolution in diesen Ländern heute eine noch nie dagewesene Beteiligung der Lohnsklaven des Kapitals an der Aufrechterhaltung ihrer Sklaverei bedeutet, erfordert die Integrität aller wesentlichen Kategorien der kapitalistischen Produktionsweise eine übergeordnete Kraft (den metamorphosierten, aber sehr realen Staat), die alle einzelnen Teile miteinander verbindet und den Zusammenhalt einer chaotischen Gesellschaft sicherstellt: Jede andere Idee der Selbstverwaltung (als Teil der bourgeoisen Fiktion von Freiheit und Gleichheit) ist nichts anderes als eine reaktionäre Utopie, ein Traum, den der Kapitalismus, selbst wenn er „selbstverwaltet“ ist, unweigerlich zum Platzen bringen wird. 65
Genauso wie das sozialdemokratische Programm, das während des Festes der kapitalistischen Reproduktion (vor 1914) ausgearbeitet wurde, nur eine reaktionäre Utopie war, die schließlich in der Volksfront und vor allem im Nationalsozialismus verwirklicht wurde, können die Imperative der Krise von ultralinken Schemata nur zu Rezepten zur Rettung des Kapitalismus reduziert werden.
Während die Autonomie des revolutionären Proletariats unbestritten ist, wenn es eine Klasse für sich ist, impliziert die Konterrevolution auch eine gewisse Autonomie des „Proletariats“ als Klasse, die den Kapitalismus aufrechterhält. Darüber hinaus ist es in Bezug auf alle Komitees und anderen Organe der Basis, die in der Hitze der Krise entstehen, absolut notwendig, den Inhalt ihrer Tätigkeit ebenso wie den Inhalt der Bewegung, zu der sie gehören, ständig zu überprüfen, ohne sich von den Formen, die sie möglicherweise übernehmen, ablenken zu lassen.
1Karl Marx, Das Kapital, Band III (Moskau: Progress Publishers, 1966), S. 440.
2Die profitable Expansion des Kapitals.
3Entreprise, Nr. 967, S. 56, gibt ein Beispiel für diese Umwandlung eines Kapitals in eine Fiktion, nämlich die von British Petroleum: Zu einer Zeit (1972), als bei allen großen Ölgesellschaften der Investitionsbedarf stieg, während die Gewinne sanken, griff B.P. zur Finanzierung von Anlagen in der Nordsee auf ein Darlehen eines Bankenkonsortiums zurück, das mit einer Verzögerung von 5 bis 10 Jahren aus Mitteln zurückgezahlt werden sollte, die aus dem Verkauf von Öl aus dieser neuen Quelle stammten. So kann das neue produktive Kapital von B.P. auf einem erweiterten Niveau arbeiten, während das Geldkapital frühestens in fünf Jahren die entsprechende Größe erreicht haben wird.
4Vgl. G. Lefrancais, Mémoires d’un révolutionnaire, Paris : Ed. La Tête de Feuilles.
5Vgl. Problèmes Economiques, Nr. 1.357, 30. Januar 1974.
6A.d.Ü., Karl Marx – Friedrich Engels – Werke, Band 25, „Das Kapital“, Bd. III, Fünfter Abschnitt, S. 451 – 457 Dietz Verlag, Berlin/DDR 1983, SIEBENUNDZWANZIGSTES KAPITEL, Die Rolle des Kredits in der kapitalistischen Produktion
7In den entwickelten Staaten wird ihre Rolle als Verwalter der Arbeitskraft, die ihre Integration als Maschinerie in die kapitalistische Gesellschaft kennzeichnet, besonders deutlich, wenn sie – in Zusammenarbeit mit den Verwaltern des Gesamtkapitals – periodische Verträge über Lohnerhöhungen nach Produktionszweigen abschließen.
8Kommunistische Partei Frankreichs.
9G. LeFranc, Le syndicalisme en France, P.U.F.
10Serge Mallet, La nouvelle classe ouvrière, Paris : Seuil, 1963.
11Kapital, III, S. 388.
12Bordiga, Propriété et Capital, Kap. 4.
13Bordiga, Propriété et Capital, Kap. 4.
14Marx, Das Kapital, III, S. 380-381.
15Serge Mallet, La nouvelle classe ouvrière, S. 86-87.
16Bericht von Jean Boissonat, Chefredakteur von L’Expansion, an die Europäische Kommission, veröffentlicht in Problèmes Economiques, Nr. 1272, 17. Mai 1972.
17Serge Mallet, La nouvelle classe ouvrière, S. 102-103.
18Serge Mallet, La nouvelle classe ouvrière, S. 245.
19Die Demokratie entstand zusammen mit dem Wertgesetz zur Zeit der Auflösung der primitiven Gemeinschaften. Die athenische Demokratie war nur das Los der freien Männer, der anerkannten Staatsbürger; die Sklaven, die nach und nach zu den Hauptproduzenten wurden, waren durch die Definition des sozialen Wesens ausgeschlossen.
20Serge Mallet, La nouvelle classe ouvrière, S. 167.
21„Mini“ im Vergleich zu der allgemeinen Krise, die kommen wird.
22Vgl. insbesondere die „demokratische Verwaltung“ des Unternehmens, die demokratische Planung, in der neuen Perspektive der CGT, die im offiziellen Organ der CGT vorgestellt wurde: Le Peuple, Nr. 927, 16. bis 31. Oktober 1973.
23Marx, Un chapitre inédit du Capital, Paris : Ed. 10/18, 197 1, p. 201.
24Lip, Informationsbulletin, herausgegeben vom Komitee für Öffentlichkeitsarbeit der Arbeiterinnen und Arbeiter von Lip, S. 9.
25Vgl. „Syndicalisme-Hebdo“ (CFDT), zitiert in Le Monde, 9. August 1973.
26Ceyrac, zitiert von Le Monde, 21. September 1973.
27L’Expansion, September 1973, S. 100.
28Vgl. Dokument 3, Plan der Ebauches S.A. vom 8. Juni 1973, in Lip 73, Paris : Seuil.
29Le Monde, 22. September 1973.
30Le Monde, 22. September 1973.
31Le Monde, 7. Oktober 1973.31
32Alle Angaben in Francs, 5 f = 1 $. [1975 Fußnote]
33Le Monde, 14. August 1973.
34Le Monde, 14. August 1973.
35Chef der Sozialistischen Partei.
36Le Monde, 2. Februar 1974.
37Zitiert in Le Figaro, 7. Februar 1974.
38Lip Informationsbulletin, herausgegeben vom Komitee für Öffentlichkeitsarbeit der Arbeiterinnen und Arbeiter von Lip.
39AFP-Aussage, 8. Oktober 1973.
40Le Monde, 4. August 1973.
41Siehe Jean Lopez, Lip Interview, 18 rue Favart, 75002 Paris, November 1973, S. 27-31.
42Jean Lopez, Interview mit Lip, 18 rue Favart, 75002 Paris, November 1973, S. 30.
43Jean Lopez, Interview mit Lip, 18 rue Favart, 75002 Paris, November 1973, S. 31.
44Lip Informationsbulletin, herausgegeben vom Komitee für Öffentlichkeitsarbeit der Arbeiterinnen und Arbeiter von Lip, S. 11.
45Lip Informationsbulletin, herausgegeben vom Komitee für Öffentlichkeitsarbeit der Arbeiterinnen und Arbeiter von Lip, S. 9.
46Das Geld für den „Arbeiterlohn“ stammte nur aus dem Verkauf von Uhren, die die Arbeiterinnen und Arbeiter nach Beginn der Produktion hergestellt hatten. Hier ist also ein Beispiel für die proudhonistische Idee vom Recht des Produzenten auf sein Produkt. Generell lässt sich feststellen, dass die anfängliche Reaktion der Arbeiterinnen und Arbeiter zur Verteidigung ihrer Löhne im Laufe der Entwicklung der Situation zu einer Mischung aus archaischen Arbeiterklassentaktiken und modernen Verwaltungstechniken führte: die Wiederaufnahme der Produktion, um das oberflächliche Ziel (das tiefere Ziel ist die Verteidigung der Löhne) zu erreichen, die Bedeutung der produktiven Tätigkeit der Arbeiterinnen und Arbeiter im Gegensatz zur Überflüssigkeit des Chefs zu demonstrieren, die wirklich ein Merkmal der Arbeiterinnen und Arbeiter ist. Der Verkauf der produzierten Uhren (der ebenfalls durch den Wunsch, den Lohn zu verteidigen, motiviert war) demonstrierte auch die Fähigkeit der Arbeiterinnen und Arbeiter, die Dinge zu verwalten. Durch diese von der CFDT unterstützten Selbstverwaltungstendenzen erhielten Uhren und Löhne einen Preis und eine kapitalistische Form (zum Entsetzen einiger Situationisten).
47Zwischen dem 20. Juni und dem 16. November verkauften die Arbeiterinnen und Arbeiter 82.000 Uhren und erzielten damit einen Gesamterlös von mehr als 10 Millionen Franken (Zahlen von Ch. Piaget, zitiert in Le Figaro, 16. November 1973). Auf der Pressekonferenz der CFDT am 24. August – „Lip ist lebensfähig“ – wurde betont, dass das „Komitee für den Verkauf“ bereit sei, genaue Angaben zu den Modellen „Nachtigall“ und „Schlachtross“ sowie zu verschiedenen ästhetischen Verbesserungen zu machen, die an ihnen vorgenommen werden sollten. Außerdem stellte die CFDT fest, dass „die Erfahrungen mit dem Direktverkauf an Individuen und an Komitees in den Fabriken eine ernsthafte Analyse verdienen.“
48Vgl. Charles Piaget, Le Figaro, 16. November 1973.
49Die Werbung, die die Linke, die Neue Linke, die Gewerkschaften/die Syndikate und andere machten, um die Arbeiterinnen und Arbeiter auf den Besuch der Arbeiterinnen und Arbeiter von LIP vorzubereiten, beinhaltete einen einfachen Slogan, der sich bereits bewährt hatte: „Die Arbeiterinnen und Arbeiter von LIP kämpfen für alle Arbeiterinnen und Arbeiter“ (deshalb musst du sie unterstützen und vor allem finanzieren), gleichbedeutend mit „Ich fahre für dich“, das die LKW-Fahrerinnen und -Fahrer aufstellen, um dich zu überzeugen, ihre schwere Last zu ertragen. So läuft es in einer Gesellschaft, in der alle Tätigkeiten bei der Reproduktion des Kapitals zusammenarbeiten, in der jeder seine Arbeit zu erledigen hat, nicht zum Vergnügen, da kannst du sicher sein, sondern weil jede einzelne Unterbrechung dem allgemeinen Interesse schaden würde: die unerbittliche Logik der Situation, der jeder „Mann“ guten Willens zustimmen muss.
50 Interview mit Lip, 18 rue Favart, 75002 Paris, November 1973
51Es scheint, dass die Umwandlung von Geld in Produktionsmittel (Materialien) vorauszusehen war: siehe Le Monde vom 2. August 1973: „Laut den Verantwortlichen der Produktionsabteilung … wird es möglich sein, Rohstoffe zu kaufen: Wir prüfen verschiedene Vorschläge, die uns unterbreitet wurden.“ Diese Art von Managementlogik steckte auch hinter dem Versuch von „LIP“, den gesamten Reproduktionszyklus in Gang zu setzen: Siehe Le Monde vom 13. Juli 1973: „Die Arbeiterinnen und Arbeiter fügten hinzu: „Wir haben einen Plan für das Jahr erstellt, der eine Erneuerung der Uhrenproduktion und eine Wiederaufnahme der Aktivitäten in anderen Bereichen vorsieht.“ Die Räumung der Fabrik in Palente am 14. August [1973] setzte ihrem Vorhaben ein Ende. Dass die Arbeiterinnen und Arbeiter nicht in der Lage waren, den Kreislauf der kapitalistischen Reproduktion zu übernehmen, lag jedoch nicht in erster Linie am politischen Widerstand der Bourgeoisie, sondern vielmehr an der Unrentabilität des Unternehmens. Außerdem ist bekannt, dass Charbonnel, einer der Regierungsminister, am 12. Juli 1973 vorschlug, LIP in eine Genossenschaft umzuwandeln. Zu den Argumenten, die die CFDT gegen diese Idee vorbrachte, gehörten einige, die die unvermeidliche politische Feindseligkeit der Bosse mit ihrem Widerstand gegen ein von Arbeiterinnen und Arbeitern geführtes Unternehmen verbanden (siehe Le Monde, 21. August 1973). Dass die Genossenschaft nicht funktionieren würde, lag in erster Linie daran, dass sie keinen Gewinn erwirtschaften konnte. Ihr Delegierter Roland Vittot betonte in seiner Antwort an Charbonnel, dass die Gewerkschaften/die Syndikate den Vorschlag des Ministers ablehnten, da er einen „Beschäftigungsrückgang“ nicht aufgrund von Managementfehlern der alten Direktoren voraussah, sondern weil LIP zwangsläufig zu einem Fließband werden müsste, um zu überleben.
52Interview mit Lip, 18 rue Favart, 75002 Paris, November 1973
53Wir sollten, wenn auch nur am Rande, die Rolle der „Cahiers de Mai“ erwähnen, die zum größten Teil das Bulletin Lip Unité (Lip Vereint) übernommen haben. Seit einigen Jahren tritt diese Gruppe immer dann in Erscheinung, wenn die Arbeiterinnen und Arbeiter ein wenig Autonomie gegenüber den Gewerkschaften/den Syndikaten zeigen. Die organisatorische Flexibilität der „Cahiers de Mai“ macht sie zu einer idealen Ergänzung, ja sogar zu einer Beschönigung der gewerkschaftlichen/syndikalistischen Praxis, mit der sie durch ihre ausschließliche Bindung an eine Fabrik unmittelbar verbunden sind (im Gegensatz zu den „klassischen“ politischen Gruppierungen). Bei Pennaroya zum Beispiel organisierten sie 1972 in Abwesenheit der Gewerkschaft/des Syndikats von Anfang bis Ende den Streik der eingewanderten Arbeiterinnen und Arbeiter. Nach Beendigung des Konflikts halfen sie dann bei der Organisation einer lokalen Gewerkschaft/Syndikats in der Fabrik. Die scheinbare Zweideutigkeit der „Cahiers de Mai“ in ihrer Kritik an den Gewerkschaften/Syndikate (die sie für „spaltende“ Hierarchien verantwortlich machen), erinnert gleichzeitig an die Funktion der Gruppe, die Einheit unter einer atomisierten Arbeiterschaft zu fördern, und an ihren Ursprung im Mai 1968. Der Mai ’68 wurde zu oft für seine antibürokratische und antiautoritäre Dimension gelobt. Hin und wieder wurden die Grenzen dieser eindimensionalen Sichtweise aufgezeigt. Es bleibt zu zeigen, dass die Bewegung auf dieser Ebene auch bestimmte konterrevolutionäre Merkmale unserer Epoche vorwegnahm, die der Reifekrise des französischen Kapitalismus entsprechen, die der Mai 1968 bis zu einem gewissen Grad offenbarte.
54Und zwar genau zu dem Zeitpunkt, als es offensichtlich war, dass sie sich einer noch nie dagewesenen Öffentlichkeit erfreuten, indem sie sich der Techniken der herrschenden Moderne bedienten (siehe insbesondere die Wiederveröffentlichung des Gesamtwerks von Chaulieu, alias Cardan, alias Castoriadis usw. im Taschenbuch).
55Die Kapitalanhäufung in Boimondeau bedeutete das Ende des Experiments der Selbstverwaltung. Nach und nach wurde die Lohnhierarchie wiederhergestellt; ein oder besser zwei Eigentümer traten aus der Gemeinschaft hervor. Das Unternehmen legte neue Lohnskalen auf neuer Grundlage fest. Diese niedrigen Löhne waren das Verdienst eines der beiden Unternehmen, die Sträflinge nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis beschäftigten. Die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter lebten außerhalb von Uhrenstadt (La Cité Horlogère), die außer ihrem Namen nichts Kommunales an sich hatte (viele Arbeiterinnen und Arbeiter wurden nach dem Mai ’68 entlassen, weil sie gestreikt hatten). Das Unternehmen lebte unter Qualen weiter und wurde nach vielen Höhen und Tiefen 1970 schließlich liquidiert, also verkauft. (Die Informationen über das Unternehmen, die hier nur kurz wiedergegeben werden, stammen von einer ehemaligen Arbeiterinnen und Arbeitern von Boimondeau, die das Ende der kommunalen Selbstverwaltung miterlebt hat, und eines Gefährten, der kurz nach ’68 dort gearbeitet hat).
56Le Monde, 29. Januar 1974. Von den vielen Nachkommen dieser Arbeiterinnen und Arbeiter überlebten nur wenige mehr als ein paar Monate oder Jahre, da die meisten eine unmittelbare, beschönigende Antwort auf die Desorganisation des Nachkriegskapitalismus und die momentane Abwesenheit der kapitalistischen Investoren waren (die in gewisser Weise auch in der „LIP Gemeinschaft“ erschienen).
57G. Friedman in Le Monde, 22. März 1974.
58Die Tendenz des Kapitalismus, nach 1945 materielle Gemeinschaften zu bilden, die sich im Wohlfahrtsstaat in den USA verkörpert, ist nicht dasselbe wie das Verschwinden interner Antagonismen oder die Schaffung einer echten Gemeinschaft von Menschen, auch wenn diese entfremdet sind. Im Gegenteil: Dass der Kapitalismus gezwungen ist, solche Gemeinschaften in seinen Metropolen zu gründen, ist das Ergebnis der unausweichlichen Entwicklung seiner Widersprüche (die zuvor durch die Übernahme keynesianischer Theorien umgangen wurde) und hat die extreme Zersplitterung der Gesellschaft in atomisierte Individuen zum Inhalt. So wie die Verwertung von Waren die Zerstörung des Werts einschließt, so enthält die Wohlfahrt naturgemäß den personifizierten Widerspruch des Kapitals – den lebenden Proletarier. „Die Bourgeoisie lässt das Proletariat so tief fallen, dass sie es ernähren muss, anstatt von ihm ernährt zu werden“ (Kommunistisches Manifest, 1848). In der Tat kollidiert das Kapital als soziales Verhältnis mit dem Proletariat und ist nicht in der Lage, eine harmonische Gemeinschaft zu schaffen. Von einer „materiellen Gemeinschaft“ zu sprechen, bedeutet, die Unmöglichkeit anzuerkennen, dass sich die „kapitalisierten“ Proletarier (während des Nachkriegszyklus der erweiterten Reproduktion) zu einer eigenständigen Klasse formieren können; eine solche Situation macht die „traditionelle“ revolutionäre Militanz zu einem Desaster und verwandelt sie in einfache Erpressung. Aber die Krise der kapitalistischen Reproduktion wird die Zerstörung der materiellen Gemeinschaft herbeiführen und gleichzeitig die Reorganisation der Konterrevolution in einem Maße beschleunigen, das dem Grad der sozialen Desorganisation entspricht: Selbstverwaltung, wo immer sie möglich ist; ein weiterer Grund, die Art der Organisation, die sich jetzt entwickelt, genau festzulegen.
59[Für Révolution Internationale (in Nr. 5, Neue Reihe, B.P. 219 75827 Paris Cedex 17) bedeutete die Konfrontation mit der CRS eine Klassenvereinigung und den Übergang vom ökonomischen zum politischen Kampf, weil die Arbeiterinnen und Arbeiter den Rahmen der Fabrik überschritten hatten. Das Überschreiten des Rahmens der Fabrik an sich reicht jedoch nicht aus, um das Proletariat (oder einen Teil davon) als Klasse für sich zu bestimmen, es sei denn, es geschieht auf einer praktisch revolutionären Grundlage (sollte die Klasse gebildet werden, um den kollektiven Kapitalisten von LIP zu verteidigen?!) Tatsächlich könnte die Existenz des Unternehmens nirgendwo fortbestehen; die Bildung des Proletariats ist nur möglich, wenn die Dynamik des Kapitalismus – die Reproduktion des Kapitals – überschritten wird. Die Arbeiterinnen und Arbeiter von LIP hingegen gingen ständig über die Grenzen ihres Ortes hinaus, indem sie hierhin und dorthin reisten, ohne jemals über ihr Unternehmen hinauszugehen, dessen Erhalt der eigentliche Inhalt ihres Kampfes war. Die Art und Weise, wie R.I. die Dinge sieht, ergibt sich aus ihrer grundlegend politischen Auffassung von der kommunistischen Revolution und der damit verbundenen parteipolitischen Einstellung.
60Siehe z. B. Le Monde, 2. April 1974: „Die Lulus von Abbaye“ und „Beschäftigungsschwierigkeiten für die Jugend im Süden“.
61In Wirklichkeit wird sich diese doppelte Tendenz wahrscheinlich in Form von Antagonismen und proletarischen Fraktionen manifestieren, die erst die eine, dann die andere Seite verkörpern, wie es in Deutschland 1919-21 der Fall war und die durch die Entwicklung des heutigen Kapitalismus nur noch verstärkt wurde. (Siehe Négation Nr. 2, Intervention Communiste Nr. 2, und Bulletin Communiste vom Mai 1973. H. Simon, B.P. 287, 13605 Aix-en-Provence.)
62Der Text „Critique du conflit Lip et tentative de dépassement“ [Kritik des LIP-Konflikts und Versuch, ihn zu überwinden] (P. Laurent, 32, rue Pelleport, 75620 Paris) ist ein Beispiel für die programmatische Konzeption der kommunistischen Theorie: Er erklärt den Arbeiterinnen und Arbeitern zum Teil, was sie tun und was sie nicht tun sollen. Das Ablenkungsmanöver von Lip Unité (unbekannter Herkunft, aber vervielfältigt von Quatre Millions de Jeunes Travailleurs, B.P. 8806, 75261 Paris Cedex 06) setzt sich schlicht und einfach an die Stelle der Arbeiterinnen und Arbeiter von LIP, um sie dazu zu bringen, zu sagen, was sie hätten tun sollen, wenn … wenn was, in Wirklichkeit? Diese Arbeitsweise neigt dazu, die programmatischen Vorstellungen der oben genannten zu verschleiern. Im Allgemeinen drückt die Ablenkungsmethode die Unmöglichkeit jeglicher Art von (auch potenzieller) revolutionärer Bejahung einer Bewegung aus. Es ist kein Zufall, dass diese Methode von den Situationisten als „subversive Praxis“ in einer Zeit eingeführt wurde, als das Proletariat völlig unter der Herrschaft des Kapitals stand.
63In der Krise der 1930er Jahre, als von Selbstverwaltung noch keine Rede sein konnte, wurde in den deutschen Schuhfabriken die gerade erst eingeführte Fließbandarbeit unterdrückt. Diese „Entrationalisierung“ – eine neue, der Krise angepasste Rationalisierung – war damals ein vergeblicher Versuch, die Arbeitslosigkeit auszugleichen. (Siehe Carl Steuerman [Pseudonym für Otto Rühle], La crise mondiale, Paris : Gallimard, 1932, S. 50.)
64 L’Humanité, 15. Februar 1974.
65Es ist klar, dass die Arbeiterschaft auf dieser Ebene nicht gleichzeitig Agent und Objekt des Kapitals sein kann; auch würde die Rolle des Agenten im selbstverwalteten Staat natürlich von einer Koalition übernommen, die aus dem „fortschrittlichsten“ Rand der ökonomischen und politischen Manager kommt (Bidegain, Neuschwander, J. Delors, Edgar Faure, zum Beispiel), Bürokraten der Linken und der Neuen Linken, einschließlich ihrer gewerkschaftlichen/syndikalistischen Pendants, ganz zu schweigen von einem Teil der Arbeiterklasse, der sich über verschiedene Komitees und Räte aus der Basis rekrutiert (Monique Piton und andere Mitglieder des lippischen Aktionskomitees erhielten eine Audienz bei E. Faure – zweifellos, um sich um den kleinen Mann zu kümmern).
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Auf antimilitarismus.noblogs.org erschienen, und auch per Mail erhalten und von uns übersetzt. Hier eine erste Zusammenfassung des andauernden Konfliktes welches wir Anarchistinnen und Anarchisten die real gegen Staat-Nation, gegen Kapital, Patriarchat… kämpfen, gegen jene sogenannten „(NATO)Anarchist*innen“ die nicht anderes sind als die möchte-gerne Nolke´s des Kapitals, führen. Wir werden diesen Thema in näherer Zeit einen längeren Text widmen, aber fürs erste der Text hier der über die Lage in der Tschechischen Republik schildert.
* Die Linke des Kapitals sabotiert die anarchistische Bewegung: Wehren wir uns!
Kurz nach der Eskalation des Krieges in der Ukraine begannen zwei völlig unterschiedliche Tendenzen, sich unter dem Banner der Anarchie zu manifestieren. Die eine Tendenz besteht darauf, dass alle innerstaatlichen Kriege Konflikte der Bourgeoisie gegen das Proletariat sind und unsere Beteiligung daran daher nicht den Interessen der ausgebeuteten Klasse zugute kommen kann. Die andere Tendenz konzentriert sich auf die materielle, ideologische und propagandistische Arbeit zur Unterstützung der staatlichen Kriegsanstrengungen der Ukraine und sieht dies als pragmatischen Schritt für die zukünftige Selbstorganisation.
Mit Blick auf diese beiden Tendenzen sprechen viele von einer grundlegenden Spaltung der anarchistischen Bewegung. Doch die „Spaltungstheorie“ geht davon aus, dass es sich um verschiedene Erscheinungsformen einer Bewegung handelt, was nicht der Realität entspricht. Vielmehr sind wir Zeugen der Entwicklung zweier völlig unterschiedlicher Bewegungen, die sich derselben anarchistischen Symbolik bedienen: einer revolutionären proletarischen Bewegung, die die Welt durch die Brille des Klassenkampfes betrachtet, und einer schwarzen sozialdemokratischen Bewegung, die die Welt durch die Brille des Radikaldemokratismus, d.h. des linken Reformismus und Opportunismus, betrachtet.
Während die erste Bewegung ihre Grundlage in der Entwicklung proletarischer Autonomie im Gegensatz zur Macht der Bourgeoisie hat, ist die Grundlage der zweiten Bewegung die Zusammenarbeit zwischen den Klassen – die nationale Vereinigung des Proletariats mit der Bourgeoisie. Im Falle eines Krieges in der Ukraine versucht die erste Bewegung, sich mit den Proletariern in der Ukraine, in Russland und in anderen Teilen der Welt zu verbinden; die zweite Bewegung bindet das Proletariat an das Projekt der Bourgeoisie, indem sie es dazu drängt, die bourgeoisen Fraktionen zu unterstützen, die jetzt unter dem Druck des russisch-chinesischen imperialistischen Blocks stehen. Obwohl beide Bewegungen das Etikett „anarchistisch“ für sich beanspruchen, handelt es sich in Wirklichkeit um zwei Bewegungen, die sich antagonistisch zueinander verhalten. Die Spannungen und Widersprüche zwischen ihnen lassen sich nicht aufheben oder überbrücken. Revolutionäre Energie und konterrevolutionäre Energie treffen hier aufeinander.
* Manifestationen der Sabotage durch die Linke des Kapitals
Wenn wir vom Antagonismus zweier entgegengesätzter Bewegungen sprechen, geht es um ganz konkrete Konfliktsituationen, in denen eine Seite versucht, sich auf Kosten der anderen durchzusetzen. Die sozialdemokratische, kriegsbefürwortende Tendenz der Linken des Kapitals hat jetzt die zahlenmäßige und materielle Überlegenheit. Ihre Anhänger*innen sind sich dessen bewusst und starten deshalb mit einem gewissen Selbstbewusstsein Angriffe auf revolutionäre anarchistische Strukturen und Projekte. Ihr Ziel ist es, der authentischen anarchistischen Bewegung die Ressourcen, die Unterstützung und den Raum für ihre Präsentation zu entziehen. Kurz gesagt, sie zu unterdrücken und zu marginalisieren. Das Arsenal der eingesetzten Methoden ist breit gefächert. Manchmal werden zum Beispiel anarchistische Projekte unter verschiedenen Vorwänden von öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen. In der Tschechischen Republik ist eine beliebte Ausrede der „Mangel an Kapazitäten“. Dazu werden verschiedene liberale Vereinigungen, NGOs oder Wohltätigkeitsorganisationen zu einer Veranstaltung eingeladen und den anarchistischen wird dann gesagt, dass für sie kein Platz mehr ist. Man denke nur an das Riot River Over Festival oder das Anarchist Book Festival im Winter in Prag.
„Eine anarchistische Buchmesse ohne anarchistische Inhalte?
06.12.2023
Das Winter Anarchist Book Festival in Prag steht vor der Tür. Wer erwartet, dort über den AMI-Stand zu stolpern, wird wahrscheinlich enttäuscht sein. AMI-Materialien werden auf der Buchmesse nicht angeboten, und so wie es aussieht, auch nicht die Publikationen des Historischen Vereins Zadruha, des Verlags Subverze, von Třídní války (Klassenkrieg) usw. Einige anarchistische Projekte waren einfach nicht in der Lage, zum „anarchistischen“ Festival einzuladen. Die Projekte, die an einer Teilnahme interessiert waren, wurden abgewiesen. Sie sagten, es gäbe keinen Platz mehr. Nun, natürlich, wie könnte da noch ein Platz frei sein, wenn er von liberalen Vereinigungen wie A2, Alarm, Broken Books, Divus, Utopia libri und Kudla Werskstatt besetzt ist? Liberale werden herzlich willkommen geheißen, während anarchistische Projekte abgelehnt werden. Klar, soll jeder einladen, wen er will. Aber es sollte niemanden überraschen, dass die Leute spotten, wenn eine Versammlung von Liberalen als anarchistische Veranstaltung präsentiert wird.
Das Team, das das Festival organisiert, hat sich für diese seltsame Konstellation entschieden, aber die Aktivitäten der AMI sind davon nicht betroffen und werden auch nicht beeinträchtigt werden. Wir wollen unseren Unterstützern nur die Hintergründe erklären, warum unsere Publikationen bei dieser Veranstaltung nicht dabei sein werden.
Kurz gesagt: Anarchistische Projekte müssen sich eine andere Basis suchen als Veranstaltungen wie diese. Sie müssen sie selbst aufbauen, organisieren und entwickeln. Sie müssen Verbündete im proletarischen Milieu suchen und nicht im Milieu der reformistischen Linken, die von idealistischen Mittelschichtsliberalen angeführt wird. Von ihnen können wir nichts Gutes erwarten. Die Liberalen werden immer nur konterrevolutionäre Inhalte anbieten, die uns in den Sumpf des Reformismus verführen werden. Die AMI lehnt solche Inhalte ab. Wir empfehlen anderen, das Gleiche zu tun.“
Eine andere Methode besteht darin, aktiv Druck auf verschiedene Kollektive auszuüben, um anarchistischen und antimilitaristischen Projekten die Zusammenarbeit zu verweigern. Wir können zum Beispiel diesen Druck erwähnen:
„Warum hat die AMI keinen Stand auf der anarchistischen Buchmesse in Brünn?
18.10.2023
Ursprünglich hat die Antimilitaristische Initiative [AMI] eine Einladung zur Anarchistischen Buchmesse angenommen, die am 21.10.2023 in Brünn stattfindet. Mit dieser Erklärung wollen wir erklären, warum die AMI nun doch nicht an der Veranstaltung teilnehmen wird. Später werden wir auf einige der Punkte in einer tieferen Analyse eingehen, die hoffentlich den weiteren Kontext und Hintergrund aufzeigt.
Von dem Kollektiv, das die Buchmesse organisiert, haben wir *Informationen* über die Initiative einer uns bekannten Person aus dem Verlag Utopia libri erhalten. Diese Person sollte dem Buchmessekollektiv mitteilen, dass die Teilnahme des Verlags an die Bedingung geknüpft war, dass die Antimilitaristische Initiative, der Historische Verein Zádruha und Lukáš Borl nicht an der Veranstaltung teilnehmen würden. In ähnlicher Weise äußerten sich später auch die Leute aus dem Umfeld des Verlags der Anarchistischen Föderation. Diese besondere „Bitte“ sollte damit begründet werden, dass die oben genannten Initiativen antimilitaristische Ansichten vertreten, die in ihrer Form als beleidigend gegen ihre Freunde gewertet werden. Bisher wurde uns nicht erklärt, warum antimilitaristische Positionen in einem anarchistischen Milieu als Problem bewertet werden sollten. Niemand hat auch nur erklärt, welche konkreten Angriffe von der AMI vorgenommen werden sollten.
Sicherlich veröffentlicht die AMI Texte und Analysen, die begründen, warum es wichtig ist, sich gegen alle militaristischen Tendenzen abzugrenzen. Die AF (Anarchistische Föderation) wiederum veröffentlicht Texte, in denen sich die Föderation gegen Anhänger des Antimilitarismus abgrenzt. In diesem Zusammenhang sind wir nicht der Meinung, dass die Äußerungen der AMI als Aggression bewertet werden sollten, während die Äußerungen der AF mit einem anderen Maßstab gemessen werden sollten.
Wir halten die Anwendung von Zwangsmethoden, die darauf abzielen, Anarchist*innen und ihre Aktivitäten systematisch von als anarchistisch dargestellten Aktionen auszuschließen, für inakzeptabel. Ein solches Verhalten ist heimtückisch und verletzend. Außerdem versuchen diejenigen, die auf diese Weise handeln, das Organisationsteam der Buchmesse als Vermittler für ihre eigenen Zwecke zu benutzen. Glücklicherweise hat das Organisationsteam dem Druck standgehalten und ist den intriganten „Forderungen“ nicht nachgekommen, so dass am Ende niemand von der Teilnahme an der Buchmesse ausgeschlossen wurde. Die Antimilitaristische Initiative weiß dies sehr zu schätzen.
Es ist inakzeptabel, Individuen oder anarchistische Projekte zu ächten, weil sie antimilitaristische Positionen vertreten, denn diese sind eine der Grundlagen des Anarchismus. Die AMI appelliert daher an andere, der Anarchistischen Föderation und Utopia Libri offen klarzumachen, dass ihre Aktionen nicht akzeptabel sind.
Es wird keinen AMI-Stand auf der Buchmesse in Brünn geben, denn wir wollen nicht neben denen stehen, die sich gegen uns verschwören und uns außerdem heimlich hintergehen, um es uns schwer zu machen, uns zu verteidigen. Es geht uns darum, die Würde und Integrität des gemeinsamen Projekts zu bewahren. Gleichzeitig liefert uns die ganze Angelegenheit weitere Gründe, uns auf die Schaffung einer autonomen Infrastruktur zu konzentrieren, die den Anarchismus im Geiste seiner revolutionären Tradition weiterentwickelt, anstatt vergeblich nach Gemeinsamkeiten mit denen zu suchen, die konsequent reformistische und konterrevolutionäre Tendenzen vertreten.
ANTIMILITARISTICKÁ INICIATIVA [ AMI ] – 18. 10. 2023
// ANTI-MILITARIST INITIATIVE // ANTIMILITARISTISCHE INITIATIVE
// INIZIATIVA ANTI-MILITARISTA // INITIATIVE ANTI-MILITARISTE //“
Bei dem von der Anarchistischen Föderation und dem Verlag Utopia libri an das Kollektiv der Brünner Buchmesse, um der Antimilitaristischen Initiative und dem historischen Verein Zadruha den Zugang zur Veranstaltung zu verwehren. Es ist bezeichnend, dass solche Druckmittel in der Regel völlig intrigant hinter dem Rücken der Personen, denen der Zugang zu den Räumlichkeiten verwehrt werden soll, eingesetzt werden und oft von einer verlogenen Verleumdungskampagne begleitet werden: Anarchist*innen werden fälschlicherweise als Aggressor*innen oder Pazifist*innen, Dogmatiker*innen, Puritaner*innen, Putinist*innen oder Apologet*innen für die Unterstützung der kriegsgeschädigten Bevölkerung abgestempelt. Solche unsinnigen Anschuldigungen beruhen oft auf Verdrehungen, glatten Lügen und der Verweigerung der Fähigkeit der beschuldigten Personen, sich zu verteidigen. Für Menschen, die mit den Zusammenhängen weniger vertraut sind, reichen solche vagen und unbewiesenen Anschuldigungen oft aus, um die Zusammenarbeit mit Anarchist*innen zu beenden. In der Praxis kann das zum Beispiel bedeuten, dass eine vereinbarte Veranstaltung ein paar Tage vor dem geplanten Termin abgesagt wird, wie im Fall der Spendenaktion Make Tattoo Not War, die abgesagt wurde (…)
„Make Tattoo Not War“-Veranstaltung abgesagt //
Die Make Tattoo Not War Benefiz-Tattoo-Party wird wahrscheinlich nicht stattfinden. Dies ist das Ergebnis des aktiven Eingreifens der Mitglieder der Anarchistischen Föderation (AF) und ihres Drucks auf das Safe Space Kollektiv, das uns ursprünglich einen Raum für die Veranstaltung versprochen und diese Möglichkeit später wieder weggenommen hat.
Wir bedauern, dass eine Aktion zur Unterstützung von Menschen, die vom Krieg betroffen sind, mit den Intrigen von Leuten konfrontiert wird, die sich zwar als Anarchist*innen (gemeint ist die AF) bezeichnen, aber die Politik der Sozialdemokratie betreiben. Die ukrainische Bourgeoisie und die NATO-Bonzen mögen dankbar sein für die Positionen, die sie vertreten, aber nicht das Team der Aktionswoche. Wir werden später weitere Informationen zu diesem Vorfall veröffentlichen.“
Auf Betreiben der Mitglieder der Anarchistischen Föderation. Diese hatte, wie in anderen Fällen auch, nicht einmal den Mut, ihre Aktion den Betroffenen direkt mitzuteilen. Das deutet darauf hin, dass sie, obwohl sie von Positionen aus angreifen, die derzeit in der Mehrheit sind, die direkte Konfrontation scheuen. Das ist eine Schwäche, die die anarchistische Bewegung strategisch gegen sie ausnutzen sollte.
Das umfassende Kapitel selbst könnte dann eine Propagandastrategie sein. Die Linke des Kapitals versucht systematisch, die revolutionäre anarchistische Strömung in ihren Medien auf die Stimme von einigen wenigen zu reduzieren. Damit wollen sie in ihrer Propaganda bei ihren Anhänger*innen das Gefühl nähren, dass es sich nicht um eine eigenständige Bewegung handelt, sondern um die marginale Stimme einiger weniger isolierter Verrückter. Das zeigt sich unter anderem darin, dass anarchistische kritische Stimmen, die anonym geäußert werden, immer wieder spekulativ denselben Personen zugeschrieben werden, als ob es unmöglich jemand anderen mit demselben Standpunkt geben könnte. Auch die Äußerungen von Kollektiven werden willkürlich als Äußerungen von Einzelpersonen dargestellt, und einige seit langem bestehende Gruppen werden sogar als nicht existent abgestempelt, wie es die Anarchistische Föderation im Fall der Gruppe Tridni Valka (Klassenkrieg) tut.
„Zur Verteidigung des Klassenkampfes: Ein offener Brief an die Anarchistische Föderation
Wir haben erhalten und veröffentlichen
Wir haben einen offenen Brief an die Anarchistische Föderation erhalten und veröffentlichen ihn hier. Darauffolgend drucken wir einen offenen Brief an die AFed ab, der uns von seinem Verfasser P.Z. zugesandt wurde. Dies ist sein Beitrag zu der Kontroverse über die Position der anarchistischen Bewegung zum Krieg. Eine kleine Zusammenfassung für diejenigen, die diese Diskussion bisher verpasst haben:
Im Januar 2022 veröffentlichte die Antimilitaristische Initiative eine tschechische Übersetzung von Alex Alders Text British Anarchism Succumbs to War Fever1, in dem er sich selbst als „die anarchistische Bewegung in Großbritannien (und anderswo) definiert, die die Armee einer Nation gegen eine andere unterstützt und die ukrainischen Kriegsanstrengungen ideologisch rechtfertigt und materiell untermauert.“
Wayne Price reagierte auf diesen Text mit seinem Beitrag Are anarchists succumbing to war fever? (englische Übersetzung veröffentlicht von AFed), in dem er die Unterstützung einiger „Anarchisten“ für die ukrainische Seite des Konflikts mit dem Argument verteidigt, dass „Anarchisten zwar den Nationalismus, nicht aber das Ziel der nationalen Selbstbestimmung ablehnen“ und dass es eine „Interessensübereinstimmung zwischen dem westlichen Imperialismus und dem ukrainischen Volk“ gegeben habe.
Viele Klassenkämpferinnen und -kämpfer auf der ganzen Welt waren über eine solche Position schockiert. In einer Diskussion mit den Gefährtinnen und Gefährten der Antimilitaristischen Initiative, die sich seit Kriegsbeginn weigern, die eine oder andere Seite im Krieg zu unterstützen und zu Sabotage an der Front und im Hinterland, zu Desertionen, Verbrüderung und Meuterei aufrufen, waren wir uns einig, dass es notwendig ist, auf solche Verzerrungen des revolutionären Programms zu reagieren. Das Ergebnis war ein kurzer gemeinsamer Text von TV und AMI Was gibt es Neues im „Anarchismus“? Nationale Selbstbestimmung und die Übereinstimmung von Interessen mit dem Kapital?!2, in dem der revolutionäre Defätismus als die einzig mögliche Position des Proletariats zum Krieg betont wird.
Wayne Price antwortete mit dem Text Anarchists Support Ukraine’s Right to Self-Determination (englische Übersetzung veröffentlicht von AFed), in dem er Absurditäten wie „Opposition gegen Nationalität (Nationalismus) und Anti-Nationalismus sind zwar die Meinung von Tridni Valka, aber sie gehören nicht zur anarchistischen Tradition.“ (sic!) oder „Wenn du die ukrainische Seite nicht unterstützt – wenn du die Ukrainer dazu aufforderst, sich nicht auf die einzige Art und Weise zu verteidigen, die sie im Moment haben – dann ja, dann unterstützt du die russische imperialistische Aggression und den Massenmord.“ (Wayne Price‘ Kommentar zu seinem eigenen Artikel auf anarchistnews.org). Das sind Dinge…
Zu dem offenen Brief von P.Z. selbst fügen wir Folgendes hinzu:
Der Klassenkampf wird als Teil der praktischen und historischen Bewegung des Proletariats und seines Kampfes gegen die Diktatur des Kapitals gesehen. Eine revolutionäre soziale Bewegung, in der sich die ausgebeutete Klasse als revolutionäre Klasse etabliert, als eine weltweite Kraft, die im Kampf gegen ihren historischen Feind, die Bourgeoisie, vereint ist, als eine Kraft zur Abschaffung aller Herrschaft, aller Ausbeutung und aller Staaten.
Diese Bewegung, die wir nach Belieben anarchistisch oder kommunistisch nennen können, materialisiert sich in allen möglichen konkreten Formen, formell und informell, und ist in jedem proletarischen Kampf präsent, der das Kapital angreift.
Das Kriterium für die Zugehörigkeit zu dieser Bewegung ist keine Lizenz, die von einer „anarchistischen Organisation“ erteilt wird, sondern nur die praktische Treue zum proletarischen Programm zur Abschaffung von Lohnarbeit, Staat und Kapital und zur Verwirklichung einer Gesellschaft mit echter menschlicher Gemeinschaft.
In diesem Rahmen findet eine ständige Diskussion über die Klärung des revolutionären Projekts unserer Klasse statt, unter anderem als Reaktion auf die materielle und ideologische Entwicklung des Kapitals.
Diese Debatte findet natürlich auch über den aktuellen Krieg in der Ukraine statt. Aber diese Diskussion muss, wie jede Diskussion, die keine sterile Präsentation verschiedener Meinungen sein soll, auf gemeinsamen Annahmen, auf gemeinsamen Positionen beruhen, die für uns Antimilitarismus, Internationalismus und revolutionärer Defätismus sind. Kurz gesagt, sie muss auf der Weigerung beruhen, die eine oder andere der Kriegsparteien zu unterstützen. Auf der Position, dass das Proletariat, wenn es sich vom Gemetzel des Krieges befreien will, den revolutionären Defätismus verallgemeinern, den sozialen Zusammenhalt nicht nur in der Armee, sondern in der gesamten Gesellschaft aufbrechen und dem Nationalismus ein Ende setzen muss, indem es laut und deutlich erklärt, dass die Proletarier weder an diesem Krieg noch an der Welt des kapitalistischen Friedens ein Interesse haben. Wir rufen nur zu einem Krieg auf, und zwar zu dem, der gegen unsere Ausbeuter geführt wird, egal ob es sich um Russen, Ukrainer, Amerikaner, Tschechen oder sonst wen handelt.
Wenn die anarchistische Bewegung darüber debattieren soll, was sie in einem Krieg tun soll, muss sie darüber debattieren, wie sie den Widerstand dagegen in einer revolutionären Perspektive (konkrete Aktionen und programmatische Positionen) organisieren kann, und nicht, welche Partei sie unterstützen oder wie viele Granaten sie kaufen soll. Den Kriegstreibern in der anarchistischen Bewegung und ihrer Debatte Raum zu geben, bedeutet für uns, genau diese Debatte über die entscheidenden Fragen des Proletariats zu behindern!
Wir fügen hinzu, dass wir, wenn wir uns einer anarchistischen oder kommunistischen revolutionären Bewegung anschließen, in keiner Weise Teil der „anarchistischen Familie“ sind und sein wollen, die nicht auf einem revolutionären Programm, sondern auf verschiedenen Graden von Affinität innerhalb des Anarchismus als Ideologie beruht. Wir stehen auf der Seite der Anarchie gegen die ideologischen „Anarchisten“, die nationale Befreiungskämpfe und damit den bürgerlichen Staat und den Kapitalismus unterstützen!
Kein Krieg außer dem Klassenkrieg!
Tridni Valka – Juni 2023
Zur Verteidigung von Tridni Valka (Klassenkrieg): Ein offener Brief an die Anarchistische Föderation
Mit diesem offenen Brief möchte ich auf die jüngsten Angriffe der Anarchistischen Föderation (AF) gegen die Gruppe Tridni Valka (TV) reagieren. Ich bin kein Mitglied einer dieser Gruppen. Dennoch möchte ich nicht schweigen, wenn Diskussionen in der anarchistischen Bewegung in bösartige Angriffe und als Fakten ausgegebene Spekulationen ausarten.
Als die AF einen Artikel von Wayne Price als Antwort auf den Artikel von TV veröffentlichte, leitete sie ihn mit den Worten ein: „Wayne Prices Antwort auf den ideologischen Shitstorm einer Gruppe, die offensichtlich nicht einmal eine Gruppe ist“, und in den Kommentaren unter dem Artikel fügt die Föderation hinzu: „Es ist wichtig festzuhalten, dass die Gruppe Tridni Valka kein Teil der tschechischen anarchistischen Bewegung ist, niemand hat sie jemals auf der Straße gesehen, niemand hat jemals davon gehört, dass sie irgendwelche echten Aktionen organisiert und es ist fraglich, ob sie mehr als ein Mitglied hat.“
Ich verstehe nicht, wie es möglich ist, dass Menschen, die behaupten, Teil der anarchistischen Bewegung zu sein, solche manipulativen und entmenschlichenden Methoden gegen Anarchist*innen mit einer anderen Meinung anwenden können. Mit diesem Brief möchte ich die Aktionen der Anarchistischen Föderation öffentlich als Problem benennen und die Organisation auffordern, solche heimtückischen Handlungen einzustellen.
Worin sehe ich also das Problem? Aus den Reden der AF geht hervor, dass sie die Mitglieder von Tridni Valka nicht persönlich kennt. Diese kann sie dann kaum auf der Straße identifizieren, wenn sie dort sind, sie kann kaum wissen, welche Aktionen Tridni Valka durchführt. Menschen, die mit der Geschichte des Anarchismus vertraut sind, wissen, dass anarchistische Gruppen in einigen Fällen an sozialen Kämpfen teilgenommen haben, ohne das Bedürfnis zu haben, mit der eigenen Fahne zu winken, ohne allen um sich herum zu sagen, was ihre organisatorische Zugehörigkeit ist. Wie kann die AF also wissen, dass Tridni Valka nicht an Aktionen teilnimmt oder diese organisiert? Es gibt Demonstrationen, Ausschreitungen, Streiks, Sabotagen, Enteignungen, Blockaden, Besetzungen und andere Manifestationen des Klassenkampfes an verschiedenen Orten auf der Welt. Wer kann mit Sicherheit sagen, dass Tridni Valka niemals in einer Gruppe an diesen Ereignissen teilnimmt? Außerdem veröffentlicht und produziert Tridni Valka schon seit vielen Jahren Analysen von Klassenkämpfen. Es ist nicht fair, dies zu ignorieren und so zu tun, als ob Theorien und Analysen nicht Teil der anarchistischen Praxis sind. Wenn jemand behaupten würde, dass die produktiven Aktivitäten des Verlags der Anarchistischen Föderation und die Veröffentlichungen auf der Website der Föderation keine Aktivitäten/Aktionen sind, würde die AF das wahrscheinlich auch als ignorant betrachten.
Die AF scheint eine Organisation zu sein, die „alles“ (kritisch!?) unterstützen muss, die „bei allem“ gesehen werden will und die oft Fotos macht und diese im Internet veröffentlicht. Sie haben sich für diesen Weg entschieden. Aber warum tun sie so, als gäbe es für anarchistische Gruppen keine anderen Möglichkeiten, sich zu organisieren? Die AF behauptet, dass das Fernsehen nicht Teil der anarchistischen Bewegung ist. Sie versucht, eine bestimmte Gruppe aus der Geschichte des Anarchismus zu „löschen“, weil ihr deren kritische Analyse nicht gefällt. Als die Stalinist*innen lange Zeit ihre Gegner*innen aus der Geschichte der Arbeiterkämpfe „ausradierten“, wurde das von den Anarchist*innen verständlicherweise scharf kritisiert. Warum haben einige jetzt kein Problem damit, ebenso abscheuliche Methoden anzuwenden?
Anstatt zuzugeben, dass sie eigentlich nichts über Tridni Valka und deren Aktionen weiß, präsentiert uns die Anarchistische Föderation mit übertriebenen Behauptungen, dass Tridni Valka als Gruppe eigentlich nicht existiert. Sie sagen, es sei offensichtlich. Ist es das? Vielmehr scheint es, dass die AF ihre Wünsche als unbestreitbare Tatsachen ausgibt. Die Behauptungen der Föderation sind rein spekulativ, sie sind unbegründet. Das ist ungefähr so, als würde eine Gruppe behaupten, dass Luft nicht wirklich existiert, weil sie noch nie Luft gesehen hat. Durch eine Analyse kann bewiesen werden, dass sowohl Luft als auch Tridni Valka existieren. Aber die AF schert sich einen Dreck um Analysen. Sie zieht es vor, bösartig anzugreifen, zu entmenschlichen, zu fantasieren, zu spekulieren…
Wenn die AF die Existenz von Tridni Valka aufgrund ihrer eigenen Unwissenheit in Frage stellt, ist sie ignorant und eigennützig. Der Anarchismus kann davon kaum profitieren. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Anarchistische Föderation es einfach nicht erträgt, wenn ihr ein Spiegel vorgehalten wird. Tridni Valka kritisiert die Anarchistische Föderation auf energische, aber substanzielle Weise, und ich kann mir vorstellen, dass das schwer zu ertragen ist. Es ist auch deshalb schwierig, weil die AF nicht wirklich weiß, wer genau die Kritik formuliert. Sie kennt keine bestimmten Gesichter, Namen oder Persönlichkeiten. In einer solchen Situation kann eine aggressive Reaktion Ausdruck der Unfähigkeit sein, die eigenen Gefühle von Wut und Frustration zu verarbeiten. Ich glaube, das ist es, woran AF erkrankt ist. Aber ich werde mich nicht auf das gleiche Niveau herablassen und sagen, dass es offensichtlich ist. Ich gebe zu, dass das, was ich schreibe, nur eine Überlegung ist und ich mich irren könnte. Wenn ich falsch liege, wird mich AF dann in die Irre führen oder wird einfach eine weitere unbelegte Behauptung in den Raum werfen, die sich als offensichtliche Tatsache tarnt? Ich lasse mich überraschen.
– Pavel Z. – ( zaba @ riseup.net )“
Man kann auch die Bemühungen nicht übersehen, einige anarchistische Projekte aus dem historischen Gedächtnis zu „löschen“. So verwendet die Anarchistische Föderation in Berichten über Veranstaltungen gerne eine Liste aller anwesenden reformistischen Vereinigungen, erwähnt aber nicht die teilnehmenden anarchistischen Initiativen. Zu diesem Propagandadruck kommt noch die aktive Zerstörung anarchistischer Propaganda auf der Straße (Plakate, Aufkleber, Graffiti) und ihre Überdeckung durch die Propaganda der Linken des Kapitals. Es gibt zum Beispiel so absurde Situationen wie Plakateinladungen zu einem internationalen Antikriegskongress
https://actionweek.noblogs.org/protivalecny-kongres-cz/3, diese werden
systematisch mit Einladungen zu einer 1. Mai-Kundgebung überklebt werden, die von Gruppen organisiert wird, die behaupten, gegen den Krieg zu sein.
Wie ernst die Lage ist, zeigt auch der Fall der Spitzel
Anatoly Dubovik und Alexander Kolchenko, die die Sicherheit der Anarchisten in Russland bedrohen, indem sie den Repressionskräften sensible Informationen liefern. Die Linke des Kapitals im tschechischen Umfeld akzeptiert diese Informanten und gibt ihrer Stimme weiterhin unkritisch Raum. Das geschieht zum Beispiel auf der Website und in den Zeitschriften der Anarchistischen Föderation, in der Zeitschrift Kontradikce und auf dem anarchistischen Buchmesse in Prag. Wenn dieses Umfeld diejenigen, die das Putin-Regime anprangern, als in Russland lebende Anarchistinnen und Anarchisten akzeptiert, kann dies ein Vorbote dessen sein, was passieren wird, wenn das Kriegsdrama näher an unsere Häuser heranrückt. In diesem Fall ist zu erwarten, dass die Menschen, die hinter diesen Projekten stehen, dieses verabscheuungswürdige Verhalten im lokalen Kontext aktiv fördern werden. Jede Abweichung von ihrer Pro-Kriegs-Linie kann ein Vorwand sein. Die Anprangerer können jeden abstempeln und bedrohen, der die nationale Einheit mit dem proletarischen Internationalismus untergraben will. Jeder, der sich weigert, sich der Zwangsmobilisierung zu unterwerfen. Jeder, der beschließt, das Land illegal zu verlassen. Jeder, der die klassenübergreifende Zusammenarbeit zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie im Namen einer antifaschistischen oder „antiimperialistischen“ Koalition ablehnt. Jeder, der Deserteure und Soldaten unterstützt, die sich gegen ihre eigenen Offiziere auflehnen. Jeder, der sich für die Niederlage der eigenen Regierung und der Bourgeoisie einsetzt, ungeachtet der Kriegspropaganda, die dies als Hilfe für den Feind darstellen wird.
Es muss berücksichtigt werden, dass die Linke des Kapitals trotz ihrer erklärten Staatsfeindlichkeit nie zögert, ihre Gegner mit Hilfe der repressiven Kräfte des Staates zu bekämpfen, wenn sie die Gelegenheit dazu hat. Es liegt im Interesse des revolutionären Anarchismus, sie daran zu hindern und ihr die Möglichkeiten zu nehmen. Die Risiken sind zu groß, um sie zu ignorieren oder zu unterschätzen.
* Die Notwendigkeit einer effektiven Verteidigung
Es scheint, dass die Art und Weise, wie die Aktivitäten des revolutionären Anarchismus von der Linken des Kapitals sabotiert werden, keine große Aufmerksamkeit verdient. Unserer Meinung nach ist das Gegenteil der Fall. Wir müssen die Verteidigung gegen dieses Phänomen zu einer unserer Prioritäten machen. Die Angriffe, denen das anarchistische Milieu ausgesetzt ist, eskalieren und haben nicht unerhebliche Auswirkungen auf unsere Aktivitäten.
In der Vergangenheit gab es Versuche, uns auf unsere eigenen anarchistischen Aktivitäten zu konzentrieren und die Linke des Kapitals zu ignorieren. Das hat nicht geklappt! Es erwies sich als unmöglich und es wurden uns ständig große Hindernisse in den Weg gelegt. Die Linke des Kapitals hat hinter unserem Rücken jede Gelegenheit genutzt, um unsere Aktivitäten anzugreifen und zu sabotieren. Die Praxis hat uns daher gelehrt, die Tatsache zu akzeptieren, dass es einen unüberwindbaren Antagonismus zwischen der anarchistischen Bewegung und der Linken des Kapitals gibt. Es ist unmöglich, im Konflikt zu koexistieren. Die andere Seite wird uns schaden und angreifen, selbst wenn es auf unserer Seite nur Ignoranz oder Schweigen gibt.
Wann immer die anarchistische Bewegung Angriffen von faschistischen oder ultrakonservativen Kräften ausgesetzt ist, zögert sie nicht, alle verfügbaren Mittel einzusetzen, um ihren eigenen Raum und ihre Mitgliedschaft zu verteidigen. Unsere Bewegung sollte auch dann nicht zögern, wenn solche Angriffe unter der Fahne der Anarchie organisiert werden, denn damit zeigt sie, dass sich Menschen praktisch auf die Seite der Konterrevolution und der staatlichen Politik stellen können, auch wenn sie theoretisch behaupten, eine revolutionäre Kraft zu sein.
Wir müssen analysieren, wie die Menschen handeln und was die Konsequenzen sind. Es ist völlig unerheblich, wie sie es nennen und welche Fahne sie schwenken. Wenn jemand die anarchistische Bewegung sabotiert, ist es notwendig, kompromisslos mit organisierter Selbstverteidigung zu reagieren. Die Linke des Kapitals ist eines der vielen Hindernisse, die der revolutionäre Anarchismus bewusst und kollektiv überwinden muss.
* EINIGE ANARCHIST*INNEN AUS DER MITTELEUROPÄISCHEN REGION (JUNI 2024)
1A.d.Ü., https://panopticon.blackblogs.org/2023/02/23/der-britische-anarchismus-erliegt-dem-kriegsfieber/
2A.d.Ü., https://panopticon.blackblogs.org/2023/06/02/tridni-valka-und-antimilitaristische-initiative-was-gibt-es-neues-im-anarchismus-nationale-selbstbestimmung-und-die-uebereinstimmung-von-interessen-mit-dem-kapital/
3A.d.Ü., https://actionweek.noblogs.org/antikriegskongress-de/
]]>(Chile 2014) Diskussion über Plattformismus (aber nicht nur)
Diese Textreihe, die weder den Anspruch hat vollständig, noch komplett, oder historisch zu sein, ist ein Auszug der Debatte rund um den Plattformismus (aber auch rund um den Tod des Gefährten Mauricio Morales) die in Chile vor 14 Jahren stattfand. Wir wissen nicht wie viel noch fehlt, ob die chronologische Reihenfolge auch die richtige ist, sowie andere Details um diese Debatte herum. Wir wollen hier nochmals dazu hinweisen, dass die Artikel „(Chile) Dies ist keine Zeit für die Sanftmütigen und Barmherzigen, Text der Gefährt*innen der Biblioteca Antiautoritaria Sacco y Vanzetti“ (oder auch hier) und „(Chile) In Erinnerung an Mauri, Text aus der Biblioteca Antiautoritaria Sacco y Vanzetti“ (oder auch hier) auch auf diese Debatte Bezug nehmen und es wichtig ist, davon in Kenntnis zu sein.
Wir sind nicht mit diesem Vorschlag einverstanden, gemeint ist der Plattformismus, dennoch interessiert uns die Debatte darum, deshalb sammeln wir seid geraumer Zeit Materialien dazu und diese Textreihe aus Chile schien uns aus mehreren Gründen sehr interessant und deshalb auch wichtig sie auch zu übersetzen. Hier finden sich mehrere Texte die aufeinander Bezug nehmen. Als Ausgangspunkt galt eine Kritik an der Veranstaltungsreihe namens „Marzo Anarquista“.
Aus dieser entwickelt sich eine Auseinandersetzung die den Plattformismus kritisiert, es fehlen aber auch nicht die Stimmen die diesen verteidigen, was unserer Sicht nach nicht nur wichtig ist, sondern auch die Auseinandersetzung kompletter macht und dies ist ja genau was eine Diskussion/Debatte/Auseinandersetzung ausmacht.
GEGEN alle AVANTGARDEN, GEGEN alle PARTEIEN, GEGEN alle GEWERKSCHSCHAFTEN/SYNDIKATE! Vor allem auch, wenn sie sich als „anarchistisch“ tarnen.
Soligruppe für Gefangene und den Anarchismus
Gefunden auf informativo anarquista, die Übersetzung ist von uns.
(Chile) 2010: Zur Polemik mit Marzo Anarquista
1. Mai 2024
Anmerkung von Jauría de la Memoria: Wir geben im Folgenden Texte wieder, die sich auf die „Debatte“ beziehen, die Anfang 2010 rund um Marzo Anarquista begann, eine Instanz, die sich (2008-2010) der Durchführung von Workshops, Foren und Versammlungen während der Märzmonate widmete. In diesem Zusammenhang begannen verschiedene Gegeninformationsmedien (wie das inzwischen eingestellte Hommodolars), Schriften zu veröffentlichen, die sich kritisch mit einigen ihrer Workshops auseinandersetzten, wie etwa „Marx Anarquista“. Eine Eskalation, die sich zu einer Debatte um die aufständische Aktion und die Gefährt*innen, die darauf setzen, versus die Plattform und den Formalismus entwickelte. Unzählige Texte wurden veröffentlicht, einige anonym, andere von Kollektiven wie der CSO Sacco y Vanzetti, Videorevista Sinapsis und sogar von der Organisation selbst, die den Fall ausgelöst hatte. Im Folgenden wird die von den Gefährt*innen von Hommodolars veröffentlichte „endgültige Liste“ wiedergegeben, die mehr als eine Spannung zwischen den Gefährt*innen die virtuelle Berufung derjenigen widerspiegelt, die in der Lage sind, die Tastatur zu zerbrechen, um diejenigen zu diffamieren, die nicht mit ihrer Zeit zur Kommunion gehen.
Marzo anarquista: nichts Neues. Etwas über die Lehrstühle der Plattform
von Anónimos insurrectos (Anonyme Aufständische)
Seit einiger Zeit organisieren einige anarchistische Gruppierungen eine Reihe von Workshops und Kursen unter dem Namen „marzo anarquista“, mit unterschiedlichen Schwerpunkten und besonderen Themen, aber mit einem gemeinsamen Diskurs.
Nach einigen Diskussionen – real und virtuell – während des letzten Jahres wurde der unbestreitbare Unterschied zu denjenigen wieder präsent, die den Kampf nur unter dem Arm tragen und versuchen, daraus etwas Profitables und vom Staat-Kapital Bestätigtes zu machen, umso besser, wenn er in irgendeiner Universität Anerkennung findet.
Nach und nach gab Marzo Anarquista einigen von uns Licht und Phrasen, die man sich merken sollte (viele von ihnen wurden von den Organisatoren ins Internet gestellt, als sie „ihre Kurse“ aufzeichneten):. „Die Mode, Präsidenten zu töten, ist vorbei“, kommentierte ein Professor, der stolz auf den aktuellen akademischen Charakter ist und weit von der Aktion entfernt ist, die der Anarchismus haben könnte (glücklicherweise ist dies keine allgemeine Meinung im antiautoritären Milieu, das den Kampf der Gefährt*innen im letzten Jahrhundert rettet und validiert, ohne jemals Czolgosz, Bresci, Mateo Morral und andere1 als Mode zu betrachten).
Gäbe es irgendetwas Neues zu sagen, was nicht schon im letzten Jahr gesagt wurde, irgendetwas anderes zu erwidern, zu diskutieren, zu entblößen oder in einigen Fällen zu beleidigen, könnte man sie zurechtweisen oder sie an ihr unhöfliches Schweigen angesichts des Todes des Gefährten Mauricio Morales, angesichts der klandetinen Option von Diego Rios, angesichts der Inhaftierung so vieler anderer Gefährt*innen, angesichts der aufeinanderfolgenden und gleichzeitigen Razzien in den besetzten Häusern in diesen letzten Jahren erinnern?
Einige von uns Gefährt*innen können unsere Zeit damit verschwenden, über sie zu schimpfen und sich über ihre vagen und ungeschickten Erklärungen zu amüsieren, aber unser Blut kocht, wenn nicht nur Worte auf dem Spiel stehen, sondern Leben, Risiken, Verurteilungen und brutale Repression. Ihr spöttisches Lachen über die „Spielzeugbomben“2, mit denen sie die Geräte bezeichneten, die die Gefährt*innen für die Aktion verwendeten, machte ihren Standpunkt deutlich. Von unserer Seite aus war die Entscheidung klar, ohne Raum für „Respekt für Unterschiede“ zu lassen (solche demokratischen Werte einiger Anarchist*innen, dass sie am Ende alles verteidigen könnten), wie einige Gefährtinnen sagten: Sie sind nicht unsere Gefährtinnen.
Anar_ist mit Q oder mit K?3
Die Macht und ihre Schergen setzen ihre Offensive gegen diejenigen, die die Ordnung der Reichen in Frage stellen, fort und hören nicht auf, diesmal unter Ausnutzung der neuen marzo anarquista Tage, indem verschiedene Zeitungen beginnen, ihre Leser zu warnen, wie gefährlich diese Tage sein könnten, indem sie sie mit dem „Caso Bombas“ in Verbindung zu bringen (eine echte und wahre journalistische Infamie, die den Stolz einiger Professoren trifft). Es werden Interviews und Kommuniqués mit der bourgeoisen Presse erwähnt – ob fiktiv oder nicht, würde uns nicht sehr überraschen.
Der Unterstaatssekretär der ehemaligen Regierung, Patricio Rossende (der in diesen Angelegenheiten nach seinem phantasievollen internationalen anarchistischen Gipfeltreffen, das die Woche der Solidarität mit den Gefangenen einläutete, berühmt ist), erklärt auf Anfrage der Journalisten: „Es gibt keinen Grund, ein Sommerproblem aufkommen zu lassen, das, offen gesagt, nicht existiert“ (in Bezug auf marzo anarquista) (…) „sie wurden in den letzten drei Jahren unter den gleichen Bedingungen durchgeführt, und sie bergen keine größere Gefahr als in früheren Zeiten, in denen nur sehr wenige Leute aufgerufen wurden“ und endete mit der Klarstellung, dass der Aufruf „einen akademischen Charakter hat, der keine kriminelle Verbindung hat“.
Wir gingen davon aus, dass viele der Organisatoren beruhigt sein würden, endlich eine Bestätigung von den Behörden und nicht nur vom Rest der universitären/intellektuellen Gemeinschaft zu erhalten. So viele Worte, die auf den Lehrstühlen geplaudert und in Texten geschrieben wurden, waren nicht umsonst, endlich machte die Macht den Unterschied, den sie seit langem angedeutet hatte: Akademiker/Kriminee, Anarchisten/Anarchist*innen4, Organisierte/Spontane, künstlerische Hausbesetzer/gewalttätige Hausbesetzer, Syndikalisten/Bomberleger*innen, Intellektuelle/Knallköpfe, usw.
Das Spektakel und die Gewalt, was ist wirklich im Interesse der Macht?
Nach der Analyse der Publikation „El Surco“ (Nr. 13)5 wäre der Marzo Anarquista für die Regierung ein unwichtiges Thema, weil die Macht nur die spektakulären und gewalttätigen Aktivitäten für gefährlich hält, ohne den Wert dieser Lehrstühle zu erkennen.
Könnte man sagen, dass die Hausbesetzungen und die autonomen Zentren, die ständig überfallen werden, spektakulär oder gewalttätig sind, könnte man unbewusst den Aktionen des Staates applaudieren, indem man ihnen sagt, dass ihre Repression nur gegen „die spektakulären Gewalttätigen“ gerichtet ist? Vielleicht ist die Rechtfertigung von Gewalt als legitimes Mittel der Konfrontation ein Thema für einen anderen Text – obwohl die konkrete und reale Erfahrung des Kampfes ziemlich klar ist. Die Hausbesetzungen und autonomen Zentren wurden nicht wegen „spektakulärer und gewalttätiger“ Aktionen gestürmt, auch wenn viele von ihnen mit dem Caso Bombas in Verbindung gebracht werden. Diese Räume werden von der Repression wegen ihrer Gefährlichkeit angegriffen, denn diese verbreiten klare Ideen der Konfrontation mit der Autorität, verteidigen und respektieren eindeutig die direkte Aktion, verteidigen Mauri, Diego und die anderen gefangenen Gefährt*innen, ohne Opfertum, und versuchen, einen antiautoritären Diskurs zu verbreiten, ohne die Schminke, mit der einige versuchen, ihren Kampf zu verschleiern, um mehr Anhänger zu gewinnen.
Die Räume werden nicht wegen der „Gewaltspektakel“ angegriffen, wie einige die Brandstiftungs-Sprengaktionen definieren, sondern wegen der Entscheidung/Entschluss und der Überzeugung des Kampfes, sowie weil sie sichtbare Punkte eines Krieges sind (ja, auch wenn viele es nicht glauben oder einige es nur wiederholen, ohne es zu verstehen, der soziale Krieg ist real). Dass die Behörden kein Interesse an marzo anarquista haben, kann viele Gründe haben, vielleicht ist die Antwort in den Handbüchern zur Aufstandsbekämpfung der repressiven Kräfte zu finden.
Zur Klarstellung für einige verblendete Leute: Viele Foren und andere Arten von Aktivitäten hatten ein starkes Polizeiaufgebot (manchmal lächerlich unverhältnismäßig) und sind nicht gerade „spektakulär und gewalttätig“, sowie ein ständiges und unerwünschtes Auftauchen in der Presse, ohne dass es sich um „klandestine“ oder „illegale“ Foren handelt.
Aufbau der großen Plattform für die Reform der Gesellschaft.
Verschiedene Organisationen, Tendenzen und Subjekte haben das gegenwärtige Denken auf der Suche nach der großen anarchistischen Organisation geprägt, ihre unzähligen Misserfolge haben dem Wunsch, „die Massen zu mobilisieren“ und an der Spitze des Volkes zu stehen, indem sie ihr Akronym prägen, kein Ende gesetzt.
Unter ihnen stechen einige hervor, einige wie „Corriente de Acción Libertaria“ (deren Name mehr ironisch als real ist) oder „Estrategia Libertaria“ zeigen uns auf die schärfste Art und Weise die Sozialdemokratie im rot-schwarzen Gewand.6
Wie wir schon sagten, ist ihr unhöfliches Schweigen angesichts verschiedener schmerzhafter und repressiver Situationen im antiautoritären Kontext nicht weit von der absichtlichen Vergesslichkeit mancher Videomagazine entfernt, die es vorziehen, komplexe und gefährliche Themen zu vermeiden. Dennoch scheuen sie keine Worte und unterstützen Kampagnen zur Solidarität mit Gefährt*innen, die in anderen Ländern inhaftiert sind, oder zur Anprangerung der Repression, unter der sie anderswo leiden. Ohne den notwendigen Internationalismus des Kampfes zu schmälern, scheint es so zu sein, dass man umso mehr Angst hat, Solidarität zu zeigen, je näher die Repression ist.
Wir beobachten ihre Kritik an der Aktion, ihren Wunsch, das Volk zu vereinen und zu organisieren, die Volksmacht aufzubauen (Anarchist*innen, die nach Macht streben?), die Produktionsmittel zu vergesellschaften (werden wir die Metzgereien vergesellschaften?, die Industrien, die die Erde zerstören? die Produktion von Luxusgütern?) Die großen monolithischen Organisationen des 20. Jahrhunderts in Chile rechtfertigen sich immer wieder und verschließen die Augen vor den Gefährt*innen Efraín Plaza Olmedo, Antonio Ramon Ramon und verschiedenen Aktionen jener Zeit7.
Schließlich machen ihre Parolen für den Sozialismus ihre Ziele und Projektionen deutlich, vor allem wenn sie ausdrücklich von einem angeblich idealen Morgen sprechen, um in die Offensive zu gehen. Diejenigen, die darauf erpicht sind, große Plattformen zu schmieden, die eher mit politischen Parteien vergleichbar sind (es sei daran erinnert, dass nicht alle Parteien gewählt werden), sind die Feinde der Affinität und der Informalität, sie sind die Feinde der Revolte und unseres Wunsches, jede Autorität zu zerstören. Wir hoffen also, dass Gefährtinnen sich nicht mit diesen formellen Organisationen mit ihren neuen Masken verwirren lassen, die darauf aus sind, die zukünftige Gesellschaft zu verwalten. Gefährtinnen, lasst uns entschieden, der Macht mit all unseren Kräften und auf allen Wegen entgegenzutreten, wissend, dass wir so groß sind, wie es unsere Kräfte und unser rebellischer Wille uns erlauben. Die Zerstörung ihrer Verhältnisse und der Aufbau einer neuen Welt erfordern, dass wir keine fehlerhaften Formeln wiederholen und uns dem wirklichen Kampf gegen das, was uns unterdrückt, hingeben.
Die Revolte passt nicht in euer Klassenzimmer! Lasst uns die horizontalen, geschwisterlichen, informellen Diskussionen unter Gleichgesinnten vermehren!
Hört im März auf, auf die Dozenten zu hören, und lasst uns auf die Straße gehen.
29. März, Tag des jungen Kämpfers: Norma Vergara, Ariel Antoniolleti, Andrés Soto Pantoja, Pablo Muñoz, Claudia López, Jhonny Cariqueo, Mauricio Morales… Leben Sie im Kampf!
Anónimos Insurrectos.
Hat jemand Videomagazin gesagt? Über den Marzo Anarquista: nichts Neues.
x Einige Mitglieder der Productora de Comunicación Social – Videorevista Sinapsis
In einem Artikel mit dem Titel „Marzo anarquista: nichts Neues. Etwas über die Lehrstühle der Plattform“ wird unter mehreren Themen ein ‚Videomagazin‘ erwähnt. Wir könnten so tun, als ob es sich um ein anderes Videomagazin handelt, und wie wir es in den drei Jahren unseres Bestehens getan haben, all die Kommentare ignorieren, die ihren Weg in das finden, was wir als „anarchistische Welt“ anerkennen. Unser Ziel als anarchistische Kommunikations- und Propagandaorganisation ist es, die Begegnung mit der antiautoritären Idee und Praxis wahrscheinlicher zu machen, indem wir versuchen, die Bedingungen zu vervielfachen, die es jedem von uns ermöglichen, sich mit einer Geschichte, mit Überlegungen und Aktionen zu identifizieren und zu erkennen, dass wir nicht die ersten sind und nicht die letzten sein werden, die sich nach der Abschaffung der Klassengesellschaft sehnen. Unser Ziel ist es nicht, für Anarchisten zu arbeiten, und noch weniger für diejenigen, die sich jetzt als Mentalisten ausgeben und es wagen, über unsere Absichten zu sprechen, ohne uns überhaupt zu fragen, was sie sind. Unsere Arbeit richtet sich gerade an Menschen, die Hommodolars nicht lesen und die SIN[A]PSIS in der Tat nie gesehen haben. In diesem Sinne haben wir immer erkannt, dass wir noch einen langen Weg vor uns haben.
Unsere Organisation hat wie immer beschlossen, sich nicht an solchen Diskussionen zu beteiligen, in denen jemand über unsere Absichten spricht, und das ist für uns in Ordnung, denn es ist klar, dass unsere Identität noch da ist, wo sie ist (es ist wichtig, dass dieser Text so einfach wie möglich interpretiert wird und dass man nicht nach irgendwelchen sprachlichen Brüchen darin sucht).
Nun, wir sind eindeutig keine Aufständischen, und auch keine Plattformisten, wie uns gelegentlich gesagt wurde. Was sind wir also? Wir sind Buddhisten… und wir gehören der irdischen Familie der dritten Dimension an, deren Mutterschiff unter dem Meer liegt. Und wer daran zweifelt, soll sich SIN[A]PSIS ansehen und die versteckte Botschaft erkennen, wenn auch mit einem Seitenblick.
Warum wurde in der Ausgabe Nr. 7 kein Artikel über Mauri oder Diego veröffentlicht? Nun, weil es nicht möglich war. Eigentlich wollten wir eine Sonderausgabe machen, aber die Kontingenz hat uns einen Strich durch die Rechnung gemacht. Wir dachten, wenn wir ein Heft machen würden, wäre es sehr kritisch gegenüber den Aktionen, denen diese Gefährten anhängen oder anhängten, und aus dem gleichen Grund wäre es nicht einfach, es zu entwickeln, da es um Leben geht, um Fluchten, und es ist kein einfaches oder leichtes Thema, außerdem haben wir die unangenehme Erfahrung eines Mitglieds unserer Organisation gemacht, dem falsche Aussagen zugeschrieben wurden (sehr weit von der Realität entfernt), als er öffentlich bestimmte Positionen kritisierte, die sich selbst als aufständisch bezeichnen.
Indem wir das Thema nicht berührten, dachten wir nie, dass irgendjemand sagen könnte „oh, sie haben das Thema zensiert, oh…“ oder etwas wie „oh, ihr Schweigen, ihr absichtliches Vergessen, oh…“ bitte!
Nun, diese Klarstellung wird von einigen von uns der productora gemacht und wir hoffen, dass dies das letzte Mal ist, dass wir uns darüber äußern müssen, was wir angeblich denken, tun oder sagen. Wenn irgendjemand Zweifel an unserer redaktionellen Linie hat, haben wir eine E-Mail, die wie folgt lautet: [email protected] und wir werden wahrscheinlich eure Fragen beantworten.
Unsere Organisation hat sich nicht aus Marzo Anarquista zurückgezogen (eine Organisation, die wir 2008 zusammen mit anderen Organisationen gegründet haben), aber wir wurden im Sommer 2009 auf gezwungener Art ausgeschlossen, um nicht zu sagen „RAUSGEWORFEN“. Trotzdem gibt es kein Drama mit den Gefährten, die heute teilnehmen, sondern eine gute Stimmung.
Salud, Brot und Anarchie!
Eine Antwort an die „anónimos insurrectos“.
von José Francisco Magón
Es beginnt die gleiche alte Diskussion mit der gleichen Logik, die in Willkür, Arroganz und einer Reihe von Verleumdungen mündet, die bis zur Unverschämtheit reichen. Angesichts der Workshops des marzo anarquista werden die argumentativen Schüsse erneut von “anónimos e insurrectos”, “niños salvajes” und “mariposas del caos” abgefeuert, die schon mehrmals mit uns, die wir der libertären kommunistischen Tendenz angehören, polemisieren wollten. Dieselben mit einer neurotischen Persönlichkeit, die mehr dem Trotzkisten der POI ähnelt, mehr Abimael Guzman oder Präsident Gonzalo, der all jenen den Krieg erklärt, die nicht auf seiner Linie liegen (ich erwähne die Partido Comunista del Perú Sendero Luminoso – Kommunistische Partei des Leuchtenden Pfades in Peru), mehr einem Autoritären mit der „geoffenbarten Wahrheit“ der göttlichen Vorsehung ähnelt, als uns, die wir die libertären Ideale und Praktiken vertreten. Wir sehen also, wie sich diese Gruppen und Persönlichkeiten zu anderen Tendenzen verhalten. An diese Individualitäten und Gruppen richte ich diese Worte, um auf ihre verleumderischen und falschen Kritiken gegen den Vorschlag des libertären Kommunismus und den Aufbau eines staatenlosen Sozialismus in Lateinamerika und der Welt zu antworten.
Den „aufständischen “ Individuen und Gruppen sage ich:
1- Wir wollen die Gesellschaft nicht zerstören, sondern sie umgestalten. Diejenigen, die die Gesellschaft zerstören wollten, waren die Völkermörder und Diktatoren der Vergangenheit (verschiedene rote Diktatoren und Diktatoren aller Couleur, falls ihr euch nicht erinnert), es war der US-Imperialismus, der Atom- und Chemiebomben auf die Völker abwarf. Es ist die kapitalistische Barbarei, die zur Zerstörung der Gesellschaft und unserer Umwelt führt. Ich sage euch also: Wenn ihr die Gesellschaft zerstören wollt, dann ist der Kapitalismus bereits dabei, dies zu tun. Ich glaube, wenn wir uns nicht gegen die Barbarei des Kapitals wehren, werden wir keine Gesellschaft mehr haben, keine lebenden Menschen und keine gesunde Umwelt, um eine klassenlose Gesellschaft zu genießen. Ich sehe nicht viele Götter in dieser Gegend; daher haben diejenigen von uns, die weder Götter noch Idioten sind, den tiefen Wunsch, die Gesellschaft mittels einer Revolution zu VERÄNDERN, die durch den Aufstand der Ausgebeuteten und nicht durch kleine avantgardistische Gruppen, die sich nicht einmal als solche erkennen, ausbricht – selbst der guevaristische Foquismo8 ist aufrichtiger und konsequenter, wenn er seine avantgardistische Rolle in den Prozessen, die in Lateinamerika stattfanden, anerkennt.
2- Die Volksbewegung ist die Substanz der sozialen Revolution, die Arbeiterklasse ist das einzige wirklich aufständische Subjekt. Affinitätszellen und politische Parteien werden niemals, so sehr sie es auch wollen, Herren eines scheinbaren Erbes revolutionärer Gewalt sein. Ich halte es für sehr wichtig zu betonen, dass weder die formellen politischen Organisationen noch die informellen Basiskerne die wirklich Aufständischen sind, sie können nicht zum Aufstand anstiften, und im Falle der Affinitätsgruppen ist mir kein historischer Fall bekannt, in dem sie dies effizient getan hätten, außer um mehr Gefängnisse für diejenigen zu schaffen, die diese scheinbare, aus Europa exportierte Strategie verfolgen. Ich weiß, dass die marxistisch-leninistischen Parteien in Lateinamerika dies getan haben, aber ich kenne keine wirklichen Fälle von selbsternannten „Aufständischen“. Die Arbeiterklasse zusammen mit der Volksbewegung sind die wahren Aufständischen in revolutionären Prozessen. Wir können sagen, dass, wenn die Arbeiterklasse und die Ausgebeuteten uns einen Fortschritt oder einen qualitativen Sprung in ihrem Klassenbewusstsein und ihrem Organisationsgrad gezeigt haben, dies unweigerlich zu Konflikten im Klassenkampf führt, die die Form von aufständischen Prozessen annehmen.
3- In diesem Prozess sehen wir, dass Informalität und Formalität Teil verschiedener Momente desselben basisdemokratischen Organisationsprozesses sind, der von jeder Partei und jedem Staat unabhängig ist und sich als massives aufständisches Phänomen darstellt. Die Leidenschaft, die Liebe und das Vertrauen der Volksorganisationen in sich selbst sind der Hauch von Informalität, den jede Revolution braucht, aber es ist auch notwendig, die Verteidigung der Revolution, die Strategie und die Taktik dieser Verteidigung durch den Aufbau eines Programms oder einer Aktionslinie zu planen. Das gilt auch für die nicht-revolutionären Perioden oder die Perioden der Ebbe und Flut im Klassenkampf, und dass es notwendig ist, eine klare Diagnose zu stellen oder zumindest zu versuchen, dies zu tun und nicht in unverantwortlicher Weise zu sagen, dass es immer solche Bedingungen gibt – obwohl diese Jungen und Mädchen nicht einmal die Gesetze des städtischen Guerillakampfes zu berücksichtigen scheinen, die von mehreren Generationen von Revolutionären hinterlassen wurden. Ich denke, dass ihre Art, den bewaffneten Kampf zu verstehen, eine Strategie ist, die unweigerlich mit einer Kapitulation vor dem Feind gleichzusetzen ist. Wie wollen diese anónimos insurrectos nach italienischer Art in die Offensive gehen? Sie unterschreiben damit eher ihre eigene Niederlage.
4- Diese Jungs verstehen wichtige Thesen der revolutionären Gewalt nicht, die sogar die Foquisten und die Muslime in Betracht ziehen – Ironie des Schicksals. Und in diesem Absatz kann man explizit einen Grundgedanken erkennen: „Die Stadtguerilla kann die direkte militärische Zerstörung des Repressionsapparates nicht vollenden. Sie kann ihn schwächen, indem sie eine Art faktische Doppelmacht bildet. Die endgültige Entwicklung kann nur aufständisch sein, was voraussetzt, einen Teil der Massen politisch zu gewinnen und einen Teil der Armee politisch zu defibrillieren oder zu gewinnen. Ein Aufstand ist nur in einer sehr präzisen Situation möglich, zu deren Entstehung und Ausnutzung beide Seiten harmonisch beitragen müssen“.9 Und genau in dieser Konstellation ist es notwendig, die wesentlichen Faktoren und Elemente zu ergänzen, um eine wirkliche Offensive zu erreichen und nicht eine scheinbare und fiktive, wie uns die „aufständische“ Tendenz sagt. So ist nur die endgültige Entwicklung der Prozesse, die in einer sozialen Revolution explodieren, aufständisch, und alle, die etwas anderes behaupten, verfallen in eine individualistische und fetischistische Eitelkeit, die Gewalt zu sehen und zu verstehen, das heißt, vor dem Feind zu kapitulieren … .
5- In Bezug auf den Aufbau der Volksmacht halte ich es für wichtig zu klären, warum wir libertären Kommunisten in Lateinamerika dieses Konzept verteidigen. Zunächst einmal ist es notwendig festzustellen und klarzustellen, dass es kein Widerspruch ist, Anarchist zu sein und die Vision zu haben, eine nichtstaatliche Gegenmacht zur Staatsmacht aufzubauen. Die lateinamerikanischen Erfahrungen mit den cordones industriales10, den autonomen Praktiken der indigenen und bäuerlichen Gemeinschaften, den Cartoneros in Uruguay und Brasilien11, der Bewegung der Landlosen, den Vollversammlungen der Arbeiter und Lehrer in Oaxaca, neben verschiedenen anderen Erfahrungen, die den Aufbau der Volksmacht aus einer libertären Perspektive rechtfertigen, geben uns zu verstehen, dass es notwendig ist, dieses Konzept aufzugreifen und es als gemeinsame Parole auch mit anderen Sektoren der revolutionären Linken zu installieren. Wir verstehen die Volksmacht als die Selbstverwaltung der Basisorganisationen der Arbeiterklasse und der Ausgebeuteten insgesamt, wir sagen es heute und wir werden es auch morgen sagen; wir verstehen die Volksmacht nicht als die Ergreifung der Staatsmacht, sondern als die organisierte Volkskraft, die sie abschaffen wird! Ich denke, es ist viel revisionistischer und konterrevolutionärer, das Chaos und die Zerstörung der Gesellschaft vorzuschlagen und dabei zu vergessen, dass das und nicht der Vorläufer des Chaos ist, da dieses Chaos jeden Tag durch die kapitalistische Barbarei provoziert wird.
6- Ich sehe, dass die „anónimos insurrectos“ sehr besorgt sind, da nun spezifische Organisationen und ein gewisser Vormarsch des libertären Kommunismus oder des sozialen Anarchismus auftauchen – Misserfolge werden eingeräumt, aber das waren Hindernisse, die bereits aus dem Weg geräumt werden. Ich werde nicht in die pathetische Dichotomie von Anarchisten und Anarchisten (die mit q und k) verfallen, die von den Geheimdienstzentren der Repressionsapparate aufgestellt wird. Doch wenn diese „Aufständischen“ uns sagen: „Diejenigen, die darauf erpicht sind, große Plattformen zu schmieden, die eher mit politischen Parteien vergleichbar sind (es sei daran erinnert, dass nicht alle Parteien gewählt werden), sind die Feinde der Affinität und der Informalität, sie sind die Feinde der Revolte und unseres Wunsches, jede Autorität zu zerstören“, dann ist das meiner Meinung nach ein Argument, das sich in Luft auflöst, ohne dass eine tiefgreifende Diskussion geführt wird. Zunächst einmal glaube ich nicht an „Feinde der Informalität“, denn zumindest in meiner Erfahrung als Individuum habe ich mich zuerst kollektiv mit meinen engsten und vertrautesten Freunden organisiert, aber das war nur am Anfang, denn später war es notwendig, dass wir gemeinsam Elemente der politischen Analyse des Klassenkampfes aufbrachten, um eine Aktionslinie für diese Periode entwickeln zu können. Formalität und Informalität sind Organisationsprozesse, keine Dichotomien. An diese Dichotomie zu glauben, ist reine theoretische Masturbation, die aus den Zutaten der aufständischen Pizza stammt, die der italienische Anarchismus verbreitet hat (wobei wir sogar feststellen können, dass diese Tendenz nicht so sektiererisch war und sich die Zeit genommen hat, mit den anderen Tendenzen eher brüderlich als kriegerisch zu diskutieren). Ich denke, dass diejenigen, die sich am Formalismus bis hin zum Aristotelismus versündigen, die Apostel der „Aufständischen“ mit ihrem „taktischen Dogmatismus“ in Bezug auf die Gewalt und dem organisatorischen Dogmatismus sind, den sie mit Schaum vor dem Mund verkünden. Ihr seid die Formalisten mit dem Diskurs der Informalität !!!!.
7- Wenn ihr uns verurteilt, indem ihr sagt, dass wir nach Macht streben „Anarchist*innen, die nach Macht streben?“, dann antworte ich, dass wir danach streben, dass es der Arbeiterklasse und der Gesamtheit der Ausgebeuteten gelingt, Macht aufzubauen, um sich von der Macht des Staates zu befreien, das ist einfach eine dialektische Frage, meine Herren. Wenn ihr uns sagt, wir wollen. Macht euch keine Sorgen, denn wir glauben, dass ein nachhaltiger Sozialismus, der die Technologie als umweltfreundliches Werkzeug einsetzt, möglich ist. Industrien, die die Erde zerstören, müssen im Sinne einer nachhaltigen Produktion überdacht werden. Gefährten, die Fleischwirtschaft wird jedoch vergesellschaftet werden, und am Tag der Eroberung der Produktionsmittel, der sozialen Revolution und der Abschaffung des Staates werden wir als befreites Volk feiern, indem wir Curantos und Lämmer essen, während die bourgeoise Klasse an die Wand gestellt wird und die symbolträchtigen Gebäude niedergebrannt werden (nicht nur, weil wir Infrastruktur und Versorgung für den Sozialismus und die Freiheit ohne Staat brauchen). Wir sagen den vegetarischen Gefährt*innen, dass es einen Mangel an Soja geben wird, da wir es verbieten werden, weil die Monokultur von Soja die Umwelt in Argentinien zerstört und das Land der Bauern im Amazonasgebiet unter sehr schlechten Bedingungen hinterlassen hat. Als Alternativmenü wird es eine fleischlose Borschtschsuppe geben, die wir dem Volk von Nestor Makno (Ukraine) zu verdanken haben. Was den Luxus betrifft, so ist es, wie Kropotkin sagt, klar, dass er sozialisiert werden muss: Kaviar und Wifi für das Volk und alle Macht den Sowjets.
8- Ich finde, dass diese „anónimos insurrectos“ bipolar sind, denn als sich die unglückliche Tragödie von Mauricio ereignete, wollten mehrere nicht-„aufständische“ Organisationen den Gefährten und Verwandten, die sich in einer traurigen und schwierigen Situation befanden, Unterstützung und Grüße zukommen lassen; trotz der großen Differenzen (ich verweise auf die Erklärung von Frente de Estudiantes Libertarios -Santiago- und von Círculo Internacional de Comunistas Antibolcheviques). Aber wieder kamen sektiererische Erklärungen heraus, die darauf anspielten, dass wir keine „Gefährten“ (im Fall der „niños salvajes“) oder „opportunistische“ Organisationen (im Fall des besetzten sozialen Zentrums Sacco y Vanzetti) seien. Ich denke, dass dieses soziale Zentrum mit der Figur von Mauricio der Opportunist war und viele von uns wissen das. Dies wurde zu einer Art Kampf des noch lauwarmen Leichnams von Mauricio. Ich denke, dass diese „aufständische“ Tendenz am wenigsten von anderen Tendenzen unterstützt werden will und dies mit ihrem Verhalten in Foren und öffentlichen Erklärungen deutlich gemacht hat, deshalb finde ich es sehr seltsam, die Gefährten von marzo anarquista jetzt zu kritisieren. Und was dieses Verhalten angeht, denke ich, dass dies ein Fehler ist, den sie früher oder später bereuen werden, wir sollten besser von brüderlichen Beispielen wie den Tupamaros und der Federación Anarquista Uruguaya (uruguayischen anarchistischen Föderation) lernen. Als die Tupamaros in den 60er Jahren feindselig verfolgt wurden, unterstützten die Gefährten der FAU sie mit falschen Papieren, um der Repression zu entgehen. Was für eine schöne Lehre des brüderlichen und revolutionären Kampfes, die jedes Sektierertum überwand! Jetzt bringen die „Anonimos insurrectos“ die Themen zur Sprache, die sie selbst lautstark negiert haben, die wir nicht zu berühren haben, bitte einigt euch mal.
9- Ich nutze diese Gelegenheit, um den Gefährten von marzo anarquista, Estrategia libertaria und dem Colectivo de Agitación Libertaria Kraft zu geben. Auch an alle Volksorganisationen und besetzten sozialen Zentren, die ihren Angehörigen, die vom Erdbeben betroffen sind, berichten.
10- Am kommenden 29. März müssen wir den volkstümlichen und subversiven Kampf auf den Straßen ermutigen, indem wir an diesem neuen Jahrestag des Todes der Brüder Vergara Toledo – unsere Gefährten vom MIR – und aller gefallenen Kämpfer gedenken, ohne in Sektierertum zu verfallen, egal ob es sich um Frentistas, „aufständische“ Anarchisten oder Speziesisten, Lautaristen usw. handelt… Da der Wiederaufbau des Landes von den Reichen und nicht vom Volk bezahlt werden muss, lasst uns weiterhin die Volksmacht gegen Staat und Kapital aufbauen! Es leben DIE die KÄMPFEN!!!!!!!
Kurzer Kommentar zu einigen Punkten der Antwort auf die insurrectos (Aufständischen).
Von Anonym
Ich möchte mich nicht in eine seit langem andauernde Polemik zwischen zwei Strömungen des Anarchismus (ich weiß nicht, ob es noch weitere gibt) einmischen, die ich das Glück hatte (oder vielleicht auch nicht), in verschiedenen Artikeln und Webseiten zu lesen. Diese Polemik zwischen „Plattformisten vs. Aufständischen“.
Ich möchte mich nicht darauf einlassen, da ich ihre Theorie weitgehend ignoriere. Was ich hinzufügen möchte, ist in Bezug auf den vorherigen Artikel „Eine Antwort an die „anónimos insurrectos“, die mir falsch und zumindest verwerflich erscheint.
Die Aussage über die „Offensive“ als eine aus Europa, insbesondere aus Italien, mitgebrachte Mode ist etwas, das den Worten des (Gott sei Dank) verstorbenen Generals der Pacos Bernales näher steht als einer Geschichte der politischen Gewalt. Ob sie gut ausgeführt wird oder nicht, ist eine andere Sache, aber politische Gewalt hat es in der Klassengesellschaft immer gegeben, sei es in revolutionären Perioden oder in der Flaute des Proletariats.
Was mir ernsthaft erscheint, sind die grundlosen Beleidigungen der Gefährten des besetzten Hauses Sacco y Vanzetti, indem sie nach dem Tod von Mauricio Morales beschuldigt werden, Opportunisten zu sein. Obwohl ich keinen von ihnen kenne und viele ihrer Äußerungen nicht teile, ist es eine Tatsache, dass der wahre Opportunismus aus den Erklärungen und Reden bei der Beerdigung von Personen kam, die mehr als eine Verteidigung oder Begrüßung waren, die eher die Proselytenmacherei der eigenen Organisation waren.
Die eigenen Gefährten als Opportunisten zu behandeln, scheint in der Tat eine ernste Angelegenheit zu sein. Ich hoffe, dass sie als solche verstanden und aufgefasst wird, denn die Gefährten dieses Raums haben sehr deutlich die Überwindung der besonderen Situation propagiert und gewünscht (zumindest haben wir das in ihren Mitteilungen so verstanden). Was ihnen angetan wird, ist ziemlich unverschämt, denn wir können uns alle vorstellen, wie schwer es ist, jemanden zu verlieren, der einem nahe steht, und dann, ohne dass auch nur ein Jahr vergangen ist, wird man beschuldigt, sein Bild übernehmen zu wollen.
Es ist erwähnenswert, dass auf einer Website (ich glaube „correo militante“) nur wenige Stunden nach dem Tod von Mauricio eine Kritik am Insurrektionalismus veröffentlicht wurde). Das ist Opportunismus.
Könnte man der Familie von Catrileo antworten, die sich seiner bemächtigen will, oder der Coordinadora Arauco Malleco, die sich Alex und Matías bemächtigen will, der Witwe von Rodrigo Cisterna, die nur opportunistisch über ihren Mann spricht, dem Vater von Jhonny Cariqueo, der überall hingeht, um über seinen Sohn zu sprechen?
Wenn das Ziel darin besteht, die Aufständischen anzugreifen, ist das in Ordnung. Aber sich in persönliche Angelegenheiten mit den Räumen einzumischen, in denen sich laut Presse die Aufständischen verstecken, also auf die besetzten Häuser zu schießen als „Kritik“ an den aufständischen Gefährten, ist ziemlich ungeschickt. Vor allem, weil wir in ihnen viele Divergenzen und Fehler sehen können, die als ein Problem des Insurrektionalismus selbst übertragen werden.
Vielleicht ist es ein bisschen spät, aber ich verstehe langsam, warum im Anarchismus die aufständischen Sektoren die Plattformisten nicht als „Gefährten“ behandeln.
Ganz kurze Anmerkungen zu einigen Punkten der Antwort auf die Antwort an die „Aufständischen“ („insurrectos“).
gesendet von einem Colaborador Anónimo (Anonymen Mitwirkenden)
Zunächst einmal weiß ich nicht, was der konkrete Ursprung der politischen Gewalt ist oder was ihre erste Aufzeichnung ist, aber aus der „Antwort an die Aufständischen“ geht hervor, dass die Form und der Inhalt dieser Gewalt von Gruppen übernommen wurde, die in Italien Ende des letzten Jahrhunderts entstanden sind.
Was den „Opportunismus“ der Gefährt*innen der CSO Sacco y Vanzzeti anbelangt, so denke und hoffe ich, dass der Autor der Antwort sich auf die widersprüchlichen Aussagen bezieht, die einerseits die libertären Gefährt*innen (nicht aufständisch oder vielmehr, mit organischer Militanz, da der Aufstand ein gemeinsames Element ist, aber nicht das Mittel, um ihn zu verallgemeinern) als „Opportunisten“ anprangern, während sie sich gleichzeitig darüber beschweren, dass dieselben Gefährt*innen Mauricio in ihren Kommuniqués nicht beim Namen nennen, ebenso wie einige politische Gefangene.12
Was Correo Militante betrifft, so teile ich der Gefährtin oder dem Gefährten, die die Antwort auf die Antwort geschrieben hat, mit, dass die große Mehrheit – fast alle – der Anarchokommunisten und Libertären nicht an ihrer redaktionellen Linie beteiligt sind, noch haben sie irgendeine Kontrolle darüber, wie und wann sie ihre Veröffentlichungen hochladen, so dass dies nicht als gültiges Argument gelten kann.
Und schließlich, Gefährte, wenn du zu Beginn sagst, dass du die Theorien zweier Strömungen des Anarchismus sowie des „Insurrektionalismus“ und des „Plattformismus“ nicht kennst, wie erkennst du sie dann? Weißt du etwas über ihre Praktiken? Er fährt fort zu sagen, dass seine Antwort „eine Antwort an die ‚anónimos insurrectos‘“ ist, aber er verallgemeinert die Argumente von Don Jose Francisco Magon auf alle Plattformisten, die er nicht einmal zu beschreiben wagt oder eine Vorstellung davon gibt, wer sie sind.
Ich glaube, dass Kommentare wie dieser nur dazu führen, fiktive Barrieren zwischen den einen und den anderen zu errichten, Sektierertum zu erzeugen und die Beiträge, die beide Positionen als Beitrag zur Entwicklung von Methoden, theoretischen Beiträgen, Formen usw. leisten können, zunichte zu machen, um bei der Konstruktion der Werkzeuge voranzukommen, mit denen wir unsere eigene Freiheit schmieden werden.
Mit unseren Gefallenen im Gedächtnis setzen wir den Kampf gegen den Staat und das Kapital fort
Für den Kommunismus und die Anarchie! Es leben die die kämpfen!
Um Klartext zu reden. Zur Verteidigung unserer Gefallenen, gegen den moralischen Ruin.
Anonym eingesandter Beitrag
Jose Francisco Magon beginnt seinen Text mit dem Versuch einer theoretischen Kritik am Insurrektionalismus und endet damit, die Gefährten der CSO Sacco y Vanzetti unverschämt anzugreifen. Welch eine Integrität, Herr organisierter Militanter, wir alle wissen, wie leicht es ist, aus der Anonymität heraus diejenigen zu verleumden, die einen im Kampf gefallenen Gefährten öffentlich verteidigt haben. Ich denke, mit seiner Reaktion hat man die Grenze zwischen Kritik und grober Verleumdung überschritten, und das ist in jeder Hinsicht ein verwerflicher Akt.
Es ist insofern verwerflich, als es nicht von einer politischen Haltung ausgeht, sondern von einem menschlichen Zustand mit einer unglaublichen moralischen Niedertracht, weil er versucht hat, sehr empfindliche Nerven zu verletzen, indem er seine eigenen Worte nicht berücksichtigte und vergaß, dass es sich um den Tod eines Gefährten handelt (mit allem, was dies mit sich brachte). Er wollte diese Situation ausnutzen und hat versucht, sie als „politische“ Reaktion zu tarnen, während das, was sich dahinter verbirgt, im Wesentlichen die Enttäuschung über die Existenz einer Strömung ist, die sich trotz aller politischen Kritik, die man an ihr üben kann, sich nicht hinter der „eigenen“ Organisationen gestellt hat, sondern sich der Macht frontal gestellt und den Preis dafür bezahlt hat.
Wenn wir von Opportunismus sprechen, muss meines Erachtens eines klargestellt werden: Dieser Vorwurf kann keinesfalls den Gefährten der CSO Sacco y Vanzetti gemacht werden, weil sie die Position des Schweigens und dann der Äußerung der Organisationen des „organisierten“ Anarchismus kritisiert haben. Warum? Aus dem einfachen Grund, dass die „organisierten“ einen Mangel an Kohärenz zwischen den Positionen gezeigt haben, die sie während der ganzen Zeit eingenommen haben… sie gaben vor, „Solidarität“ zu üben (auf ihre eigene Art), nachdem sie die Gefährten der Aktion verachtet, verleumdet und diffamiert hatten13. Sie hatten den gefallenen Gefährten angegriffen, als er noch lebte, deshalb kann absolut niemand glauben, dass die Worte der Unterstützung aufrichtig waren. Andererseits können wir auch nicht so tun, als beschränke sich die Solidarität zwischen Revolutionären auf das Schreiben einer „Unterstützungserklärung“, wenn das „die“ Art und Weise ist, Solidarität von Seiten der Organisationen zu üben, schön und gut, aber ich glaube, sie sind sich des Universums der Situationen nicht bewusst, die es gibt (und die anderen Gefährten, wie die, die ihr kritisiert, deutlich gemacht haben).
Wenn man etwas als Opportunismus bezeichnen sollte, dann ist es das oben genannte Verhalten und auch, ich unterstreiche es aus einem Text, den jemand früher geschrieben hat, innerhalb von Stunden nach dem Tod des Gefährten eine Kritik am Insurrektionalismus zu veröffentlichen. Auch wenn die anarcho-kommunistischen Militanten in ihrer Gesamtheit die Veröffentlichung nicht guthießen, so offenbart sie doch ihre Positionen, und niemand außer ihnen konnte aus einer solchen Kritik politischen Nutzen ziehen. Dies zeigt, was die „chilenische libertäre Militanz“ ausmacht, sie scheint die revolutionäre Moral in den Hintergrund gedrängt zu haben. Die „Grundsatzerklärungen“ der verschiedenen Organisationen nützen uns nichts, wenn eine solche Schwäche der Werte gezeigt wird.
Schließlich glaube ich, dass die Kontroverse über die Frage Aufständische gegen Plattformisten hinausgeht. Jede Idee, wenn sie in ein starres und unanfechtbares Theoriegebäude verwandelt wurde, ist zu ihrem eigenen Elend geworden. Wir brauchen Gefährten, die den Kampf spüren und sich ihm ganz hingeben, ohne irgendeine der Methoden zu verachten, die die Ausgebeuteten hatten, um ihn greifbar zu machen, und in dieser Frage ist das Etikett, das sich jeder selbst geben will, kein Zeugnis für irgendetwas. Was würden die Dogmatiker der einen oder anderen Seite zum Beispiel über die Figur von Sabaté sagen, der sich den Anarchosyndikalismus zu eigen machte, indem er diejenigen kritisierte, die sich nicht entschlossen, ihre Privilegien in Frankreich aufzugeben und in Spanien aktiv zu werden? Ein Mann der Aktion, der in unseren Augen vielleicht politisch naiv war, der aber jede Sekunde seines Lebens im direkten Kampf gegen den Staat und das Kapital eingesetzt hat.
Das ist es, was uns eint, die Entscheidung, direkt gegen die Herrschaft zu kämpfen. Das ist es, was uns bricht, wenn ein Revolutionär fällt, unabhängig von seiner politischen Militanz, die Hingabe, die der Gefährte für die Sache der Ausgebeuteten geleistet hat, jenseits seines besonderen Standpunktes. Das ist es, was uns trennt, die unvermeidliche Distanz, die bei all jenen Organisationen entsteht, die diejenigen aufhalten wollen, die den Kampf für die Freiheit bis zum Tod führen, ganz gleich, wie sie sich gruppieren, indem sie kalte Tücher auflegen und versuchen, das Wasser zu beruhigen, wenn sie es nicht mehr kontrollieren können. Und auch die bewaffneten Kampforganisationen entziehen sich dieser Differenzierung nicht.
Weniger Slogans und mehr Kampf für die Freiheit aller.
…Wenn man Respekt will, muss man mit gutem Beispiel vorangehen.
Kein Platz für Infamie.
von Centro Social Okupado y biblioteca Sacco y Vanzetti
Dieser Text, seine Ideen und das, was von ihnen ausgeht, erhebt in keiner Weise den Anspruch, eine Antwort auf den Diskurs zu sein, den ein winziges Thema im Internet in Umlauf gebracht hat. Es wird nie in unserem Interesse sein, einen Dialog zu führen oder Energie aufzuwenden, wenn grundlegende Kriterien der Kommunikation überschritten werden.
Dies ist keine Antwort. Es ist vielmehr ein Aufruf, der sich an alle Gefährt*innen richtet, ein Aufruf, die Feuerlinie, die verleumderisch überschritten wurde, zu entfachen. Andererseits glauben wir, fühlen wir, und so hat uns das Leben gelehrt, dass es bestimmte Fragen gibt, die nicht in virtuellen Konferenzen geklärt werden, die nur die Gier nach Popularität derjenigen zu befriedigen suchen, die sich nirgendwo sonst einbringen.
Deshalb werden wir nicht auf die langweilige Tirade eingehen, die in dem Bemühen um Beweglichkeit als Interpunktion skizziert wurde. Unser Bestreben ist es, entsprechend unserer Projektion des Kampfes, mit unseren Gefährt*innen zu kommunizieren, ob wir sie kennen oder nicht, ob wir nah oder fern sind, kurzum, mit all jenen, mit denen uns die Identifikation des Feindes verbindet: der Autorität.
Für diejenigen, die die Autorität auf unterschiedliche Weise ablehnen, verleugnen und überschreiten, sind unsere Worte bestimmt, für niemanden sonst.
Man hat uns einen Schlag versetzt, der nicht auf einen Gedankenaustausch abzielt und der, selbst wenn er in das Gewand einer „politischen Debatte“ gekleidet ist, nur das Ziel der Beleidigung, der Schande, der Erniedrigung und der Kränkung verbirgt.
Was auf uns gekotzt wurde, war nicht der Beginn einer Diskussion, denn angesichts dessen, was behauptet wird, ist keine Diskussion möglich. Diskussionen oder Debatten können auf der Grundlage von Meinungen, Ideen, Kampfpositionen stattfinden, aber was wir erhalten haben, war nur eine Beleidigung, die versucht hat, das, was seit dem 22. Mai gelebt wurde, zunichte zu machen.
Der Schmerz, der durch den Tod von Mauri entstanden ist, wurde verharmlost und lächerlich gemacht, auf eine grobe Art und Weise und mit einer Haltung, die typisch für den Feind ist. Von Anfang an hat sich die Presse an Mauri und seinen Beziehungen zu verschiedenen Gefährt*innen ergötzt, seine Ideen manipuliert und jeden Aspekt seines Lebens entleert und ein Drehbuch diktiert, das bis heute versucht, die Gerichtsurteile für diejenigen, die ihm nahe standen, zu erhöhen.
Die Presse erfindet, und das ist ihre Aufgabe. Es überrascht uns überhaupt nicht, denn sie ist Teil des Feindes, aber nicht einmal die Presse in ihrer Funktion als Kerkermeister der Moral des Kapitals hat ein angebliches Interesse unsererseits vorgebracht, aus dem Tod einer Gefährtin, eines Bruders, eine Art politische Dividende zu ziehen, die vom Opportunismus bewegt ist.
Was wäre Opportunismus, was ist die Dividende, die man erhält, wenn man einen Gefährten verteidigt, der bei einer illegalen Aktion gestorben ist? Opportunismus ist Schweigen, Zurücktreten, Untätigkeit. Opportunismus besteht darin, seinen Tod zu betrauern und gleichzeitig seine Ideen zu ändern, um zu versuchen, ihn einem bestimmten Diskurs anzupassen, den er im Leben nie hatte.
Unsere Bemühungen zielten von Anfang an darauf ab, Mauris Positionen deutlich zu machen, auch wenn sie nicht perfekt mit unseren eigenen übereinstimmten. Und wir taten dies aus moralischer Verpflichtung gegenüber jemandem, mit dem wir aufgewachsen sind, den wir teilten und mit dem wir eine Zuneigung entwickelten, die Früchte trug.
Da wir ihre Positionen kennen, ist es unsere Pflicht, dass niemand sie verheimlicht und verschleiert. Wir sind nicht die Eigentümer dieser, und indem wir seine Ideen in ein Kollektiv einbringen, haben wir die Erweiterung und Vervielfältigung des Gedächtnisses angestrebt, wie es auch alle seine Gefährt*innen verstanden haben, die mit unterschiedlichen Gesten und Arbeiten zum gleichen Ziel beigetragen haben.
Nach der starken Verteidigung, die von einem öffentlichen Raum aus erfolgte, waren die Dividenden klar: Schikanen durch die Presse, ständige Schikanen durch die Polizei, die angebliche Verbindung zu illegalen Aktionen, die Razzia durch die PDI-Sturmtruppe, die Schüsse auf das Haus und ein Gerichtsverfahren, das noch nicht abgeschlossen ist.
Uns als Opportunisten zu verurteilen, wäre gleichbedeutend mit der dummen Unterstellung, dass die Gefährtin Luisa Toledo, Mutter der Brüder Vergara, ihr Gedenken aus Opportunismus betreibt und hinter jedem Aufruf zum Gedenken versucht, Profit für sich zu machen.
Dies lebt nur in den Köpfen der kleinkarierten Politiker, die sich im libertären Milieu herumtreiben und mit jeder Geste neue Kämpfer für ihre fiktiven Organisationen zu rekrutieren suchen, vor denen übrigens niemand Angst hat, weil sie nur als Akronym existieren, das im Internet Unsinn schreibt.
Die Anspielung auf einen angeblichen „Kampf um die noch warme Leiche von Mauri“ ist nicht nur verbal gewalttätig, sondern weckt auch die schlimmsten Erinnerungen, die man haben kann: die eines toten und nackten Bruders vor den Augen der Polizei, der Presse und schmutziger Zuschauer. So etwas zu schreiben, ist respektlos und spricht für die moralische Qualität der Person, die es ausspricht.
Aber nüchtern betrachtet ist es wahr. Wir haben für die Leiche von Mauri gekämpft, ja, wir haben gegen die Presse gekämpft, gegen diejenigen, die ihm nachschnüffeln wollten, gegen diejenigen, die versuchten, seine Familie zu schikanieren, gegen diejenigen, die über sein Kampfleben lügen wollten, und gegen diejenigen, die die Umstände seines Todes in Frage stellten.
Ja, wir haben für seinen Körper gekämpft und wir hätten ihn gerne vor allem geschützt, was in dieser Nacht passiert ist, mit ihm, mit seinen Gefährt*innen, mit seiner Familie, aber nur ein Schwachkopf setzt ein so schmerzhaftes Ereignis mit dem Wunsch gleich, sich zu profilieren. Niemand will sich bewusst so sehr exponieren, wie wir es mussten.
Der anspielungsreiche Text sucht das Vergessen, die Untätigkeit, und dieser Aufruf ist ebenso unhöflich wie pathetisch, denn er setzt die Verteidigung des Gefährten mit der Aneignung seines aufständischen Lebens gleich. Er will das Gedächtnis beschneiden und die Erinnerung und die öffentliche Verteidigung unserer Brüder und Schwestern auslöschen.
Angesichts dessen ist unser Ziel genau das, was letztlich sowohl bei den Brüdern Vergara als auch bei Mauri geschehen ist: die Verbreitung der Erinnerung, indem wir sie in eine reproduzierbare und ansteckende Kunst verwandeln, die niemandem als exklusives Eigentum gehört.
Das Einzige, was von all dem Gesagten gerettet werden kann, ist die Tatsache, dass es ein für alle Mal die Abscheu der reformistischen Positionen gegenüber dem Gang in die Offensive und allem, was damit einhergehen kann (Tod, Gefängnis, Flucht und Repression), offen legt und deutlich macht.
Und daraus wird deutlich, dass der Hintergrund dessen, was uns trennt, jenseits von Taktik und Strategie, in der Akzeptanz oder Nicht-Akzeptanz aller Formen des Kampfes gegen die Macht liegt. Die Frage ist einfach und komplex zugleich: Entweder wir akzeptieren und verteidigen die Tatsache, dass sie alle gültig sind, oder wir versuchen durchzusetzen, dass wir alle einfach akzeptieren müssen, dass uns jemand von außen sagt, wie, wann und womit wir gegen die Autorität kämpfen sollen.
Die Tatsache, dass unser Weg als besetztes soziales Zentrum einer ist, der über die Jahre klar und deutlich definiert wurde, bedeutet nicht, dass wir in illegalen Aktionen nicht einen aufrichtigen und gültigen Beitrag erkennen, der unsere Gefährt*innenschaft und unsere Verteidigung hervorbringt. Darin kommt die Erkenntnis zum Ausdruck, dass es verschiedene Wege zur Überwindung des Kapitals und der Autorität gibt und dass keiner von ihnen wichtiger ist als der andere.
In Anbetracht der gemeinsamen Projektion, die der anonyme Verfasser des Textes mit Organisationen wie Corriente de Acción Libertaria (CAL) und Estrategia Libertaria unterhält, werden diese Gruppen aufgefordert, ihre Positionen zu dem, was von demjenigen, der sie so herzlich begrüßt, angesprochen wurde, deutlich zu machen. Natürlich wird das Schweigen als eine andere Art der Demonstration verstanden werden.
Wir betonen, dass es eine Notwendigkeit ist, angesichts der Schande zu reagieren und sich zu äußern, auch wenn von Anfang an klar war, was der Text in uns auslösen würde, wollten wir nicht schweigen und das stille Spiel des normalen Lebens spielen. Wenn das Blut in den Adern kocht, ist es eine Frage der Ehre, zu handeln.
Wir grüßen alle, die das aufständische Gedächtnis ehrlich verteidigen, die die im Kampf gefallenen Gefährt*innen in der ganzen Welt verteidigen (einschließlich des Gefährten Lambros Fountas in Griechenland), auch all die besetzten Räume, die erneut Ziel der Repression geworden sind (grün oder rot, das spielt keine Rolle).
Gegen das Vergessen kämpfen, den Weg zur Freiheit beleuchten. Gefährte Mauricio Morales auf dem Kriegspfad.
Centro Social Okupado y biblioteca Sacco y Vanzetti. März 2010. $hile
(*). Der Text heißt „Eine Antwort an die ‚anonimos insurrectos‘, die von ‚Jose Francisco Magon‘ geschickt wurde. Hier ist der Link: https://web.archive.org/web/20100414094026/http://www.hommodolars.org/web/spip.php?article3060
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[Anmerkung von hommodolars: Wir gehen davon aus, dass sie sich auf die Interpunktion beziehen, mit der wir diese Texte einleiten, die uns verschiedene Gefährt*innen geschickt haben. Wir stellen klar, dass die „langweilige“ Form, auf die sich die sacco-Leute beziehen, gerade dazu dient, sie beweglicher zu machen. Sie werden ihre weniger langweiligen Wege haben, diese Dinge zu tun, darüber hinaus stellen wir auch klar, dass dieser ganze Raum, in dem alle oben genannten Artikel aufgezeigt werden, nicht das Ziel hat, Fragen zu klären, die in der Praxis gelöst werden, sondern die Praxis selbst zu theoretisieren, die der Macht und die anderer Sektoren des „Antikapitalismus“, um sie dann einer praktischen Kritik zu unterziehen, sie zu schärfen und zu klären, um notwendige Positionen zu stärken und die nutzlosen zu verwerfen].
Die revolutionäre Moral ist im Verfall begriffen, und nur die kritische Kritik kann ihre Erneuerung bewirken.
Von José Francisco Magon
Vorbemerkung.
Zunächst möchte ich all jenen danken, die sich die Zeit genommen haben, auf den Artikel zu antworten, den ich als Antwort auf ein Kommuniqué veröffentlicht habe, das von „anónimos insurrectos“ veröffentlicht wurde und in dem mit den Reden von Marzo Anarquista, auch proletario anónimo und insbesondere mit dem centro social ocupado Sacco y Vanzetti polemisiert wird. Trotz der Tatsache, dass meine Positionen als infam und unmoralisch, abscheulich und auf jede erdenkliche Art und Weise bezeichnet wurden – ich verstehe die Reaktionen wegen der Sensibilität des Themas. Ich glaube, dass sich in dieser Polemik Elemente für eine wirkliche positive und nicht destruktive Kritik finden lassen. Wir wissen, dass in dieser Kontroverse, die von „anónimos insurrectos“ ausgelöst wurde, niemand von Kritik verschont wurde. Es waren harte Kritiken an einem großen Teil der nicht aufständischen Welt, die über einen langen Zeitraum wiederholt wurden, wo Ironie und Anonymität auch den Rahmen für den Kampf der Ideen bildeten – akzeptieren wir also diese Spielregeln. Im Fall des centro social Sacco y Vanzetti werde ich mich jedoch so klar wie möglich über meine Positionen und Kritik äußern. Ich muss unterstreichen, dass ich mich nie über das Projekt dieses Sozialen Zentrums oder die Tragödie von Mauricio lustig gemacht habe; alle, die etwas anderes behaupten, verleumden mich auf schamlose Weise und spielen auf meinen angeblichen Mangel an Moral an, um von meiner politischen Kritik abzulenken. Abschließend möchte ich daran erinnern, dass ich als Individuum schreibe und die in diesen Artikeln zum Ausdruck gebrachten Ideen nicht kollektiv sind oder einer Organisation angehören, sondern meine Analysen und Standpunkte darstellen. Es ist also absurd, in dieser Polemik eine ganze Tendenz, eine Organisation die Workshops organisiert oder weitere Organisationen zu beschuldigen.
Die revolutionäre Moral ist im Verfall begriffen, und nur die kritische Kritik kann ihre Erneuerung bewirken.
Ich stimme zutiefst zu, dass die revolutionäre Moral dekadent ist. Die Formen, die die Diskussionskultur zwischen den verschiedenen Strömungen der libertären Bewegung angenommen hat, zeigen, dass wir viel über die revolutionäre Moral zu sagen haben. Wir alle haben ein Glasdach, und niemand ist derjenige, der mit untadeliger Moral gehandelt hat. Vergessen wir nicht, dass diejenigen, die diese Polemik mit Anschuldigungen begonnen haben, die so genannten „aufständischen Individuen“ (individuos insurrectos) waren. Und dass sie aus öffentlichen Anschuldigungen gegen 4 libertäre Organisationen verschiedener Art entstanden ist.
Ich bin mir bewusst, dass ich aus der Anonymität heraus schreibe, aber ich übernehme die Verantwortung für meine Positionen bis zum Schluss, im Gegensatz zu den anderen anonymen Personen, die jeden verleumden und diffamieren, der ihnen über den Weg läuft, ohne in die Tiefe zu gehen oder mit ihrer Kritik weiterzukommen. Ich will etwas erreichen und das ist der Austausch von Ideen, die Rückkopplung, damit andere Gefährt*innen sehen können, dass es unterschiedliche Positionen und Tendenzen gibt, aber nicht die Aufhebung der einen oder anderen Tendenz. Ich möchte eine Regeneration der verfallenden libertären Moral erreichen und ziele darauf ab, eine Kultur der Debatte zu schaffen – bereit, mea culpa für meine Fehler zu machen.
Ich denke, dass Punkt 8 meines Artikels als Antwort auf die Anónimos Insurrectos klar ist, mit Ausnahme des Punktes, in dem ich auf das Centro Social Sacco y Vanzetti anspiele. Ich weiß, dass der Schmerz und das Leid immer noch latent vorhanden sind, vor allem beim Centro Social Ocupado Sacco y Vanzetti, das seine Positionen und die von Mauricio konsequent verteidigt und einen Prozess angeführt hat, der die Repression gegen die Besetzten Sozialen Zentren latent vorhanden war. Die Tatsache, dass sie diese Prozesse – bewusst oder unbewusst – angeführt haben, gibt ihnen jedoch nicht die Autorität, sich jeglicher Kritik zu entziehen, denn zumindest habe ich in ihren Bulletins die Aufforderung gelesen, sich nicht auf Plattformen oder auf diese oder jene Art und Weise zu organisieren, die sie nach ihrer Logik nicht für angebracht halten. Und ich frage sie, haben sie ein Bulletin X gesehen, das dazu aufruft, sich nicht in Affinitätsgruppen zu organisieren oder keine besetzten sozialen Zentren zu bilden, haben sie ein Bulletin gesehen, das die Geschehnisse vom 22. Mai „annulliert“, haben sie eine konkrete Abweichung von den Ideen von Mauricio gesehen? Die Kritik an der politischen Gewalt ist Teil einer notwendigen Debatte, die Generationen von Revolutionären im Laufe der Geschichte geführt haben, trotz der toten Gefährt*innen, der Gefängnisse und der Folterungen. Es werden schlimmere Zeiten kommen, in denen die repressive Feindseligkeit noch schlimmer sein wird, aber wir müssen diese Positionen trotzdem weiter diskutieren. Denn das ist Teil der revolutionären Moral, die Debatte geht Hand in Hand mit der Aktion.
Ich erkenne an, dass die Kritik, die ich in meinem ersten Artikel geäußert habe – soweit es euch betrifft – oberflächlich war, sie hat nur das Klima eines aufgeregten Hühnerstalls geschaffen und nicht den Aufbau einer revolutionären Theorie und Praxis. UND ICH BEKANNTE ÖFFENTLICH VOR DEN LIBERTÄREN LESERN INNERHALB UND INTERNATIONAL, dass ich wie viele in den Sumpf der moralischen Dekadenz gefallen bin. Es ist jedoch gleichzeitig der Sumpf der moralischen Dekadenz, in den der kreolische Anarchismus mit all seinen Tendenzen eingetaucht ist. Ist das der Punkt, an dem wir alle angekommen sind? Ja! Ich akzeptiere den Vorwurf der Unmoral, aber viele hätten das schon längst tun sollen, also muss man bescheiden sein, wenn man von revolutionärer Moral spricht. Aber angesichts der Unmoral der Antiautoritären wird nur echte Kritik für die Erneuerung der noch immer korrumpierten revolutionären Moral Früchte tragen.
Ich bestehe darauf – und fahre mit der Polemik fort -, dass nur auf die Form angespielt wird, aber niemand den wirklichen Inhalt der Polemik sehen will! Wenn Herr „Proletario anónimo“ mir antwortet: „Was mir ernsthaft erscheint, sind die grundlosen Beleidigungen der Gefährten des besetzten Hauses Sacco y Vanzetti, indem sie nach dem Tod von Mauricio Morales beschuldigt werden, Opportunisten zu sein“. Ich weiß, dass die Form einer solchen Anschuldigung eine gewisse moralische Dekadenz zeigt, wenn man sie als „Opportunisten“ bezeichnet und beschuldigt. Aber der Inhalt dieser Kritik ist folgender, und er beginnt mit zwei Dingen. Erstens haben sie aufgrund der Erklärung dieses besetzten sozialen Zentrums, das gegenüber der Position anderer nicht aufständischer Gruppen zur Tragödie von Mauricio Stellung bezogen hat, Folgendes festgestellt: „Während der Verabschiedung gab es Leute, die das Wort ergriffen, einige lasen Gedichte und intime Verabschiedungen und es gab andere, die mit dem ewigen Eifer, in Erscheinung zu treten und einen schweren Moment auszunutzen, ihre Stimme erhoben, nur um die Stille mit Inkohärenz zu durchschneiden, mit angeblichen Gedanken von Mauri, die nur eine Verzerrung seiner Ideen sind, die nichts mit dem zu tun haben, was der Gefährte dachte und tat und wofür er schließlich starb….. Dies gilt auch für die im Internet verbreiteten Grußbotschaften und Mitteilungen, in denen mehr Anspielungen auf politische Proselytenmacherei als auf die Ideen unseres Gefährten gemacht werden“14. Die unterstrichenen Punkte sind der Inhalt meiner Kritik, da dieses besetzte soziale Zentrum uns nie sagt, wer die Organisationen sind, die Kommuniqués zur „Proselytenmacherei“ herausgegeben haben, und wenn sie dies getan hätten, um seine Konsequenz trotz ihrer Differenzen zu begrüßen, wo wäre dann das Problem gewesen (ich bestehe darauf, dass sich niemand über Mauricios Tragödie lustig gemacht hat! Und wer mit diesem verleumderischen Argument spielt, macht sich der Infamie schuldig), tut man das nicht mit dem Tod der Brüder Vergara, die Kämpfer in einer Partei waren, die darauf abzielte, die Macht des Volkes gegen die Diktatur Pinochets aufzubauen? Tun wir das nicht alle mit den Frentistas und Lautaristas, die folgerichtig starben, obwohl wir höchstwahrscheinlich nicht die gleichen Lektüren hatten? Dies ist die Kritik am ältesten besetzten sozialen Zentrum des Landes.
Zweitens denke ich, dass wir auch mit dem Personenkult ein wenig vorsichtig sein müssen, denn es ist klar, dass die Märtyrer für die Erinnerung und die Verteidigung des Kampfes stehen. Wir wissen, dass sie unsere politischen Mythen sind, die unsere Leidenschaften, größere Energien und Kräfte wecken, aber das bedeutet nicht, dass sie unanfechtbar sind. Wir können unsere Märtyrer nicht heilig sprechen. Das ist keine libertäre Logik. In diesem Punkt müssen wir rigoros sein, und ich sage das ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen.
Was die Interpretation der Beleidigung durch das Soziale Zentrum anbelangt. Ich denke, dass sie radikal übertreiben, indem sie mir Worte in den Mund legen, die Mauricio und seine Tragödie direkt betreffen, das ist eine absolute Unverschämtheit dieser Organisation. Halten wir fest: „Aber was wir erhalten haben, war nur eine Beleidigung, die das, was seit dem 22. Mai passiert ist, zunichte machen sollte“. Ich wollte nicht annullieren, was seit der Tragödie von Mauricio gelebt wurde, ich erkläre jetzt den Inhalt einer Kritik, für die es höchste Zeit ist, dass sie einfach herauskommt. Die Form war nicht die geeignetste, aber der Inhalt ist das, was für uns zählt. Es ist jedoch höchste Zeit, dass sich die Kritik nicht einmal gegen Mauricio richtet, sondern gegen diejenigen, die sich von vornherein weigerten, sein Beispiel mit anderen Tendenzen zu sozialisieren. Wenn das Centro Social Sacco y Vannzetti fragt, ob „uns als Opportunisten zu verurteilen“ – sie – „einer dummen Unterstellung gleichkäme, dass die Gefährtin Luisa Toledo, Mutter der Brüder Vergara, ihr Gedenken im Sinne des Opportunismus verlegt hat und dass sie hinter jedem Aufruf zum Gedenken versucht, Profit für sich selbst zu machen“, so besteht der Unterschied darin, dass Luisa Toledo sich nie geweigert hat, die Konsequenz ihrer Kinder zu sozialisieren, wie ihr es mit den selbsternannten „individuos salvajes“ getan haben. Es ist verständlich, dass die Umstände, der Schmerz und das Leid sie dazu getrieben haben. Aber auch Selbstkritik ist notwendig. Ich weiß, dass diese Erklärung in kritischen Momenten abgegeben wurde. Und jetzt scheint es, dass sie ihre Haltung und ihren Standpunkt geändert haben. Sie sagen nun klar und deutlich: „Angesichts dessen ist unser Ziel genau das, was letztlich sowohl bei den Brüdern Vergara als auch bei Mauri geschehen ist: die Verbreitung der Erinnerung, indem wir sie in eine reproduzierbare und ansteckende Kunst verwandeln, die niemandem als exklusives Eigentum gehört.“ (die Unterstreichung ist von mir). Dies war nicht das, was klar war und was der obigen Kritik einen Inhalt gab. Was in drei Zeilen in Punkt 8 des vorherigen Artikels stand, wird nun hoffentlich klarer für euch sein.
Abschließend und bevor wir Kriege erklären und uns mit Schützengräben umgeben, die alle 360 Grad umfassen. Ich glaube, dass wir selbstkritisch sein und uns aus dem Sumpf der Unmoral befreien müssen, in dem wir alle stecken. Schon Emma Goldman, die in der russischen Revolution Lenin persönlich agieren sah, erzählt uns, wie er die Kultur der politischen Debatte sah, Lenin dachte: „Der Angriff auf den politischen Gegner ist die Form, nicht der Inhalt, von Bedeutung. In der Realität gibt die Form den Ton an, der die ganze Musik leitet. Die Form muss also so beschaffen sein, dass sie im Hörer oder Leser Hass, Verachtung, Entsetzen gegen die Angegriffenen hervorruft. Der Auftrag der Form besteht nicht darin, zu überzeugen, sondern die Reihen der Gegner zu lichten, ihre Fehler nicht zu verbessern, sondern ihre Organisation und ihre Tätigkeit zu vernichten, sie von der Erde zu tilgen. Die Form des Angriffs muss so beschaffen sein, dass er die schlimmsten Gedanken und Verdächtigungen hervorruft und Chaos und Verwirrung in die Reihen des Proletariats bringt.“ Auf die Frage, ob er solche Methoden nicht für verwerflich halte, antwortete Lenin: „Gewiss, wenn sie gegen die eigene Partei und die eigenen Genossen angewandt werden. Aber im Kampf gegen alle politischen Gegner ist eine solche Methode nicht nur nicht verwerflich, sondern sie ist lobenswert und notwendig.“15 Ich denke, dieses Zitat spricht für sich selbst und zeigt uns den Verfall der anarchistischen revolutionären Moral, wie sehr sie im Leninismus verhaftet ist. Niemand ist gerettet, weder Aufständische noch Plattformisten, weder Video Revistas noch Professoren. Aber nur kritische Kritik wird die revolutionäre Moral des kreolischen Anarchismus und seiner Tendenzen erneuern. Andernfalls ist das Schicksal, das uns erwartet.
Es leben die die kämpfen.
In Gedenken aller Märtyrern jenseits von Sektierertums !!!!!
Anmerkung zur Kritik am marzo anarquista
gesendet von C.
Gefährten:
Ich habe das Kommuniqué gelesen, in dem ihr eure Position zum *Marzo anarquista* zum Ausdruck bringt, und ich möchte dazu einige Anmerkungen machen. Nicht um zu polemisieren, denn davon gibt es schon genug, sondern um ein wenig auf einige Aspekte einzugehen, die im antiautoritären Milieu, wie ihr es nennt, nicht genug diskutiert wurden.
Ich war weder dieses noch letztes Jahr auf dem *Marzo anarquista*. Die Wahrheit ist, dass diese Veranstaltungen, bei denen Leute zusammenkommen, um über ihre Ideen zu reden, ohne andere konkrete Aufgaben zu haben, die sie gemeinsam angehen, für mich „Hirngewichse“ sind. Ich sage nicht, dass der „Marzo anarquista“ hirngewischserei ist, da ich nicht dort war, aber im Allgemeinen eignen sich diese Art von Treffen für alle Arten von Prahlerei, Eitelkeiten und Unsinn, die ich lieber nicht miterleben möchte. Um ehrlich zu sein, fühle ich mich in der Gesellschaft meiner Freunde und meiner Familie wohler.
Was mir an eurem Kommuniqué auffällt, ist, dass ihr ein starkes Anliegen habt, euch von anderen Anarchisten zu „unterscheiden“, und zwar nicht nur, indem ihr zeigt, was euch von ihnen unterscheidet, sondern indem ihr versucht zu beweisen, dass sie dem feindlichen Lager angehören. Um dies zu demonstrieren, wird ein Schema angeboten, in dem ihr die wirklichen Gegner der kapitalistischen Ordnung seid, während die anderen – in diesem Fall die „Professoren“ – so etwas wie eine reaktionäre fünfte Kolonne sind, die sich in die Reihen des Proletariats einreiht. Dies scheint durch mindestens zwei Tatsachen bestätigt zu werden: Erstens fördert ihr illegale Aktionen und unterstützt aktiv diejenigen, die dafür von Repression betroffen sind, während die anderen sich darauf beschränken, innerhalb des legalen Rahmens zu handeln und sich nicht an der Unterstützung oder Legitimierung von Illegalität beteiligen; zweitens ihr und andere Gefährten aus eurem Umfeld werden von der bourgeoisen Presse und den Funktionären der Macht nur beachtet, um euch zu kriminalisieren, während den anderen manchmal eine gewisse Zustimmung entgegengebracht wird. Und schließlich, und um das alles noch zu verschlimmern, während ihr euch der Aktion befindet, lesen und reden sie (A.d.Ü., die die innerhalb des legalen Rahmens handeln) nur.
Das müssen gute und ausreichende Gründe für euch sein, um die Autoren des *Marzo anarquista* öffentlich anzuprangern. Ich zweifle nicht daran, dass ihr sehr gute Gründe dafür haben müsst, und ich respektiere diese Gründe. Aber offen gesagt, denke ich, dass die von euch genannten Gründe weder stichhaltig noch ausreichend sind. Wenn ihr den Stein im Schuh, der die „Professoren“ des Anarchismus ist, wirklich loswerden wollt, müsst ihr nach überzeugenderen Gründen suchen. Andernfalls wird immer das Gefühl in der Luft liegen, dass ihr sie aus bloßem Neid und Missgunst oder, schlimmer noch, aus intellektueller Ohnmacht heraus angegriffen habt. Und ich glaube nicht, dass das der Fall ist. Ich glaube wirklich, dass von Leuten, die sich so sehr für direkte Aktionen engagieren wie ihr, das, was ihr über andere, die sich nicht so sehr engagieren, zu sagen habt, es verdient, gehört zu werden.
Ich möchte auf drei Probleme eingehen, die ich mit eurer Argumentation habe.
Erstens: Um die Antiautoritären, die wirklich gegen den Kapitalismus kämpfen, von denen zu unterscheiden, die nur so tun, als ob sie es täten, zieht ihr eine Grenze zwischen illegalen Aktivitäten und solchen, die nicht gegen das Gesetz verstoßen. Das ist eine Verwechslung der Karte mit dem Territorium, wie Akademiker sagen. Die Grenze zwischen dem Legalen und dem Illegalen ist formal kodifiziert, was sie ziemlich starr und stabil macht: Was das Gesetz erlaubt und was es verbietet, bleibt im Laufe der Zeit gleich, zumindest bis das Gesetz geändert wird. Andererseits entspricht die Tätigkeit der Menschen kaum jemals diesen formalen Kodifizierungen, und wie wir alle wissen, bewegt sich die Tätigkeit der Kapitalisten und ihrer Diener immer in einem mehrdeutigen Terrain, in dem das Gesetz nach Belieben befolgt und übertreten wird, ohne dass es ihnen große Unannehmlichkeiten bereitet. Die Feinde der kapitalistischen Ordnung müssen sich ihrerseits ebenfalls in einem zweideutigen Terrain bewegen, in dem es unmöglich ist, rechtliche Formalitäten wörtlich zu nehmen, in dem sie sie aber auch nicht systematisch ignorieren können. Mit einem Wort: Die Linie, die das Legale vom Illegalen trennt, fällt nicht mit der Linie zusammen, die das Subversive vom Reaktionären trennt. Wenn es so einfach wäre, würde die repressive Ordnung aufgrund der zahlreichen illegalen Aktivitäten, die in ihr stattfinden, ständig vom Zusammenbruch bedroht sein. Aber wir wissen es besser. Damit es einen Staat geben kann, muss es Recht geben, aber vor allem muss es Illegalität geben. Es ist bekannt, dass der Staat sich ständig seine eigenen Feinde schafft und immer wieder in subtile Verhandlungen mit ihnen verwickelt ist, denn die Existenz eines diffusen feindlichen Lagers innerhalb der Gesellschaft ist das Lebenselixier, das seine ideologischen und repressiven Apparate speist. Vor fünfundzwanzig Jahren steckte die chilenische Polizei bis zum Hals in einer groß angelegten Operation, um die Städte mit Kokainpaste zu überschwemmen; das hat es dem Staat unter anderem ermöglicht, seine Vorherrschaft ein Vierteljahrhundert lang zu festigen, und wird es auch weiterhin tun, weil Polizei, Presse, Justiz und Kriminalität eine Interessengemeinschaft bilden, die sich durch alle möglichen Strategeme aufrechterhält. Dies beweist, dass nicht alle illegalen Aktivitäten notwendigerweise subversiv sind und nicht alle subversiven Aktivitäten notwendigerweise illegal sind. Wenn ihr also beweisen wollt, dass die „Professoren“ des *Marzo anarquista* nicht subversiv sind, müsst ihr das auf andere Weise beweisen. Die Tatsache, dass ihre Treffen nicht gegen bestehende Gesetze verstoßen, beweist nichts.
Ich denke auch nicht, dass das Auftreten der Presse in Bezug auf dieses Thema beweist, dass die Leute des *Marzo anarquista* von den Machthabern mehr akzeptiert werden als die Anarchisten der „Aktion“. Diese Frage hängt eng mit der vorhergehenden zusammen: So wie wir uns nicht auf das Kriterium der Legalität/Illegalität verlassen können, um zu unterscheiden, was subversiv ist und was nicht, so ergibt es auch keinen Sinn, einige Anarchisten aufgrund der Manöver der bourgeoisen Presse zu denunzieren oder andere zu loben. Wenn man innerhalb eines politisierten Milieus die Tätigkeit der einen oder der anderen beurteilen will, muss man von seinen eigenen Kriterien ausgehen, die in der Begegnung und im Streit, in der Diskussion und, wenn nötig, in der Konfrontation geschmiedet wurden… aber all dies innerhalb desselben sozialen Umfelds, in dem die Menschen in der Lage sind, ihre eigenen Einschätzungen anzuwenden, ohne von den Tricks des Klassenfeindes beeinflusst zu werden. Es ist zum Beispiel bekannt, dass der Repressionsapparat in Zeiten starker politischer Repression gewohnt ist, Subversive zu inhaftieren und willkürlich freizulassen, um unter ihnen Misstrauen zu erzeugen, ihre Moral zu untergraben und Atomisierung zu säen. In Zeiten mäßiger politischer Repression spielen Präventiv- und Abschreckungsmanöver eine zentrale Rolle, die darauf abzielen, die Subversion durch das Schüren von Zwietracht und Misstrauen zu desartikulieren und zu schwächen, bevor es notwendig wird, sie direkt zu bekämpfen. Die Polizei verfügt über ausgebildete Kräfte für diese Aufgaben, aber da die Infiltration immer schwieriger wird, spielt die Presse eine wichtige Rolle. Das ist der Sinn der unterschiedlichen Behandlung der verschiedenen Arten von Subversiven: Während die einen öffentlich verteufelt werden, wird das Bild der anderen beschönigt, wohl wissend, welche Auswirkungen das haben wird. Ich sage nicht, dass es keine falschen Antikapitalisten gibt, die sich nur hinter den Kulissen der Politik, der Pädagogik und des Spektakels einfügen wollen, und die immer einen Weg finden, dies zu tun. Aber die proletarische Bewegung muss sie nach ihrer konkreten Praxis beurteilen und nicht nach der Praxis der bourgeoisen Medien der Desinformation. Wenn die anderen nicht danach beurteilt werden, was sie selbst tun, sondern danach, was die Presse über sie berichtet, ist das der höchste Ausdruck der Entfremdung im Kapitalismus: Es bedeutet, dass wir unfähig geworden sind, ohne die Vermittlung der von den professionellen Lügnern fabrizierten Bilder miteinander in Beziehung zu treten. Wenn man also zeigen will, dass die Organisatoren des *Marzo anarquista* Arschlecker des Systems sind, sollte man sich auf andere Gründe berufen und nicht auf die Art und Weise, wie die Presse über sie berichtet. Umgekehrt ist es lächerlich, zu beweisen, dass ein Teil des Anarchismus „tatsächlich subversiv “ ist, indem man sich auf die Dämonisierung beruft, der er in den bourgeoisen Medien ausgesetzt ist. Diese Medien haben uns nichts zu sagen, denn sie sprechen die Sprache der Herrschaft und der Lüge. Wenn man nach seinem eigenen Willen leben will, wenn man sich von all dem alten kapitalistischen Schwachsinn emanzipieren will, ist das Mindeste, was man tun kann, nicht mehr zu glauben, dass das, was die bourgeoisen Medien sagen, dazu dienen kann, um uns in der realen Welt zu orientieren.
Und schließlich… was ist falsch am Lesen und Schreiben, am Lernen, an der Konversation und an intellektuellen Aktivitäten im Allgemeinen? Diese Dinge zu tun, macht jemanden nicht unbedingt zu einem „Akademiker“ oder „Professor“. Man denke zum Beispiel an Marx oder Bakunin, oder in jüngerer Zeit an Guy Debord, Freddy Perlman, Paul Goodman, Loren Goldner und viele andere. Diese Leute haben eine theoretische, intellektuelle Tätigkeit entwickelt, aber niemand würde es wagen, sie „Professoren“ zu nennen. Sie waren Teil der proletarischen Bewegung, sie haben Lernkreise gebildet, sie haben die Diskussion und die Analyse gefördert, sie haben manchmal Begegnungen und Brüche, neue Praktiken angeregt… Die proletarische Bewegung wäre nichts, was sich auf die reine unmittelbare Aktion im Sinne von „in die Offensive gehen“ gegen die Macht beschränkt. Diese andere Art von Aktion, die darin besteht, unsere eigenen, vom Kapital enteigneten intellektuellen Fähigkeiten zu entwickeln, ist genauso subversiv wie jede andere, und ohne sie könnte das Proletariat dem Kapitalismus weder widerstehen, noch ihn überwinden, noch ihn abschaffen. Ist es nicht seltsam, dass die intellektuelle Tätigkeit bei den Proletariern so diskreditiert ist? Fällt es euch nicht auf, dass dieselben Leute, die auf diese intellektuellen Tätigkeiten der Libertären herabsehen, kein Problem damit haben, den Presseberichten zu glauben, für Prüfungen zu lernen oder stundenlang vor dem Fernseher oder im Kino zu sitzen? Die Frage ist nicht, ob wir unser Gehirn benutzen, um intellektuelle Tätigkeiten auszuführen oder nicht, denn das tun wir alle ständig. Die Frage ist *wozu wir unseren Kopf benutzen*. Und es ergibt sicher wenig Sinn, damit die wenigen zu diffamieren, die in der Lage sind, anderen Proletariern und sich selbst die Mittel zur intellektuellen Entfaltung zu bieten – als ob es einen Überschuss an Buchhandlungen und Diskussionsräumen mit emanzipatorischen Absichten gäbe! Natürlich gibt es eine Trennung zwischen denen, die die intellektuelle Entwicklung schätzen und denen, die die „direkte Aktion“ bevorzugen. Diese Trennung macht sich in den Gewohnheiten bemerkbar, in der Kultur sozusagen: in der Art und Weise, wie man Kontakte knüpft, wie man sich unterhält, sogar in der Art und Weise, wie man spricht und manchmal sogar in der Kleidung. Aber das ist nur eine weitere Trennung unter den unendlichen Trennungen, die dieses beschissene Leben unter dem Kapital prägen. Solange die kapitalistische Produktionsweise existiert, wird es weiterhin eine Trennung zwischen manueller und intellektueller Tätigkeit geben, zwischen „Kategorien“ von Menschen, die durch ihre persönlichen Vorlieben und Begabungen getrennt sind, zwischen „Träumern und Tatmenschen“ und so weiter. Diese Trennungen sind nicht das Ergebnis unseres Geschmacks oder unserer Vorurteile, sondern das Ergebnis der Art und Weise, wie wir unser Leben leben: als bloße Arbeitsinstrumente, als belebte Waren. Für die Macht besteht das Wesentliche darin, diese Trennungen aufrechtzuerhalten und zu vertiefen, denn je tiefer sie sind, desto bessere Waren werden wir für ihren Gebrauch sein. Nun, die Vertiefung dieser Trennungen wird unter anderem durch Stadtplanung, durch ökonomischen Zwang und durch die Herstellung einer bestimmten Art von Kultur gewährleistet. Vor allem aber liegt sie im Bewusstsein der Proletarier, die diesen Trennungen Realität verleihen, indem sie sie rechtfertigen, als wären sie „natürlich“. Die Beziehungen zwischen den Proletariern selbst sind das Feld, auf dem die ersten Schlachten gegen die Trennung geschlagen werden. Dort beginnt man, indem man angesichts des herrschenden Elends gewinnt oder verliert.
Wie ich zu Beginn sagte, war ich noch nie auf dem *Marzo anarquista*. Aber ich war auf vielen anderen Veranstaltungen, die meiner Meinung nach ähnlich sind wie dieser. Ich habe eine ganze Reihe von Leuten aus dem antiautoritären Milieu kennengelernt, und ich habe viele Diskussionen wie die von euch vorgeschlagene miterlebt und war deren Protagonist. Im Allgemeinen habe ich den Eindruck, dass ich mehr Scheindiskussionen als echte Diskussionen miterlebt habe. Falsche Diskussionen sind solche, die dazu neigen, die Trennungen zwischen Proletariern und zwischen verschiedenen Arten von subversiven Aktivitäten zu vertiefen, indem sie das, was sie unterscheidet, gegenüber dem, was sie gemeinsam haben, hervorheben. Wahre Diskussionen hingegen sind nicht solche, die eine glückliche Einigung aller und ein allgemeines gutes Gefühl anstreben, sondern solche, die auf die Wurzel der Probleme abzielen. Nur wenn man die Wurzel des Problems angreift, kann man das Material für den Aufbau einer echten proletarischen Kampfgemeinschaft ans Licht bringen. Und wie Marx sagte, ist die Wurzel des Problems immer und überall der Mensch selbst. Dies zu erkennen, ist der Kern der Radikalität. In diesem speziellen Fall besteht das Problem nicht darin, dass die Aktion der Theorie überlegen ist, noch dass die Freunde der Aktion besser sind als die Freunde der Reflexion. Das Problem ist, dass dieses System uns dazu gebracht hat, wie Waren zu handeln. Was tut jede Ware in erster Linie? Sie versucht, sich auf Kosten aller anderen Waren aufzuwerten: mit allen anderen Waren zu konkurrieren, um sich einen privilegierten Platz auf dem Markt zu sichern. Wie kann man von einer Ware verlangen, dass sie sich in andere Waren hineinversetzt, dass sie versucht, sie zu verstehen und mit ihnen in einen Dialog zu treten? Waren existieren nicht, um eine Gemeinschaft zu bilden, sondern um jede Art von Gemeinschaft zu zerstören, noch bevor sie sich manifestiert. Das ist die Tragödie des Proletariats: Reduziert auf die Arbeitskraft, auf bloße Produktionsmittel, auf Waren, sind sie daran gehindert, eine andere Gemeinschaft zu bilden als die elende kapitalistische Gemeinschaft der entfremdeten Produktion und des Konsums. Wenn sich innerhalb des Proletariats so etwas wie eine „Avantgarde“ ‚ bilden kann, im Sinne einer Sektion, die zur Subversion der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse vorgedrungen ist, so kann diese „Avantgarde“ nur deshalb so sein, weil sie bis zu einem gewissen Grad aufgehört hat, die Warenverhältnisse zu reproduzieren. Es gibt keine Praxis, die an sich „subversiver“ ist als andere. Subversiv ist es, die entfremdeten Beziehungen der Konkurrenz und der gegenseitigen Verachtung zu überwinden, die von dieser Gesellschaftsordnung in allen Lebensbereichen auferlegt werden. Subversiv ist es, eine Gemeinschaft ohne Trennungen zu schaffen, die sich nicht damit begnügt, sich in Opposition zu anderen zu behaupten, sondern immer vielfältigere, komplexere und dynamischere Beziehungen zu entwickeln, die wachsen und sich ausbreiten, bis sie den ganzen Planeten einnimmt. Wenn die soziale Revolution das nicht ist, dann ist sie nichts. Eine solche Bildung einer totalen menschlichen Gemeinschaft ist keine Angelegenheit, die in der Zukunft gelöst werden muss, sondern jetzt. Darum geht es bei der sozialen Subversion. Texte, Diskussionen, Sabotage und Solidarität sind nur Mittel zu diesem Zweck. Wenn solche Praktiken oft nicht als Mittel, sondern als Selbstzweck erscheinen, oder schlimmer noch, als Banner, mit dem man sich in Opposition zu anderen identifiziert und selbst aufwertet… dann ist das ein klares Symptom einer falschen Subversion, falscher Diskussionen und einer falschen Bewegung des Widerstands gegen den Kapitalismus.
Deshalb habe ich darauf bestanden, dass wenn ihr den *Marzo anarquista* öffentlich anprangern wollt, ihr eure Anprangerungen auf bessere Gründe stützen solltet, als die, die ihr angegeben habt. Es scheint, dass ihr nicht versucht, dazu beizutragen, eine Gemeinschaft von kämpfenden Proletariern auf einer soliden Basis zu schaffen, die alle Formen von Aktivitäten einschließt und die von dieser entfremdeten Ordnung auferlegten Trennungen aufbricht. Stattdessen scheint es, als ob ihr versucht, euch selbst aufzuwerten, indem ihr andere angreift. Und das hat nichts Subversives an sich. Ich weiß nicht, ob man diese Kritik auch auf diejenigen anwenden kann, die ihr „Professoren“ nennt. Vielleicht ja, es gibt in der Tat Leute, die die theoretische Tätigkeit als Mittel der Selbstaufwertung und der hierarchischen Abgrenzung betrachten. Aber ich kenne die Leute vom *Marzo anarquista* nicht, also kann ich im Moment nicht viel über sie sagen.
Nun, das war’s. Grüße.
Antwort an das Centro Social Ocupado Sacco y Vanzetti
gesendet von Corriente de Accion Libertaria
Von Anfang an haben wir es als Organisation vermieden, uns an der politischen Debatte zu beteiligen, die über Internetportale zwischen den verschiedenen Visionen und Praktiken, die sich als libertär bezeichnen, geführt wird, da sie oft über die Brüderlichkeit hinausgeht, in der diese Diskussionen stattfinden sollten, obwohl wir sie aufmerksam verfolgen. Wir haben jedoch versucht, zur Ideendebatte beizutragen, indem wir unsere Position zu bestimmten Themen bekannt gegeben haben, wie z.B. die Verbreitung eines Anarchismus, der sich mit antisozialen oder aufständischen Positionen identifiziert (siehe https://web.archive.org/web/20100414094026/http://corrienteaccionlibertaria.blogspot.com/2009_05_01_archive.html). Diesmal sehen wir uns gezwungen, auf eine Erklärung des Centro Social Ocupado Sacco y Vanzetti mit dem Titel „Kein Platz für Infamie“ (im Anhang zu diesem Kommuniqué) zu antworten, da sie sich direkt auf den Artikel „Eine Antwort an die anonimos insurrectos“ > (https://web.archive.org/web/20100414094026/http://www.hommodolars.org/web/spip.php?article3056) und auf den Tod von Mauricio Morales bezieht.
In dieser Hinsicht stimmen wir mit der großen Mehrheit der Aussagen des Autors der „Antwort an die anonimos insurrecto“ völlig überein, indem wir sie als eine Verteidigung dessen verstehen, was wir für den Anarchismus halten, der zweifellos auf der Seite der Kämpfe der Ausgebeuteten und Unterdrückten steht, und dessen Aufgabe es ist, die organisatorischen Fähigkeiten der Volksbewegung zu stärken, da dies die Substanz der sozialen Revolution ist. In diesem Sinne stimmen wir zu, dass die Arbeiterklasse das einzige wirklich aufständische Subjekt ist und nicht kleine Affinitätsgruppen, wie formell oder informell sie auch sein mögen.
Wir sind der Meinung, dass man auf bestimmte Abqualifizierungen und Ironisierungen, wie z.B. den Verweis auf den Leichnam von Mauricio Morales, hätte verzichten können, da sie in gewisser Weise die kategorischen und soliden Argumente verwässern, die mehr als deutlich machen, wie untauglich aufständische Taktiken sind und wie wenig oder nichts sie in einem chilenischen Kontext beitragen, in dem es notwendig ist, das soziale Gefüge von unten zu artikulieren. Wir sind der Meinung, dass Argumente und politische Praktiken Vorrang haben sollten, um etwas zu demonstrieren und nicht um zu disqualifizieren.
Deshalb sind wir nicht einverstanden mit dem, was CSO Sacco y Vanzetti sagt, wenn sie anarchistische Organisationen als Instanzen behandelt, die nirgendwo Gewicht haben, als Sozialdemokraten, Reformisten, dass wir nur nach Popularität streben oder dass sie fiktive Organisationen sind, vor denen übrigens niemand Angst hat, weil sie nur als Akronym existieren, das im Internet Unsinn schreibt.
Wir glauben, dass es eine gute Übung ist, sich zu fragen, wie wir das soziale Gewicht einer Position an der Anzahl der Aktionen messen, die mit einem gewissen Grad an Spektakel ausgestattet sind, oder an dem Einfluss, den libertäre Ideen und Praktiken auf die Volkskämpfe haben können? Wir sind der Meinung, dass man darüber nachdenken kann, was für den aktuellen chilenischen Kontext und für unsere zukünftigen Bestrebungen, den Staat und das Kapital zu zerstören, wichtiger ist: ein paar Banken von Zeit zu Zeit anzugreifen oder die Stärkung von Kulturzentren, Volksbibliotheken, Gewerkschaften, Arbeiterkollektiven, studentischen Räumen, etc. Das ist es doch, worauf es in dieser Debatte ankommt, und nicht darauf, sich von der einen oder anderen Seite zu disqualifizieren.
Wir glauben nicht, dass der unglückliche Tod von Mauricio Morales von irgendeiner libertären Instanz opportunistisch ausgenutzt wurde, wir denken, dass er von allen empfunden und analysiert wurde, offensichtlich war er für seine engsten Gefährten viel schmerzhafter und dies wurde von ihrer Art, einen Kampfprozess zu verstehen, überdeckt, die Konsequenzen, die dies für sie mit sich brachte, machen dies deutlich. Wir sind jedoch der Meinung, dass es eine autoritäre Praxis ist und weit von dem entfernt ist, was ihr selbst sagt, wenn ihr sagt, dass das, was den Brüdern Vergara und Mauricio widerfahren ist, niemandem als exklusives Eigentum gehört, wenn man andere Gruppen davon abhält, die entschlossene Aktion zu würdigen, die Mauricio Morales zu verfolgen versuchte und die zweifellos seinen Überzeugungen entsprach. Deshalb halten wir es für einen Fehler, diese Tatsache mit dem Fall der Gebrüder Vergara zu vergleichen, deren Familie sich nie gegen eine Gruppe gestellt hat, die das Beispiel des Kampfes ihrer Söhne für sich beansprucht hat, weil sie es als einen Beitrag zum sozialen Kampf verstanden hat.
Deshalb sind wir der Meinung, dass unsere Differenzen taktischer und strategischer Natur sind, denn obwohl wir die Aktion von Mauricio Morales für gültig halten und auch alle Formen des Kampfes akzeptieren können, ist für uns in dieser Periode die Akkumulation von Kräften, die Schaffung eines sozialen Gefüges und die Einführung libertärer Ideen und Praktiken auf sozialer Ebene viel wichtiger, und wir sind davon überzeugt, dass der Aufbau der Volksmacht die grundlegende strategische Linie ist, um die soziale Selbstverwaltung zu erreichen, die sich in der Sozialisierung der politischen und wirtschaftlichen Macht ausdrückt.
Wir rufen in aller Bescheidenheit dazu auf, die Volkskämpfe in den Städten, an den Arbeitsplätzen und an den Studienorten zu fördern und fortzusetzen, indem wir jeden sozialen Raum zu einem Raum der Konfrontation mit dem Staat und dem Kapital machen, in dem Bewusstsein, dass dies der beste Tribut an alle Gefallenen ist.
AUS DEN VOLKSKÄMPFEN DIE LIBERTÄRE ALTERNATIVE AUFZUBAUEN.
ES LEBE DIE DIE KÄMPFEN
KÄMPFEN, SCHAFFEN, VOLKSMACHT GEGEN STAAT UND KAPITAL
Corriente de Accion Libertaria
März, 2010
Ein paar Worte zu sagen
Von Anónimos insurrectos
Trotz unserer aufständischen Anonymität entziehen wir uns nicht unserer revolutionären Verantwortung und fühlen uns verpflichtet, ein paar Zeilen zu schreiben, um zu verhindern, dass Ideen in der Luft hängen bleiben.
Wir könnten auf alle angesprochenen Texte antworten (einige werden natürlich schwieriger sein, wie die religiöse Erklärung von Sinapsis und seine Blindheit, nicht zu verstehen, was kritisiert wird: keine Annahmen, sondern Tatsachen), aber in Kürze werden wir versuchen, ein paar Zeilen zu schreiben, um ein paar Dinge zu klären.
Wir gehen davon aus, dass derjenige, der das letzte Wort hat, keinen „Sieg“ in der Diskussion oder etwas Ähnliches bedeutet, eine hektische Dynamik, die uns monatelang über dasselbe Thema schreiben lassen könnte.
…und das ist eure Revolution? …und das ist euer Internationalismus?
Die Grundsatzerklärung von „Jose Flores Magon“ ist ziemlich klar und lässt nicht viel Raum für Spekulationen, ihre Form und ihr Inhalt, wie er sich einen revolutionären Prozess vorstellt, kann nur die Notwendigkeit bestätigen, sich von diesen Tendenzen zu distanzieren, aus der einfachen Tatsache heraus, dass wir diese „revolutionäre“ Form nicht beobachten oder bekämpfen (Gegenmacht, Transformation, das Verlassen der einen oder anderen Struktur, um sie wiederzuverwenden, nachhaltige Entwicklung, Aufrechterhaltung von Industrien, Ausbeutung von Tieren, ist ein Diskurs, der sehr weit von dem entfernt ist, wie einige von uns die Revolution sehen und mit verschiedenen „systemkritischen“ Aspekten vergleichbar ist).
„Die Stadtguerilla wird ihren Sieg niemals im Sinne der Kriegsführung erringen“: Absolut richtig, niemand hat das behauptet und deshalb werden weiterhin alle Formen des Kampfes, die sich der Logik der Ausbeutung widersetzen wollen, bestätigt, indem eine offensive Arbeit in verschiedenen Räumen und Aspekten entwickelt wird, um sie zu verallgemeinern.
Was die Kritik betrifft, dass die aufständischen Sektoren beschuldigt werden, ausländische Bräuche einzubringen („aufständische Pizza nach italienischer Art“ ist eine bemerkenswerte Zurschaustellung von Unwissenheit), verdient sie eine Klarstellung: Ja, viele von uns haben Formen der Konfrontation aus anderen Ländern gerettet (…ich glaube, das ist es, was einige alte Hasen „Internationalismus“ nannten). Aber ihr solltet wissen, dass wir hier weder kopieren, noch von Gefährten aus anderen Ländern beeinflusst oder ausgebildet werden (obwohl es vielleicht besser wäre, den griechischen Fall zu zitieren, es scheint, dass sie es besser machen). Wir werden nicht über den plattformistischen Mate auf der urugaischen Art oder die formale brasilianische Keipiriña sprechen, Gefährten im aufständischen Kampf und Gefährten in fiktiven Organisationen gibt es überall, und wir waren weder in der Lage noch sind wir daran interessiert, die kreolischen und autochthonen revolutionären Organisationsformen in Chile zu entdecken.
Vehemente Verteidigung der Räume und der gefallenen Gefährten.
Die Kritik an den Orten, an den Räumen ist notwendig und immer positiv im Sinne einer Verbesserung der Angriffsformen (für die Ungeschickten, wir beziehen uns nicht nur auf die Übertretung des Gesetzes).
Von hier aus finden wir die Anschuldigung und Unterstellung der C.S.O. Sacco y Vanzetti absurd, weder sie noch wir alle, die wir uns an den Mauri erinnern, könnten als Opportunisten behandelt werden, und vom ersten Moment an war die Ausweitung in der Erinnerung das Stärkungsmittel aller seiner Gefährten, offensichtlich schließt dies die Gefährten von Sacco y Vanzetti ein.
Auf der anderen Seite ist es interessant zu verstehen, wie einige Räume auch als Teil des Projekts des Aufstands betrachtet werden, und zwar von einer ganz öffentlichen, legalen und „gewaltfreien“ Dynamik aus. Wie bereits gesagt, geht es um die Form und die Substanz dessen, was bekämpft wird.
Die Revolte braucht alle Zutaten, und diese Räume haben uns gezeigt, wie wichtig es ist, sie zu nutzen, wie die Diskussionen, Foren und verschiedenen Aktivitäten, die an diesen Orten stattfinden.
Mehrere von uns haben auch die Organisationsform durch die Plattform oder die Especifista kritisiert, sie scheint uns eine Verschwendung von Energie von Gefährten zu sein, die sich aufrichtig dem Kampf widmen wollen, um eine Struktur am Leben zu erhalten und nicht ihr eigentliches Ziel.
Von den Brüdern Vergara hat nie jemand ihre hypothetischen anarchistischen, aufständischen, frentistischen, lautaristischen usw. Tendenzen erwähnt. Man hat sie immer respektiert und sich an sie erinnert, im Wissen um ihre Andersartigkeit und ihre Gedanken, und wir würden alle unisono reagieren, wenn jemand das Gegenteil versuchen würde. Warum werden die Dinge dann bei Mauri noch verworrener, weil seine Gefährten sich schuldig machen würden, jeden zum Schweigen zu bringen, der erfinden will, „was Mauri war“ (wie viele von uns bei verschiedenen Gelegenheiten, einschließlich seiner Beerdigung, hören konnten)?
Das Gedenken an die im Kampf gefallenen Gefährten ist eine Aufgabe für uns alle, die wir im Vergessen ein ruchloses Werkzeug der Macht sehen, die Verteidigung eine Verpflichtung, ihrem Kampf um Leben und Tod einen Sinn zu geben.
Legal: reformistisch; illegal: revolutionär… unsere angebliche intellektuelle Ohnmacht?
Hier haben wir nie versucht, die Aktion zu vergöttern, weder die legale noch die illegale, ihr Inhalt ist das, was uns zusammenschweißt: der Inhalt eines Forums, eines Wandgemäldes, einer Konfrontation mit der Polizei, eines besetzten Hauses, eines Brandanschlags oder eines Sprengstoffanschlags.
Wir haben nie behauptet, dass ein Aufstand nur mit illegalen Mitteln zu begründen ist oder dass alles, was die Presse verachtet, unser Verbündeter sein wird. Zur Erinnerung: Der Text, mit dem wir diese Diskussion beginnen, spricht von der Schikane von Foren, Aktivitäten, Diskussionstagen, Räumen, die nicht aus Schießpulver und Dynamit gebaut sind (wie einige Journalisten glauben) und endet auch mit einem Aufruf, Diskussionen und Überlegungen fernab der Lehrstühle zu vervielfachen.
Die Kritik an marzo anarquista und den Syntheseorganisationen entspringt nicht einer intellektuellen Ohnmacht in einer Dichotomie mit ganz öffentlichen besetzten Räumen, wo sie eine illegale Ladung erhalten, die zu gefährlich für die wachsamen Augen der Repression ist, die diese Zeilen liest.
Herr „C“, lerne zu lesen, was du kritisierst. Hier und fast nirgendwo wurde die intellektuelle Aktivität (Denken, Diskussion, Reflexion) kritisiert, es scheint, dass die gesamte Arbeit der Verlage, der Bibliotheken, der Hausbesetzungen, all derjenigen, die eine aufständische Tendenz haben, in denen die Diskussion und die Reflexion wuchern, ohne ein Klassenzimmer zu sein oder wiederherzustellen, in den Dreck gezogen wurde, indem man ihnen eine explosive illegale Aktivität zuschrieb, die es in diesen Räumen nicht gibt.
Obwohl man versucht, die aufständische Tendenz zur Konfrontation mit dem Kampf lächerlich zu machen, wissen wir, dass die Offensive vielgestaltig ist, und im Gegensatz zu einigen anderen Organisationen sehen wir die aufständische Taktik nicht als unbrauchbar an (sogar überflüssig: die aufständische Taktik wird nicht nur als illegale Aktion verstanden).
Das Wichtigste… was uns bleibt
Mit denjenigen, die die direkte Aktion verurteilen, kann man nichts diskutieren, man kann sich vernetzen, verbinden, Beziehungen knüpfen, Kontakte knüpfen und sich mit verschiedenen Tendenzen, Gedanken und Praktiken solidarisieren (eine sehr notwendige und äußerst wichtige Situation in dieser Zeit). Aber wer die direkte Aktion verurteilt, verurteilt unsere Gefährten und ein historisch gültiges Instrument, das von den Ausgebeuteten eingesetzt wird (ohne den Moment der Akkumulation der Kräfte abzuwarten).
Wir sind nicht im Besitz irgendeiner Wahrheit, aber wir haben die Überzeugungen und wir setzen auf diese Taktik und Strategie, wo wir durch permanente Konfrontation im Kampf geschmiedet werden.
Abgesehen von der schrecklichen Beleidigung gegen einige von Mauris Gefährten (die eine Antwort von all ihren Brüdern und Schwestern – bekannt oder unbekannt – brauchten), können wir sehen, wie die Diskussionen mit diesen Leuten sinnlos werden können.
Was immer wieder auf dem Spiel steht, sind die Werte, mit denen die verschiedenen Subjekte dem Leben begegnen; Worte und theoretische Diskussionen werden bedeutungslos, wenn sie mit sehr konkreten Situationen und materiellen Realitäten konfrontiert werden, kommen alle Werte, mit denen sich diese Gesellschaft entwickelt, an die Oberfläche. Wenn man sich diese Werte vergegenwärtigt, kann man verstehen, warum Menschen wie „Jose Flores Magon“ kämpfen, und man kann in sich gehen und beobachten, warum wir kämpfen.
Dennoch steht unser Kampf, unser Weg nicht in Opposition oder im Schatten der plattformistischen, especifistischen oder synthesistischen Tendenz.
Die Beziehungen und die Koordination zu stärken, eine antiautoritäre Praxis des permanenten Angriffs in verschiedenen Formen zu entwickeln und zu versuchen, sie alle zu nutzen, ist unsere Arbeit für das qualitative und auch quantitative Wachstum der Gefährten, die sich entscheiden, jetzt mit dieser Realität der Unterdrückung zu brechen.
Wir setzen auf die Nutzung der breiten Palette von Werkzeugen – ohne eines davon beiseite zu lassen – die wir haben, um die Revolte zu verbreiten und zu verallgemeinern.
Auf hommodolars gefunden, die Übersetzung ist von uns.
Drei Anmerkungen zum Plattformismus
Amantes del fuego – Afila tus ideas ediciones Insurrectas / Trece
Mittwoch, 9. Juni 2010
Eine notwendige Klarstellung zu den „Antworten“, aus denen sich die „Anmerkungen“ ergeben:
(Ein Versuch, Kriterien für Veröffentlichungen rund um Artikel zu finden, die Antworten erhalten. (Daher haben wir bestimmte Aspekte des Textes weggelassen, wie wir es in Zukunft mit jedem tun werden, sofern er in das abgleitet, was wir vermeiden wollen).
Wir möchten klarstellen, dass dieser Raum keinen Raum für Aktivitäten (Theorien/Praktiken) bieten wird, die, obwohl sie in einem bestimmten historischen Moment des Klassenkampfes entstanden sind, heute vorgeben, sich als abscheuliche ideologische Ware auf Kosten einer anderen Position aufzuwerten, die in gleicher Weise reagiert, mit dem Ziel, eine gewisse Überlegenheit anzustreben und zu zeigen, dass „wir mehr nach links pissen“. Dass nun diejenigen, die sich in solchen Strömungen positionieren, deren Wirksamkeit und potenziellen Nutzen für das Proletariat heute herausstellen wollen, ist eine andere Sache. Es gibt eindeutige Beispiele für antikapitalistische Aktivitäten, die den Keim der Bürokratie in sich trugen oder nur als Bastion des Reformismus endeten, der als Harmonisierung des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit verstanden wurde.
Wir haben unsere Position in Artikeln zum Ausdruck gebracht, die wir anonym verfasst haben. Die Diskussion „Insurrektionalismus/Plattformismus“, „Marxismus/Anarchismus“ usw. betrachten wir als bloße Übung, um unserer Klasse eine verführerische Ideologie zu verkaufen. Es geht uns nicht darum, uns nicht zu positionieren, sondern in der Praxis die Wirksamkeit dessen zu demonstrieren, was wir für die Abschaffung der Klassengesellschaft tun, und nicht a priori zu sagen, dass dieses oder jenes „gelb“ ist und in Opposition zu einer anderen Strömung und nicht für die Emanzipation des Proletariats lebt. Wir glauben nicht daran, ein bisschen von diesem, ein bisschen von jenem zu nehmen. Wir glauben, dass die Kritik an einer solchen Position, die ein Produkt des Klassenkampfes zu einem solchen Zeitpunkt in der Geschichte des Klassenkampfes ist, wie der Text „Anarchistischer Plattformismus: Vergebliche Versuche, die Bürokratie zu anarchisieren“, den wir veröffentlichen, insofern gültig ist, als sie eine praktische und theoretische Äußerung kritisch bewertet und Fragen aufwirft, die unserer Klasse schaden können. Ebenso ist die „Antwort“ auf diesen Text, die wir, obwohl wir nicht völlig mit dem Plattformismus sympathisieren, da wir in verschiedenen Fragen unterschiedliche Positionen vertreten (wir sind nicht daran interessiert, in Positionen der Verachtung zu verfallen und uns in Bezug auf sie als das beste des Besten zu bezeichnen, da unsere Position als antagonistisch zum Kapital und nicht zu irgendeinem „Ismus“ aufrechterhalten wird), veröffentlichen wir ihn, weil er darauf abzielt, bestimmte Fragen zu klären. Auf der gleichen Linie der Klärung liegt ein dritter Text, in dem wir wieder sehen, dass die Gefährten, weit davon entfernt, unserer Klasse eine Ideologie verkaufen zu wollen, einfach klarstellen, was sie mit einer bestimmten Strömung, auf die sie anspielen, gemeinsam haben, die Wirksamkeit bestimmter Elemente verteidigen, wenn dies der Fall ist, und die Kritik aus dieser Perspektive umreißen.
Natürlich können wir Differenzen haben, und es ist logisch, dass diese von der Position stammen, die wir eingenommen haben! Aber wir wiederholen: Es wird hier keinen Platz für den Verkauf von Ideen geben. Die Kritik ist berechtigt, um zu sagen, dass das, was wir finden, nicht nützlich ist und was wir stattdessen was anderes tun. Es geht nicht darum, das, was kritisiert wird, mit einem Hauch von Überlegenheit zu verunglimpfen, als wäre dies ein Supermarkt, in dem jede Strömung in einem Regal steht und dem Verbraucher in der Werbung alle Vorzüge dieser Strömung erklärt werden. Nein. Jeder ist davon überzeugt, dass das, was er tut, das Richtige ist. Andere davon zu überzeugen, ist nicht das, was wir suchen, und wir werden auch keinen Raum dafür geben. Die Wahrheit in der Praxis aufzudecken ist etwas anderes. Etwas, wozu das Schreiben dienen wird, um uns zu erinnern, wenn wir dieses „Bedürfnis“ verspüren, um es zu verdeutlichen. Wir haben Gemeinsamkeiten mit den Aufständischen, den Kommunisierenden, Marx, Dauve, Debord usw.16 , aber wir verteidigen deshalb nicht en bloc, was sie gesagt haben, indem wir versuchen, es als etwas Überlegenes gegenüber dem, was wir kritisieren, darzustellen. Wenn wir glauben, dass sie wirksamere Aspekte enthalten, werden wir das zu gegebener Zeit sagen. Das ist alles. Das Wichtigste ist zu klären, was von dem, was wir sagen, falsch interpretiert wurde oder was von dem, was der andere verteidigt, nicht wirksam ist, solange wir in der Lage sind, es in einem bestimmten Kontext darzustellen. Wie wir oben sagten: wenn die Erfahrung uns dazu bringt, eine bestimmte Praxis einer bestimmten Strömung als wahr zu akzeptieren, dann ist irgendwo ein Moment der Klärung dieser Praxis (wir erwarten nicht, dass sie zu Sympathisanten der Gefährten und ihrer Strömungen werden, sondern dass sie die „wunderbare Reise“ zur Notwendigkeit der Abschaffung der Klassengesellschaft antreten). Der Klassenkampf hat uns Lektionen erteilt, aus denen wir ein Höchstmaß an Klarheit gewinnen müssen, nicht um Schemata zu wiederholen, sondern um aus den Fehlern und den Erfolgen zu lernen, um zu sehen, wie diese in der gegenwärtigen Periode noch gültig sein können. Der Klassenkampf ist da, sich darauf einzulassen, welcher „Organisations- und Anti-oganisierungsmodus“ besser ist, im kleinen „libertären“ Raum zu argumentieren, bedeutet, dem Kapital den Boden zu bereiten, wenn wir nicht verstehen, dass es besser ist, zu klären, was wir tun und es weiterhin zu tun…. Nur in der Realität werden wir sehen, dass es nützlicher, effektiver ist, zuzugeben, dass wir falsch liegen können… Diejenigen, die in ihrer täglichen Erfahrung einige der ideologischen Schichten durchbrochen haben, die das Elend des Spektakels erträglich machen, werden hier nach ihrer eigenen Wahrnehmung sehen können, dass es nützlich ist, die eigene Position zu klären. Nicht als „von außen injiziertes Bewusstsein“, sondern als eine Möglichkeit, das zu benennen, was das Kapital uns enteignet hat, um den Alltag zu verstehen. So dass unter bestimmten Umständen die kommunistische Perspektive aufhört, im Untergrund der Realität zu liegen, und NICHT auftaucht, weil wir davon überzeugt waren, sondern weil wir dort ein praktisches Bewusstsein finden, das bereits in unserem eigenen Zustand als Proletarier existierte, um die Notwendigkeit unserer Selbstaufhebung als Klasse voranzutreiben, aber dass Jahre der Entfremdung und Ideologie es dort versteckt hatten.
Deshalb war die „Debatte“ über den marzo anarquista für uns unangenehm, weil wir den Fehler gemacht haben, dies nicht deutlich zu machen. Das ist keine Kritik an denen, die ihre Antworten geschickt haben, denn wir haben keine Kriterien festgelegt, die von nun an angewendet werden, damit die Frage nicht zu einer Kritik an einer solchen Strömung wird, um unsere eigene aufzuwerten. Nein, liebe Gefährten, hier geht es nicht um Überlegenheit, sondern um Effektivität. Dieser Raum kann genutzt werden, um deutlicher auszudrücken, was wir nur in der Praxis zeigen können.
Ein gutes Beispiel für das, was wir als Austausch historischer Erfahrungen veröffentlichen wollen, sind die Punkte über die Kommunisierung, bei denen keiner der oben Genannten die Absicht hatte, zu sagen: „Ich bin das Allheilmittel“, sondern zu einer theoretisch-praktischen Frage beizutragen, die für die kommunistische Tätigkeit recht nützlich ist. Wenn wir also etwas erhalten, das reich an Inhalt für das ist, was wir beabsichtigen, das aber in bestimmten Formulierungen in Richtung dessen abdriftet, was wir vermeiden wollen, werden wir uns die Kraft ersparen, es zu entfernen.
In der Hoffnung, dass es noch klarer wird, empfehlen wir als Kriterium für diejenigen, die Artikel schicken, über diesen Satz nachzudenken:
„Wir haben unseren Klassenbrüdern und -schwestern nichts zu verkaufen, nichts, womit wir sie verführen könnten. Wir sind keine kleine Gruppe, die in Bezug auf Prestige und Einfluss mit den anderen kleinen Gruppen und Parteien konkurriert, die behaupten, die Arbeiterklasse zu vertreten und sie zu regieren. Wir sind Proletarier, die mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln für ihre Selbstbefreiung kämpfen, und nichts anderes.“ Selbstauflösung der Núcleo de Ira.
Ein Mitarbeiter. J.
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PS: Wem das, was hier steht, nicht gefällt, der kann uns gerne kritisieren, aber die großen Wahrheiten interessieren uns nicht. Wenn dieses Kriterium also lahm ist, macht sich niemand die Mühe, etwas zu schicken, wir haben Wichtigeres zu tun, wie z.B. fernzusehen, besonders wenn die Tore in den Nachrichten gezeigt werden.
PS2: ohne Zensur ausüben zu wollen und entsprechend der skizzierten Klarstellung, obwohl dieser Gedankenaustausch aus Sektoren kommt, die dem Insurrektionalismus und auf der anderen Seite dem Plattformismus affin sind, sehen wir (bisher) keine „Verkaufen-die-Idee“-Haltung, einfach eine Verteidigung dessen, was man für richtig hält, mit der entsprechenden Erklärung, als eine Kritik dessen, was man für falsch hält, mit der entsprechenden Argumentation. Darüber hinaus ist es unsere Erfahrung, die uns sagen wird, was wahr ist und was nicht, denn es ist lebenswichtig, dass wir nicht versuchen zu überzeugen, dass „sie falsch sind“. In der Realität werden wir sehen, welche Ausdrucksformen des Klassenkrieges wir zu erkennen vermögen, welche exponierte Strategie wir je nach Zielsetzung anwenden und so in unserer eigenen Praxis vorankommen, um die Bedingungen für die Liquidierung der sozialen Ordnung zu schaffen…
PS3: Es mag einigen lächerlich erscheinen, aber wir sind nicht an einer Kritik irgendeines „Ismus“ interessiert, indem wir ihn einem anderen „Ismus“ gegenüberstellen, der behauptet, überlegen zu sein, oder, wenn das nicht möglich ist, an einer Klärung der Kritik selbst. Wenn wir an einer Kritik irgendeines „Ismus“ von einer Position aus interessiert sind, die an der Abschaffung der Klassengesellschaft interessiert ist, die aber nicht mit ihrer ideologischen Kristallisation identifiziert wird, sondern als eine totale Kritik des Kapitals, dann nennen wir sie „kommunistisch“ oder „anarchistisch“. Man wird sagen, dass es dumm ist, „ismus“ ‚ für ‘ istisch“ zu verwerfen… aber es ist mehr als eine bloße Laune (was wir zu gegebener Zeit besser erklären werden). Interessant ist auch der „Anhang“.
Drei Anmerkungen zum Plattformismus: Klarstellung zu Trece
Von Amantes del fuego /Afila tus ideas ediciones Insurrectas
Nun, mit dem Ziel, die Debatte über die Positionierung gegen oder für die plattformistische Strömung fortzusetzen, und auch, um bestimmte Dinge klarzustellen, veröffentlichen wir den folgenden Text (wie fruchtbar diese Debatten sind, überlassen wir jedem einzelnen von euch).
Die Anspielung, die wir auf die Illusion gewisser anarchistischer Segmente bezüglich der russischen Revolution machen, fügen wir nicht als Ausgangspunkt der plattformistischen Initiative hinzu, sondern wir erwähnen einen historischen Kontext der Zeit, es geht nur darum, die Zeitungen der Zeit zu betrachten, wie sie zu einem bestimmten Zeitpunkt die russischen Ereignisse unterstützten und sich mit dem Vergehen der Nachrichten davon als Modell lösten.
Zunächst einmal ist es schwierig, sich mit Trece darüber zu einigen, ob wir Gefährten sind oder nicht, aber wir werden auf diesen Punkt nicht weiter eingehen, da jede Gruppe/jedes Individuum dies zum Zeitpunkt der Aktion (in ihren verschiedenen Formen) erkennen wird, ob wir es sind oder nicht. Wenn Trece Anhänger des Plattformismus sind, müssen wir dies jedoch wirklich in Betracht ziehen.
Der Verfasser der Erwiderung behauptet, dass unsere Auffassung vom Individuum diejenige der „Autonomie vom Kollektiv“ ist, und betont, dass unsere Vorstellung vom Individuum diejenige ist, die einen antisozialen Anarchismus oder etwas separatistisches von den Menschen postuliert.
Unsere Auffassung ist nicht antisozial (obwohl wir Gemeinsamkeiten haben, glauben wir nicht, dass „die Leute“‘ unser Feind sind, wenn wir Teil derselben Leute sind), sondern wir erkennen die Aktion/das Denken des Individuums als einen persönlichen Prozess an, der von einem selbst ausgeht, und dass er, obwohl er in einer „sozialen“ Form ausgedrückt werden kann, dies auch von der Individualität aus tun kann, wobei dieser Prozess natürlich nicht von einer bestimmten Regel bestimmt wird.
Viele der Gruppen/Individuen, die sich gegen aufständische Positionen wenden, scheinen eine idealisierte Vorstellung vom Individuum zu haben und werfen ihnen eine antisoziale Auffassung vor, die wir zwar nicht leugnen können, aber es lohnt sich auch, diejenigen hervorzuheben, die nicht antisozial sind und die Schaffung von Netzwerken der Komplizenschaft auf der Grundlage von Affinität anstreben, denn auch wenn wir nicht anerkennen, dass wir in vielen Aspekten mit der Gesellschaft selbst vereint sind, sind die Menschen, die in ihr leben, oft von ihr bedingt. Das soll nicht heißen, dass die Gesellschaft konditioniert und das Individuum durch sie geschmälert wird, aber der Einfluss ist groß.
Es ist wirklich schwierig, unser Konzept der Individualität mit einem liberalen Konzept zu vergleichen, dies scheint uns mehr als ein Klischee-Argument gegen den Individualismus zu sein.
Was das Konzept der unreformierbaren Anarchie angeht, so liegt das daran, dass wir der Meinung sind, dass es nur eine Anarchie gibt (wir beten sie nicht an, es ist nur unsere Vorstellung von ihr), und dass, obwohl viele Ausdrücke unter ihrem Namen aufgeworfen werden können, wir einige von ihnen einfach als reformistische oder geschminkte Ausdrücke erkennen. Was sich ändert, sind die Ismen, die damit verbunden sind, und wie sie in die Praxis umgesetzt werden. Es ist das Gleiche, wie wir bei vielen Begriffen wie Solidarität feststellen, dass uns bestimmte Ausdrücke nichts anderes als Existenzialismus und getarnte Nächstenliebe zu sein scheinen.
Was unsere Ideen über den Konflikt und das, was uns antreibt, an ihm teilzunehmen, betrifft, so glauben wir, dass er über den Klassenkampf hinausgeht, denn wenn es nur eine soziale Klasse in der Welt gäbe, die Beziehungen, die sich aus ihr ergeben, aber die gleichen wären wie die, die heute bestehen, würden wir sie in gleicher Weise ablehnen. Wir stellen fest, dass das Problem der sozialen Ungleichheit in der Tat ein starkes ist, dass aber auch autoritäres Verhalten und die technologische Entwicklung schädlich genug sind, um als ein Faktor anerkannt zu werden, den wir beseitigen wollen. Wir stimmen mit Ted Kaczinsky überein, dass die technologische Entwicklung im Laufe der Geschichte mit der Entwicklung autoritärer Verhaltensmuster (sowohl im sozialen als auch im organisatorischen Bereich) einhergegangen ist.
Was die kollektive Verantwortung betrifft, an die die plattformistische Tendenz appelliert, können wir sie nur ablehnen (wir glauben, dass es das Aufrichtigste ist, was man tun kann), da wir uns einem solchen Konzept wegen der Aufhebung der Individualität nicht anschließen, ja wir finden es äußerst kastrierend, dass ein „Militanter“, der nicht mit der „taktischen Achse“ übereinstimmt, einfach ausgeschlossen wird.
Es ist sehr ehrlich von unserer Seite, dieses Modell abzulehnen, ebenso wie von Ihrer Seite, eine Person auszugrenzen.
Wir stellen auch klar, dass wir nicht gegen eine so genannte „rebellische und organisierte Aktion des Kollektivs“ sind, da wir der Meinung sind, dass die Affinitätsgruppen ein Modell sein könnten, das auf diese Weise qualifiziert werden kann (auch wenn sie nicht von revolutionären Plänen und Programmen geleitet werden, aber wir legen besonderen Wert auf die Qualität dieses Ausdrucks der Rebellion, die durch eine Syntheseorganisation bedingt ist).
Was die Avantgarde betrifft, so können wir eine solche Organisation aus unserer Sicht nur rundheraus ablehnen, weil wir der Meinung sind, dass zwar Elemente geteilt werden können (das scheint uns nicht der richtige Begriff zu sein), dies aber nicht notwendigerweise Strukturen erfordert, die sich als Referenten verstehen, ich meine, um unsere Ideen zu verbreiten, brauchen wir nicht unbedingt eine Organisationsstruktur.
Obwohl wir uns wünschen, dass der Aufstand ein Ereignis ist, an dem ein großer Teil der Bevölkerung teilnimmt, und dass jedes Individuum sich beteiligt, indem es alles gibt, was es kann, sind wir realistisch und wissen, dass dieser Prozess im Moment nicht möglich ist (was aber nicht heißt, dass wir nichts tun, um ihn zu erreichen, Propaganda hat eine unendliche Anzahl von Formen), und wir werden nicht auf die viel beschworenen objektiven Bedingungen warten, um gegen die Autorität in die Offensive zu gehen.
Eine Affinitätsgruppe kann schriftliche und grafische Propaganda erstellen, hinausgehen und sie verteilen, sie selbst aufkleben. Sie kann bei einer Demonstration Barrikaden errichten und den Ordnungskräften Feuer legen, sie kann nachts Spreng- und Brandvorrichtungen anbringen und Strukturen der Macht/des Kapitals (Mauricio Morales Presente!) zerstören, sie kann Aktivitäten, Bibliotheken usw. organisieren.
Was wir damit sagen wollen, ist, dass aus unserer Sicht keine Syntheseorganisation notwendig ist, um dies zu erreichen, sondern dass es nur darum geht, bestimmte Besetzungen, Veröffentlichungen, autonome soziale Zentren, Individualitäten zu sehen, die einen aufständischen Diskurs führen.
Agitation ist keine Aktion, die große Strukturen braucht, sie ist nur durch den Willen, die Vorstellungskraft und den Wunsch, die Zivilisation brennen zu sehen, bedingt (das sind jedenfalls unsere Absichten).
Was wir meinten, als wir die Aktion des Plattformismus mit der Aktion der Robes Pierre und der Jakobiner während der historischen Periode der Französischen Revolution verglichen, ist dasselbe wie die Trece, nämlich bestimmte Teile der Gesellschaft als rückständig zu betrachten.
Wir haben weder unsere Position gegen den Plattformismus noch unsere affine Position gegenüber dem Insurrektionalismus geändert, wenn wir diesen Text veröffentlichen, dann nur, um die Debatte zu propagieren. Wir werden diese nicht abschwächen, und wir werden wie Trce die Kommentare vermeiden, die dazu führen könnten, die Diskussion zu verderben, wie es bei anderen Gelegenheiten geschehen ist.
Mauricio Morales anwesend!
Gefangene im Krieg auf die Straße!
Für die Ausweitung der Revolte!
Totale Befreiung, der Erde, der Tiere und der Menschen!
Anarchistischer Plattformismus: Vergebliche Versuche, die Bürokratie zu anarchisieren.
per Mail geschickt von amantes del fuego
Innerhalb dessen, was gemeinhin als Anarchismus bezeichnet wird, gibt es verschiedene Strömungen, was einer mehr als eindeutigen Tatsache entspricht, fast alle teilen Visionen über die Praxis und die Verteidigung der individuellen und kollektiven Freiheit, die Ablehnung jeglicher Form von Herrschaft und Kontrolle, sowie die Mechanismen, mit denen die soziale Maschinerie im Laufe der Geschichte aufrechterhalten wird. Eine davon entspricht der parteipolitischen Praxis, die mit völliger Verachtung betrachtet wird, mit Ausnahme einer Position, die nur dem Namen nach Anarchismus ist: der anarchistische Plattformismus.
Es ist von größter Wichtigkeit zu erkennen, dass die historische Periode, in der der Plattformismus geboren wurde, einem Moment entspricht, in dem die russische Revolution, die Illusionen eines Teils der angeblichen „Anarchisten“ (dieselben, die die Anarchisten einsperren, foltern und ermorden), in diesem Szenario, in dem ein Vorschlag geboren wird, eine Art von Organisation zu bilden, die in das Spiel der politischen Parteien eintritt, das heißt, die eine Stratifikation, eine Aufgabenteilung, Militante, ein Aktionsprogramm, einen Exekutivkomitee usw. hat. Anhand dieser Art von Organisation lässt sich leicht erkennen, warum der Plattformismus selbst die gleichen alten Untugenden der linken Gruppen und im Allgemeinen aller Segmente aufweist, die versuchen, einen Anteil an der Macht zu erlangen. Die Position der plattformistischen Tendenzen in Bezug auf das soziale Problem deutet darauf hin, dass dieses als eine Frage politischer Natur charakterisiert wird, was an sich im Gegensatz zu dem steht, was von Anarchisten im Laufe der Geschichte behauptet wurde, die behaupten, dass der Aspekt, in dem die Schwierigkeiten auftreten, einem Aspekt sozialer Natur entspricht, was nicht ausschließt, dass das Problem durch das politische Feld angetrieben wird, sondern dass es eine Folge der Struktur der Gesellschaft ist.
Der Plattformismus richtet sich gegen die Blätter, nicht gegen die Wurzel des Problems. Einer der Punkte, den der Plattformismus vorbringt und der den herkömmlichen politischen Parteien am ähnlichsten ist (und einer der verachtenswertesten), ist die Idee der Verachtung und Marginalisierung des Individuums als Konzept und autonomes Wesen. In Bezug auf das konzeptionelle Feld ersetzt sie die Figur des Individuums durch die des Militanten, und folgt damit der gleichen Linie wie die anderen Parteien. An diesem Punkt schafft sie eine Lücke zu anderen anarchistischen Tendenzen, indem sie die traditionelle Sprache der Parteipolitik und damit die Logik der Beziehung übernimmt: der Militante lebt von der Organisation, ohne sie kann er nicht existieren, er ist eine Erweiterung von ihr, das Individuum ist ein Antagonist zu diesem Konzept, es entspricht einem Raum und einem autonomen Wesen. Was die Figur des Militanten betrifft, so unterliegt er dem, was als „kollektive Verantwortung“ verstanden wird, d.h. die gesamte Organisation ist für die Handlungen jedes einzelnen Militanten verantwortlich, ebenso wie die Militanten für die Tätigkeit der Organisation verantwortlich sind, und auch hier werden die Figur des Individuums und seine Verantwortung verworfen, zugunsten eines Militanten, der zum Instrument der Organisation wird und eine Logik der Kontrolle anwendet. Einer der Punkte des Plattformismus, der ihn am meisten von den anderen Strömungen des Anarchismus unterscheidet (wenn man den Plattformismus als eine dieser Strömungen betrachten kann), ist die Idee eines Exekutivkomitees, das die Aufgabe hätte, den Militanten der „Basis“ ideologische und organische Richtlinien zu diktieren (die sie nur akzeptieren müssen, sonst müssen sie die Organisation verlassen), Es ist jedoch illusorisch zu glauben, dass ein Exekutivkomitee auf sich allein gestellt sein kann, es braucht eine Reihe von Mechanismen, die es unterstützen, was auf die eine oder andere Weise zu einer Bürokratie führen würde. Das Exekutivkomitee ist dasjenige, das die Aufgaben vorschlägt, auferlegt und überträgt, und auch hier ist die Macht nicht mehr bei einer sozialen Klasse, sondern bei der Führung zentralisiert. Die Basis ist nur ein Instrument, um die Ideen des Zentralkomitees umzusetzen, die Anarchisten sind gegen die Materialisierung der Macht, die Konzentration derselben, gegen die Eliten. Auch hier zeigt der Plattformismus sein Gesicht, indem er das Konzept der Anarchie zu einem Raum umformt, in dem die Machtverhältnisse ausgetragen und vorangetrieben werden. Was die Rolle der Avantgarde betrifft, so akzeptiert der Plattformismus in seinen Postulaten die Idee einer „revolutionären Avantgarde“, die die „Massen“ anführt. Auch hier schleicht sich ein leninistisches Konzept in die Organisation und den Ansatz der Plattform ein (wir sollten nicht vergessen, dass diese Avantgarde dem Exekutivkomitee unterstellt ist). Die Konzeption, die Wünsche der „Massen“ unter den Ideen und Aktionen einer Minderheit zu lenken, hat historisch das Fortbestehen dieser Minderheiten repräsentiert. Die Qualität einer Avantgarde entspricht dem Verständnis der Prozesse der Bewusstseinsbildung innerhalb der „Massen“, aber im Verlauf dieses Prozesses ist es die aktive Avantgarde, die sich in ihrer Vertretung ausdrückt, aber wie kann eine Avantgarde vorgeben, die Bedürfnisse der Massen zu kennen? In welchen Moment enden die Prozesse der Bildung von Bewusstsein`? Es wird gesagt, dass der Grund für die Aktion einer „aktiven Avantgarde“ dem „Bewusstsein des Proletariats“ entspricht, was ist dieses Bewusstsein? Die plattformistischen und synthetischen Tendenzen im Allgemeinen schreiben sich selbst eine idealisierte Gestalt der Dinge zu, d.h. sie schreiben den Dingen oder Subjekten Eigenschaften zu, die den eigenen Bedürfnissen der Organisation entsprechen. Es ist recht einfach, diese Frage zu vernebeln. In einfachen Worten, die Avantgarde akzeptiert nur die Bedingungen, die für ihre Existenz und ihr Funktionieren in Übereinstimmung mit der Idealisierung des erwarteten Individuums geeignet sind. Innerhalb des „libertären kommunistischen Manifests“ gibt es ein Fragment, das unsere Aufmerksamkeit erregt hat, das die Methodik der Parteikontrolle widerspiegelt, auf der die Plattform basiert, dies entspricht: „Die Revolution gegen die konterrevolutionären Sektoren, gegen die Unentschlossenen und sogar gegen bestimmte rückständige, ausgebeutete soziale Kategorien (wie z.B. bestimmte bäuerliche Sektoren) verteidigen“. Auch hier ist der Motor der Plattform präsent: Kontrolle. Die revolutionäre Aktivität schießt gegen alle Fronten, von den „konterrevolutionären“ Sektoren (in denen wir die Anarchisten finden, die ihr Organisations- und Aktionsmodell ablehnen) bis zu den „rückständigen sozialen Kategorien“ (die wir als die Gruppen verstehen, die der Revolution nicht dienen).
Der Ansatz der Plattform ist dem von Robespierre in der Zeit des Terrors während der Französischen Revolution und der Methodik der Bolschewiki nicht unähnlich (auch hier gleitet er in den Leninismus ab).
Alle Dissidenten und sogar die „Unentschlossenen“, was an sich schon eine staatlich-militaristische Taktik ist, werden ausgelöscht. Die Materialisierung der Macht wird erneut mit der Absicht präsentiert, Paranoia zu erzeugen, die Kontrolle einer Gruppe zu konsolidieren, die die Mehrheit oder ihre vermeintliche Stimme sein könnte: die aktive Avantgarde. Der Plattformismus ist nichts anderes als das Ergebnis eines verfälschten Anarchismus mit einem marxistischen Organismus und leninistischen Aktionskonzepten, so dass es nicht verwunderlich ist, dass er von seinen Anhängern mit Methoden der Kontrolle assimiliert wird. Der Plattformismus ist nichts anderes als ein vager Versuch, den Anarchismus (nicht die Anarchie, wir wissen, dass die Anarchie unreformierbar ist) zu reformieren, um ihn für ein System verdaulich zu machen, in dem er auf der Konsolidierung und vermeintlichen Dauerhaftigkeit von Macht und Herrschaft beruht.
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Lesbar auf der Seite der anarchistischen Zeitung El Amanecer aus Chile, hier.
Antwort an Amantes del Fuego
per Mail geschickt. Von Trece
Ich sende diese Antwort, damit diese ständige Debatte, die die Sektoren, die den Anarchismus für sich beanspruchen, in ständiger Uneinigkeit hält, wieder beginnen kann. Der Text, der an Hommodolars geschickt wurde, wenn man ihn analysiert, kann man einen großen Mangel an Wissen über den Plattformismus entdecken, was ihn ungenau oder trügerisch macht. In diesen Debatten besteht im Allgemeinen die Tendenz, Anschuldigungen und Vergleiche mit dem Marxismus zu erheben, weil sich die Ankläger nicht die Zeit nehmen, die Theorie richtig zu lesen, und außerdem dazu neigen, das Wesen des Anarchismus als klassenlose Gesellschaft falsch darzustellen und ihn in eine sektiererische und impotente Idee mit liberalen Obertönen zu verwandeln.
Der Text beginnt mit der Aussage, dass der Plattformismus aus der durch die russische Revolution geschaffenen Illusion entstanden ist (und betont die Bedeutung dieser Tatsache), was beunruhigend unzutreffend ist. In erster Linie ist er nach bestimmten Ereignissen der so genannten russischen Revolution entstanden. Diese Ereignisse sind die totale Zerschlagung der Anarchisten durch die Rote Armee und das Scheitern des Kronstand-Aufstandes. Diese Niederlage war der Tatsache geschuldet, dass die Mehrheit der anarchistischen Bewegung damals (wie heute) gespalten war, ohne klare Ansätze und Vorschläge gegenüber den Arbeitern, ohne einen klaren Plan, um zu einer staaten- und klassenlosen Gesellschaft zu gelangen. Das lag vor allem an einer gewissen idealistischen Verwirrung des Begriffsgürtels um den Anarchismus. Ich zitiere aus der „Organisationsplattform der Allgemeinen Anarchistischen Union“:
„Es ist aber auch unbestreitbar, dass diese Desorganisation in einigen Missbildungen ideologischer Art wurzelt, in einer verkehrten Vorstellung des individualistischen Prinzips im Anarchismus, in seiner Gleichsetzung mit Verantwortungslosigkeit. Die Freunde der vergnügungssüchtigen Autonomie sind hartnäckige Befürworter des chaotischen Zustandes der anarchistischen Bewegung, sie zitieren die unerschütterlichen anarchistischen Prinzipien und die großen Lehrer, um diese Zustände zu rechtfertigen.“17
Die Spaltung, die sich auf ideologische Brüche derselben Theorie stützt, und die dadurch hervorgerufene Desorganisation sind der Grund für die Notwendigkeit, eine Plattform zu schaffen, d.h. die Notwendigkeit, eine wirksame anarchistische Bewegung mit klaren Perspektiven und Leitlinien zu schaffen, um siegen zu können und nicht länger eine Minderheit zu sein, die eine ohnmächtige Offensive anstrebt. Mit dem, was bereits erklärt wurde, kann man verstehen, dass es nicht so ist, dass einige Anarchisten Illusionen über die russische Revolution hatten, sondern dass sie nach der Niederlage in der Ukraine gelernt haben, dass es notwendig ist, eine organisierte Bewegung zu sein, die sich auf einen Plan und klare Ziele stützt. Es ist nicht die Illusion, wie es der Text fälschlicherweise ausdrückt, sondern die Enttäuschung darüber, dass man nicht in der Lage war, unter dem Deckmantel des Divisionismus und der Unklarheit stark zu sein.
Nun hat der Gefährte, der den Text schickt, einen weiteren Fehler, er sagt nicht, von welchen Autoren er seine Informationen hat, er zitiert auch nicht viel im Text, obwohl er aus seinen vielen Behauptungen eine angeblich unreformierbare anarchistische Konzeptualisierung aufstellt, noch ist mir klar, ob der Gefährte den Klassenkampf als die Hauptachse des anarchistischen Kampfes akzeptiert. Ich beginne mit dem Begriff des Individuums, den der Gefährte verwendet: als autonom von der Kollektivität. Das ist ein besorgniserregender Irrtum in Bezug auf die anarchistische Tradition, die der Gefährte so sehr auf die Schippe nimmt. Zum Beispiel sagt Bakunin:
„… Daraus folgt, dass der Mensch seine individuelle Freiheit, d.h. seine Persönlichkeit, nur verwirklicht, indem er sich mit allen ihn umgebenden Individuen und nur dank der Arbeit und der kollektiven Macht der Gesellschaft vervollständigt. […] die Gesellschaft, weit davon entfernt, die Freiheit der menschlichen Individuen zu schmälern und zu begrenzen, schafft im Gegenteil die Freiheit der menschlichen Individuen“18 (natürlich ist der Begriff Gesellschaft bei Bakunin und wie er immer wieder erklärt, nicht dasselbe wie der Staat, den er ohne zu zögern als äußerst schlecht für die Gesellschaft selbst brandmarkt). Kurz gesagt, um dem Gefährten zu erklären, dass man nur im Verhältnis zu den anderen ein Individuum ist, und wie man sich in Solidarität mit dem Kollektiv verhält. Die Autonomie des Individuums gegenüber dem Rest zu entschuldigen, bedeutet, in liberale Vorstellungen zu verfallen, die durchaus mit der Locke’schen Theorie verglichen werden können (da der Gefährte gerne von den Kontraktualisten spricht).
Im Rahmen dieser Vorstellungen (und so wie Bakunin die Notwendigkeit einer anarchistischen Organisation feststellte) kann man natürlich Militanz als ein Mittel etablieren, bei dem das Individuum zusammen mit anderen Individuen, die die gleichen Ziele verfolgen, einen kollektiven Raum schafft, der taktisch-strategische Kohärenz anstrebt, und auf diese Weise akzeptierte Malatesta, dass diese Einheit eine gute Option für einen starken Anarchismus sein kann (ich verstehe auch, dass er das Konzept der Partei akzeptierte, als Anarchisten, die sich zusammenschließen und als Ganzes kämpfen). Obwohl der Gefährte Malatesta der Plattform sehr kritisch gegenüberstand, ist es sehr gut möglich, dass in allen Briefen, die er mit Makhnó austauschte, das Problem der Diskussion eher die Übersetzungen der Briefe, der Gebrauch der Sprache und die Zensur, der er im Gefängnis ausgesetzt war, war, als der theoretische Hintergrund des Inhalts der Briefe. Ein Beispiel dafür ist, wenn Malatesta „Über die kollektive Verantwortung“ schreibt und sich dazu äußert:
„In meiner Antwort an Makhnó habe ich bereits gesagt: “Wenn ihr von kollektiver Verantwortung sprecht, meint ihr vielleicht genau die Vereinbarung und Solidarität, die zwischen den Mitgliedern einer Assoziation bestehen muss. Und wenn das so ist, dann ist euer Ausdruck meiner Meinung nach ein falscher Sprachgebrauch, aber im Grunde genommen wäre das nur eine Sache von unwichtigen Worten und man könnte sich schnell einigen“. Und nun, nachdem ich gelesen habe, was die Gefährten des 18 vorgeschlagen haben, fühle ich mich mehr oder weniger einverstanden mit ihrer Art, anarchistische Organisation zu konzipieren (die ziemlich weit von dem autoritären Geist entfernt ist, den die „Plattform“ zu offenbaren scheint), und ich bestätige meine Überzeugung, dass hinter den semantischen Unterschieden wirklich identische Positionen stehen.“19
Warum bringe ich das zum Ausdruck, weil ich glaube, dass der Gefährte sich auf Malatestas Diskussion über die kollektive Verantwortung stützt, um die Plattform zu kritisieren, da er bestimmte Argumente in dieser Hinsicht wiederholt, und ich wiederhole die Notwendigkeit, dass er, wenn er von dem spricht, was historisch anarchistisch ist, die Bezüge offenlegen sollte (im Übrigen bin ich beeindruckt, dass er bei seiner Kritik an der Plattform an keiner Stelle Makhnó als treibende Kraft zitiert hat, sondern er tut dies, indem er Fontenis zitiert und ihn auf beeindruckende Weise verzerrt).
Nachdem ich dies gesagt habe, kann ich nun über die kollektive Verantwortung, das Exekutivkomitee und die Avantgarde sprechen. Wenn wir von kollektiver Verantwortung sprechen, müssen wir verstehen, dass die Befürworter dieses Konzepts, ich meine Makhno und Arschinoff, die Erfahrung des Krieges sowohl gegen die Bosse als auch gegen die Rote Armee gemacht haben. Sie sahen aus erster Hand, wie der Individualismus in der Aktion zur Isolation des Anarchismus führte, so wie es meiner Meinung nach auch heute der Fall ist. Die kollektive Verantwortung ist das Gegenteil davon. Wenn die Gruppe der vereinigten Subjekte, die einen starken revolutionären Prozess mit der Kohärenz eines Programms, seiner Taktik und Strategie aufbauen will, feststellt, dass das Notwendigste ist, dass unsere Aktionen im Prinzip nicht mehr Teil der Rebellion des Individuums sind, sondern Teil der rebellischen und organisierten Aktion des Kollektivs, und wir deshalb alle die Verantwortung für die Wirksamkeit desselben übernehmen, dann ist das das Wesen der Kohärenz des Programms. Noch deutlicher: Wenn wir ein gesellschaftliches Projekt bekannt machen wollen, und mehr noch, wenn wir in der Lage sind, Teil eines Kampfvorschlags zu seiner Verwirklichung zu sein, dann übernehmen natürlich alle, die sich gemeinsam dafür organisieren, die Verantwortung für die Wirksamkeit dieses Projekts. Wenn jemand in der Organisation auf der Grundlage individueller Aktionen gegen die taktische Achse verstößt, gibt es nicht mehr die Kohärenz, die den Vorschlag stark macht, und er entspricht daher nicht mehr den Leitlinien der Organisation. Makhno erklärt dies folgendermaßen:
„Die Erfahrung muss gut berücksichtigt werden, um die entscheidende Schlacht gegen alle unsere Feinde gemeinsam zu schlagen. Nun führt mich die Erfahrung der revolutionären Kämpfe der Vergangenheit zu der Überzeugung, dass es unter Ausschluss jeglicher Nachahmung notwendig ist, den revolutionären Ereignissen eine ernsthafte Richtung zu geben, sowohl in ideologischer als auch in taktischer Hinsicht, ganz gleich, in welcher Reihenfolge sie stattfinden. Das bedeutet, dass nur ein kollektiver Geist, der vernünftig und dem Anarchismus verpflichtet ist, in der Lage sein wird, den Erfordernissen des Augenblicks durch einen kollektiv verantwortlichen Willen Ausdruck zu verleihen. Niemand von uns hat das Recht, sich diesem Element der Verantwortung zu entziehen. Im Gegenteil, wenn es bisher in den Reihen der Anarchisten ignoriert wurde, muss es jetzt für uns anarchistische Kommunisten ein Artikel in unserem theoretischen und praktischen Programm sein.“ 20
Die Frage des Exekutivkomitees ist eher eine Frage der Koordination der verschiedenen anarchistischen Kräfte, nicht eine prinzipielle Frage wie die der kollektiven Verantwortung. Diese Frage stellt sich insofern, als der Allgemeinen Anarchistischen Union verschiedene Organisationen beitreten würden und die Frage, wie die Aktionen all dieser Organisationen koordiniert werden können, und es geht vor allem darum, die taktisch-strategische Einheit aufrechtzuerhalten, was logischerweise am gesündesten ist, wenn man meint, eine libertäre Revolution durchführen zu können. Nun, so wie ich es verstanden habe, besagt der Vorschlag der Plattform, dass es der Vorstand ist, der die angeschlossenen Organisationen organisieren sollte und nicht die Individuen, was die negative Nuance beseitigt, die der Gefährte zu verunglimpfen versucht, indem er sagt, dass er die Basis kontrollieren will. Es wird festgestellt, dass:
„Zur Koordinierung der Tätigkeit aller Organisationen, die der Union beitreten, wird ein spezielles Organ in Form eines Exekutivkomitees der Union geschaffen, das folgende Aufgaben hat: die praktische Umsetzung der von der Union getroffenen Entscheidungen, wo ihm dies zum Auftrag gemacht wird; die ideelle und organisatorische Leitung der Tätigkeit der einzelnen Organisationen gemäß der gemeinsamen Ideologie und der gemeinsamen taktischen Linie der Union; die Beleuchtung des allgemeinen Zustands der Bewegung; die Unterhaltung operativer und organisatorischer Verbindungen zwischen allen Organisationen der Union; und anderes mehr.“21
Hier werden drei spezifische Aufgaben gestellt, dass das Komitee die Aktionen ausführt, die ihm anvertraut werden, d.h. das, was die Anhänger sagen, dass es zu tun hat (und nicht der individuelle Wille der Teilnehmer des Komitees), die theoretische Orientierung, die offensichtlich ist, da es ohne diese keine praktische Kohärenz gibt, und die Verbindungen mit anderen Organisationen (d.h., dass die Plattform nicht versucht, die große und einzige Organisation zu sein, wie andere sie erscheinen lassen wollen), und daher denke ich, dass das, was der Gefährte in seinem Text tut, unter einer falschen Lesart der gleichen Dokumente verzerrt.
Was nun die Avantgarde anbelangt. Ich verstehe die anarchistische revolutionäre Avantgarde als die Organisation, die zum Bezugspunkt des sozialen Kampfes wird, um auf der Grundlage eines Vorschlags für eine neue Gesellschaft revolutionär zu werden. Die Notwendigkeit dafür zu übersehen, hieße, einfach blind zu sein. Ich meine, wenn wir wollen, dass der Anarchismus als neues Gesellschaftsmodell triumphiert, muss er von der Mehrheit, die eine Veränderung ihres Lebens will, erkannt werden, und deshalb muss es einen Bezugspunkt geben, der die Elemente für den Triumph der libertären Idee liefert. Der Gefährte, der dies so sehr kritisiert, zitiert ein kleines Fragment, das den ganzen Sinn der Idee verzerrt, zum Beispiel hat er anscheinend nicht gelesen, wenn im Libertären Kommunistischen Manifest ausdrücklich gesagt wird, dass:
„Die revolutionäre Organisation entsteht aus der Tatsache, dass die Mehrheit der bewussten Arbeiter angesichts des ungleichen Prozesses und des unzureichenden Zusammenhalts der Massen ihre Notwendigkeit empfindet. Es muss deutlich gemacht werden, dass die revolutionäre Organisation keine Macht über die Massen darstellt. Ihre Rolle als Anführer muss als die eines Organs verstanden werden, das eine ideologische Orientierung ausdrückt und formuliert, sowohl organisatorisch als auch taktisch – eine Orientierung, die auf der Grundlage der Erfahrungen und Wünsche der Massen spezifiziert, ausgearbeitet und angepasst wird“22.
Darüber hinaus besitzt der Gefährte die Unverfrorenheit (ich finde kein anderes Wort, um seine Haltung zu charakterisieren), einen Vergleich mit dem leninistischen Laster anzustellen, wenn es im selben libertären kommunistischen Manifest heißt, dass:
„Im Gegensatz dazu steht eine rein voluntaristische Idee, die die revolutionäre Initiative nur der Avantgardeorganisation überlässt. Eine solche Idee führt zu einer pessimistischen Einschätzung der Rolle der Massen, zu einem aristokratischen Ressentiment gegenüber ihrer politischen Fähigkeit, die Richtung der revolutionären Aktivität zu bestimmen, und damit zu einer Niederlage. Diese Idee enthält in der Tat den Keim der etatistischen und bürokratischen Konterrevolution“.23 Es muss als Grundsatz verstanden werden, dass Revolutionen von den mobilisierten Mehrheiten, vom kämpfenden Volk gemacht werden müssen, und dass, wenn wir irgendwie zu einer Gesellschaft ohne Klassen und ohne Autorität gelangen wollen, eben dieses Volk unsere Ideen jenseits der Propaganda, jenseits der voluntaristischen und individualistischen Aktion kennen muss… . Damit unser Ideal als Alternative bekannt wird, müssen wir uns organisieren, unsere Vorschläge aufzeigen, einen „Leitfaden“ (im Sinne der Lieferung von Elementen) erstellen, damit das Ziel die libertäre soziale Revolution ist und die spontanen Aufstände nicht nur das bleiben. Ich meine, dass es für wirkliche Umwälzungen einen Fortschritt in Richtung dieser Umwälzungen geben muss, und dieser Fortschritt wird durch die libertäre Organisation katalysiert. Bezüglich des Bewusstseins. Es ist ein Fehler, die Subjekte, die die politische Organisation bilden, vom Rest des Volkes zu trennen, ich meine, dass wir, die wir uns mit einem bestimmten Lebensparadigma etablieren, um die Realität auf eine bestimmte Art und Weise zu verstehen (auf der Grundlage des Klassenkampfes), und dass wir eine neue Gesellschaft wollen, uns nicht von allen anderen unterscheiden, die das nicht tun, wir alle leiden unter den Übeln des Kapitalismus, und was uns unterscheidet, ist der Vorschlag, den wir konsolidieren, und daher ist es offensichtlich, dass wir als Subjekte in der Gesellschaft uns der Probleme bewusst sind, die es gibt, genauso wie alle anderen, die darunter leiden. Die Rolle der Avantgarde besteht darin, die Ursachen dieser Probleme, die Unzufriedenheit hervorrufen, zu verstehen und ihr Unbehagen auf einen revolutionären Weg der Aktion und des Protests zu lenken, sie muss agitieren, sie darf nicht zulassen, dass das System weiterhin Passivität in den Menschen reproduziert. Wenn es Sektoren gibt, die die Mobilisierung und den Protest des Volkes bedrohen, wäre es natürlich die Aufgabe der Avantgarde, diese zu bekämpfen, oder willst du, dass die Bosse gewinnen?
Was ich falsch finde, ist die Vorstellung, dass Teile der Bauernschaft rückständig sind. Die Konterrevolution, wo immer sie herkommt, ist das, was den Wunsch nach Befreiung angreift, ob sie von der organisierten Rechten oder von anderen Staaten kommt, sie muss bekämpft werden. Sie als Angriff auf das Volk zu bezeichnen, ist eine böswillige Falschdarstellung, wie sie im ganzen Text mehrfach vorkommt. Ich frage mich, wenn der Gefährte in einer revolutionären Periode anwesend wäre und es Sektoren gäbe, die sich gegen die Revolution erheben, würde er dem Spektakel passiv zusehen?
Was den Vergleich der Plattform mit Robespierre betrifft, so finde ich ihn völlig kindisch und ungerechtfertigt. Bis zu diesem Punkt schien seine Analyse, auch wenn sie ungenau und falsch ist, seriös zu sein, aber von da an bricht seine ganze Grundlage zusammen, vor allem, weil die Plattform nach einem Kontext geschaffen wurde, in dem Tausende von Anarchisten ihr Leben im Kampf verloren haben, und sie wurde als ein Vorschlag geschaffen, um Stärke zu haben, damit so etwas nicht wieder passiert, willst du uns mit den Jakobinern vergleichen? Wenn wir nie die Waffen gegen unsere Brüder im Kampf erhoben haben, wenn López de Arango durch die Hand von Zynikern getötet wurde, die vorgaben, die Befreiung des Menschen zu wollen, deren Handeln sich aber nicht gegen den Kapitalismus, sondern gegen ihre eigenen Gefährten richtete. Ich hoffe, dass für eine gesunde Debatte in der Zukunft solche Aussagen vermieden werden, so wie ich es vermeide, solche Kommentare zu machen, die die Diskussion verderben.
ES LEBEN DIE DIE KÄMPFEN!!
Trece
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Anhang
entnommen aus comunizacion.
Hinweis auf die beiden vorangegangenen Texte zum Thema Terrorismus.
Seit einigen Jahren gibt es eine Fülle von Sprengstoffanschlägen, zu denen sich aufständische Gruppen bekennen, sowie Diskussionen über diese Aktionen und die dahinter stehende Ideologie. Diese Konfrontation zwischen den „Organisatoren“ und den Anhängern der Gewalt führt in eine Sackgasse: Der rücksichtslosen Verzweiflung der einen steht die resignierte Klarheit der anderen gegenüber, so dass der Eindruck entsteht, dass man, wenn man den Kapitalismus ablehnt, vor die Wahl gestellt wird, entweder ein Geächteter oder ein Anhänger der Organisation zu sein. Beide Ansichten spiegeln den Ballast wider, den die revolutionären Ideologien der Vergangenheit hinterlassen haben, allesamt Variationen desselben alten sozialdemokratischen Liedes: „Die Massen müssen aufgeweckt, organisiert und mobilisiert werden, um das zu tun, was sie aus eigener Kraft nicht tun könnten“. Das ist das Grundthema, unter dem sich die aufopferungsvollen Massenorganisatoren und die ungeduldigen wilden Kinder austoben, wobei jeder das Mittel einsetzt, das er für das beste hält – Organisationsapparat oder Bomben, was auch immer -, um das gleiche Ziel zu erreichen: andere dazu zu bringen, das zu tun, was sie nicht getan haben und tun sollten.
Das Problem ist nicht nur, dass eine solche allwissende Position in Bezug auf den Klassenkampf eingenommen wird, sondern dass derjenige, der sie einnimmt, sich selbst dazu zwingt, zu definieren, was das Proletariat zu tun hat, wie es es zu tun hat und wann. Dieser Anspruch ist genau derselbe, der den Lasalle’schen Sozialismus und den von ihm hervorgebrachten Kautsky-Leninismus beseelte: Die Intellektuellen, die Träger der sozialistischen Wissenschaft, wüssten besser als das Proletariat, was das Proletariat tun müsse, um sich zu emanzipieren. Die Aufständischen ihrerseits verachten die Intelligenz so sehr, wie die Bolschewiki sie verehrten, aber das spricht nicht für sie: Sie sind nur der vorherrschenden Tendenz der Zeit gefolgt. Die aufständische Ideologie ist in der Tat eine der politisch korrektesten Ideologien unserer Zeit, da sie die direkte und autonome Aktion verehrt, die reine Rebellion und die unbezwingbare Freiheit auf Schritt und Tritt beschwört: Ihre Legitimationsquelle ist die Ideologie der „wilden Natur“.
Es gibt also eine wesentliche Kontinuität zwischen der revolutionären Ideologie von 1910 und der von 2010, die beide von ihrem Wesen her dazu verurteilt sind, der Konterrevolution zu dienen. Man muss nicht allzu scharfsinnig sein, um zu erkennen, wie in radikalen Milieus die ehemaligen Anhänger des leninistischen Avantgardismus, die jetzt zu aufständischen Anarchisten umfunktioniert wurden, das tote Gewicht ihrer Geschichte des Scheiterns spüren. Ob sie nun die formale Organisation oder die „Affinität“ verteidigen, ihr Diskurs und ihre Praxis gehen immer von derselben entfremdeten Perspektive aus: Das Proletariat wird angesprochen, aufgeweckt, gerächt, zum Handeln gezwungen… im Namen seiner Interessen und von einer äußeren Position aus. Das ist so, und wie sehr sich ein aktueller Aufständischer auch auf die immanente Konzeption des Kommunismus berufen mag („jede Handlung ist Ausdruck der realen Bewegung“ usw.), so ist dies doch nur eine nachträgliche Rechtfertigung ohne Grundlage: was zum Kommunismus tendiert, tut dies nicht durch die Gnade der Absichten, die man zu haben behauptet, sondern durch die objektive, soziale Bedeutung der eigenen Handlungen. Wie überzeugt man auch von seinen Gründen sein mag, sie sind wertlos, wenn man sie nicht mit den Gründen der anderen vergleicht: Die Vernunft ist, wie die Logik und das tägliche Brot, ein soziales Ergebnis.
„Communis“. Schauen wir uns dieses lateinische Adjektiv einmal genauer an. Communis bedeutet „gemeinsam“, „allgemein“, „allgemein geteilt“. Munia bedeutet „Pflichten“, „öffentliche Aufträge“, „Tribut“, „Steuern“ und jede Art von öffentlichem Dienst oder Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft. Cum munis bedeutet also „mit Pflichten“, „mit Obliegenheiten“, „mit Verpflichtungen“, d.h. sich dem Leben einer geregelten Gemeinschaft zu unterwerfen. Kurioserweise ist das Antonym von Communis Immunis, was „ohne Pflichten“, „frei von Verpflichtungen“, „frei von Zöllen“ bedeutet (Wu Ming, La partícula mu en la palabra „comunismo“).
Die aufständische Ideologie ist eine Hymne auf diese freie und immune (A.d.Ü., bezieht sich auf die oben zitierte Bedeutungen) Freiheit. Für denjenigen, der „zum Angriff übergegangen“ ist, geht es um sein persönliches Duell mit den repressiven Kräften. Außerhalb dieses individuellen und gruppenbezogenen Abenteuers gibt es nichts. Es gibt nichts zu berücksichtigen, niemanden, dem man zustimmen kann, niemanden, dem man etwas erklären muss. Der Aufständische hat ein viel engeres Verhältnis zu seinen Feinden als zu seinen Freunden, denn er ist verwundbar gegenüber der Polizei, aber immun gegenüber dem Proletariat. Für ihn gibt es nichts Besseres als eine Bewegung, die sich gerade erst zu behaupten versucht und die sich in der Tat nur behaupten kann, indem sie sich als soziale Bewegung konstituiert. Es geht nichts über eine Gemeinschaft, die auf einer breiteren Basis als nur der persönlichen Affinität aufgebaut werden muss und die es schließlich verstehen muss, ihre eigenen Bedingungen durchzusetzen, indem sie die Konfrontation mit den Handlangern minimiert und die politische und ökonomische Macht, die sie ernährt, an der Wurzel unterdrückt.
Die Ideologie der Organisation hingegen hat, auch wenn sie es nicht besser macht, zumindest das Verdienst, unter einer dichten Schicht von Missverständnissen den Kern dessen zu bewahren, was die kommunistische Bewegung im Wesentlichen ist. Abgesehen davon ist der Organizationalismus (oder „Plattformismus“, wie manche ihn in Anspielung auf Archinoffs berühmten Apparat nennen) nichts anderes als die andere Seite der Medaille des Insurrektionalismus. Seine zwanghafte Betonung assoziativer Formen, die ein Gefühl des Engagements behauptet, ohne jemals die Frage „Engagement wofür?“ zuzulassen, ist ein Alibi, das es den Bossen (A.d.Ü., als die Anführer dieser Organisationen) erlaubt, den Inhalt der von ihnen geführten Assoziation vergessen zu machen. Mit anderen Worten, um dem Grundproblem aus dem Weg zu gehen, warum wir uns organisieren und gemeinsam handeln. Für die Organisationisten läuft alles auf vulgäres Politisieren hinaus: andere motivieren, verführen, gruppieren, mobilisieren, organisieren… Was soll das bringen? Um endlos so weiterzumachen, natürlich, und um nicht mehr gefragt zu werden.
Um in der Lage zu sein, die gemeinsamen Interessen des Proletariats zum Ausdruck zu bringen und dabei immer „das Interesse der Bewegung als Ganzes im Auge zu behalten“ (wie es im Kommunistischen Manifest von 1847 heißt), muss man entsprechend der konkreten Erfahrung der Proletarisierung fühlen, denken und handeln und diese Erfahrung mit anderen teilen. Nur von dieser konkreten Ebene aus kann man die Möglichkeiten und Grenzen der proletarischen Bewegung als Ganzes beurteilen und dem Kampf für ihre Interessen einen direkten und entmystifizierten Ausdruck verleihen. Denn auf dieser Ebene entdeckt man, wenn man ein wenig gräbt, dass die Interessen der proletarischen Klasse als Ganzes mit dem persönlichen Interesse jedes Menschen übereinstimmen, der auf die Proletarisierung reduziert und daran gehindert wird, sich im Kollektiv zu erkennen. Worin besteht dieses Interesse? Natürlich, aufzuhören, Proletarier zu sein, und sich in einer echten menschlichen und materiellen Gemeinschaft wiederzuerkennen. Die Avantgardisten der Organisation oder des bewaffneten Angriffs verstehen das nicht, weil sie selbst nicht erkannt haben, inwieweit ihr eigenes persönliches Interesse das Interesse ihrer Klasse ist. Stattdessen denken sie, dass es eine Kluft zwischen ihnen und dem Rest der Proletarier gibt, weil sie glauben, dass das Interesse der Proletarier in Wirklichkeit darin besteht, die Fußballweltmeisterschaft zu sehen oder ein schickes Auto zu kaufen, während ihr Interesse darin besteht, den Kapitalismus zu zerstören. Aber wie sehr ein Proletarier auch Konsumgelüste haben oder sich in seinem täglichen Leben anpassen mag, sein Interesse ist dasselbe wie das aller anderen Proletarier, denn es hat mit kollektiven und objektiven Bedürfnissen und Annehmlichkeiten zu tun. Dass der Durchschnittsproletarier daran gehindert wird, diese Basis objektiver Interessen zu erkennen, ist sicherlich ein Problem; aber er wird niemals seine Klasseninteressen entdecken, weil jemand anderes kommt, um ihn zu organisieren, wenn er selbst nicht das Bedürfnis hat, sich zu organisieren, um sie zu entdecken und zu verteidigen. Er wird auch nicht seine Klasseninteressen erkennen, wenn er in den Nachrichten hört, dass Schaufenster von wer weiß wem und wer weiß wozu zerbombt werden. Diese Interessen können sich ihm nur aus seiner eigenen täglichen Erfahrung, aus seinen Beziehungen zu anderen, aus der Nutzung seiner Zeit und seiner Fähigkeiten erschließen. Dort kann jeder ohne Verführung oder Manipulation handeln, um eine Gemeinschaft zu schaffen, die fähig ist, die soziale Revolution wieder aufzunehmen.
Dies ist eine Wahrheit, die für Kommunisten nicht bewiesen werden muss. Diejenigen, denen es nicht gelungen ist, diese Wahrheit in ihren alltäglichen Beziehungen konkret zu erfahren, haben stattdessen das Bedürfnis, andere zu „organisieren“ oder „aufzuwecken“, damit diese tun, was sie tun sollen. Sie, die Organisatoren oder Dynamitmacher, glauben, dass, wenn andere sich nicht organisiert haben oder nicht „zum Angriff übergegangen“ sind, dies daran liegt, dass sie etwas nicht erkannt haben, etwas, das ihnen durch Organisation oder durch das Beeindrucken mit Nachrichtenschocks vor Augen geführt werden muss. Aber damit kanalisieren sie nur ihre eigene, lebenswichtige Abkopplung von den objektiven Interessen des Proletariats, von seinen realen Entwicklungsmöglichkeiten und seinen derzeitigen Grenzen. Diese Abkopplung führt dazu, dass sie sich mit dem Proletariat identifizieren und annehmen, dass ihre Handlungen nur deshalb richtig sind, weil sie sie in dessen Namen tun. Aber man kann sich nur mit etwas identifizieren und für etwas handeln, das nicht man selbst ist, etwas, das etwas anderes ist als man selbst; von dieser äußeren Position aus geht jeder Versuch, die Interessen des Proletariats als Ganzes zu definieren und zu verteidigen, von einer grundlegenden Unwahrheit aus. Die Tatsache, dass es Proletarier gibt, die diese Position einnehmen, sagt wenig über ihre objektive Stellung in der Gesellschaft aus, aber viel über ihre subjektive Deklassierung. Selbst wenn sie selbst Proletarier sind, drücken ihre Handlungen nicht das Gesamtinteresse des Proletariats aus – das die Selbstemanzipation von jeder Kraft außerhalb ihres eigenen Wesens ist -, sondern ihr eigenes privates Interesse: Sie träumen davon, sich von ihrer Klasse zu trennen, um als Retter zu ihr zurückzukehren.
Die Aktion und die Theorie, die vom Proletariat selbst ausgehen, manifestieren sich dagegen direkt als eine Bewegung zur Überwindung der gegebenen Bedingungen. Diese Bewegung steht nicht außerhalb der täglichen Erfahrung der um ihr Leben kämpfenden Proletarier, sondern findet innerhalb dieser Erfahrung statt, auf dem Boden der Klassengesellschaft selbst. Auch wenn diese Bewegung in ihrer Entwicklung unweigerlich auf die Notwendigkeit der Organisierung und der Konfrontation stößt, besteht ihre Daseinsberechtigung keineswegs darin, „sich zu organisieren“ oder „zum Angriff überzugehen“. Dies sind nur Teilmomente, Nebenaspekte, die in ihrer Entwicklung sicherlich unvermeidlich sind, aber sie definieren sie nicht. Was die kommunistische Bewegung des Proletariats ausmacht, ist, dass sie in erster Linie aus einer Bewegung der radikalen und ganzheitlichen Selbstvervollkommnung besteht, d.h. einer Bewegung, in der sich die Proletarier ihre kollektiven Fähigkeiten wieder aneignen, indem sie sie zur Umgestaltung der Welt und des Lebens einsetzen und dabei sich selbst und alle Klassen abschaffen. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Bewegung ist die Wiedergewinnung des Sinns für das objektive soziale Interesse, das der Kapitalismus völlig verunglimpft hat, sowie des Sinns für die Verpflichtung und die Verantwortung gegenüber diesem gemeinschaftlichen Interesse („cum munis“). Diejenigen, die diese Bewegung auf eine bloße Frage des „bewaffneten Angriffs“ reduzieren wollen und sich frei fühlen, einer Gemeinschaft, die im Keim erstickt, ihre eigenen Bedingungen aufzuzwingen, sind ein Hindernis, das es zu überwinden gilt; ebenso wie diejenigen, die sie auf eine einfache Forderung nach „Organisation“ reduzieren wollen, ohne zu sagen, wofür genau sie ihre formalen Strukturen vorschlagen.
C
Gegen den Arbeiterfetischismus: Anmerkungen zur Überwindung marxistischer Terminologie unter Anarchisten x Manuel de la Tierra
Veröffentlicht in: El Surco Nº15 – Chile, die Übersetzung ist von uns.
„Sieh mal, wie einfach das alles ist, wenn man es gut erklärt: Man hat mir gesagt, dass die Welt ein Kampf zwischen den Guten und den Bösen ist.
Dass es die ausgebeutete Klasse und die gegenüberliegende Ausbeuterklasse gibt, und dass der Kampf zwischen den beiden Seiten die einzige treibende Kraft der Geschichte ist.
Jeder, der ein Arbeiter ist, ist allein durch die Tatsache, dass er ein Arbeiter ist, auf unserer Seite und verdient unseren Respekt.
Im Gegensatz dazu stehen die Reichen, die immer an allem Schlechten schuld sind, was passiert, und an allem Schlechten, was passiert.
Und ich denke, dass diese Denkweise, die uns daran hindert, die Probleme so zu sehen, wie sie sind, die Realität so zu sehen, wie sie ist, Bullshit ist.
Alles auf diese Weise zu vereinfachen, kann nur dazu führen, dass wir an eine Wand stoßen und glauben, dass dies Widerstand ist.“ (Producto Interior Bruto)
Unter denjenigen, die behaupten, Revolutionäre zu sein, gibt es eine gewisse Sakralisierung der Figuren des Arbeiters, der Gewerkschaften/Syndikte, der Massen und der Idee des Klassenkampfes. Wenn man sich der sozialen Transformation nähert, ohne diese Themen, Konzepte und Räume in den Mittelpunkt der Analyse zu stellen, würde man eine Ketzerei begehen. Je „populärer“ das Individuum oder seine Organisation ist, desto wahrhaft revolutionärer ist sie. Wer nicht „Proletariat“, „Klassenkampf“ und andere gleich klingende Worte in den Mund nimmt und seine tägliche Aktion nicht darauf ausrichtet, gehört nicht mehr zu ihnen. Bestenfalls ist man ein postmoderner Zweideuter, ein unverantwortlicher Infantilist oder schlichtweg reaktionär. Natürlich ist diese Situation den so genannten Anarchisten nicht fremd. Meiner Meinung nach liegt das daran, dass wir uns nicht vollständig von dem analytischen, ästhetischen und diskursiven Erbe der revolutionären marxistischen Paradigmen der sechziger, siebziger und achtziger Jahre befreien konnten. Der kreolische Anarchismus hat das Trauma des Linkstums, der einst seinen Platz im antistaatlichen Kampf einnahm (MIR, FPMR, MJL), nicht vollständig überwunden. Ich spreche von einem Trauma, weil das Wiederaufleben libertärer Aktivitäten in den 1990er Jahren die „anarchistische Bewegung“ ohne lokale Bezüge zu ihrer eigenen (längst ausgestorbenen) Ideologie vorfand, was viele, manchmal explizit, manchmal unbewusst, dazu veranlasste, sich marxistischen Analysemodellen anzunähern, ihre Ästhetik und ihr historisches Gedächtnis zu übernehmen und in bestimmten Fällen leider auch ihre Organisationsmodelle zu kopieren. Die Slogans, die Forderungen, der 29. März und der 11. September sind die sichtbarsten Beispiele für diesen Prozess.
Die Erinnerung an diejenigen, die für die Freiheit gekämpft haben und gestorben sind, und an die subversiven Erfahrungen anderer Ideologien ist äußerst wichtig, wenn es darum geht, Werkzeuge für die Gegenwart zu finden, aber es ist kontraproduktiv, wenn die Erinnerung zu einer sturen Übung wird, um Formeln aus der Vergangenheit zu wiederholen, die der Gegenwart nicht mehr standhalten. So sehr der Marxismus in jeder seiner historischen Erfahrungen für seine Bürokratisierung und seinen Autoritarismus kritisiert wird, was unwiderlegbar ist, so wenig sehen wir eine lebendige Kühnheit oder zumindest die Absicht, die Instrumente der soziologischen Forschung, die sie verwenden und die wir noch nicht aufgegeben haben, zu hinterfragen und deutlich zu verändern.
Das Hauptproblem, das ich darin sehe, ist, dass wir, wenn wir die Analyseschlüssel des Marxismus und seine Terminologien nicht in Frage stellen, am Ende in denselben eng gefassten ökonomischen Logiken verharren, in denen die Revolution von den Produktionsstrukturen abhängt, und die vielfältigen Ränder des Herrschaftssystems, die nicht unbedingt mit der Lohnarbeit verbunden sind, von der Untersuchung (und Bekämpfung) ausschließen. Dazu gehören die Kultur, die Politik, das kollektive Unbewusste, die ethnischen Unterschiede und so weiter. Den Marxisten zufolge hängt all dies von den Produktionsweisen (Struktur und Überbau) ab; wenn wir also die Ökonomie verändern, werden wir auch alles andere verändern24, und um dies zu tun, müssen wir die politische Kontrolle über den Staat übernehmen, mit der daraus folgenden makabren Diktatur des Proletariats, die nichts anderes ist als die Diktatur der Kommunistischen Partei. Aber für uns, die wir behaupten, dass es weder Gleichheit noch Freiheit gibt, wo Hierarchien und Polizeikontrolle existieren, ist keine Diktatur wünschenswert. Und selbst wenn wir die Ökonomie umgestalten, indem wir dabei die organische Struktur des Staates (Institutionen, Räume und Kontrollmöglichkeiten) beseitigen, hat das keine direkte Auswirkung auf die Veränderung des individuellen Denkens. Es ist einfacher, jemanden darauf hinzuweisen, dass sein Chef ihn ausbeutet, als ihm zu erklären, dass er aufhören soll zu glauben, dass seine Gefährtin sein Eigentum ist, dass der Peruaner oder der Argentinier nicht sein Feind ist oder dass es möglich ist, ohne jegliche Autorität besser zu leben. Egal wie kommunistisch die Ökonomie auch sein mag, es gibt keine Revolution ohne eine kategorische Veränderung der mentalen Strukturen. Und die Ökonomie bestimmt nicht die Weltanschauungen, sondern eine Reihe von Faktoren, die in erster Linie mit den besonderen Erfahrungen eines jeden Menschen zu tun haben.25 Der Geburtsort bestimmt nicht den Platz für den Kampf, das hieße zu glauben, dass die Verteilung der Mentalitäten in der heutigen Ordnung so ist, wie sie im europäischen Mittelalter allgemein war. Ein Arbeiter kann genauso ein Feind der Freiheit sein wie sein Chef. Falsches Bewusstsein! -rufen uns die Marxisten und diejenigen zu, die an ihre Methoden glauben: da die Mächtigen die Kultur kontrollieren, verändern sie die Bestrebungen der Arbeiter und bringen sie dazu, die „wahren“ Interessen ihrer Klasse zu verleugnen, aber wenn der Tag kommt, warnen sie uns, wenn alle Arbeiter die Idee bekommen, dass sie eine große historische Einheit sind und dass sie gemeinsam die Revolution machen müssen, indem sie ihre Interessen vor die der hegemonialen Klassen stellen, werden das falsche Bewusstsein und die Klassengesellschaft ein Ende haben. Eine schöne Illusion, sagen wir, die nicht einmal die Dynamik der modernen Gesellschaft berücksichtigt, in der die Rollen verschwimmen und die klaren Trennungen zwischen den verschiedenen sozialen Akteuren aufgehoben sind.
Heute, anderthalb Jahrhunderte nach den Grundgedanken des historischen Materialismus, in einer Zeit, in der alle Herrschaftsstrukturen hochentwickelt und perfektioniert sind, ist es dringend notwendig, alle theoretischen Beiträge aus diesen Perspektiven zu hinterfragen. Dabei geht es gewiss nicht um die Zerstörung um der Zerstörung willen.
Auch das Modell von „Ausgebeuteten und Ausbeutern“ muss dringend in Frage gestellt werden, denn eine duale Gesellschaft gibt es nicht mehr – und hat es nie gegeben. Die Machtgeflechte und die Konflikte in ihrem Geflecht sind weitaus komplizierter als ein einfaches Aufeinandertreffen von bösen Bourgeois und hemdsärmeligen Proletariern. In jedem Individuum gibt es einen Unterdrücker, in jedem Arbeiter einen Kapitalisten, in jedem Militanten einen Militär: Sie alle müssen zerstört werden.
Obwohl der Anarchismus eine Zeit lang enge Beziehungen zur Welt der Arbeiterorganisationen unterhielt, sich organisch weiterentwickelte und auf verschiedene Weise zu deren Kämpfen gegen die Netze der ökonomischen und staatlichen Macht beitrug, entwickelte er in seinem theoretischen Korpus Ideen der Erlösung, die über die produktiven Ränder hinausgingen. Die Idee war die integrale Transformation des Individuums und mit ihm der Gesellschaft als Ganzes. Befreit wird man nicht in Bezug auf seine Klasse, sondern in Bezug auf die Qualität seines Seins. Weder Unterdrücker noch Unterdrückte, das ist die erste Frage.
Um auf die Notwendigkeit der Überwindung des historischen Materialismus im anarchistischen Lager zurückzukommen, finde ich den Eifer vieler, „den Klassencharakter des Anarchismus zu bekräftigen“, beunruhigend. Ich werde mich auf einen Artikel in der plattformistischen Zeitschrift Hombre y Sociedad beziehen, aber ich betone, dass dies nicht nur in dieser Strömung der Fall ist. Ich werde nicht Punkt für Punkt ihre Postulate kritisieren, von denen ich annehme, dass sie in gutem Glauben entstanden sind, auch wenn ich mit den meisten von ihnen nicht einverstanden bin. Mir geht es jedoch darum, das Problem dieses typischen Falles der Vermählung von Anarchismus und Arbeiterfetischismus zu veranschaulichen, in dem die Begriffe „Proletariat“, „Dialektik“, „Klassenbewusstsein“ und „Massen“ im Überfluss vorhanden sind. Obwohl, wie wir sehen werden, die Ähnlichkeit nicht nur in den Worten liegt, sondern auch in den Schlüsseln zur Interpretation der Realität. Ich hoffe, den Sinn des Textes nicht zu verfälschen, wie es fast immer der Fall ist, wenn er zur Debatte zitiert wird, aber ich denke, dieser Absatz spricht für sich selbst. Von H&S heißt es, um den Gegnern ihrer Tendenz zu begegnen:
„So erscheint der Widerstand gegen die Plattform als Widerstand dagegen, den Sprung von einem abstrakten, marginalen Anarchismus zu einem aktiven Teil des Klassenkampfes zu machen, Teil der realen Schwierigkeiten zu werden, die soziale Bewegungen erfahren. Es ist die natürliche Angst vor dieser Idee, dass der Anarchismus nur eine Möglichkeit ist, die es zu verwirklichen gilt, sowie die Angst vor dem Schmerz und der Arbeit, die dies notwendigerweise mit sich bringt“26 (Fettdruck von mir).
Wehe uns Abstrakten, den Marginalisierten und denjenigen, die die wirklichen Schwierigkeiten nicht kennen, denjenigen mit jungfräulichen Ängsten, denjenigen, die Angst vor Schmerz und Arbeit haben! Aber abgesehen von der offensichtlichen Arroganz und der Ignoranz gegenüber den Kosten, die mit der Entwicklung der Anarchie in anderen Formen verbunden sind, ist das, was mich dazu bringt, auf diesen Artikel zu verweisen, die hartnäckige Frage des Klassenkampfes. In dem sie die marxistische Terminologie nicht konkret in Frage stellen, sondern sich durch deren Verwendung erlauben, zwischen konkreten und abstrakten Anarchismen zu unterscheiden. Ich persönlich schätze jede Arbeit, die getan wird, um das Herrschaftssystem zu untergraben, je vielfältiger, desto besser, und ich mag das Bestreben, die Präsenz libertärer Praktiken und Werte in der Gesellschaft effektiver zu machen, so wie ich annehme, dass die Leute von H&S das tun, aber es scheint mir gefährlich, dass sie sich vom historischen Materialismus ernähren, ohne gleichzeitig eine tiefgreifende Kritik (jenseits der Gemeinplätze: Anti-Bürokratie, Anti-Parteien-Denken usw.) an ihrem engen ökonomistischen Rahmen zu üben. Das soziale Leben ist viel komplexer als die Beziehungen zum bösen Kapital! Vor dem Kapital steht die Autorität, und ich spreche nicht nur von den offensichtlichen Kräften des Staates oder seinen Gebäuden und Symbolen (Armee, Carabineros, Gefängnisse, Schulen, Verwaltungsgebäude), sondern – und vor allem – von dem Netz von Überzeugungen, die ihn zu einer scheinbar uneinnehmbaren Festung machen. Überzeugungen wie die hegemoniale – und Säule der Herrschaft – die uns warnt, dass man ohne Autorität nicht leben kann. Und diese Maxime werden wir weder mit Steinen und Bomben allein noch mit Streiks oder Großdemonstrationen aus der Welt schaffen. Obwohl alles möglich ist, nebenbei bemerkt.
Und da ich davon überzeugt bin, dass die Möglichkeiten, die tausend Gesichter der Herrschaft zu bekämpfen, darin bestehen, tausend Räume der Antwort und der Gegenoffensive zu vervielfachen, kann ich nicht umhin, jene Überzeugung in Frage zu stellen (die auch unter den vereinigten Kräften zu grassieren beginnt), die uns auffordert, uns völlig vom ökonomischen Kampf zu distanzieren, weil er als funktional für die Ordnung angesehen wird. In dieser Logik wäre zum Beispiel der Syndikalismus nur ein weiteres Instrument der Herrschaft.
Schauen wir uns ein Beispiel dafür an. In der Ausgabe 53 der nti-plttformistischen Publikation Libertad! aus Buenos Aires erschien ein Artikel von Patrick Rossineri27, der diese Idee zusammenfasst28. Wir stimmen mit seiner Analyse überein, aber nicht mit seinen Schlussfolgerungen. Auf die Frage, ob es für Anarchisten möglich oder wünschenswert ist, die Gewerkschaften/Syndikate zu horizontalisieren und selbst zu verwalten, kommt der Artikel zu einem negativen Schluss, obwohl er deutlich macht, dass es notwendig ist, die anarchosyndikalistischen Vereinigungen zu stärken, in den Vierteln und mit denen die keine Mitglieder der Gewerkschaften/Syndikte sind und mit den Arbeitslosen zu arbeiten. Rossineri sagt zu Recht, dass die Gewerkschaft/Syndikat Teil des Herrschaftssystems ist, da sie es in den hierarchischen Strukturen ihrer internen Funktionsweise sowie in ihrer Verfügbarkeit für staatliche Subventionen reproduziert. Und es stimmt, dass die Gewerkschaft/Syndikt heute ein autoritäres und opportunistisches Organ ist, das sich nur mit unmittelbaren Forderungen gewerkschaftlicher/syndikalistischer Art befasst und auf seinen eigenen Aktionsradius beschränkt ist. Es gibt keinen politischen Streik mehr, keinen Solidaritätsstreik, wie in der Vergangenheit, als die Gewerkschaften/Syndikate zum Beispiel die Arbeit niederlegten, um andere Gewerkschaften/Syndikte zu unterstützen oder die Freilassung politischer Gefangener zu fordern. Aber wir sind der Meinung, dass die Tatsache, dass die Gewerkschaft/Syndikt an die Machtstruktur gebunden ist, nicht die Möglichkeit für einen Anarchisten ausschließt, in ihr zu kämpfen. Wir müssen alle Räume, in denen wir uns bewegen, umgestalten, warum nicht auch diesen? Und das bedeutet auch nicht, dass wir aufgeben müssen, wir müssen die Politiker, die Legalisten bekämpfen und jeder syndikalistische/gewerkschaftliche Anführer muss ein Objekt des Misstrauens als Autorität sein, denn Delegation und Unterwerfung sind oft in ein sympathisches Gewand gekleidet. Die Gewerkschaft/Syndikt ist ein Instrument wie viele andere, und sie hat sich in vielen Fällen auch als nützlich erwiesen, um den Missbrauch durch den Arbeitgeber zu stoppen. Ich glaube, dass das Problem nicht darin besteht, die Gewerkschaften/Syndikate und die Gewerkschaftsbewegung/Syndikalismus zu einem Allheilmittel zu machen. Der Anarchosyndikalismus ist seinerseits eine partielle und begrenzte Lösung für die Bürokratisierung der legalen und parteiischen Gewerkschaft/Syndikat, aber er ist nicht die Lösung für das allgemeine Herrschaftssystem.
Die libertäre Tat transzendiert unseren Platz im Produktionssystem und die Verflechtung der Lohnverhältnisse, in denen wir überleben. So viel für heute. Es geht darum, die unterschiedslose und unkritische Verwendung marxistischer Terminologie und Analyseschlüssel unter Anarchisten in Frage zu stellen und zur Vorsicht gegenüber ihrem anti-ökonomischen Antipoden zu raten. Denn der Anarchismus ist nicht von den Produktionsstrukturen abhängig, aber er kann sich auch nicht von ihnen lösen. Aber in jedem Fall ist es nicht die anarchistische Wahrheit, die heute spricht, sondern die begrenzte Meinung eines von Tausenden, die behaupten, Anarchisten zu sein. Die Idee ist, zum Nachdenken anzuregen.
El surco Nummer 13, MARZO ANARQUISTA VOR DER PRESSE UND DEM POLIZEIKOMITEE
Von El Adversario (sommerlich) | Chronik
Wie immer ist die Presse skandalisiert, wenn sie bei der Eingabe des Wortes „Anarchist“ bei Google neue Ergebnisse findet. Diesmal war es La Segunda, die den Anstoß gab. In ihrer Ausgabe vom 17. Februar veröffentlichten sie einen Artikel mit der Überschrift „sie rufen zu einem ‚Anarchistischen März‘ (Marzo Anarquista) in Santiago auf“, zitierten dazu ein paar Zeilen von der Website (www.marzoanarquista.org) und kommentierten sofort „beunruhigt“ die Situation der jüngsten Sprengstoffanschläge in der Region, wobei sie absichtlich eine Medienverbindung herstellten, um ihre Leser glauben zu machen, dass es sich um dieselben Personen handelte.
Um fortzufahren, behauptet der Journalist, dass ein Gefährte „einem Gespräch mit La Segunda unter der Bedingung zugestimmt hat, dass er nicht fotografiert wird“, was natürlich falsch ist. Es gab kein Interview, nicht einmal genug, um Bedingungen zu stellen. Was passierte, war, dass der Mann zum Emporio Raíces ging, um Informationen über den Aufruf zu suchen, und dort traf er den Kerl, der ihm nach einem kurzen Gespräch mitteilte, dass alles, was er über den Marzo wissen wollte, auf der Webseite zu finden sei. Das genügte dem Abgesandten von Edwards natürlich, um seine Notiz zu machen. Allerdings unternahm er noch einen weiteren Versuch: Er besuchte die Buchhandlung Proyección, um von weiteren Personen Informationen zu erhalten, aber leider konnten sie diese in diesem Moment nicht finden, obwohl sie nicht gingen, ohne vorher die Nachbarn zu fragen, „was für Leute in diesem Haus waren“. Weiter in seinem Artikel behauptet er, dass die Organisatoren ein Kommuniqué an die Medien geschickt haben, was natürlich auch falsch ist, da das Koordinationskomitee ausdrücklich erklärt hat, dass die Vereinbarung der Organisatoren dieses Marzo Anarquista, wie auch der vorangegangenen Jahre, darin bestand, keinerlei Erklärung an die so genannte „bourgeoise Presse “ zu geben, da viele von uns wissen, dass ihre Aufgabe immer darin bestehen wird, unsere Aktionen und Worte zu verzerren und zu manipulieren.
Wie erwartet, berichteten am nächsten Tag andere Medien über die „Neuigkeiten“. Aber nicht nur das, nun befasste sich auch der Polizeikomitee, das einmal wöchentlich in La Moneda tagt, mit dem Thema, nachdem die Presse gewarnt hatte. Im El Mercurio vom 18. desselben Monats spielte man natürlich auch auf den „caso bombas“ an, um auf Marzo zu verweisen, erklärte aber auch, dass „systemfeindliche Gruppen auch Propagandaaktionen vor dem Kommandowechsel vorbereiten“. Ein kommunikativer Schachzug, um zu versuchen, jemanden zu beschuldigen, ohne dass bereits eine Aktion stattgefunden hat.
Schließlich wurde die Initiative vom Staatssekretär des Innenministeriums, Patricio Rosende, zurückgestellt, der sie als „ein sommerliches Thema“‚ bezeichnete, dem keine Bedeutung beigemessen werden sollte, da ‘ es nicht gefährlicher ist als in der Vergangenheit“.
Er wies auch darauf hin, dass es sich um eine akademische (?) und nicht um eine kriminelle Angelegenheit handele. Nun muss man sagen, dass der Marzo Anarquista für die Regierung offensichtlich eine unwichtige Aktivität ist, da sie die Relevanz revolutionärer Demonstrationen an Spektakel und Gewalt misst, wenn das nicht Teil der Initiative ist, verliert sie an „Gefährlichkeit“. Das Komische ist, dass sie weder die Werkzeuge noch die Kriterien haben, um die Fortschritte zu assimilieren, die diejenigen von uns, die sich ihrer Macht entgegenstellen, qualitativ haben können, und dieser Aufruf zielt genau darauf ab, dass Menschen, die daran interessiert sind, über Anarchismus zu lernen und zu sprechen, in ihrem Wissen und ihrer Überzeugung wachsen können, um jeden Tag mehr Kraft in die große Aufgabe der Eroberung eines freien und egalitären Lebens zu stecken.
1Leon Czolgosz: anarchistischer Gefährte, der 1901 gegen US-Präsidenten William McKinley vorging und ihn hinrichtete; Gaetano Bresci: italienischer Gefährte, der 1900 gegen König Humberto I. vorging; Mate Morral: Gefährte, der 1906 versuchte, König Alfonso XIII. von Spanien durch einen Sprengstoffanschlag hinzurichten.
2Obwohl wir diesen Text nicht den marzo anarquista zuschreiben, ist er in der Hitze der Diskussionen und Debatten rund um die Aktion entstanden. „Ein Beitrag zur Debatte unter Anarchistinnen und Anarchisten“ von militante especifico: https://web.archive.org/web/20100414094026/http://www.hommodolars.org/web/spip.php?article1928
3A.d.Ü., der Titel dieses Absatzes lautet „Anar_ista ¿Con Q o con K?“ und deutet auf eine orthodoxe oder unorthodoxere Auffassung des Anarchismus. Auf Spanisch wird Anarquista (Anarchistin und/oder Anarchist) mit Q geschrieben, die Verwendung vom Buchstaben K ist daher (auch, aber nicht nur) eine Art Bruch.
4A.d.Ü., „anarquistas/anarkistas“ siehe Fußnote Zwei.
5A.d.Ü., eine anarchistische Zeitung, hier kann man alle Ausgaben lesen.
6A.d.Ü., hier wird Bezug auf die Rot-Schwarze Fahne bezogen.
7Efraín Plaza Olmedo: Anarchistischer Gefährte, der 1912 im damals wohlhabenden Paseo Ahumada zwei Bourgeois hinrichtete; Antonio Ramon Ramon: Gefährte, der 1914 versuchte, General Silva Renard hinzurichten, um die Toten des Massakers von Santa Maria zu rächen.
8A.d.Ü., Foquismo oder ‚Fokustheorie‘ ist eine von Che Guevara entwickelte Theorie.
9Quelle vorbehalten.
10A.d.Ü., die sogenannten cordonoes industriales waren in den 1970ern selbstorganisierte und autonome Gruppen von Arbeiterinnen und Arbeitern, die durch Streiks und Fabrikbesetzungen, nicht so wie die Regierung von Allende, eine Vergesellschaftung der Produktionsmittel anstrebte. Sie wurden vom Gewaltmonopol der Linken des Kapitals bekämpft und niedergeschagen.
11A.d.Ü., Menschen die ihr Lebensunterhalt mit dem Sammeln von Papier und Pappe und dann späteren Verkauf fürs recyclen bestreiten.
12Anmerkung von Hommodolars: Dieser Artikel, wie auch der vorherige, ist falsch, wenn er behauptet, dass die CSO Sacco y Vanzetti den Marzo Anarquista für eine Verteidigung von Mauri oder Diego Rios „anklagt“. Das haben sie zu keinem Zeitpunkt behauptet.
13Ich schreibe nicht „kritisiert“, weil ich der Meinung bin, dass das, was diese Gefährten erhalten haben, über die Debatte von Ideen hinausging mit Verleumdungen wie „petite Bourgeois“, „verzweifelt“, „Anhänger der europäischen Mode“ usw. Ausdrücke, die nicht nur historische Unkenntnis, sondern auch böswillige Absicht mit diffamierendem Ziel zum Ausdruck bringen.
14https://web.archive.org/web/20100414094026/http://okupasaccoyvanzetti.blogspot.com/search?updated-min=2009-01-01T00%3A00%3A00-08%3A00&updated-max=2010-01-01T00%3A00%3A00-08%3A00&max-results=33
15https://web.archive.org/web/20100414094026/http://www.antorcha.net/biblioteca_virtual/politica/hipocresia/13.html
16Es lohnt sich zu sagen, dass wir, zumindest in unserem Fall, nicht der Meinung sind, dass die Aussage, dass alles, was aus dem Plattformismus, dem Insurrektionalismus, dem Leninismus, dem Marxismus, dem Anarchismus usw. stammt, historisch falsch ist und dass es unter bestimmten Bedingungen nützlicher ist, etwas von einigen dieser „Ismen“ zu nehmen, nicht bedeutet, dass wir ein bisschen von diesem nehmen und es mit dem anderen vermischen. Wir glauben einfach, dass alle „Ismen“ aus der Integration einer historischen Praxis des Proletariats mit bourgeoisen kontaminierenden Elementen entstanden sind. Nicht wir nehmen etwas von hier und etwas von dort, wir nehmen das, was der Klassenkampf mit seinen Fortschritten und Rückschlägen gezeigt hat. Wir glauben, dass diese Strömungen bestimmte Aspekte aufgreifen und ihnen einen ideologischen Stempel aufdrücken.
17Dielo Truda: “Plataforma organizativa para una unión general de Anarquistas”, verfügbar auf: https://web.archive.org/web/20100612222252/http://www.nestormakhno.info/spanish/platform/introduccion.htm
18Bakunin, Mijail: “La Libertad: Obras Escogidas de Bakunin”, Ed. AGEBE, Argentina. 2005, p19.
19Malatesta, Errico: „Sobre la responsabilidad colectiva“, verfügbar auf: https://web.archive.org/web/20100612222252/http://www.nestormakhno.info/spanish/mal_rep3.htm
20Makhnó, Nestor: „Sobre la Plataforma“, verfügbar auf: https://web.archive.org/web/20100612222252/http://www.nestormakhno.info/spanish/abouplat.htm
21Makhnó, Nestor. Mett, Ida. Arshinov, Piotr. Linsky, Valevsky: „Plataforma organizativa para una Unión General de Anarquistas“, verfügbar auf: https://web.archive.org/web/20100612222252/http://www.nestormakhno.info/spanish/platform/organizacional.htm
226Fontenis, George: „Manifiesto comunista libertario“, verfügbar auf: https://web.archive.org/web/20100612222252/http://flag.blackened.net/revolt/inter/groups/cuac/comunista_libertario.html
23Ebenda.
24Trotz der Neuformulierungen und „Aktualisierungen“ des marxistischen Denkens, zum Beispiel mit der Rettung von Gramscis Beiträgen zur „Hegemonie“ (die in A.L. lange von Althusser und Co. überschattet wurden), bleiben diese Ideen intakt. Siehe unter anderem Marta Harnecker, Los conceptos elementales del materialismo histórico, X edition, Siglo XXI, Santiago, 1972.
25Sogar marxistische Historiker selbst haben dies bemerkt, auch wenn es nicht in den Richtlinien ihrer Parteien vermerkt ist. Studieren Sie die Beiträge von E. P. Thompson und seine „Formación de la clase obrera en Inglaterra“, Editorial Crítica, Barcelona, 1989.
26Der Artikel, auf den ich mich beziehe, ist „A propósito de las resistencias a ‚La Plataforma‘: Contribución a un anarquismo de masas“, Hombre y Sociedad, nº 24, Invierno 2009, Santiago, S.15.
27A.d.Ü., auch auf unseren Blog zu lesen ZWISCHEN DER PLATTFORM UND DER PARTEI: DIE AUTORITÄREN TENDENZEN UND DER ANARCHISMUS VON PATRICK ROSSINERI
28„El sindicato como herramienta de dominación“, Libertad!, nº 53, Oktober-November 2009, Buenos Aires.
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