Kritik an der Technologie/Fortschritt – Soligruppe für Gefangene https://panopticon.blackblogs.org Für die Anarchie! Knäste, Staat, Patriarchat und Kapital abschaffen! Fri, 27 Dec 2024 12:02:16 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.1 https://panopticon.blackblogs.org/wp-content/uploads/sites/1233/2020/02/cropped-discharge-degenerik-blog-1-32x32.jpg Kritik an der Technologie/Fortschritt – Soligruppe für Gefangene https://panopticon.blackblogs.org 32 32 Über die kapitalistische Katastrophe in Valencia https://panopticon.blackblogs.org/2024/12/09/ueber-die-kapitalistische-katastrophe-in-valencia/ Mon, 09 Dec 2024 13:08:47 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=6104 Continue reading ]]>

Gefunden auf panfletos subversivos, die Übersetzung ist von uns. Diese und der folgende Text von Grupo Barbaria setzen sich mit der sogenannten DANA auseinander, nämlich den Überschwemmungen in der Region von Valencia, wo hunderte zu Opfer gefallen sind. Die Texte machen den Kapitalismus verantwortlich, genauso wie die herrschende Klasse.


Montag, 18. November 2024 – Über die kapitalistische Katastrophe in Valencia

Veröffentlichungen auf dem Konto von La Torre Magnética (Grupo Surrealista de Madrid)

November 2024


02/11/2024

Es wird nicht passieren, sagten die Entwicklungspolitiker.

Das wird nicht passieren, riefen die Technophilen auf der Straße.

Es wird nicht passieren, konnte man immer wieder aus der Zeit des Fortschritts und der Ökonomie hören.

In Berichten, Artikeln, Abhandlungen, Symposien, Wahlprogrammen, Regierungsgipfeln, in Radios, im Fernsehen, in Netzwerken und in Tweets mit miserablen Expertenstimmen.

Nun, es ist bereits geschehen: Du hast es bereits hinter dir. Und es wird wieder und wieder passieren.

Wir nehmen dich bei deinem ansteckenden Wort, der schuldigen Überheblichkeit! Wir werden es diesmal nicht (alle) auf den Klimawandel schieben. Auch nicht auf seine panischen Avatare, ob sie nun DANA, explosive Zyklogenese, Wetterbombe, Gloria oder Philomena heißen.

Die Gefahr kommt von oben: und von unten, von ganz nah, in unmittelbarer Nachbarschaft.

Sie heißt Ökozid, Abholzung, frenetische Stadtplanung, Betonlepra, Unterwerfung unter die triumphierende, morbide und tödliche Touristifizierung, die das Wasser monopolisiert und am Strand nagt; sie heißt Verkünstlichung von Flüssen, Wiesen, Schluchten, Tobeln und allem, was dem ähnelt, was einmal Natur war, mehr oder weniger vermenschlicht, in größerer oder kleinerer Harmonie. Man nennt es Exteriorizid.

Man nennt es Lohnsklaverei und herrschaftliche Arroganz, denn der Diener der Massen kann das Konzernlehen nicht verlassen, selbst wenn die Erde versinkt und der Himmel sich weit öffnet und die Sintflut das zerbrechliche Leben und die schlecht bezahlte Arbeit, mit der man nicht über die Runden kommt, überschwemmt.

Man nennt es die kriminelle Arroganz einer politischen Klasse, die ihre eigenen zynischen, dummen und atavistischen Lügen glaubt und nichts tut, weil nie etwas passiert, oder alles dem technologischen Wunder mit seinem heilsbringenden Aufgebot an selbstmörderischen Infrastrukturen, betrunkenen Satelliten, verirrten Drohnen, ausgeschalteten Sensoren und mathematischen und digitalen Simulationen anvertraut, die, wenn sie jemals der vernünftigen und beklommenen Realität ähneln, dann nur durch Zufall.

Das nennt man industriellen Kapitalismus.


02/11/2024

„Wir werden den Familien der Opfer nicht erlauben, in die Leichenhalle zu kommen“, sagt der grimmige, gottlose Apparatschik. Um ihre Toten zu bewachen, um die überwältigende und unaufhaltsame Flut der schwärzesten Tränen zu betrauern.

Und zum Schluss fordert der finstere und maximale Hierarch die Freiwilligen auf, „in ihre Häuser zurückzukehren, denn es könnten Straßen einstürzen, die unsere Truppen brauchen“. Denn der Einsturz bin ich. Und nach mir, die Flut. Also „schließen wir zusätzliche restriktive Maßnahmen in den kommenden Stunden nicht aus“.

Wie, wie wollt ihr das machen?

Indem man Mauern und Stacheldraht errichtet, die Bereitschaftspolizei entfesselt und Killerdrohnen wie in Gaza fliegen lässt?

Der Staat versklavt nicht nur, beutet aus und tötet, sondern ist wie die große Hyäne, wie der Vampir, auch grausam in seinem Sichelschnitt der Leichen, denn der Tod ist auch sein eigener, und zwar vor und immer vom Markt: wie das Leben.

Aber das Leben, sagte Voltairine de Cleyre, „das Leben verlangt zu leben, und das Eigentum negiert ihm die Freiheit zu leben; und das Leben wird sich nicht unterwerfen. Und es sollte sich auch nicht unterwerfen“.

Und es wird sich nicht unterwerfen!

Hütet euch vor den Bürokraten der Regierung, hütet euch vor den Sklaven der Ökonomie: Eines Tages werden wir zurück sein!


02/11/2024

Wohin gehst du, o Pilger, was ruft dich herbei?

Gegen das senkrechte und verrückte Meer, das die geschändete Natur ausspuckt, erhebt sich eine weitere unerwartete Welle, wie in Galizien der Prestige, erhebt sich inmitten des körperlichen und geistigen Todes und kehrt ins Leben zurück, um Trost und Hilfe zu bringen, vielleicht unbeholfen, naiv und verwirrt, an die Orte, wo das unerträgliche Feuer des Schmerzes und der Ungerechtigkeit knistert: wo die Unersättlichen auf die Unersättlichen warten.

Und nein, es ist keine Stampede aus einem Zombiefilm: Sie haben aufgehört, Zombies zu sein, selbst in dem sehr kurzen, blendenden Augenblick und dem Leuchten, das man Solidarität nennt.

Und nein, sie gehen weder zum Fußball, noch zu den Stalags, wo die schwarze Masse der Ware gefeiert wird, noch zum Musikfestival, das alle Marken unseres Elends und unserer Unterwerfung subventioniert: Denn dieses Mal ist das Spektakel ausgeschaltet und die Präsenz, die Intensität, das wirkliche Leben ist eingeschaltet.

Und nein, sie reagieren nicht nur oder notwendigerweise wie abgerichtete Hunde auf jeden Pfiff der institutionellen Kampagne, das vorgefertigte Mem, den parteiischen oder ferngesteuerten Slogan: Es geht darum, dass es, wie bei der Poesie, der Freiheit und der Liebe, Spontaneität gibt und gegenseitige Unterstützung und die Selbstverwaltung der leidenschaftlichen Flamme, die unsere Herzen verbrennt und dem Handeln vorausgeht.

Die Stadt auch nur für einen Tag zu verlassen, um im Schlamm zu versinken und die Erde zu berühren und den Schmerz in voller Tragik und wahrem Himmel zu umarmen, sich den Fremden anzuschließen, bis das noch vergängliche Egregore geschmiedet ist, nicht auf Befehle zu warten, sie zu missachten und sie zu verspotten, die alten vergessenen Werkzeuge jener verlorenen Zeit zu hissen, als wir Bauern waren, die Brüderlichkeit in einer seelenlosen Welt wiederzuentdecken, das gemeinschaftliche Wunder zu versuchen: Das ist das visionäre Bild des Traums, der das Bewusstsein erweckt, das ist das große Transparent, das mit der anderen Seite kommuniziert, das ist der neue Mythos, das ist die Poesie, die wir heute Morgen brauchen.

Und von morgen.

So zerbrechlich, so zart…


02/11/2024

Nur das Volk rettet das Volk.1

Was passiert, ist, dass sie es noch nicht wissen, und wenn sie es entdecken, ziehen sie nicht alle Konsequenzen daraus. Macht, wo ist dein Sieg? In der Unwissenheit und Gleichgültigkeit, die du erzeugst und verbreitest. Deshalb willst du auch nicht, dass jemand auf die Straße geht.

Denn der Nekromant ist schwach, die Realität ist unerbittlich, der Wunsch ist allmächtig, und seine Mörder sind wenige und wir sind viele. Und die Schaufel, die den Schlamm beseitigt, könnte, wenn sie mit Elan und Entschlossenheit eingesetzt wird, durchaus Köpfe abschlagen. Deshalb gehen sie jetzt mit der Armee spazieren und versuchen, Spontaneität und großzügige Gesten unter dem Vorwand der Koordination zu zähmen und zu rekuperieren.

Wenn die Herrschaft sich anschickt, die Narben zu verdecken, die sie selbst reißt, und vorschlägt, immer noch mit kleinem Mund und Euphemismen der neuen Sprache, einen „klimatischen Ausnahmezustand“ zu verhängen, ökologisch versteht sich; wenn unheilvolle Anspielungen auf die zukünftigen Armeen der disziplinierten Arbeit gemacht werden, die unter der Führung der aufgeklärten Regierung die Umweltzerstörung des Kapitals reparieren müssen, weil es keine andere Wahl gibt, und die Energie liefern, die der Rückgang der fossilen Brennstoffe für einen quälenden Zyklus des ökonomischen Wachstums verheißt, natürlich grün; wenn kapriziöse Freiheit, unregierbare und/oder verdorbene Subjektivitäten und die unverantwortliche und wankelmütige Autonomie, die zum wilden Sozialismus der Kommune tendiert, sobald sie sich selbst überlassen wird, aus so vielen Ecken des ideologischen Schachbretts diffamiert werden, einschließlich derjenigen, die links von Gott dem Staat sitzen…. wir können nicht verschmähen, wir können nicht verachten! , das kleinste Lebenszeichen eines anderen, das noch immer unter so viel Hass, Isolation, Terror und Anomie schlägt, zittert und bebt.

Und das sich aus reinem freien Willen manifestiert: weil der Körper es will und weil es ihm gefällt.

Das hebt die Strenge der kritischen Vernunft, der theoretischen Aufklärung, der notwendigerweise strengen Analyse nicht auf oder setzt sie außer Kraft: solange sie im Vernünftigen verwurzelt ist, nur wenn sie sich nicht vom Verlangen entfernt.

Eine schreckliche Schönheit ist geboren. So zerbrechlich, so zart: so unvollständig und unzureichend. Sie wird so lange andauern, wie die Zeit der Kirschen dauert.

Aber sie wird wiederkommen. Sie werden zurückkommen. Wir werden zurückkommen.


04/11/2024

„Die Europäische Union muss die Fähigkeit der Staatsbürger erhöhen, auf ein großes Krisen- oder Kriegsszenario zu reagieren. Ziel ist es, dass die Haushalte in der Lage sind, mit speziellen Bildungsprogrammen, auch durch die Aufnahme in die Lehrpläne der Schulen, und anderen außerordentlichen Maßnahmen alle Arten von Notfällen zu bewältigen“.

So steht es in dem Bericht, den Ursula von der Leyen, die Große Satrapen der EU, bei ihren Mandarinen in Auftrag gegeben hat.

Dem stimmen wir zu. Nur, dass wir von ihren „Lehrplänen“, die die Intelligenz veröden und das Imaginäre ersticken, angewidert sind, und noch mehr von ihren „außergewöhnlichen Maßnahmen“ als von dem Außergewöhnlichen selbst, wo und wann man vielleicht, wie im Orkan, den verschlungenen Pfad findet, der die Welt verwandelt und zum wahren Leben führt: „Angst vor dem Tod, du gibst dem Leben seinen Wert. Angst vor der Zukunft, du gibst der Gesundheit, dem Reichtum einen Sinn“, beschwört Pierre Mabille in ‚Der Spiegel des Wunderbaren‘, denn es gibt Zeiten, in denen ‚der Mensch die rettende Flut anfleht, den Engel der Vernichtung, der Geist sehnt sich nach einem Grund für solche Katastrophen und findet ihn in der Notwendigkeit, das Böse auszulöschen, die Welt zu erneuern und zu verbessern‘.

Wenn wir diesen Weg, dieses Bedürfnis, diese Bestimmung finden.

Und so spekuliert Rebecca Solnit in „A Paradise in Hell“ über die „außergewöhnlichen Gemeinschaften, die in der Katastrophe entstehen“ und die sich außerhalb und oft gegen den Staat, der sie verwaltet, und die Wirtschaft, die sie hervorbringt, stellen; und das Kollektiv Out of the Woods spitzt diese Wette in „Disaster Communism and other texts against capitalist catastrophe“ zu und warnt vor ihren unvermeidlichen und vorhersehbaren Grenzen (aber nicht vor unüberwindbaren Grenzen): harmloser und konformer Apolitismus, Neurose der Klammer, die sich in der Katastrophe öffnet und schließt, wenn die „Normalität“ zurückkehrt, Kooptation, Erholung, unerwünschte Infiltration, kollaborativer Realismus.

Ja: Wir brauchen neue Lektionen, die zu denen des unmittelbaren Lebens hinzukommen, und außergewöhnliche Maßnahmen.

Unsere eigenen!


06/11/2024

In der Zwischenzeit geifert ein Held, ein Mäzen, einer jener Männer, die in Spanien alles tun und alles tun, über diejenigen, die ihn zur Rechenschaft ziehen, weil er seine Arbeiter in seinem Tripalium behalten hat, als der Sturm tobte. So wie es seinesgleichen auch nach und über die Flut hinaus tun, obwohl Ungewissheit herrscht und Trauer wütet, denn die Anhäufung von Mut muss weitergehen, und wenn die Arbeit uns nicht befreit, wird es der Tod tun.

In der Zwischenzeit steht eine Gruppe von Freiwilligen auf und weigert sich, die Warenstände in jedem Einkaufszentrum zu reinigen, wo es unbestreitbar besser und klüger ist, ihre von Wasser und Schlamm ruinierten Wracks zu bewachen und zu hüten, als sie zu verteilen und ihnen einen letzten und noch nie dagewesenen Gebrauchswert zu geben, damit sie denjenigen zugute kommen, die sie am meisten brauchen, denn „wir sind hier, um Menschen zu helfen“: denn wenn Waren sterben, wachen Menschen auf.

In der Zwischenzeit schlagen die Schaufeln noch keine Köpfe ab, sondern lernen, den Unreinen den Dreck ins Gesicht zu werfen, auch wenn wir immer noch den Fehler machen, nach dem Stammbaum des jeweiligen Hierarchen oder der Farbe seines Gürtels zu unterscheiden und zwielichtige Gefährten bis ins Nirgendwo des Faschismus zu dulden.

Sie besetzen den Raum, der ihnen nicht gehört und von dem sie sich im Grunde abgestoßen fühlen, weil wir ihn vielleicht aufgegeben haben.

Denn es scheint, als wüssten wir nicht nur nicht mehr, wie man begehrt, sondern auch, wie man diejenigen hasst, die es jetzt, während der DANA und immer verdienen.

Und dann gehen die Spezialisten des Grolls von Bord, um den Kompass des Hasses in Richtung des harmlosen Nichts zu lenken, das die Wut dämpft und den Konflikt sterilisiert, in Richtung der unsinnigen Politik oder in Richtung der Sündenböcke, nach denen sich dieses verfallene und gestörte Jahrhundert sehnt, um seine eigenen Sünden zu bereinigen und seine Angst und sein Delirium auszutreiben.

Solange wir Kompromisse eingehen. Solange wir uns anpassen. Solange der Realismus regiert und der gesunde Menschenverstand der Tyrannei den Wunsch tyrannisiert.

In der Zwischenzeit!


06/11/2024

In der Zwischenzeit rettet die gegenseitige Hilfe des Volkes das Volk weiterhin mit improvisierten Mitteln, denn selbst wenn sie will, kann sie nicht alles tun, was sie will, weil sie die materiellen Mittel und die unentbehrlichen Werkzeuge, die sie mit ihrem Schweiß und Blut geschaffen, produziert und bezahlt hat, nicht hat oder nicht lenken kann.

Das ist eine banale, grundlegende Kleinigkeit, die von den fortschrittlichsten Minnesängern, Pagen und Knappen des Staates ignoriert wird, die sich beeilen, auf den ultrarechten Wolf unter der Plexiglashaut des populistischen Volkes hinzuweisen, auf diese Entelechie, die immer wieder aufgelöst werden muss, um an ihrer irren und lykanthropischen Stelle eine andere zu wählen und sie so oft wie nötig wieder aufzulösen.

Es geht darum, dass sie, nachdem sie die Fahne der Freiheit, der einzigartigen und unteilbaren Freiheit, die sie nie geliebt haben, aufgegeben haben, weil sie weder wissen noch sich vorstellen können, wie man sie verteidigt, geschweige denn neu erfindet, nachdem sie sich der alten und ehrwürdigen libertären Insignien berauben ließen, von denen sie zu viel haben, nun den goldenen Zweig und den Zauberstab der freien und leidenschaftlich ausgeübten gegenseitigen Unterstützung an ihre größten Feinde weiterreichen.

Denn wie uns das Kollektiv Heura Negra in Erinnerung ruft, „war die historische Funktion des Faschismus schon immer, die revolutionäre Sprache zu kopieren, um die Mächtigen zu berauschen, zu manipulieren und zu belügen“. Und zu kritisieren – ja, zu kritisieren! „Ein verrotteter, korrupter und nachlässiger Staat, der angesichts einer Tragödie, die hätte vermieden werden können, sogar den König von der Polizei umzingelt spazieren schickt, ist nicht rechtsextrem (…) er ist sich der institutionellen Versäumnisse bewusst“.

Aber es scheint, dass „wenn der Staat nicht erscheint, das Problem bei den Linken liegt“.

In der Tat: Das Problem liegt bei dieser Linken. Die so genannte. Das, was, wie die Gefährten der Grupo Barbaria deutlich machen, mit der Herrschaftsphobie zusammenfällt: „Sie können es nicht ertragen zu sehen, wie sich in den Städten die Menschen organisieren, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen, ohne darauf zu warten, dass der Staat das Sagen hat“.

Inzwischen ist der Winter nicht nur im Anmarsch, sondern schon da, und wie und mit welchen Absichten.

Aber kann der Frühling dann noch weit entfernt sein?

Nur wenn wir es wissen, nur wenn wir es wollen.

In der Zwischenzeit!


1A.d.Ü., beschissener Titel.

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Vom Situationismus zum Abgrund https://panopticon.blackblogs.org/2024/02/19/vom-situationismus-zum-abgrund/ Mon, 19 Feb 2024 10:57:57 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5584 Continue reading ]]>

Gefunden auf portal oaca (mit bibliographischen Angaben und überarbeitet), ursprünglich veröffentlicht auf anabaptismo (erste spanische Übersetzung), kann auch auf libcom auf Englisch gelesen werden.

Wenn auch der Text an manchen Stellen wiederholend wirkt, was für eine Kritik am Situationismus und an der Publikation „Enyclopédie des nuisances“.

Um die Kritik vollständiger verstehen zu können werden wir in kommender Zeit von Jaime Semprun „Der soziale Krieg in Portugal“, sowie von Debord „Die wirkliche Spaltung der Internationalen“ veröffentlichen.


Vom Situationismus zum Abgrund

22. November 2023

Schlüssel zu einer Kritik der Ideologie des Endes des Proletariats und des Endes der Welt, die von Jaime Semprún als Anführer der Pariser post-situationistischen Gruppe, der selbsternannten „Enyclopédie des nuisances“ (Enzyklopädie der schädlichen Phänomene), entwickelt wurde.

Kritik, die auf die Grundprinzipien anderer modernistischer, antiproletarischer und radikal-ökologischer Ideologien von Gruppen anwendbar ist, die Erben des Enzyklopädismus sind oder auch nicht, wie „Das Unsichtbare Komitee“, „Los Amigos de Ludd“, „Tiqqun“, oder die vage Schule des Primitivismus und Anti-Entwicklungismus, die behaupten, das Werk von Propheten wie dem „Unabomber“, dem Anarcho-Christen Jacques Ellul, dem Karlisten Félix Rodrigo Mora und dem Pazifisten der Frankfurter Schule Günther Anders zu sein.

1. EINLEITUNG

Die Kürze gefällt und ist nützlich: Sie gewinnt durch das Höfliche, was sie durch das Kurze verliert. Das Gute, wenn es kurz ist, ist doppelt so gut; selbst das Schlechte, wenn es wenig ist, ist nicht so schlecht. Es wird mehr Quintessenz erreicht als Durcheinander (…) Was gut gesagt ist, wird sofort gesagt.“ Baltasar Gracián.

Zunächst einmal sollten die Lesenden davor gewarnt werden, dass die Kritik an der Ideologie einer linken Gruppe gelegentlich bedeutet, dieser Gruppe eine Kohärenz, eine Konsistenz und ein theoretisches Niveau zuzugestehen, das sie in Wahrheit bei weitem nicht erreicht. Um es ganz offen zu sagen: Man muss das reale Niveau, das sie besitzt, anheben, um ihr eine ausreichende Entität zuzugestehen, die sie nicht besitzt, um sie kritisieren zu können. Das ist hier der Fall.

Die Pariser post-situationistische Gruppe der „Enyclopédie des nuisances“ (EdN) oder „Enzyklopädie der schädlichen Phänomene“ wurde aus den Trümmern der revolutionären Bewegung des französischen Mai 1968 geboren. Die Selbstauflösung der Situationistischen Internationale (SI) fand 1972 mit der Veröffentlichung ihres letzten Textes statt: „Die wirkliche Spaltung der Internationale“, unterzeichnet von Guy Debord und Gianfranco Sanguinetti. In diesem Text wurde festgestellt, dass die kritische Theorie der heutigen Gesellschaft auf zwei Säulen beruhen sollte: Umweltverschmutzung und Proletariat (Thesen 14 bis 19 dieses Textes). Auf diesen Pfeilern sollte die Gruppe aufbauen, die 1984 die Zeitschrift „EdN“ gründete.

Von 1974 bis 1984 vergingen zehn Jahre wütender linker Aktivismus, der sich in der Zeitschrift L’Assommoir [„Der Knüppel“ oder „Der Kopfzerbrecher“] und in einigen Flugblättern und Pamphleten niederschlug, die auf Spanisch unter dem Namen „Los Incontrolados“ oder „Trabajadores por la autonomía y la revolución social“ veröffentlicht wurden. 1984, mit der Gründung der Zeitschrift EdN, stellten die Enzyklopädisten in den ersten beiden Ausgaben des Magazins den Zusammenbruch der gesamten zuvor von der Gruppe entwickelten Politik fest. Die portugiesische „Revolution“ von 1974, die von Jaime Semprún als Ausweitung der Mai-Revolte auf ganz Europa und als Beginn der Weltrevolution der portugiesischen Arbeiterräte analysiert worden war, die in der Praxis nicht existierten; und das ähnliche Fiasko bei der anschließenden Analyse der Streiks während der spanischen Transition bestätigte 1984 die EdN-Gruppe in ihrer Gewissheit der endgültigen Niederlage der revolutionären Bewegung, die NUR mit der situationistischen Bewegung identifiziert wurde (da jede andere politische Strömung, ob marxistisch oder libertär, verachtet und als „links“ abgestempelt wurde, d.h. ignoriert und als dogmatisch, verdummt und überholt verachtet wurde). Genauso wie die revolutionäre politische Problematik auf den Situationismus reduziert wurde, außerhalb dessen es nichts und niemanden gab, wurde auch der geografische Bereich dessen, was es gab, auf Frankreich, Portugal, Spanien, Italien und Polen reduziert, da von einem internationalen Kampf außerhalb dieser fünf Länder weder die Rede war, noch sie sich wirklich dafür interessierten.

Die Enzyklopädie beschränkte sich also von Anfang an auf zwei Aspekte der revolutionären sozialen Bewegung: nur auf die situationistische Bewegung und nur auf die Iberische Halbinsel, Frankreich, Italien und Polen. (Erst sehr spät, im Jahr 2001, wurde ein neues Land hinzugefügt: Algerien). Dieser Reduktionismus, verstärkt durch den festen Glauben, dass die Enzyklopädie-Gruppe dazu bestimmt war, die kritische Theorie am Ende des Jahrtausends zu erneuern, ermöglichte eine eher überraschende Schlussfolgerung: Das Scheitern der revolutionären Bewegung war auf die ursprünglichen Fehler der SI zurückzuführen. Von dort aus war es nur noch ein Schritt bis zu der Überlegung, dass der Fehler in der theoretischen Konzeption der „Revolution“ in der SI selbst lag; und den machten sie in dem Artikel „Abregé“ [„Kompendium“], der in Ausgabe 15 der EdN veröffentlicht wurde.

In den Artikeln der EdN wurden der Vergangenheit der Kämpfe der alten Arbeiterbewegung neue Themen und kritische Konzepte hinzugefügt, die spezifisch für die neue Revolte waren, die spontan in der gegenwärtigen „Gesellschaft des Spektakels“ entstand: die situationistische Kritik der Arbeit, der Ware und des gesamten entfremdeten Lebens. Die EdN zog keine Lehren aus dem Scheitern des Mai ’68 und vor allem nicht aus der organisatorischen Ineffektivität der SI in den Jahren unmittelbar danach. Sie beschränkte sich darauf, das „Verschwinden“ der Arbeiterbewegung festzustellen, die es mal als zerschlagen oder besiegt und mal als in das kapitalistische System integriert betrachtete. Und sie griff auf politische Ersatzmythen zurück, wie die idyllische und idealistische Rückkehr zur Natur und die millenarische Ankündigung der großen ökologischen, technologischen und sozialen Katastrophe. Sie betrachtete resigniert die Geschichte der Revolutionen, ohne jemals zu verstehen, welche praktischen Aufgaben in den kommenden Revolutionen zu bewältigen sind. Die EdN war nicht entstanden, um nach dem Scheitern des Mai ’68 einen neuen Ausgangspunkt zu finden, sondern um jeden neuen revolutionären Versuch aufzupeitschen und so die alleinigen und exklusiven Eigentümer und Hüter der Gesellschaftskritik zu werden. Die Zeitschrift (und die Gruppe) entstanden 1984 (nach der Ermordung des Herausgebers Gérard Lebovici und einer heftigen Hetzkampagne der Presse gegen Guy Debord) in einem Klima einer gewissen Verfolgungsparanoia (die mehr oder weniger gerechtfertigt war, die sie aber überkam und endgültig kennzeichnete), was die Gruppe dazu veranlasste, jede revolutionäre Perspektive aufzugeben, da sie erkannte, dass ein historischer Wendepunkt bereits stattgefunden hatte, der jeden Versuch der Überwindung des Kapitalismus unmöglich machte. Die Gruppe ging nie so weit, sich für die bestehende Welt zu entschuldigen, noch verfiel sie (erst 1997) in eine rein passive Betrachtung der Katastrophe, die sie dennoch ständig beschwor. Die EdN mied den Gedanken an eine Revolution und bot keine andere Alternative als einen antiindustriellen und antitechnologischen Mythos, der ihnen die Unvermeidbarkeit der „großen“ Katastrophe ständig bestätigte.

Nach einer kurzen anfänglichen Phase der sporadischen Mitarbeit von Debord in der Zeitschrift EdN (er war offenbar die Inspiration oder der Hauptredakteur der Artikel „Abat-faim“ [„Verhungern“] und „Ab irato“), kam es ab 1987, nach einer erbitterten Polemik zwischen Jean-François Martos (der die Positionen von Guy Debord verteidigte) und Chistian Sebastiani (der die Positionen von Jaime Semprún vertrat) über die Besetzung der Sorbonne durch Lycée-Studenten im Dezember 1986 distanzierte sich Guy Debord zunächst von der EdN. Diese Distanzierung verwandelte sich in einen endgültigen Bruch, als die EdN den Einfluss von Günther Anders auf Guy Debord aufdeckte und übertrieb. Anders hatte 1956 Die Antiquiertheit des Menschen veröffentlicht, das nach Ansicht der Enzyklopädisten die von Debord in Die Gesellschaft des Spektakels entwickelten Thesen nicht nur um mehr als zehn Jahre weiterentwickelte, sondern sie auch besser und deutlicher formulierte. Nichtsdestotrotz gab Jaime Semprún 1988 eine sehr positive Bewertung des Verfolgungswahns von Debords Kommentaren zur Gesellschaft des Spektakels ab.

Der Begriff des „nuisance“ (Schädlichkeit oder schädliches Phänomen) wurde zum Zauberstab eines verwirrten Denkens, in dem der Kapitalismus aufhörte, eine Anhäufung von Produktionsmitteln zur Erzielung eines Profits zu sein, und stattdessen als eine unendliche Anhäufung von Mitteln zur Verschmutzung (Schädlichkeit) angesehen wurde. Die Daseinsberechtigung des kapitalistischen Produktionssystems besteht nun darin, schädliche Phänomene zu produzieren, so wie eine Fabrik Abgase produziert, und nicht mehr darin, ihren Besitzer durch die Produktion von Waren zu bereichern, die er auf dem Markt gewinnbringend verkaufen kann. Mit anderen Worten: Das Phänomen der Umweltverschmutzung war nicht länger ein marginales und unerwünschtes Produkt der kapitalistischen Produktion, über das man sich weder Gedanken machte noch Sorgen machte, solange es die Produktion von Mehrwert nicht behinderte, sondern wurde nach enzyklopädischem Denken zum grundlegenden und zerstörerischen Ziel des Kapitalismus, das bereits als Industrialismus charakterisiert wurde.

So wie das charakteristische Zeichen der SI das SPEKTAKEL gewesen war, war das Markenzeichen der EdN die SCHÄDLICHKEIT. 1972 waren Umweltverschmutzung und Proletariat die beiden Beine, auf die sich die sozialtheoretische Kritik stützte, die die EdN aus dem letzten von der SI veröffentlichten Text übernahm: „Die wirkliche Spaltung der Internationale“. Aber ohne das Proletariat, das die EdN bald als sozial tot betrachtete, war ihre Kritik lahm und stand nur auf dem Bein der schädlichen Phänomene. Und ohne revolutionäre Perspektive, da das Proletariat für die Enzyklopädisten nicht mehr existierte und sie bis heute keinen Ersatz dafür gefunden haben, um als revolutionäres Subjekt zu fungieren, widmete sich Semprúns Gruppe von 1984 bis 1992 den folgenden Aufgaben:

1. Ein Wörterbuch der schädlichen Phänomene zu erarbeiten, das keinen anderen Horizont hat als die unausweichliche Katastrophe des Planeten. Acht Jahre lang widmete sich die EdN ausschließlich dem Verfassen und Verkauf von Teilen einer Enzyklopädie, die nie über den Buchstaben A hinauskam. Die wütenden situationistischen Revolutionäre des Mai ’68 waren bereits in den Achtzigern zu Verkäufern von Teilen einer unvollständigen, monothematischen und unendlichen Enzyklopädie geworden!

2. Gegenjournalistische Kritik, wie sie bereits in der Zeitschrift L’Assommoir erprobt wurde, die durch eine eifrige Lektüre der Tagespresse alle schädlichen Phänomene unserer Welt aufzeigte, aufdeckte, sammelte und bis ins Unendliche vervielfältigte, die aus einem kränklichen und sich wiederholenden, aristokratischen und elitären Empfinden heraus als Beispiele für die Barbarei der Gesellschaft, in der wir leben, und als Ankündigung der bevorstehenden Katastrophe dargestellt wurden. Die monotone Wiederholung und Aufzählung schädlicher Phänomene wurde zu einer Art theoretischer Argumentation durch die Anhäufung von Beweisen für die Existenz der Schädlichkeit, die gleichzeitig die Ausarbeitung einer kritischen Theorie ersetzte, die sie in ihrer Gesamtheit erklären und umfassen würde. Sie beschränkten sich auf die Ausarbeitung einer Phänomenologie der Schädlichkeit.

3. Die vollständige und bewusste Trennung zwischen Theorie und Praxis machte deutlich, dass die EdN nicht in der Lage war, eine revolutionäre Perspektive einzunehmen, die die Gesamtheit der schädlichen Phänomene erfassen und verstehen konnte. Das Wesen der EdN verlagerte sich eindeutig auf seine literarische, philosophische und redaktionelle Verwirklichung als einen Selbstzweck und damit als ein von der wirklichen sozialen und historischen Bewegung der Arbeiterbewegung getrenntes Ziel, was sie bald dazu brachte, sich offen gegen diese Bewegung zu bestimmen. Das Fehlen einer echten historischen und politischen Perspektive machte jede kritische Position, die den Namen Theorie verdient, illusorisch.

*

Der EdN fehlt es tatsächlich an einem theoretischen Korpus, der diesen Namen verdient. Die Thesen, die sie vertritt, stammen aus dem marxistischen Denken (vor allem aus der reaktionären und universitären Version der Frankfurter Schule); oder sie wurden vom Situationismus übernommen (unter anderem das für die EdC grundlegende Konzept der Schädlichkeit); andere wurden von Hegels Idealismus beeinflusst (im Wesentlichen von den Hegelschen Konzepten des Endes der Geschichte und der absoluten Idee), und einige ihrer am weitesten verbreiteten Thesen übernehmen nicht nur Heideggers antitechnologisches, antiindustrielles und reaktionäres Denken, sondern führen es fort und aktualisieren es. Aber die Enzyklopädisten, eifrige Leser auf der Suche nach Autoritäten, auf die sie ihre Schwärmereien, Phobien und Fantasien stützen können, zögern nicht, Zitate und Argumente von den unterschiedlichsten und ideologisch gegensätzlichen Autoren zu übernehmen, die sie manchmal anerkennen und manchmal verstecken, wie Mumford, Noble, Rifkin, Adorno, Bernanos, Gorz, Traven, Anders, Marcuse, Horkheimer, Orwell, Zerzan und viele mehr.

Diesem „theoretischen Korpus“ aus vielen Quellen fehlt es an Originalität und an einer theoretischen Einheit, die ein so disparates Konglomerat aus so vielen verschiedenen Quellen zusammenführt. Es fehlt auch an einer konstanten theoretischen Wurzel, die den Test der Zeit bestehen würde, denn Jaime Semprúns beispiellose Entwicklung vom links-rätekommunistischen Aktivismus des Jahres 1974 zur reaktionären Passivität des Gärtners hat ihn zu einem bemerkenswerten und kapriziösen theoretischen wankelmütigen Menschen gemacht, der völlig wurzellos ist.

Grundlegende Begriffe wie Kapitalismus, Proletariat, Revolution oder kritische Theorie ändern ihre Bedeutung von Jahrzehnt zu Jahrzehnt völlig. Nur eines bleibt: das Fehlen einer historischen und politischen Perspektive. Seit 1984 bewegt sich die EdN in einer konstanten, ewigen und immerwährenden Gegenwart katastrophaler Missstände. Denn in Wirklichkeit hat die EdN kein anderes Ziel und keine andere Daseinsberechtigung mehr als die EdN als elitäre und aristokratische Gruppe, die den Alleinbesitz der kritischen Theorie unserer Zeit beansprucht. Die Ersetzung des marxistischen Konzepts des „Kapitalismus“ durch das ludditische Konzept der „Industriegesellschaft“ oder des „Industrialismus“ sowie die Leugnung des Proletariats als revolutionäres Subjekt hat dazu geführt, dass die Gruppe mit den reaktionärsten Ideologien übereinstimmt, die von bourgeoisen Intellektuellen (wie Rifkin) im Dienste des kapitalistischen Systems zu dessen Verteidigung und Legitimierung entwickelt wurden, was eine OBJEKTIVE Komplizenschaft mit ihnen und mit dem Kapitalismus impliziert, der die schädlichen Phänomene hervorbringt, die die EdN zu kritisieren und zu bekämpfen vorgibt.

1992 wurde die 15. und letzte Ausgabe der EdN veröffentlicht, und von da an wurde es zu einem Verlagshaus. Organisatorisch zerfiel die Gruppe in eine Reihe von individuellen Aktivitäten, fast ausschließlich theoretischer und literarischer Art, die mehr oder weniger durch eine bestimmte redaktionelle Linie vereint wurden. Unabomber, William Morris, Güntther Anders wurden übersetzt und Baudouin de Bodinat, René Riesel, Jean-Marc Mandosio und eine Reihe kollektiver Texte mit ludditischem Charakter, kritisch gegenüber der „Industriegesellschaft“, gegen die genetische Manipulation der Landwirtschaft, gegen die Technowissenschaft, zur Automatisierung, zum Lob des Primitivismus usw. wurden veröffentlicht.

Die wesentlichen theoretischen Früchte der EdN lassen sich HEUTE in dem Verschwinden des Proletariats und der Bourgeoisie zusammenfassen, die durch wissenschaftlich-technische Herrschaft und eine proletarisierte und ausgebeutete Natur ersetzt wurden. Die Gesellschaft des Spektakels (typisch für die SI) wurde wiederum durch eine Anhäufung von schädlichen Phänomenen ersetzt, die eine verdinglichte und dumme Menschheit in eine unausweichliche Katastrophe führen (garantiert durch die EdN).

Die wenigen Versuche, praktische Aktionen zu koordinieren, wie z. B. das „Bündnis für den Kampf gegen alle Schädlichkeit“ (1991-1995), endeten in einem völligen und unwirksamen Scheitern, was zu ihrer heutigen Passivität und ihrem theoretischen Delirium beigetragen hat. Zu Beginn ihrer Reise, im Jahr 1984, bekundete die EdN als Epigone und Erbe des situationistischen Denkens ihren Willen, das mythische Bild der SI zu bewahren, die versucht hatte, die Kritik an einem Neokapitalismus, der als „Konsumgesellschaft“ bezeichnet wurde, durch eine neue Praxis und ein neues revolutionäres Projekt wiederzubeleben. Doch 1992 geriet die EdN in die Sackgasse eines endlosen Lamentos über technologische Sklaverei. Die fruchtbare Wut gegen die Kolonisierung des Alltags durch den Kapitalismus, die für die SI von 1957 (dem Gründungsjahr der SI) typisch war, verwandelte sich in den ohnmächtigen sektiererischen Pessimismus und den traurigen apokalyptischen Fanatismus der EdN von 1997 (dem Jahr der Veröffentlichung von Im Abgrund).

Diese kritische Anämie des revolutionären Denkens in den 1980er und 1990er Jahren, von der neben der EdN auch andere Gruppen betroffen waren, wäre das Ergebnis einer fast vollständigen Abwesenheit radikaler sozialer Konflikte. Für die Pro-Situs1 der EdN starb die Revolution mit denen, die sie machen sollten, einem Proletariat, das vom Stalinismus und seiner Integration in das kapitalistische System sowohl verhöhnt als auch vernichtet wurde (auch wenn die stalinistischen Regime 1989-1991 fielen und die ökonomische Krise die integrativen Thesen der „Konsumgesellschaft“ der 1960er Jahre widerlegt hat). Das Proletariat, der Held von gestern, wird zum Schurken von heute, denn es verkörpert das Scheitern der revolutionären Hoffnungen der EdN. Aus diesem Grund wurde die EdN in den 1990er Jahren zu einer kleinen Gruppe, die in ihrem Denken bereits entschieden konservativ und reaktionär war, auch wenn ihre Sprache, ihr Anspruch und ihr Gegenstand behaupteten, das Produkt „DER EINZIGEN kritischen Theorie unserer Zeit“ zu sein. In Wirklichkeit trägt ihr theoretischer Beitrag, der irgendwo zwischen technologischer Theosophie und apokalyptischem Pessimismus angesiedelt ist, zum ideologischen Konfusionismus der Welt, in der wir leben, bei.

Die kritische Theorie der EdN kann HEUTE nur für diejenigen gültig sein, die sich bereits von der Perspektive der Revolution verabschiedet haben, die das Scheitern des französischen Mai ’68 in so vielen anderen Gruppen, die in den Jahren unmittelbar danach von der alten Arbeiterbewegung enttäuscht waren, präsent gemacht hatte. Die EdN ist zu einer lästigen linken Pustel am Arsch der Staatsbürger- und Anti-Globalisierungsbewegung geworden, mit der es auf dem Verlagsmarkt konkurriert.

Um nicht zu lange auszuholen und ein wertvolleres Papier zu sparen als die zu kritisierende Ideologie, werden wir unsere Kritik in kurzen nummerierten Abschnitten entwickeln, die die grundlegenden Schlüssel des enzyklopädischen Denkens zusammenfassen. Wir können nicht umhin, den Leser darauf hinzuweisen, dass der karikierende Aspekt der enzyklopädischen Thesen einzig und allein ihnen zuzuschreiben ist und dass wir uns sehr bemühen mussten, ihnen einen kohärenten Aspekt zu geben, der ihnen fehlt. Den Schlüsseln zum enzyklopädischen Denken sind einige Schlüssel zum situationistischen Denken vorausgegangen, in denen wir uns, ohne auch nur vorzugeben, eine Kritik des Situationismus zu skizzieren, darauf beschränken, diejenigen theoretischen Thesen hervorzuheben, die den größten Einfluss auf ihre enzyklopädischen Epigonen hatten.

Wir werden uns bei unserer Kritik auf Jaime Semprúns Buch L’Abîme se repeuple (1997)2 konzentrieren, denn es ist ein Buch, das gleichzeitig den ideologischen Höhepunkt seines Autors, des Anführers und der Achse der Enzyklopädie-Gruppe, darstellt; das Ende einer Phase, in der die krassesten Oppositionen, Widersprüche und Verleugnungen gegenüber dem, was in der rätekommunistischen-arbeiteristischen Periode von „Los Incontrolados“ und L’Assomoir (1974-1984) gesagt wurde, häufig sind; eine originelle Abrechnung mit seinem bewunderten und gefürchteten Meister Debord, der zwei Jahre vor der Veröffentlichung von „Im Abgrund“ starb; und vor allem, weil es die Sackgasse der STERILE-Ideologie der Enzyklopädisten perfekt zusammenfasst. Wir werden uns daher weder mit den medialen Kämpfen gegen die genetische Manipulation der Landwirtschaft durch den Exsituationisten René Riesel in Frankreich noch mit den lächerlichen Versuchen eines ideologischen Angriffs auf die libertäre Bewegung in Spanien beschäftigen. Wir werden nicht einmal die erstaunliche These von Jacques Philipponeau über die Rapsölvergiftung in Madrid kritisieren, die er auf Tomaten aus den Gewächshäusern von El Ejido zurückführt. Wir werden auch nicht auf die gaffende Begeisterung der EdN für Theodor Kaczynskis (alias „Unabomber“) Kritik an der „Industriegesellschaft“ eingehen. Wir werden uns nicht mit der mystischen Erleuchtung der Enzyklopädisten durch die Entdeckung von Anders befassen, dem illustren Vorgänger eines Philosophen der Frankfurter Schule, der sich jahrzehntelang der Vorhersage der bevorstehenden atomaren Hekatombe widmete; einem bekannten Pazifisten und radikalen Umweltschützer, der in seinen letzten Lebensmonaten zur Gewalt als einzigem realistischen Mittel gegen die Zerstörung des Planeten aufrief; und außerdem ein perfektes Alibi, um Debord zu ignorieren. Wir werden uns auf die Arbeit des wichtigsten Anführers und Ideologen der EdN, Jaime Semprún, konzentrieren, der letztendlich derjenige ist, der die Grundlinien der enzyklopädischen Philosophie festlegt, kanalisiert, ihr Glanz verleiht und bestimmt.

Zu sagen, dass das von Jaime Semprún vertretene „revolutionäre“ Programm nach dreißig Jahren harter Arbeit auf dem Gebiet der kritischen Theorie als Aufruf zum Anbau des eigenen Gartens zusammengefasst werden kann, um die drohende ökologische, technische und soziale Katastrophe der Welt, in der wir leben, zu überleben, mag als Übertreibung und unbegründete, entstellende und bösartige Kritik erscheinen. Aber es ist wirklich so lächerlich, grotesk und bizarr. Semprún bestätigt im September 2003 [Le fantôme], was er bereits 1999 [Remarques sur…] angedroht hatte: Er will uns alle in den Garten führen3. In Semprúns eigenen Worten: „Abschließend möchte ich sagen, dass ein gutes Gartenhandbuch […] zweifellos nützlicher wäre, um die herannahenden Katastrophen zu überwinden, als theoretische Schriften, die weiterhin unerschütterlich, als ob wir uns auf festem Boden befänden, über das Warum und Wie des Schiffbruchs der Industriegesellschaft spekulieren“ (Le fantôme de la théorie).

Der törichte Utopismus und apokalyptische Defätismus, den Semprún mit seinem Aufruf zur Kultivierung des Gartens (auch wenn es der Garten des Epikur war) vertritt, kann nur als reaktionäre und extravagante Possenreißerei bezeichnet werden. Wenige Dinge sind so traurig und bedauerlich wie die unlustigen Eskapaden von jemandem, der sich für ein Genie hält. Fast alle Proletarier (entschuldige, dass es mich gibt!) haben keinen Garten, es sei denn, du nennst ein paar Töpfe mit Geranien einen Garten; und auf der anderen Seite, wenn wir dem Faden von Sempruns argumentativer Dummheit folgen, fragen wir uns: Wie will Semprun das Gemüse und die Früchte seines Gartens gegen den Angriff der elenden Barbaren des Ghettos verteidigen? Wie wird er verhindern, dass die von der EdN angekündigte ökologische Katastrophe auch seinen Garten betrifft, und hat die EdN bereits die Gewehre und Kanonen, die sie braucht, um ihren Garten gegen den Angriff der elenden, hungernden Elendsgestalten der Menschen der Tiefe zu verteidigen?

2. SCHLÜSSEL für eine Kritik an Guy Debord und dem Situationismus.

Die Sekten der Willkür sind zahlreich und der vernünftige Mensch muss vor ihnen allen fliehen. Es gibt exotische Geschmäcker, die immer alles vermählen, was die Weisen ablehnen. Sie leben von jeder Extravaganz, und auch wenn sie dadurch bekannt werden, geschieht das mehr um des Lachens als um des Ansehens willen. Selbst als Weiser sollte der Besonnene nicht auffallen, schon gar nicht in jenen Berufen, die diejenigen, die sie ausüben, lächerlich machen“. Baltasar Gracián.

1. Das Spektakel ist für Debord die tyrannische Beherrschung der Gesellschaft durch die kapitalistische Ökonomie, die das Leben der Menschen nicht nur während des Produktionsprozesses, sondern in jedem Moment ihres Lebens beherrscht. Die Herrschaft der kapitalistischen Ökonomie erstreckt sich auch auf die Freizeit und alle menschlichen Beziehungen. Die kapitalistische Ökonomie kontrolliert und plant nicht nur die Arbeitszeiten, sondern auch die „freien“ Stunden der Freizeit und der Ablenkung. Der Mensch ist ein eindimensionales Wesen: derder Ökonomie. In dem, was in den 1960er Jahren irreführend und weithin als „Konsumgesellschaft“ bekannt wurde, ist die Herrschaft der Ökonomie in die Privatsphäre eines jeden Individuums, in die kleinsten Aspekte der eigenen Privatsphäre eingedrungen und konditioniert, so dass kein Raum für irgendetwas bleibt. Die Ökonomie erlangt eine eigene Autonomie. Die Enzyklopädisten werden diese Autonomie auch auf die Technologie übertragen.

2. Das Konzept des Spektakels ist untrennbar mit dem der Ausrichtung des Menschen im Kapitalismus verbunden. Das Spektakel ist Kapital in einem solchen Grad der Akkumulation, dass es nur in der Fantasie von Debord und den Situationisten in ein Bild verwandelt wird (These 34 von „Die Gesellschaft des Spektakels“), aber niemals auf dem Planeten Erde für den Rest der Sterblichen.

3. Das Proletariat hört auf, die SOZIALE KLASSE ohne Eigentum und Produktionsmittel zu sein, die gezwungen ist, ihre Arbeitskraft zu verkaufen (Marx), die mit einem Lohn bezahlt wird, und wird zu einem abstrakten soziologischen Etikett, das jedem aufgedrückt wird, der keine Entscheidungsgewalt über sein Leben hat (Debord), „und das weiß es“.

4. Das Kapital ist nicht länger eine SOZIALE BEZIEHUNG zwischen dem Proletariat, das seine Arbeitskraft verkaufen muss, um zu überleben, und den Kapitalisten, die Arbeitskraft kaufen müssen, um Mehrwert zu erzielen. Debord sieht die Ware nur noch in der Sphäre der Zirkulation. Das Konzept des Mehrwerts und der Verwertung des Kapitals ist verschwunden. Der Motor, der Kreislauf der Verwertung des Geldes G-W-G‘ und der Zweck des Kapitals sind verschwunden. Debord beschäftigt sich nur mit der Ware im Moment ihres Konsums, nie in der Produktionssphäre. Die dem Kapitalismus eigene Ausbeutungsform, die auf der Erzielung von Mehrwert beruht, ist verschwunden. Debord betrachtet nur die tote Arbeit (konstantes Kapital) und sagt nichts über die lebendige Arbeit (variables Kapital) oder über das Produktionsverhältnis, das das Kapital auf unglaublich effiziente Weise zwischen beiden herstellt. Situationisten und Enzyklopädisten ersetzen das Wort Ausbeutung durch Unterwerfung; sie sprechen lieber von der Unterwerfung der Lämmer als vom Aufstand der Arbeiter gegen die kapitalistische Ausbeutung.

5. Ohne die Konzepte des Proletariats als einer enteigneten Klasse, die gezwungen ist, ihre Arbeitskraft für einen Lohn zu verkaufen, und daher potenziell revolutionär ist, und des Kapitals als einer sozialen Beziehung zwischen antagonistischen sozialen Klassen, reduziert sich Debords Theorie auf eine idealistische Dialektik, die nur das, was (in Debords Vorstellung) „sein sollte“, dem gegenüberstellen kann, was tatsächlich ist (die reale, soziale und historische Aktivität des Proletariats). Genauso stehen Debords historische Ansätze (die Arbeiterräte) außerhalb der sozialen Realität seiner Zeit, um sich mit den Realitäten der Gesellschaft, in der er lebt, auseinanderzusetzen.
Daher die Enttäuschung der SI über das Proletariat, das die Situationisten bereits seit 1972 unter Verdacht gestellt hatten und dem ihre Pro-situs-Epigonen, die Enzyklopädisten, in den 1990er Jahren schließlich Brot, Salz und Existenz absprechen würden.

Sowohl die SI als auch die EdN ignorieren die Tatsache, dass das Proletariat eine historische Beziehung ist, die weder statisch, noch statistisch, noch stabil ist. Das Proletariat sind nicht nur die Arbeiter (oder Lohnempfänger), auch nicht nur diejenigen, die Reichtum für das Kapital und Elend für sich selbst produzieren; es ist vor allem das historische Verhältnis (dynamisch, instabil und sozial), das sich im Klassenkampf zwischen Kapital und Arbeiterklasse herausbildet und das erst mit der sozialen Revolution der Existenz sozialer Klassen ein Ende setzen wird.

6. Die Ideologie der SI gibt vor, nicht zu sein, weiß aber, dass sie es ist. Die Ideologie der SI tut so, als wäre sie die kritische Theorie ihrer Zeit, obwohl sie weiß, dass sie es nicht ist. Aber sie tut so, als wäre sie es, und deshalb bezeichnet sie alle anderen kritischen Theorien des Kapitalismus als „links“. Debords Kritik des Spektakels ist sowohl spektakulär als auch entfremdet. Und da ihr auch jede praktische Anwendung fehlt, wird sie zur bloßen Philosophie, die Debord schließlich zum bloßen Ausdruck der individuellen Meinung des „genialen Debord“ degradiert, die oft so interessant und vereinfachend ist wie die Wahrheiten von Pedro Grullo4.

1972 öffnete sich eine unüberwindbare Klassenkluft zwischen den Theorien und Illusionen dieser elitären und alkoholkranken Gruppe junger Nachtschwärmer, Abenteurer und Avantgardisten, die vom Ende des Arbeiteraufstands enttäuscht waren, und dem realen Alltag der Arbeiter, die den kapitalistischen Gesellschaftsverhältnissen unterworfen waren. Debord flüchtete sich in seinen Alkoholismus und seine Pedanterie. Die Auflösung der SI war der Beweis für sein Scheitern: Eine Gruppe betrunkener Egomanen, die nicht in der Lage waren, mit den Arbeitern in Kontakt zu treten, kehrte zu ihren Bohème-Geschichten zurück, nachdem sie das Ende des Kapitalismus ausgerufen hatte.

7. Der gescheiterte, aber „spektakulär“ erfolgreiche Versuch, in Die Gesellschaft des Spektakels eine kritische Theorie zu formulieren, hat sich in Den Kommentaren in eine Verfolgungsparanoia verwandelt, die in eine Theosophie vom Ende der Welt mit ihren enzyklopädischen Epigonen ausartet.

Debord macht keinen Unterschied zwischen Arbeit und Arbeitskraft. Marx übte Kritik an der politischen Ökonomie. Debord und die Situationisten propagieren eine anti-ökonomische und anti-industrielle Ideologie, die auf einem absoluten Missverständnis der grundlegenden ökonomischen Kategorien des Kapitalismus beruht: Arbeitskraft, konstantes und variables Kapital, Gebrauchs- und Tauschwert, Mehrwert, Kapital als soziales Verhältnis zwischen antagonistischen Klassen usw…
8. Der Kapitalismus kann in seiner historischen Notwendigkeit und seinen Merkmalen nur verstanden werden, wenn er unter dem Gesichtspunkt seiner Überwindung und Negation durch das revolutionäre Proletariat, im Kommunismus, analysiert wird. Das heißt, von einer Theorie aus, die in der Praxis ausgearbeitet und verwirklicht wird. Die Praxis einer revolutionären Klasse, die den Kapitalismus negiert und sich selbst mit der Zerstörung des Staates und der Unterdrückung aller Klassen negiert.

Debords Philosophie bedient sich eines marxistischen Jargons, der die grundlegenden Konzepte von Marx verfälscht. Er spricht abstrakt und idealistisch von nicht existierenden Arbeiterräten, ohne Bezug zu einer historischen oder sozialen Situation. Obwohl sie vorgibt, eine Theorie des Proletariats zu vertreten, ist die SI lediglich Ausdruck der Verzweiflung der Mittelklassen über den raschen und unausweichlichen Prozess ihrer Proletarisierung in der französischen Gesellschaft der 1950er und 1960er Jahre.

Debord schafft eine (nicht-proletarische) Leserschaft, die von der Intelligenz, Sensibilität und Kühnheit fasziniert ist, mit der er ein NEUES Problem, ein brennendes Thema der modernen Gesellschaft (in den Jahren 1957-1972) behandelt: die manipulative Macht der Medien, die falsch benannte „Konsumgesellschaft“, die vollständige Unterwerfung des Arbeiters unter das Kapital nicht nur während der Arbeitszeit, sondern auch in der Freizeit, der eindimensionale ökonomische Charakter des modernen Menschen und seine völlige Entfremdung. Seit 1972 hat Debord in „Die wahre Spaltung“ die Kritik an der Umweltverschmutzung und der Zerstörung der natürlichen Ressourcen, die die Zukunft der Menschheit gefährden, eröffnet, die die EdN von der nuklearen Bestrahlung bis zur genetischen Manipulation, den ökologischen Katastrophen usw. ausweiten wird.

10.- Aber genau hier, in diesem unersättlichen Wunsch, die spektakulären Neuerungen der modernen Welt zu analysieren, entsteht die theoretische Verfälschung der Realität durch die Situationisten, wenn sie versuchen, die von Marx im 19. Jahrhundert ausgearbeitete Analyse des Kapitalismus durch die theoretischen Neuerungen mit angeblich marxistischen Wurzeln zu ersetzen, die Debord in seiner Analyse des Kapitalismus des 20. Jahrhunderts in Die Gesellschaft des Spektakels schlecht assimiliert und angewendet hat. In den Fußstapfen ihrer situationistischen Meister haben die Enzyklopädisten einen großen Sprung ins Leere gemacht und den von Marx theoretisierten Prozess der Kapitalakkumulation durch eine Akkumulation der Schädlichkeit ersetzt, die die massive Verschlechterung und Vergiftung der Natur nicht der kapitalistischen Entwicklung zuschreibt, die allein durch das Streben nach maximalem Profit zu dieser abartigen, ungerechten und mutwilligen Zerstörung der natürlichen Ressourcen führt; sondern auf den industriellen Fortschritt und die Entwicklung, die als blinder Produktivismus betrachtet werden, dessen Endziel nicht mehr der kapitalistische Profit wäre, sondern die neuen wissenschaftlichen und technischen Anwendungen, die (wie die Ökonomie bei Debord) zu einem autonomen, unabhängigen und allmächtigen Wesen werden, das auch seinen eigenen Willen und sogar ein konkretes politisches Programm hat: die Zerstörung der Menschheit.

3. SCHLÜSSEL zu einer Kritik an Jaime Semprún und dem Abgrund.

Nicht zu einem Monster der Dummheit werden. Alle eitlen, anmaßenden, sturen, kapriziösen, eigensinnigen, exzentrischen, lächerlichen, possenhaften, romanhaften, paradoxen, wahnsinnigen und alle Arten von Menschen ohne Maß sind Monster der Dummheit. Alle sind Ungeheuer der Frechheit. Jede Monstrosität des Geistes ist entstellter als die des Körpers (…). Wo gutes Urteilsvermögen fehlt, ist kein Platz für Korrekturen: Was eine Warnung hätte sein sollen, weil es Gelächter hervorruft, wird unbegründet als eingebildeter Beifall interpretiert“. Baltasar Gracián.

11. Die Macht und der Glanz des Diskurses der „Encyclopedie des nuisances“ (EdN) ist nur die Rechtfertigung ihrer eigenen Ohnmacht, die soziale, ökonomische und politische Realität der Welt, in der wir leben, zu kennen und zu erklären. Nicht nur, dass es ihnen an intellektueller Genauigkeit mangelt, sie verherrlichen auch ihren Mangel an Expertise und Wissen. Ihr Diskurs zeichnet sich in der Regel durch einen brillanten und leeren literarischen Stil aus, mit detaillierten, aber oberflächlichen Analysen der potenziellen Trends aktueller sozialer und politischer Phänomene, obwohl diese Trends nicht nur ungerechtfertigt sind, sondern auch übertrieben, verzerrt und bis zur Karikatur vergrößert werden; und natürlich werden sie nicht mehr als potenzielle ZUKÜNFTIGE Trends betrachtet, sondern als AKTUELL wirkende. So wird z. B. der quantitative Rückgang des Industrieproletariats in den entwickelten Ländern in den Büchern, Faszikeln und Pamphleten der EdN in das Verschwinden des Proletariats umgewandelt. Der Rückgang wird zum Verschwinden, und das Industrieproletariat wird zum (gesamten) Proletariat (ohne das Wachstum des Proletariats im tertiären Sektor, die Prekarität oder die Verlagerung der Industrieproduktion in die Länder des peripheren Kapitalismus zu berücksichtigen). Sie erwähnen oder erklären nicht einmal die massiven Migrationsphänomene, die maquilas5 oder die allgemeine Prekarität, die eindeutig auf die Existenz eines umfassenden Weltproletariats hinweisen. Die brennende Neuartigkeit ihrer Thesen, die aus diesem Grund attraktiv und weitsichtig erscheinen mögen, ist das Ergebnis dieser riskanten und kaum rigorosen Extrapolation potenzieller Zukunftstendenzen auf die Gegenwart. Sie opfern theoretische Strenge für „spektakuläre“ Üppigkeit, Innovation und Pracht.

Ihr Stil ist gespickt mit verheerenden Beleidigungen (vor allem in seinem Compendio de recuperación), unverschämt persönlich und mit bissigen und wilden Disqualifikationen (Foucault wird willkürlich verunglimpft, nachdem Semprún ausdrücklich zugegeben hat, keines seiner Werke gelesen zu haben). Diese Disqualifikationen können, wenn sie innerhalb der Gruppe erfolgen, sogar zum Ausschluss wegen theoretischer Kleinigkeiten führen, die nur dazu dienen, die Unfähigkeit des enzyklopädischen Denkens zu rechtfertigen, die Realität zu kennen und zu verstehen. Der Ausschluss erfolgt in der Regel auf eine schändliche und grausame Weise, die einen ehemaligen Gefährten unnötig lächerlich macht. Dies sind die Folgeerscheinungen des situationistischen „Stils“.

Ein Stil, der auch eine eigentümliche Beziehung zu den potenziellen und masochistischen Lesern der EdN-Ausgaben impliziert. So wendet sich Jaime Semprún speziell in Im Abgrund in Wirklichkeit nur an den Rest der Enzyklopädisten (wir haben zu viele Finger an den Händen, um sie alle zu zählen), weil er überzeugt ist, dass das Buch in die Hände einiger ausgesprochen schwachsinniger Leser fallen wird, die er als solche misshandelt und verachtet. Daher der unerträgliche Ton messianischer Überlegenheit des Autors im ganzen Buch, der ständig einen komisch unerträglichen mystischen Dilettantismus verströmt.

12. Die realen Fakten werden der Idee nie gerecht. Wenn die Realität der Idee nicht gerecht wird, wird die Realität unterdrückt.

In der 15. und letzten Ausgabe der „EdN“ (1992) wurde beschlossen, sich auf die Suche nach Fakten zu begeben, damit sie die kritische (enzyklopädische) Theorie bestätigen und ihre Weiterentwicklung ermöglichen; und da sie sie nicht gefunden haben, haben sie 1997 (in Im Abgrund) beschlossen, darauf zu verzichten, die Welt, in der sie leben, zu kennen und endgültig auf Fakten zu verzichten. An die Stelle von Realität und Fakten treten die Mythen des Primitivismus, des Luddismus, die Kritik am Industrialismus, das Lob kleiner autarker Gemeinschaften und eine vage und verallgemeinerte Rückkehr zu Rousseau und dem guten Wilden.

Semprún scheint jedes Buch mit einer neuen Absage zu beginnen. In Compendio de recuperación verzichtet er darauf, Lösungen für reale soziale Probleme zu geben; in Im Abgrund verzichtet er darauf, die Welt zu kennen und die Funktionsweise der Gesellschaft zu verstehen. In El fantasma verzichtet er auf kritische Theorie und damit auf politische Intervention: Alles, was bleibt, ist die Pflege des Gartens.

Dieser Verzicht wird auch provokativ und als Eroberung dargestellt. Obwohl die Frage logisch und unmittelbar ist: Was ist ein politischer Essay, der darauf verzichtet, die Funktionsweise der Gesellschaft, in der wir leben, zu kennen, die Welt zu verstehen, die Gesellschaft zu verändern? Und die unbestreitbare und richtige Antwort lautet: Theologie. Eine Theologie, in der der Gott des Bösen (Satan) die wissenschaftliche und technologische HERRSCHAFT über die Menschheit ist, allgegenwärtig in der Welt, in der wir leben, allmächtig. Andererseits: Wenn der Anspruch, die Welt zu kennen und zu verstehen, aufgegeben wurde, wie kann es dann noch eine Aktivität geben, um sie zu verändern? Wenn wir die kritische Theorie aufgegeben haben, haben wir auch die politische Intervention aufgegeben. Und da das Proletariat nicht die Revolution gemacht hat (die die Gruppe 1974 in Portugal für die ganze Welt vorausgesagt hat), die es ihrer Meinung nach schon längst hätte machen sollen, wird beschlossen, es aufzulösen: DAS PROLETARIAT IST (als historisches Subjekt) VERSCHWUNDEN.

13. Im Abgrund bietet uns das Bild einer totalen und unumkehrbaren Unterwerfung, einer verdinglichten und idiotisierten Menschheit, einer Welt, in der die zunehmende Proletarisierung der Mittelklassen und der petite bourgeoisie, das Entstehen von Ghettos des Elends und der Barbarei in den Vorstädten, die Lumpenproletarisierung des Arbeiters in der kapitalistischen Peripherie sowie der quantitative und qualitative Niedergang der Arbeiterklasse in der kapitalistischen Peripherie Realität geworden sind, sowie der quantitative Rückgang und die qualitative Verschlechterung der Arbeitsbedingungen im industriellen Sektor, werden als Ende der Geschichte der alten Arbeiterbewegung durch den absoluten Sieg des Kapitalismus postuliert, der durch die bedingungslose Kapitulation des Gegners gewonnen hat. Der Untergang der Bourgeoisie und des Proletariats wird bestätigt und bescheinigt. Vergeblich wird der Leser nach der statistischen Studie oder der Bibliographie suchen, die es den Enzyklopädisten ermöglicht hat, zu theoretischen Aussagen von solchem Kaliber zu gelangen: nicht mehr und nicht weniger als das Ende der Bourgeoisie und das Ende des Proletariats. Nur in Texten von Ideologen, die das kapitalistische System verteidigen, wie Jeremy Rifkin, finden wir Erklärungen, Statistiken und Argumentationen, die sich mit der von der EoN verteidigten These vom Ende des Proletariats decken.

Die Enzyklopädie, die, das sollten wir nicht vergessen, als Avantgarde der kritischen Theorie unserer Zeit gilt, schließt sich den Thesen von André Gorz, Jürgen Habermas und Herbert Marcuse (u.a.) an, ohne sich direkt dazu zu bekennen, sondern nimmt sie als ihre eigene Entdeckung an. Die Analyse einer konformistischen Massengesellschaft, in der die Entdeckungen der Wissenschaft und der technologische Fortschritt sowohl der Inbegriff des wissenschaftlichen Rationalismus sind als auch das Mittel, um eine totale Unterwerfung des Denkens und Verhaltens des Individuums in der kapitalistischen Gesellschaft zu erreichen, findet sich bereits bei Marcuse (um nur einen Autor zu nennen, der in den sechziger Jahren populär wurde). Die Arbeit der EdN besteht darin, diese Thesen auf die Spitze zu treiben und sie bis zum Paroxysmus zu übertreiben.

Was bei diesen Autoren potenzielle Tendenzen für die Zukunft waren, nimmt die Enzyklopädie als eine Tatsache der Vergangenheit an (die bereits in den 1990er Jahren eingetreten ist), die zudem unumkehrbar ist. Die kritische Theorie der Frankfurter Schule (FS) wird in der Enzyklopädie zur lächerlichen Karikatur einer Theorie des nahen Endes der Arbeit, des Endes der Bourgeoisie, des Endes des Proletariats und des Beginns einer allmächtigen Herrschaft durch eine dämonisierte Technologie, die eine verdinglichte Menschheit tyrannisiert. Es ist eine millenarische Prophezeiung vom Ende der Welt. Die EdN ist über die kritische Theorie der FS hinausgegangen und hat die Höhen der Theosophie und Apokalypse erreicht.

Einer der wichtigsten Schlüssel zum Verständnis der Abweichungen des enzyklopädischen Denkens ist der PARALLEL- UND GLEICHZEITIGE PROZESS DER PERSONIFIZIERUNG DER TECHNOLOGIE UND DER VERDINGLICHUNG DER MENSCHHEIT.

14. Semprún bleibt nach der Theosophie, die er in Im Abgrund entwickelt hat, nichts anderes übrig als Literatur, die Kultivierung der brillanten Phrase und der groben Beleidigung, weil er auf diesem Weg jeden Berührungspunkt mit der Realität oder dem Wissen verloren hat. Im Solipsismus der Spilttergruppen, die als Erweiterung des Ichs betrachtet werden, ist keine Objektivität möglich; alles, was bleibt, ist die Lyrik, d.h. der literarische Essay als lyrischer Ausdruck der eigenen Subjektivität. Doch die Beleidigung, die in der SI als gnadenlose Kritik an den Wortführern der bestehenden Gesellschaft, die sie bekämpfen und verändern wollten, ihre eigene Kraft hatte, entbehrt bei den Enzyklopädisten jeglicher Originalität und Kraft und wird in ein plumpes, sich wiederholendes, banales und vulgäres Mittel verwandelt, das die fehlenden Argumente ersetzt. So beschränkt sich zum Beispiel die enzyklopädische Widerlegung der marxistischen Theorie zu allen Zeiten und zu allen Themen auf eine abgedroschene Widerlegung: „wie ein marxistischer Idiot sagen würde“, was ihnen eine strenge und etwas mühsamere Argumentation erspart als eine unangebrachte Beleidigung. Libertäre und Linke aller Couleur mögen ausgefeiltere und subtilere Beleidigungen verdient haben, aber niemals weniger unhöflich und nutzlos.

Andererseits sind wir Zeugen einer Vermischung der Genres, die die Unterordnung der kritischen Theorie unter die anspruchsvollen literarischen Bestrebungen ihres Autors erfordert, der heute wiederum den redaktionellen Interessen der EdN unterworfen ist. Ein Beispiel für diese Unterordnung der kritischen Theorie unter die Brillanz des Satzes findet sich in Im Abgrund, wo Semprún nicht zögert, uns zwei widersprüchliche Endungen zu geben (die Katastrophe ist sowohl eine Tatsache, die geschehen wird, als auch eine, die bereits geschehen ist), weil er sich nicht in der Lage fühlt, die literarische Schönheit eines der beiden Bilder (die vergebliche Hoffnung auf eine zukünftige befreiende Katastrophe und das bereits eingestürzte Haus), mit denen er sein Buch schließt, jenseits des Respekts für ein Minimum an Strenge und Kohärenz abzulehnen, wenn er die Katastrophe sowohl in der Vergangenheit als auch in der Zukunft ansiedelt. Es ist sogar möglich, dass Semprún jeden, der zwischen Vergangenheit und Zukunft unterscheidet, für einen Narren hält und sich weigert, sie als verschiedene Momente einer Gegenwart zu betrachten, die von den Enzyklopädisten als immerwährender zeitlicher Prozess verstanden wird.

15.- Die EdN identifiziert nicht nur Kapitalismus und Technologie falsch, sondern unterstellt auch den Kapitalismus der Technologie und spricht deshalb von Industriegesellschaft statt von Kapitalismus. Auch die marxistischen Konzepte der „Produktivkräfte“ und „Produktionsverhältnisse“ sind verschwunden. Das Ergebnis ist nichts anderes als die Verteufelung der Technik als Protagonistin einer tyrannischen Herrschaft über die Natur und Quelle absoluter Macht über die Menschheit.

Wann, zu welchem Zeitpunkt, in welchem Jahr, fand diese unglaubliche Verwandlung des Kapitalismus in den Industrialismus statt? Das ist eine unmögliche Antwort, denn ein solcher Schritt hat in der sozialen und historischen Wirklichkeit nie stattgefunden; er ist nur eine gedankliche Entelechie der Enzyklopädisten.

Die EdN stellt auch eine MORALISCHE Debatte über die Akzeptanz oder Ablehnung von Technologie auf, die in die Sackgasse einer sterilen und abstrakten philosophischen Debatte zwischen Befürwortern und Gegnern des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts führt. Die enzyklopädische Extravaganz wirft kindische Phobien und Fragen über die Verwendung der Antibabypille, Ultraschalluntersuchungen, Fruchtwasseranalysen oder den Einsatz von Epiduralen bei der Geburt auf; das Reisen mit dem Flugzeug, dem Hochgeschwindigkeitszug oder der Autobahn; der Handys, Mikrowellen oder Plastikflaschen zu benutzen; mit der Kreditkarte zu bezahlen, auf Reisen zu gehen, ins Kino zu gehen, Musik auf dem Plattenspieler zu hören, Radio zu hören oder fernzusehen; am Computer zu lesen, E-Mails zu versenden oder Texte im Internet zu veröffentlichen (weil sie unter anderem die Ausgaben der EdN gefährden können! ), und ein sehr langes und bizarres Weiteres. Wir bezweifeln, dass sie die Verwendung von Zangen, die Zahlung von Renten, die elektrische Glühbirne, die Zeugung von Kindern oder das Fahrradfahren in Frage stellen, obwohl es bisher so aussieht, als ob sie die Verwendung des Feuersteins, der Gabel oder des von Ochsen gezogenen Pfluges noch nicht abgelehnt haben. Einen Kompass benutzen sie jedenfalls nicht, denn sie haben sich eindeutig verirrt.

Technik und Schädlichkeit stehen in einem besonderen Verhältnis zueinander. Hinter jedem schädlichen Phänomen versteckt sich eine technische Entfremdung, und am Ende jedes wissenschaftlichen Fortschritts oder jeder technologischen Anwendung steht ein schädliches Phänomen. Es ist ein Teufelskreis, in dem die Technikwissenschaft der Fisch ist, der sich in den Schwanz der Umweltverschmutzung beißt. Schädlichkeit hat bei EdN eine Bedeutung, die sich bis ins Unendliche erstreckt und alles umfasst, von den irreversiblen Veränderungen, die durch die Technik in der Natur hervorgerufen werden, bis hin zum menschlichen Bewusstsein und Selbstbewusstsein und seinem Wissen um eine verfälschte Realität. Produktivkräfte, Staat und Gesellschaft sind selbst schädliche Phänomene, denn die gesellschaftliche Produktion schädlicher Phänomene ist selbst eine Schädlichkeit. Es ist ein höllischer Kreislauf, in dem die Menschheit, das Opfer aller Schädlichkeit, ihre eigene Entfremdung als menschliches Wesen erleidet, getrennt und fremd gegenüber der Natur und sich selbst.

Der Klassenkampf weicht bei den Enzyklopädisten einem (heute verlorenen) Kampf der Menschheit um das Leben und das Überleben der Art. Bei der EdN gibt es keine Proletarier oder Bourgeoisie mehr; es gibt nur noch „Lebewesen“, die ums Überleben kämpfen und in eine Katastrophe stürzen, die ohnehin schon unumkehrbar und unvermeidlich ist.

Der Klassenkampf ist verschwunden, was übrig geblieben ist ist, ist die taoistische Passivität. Welche Philosophie wäre für seine Interessen günstiger und welche „besseren“ Revolutionäre als die Enzyklopädisten könnte sich der Kapitalismus für das 21. Jahrhundert wünschen? Was sind das für Revolutionäre, die die bedingungslose Niederlage der Revolution verkünden, bevor die Schlacht überhaupt begonnen hat?

16. Da das Wissen unterdrückt wird, das Proletariat unterdrückt wird, die Realität unterdrückt wird, bleiben uns nur noch die absolute Gottesidee (die die Enzyklopädisten in der Technikwissenschaft verorten) und die Literatur (oder/und die Philosophie). Nicht umsonst gibt es in der enzyklopädischen Splittergruppe ständige Anspielungen auf Hegel, weshalb in Im Abgrund die Referenzen immer literarisch sind: Jack London und George Orwell. Orwell wird als Prophet getarnt, der den heutigen Totalitarismus der Technowissenschaft ankündigt. Doch Jaime Semprún entnimmt den Titel seines Essays El abismo se repuebla aus Londons Buch Die eiserne Ferse (The Iron Heel). Aber er scheint ein anderes Buch von London zu ignorieren: Menschen der Tiefe (People of the Abyss), und vor allem weiß er nicht, und es interessiert ihn sicher auch nicht, dass der Titel des letztgenannten Buches von einer persönlichen Untersuchung Londons inspiriert wurde, einer Art Reportage über die Slums von London im Jahr 1903, in der er die realen Existenzbedingungen des Londoner Proletariats anprangerte. Londons Schlussfolgerung in diesem Buch ist ebenso enttäuschend wie die von Semprún 1997. London vergleicht das englische und das amerikanische Proletariat und kommt zu dem Schluss, dass die mangelhafte Ernährung des englischen Proletariats einen armen Arbeiter und ein rückständiges Land hervorbringt, während das amerikanische Proletariat besser ernährt wird und deshalb ein besserer Arbeiter ist, was zu einer höheren Produktivität der amerikanischen Wirtschaft führt. London verkündet bereits den Fordismus.

Semprún leiht sich von London das Konzept der Menschen der Tiefe, das nichts anderes ist als das eines Lumpenproletariats, das im London des Jahres 1903 vom Elend, der allgemeinen Arbeitslosigkeit und der Prekarität der Arbeit unterjocht, gedemütigt und erniedrigt wird, um 1997 das Gegenteil von London zu etablieren: das Ende des Proletariats.

Der lange Weg, den die EdN zurückgelegt hat, führt uns vom Arbeiter- und Räteaktivismus der extremen Linken (die in der „Revolution“ der Militärs in Portugal und in den Arbeiterstreiks der spanischen Transition den Beginn der Weltrevolution sah) zum Abgrund des Verschwindens des Proletariats und damit der Revolution; und von dort zum unumkehrbaren Triumph der Technowissenschaft und der Unterwerfung der Menschheit, die unaufhaltsam auf die semprunische Apokalypse zusteuert.

Was sollen wir tun? Welche Lösung schlägt Semprún vor? Nun, diejenige, die uns schließlich zum glücklichen und vielversprechenden Anbau des Gemüsegartens führt. Wir können das enzyklopädische Denken zweifelsohne als reaktionär und demobilisierend bezeichnen, als Ergänzung und linker Komplize der besten Verfechter und Verteidiger des Einheitsdenkens, das vom wilden Liberalismus und der Ultra-Rechten vertreten wird. Nicht umsonst haben Rifkin und Semprún Mitte der 1990er Jahre gemeinsam das Ende des Proletariats lautstark verkündet.

Die Enzyklopädisten haben eine ideologische Entwicklung durchlaufen, die sie vom Situationismus zu einem reaktionären Denken geführt hat, das die kleinen ländlichen Gemeinschaften von Handwerkern, Bauern und vorindustriellen Arbeitern verherrlicht, den technologischen und wissenschaftlichen Fortschritt verteufelt, den auf seine gute Arbeit stolzen Handwerker heiligt und ein rückschrittliches und elitäres Verhältnis zur Natur vorschlägt.

17. Der Abgrund zwischen der Ideologie der EdN und der sozialen und historischen Realität.

Das Proletariat bleibt während der langen konterrevolutionären Perioden passiv und ist soziologisch null und nichtig; nur in den Klassenkämpfen und während der kurzen revolutionären Perioden erscheint das Proletariat als das revolutionäre Subjekt, das die Welt verändern kann. Denn Revolutionen werden weder von Avantgarden noch von revolutionären Minderheiten, geschweige denn von literarischen oder enzyklopädischen Zönakeln gemacht, sondern vom anonymen, massenhaften Proletariat, das ungebildet, untätig und in Zeiten des sozialen Friedens annulliert ist. Und warum? Weil das Proletariat nicht „der oberste Retter“ ist, sondern eine historische Beziehung. Das Proletariat leugnet den Kapitalismus und macht sich daran, ihn in dem Moment zu zerstören, in dem es sich als Klasse zusammenschließt und organisiert, nicht um die herrschende Klasse zu werden, wie es die Bourgeoisie in der Vergangenheit tat, sondern um die Klassengesellschaft zu zerstören. Außerhalb von revolutionären Epochen ist das Proletariat nichts (Marx). Es ist diese historische Beziehung zwischen zwei antagonistischen Klassen, die den revolutionären Charakter des Proletariats bestimmt, und nicht die vermeintliche Erlösungs- und Heilsmission, die Jaime Semprún ihm in den 1970er Jahren in Los Incontrolados und L’Assommoir wie einem Christus des 20. Jahrhunderts zuschrieb. In den neunziger Jahren hörten Jaime und die EdN auf, an den Retter und Erlöser zu glauben, in dem sie das Proletariat vergöttert hatten, und wurden zu einer Sekte, die das Ende der Welt und der Menschheit durch den neuen Gott der Technowissenschaft vorhersagt. Theologisches Denken (das der EdN eigen ist) kann solche Sprünge von der Anbetung eines Christus-Proletariats zur Unterwerfung unter eine Satan-Techno-Wissenschaft machen und tut dies auch oft, weil seine idealistische Grundlage lediglich einen deus ex machina durch einen anderen ersetzt, ohne dass sich der Rest seiner philosophischen Vorstellungen auch nur ein Jota ändert.

Das Proletariat als revolutionäre Klasse hat KEINE Teilziele, die das Endziel verschleiern würden: den Kampf für das Ende des Kapitalismus und seine Abschaffung als eigenständige Klasse. Die proletarische Revolution kann nur total sein und alle Aspekte der gegenwärtigen Ausbeutungsgesellschaft zerstören und entsteht aus dem Konflikt zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und den gegenwärtigen gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen, die diesen Produktivkräften nicht mehr entsprechen.

18. In Im Abgrund ist jede revolutionäre Perspektive verschwunden. Alles, was bleibt, ist das Ende der Welt. Und natürlich eine idyllische Vergangenheit, die es nie gab: die der Bauern, der kleinen autarken ländlichen Gemeinschaften und der vorindustriellen Handwerker.

Semprúns Diskurs wird zu einer apokalyptischen, fortschrittsfeindlichen und antitechnologischen Reflexion, die an Hegels Idealismus und die traditionelle Strömung des reaktionären antitechnologischen Denkens des Nazis Heidegger (ein Lehrer der prominentesten Mitglieder der Frankfurter Schule) erinnert. Die Bezüge und die enzyklopädische Schuld am Defätismus und theoretischen Pessimismus, die These von der Integration des Proletariats in das kapitalistische System, die Fixierung eines „Endes der Geschichte“ in einem konkreten Ereignis der Vergangenheit (Auschwitz) und die abwegigsten Analysen der Frankfurter Schule (FS) sind konstant: Adorno, Horkheimer, Arendt, Marcuse und so weiter; sowie die späte Entdeckung von Günther Anders (der mit Hannah Arendt verheiratet war, die ihrerseits Heideggers Geliebte gewesen war).

Trotz einiger marginaler kritischer Verdienste ließ sich die FS auf den Lehrstühlen der Universitäten nieder und distanzierte sich, eingebettet in ihre große Kultur, von jeglicher Praxis, bis sie zu einem Strauß pedantischer „marxistischer“ Theoretiker und Akademiker wurde.

Horkheimer und Adorno, die versucht hatten, unter dem Deckmantel des Markennamens „Kritische Theorie“ ihre reaktionären Abwege zu legitimieren, beschleunigten in ihren Werken nach dem Zweiten Weltkrieg, in denen sie die historische Existenz einer antileninistischen oder antiautoritären Linken leugneten und in denen Marx aufhörte, ein Revolutionär zu sein und nur noch ein Soziologe oder Philosoph wurde, zu einem hervorragenden Präzedenzfall, der von der EdN nachgeahmt und zitiert werden konnte.

Neben diesen reaktionären Spuren einer vermeintlich kritischen Theorie nahm die FS eine aristokratische Kritik der Massengesellschaft vorweg, die die EdN mit dem Konzept des Menschen der Tiefe und der Kultivierung des Gartens zu ihren letzten Konsequenzen geführt hat.

In der elften These über Feuerbach (von Marx 1845 verfasst) wurde bereits festgestellt, dass sich die Philosophen darauf beschränkt hatten, die Welt zu interpretieren, und dass es von nun an auch darum ging, sie zu verändern. Der Marxismus versuchte, Theorie und Praxis zu einem untrennbaren Ganzen zu verbinden. Revolutionäre Theorie und revolutionäre Aktion konnten nicht getrennt voneinander gedacht werden. Marx war ein Revolutionär, der eine Kritik an der bourgeoisen politischen Ökonomie seiner Zeit übte. Er war nicht nur ein Philosoph oder Theoretiker, sondern vor allem ein Revolutionär, der dafür kämpfte, die Welt aus der Perspektive der Arbeiterklasse, d. h. aus den historischen und Klasseninteressen des Proletariats, zu verändern. Der Marxismus war die revolutionäre Theorie, die im Proletariat das revolutionäre Subjekt sieht, das in der Lage ist, den Kapitalismus zu begraben, den Staat zu zerstören und eine menschliche Weltgemeinschaft ohne soziale Klassen, ohne Grenzen, ohne Armeen und Polizei und ohne Staaten aufzubauen.

Die FS lehnte den Begriff „Marxismus“ ab und erfand einen neuen Begriff, um ihre Tätigkeit zu definieren, nämlich „kritische Theorie“. Die FS vertrat eine hegelianische Lesart des Marxismus, zu der sie, wenn es ihr passte, andere soziale oder philosophische Theorien hinzufügte, wie z. B. den Freudianismus, die Untersuchung der Massenkultur durch die amerikanische Soziologie und so weiter. Die FS ist nicht marxistisch, obwohl sie sich ausgiebig auf marxistische Theorien beruft und stützt. Die prominentesten Theoretiker der FS haben eine Trennung zwischen Theorie und Praxis vorgenommen, die es im Marxismus nicht gibt. Andererseits war das Proletariat (das bereits in den 1930er Jahren besiegt worden war) nach Ansicht der FS (in den 1960er Jahren) nicht mehr das geeignete revolutionäre Subjekt für eine Konsumgesellschaft, die die Integration der Arbeiterbewegung in das kapitalistische System erreicht hatte. In dieser Trennung zwischen Theorie und Praxis, die die FS betrieb, wurde die theoretische Tätigkeit (die von Universitätsprofessoren ausgeübt wurde, die von jeder sozialen Bewegung isoliert waren) völlig von jeder praktischen oder revolutionären Tätigkeit abgekoppelt. So wurde die „kritische Theorie“ zur einzigen „revolutionären“ Aktivität, die von den prominentesten Mitgliedern der FS bequem von einem Universitätslehrstuhl oder einem Verlagshaus aus betrieben wurde. Das Proletariat als revolutionäres Subjekt war nicht mehr nötig, denn wenn es anerkannt würde, wäre es nur ein lästiger Konkurrent des Professors und/oder des Essayisten, der den Umsatz in den Buchhandlungen schmälern würde.

Die EdN schöpft aus diesen rückwärtsgewandten Quellen der FS, um alles zu seinen letzten Konsequenzen zu führen, wie abwegig und lächerlich sie auch sein mögen. Semprún zögert nicht, aus diesem illustren Erbe der FS bewusst die Sensibilität und das reaktionäre Denken für sich und die Enzyklopädisten in Anspruch zu nehmen, soweit sie mit der Verteidigung seiner ökologischen Thesen übereinstimmen, wenn er in Dialogues sur l’achèvement des temps modernes (1993) feststellt: „Heute könnten die konsequenten Reaktionäre, wenn es sie gäbe, nur noch als Revolutionäre auftreten“ [Seite 34]. Was sind das für Zeiten, in denen sich „konsequente Reaktionäre“, wie sich die Enzyklopädisten selbst definieren, für Revolutionäre halten! Was sind das für Zeiten, in denen man für die offensichtlichsten Dinge kämpfen muss! Was sind das für Zeiten, in denen sogar diejenigen, die die Existenz des Proletariats leugnen, als Revolutionäre bezeichnet werden!

In der EdN ist das Proletariat, nachdem es viele Jahre unter Verdacht stand, bereits seit Mitte der neunziger Jahre völlig verschwunden. Die EdN, die immer erklärt hat, dass sie weder marxistisch noch libertär ist, hat zu Beginn des Jahrtausends vorgegeben, die „kritische Theorie“ (die sie von den Situationisten und der FS geerbt hat) zu ihrem privaten und exklusiven Eigentum zu machen. Sie haben nicht nur das Ende des Proletariats und des Marxismus dekretiert, nicht nur das Ende des Anarchismus und der Arbeiterbewegung festgestellt, sondern auch die Schlüssel zur „kritischen Theorie“ unserer Epoche an sich gerissen, um sie von 1984 bis 1992 in bequemen Raten einer Enzyklopädie, die nie über den Buchstaben A hinausging, und von 1992 bis heute in eleganten Pamphleten und Broschüren zu verkaufen. Aber wozu will die EdN dieses Monopol? Nun, um die Niederlage jeder revolutionären Praxis zu verkünden und den endgültigen und ewigen Triumph der siegreichen „industrialistischen“ (kapitalistischen) Katastrophe zu besingen und zu preisen. Sie sind nicht nur defätistisch, verwirrend und demobilisierend, was sie sind, sondern sie nehmen die UNBEDINGTE Niederlage jedes Versuchs einer revolutionären Opposition vorweg und bescheinigen sie. Es gibt keine revolutionäre Zukunft, weil es keine Zukunft gibt.

Die EdN hat die Seile durchgeschnitten, die Odysseus an den Mast seines Schiffes banden, und das Wachs in den Ohren der Ruderer geschmolzen. Sie hat es geschafft, dass Odysseus‘ Boot auf die Riffe auflief, wo sie von erhabenen Gesängen, begleitet von melodiöser Musik, mitgerissen wurden. Dem tödlichen Gesang der Sirenen, die von der EdN angeheuert wurden, um die Seeleute in das MeeresABGRUND zu stürzen, müssen wir unseren eigenen Gesang entgegensetzen, so wie Orpheus es tat, um die Argonauten aus den Gefahren des Schiffbruchs zu befreien.

Zu glauben, dass das Proletariat und die Lohnarbeit verschwunden sind oder sich auf dem Weg zum Aussterben befinden, während das kapitalistische System (das auf der Abschöpfung des Mehrwerts aus der Lohnarbeit beruht) weiterbesteht, ergibt keinen Sinn. Die Unfähigkeit der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, für Vollbeschäftigung und menschenwürdige Lebensbedingungen zu sorgen, sowie die Unmöglichkeit, die Solidaritätspolitik des so genannten Wohlfahrtsstaates aufrechtzuerhalten, als das Ende der Arbeit und des Proletariats zu bezeichnen, ist mehr als ein Fehler, es ist ein Alibi für das kapitalistische System. Denn wir haben es nicht mit dem Ende der Arbeit und des Proletariats zu tun, sondern mit einer Krise der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die den Reproduktionsprozess der Arbeitskräfte nicht mehr gewährleisten. Die Entstehung einer riesigen industriellen Reservearmee mit globalem Charakter aufgrund der unzureichenden Absorption der Arbeitskraft im Produktionsprozess führt zu dem Phänomen des arbeitslosen Wachstums, einem weiteren Symptom der Verschärfung der weltweiten Krise des Kapitalismus.

Die Enzyklopädisten verstehen nicht, dass das Verhältnis des Menschen zur Natur gleichzeitig ein Verhältnis zwischen den Menschen ist, das durch die kapitalistischen gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse bestimmt wird. Denn was kommt, ist nicht DIE GROSSE Katastrophe der Menschheit, die die EdN ankündigt, sondern die Katastrophe des Kapitalismus. Und es gibt keinen anderen Orpheus als das revolutionäre Proletariat, das als einziges in der Lage ist, den Kapitalismus zu begraben und die ökologische Katastrophe zu verhindern.

19. Als problematische Erben der SI präsentieren sich die Enzyklopädisten als Avantgarde der kritischen Gesellschaftstheorie, obwohl sie die Rhetorik ihrer Fäulnis sind. Sie haben die Revolution in den Dienst von Lyrik und Theologie gestellt, und diese Lyrik und Theologie sind heute bereits den redaktionellen Interessen erlegen. Wann wird eine Abhandlung über Gartenarbeit, ein Wörterbuch der Neologismen oder ein Roman über das Ende der Welt veröffentlicht?

Im Abgrund ist auch eine endgültige Abrechnung mit dem Furcht errgenden und gefürchteten Meister Debord in der enzyklopädischen, subtilen und kleinlichen Art, die darin besteht, ihn an keiner Stelle zu zitieren, sein Werk zu ignorieren, als hätte es nie existiert. Semprúns stets konfliktreiche Beziehung zu Debord wird in seinen Briefen an Debord und an den Verleger Lebovici aus dem Jahr 1977 deutlich, als dieser sich weigerte, ein kurzes Pamphlet von Semprún über die spanische Revolution zu veröffentlichen. Der Bruch, der 1986 nach Debords anfänglicher Zusammenarbeit mit der Zeitschrift Encyclopédie in den Jahren 1984-86 und Semprúns anschließender Bewunderung und etwas ungesundem Lob für Debords Kommentare begann, endete nach einer langen Entfremdung mit Semprúns völliger Ignoranz gegenüber Debords Werk, nur zwei Jahre nach Debords Tod, ersetzt durch den neuen Anders-Kult.

Von dem für den Situationismus typischen Wunsch, „das Leben zu verändern“, sind seine EdN-Epigonen zu dem alleinigen Wunsch übergegangen, als Elite zu überleben. Von dem für den Situationismus charakteristischen Willen und Kampf für einen universellen sozialen Wandel, die Revolution, sind sie zur Ankündigung des Weltuntergangs übergegangen, der für die EdN charakteristisch ist: der Abgrund. Der Abgrund ist ein Ismus6, der nicht einmal ein theoretischer oder philosophischer Ismus ist, er ist nichts weiter als ein infamer Defätismus, der Revolutionäre dazu auffordert, alles aufzugeben und sich der Pflege des Obstgartens und des Gartens zu widmen.

Die EdN pflegt ein aristokratisches und elitäres Verständnis der Splittergruppen, das jeden Emporkömmling als verachtenswerten Pro-Situ ablehnt und ihre Reihen gegen jede Art von Proselytismus verschließt, während sie es zu genießen scheint, jeden, der auch nur in der kleinsten theoretischen, ethischen oder lebenswichtigen Kleinigkeit abweicht, zu vernichten und zu entehren. Gepaart mit ihren reaktionären Vorstellungen von der Beziehung des Menschen zur Technik und zur Natur, die nicht als soziale Produktionsbeziehungen, sondern als Herrschaft einer vergötterten und/oder verteufelten Technik über eine dumme Menschheit betrachtet werden, die die Natur über ihre Regenerationsmöglichkeiten hinaus ausbeutet, gleiten wir auf eine neue Vorstellung von Revolution zu. Die Revolution ist angesichts der Macht der Technowissenschaft (Inkarnation von Hegels Absoluter Idee in den Enzyklopädisten) zu etwas Ähnlichem geworden wie ein privates Bankett, an dem man nur teilnehmen kann, wenn man den exquisiten Geschmack eines Feinschmeckers hat, der in der Lage ist, die Vorzüge eines guten Steaks von einer gesunden Kuh zu genießen und zu besingen, von der er nicht nur den Namen und die Abstammung kennt, sondern auch alles, was sie während ihres Lebens gegessen hat. Das Ideal eines Enzyklopädisten deckt sich also mit der aktuellen Realität eines Maasai-Hirten, wenn auch übertragen auf das gute Essen in einem Pariser Bistro. Mit der EdN beschränkt die Revolution ihre Ziele auf das Essen eines guten Steaks.

20. Jaime Semprún, der Sohn eines ehemaligen PSOE-Ministers aus der Ära von Felipe González, hatte nie einen Beruf oder eine bezahlte Arbeit, von der er für den Rest seines Lebens leben konnte. Diese Tatsache, die nicht als Beleidigung gemeint ist, sondern als Tatsachenbehauptung, die zudem für die Situationisten in der Regel ein Kompliment ist, kann uns helfen zu verstehen, dass diejenigen, die noch nie in ihrem Leben als Lohnempfänger gearbeitet haben, wirklich glauben, dass das Proletariat bereits verschwunden ist und dass die (Lohn-)Arbeit zu Ende geht. Es ist nichts anderes als die alberne und paranoide Beobachtung eines revolutionären „Lebemanns“ der Rive Gauche, der davon überzeugt ist, dass sein Nabel das Zentrum des Universums ist, und der durchaus in der Lage ist, seine Grippe, eine Krankheit oder seine schlechte Verdauung heute mit dem Ende der Welt zu verwechseln.

Semprúns Satz, der wegen seiner Neuartigkeit und Extravaganz bei bestimmten Pädagogen so gut angekommen zu sein scheint: „Wenn der Staatsbürger-Ökologe versucht, die lästigste Frage zu stellen, indem er fragt: „Welche Welt werden wir unseren Kindern hinterlassen?“, vermeidet er es, die andere wirklich beunruhigende Frage zu stellen: „Welchen Kindern werden wir die Welt hinterlassen?“ Vielleicht sollten wir wissen, dass sich seine Erfahrungen mit der Jugend auf Gruppen rüpelhafter Jugendlicher beschränken, auf die Barbaren, die im Müll und in der Armut des Ghettos aufgewachsen sind und die er aus der Ferne in der Pariser Metro gesehen hat, schockiert über ihr Rowdytum. Die marginalisierte Jugend, die von der Prekarität der Arbeit und dem elenden Leben in den Vorstädten misshandelt wird, allein aufgrund der Tatsache, dass sie jung ist, zu beschuldigen, die Früchte und/oder die Schuldigen der unlösbaren Probleme des heutigen grausamen Kapitalismus zu sein, ist nicht nur grausam und ungerecht, sondern auch ein ideologisches Ziel zugunsten des reaktionären Denkens des engstirnigsten rechten Flügels.

Ein wenig intellektuelle Arroganz, eine Menge Narzissmus, ein paar Tropfen der sterilen Führung einer kleinen Splittergruppe und eine brutale Erschütterung der vom Situationismus geerbten Ideologie mit der sozialen und historischen Realität der Welt, in der wir leben, haben einen erstaunlichen Cocktail der ideologischen Verwirrung hervorgebracht, das Gruppensektierertum, das sie an den Tag legen, diese schwachsinnigen, verdrehten und halluzinatorischen Argumente für reaktionäres Denken und ein apokalyptisches Prophetentum, das eher für die Zeugen Jehovas als für linke Gruppen typisch ist. Wenn der masochistische Leser der EdN-Ausgaben so tut, als würde er die ärgerlichste Frage aufwerfen, indem er fragt: „Welche Revolution werden unsere Enzyklopädisten machen?“, vermeidet er es, die andere, wirklich beunruhigende Frage zu stellen: „Was wird die Revolution aus den Enzyklopädisten machen?“

4. SCHLUSSFOLGERUNGEN

Der enzyklopädische Manichäismus, der feststellt, dass die Natur gut und die Technik böse ist, ermöglicht es uns nicht, komplexe soziale und historische Prozesse zu analysieren und zu verstehen. Anstatt reale und konkrete soziale Phänomene wie den Übergang vom Fordismus zum Toyotismus zu untersuchen und zu verstehen, ist es für die Enzyklopädisten einfacher, einen Teufel dafür verantwortlich zu machen, der die Schuld an allen Übeln trägt. Was als berechtigter Zweifel an der übermäßigen Abhängigkeit von der Technik und als sachdienliche Forderung begann, die Natur nicht in ein Labor zu verwandeln, in dem alle möglichen Experimente mit unbekannten Folgen durchgeführt werden, hat sich in einen verzweifelten und ungerechtfertigten Glauben an eine Rückkehr zu einem primitiven Paradies verwandelt, das nur in der enzyklopädischen Fantasie existiert hat. Dieser Glaube an den Primitivismus der kleinen ländlichen Gemeinschaft provoziert wiederum eine abstrakte, theologische und apokalyptische Analyse einer verteufelten „Industriegesellschaft“, die die Enzyklopädisten zu einem irrationalen Denken führt, das unfähig ist, die soziale und historische Realität des heutigen Kapitalismus zu verstehen.

Technophile (von der Linken und der Rechten des Kapitals) und technophobe Enzyklopädisten liefern sich einen moralischen Disput über die Technologie, die von anderen sozialen und ökonomischen Faktoren isoliert wurde, nur um sich in ihren Schlussfolgerungen zu unterscheiden, die für erstere befreiend und für die Enzyklopädisten entfremdend sind. Keiner der beiden ist der Ansicht, dass das Kapital die Ursache für die Entfremdung aller menschlichen Produktionen ist, die scheinbar autonome Ziele außerhalb der menschlichen Kontrolle erreichen. Technologien haben Anteil an dieser sozialen Entfremdung und werden eingesetzt, um sie zu verstärken. Nur durch eine Revolution des Proletariats, die uns von dieser Entfremdung befreit, wird es möglich sein, die Kontrolle über schädliche Technologien auszuüben. Einige Technologien, darunter die nukleare und chemische, sind wirklich so gefährlich, dass sie sofort abgeschafft werden müssen. Viele andere überflüssige Produktionszweige werden automatisch verschwinden, sobald der einzige Grund für ihre Existenz – der Handel – wegfällt. Andere Industrien (Elektrizität, Metallurgie, Druck, Fotografie, Telekommunikation, Pharmazie usw.) werden klüger und vorsichtiger eingesetzt, streng kontrolliert und verbessert, um unerwünschte schädliche Auswirkungen zu vermeiden, und vor allem werden sie einen menschlichen und nicht mehr einen kapitalistischen Nutzen haben. Denn was wirklich wichtig ist, ist die Beendigung der Produktion von Waren zum alleinigen Zweck der Mehrwertgewinnung, um Platz für die Befriedigung der wirklichen und nachhaltigen Bedürfnisse der Menschheit zu schaffen und so die Erhaltung der natürlichen Ressourcen für künftige Generationen zu gewährleisten.

Eine sich zersetzende Gesellschaft bringt ihre eigenen verfaulenden Ideologien hervor, wie die enzyklopädische, die sich über die partielle Rebellion gegen eine der schlimmsten Geißeln des kapitalistischen Systems erhebt: die massive Zerstörung und Vergiftung der Natur; dabei aber ihre Unfähigkeit zeigt, die Ursache zu erkennen, die sie hervorruft: den Prozess der Kapitalakkumulation. Keine Ideologie kann das Proletariat als revolutionäre Klasse mit Teilzielen zufriedenstellen, die das Endziel verschleiern: den Kampf für das Ende des Kapitalismus und seine Abschaffung als eigenständige Klasse. Die Revolution kann nur total sein und alle Aspekte der gegenwärtigen Ausbeutungsgesellschaft umfassen und entsteht aus dem Konflikt zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und den gegenwärtigen gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen, die diesen Produktivkräften nicht mehr entsprechen.

Die Enzyklopädisten sind vom linken Verbalismus der 1970er Jahre zum reaktionären Verbalismus der 1990er Jahre übergegangen. Sie hören nicht auf, die Idee und den Begriff des Fortschritts anzugreifen, sie lehnen die unbestreitbaren technischen und wissenschaftlichen Fortschritte der letzten zwei Jahrhunderte ab, sie beschimpfen und attackieren immer wieder die Linken und die Linke des Kapitals, wofür es sehr gute Gründe gibt, die wir sicherlich teilen; aber sie haben nie eine kohärente Kritik gegen die Rechte oder die Nazis entworfen. Ihre Tabus gegen Geburtenkontrolle, Fötaltests und schmerzfreie Geburten sind neben vielen anderen Extravaganzen nicht nur bloße antifeministische oder fortschrittsfeindliche Phobien, sondern charakteristische Merkmale, die sie in die Nähe religiöser Fundamentalisten rücken. Wir müssen den Enzyklopädisten zuhören, wenn sie von sich selbst sagen, dass sie „konsequente Reaktionäre“ sind, denn ihre irrationalen und schwachsinnigen Analysen einer phantasierten und unwirklichen Welt, eines Kapitalismus ohne Bourgeoisie und Proletariat, führen sie unweigerlich dazu, die Technowissenschaft als das Böse zu begreifen. Und diese verteufelte Technowissenschaft hat außerdem, so das paranoide Denken der Enzyklopädisten, ein bestimmtes politisches Programm, das in der Zerstörung von Natur und Menschheit besteht. In diesem reaktionären Denken ist der Klassenkampf völlig verschwunden und taucht nicht einmal am Horizont auf, weder als Hoffnung noch als Lösung.

Dieser unglaubliche Unsinn, zu dem die enzyklopädische Ideologie geworden ist, ist eine direkte Folge ihrer Leugnung der Existenz von sozialen Klassen im heutigen Kapitalismus. Die Präsenz des Proletariats als revolutionäres historisches Subjekt fixiert, identifiziert, konkretisiert und vereinfacht die unlösbaren Probleme der kapitalistischen Gesellschaft und reduziert sie auf den gemeinsamen Nenner ihrer eigenen Existenz als überholtes ökonomisches und soziales System. Sein Fehlen führt in die Sackgasse der abstrakten Dummheit und des Wahnsinns von Enzyklopädisten, die von der Realität isoliert sind. Ohne eine echte und glaubwürdige historische und politische Perspektive macht die EdN jede kritische Position, die den Namen Theorie verdient, illusorisch. Nachdem sie das Ende der Bourgeoisie und das Ende des Proletariats verkündet haben, haben sie ihren Weg, ihren Sinn für das Lächerliche und sogar ihre Rollen verloren, und heute haben sie das Ende der Welt für gestern verkündet.

Pack ein und los geht’s! Vom Situationismus zum Abgrund!

Kurz gesagt: Diejenigen, die die Existenz des Proletariats und damit des Klassenkampfes leugnen, stehen den historischen Interessen der Arbeiterbewegung und ihrem Kampf gegenüber. Sie stehen außerhalb und gegen den revolutionären Marxismus und Anarchismus, die als Waffen der Arbeiterklasse gegen die Ausbeutung und für ihre Selbstemanzipation verstanden werden. Sie stürzen sich in den Abgrund schillernder, aber leerer, elitärer, modernistischer, reaktionärer, fauler und antiproletarischer Ideologien, die schließlich nach und nach in der Passivität der Kultivierung des Gartens vergehen, auch wenn sie ihn als den Garten des Epikur tarnen. So verhält es sich auch mit dem theoretischen Korpus von Jaime Semprún und den Enzyklopädisten.

Alpha 20
November 2023
(Aktualisiert von einer Version aus dem Jahr 2014)


5. Bibliographie

Wesentliche Bibliographie von Jaime Semprún:

La guerre sociale au Portugal. Éditions Champ Libre. Paris, 1975.

Précis de récupération, illustré de nombreux exemples tirés de l’ histoire récente. Champ Libre. Paris, 1976.

La nucléarisation du monde, présente-t-elle pour l’ Économie et pour l’ État tous les avantages que l’ on peut légitimement en attendre ? A-t-elle sur la vie sociale et la santé des populations d’aussi néfastes effets que veulent nous faire croire ses détracteurs ? Une réponse à ces questions. Éditions de l’ Assommoir, 1980. (Republié en 1986 aux éditions Gérard Lebovici).

Dialogues sur l’ achèvement des Temps Modernes. Éditions de l’ Encyclopédie des Nuisances. Paris, 1993.

L’ abîme se repeuple. Ed. de l’ EdN. Paris, 1997.

Apologie pour l’ insurrection algérienne. EdN. Paris, 2001.

«Le fantôme de la théorie». Nouvelles de nulle part nº 4 (septembre 2003).

«Notes sur le Manifeste contre le travail du groupe Krisis». Ebenda.

Jaime Semprún war an der Abfassung der kollektiven Bücher beteiligt, die von der Redaktion der EdN unterzeichnet und veröffentlicht wurden, sowie an einigen anonym veröffentlichten Artikeln in der Zeitschrift „EdN“ (z.B. „Abrègé“) und an vielen Artikeln in der Zeitschrift L’assommoir. Er ist auch der Hauptherausgeber der Flugblätter und Pamphlete, die von 1976 bis 1982 in Spanien veröffentlicht wurden und mit „Los Incontrolados“ oder „Trabajadores por la autonomía y la revolución social“ unterzeichnet sind.

Eine knappe Bibliographie der Situationistischen Internationale und der Enzyklopädie:

Adresse a tous ceux qui ne veulent pas gérer les nuisances mais les suprimer. Supplément à l´Encyclopédie des nuisances. Paris, 1990.

Alliance pour l´opposition à toutes les nuisances: Relevé provisoire de nos griefs contre le despotisme de la vitesse, à l´occasion de l´extension des lignes du TGV. Paris, 1991.

L´ Assommoir (1978-1985) [7 Nummern].

Debord, Guy: La Societé du Spectacle. Gallimard . Paris, 1992. (Erste Ausgabe 1967).

Commentaires sur la societé du spectacle. Éditions Gérard Lebovici. Paris, 1988.

Encyclopédie des nuisances. Dictionnaire de la déraison dans les arts, les sciences et les métiers. (1984-1992) [15 Nummern].

Encyclopédie des nuisances: Remarques sur la paralysie de Désembre 1995. EdN. Paris, 1996.

George Orwell devant ses calomniateurs. Quelques observations. Éd. Ivrea et éditions de l´Encyclopédie des nuisances. Paris, 1997.

L´International Situationiste (1958-1969) [12 Nummern].

Kaczynski, Theodore [“Unabomber”]: La societé industrielle et son avenir. EdN. Paris, 1998.

Morris, William: L´age de l´ersatz et autres textes contre le civilisation moderne. EdN. Paris, 1996.

Philipponneau, Jacques: Relation de l´empoisonnement perpétré en Espagne et camouflé sous le nom de syndrome de l´huile toxique. EdN. Paris, 1994.

Plate-forme du Comité “Irradiés de tous les pays, unissons-nous! Paris, 1987.

Remarques sur l´agriculture génétiquement modifiée et la dégradation des espèces. EdN. Paris, 1999.

Riesel, René: Déclarations sur l´agriculture transgénique et ceux qui prétendent s´y opposer. Nouvelle édition augmentée. EdN. Paris, 2001.

Minimale kritische Bibliographie zum Situationismus und dem Abgrund:

[Anónimo]: L´Internationale situationiste en son temps. Paris, 1996.

Baudet, Jean-Pierre et Martos, Jean-François: L´Encyclopédie des puissances. Circulaire publique relative a quelques nuisances théoriques vérifiées par les grèves de l´hiver 1986-1987. Le fin mot de l´histoire. Paris, 1987.

Bourseiller, Cristophe : Histoire générale de l´ultra-gauche. Denoël, Paris, 2003,

Caboret, D. – Dumontier, P. – Garrone, P. – Labarrière, R.: Contre l´Encyclopédie des nuisances. Contribution a une critique du situationisme. Paris, 2001.

Chollet, Laurent: L´insurrection situationniste. Dagorno. Paris, 2000.

Dumontier, Pascal: Les situationnistes et mai 68. Théorie et pratique de la révolution (1966-1972). Gérard Lebovici. Paris, 1990.

Fargette, Guy: « Correspondances avec l´Encyclopédie des nuisances » . Bulletin Les mauvais jours finiront nº 12, janvier 1990.

Jappe, Anselm: Guy Debord. Edizioni Tracce. Pescara, 1993.

Lonchampt, François et Tizon, Alain: Votre révolution n´est pas la mienne. Sulliver. Arles, 1999.

Marcus, Greil: Rastros de carmín. Una historia secreta del siglo XX. Anagrama, Barcelona, 1999.

Marelli, Gianfranco: L´amara vittoria del situazionismo. Per una storia critica dell´Internazionale Situattioniste 1957-1972. Biblioteca Franco Serantitni. Pisa, 1996.

Martos, Jean-François: Histoire de l´Internationale situationniste. Gérard Lebovici. Paris, 1989.

Quadrupanni, Serge : Une histoire personnelle de l´ultragauche. Divergences, 2023.

Rocha, Servando : Historia de un incendio. La Felguera, 2006.


1A.d.Ü., als Pro-Situs, Prositus oder anderen Variationen werden Individuen und Gruppen genannt die die Ideen der Situationistischen Internationalen unterstützen.

2A.d.Ü., französischer Titel von Am Abgrund.

3A.d.Ü., llevar al huerto (jemanden in den Garten bringen) ist eine Sprachwendung im Spanischen die dazu verwendet wird, wenn man eine Person von etwas überzeugen will.

4A.d.Ü., Pedro Grullo, Pero Grullo, Perogrullo, perogrullada… sind auf Spanisch ‚absurde‘ Binsenweisheiten. Wie z.B., es ist warm, weil es nicht kalt ist, oder, es ist Tag, weil die Sonne aufgegangen ist. Es handelt sich hier um einen stilistischen Mittel.

5A.d.Ü., maquilas, ein Teil der Textilherstellung die im Auftrag eines Unternehmens durchgeführt wird. In dem Fall die wahrscheinliche Verlagerung dieser Produktion.

6A.d.Ü., auf Spanisch ist hier ein Wortspiel, Abismo (Abgrund) ist ein Ismus, Ab – ismo.

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Jacques Camatte – Gewalt und Zähmung (1980)

Zum Werdegang der Gattung Mensch vom unmittelbaren Gemeinwesen zum aufgetauchten kosmischen und im Kosmos integrierten Gemeinwesen

1 – Gewalt erscheint und tritt auf, sobald in einem Prozess ein Bruch eintritt. Sie ist das, was in einem physischen, kosmischen oder menschlichen Milieu den Bruch erlaubt. Ebenso wird, vor allem auf menschlicher Ebene, Gewalt ausgeübt, um die Integrität dieses bedrohten Prozesses zu verteidigen. Gewalt impliziert, dass mehr oder weniger gerichtete Energie in Bewegung versetzt versetzt wird, dass sich also Kräfte äußern.

2 – Die Gewalt hat also eine natürliche Realität, d.h. in der Natur sind Phänomene der Gewalt feststellbar. Sie hat jedoch gerade in den Gemeinschaften, in den menschlichen Gesellschaften eine bedeutsame Rolle inne, weil hier meistens ein eingestandenes oder nichteingestandenes Ziel verfolgt wird, und weil gewisse menschliche Gruppen die Gewalt zu beherrschen und sie zu ihren Gunsten wirken zu lassen versuchen.

3 – Es könnte scheinen, dass, sobald Gewalt auftritt, wichtige Kräfte im Spiel sein müssten. Doch ist das nicht allgemein der Fall. Es kann Gewalt geben, ohne dass Kräfte entfaltet würden. So wirkte die Gewaltlosigkeit Gandhis, die keine direkte Aktion auf den politisch-ökonomischen Apparat der Britischen Herrschaft über Indien darstellte, trotzdem wie eine Gewalt, weil sie den Gesamtproduktionsprozess hinderte. Die gesetzliche Gewalt, die sich durch kodifizierte Gesetze ausdrückt, ist ein anderes Beispiel: die Gesetze implizieren die latente und potentielle Gewalt, die sich äußern kann, wenn die Individuen sie verweigern, und andrerseits setzen sie Gewalt zu ihrer Aufstellung voraus.

Umgekehrt wird jedes Phänomen als gewaltsam bezeichnet, das zu seiner Äußerung gewichtige Kräfte einsetzt und eine große Quantität Energie entfaltet. Doch muss es nicht zwangsläufig an tatsächlicher Gewalt teilhaben. Nur zu leicht tritt hier eine Sinnverschiebung ein, die für das Verständnis der menschlichen Beziehungen sehr nachteilig ist.

4 – Gewalt erscheint im menschlichen Werden wie eine unveränderliche Bestimmung, selbst wenn sie sich nicht immer auf dieselbe Weise ausgedrückt hat.

Gewalt kam erstmals anlässlich der Trennung und Loslösung der Menschen von der ursprünglichen Gemeinschaft zur Wirkung und ermöglichte damit den Beginn des Individualisierungsprozesses, der, als potentielle Negation der Gemeinschaft, eine Gewalt schuf, auf die diejenige der Gemeinschaft antwortete, um den Prozess zu hemmen und zu verhindern.

Im Übrigen hat diese Trennung ein Ungleichgewicht hervorgerufen, und die Gesellschaft ist nicht mehr im Stande, sich selbst zu regulieren:

Es entsteht die Tendenz zum Bevölkerungswachstum, was die gemeinschaftlichen Strukturen seinerseits auch wieder in Frage stellt; daher das Auftauchen der Politik und dessen, was der Staat werden wird. Die Gemeinschaften reagieren darauf mit Gewalt und versuchen zu vernichten und an der Verselbständigung zu hindern, was da auftaucht. Wenn die Gewalt nicht immer bis zum Kriege geht, (der von Clastres analysierte Fall), so nimmt sie verschiedene Wege, insbesondere denjenigen des Tabus, um einen Prozess zu hemmen, der denjenigen des vorausgehenden Lebens negiert.

5 – Die verschiedenen Brüche des Gleichgewichts im umgebenden Milieu, seien sie durch geologische Phänomene (Vergletscherungen, Veränderungen der Höhe des Meeresspiegels, Veränderungen von Flussläufen, Erdbeben und Vulkanausbrüche) oder durch menschliche Handlungen verursacht, zwangen die menschlichen Wesen, sich und die Umgebung anzupassen. Die Männer wurden Jäger und die Frauen erfanden darauf die Landwirtschaft. Später übt die Gattung ihre Gewalt durch die Zähmung der Tiere und Pflanzen anders aus.

6 – Ein Moment voller äußerster Gewalt war derjenige der Unterwerfung der Frau unter den Mann. Darauf verselbständigen sich die Macht und die Politik und entsteht mit dem Anwachsen der Bevölkerung und der größeren Arbeitsteilung etc.. der Staat, der sich an die Stelle der ursprünglichen Gemeinschaft stellt und sie vorstellt. Der Staat ist die konzentrierte Gewalt; er ist ihr allgemeines Äquivalent. Nur im Westen individualisieren sich die Klassen und lassen den Staat entstehen.

7 – Von diesem Zeitpunkt an beobachtet man drei Arten, wie die menschliche Gattung die Gewalt verwaltet hat, die nicht mehr gebremst und abgeschafft werden konnte.

1. Die mehr oder weniger archaische Art der Verwaltung bei nicht-verfallenen Gemeinschaften, wo die Politik und a fortiori der Staat sich nicht verselbständigen können. Gewalt, sofern sie in kinetischer Form auftritt, ist Angelegenheit der ganzen Gemeinschaft.
2. Der Staat verwaltet die Gewalt, verselbständigt sich hingegen nicht von der Gemeinschaft, die despotisch ist.
3.Der Staat verwaltet die Gewalt und gibt den Individuen, die sich verselbständigt haben und ihm Gewalt, Macht etc. … über, auf Grund der Klassen, sehr komplexe Mechanismen delegiert haben, mehr oder weniger wichtige Garantien. Gerade die Existenz von Klassen bringt vehement die Gewalt ins Spiel, weshalb auch, damit eine Koexistenz möglich ist, ein Versöhnungsmechanismus notwendig ist, der nicht nur den Staat betrifft, sondern die Gesamtheit der Männer und Frauen: die Demokratie. Man könnte sie, auf dieser Ebene, als Prozess der Verinnerlichung der Gewalt und deshalb als wesentlichen Motor der Zähmung bezeichnen.

8 – Die Zähmung ist ein Prozess, durch den die Gattung, die ihn erleidet, aus ihrem natürlichen Lebensprozess gerissen und unter die Abhängigkeit eines Lebensprozesses einer andern Gattung gestellt wird. Im Falle der Tiere und Pflanzen wird man von ihrer Ausbeutung, im Falle der menschlichen Wesen von ihrer Zähmung sprechen. Sie ist – als Verlängerung dessen, was Menschen den Tieren auferlegen – gleichbedeutend mit dem Hinnehmen der etablierten Ordnung in der (zumindest in der Endphase des Prozesses) Zwang besteht; Zähmung ist die Beseitigung aller Instinkte und Triebe.

Also ein Prozess der Verstümmelung. Die Menschen konnten also die durch ihr Werden selbst entfesselte Gewalt nur noch im Keime ersticken (der Moment der Loslösung von der alten Gemeinschaft und der Entfesselung der Gewalt ist vielleicht die Grundlage dessen, was in der religiösen Vorstellung der Sündenfall, die Urkatastrophe etc. … ist), indem sie sich zähmten. (Zivilisation und Höflichkeit sind Euphemismen dafür.)

9 – Man kann also nicht die Gewalt an sich beurteilen, ohne sich auf das andere Phänomen zu beziehen, das nun schon seit Jahrtausenden existiert und die Tendenz hat, die Gattung in den äußersten Verfall zu führen: die Zähmung. „Wenn man die verschiedenen Gesellschaften allein unter dem Gesichtspunkt der Gewalt analysiert, könnte man diejenigen des Westens, wo die Demokratie den Sieg davongetragen hat, als menschlicher betrachten als die – im geläufigen Sinne des Wortes – barbarischen des Ostens, wo lange zeit die Asiatische Produktionsweise (APW) herrschte. Darum konnte ich in „Marx und das Gemeinwesen“ schreiben: „Was die politische Demokratie betrifft, ist es wahr, dass sie den Verdienst hat, die Auswüchse der Gewalt einzuschränken.“ Es ist hier unbedingt beizufügen, dass das nur insofern der Fall war, als sie enorme Gewalt auf das Proletariat und die farbigen Völker ausübte. Man muss sich darüber Rechenschaft ablegen, was das grundsätzliche Resultat der Demokratie war: die Zähmung. Die Demokratie ist nur wahrhaft wirksam, wenn diese daran ist, verwirklicht zu werden oder schon verwirklicht ist und die Menschen zu neutralen Partikeln werden. Man kann sich also fragen, ob die Demokratie wirklich einen Vorteil für die Gattung darstellt.

10 – Ebenso muss für eine Beurteilung der Gewalt der Umwandlungsprozess ins Auge gefasst werden, den sie bewirkt. Das Anders-Werden, das sie impliziert, bringt sie zum Entfremdungsprozess in Beziehung; dieser kann jedoch nicht immer negativ sein: Enteignung, Verfremdung; denn er kann auch gleichsam ein Fortschreiten sein. Ebenso lässt sich sagen, dass die Gewalt positiv ist, wenn sie ein Fortschreiten zu einem Stadium eines weiter entfalteten Lebens gestattet, dass sie hingegen negativ ist, wenn sie uns zwingt, unter Herrschaft, Ausbeutung, etc. … zu leben. Auf individueller Ebene könnte man beifügen: Gewalt ist negativ, wenn sie aus uns, aus unserm Lebensprozess, hervorbricht, ohne dass sie uns erlaubte, uns bei uns selbst wiederzufinden.

Da nun aber die positive Möglichkeit gegeben ist, ist es klar, dass der Gebrauch der Gewalt gefordert werden konnte, und daher die Schwierigkeit die war, sie unter Kontrolle zu halten.

11 – Im Weltmaßstab ist heute eine Konvergenz im Gange zwischen der Kapitalgemeinschaft, deren Errichtung im Westen erst von dem Augenblick an möglich ist, wo der Demokratisierungs- und Homogenisierungsprozess und der Ausgleich der Unterschiede zu Ende gebracht worden sind, und der APW, wobei das Kapital die APW erst ausstechen kann, wenn es sich als Gemeinwesen konstituiert hat. Seine Herrschaft erlaubt ihm, die demokratische Phase zum Verschwinden zu bringen und die Zähmung zu vollenden.

In all diesen Fällen existiert die Gewalt überall. Sie ist nur in den Institutionen resorbiert, oder durch die demokratische Mystifizierung kaschiert. Es wird indessen in der gegenwärtigen Epoche immer schwieriger, nicht nur die aktuelle Gewalt, sondern auch die im Verlauf der Jahrhunderte angehäufte, einzudämmen. Die einzige Lösung im Rahmen der Kapitalgemeinschaft ist die Zähmung, die in der Tat nichts anderes als gelierte Gewalt ist, da sie, noch vor der Zerstörung, die absolute Hemmung ist.

12 – Die Stellungsnahme in Bezug auf die Gewalt ist abhängig von der Wahrnehmung und Haltung gegenüber dem Prozess, dem Bruch und dem Phänomen, das die Gewalt verursacht. Insbesondere stellt sich die Frage: ist der Bruch notwendig? Eine Stellungsnahme hängt davon ab, ob man die Zähmung annimmt oder nicht.

Gewisse Verhaltensforscher, wie Konrad Lorenz, nehmen an, dass Der Mensch eine Gattung ist, die sich selbst zähmt und betrachten den Zähmungsprozess, der ein Sozialisierungsprozess ist – der Enteignung der Individuen –, als positiv, da er die Gewalt durch Hemmung der Aggressivität, die eine Konstitutive unserer Gattung darstelle, zu beseitigen vermöge. Sie neigen deshalb zur besonderen Betonung der Riten und Rollen, die den gesellschaftlichen Menschen bilden und das menschliche Wesen hindern.

13 – Der Prozess der Trennung von den unmittelbaren Lebensbedingungen wurde mehrere Male gebremst und die Menschen bildeten mehr oder weniger beständige Gemeinschaften. Mit dem Kapital wird der Trennungsprozess in einem größeren Maßstab, sowohl in Bezug auf die Weite wie auch die Tiefe, wiederaufgenommen.

Das hat Marx analysiert und sagt, dass die Trennung der erste Begriff des Kapitals ist, und zeigt, bis zu welchem Punkte die Gewalt Grundlage des Aufschwungs des Kapitals ist. Dieser Trennungsprozess, der sich auf alle Aspekte des menschlichen Lebens auswirkt, lässt sich durch den ganzen Entstehungsprozess des Kapitals verfolgen, wenn er auch, das ist ebenfalls wahr, durch einen Vereinigungsprozess aufgewogen wird, in dem die Menschen durch seine Vermittlungen wiederzusammengesetzt werden.

Gewalt geschieht als Entäußerung; was aus den Männern und Frauen herausgepresst worden ist, wird in den Lebensprozess des Kapitals einverleibt. Im übrigen entstehen die die Einheit wiederherstellenden Vermittlungen aus den Elementen, die einstmals unveräußerlichen Bestandteil der menschlichen Wesen bildeten.

14 – Die Menschen haben gegen diese Unterdrückung-Enteignung gekämpft, meistens jedoch ohne im Stande zu sein, deren wahre Realität zu erkennen; deshalb kamen denn auch die Revolutionen, die im 16. Jh. einsetzten – Gewaltakte par excellence, da sie einen Prozess gesellschaftlichen Lebens zerschlagen sollten, um den Beginn eines andern zu ermöglichen – der Dynamik des Kapitals zugute, denn diese Revolutionen erlaubten die Beseitigung einer Reihe Hindernisse zu seiner freien Entwicklung.

Die Befreiung ist ebenfalls Gewalt, denn auch sie besteht aus der Zerstörung der Fesseln, die einen Lebenswillen hemmen. Dieser Prozess führte zur Verarmung, denn die Männer und Frauen befreiten sich, indem sie sich verschiedener Bestimmungen enteigneten und entäußerten, was später ihre Zähmung erleichterte.

Bruch eines Prozesses, Trennung, Revolution und Emanzipation implizieren alle die Gewalt. Im Falle der Revolution, verstanden als Rückkehr zu einer früheren Lebensform, stellt sich die Gewalt als das Phänomen dar, was abschaffen soll, was eine Gewalt hervorgebracht hat.

Gerade in Bezug auf die Revolutionen hat man den Gebrauch der Gewalt gerechtfertigt, ja geradezu gefordert. Und das war sicher, unmittelbar gesehen, richtig. Die geschichtlichen Gegebenheiten haben indessen bewiesen, dass die Gewalt immer aus den Händen entglitten ist und dass es schwierig ist, sie zu kontrollieren, weil sie in Tiefen verwurzelt ist, wo man nicht hingelangen konnte und wäre es nur, weil man ihre Existenz nicht geahnt hatte.

Abgesehen davon, dass die Folge der Revolutionen abgeschlossen ist, verwerfen wir den Prozess ‚Revolution‘ und die Exaltation der Dynamik der Befreiung, weil das endgültig Weisen und Momente des Zugangs des Kapitals zu seiner vollständigen Herrschaft sind. Es muss ein anderer Weg zur Beseitigung der Gewalt und der Zähmung gefunden werden.

15 – In gleicher Weise wird die Gewalt als Mittel beansprucht, das den Aufbau der neuen Gesellschaft beschleunigen soll, indem drakonisch alle Hindernisse für ihre Entwicklung beiseite geschafft werden sollen. Die verschiedenen Revolutionen haben jedoch gezeigt, dass es unmöglich war, Gewalt zu leiten, und dass sie nur durch eine äußerst straffe, grausame Diktatur hatte unter Kontrolle gehalten werden können, was gegen das revolutionäre Projekt ist (obwohl das versucht worden ist). Außerdem ist in der gegenwärtigen Kapitalgemeinschaft, die von Gewalt, versteckter, offener oder potentieller, übersättigt ist, jeder Versuch, Gewalt in eine bestimmte Richtung zu führen, auf Grund der extremen Zerstückelung der Menschheit zum Scheitern verurteilt.

Das ist in keiner Weise eine Verurteilung des Projekts der Revolutionäre des vergangenen Jahrhunderts, insbesondere desjenigen von Marx und Engels. Sie dachten an eine Gesellschaft, die weniger entwickelt war in Bezug auf die Gewalt als die heutige.

Es ist zu betonen, dass sie die Anleihe eines bestimmten Mittels forderten; unter der Bedingung des Eintritts des Kapitals in die Kapitalgemeinschaft jedoch ist dieser Weg nicht mehr benutzbar und unverträglich mit unserer Sehnsucht nach einem menschlichen Gemeinwesen.

Letztlich ist es nicht gesagt, dass wir jede Gewalt werden vermeiden können, doch können wir wenigstens vermeiden, dieselbe Art von Gewalt zu gebrauchen wie das Kapital.

16 – Im Laufe der Geschichte kann zwei Formen bemerken, wie sich Gewalt äußert: diejenige der Unterdrückten und Ausgebeuteten, die ein menschliches Gemeinwesen wiederzubilden trachten und diejenige der Herrschenden und Herren, die immer wieder die Loslösung von der ursprünglichen Gemeinschaft aktualisieren wollen, die als Austritt des Menschen aus dem Tierreich dargestellt wird. Sie bekräftigen als Herrschafts- und Machtprinzip, dass der Mensch kein Tier ist und man die Männer und Frauen organisieren muss, dass sie nicht mehr ins Tierische oder das Chaos fallen. So äußert sich Gewalt im schon seit langer Zeit behaupteten Willen, organisieren und dem Chaos Form geben zu wollen. Das drückt sich in den verschiedenen menschlichen Verhalten aus, insbesondere in der Kunst.

Da nun aber das Prinzip des Fortschritts – der Austritt aus dem Tierreich – von allen verinnerlicht worden ist, Herren und Knechten, Ausbeutern und Ausgebeuteten, versteht man, dass die Herrschaft über die menschlichen Wesen von beiden gesellschaftlichen Polen, von allen Klassen ausgegangen ist.

17 – Die verschiedenen gegenwärtigen Äußerungen der Gewalt entstehen auf der Grundlage der aktuellen Gemeinschaft des Kapitals, sie haben jedoch gleichzeitig eine historische Dimension, die ihre Intensität verstärkt. Ursache davon ist die Tatsache, dass die Widersprüche im Laufe der Zeit einverleibt, nicht aber gelöst worden sind. Sie erzeugen ebenfalls immense potentielle Gewalt.

18 – Die Trennung von der ursprünglichen unmittelbaren Gemeinschaft rief eine immense Störung hervor, ein Gefühl der Unsicherheit (Problem der Gewissheit, zu existieren, der Gegenwart in der Welt). Männer und Frauen suchten einen Rahmen, eine versichernde Welt. Diese Suche veranlasste sie, jede Äußerung zu hemmen oder zunichte zu machen, die den mehr oder weniger beständigen Rahmen in Frage stellen konnte, den sie sich geschaffen hatten.

Gewalt kann ganz einfach aus dem Wegfallen der Schranken und Grenzen entstehen, die das raum-zeitliche und repräsentative Gebiet umgeben, in dem die menschlichen Wesen Wohnung bezogen haben. Es tritt dann Panik auf, und die Energie, die vorher kanalisiert war, wird abrupt frei und will in einem zerstörerisch-schöpferischen Effekt, wie durch Magie, einen neuen versichernden Rahmen stiften. Dabei entwickeln sich beschwörerische Praktiken.

Diese Erscheinung tritt in unsern Tagen bei allen menschlichen Gruppen auf, die durch die allzu brüske Einführung des Kapitals über den Haufen geworfen werden.

Es gibt ein Phänomen des Entkommens, das man einzig in dem Masse auf die Gewalt zurückführen kann, wie es zur Zerstörung eines gewissen Lebensprozesses beiträgt.

Es ist die eine Art Wahnsinn (der Wahnsinn resultiert aus einer Gewalt über ein menschliches Wesen und kann seinerseits Gewalt sein, die einen gewissen Lebensprozess einrichten oder wiedereinrichten will), der von demjenigen zu unterscheiden ist, der sich auf Grund der vollständigen Enteignung des Menschen durch das Kapital einstellt. Die vollständig ihres Eigenen beraubten, unnütz gewordenen Menschen können – infolge der Entwicklung der Technik – nicht mehr eine harmonische Verbindung der Tätigkeit der Hand und der Tätigkeit des Hirns herstellen und haben eine Quantität Energie, die sie nicht mehr entfalten können, weshalb sie sie in „blinder Gewalt“ loslassen, wie das schon beschrieben worden ist und z.B. darin bestand, dass die Jungen sich daran machten, alles zu zerstören, ohne eine Forderung verlauten zu lassen.

Die in ihrem Lebensprozess blockierten und gehemmten Wesen können bis zur Selbstzerstörung gehen; damit trifft die Gewalt das Subjekt selbst, das sie entfaltet.

19 – Die menschlichen Wesen haben verschiedene Wege geschaffen, um die verlorene Sicherheit wiederzufinden. Wenn die Religion noch eine solch durchschlagende Kraft hat (siehe den Islam), verdankt sie das nicht nur dem Umstand, dass sie eine Gemeinschaft ist, sondern auch der Tatsache, dass sie versichert, indem sie die Menschen definiert und ihnen ihr Lebensgebiet weist. Daher stammt denn auch der religiöse Fanatismus, den die Angst, die Sicherheit zu verlieren, erzeugt. Das Gebiet ihrer Gewissheit soll nicht hinterfragt werden, ansonsten Zweifel die Nutzlosigkeit ihrer Anwesenheit auf der Welt bedeuten könnten.

Die Religion stellt den Menschen, vor allem im Westen, in einen Lebensprozess, der von Entsagung beherrscht wird: ein Lebensprozess, der nicht pflanzlich, tierisch, menschlich sein darf. Es ist das eine Neubildung der Gemeinschaft auf einer Basis, die vollständig entfremdet ist.

Verständlicherweise gab es dagegen mehrere Versuche, Naturreligionen zu begründen.

Die Macht des Staate stammt aus denselben Elementen.

Dieser Wunsch nach Ordnung und Sicherheit findet sich gleichermaßen in der Wissenschaft, deren Macht sich aus der Tatsache ableitet, dass sie a priori ihr Gültigkeitsgebiet, die Schranken, innerhalb derer sie wirken will, bestimmt. Auch die Wissenschaft ist nicht vor dem Fanatismus geschützt.

Außerdem gründet die experimentelle Wissenschaft direkt auf der Gewalt, denn es ist ihr Vorgehen, die verschiedenen physikalischen und biologischen Prozesse zu zerbrechen, um sie zu verstehen. Wenn die Religion in der Gewalt über die Menschen endet, beginnt die Wissenschaft als Gewalt über die Lebewesen und gelangt heute mit der Soziologie und Psychologie dazu, Gewalt auf die Menschenwesen auszuüben. Gewalt ist hier durch das Prinzip der Überlegenheit des Menschen über das Tier und durch das Prinzip der Ordnung gerechtfertigt.

Schließlich suchten sich die Menschenwesen mit der Kunst ein Universum zu schaffen, wo sie das Maß aller Dinge wären.

20 – Mit der Loslösung von der ursprünglichen Gemeinschaft taucht die Dichotomie außen – innen und vor allem diejenige zwischen sich und dem Andern auf, die hinsichtlich zweier Gesichtspunkte das Problem der Identität begründet:

1. Das Problem der Identität hinsichtlich des Subjekts, des Selbst. In diesem Falle ist die Identität synonym mit Eigentlichkeit und Gesamtheit der Merkmale, die das Subjekt in seiner Individualität bestimmen.

2. Der Gesichtspunkt des Andern; hier geht es darum, zu wissen, welches seine Beziehung zum Selbst ist, welches sein mehr oder weniger grosser Unterschied ist und ob dieser vereinbar ist, etc. … Es ist sicher, dass die Frage der Identität vollständig mit derjenigen der Sicherheit verbunden ist, weil das Auftauchen des Andern in seiner Verschiedenheit die Identität des Selbst, des Subjekts in Frage stellen kann, was gleichzeitig beweist, dass dieses mit dem Individualisierungsprozess in Verbindung steht.

Die Behauptung einer Verschiedenheit ist immer als eine Aggression und Bedrohung für die Identität im Sinne 1. empfunden worden. (Siehe den Fall der jüdischen Gemeinschaft.)

Möglicherweise entsteht der Wahnsinn mit der Zerschlagung der Gemeinschaft, denn das Andere ist ein Verschiedenes, das das Selbst in Frage stellt und der Wahnsinnige ist derjenige, der die Gemeinschaft bedroht. Das sich individualisierende Wesen, das aus seiner Gemeinschaft auftaucht, gelangt schwerlich dazu, sich bei sich wiederzufinden, nachdem es diesen Streifzug außerhalb der Gemeinschaft gemacht hat, die von nun an die Tendenz hat, es zu verstoßen.

Die Gewalt äußert sich ebenso im Identifizierungsprozess, in dem das Individuum dank einer Handlung, die ihm erlaubt, sich von seiner ursprünglichen Umgebung zu lösen, in eine gegebene Gemeinschaft eintritt. Von jetzt an hat es das Recht, sich mit ihr zu identifizieren; das Individuum hat sich eine Identität erworben.

Dieses Phänomen spielt teilweise bei der Initiation mit: Bruch mit dem alten Lebensabschnitt im Fall der primitiven Initiation; Bruch mit der alten Lebensweise im Falle der Mystiker (siehe den ausserordentlichen Fall von Milarepa). Die Abwesenheit der Initiation in der heutigen Welt bewirkt, dass ein gewisses Quantum Energie da ist, das sich auf beliebige Weise freisetzen kann.

Heute ist jeder Lebensprozess gestört, zerhackt und deformiert; all die Versagen resultieren daraus, weil die Menschen nichts Wirkliches mehr finden können, wo sie sich entfalten könnten, und nur noch zu existieren vermögen, indem sie (sich) zerstören; denn zerstören ist ein Versuch zu schaffen und zu beschwören.

Das ist innerhalb der verschiedenen Rackets im Gange, die sich in der Kapitalgemeinschaft vervielfachen (Bildung z.B. von Mikrogemeinschaften auf Grund einer gegebenen Handlungsweise, die verschiedene Möglichkeiten realisiert, die sich gegenseitig ausschließen, woraus die Gewalt entstammt. Das Kapital triumphiert somit als Kombinatorium). Auch die Gewalt zwischen Männern und Frauen ist ein Resultat der Infragestellung der Rollen, die ihre Identität begründeten.

21 – Die Entwicklung der Kapitalgemeinschaft sichert dem Individuum Identität und Sicherheit zu, d.h. sie gesteht ihm ein gewisses Sein zu, das man entweder als gesellschaftlich, um seinen Ursprung anzugeben, oder als gemeinschaftlich bezeichnen kann, um besser hervorzuheben, in welchem Stadium wir uns heute befinden. Die Menschen fühlen immer mehr, dass sie in einer Abstraktion leben (die Entwicklung des Kapitals wird von einem immensen Abstraktionsprozess begleitet und setzt ihn voraus; auch er deutet auf den Trennungsprozess hin und verwirklicht ihn) und dass sie nur durch Vermittlungen zur Wirklichkeit gelangen. Daraus erwächst eine offensichtlich unerklärliche, irrationale Gewalt, die das einengende gesellschaftliche Wesen (und seine andern Seinsweisen: „Person“ = Maske und „Rolle“) zerschlagen möchte, um eine oft schwierig definierbare Unmittelbarkeit wiederzufinden.

Solcherart ist der Ausdruck einer – im allgemeinen verurteilten – Gewalt gegen eine kristallisierte Gewalt, die strukturiert ist, als sei sie und gehe sie von selbst. Denn die Rationalität einer Welt entgeht uns, die eine Wahrnehmung zur Folge hat, die recht gut durch den Gedanken illustriert wird vom Sein, das wie durch eine Fatalität in die Welt geworfen ist, der man sich zu beugen hat: dass also alles schon von Anfang an gespielt ist.

Die Reduktion des Lebens auf eine absurde Routine (und das Absurde enthält die direkte, auf uns abstellende, und die indirekte Gewalt: ihre Umwendung-Entwendung) drückt sich hinsichtlich des Erwachsenen gut im „metro, boulot, dodo“ (zur Arbeit fahren, arbeiten und Schlafen) aus, während das Kind in der Schule darauf vorbereitet wird. Gerade heute erfährt in Folge der immer mächtiger werdenden Abstraktionsbewegung die Phase der Kindheit eine Verkürzung. Die Kinder, denen man schon früh Abstraktionen beizubringen versucht, rebellieren auf vielerlei und oft hinterhältige Art und Weise dagegen und verwirren Soziologen und Psychologen.

Man auferlegt uns einen Lebensrhythmus, eine bestimmte Art der Ernährung, die zu gewissen Tageszeiten einzunehmen ist, und eine Kleidermode auf. Man zwingt jederman zu demselben Vorgehen, ohne auch nur die Frage zu stellen, ob das mit der Realität unseres biologischen Wesens übereinstimmt.

Insoweit das Phänomen der Vermaßung und Homogenisierung gehemmt wird, beruht die Diversifizierung nicht auf Individuen, die spontan ihre Verschiedenheit behaupten könnten, sondern wird durch die Mikrogemeinschaften getragen (s. 20).

Sprache ist eine Zwangsstruktur, die als besondere Sprache durch ihren Bezug zum Staat noch verstärkt wird. Diese Sprache stellt uns Fallen und hemmt die Schöpfung.

Um die Gewalt zu überwinden müssen wir wissen, was Mann und Frau sind, und unsere Wurzeln verstehen. So sind auch die Ablagerungen der Kenntnisse, die sich in einer gegebenen Sprache, in einer gegebenen Kultur abstrahieren, in die wir vollständig eingetaucht sind, zu dechiffrieren.

22 – Für die Verhaltensforscher steht die Gewalt in direkter Verbindung mit der menschlichen Aggressivität und diese äußere sich insbesondere in der Verteidigung des Territoriums. Man hat jedoch vollständig vergessen, die Beziehung zwischen der Sicherheit und dem Raum zu studieren, der durch ein gewisses Territorium bestimmt wird, das eine bestimmte Vorstellung erlaubt. Es handelt sich nicht einfach um ein Phänomen von Privateigentum, sondern um eine Frage der Vorstellung, wie man sich dessen vergewissern kann, wenn man die verschiedenen kosmogonischen Vorstellungen studiert, die von den verschiedenen menschlichen Wesen sich zu eigen gemacht worden sind, und man die Schwierigkeiten sieht, die es immer gegeben hat, sie zu widerrufen. (Siehe den Kampf der Kirche gegen das heliozentrische Weltbild.)

Letztlich kann die wahnsinnige Bevölkerungsvermehrung nur zu einer weiteren Zähmung und zum allgemeinen Despotismus führen, wenn nicht sogar die Gefahr der Explosion besteht. Dieses Wachstum vermindert den für ein Wesen verfügbaren Raum, was, nach Konrad Lorenz, unausweichlich zu gewaltsamen Konflikten führen muss, wenn die Riten, die bis an hin zu ihrer Vermeidung dienten, wie die Unterordnung und Hierarchisierung, wegfallen. Was jedoch bestimmend ist, ist die immer häufiger beklagte Unmöglichkeit, sich vorzustellen; die Menschen haben keine Grundlage mehr. Das macht sich innerhalb der städtischen Bevölkerung immer heftiger bemerkbar, die jede Weite der Perspektive verliert und deren Triebe kastriert sind.

Die Reduktion der Männer und Frauen auf Raum und Zeit ließ ihnen noch die Möglichkeit, sich vorzustellen; ihre Vertreibung aus Raum und Zeit reduziert sie auf neutrale Partikel, macht sie vom Lebensfeld des Kapitals abhängig. Sie sind seine Domestiken.

Um Reibungen zu verhindern, ist es immer noch das beste, alle Leute identisch zu machen; daher die gegenwärtige Homogenisierung (der die Erscheinung der Demokratisierung vorangeht). Um herrschen und organisieren zu können, muss jede und jeder auf dieselbe Situation reduziert werden.

23 – Die andern Lösungen, um die Gewalt zu beseitigen, landen auch in der Zähmung: Toleranz und Relativismus. Tolerieren läuft aufs Akzeptieren hinaus, ja sogar häufig auf die Verteidigung der Positionen der andern (geschichtlich gesehen darum, weil sich die menschlichen Gruppen nicht mehr durchzusetzen vermochten). Der Relativismus entsteht mit der Behauptung, dass es nichts Absolutes gebe (kein Dogma) und er wird durch den Gedanken gestützt, dass im Grunde alles möglich sei, und durch den Zweifel an der Gültigkeit dessen getragen, was vorgegangen ist. In beiden Fällen gelangt man dazu, alles anzunehmen, vor allem, weil die Adepten der Toleranz und des Relativismus gleichermaßen Parteigänger der Freiheit sind. Doch ist es unmöglich, Freiheit auf ein bestimmtes Gebiet einzuschränken, weshalb denn auch an ihrer – häufig erreichten – Grenze Freiheit das Recht ist, debil zu sein.

Toleranz und Relativismus haben ihre Grundlage auf dem Prinzip der Rechtfertigung, das ein Prinzip der Annahme des Unmittelbaren ist; sie florieren als Immediatismus.

Indem die Männer und Frauen postulieren und tolerieren, dass alles relativ ist (Prinzip des Nichtunterscheidens), hemmen sie ihre Triebe, beschränken sich selbst und äußern sich nur mit geringer Intensität und zurückhaltend, sodass umgekehrt die kräftige Bejahung der eigenen Wesensart und Gedanken, etc. …, die sichere und bestimmte Behauptung also, als Intoleranz, Gewalt und Despotismus betrachtet werden.

Das ist gegenwärtig sehr augenscheinlich, wo viele Personen, vom Nazismus, Stalinismus und andern Terrorismen traumatisiert, es am besten finden, alles neutral zu akzeptieren (siehe Cioran). Der Verlust der Leidenschaft und der Energie wird als Ideal angestrebt. Mehr und mehr hat man es mit lebenden Suizidierten zu tun.

Toleranz und Relativismus sind als Reaktion gegen den Despotismus entstanden; die antiautoritäre Bewegung ist aus der Opposition gegen den rigiden Autoritarismus hervorgegangen, der mit dem Despotismus des Kapitals während seiner Phase formaler Herrschaft über die Gesellschaft verbunden war. Auch sie hat nur einen Teil der Realität begriffen und endet in der Zähmung. Denn die antiautoritäre Erziehung führt zur Abdankung der Verantwortung der Eltern, wenn sie keine Bezugspunkte und keinen Gesamtzusammenhang für die Entwicklung der Kinder darstellen.

Das hat zu einem Verlust des Energiepotentials der Kinder geführt und es ist nicht erstaunlich, dass die nach den antiautoritären Prinzipien aufgezogenen Generationen in der Droge eine leichter zugängliche Realität suchen, die sich nicht entzieht; jede Anstrengung ist also gebannt. Denn die Folge des Energieverlustes ist die Flucht vor der Anstrengung, die in allen Fällen als Zwang und Gewalt verstanden wird.

Die „permissive“ Gesellschaft ist die Gesellschaft der Zähmung.

Toleranz und Relativismus bilden den integralen Teil des Rekuperationsprozesses des Kapitals, sodass es heute praktisch unmöglich ist, dagegen zu sein, als Revolutionär verstanden zu werden, weshalb denn auf die Gewalt zurückgegriffen wird, die endlich erlaubt, als Gegner anerkannt zu werden und der sich denn auch gewisse gegenwärtige Revolutionäre hingeben.

24 – Es ist noch auf Erscheinungen hinzuweisen, die als heftig charakterisiert werden, ohne unbedingt an Gewalt teilzuhaben, was nicht heißt, dass diese vollständig fehlt und nicht die Gefahr besteht, dass sie auch einwirkt. Die Intensität dieser Phänomene einschränken zu wollen, um eine rein hypothetische, d.h. unmögliche Gewalt zu beschwören, ist jedoch gleichbedeutend mit der Kastration und Zähmung der Wesen. Je mehr das angestrebt wird, umso mehr deutet das auf den Verlust von Energie der Menschen, auf ihre Degeneration, hin. Man hat allzusehr vergessen, dass leben das Leben riskieren heißt.

So weisen in der Liebe viele die Leidenschaft zurück (indem ich eine solche Trennung mache, begebe ich mich auf den Boden dieser Personen, jedoch, um mich besser verständlich zu machen), weil die Liebe heftig ist. Das ist wahr, wie es auch wahr ist, dass Liebe Gewalt sein kann, nicht weil das nichtgeliebte Wesen dasjenige, das es liebt, zerstören, sondern weil die nicht in ihrer Gänze erfüllte Liebe zum Wahnsinn führen kann.

Die Selbst-Behauptung – in einer Welt, wo jeder furchtbar durch die Wirklichkeit des Kapitals verneint wird und die tolerante Neutralität in Ehren ist – wird von den andern oft als Aggression erlebt.

Diese Phänomene zeigen die Degeneration der Gattung an, die mit dem Verlust von Territorium und Raum, mit ihrer Unterwerfung unter eine mechanische Zeit, mit dem Verlust der kosmischen Dimension und der biologischen Kraft verbunden ist, da sie ihre Wurzeln verloren hat und die Gemeinschaft auf eine nukleare Familie und manchmal noch weniger reduziert worden ist. Man versteht darum, dass es Leute gegeben hat (v.a. seit Ende des letzten Jahrhunderts, insbesondere Gobineau), die, wegen dieser Degeneration bestürzt, im Kult der Elite eine Lösung und ein Heilmittel sahen. Dieser Elitarismus lauft aber darauf hinaus, einer großen Menge von Menschenwesen ihre Möglichkeiten abzusprechen, sie zu negieren und zu hemmen; er ist also ein Sprungbrett für den Rassismus.

25 – Es gibt menschliche Verhalten, die als selbstverständlich, sozusagen neutral angeschaut werden, letztlich jedoch Gewalt in gemässigterer Form enthalten: Gewalt in Form der Hemmung, die darin besteht, das Werden eines Prozesses zu blockieren.

Wenn jemand zu viel gibt, um anerkannt zu werden und sich behaupten zu können, so legt er sich nicht darüber Rechenschaft ab, dass seine sogenannte Gabe für die Entwicklung des Andern ein Hemmnis ist. Es ist ein Egozentrismus, ein Wunsch nach Verwertung und Kapitalisierung etc. … Nun besteht gerade heute die große Tendenz, dass Menschen als notwendige und momentan absolute Vermittler auftreten, was nichts als Abhängigkeit schafft. Beim Andern Abhängigkeit zu schaffen, heißt ihn sich gefügig zu machen.

Das ist wesentlich in der Beziehung zum Kind. Fast alle Erziehungs- und Lehrmethoden hängen von Gewalt ab, denn sie respektieren den Lebensprozess des Kindes nicht, das seinen eigenen Rhythmus hat. Sie hängen in Wirklichkeit von der Dressur und Zähmung ab.

Alle Formen der Hemmung lassen sich aus der Tatsache ableiten, dass diejenigen, die sie hervorrufen, der Anerkennung und der Bestätigung bedürfen. Sie haben deshalb immer die Tendenz, ihre Akte materiellen und immateriellen Gebens (mit Bedeutungen, Wohlwollensäußerungen, etc. …) zu überladen. Abhängige Wesen können sich nur retten, indem sie andere abhängig machen. Sie können nicht die Gleichzeitigkeit der Leben leben, was vollständig jenseits des einfachen Akzeptierens der andern ist. Darum wird auch das Schweigen – ein Moment der Ruhe und Dichte der Aufnahme des Andern in seiner Situation auf der Welt, also in seinem kosmischen Bezug und in seiner Vertrautheit, wobei seine eigene Realität gewahrt bleibt – so selten in der Kommunikation zwischen Männern und Frauen.

Die Existenz der Abhängigkeit verbindet sich mit der Suche nach Autonomie und führt sehr oft in dem Masse zu andern Formen der Gewalt, wie die Menschen, um zu ihr zu gelangen, die Bande ihres Lebensprozesses unterbrechen. Das könnte positiv sein, doch wird diese Verselbständigung, die innerhalb einer individualistischen Dynamik geschieht, vom kapitalistischen Prozess der Trennung der menschlichen Wesen und ihrer Reduktion auf neutrale Partikel absorbiert. Das führt zur Einsamkeit.

Die Gefahr der Autonomie ist die Zerstörung einer jeden Möglichkeit des Gemeinwesens.

26 – Die Kapitalgemeinschaft hat Mittel zur Integration der Männer und Frauen in ihren Prozess entwickelt, die sich nicht mehr als Gewalt bezeichnen lassen, denn sie bringen keine direkt zwangsmäßigen Kräfte ins Spiel, die Schaden verursachen könnten. Eines der am besten ausgearbeiteten Mittel ist der Marketing. Die Publizität ist eine seiner Stützen. Sie ist wie die Mode, die Verführung des Kapitals, die darin besteht, in den menschlichen Wesen eine gewisse Sensibilität zu erregen und eine Haltung einzuführen, die sie die materiellen und immateriellen Produkte suchen lassen, die der Gesamtprozess des Kapitals erzeugt.

Die Verführung ist für gezähmte Wesen eine Gewalt. Das stellt andrerseits die Frage nach ihrem Gehalt und Bestand in den menschlichen Beziehungen, die noch nicht durch das Kapital verwüstet worden sind.

In der Mode tritt die Nachahmung ins Spiel, eine tiefgehende Erscheinung, wobei Männer und Frauen Seinsweisen und Verhalten suchen, um eine Grundlage in der Welt zu haben. Die Perversion dieses Triebes ist eine Gewalt, die auf die Gattung ausgeübt wird. Menschen suchen ebenso ein Mittel, um sich mit einer Gruppe zu identifizieren und sich von der Situation trennen zu können, in der sie sich gegenwärtig befinden.

27 – Eine häufig unbemerkte und dennoch sehr mächtige Form der Gewalt, die die Menschen ihrer Wurzeln der Realität beraubt, stellt die Verinnerlichung des Postulates dar, es sei kein Genuss möglich. Marx betrachtet es zurecht als charakteristisch für das Kapital. Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen: einerseits sollen die Frauen und Männer abgestumpft werden (mangelnder Enthusiasmus, die Schwierigkeit, sich einer Sache oder einem Wesen ganz hinzugeben: sie werden mittels verschiedener psychologischer Therapien zu heilen versucht), andrerseits soll die Intensität des Phänomens, das den Genuss erzeugen soll, gesteigert werden. Das steht ebenfalls mit der wachsenden Aggressivität des Milieus in Beziehung, in dem man lebt. Daraus ergibt sich nun eine widersprüchliche Situation: je mehr die Menschenwesen neutral werden, der Energie ermangeln und damit unfähig sind, der Gewalt zu begegnen, umso größere Stimulantien brauchen sie, um zu Emotionen zu kommen. Das Bedürfnis nach Drogen ist die beste Illustration für die Unfähigkeit zu genießen. Das Resultat ist die Zerstörung der Wesen, ihre Zähmung, denn sie werden immer mehr von der Kapitalgemeinschaft abhängig.

Auf diesem Gebiet, das den ganzen Lebensbereich umfassen möchte, äußert sich die Gewalt durch ihren Schein und nicht so sehr durch ihre Wirklichkeit. Es ist ein Spektakel der Gewalt, das sehr gut zu den passiven und abhängigen Wesen passt.

Diese Analyse bewahrheitet sich auch im Fall der Liebe, wo immer mehr der Sadismus und (wahrscheinlich besonders auch) der Masochismus Eingang findet, der am besten die Abhängigkeit der Wesen veranschaulicht. Dennoch ist es schwer, die genaue Beziehung zwischen dem, was Perversion genannt wird, und der Gewalt zu bestimmen.

Durch den Kredit und die Inflation werden die Menschen dazu gebracht, einen Genuss zu suchen, der niemals zugänglich ist und sich nie entfaltet.

28 – Der Terrorismus ist die heftigste Gewalt, weshalb er auch die Möglichkeit des Auslöschens und der Vernichtung einschließt. Er wurde – in der Revolution von 1789 – befürwortet, um einen Prozess, der eben eingesetzt hatte, zu verteidigen. Marx ließ sich davon inspirieren und theoretisierte die Notwendigkeit des Gebrauchs des roten Terrors (s.die Artikel der Neuen Rheinischen Zeitung).

Gewalt wurde in gleicher Weise – von den französischen Revolutionären und von Marx – als einziges Mittel betrachtet, um den Transformationsprozess zu beschleunigen und die Quantität der Gewalt klein zu halten. Als Geburtshelferin der Geschichte angesehen, sollte der Gebrauch des Terrors Gewalt auf ein Minimum reduzieren.

Es musste ein Mittel gefunden werden, um den Terror zu kontrollieren und daran zu hindern, sich zu verselbständigen; Robespierre appellierte dabei an die „vertu“ und Marx an die bewusste und homogene Organisation der Partei (was von Lenin und den Bolschewiki in die Tat umgesetzt worden ist ).

Die revolutionäre Gewalt hatte nicht nur eine Rechtfertigung nötig, nämlich ihr Ziel einen Prozess zu begründen, innerhalb dessen die Männer und Frauen endlich ihre Humanität sollten entwickeln können, sondern auch eine Vermittlung und zeigte damit ihre Heteronomie. Im übrigen ist die „vertu“ z.B. ein allgemeines Äquivalent wie Gott, Freiheit, Gerechtigkeit, etc. … Sie stammt aus einer und impliziert eine Gewalt, um zu sein, was das Schicksal eines jeden allgemeinen Äquivalentes ist, das nur zum Preis eines Reduktions- und Abstraktionsprozesses möglich ist.

29 – Der Terrorismus zielt nicht nur auf die ab, die er direkt berührt, sondern auch auf jene, die er nicht erreicht (er ist Gewalt und Hemmung in einem). Es wird tatsächlich eine Botschaft übertragen, die im Falle, wo der Terror vom Pol der herrschenden Macht ausgeht, eine Warnung mit der Bedeutung sein kann, dass jede Revolte unmöglich und jeder Versuch zur Niederlage und zu einer großen Repression verurteilt ist (also keine Möglichkeit besteht, den Prozess zu brechen). Im Falle, wo der revolutionäre Pol Ausgangspunkt des Terrors ist, exaltiert er die Notwendigkeit, den Prozess des Kapitals zu brechen; er bedeutet die Unerträglichkeit der Existenz in einer gegebenen Gesellschaft; er zeigt, dass der König nur König ist, weil seine Untergebenen ihn als solchen anerkennen; er ruft die „Identität“, d.h. die den Ausgebeuteten eigene Realität wieder ins Leben, wie das F. Fanon und der Black Power gezeigt haben, insbesondere mit ihrem Slogan: „Black is beautiful“.

Es ist klar, dass der Terrorismus die Frage der Sprache stellt (insbesondere nach ihrer hemmenden Dimension), die Frage der Kommunikation zwischen dem Individuum und der Gruppe, zwischen der Gruppe und der Klasse und dem Volk. Ein gewaltsamer Akt ist notwendig, um die gegebene Vorstellung zu brechen und zu zerschlagen, damit die Massen zu einem gewissen Verständnis der Realität gelangen (eine Thematik der Populisten: derjenigen, die das Proletariat aus seiner Lethargie herausholen möchten und derjenigen, die wie Mussolini ihre Zeitgenossen als Kadaver betrachten, auf die man ungelöschten Kalk werfen muss, um sie wieder zum Leben zu erwecken).

Da es jedoch keinen König mehr gibt, demokratisiert sich auch der Terrorismus und wird umso mörderischer, denn er muss treffen, um einen Sinn zu haben, und ein Kräftezentrum schaffen, wo sich viele Personen polarisieren.

Die Massenmedien sind deshalb immer mehr dafür bestimmt, die Menschen passiv zu machen und sie zu zähmen. In den am höchsten entwickelten Zonen der Kapitalgemeinschaft besteht keine Notwendigkeit mehr, der Zähmung wegen auf den Krieg zurückzugreifen. Man lebt mit einem mehr oder weniger verinnerlichten und zur Schau gestellten Terrorismus.

In der Kapitalgemeinschaft taucht der Terrorismus auf, um Unterschiede zu schaffen und den Flux wiederherzustellen, ohne den die Aushebung Stagnation hervorriefe; die Menschen selbst greifen zum Terrorismus zurück, um sich zu unterscheiden und anerkannt zu werden. Und da das Kapital nur noch Vorstellung ist, wird im übrigen alles eine Frage der Macht und diese kann nur durch eine Manifestation ihrer Stärke in Erscheinung treten. Die Welt nährt sich mehr und mehr von der Gewalt.

Der Terrorismus kann auch mit dem Ende der Politik und dem Verschwinden gewisser Regeln in Zusammenhang gebraucht werden, die bis dahin die Gewalt zu kontrollieren vermochten (die Politik regiert nichts mehr).

Die Tatsache, dass die revolutionäre Gewalt leicht zum Terrorismus wird, um wirksam zu bleiben, ist durch den immer größeren Verlust an Energie und die Apathie der Leute bedingt. Es braucht immer stärkere Stimulantien, um sie zu bewegen, denn die Leute sind durch die Massenmedien mit Gewalt übersättigt, die eine Banalität wird; wie vieles Anderes, was aufregend ist, erscheint ihnen alles natürlich. Der Terrorismus möchte jedoch die Realität in ihrer wesentlichen Bestimmung hervortreten lassen, damit die menschlichen Wesen gezwungen würden, in Bezug auf sie Stellung zu nehmen.

30 – Gewisse meinten, das einzige Mittel, die Entfaltung von Gewalt und Terror zu vermeiden, bestehe darin, nur in dem Moment einzuschreiten, wo die Situation dafür reif ist. Sie stützten sich auf die Theorie von Marx, die besagt, dass sich ein sozialer Umsturz nur ereignen kann, wenn die Produktivkräfte einen gewissen Stand der Entwicklung erreicht haben und in Konflikt mit den gesellschaftlichen Beziehungen treten, die gesellschaftliche Gesamtheit also in einen Umwandlungsprozess geschleudert wird und es aus der Tatsache heraus, dass die riesengroße Mehrheit der Bevölkerung betroffen wird, deshalb keine überbordende Gewalt geben kann. Das war die Perspektive der Sozialdemokratie, die man in ihrer gemässigteren bei Kautsky, ihrer radikaleren Form bei Rosa Luxemburg beobachten kann.

Das große Problem war die Bestimmung dieses Momentes der Reife und das Darauf-warten-können, was den am meisten Entrechteten schnell einmal nahelegte, ihren Wunsch nach Veränderung zurückzuhalten. Daraus bildete sich das repressive Bewusstsein und eine gesellschaftliche und geschichtliche Hemmung.

Die Intervention bleibt deshalb sehr beschrankt; der Wille hat keine Bedeutung und wird als Mangel betrachtet.

Diese Auffassung konnte nur gültig sein, wenn der Lebensprozess des Kapitals auf das Verhalten des Arbeiters keine Folgen hatte. Marx hatte jedoch im Buch 1 des Kapitals klargemacht, dass der Arbeiter tendenziell gezähmt wird, da er die Herrschaft des Kapitals als ein Naturphänomen betrachtet; in einer zweiten Phase, wo er vom einfachen Produzenten zum Produzenten-Konsumenten wird, achtet er die Herrschaft nicht einmal, denn er hat sie verinnerlicht. Er ist integriert. Möglicherweise war die revolutionäre Intervention, die Marx wollte, notwendig, um diese Phase zu überspringen; das zöge auch die Möglichkeit in Betracht, dass der Kapitalismus nicht unbedingt im Kommunismus enden muss. Damit dem so sei, müssten die menschlichen Wesen immer bereit sein, zu handeln, immer voller revolutionärer Wut sein.

31 – In der Geschichte gab es häufig Augenblicke, in denen die Gewalt und der Terrorismus entglitten: in Genozide und in Momenten kollektiven Wahnsinns. Gegenwärtig werden Gewalt und Terrorismus aufgrund der Notwendigkeit von Neuem frei, die Phantasie der in Passivität versunkenen Leute immer heftiger anzuregen, die durch das Wegfallen der Rollen orientierungslos geworden sind.

Man stellt allgemein fest, dass der Terrorismus sich am Ende von Perioden entwickelt, wenn es schwierig geworden ist, sich zu orientieren. Der individualanarchistische Terrorismus Ende des letzten Jahrhunderts zeigte das Ende der bourgeoisen Gesellschaft an, das sich im Kriege 14/18 vollstreckte. Der gegenwärtige Terrorismus äußert den potentiellen Tod des Kapitals. Es werden andere Katastrophen sein, als ein sehr unwahrscheinlicher 3. Weltkrieg, die es real zerstören werden.

Der Terrorismus rührt in diesem Falle von der Unmöglichkeit her, die Wurzel des Übels zu begreifen. In den Momenten, wo bis auf den Grund der Dinge gegangen werden sollte, erreicht die Gewalt, die die Ursachen dessen, was die Gesellschaft unterminiert, abzuschaffen sucht, ihr Objekt nicht und macht sich, entkommt.

32 – Angesichts der Tatsache, dass der Ausweg aus der gegenwärtigen Sackgasse nicht mehr innerhalb der Kapitalgemeinschaft, sondern außerhalb von ihr zu suchen ist, dass diese Welt also verlassen werden muss, besteht die Notwendigkeit einer Intervention und deshalb auch einer Gewalt, weil wir uns von dem durch das Kapital beherrschten Lebensprozess losreißen müssen. Andrerseits ist es gewiss, dass dieses – sobald das Phänomens des Aussteigens eine gewisse Breite erreicht haben wird – wird einschreiten müssen. Das Erscheinen eines Unterschieds erzeugt Gewalt von Seiten dessen, was sich bedroht fühlt. Man wird sich verteidigen müssen.

Man kann der Gewalt nicht aus dem Wege gehen, doch kann man, wiederholen wir es, vermeiden, sich auf den Boden der Gewalt des Kapitals zu begeben. Unsere Gewalt wird darin bestehen, uns außerhalb seiner Sphäre zu stellen. Das ist das einzige Mittel, die Intervention bis zu deren Wurzeln zu tragen und so eine große Anzahl gewaltsamer Erscheinungen ihrer Grundlage zu berauben.

Man kann dagegen der Zähmung entgehen. Unser Ausstieg aus der Welt zielt darauf ab, zu einem Energiepotential Zugang zu finden, das ein immenses Verweigerungspotential sein wird; unser Anderswerden wird die Abschaffung der vieltausendjährigen Irrnis bedeuten und wir werden uns endlich als Gattung-Phylum wiederfinden, die das Phänomen der Reflexion des Lebens in Symbiose mit allen Lebewesen verwirklichen soll. Es geht um die Erreichung und Verwirklichung der Individualität und des Gemeinwesens innerhalb der Gattung, wo Mann und Frau gleichzeitige, einander durchdringende Lebensformen leben werden.

33 – Bevor wir auf die Möglichkeit eines Weges außerhalb des Kapitals weisen, müssen wir noch die Gewalt als ein menschliches Verhalten in der Natur betrachten, d.h. als Eingriff der Gattung. Es ist schon aufgezeigt worden, dass die Jagd, die Landwirtschaft, die Zähmung und Aufzucht von Tieren ebenfalls Gewaltakte sind. Das gilt auch für die medizinischen und wissenschaftlichen Eingriffe. Das Problem der Gewalt führt also auch zur Frage der Gültigkeit der Intervention und konsequenterweise zur Frage der Therapie, da diese doch im allgemeinen dafür verwendet wird, die Nachteile auszuflicken, die sich als unerwünschte Resultate einer Intervention ergeben. Es ist klar, dass die Ablehnung eines jeden Eingriffs die Gattung in eine Passivität führte und sie wieder ganz in der Natur versinken ließe. Das bedeutete eine Rückkehr in den ersten Zustand, aber auch eine totale Degeneration. Die Intervention in die Natur soll jedoch in vollständiger Kenntnis der verschiedenen Lebensprozesse vonstatten gehen und so oft als möglich so, dass an ihre Stelle keine Prothesen und kein Ersatz treten sollen. Das lässt der Gattung das Feld der Intervention offen, die Schöpfung in Funktion all der Bestimmungen der Gattung ist, deren wesentlichste ihre Reflexivität ist. Diese ist im Phänomen des gesamten Lebensprozesses einbegriffen, dessen Entfaltung wir zulassen dürfen.

34 – Das Phänomen der Geburt veranschaulicht aufs Beste unsere Positionen. Es ist das ein Prozess, der in kontinuierlicher Weise das Wesen aus dem aquatischen Stadium in ein Lebensstadium an der Luft hinüberbringt. Zu diesem Zwecke interveniert eine Serie von Mechanismen, die dem Fötus erlaubt, über Phasen hinweg, die sich in strenger Ordnung folgen und deren jede ihre eigene Dauer hat, als menschliches Junges zu erscheinen. Es tritt dabei keine Gewalt auf, was nicht heisst, dass das Ereignis nicht heftig, also mit viel Kraft verbunden ist und eine grosse Menge Energie freisetzt. Tatsächlich sind die Anstrengungen des Kindes, aus der mütterlichen Höhlung herauszukommen und diejenigen der Mutter, das Kind hinauszustoßen, von großer Weite. Gewalt entsteht jedoch dort, wo dem Prozess entgegengearbeitet wird, wie das fast immer der Fall war, als die Entbindungsmethode nach Leboyer noch nicht bekannt war.

Auch die Erziehung des Kindes und seine Bildung sollten gewaltlose Übertragungen sein, d.h. geeignet, das Kind die verschiedenen Schritte zur Reife tun zu lassen, ohne dass an seinem Lebensrhythmus gerührt würde. (Was am Beispiel der Geburt gezeigt wurde, gilt ebenfalls für die Entwöhnung, die Pubertät, etc …) Es braucht eine Art Initiation, die das Kind nicht zu seiner Autonomie, sondern zu seiner Realität gelangen lässt, die nie parzellär ist, da in jedem von uns sich die Gemeinwesens-Identität entwickelt.

Es scheint, dass die Initiation, wie sie ursprünglich ablief, ein Moment im Leben des Kindes war, in dem zwei Phasen des Lebens nebeneinander existierten und es im Laufe des Rituals, in dem sich alles zuspitzte, dem Kinde möglich wurde, vielleicht nicht schmerzlos, aber sicher ohne Gewalt, den Schritt von einer Phase in die andere zu vollziehen. Die Initiation enthielt die Vorstellung all dessen, was auf das Kind zukommen sollte, ermöglichte also eine Stellungsnahme dazu und eine gewisse Beherrschung des Zukünftigen. Das Kind steht also nicht einfach vor einem Unbekannten, das es terrorisieren könnte.

Um die Gewalt zu vermeiden, müssen die Beziehungen zwischen Phylogenese und Ontogenese respektiert werden. Im Verlaufe der letzteren werden teilweise Phasen der ersteren wiederholt.. Dasselbe spielt sich auch in den Beziehungen zwischen Individualität und Gattung ab. Indem man die Aufeinanderfolge der Phasen allzu stark forciert oder sogar versucht, sie zu überspringen, produziert man Krüppelwesen. Denn wenn der Prozess – und das gilt vor allem für die Ontogenese – nicht vollständig vollendet wird und lückenhaft bleibt, stellt sich beim nicht vollendeten Wesen der Hang ein ein, den Prozess noch einmal zu durchleben, um endlich zu seiner Erfüllung zu gelangen. Daher bringt diese Welt Erwachsene hervor, die überhaupt noch nicht erwachsen sind und vollständig von einer noch nicht vollendeten mehr oder entfernten Jugend abhängen.

In gewissen Fällen hat die gegenwärtige Bildungsmethode Erfolg und die Kinder erlangen die außergewöhnliche Abstraktion, die die Entwicklung des Kapitals verlangt. Das geschieht auf Kosten ihrer Affektivität und Spontaneität… Es bilden sich Wesen, bei denen jede Sensibilität unterernährt ist; sie werden die geeigneten Chefs für die Kapitalgemeinschaft sein.

35 – Sicher muss man zu einer Abstraktionsfähigkeit gelangen (vollständige Verwirklichung der Reflexivität), doch der Weg zu ihr soll langsamer zurückgelegt werden und für jedes Individuum ein eigener sein. Die Abstraktion wird man auf Weisen erlangen, die niemals ausschließen und die Ganzheit konstant in Rechnung gezogen wird. Die Menschen müssen die vorangegangenen Phasen einbeziehen können, die Momente des Lebens ihrer Vorfahren sind. Nur so haben diese nicht für nichts gelebt und hält sich die Kontinuität zwischen den Generationen aufrecht. Denn in der Unterbrechung dieser Kontinuität ist Gewalt enthalten. So werden die verschiedenen Etappen der Erlernung des Schreibens, des Lesens, des mathematischen Denkens und der verschiedenen Logiken, aber auch der Geschichte, Philosophie, etc. … (bedenkt man das gegenwärtig getrennte Wissen, denn es ist klar, dass die Kenntnisse nicht mehr nach Disziplinen aufgefächert sein werden) ganz anders angegangen werden müssen, als das zur Stunde geschieht, wobei die Grundlage, die Lebensweise, viel weniger abstrakt sein wird, als heute.

Ein Wesen, das die verschiedenen Prozesse, die es aufbauen sollen, nicht auf harmonische Weise vollendet hat, ist ein abhängiges Wesen, und das umso mehr, als es nicht zur Wahrnehmung der Wurzel dieser Gebrechlichkeit gelangt, denn wir haben gesehen, dass der Prozess, der uns als männliche oder weibliche Wesen hervorbringt, in sich sehr alte Phasen birgt, die Teile der Phylogenese bilden. Im übrigen greift ein solches abhängiges Wesen häufig auf die Gewalt zurück, um seinen Mangel zu verhüllen.

36 – Letzten Endes ist die größte Gewalt, die die Gattung hervorgebracht hat, diejenige gegen sich selbst, indem sie sich verselbständigt und sich ihrem biologischen Wesen entfremdet hat. Diese enorm groß gewordene Kluft begründet die Notwendigkeit aller Arten von Eingriffen und Gewalt.

Die ihrer Anlage nach früchteessende Gattung ist fleischfressend geworden, daraufhin omnivor-carnivor und isst zu viel Gekochtes und Verfälschtes. Die Küche ist die schlimmste Erfindung und erlaubte die Zähmung; sie hat eine Menge Krankheiten hervorgerufen, die ihrerseits die Entwicklung verschiedener medizinischer Praktiken erforderten, die, vor allem was die modernen Therapien betrifft, dazu beitragen, Männer und Frauen zu entwurzeln und sie ausserhalb ihrer Natur zu stellen.

Dasselbe geschieht mit der Enteignung der Geste, des Wortes und der Phantasie: die technische Gattung wird – bis auf eine immer kleinere Minderheit – vom Kapital und denjenigen, die sich gegen die Technik auflehnen und in ihr das Übel sehen, ihrer Technologie beraubt.

Die Technik ist nicht nur das, wie Aristoteles dachte, was notwendig ist, um dem Ungenügen der Natur abzuhelfen, sondern sie ist das grundsätzliche Element, das erlaubt, alle Möglichkeiten, die von andern Gattungen verwirklicht worden sind, zu reaktualisieren. Über die Gattung Mensch entwickelt sich das Leben nicht, indem es immer ärmer wird.

37 – Mit der Gewalt Schluss zu machen impliziert die Abschaffung der Abhängigkeit, die die Trennung zwischen sich und andern sanktioniert und der ursprünglichen Gewalt, der Ursache der Irrung, ihre Weihe erteilt, impliziert die Zerstörung der Grundlage der Zähmung. Abhängigkeit zu beseitigen heisst nicht, die Bande zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaft aufzulösen, sondern fordert ganz im Gegenteil die notwendige Beseitigung der Trennung. Denn diese erfordert die Herstellung äußerer Vermittlungen, um die Vereinigung wieder herzustellen. Der Begriff der Symbiose mag das Gegenteil von Abhängigkeit bedeuten.

Die Ablehnung der Abhängigkeit drückt sich im Willen aus, den Körper wieder zu entdecken (damit wird der Abstraktion und der Exaltation der Trennung begegnet). Es ist der Wille, sich zu gehören und sich selber in die Hand zu nehmen. Eine Konsequenz daraus ist die Verweigerung der Macht der Medizin, jeder Therapie und die Suche einer gesunden Ernährung, die unserm biologischen Wesen entspricht, was über den Problemkreis der gegenwärtig modischen biologischen Landwirtschaft hinausgeht.

Es wird auch weiterhin die Möglichkeit der Gewalt zwischen Menschen bestehen, denn sie werden weiter werden und dieses Werden wird nicht ohne Brüche im Prozess vonstatten gehen; das Gemeinwesen wird aber in der Lage sein, das Phänomen Gewalt, wie auch das Anders-Werden (die Entfremdung) einzuschränken. Das ist wesentlich, denn die Theoretisierung der Gewaltlosigkeit ist die Bestätigung eines Willens- und Energieverlustes der Menschen: das Verschwinden einer jeden kräftigen Behauptung und das tolerante Dahinschwinden. Auf der Beseitigung der zerstörerischen Gewalt zu beharren beinhaltet nicht die Forderung, stumpf und debil zu sein. Im Gegenteil: je mehr man wiederhergestellt ist, umso mehr wird man fähig sein, heftige, außerhalb jeder Monotonie stehende Phänomene zu leben.

Das Gemeinwesen muss im Stande sein, äußerst energiegeladene Impulse aufzunehmen, oder man postuliert eine Gemeinschaft utopischen Stils, wo alle Wesen identisch und harmonisch sind. Die Harmonie ist häufig die Abwesenheit tiefer Schwingungen.

38 – Um zum menschlichen, in den Kosmos integrierten Gemeinwesen zu gelangen, muss man mit dieser Welt brechen. Die Mehrheit der Männer und Frauen fühlen, dass ein anderer Weg gefunden werden muss als derjenige, den man bis dahin benutzt hat; nur, sie haben Angst, den Sprung zu machen, eine Angst, die durch den vom Kapital aufoktroyierten Lebensstil aufrechterhalten wird.

„Hier ist die Angst, hier sollst du springen“. Wir werden auf niemanden Gewalt ausüben, wer immer es sei, diesen Sprung zu machen. An jedem und jeder liegt es, die eigene Angst zu überwinden und zu begreifen, was Großes auf dem Spiele steht, und das künftige Leben zu erahnen. Wir können auch nicht die nahezu sichere Eventualität kommender Katastrophen benutzen, um einen terroristischen Diskurs an die große Glocke zu hängen, um Zweifel und Angst zu besiegen.

Alle Männer und Frauen, die sich individuell selbst in die Hand nehmen, müssen ihre Anstrengungen da hinführen ein neues Gemeinwesen hervorzubringen. Gegenwärtig besteht zwischen der alten Lebensweise und der Möglichkeit einer andern Koexistenz. Der Übergang von der einen zur andern ist ein Prozess der Geburt. Angesichts der unzähligen angehäuften und im Laufe der Jahrtausende nicht gelösten Widersprüche jedoch und der Degeneration der Gattung ist es klar, dass die Gewalt nicht wird vermieden werden können. Wir fordern sie nicht. Wir konstatieren sie nur, wie wir uns auch bewusst sind, dass die Dynamik des Ausstiegs aus dem Kapital eine Gewalt gegen seinen Gesamtprozess darstellt.

39 – Es muss ein Lebens- und Reflexionszentrum außerhalb der Gewalt und der Zähmung gebildet werden.

]]> Freedom Club – Die industrielle Gesellschaft und ihre Zukunft https://panopticon.blackblogs.org/2023/06/11/freedom-club-die-industrielle-gesellschaft-und-ihre-zukunft/ Sun, 11 Jun 2023 17:13:46 +0000 http://panopticon.blackblogs.org/?p=5012 Continue reading ]]> Laut verschiedenen Medien wurde Theodore „Ted“ Kaczynski am Samstag in seiner Zelle tot aufgefunden, einige Medien berichten auch darüber dass es sich möglicherweise um Selbstmord handeln könnte. Wie es auch gewesen sein mag, Ted Kaczynski war 81 Jahre alt, schwer krank – er hatte Krebs im Endstadium und ist tot. Er war seit 1996, seit seiner Verhaftung, in Hochsicherheitsgefängnissen eingesperrt und da er zu achtmal lebenslänglich Verurteilt wurde, ohne Möglichkeit auf Bewährung, war es klar, dass er im Knast sterben würde.

Die Figur um Ted Kazcynski war immer sehr umstritten, doch wollen wir heute, denn wir haben es heute erst erfahren, seine Schrift „Die industrielle Gesellschaft und ihre Zukunft“ auf unseren Blog veröffentlichen, die zwar in einigen Punkten etwas veraltet erscheinen mag, aber immer noch brandaktuell ist. Der Kapitalismus treibt jegliches und mögliche Leben was aktuell auf diesen Planeten möglich ist auf der schnellsten Weise zum Ende. Dank des Kapitalismus ist es jetzt schon für Milliarden von Menschen auf diesen Planeten nicht mehr möglich zu leben und jeden Tag werden es immer mehr und die Lebensbedingungen mehr und mehr unerträglich.

Ted Kazcynski schrieb vor fast 30 Jahren schon darüber und warnte darüber, er wusste dass der Kapitalismus das Leben auf diesen Planeten bald zerstören würde, er war aber nicht der einzige der dies getan hat. Ted hat mit großen Interesse einige der Werke von Jacque Ellul gelesen und dies ist in diesem Text ziemlich ersichtlich.Ted entschied sich nach seinen Möglichkeiten dagegen zu intervenieren. Er tat dies mittels Briefbomben, es starben mehrere Personen und dutzende wurden verletzt die in verschiedenen Unternehmen in der Technologiebranche arbeiteten.Und natürlicht mittels den Text den wir jetzt hier veröffentlichen, was wir vor langer Zeit machen wollen. Man mag mit seinen Aktionen und seinen Texten nicht einverstanden sein und kritisieren, was auch wir tun, aber uns geht es hier vor allem um den hier vorliegenden Text. Was die Debatte in der anarchistischen Bewegung angeht, warum gewisse Mittel nicht vertretbar sind, verweisen wir auf diesen Text (Über einige alte, aber aktuelle Fragen unter Anarchisten, und nicht nur…).

Wir haben die Version übernommen die auf der Seite anarchistische Bibliothek ist, wir haben ihn nicht mit dem Originaltext verglichen, manchmal gibt es sprachliche Abweichungen mit denen wir nicht einverstanden sind. Wir raten herzlich allen Menschen diesen Text durchzulesen um mit ihren Freundinnen und Freunden, ihren Gefährtinnen und Gefährten, oder sonst wen zu diskutieren. Es spielt vorerst keine Rolle ob man damit einverstanden ist oder nicht, aber der Text bietet viele Diskussionspunkte die wie schon oben gesagt, immer noch unglaublich brandaktuell sind.


Freedom Club

Die industrielle Gesellschaft und ihre Zukunft


Anmerkung zur Übersetzung des Manifests

Der Text Industrial Society and its Future, auch als Unabomber-Manifest bekannt, erschien erstmals als Abdruck eines 56-seitigen Manuskripts, das eine sich als »FC« (Freedom Club) bezeichnende ökologisch-anarchistische Gruppe 1995 an die New York Times und die Washington Post schickte. FC forderte die Veröffentlichung des Textes und bot im Gegenzug die Einstellung einer Bombenserie an, die in den USA bisher drei Menschen getötet und mehrere schwer verletzt hatte. Seit dem Abdruck des Textes durch beide Zeitungen kursieren mehrere Fassungen des Textes im Internet.

Seit 2001 steht Lutz Dammbeck in brieflichem Kontakt mit Ted Kaczynski, der ihm im August 2002 anbot, eine authentische und korrigierte Fassung des Textes zu schicken. Im Jahre 2003 beendete Ted Kaczynski im US-Penitentiary MAX/Florence, Colorado, die Arbeit an der Fassung, die der deutschen Übersetzung zugrunde liegt.

Dazu Ted Kaczynski in einem Brief an Lutz Dammbeck:

»Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, haben Sie mich in einem Ihrer Briefe gefragt, wer an den zahlreichen Fehlem der veröffentlichten Versionen des Manifestes schuld sei. Schuld daran sind die Leute, die das Manifest sorglos und nachlässig transcribiert haben. Alle veröffentlichten Versionen des Manifestes beruhen direkt oder indirekt auf der Version der Zeitung The Washington Post. Infolge der Nachlässigkeit der Angestellten dieser Zeitung sind viele Fehler, besonders das Auslassen von Teilen mancher Sätze und sogar von ganzen Sätzen, in dieser Version erschienen. Jedes Mal, wenn jemand das Manifest wieder transcribiert hat, hat er diese Fehler übertragen und auch eigene Fehler beigetragen, sodass die veröffentlichten Versionen immer schlechter geworden sind.«


EINLEITUNG

1. Die industrielle Revolution und ihre Folgen sind eine Katastrophe für die Menschheit. Zwar ist die Lebenserwartung derer, die in »hoch entwickelten« Ländern leben, dadurch bedeutend gestiegen, gleichzeitig aber ist eine Destabilisierung der Gesellschaft eingetreten, das Leben bringt keine Erfüllung mehr, Menschen sind Demütigungen unterworfen, psychische Leiden sind weit verbreitet (in der Dritten Welt auch körperliche Leiden) und der Natur ist schwerer Schaden zugefügt worden. Die technologische Fortentwicklung wird die Lage weiter verschlimmern. Mit Sicherheit wird die Menschheit noch größere Demütigungen erleiden und die Natur noch mehr geschädigt werden, wahrscheinlich werden sich die gesellschaftliche Zerstörung und die psychischen Leiden verstärken, und schließlich könnte es selbst in den »hoch entwickelten« Ländern einen Anstieg von Krankheiten geben.

2. Das industriell-technologische System kann überleben oder es kann zusammenbrechen. Wenn es überlebt, KÖNNTE es darin eines Tages möglicherweise nur noch geringe psychische und physische Leiden geben, aber nur nach einer langen und sehr schmerzhaften Zeit der Anpassung und nur um den Preis einer dauerhaften Reduzierung der Menschen und anderer Lebewesen auf designte Produkte und bloße Rädchen im Getriebe. Außerdem wird es, wenn das System überlebt, keine Möglichkeit geben, durch Reformen oder Eingriffe zu verhindern, dass den Menschen darin ihre Würde und Autonomie genommen werden.

3. Aber auch wenn das System zusammenbricht, werden die Folgen noch immer sehr schmerzhaft sein. Je mächtiger aber das System sich entwickelt, desto katastrophaler werden die Folgen des Zusammenbruchs sein, so dass ein baldiger Zusammenbruch des Systems wünschenswerter ist als ein späterer.

4. Deshalb treten wir für eine Revolution gegen das industrielle System ein. Diese Revolution kann mit oder ohne Gewalt durchgeführt werden; sie kann plötzlich eintreten oder in einem längeren Prozess über mehrere Jahrzehnte. Wir können nichts davon Voraussagen. Aber wir skizzieren generell die Maßnahmen, die jene, die das industrielle System hassen, ergreifen sollten, um den Weg für eine Revolution gegen diese Form der Gesellschaft zu bereiten. Es wird keine POLITISCHE Revolution sein. Ihr Ziel wird sein, nicht Regierungen, sondern die ökonomischen und technologischen Grundlagen der bestehenden Gesellschaft zu stürzen.

5. In dieser Abhandlung betrachten wir nur einige der negativen Entwicklungen, die aus dem industriell-technologischen System entstanden sind. Andere Entwicklungen werden wir nur kurz andeuten oder gar nicht behandeln. Das bedeutet nicht, dass wir diese anderen Entwicklungen für unwichtig halten. Nur aus praktischen Gründen müssen wir unsere Erörterung auf Bereiche beschränken, denen bis jetzt nur ungenügende öffentliche Aufmerksamkeit zugekommen ist oder in denen wir etwas Neues zu sagen haben. Zum Beispiel gibt es inzwischen eine sehr aktive Umwelt- und Naturschutzbewegung, weswegen wir nur sehr wenig über Umweltverschmutzung und die Zerstörung der ursprünglichen Natur geschrieben haben, obwohl wir diese für äußerst wichtig halten.

PSYCHOLOGIE DER MODERNEN LINKEN

6. Wohl jeder wird mit uns übereinstimmen, dass wir gegenwärtig in einer zutiefst gestörten Gesellschaft leben. Eines der verbreitetsten Symptome des Wahnwitzes unserer Welt ist die linksgerichtete Ideologie1, weswegen eine Erörterung der Psychologie der Linken als Einleitung einer Erörterung der Probleme der modernen Gesellschaft im Allgemeinen dienen kann.

7. Was aber versteht man unter linksgerichteter Ideologie? Während der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts konnte man linksgerichtete Ideologie praktisch gleichsetzen mit Sozialismus. Heute ist die Bewegung zersplittert und es ist nicht klar, wer zutreffend als Linker bezeichnet werden kann. Wenn wir in dieser Abhandlung über Linke sprechen, denken wir vor allem an Sozialisten, Kollektivisten, Anhänger der »political correctness«, Feministinnen, Aktivisten der Schwulen- und Behindertenbewegungen, Tierschützer und dergleichen. Aber nicht jeder, der einer dieser Bewegungen verbunden ist, ist ein Linker. In unserer Erörterung der Linken versuchen wir weniger, eine Ideologie zu fassen als einen psychologischen Typus, oder eher noch eine Ansammlung verwandter psychologischer Typen. So wird sich im Verlauf unserer Erörterung über linke Psychologie klarer ergeben, was wir mit linksgerichteter Ideologie meinen (siehe auch Abschnitte 227-230).

8. Dennoch wird unser Begriff von linksgerichteter Ideologie wohl nicht so klar werden, wie wir es uns wünschen würden, aber dagegen scheint es kein Mittel zu geben. Wir versuchen hier lediglich, annähernd und in groben Zügen die beiden psychologischen Tendenzen zu umreißen, die unserer Meinung nach die Hauptantriebskräfte der modernen linken Ideologie sind. Wir beanspruchen keineswegs, damit die GANZE Wahrheit über linksgerichtete Psychologie zu verkünden. Auch ist unsere Erörterung lediglich auf die moderne linksgerichtete Ideologie bezogen. Wir lassen die Frage offen, inwieweit unsere Erörterung auf die Linken des 19. und frühen 20. Jahrhunderts übertragbar wäre.

9. Die beiden psychologischen Tendenzen, die der modernen linksgerichteten Ideologie zugrunde liegen, nennen wir Gefühle von Minderwertigkeit und Überangepasstheit. Gefühle von Minderwertigkeit sind charakteristisch für die gesamte moderne Linke, Überangepasstheit dagegen nur für einen Teil der modernen Linken; aber gerade dieser Teil ist höchst einflussreich.

GEFÜHLE VON MINDERWERTIGKEIT

10. Unter »Gefühlen von Minderwertigkeit« verstehen wir nicht nur Minderwertigkeitsgefühle im engeren Sinne, sondern ein ganzes Spektrum verwandter Eigenschaften: schwaches Selbstbewusstsein, Ohnmachtsgefühle, depressive Neigungen, Defätismus, Schuldgefühle, Selbsthass usw. Wir behaupten, dass die modernen Linken zu diesen Gefühlen neigen (möglicherweise mehr oder weniger verdrängt), und dass diese Gefühle entscheidend die Richtung der modernen linksgerichteten Ideologie prägen.

11. Wenn jemand nahezu alles, was über ihn (oder über Gruppen, mit denen er sich identifiziert) gesagt wird, als Geringschätzung interpretiert, schließen wir daraus, dass er Minderwertigkeitsgefühle oder ein schwaches Selbstbewusstsein hat. Diese Neigung ist unter Aktivisten für Minderheitenrechte besonders ausgeprägt, ob sie nun zu der Minderheitengruppe gehören, deren Rechte sie verteidigen, oder nicht. Sie sind hypersensibel gegenüber den Ausdrücken, die Minderheiten bezeichnen und gegenüber allem, was über Minderheiten gesagt wird. Die Begriffe »Neger«, »Orientale«, »Behinderter« oder »chick« für Afrikaner, Asiaten, körperlich eingeschränkte Personen oder Frauen hatten ursprünglich keine abwertenden Konnotationen. »Broad« und »chick« waren bloß die weiblichen Entsprechungen zu »guy«, »dude« oder »fellow«: Kerl, Bursche, Kumpel. Die negativen Konnotationen haben erst die Aktivisten selbst mit diesen Ausdrücken verbunden.

Manche Tierschützer gehen so weit, dass sie das Wort »pet«, Haustier, ablehnen und auf der Bezeichnung »animal compa- nion«, Tier-Gefährte, bestehen. Linksgerichtete Anthropologen geben sich große Mühe zu vermeiden, irgendetwas über primitive Völker zu sagen, das womöglich als negativ interpretiert werden könnte. Sie ersetzen das Wort »primitiv« durch »nicht- alphabetisiert« oder »schriftlos«. Sie wirken fast paranoid in ihrer Befürchtung, den Eindruck zu erwecken, sie hielten irgendeine primitive Kultur im Vergleich zu unserer eigenen für minderwertig. (Wir wollen nicht unterstellen, dass primitive Kulturen der unseren tatsächlich unterlegen SIND. Wir wollen lediglich die Hypersensibilität linksgerichteter Anthropologen aufzeigen.)

12. Diejenigen, die am sensibelsten auf »politisch inkorrekte« Terminologie reagieren, sind nicht der durchschnittliche schwarze Ghettobewohner, der asiatische Immigrant, die misshandelte Frau und der Behinderte, sondern eine Minderheit von Aktivisten, von denen viele nicht einmal einer »unterdrückten« Gruppe angehören, sondern privilegierten Gesellschaftsschichten entstammen. Die Hochburg der »political correct- ness« bilden Universitätsprofessoren, die sichere Arbeitsplätze und gute Einkommen haben und die in ihrer Mehrheit heterosexuelle weiße Männer aus der mittleren bis oberen Mittelschicht sind.

13. Viele Linke identifizieren sich stark mit den Problemen von Gruppen, die allgemein als schwach (Frauen), unterdrückt (Indianer), abstoßend (Homosexuelle) oder anderweitig minderwertig angesehen werden. Die Linken selbst empfinden diese Gruppen als minderwertig. Sie würden es sich selbst gegenüber zwar nie zugeben, dass sie so empfinden, aber genau deswegen, weil sie diese Gruppen als minderwertig ansehen, identifizieren sie sich mit ihren Problemen. (Wir wollen nicht unterstellen, dass Frauen, Indianer usw. tatsächlich minderwertig SIND; uns geht es lediglich um linksgerichtete Psychologie.)

14. Feministinnen und Feministen sind verzweifelt darauf aus zu beweisen, dass Frauen genauso stark und fähig sind wie Männer. Dahinter steckt deutlich die Befürchtung, Frauen könnten NICHT so stark und fähig wie Männer sein.

15. Die Linken neigen dazu, alles zu hassen, was als stark, gut und erfolgreich gilt. Sie hassen Amerika, sie hassen die westliche Zivilisation, sie hassen weiße Männer, sie hassen Rationalität. Die Gründe, die die Linken für diesen Hass auf den Westen usw. selbst vorgeben, stimmen ganz klar nicht mit ihren wahren Motiven überein. Sie SAGEN, dass sie den Westen hassen, weil er kriegerisch, imperialistisch, sexistisch, ethno- zentristisch usw. sei, aber wo diese Makel in sozialistischen Ländern oder primitiven Kulturen auftreten, wird der Linke Entschuldigungen dafür finden oder höchstens WIDERWILLIG zugeben, dass sie existieren; wohingegen er BEGEISTERT auf diese Makel hin weisen (und sie oft grob übertreiben) wird, wenn sie in westlichen Zivilisationen auftreten. So ist es klar, dass diese Makel nicht die tatsächlichen Motive für den Hass des Linken auf Amerika und den Westen sind. Er hasst Amerika und den Westen, weil sie stark und erfolgreich sind.

16. Begriffe wie »Selbstvertrauen«, »Selbstständigkeit«, »Initiative«, »Unternehmungsgeist«, »Optimismus« usw. spielen im linken Vokabular nur eine geringe Rolle. Der Linke ist antiindividualistisch und prokollektivistisch. Er will, dass die Gesellschaft jedermanns Probleme löst, jedermanns Bedürfnisse befriedigt und für jeden sorgt. Er gehört nicht zu denen, die Vertrauen in ihre Fähigkeit haben, ihre eigenen Probleme zu lösen und ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Der Linke lehnt das Wettbewerbsprinzip ab, weil er sich tief im Innern als Verlierer fühlt.

17. Kunstformen, die moderne linksgerichtete Intellektuelle ansprechen, thematisieren Elend, Niederlage und Verzweiflung, oder aber sie nehmen einen orgiastischen Ton an und werfen jegliche rationale Kontrolle über Bord, als ob es keine Hoffnung gäbe, irgendetwas durch rationale Berechnung zu vollbringen und als ob die einzige Möglichkeit sei, in den Empfindungen des Augenblicks zu versinken.

18. Moderne linksgerichtete Philosophen neigen dazu, Vernunft, Wissenschaft, objektive Realität zu verwerfen und auf einem Kulturrelativismus zu bestehen. Zwar kann man ernsthaft hinterfragen, worauf wissenschaftliche Erkenntnis beruht und wie, wenn überhaupt, ein Konzept objektiver Realität definiert werden kann. Aber ganz offensichtlich sind linksgerichtete Philosophen nicht einfach kühle Logiker, die die Grundlagen von Erkenntnis systematisch analysieren. Sie sind bei ihrem Angriff auf Wahrheit und Wirklichkeit emotional stark beteiligt. Sie greifen diese Konzepte aufgrund ihrer eigenen psychologischen Bedürfnisse an. Zum einen ist ihr Angriff ein Ventil für ihre Feindseligkeit, und er befriedigt, wenn er erfolgreich ist, ihren Machttrieb. Vor allem aber hasst der Linke Wissenschaft und Rationalität, weil diese gewisse Annahmen als wahr klassifizieren (d.h. als erfolgreich, als überlegen) und andere Annahmen als falsch (d.h. als gescheitert, als minderwertig). Die Minderwertigkeitsgefühle des Linken sind so tief verwurzelt, dass er eine solche Einteilung der Dinge in erfolgreich und überlegen einerseits und gescheitert und unterlegen andererseits nicht ertragen kann. Hierauf beruht auch die Ablehnung, die viele Linke dem Begriff von Geisteskrankheit und der Nützlichkeit von Intelligenztests entgegenbringen. Linke weisen genetische Erklärungen für menschliche Fähigkeiten und Verhaltensweisen zurück, weil solche Erklärungen dazu führen, dass einige Menschen anderen gegenüber als überlegen bzw. unterlegen erscheinen. Linke geben lieber der Gesellschaft das Verdienst oder die Schuld an den Fähigkeiten eines Menschen oder an deren Fehlen. Wenn ein Mensch denn »unterlegen« ist, so ist es nicht sein Verschulden, sondern das der Gesellschaft, die bei seiner Erziehung versagt hat.

19. Der Linke gehört üblicherweise nicht zu denen, die ihre Minderwertigkeitsgefühle durch Angeberei, Ichbezogenheit, Rüpelei, Selbstdarstellung oder rücksichtslose Konkurrenz kompensieren; denn jene haben ihren Glauben an sich selbst nicht völlig verloren. Es fehlt ihnen an Vertrauen in ihre Kräfte und an Selbstwertgefühl, aber sie können sich trotzdem vorstellen, stark zu sein, und die Anstrengungen, diese Stärke tatsächlich zu erlangen, sind die Ursache für ihr unangenehmes Verhalten2. Aber davon ist der Linke weit entfernt. Seine Minderwertigkeitsgefühle sind so eingefleischt, dass er sich nicht als starkes und wertvolles Individuum begreifen kann. Daher der Kollektivismus der Linken. Er kann sich nur als Mitglied einer großen Organisation oder einer Massenbewegung stark fühlen, mit der er sich identifiziert.

20. Man beachte die masochistische Tendenz linker Taktiken. Linke protestieren mit Sitzstreiks, indem sie sich vor Fahrzeugen auf den Boden niederlegen, sie provozieren bewusst die Polizei oder Rassisten, sie zu misshandeln, usw. Diese Taktiken mögen zwar oft wirkungsvoll sein, aber viele Linke nutzen sie nicht als Mittel zum Zweck, sondern weil sie masochistische Taktiken BEVORZUGEN. Selbsthass ist eine linke Eigenschaft.

21. Linke behaupten, dass ihr Aktivismus durch Mitgefühl oder moralische Prinzipien motiviert ist, und moralische Prinzipien spielen auch in der Tat eine Rolle für den übersozialisierten Typus des Linken. Aber Mitleid und moralische Prinzipien können nicht die Hauptmotive von linkem Aktivismus sein. Feindseligkeit ist ein zu herausragender Aspekt linken Verhaltens; ebenso der Machttrieb. Außerdem ist linkes Verhalten nicht rational überlegt darauf ausgerichtet, was für diejenigen, denen helfen zu wollen die Linken behaupten, am besten wäre. Wenn jemand zum Beispiel glaubt, eine Politik der gezielten Förderung von Minderheiten sei gut für Schwarze, ist es dann sinnvoll, diese in einer feindseligen oder dogmatischen Terminologie einzufordern? Ganz offensichtlich wäre es konstruktiver, diplomatisch und versöhnlich vorzugehen, denn das würde wenigstens eine verbale und symbolische Konzession gegenüber den Weißen bedeuten, die fürchten, die gezielte Minderheitenförderung würde sie benachteiligen. Aber linke Aktivisten gehen deshalb nicht so vor, weil es ihre emotionalen Bedürfnisse nicht befriedigen würde. Schwarzen zu helfen ist nicht ihr wahres Ziel. Statt dessen müssen die Rassismusprobleme als Vorwand dafür herhalten, dass die Linken ihre Feindseligkeit und ihren frustrierten Machttrieb ausleben. Doch tatsächlich schaden sie damit den Schwarzen, denn die feindselige Haltung der Aktivisten gegenüber der weißen Mehrheit schürt den Rassenhass.

22. Wenn es in unserer Gesellschaft überhaupt keine sozialen Konflikte gäbe, müssten die Linken Konflikte ERFINDEN, um einen Vorwand für ihr Getue zu haben.

23. Wir betonen, dass das Gesagte keine akkurate Beschreibung eines jeden, der als Linker bezeichnet werden könnte, geben soll. Es ist nur eine grobe Umrisszeichnung einer generellen Tendenz der linksgerichteten Ideologie.

ÜBERANGEPASSTHEIT

24. Mit dem Begriff »Sozialisation« oder Anpassung bezeichnen Psychologen den Erziehungsprozess, durch den Kinder dazu gebracht werden, so zu denken und zu handeln, wie es die Gesellschaft fordert. Jemand gilt als gut sozialisiert, wenn er an die moralischen Normen ihrer Gesellschaft glaubt und sie befolgt und sich als funktionierendes Teil in diese Gesellschaft einpasst. Es scheint daher zunächst unsinnig zu behaupten, viele Linke seien übersozialisiert oder überangepasst, da Linke im Allgemeinen als Aufrührer gelten. Trotzdem kann diese Behauptung aufrecht erhalten werden. Viele Linke sind nicht so aufrührerisch, wie es den Anschein hat.

25. Der moralische Code unserer Gesellschaft ist derart anspruchsvoll, dass niemand in vollkommener Übereinstimmung damit denken, fühlen und handeln kann. So gilt es etwa als unmoralisch, jemanden zu hassen, und doch hasst nahezu jeder zu irgendeinem Zeitpunkt einmal jemand anderen, ob er es sich eingesteht oder nicht. Manche Menschen sind derart stark angepasst, dass ihr Anspruch, moralisch zu denken, zu fühlen und zu handeln, für sie eine schwere Last bedeutet. Um Schuldgefühle zu vermeiden, müssen sie sich über ihre eigenen Motive ständig selbst betrügen und moralische Erklärungen für Gefühle und Handlungen finden, die in Wirklichkeit gar keinen moralischen Hintergrund haben. Solche Leute nennen wir »überangepasst«3.

26. Überangepasstheit kann zu geringer Selbstachtung, Ohnmachtsgefühlen, Defätismus, Schuldgefühlen usw. führen. Eine der wichtigsten Methoden, mit denen unsere Gesellschaft Kinder sozialisiert, ist die, ihnen ein Gefühl der Scham zu vermitteln, wenn ihr Verhalten oder ihr Sprechen nicht den Erwartungen der Gesellschaft entspricht. Wenn dies übertrieben wird, oder wenn ein Kind besonders empfindlich ist, kommt es dazu, dass sich das Kind SEINER SELBST schämt. Außerdem sind die Gedanken und das Handeln des überangepassten Menschen durch die gesellschaftlichen Erwartungen stärker eingeschränkt als die eines weniger stark angepassten Menschen. Die Mehrheit der Menschen verstößt in nicht geringem Maße regelmäßig gegen Normen. Sie lügen, klauen, verstoßen gegen Verkehrsregeln, drücken sich vor Arbeit, sie hassen jemanden, sie reden gehässig über den anderen oder intrigieren, um ihn loszuwerden. Der überangepasste Mensch kann diese Dinge nicht tun, oder wenn er sie tut, verursacht es in ihm ein Gefühl von Scham und Selbsthass. Der überangepasste Mensch ist noch nicht einmal in der Lage, ohne Schuldgefühle Gedanken oder Empfindungen zu haben, die der allgemein akzeptierten Moral entgegenstehen; er kann keine »schmutzigen« Gedanken denken. Und Sozialisation ist nicht nur eine Frage der Moral; wir werden auch sozialisiert, um vielen Verhaltensnormen zu genügen, die mit Moral nichts zu tun haben. So wird der überangepasste Mensch im Joch gehalten und bleibt sein ganzes Leben lang in den von der Gesellschaft vorgegebenen Bahnen. In vielen überangepassten Menschen führt dies zu einem Gefühl von Zwang und Machtlosigkeit, unter dem sie sehr leiden. Unserer Meinung nach gehört Überanpassung zu den schlimmsten Grausamkeiten, die Menschen einander antun.

27. Wir behaupten, dass ein erheblicher und einflussreicher Teil der modernen Linken überangepasst ist und dass ihre Überangepasstheit die Richtung der modernen linksgerichteten Ideologie stark bestimmt. Linke des übersozialisierten Typus sind eher Intellektuelle oder stammen aus der oberen Mittelschicht. Man beachte, dass Akademiker4 die am stärksten angepasste Gruppe in unserer Gesellschaft sind und auch die am weitesten links stehende.

28. Der Linke vom überangepassten Typus versucht, durch Aufstand sein psychologisches Joch abzuschütteln und seine Autonomie zu behaupten. Aber meistens ist er nicht stark genug, um sich gegen die grundlegenden Werte der Gesellschaft aufzulehnen. Im Großen und Ganzen stehen die Ziele der heutigen Linken NICHT im Widerspruch zur allgemein akzeptierten Moral. Im Gegenteil, der Linke nimmt ein allgemein akzeptiertes moralisches Prinzip, gibt es als sein eigenes aus und beschuldigt dann die Mehrheit der Gesellschaft, dieses Prinzip zu verletzen. Beispiele: Rassengleichheit, Gleichheit der Geschlechter, Unterstützung der Armen, Frieden, Gewaltlosigkeit, Meinungsfreiheit, Tierschutz. Tiefgreifender, die Pflicht des Individuums, der Gesellschaft zu dienen und die Pflicht der Gesellschaft, das Individuum zu beschützen. All diese Werte sind in unserer Gesellschaft seit Langem tief verwurzelt (wenigstens in ihren Mittel- und Oberschichten)5. Diese Werte sind implizit oder explizit in den meisten Darstellungen der Massenkommunikationsmedien und des Bildungssystems genannt oder vorausgesetzt. Linke, besonders jene vom überangepassten Typus, lehnen sich im Allgemeinen nicht gegen diese Prinzipien auf, sondern rechtfertigen ihre Feindseligkeit gegenüber der Gesellschaft mit der Behauptung (die zu einem gewissen Grad wahr ist), dass sich die Gesellschaft nicht nach diesen Prinzipien richtet.

29. An einem Beispiel soll gezeigt werden, wie der übersozialisierte Linke tatsächlich die Konventionen unserer Gesellschaft akzeptiert, während er gleichzeitig vorgibt, sich dagegen aufzulehnen. Viele Linke setzen sich für eine gezielte Förderung von Schwarzen ein, dafür, dass Schwarze in prestigeträchtige Berufe aufsteigen können, für die Verbesserung der Bildung in schwarzen Schulen und finanzielle Unterstützung solcher Schulen; sie betrachten die Lebensweise der schwarzen »Unterschicht« als eine gesellschaftliche Schande. Sie wollen den Schwarzen in das System integrieren, indem sie einen Geschäftsmann, einen Rechtsanwalt oder einen Wissenschaftler aus ihm machen, der so ist wie die Weißen aus der Oberschicht. Die Linken werden einwenden, dass sie nichts weniger wünschen, als den Schwarzen zu einer Kopie des Weißen zu machen; im Gegenteil, sie wollen seine afro-amerikanische Kultur bewahren. Aber worin besteht diese Bewahrung der afro-amerikanischen Kultur? Sie kann kaum mehr bedeuten als typisch schwarze Küche, schwarze Musik, schwarze Mode und schwarze Kirchen bzw. Moscheen zu pflegen. Anders gesagt, diese Kultur kann sich nur in oberflächlichen Dingen äußern. Im WESENTLICHEN aber wollen die meisten überangepassten Linken den Schwarzen den Idealen der weißen Mittelklasse entsprechend formen. Er soll technische Fächer studieren, ein Manager oder Wissenschaftler werden und sein Leben damit verbringen, die Statusleiter emporzuklimmen um zu beweisen, dass Schwarze so gut sind wie Weiße. Schwarze Väter sollen »Verantwortung übernehmen«, schwarze Banden sollen Gewalt ablehnen usw. Aber dies sind genau die Werte des industrielltechnologischen Systems. Das System schert sich keinen Deut darum, was für Musik jemand hört, was für Kleidung er trägt oder welche Religion er ausübt, solange er zur Schule geht, eine angesehene Arbeit hat, die Statusleiter erklimmt, ein »verantwortungsvolles« Elternteil ist, nicht gewalttätig ist usw. In Wirklichkeit, wie sehr er es auch leugnen mag, will der über- angepasste Linke den Schwarzen ins System integrieren und verlangt von ihm, dessen Werte zu übernehmen.

30. Wir behaupten nicht, dass Linke, sogar überangepasste Linke, NIEMALS gegen die grundlegenden Werte unserer Gesellschaft aufbegehren. Selbstverständlich tun sie das mitunter. Einige überangepasste Linke sind sogar so weit gegangen, gegen eines der wichtigsten gesellschaftlichen Prinzipien zu revoltieren, gegen die Gewaltlosigkeit. Nach ihrer eigenen Einschätzung ist körperliche Gewalt für sie eine Form der »Befreiung«. Mit anderen Worten, sie benutzen Gewalt, um die psychologischen Zwänge zu durchbrechen, die ihnen anerzogen worden sind. Weil sie überangepasst sind, waren sie durch diese Zwänge stärker eingeengt als andere; daher ihr starkes Bedürfnis, sich davon zu befreien. Aber sie rechtfertigen ihre Revolte meist mit dem Vokabular der allgemein anerkannten Werte. Wenn sie Gewalt anwenden, begründen sie das damit, gegen Rassismus zu kämpfen oder Ähnliches.

31. Es ist uns klar, dass man gegen die hier grob skizzierte linke Psychologie viele Ein wände Vorbringen kann. Die tatsächliche Lage ist komplex, und eine auch nur annähernd vollständige Beschreibung auf der Basis aller zugänglichen Fakten würde mehrere Bände füllen. Wir erheben nur den Anspruch, die beiden wichtigsten Tendenzen in der Psychologie der modernen Linken grob Umrissen zu haben.

32. Die Probleme der Linken sind symptomatisch für die Probleme unserer gesamten Gesellschaft. Geringe Selbstachtung, Depressionsneigung und Defätismus sind nicht auf die Linke beschränkt. Wenn sie auch dort besonders wahrnehmbar sind, so sind sie doch in unserer Gesellschaft insgesamt weit verbreitet. Und die heutige Gesellschaft versucht uns stärker als jede vorhergehende zu sozialisieren. Experten sagen uns sogar, was wir essen sollen, wie wir Sport treiben sollen, wie unser Liebesieben sein soll, wie wir unsere Kinder aufziehen sollen und so weiter.

POWER PROCESS

33. Menschen haben ein Bedürfnis (wahrscheinlich biologisch bedingt) nach etwas, das wir den power process6 nennen wollen. Es ist eng verbunden mit dem Bedürfnis nach Macht (weitgehend anerkannt), aber es ist nicht genau dasselbe. Der power process besteht aus vier Elementen. Die drei am deutlichsten definierbaren nennen wir Ziel, Anstrengung und Erreichen des Ziels. (Jeder braucht Ziele, die zu erreichen Anstrengung erfordert, und muss wenigstens einige seiner Ziele erreichen.) Das vierte Element ist schwieriger zu definieren und ist möglicherweise nicht für jeden notwendig. Wir nennen es Autonomie und werden es später erörtern (Abschnitte 42-44).

34. Nehmen wir den hypothetischen Fall eines Menschen, der alles, was er will, sofort bekommt, einfach, indem er es sich wünscht. Dieser Mensch hat zwar Macht, aber er wird schwere psychische Probleme bekommen. Am Anfang wird es ihm Spaß machen, aber nach und nach wird er sich unerträglich langweilen und demoralisiert werden. Womöglich wird er eines Tages krankhaft depressiv. Die Geschichte zeigt, dass die müßige Aristokratie zur Dekadenz neigte. Die kämpfenden Aristokraten dagegen mussten sich anstrengen, um ihre Macht zu erhalten. Aber müßige, gesicherte Aristokraten, die nicht kämpfen mussten, wurden im Allgemeinen gelangweilt, hedonistisch und demoralisiert, trotz ihrer Machtfülle. Dies zeigt, dass Macht allein nicht genügt. Man muss Ziele haben, auf die man die Ausübung seiner Macht richtet.

35. Jeder hat Ziele; selbst wenn diese nur darin bestehen, das Lebensnotwendigste zu erlangen: Nahrung, Wasser und dem Klima angemessene Kleidung und Unterkunft. Der müßige Aristokrat bekommt diese Dinge ohne Anstrengungen. Daher seine Langeweile und Kraftlosigkeit.

36. Das Nichterreichen wichtiger Ziele endet mit dem Tod, wenn es sich dabei um lebensnotwendige Ziele handelt, und mit Frustration, wenn die Ziele nicht lebensnotwendig sind. Lebenslanges ständiges Scheitern beim Versuch, seine Ziele zu erreichen, führt schließlich zu Defätismus, geringer Selbstachtung oder Depression.

37. Also muss der Mensch, um ernsthafte psychologische Probleme zu vermeiden, Ziele haben, deren Erreichen Anstrengung erfordert, und er muss eine gewisse Erfolgsrate beim Erreichen dieser Ziele haben.

ERSATZHANDLUNGEN

38. Nicht jeder müßige Aristokrat wird irgendwann gelangweilt und demoralisiert. Kaiser Hirohito widmete sich der Meeresbiologie, anstatt einem dekadenten Hedonismus zu verfallen und zeichnete sich auf diesem Gebiet besonders aus. Wenn Menschen ohne Anstrengung ihre körperlichen Bedürfnisse befriedigen können, schaffen sie sich oft künstliche Ziele. In vielen Fällen verfolgen sie diese Ziele mit derselben Energie und emotionalen Beteiligung, die sie sonst für das Streben nach Lebensnotwendigem eingesetzt hätten. So hatten die Aristokraten des Römischen Reiches literarische Ambitionen; viele europäische Aristokraten investierten vor einigen Jahrhunderten enorm viel Zeit und Aufwand in die Jagd, obwohl sie das Fleisch sicherlich nicht brauchten; andere Aristokraten versuchten ihr Ansehen zu vergrößern, indem sie ihren Reichtum auf ausgesuchte Weise darstellten, und ein paar Aristokraten, wie Hirohito, wandten sich der Wissenschaft zu.

39. Mit dem Begriff »Ersatzhandlung« bezeichnen wir eine Handlung, die sich auf ein künstliches Ziel richtet, welches sich Menschen nur deshalb setzen, damit sie etwas haben, wonach sie streben können, oder sagen wir, nur für die »Erfüllung«, die ihnen das Streben nach diesem Ziel bringt. Eine Faustregel zum Erkennen von Ersatzhandlungen geht folgendermaßen: Eine Person, die viel Zeit und Energie in das Streben nach Ziel X investiert, frage man: Wenn sie den größten Teil ihrer Zeit und Energie darangeben müsste, ihre biologischen Bedürfnisse zu befriedigen, und wenn diese Anstrengung es erforderte, dass die Person ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten auf abwechslungsreiche und interessante Weise einsetzte, würde sie dann frustriert sein, wenn sie Ziel X nicht erreicht? Wenn die Antwort Nein ist, ist das Streben der Person nach Ziel X eine Ersatzhandlung. Hirohitos Meeresbiologie-Studien stellten ganz klar eine Ersatzhandlung dar, denn es ist recht sicher, dass Hirohito, wenn er seine Zeit auf interessante nichtwissenschaftliche Arbeiten hätte verwenden müssen, um das Lebensnotwendige zu bekommen, nicht frustriert gewesen wäre, nur weil er nicht alles über die Anatomie und die Lebenszyklen der Meeresfauna gewusst hätte. Im Gegensatz dazu ist das Streben nach Sex und Liebe (zum Beispiel) keine Ersatzhandlung, denn die meisten Menschen wären, auch wenn ihre Existenz anderweitig befriedigend wäre, frustriert, hätten sie ihr Leben lang nie eine Beziehung mit einer Person des anderen Geschlechts. (Aber das Streben nach übermäßig viel Sex, mehr als man wirklich braucht, kann eine Ersatzhandlung sein.)

40. In der modernen Industriegesellschaft sind nur minimale Anstrengungen erforderlich, um die physischen Bedürfnisse zu befriedigen. Es reicht, eine Ausbildung zu absolvieren, sich leichte technische Fähigkeiten anzueignen, dann pünktlich zur Arbeit zu kommen und das bescheidene Maß an Anstrengung aufzuwenden, das nötig ist, um einen Job zu halten. Die einzigen Voraussetzungen sind ein bescheidenes Maß an Intelligenz und, vor allem, simpler GEHORSAM. Wenn man diese Voraussetzungen erfüllt, sorgt die Gesellschaft für einen von der Wiege bis zum Grab. (Ja, sicher gibt es eine Unterschicht, die die Erfüllung ihrer physischen Bedürfnisse nicht voraussetzen kann, aber wir sprechen hier vom gesellschaftlichen Mainstream.) So ist es nicht überraschend, dass Ersatzhandlungen in der modernen Gesellschaft sehr häufig Vorkommen. Dazu gehören wissenschaftliche Arbeit, sportliche Leistungen, humanitäre Tätigkeiten, künstlerisches und literarisches Schaffen, das Erklimmen der Firmenhierarchie, das Anhäufen von Geld und Gütern weit über den Punkt hinaus, an dem diese zusätzliche physische Befriedigung geben, und sozialer Aktivismus, wo er Themen betrifft, die nicht für den Aktivisten selbst wichtig sind, wie im Falle der weißen Aktivisten, die für die Rechte nichtweißer Minderheiten kämpfen. Dies sind nicht immer REINE Ersatzhandlungen, denn für viele Menschen mögen sie teilweise durch andere Bedürfnisse motiviert sein als dem, einfach einem Ziel zuzustreben. Wissenschaftliche Arbeit mag zum Teil durch das Streben nach Prestige motiviert sein, künstlerisches Schaffen durch das Bedürfnis, Gefühle auszudrücken, militanter sozialer Aktivismus durch Feindseligkeit. Aber für die meisten Menschen sind diese Aktivitäten zum großen Teil Ersatzhandlungen. Zum Beispiel wird die Mehrheit der Wissenschaftler wohl zustimmen, dass die »Erfüllung«, die ihnen ihre Arbeit bringt, wichtiger ist als Geld und Prestige.

41. Für viele, wenn nicht gar alle Menschen sind Ersatzhandlungen weniger befriedigend als das Streben nach wahren Zielen (Ziele, die Menschen auch dann erreichen wollen würden, wenn ihr Bedürfnis nach dem power process schon erfüllt wäre). Ein Anzeichen dafür ist die Tatsache, dass viele oder die meisten der Menschen, die sich intensiv ihren Ersatzhandlungen widmen, immer rastlos und nie zufrieden sind. So strebt der Kapitalist ständig nach mehr und mehr Reichtum. Der Wissenschaftler hat kaum ein Problem gelöst, schon nimmt er das nächste in Angriff. Der Langstreckenläufer verlangt sich immer noch weitere Strecken und höhere Geschwindigkeit ab. Viele Menschen, die sich Ersatzhandlungen widmen, werden behaupten, dass diese ihnen viel mehr Erfüllung bringen als die »banale« Befriedigung der physischen Bedürfnisse, aber das liegt daran, dass in unserer Gesellschaft die Anstrengung, die notwendig ist, um diese Bedürfnisse zu befriedigen, trivial gering geworden ist. Vor allem befriedigen die Menschen ihre physischen Bedürfnisse nicht AUTONOM, sondern als Teilchen einer immensen sozialen Maschine. Demgegenüber genießen die Menschen im Allgemeinen viel Autonomie beim Betreiben ihrer Ersatzhandlungen.

AUTONOMIE

42. Autonomie als Teil des power process mag nicht für jeden eine Notwendigkeit sein. Aber die meisten Menschen brauchen ein bestimmtes Maß an Autonomie, um ihre Ziele zu verwirklichen. Sie müssen ihre Anstrengungen dafür auf eigenen Entschluss hin beginnen und sie unter eigener Führung und Kontrolle durchführen können. Doch müssen Entschluss, Ausrichtung und Kontrolle nicht unbedingt von jedem einzelnen Individuum gefasst bzw. ausgeübt werden. Normalerweise ist es ausreichend, als Mitglied einer KLEINEN Gruppe zu handeln. Wenn so ein halbes Dutzend Leute untereinander ein Ziel ausmacht und es erfolgreich in gemeinsamer Anstrengung erreicht, wird das Bedürfnis nach dem power process jedes Einzelnen erfüllt. Aber wenn sie unter strikter Anweisung von oben handeln, die ihnen keinen Raum für autonome Entscheidungen und Eigeninitiative belässt, wird dieses Bedürfnis nicht befriedigt werden. Das gleiche gilt, wenn Entscheidungen kollektiv getroffen werden, die Gruppe aber so groß ist, dass die Rolle des einzelnen Individuums darin unbedeutend ist7.

43. Es stimmt, dass einige Menschen offenbar nur ein geringes Bedürfnis nach Selbstverwirklichung haben. Entweder ist ihr Machttrieb schwach entwickelt oder sie befriedigen ihn, indem sie sich mit einer mächtigen Organisation identifizieren, der sie angehören. Und dann gibt es noch geistlose, animalische Typen, denen die reine physische Macht genügend Befriedigung verschafft (der gute Frontsoldat, dem seine Geschicklichkeit im Kampf genügend Machtgefühl gibt, und dem es völlig ausreicht, diese in blindem Gehorsam gegenüber seinen Vorgesetzten einzusetzen).

44. Doch für die meisten Menschen gilt, dass ihnen der power process – ein Ziel zu haben, eine selbstständige Anstrengung dafür zu unternehmen und es schließlich zu erreichen – Selbstachtung, Selbstvertrauen und Machtgefühle verschafft. Wenn jemand keine angemessene Gelegenheit bekommt, den power process zu durchlaufen, sind die Konsequenzen (abhängig von der Persönlichkeit und von der Art und Weise, wie der power process gestört oder abgebrochen wurde) Langeweile, Mutlosigkeit, schwache Selbstachtung, Minderwertigkeitsgefühle, Defätismus, Depressionen, Angst- und Schuldgefühle, Frustration, Feindseligkeit, Misshandlungen von Frau und Kindern, unstillbarer Hedonismus, abnormes Sexual verhalten, Schlafstörungen, Essstörungen usw.8

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Zur Entstehung dieser Deprivationssymptome im power process: Bereits einem Laienverständnis der menschlichen Natur zufolge führt das Fehlen von anspruchsvollen Zielen zu Langeweile, diese Langeweile führt, wenn sie lange andauert, oft irgendwann zu Depressionen. Das Scheitern im Erreichen der Ziele führt zu Frustration und zur Schwächung der Selbstachtung. Frustration führt zu Ärger, Ärger zu Aggression, häufig in Form von Misshandlungen von Frau und Kindern. Es ist erwiesen, dass lang anhaltende Frustration im Allgemeinen zu Depression führt und Depressionen sich häufig in Angst- und Schuldgefühlen, Schlafstörungen, Essstörungen und einem negativen Selbstbild niederschlagen. Diejenigen, die zu Depressionen neigen, suchen als Gegenmittel häufig Vergnügungen; daher der unstillbare Hedonismus und exzessiver Sex, wobei Perversionen zusätzliche Lust geben sollen. Auch der Gelangweilte neigt zu ausufernder Vergnügungssucht, wobei das Vergnügen in Ermangelung anderer Ziele selbst zum Ziel wird. Siehe auch das Diagramm.

Das Gesagte ist eine Vereinfachung. Die Wirklichkeit ist komplexer, und selbstverständlich ist Deprivation im power process nicht die EINZIGE Ursache der beschriebenen Symptome.

Übrigens meinen wir mit Depression nicht nur so schwere Depressionen, die die Behandlung durch einen Psychiater erfordern. Häufig sind nur milde Formen der Depression im Spiel. Und wenn wir von Zielen sprechen, meinen wir nicht nur langfristige, durchdachte Ziele. Im Laufe der Menschheitsgeschichte war die Sorge um ein Leben von der Hand in den Mund (das heißt, die bloße tägliche Versorgung der eigenen Familie mit Nahrung) ein durchaus ausreichendes Ziel.

URSPRÜNGE GESELLSCHAFTLICHER PROBLEME

45. Jedes der bisher dargestellten Symptome kann in jeder Gesellschaft auftreten, in der modernen Industriegesellschaft sind sie jedoch in verstärktem Maße vorhanden. Wir sind nicht die ersten, die darauf hin weisen, dass die Welt heute aus den Fugen zu geraten scheint. Dies ist eine außergewöhnliche Situation in der Geschichte der menschlichen Gesellschaft. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass der primitive Mensch weniger unter Stress und Frustration gelitten hat und mit seinem Leben zufriedener war, als der heutige Mensch es ist. Zwar war nicht alles eitel Sonnenschein in primitiven Gesellschaften. Unter den australischen Aborigines war es üblich, Frauen zu schlagen, Transsexualität war unter einigen amerikanischen Indianerstämmen recht weit verbreitet. Aber es scheint so, dass IM ALLGEMEINEN die Art von Problemen, die wir in den obigen Abschnitten aufgeführt haben, unter primitiven Völkern weit weniger verbreitet gewesen sind als in der modernen Gesellschaft.

46. Wir führen die sozialen und psychologischen Probleme der modernen Gesellschaft auf die Tatsache zurück, dass diese Gesellschaft den Menschen grundlegend andere Lebensbedingungen aufzwingt als die, unter denen die Menschheit sich herausgebildet hat, und von ihnen ein Verhalten verlangt, das den Ver- haltensmustem entgegensteht, die sich im Leben unter den früheren Bedingungen entwickelt haben. Aus dem bisher Gesagten wird klar, dass für uns das Fehlen von Möglichkeiten, den power process anders als durch Ersatzhandlungen zu erfahren, die schwerwiegendste der abnormen Bedingungen darstellt, denen die moderne Gesellschaft die Menschen unterwirft. Doch ist sie nicht die einzige. Bevor wir die Störung des power process als eine Quelle sozialer Probleme genauer behandeln, werden wir einige der anderen Quellen erörtern.

47. Zu den abnormen Bedingungen der modernen Industriegesellschaft gehören die exzessive Bevölkerungsdichte, die Isolation des Menschen von der Natur, die ungeheure Geschwindigkeit sozialen Wandels und der Zusammenbruch natürlicher kleinerer Gemeinschaften wie Großfamilie, Dorf oder Stamm.

48. Bekanntlich verursachen eine hohe Bevölkerungsdichte und Menschenmengen Stress und Aggression. Die heutige Dichte der Menschen und ihre Isolation von der Natur sind Folgen des technologischen Fortschritts. Alle vorindustriellen Gesellschaften waren vorwiegend ländlich. Die industrielle Revolution hat die Größe der Städte und den Anteil der Städter innerhalb der Gesamtbevölkerung ungeheuer anwachsen lassen, und durch moderne Agrartechnologie wurde es möglich, eine so dicht wie nie zuvor zusammenlebende Bevölkerung überhaupt zu ernähren. (Auch verschlimmert die Technologie die Konsequenzen der Überbevölkerung, weil sie den Menschen verstärkt zerstörerische Kräfte zugänglich gemacht hat. Zum Beispiel viele lärmerzeugende Maschinen wie Mähmaschinen, Radios, Motorräder usw. Wenn die Benutzung dieser Maschinen nicht eingeschränkt wird, frustriert dies Menschen, die Ruhe und Frieden suchen. Wenn die Benutzung eingeschränkt wird, frustriert es die Menschen, die diese Maschinen benutzen. Aber wenn diese Maschinen nie erfunden worden wären, gäbe es keine Konflikte und Frustrationen durch sie.)

49. Für primitive Gesellschaften stellte die natürliche Umwelt (die sich gewöhnlich nur langsam verändert) stabile Rahmenbedingungen dar und gab ihnen somit ein Gefühl von Sicherheit. In der modernen Welt beherrscht die menschliche Gesellschaft die Natur und nicht umgekehrt, und die moderne Gesellschaft verändert sich aufgrund der technologischen Veränderungen sehr rasch. So gibt es keine stabilen Rahmenbedingungen mehr.

50. Die Konservativen sind Narren: Sie jammern über den Verfall traditioneller Werte, und doch unterstützen sie mit Begeisterung jeden technischen Fortschritt und ökonomisches Wachstum. Offenbar kommt es ihnen nicht in den Sinn, dass man keine raschen und drastischen Veränderungen in der Technologie und der Wirtschaft einer Gesellschaft haben kann, ohne auch in allen anderen gesellschaftlichen Aspekten rasche Veränderungen zu verursachen, und solche raschen Veränderungen führen unvermeidlich zum Verfall traditioneller Werte.

51. Der Zusammenbruch traditioneller Werte zieht auch in einem gewissen Maß die Zerstörung der Bindungen nach sich, die traditionelle kleine soziale Gruppen Zusammenhalten. Die Zersetzung dieser Gruppen wird durch die Tatsache noch gefördert, dass die modernen Lebensbedingungen den Individuen häufig abverlangen oder sie dazu verlocken, an neue Orte zu ziehen und sich von ihren Gemeinschaften zu lösen. Außerdem MUSS die technologische Gesellschaft die Familienbande und kleine Gemeinschaften schwächen, wenn sie effizient funktionieren soll. In der modernen Gesellschaft muss ein Individuum an erster Stelle dem System gegenüber loyal sein und erst an zweiter Stelle der kleineren Gemeinschaft gegenüber, denn wenn die internen Loyalitäten der Gemeinschaften stärker wären als die Loyalität zum System, würden die Gemeinschaften auf Kosten des Systems ihren eigenen Vorteil suchen.

52. Angenommen, ein öffentlicher Beamter oder ein Verwaltungsangestellter gibt seinem Vetter, seinem Freund oder seinem Glaubensgenossen eher einen freien Posten als der Person, die für diese Arbeit am besten qualifiziert wäre. Dann hat er persönliche Loyalität über seine Loyalität zum System gestellt, und wir haben es mit »Nepotismus« oder »Diskriminierung« zu tun, beides schreckliche Sünden in der modernen Gesellschaft. Möchtegern-Industriegesellschaften, denen es nicht gelungen ist, persönliche oder lokale Loyalitäten der Loyalität zum System unterzuordnen, sind gewöhnlich sehr leistungsschwach (siehe Lateinamerika). Also kann eine hoch entwickelte Industriegesellschaft nur solche kleinen Gemeinschaften tolerieren, die kraftlos und gezähmt sind und dem System als willfährige Werkzeuge dienen9.

53. Überbevölkerung, rascher sozialer Wandel und die Zerstörung kleiner Gemeinschaften sind weitgehend als Ursachen sozialer Probleme anerkannt. Aber wir glauben nicht, dass sie als Erklärung für das Ausmaß der Probleme, die wir heute erkennen, ausreichen.

54. Einige vorindustrielle Städte waren sehr groß und dicht bevölkert, doch scheinen ihre Bewohner nicht im selben Maße an psychischen Problemen gelitten zu haben wie der moderne Mensch. In Amerika gibt es noch immer einige dünn besiedelte ländliche Gegenden, und dort finden wir dieselben Probleme wie in urbanen Gegenden, obwohl sie auf dem Land im Allgemeinen weniger akut sind. Also scheint die Bevölkerungsdichte nicht der entscheidende Faktor zu sein.

55. Mit dem zunehmenden Vorstoß ins amerikanische Grenzland, den »Wilden Westen«, im 19. Jahrhundert hat die Mobilität der Bevölkerung sicherlich große Familien und kleine Gemeinschaften auseinandergerissen, mindestens im selben Maße, wie dies heute geschieht. Tatsächlich lebten damals viele Kleinfamilien freiwillig in völliger Abgeschiedenheit. Im Umkreis mehrerer Meilen hatten sie weder Nachbarn noch Verbindung zu Ortschaften, und doch scheint dies nicht zu Problemen geführt zu haben.

56. Auch war der soziale Wandel in der amerikanischen Pioniergesellschaft rasch und tiefgreifend. Es war möglich, dass ein Mensch in einer Blockhütte geboren wurde und dort aufwuchs, außerhalb der Reichweite von Recht und Ordnung, und sich vorwiegend von Wild ernährte; und dass dieser Mensch im Alter einer geregelten Arbeit nachging und in einer geordneten Gesellschaft mit einem organisierten Polizeiapparat lebte. Das waren tiefergreifende Veränderungen, als sie im Leben eines modernen Menschen üblicherweise Vorkommen, und doch scheinen diese nicht zu psychologischen Problemen geführt zu haben. Tatsächlich hatte die amerikanische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts eine optimistische und selbstbewusste Grundeinstellung, sehr im Gegensatz zur heutigen Gesellschaft10.

57. Der Unterschied, so meinen wir, liegt darin, dass der moderne Mensch das (berechtigte) Gefühl hat, ihm sei der Wandel AUFGEZWUNGEN worden, wohingegen der Pionier des 19. Jahrhunderts das (ebenso berechtigte) Gefühl hatte, den Wandel selbst herbeizuführen, aus eigenem Willen. Ein Pionier siedelte auf einem Stück Land seiner Wahl und machte mit eigener Anstrengung eine Farm daraus. In jenen Zeiten konnte ein ganzer Landkreis nur ein paar hundert Einwohner haben und viel abgeschiedener und autonomer sein als ein vergleichbarer Bezirk heute. So nahm der Pionier-Farmer als Mitglied einer recht kleinen Gruppe aktiv daran teil, eine neue, geordnete Gemeinschaft zu schaffen. Man kann sich fragen, ob die Schaffung dieser Gemeinschaft eine Verbesserung war, aber jedenfalls befriedigte sie das Bedürfnis des Pioniers nach seiner Selbstverwirklichung im power process.

58. Man könnte andere Beispiele von Gesellschaften geben, in denen es raschen sozialen Wandel und/oder fehlende gemeinschaftliche Bindungen ohne die massiven Verhaltensstörungen gab, die wir in der heutigen Industriegesellschaft beobachten. Wir behaupten, dass die wichtigste Ursache sozialer und psychologischer Probleme in der modernen Gesellschaft darin liegt, dass die Menschen nur unzureichend Gelegenheit haben, den power process auf normale Weise zu durchlaufen. Wir wollen nicht sagen, dass die moderne Gesellschaft die einzige sei, in der der power process gestört wird. Wahrscheinlich haben die meisten oder alle Gesellschaften mehr oder weniger stark in den power process eingegriffen. Aber in der modernen Industriegesellschaft ist das Problem besonders schwerwiegend geworden. Linksgerichtete Ideologie, wenigstens in ihrer neuen Form (Mitte bis Ende des 20. Jahrhunderts), ist zum Teil ein Symptom der Deprivation im power process.

STÖRUNG DES POWER PROCESS IN DER MODERNEN GESELLSCHAFT

59. Wir teilen die menschlichen Triebe in drei Gruppen ein: (1) Triebe, die durch geringste Anstrengungen befriedigt werden können; (2) Triebe, die nur durch große Anstrengungen befriedigt werden können; (3) Triebe, die trotz aller Anstrengungen nicht angemessen befriedigt werden können. Derpower process ist ein Prozess der Befriedigung der Triebe der zweiten Gruppe. Je mehr Triebe der dritten Gruppe es gibt, desto mehr Frustration und Ärger und schließlich Defätismus und Depression usw. gibt es.

60. In der modernen Industriegesellschaft besteht die Tendenz, die natürlichen menschlichen Triebe in die erste und dritte Gruppe zu zwingen, während die zweite Gruppe zunehmend aus künstlich geschaffenen Bedürfnissen besteht.

61. In primitiven Gesellschaften fallen die physischen Bedürfnisse im Allgemeinen in die zweite Gruppe: Sie können befriedigt werden, aber unter großen Anstrengungen. In der modernen Gesellschaft dagegen ist die Befriedigung der physischen Bedürfnisse meistens für jedermann11 mit minimalen Anstrengungen zu erreichen, daher gehören physische Bedürfnisse hier in die erste Gruppe. (Man kann darüber streiten, ob die Anstrengungen, eine feste Arbeit zu bekommen, wirklich »minimal« sind; aber im Allgemeinen, was niedrige und mittlere Arbeiten angeht, ist die einzige Erfordernis GEHORSAM. Man sitzt oder steht dort, wo man angewiesen wurde zu sitzen oder zu stehen, und tut dasjenige auf die Art und Weise, wie es einem gesagt wurde. Selten nur muss man sich wirklich anstrengen, und in kaum einem Fall hat man bei der Arbeit irgendeine Autonomie, sodass das Bedürfnis nach power process nicht befriedigt werden kann.)

62. Soziale Bedürfnisse wie Sexualität, Liebe und gesellschaftliches Ansehen gehören in der modernen Gesellschaft in die zweite Gruppe, dies ist abhängig von der Situation des Einzelnen12. Aber abgesehen von Menschen, die ein ausnehmend starkes Geltungsbedürfnis haben, ist die Anstrengung, die nötig ist, um diese sozialen Bedürfnisse zu befriedigen, nicht ausreichend, um das Bedürfnis nach dem power process ebenfalls angemessen zu befriedigen.

63. Deshalb wurden gewisse künstliche Bedürfnisse geschaffen, die in die zweite Gruppe gehören, die also das Bedürfnis nach dem power process befriedigen sollen. Werbe- und Marketingstrategien wurden entwickelt, die bei vielen Menschen Bedürfnisse nach Dingen wecken, die ihre Großeltern niemals gewünscht und sich nicht hätten träumen lassen. Da es große Anstrengungen erfordert, genug Geld zu verdienen, um diese künstlichen Bedürfnisse zu befriedigen, fallen sie in die zweite Gruppe. (Man beachte allerdings die Abschnitte 80-82.) Der moderne Mensch muss sein Bedürfnis nach dem power process weitgehend durch das Streben nach künstlichen, von der Werbe- und Marketingindustrie13 hervorgerufenen Bedürfnissen und durch Ersatzhandlungen befriedigen.

64. Für viele Menschen, vielleicht für die Mehrheit, scheinen diese künstlichen Formen des power process ungenügend zu sein. Ein Thema, das in sozialkritischen Schriften der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer wiederkehrt, ist das Gefühl der Ziellosigkeit, unter dem in der modernen Gesellschaft viele Menschen leiden. (Diese Ziellosigkeit wird oft auch anders genannt, »Anomie« oder »Mittelklasse-Leere«.) Wir vermuten, dass die sogenannte »Identitätskrise« tatsächlich eine Sinnsuche ist, eine Suche nach einer geeigneten Ersatzhandlung, der man sich widmen kann. Möglicherweise ist der Existenzialismus zum großen Teil eine Antwort auf die Ziellosigkeit modernen Lebens14. Das Streben nach »Erfüllung« ist in unserer Gesellschaft sehr weit verbreitet. Aber wir glauben, dass für die Mehrheit der Menschen eine Handlung, deren Hauptziel Erfüllung ist (also eine Ersatzhandlung), keine wirklich befriedigende Erfüllung bringen kann. Mit anderen Worten, eine solche Handlung befriedigt nicht wirklich das Bedürfnis nach dem power process. (Siehe Absatz 41) Dieses Bedürfnis kann nur durch Tätigkeiten völlig befriedigt werden, die ein äußeres Ziel haben, so wie physische Notwendigkeiten, Sex, Liebe, soziale Geltung, Rache usw.

65. Überdies sind die meisten Menschen, die solche Ziele haben, die durch Geld verdienen, Erklimmen der Karriereleiter oder das gute Funktionieren als Teil im System zu erreichen sind, nicht in der Position, ihre Ziele AUTONOM zu verfolgen. Die meisten Arbeiter sind als Angestellte von jemand anderem abhängig und müssen, wie wir in Abschnitt 61 ausgeführt haben, den ganzen Tag Dinge tun, die ihnen aufgetragen wurden, auf die Art und Weise, wie es ihnen aufgetragen wurde. Selbst diejenigen, die in ihrem eigenen Unternehmen arbeiten, haben dadurch nur begrenzte Autonomie. Es ist eine ständige Klage kleiner Gewerbetreibender und Unternehmer, dass ihnen durch übertriebene staatliche Reglementierung die Hände gebunden seien. Einige dieser Reglementierungen sind zweifellos unnötig, aber meistens sind staatliche Einschränkungen grundlegende und unabdingbare Aspekte unserer extrem komplexen Gesellschaft. Ein großer Teil der kleinen Unternehmen arbeitet heute auf der Basis von Franchise-Systemen. Vor ein paar Jahren wurde im Wall Street Journal berichtet, dass viele der Franchise-Lizenzgeber von den Bewerbern verlangen, einen Persönlichkeitstest zu machen, der jene AUSSCHLIESSEN soll, die Kreativität und Initiative erkennen lassen, denn solche Personen sind nicht ausreichend unterwürfig, um im Franchise-System gehorsam zu funktionieren. Damit sind viele Unternehmer, die ein besonderes Bedürfnis nach Autonomie haben, vom Geschäft ausgeschlossen.

66. Heutzutage leben die Menschen eher nach dem, was das System für sie tut oder was es ihnen antut, als nach dem, was sie für sich selbst tun. Und was sie für sich tun, verläuft immer mehr in den Bahnen, die das System vorgibt. Gelegenheiten ergeben sich nur, wenn das System sie bereitstellt, sie müssen innerhalb der Regeln und Reglementierungen15 genutzt werden und unter Beachtung der Techniken, die Fachleute vorgeben, wenn das Unternehmen Erfolg haben soll.

67. Somit ist in unserer Gesellschaft kein power process möglich, denn es gibt keine wirklichen Ziele und keine Autonomie, um diese Ziele durchzusetzen. Sie ist auch wegen der Zugehörigkeit dieser menschlichen Triebkräfte zur dritten Gruppe unmöglich, derjenigen Triebkräfte also, die man nicht hinreichend befriedigen kann, ganz gleich, welche Anstrengungen dafür unternommen werden. Eine dieser Triebkräfte ist das Sicherheitsbedürfnis. Unser Leben hängt von Entscheidungen anderer Leute ab; wir haben über diese Entscheidungen keine Kontrolle und kennen üblicherweise nicht einmal die Menschen, die sie treffen. (»Wir leben in einer Welt, in der relativ wenige Menschen – vielleicht 500 oder 1000 – die wichtigen Entscheidungen treffen.« Philip B. Heymann, Harvard Law School, zitiert nach Anthony Lewis, New York Times vom 21. April 1995) Unser Leben hängt davon ab, welche Sicherheitsstandards in Kernkraftwerken gewährleistet sind; wie hoch der zulässige Pestizidgehalt in unserer Nahrung ist oder wie hoch die zulässige Luftverschmutzung; wie kompetent (oder inkompetent) unser Arzt ist; ob wir einen Job bekommen oder verlieren, kann von Entscheidungen abhängen, die von Wirtschaftsexperten der Regierung oder von Firmenmanagem getroffen werden, und so weiter. Die meisten Individuen sind nicht in der Lage, sich gegen diese Bedrohungen mehr als zu einem sehr geringen Grad abzusichem. Das Sicherheitsbedürfnis des Einzelnen ist daher frustriert, was zu einem Gefühl der Ohnmacht führt.

68. Man könnte ein wenden, dass der primitive Mensch physisch in größerer Unsicherheit lebte als der moderne Mensch, was sich auch in seiner kürzeren Lebenserwartung zeigt, und der moderne Mensch eher weniger Unsicherheit erleide, jedenfalls nicht mehr, als es für Menschen normal ist. Doch geht psychologische Sicherheit nicht so eng mit physischer Sicherheit einher. Was uns uns sicher FÜHLEN lässt, ist nicht so sehr die objektive Sicherheit, als vielmehr ein Gefühl des Vertrauens in unsere Fähigkeiten, für uns selbst zu sorgen. Der primitive Mensch, der von einem Raubtier oder durch Hunger bedroht ist, kann sich kämpfend verteidigen oder auf der Suche nach Nahrung fortziehen. Er hat keine Erfolgsgarantie bei diesen Anstrengungen, aber er steht den Dingen, die ihn bedrohen, keinesfalls hilflos gegenüber. Das moderne Individuum ist dagegen vielen Bedrohungen hilflos ausgeliefert: nukleare Unfälle, krebserregende Stoffe in der Nahrung, Umweltverschmutzung, Krieg, Steuererhöhungen, Eingriffe in seine Privatsphäre durch große Organisationen, das ganze Land betreffende gesellschaftliche und wirtschaftliche Ereignisse, die seine Lebensweise zerstören können.

69. Es stimmt, dass auch der primitive Mensch gegen einige Bedrohungen machtlos ist, zum Beispiel gegen Krankheiten. Diesem Krankheitsrisiko kann er aber gelassen entgegensehen, denn es gehört zu den natürlichen Dingen, es ist niemandes Schuld, außer die von imaginären, verkörperten Dämonen vielleicht. Dagegen sind die Bedrohungen des modernen Menschen weitgehend durch den MENSCHEN verursacht. Sie sind nicht das Ergebnis von Zufällen, sondern werden ihm von anderen Personen, deren Entscheidungen er einzeln nicht beeinflussen kann, AUFERLEGT. Infolgedessen entstehen bei ihm Gefühle von Frustration, Demütigung und Wut.

70. Somit bestimmt der primitive Mensch größtenteils selbst über seine Sicherheit (entweder als Individuum oder als Mitglied einer KLEINEN Gruppe), während die Sicherheit des modernen Menschen in den Händen von Menschen oder Organisationen liegt, die entweder zu fern oder zu umfassend sind, als dass er sie persönlich beeinflussen könnte. Damit gehört das Bedürfnis des modernen Menschen nach Sicherheit in die erste und dritte Gruppe; in einigen Bereichen (wie Nahrung, Unterkunft usw.) ist seine Sicherheit durch nur geringe Anstrengungen garantiert, wohingegen es in anderen Bereichen für ihn UNMÖGLICH ist, Sicherheit zu erlangen. (Das Gesagte vereinfacht die reale Situation stark, verdeutlicht aber im Groben und Allgemeinen den Unterschied der Lebensbedingungen zwischen dem modernen und dem primitiven Menschen.)

71. Menschen haben auch viele vorübergehende Bedürfnisse oder Impulse, die im modernen Leben zwangsläufig frustriert werden und die also in die dritte Gruppe fallen. Zum Beispiel werden Menschen wütend, aber die Gesellschaft lässt körperliche Auseinandersetzungen nicht zu. In vielen Situationen ist nicht einmal verbale Aggression erlaubt. Ob man eilig irgendwohin möchte oder aber Lust hat, langsam zu fahren, es bleibt einem nichts anderes übrig, als sich dem fließenden Verkehr anzupassen und die Verkehrsschilder zu beachten. Möglicherweise würde man eine andere Arbeitsweise vorziehen, aber üblicherweise muss man die Arbeit nach den vom Arbeitgeber vorgegebenen Regeln verrichten. Auf vielfache Weise wird der moderne Mensch durch ein Netzwerk von Regeln und Vorschriften (expliziten oder impliziten) niedergehalten, das viele seiner Impulse unterdrückt und somit den power process stört. Die meisten dieser Vorschriften sind für das Funktionieren der Industriegesellschaft unabkömmlich.

72. In gewisser Hinsicht ist die moderne Gesellschaft extrem freizügig. In Bereichen, die für das Funktionieren des Systems irrelevant sind, können wir im Allgemeinen tun, was wir wollen. Wir können jeder beliebigen Religion angehören (wenn diese nicht ein Verhalten fördert, das eine Gefahr für das System darstellt). Wir können mit jedem beliebigen Partner ins Bett gehen (solange wir »safer sex« praktizieren). Wir können alles tun, was wir wollen, solange es UNWICHTIG ist. In allen WICHTIGEN Bereichen wird das System jedoch in zunehmendem Maße unser Verhalten bestimmen.

73. Verhalten wird nicht nur durch Vorschriften und nicht nur von der Regierung bestimmt. Oft wird Kontrolle durch indirekten Zwang oder durch psychologischen Druck oder Manipulation ausgeübt, durch andere Organisationen als die Regierung oder durch das System selbst. Die meisten großen Organisationen nutzen Formen der Propaganda16, um damit allgemeine Einstellungen und Verhaltensweisen zu manipulieren. Propaganda beschränkt sich nicht allein auf Werbung und Reklame, und mitunter wird sie nicht einmal von den Leuten, die sie machen, bewusst als Propaganda verstanden. Zum Beispiel ist der Inhalt von Unterhaltungsprogrammen eine mächtige Propaganda. Ein Beispiel von indirektem Zwang: Es gibt kein Gesetz, dass uns zwingt, jeden Tag zur Arbeit zu gehen und den Anordnungen unserer Vorgesetzten zu folgen. Vom Gesetz her kann uns niemand hindern, wie primitive Menschen in der Wildnis zu leben oder uns selbstständig zu machen. In der Realität ist aber kaum noch Wildnis vorhanden, und in der Wirtschaft ist nur für eine begrenzte Anzahl von kleinen Selbstständigen Platz. Somit können die meisten von uns nur als Angestellte überleben.

74. Unserer Ansicht nach ist das zwanghafte Streben des modernen Menschen nach langer Lebensdauer, nach andauernder physischer Vitalität und sexueller Attraktivität bis ins hohe Alter ein Symptom für die Unerfülltheit seines Lebens, die ihren Grund in der Deprivation des power process hat. Ein solches Symptom ist auch die sogenannte »Midlife-Crisis« sowie der in der modernen Gesellschaft weit verbreitete Verzicht auf Kinder, der in primitiven Gesellschaften nahezu unbekannt ist.

75. In primitiven Gesellschaften bedeutet Leben die Aufeinanderfolge von Lebensabschnitten. Wenn die Bedürfnisse und Zwecke eines Lebensabschnitts erfüllt sind, besteht keine besondere Abneigung dagegen, zum nächsten Abschnitt überzugehen. Der power process eines jungen Mannes besteht darin, zum Jäger zu werden, nicht als Sport oder weil es ihm Erfüllung gibt, sondern um das für seine Nahrung notwendige Fleisch zu bekommen. (Bei jungen Frauen verläuft der power process komplexer, da hier mehr Gewicht auf der sozialen Macht liegt; er soll hier nicht weiter berücksichtigt werden.) Wenn der junge Mann diese Lebensphase hinter sich hat, wird er ohne Widerstreben sesshaft werden und die Verantwortung für die Gründung einer Familie übernehmen. (Im Gegensatz dazu schieben viele moderne Menschen den Kinderwunsch auf unabsehbare Zeit hinaus, weil sie zu sehr damit beschäftigt sind, irgendwelche »Erfüllung« zu suchen. Unserer Meinung nach liegt die Erfüllung, die sie suchen, in der angemessenen Erfahrung des power process – mit wahren Zielen anstelle der künstlichen Ziele und Ersatzhandlungen.) Wenn der primitive Mensch dann seine Kinder aufgezogen hat und sie durch den power process mit allem Lebensnotwendigen versorgt hat, hat er seine Aufgabe erfüllt und ist bereit, Alter (falls er so lange lebt) und Tod zu akzeptieren. Dagegen verstört viele moderne Menschen die Aussicht auf körperlichen Verfall und Tod, was sich in den fortwährenden Anstrengungen zeigt, die sie für die Erhaltung ihrer körperlichen Kondition, ihres guten Aussehens und ihrer Gesundheit unternehmen. Dies ist ein Zeichen für die Unerfülltheit, die daher rührt, dass diese Menschen ihre körperliche Kraft niemals für irgendwelche praktischen Zwecke eingesetzt haben, dass sie nie den power process durchlaufen haben, in dem sie ihre Körper ernsthaft hätten nutzen müssen. Der primitive Mensch, der seinen Körper täglich für praktische Zwecke braucht, fürchtet den Alterungsprozess nicht, nur der moderne Mensch, der seinen Körper nie zu anderen Zwecken genutzt hat als von seinem Auto in sein Haus zu gelangen. Der Mann, dessen Bedürfnis nach dem power process im Laufe seines Lebens befriedigt wurde, ist am besten auf das Ende dieses Lebens vorbereitet und kann es akzeptieren.

76. Aus der Argumentation in diesem Abschnitt könnte man schlussfolgern: »Die Gesellschaft muss einen Weg finden, den Menschen Gelegenheit zu geben, den power process zu durchlaufen.« Doch wird das für jene, die ein Bedürfnis nach Autonomie im power process haben, nicht funktionieren. Denn für solche Menschen ist die Gelegenheit gerade dadurch nichts mehr wert, dass die Gesellschaft sie ihnen gibt. Vielmehr müssen sie selbst ihre eigenen Gelegenheiten finden oder schaffen. Solange das System ihnen Gelegenheiten GIBT, liegen sie an seiner Leine. Um Autonomie zu erreichen, müssen sie sich von dieser Leine losmachen.

PROBLEME DER ANPASSUNG

77. Nicht jeder in der industriell-technologischen Gesellschaft leidet unter psychologischen Problemen. Manche bekennen sogar, in der bestehenden Gesellschaft recht zufrieden zu sein. Wir wollen nun über einige der Gründe dafür sprechen, dass die Reaktion der Menschen auf die moderne Gesellschaft so unterschiedlich ausfällt.

78. Erstens gibt es zweifellos angeborene Unterschiede in der Stärke des Machttriebs. Menschen mit einem schwachen Machttrieb werden ein relativ geringes Bedürfnis haben, den power process zu durchlaufen, oder zumindest ein relativ geringes Bedürfnis nach Selbstverwirklichung und nach Selbstbestimmung im power process. Es sind fügsame Typen, die auch als Plantagenneger in den alten Südstaaten glücklich geworden wären. (Damit wollen wir keineswegs Verachtung für die »Plantagenneger« der Südstaaten ausdrücken. Man muss ihnen zugestehen, dass die meisten dieser Sklaven NICHT mit ihrer Knechtschaft zufrieden waren. Wir verachten diejenigen, die mit Knechtschaft zufrieden SIND.)

79. Manche Menschen haben ein außergewöhnlich starkes Bedürfnis nach Selbstverwirklichung. Zum Beispiel können Leute, die ein besonders ausgeprägtes Geltungsbedürfnis haben, ihr ganzes Leben damit verbringen, unermüdlich die Erfolgsleiter des gesellschaftlichen und sozialen Status zu erklimmen, ohne dass es ihnen jemals langweilig wird.

80. Auch die Empfänglichkeit für Werbung und Vermarktungsstrategien ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Manche sind derart empfänglich, dass sie, selbst wenn sie sehr viel Geld verdienen, nicht ihr ständiges Begehren für die glitzernden neuen Spielzeuge, die die Marketingindustrie ihnen vorführt, befriedigen können. Selbst wenn sie ein hohes Einkommen haben, geraten sie schnell in finanzielle Schwierigkeiten und können sich nicht alle Ansprüche erfüllen.

81. Andere sind für Werbung und Vermarktungsstrategien nahezu unempfänglich. Diese Menschen sind an Geld nicht interes siert. Die Anhäufung materieller Güter befriedigt nicht ihr Bedürfnis nach dem power process.

82. Menschen mit durchschnittlicher Empfänglichkeit für Werbung und Vermarktungsstrategien sind in der Lage, genug Geld zu verdienen, um ihr Begehren für Güter und Dienstleistungen zu befriedigen, aber nur aufgrund größerer Anstrengungen (sie machen Überstunden, nehmen Zweitjobs an, bemühen sich um Beförderungen usw.). Insofern dient die Anhäufung materieller Güter dem Bedürfnis nach ihrer Selbstverwirklichung im power process. Aber daraus folgt nicht notwendigerweise, dass dieses Bedürfnis vollständig befriedigt wird. Es kann sein, dass diese Menschen nur unzureichende Autonomie im power process haben (etwa wenn ihre Arbeit darin besteht, Anweisungen zu erfüllen) und einige ihrer Triebe können frustriert werden (z.B. der nach Sicherheit oder nach Aggression). (In den Abschnitten 80-82 machen wir uns der Vereinfachung schuldig, weil wir voraussetzen, dass der Wunsch nach Anhäufung von materiellen Gütern allein durch die Werbe- und Marketingindustrie geschaffen wird. So einfach ist das natürlich nicht.)17

83. Manche Menschen befriedigen ihr Bedürfnis nach Macht zum Teil dadurch, dass sie sich mit einer mächtigen Organisation oder einer Massenbewegung identifizieren. Eine Person, der Macht oder eigene Ziele fehlen, schließt sich einer Bewegung oder einer Organisation an, übernimmt deren Zielsetzungen als ihre eigenen und arbeitet dann auf deren Verwirklichung hin. Werden einige dieser Ziele erreicht, dann empfindet der Einzelne, mögen seine persönlichen Anstrengungen auch eine unbedeutende Rolle in der Verwirklichung der Ziele gespielt haben, (durch die Identifikation mit der Bewegung oder der Organisation) so, als habe er den power process durchlaufen. Dieses Phänomen wurde von Faschisten, Nazis und Kommunisten ausgenutzt. Auch unsere Gesellschaft nutzt es, wenn auch weniger offensichtlich. Beispiel: Manuel Noriega war für die USA ein Ärgernis. (Ziel: Bestrafung Noriegas.) Die USA marschierten in Panama ein (Anstrengung) und bestraften Noriega (Erreichung des Ziels). Die USA durchliefen damit den power process, und viele Amerikaner erlebten ihn stellvertretend, weil sie sich mit den USA identifizieren. Dies erklärt die weit verbreitete öffentliche Zustimmung für die Panama-Invasion, sie hat den Leuten ein Machtgefühl vermittelt18. Dasselbe Phänomen kann man in Armeen, Körperschaften, politischen Parteien, Menschenrechtsorganisationen, religiösen und ideologischen Bewegungen beobachten. Besonders linksgerichtete Bewegungen haben für Menschen, die ihr Machtbedürfnis befriedigen wollen, eine große Anziehungskraft. Dennoch kann die Identifikation mit großen Organisationen oder Massenbewegungen das Machtbedürfnis der meisten Menschen nicht völlig befriedigen.

84. Eine andere Möglichkeit zur Befriedigung des Bedürfnisses nach Selbstverwirklichung im power process können Ersatzhandlungen sein. Wie wir in den Abschnitten 38-40 erklärt haben, ist eine Ersatzhandlung auf ein künstliches Ziel ausgerichtet, das jemand um der »Erfüllung« willen verfolgt, die er sich vom Verfolgen dieses Ziels verspricht, und nicht, weil er das Ziel selbst erreichen müsste. Zum Beispiel gibt es keinen praktischen Grund, sich enorme Muskeln anzutrainieren, einen kleinen weißen Ball in ein Loch zu schlagen oder einen kompletten Satz Briefmarken zusammenzukriegen. Dennoch widmen sich viele Menschen in unserer Gesellschaft mit Leidenschaft dem Bodybuilding, Golfspielen oder Briefmarkensammeln. Einige Menschen sind stärker »fremdbestimmt« als andere und sind deshalb eher geneigt, einer Ersatzhandlung Bedeutung beizumessen, bloß weil diese von den Menschen in ihrer Umgebung als bedeutsam betrachtet wird oder weil die Gesellschaft ihnen sagt, sie sei wichtig. Deshalb nehmen manche Menschen völlig triviale Aktivitäten wie Sport, Bridge, Schach oder obskures Streben nach Wissen sehr wichtig, wohingegen andere, scharfsichtigere Menschen diese Dinge stets nur als das sehen, was sie sind, nämlich Ersatzhandlungen, und ihnen deshalb auch niemals genügend Bedeutung beimessen, um ihr Bedürfnis nach dem power process auf diese Weise zu befriedigen. Hinzuzufügen ist nur noch, dass die dem Lebensunterhalt dienende Berufstätigkeit häufig auch eine Art Ersatzhandlung ist. Keine REINE Ersatzhandlung, da diese Beschäftigung teilweise wirklich dazu dient, den physisch notwendigen Lebensunterhalt zu erwerben sowie (für manche Menschen) den sozialen Status und den Luxus, den die Werbung sie verlangen lässt. Doch viele Menschen widmen sich ihrer Arbeit mit einer weit größeren Anstrengung, als nötig wäre, um so viel Geld und Status zu erwerben, wie sie benötigen, und diese zusätzliche Anstrengung ist eine Ersatzhandlung. Diese zusätzliche Anstrengung, zusammen mit dem emotionalen Einsatz, der diese begleitet, ist eine der mächtigsten Kräfte zur kontinuierlichen Entwicklung und Perfektionierung des Systems, mit negativen Folgen für die individuelle Freiheit (vgl. Abschnitt 131). Besonders für die kreativsten Wissenschaftler und Ingenieure ist Arbeit zum großen Teil Ersatzhandlung. Dieser Punkt ist derart wichtig, dass er eine gesonderte Erörterung erfordert, die wir in Kürze vornehmen werden (Abschnitte 87-92).

85. In diesem Abschnitt haben wir dargelegt, wie viele Menschen in der modernen Gesellschaft ihr Bedürfnis nach dem power process tatsächlich mehr oder weniger befriedigen. Doch glauben wir, dass die Mehrheit der Menschen ihr Bedürfnis nach dem power process nicht vollständig befriedigen kann. Denn zum einen stellen die Menschen, die ein unersättliches Geltungsbedürfnis haben, oder die sich einer Ersatzhandlung völlig verschreiben, oder die sich stark genug mit einer Bewegung oder Organisation identifizieren, um ihren Machttrieb auf diese Weise zu befriedigen, Ausnahmen dar. Andere sind weder durch Ersatzhandlungen noch durch Identifikation mit einer Organisation vollständig zu befriedigen (vgl. Abschnitte 41 und 64). Zum anderen übt das System durch explizite Vorschriften oder durch Anpassungsdruck zu viel Kontrolle aus, was zu einem Mangel an Autonomie führt und zu Frustration über die Unmöglichkeit, bestimmte Ziele zu erreichen und über den Zwang, zu viele Impulse unterdrücken zu müssen.

86. Doch selbst wenn die meisten Menschen in der industrielltechnologischen Gesellschaft zufriedengestellt wären, würden wir (FC) uns dennoch gegen diese Gesellschaftsform auflehnen, (unter anderem) weil wir es erniedrigend finden, wenn das Bedürfnis nach dem power process durch Ersatzhandlungen oder durch Identifikation mit mächtigen Organisationen befriedigt wird anstatt durch das Streben nach wahren Zielen.

MOTIVATION DER WISSENSCHAFTLER

87. Wissenschaft und Technologie bilden die wichtigsten Beispiele für Ersatzhandlungen. Manche Wissenschaftler behaupten, ihre Motivation bestehe in »Neugier« oder in einem Wunsch nach »Nutzen für die Menschheit«. Doch es ist leicht zu durchschauen, dass weder das eine noch das andere das Hauptmotiv der meisten Wissenschaftler sein kann. Was die »Neugier« betrifft, so ist diese Vorstellung einfach absurd. Die meisten Wissenschaftler arbeiten an hoch spezialisierten Problemen, die normaler Neugier nicht zugänglich sind. Kann man etwa behaupten, dass ein Astronom, ein Mathematiker oder ein Insek- tenkundler neugierig auf die Eigenschaften von Isopropyltri- methylmethan ist? Selbstverständlich nicht. Nur ein Chemiker empfindet dafür Neugier, und nur deshalb, weil Chemie seine Ersatzhandlung darstellt. Ist aber der Chemiker neugierig auf die geeignete Klassifizierung einer neuen Käferart? Nein. Denn diese Frage interessiert nur den Insektenkundler, weil Insektenkunde dessen Ersatzhandlung ist. Wenn der Chemiker und der Insektenkundler für die Sicherung ihrer existenziellen Bedürfnisse ernsthafte Anstrengungen unternehmen müssten, und wenn diese Anstrengungen ihre Fähigkeiten auf eine interessante Weise, aber nicht in wissenschaftlichem Streben herausfordern würden, dann würden sie sich um Isopropyltrimethylmethan oder die Klassifizierung von Käfern einen Dreck scheren. Nehmen wir einmal an, dass knappe Geldmittel der Graduiertenförderung dazu geführt hätten, dass der Chemiker stattdessen Versicherungsagent geworden wäre. In diesem Fall wäre er sehr an Versicherungsangelegenheiten interessiert, Iso- propyltrimethylmethan wäre ihm aber gleichgültig. Jedenfalls ist es nicht normal, der Befriedigung bloßer Neugier derart viel Zeit und Anstrengung zu widmen, wie Wissenschaftler in ihre Arbeit investieren. Mit »Neugier« ist die Motivation der Wissenschaftler nicht zu erklären.

88. Die Erklärung, es gehe ihnen um den »Nutzen für die Menschheit«, ist nicht plausibler. Manche Wissenschaften haben gar keinen denkbaren Bezug zum Wohlergehen der Menschheit – Archäologie zum Beispiel oder vergleichende Sprachwissenschaften. Andere Wissenschaftsgebiete eröffnen ganz offensichtlich gefährliche Möglichkeiten. Und doch sind die Wissenschaftler in diesen Gebieten ebenso begeistert von ihrer Arbeit wie die, die an der Entwicklung eines Impfstoffs arbeiten oder Luftverschmutzung untersuchen. Man denke an den Fall des Dr. Edward Teller, der sich offensichtlich emotional berührt für Kernkraftwerke einsetzte. Kann man behaupten, dass dieser Einsatz aus dem Wunsch herrührte, der Menschlichkeit zu dienen? Wenn das so wäre, warum hat sich Dr. Teller nicht für andere »humanitäre« Aufgaben begeistert? Wenn er so ein Menschenfreund war, warum hat er sich dann an der Entwicklung der Wasserstoffbombe beteiligt? Wie bei vielen anderen wissenschaftlichen Errungenschaften ist es äußerst fragwürdig, inwiefern Kernkraftwerke tatsächlich zum Nutzen der Menschheit sind. Wiegt die billige Elektrizität den sich ansammelnden nuklearen Abfall und das Risiko von Unfällen auf? Dr. Teller hat nur die eine Seite dieser Frage betrachtet. Es ist völlig klar, dass sein emotionales Eintreten für die Atomkraft nicht dem Wunsch nach »Nutzen für die Menschheit« entsprang, sondern einer persönlichen Befriedigung, die er aus seiner Arbeit und der Möglichkeit, diese in die Praxis umgesetzt zu sehen,zog.

89. Dies trifft auf alle Wissenschaftler zu. Von möglichen, wenigen Ausnahmen abgesehen sind ihre Motive weder Neugier noch der Wunsch, der Menschheit zu nützen, sondern das Bedürfnis, den power process zu durchlaufen: ein Ziel zu haben (ein wissenschaftliches Problem zu lösen), eine Anstrengung zu unternehmen (Forschung) und das Ziel zu erreichen (Lösung des Problems). Wissenschaft ist eine Ersatzhandlung, weil die Wissenschaftler hauptsächlich um der Erfüllung willen arbeiten, die ihnen diese Arbeit bringt.

90. Natürlich ist das nicht so simpel. Bei vielen Wissenschaftlern spielen noch andere Motive eine Rolle. Geld und Status zum Beispiel. Manche Wissenschaftler gehören zum Typus mit dem unersättlichen Geltungsdrang (vgl. Abschnitt 79), und in diesem mag ein großer Teil ihrer Motivation bestehen. Ganz sicher ist die Mehrheit der Wissenschaftler, wie die Mehrheit der Gesamtbevölkerung, für Werbung und Marketingstrategien mehr oder weniger empfänglich, und braucht daher Geld, um ihr Begehren nach Gütern und Dienstleistungen zu befriedigen. Somit ist Wissenschaft keine REINE Ersatzhandlung. Aber sie ist zum großen Teil eine Ersatzhandlung.

91. Außerdem haben sich Wissenschaft und Technologie zu einer mächtigen Massenbewegung entwickelt, und viele Wissenschaftler erfüllen ihr Machtbedürfnis, indem sie sich mit dieser Massenbewegung identifizieren (vgl. Abschnitt 83).

92. Der Vormarsch der Wissenschaft geschieht blindlings, ohne dass ein wirklicher Nutzen für die Menschheit dabei in Betracht gezogen würde, er ist einzig orientiert an den psychologischen Bedürfnissen der Wissenschaftler, der Regierungsbeamten und Untemehmensmanager, die Forschungsmittel dafür bereitstellen.

DAS WESEN DER FREIHEIT

93. Wir werden ausführen, dass die fortschreitende Einschränkung der Freiheit der Menschen in der industriell-technologischen Gesellschaft nicht durch Reformen dieser Gesellschaft aufgehalten werden kann. Doch weil »Freiheit« ein Begriff ist, der auf vielfache Weise interpretiert werden kann, werden wir zunächst definieren, welche Art von Freiheit wir meinen.

94. Wir verstehen unter »Freiheit« die Möglichkeit, den power process zu durchlaufen, mit wahren Zielen und nicht den künstlichen Zielen von Ersatzhandlungen, und ohne Einmischung, Manipulation oder Überwachung durch wen auch immer, besonders nicht durch große Organisationen. Freiheit bedeutet, die Kontrolle (als Individuum oder Mitglied einer KLEINEN Gruppe) über die existenziellen Dinge des eigenen Lebens zu haben: Nahrung, Kleidung, Unterkunft und Verteidigung gegen jedwede äußere Bedrohung. Freiheit bedeutet, Macht zu haben, aber nicht die Macht, andere Menschen zu kontrollieren, sondern die Macht, die eigenen Lebensumstände zu kontrollieren. Man hat keine Freiheit, wenn irgendjemand (insbesondere eine große Organisation) Macht über einen ausübt, egal wie wohltätig, tolerant oder freizügig diese ausgeübt wird. Freiheit ist keinesfalls mit Freizügigkeit zu verwechseln (vgl. Abschnitt 72).

95. Es wird behauptet, dass wir in einer freien Gesellschaft leben, weil uns durch die Verfassung eine Reihe von Rechten garantiert wird. Diese sind aber nicht so wichtig, wie sie scheinen. Der Grad der persönlichen Freiheit in einer Gesellschaft wird eher durch die wirtschaftliche und technologische Struktur dieser Gesellschaft bestimmt als durch ihre Gesetze oder ihre Regierungsform19. Die meisten Indianer-Nationen in Neuengland waren Monarchien, und viele Städte der italienischen Renaissance wurden von Diktatoren beherrscht. Jedoch kann man sich beim Lesen über diese Gesellschaften nicht des Eindrucks erwehren, dass sie weit mehr persönliche Freiheit zuließen als unsere Gesellschaft. Teilweise lag das daran, dass ihnen effiziente Mittel fehlten, um den Willen des Herrschers durchzusetzen: es gab keinen modernen, gut organisierten Polizeiapparat, keine schnelle Femkommunikation, keine Überwachungskameras, keine Informationsberichte über das Leben der Durchschnittsbürger. Somit war es relativ leicht, der Kontrolle auszu weichen.

96. Was unsere durch die Verfassung garantierten Rechte betrifft, so denke man beispielsweise an die Pressefreiheit. Wir wollen dieses Recht ganz sicherlich nicht abschaffen; es ist ein sehr wichtiges Mittel, um die Konzentration der politischen Macht einzugrenzen und um diejenigen, die politische Macht besitzen, durch die öffentliche Bekanntmachung ihres Fehlverhaltens zu zügeln. Jedoch ist die Pressefreiheit für den Durchschnittsbürger als Person nur von geringem Nutzen. Die Massenmedien stehen größtenteils unter der Kontrolle großer Organisationen, die in das System integriert sind. Jeder kann für wenig Geld etwas drucken lassen oder im Internet publizieren, doch was er zu sagen hat, wird in der Masse der Medieninformationen untergehen und deshalb nur wenig Wirkung erzielen. Die Gesellschaft mit Worten zu beeindrucken ist deshalb für die meisten Einzelpersonen oder kleinen Gruppen nahezu unmöglich. Nehmen wir uns (FC) selbst zum Beispiel. Wenn wir nicht gewaltsam gehandelt und die vorliegende Schrift einem Verleger vorgelegt hätten, wäre sie wahrscheinlich nicht angenommen worden. Selbst wenn sie akzeptiert und veröffentlicht worden wäre, hätte sie wahrscheinlich nicht viele Leser interessiert, denn es macht mehr Spaß, die Unterhaltungssendungen der Medien anzusehen als eine nüchterne Abhandlung zu lesen. Aber selbst wenn diese Schrift viele Leser gefunden hätte, würden die meisten dieser Leser das Gelesene bald vergessen haben, weil ihr Gedächtnis durch die Informationsflut der Massenmedien überflutet wird. Damit wir überhaupt eine Chance hatten, unsere Botschaft mit nachhaltigem Eindruck zu veröffentlichen, mussten wir Menschen töten.

97. Durch die Verfassung festgeschriebene Rechte sind bis zu einem gewissen Grad nützlich, aber sie können nicht viel mehr garantieren als das, was man eine bürgerliche Auffassung von Freiheit nennen könnte. Gemäß der bürgerlichen Auffassung ist ein »freier« Mensch im Wesentlichen Teil einer gesellschaftlichen Maschinerie und hat nur ein bestimmtes Bündel vorgeschriebener und begrenzter Freiheiten, Freiheiten nämlich, die vor allem der gesellschaftlichen Maschine dienen und weniger dem Einzelnen. So hat der bürgerliche »freie« Mensch wirtschaftliche Freiheit, weil sie Wachstum und Fortschritt dient; er hat Pressefreiheit, weil öffentliche Kritik das Fehl verhalten politischer Führer einschränkt; er hat das Recht auf einen fairen Prozess, weil Verhaftungen nach der bloßen Willkür der Mächtigen schlecht für das System wären. Dies entspricht eindeutig der Haltung Simon Bolivars. Ihm zufolge verdienten die Menschen nur dann Freiheit, wenn sie sie dazu einsetzen, den Fortschritt zu fördern (Fortschritt im bürgerlichen Verständnis). Andere bürgerliche Denker haben eine ähnliche Auffassung von Freiheit vertreten, sie als bloßes Mittel zum gemeinsamen Zweck verstanden. Chester C. Tan, Chinesisches Politisches Denken im Zwanzigsten Jahrhundert, Seite 202, erklärt die Philosophie des Kuomintang-Führers Hu Han-min: »Einem Einzelnen werden Rechte zugestanden, weil er ein Mitglied der Gesellschaft ist und das Leben der Gemeinschaft diese Rechte erfordert. Mit Gemeinschaft meint Hu Han-min die gesamte Gesellschaft oder Nation.« Auf Seite 259 führt Tan aus, dass Freiheit Carsum Chang (Chang Chun-mai, Führer der Sozialistischen Staatspartei Chinas) zufolge im Interesse des Staates und des gesamten Volkes als Gesamtheit genutzt werden muss. Aber was für eine Freiheit ist das, die nur auf von anderen vorgeschriebene Weise genutzt werden darf? Die Auffassung von Freiheit, die FC vertritt, ist eine andere als die Bolivars, Hus, Changs oder anderer bürgerlicher Theoretiker. Die Schwierigkeit mit solchen Theoretikern besteht darin, dass die Entwicklung und Anwendung sozialer Theorien ihre Ersatzhandlung geworden ist. Infolgedessen sind diese Theorien so entworfen, dass sie eher den Bedürfnissen der Theoretiker dienen als den Bedürfnissen von Menschen, die das Pech haben, in einer Gesellschaft zu leben, der diese Theorien aufgezwungen wurden.

98. Noch ein weiterer Punkt gehört in diesen Abschnitt: Man sollte nicht meinen, dass eine Person genug Freiheit hat, nur weil sie das von sich BEHAUPTET. Die Freiheit wird zum Teil durch psychologische Kontrollen eingeschränkt, die den Menschen überhaupt nicht bewusst sind, und darüber hinaus werden die Vorstellungen der meisten Menschen dessen, was Freiheit bedeutet, stark von gesellschaftlichen Konventionen gesteuert und weniger von ihren wirklichen Bedürfnissen. Zum Beispiel würden wahrscheinlich viele überangepasste Linke behaupten, dass die meisten Menschen, einschließlich ihrer selbst, eher zu wenig als zu stark angepasst seien, und doch zahlt der überangepasste Linke einen hohen psychologischen Preis für seinen hohen Grad an Angepasstheit.

EINIGE PRINZIPIEN DER GESCHICHTE

99. Man kann sich Geschichte als Summe zweier Komponenten vorstellen: einem unberechenbaren Teil, der aus unvorhersehbaren Ereignissen besteht, die keinem erkennbaren Muster folgen, und einem regelhaften Teil, der aus langfristigen historischen Strömungen besteht. Im folgenden Abschnitt geht es uns um die langfristigen Strömungen.

100. ERSTES PRINZIP. Wenn eine KLEINE Veränderung eintritt, die auf eine langfristige historische Strömung wirkt, dann ist die Wirkung dieser Veränderung fast immer nur vorübergehend – die Strömung wird bald wieder den ursprünglichen Verlauf nehmen. (Beispiel: eine Reformbewegung, die politische Korruption in einer Gesellschaft bekämpfen will, hat selten mehr als eine kurzzeitige Wirkung; früher oder später werden die Reformer nachlassen und die Korruption wird sich allmählich wieder einschleichen. Der Grad politischer Korruption in einer Gesellschaft neigt dazu, konstant zu bleiben oder sich nur langsam infolge der gesellschaftlichen Weiterentwicklung zu verändern. Normalerweise kann eine politische Säuberung nur dann dauerhaft sein, wenn sie von weitreichenden sozialen Veränderungen begleitet wird; eine KLEINE Veränderung in der Gesellschaft wird nicht hinreichen.) Wenn eine kleine Veränderung innerhalb eines langfristigen historischen Verlaufs anzudauem scheint, dann nur deshalb, weil die Veränderung in die gleiche Richtung zielt wie die allgemeine Strömung und diese dadurch nicht verändert, sondern vielmehr vorwärtsgetrieben wird.

101. Das erste Prinzip ist fast eine Tautologie. Wenn eine historische Strömung kleinen Veränderungen nicht standhielte, würde sie keiner bestimmten Richtung folgen, sondern wäre ziellos. Mit anderen Worten, es würde sich gar nicht um eine langfristige Strömung handeln.

102. ZWEITES PRINZIP. Wenn eine Veränderung eintritt, die groß genug ist, um eine langfristige historische Strömung dauerhaft zu verändern, dann wird sie die Gesellschaft im Ganzen verändern. Mit anderen Worten, eine Gesellschaft ist ein System, in dem alle Teile zueinander in Beziehung stehen, und kein Teil kann dauerhaft verändert werden, ohne dass sich alle anderen Teile auch ändern.

103. DRITTES PRINZIP. Wenn eine Veränderung eintritt, die groß genug ist, um eine langfristige Strömung dauerhaft zu verändern, können die Folgen für die gesamte Gesellschaft nicht vorausgesagt werden. (Es sei denn, verschiedene andere Gesellschaften haben bereits die gleiche Veränderung durchgemacht und die gleichen Folgen erlebt, in diesem Fall kann man auf empirischer Grundlage Voraussagen, dass eine andere Gesellschaft, die die gleiche Veränderung durchmacht, wahrscheinlich ähnliche Folgen erleben wird.)

104. VIERTES PRINZIP. Eine neue Gesellschaft kann nicht auf dem Papier entworfen werden. Das bedeutet, man kann eine neue Gesellschaftsform nicht im Voraus planen, dann errichten und erwarten, dass sie in der geplanten Weise funktioniert.

105. Das dritte und vierte Prinzip ergeben sich aus der Komplexität menschlicher Gesellschaften. Eine Veränderung des menschlichen Verhaltens wird sich sowohl auf die Wirtschaft einer Gesellschaft als auch auf ihre physische Umwelt auswirken; die Wirtschaft wird die Umwelt beeinflussen und umgekehrt, und die Veränderungen von Wirtschaft und Umwelt werden das menschliche Verhalten in komplexer, nicht vorhersehbarer Weise beeinträchtigen usw. Das Netzwerk von Ursache und Wirkung ist viel zu komplex, um es zu entwirren und zu begreifen.

106. FÜNFTES PRINZIP. Eine Gesellschaftsform wird von Menschen nicht bewusst und rational ausgewählt. Gesellschaften entwickeln sich durch Prozesse sozialer Evolution, die nicht der Kontrolle der menschlichen Vernunft unterliegen.

107. Das fünfte Prinzip ergibt sich folgerichtig aus den vier anderen Prinzipien.

108. Zur Erläuterung: Das erste Prinzip besagt, dass Versuche sozialer Reformen im Allgemeinen entweder in die Richtung zielen, in die sich die Gesellschaft ohnehin entwickelt (sodass sie eine Veränderung nur beschleunigen, die in jedem Fall stattgefunden hätte), oder nur eine vorübergehende Wirkung haben, sodass die Gesellschaft bald in ihr altes Fahrwasser zurückfällt. Um eine dauerhafte Veränderung der Entwicklungsrichtung irgendeines wichtigen Aspekts der Gesellschaft zu bewirken, sind Reformen ungeeignet, und eine Revolution ist notwendig. (Revolution bedeutet nicht zwangsläufig bewaffnete Erhebung oder Sturz der Regierung.) Das zweite Prinzip besagt, dass eine Revolution niemals nur einen Aspekt der Gesellschaft verändert, sie verändert die Gesellschaft im Ganzen; und das dritte Prinzip besagt, dass immer Veränderungen auftreten, die von den Revolutionären nicht erwartet oder erwünscht waren. Das vierte Prinzip besagt, dass eine Gesellschaft, die von Revolutionären oder Utopisten entworfen wurde, nie so funktioniert wie geplant.

109. Die Amerikanische Revolution ist dafür kein Gegenbeispiel. Die Amerikanische »Revolution« war nämlich keine Revolution, wie wir sie verstehen, sondern ein Unabhängigkeitskrieg, gefolgt von recht weitreichenden politischen Reformen. Die Gründerväter haben weder die Richtung geändert, in die sich die amerikanische Gesellschaft entwickelte, noch haben sie dies angestrebt. Sie haben die Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft lediglich von den retardierenden Auswirkungen britischer Herrschaft befreit. Ihre politische Reform hat keine grundsätzliche Strömung umgelenkt, sondern die Entwicklung der amerikanischen politischen Kultur nur in ihrer natürlichen Richtung beschleunigt. Schon die britische Gesellschaft, aus der die amerikanische hervorgegangen ist, hatte sich seit Langem in die Richtung einer repräsentativen Demokratie bewegt. Bereits vor dem Unabhängigkeitskrieg hatten die Amerikaner in den Kolonialversammlungen repräsentative Demokratie in bedeutendem Umfang praktiziert. Das von der Verfassung etablierte politische System war dem englischen System und der Kolonialversammlung nachgebildet. Mit wichtigen Änderungen, sicherlich – zweifellos haben die Gründerväter einen wichtigen Schritt getan. Aber es war ein Schritt auf dem Weg, den die englischsprachige Welt bereits eingeschlagen hatte. Der Beweis dafür ist, dass England und diejenigen seiner Kolonien, die hauptsächlich von Menschen britischer Herkunft bevölkert waren, letztendlich alle ein System repräsentativer Demokratie eingeführt haben, das dem der Vereinigten Staaten ähnelt. Hätten die Gründerväter damals die Geduld verloren und es abgelehnt, die Unabhängigkeitserklärung zu unterzeichnen, wäre unsere Lebensweise heute nicht viel anders. Vielleicht hätten wir etwas engere Bindungen an England, ein Parlament und einen Premierminister anstelle eines Kongresses und eines Präsidenten. Keine große Sache. Somit stellt die Amerikanische Revolution kein Gegenbeispiel zu unseren Prinzipien dar, sondern illustriert diese vielmehr.

110. Trotzdem muss man seinen gesunden Menschenverstand gebrauchen, um die Prinzipien richtig anzuwenden. Wir haben sie in einer unpräzisen Sprache verfasst, die Raum für Interpretationen lässt, auch kann man Ausnahmen davon finden. Wir stellen diese Prinzipien nicht als unabänderliche Gesetze dar, sondern eher als Faustregeln oder Denkanstöße, die vielleicht eine Art Gegenmittel zu naiven Ideen über die Zukunft der Gesellschaft sein können. Man sollte sich diese Prinzipien immer wieder bewusst machen, und wann immer man zu Ergebnissen kommt, die diesen Prinzipien widersprechen, sollte man seine Überlegungen sorgfältig überprüfen und seine Schlussfolgerung nur dann aufrecht halten, wenn es gute, solide Gründe dafür gibt.

DIE INDUSTRIELL-TECHNOLOGISCHE GESELLSCHAFT KANN NICHT REFORMIERT WERDEN

111. Die aufgeführten Prinzipien machen deutlich, wie hoffnungslos schwierig es wäre, das industrielle System derart zu reformieren, dass die fortschreitende Einschränkung unserer Freiheit dadurch verhindert würde. Es besteht eine langfristige historische Strömung, die mindestens bis auf die industrielle Revolution zurückgeht, das System auf Kosten der individuellen Freiheit und der lokalen Autonomie zu stärken. Deshalb würde jede Veränderung, die darauf abzielt, Freiheit vor Technologie zu schützen, einer grundlegenden Strömung in der Entwicklung unserer Gesellschaft entgegenstehen. Folgerichtig wäre eine solche Veränderung entweder nur eine vorübergehende – schon bald von der Flut der Geschichte hinweggeschwemmt – oder, sie würde, wenn sie ausreichend stark wäre, um dauerhaft zu wirken, das Wesen der Gesellschaft im Ganzen verändern. Damit wären das erste und zweite Prinzip erfüllt. Darüber hinaus bestünde ein großes Risiko, dass sich die Gesellschaft in einer nicht voraussagbaren Weise verändert (drittes Prinzip). Man kann kaum erwarten, dass Veränderungen, die groß genug wären, um dauerhafte Veränderungen zugunsten der Freiheit zu schaffen, bewusst vorgenommen werden, denn sie würden den Zusammenbruch des Systems herbeiführen. Also werden Reformversuche stets zu zaghaft sein, um eine Wirkung zu zeitigen. Selbst wenn Veränderungen von ausreichend großem Umfang eingeleitet würden, die einen dauerhaften Unterschied bewirken könnten, würden diese gestoppt werden, sobald ihre systembeeinträchtigenden Auswirkungen spürbar würden. Also können dauerhafte Veränderungen zugunsten der Freiheit nur von Menschen herbeigeführt werden, die zu radikalen, gefährlichen und un vorhersehbaren Änderungen des gesamten Systems bereit sind. Anders gesagt: von Revolutionären, nicht von Reformern.

112. Menschen, die die Freiheit retten wollen, dabei aber ängstlich darauf bedacht sind, nicht die vermeintlichen Vorteile der Technologie dafür zu opfern, werden naive Modelle einer neuen Gesellschaftsform entwerfen, in der Freiheit und Technologie versöhnt wären. Abgesehen von der Tatsache, dass die Leute, die solche Vorschläge machen, selten auch praktische Schritte vorschlagen, wie diese neue Gesellschaftsform überhaupt errichtet werden soll, folgt aus dem vierten Prinzip auch, dass selbst wenn die neue Gesellschaftsform irgendwann etabliert würde, sie entweder zusammenbrechen oder gänzlich anders sein würde als erwartet.

113. Schon auf dieser ganz allgemeinen Ebene scheint es höchst unwahrscheinlich, dass es irgendeine Möglichkeit gibt, die Gesellschaft derart zu verändern, dass Freiheit und moderne Technologie miteinander versöhnt werden könnten. In den folgenden Abschnitten werden wir spezifischere Begründungen für unsere Schlussfolgerung, dass Freiheit und technologischer Fortschritt unvereinbar sind, darlegen.

DIE GRENZEN DER FREIHEIT IN DER INDUSTRIELLEN GESELLSCHAFT

114. Wie in den Abschnitten 65-67 und 70-73 dargelegt wurde, ist der moderne Mensch durch ein Geflecht von Regeln und Vorschriften gebunden, und sein Schicksal hängt von Handlungen anderer Menschen ab, die ihm fern sind und deren Entscheidungen er nicht beeinflussen kann. Dies ist weder Zufall noch Ergebnis der Willkür arroganter Bürokraten. Es ist notwendig und unvermeidlich in jeder fortgeschrittenen technologischen Gesellschaft so. Das System MUSS menschliches Verhalten streng regulieren, um funktionieren zu können. Bei der Arbeit müssen Menschen das tun, was ihnen gesagt wurde, dann, wann es ihnen gesagt wurde und auf die Art, wie es ihnen gesagt wurde, sonst würde die Produktion im Chaos versinken. Bürokratien MÜSSEN nach strengen Vorschriften geführt werden. Bürokraten der unteren Ebenen spürbaren eigenen Ermessensspielraum zuzugestehen, würde das System beeinträchtigen und es dem Vorwurf der Ungerechtigkeit aussetzen, weil jeder Bürokrat nach seinem Ermessen und anders als ein anderer handeln würde. Sicher könnten einige Einschränkungen unserer Freiheit abgeschafft werden, aber IM ALLGEMEINEN ist die Regulierung unseres Lebens durch große Organisationen notwendig für das Funktionieren der industriell-technologischen Gesellschaft. Das Ergebnis ist ein Gefühl der Ohnmacht beim Durchschnittsbürger. Es ist jedoch möglich, dass die formellen Einschränkungen zunehmend durch psychologische Instrumente ersetzt werden, sodass wir freiwillig tun, was das System von uns verlangt (Propaganda20, Erziehungsmethoden, Programme zur »mentalen Gesundheit« usw.).

115. Das System MUSS die Menschen zu einem Verhalten zwingen, das sich immer stärker vom natürlichen Muster menschlichen Verhaltens unterscheidet. Beispielsweise braucht das System Wissenschaftler, Mathematiker, Ingenieure. Es kann ohne sie nicht funktionieren. Deshalb werden Kinder unter starken Druck gesetzt, sich auf diesen Gebieten auszuzeichnen. Es ist unnatürlich für einen heranwachsenden Menschen, den Großteil seiner Zeit in Studien versunken an einem Schreibtisch zu verbringen. Ein normaler Heranwachsender möchte seine Zeit damit verbringen, aktive Kontakte zur wirklichen Welt zu knüpfen. Die Dinge, zu denen Kinder in primitiven Völkern angeleitet werden, stehen in vernünftigem Einklang mit ihren natürlichen menschlichen Impulsen. Bei den amerikanischen Indianern etwa wurden die Jungen zu Aktivitäten und Beschäftigungen außerhalb des Hauses angehalten – zu genau den Dingen, die Jungen mögen. Aber in unserer Gesellschaft werden Kinder dazu gedrängt, sich mit technischen Studien zu beschäftigen, was die meisten nur widerwillig tun.

116. Aufgrund des ständigen Drucks, den das System ausübt, um das menschliche Verhalten zu verändern, nimmt die Zahl der Menschen zu, die sich den Anforderungen der Gesellschaft nicht anpassen wollen oder können: Sozialhilfeschmarotzer, Jugendbanden, Sektenanhänger, Regierungsgegner, radikale Umweltschützer und Saboteure, Aussteiger und andere Widerständler.

117. In jeder technologisch fortgeschrittenen Gesellschaft MUSS das Schicksal des Einzelnen von Entscheidungen abhängig sein, auf die er selbst keinen nennenswerten Einfluss nehmen kann. Eine technologische Gesellschaft kann nicht in kleine autonome Gemeinschaften aufgeteilt werden, weil die Produktion vom Zusammenwirken einer großen Anzahl von Menschen und Maschinen abhängt. Eine solche Gesellschaft MUSS hoch organisiert sein und Entscheidungen, die sich auf viele Menschen aus wirken, MÜSSEN getroffen werden. Wenn eine Entscheidung etwa eine Million Menschen betrifft, dann hat jedes der betroffenen Individuen im Durchschnitt auch nur ein Millionstel Anteil an der Entscheidung. In der Praxis werden Entscheidungen üblicherweise von öffentlichen Beamten oder Managern von großen Körperschaften durchgeführt oder von technischen Spezialisten, aber selbst wenn die Öffentlichkeit einmal über eine Entscheidung abstimmt, ist die Anzahl der Stimmberechtigten gewöhnlich zu groß, als dass die Stimme eines Einzelnen von Bedeutung wäre21. Also sind die meisten Menschen unfähig, einen messbaren Einfluss auf die meisten Entscheidungen auszuüben, die ihr Leben betreffen. Es gibt in einer fortgeschrittenen technologischen Gesellschaft keinen denkbaren Ausweg aus dieser Situation. Das System versucht das Problem dadurch zu »lösen«, dass die Menschen durch Propaganda glauben gemacht werden, sie würden die Entscheidungen WÜNSCHEN, die für sie getroffen wurden, aber selbst wenn diese »Lösung« ein voller Erfolg wäre und die Menschen sich dadurch tatsächlich besser fühlten, wäre es erniedrigend.

118. Die Konservativen und einige andere befürworten stärkere »lokale Autonomie«. Örtliche Gemeinschaften waren früher tatsächlich autonom, aber diese Art von Autonomie ist immer weniger möglich, weil die kleinen Gemeinschaften immer mehr in größere Systeme übergehen und von ihnen abhängen, wie öffentliche Versorgungsbetriebe, Computernetzwerke, Autobahnsysteme, Massenmedien, das moderne Gesundheitssystem. Auch die Tatsache, dass an einem Ort angewandte Technologie Menschen in anderen, weit abgelegenen Gebieten betrifft, wirkt gegen Autonomie. So können Pestizide und Chemikalien, die in der Nähe eines Baches aufgebracht werden, die Wasserversorgung Hunderte von Meilen flussabwärts verschmutzen, und der Treibhauseffekt hat weltweite Auswirkungen.

119. Das System existiert nicht und kann nicht dazu existieren, menschliche Bedürfnisse zu befriedigen. Vielmehr muss das menschliche Verhalten den Bedürfnissen des Systems angepasst werden. Dies hat nichts mit der politischen oder gesellschaftlichen Ideologie zu tun, von der das technologische System angeblich gerade gelenkt wird. Es ist kein Fehler des Kapitalismus und kein Fehler des Sozialismus. Es ist der Fehler der Technologie selbst, weil das System gar nicht von einer Ideologie, sondern von technischen Notwendigkeiten gelenkt wird22. Natürlich befriedigt das System viele menschliche Bedürfnisse, aber im Allgemeinen nur soweit es Vorteile für das System hat. An erster Stelle stehen die Bedürfnisse des Systems und nicht die der Menschen. Beispielsweise versorgt das System die Menschen mit Nahrung, weil es nicht bestehen könnte, wenn alle verhungern würden; es dient den psychologischen Bedürfnissen der Menschen, wann immer es ihm PASST, weil es nicht funktionieren könnte, wenn zu viele Menschen depressiv oder aufrührerisch wären. Aber aus guten, soliden, praktischen Gründen muss das System ständig Druck auf Menschen ausüben, um ihr Verhalten den Bedürfnissen des Systems anzupassen. Es gibt zu viel Müll? Die Regierung, die Medien, das Erziehungssystem, die Umweltschützer überschwemmen uns mit Unmengen von Propaganda zum Recycling. Es wird mehr technisches Personal benötigt? Ein Chor von Stimmen ermahnt Jugendliche zum Studium der Naturwissenschaften. Niemand hält einmal inne und stellt die Frage, ob es nicht unmenschlich ist, Jugendliche dazu zu zwingen, ihre Zeit mit Studienfächern zu verbringen, die die meisten von ihnen hassen. Wenn gelernte Arbeiter aufgrund des technologischen Fortschritts entlassen werden und sich einer »Weiterbildung« unterziehen müssen, fragt niemand, ob es für sie wohl demütigend ist, so herumgeschubst zu werden. Es wird einfach vorausgesetzt, dass sich jedermann den technischen Anforderungen fügen muss. Und mit gutem Grund: Wenn menschliche Bedürfnisse vor technische Notwendigkeiten gesetzt werden, gäbe es wirtschaftliche Probleme, Arbeitslosigkeit, Mangel oder Schlimmeres. Das Konzept »geistiger Gesundheit« wird in unserer Gesellschaft im Allgemeinen daran gemessen, wie stark sich der Einzelne den Bedürfnissen des Systems angemessen verhält, ohne Stress-Symptome zu zeigen.

120. Anstrengungen, innerhalb des Systems Platz für Selbstverwirklichung und Autonomie schaffen zu wollen, sind ein Witz. Was wäre, wenn ein Unternehmen jeden seiner Angestellten, die bisher jeweils nur einen Teil des gesamten Produkts hergestellt haben, das ganze Produkt hersteilen lässt, um ihnen ein Zielbewusstsein und ein Gefühl von Leistung zu verschaffen? Einige Unternehmen haben versucht, ihren Angestellten bei der Arbeit mehr Autonomie zuzugestehen, aber aus praktischen Gründen kann dies normalerweise nur in sehr geringem Maße geschehen, und keinesfalls gibt man ihnen Autonomie über die letztendlich angestrebten Ziele – ihre »autonomen« Anstrengungen können niemals auf Ziele gerichtet sein, die sie sich selbst gesetzt haben, sondern nur auf die Ziele ihrer Arbeitgeber, etwa das Überleben und das Wachstum des Unternehmens. Jedes Unternehmen, das seinen Angestellten erlauben würde, anders zu handeln, ginge schnell bankrott. Ganz ähnlich müssen die Arbeiter in einer Genossenschaft in einem sozialistischen System ihre Anstrengungen auf die Ziele der Genossenschaft richten, andernfalls wird die Genossenschaft nicht ihren Zweck als Teil des Systems erfüllen. Noch einmal, aus rein technischen Gründen können die meisten Individuen und kleinen Gruppen in einer industriellen Gesellschaft nicht viel Autonomie haben. Selbst der kleine selbstständige Unternehmer hat gewöhnlich nur eine begrenzte Autonomie. Abgesehen von den staatlichen Regulierungen wird er dadurch eingeschränkt, dass er sich dem Wirtschaftssystem anpassen und seinen Erfordernissen entsprechen muss. Wenn beispielsweise eine neue Technologie entwickelt wird, muss der Einzelunternehmer sich ihrer bedienen, ob er will oder nicht, um wettbewerbsfähig zu bleiben.

DIE UNTRENNBARKEIT VON »GUT« UND »BÖSE« IN DER TECHNOLOGIE

121. Ein weiterer Grund dafür, weshalb die industrielle Gesellschaft nicht zugunsten von mehr Freiheit reformiert werden kann, liegt darin, dass die moderne Technologie ein einheitliches System darstellt, in dem alle Teile voneinander abhängig sind. Man kann die »bösen« Seiten der Technologie nicht los werden und nur die »guten« behalten. Ein Beispiel dafür gibt die moderne Medizin. Der Fortschritt der medizinischen Wissenschaft hängt vom Fortschritt in Chemie, Physik, Biologie, Computerwissenschaft und anderen Gebieten ab. Moderne medizinische Behandlung erfordert eine teure High-Tech-Aus- rüstung, die nur in einer technologisch fortgeschrittenen und wirtschaftlich wohlhabenden Gesellschaft zur Verfügung gestellt werden kann. Es wird deutlich, dass medizinischer Fortschritt nicht denkbar ist ohne das gesamte technologische System und allem, was dazu gehört.

122. Sogar wenn man den medizinischen Fortschritt ohne das übrige technologische System aufrechterhalten könnte, würde er selbst einige Übel mit sich bringen. Angenommen, man hätte ein Heilmittel gegen Diabetes entdeckt. Menschen mit einer genetischen Anlage zu Diabetes könnten dann überleben und sich wie jeder andere fortpflanzen. Die natürliche Auslese gegen Diabetes-Gene wird dann gestört und diese Gene werden sich in der gesamten Bevölkerung verbreiten. (Dies ist in gewissem Umfang bereits geschehen, weil Diabetes zwar nicht heilbar ist, aber mit Hilfe von Insulin unter Kontrolle gebracht werden kann.) Dasselbe wird mit vielen anderen Krankheiten geschehen, für die Menschen mit einer bestimmten genetischen Disposition anfällig sind (z.B. Krebs bei Kindern), die Folge ist eine massive genetische Degradierung der Bevölkerung. Die einzige Lösung wird eine Art Eugenikprogramm sein oder extensive Genmanipulation beim Menschen, sodass der Mensch der Zukunft nicht länger ein Geschöpf der Natur oder des Zufalls oder Gottes (je nach religiöser oder philosophischer Überzeugung) sein wird, sondern ein künstlich erzeugtes Produkt.

123. Wer findet, dass sich der Staat JETZT schon zu sehr in das Privatleben einmischt, sollte erst ab warten, bis der Staat die genetischen Anlagen seiner Kinder reguliert. Solche Regulierungen werden die unvermeidbare Folge sein, wenn Genmanipulationen beim Menschen zugelassen werden, weil die Konsequenzen einer nichtregulierten Genmanipulation verheerend sein würden23.

124. Die übliche Antwort auf solche Befürchtungen ist das Gerede von »medizinischer Ethik«. Aber ein ethischer Code würde die Freiheit nicht vor dem medizinischen Fortschritt schützen können; er würde die Sache eher verschlimmern. Ein ethischer Code, der auf Genmanipulationen anzuwenden ist, wäre im Endeffekt ein Mittel der Regulierung der genetischen Verfassung des Menschen. Irgendjemand (wahrscheinlich hauptsächlich die obere Mittelschicht) würde entscheiden, dass diese oder jene Anwendung der Genmanipulation »ethisch« sei, andere dagegen nicht, sodass sie letztlich ihre eigenen Wertvorstellungen über die genetische Ausstattung der gesamten Bevölkerung aufzwingen würden. Selbst wenn ein Ethikgesetz auf vollkommen demokratischer Grundlage beschlossen würde, hätte damit die Mehrheit ihre Wertvorstellungen gegenüber allen Minderheiten durchgesetzt, die vielleicht eine andere Vorstellung dessen haben, wie ein »ethischer« Umgang mit Genmanipulationen aussehen könnte. Das einzige ethische Gesetz, das wirklich einen Schutz der Freiheit gewährleisten könnte, wäre das Verbot JEGLICHER Genmanipulation am Menschen, doch mit Sicherheit wird in einer technologischen Gesellschaft kein solches Gesetz erlassen werden. Kein Gesetz, das der Genmanipulation nur eine untergeordnete Rolle erlaubt, würde lange bestehen können, weil die Versuchung der unfassbaren Macht der Biotechnologie unwiderstehlich ist, besonders weil viele ihrer Anwendungen von der Mehrheit der Menschen ganz offensichtlich und unzweideutig für gut gehalten werden (das Ausrotten von physischen und geistigen Krankheiten, die Möglichkeit, Menschen die Fähigkeiten zu geben, die sie brauchen, um in der heutigen Welt zurechtzukommen). Genmanipulation wird unvermeidlich in weitem Umfang angewandt werden, jedoch nur auf eine Art und Weise, die den Bedürfnissen des industriell-technologischen Systems entspricht24.

TECHNOLOGIE IST EINE MÄCHTIGERE GESELLSCHAFTLICHE KRAFT ALS DAS STREBEN NACH FREIHEIT

125. Es ist nicht möglich, einen DAUERHAFTEN Kompromiss zwischen Technologie und Freiheit zu finden, weil die Technologie die weitaus stärkere gesellschaftliche Kraft ist und durch WIEDERHOLTE Kompromisse ständig in die Freiheit eingreift. Man stelle sich zwei Nachbarn vor, von denen jeder zu Beginn ein Stück Land gleicher Größe besitzt, einer von ihnen ist aber stärker als der andere. Nun verlangt der Stärkere, dass der andere ihm einen Teil seines Besitzes abtreten solle. Der Schwächere lehnt das ab. Der Stärkere sagt: »Gut, machen wir einen Kompromiss. Gib mir die Hälfte von dem, was ich verlange.« Der Schwache hat keine andere Wahl als einzuwilligen. Etwas später verlangt der stärkere Nachbar wieder ein Stück Land, wieder gibt es einen Kompromiss, und so fort. Indem er vom Schwächeren wiederholt Kompromisse erzwingt, eignet sich der Stärkere schließlich dessen ganzes Land an. So geht es auch im Konflikt zwischen Technologie und Freiheit.

126. Nun wollen wir erklären, warum Technologie eine stärkere gesellschaftliche Kraft ist als das Streben nach Freiheit.

127. Eine technologische Neuentwicklung, die die Freiheit zunächst nicht zu bedrohen scheint, erweist sich später oft als sehr bedrohlich. Nehmen wir zum Beispiel das motorisierte Transportwesen. Wenn früher ein Mensch zu Fuß ging, konnte er gehen, wo und wohin er wollte, in seinem eigenen Rhythmus, ohne irgendeine Verkehrsvorschrift beachten zu müssen, er war unabhängig von technologischen Hilfssystemen. Die Einführung motorisierter Fahrzeuge schien die Freiheit des Menschen zu vergrößern. Sie schränkte die Freiheit des zu Fuß gehenden Menschen nicht ein, niemand musste ein Automobil haben, wenn er nicht wollte, und wer sich dafür entschied, eines zu kaufen, konnte sich viel schneller und weiter bewegen als der Fußgänger. Doch bald begann die Einführung des motorisierten Transportwesens die Gesellschaft in einer Weise zu verändern, durch die die menschliche Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt wurde. Mit der steigenden Anzahl der Automobile musste ihr Gebrauch umfassend geregelt werden. In dicht besiedelten Gebieten kann man sich mit einem Auto nicht einfach bewegen, wie man will; die eigene Bewegung wird vom Verkehrsfluss und verschiedenen Verkehrsregeln dirigiert. Man ist durch alle möglichen Verpflichtungen gebunden: Antrag auf Fahrerlaubnis, Fahrprüfung, Erneuerung der Fahrzeugmeldung, Versicherung, technische Kontrollen, monatliche Raten. Vor allem aber ist der motorisierte Transport nicht mehr freiwillig. Seit der Einführung des Transportwesens hat sich die Struktur unserer Städte derart verändert, dass die Mehrzahl der Bürger ihren Arbeitsplatz, ihre Einkaufsmöglichkeiten und Freizeitstätten nicht mehr zu Fuß erreichen können, sodass sie von ihrem Auto abhängig sein MÜSSEN. Oder sie müssen öffentliche Transportmittel benutzen, in diesem Fall haben sie aber noch weniger Kontrolle über ihre eigene Bewegungsfreiheit als in ihrem Auto. Selbst die Freiheit des Fußgängers ist nun stark eingeschränkt. In den Städten muss er ständig an Ampeln warten, die hauptsächlich dem Autoverkehr dienen. Auf dem Lande macht der Autoverkehr das Wandern entlang der großen Straßen gefährlich und unangenehm. (Dieser gerade am Beispiel der Motorisierung erläuterte Punkt ist beachtenswert: Wenn eine neue technologische Errungenschaft als Option eingeführt wird, für oder gegen die der Einzelne sich entscheiden kann, heißt das nicht, dass diese Errungenschaft immer optional BLEIBT. In vielen Fällen verändert die neue Technologie die Gesellschaft auf eine Art und Weise, dass die Menschen sich schließlich dazu GEZWUNGEN sehen, sie zu verwenden.)

128. Während der technologische Prozess ALS GANZES unsere Freiheit kontinuierlich einengt, scheint jede einzelne technische Entwicklung FÜR SICH BETRACHTET als wünschenswert. Elektrizität, fließend Wasser, schnelle Femkommunikations- mittel … wie kann man irgendeines dieser oder anderer Dinge der unzähligen technischen Entwicklungen ablehnen, die die moderne Gesellschaft ausmachen? Es wäre absurd gewesen, etwa der Einführung des Telefons Widerstand zu leisten. Es bot viele Vorteile und keine Nachteile. Und doch haben, wie in den Abschnitten 59-76 erläutert, all diese technischen Entwicklungen zusammengenommen eine Welt geschaffen, in der das Schicksal des gewöhnlichen Menschen nicht mehr in seiner Hand oder der von Nachbarn und Freunden liegt, sondern in denen der Politiker, Firmenmanager und fremder, unbekannter Techniker und Bürokraten, die er als Einzelner nicht beeinflussen kann25. Dieser Prozess wird sich in Zukunft fortsetzen. Ein Beispiel ist die Genmanipulation. Nur wenige werden sich der Einführung einer Gentechnik widersetzen, die Erbkrankheiten ausrottet. Sie richtet keinen sichtbaren Schaden an und verhindert viel Leiden. Und doch wird eine große Zahl von Verbesserungen durch Genmanipulation den Menschen zu einem designten Produkt machen, das nichts mehr mit einer freien Schöpfung des Zufalls (oder Gottes, oder wessen auch immer, je nach Glaubens Vorstellung) zu tun hat.

129. Ein anderer Grund, weshalb die Technologie eine so starke gesellschaftliche Kraft ist, liegt darin, dass der technologische Fortschritt im Umfeld der heute gegebenen Gesellschaft nur in eine Richtung verläuft; er kann nicht rückgängig gemacht werden. Ist eine technische Neuheit erst einmal eingeführt, werden die Menschen von ihr abhängig und können nicht mehr darauf verzichten, außer sie wird durch eine noch fortschrittlichere Neuheit ersetzt. Nicht nur die Menschen als Individuen werden abhängig von der neuen technologischen Errungenschaft, sondern das System als Ganzes wird abhängig. (Man stelle sich vor, was mit dem System passieren würde, wenn beispielsweise Computer heute aus dem Verkehr gezogen würden.) Während die Freiheit vor der Technologie zurückweichen muss, kann diese niemals einen Schritt hinter ihre eigene Entwicklung zurückgehen, weil dies das gesamte technologische System vernichten würde.

130. Technologie entwickelt sich mit großer Geschwindigkeit und bedroht die Freiheit an vielen Stellen gleichzeitig (Überbevölkerung, Gesetze und Vorschriften, zunehmende Abhängigkeit der Einzelnen von großen Organisationen, Propaganda und andere psychologische Techniken, Genmanipulation, Eingriffe in die Privatsphäre durch ständige Überwachung und Computer usw.). Auch nur eine EINZIGE dieser Bedrohungen der Freiheit abzuwenden, würde einen langen und schwierigen sozialen Kampf erfordern. Diejenigen, die die Freiheit schützen wollen, werden von der bloßen Anzahl immer neuer Angriffe und der Schnelligkeit der Technologieentwicklung überwältigt, sodass sie apathisch werden und den Widerstand aufgeben. Jede einzelne Bedrohung getrennt bekämpfen zu wollen, wäre vergeblich. Auf Erfolg kann man nur hoffen, wenn das technologische System als Ganzes bekämpft würde; aber dies wäre Revolution und nicht Reform.

131. Techniker (wir gebrauchen diese Bezeichnung hier in einem weiten Sinn, gemeint sind alle, die eine spezialisierte Tätigkeit ausführen, für die es eine besondere Ausbildung braucht) neigen dazu, sich derart mit ihrer Arbeit (ihrer Ersatzhandlung) zu identifizieren, dass sie sich im Falle eines Konflikts zwischen ihrer technischen Arbeit und Freiheit fast immer für ihre technische Arbeit entscheiden würden. Bei Wissenschaftlern ist dies offensichtlich, aber es tritt auch anderswo auf: Erzieher, Menschenrechtsgruppen, Um Weltorganisationen haben keine Skrupel, Propaganda26 oder andere psychologische Techniken zu benutzen, um die von ihnen angepriesenen Ziele zu erreichen. Privatunternehmen und staatliche Agenturen zögern nicht, Informationen über Individuen einzuziehen, ohne Rücksicht auf deren Privatsphäre. Für Polizei und Sicherheitsdienste sind die in der Verfassung festgelegten Rechte der Verdächtigen und oft völlig unschuldiger Personen häufig ein Störfaktor, und sie tun, was sie legal (und manchmal illegal) tun können, um diese Rechte zu beschränken oder zu umgehen. Die meisten dieser Erzieher, Regierungsbeamten und Polizisten glauben an Freiheit, Privatsphäre und Verfassungsrechte, wenn diese aber im Konflikt mit ihrer Arbeit liegen, setzen sie sich darüber hinweg.

132. Bekanntlich arbeiten Menschen besser und ausdauernder, wenn sie dafür eine Belohnung erwarten, als wenn sie bloß eine Strafe oder eine negative Folge vermeiden wollen. Wissenschaftler und andere Techniker werden hauptsächlich durch Belohnungen motiviert, die sie durch ihre Arbeit bekommen. Diejenigen jedoch, die sich gegen die technologische Invasion der Freiheit wenden, versuchen bloß, eine negative Folge zu vermeiden; deswegen widmen sich nur wenige ausdauernd und gut dieser entmutigenden Aufgabe. Wenn es Reformern je gelänge, einen bemerkenswerten Sieg zu erringen, der einer weiteren Aushöhlung der Freiheit durch technologischen Fortschritt dauerhafte Grenzen zu setzen scheint, würden die meisten sich danach ausruhen und ihre Aufmerksamkeit angenehmeren Aufgaben widmen. Die Wissenschaftler aber würden weiter fleißig in ihren Laboratorien arbeiten, und die Technologie würde sich gegen alle Widerstände ihren Weg bahnen, immer größere Kontrolle über jeden einzelnen Menschen gewinnen und sie mehr und mehr vom System abhängig machen.

133. Kein gesellschaftliches Übereinkommen, seien es Gesetze, Institutionen, Bräuche oder ethische Normen, kann permanenten Schutz gegen die Technologie gewähren. Die Geschichte hat gezeigt, dass alle gesellschaftlichen Übereinkommen nur vorübergehend gelten; sie ändern sich im Laufe der Zeit oder werden schließlich aufgehoben. Der technologische Fortschritt in einer gegebenen Zivilisation dagegen überdauert. Angenommen, man würde eine gesellschaftliche Übereinkunft erreichen, derzufolge Genmanipulationen an Menschen oder da, wo Freiheit und Würde bedroht wären, nicht zugelassen sind, dann wäre die Technologie dafür doch schon vorhanden. Früher oder später würde die Übereinkunft aufgehoben. Wahrscheinlich eher früher, bei der Geschwindigkeit der Veränderungen in unserer Gesellschaft. Dann würde die Genmanipulation beginnen, unsere Freiheit einzuschränken, und diese Einschränkungen wären unumkehrbar (außer die technologische Gesellschaft selbst bräche zusammen). Jegliche Illusion, es könnte durch gesellschaftliche Übereinkünfte irgendetwas Dauerhaftes erreicht werden, sollte allein durch die derzeitigen Entwicklungen in der Umweltschutzgesetzgebung aufgegeben werden. Vor einigen Jahren schien es sichere juristische Grenzen zu geben, die wenigstens EIN PAAR der schlimmsten Umweltzerstörungen verhinderten. Eine Veränderung der politischen Windrichtung, und schon beginnen diese Grenzen zu zerfallen.

134. Aus all den genannten Gründen ist die Technologie eine stärkere gesellschaftliche Kraft als das Streben nach Freiheit – jedoch mit einem Vorbehalt. Es scheint so, als würde das industriell-technologische System in den nächsten Jahrzehnten schweren Belastungen ausgesetzt werden, durch ökonomische und ökologische Probleme, besonders aber durch menschliches Verhalten verursachte Probleme (Entfremdung, Rebellion, Feindseligkeit, verschiedene soziale und psychische Schwierigkeiten). Wir hoffen, dass die Belastungen, denen das System wahrscheinlich ausgesetzt sein wird, es zusammenbrechen lassen oder wenigstens so schwächen werden, dass eine Revolution gegen dieses System möglich wird. Wenn eine solche Revolution eintritt und Erfolg hat, würde dies beweisen, dass das Streben nach Freiheit in diesem besonderen Moment stärker ist als die Technologie.

135. In Abschnitt 125 haben wir das Beispiel des schwachen Nachbarn gebracht, der von einem stärkeren Nachbarn in Not gebracht wird, indem dieser sich in einer Folge von aufgezwungenen Kompromissen das ganze Land des Schwächeren aneignet. Nehmen wir nun an, der starke Nachbar wird lich krank und unfähig, sich zu verteidigen. Der schwache Nachbar kann den starken dazu zwingen, ihm das Land zurückzugeben, oder er kann ihn töten. Lässt er den starken Mann überleben und zwingt ihn nur zur Rückgabe seines Landes, wäre er ein Narr, denn der starke Mann würde ihm das Land wieder wegnehmen, sobald er gesund geworden wäre. Dem Schwachen bleibt keine sinnvolle Alternative als den Starken zu töten, solange er die Chance dazu hat. Genauso müssen wir das industrielle System vernichten, sobald es einmal geschwächt ist. Wenn wir einen Kompromiss eingehen und es sich wieder erholen lassen, dann wird es unsere Freiheit eines Tages endgültig auslöschen.

DIE UNLÖSBARKEIT GESELLSCHAFTLICHER PROBLEME

136. Sollte irgendjemand noch immer glauben, man könne das System reformieren und so die Freiheit vor den Auswirkungen der Technologie schützen, so führe er sich vor Augen, wie ungeschickt und meistens auch erfolglos unsere Gesellschaft bisher mit anderen gesellschaftlichen Problemen umgegangen ist, die wesentlich einfacher waren. Unter anderem hat das System beim Kampf gegen Umweltzerstörung, Korruption, Drogenhandel und häusliche Gewalt versagt.

137. Nehmen wir die Umweltprobleme zum Beispiel. Hier liegt der Konflikt ganz klar auf der Hand: unmittelbarer wirtschaftlicher Nutzen gegenüber der Erhaltung wenigstens einiger natürlicher Ressourcen für kommende Generationen27. Doch zu diesem Thema sind von den Machthabern nichts als Geschwätz und Unklarheiten von den Verantwortlichen zu hören, es lässt sich keine klare, konsequente Handlungsfolge erkennen, die Umweltprobleme wachsen weiter und unsere Enkel werden damit leben müssen. Versuche, Umweltfragen zu lösen, haben Streit und Kompromisse unter den verschiedenen Fraktionen ausgelöst, die gegenwärtig noch zunehmen, und immer neue Streitfragen tauchen auf. Die Auseinandersetzung folgt dem raschen Wechsel in der öffentlichen Meinung. Es ist weder ein rationaler Vorgang noch besteht die Aussicht auf eine zeitige und erfolgreiche Lösung des Problems. Die größten sozialen Probleme werden selten oder nie durch einen rationalen, nachvollziehbaren Plan gelöst, wenn sie überhaupt »gelöst« werden. Sie lösen sich höchstens von selbst, indem verschiedene miteinander konkurrierende Gruppen auftauchen, die ihre (kurzfristigen) Eigeninteressen28 verfolgen, und die sich (meistens durch bloßen Zufall) auf einen mehr oder weniger stabilen modus vivendi einigen. Tatsächlich lassen die von uns in den Abschnitten 100-106 dargelegten Prinzipien daran zweifeln, dass vernünftige langfristige gesellschaftliche Planung JEMALS erfolgreich sein kann.

138. Damit wird deutlich, dass die Menschheit, wenn überhaupt, nur sehr begrenzt fähig ist, selbst relativ einfache gesellschaftliche Probleme zu lösen. Wie soll sie dann das viel schwierigere und subtilere Problem lösen, menschliche Freiheit und Technologie zu versöhnen? Technologie verspricht klare materielle Vorteile, wohingegen Freiheit ein Abstraktum ist, das für unterschiedliche Menschen Unterschiedliches bedeutet, und ihr Verlust ist durch Propaganda und modisches Geschwätz leicht zu verschleiern.

139. Man sollte einen wichtigen Unterschied beachten: Es ist denkbar, dass (zum Beispiel) unsere Umweltprobleme eines Tages durch vernünftige und einsichtige Planung geregelt werden könnten, aber wenn das geschieht, dann nur deshalb, weil eine solche Lösung langfristig im Interesse des Systems wäre. Es ist aber NICHT im Interesse des Systems, Freiheit oder die Autonomie kleiner Gruppen zu bewahren. Im Gegenteil, es ist im Interesse des Systems, menschliche Verhaltensformen in höchstmöglichem Maße zu kontrollieren29. Somit kann das System zwar aus praktischen Gründen zu klugem und überlegtem Handeln hinsichtlich der Umweltprobleme gezwungen sein, gleichermaßen praktische Gründe aber werden es zwingen, menschliches Verhalten immer stärker zu regulieren (vorzugsweise durch indirekte Maßnahmen, die die Einschränkung der Freiheit verschleiern). Das ist nicht nur unsere Meinung. Bekannte Sozialwissenschaftler (z.B. James Q. Wilson) haben die Bedeutung der »Anpassung« der Menschen ausführlich dargelegt.

REVOLUTION IST EINFACHER ALS REFORM

140. Wir hoffen, den Leser davon überzeugt zu haben, dass das System nicht derart reformieren kann, das? Freiheit und Technologie miteinander versöhnt würden. Der einzige Ausweg ist, das industriell-technologische System als Ganzes abzuschaffen. Das bedeutet Revolution, nicht unbedingt einen bewaffneten Aufstand, aber sicherlich eine radikale und fundamentale Veränderung des Wesens der Gesellschaft.

141. Die Leute glauben, dass eine Revolution, weil sie viel größere Veränderungen mit sich bringt als eine Reform, deshalb auch schwieriger zu realisieren wäre. Tatsächlich aber ist eine Revolution unter bestimmten Umständen viel leichter durchführbar als eine Reform. Der Grund liegt darin, dass eine revolutionäre Bewegung ein viel begeisterteres Engagement entfachen kann als eine Reformbewegung. Eine Reformbewegung verspricht bloß, ein einzelnes gesellschaftliches Problem zu lösen. Eine revolutionäre Bewegung verspricht mit einem Schlag alle Probleme zu lösen und eine ganz neue Welt zu schaffen; sie bietet ein Ideal, für das Menschen große Risiken auf sich nehmen und große Opfer bringen. Deshalb wäre es viel leichter, das ganze technologische System zu besiegen, als der Entwicklung oder Anwendung irgendeiner Technologie, der Genmanipulation zum Beispiel, effiziente, dauerhafte Beschränkungen aufzuerlegen. Nicht viele Menschen werden sich mit ganzer Kraft und Leidenschaft der Aufgabe widmen, Einschränkungen der Genmanipulation durchzusetzen und aufrechtzuerhalten, aber unter günstigen Umständen werden sich viele Menschen begeistert einer Revolution gegen das industriell-technologische System anschließen. Wie wir in Abschnitt 132 dargelegt haben, versuchen Reformer, die bestimmte Aspekte der Technologie einschränken wollen, bloß negative Folgen zu verhindern. Das Ziel der Revolutionäre ist dagegen die Erfüllung ihrer Vision, und dafür können sie sich ungleich stärker und ausdauernder einsetzen als die Reformer.

142. Reform wird immer durch die Angst behindert, die Folgen der Veränderungen könnten zu weitgehend sein. Wenn aber die ganze Gesellschaft erst einmal vom revolutionären Fieber ergriffen ist, sind die Menschen bereit, für ihre Revolution grenzenlose Mühen auf sich zu nehmen. Das haben die Französische und die Russische Revolution bewiesen. Es mag sein, dass nur eine Minderheit der Bevölkerung die Revolution wirklich unterstützt, aber diese Minderheit ist stark und aktiv genug, um die beherrschende Kraft der Gesellschaft zu werden. Über Revolution werden wir ausführlicher in den Abschnitten 180-205 sprechen.

KONTROLLE MENSCHLICHEN VERHALTENS

143. Seit es Zivilisation gibt, haben organisierte Gesellschaften Druck auf Menschen ausgeübt, damit der soziale Organismus funktionieren konnte. Die Art der Unterdrückung ist von Gesellschaft zu Gesellschaft unterschiedlich. Es gibt physische (Hungerrationen, Zwangsarbeit, Umweltverschmutzung) und psychologische Unterdrückung (Lärm, hohe Bevölkerungsdichte, Anpassung des menschlichen Verhaltens an die Erfordernisse der Gesellschaft). In der Vergangenheit hat sich die menschliche Natur kaum oder jedenfalls nur geringfügig verändert. Deshalb hatte der Druck, der auf die Menschen ausgeübt werden konnte, Grenzen. Sind diese Grenzen des menschlichen Durchhaltevermögens erreicht, dann beginnen die Probleme: Aufruhr, Verbrechen, Korruption, Arbeitsverweigerung, Depression oder andere mentale Probleme, erhöhte Todesrate, Geburtenrückgang oder Ähnliches, sodass die Gesellschaft entweder zusammenbricht oder ihr Funktionieren so fehlerhaft wird, dass sie (plötzlich oder allmählich, durch Eroberung, Zermürbung oder Evolution) durch eine leistungsfähigere Gesellschaftsform abgelöst wird30.

144. Auf diese Weise hat die menschliche Natur in der Vergangenheit der Entwicklung von Gesellschaften gewisse Grenzen gesetzt. Der Mensch konnte nur bis zu einem bestimmten Punkt Druck ertragen. Doch heute mag sich auch das ändern, weil die moderne Technologie Wege gefunden hat, die menschliche Natur zu verändern.

145. Man stelle sich eine Gesellschaft vor, die Menschen Lebensbedingungen unterwirft, die sie sehr unglücklich machen, und ihnen dann Drogen verabreicht, die das Gefühl des Unglücklichseins beseitigen. Science-Fiction? Dies ist in gewissem Umfang in unserer eigenen Gesellschaft bereits üblich. Wie weithin bekannt, sind die Fälle klinischer Depression in den letzten Jahrzehnten dramatisch gestiegen. Wir sind überzeugt, dass dies auf die Störung des power process zurückzuführen ist, wie in den Abschnitten 59-76 erläutert. Selbst wenn wir uns irren sollten, ist dieser Anstieg von Depressionen doch auf jeden Fall das Ergebnis EINIGER Lebensbedingungen der heutigen Gesellschaft. Anstatt die Bedingungen zu beseitigen, die die Menschen deprimieren, verabreicht ihnen die moderne Gesellschaft antidepressive Drogen. Im Endeffekt sind Antidepressiva ein Mittel, den inneren Zustand einer Person so zu verändern, dass sie nun die sozialen Bedingungen aushalten kann, die ihr sonst unerträglich wären. (Ja, wir wissen, dass Depression oft rein genetisch bedingt ist. Wir beziehen uns hier auf die Fälle, in denen die Umwelt eine wichtige Rolle spielt.)

146. Drogen, die auf das Bewusstsein einwirken, sind nur ein Beispiel für die neuen Methoden, die die Gesellschaft zur Kontrolle menschlichen Verhaltens entwickelt. Werfen wir einen Blick auf einige andere Methoden.

147. Da gibt es zunächst einmal die Überwachungstechniken. Versteckte Kameras werden inzwischen in den meisten Geschäften eingesetzt, und an vielen anderen Orten ist der Einsatz von Computern üblich, um zahlreiche Informationen über Einzelpersonen zu sammeln und auszuwerten. Mit den auf solche Weise gesammelten Informationen lässt sich verstärkt Druck ausüben (Polizei z.B.31). Dann gibt es die Propagandamethoden der Massenmedien. Es wurden wirksame Methoden entwickelt, um Wahlen zu gewinnen, Produkte zu verkaufen, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Die Unterhaltungsindustrie stellt ein wichtiges psychologisches Werkzeug des Systems dar, auch dann, wenn sie viel Sex und Gewalt zeigen. Unterhaltung ermöglicht dem modernen Menschen, seiner Realität vorübergehend zu entfliehen. Während er vor dem Fernseher oder Videogerät sitzt, kann er Stress, Ängste, Enttäuschungen und Unzufriedenheit vergessen. Viele primitive Völker sind im Einklang mit sich selbst und der Welt, sie können deshalb, wenn die Arbeit getan ist, stundenlang herumsitzen ohne etwas zu tun. Der moderne Mensch dagegen muss ständig beschäftigt oder unterhalten werden, sonst »langweilt« er sich, d.h. er wird unruhig, fühlt sich unbehaglich und gereizt.

148. Andere Techniken gehen weiter als die zuvor beschriebenen. Erziehung besteht nicht mehr nur darin, einem Kind den Hintern zu versohlen, wenn es seine Schulaufgaben nicht gemacht hat und ihm den Kopf zu streicheln, wenn es sie gut gemacht hat. Es ist zu einer wissenschaftlichen Aufgabe geworden, die Entwicklung des Kindes zu überwachen. Sylvan Learning Centers etwa waren sehr erfolgreich darin, Kinder zum Lernen zu motivieren, und ihre psychologischen Methoden wurden in vielen herkömmlichen Schulen mehr oder weniger erfolgreich eingesetzt. Eltern wird in »Eltemschulen« beigebracht, ihren Kindern die Grundwerte des Systems richtig zu vermitteln und ihr Verhalten nach den Wünschen des Systems zu formen. Programme zur »geistigen Gesundheit«, Methoden der »Intervention«, Psychotherapie u.a. wurden vorgeblich zum Nutzen der Menschen entwickelt, in Wirklichkeit dienen sie aber dazu, das Denken und Verhalten der Menschen dem System anzupassen. (Hierin liegt kein Widerspruch; eine Person, deren Einstellung oder Verhalten zu Konflikten mit dem System führt, stellt sich gegen eine Macht, die zu groß ist, als dass sie überwunden werden oder man ihr entkommen könnte, also wird sie wahrscheinlich unter Stress, Niedergeschlagenheit und Frustration leiden. Sie hat es wesentlich leichter, wenn sie so denkt und handelt, wie das System es erfordert. In diesem Sinne handelt das System für das Wohlergehen des Einzelnen, wenn es ihn durch Gehirnwäsche der Gesellschaft anpasst.) Kindesmisshandlung in ihren krassen und offensichtlichen Formen wird in den meisten, wenn nicht allen Kulturen verurteilt. Ein Kind aus trivialen oder gar keinen Gründen zu quälen, schreckt nahezu jeden ab. Aber viele Psychologen fassen Kindesmisshandlung viel weiter. Sind Prügel als Maßnahme in einem rationalen und konsequenten Disziplinarsystem eine Form der Misshandlung? Diese Frage wird letztlich dadurch entschieden, ob körperliche Züchtigung zu systemkonformem Verhalten führt. Das Wort »Misshandlung« wird in der Praxis als Sammelbegriff für alle Arten von Kindererziehung benutzt, die zu Verhalten führen, das nicht ins System passt. Wo Programme zur Verhinderung von »Kindesmissbrauch« über das Verhindern von offensichtlicher, sinnloser Grausamkeit hinausgehen, sind sie auf die Kontrolle systemkonformen menschlichen Verhaltens ausgerichtet.

149. Vermutlich wird die Forschung die Leistungsfähigkeit psychologischer Methoden zur Kontrolle menschlichen Verhaltens weiter steigern. Wir denken aber, dass psychologische Methoden allein wahrscheinlich nicht ausreichen, um Menschen einer Gesellschaft anzupassen, wie sie durch Technologie geschaffen wird. Man wird wahrscheinlich auch biologische Methoden anwenden müssen. Wir haben den Gebrauch von Drogen in diesem Zusammenhang bereits erwähnt. Die Neurologie könnte ein anderer Weg zur Veränderung des menschlichen Bewusstseins sein. Genmanipulation am Menschen tritt als »Gentherapie« bereits auf, und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass solche Methoden nicht irgendwann angewandt werden, um diejenigen körperlichen Aspekte zu verändern, die das mentale Funktionieren steuern.

150. Wie wir in Abschnitt 134 erwähnten, wird die industrielle Gesellschaft bald starken Belastungen durch Umwelt- und Wirtschaftsprobleme sowie durch menschliche Verhaltensweisen ausgesetzt werden. Und ein beachtlicher Teil dieser Wirtschafts- und Umweltprobleme des Systems wird durch menschliches Verhalten verursacht. Entfremdung, mangelndes Selbstwertgefühl, Depressionen, Feindseligkeit, Rebellion, Lernverweigerung bei Kindern, Jugendbanden, Drogenmissbrauch, Vergewaltigung, Kindesmisshandlung, andere Kriminalität, ungeschützter Sex, Schwangerschaften bei Jugendlichen, Bevölkerungsexplosion, politische Korruption, Rassenhass, ethnische Auseinandersetzungen, ideologische Konflikte (z.B. über Abtreibungen), politischer Extremismus, Terrorismus, Sabotage, Regierungsgegner. All dies bedroht das schiere Überleben des Systems. Es ist daher GEZWUNGEN, alle praktischen Möglichkeiten zur Kontrolle menschlichen Verhaltens anzuwenden.

151. Die heute erkennbare gesellschaftliche Zerstörung ist keineswegs Ergebnis eines bloßen Zufalls, sondern kann nur das Ergebnis von Lebensbedingungen sein, die das System den Menschen auferlegt hat. (Wie wir bereits dargelegt haben, ist einer der Hauptgründe die Störung des power process) Wenn es dem System gelingt, das menschliche Verhalten einer ausreichenden Kontrolle zu unterwerfen, die sein eigenes Überleben sichert, wäre ein Wendepunkt der Menschheitsgeschichte erreicht. Während die Grenzen menschlichen Durchhaltevermögens früher auch der Entwicklung von Gesellschaften Grenzen setzten (wie in den Abschnitten 143 und 144 erklärt), wird die industriell-technologische Gesellschaft in der Lage sein, diese Grenzen zu überschreiten, indem sie Menschen verändert, sei es durch psychologische oder biologische Methoden oder beides. In Zukunft werden Gesellschaftssysteme nicht mehr den menschlichen Bedürfnissen angepasst. Statt dessen werden die Menschen den Bedürfnissen des Systems angepasst32.

152. Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass technologische Kontrolle über menschliches Verhalten wahrscheinlich nicht unbedingt mit totalitären Absichten eingeführt werden wird oder gar aus einem bewussten Verlangen, menschliche Freiheit zu beschränken33. Jeder weitere Schritt auf dem Weg zur Kontrolle über menschliches Bewusstsein wird für eine rationale Antwort auf ein Problem gehalten werden, mit dem die Gesellschaft konfrontiert ist, etwa Alkoholismus zu heilen, die Kriminalitätsrate zu senken oder die Jugend dazu zu bringen, Wissenschaften und Technik zu studieren. In den meisten Fällen wird sich eine humanitäre Rechtfertigung finden. Zum Beispiel, wenn ein Psychiater einem depressiven Patienten ein antidepressives Medikament verschreibt, tut er dem Kranken ganz klar einen Gefallen. Es wäre unmenschlich, jemandem das Medikament vorzuenthalten, der es benötigt. Wenn Eltern ihre Kinder in Sylvan Learning Center schicken, damit sie so manipuliert werden, dass sie mit Begeisterung lernen, dann tun sie das aus Sorge um das Wohl ihrer Kinder. Vielleicht wäre es einigen Eltern lieber, es wäre nicht nötig, eine Spezialausbildung zu absolvieren, um einen Job zu bekommen, und dass ihre Kinder keiner Gehirnwäsche unterzogen werden müssten, die sie zu Computerfreaks macht. Aber was bleibt ihnen übrig? Sie können die Gesellschaft nicht ändern, und ihre Kinder bekommen keine Arbeit, wenn sie bestimmte Fähigkeiten nicht gelernt haben. So werden sie also ihre Kinder in das Center schicken.

153. Somit wird die Kontrolle menschlichen Verhaltens nicht aufgrund einer rationalen Entscheidung der Behörden eingeführt, sondern im Zuge eines gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses (aber eines SCHNELLEN Prozesses). Es ist unmöglich, sich diesem Prozess entgegenzustellen, weil jede Entwicklung für sich gesehen nützlich scheint, oder wenigstens scheint das mit der Entwicklung einhergehende Übel geringer als das Übel, das man auf sich zu nehmen hat, wenn man diese Entwicklung nicht zulässt. (Vgl. Abschnitt 128) Propaganda wird beispielsweise für viele gute Zwecke benutzt, gegen Kindesmissbrauch oder Rassenhass34. Sexuelle Aufklärung ist zweifellos nützlich, dennoch wird durch sexuelle Aufklärung (wenn sie erfolgreich ist) der Familie die Einflussnahme auf sexuelles Verhalten genommen und dem Staat, vertreten durch das öffentliche Schulsystem, übertragen.

154. Nehmen wir an, man würde eine biologische Veranlagung entdecken, die die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass ein Kind verbrecherische Neigungen entwickeln wird, und nehmen wir weiter an, eine bestimmte Gentherapie könnte diese Veranlagung ausschalten35. Selbstverständlich würden die meisten Eltern, deren Kinder solche Anlagen hätten, sie der Therapie unterziehen. Alles andere wäre inhuman, da das Kind sonst vielleicht ein elendes Leben als Verbrecher führen müsste. Aber die meisten oder sogar alle primitiven Gesellschaften haben eine niedrige Verbrecherrate verglichen mit der unserer Gesellschaft, obwohl sie weder über High-Tech-Methoden der Kindererziehung verfügen noch über ein strenges Strafsystem. Da es keinen Grund zu der Annahme gibt, dass mehr moderne Menschen als primitive Menschen kriminell veranlagt wären, muss die hohe Kriminalitätsrate in unserer Gesellschaft auf den Druck zurückgeführt werden, den die modernen Lebensbedingungen auf die Menschen ausüben und dem sich viele Menschen nicht beugen können oder wollen. Also wäre eine Behandlung, die potenzielle kriminelle Tendenzen ausschaltet, wenigstens teilweise schon eine Manipulation oder ein Neudesign des Menschen mit dem Zweck, diesen den Anforderungen des Systems anzupassen.

155. Unsere Gesellschaft neigt dazu, jedes Denken oder Verhalten, das dem System unbequem ist, als »Krankheit« anzusehen, und das ist nur plausibel, denn wenn eine Person nicht ins System passt, ist dies für die Person genauso schmerzhaft wie es dem System Probleme bereitet. Also betrachtet man die Manipulation von Menschen zwecks Anpassung an das System als »Heilung« einer »Krankheit«, und also als etwas Gutes.

156. ln Abschnitt 127 haben wir dargestellt, dass die Benutzung einer neuen technologischen Erfindung ANFANGS zwar optional sein mag, dies aber nicht unbedingt so BLEIBEN muss, weil die neue Technologie die Gesellschaft derart verändert, dass es für den Einzelnen schwierig oder unmöglich wird, ohne diese Technologie auszukommen. Das lässt sich auch auf Technologien zur Verhaltenskontrolle anwenden. In einer Welt, in der die meisten Kinder durch spezielle Programme zum Lernen motiviert werden, werden alle Eltern geradezu gezwungen, auch ihre Kinder einem solchen Programm zu unterziehen, denn würden sie das nicht tun, blieben ihre Kinder vergleichsweise ungebildet und würden später keine Arbeit finden. Oder angenommen, man würde eine biologische Behandlungsmethode ohne unerwünschte Nebenwirkungen entdecken, die den psychischen Stress, unter dem so viele Menschen in unserer Gesellschaft leiden, weitgehend verringern würde. Wenn viele Menschen sich dieser Behandlung unterzögen, wäre damit der allgemeine Grad an Stress in der Gesellschaft vermindert, und das System hätte einen größeren Spielraum, die psychologischen Belastungen weiter zu erhöhen. Das würde dazu führen, dass mehr Menschen sich der Behandlung unterziehen und so weiter, so- dass der Druck schließlich so stark würde, dass kaum ein Mensch fähig wäre, ohne die stressreduzierende Behandlung zu überleben. Tatsächlich scheint so etwas bereits geschehen zu sein, nämlich in Form der Massenunterhaltung, die eines der wichtigsten psychologischen Mittel unserer Gesellschaft ist, um die Menschen dazu zu bringen, Stress zu ertragen (oder ihm wenigstens vorübergehend zu entkommen). (Vgl. Abschnitt 147) Unser Gebrauch der Massenunterhaltung ist »optional«: Kein Gesetz zwingt uns dazu fernzusehen, Radio zu hören, Zeitschriften zu lesen. Dennoch ist Massenunterhaltung ein Mittel zur Flucht und zur Stressreduzierung, von dem die meisten von uns abhängig geworden sind. Jeder beschwert sich über die schlechten Fernsehsendungen, aber fast jeder sieht sie sich an. Nur wenige haben das Fernsehen aufgegeben, aber nur selten gibt es heute noch jemanden, der ohne JEDE Form der Massenunterhaltung zurechtkommt. (Und doch kannten die meisten Menschen in der Menschheitsgeschichte bis vor Kurzem keine andere Unterhaltung als die, die ihre eigene kleine Gemeinschaft geschaffen hatte, und waren damit zufrieden.) Ohne die Unterhaltungsindustrie hätte uns das System nicht so viel Stress hervorrufendem Druck aus setzen können, wie es zur Zeit der Fall ist.

157. Angenommen, die industrielle Gesellschaft überlebt, dann wird die Technologie wahrscheinlich in der Lage sein, menschliches Verhalten völlig zu kontrollieren. Es ist ohne jeden Zweifel bewiesen, dass menschliches Bewusstsein und Verhalten vor allem eine biologische Grundlage haben. Wie Versuche gezeigt haben, können Gefühle wie Hunger, Freude, Ärger und Angst durch elektrische Stimulation gewisser Gehirnteile hervorgerufen oder abgeschaltet werden. Die Erinnerung kann durch die Zerstörung von Teilen des Gehirns ausgelöscht oder durch elektrische Stimulation wiederbelebt werden. Halluzinationen und Stimmungen können durch Drogen verändert werden. Es mag eine immaterielle menschliche Seele geben oder nicht, aber wenn es sie gibt, wirkt sie deutlich schwächer als die biologischen Mechanismen auf das menschliche Verhalten ein. Denn wenn dies nicht der Fall wäre, wären die Forscher nicht in der Lage, menschliche Gefühle und Verhalten mittels Drogen und Strom so leicht zu manipulieren.

158. Vermutlich wäre es nicht durchführbar, allen Menschen Elektroden ins Hirn einzupflanzen, damit sie von den Behörden kontrolliert werden können. Aber die Tatsache, dass das menschliche Bewusstsein und Gefühlsleben biologischen Eingriffen offenstehen, macht deutlich, dass es sich bei dem Problem der Kontrolle menschlichen Verhaltens lediglich um ein technisches Problem handelt; ein Problem von Neuronen, Hormonen und komplexen Molekülen; die Art von Problemen, die mit wissenschaftlichen Mitteln zu lösen sind. Wenn man die außergewöhnliche Bilanz unserer Gesellschaft bei der Lösung technischer Probleme betrachtet, ist es überwältigend wahrscheinlich, dass auch bei der Verhaltenskontrolle große Fortschritte erzielt werden.

159. Würde öffentlicher Widerstand die Einführung technologischer Kontrolle menschlichen Verhaltens verhindern? Wenn eine solche plötzlich und auf ein Mal eingeführt würde, wäre das sicherlich möglich. Da die technologische Kontrolle aber nur ganz allmählich durch eine Reihe kleiner Schritte eingeführt werden wird, wird es keinen rationalen und wirksamen öffentlichen Widerstand dagegen geben. (Vgl. Abschnitte 127, 132 und 153)

160. Diejenigen, die meinen, alles hier Gesagte höre sich zu sehr nach Science-Fiction an, seien daran erinnert, dass die Science-Fiction von gestern die Tatsachen von heute sind. Die industrielle Revolution hat die Umgebung und die Lebensweise des Menschen radikal verändert, und es ist nur zu erwarten, dass der Mensch selbst, je mehr Technologie auf seinen Körper und sein Bewusstsein angewandt wird, sich genauso radikal verändern wird wie seine Umwelt und seine Lebensweise verändert wurden.

DIE MENSCHHEIT AM SCHEIDEWEG

161. Doch wir greifen voraus. Es ist eine Sache, in Laborversuchen psychologische und biologische Techniken zur Manipulation menschlichen Verhaltens durchzuführen, und eine ganz andere, diese Techniken in ein funktionierendes soziales System zu integrieren. Das Letztere ist weitaus schwieriger. So kann es zum Beispiel sehr schwierig sein, die erziehungspsychologischen Techniken, die in den sogenannten »Lab Schools«, wo sie entwickelt wurden, zweifellos sehr gut funktionieren, auch im gesamten allgemeinen Erziehungssystem effizient anzuwenden. Wir wissen alle, was an vielen unserer Schulen heute los ist. Die Lehrer sind zu sehr damit beschäftigt, die Messer und Waffen der Kinder einzuziehen, sie können sie nicht auch noch den neuesten Techniken unterziehen, die sie zu Computerfreaks machen sollen. Somit ist das System bisher trotz aller technischen Fortschritte im Bereich der Kontrolle menschlichen Verhaltens nicht sehr erfolgreich in der Kontrolle von Menschen. Die Menschen, deren Verhalten bereits weitgehend vom System kontrolliert wird, sind die sogenannten »Bourgeois«. Doch es wächst die Zahl der Menschen, die auf die eine oder andere Weise gegen das System rebellieren: Sozialhilfeschmarotzer, Jugendbanden, Sektenanhänger, Satanisten, Nazis, radikale Umweltschützer, Milizen u.a.

162. Das System führt seit einiger Zeit einen verzweifelten Kampf gegen gewisse Probleme, die sein Überleben bedrohen, und die größten dieser Probleme werden durch menschliches Verhalten verursacht. Wenn es dem System schnell genug gelingt, ausreichende Kontrolle über das menschliche Verhalten zu erlangen, dann wird es wahrscheinlich überleben. Andernfalls wird es zusammenbrechen. Wir glauben, dass sich diese Frage in den nächsten paar Jahrzehnten entscheiden wird, in etwa 40 bis 100 Jahren.

163. Nehmen wir an, das System überlebt die Krise in den nächsten Jahrzehnten. In dieser Zeit muss es ihm gelungen sein, seine Hauptprobleme zu lösen oder wenigstens zu kontrollieren, besonders das Problem der »Anpassung« der Menschen ans System; im Klartext, die Menschen müssen so gefügig gemacht werden, dass ihr Verhalten das System nicht länger bedrohen kann. Ist das einmal erreicht, gibt es keine Hürden mehr für die technologische Entwicklung, und die logische Konsequenz würde darin bestehen, alles auf der Erde vollständig kontrollieren zu können, einschließlich der Menschen und aller anderen wichtigen Lebensformen. Das System könnte dann zu einer einheitlichen, monolithischen Organisation werden oder mehr oder weniger fragmentiert sein und aus einer Reihe von nebeneinander existierenden Organisationen bestehen, die gleichzeitig miteinander kooperieren und konkurrieren, so wie heute Regierung, Unternehmen und große Organisationen sowohl miteinander kooperieren als auch konkurrieren. Menschliche Freiheit wird dann so gut wie verschwunden sein, weil Einzelpersonen und kleine Gruppen den großen Organisationen machtlos gegenüberstehen, die mit Supertechnologien und einem Arsenal von fortschrittlichen psychologischen und biologischen Methoden zur Manipulation von Menschen ausgerüstet sind, ganz abgesehen von Instrumenten zur Überwachung und dem Monopol physischer Gewalt. Nur eine kleine Gruppe von Menschen hat dann wirkliche Macht, und selbst diese werden nur eine begrenzte Freiheit haben, denn auch ihr Verhalten wird reguliert werden; ganz wie unsere Politiker und Aufsichtsräte ihre Machtpositionen heute nur so lange halten können, wie ihr Verhalten innerhalb gewisser enger Grenzen bleibt.

164. Man glaube bloß nicht, dass das System aufhören wird, weitere Techniken zur Kontrolle von Mensch und Natur zu entwickeln, auch wenn die Krise der nächsten Jahrzehnte überwunden und weitere Kontrolle für das Überleben des Systems nicht länger notwendig sein wird. Im Gegenteil, wenn diese schwierigen Zeiten vorüber sind, wird das System seine Kontrolle über Mensch und Natur noch schneller verstärken, um nicht erneut von Problemen aufgehalten zu werden wie denen, die es gerade überwunden hat. Der Wille zu überleben ist nicht das Hauptmotiv für das Ausdehnen der Kontrolle. Wie wir in den Abschnitten 87-90 erklärt haben, ist die Arbeit der Wissenschaftler und Techniker für sie eine Ersatzhandlung; das heißt, sie befriedigen ihr Machtbedürfnis, indem sie technologische Probleme lösen. Sie werden mit ungebremster Begeisterung damit fortfahren, und eines der interessantesten und herausforderndsten Probleme wird sein, den menschlichen Körper und das menschliche Bewusstsein zu verstehen und in ihre Entwicklung einzugreifen. Alles »zum Besten der Menschheit«, selbstverständlich.

165. Doch nehmen wir nun im Gegenteil an, die Belastungen der kommenden Jahrzehnte erweisen sich als zu stark für das System. Wenn es zusammenbricht, gäbe es zunächst eine Periode des Chaos, eine »Zeit der Unruhe«, wie man sie aus verschiedenen anderen Geschichtsepochen der Vergangenheit kennt. Es ist unmöglich vorauszusagen, was aus dieser Zeit der Unruhe hervorgehen würde, in jedem Fall aber hätte die Menschheit eine neue Chance. Die größte Gefahr wäre dann, dass sich die industrielle Gesellschaft in den ersten Jahren nach dem Zusammenbruch wieder konsolidiert. Mit Sicherheit wird es viele Menschen geben (besonders die machtgierigen Charaktere), die dafür Sorge tragen, die Fabriken wieder in Gang zu bringen.

166. Daher stellen sich denen, die die Sklaverei, zu der das industrielle System die Menschheit erniedrigt, bekämpfen wollen, zwei Aufgaben. Erstens müssen wir daran arbeiten, den gesellschaftlichen Druck innerhalb des Systems noch zu verstärken, um die Wahrscheinlichkeit seines Zusammenbruchs zu erhöhen oder es genügend zu schwächen, um dadurch eine Revolution möglich zu machen. Zweitens muss man eine Ideologie entwickeln und propagieren, die sich gegen die Technologie und die industrielle Gesellschaft richtet. Solch eine Ideologie kann dann die Basis der Revolution gegen die industrielle Gesellschaft sein. Und solch eine Ideologie kann dabei helfen sicherzustellen, dass im Falle und zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs der industriellen Gesellschaft ihre Überreste völlig zerstört werden, sodass sich das System nicht wieder konsolidieren kann. Fabriken müssen zerstört, technische Lehrbücher verbrannt werden usw.

MENSCHLICHES LEIDEN

167. Das industrielle System wird nicht einfach als Ergebnis revolutionärer Aktionen zusammenbrechen. Es wird erst und nur dann durch revolutionäre Angriffe verwundbar, wenn seine internen Entwicklungsprobleme zu ernsthaften Schwierigkeiten geführt haben. Das System wird also entweder von selbst zusammenbrechen oder in einem Prozess, der zum Teil von selbst abläuft und zum Teil durch die Revolutionäre beschleunigt wird. Erfolgt der Zusammenbruch plötzlich, werden viele Menschen sterben, denn die Weltbevölkerung hat dermaßen zugenommen, dass sie nicht einmal mehr in der Lage ist, sich ohne fortgeschrittene Technologie zu ernähren. Selbst wenn sich der Zusammenbruch so allmählich vollzieht, dass die Bevölkerung vor allem durch eine sinkende Geburten- und weniger durch eine steigende Todesrate verringert werden kann, wird der Prozess der De-Industrialisierung wahrscheinlich sehr chaotisch sein und viel Leiden verursachen. Es wäre naiv zu glauben, die Technologie könnte nach einem wohlorganisierten, glatt verlaufenden Plan einfach abgebaut werden, besonders wo doch die Technologieanhänger hartnäckig gegen jeden Schritt kämpfen werden. Ist es deshalb grausam, für den Zusammenbruch des Systems zu kämpfen? Das wird sich zeigen. Erstens werden Revolutionäre überhaupt nur dann in der Lage sein, das System zu zerstören, wenn es schon so gestört ist, dass es sehr wahrscheinlich bald von selbst zerfallen würde; und je umfassender sich das System ausgedehnt hat, desto verheerender werden die Konsequenzen seines Zusammenbruchs sein, sodass die Revolutionäre, die den Zusammenbruch beschleunigen, das Ausmaß der Katastrophe eher verringern.

168. Zweitens hat man Kampf und Tod gegen den Verlust von Freiheit und Würde abzuwägen. Für viele von uns bedeuten Freiheit und Würde mehr als ein langes Leben oder die Vermeidung von körperlichen Schmerzen. Außerdem müssen wir alle einmal sterben, und es ist vielleicht besser, im Kampf ums Überleben oder für eine Sache zu sterben, als ein langes, aber leeres und sinnloses Leben zu führen.

169. Drittens ist es keineswegs sicher, dass das Überleben des Systems weniger schlimme Folgen hätte als sein Zusammenbruch. Das System ist die Ursache vieler Leiden in Vergangenheit und Gegenwart auf der ganzen Welt. Alte Kulturen, in denen Menschen jahrhundertelang im Einklang miteinander und mit ihrer Umwelt lebten, wurden durch den Kontakt mit der industriellen Gesellschaft zerstört, und das Ergebnis ist eine lange Liste von wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, psychologischen und Umweltproblemen. Eine Folge des Eindringens der industriellen Gesellschaft war, dass überall in der Welt die natürliche Kontrolle des Bevölkerungswachstums aus dem Gleichgewicht geraten ist. Daher die Bevölkerungsexplosion mit all ihren Folgen. Eine andere Folge sind die in den vermeintlich glücklichen Ländern der westlichen Welt weit verbreiteten psychologischen Krankheiten (vgl. Abschnitte 44-45). Niemand kann jetzt schon die Folgen des Ozonlochs, des Treibhauseffekts oder anderer Umweltprobleme Voraussagen. Wie die Weitergabe von nuklearem Material gezeigt hat, lässt sich nicht verhindern, dass neue Technologien in die Hand von Diktatoren und verantwortungslosen Dritte-Welt-Ländern geraten. Möchten Sie sich vorstellen, wie der Irak oder Nordkorea Genmanipulation anwenden würden?

170. »Oh!«, sagen die Technologieanhänger, »die Wissenschaft bringt das alles in Ordnung! Wir werden Hunger überwinden, psychisches Leiden ausrotten und jedermann gesund und glücklich machen!« Ja, sicher. Das haben sie schon vor 200 Jahren gesagt. Die industrielle Revolution sollte die Armut beseitigen, jedermann glücklich machen usw. Aber das heutige Ergebnis sieht ganz anders aus. Die Technologieanhänger sind hoffnungslos naiv (oder sie täuschen sich selbst) in ihrer Auffassung gesellschaftlicher Probleme. Sie merken nicht (oder wollen nicht merken), dass große Veränderungen, selbst scheinbar zunächst positive, nicht in einer Gesellschaft eingeführt werden können, ohne eine lange Folge anderer Veränderungen hervorzurufen, von denen die meisten nicht vorhersehbar sind (vgl. Abschnitt 103). Das Ergebnis ist die Zerstörung der Gesellschaft. So ist es sehr wahrscheinlich, dass die Technologieanhänger bei ihren Versuchen, Armut und Krankheit zu besiegen und unterwürfige, glückliche Persönlichkeiten zu konstruieren usw., Gesellschaftssysteme schaffen werden, die von viel schlimmeren Problemen geplagt werden als die heutigen. Zum Beispiel brüsten sich Wissenschaftler damit, dass sie den Hunger durch neue genmanipulierte Nutzpflanzen besiegen werden. Aber damit wird die menschliche Bevölkerung unendlich anwachsen können, und es ist bekannt, dass eine hohe Bevölkerungsdichte zu Stress und Aggression führt. Das ist nur ein Beispiel der VORAUSSAGBAREN Probleme, die auftreten werden. Wir betonen, dass technischer Fortschritt, wie vergangene Erfahrungen gezeigt haben, andere neue Probleme aufwirft, die NICHT vorhersehbar sind (vgl. Abschnitt 103). Tatsächlich nämlich hat die Technologie seit der industriellen Revolution viel schneller neue gesellschaftliche Probleme geschaffen als alte gelöst werden konnten. So würde es eine lange und schwierige Periode von Versuch und Irrtum brauchen, damit die Technologieanhänger die Macken ihrer Schönen Neuen Welt wieder in Ordnung bringen können (falls sie das jemals tun werden). In der Zwischenzeit wird es viel Leiden geben. Deshalb ist es überhaupt nicht sicher, ob das Überleben der industriellen Gesellschaft weniger Leiden bringen würde als ihr Zusammenbruch. Die Technologie hat die Menschheit in eine Falle geführt, aus der sie wohl nicht so leicht entkommen wird.

DIE ZUKUNFT

171. Nehmen wir nun an, dass die industrielle Gesellschaft die nächsten Jahrzehnte überlebt und das System schließlich von seinen Fehlem weitgehend befreit wird, sodass es reibungslos funktioniert. Was wäre es dann für eine Art von System? Wir wollen verschiedene Möglichkeiten betrachten.

172. Gehen wir zunächst von der Prämisse aus, es sei den Computerwissenschaftlern gelungen, intelligente Maschinen zu entwickeln, die alle Dinge besser können als der Mensch. Es würden wahrscheinlich alle Arbeiten durch umfassende, hoch organisierte Maschinensysteme erledigt, und menschliche Anstrengungen wären nicht mehr notwendig. Dann könnte man entweder zulassen, dass die Maschinen alle Entscheidungen selbst treffen, ohne menschliche Aufsicht, oder aber der Mensch behält die Kontrolle über die Maschinen.

173. Wenn Maschinen ihre eigenen Entscheidungen treffen, kann man über die Folgen keine Mutmaßungen anstellen, weil es unmöglich ist einzuschätzen, wie sich Maschinen verhalten werden. Wir können nur feststellen, dass das Schicksal der Menschheit dann von der Gnade der Maschinen abhinge. Man könnte einwenden, dass die Menschheit niemals so wahnsinnig wäre, all ihre Macht an Maschinen abzugeben. Wir behaupten auch weder, dass die Menschheit ihre Macht freiwillig an die Maschinen abgeben, noch dass die Maschinen den Menschen willentlich die Macht entreißen würden. Aber was wir behaupten, ist, dass die Menschheit möglicherweise in die Situation einer solchen Abhängigkeit von Maschinen geraten kann, so- dass sie praktisch keine andere Wahl hat, als alle Entscheidungen der Maschinen zu akzeptieren. Da die Gesellschaft und ihre Probleme immer komplexer und Maschinen immer intelligenter werden, werden die Menschen den Maschinen immer mehr Entscheidungen überlassen, einfach deshalb, weil maschinelle Entscheidungen zu besseren Ergebnissen führen als menschliche Entscheidungen. Schließlich wird man eine Stufe erreichen, auf der zur Systemerhaltung notwendige Entscheidungen so komplex werden, dass Menschen aufgrund ihrer begrenzten Intelligenz nicht mehr in der Lage sein würden, diese Entscheidungen zu treffen. Von diesem Moment an haben die Maschinen die tatsächliche Kontrolle erlangt. Der Mensch kann die Maschinen dann nicht mehr einfach abschalten, weil er so abhängig von ihnen geworden ist, dass Abschalten kollektiven Selbstmord bedeuten würde.

174. Es ist aber andererseits auch möglich, dass der Mensch die Kontrolle über die Maschinen behält. In diesem Fall wird der Durchschnittsbürger die Kontrolle über einige Maschinen in seinem Privatbesitz behalten, über sein Auto oder seinen Computer, aber die Kontrolle über große Maschinensysteme wird in der Hand einer kleinen Elite sein – wie heute auch, jedoch mit zwei Unterschieden. Wegen der fortgeschrittenen Techniken wird die Elite eine umfassendere Kontrolle über die Massen ausüben; und weil menschliche Arbeit nicht mehr notwendig ist, sind die Massen überflüssig, eine nutzlose Bürde für das System. Ist die Elite unbarmherzig, wird sie einfach entscheiden, die Masse der Menschheit zu vernichten. Ist sie human, wird sie mit Hilfe von Propaganda oder anderen psychologischen oder biologischen Techniken die Geburtenrate so weit senken, bis die Masse der Menschheit ausstirbt und die Welt der Elite überlassen bleibt. Sollte die Elite aus weichherzigen Linken bestehen, dann könnte sie entscheiden, die Rolle des guten Hirten zu spielen, der über den Rest der Menschheit wacht. Sie würden dafür sorgen, dass jedermanns physische Bedürfnisse befriedigt werden, dass alle Kinder unter psychologisch hygienischen Bedingungen aufwachsen, dass jeder ein gesundes Hobby pflegt, das ihn beschäftigt, und dass jeder, der unzufrieden ist, sich einer »Behandlung« unterzieht, um sein »Problem« zu lösen. Natürlich wird das Leben dann so sinnlos sein, dass die Menschen biologisch oder psychologisch manipuliert werden müssen, um ihr Bedürfnis nach dem power process und nach Selbstverwirklichung durch ein harmloses Hobby zu »sublimieren«. Diese manipulierten Menschen mögen in einer solchen Gesellschaft vielleicht glücklich sein, sie sind aber mit Sicherheit nicht frei. Sie sind auf die Stufe von Haustieren gesunken.

175. Nehmen wir nun an, dass die Computerwissenschaft nicht in der Lage sein wird, künstliche Intelligenz zu entwickeln, so- dass menschliche Arbeit weiterhin notwendig bleibt. Selbst dann werden Maschinen verstärkt einfache Arbeiten übernehmen und damit einen zunehmenden Überschuss an ungelernten oder unbegabteren menschlichen Arbeitskräften schaffen. (Diese Entwicklung ist bereits heute sichtbar. Es gibt inzwischen viele Menschen, die keine Arbeit finden, weil sie aus intellektuellen oder psychologischen Gründen nicht den nötigen Ausbildungsstand haben, der sie brauchbar für das gegenwärtige System macht.) An diejenigen, die Arbeit haben, werden immer höhere Anforderungen gestellt: Sie benötigen mehr und mehr Ausbildung, mehr und mehr Fähigkeiten, sie müssen noch zuverlässiger, anpassungsfähiger und unterwürfiger werden, weil sie mehr und mehr nur noch wie Zellen in einem riesigen Organismus existieren. Ihr Aufgabenbereich wird immer stärker spezialisiert, sodass sie durch die Konzentration auf ihren winzigen Bereich den Bezug zur Realität verlieren. Das System muss dann alle psychologischen und biologischen Mittel anwenden, um die Menschen so zu manipulieren, dass sie unterwürfig bleiben, die Fähigkeiten entwickeln, die das System erfordert, und dass sie ihren Machttrieb durch eine spezialisierte Arbeit »sublimieren«. Die Behauptung, die Menschen in einer solchen Gesellschaft müssen unterwürfig sein, muss vielleicht eingeschränkt werden. Für die Gesellschaft kann Konkurrenzgeist nützlich sein, vorausgesetzt, man kann ihn in Bahnen lenken, die den Bedürfnissen des Systems dienen. Wir können uns eine zukünftige Gesellschaft vorstellen, in der es endlose Konkurrenzkämpfe um prestigeträchtige Positionen und Macht gibt. Doch werden stets nur sehr wenige die Spitze erreichen und wahre Macht haben (vgl. Abschnitt 163). Eine Gesellschaft, in der jemand seinen Machttrieb nur dadurch befriedigen kann, dass er viele andere aus dem Weg räumen und DEREN Machtstreben vereiteln muss, ist abstoßend.

176. Man kann sich Szenarien ausmalen, in denen Aspekte der hier vorgestellten Möglichkeiten anders verknüpft werden. So wäre es etwa möglich, dass Maschinen vor allem die Arbeiten übernehmen, die wirklich wichtig sind, während die Menschen damit beschäftigt sind, unwichtige Tätigkeiten zu verrichten. Es wurde bereits vorgeschlagen, durch weitere Entwicklung im Dienstleistungssektor mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Dann würden die Menschen ihre Zeit damit verbringen, einander die Schuhe zu putzen, einander in Taxis herumzufahren, handwerkliche Arbeiten für einander auszuführen, einander in Restaurants zu bedienen, etc. Dies scheint uns durch und durch menschenunwürdig zu sein, und wir bezweifeln, dass viele Menschen in dieser sinnlosen Beschäftigungstherapie ein erfülltes Leben finden würden. Sie würden dann andere, gefährliche Ventile suchen (Drogen, Verbrechen, Sekten, Hassgruppen), außer man hat sie biologisch oder psychologisch manipuliert, um sie so diesem Leben anzupassen.

177. Es versteht sich von selbst, dass mit den hier aufgezeigten Szenarien nicht alle Möglichkeiten erschöpft sind. Sie sollten nur die uns am wahrscheinlichsten scheinenden Folgen aufzeigen. Wir konnten aber kein plausibles Szenario finden, dass auch nur wenig attraktiver wäre als die, die wir gerade beschrieben haben. Es ist höchst wahrscheinlich, dass das industriell-technologische System, wenn es die nächsten 40 bis 100 Jahre überlebt, bestimmte allgemeine Merkmale entwickelt haben wird: Individuen (zumindest die »Bourgeois«, die an das System angepasst sind und es am Laufen halten und die deshalb die Macht ausüben) werden mehr als je zuvor von großen Organisationen abhängig sein; sie werden »angepasster« sein als je zuvor und ihre körperlichen und geistigen Eigenschaften werden in spürbarem Ausmaß (wahrscheinlich in sehr großem Ausmaß) das Resultat künstlicher Manipulationen sein und nicht mehr Ergebnis des Zufalls (oder des göttlichen Willens oder wessen auch immer); und was von der ursprünglichen Natur übrig geblieben sein wird, wird man zum Zwecke wissenschaftlicher Studien unter Aufsicht und Verwaltung von Wissenschaftlern stellen (damit verliert auch dieser Rest seine Ursprünglichkeit). Auf Dauer (einige Jahrhunderte von jetzt an) ist es wahrscheinlich, dass weder die Menschheit noch andere wichtige Lebensformen in der heutigen Form fortbestehen werden, denn wenn Genmanipulation einmal begonnen wurde, gibt es keinen Grund, an einem bestimmten Punkt damit aufzuhören, sodass so lange Veränderungen vorgenommen werden, bis der Mensch und andere Lebensformen völlig umgestaltet sein werden.

178. Was immer eintreten mag, eines ist sicher, die Technologie schafft für die Menschen eine neue natürliche und soziale Umwelt, die sich radikal von dem Spektrum der Umwelten unterscheidet, denen die Menschheit sich durch natürliche Auslese physisch und psychisch angepasst hat. Wird der Mensch nicht durch künstliche Manipulation an diese neue Umwelt angepasst, dann wird es durch einen langen, schmerzhaften Prozess der natürlichen Auslese geschehen. Das Erstere ist wesentlich wahrscheinlicher als das Letztere.

179. Es wäre besser, das ganze verrottete System zu beseitigen und die Folgen zu tragen.

STRATEGIE

180. Die Technologieanhänger nehmen uns alle mit auf eine äußerst leichtsinnige Reise ins Ungewisse. Viele Menschen haben eine Vorstellung davon, was technologischer Fortschritt uns antut, bleiben aber passiv, weil sie ihn für unvermeidlich halten. Aber wir (FC) halten ihn nicht für unvermeidlich. Wir meinen, dass man ihn aufhalten kann und geben hier einige Hinweise, was man dafür tun kann.

181. Wie wir in Abschnitt 166 festgestellt haben, bestehen die beiden Hauptaufgaben gegenwärtig darin, den sozialen Druck und die Instabilität der industriellen Gesellschaft zu verstärken und eine Ideologie zu entwickeln und zu propagieren, die sich gegen die Technologie und das industrielle System richtet. Erst wenn das System ausreichend unter Druck gerät und instabil wird, könnte eine Revolution gegen die Technologie möglich werden. Es wäre dasselbe Muster wie bei der Französischen und der Russischen Revolution. Die französische und die russische Gesellschaft hatten in den Jahrzehnten vor dem Ausbruch ihrer jeweiligen Revolution wachsende Anzeichen von gesellschaftlichem Druck und Schwäche gezeigt. Inzwischen waren neue Ideologien entwickelt worden, die ein neues Weltbild boten, das sich vom alten stark unterschied. In Russland waren Revolutionäre aktiv an der Zerstörung der alten Ordnung beteiligt. Als dann das alte System unter genügend zusätzlichen Druck geriet (in Frankreich durch die Finanzkrise, in Russland durch die militärische Niederlage), wurde es von der Revolution hinweggefegt.

182. Man wird einwenden, dass die Französische und die Russische Revolution gescheitert sind. Aber die meisten Revolutionen haben zwei Ziele. Eines liegt darin, die alte Gesellschaftsform zu zerstören, und das andere darin, eine neue Gesellschaftsform nach den Visionen der Revolutionäre aufzubauen. Die französischen und russischen Revolutionäre scheiterten (glücklicherweise) darin, die neue Gesellschaft zu errichten, von der sie geträumt hatten, aber sie waren durchaus erfolgreich darin, die alte Gesellschaft zu zerstören. Wir machen uns nicht die Illusion, es wäre durchführbar, eine neue, ideale Form der Gesellschaft aufzubauen. Unser Ziel besteht einzig darin, die existierende Gesellschaft zu zerstören.

183. Doch wenn man für eine Ideologie begeisterte Unterstützung bekommen will, muss sie sowohl ein positives als auch ein negatives Ideal bieten; sie muss FÜR etwas und GEGEN etwas stehen. Das von uns vorgeschlagene positive Ideal ist die Natur. Damit ist die URSPRÜNGLICHE Natur gemeint: die Erde und ihre Lebensformen, die unabhängig von Lenkung, Eingriffen und Kontrolle durch den Menschen existieren. Zur ursprünglichen Natur gehört auch der Mensch, wobei wir die physischen Aspekte des Funktionierens des menschlichen Individuums meinen, die nicht einer Regulierung durch die organisierte Gesellschaft unterliegen, sondern vom Zufall, dem freien Willen oder Gott (je nach religiöser und philosophischer Vorstellung) abhängig sind.

184. Die Natur ist aus verschiedenen Gründen ein perfektes Gegen-Ideal zur Technologie. Natur (die außerhalb der Macht des Systems existiert) ist das Gegenteil von Technologie (die ihre Macht innerhalb des Systems unendlich auszuweiten sucht). Die meisten Menschen werden zugeben, dass Natur schön ist; sie hat eine gewaltige Anziehungskraft. Radikale Umweltschützer vertreten BEREITS eine Ideologie, die die Natur lobpreist und die Technologie ablehnt36. Es ist nicht nötig, um der Natur willen eine fantastische Utopie oder eine neue Gesellschaftsordnung zu entwerfen. Die Natur sorgt für sich selbst: Sie war eine spontane Schöpfung, die lange vor jeder menschlichen Gesellschaftsordnung existiert hat, und zahllose Jahrhunderte lang haben viele verschiedene Gesellschaften im Einklang mit der Natur gelebt, ohne große Zerstörungen anzurichten. Erst durch die industrielle Revolution begannen die Auswirkungen der menschlichen Gesellschaft in der Natur großen Schaden anzurichten. Um die Natur von diesem Druck zu befreien, ist es nicht nötig, ein besonderes Gesellschaftssystem zu schaffen, es reicht, sich von der industriellen Gesellschaft zu befreien. Natürlich werden damit nicht alle Probleme gelöst. Die industrielle Gesellschaft hat der Natur bereits enormen Schaden zugefügt, und es wird sehr lange dauern, bis diese Narben verheilt sind. Außerdem fügen selbst vorindustrielle Gesellschaften der Natur merkbaren Schaden zu. Dennoch wird erst durch das Verschwinden der industriellen Gesellschaft etwas Wesentliches erreicht werden. Es wird den schlimmsten Druck von der Natur nehmen, sodass die Narben verheilen können. Es wird der organisierten Gesellschaft die Fähigkeit nehmen, die Natur immer stärker zu kontrollieren (einschließlich die menschliche Natur). Ganz gleich welche Gesellschaft nach dem Ende der industriellen Gesellschaft entstehen wird, die meisten Menschen werden naturverbunden leben, denn ohne fortgeschrittene Technologie KÖNNEN Menschen nicht anders leben. Um sich zu ernähren, müssen sie Bauern, Hirten, Fischer, Jäger oder Ähnliches sein. Die lokale Autonomie wird generell auch zunehmen, denn ohne fortgeschrittene Technologie und schnelle Kommunikation ist die Fähigkeit von Regierungen oder anderen großen Organisationen, lokale Gemeinwesen zu kontrollieren, eingeschränkt.

185. Was die negativen Folgen des Zusammenbruchs der industriellen Gesellschaft angeht – nun ja, man kann nicht das Huhn essen und auch die Eier haben. Um das eine zu bekommen, muss man das andere aufgeben.

186. Viele Menschen fürchten psychologische Konflikte. Deshalb vermeiden sie, ernsthaft über schwierige gesellschaftliche Fragen nachzudenken und ziehen es vor, diese in leicht verständlicher Form, schwarz-weiß gemalt, präsentiert zu bekommen: DIES ist ganz und gar gut und JENES ist ganz und gar übel. Die revolutionäre Ideologie muss daher auf zwei Ebenen entwickelt werden.

187. Auf der anspruchsvolleren Ebene sollte sie sich an diejenigen richten, die intelligent, nachdenklich und vernünftig sind. Das Ziel sollte sein, eine Kerngruppe von Menschen zu bilden, die sich auf einer rationalen, durchdachten Basis gegen das industrielle System wenden und die sich völlig im Klaren sind über die Probleme und Ambiguitäten, auf die sie treffen werden, sowie über den Preis, der für die Abschaffung des Systems gezahlt werden muss. Es ist besonders wichtig, solche Menschen dafür zu gewinnen, da sie viele Fähigkeiten haben und deshalb andere beeinflussen können. An diese Menschen sollte man sich auf einer möglichst rationalen Ebene wenden. Tatsachen sollten niemals absichtlich verdreht und sprachliche Übertreibungen vermieden werden. Das soll nicht heißen, dass man nicht auch an Gefühle appellieren könne, aber dabei sollte man vermeiden, die Wahrheit zu verfälschen oder das intellektuelle Ansehen der Ideologie auf andere Art zu beschädigen.

188. Auf einer zweiten Ebene sollte die Ideologie in so vereinfachter Weise verbreitet werden, damit auch die gedankenlose Mehrheit den Konflikt Technologie gegen Natur in unzweideutiger Begrifflichkeit versteht. Aber auch auf dieser zweiten Ebene sollte die Ideologie in einer angemessenen Sprache verbreitet werden, unter Verzicht auf primitive, übertriebene oder irrationale Ausdrucks weise, damit die rational denkenden Menschen nicht davon abgestoßen werden. Billige, übertriebene Propaganda kann zwar vorübergehend erstaunlich erfolgreich sein, auf lange Sicht gesehen ist es aber vorteilhafter, die Loyalität einer kleinen Gruppe intelligenter Menschen zu bewahren, als die Leidenschaften des gedankenlosen, unbeständigen Mobs zu entfachen, der seine Meinung wieder ändern wird, sobald ein anderer mit besseren Propagandatricks daherkommt. Doch auch Hetzpropaganda kann notwendig sein, wenn der Zeitpunkt des Zusammenbruchs des Systems sich nähert und es zum Endkampf zwischen rivalisierenden Ideologien kommt, der entscheidet, welche von beiden sich behaupten wird, nachdem das alte Weltbild untergegangen sein wird.

189. Vor diesem Endkampf sollten die Revolutionäre nicht erwarten, die Mehrheit auf ihre Seite ziehen zu können. Die Geschichte wird von aktiven, entschiedenen Minderheiten gemacht, nicht von der Mehrheit, die selten eine klare und konsequente Idee ihrer eigenen Wünsche hat. Bevor es zum entscheidenden Durchbruch der Revolution kommt37, besteht die Aufgabe der Revolutionäre weniger darin, die oberflächliche Unterstützung der Mehrheit zu gewinnen als darin, einen kleinen Kern von wirklich überzeugten Anhängern zu bilden. Bei der Mehrheit ist es ausreichend, sie mit der Existenz der neuen Ideologie bekannt zu machen und sie regelmäßig daran zu erinnern; obwohl es natürlich trotzdem wünschenswert ist, die Unterstützung der Mehrheit zu gewinnen, sofern dies geschehen kann, ohne dadurch den Kern der ernsthaft überzeugten Menschen zu schwächen.

190. Jeder gesellschaftliche Konflikt trägt dazu bei, das System zu schwächen, aber man sollte sich vorsehen, welche Art von Konflikten man unterstützt. Es sollten immer Konflikte zwischen der Masse der Menschen und der die Macht ausübenden Elite der industriellen Gesellschaft (Politiker, Wissenschaftler, wichtige Wirtschafts- und Regierungsvertreter usw.) sein. Es sollten KEINE Konflikte zwischen den Revolutionären und der Masse der Bevölkerung sein. Zum Beispiel wäre es eine schlechte Strategie der Revolutionäre, die Amerikaner wegen ihrer Konsumgewohnheiteii zu verurteilen. Vielmehr sollte der Durchschnittsamerikaner als Opfer der Werbe- und Marketingindustrie dargestellt werden, die ihn dazu verführt hat, eine Menge unnötigen Kram zu kaufen, den er nicht benötigt und der nur ein sehr schwacher Trost für den Verlust seiner Freiheit ist. Beide Strategien entsprechen den Tatsachen. Es ist nur eine Frage der Haltung, ob man die Werbeindustrie beschuldigt, die Leute zu manipulieren, oder die Leute dafür, dass sie sich manipulieren lassen. Aus strategischen Gründen sollte man vermeiden, die Leute allgemein zu beschuldigen.

191. Man sollte sich zweimal überlegen, ob inan irgendeinen anderen gesellschaftlichen Konflikt unterstützt als den zwischen der Machtelite (die die Technologie beherrscht) und der allgemeinen Masse (die durch Technologie beherrscht wird). Zum einen lenken andere Konflikte die Aufmerksamkeit von der wichtigen Auseinandersetzung ab (zwischen Elite und allgemeiner Masse, zwischen Technologie und Natur); zum anderen könnten andere Konflikte die Technologisierung möglicherweise noch vorantreiben, weil beide Konfliktparteien versuchen würden, mit Hilfe der Technologie Vorteile zu erlangen. Das wird bei Auseinandersetzungen zwischen Nationen deutlich oder bei ethnischen Konflikten innerhalb von Nationen. In Amerika zum Beispiel wollen viele schwarze Führer dadurch mehr Macht für die Afro-Amerikaner gewinnen, indem sie versuchen, Schwarze innerhalb der technologischen Machtelite zu platzieren. Sie wollen, dass es möglichst viele schwarze Regierungsbeamte, Wissenschaftler, Firmenmanager usw. gibt. Damit unterstützen sie die Absorption der afro-amerikanischen Kultur ins technologische System. Deshalb sollte man generell nur jene gesellschaftlichen Konflikte unterstützen, die sich im Rahmen des allgemeinen Konflikts Machtelite gegen allgemeine Bevölkerung, Technologie gegen Natur abspielen.

192. Doch um ethnische Konflikte zu lösen, ist militantes Eintreten für Minderheitenrechte NICHT geeignet (vgl. Abschnitte 21 und 29). Statt dessen sollten die Revolutionäre betonen, dass die Benachteiligung, die Minderheiten mehr oder weniger stark erfahren, nur von untergeordneter Bedeutung ist. Unser wirklicher Feind ist das industriell-technologische System, und im Kampf gegen das System sind ethnische Unterscheidungen unbedeutend.

193. Die Revolution, die wir uns vorstellen, muss nicht notwendigerweise ein bewaffneter Aufstand gegen eine Regierung sein. Sie mag physische Gewalt anwenden oder auch nicht, jedenfalls wird es keine POLITISCHE Revolution sein. In ihrem Zentrum stehen Technologie und Wirtschaft, nicht Politik38.

194. Die Revolutionäre sollten sogar VERMEIDEN, politische Macht zu übernehmen, ob mit legalen oder illegalen Mitteln, bis der Druck auf das industrielle System einen kritischen Punkt erreicht hat und es selbst von der Mehrheit der Bevölkerung als Fehlschlag angesehen wird. Nehmen wir an, dass irgendeine »grüne« Partei im US-Kongress bei den Wahlen die Mehrheit bekommt. Um ihre eigene Ideologie nicht zu verraten oder zu schwächen, müsste sie energische Maßnahmen ergreifen, um das Wirtschaftswachstum stark einzuschränken und die Wirtschaft sogar schrumpfen zu lassen. Dem Durchschnittsbürger würden die Folgen katastrophal erscheinen: Es gäbe Massenarbeitslosigkeit, Engpässe bei der Versorgung usw. Selbst wenn man die schlimmsten Folgen durch übermenschlich geschicktes Management verhindern könnte, müssten die Menschen dennoch eine Menge Luxus aufgeben, an den sie gewöhnt sind. Die Unzufriedenheit würde wachsen, die »grüne« Partei würde abgewählt und die Revolutionäre hätten einen schweren Rückschlag erlitten. Deshalb sollten die Revolutionäre nicht versuchen, politische Macht zu erlangen, bis sich das System von selbst derart desavouiert hat, dass alle Entbehrungen als Folge des Scheiterns des industriellen Systems selbst betrachtet werden und nicht als Folge der Politik der Revolutionäre. Die Revolution gegen die Technologie wird wahrscheinlich eine Revolution von Außenseitern sein müssen, eine Revolution von unten, nicht von oben.

195. Die Revolution muss international und weltweit durchgeführt werden. Sie kann nicht einzeln auf nationaler Basis erfolgen. Wann immer vorgeschlagen wird, dass die Vereinigten Staaten zum Beispiel ihren technologischen Fortschritt oder das Wirtschaftswachstum etwas bremsen sollten, werden die Leute hysterisch und jammern, dass dann die Japaner in der Technologie führend würden. Heilige Roboter! Die Welt würde aus den Angeln gehoben, wenn die Japaner irgendwann mehr Autos verkaufen als wir! (Nationalismus ist ein starker Antrieb für die Technologie.) Etwas rationaler wird auch argumentiert, dass dann Diktatoren schließlich die Welt beherrschen würden, wenn die relativ demokratischen Nationen der Welt in der Technologie hinter die bösen, diktatorischen Nationen wie China, Vietnam oder Nordkorea zurückfallen, weil diese sich technologisch weiterentwickeln. Aus diesem Grund muss das industrielle System weltweit in allen Staaten gleichzeitig angegriffen werden, soweit das möglich ist. Es gibt natürlich keine Sicherheit dafür, dass das industrielle System überall auf der Welt annähernd gleichzeitig zerstört werden kann, und es ist sogar denkbar, dass der Versuch, das System zu besiegen, fehlschlägt und es dann von Diktatoren beherrscht wird. Dieses Risiko muss man in Kauf nehmen. Es ist es wert, denn der Unterschied zwischen einem »demokratischen« industriellen System und einem von Diktatoren kontrollierten ist klein im Vergleich zu dem zwischen einem industriellen und einem nichtindustriellen System39. Man könnte sogar behaupten, dass ein von einem Diktator kontrolliertes industrielles System vorzuziehen wäre, weil diktatorische Regimes im Allgemeinen weniger effizient sind, also vermutlich schneller zusammenbrechen werden. Man betrachte nur Kuba.

196. Revolutionäre sollten Maßnahmen unterstützen, die auf eine Vereinheitlichung der Weltwirtschaft abzielen. Freihandelsabkommen wie NAFTA und GATT sind wahrscheinlich auf kurze Zeit gesehen schädlich für die Umwelt, könnten aber auf Dauer Vorteile haben, weil sie wirtschaftliche Abhängigkeiten der Staaten untereinander fördern. Es wird leichter sein, das industrielle System weltweit zu zerstören, wenn die Weltwirtschaft so vereinheitlicht ist, dass ihr Zusammenbruch in irgendeinem großen Staat zum Zusammenbruch der Wirtschaft in allen Industrienationen führen wird.

197. Manche meinen, dass der moderne Mensch zu viel Macht und Kontrolle über die Natur hat, sie fordern eine passivere Haltung der Menschheit. Aber meistens drücken sich diese Leute unklar aus, denn sie unterscheiden nicht zwischen der Macht GROSSER ORGANISATIONEN und der Macht von EINZELNEN und KLEINEN GRUPPEN. Es ist ein Irrtum, sich für Machtlosigkeit und Passivität einzusetzen, denn Menschen BRAUCHEN Macht. Der moderne Mensch als kollektive Gesamtheit – das heißt, als industrielles System – hat ungeheure Macht über die Natur, und wir (FC) betrachten das als Übel. Aber moderne INDIVIDUEN und KLEINE GRUPPEN VON INDIVIDUEN haben viel weniger Macht als der primitive Mensch jemals hatte. Im Allgemeinen wird die gewaltige Macht des »modernen Menschen« über die Natur nicht durch Individuen oder kleine Gruppen ausgeübt, sondern durch große Organisationen. Wenn das durchschnittliche moderne INDIVIDUUM noch technologische Macht ausüben kann, ist ihm dies nur in engen Grenzen erlaubt und nur unter Aufsicht und Kontrolle des Systems. (Für alles braucht man eine Genehmigung und mit dieser Genehmigung sind Regeln und Vorschriften verbunden.) Das Individuum hat nur die technologische Macht, die ihm das System zugesteht. Seine PERSÖNLICHE Macht über die Natur ist gering.

198. Der primitive Mensch als INDIVIDUUM und in KLEINEN GRUPPEN hatte tatsächlich beachtliche Macht über die Natur, oder vielleicht besser gesagt INNERHALB der Natur. Wenn der primitive Mensch Nahrung brauchte, wusste er, wie er essbare Wurzeln finden und wie er diese zubereiten konnte, wie man Wild aufspürt und es mit selbst gefertigten Waffen erlegt. Er wusste, wie er sich vor Hitze, Kälte, Regen und gefährlichen Tieren usw. schützen konnte. Aber der primitive Mensch hat der Natur kaum Schaden zugefügt, weil die KOLLEKTIVE Macht der primitiven Gesellschaft im Vergleich zur KOLLEKTIVEN Macht der industriellen Gesellschaft sehr schwach war.

199. Statt für Machtlosigkeit und Passivität zu plädieren, sollte man sich dafür einsetzen, dass die Macht des INDUSTRIELLEN SYSTEMS gebrochen wird, und dass dadurch die Macht und Freiheit des EINZELNEN und der KLEINEN GRUPPEN VERSTÄRKT wird.

200. Bis das industrielle System gänzlich abgewrackt ist, muss die Zerstörung des Systems für die Revolutionäre das EINZIGE Ziel sein. Andere Ziele würden die Aufmerksamkeit und Energie vom Hauptziel ablenken. Und was noch wichtiger ist, wenn die Revolutionäre sich anderen Zielen als der Zerstörung der Technologie widmeten, würden sie in Versuchung geführt, Technologie als Werkzeug zu benutzen, um diese anderen Ziele zu erreichen. Wenn sie dieser Versuchung nachgeben, werden sie selbst in die technologische Falle geraten, denn die moderne Technologie ist ein einheitliches, eng organisiertes System, sodass man bei dem Versuch, EINIGE Technologien zu bewahren, schließlich gezwungen ist, die MEISTE Technologie zu bewahren, es würde damit enden, dass lediglich einige Technologien symbolisch geopfert würden.

201. Angenommen, die Revolutionäre würden sich beispielsweise für »soziale Gerechtigkeit« einsetzen. Wir kennen die menschliche Natur und wissen, soziale Gerechtigkeit wird sich nicht von selbst, sondern nur mit Zwang einstellen. Um sie zu erzwingen, müssten die Revolutionäre eine zentrale Organisation und Kontrolle beibehalten. Dafür bräuchten sie schnelle und weitreichende Transport- und Kommunikationsmittel, müssten also die Technologie haben, um solche Transport- und Kommunikations-Systeme zu unterstützen. Um arme Menschen mit Nahrung und Kleidung auszustatten, müssten sie landwirtschaftliche und Fabrik-Technologie benutzen. Und so weiter. Der Versuch, soziale Gerechtigkeit zu sichern, würde sie zwingen, das technologische System in weiten Teilen aufrechtzuerhalten. Wir haben nichts gegen soziale Gerechtigkeit einzuwenden, aber sie darf nicht die Anstrengungen behindern, das technologische System loszuwerden.

202. Es wäre hoffnungslos für die Revolutionäre, das System anzugreifen, ohne EINIGE moderne Technologien zu nutzen. Wenigstens müssen sie Kommunikationsmedien nutzen, um ihre Botschaft zu verbreiten. Aber sie sollten die moderne Technologie nur für den EINEN Zweck nutzen: das technologische System zu bekämpfen.

203. Man stelle sich einen Alkoholiker vor, der vor einem Fass Wein sitzt und sich sagt: »Wein ist nicht schlecht, wenn du ihn mit Maßen trinkst. Man sagt sogar, kleine Mengen Wein sind gut. Es wird mir nicht schaden, wenn ich nur ein bisschen trinke…« Man weiß ja, was geschehen wird. Man darf niemals vergessen, dass es der Menschheit mit der Technologie geht wie einem Alkoholiker mit einem Fass Wein.

204. Revolutionäre sollten so viele Kinder wie möglich bekommen. Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass soziales Verhalten überwiegend erblich bedingt ist. Das will nicht sagen, dass soziales Verhalten direkt aus den genetischen Anlagen folgt, aber es scheint, dass Charakterzüge einer Persönlichkeit teilweise erblich bedingt sind und dass bestimmte Charakterzüge im Kontext unserer Gesellschaft das soziale Verhalten einer Person mehr in diese oder jene Richtung tendieren lassen. Es gibt Gegenargumente, die aber schwach sind und ideologisch motiviert zu sein scheinen. Jedoch bezweifelt niemand, dass Kinder im Allgemeinen in ihrem sozialen Verhalten ihren Eltern ähnlich sind. Für uns hat es keine große Bedeutung, ob das Verhalten genetisch oder durch Erziehung weitergegeben wird, wichtig ist nur, DASS es weitergegeben wird.

205. Das Problem ist, dass diejenigen, die gegen das industrielle System sind, auch über Bevölkerungsprobleme beunruhigt sind und deshalb nur wenige oder keine Kinder haben. Auf diese Weise aber übergeben sie die Welt den Menschen, die das industrielle System unterstützen oder wenigstens akzeptieren. Um die nächste Generation starker Revolutionäre zu sichern, müssen sie sich vermehren. Dabei werden sie das Problem der Überbevölkerung nur wenig verstärken. Die wichtigste Aufgabe ist, das industrielle System abzuschaffen, denn wenn es einmal verschwunden ist, wird sich die Weltbevölkerung notwendigerweise verringern (vgl. Abschnitt 167); wohingegen das industrielle System, falls es überlebt, neue Techniken der Nahrungsproduktion entwickeln wird, die einen weiteren unaufhörlichen Anstieg der Weltbevölkerung ermöglichen werden.

206. Hinsichtlich einer revolutionären Strategie bestehen wir absolut auf folgenden Punkten: Das ausschlaggebende einzige Ziel muss die Vernichtung der modernen Technologie sein und keine anderen Ziele dürfen damit konkurrieren. Für den Rest sollten die Revolutionäre die Empirie entscheiden lassen. Wenn die Erfahrung zeigt, dass einige der hier gemachten Vorschläge zu keinen guten Ergebnissen führen, sollte man diese Vorschläge verwerfen.

ZWEI ARTEN VON TECHNOLOGIE

207. Man wird gegen unsere Revolution wahrscheinlich argumentieren, dass sie zum Scheitern verurteilt ist, weil (so wird behauptet) Technologie im Verlauf der Geschichte immer fortgeschritten und niemals rückläufig gewesen ist, somit ist ein technologischer Rückschritt unmöglich. Aber diese Behauptung ist falsch.

208. Wir unterscheiden zwei Arten von Technologie, die wir als small-scale-Technologie (in kleinem Maßstab) und als organisationenabhängige Technologie bezeichnen. Die small-scale- Technologie kann in kleinen Gemeinschaften ohne äußere Hilfestellung angewendet werden. Die organisationsabhängige Technologie ist von großen gesellschaftlichen Organisationen abhängig. Es sind uns keine bedeutenden Fälle von Rückentwicklungen in der kleinen Technologie bekannt. Aber die organisationenabhängige Technologie IST rückgängig zu machen, wenn die soziale Organisation, von der sie abhängt, zusammenbricht. Beispiel: Als das Römische Reich zusammenbrach, überlebte die small-scale-Technologie der Römer, weil jeder geschickte Dorfhandwerker in der Lage war, zum Beispiel ein Wasserrad herzustellen, jeder geschickte Schmied konnte mit den römischen Techniken Stahl herstellen usw. Aber die organisationsabhängige Technologie der Römer bildete sich zurück. Die Aquädukte verfielen und wurden nie wieder aufgebaut. Ihre Technik des Straßenbaus ging verloren. Das römische System sanitärer Anlagen in den Städten geriet in Vergessenheit, und erst seit recht kurzer Zeit hat man in europäischen Städten wieder sanitäre Anlagen vom Standard derer im Alten Rom.

209. Der Grund dafür, dass Technologie immer fortzuschreiten scheint, liegt darin, dass noch bis zu vielleicht ein oder zwei Jahrhunderten vor der industriellen Revolution die meiste Technologie small-scale-Technologie war. Die seit der industriellen Revolution entwickelte Technologie ist jedoch vor allem organisationsabhängige Technologie. Ein Beispiel dafür ist der Kühlschrank. Ohne industriell vorgefertigte Ersatzteile, Maschinen oder Werkstätten wäre es für normale Handwerker unmöglich, einen Kühlschrank zu bauen. Auch wenn sie wunderbarerweise einen bauen könnten, wäre er ohne eine zuverlässige Stromquelle nicht zu benutzen. Sie müssten also einen Fluss stauen und einen Generator bauen. Generatoren brauchen viel Kupferdraht. Wie soll man diesen Draht ohne moderne Maschinen herstellen? Und woher soll man dann das notwendige Kühlmittel bekommen? Es wäre viel einfacher, einen Eiskeller zu bauen oder die Nahrung durch Trocknen oder Einlegen haltbar zu machen, wie man es vor der Erfindung des Kühlschranks getan hat.

210. Das heißt aber, dass die Kühlschranktechnologie schnell verloren gehen wird, wenn das industrielle System einmal gänzlich zusammenbricht. Dasselbe gilt für andere organisationsabhängige Technologien. Wenn diese Technologie erst einmal eine Generation lang verloren ist, würde es Jahrhunderte dauern, sie wieder zu entwickeln, wie es Jahrhunderte gedauert hat, sie zum ersten Mal zu entwickeln. Technische Bücher wären dann kaum mehr zu finden. Eine industrielle Gesellschaft ganz von vorne und ohne Hilfe von außen aufzubauen, kann nur stufenweise geschehen: Man braucht dazu Werkzeuge, um Werkzeuge herzustellen, um damit wiederum Werkzeuge herzustellen … ein langer Prozess wirtschaftlicher Entwicklung und des Fortschritts in der gesellschaftlichen Organisation wäre erforderlich. Und selbst ohne eine technologiefeindliche Ideologie besteht kein Grund zu der Annahme, irgendjemand hätte an einer Wiederherstellung der industriellen Gesellschaft Interesse. Die Begeisterung für den »Fortschritt« ist eine besondere Erscheinung der modernen Gesellschaftsform und scheint vor dem 17. Jahrhundert nicht existiert zu haben.

211. Im späten Mittelalter gab es vier Hauptzivilisationen, die ungefähr gleich »fortgeschritten« waren: Europa, die Islamische Welt, Indien und der Feme Osten (China, Japan, Korea). Drei dieser Zivilisationen blieben mehr oder weniger unverändert, nur Europa entwickelte sich dynamisch. Niemand kann erklären, warum Europa in dieser Zeit eine solche Dynamik entwickelte; Historiker haben darüber Theorien entwickelt, die aber nur Spekulation sind. Auf jeden Fall wird deutlich, dass eine schnelle Entwicklung zu einer technologischen Gesellschaft nur unter besonderen Bedingungen stattfindet. Deshalb gibt es keinen Grund anzunehmen, ein lang andauernder technologischer Rückschritt wäre undenkbar.

212. Könnte sich die Gesellschaft aber IRGENDWANN erneut in die Richtung einer industriell-technologischen Form entwickeln? Vielleicht, aber das ist kein Grund zur Sorge, da wir die Ereignisse der nächsten 500 oder 1000 Jahre sowieso nicht voraussehen und kontrollieren können. Diese Probleme müssen dann von den Menschen gelöst werden, die in dieser Zeit leben.

DIE GEFAHR DER LINKSGERICHTETEN IDEOLOGIE

213. Weil Linke und andere Menschen dieses psychologischen Typus das Bedürfnis nach Auflehnung und Zugehörigkeit zu einer Bewegung haben, sind sie häufig von rebellischen und militanten Bewegungen angezogen, deren Ziele ursprünglich nicht linksgerichtet sind. Der Zustrom von Linken in eine nicht linksgerichtete Bewegung kann leicht dazu führen, dass sie in eine linke Bewegung verwandelt wird und damit linke Ziele die eigentlichen Ziele der Bewegung ersetzen oder verdrehen.

214. Um das zu verhindern, muss eine Bewegung, die sich für die Natur und gegen Technologie einsetzt, eine nachdrücklich antilinke Position einnehmen und jede Zusammenarbeit mit Linken vermeiden. Linksgerichtete Ideologie ist auf die Dauer unvereinbar mit ursprünglicher Natur, menschlicher Freiheit und der Zerstörung moderner Technologie. Linksgerichtete Ideologie ist kollektivistisch, sie versucht die ganze Welt (sowohl die Natur als auch die Menschheit) zu einem einheitlichen Ganzen zu verbinden. Aber das erfordert die Verwaltung von Natur und menschlichem Leben durch eine organisierte Gesellschaft, und es erfordert eine fortgeschrittene Technologie. Man kann ohne schnelle Verkehrssysteme und Kommunikation die Welt nicht vereinheitlichen; man kann ohne die Anwendung hoch entwickelter psychologischer Techniken die Menschen nicht dazu bringen, einander zu lieben; man kann ohne technologische Grundlage keine »geplante Gesellschaft« errichten. Vor allem aber liegt der Antrieb der Linken in ihrem Streben nach Macht auf kollektiver Basis, durch Identifikation mit einer Massenbewegung oder einer Organisation. Die linksgerichtete Ideologie wird niemals auf Technologie verzichten, weil Technologie eine zu wertvolle Quelle kollektiver Macht bedeutet.

215. Auch der Anarchist40 strebt nach Macht, aber er versucht sie als individuelle Persönlichkeit oder kleine Gruppe zu erlangen; er will, dass der Einzelne und kleine Gemeinschaften in der Lage sind, ihre eigenen Lebensumstände zu kontrollieren. Seine antitechnologische Haltung resultiert aus der Erkenntnis, dass Technologie kleine Gemeinschaften von großen Organisationen abhängig macht.

216. Manche Linke wenden sich scheinbar gegen Technologie, aber sie sind nur solange dagegen, wie sie selbst Außenseiter sind und das technologische System von Nichtlinken kontrolliert wird. Sollte aber die linksgerichtete Ideologie jemals eine führende Rolle in der Gesellschaft übernehmen, sodass das technologische System nun ein Werkzeug in den Händen der Linken wäre, würden sie begeistert Gebrauch davon machen und seine Entwicklung fördern. So würde sich ein Muster wiederholen, das linksgerichtete Ideologie in der Vergangenheit immer wieder gezeigt hat. Solange die Bolschewisten in Russland Außenseiter waren, bekämpften sie energisch die Zensur und Geheimpolizei, setzten sich für Selbstbestimmung ethnischer Minderheiten ein usw.; aber sobald sie selbst an die Macht kamen, führten sie eine strengere Zensur ein und schufen eine unbarmherzigere Geheimpolizei, als unter dem Zaren existiert hatte, und sie unterdrückten die ethnischen Minderheiten mindestens so stark wie zur Zarenzeit. Als in den Vereinigten Staaten vor ein paar Jahrzehnten die Linken eine Minderheit an den Universitäten waren, waren linksgerichtete Professoren eifrige Verfechter der akademischen Freiheit, aber heute nehmen sie an den Universitäten, an denen Linke dominieren, je dem anderen die akademische Freiheit. (Das bedeutet »political correctness«.) Dasselbe würde mit Linken und Technologie geschehen: Wenn sie sie je unter ihre Kontrolle bringen, würden sie sie benutzen, um jeden anderen zu unterdrücken.

217. In früheren Revolutionen haben die besonders machtgierigen Linken wiederholt zuerst mit den nicht linksgerichteten Revolutionären zusammengearbeitet, genauso wie mit Linken libertärer Ausrichtung, und später haben sie dann ein falsches Spiel getrieben, um die alleinige Macht an sich zu reißen. Robespierre in der Französischen Revolution, die Bolschewisten in der Russischen Revolution, die Kommunisten in Spanien 1938 und Castro und seine Anhänger in Kuba. Betrachtet man die Geschichte der Linken, wären nicht linksgerichtete Revolutionäre dumm, wenn sie heute mit den Linken Zusammenarbeiten würden.

218. Verschiedene Denker haben darauf hingewiesen, dass linksgerichtete Ideologie eine Art von Religion ist. Sie ist keine Religion im eigentlichen Sinn, weil die linksgerichtete Lehre nicht die Existenz eines übernatürlichen Seins postuliert. Aber für den Linken hat die linksgerichtete Ideologie psychologisch eine ähnliche Bedeutung wie die Religion für andere Menschen. Der Linke MUSS an linksgerichtete Ideologie glauben, das spielt für sein psychologisches Gleichgewicht eine lebenswichtige Rolle. Seine Glaubensvorstellungen können durch Logik oder Tatsachen nicht leicht verändert werden. Er ist der tiefen Überzeugung, dass linksgerichtete Ideologie moralisch Richtig ist, mit einem großgeschriebenen R, und dass er nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht hat, an alles die Maßstäbe der linksgerichteten Moral zu setzen. (Viele, die wir hier »Linke« nennen, sehen sich selbst nicht als Linke an und würden ihr Glaubenssystem nicht als linksgerichtete Ideologie beschreiben. Wir benutzen den Begriff »linksgerichtete Ideologie«, weil wir keinen besseren Ausdruck gefunden haben, um das Spektrum der einander verwandten Ansichten zu bezeichnen, die die feministische, Schwulen-, »p.c.«-Bewegungen u.Ä. einschließen, und auch weil diese Bewegungen eine starke Verbundenheit zur alten Linken haben (vgl. Abschnitte 227-230).

219. Linksgerichtete Ideologie ist eine totalitäre Kraft. Wo immer linksgerichtete Ideologie die Macht erlangt hat, versucht sie jeden Winkel der Privatsphäre zu durchdringen und jeden Gedanken in ein linksgerichtetes Schema zu pressen. Das hat teilweise mit dem quasi-religiösen Charakter der linksgerichteten Ideologie zu tun: Alles, was der linksgerichteten Ideologie entgegensteht, ist Sünde. Vor allem aber aufgrund des Machtstrebens der Linken ist linksgerichtete Ideologie eine totalitäre Kraft. Der Linke sucht sein Bedürfnis nach Macht durch Identifikation mit einer gesellschaftlichen Bewegung zu befriedigen, und er versucht den power process dadurch zu durchlaufen, dass er mithilft, die Ziele der Bewegung zu verfolgen und zu erreichen (vgl. Abschnitt 83). Aber ganz gleich, wie viele Ziele die Bewegung schon erreicht hat, der Linke wird niemals zufrieden sein, weil seine Aktivitäten Ersatzhandlungen sind (vgl. Abschnitt 41). Das bedeutet, die wirklichen Motive des Linken liegen nicht im Erreichen der angeblichen Ziele der linksgerichteten Ideologie; in Wirklichkeit ist er durch das Machtgefühl motiviert, das er empfindet, wenn er für ein gesellschaftliches Ziel kämpft und dieses erreicht41. Infolgedessen ist der Linke niemals mit den Zielen zufrieden, die er erreicht hat; er braucht für den power process immer neue Ziele. Der Linke fordert Chancengleichheit für Minderheiten. Hat er diese erreicht, besteht er auf statistischer Verteilung der Leistungen der Minderheiten. Und solange irgendjemand verdächtig ist, eine negative Haltung gegenüber Minderheiten zu hegen, muss der Linke ihn umerziehen. Und ethnische Minderheiten sind nicht genug; es darf auch niemand eine negative Haltung gegenüber Homosexuellen, Behinderten, fetten, alten, hässlichen Menschen usw. usw. einnehmen. So genügt es nicht, die Öffentlichkeit über die Schädlichkeit des Rauchens zu informieren; es muss außerdem noch eine Warnung auf jede Zigarettenpackung gestempelt werden. Dann muss man Zigarettenreklame einschränken, wenn nicht sogar verbieten. Die Aktivisten werden sich damit nicht zufrieden geben, bis Tabak überhaupt verboten sein wird, und danach kommt der Alkohol dran, dann Fast Food usw. Aktivisten haben gegen schwere Kindesmisshandlung gekämpft, was verständlich war. Aber jetzt wollen sie jeden Klaps verbieten. Wenn sie damit fertig sind, werden sie etwas anderes verbieten lassen wollen, das ihnen ungesund erscheint, und danach wieder etwas anderes. Sie werden sich niemals zufrieden geben, bis sie die Kontrolle über die gesamte Kindererziehung haben. Und danach werden sie sich eine andere Sache vornehmen.

220. Nehmen wir an, man würde Linke auffordem, eine Liste ALLER Dinge anzufertigen, die ihrer Meinung nach in der Gesellschaft falsch sind, und JEDE Änderung durchführen, die sie fordern. Dann könnte man mit Sicherheit sagen, dass die Mehrheit der Linken ein paar Jahre später wieder etwas findet, worüber sie sich beschweren könnte, ein neues soziales »Übel«, das behoben werden muss; denn, noch einmal, es geht dem Linken weniger um Missstände in der Gesellschaft als um das Bedürfnis, seinen Machttrieb zu befriedigen, indem er der Gesellschaft seine Lösungen aufzwingt.

221. Wegen der Einschränkungen, die sie ihren Gedanken und ihrem Verhalten auferlegen, können viele überangepasste Linke ihren Machttrieb nicht wie andere Menschen verfolgen. Ihr Machtstreben findet deshalb ein moralisch akzeptables Ventil nur im Kampf für die Verbreitung ihrer Moralvorstellungen.

222. Linke, insbesondere die überangepassten Linken, sind wahre Gläubige oder Fanatiker im Sinne des Buches von Eric Hoffer, The True Believer (auf deutsch Der Fanatiker). Aber nicht alle Fanatiker haben das gleiche Psychogramm wie die Linken. Vermutlich unterscheidet sich ein fanatischer Nazi psychologisch stark von einem fanatischen Linken. Wegen ihrer Fähigkeit zur unbeirrbaren Hingabe an eine Sache sind Fanatiker für jede revolutionäre Bewegung nützlich, vielleicht sogar notwendig. Dies wirft ein Problem auf, das wir zugegebenermaßen nicht lösen können. Wir sind nicht sicher, wie man die Energien der Fanatiker in einer Revolution gegen die Technologie nutzbar machen kann. Zum jetzigen Zeitpunkt können wir nur sagen, dass kein Fanatiker ein zuverlässiger Rekrut für die Revolution ist, wenn nicht sein einziges Ziel die Zerstörung der Technologie ist. Hat er dagegen auch andere Ideale, dann kann es sein, dass er Technologie als ein Werkzeug gebrauchen wird, um diese anderen Ideale zu erreichen (vgl. Abschnitte 220-221).

223. Einige Leser werden vielleicht sagen: »Dieses Zeug über linksgerichtete Ideologie ist ein ziemlicher Blödsinn. Ich kenne den und den, der ist links und weit entfernt von solch totalitären Tendenzen.« Natürlich sind viele Linke, wahrscheinlich sogar die Mehrheit von ihnen, anständige Menschen, die ehrlich glauben, die Wertvorstellungen anderer zu tolerieren (bis zu einem gewissen Punkt jedenfalls), und die keine eigenmächtigen Methoden zur Durchsetzung ihrer gesellschaftlichen Ziele anwenden wollen würden. Unsere Anmerkungen über linksgerichtete Ideologie sollen auch nicht für jeden einzelnen Linken gelten, sondern den allgemeinen Charakter linksgerichteter Ideologie als einer Bewegung beschreiben. Und der allgemeine Charakter einer Bewegung ist nicht notwendigerweise von der zahlenmäßigen Größenordung derjenigen Menschen bestimmt, die dieser Bewegung angehören.

224. Die Menschen, die in den linken Bewegungen in Machtpositionen aufsteigen, sind meist Linke vom besonders machtbesessenen Typus, denn machtbesessene Menschen kämpfen am stärksten um Machtpositionen. Wenn dieser machtbesessene Typus einmal die Kontrolle über die Bewegung erlangt hat, werden zwar viele Linke von weicherem Charakter innerlich viele Aktionen der Führer ablehnen, sich aber nicht dazu durchringen können, auch dagegen zu opponieren. Sie BRAUCHEN ihren Glauben an die Bewegung, und weil sie diesen Glauben nicht aufgeben können, folgen sie den Führern. Es stimmt, dass EINIGE Linke den Mut haben, sich den auftretenden totalitären Strömungen zu widersetzen, aber meistens verlieren sie, denn die Machtbesessenen sind besser organisiert, skrupelloser und machiavellistischer, sie haben sich vorsorglich eine starke Machtgrundlage aufgebaut.

225. Diese Erscheinung hat man deutlich in Russland und anderen Staaten gesehen, in denen die Linken an der Macht waren. Ähnlich haben die westlichen Linken vor dem Zusammenbruch des Kommunismus in der Sowjetunion diesen Staat selten kritisiert. Wenn man hartnäckig fragte, gaben sie zu, dass die UdSSR viele falsche Dinge getan hat, versuchten dann aber Entschuldigungen für die Kommunisten zu finden und begannen über die Fehler des Westens zu sprechen. Immer waren sie gegen westlichen militärischen Widerstand gegen eine eventuelle kommunistische Aggression. So protestierten die Linken in der ganzen Welt heftig gegen die US-Militäraktionen in Vietnam, als aber die Sowjetunion in Afghanistan einmarschierte, taten sie nichts dergleichen. Nicht, dass sie das Vorgehen der Sowjets gebilligt hätten; aber wegen ihres linken Glaubens konnten sie es nicht ertragen, sich kritisch gegen den Kommunismus zu wenden. Heute gibt es an denjenigen unserer Universitäten, an denen die »political correctness« herrscht, wahrscheinlich viele Linke, die persönlich gegen diese Unterdrückung der akademischen Freiheit sind, sich aber unterordnen.

226. So kann die Tatsache, dass viele Linke persönlich tolerant und nachgiebig sind, nicht verhindern, dass die linksgerichtete Ideologie als ganzes eine totalitäre Richtung nimmt.

227. Unsere Diskussion über linksgerichtete Ideologie hat eine ernsthafte Schwäche. Es bleibt noch immer unklar, was wir mit dem Wort meinen. Daran können wir wohl nicht viel ändern. In der heutigen Zeit ist linksgerichtete Ideologie in ein ganzes Spektrum von aktivistischen Bewegungen aufgesplittert. Dabei sind nicht alle aktivistischen Bewegungen links, und einige dieser Bewegungen (z.B. die radikale Umweltbewegung) scheinen sowohl Persönlichkeiten vom linken Typ als auch durch und durch nicht linksgerichtete Persönlichkeiten, die wissen müssten, dass man mit Linken besser nicht zusammenarbeitet, anzuziehen. Verschiedene Typen von Linken gehen allmählich über in verschiedene Typen von Nichtlinken, und wir selbst hätten oft Schwierigkeiten zu entscheiden, ob eine bestimmte Person als Linker bezeichnet werden kann oder nicht. Soweit eine Definition also überhaupt möglich ist, ist unser Konzept der linksgerichteten Ideologie hier dargestellt und wir können dem Leser nur raten, nach seinem eigenen Urteilsvermögen zu entscheiden, wer ein Linker ist.

228. Es kann aber hilfreich sein, einige Kriterien an die Hand zu geben, um linksgerichtete Ideologie diagnostizieren zu können. Diese Merkmale müssen nicht strikt und immer auftreten. Auf einige Personen werden einige dieser Merkmale zutreffen, ohne dass sie Linke sind; dafür werden sie einigen Linken fehlen. Man sollte also nach eigenem Ermessen urteilen.

229. Der Linke ist auf weitreichenden Kollektivismus ausgerichtet. Er betont die Pflicht des Einzelnen, der Gesellschaft zu dienen und die Pflicht der Gesellschaft, für den Einzelnen zu sorgen. Im Individualismus sieht er etwas Negatives. Er nimmt gerne einen moralisierenden Ton an. Er ist im Allgemeinen für Kontrolle von Waffen, sexuelle Aufklärung und andere psychologisch »aufgeklärte« Erziehungsmethoden, für Gesellschaftsplanung, für gezielte Förderung von Minderheiten, für Multikulturalismus. Er neigt dazu, sich mit Opfern zu identifizieren. Er ist gegen Wettbewerb und gegen Gewalt, aber er findet meist Entschuldigungen für die Linken, die Gewalt an wenden. Er benutzt gerne allgemeine Schlagwörter der Linken wie »Rassismus«, »Sexismus«, »Homophobie«, »Kapitalismus«, »Imperialismus«, »Neokolonialismus«, »Genozid«, »gesellschaftliche Veränderungen«, »soziale Gerechtigkeit«, »gesellschaftliche Verantwortung«. Am besten kann man linksgerichtete Ideologie vielleicht an ihrer Neigung erkennen, mit den folgenden Bewegungen zu sympathisieren: Feminismus, Schwulenbewegung, Bewegungen für die Rechte ethnischer Minderheiten, Political Correctness. Jeder, der stark mit ALLEN diesen Bewegungen sympathisiert, ist mit großer Sicherheit ein Linker42.

230. Die gefährlicheren Linken, die Machtbesessenen, erkennt man meistens an ihrer Arroganz oder an ihrem dogmatischen Verhältnis zur Ideologie. Doch der gefährlichste Linke ist der überangepasste Typus, der es vermeidet, verunsichernde Aggressivität zur Schau zu stellen und sich zu seiner linksgerich teten Ideologie nicht offensiv bekennt, dafür aber im Stillen und unauffällig kollektivistische Werte, »aufgeklärte« psychologische Methoden der Kindererziehung, Abhängigkeit des Einzelnen von der Gesellschaft usw. fördert. Diese Krypto-Linken (wie wir sie nennen wollen) sind gewissen bourgeoisen Charakteren ähnlich, soweit es um praktische Aktionen geht, sie unterscheiden sich aber von jenen in Psychologie, Ideologie und Motivation. Der normale Bourgeois versucht, andere unter die Kontrolle des Systems zu bringen, um seine Lebensweise zu bewahren, oder einfach nur, weil er konventionell eingestellt ist. Der Krypto-Linke versucht, Menschen unter die Kontrolle des Systems zu bringen, weil er ein Fanatiker der kollektivistischen Ideologie ist. Der Krypto-Linke unterscheidet sich von dem normalen Linken des überangepassten Typus dadurch, dass seine aufrührerischen Impulse schwächer sind und er zuverlässiger sozialisiert ist. Er unterscheidet sich von dem gewöhnlich gut sozialisierten Bourgeois dadurch, dass er innerlich einen großen Mangel fühlt, der ihn dazu bringt, sich einer Sache völlig zu widmen und im Kollektiv aufzugehen. Und vielleicht ist sein (gut sublimiertes) Machtbedürfnis stärker als das des Durchschnitts-Bourgeois.

ABSCHLUSSBEMERKUNG

231. Im Verlaufe dieser Abhandlung haben wir ungenaue Aussagen gemacht und Aussagen, die nur unter Vorbehalt und Einschränkung gelten; und manche unserer Darstellungen mögen schlicht falsch sein. Mangel an genügender Information und der Zwang zur Kürze machten es unmöglich, unsere Behauptungen genauer auszuführen und alle nötigen Einschränkungen vorzunehmen. Und in einer solchen Erörterung muss man sich selbstverständlich stark auf intuitives Ermessen verlassen, das sich mitunter als falsch erweist. Deshalb behaupten wir nicht, dass es sich in der vorliegenden Abhandlung um mehr als eine ungefähre Annäherung an die Wahrheit handelt.

232. Gleichwohl sind wir überzeugt, dass die allgemeinen Umrisse des Bildes, das wir hier gezeichnet haben, zutreffen. Nur ein möglicher Schwachpunkt muss angeführt werden. Wir haben die linke Ideologie in ihrer modernen Form als ein besonderes Phänomen unserer Zeit und als ein Symptom der Störung des power process dargestellt. Es könnte aber sein, dass wir uns hier irren. Überangepasste Charaktere, die zur Befriedigung ihres Machtstrebens anderen ihre eigenen moralischen Anschauungen aufzwingen wollen, gab es sicher auch schon in früheren Zeiten. Aber wir DENKEN, dass die entscheidende Rolle, die Minderwertigkeitsgefühle, geringe Selbstachtung, Machtlosigkeit und Identifikation mit Opfern spielen, eine Besonderheit der modernen linksgerichteten Ideologie ist. Auch in der linken Bewegung des 19. Jahrhunderts und im frühen Christentum gab es eine Identifikation mit Opfern durch Menschen, die selbst keine Opfer waren, aber soweit wir beurteilen können, waren die Symptome des geringen Selbstvertrauens usw. lange nicht so offensichtlich in diesen Bewegungen, wie sie sich in der modernen linksgerichteten Ideologie äußern. Wir sind aber nicht in einer Position, um mit Sicherheit behaupten zu können, es habe keine solchen Bewegungen vor der modernen linksgerichteten Ideologie gegeben. Das ist eine bedeutende Frage, der sich die Historiker widmen sollten.


CHRONOLOGIE

26. Mai 1978, Northwestern University, Evanston, Illinois

Der Sicherheitsmann Terry Marker wird durch eine Paketbombe verletzt.

9.Mai 1979, Northwestern University, Evanston, Illinois

Der Student John G. Harris wird im Technologischen Institut der Universität durch eine Paketbombe verletzt.

15. November 1979

Explosion einer Bombe im Frachtraum einer Boeing 727 der American Airlines. Zwölf Menschen erleiden eine Rauchvergiftung.

10.Juni 1980, Lake Forest, Illinois

Der Präsident der Fluggesellschaft United Airlines, Percy A. Wood, wird durch eine Briefbombe verletzt. Auf einem der Bombensplitter finden die Ermittler die aufgestempelten Initialen FC.

Juni 1980

Die Sondereinheit »UNABOM« wird gebildet. »UN« steht für »university« und »A« für »airline«.

8. Oktober 1981, University of Utah, Salt Lake City

Eine Paketbombe wird in einem Seminarraum der Universität entdeckt und entschärft. Keine Verletzten.

5. Mai 1982, Vanderbilt University, Nashville, Tennessee

Janet Smith, Sekretärin der Fakultät für Computerwissenschaft, wird durch eine Paketbombe verletzt.

2.Juli 1982, University of California, Berkeley, Kalifornien

Diogenes J. Angelakos, Professor für Elektro-Ingenieurswesen und Computerwissenschaft, wird durch eine Rohrbombe verletzt.

15. Mai 1985, University of California, Berkeley, Kalifornien

Der Air-Force-Pilot und Ingenieurstudent John E. Hauser wird durch eine Bombe schwer verletzt.

13. Juni 1985, Boeing Aircraft Corp., Aubum, Washington

Eine an die Produktionsabteilung der Boeing-Flugzeugwerke adressierte Paketbombe kann entschärft werden. Keine Verletzten.

15. November 1985, Ann Arbor, Michigan Professor James V. McConnell und sein Assistent Nicklaus Sui- no von der University of Michigan werden durch eine Paketbombe verletzt.

11. Dezember 1985, Sacramento, Kalifornien

Hugh C. Scrutton, der Besitzer eines Versandhandels für Computer, wird durch eine mit Nägeln gefüllte Bombe getötet.

20. Februar 1987, Salt Lake City, Utah

Gary Wright, Besitzer eines Computergeschäfts, wird durch eine Bombe verletzt. Eine Zeugin beobachtet, wie ein Mann mit Kapuze und dunkler Sonnenbrille die Bombe deponiert. Nach ihren Aussagen wird vom FBI das erste und einzige Phantombild des Unabombers angefertigt.

1987 Die Spezialeinheit UTF (Unabomber Task Force) wird verstärkt.

Sechs Jahre lang gibt es keine vom FBI dem Unabomber zugeordneten Anschläge.

22. Juni 1993, Tiburon, Kalifornien

Dr. Charles Epstein, ein Genetiker der Universität von Kalifornien, wird durch eine Paketbombe verletzt.

24. Juni 1993, New Haven, Connecticut

Dr. David Gelernter, ein Computerexperte der Yale-Universität, wird durch eine Paketbombe schwer verletzt.

24.Juni 1993

Die New York Times erhält einen Brief einer bis dahin unbekannten Gruppe »FC«, die darin ihre öko-anarchistischen Überzeugungen erläutert.

10. Dezember 1994, North Caldwell, New Jersey

Der Werbemanager Thomas Mosser wird durch eine Bombe getötet.

24. April 1995

Der Computerwissenschaftler Dr. David Gelernter, die Biologen Dr. Phillip A. Sharp vom M.I.T. und Dr. Richard J. Roberts von den New England Biolabs erhalten Briefe von »FC«, in denen sie zur Einstellung ihrer Forschungen aufgefordert werden. Am gleichen Tag erhält die New York Times einen Brief von »FC«, der Gründe aufzählt, weshalb Gelernter, Epstein und Mosser als Anschlagsziele ausgewählt wurden. Gleichzeitig bietet »FC« an, die »terroristischen Aktivitäten« einzustellen, wenn ein von »FC« verfasstes Manifest veröffentlicht wird. Der Brief endet mit den Worten: »We reserve the right to engage in Sabotage.«

24. April 1995, Sacramento, Kalifornien

Gilbert G. Murray, Präsident der kalifornischen Behörde für Forstwirtschaft, wird durch eine Briefbombe getötet.

27. Juni 1995

Der San Francisco Chronicle erhält einen Brief von »FC«, der die Warnung enthält, dass »eine Terrorgruppe, vom FBI >Unabomber< genannt, in den nächsten Tagen die Zerstörung eines Flugzeugs nach dem Start vom Los Angeles International Airport plant«.

19. September 1995

Washington Post und New York Times publizieren zunächst in Auszügen und später vollständig das 35000 Worte umfassende Manifest Die industrielle Gesellschaft und ihre Zukunft von »FC«.

Februar 1996

David Kaczynski nimmt auf Drängen seiner Frau Kontakt mit dem FBI auf und gibt den Verdacht zu Protokoll, dass sein Bruder Ted der Autor des Manifests sein könnte.

3. April 1996

Ted Kaczynski wird von FBI-Agenten in seiner Hütte in Lincoln, Montana, verhaftet.

22. Januar 1998

Vor Beginn der Gerichtsverhandlung gegen Ted Kaczynski wird von den Anwälten mit der Regierung und dem Richter ein plea bargain ausgehandelt, das Ted Kaczynski akzeptiert. Das bedeutet: viermal lebenslänglich und 30 Jahre Zuchthaus, keine Einweisung in eine Psychiatrie, keine Todesstrafe und keine Möglichkeit auf Begnadigung; zusätzlich Zahlung von 15.026.000 $ an die Hinterbliebenen und Familien der Opfer.


LEBENSLAUF THEODORE JOHN KACZYNSKI

22. Mai 1942 Theodore John Kaczynski wird in Chicago (111.) geboren. Seine Mutter Theresa (Wanda) Dombeck Kaczynski ist Lehrerin, sein Vater Theodore Richard Kaczynski ist Metzger. 1990 begeht der Vater Selbstmord.

1958 Ted Kaczynski beginnt als 16-Jähriger das Studium der Mathematik an der Harvard-Universität, das er 1962 mit dem »Bachelor of Arts« abschließt.

1959 Versuchsperson für eine Studie des Psychologen Prof. H. A. Murray am Institut für Soziale Beziehungen der Harvard Universität.

1963-1967 Fortsetzung des Studiums an der Universität von Michigan in Ann Arbor. Abschluss mit dem »Master of Arts« und Promotion. Späteren FBI-Berichten zufolge »erste psychiatrische Konsultationen und Pläne für ein Leben in den Wäldern abseits der Zivilisation«.

1967-1969 Assistenzprofessor am Department of Mathematics der Universität von Kalifornien in Berkeley.

1969 Ted Kaczynski kündigt seine Professur. Gelegenheitsjobs als Lagerarbeiter. Reist mit seinem Bruder David nach Kanada, um ein Stück Land für den gemeinsam geplanten Ausstieg zu suchen.

1970 Ted Kaczynski schickt einige Texte zu den Themen »Technologie und Freiheit« an Zeitungen in Chicago und überregionale Magazine. Keiner der Texte wird veröffentlicht. Liest die Bücher Die technologische Gesellschaft und Autopsie einer Revolution des französischen Autors Jacques Ellul, die ihn stark beeinflussen. Ablehnung des Kaufgesuchs für das Grundstück in Kanada. Ted Kaczynski ist arbeitslos und lebt von der Unterstützung durch seine Familie.

19. Juni 1971 Clifford Gehring Senior verpachtet ein kleines Landstück in Lincoln, Montana, an Ted und David Kaczynski.

1972-1973 Ted Kaczynski baut sich auf dem gepachteten Landstück eine Hütte. Mit einem Gewehr geht er auf die Jagd, stellt Fallen auf, mit denen er Hasen fängt, und zieht in einem kleinen Garten Möhren und Kartoffeln. Er kartografiert bei seinen ausgedehnten Wanderungen die Landschaft und protokolliert auf über 24000 Seiten seinen Alltag und Experimente verschiedenster Art. Viel Zeit verbringt er in der Bibliothek von Lincoln. Die Bibliothekarin Sherri Wood zählt ihn zu ihren Stammkunden und besorgt ihm per Fernleihe auch seltene Fachliteratur.

Nach Aussagen seiner Nachbarn Chris Waits und Butch Gehring beginnt er Mitte der 70er Jahre, mit Explosivstoffen zu experimentieren.

1973 Gelegenheitsjob in Salt Lake City.

1988 Ted Kaczynski beginnt eine umfangreiche Korrespondenz mit dem mexikanischen Landarbeiter Juan Sánchez Areola, einem illegalen Immigranten. Berät Areola auch bei verschiedenen juristischen Problemen.

3.April 1996 Ted Kaczynski wird von FBI-Agenten in seiner Hütte verhaftet. Nach späteren Angaben der Staatsanwaltschaft finden die Ermittler bei der Durchsuchung der Hütte zahlreiches Belastungsmaterial: zum Bombenbau geeignete Zünder, Batterien und Kabel, eine funktionsfähige Bombe und codierte Notizbücher, in denen Ted Kaczynski angeblich den Wunsch äußert, jemanden zu töten und sich an der Gesellschaft zu rächen. Vor allem diese Textstellen gehören später zu den Kaczynski am meisten belastenden Indizien der Staatsanwaltschaft.

18. Juni 1996 Ted Kaczynski wird in Sacramento wegen der Morde an Scrutton und Murray und der Anschläge auf Epstein und Gelernter und später in New Jersey wegen des Mordes an Thomas J. Mosser angeklagt.

25. Juni 1996 Ted Kaczynski bezeichnet sich als nichtschuldig im Sinne der Anklage.

15. Mai 1997 Nach Presseberichten fordert die US-Justizministerin Janet Reno die Todesstrafe für Ted Kaczynski, die Clinton-Regierung sei »tough on terrorists«.

12. November 1997 Nach Medienberichten Aufnahme von Gesprächen über ein plea bargain (eine US-spezifische Form der Absprache zwischen Anklage und Verteidigung, um das Verfahren abkürzen oder um zu einem Ergebnis kommen zu können, wenn dessen Zustandekommen auf Grund mangelnder Beweislage oder anderer Gründe schwierig oder unmöglich erscheint) .

5. Dezember 1997 Ted Kaczynskis Hütte wird von der Verteidigung als Beweisstück für seine Geisteskrankheit nach Sacramento gebracht.

22. Dezember 1997 Meinungsverschiedenheiten zwischen Ted Kaczynski und seinen Pflichtverteidigern über die Prozessstrategie.

5. Januar 1998 Der Prozessbeginn wird mehrfach verschoben, weil Ted Kaczynski gegen die Strategie seiner Verteidiger protestiert, die versuchen, ihn als geisteskrank darzustellen. Er will in einem politischen Prozess den Gerichtssaal als Bühne für seine Anschauungen nutzen.

7.Januar 1998 Ted Kaczynski schlägt den linksliberalen kalifornischen Staranwalt J. Toni Serra als neuen Verteidiger vor, der bereit ist, das Mandat ohne Honorar zu übernehmen. Die Staatsanwaltschaft und der Richter lehnen den Wechsel der Verteidigung als zu spät und als Prozessverzögerung ab.

In der darauf folgenden Nacht unternimmt Ted Kaczynski nach TV-Berichten einen Selbstmordversuch in seiner Zelle im Untersuchungsgefängnis von Sacramento.

8.Januar 1998 Ted Kaczynski verlangt vom Richter, sich selbst verteidigen zu dürfen.

9.Januar 1998 Richter Garland D. Burell ordnet eine psychiatrische Untersuchung Ted Kaczynskis an, um dessen Fähigkeit feststellen zu lassen, sich selbst zu verteidigen. Die Untersuchung führt Dr. Sally Johnson durch, eine forensische Psychiaterin beim U.S. Bureau of Prisons.

17. Januar 1998 Das Gutachten der Psychiater attestiert Ted Kaczynski paranoide Verhaltensstörungen und Schizophrenie, aber auch die Fähigkeit, sich selbst verteidigen zu können. Das Gutachten steht kurze Zeit später im Internet und wird in den Medien ausgiebig kommentiert.

22. Januar 1998 Richter Burell lehnt Kaczynskis Bitte ab, sich selbst verteidigen zu dürfen und ordnet an, dass Kaczynski den Prozess mit seinen bisherigen Verteidigern fortsetzen muss. Hinter verschlossenen Türen kommt es nun zu intensiven Gesprächen über ein plea bargain, das Kaczynski akzeptiert. Damit bekennt er sich schuldig im Sinne der Anklage, es erfolgt aber keine Einweisung in eine psychiatrische Anstalt und kein Vollzug der Todesstrafe.

4.Mai 1998 Ted Kaczynski wird zu viermal lebenslänglich und zusätzlich 30 Jahren Zuchthaus verurteilt, unter Ausschluss der Möglichkeit auf Begnadigung. Er wird in das Hochsicherheitsgefängnis von Florence (Colorado) überführt.

17. August 2001 Sein Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens wird endgültig abgelehnt.


1Im Original werden hier die Ausdrücke »leftism« bzw. »leftist« in einem besonderen, im folgenden erörterten Verständnis des Begriffs verwendet. Das Substantiv »leftist« wird im Folgenden der Kürze wegen mit »Linker« übersetzt, das Adjektiv »leftist« mit »linksgerichtet«. Anm. d. Ü.

2Wir behaupten nicht, dass ALLE, ja noch nicht einmal die meisten, Rüpel und rücksichtslosen Konkurrenten an Minderwertigkeitsgefühlen leiden.

3Im viktorianischen Zeitalter litten viele überangepasste Menschen an ernsthaften psychischen Problemen, weil sie ihren Sexualtrieb unterdrückten oder zu unterdrücken versuchten. Freud hat offensichtlich seine Theorien an Menschen von diesem Typ entwickelt. Heute hat sich der Fokus der Sozialisation von der Sexualität zur Aggressivität verschoben.

4Nicht unbedingt eingeschlossen hoch spezialisierte Ingenieure oder Vertreter der »reinen« Wissenschaften.

5Es gibt viele Individuen aus der Mittel- und Oberschicht, die einige dieser Werte ablehnen, aber im Allgemeinen ist ihre Ablehnung mehr oder weniger bedeckt. Solche Ablehnung erscheint in den Massenmedien nur in sehr geringem Maße. Der Tenor der Propaganda in unserer Gesellschaft ist zugunsten der genannten Werte.
Der Hauptgrund, aus dem diese Werte sozusagen die offiziellen Werte unserer Gesellschaft geworden sind, liegt darin, dass sie für das industrielle System nützlich sind. Gewalt wird verurteilt, weil sie das Funktionieren des Systems stören würde. Rassismus wird verurteilt, weil ethnische Konflikte ebenfalls das System stören und Diskriminierung die Talente von Angehörigen von Minderheitengruppen verschwendet, die dem System nützlich sein können. Armut muss »geheilt« werden, weil die unteren Klassen dem System Probleme bereiten und der Kontakt mit ihnen die Moral der anderen Klassen schwächt. Frauen werden in der Arbeitswelt unterstützt, weil ihre Begabungen dem System nützen und vor allem, weil Frauen mit fester Arbeit besser in das System direkt eingebunden werden anstatt nur über ihre Familien. Dies schwächt die familiäre Solidarität. (Die Führer des Systems behaupten, sie wollen die Familie stärken, aber tatsächlich wollen sie die Familie nur als effizientes Werkzeug zur Sozialisation der Kinder im Sinne des Bedarfs der Gesellschaft nutzen. Wir behaupten in den Abschnitten 51 und 52, dass sich das System nicht leisten kann, die Familie oder andere kleine soziale Gruppen stark und autonom werden zu lassen.)

6Was genau mit power process gemeint ist, wird im Folgenden erläutert. Es ist sowohl eine Art Trieb zur als auch eine Art Prozess der Selbstverwirklichung, weil aber die Macht (power) eine signifikante Rolle dabei spielt, soll der Begriff im englischen Original stehen bleiben. Anm. d. Ü.

7Man kann ein wenden, dass die Mehrheit der Menschen keine eigenen Entscheidungen treffen will, sondern Führer wünscht, die ihr das Denken abnehmen. Es gibt ein Körnchen Wahrheit in diesem Ein wand. Menschen treffen gerne ihre eigenen Entscheidungen in kleinen Dingen, aber Entscheidungen in schwierigen, grundlegenden Fragen erfordern Auseinandersetzungen bis hin zu psychologischen Konflikten. Also verlassen sie sich bei schwierigen Entscheidungen lieber auf andere. Aber daraus folgt nicht, dass sie sich gerne Entscheidungen aufstülpen lassen ohne die Gelegenheit, diese irgendwie zu beeinflussen. Die meisten Menschen sind geborene Mitläufer, nicht Führer, aber sie möchten direkten persönlichen Zugang zu den Führern haben, sie wollen die Führer beeinflussen können und in gewissem Maße sogar an den schwierigen Entscheidungen teilhaben. Mindestens zu diesem Grad brauchen auch sie Autonomie.

8Manche dieser Symptome ähneln denen von Tieren in Käfighaltung.

9Eine Ausnahme stellen einige passive, nach innen gerichtete Gruppen dar wie die Amish, die kaum Auswirkungen auf die größere Gesellschaft haben. Außer diesen existieren heute noch ein paar echte kleinere Gemeinschaften in Amerika. Zum Beispiel Jugendbanden und »Sekten«. Jeder hält sie für gefährlich, und das sind sie auch, weil die Mitglieder dieser Gruppen primär zueinander loyal sind anstatt zum System, also kann das System sie nicht kontrollieren.
Oder nehmen wir die Zigeuner. Im Allgemeinen werden Zigeuner für Diebstahl und Betrug nicht bestraft, weil ihre Loyalitäten so geartet sind, dass sich immer andere Zigeuner finden werden, die durch ihre Aussage die Unschuld der ersten »beweisen«. Ganz offensichtlich wäre das System in ernster Gefahr, wenn zu viele Menschen solchen Gruppen angehörten.
Einige chinesische Philosophen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts erkannten, dass die Modernisierung Chinas es erfordern würde, kleine soziale Gemeinschaften wie die Familie zu zerstören: »(Nach Sun Yat-sen) brauchte das chinesische Volk eine neue Welle des Patriotismus, die zu einer Verschiebung der Loyalitäten von der Familie zum Staat führen würde. […] (Nach Li Huang) mussten traditionelle Bindungen, besonders in der Familie, aufgegeben werden, wenn sich in China Nationalismus entwickeln sollte.« [Chester C. Tan, Chinese Political Thought in the Twentieth Century, p.124, p.297]

10Es ist uns bewusst, dass das Amerika des 19. Jahrhunderts seine ernsten Probleme hatte, aber um der Kürze willen müssen wir vereinfachen.

11Wir vernachlässigen die »Unterschicht«. Wir sprechen vom Mainstream.

12Einige Soziologen, Pädagogen, Psychologen und dergleichen versuchen angestrengt, diese sozialen Triebe in die erste Gruppe zu verschieben, damit möglichst jeder ein zufriedenstellendes Sozialleben hat.

13Ist das Bedürfnis nach unbegrenztem Erwerb materieller Güter wirklich ein durch die Werbe- und Marketingindustrie künstlich geschaffenes? Mit Sicherheit gibt es keinen angeborenen Trieb, Vermögen anzuhäufen. Es hat viele Kulturen gegeben, deren Völker nur einen geringfügig über das absolut Lebensnotwendige hinausgehenden materiellen Wohlstand anstrebten (australische Aborigines, traditionelle mexikanische Bauemkulturen, einige afrikanische Kulturen). Andererseits hat es auch viele vorindustrielle Kulturen gegeben, in denen materieller Reichtum eine wichtige Rolle spielte. Wir können deshalb nicht behaupten, dass die heutige erwerbsorientierte Kultur ausschließlich eine Schöpfung der Werbe- und Marketingindustrie wäre. Dennoch ist offensichtlieh, dass die Werbe- und Marketingindustrie einen bedeutenden Anteil an der Schaffung dieser Kultur hatte. Die großen Unternehmen, die Millionen für Reklame ausgeben, würden dies kaum tun, wenn es nicht erwiesen wäre, dass sie dieses Geld durch erhöhte Verkäufe wieder einnehmen. Ein Mitglied von FC hat vor einigen Jahren einen Verkaufsmanager getroffen, der ihm offen und ehrlich erklärte: »Unser Job ist es, den Leuten Sachen aufzuschwatzen, die sie weder wünschen noch brauchen.« Dann beschrieb er, wie ungeübte Verkäufer jemandem die tatsächlichen Eigenschaften eines Produkts erläutern und damit gar keine Verkäufe machen, während erfahrene und professionelle Verkäufer denselben Kunden eine Menge Waren verkaufen können. Dies zeigt, dass die Menschen dahingehend manipuliert werden, Waren zu kaufen, die sie nicht wirklich wollen.

14Das Problem der Ziellosigkeit scheint seit Mitte der 1990er Jahre an Bedeutung verloren zu haben, weil sich die Menschen heute physisch und ökonomisch weniger abgesichert fühlen als früher und das Bedürfnis nach Sicherheit bietet ihnen ein Ziel. Aber statt der Ziellosigkeit ist jetzt die Frustration über die Schwierigkeit, Sicherheit zu erlangen, das Problem. Wir betonen das Problem der Ziellosigkeit, weil Linke unsere sozialen Probleme dadurch lösen wollen, dass die Gesellschaft jedem Sicherheit garantiert; aber selbst wenn das möglich wäre, würde das alte Problem der Ziellosigkeit wieder auftreten. Die Frage ist nicht, ob die Gesellschaft gut oder schlecht für die Sicherheit der Menschen sorgt; sondern das Problem liegt darin, dass die Menschen für ihre Sicherheit vom System abhängen und sie nicht in ihrer Hand liegt. Dies ist übrigens ein Grund dafür, dass sich manche Menschen so stark für das Recht, Waffen zu tragen, einsetzen; der Besitz eines Gewehrs vermittelt ihnen das Gefühl, wenigstens dieser Teil der Sicherheit liege in ihrer Hand.

15Die Bemühungen der Konservativen, die staatlichen Reglementierungen zu reduzieren, haben kaum Auswirkungen auf Durchschnittsbürger. Zum einen kann nur ein Bruchteil der Bestimmungen aufgehoben werden, da die meisten unverzichtbar sind. Zum anderen betrifft die Aufhebung solcher Bestimmungen meistens Geschäftsvorgänge und nicht Einzelpersonen, sodass das Ergebnis vor allem darin besteht, dass der Regierung Macht entzogen und privaten Großunternehmen gegeben wird. Für den Durchschnittsbürger bedeutet dies bloß, dass Eingriffe in sein Privatleben weniger durch die Regierung, sondern durch große Firmen geschehen, denen zum Beispiel erlaubt wird, mehr Chemikalien in sein Trinkwasser zu leiten und damit sein Krebsrisiko zu erhöhen. Die Konservativen halten den Durchschnittsbürger für einen Dummkopf und nutzen seinen Zorn auf die Großen in der Regierung zur Vergrößerung der Macht der Großen in der Geschäftswelt.

16Wenn jemand den Zweck von Propaganda in einem bestimmten Fall gutheißt, nennt er sie im Allgemeinen »Erziehung« oder mit einem ähnlichen Euphemismus. Doch Propaganda bleibt Propaganda, unabhängig vom Zweck, für den sie eingesetzt wird.

17Siehe auch Anm. 13

18Wir wollen zur Panama-Invasion weder Zustimmung noch Ablehnung zum Ausdruck bringen und bringen das Beispiel nur zur Verdeutlichung unseres Punkts.

19Als die amerikanischen Kolonien noch unter britischer Herrschaft standen, gab es weniger gesetzlich garantierte Freiheiten als nach dem Inkrafttreten der amerikanischen Verfassung, und doch gab es im vorindustriellen Amerika mehr persönliche Freiheiten, sowohl vor als auch nach dem Unabhängigkeitskrieg, als nach der Industriellen Revolution. Wir zitieren aus dem Werk Violence in America: Historical and Comparative Perspectives, hg. von Hugh Davis Graham und Ted Robert Gurr, Kapitel 12, S. 476-478, Roger Lane: »Die allmähliche Erhöhung der Standards gesellschaftlichen Benehmens und mit ihr die zunehmende Zuverlässigkeit der offiziellen Polizei (im Amerika des 19. Jahrhunderts) … waren der gesamten Gesellschaft gemein. … Die Veränderung der sozialen Umgangsformen vollzieht sich so langfristig und so umfassend, dass ein Zusammenhang mit dem grundlegendsten zeitgenössischen gesellschaftlichen Prozess anzunehmen ist, dem Prozess der industriellen Urbanisierung selbst. … 1835 hatte Massachusetts eine Bevölkerung von etwa 660.940, davon waren 81% dort geboren und lebten in vorwiegend vorindustriellen ländlichen Gebieten. Die Bürger genossen beträchtliche persönliche Freiheiten. Ob sie Fuhrmänner, Farmer oder Handwerker waren, sie waren daran gewöhnt, ihren Tagesablauf selbst zu bestimmen, und das Wesen ihrer Tätigkeit machte sie voneinander unabhängig. … Persönliche Schwierigkeiten, Sünden, selbst Verbrechen verursachten im Allgemeinen kein größeres gesellschaftliches Interesse. … Doch die zweifache Bewegung in die Städte und in die Fabrik, die 1835 gerade begann, verursachte sichtbare Veränderungen des persönlichen Verhaltens, das ganze 19. Jahrhundert hindurch bis ins 20. Jahrhundert. Die Fabrik erforderte Regelmäßigkeit, das Leben wurde vom Rhythmus von Uhr und Kalender bestimmt und von den Forderungen der Vorarbeiter und Aufseher. Das Leben in enger Nachbarschaft in den Städten verbat nun viele Dinge, die zuvor nichts Anstößiges hatten. Sowohl Arbeiter als auch Angestellte in größeren Unternehmen waren auf ihre Kollegen angewiesen; da die Arbeit des einen vom anderen abhing, die eigenen Angelegenheiten waren nicht mehr nur die eigenen.
Die Folgen dieser neuen Organisationsform wurden um 1900 sichtbar, als 76% der inzwischen 2.805.346 Einwohner von Massachusetts Städter waren. Gewalttätiges oder ungewöhnliches Verhalten, das in einer ungezwungenen, unabhängigen Gesellschaft toleriert werden konnte, war in der formelleren, kooperativen Atmosphäre der späteren Zeit nicht mehr tragbar. … Die Verstädterung hatte, kurz gesagt, eine Generation hervorgebracht, die fügsamer, stärker sozialisiert und >zivilisierter< war als ihre Vorfahren.«

20siehe auch Anm. 16

21Apologeten des Systems zitieren gerne Fälle, in denen Wahlen durch eine oder zwei Stimmen entschieden wurden, diese Fälle sind aber äußerst selten.

22»Geographische, religiöse und politische Unterschiede unberücksichtigt, lebt heute in technisch entwickelten Ländern der Mensch unter ganz verwandten Bedingungen. Der Alltag eines christlichen Bankangestellten in Chicago, eines buddhistischen in Tokio und eines kommunistischen in Moskau hat mehr Verwandtes als das Leben irgendeines der drei mit dem Leben irgendeines Mannes vor tausend Jahren. Diese Verwandtschaft ruht in der gemeinsamen Technik […].« L. Sprague de Camp, The Ancient Engineers; deutsch: Ingenieure der Antike, Düsseldorf/Wien 1965, S. 26. Die Lebensläufe der drei Bankangestellten sind nicht IDENTISCH. Ideologie hat sicher EINIGE Auswirkungen. Aber um zu überleben, müssen sich alle technologischen Gesellschaften in einer ANNÄHERND gleichen Richtung entfalten.

23Man stelle sich nur vor, ein verantwortungsloser Genetiker erschaffe einen Haufen von Terroristen.

24Ein weiteres Beispiel unerwünschter Folgen des medizinischen Fortschritts wäre eine verlässliche Heilmethode gegen Krebs. Selbst wenn die Behandlung so teuer wäre, dass sie nur der Elite zugute käme, würde sie den Anreiz, sich gegen den Austritt krebserregender Stoffe in die Umwelt einzusetzen, schwächen.

25Da es für die meisten paradox klingen mag, dass eine große Anzahl von guten Sachen zu einer schlechten Sache werden kann, wollen wir diesen Punkt mit einer Analogie illustrieren. Nehmen wir an, dass A mit B Schach spielt. Dabei schaut C, ein Großmeister im Schach, A über die Schulter. Selbstverständlich möchte Adas Spiel gewinnen, wenn C ihm also einen guten Zug empfiehlt, tut er A damit einen Gefallen. Nehmen wir jetzt aber an, C empfiehlt A ALLE Züge. Dann tut er A in jedem einzelnen Moment einen Gefallen, wenn er ihm den besten Zug zeigt, aber wenn er ALLE Züge für ihn tut, dann verdirbt er das Spiel, denn es hat keinen Sinn für A, das Spiel zu spielen, wenn jemand anderes alle seine Züge macht.
Die Situation des modernen Menschen gleicht der von A. Das System erleichtert das Leben des Einzelnen auf vielerlei Weise, aber gerade dadurch beraubt es ihn der Kontrolle über sein eigenes Schicksal.

26Vgl. Anm. 16

27Wir betrachten hier nur die Konflikte zwischen allgemein anerkannten Werten. Um der Einfachheit willen verzichten wir auf eine Darstellung von Wertvorstellungen von »Außenseitern« wie der, dass die ursprüngliche Natur generell wichtiger sei als das wirtschaftliche Wohlergehen der Menschen.

28Eigeninteresse bedeutet nicht immer MATERIELLES Eigeninteresse. Es kann auch um die Erfüllung psychischer Bedürfnisse gehen, zum Beispiel die eigene Ideologie oder Religion zu fördern.

29Eine Einschränkung: Es ist im Interesse des Systems, in einigen Gebieten Freiheit zu einem genau umschriebenen Grad zu gewähren. Zum Beispiel nützt ökonomische Freiheit (mit angemessenen Einschränkungen und Auflagen) erwiesenermaßen dem Wirtschaftswachstum. Im Interest des Systems liegt aber nur geplante, fest umrissene und begrenzte Freiheit. Der Einzelne muss immer an der Leine geführt werden, selbst wenn diese Leine manchmal lang ist. Vgl. Abschnitte 94 und 97.

30Wir wollen damit nicht behaupten, die Leistungsfähigkeit oder das Überlebenspotenzial einer Gesellschaft stünden stets in einem umgekehrten Verhältnis zum Ausmaß von Unterdrückung oder Unbehagen, dem die Gesellschaft die Menschen aussetzt. Das ist sicherlich nicht der Fall. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass viele primitive Gesellschaften die Menschen weniger unterdrückt haben, als es die europäische Gesellschaft getan hat, aber die europäische Gesellschaft hat sich als wesentlich leistungsfähiger als jede primitive Gesellschaft erwiesen und war aufgrund ihres technologischen Fortschritts diesen Gesellschaften immer überlegen.

31Wer glaubt, eine leistungsfähigere Polizei sei unzweideutig eine gute Sache, weil sie Verbrechen verhindere, sei daran erinnert, dass das, was das System als Verbrechen definiert, nicht notwendigerweise auch von einem SELBST als Verbrechen betrachtet wird. Heute ist es ein »Verbrechen«, Marihuana zu konsumieren, und in einigen Staaten der USA auch der Besitz einer nichtregistrierten Handfeuerwaffe. Morgen ist vielleicht der Besitz JEGLICHER Feuerwaffe, registriert oder nicht, ein Verbrechen, und dasselbe mag für missbilligte Erziehungsmethoden wie die körperliche Züchtigung gelten. In manchen Ländern ist die Äußerung einer abweichenden politischen Meinung ein Verbrechen, und es gibt keine Gewissheit, dass dies in den USA nicht auch passieren könnte, da keine Verfassung und kein politisches System ewig dauern.
Wenn eine Gesellschaft eine starke und mächtige Polizei braucht, dann liegt etwas in dieser Gesellschaft sehr im Argen; sie muss die Menschen stark unter Druck setzen; sie ist deshalb genötigt, Menschen unter Druck zu setzen, da sich so viele weigern, sich an die Vorschriften zu halten. In der Vergangenheit sind viele Gesellschaften ohne offizielle oder mit einer schwachen Polizei ausgekommen.

32Sicher hatten auch vergangene Gesellschaften Einflussmöglichkeiten auf menschliches Verhalten, diese waren aber verhältnismäßig primitiv und wirkungslos verglichen mit den technologischen Möglichkeiten, die jetzt entwickelt werden.

33Einige Psychologen haben ihre Geringschätzung menschlicher Freiheit allerdings öffentlich bekanntgegeben. Und der Mathematiker Claude Shannon wird in Omni (August 1987) mit den Worten zitiert: »Ich sehe eine Zeit vor mir, in der wir für die Roboter sein werden, was Hunde jetzt für Menschen sind, und ich stimme für die Maschinen.«

34Vgl. Anm. 16

35Das ist keine Science-Fiction! Nachdem wir den Abschnitt 154 niedergeschrieben hatten, stießen wir auf einen Artikel im Scientific American, demzufolge Wissenschaftler an Methoden, mit denen mögliche zukünftige Verbrecher identifiziert und mit biologischen und psychologischen Mitteln behandelt werden können. Einige Wissenschaftler setzen sich für die obligatorische Anwendung dieser Behandlungen ein, die in nächster Zeit verfügbar sein werden. (Siehe »Seeking the Criminal Element« von W. Wayt Gibbs, Scientific American,, März 1995.) Man mag denken, dies sei schon in Ordnung, weil damit ja nur die potenziellen Gewaltverbrecher behandelt würden. Doch dort würde man sicher nicht stehen bleiben. Als nächstes würde man auf diese Weise potenzielle Alkoholiker am Steuer behandeln (die auch Menschenleben bedrohen), dann würde man sich diejenigen vornehmen, die ihre Kinder prügeln, dann die Umweltschützer, die Holzfällertransporte sabotieren, und schließlich jeden, dessen Verhalten nicht systemkonform ist.

36Ein weiterer Vorteil der Natur als Gegen-Ideal zur Technologie liegt darin, dass die Natur vielen Menschen eine Art religiöser Verehrung einflößt, sodass die Natur vielleicht in religiöser Form angebetet werden könnte. Zwar hat die Religion in vielen Gesellschaften als Rechtfertigung und Stütze der etablierten Ordnung gedient, aber ebenso oft bot Religion die Basis für einen Aufstand. Es wäre also von Nutzen, den Aufstand gegen die Technologie mit einem religiösen Element zu versehen, umso mehr, als die westliche Gesellschaft heute keine starke religiöse Grundlage besitzt. Heutzutage wird die Religion entweder zur billigen und leicht zu durchschauenden Unterstützung von engstirnigem, kurzsichtigem Egoismus genutzt (einige Konservative bedienen sich ihrer auf diese Weise), oder sie wird zynisch missbraucht, um Geld damit zu machen (von vielen Predigern), oder sie ist zu krudem Irrationalismus degeneriert (bei fundamentalistischen protestantischen Sekten), oder aber sie stagniert einfach (im Katholizismus oder im gewöhnlichen Protestantismus). Am nächsten kommt der Vorstellung von einer starken, weit verbreiteten dynamischen Religion noch die Quasi-Religion der linksgerichteten Ideologie, die der Westen jüngst erlebt hat, aber die Linke heute ist zersplittert und hat kein klares, einheitliches, begeisterndes Ziel.
Somit existiert ein religiöses Vakuum in unserer Gesellschaft, das man vielleicht durch eine Religion ausfüllen könnte, in deren Zentrum die Natur als Gegensatz zur Technologie steht. Es wäre allerdings ein Irrtum, wenn man versuchen würde, eine künstliche Religion zusammenzubasteln, die diese Rolle übernimmt. Eine solche erfundene Religion wäre ein Misserfolg. Ein Beispiel dafür ist die »Gaia«-Religion. Glauben ihre Anhänger WIRKLICH daran oder spielen sie bloss Theater? In diesem Fall wäre ihre Religion schließlich ein Flop. Es wäre wohl am besten, nicht den Versuch zu machen, in den Konflikt Natur gegen Technologie die Religion einzuführen, wenn man nicht selbst WIRKLICH an diese Religion glaubt und meint, dass sie auch in anderen Menschen tiefen, starken, echten Anklang finden wird.

37Wir setzen voraus, dass es den einen entscheidenden Durchbruch geben wird. Es ist auch denkbar, dass das industrielle System graduell und stückweise abgeschafft wird. Vgl. die Abschnitte 4 und 167 sowie die Anm. 38.

38Es ist sogar (entfernt) denkbar, dass die Revolution nur in einer massiven Haltungsänderung gegenüber der Technologie bestehen würde, die eine stufenweise und relativ schmerzlose Zersetzung des industriellen Systems zur Folge hätte. Das wäre aber ein ausgesprochener Glücksfall. Es ist viel wahrscheinlicher, dass der Übergang zu einer nichttechnologischen Gesellschaft sehr schwierig und voller Konflikte und Katastrophen sein wird.

39Die wirtschaftliche und die technologische Struktur einer Gesellschaft sind für das normale Leben eines Durchschnittsbürgers wesentlich wichtiger als ihre politische Struktur. Vgl. Abschnitte 95 und 119 und die Anm. 19 und 22.

40Diese Behauptung bezieht sich auf einen Anarchismus nach unserem besonderen Verständnis. Eine Reihe von sehr verschiedenen gesellschaftlichen Einstellungen wurden als »anarchistisch« bezeichnet, möglicherweise werden auch viele, die sich selbst zu den Anarchisten zählen, unsere Behauptung nicht akzeptieren. Auch sei angemerkt, dass es eine gewaltlose anarchistische Bewegung gibt, deren Mitglieder FC wahrscheinlich nicht als Anarchisten anerkennen würden und sicherlich auch die gewalttätigen Methoden von FC nicht für angemessen halten.

41Viele Linke sind auch durch Feindseligkeit getrieben, aber die Feindseligkeit entsteht wohl teilweise aus dem frustrierten Bedürfnis nach Macht.

42Wir möchten betonen, dass hier jemand gemeint ist, der mit diesen BEWEGUNGEN, wie sie heute in unserer Gesellschaft bestehen, sympathisiert. Jemand, der glaubt, dass Frauen, Homosexuellen usw. gleiche Rechte zustehen, ist nicht notwendigerweise ein Linker. Die feministische, Schwulen- usw. -bewegung, die heute in unserer Gesellschaft existieren, haben diesen besonderen ideologischen Ton, der linksgerichtete Ideologie charakterisiert, und wenn man zum Beispiel für die Gleichberechtigung von Frauen ist, folgt daraus nicht notwendigerweise, dass man mit der feministischen Bewegung, wie sie heute existiert, sympathisiert.

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Alfredo M. Bonanno – Insurrektionalistischer Anarchismus https://panopticon.blackblogs.org/2022/11/03/alfredo-m-bonanno-insurrektionalistischer-anarchismus/ Thu, 03 Nov 2022 11:47:19 +0000 https://panopticon.noblogs.org/?p=3498 Continue reading ]]> Alfredo M. Bonanno

Insurrektionalistischer Anarchismus


– Einleitung von der Soligruppe für Gefangene

– Einleitung zur zweiten Auflage

– Einleitung zur zweiten spanischen Ausgabe des Sammelbandes meiner Schriften mit dem Titel: No podréis pararnos. La lucha anarquista revolucionaria en Italia – Ihr könnt uns nicht aufhalten. Der revolutionäre anarchistische Kampf in Italien

– Einleitung zur ersten Auflage

– Ausgeschlossene und Eingeschlossene

– Veränderungen der Welt der Arbeit und der Schule

a) Beziehungen zwischen Inflation und Beschäftigung

b) Der neue Beruf: Flexibilität

c) Die Welt der Schulbildung

– Verlust der Sprache

– Verlust der Kultur

– Die gute Technologie

– Die Sprache der Technik

– Das „Ende“ der Krise

– Affinität

– Informelle Organisation

– Das revolutionäre Projekt

– Redaktionelle Anmerkungen


Einleitung von der Soligruppe für Gefangene, Oktober 2022

Diese Textsammlung, wenn auch mit ähnlichen Titel, ist nicht dieselbe wie die 2015 von Edition Irreversibel und Konterband veröffentlicht wurde, die den Namen Anarchismus und Aufstand, von Alfredo Maria Bonanno. Diese Textsammlung ist eine von einer Reihe von Texten die Alfredo M. Bonanno vor langer Zeit veröffentlichte, welche wir nun ins Deutsche übersetzt und selber veröffentlicht haben. Die Zusammenstellung und der Sinn dahinter stammt nicht aus unserer Hand, am Ende dieser Textsammlung stehen die Quellen.

In kommender Zeit werden neben dieser Sammlung genauso Stück für Stück alle Teile des Buches Movimento e progetto rivoluzionario. Astensionismo elettorale anarchico veröffentlicht werden, von welchen wir schon ein paar übersetzt haben. Aus dieser Reihe haben wir Movimento fittizio e movimento reale und I limiti dell’anarcosindacalismo, genauso wie Critica del sindacalismo, Contro l´amnistia und Autogestione e anarchismo fertiggemacht und auch bald veröffentlichen. So werden wir peu à peu die Schriften von Alfredo übersetzten, veröffentlichten und verbreiten.

Für jeden Text werden wir eine Einleitung veröffentlichen, genauso wie die Gründe warum wir dies Taten und welche unsere Absichten und Ideen dahinter sind.

Bei diesem Text ist es eher ein skurriler Zufall, da wir der Meinung waren, dass sich Alfredo mit der Frage der nationalen Befreiungsbewegungen näher beschäftigen würde, welches er aber nicht tut, sofern er sie nur am Rande erwähnt. Dies bemerkten wir aber mit voller Gewissheit ganz zum Schluss. Wir sind auch der Meinung, dass diese Textreihe nicht wirklich mit dem übereinstimmt, was Alfredo selber zu seinen Einleitungen schreibt, zwar ist es für ihn als gewisser Sammelband für das bessere Verständnis des aufständischen Anarchismus zu verstehen, finden wir hier doch Texte vor, die eher eine Analyse der Situation, vor allem in Italien, in den 90ern sind. Dennoch beherbergt diese Textsammlung viele Fragen und Analysen, die im gegenwärtigen Zeitgeist und in der gegenwärtigen Situation, zu überprüfen sind, die als sehr aktuell und eloquent verstanden werden müssen. Alfredo analysiert nicht nur den modernen kapitalistischen Staat und die technologischen Entwicklungen des Kapitals, sondern auch deren Schwachstellen, ihre immanenten und inhärenten krisenhaften Imperative, sprich das Kapital ist Krise, es gerät nicht immer wieder in welche, sondern ist von diesen nicht zu trennen. Die genaueren Aspekte, die er entlang dieser Schrift hervorbringt, sollten von der gegenwärtigen realen revolutionären Bewegung überprüft werden, man sollte die Zeit, in der es geschrieben wurde, berücksichtigen und dennoch mitten in einer weltweiten ökonomischen Krise, die sich zuspitzt, das Kapital ist gerade mehr als gewohnt in die Schieflage geraten, was dieses stets charakterisiert, wo die destruktive Kraft des Kapitals das komplette Leben auf diesem Planeten zu zerstören droht, ist diese Schrift ein wichtiger Vorschlag für alle Anarchisten, Anarchistinnen und sämtlichen Revolutionären zu verstehen, die der Herrschaft des Kapitalismus ein Ende setzen werden. Wir könnten noch vieles mehr zu dieser Textsammlung sagen, aber dies würde das qualvolle Lesen dieser erleichtern.

Wir haben uns, wie bei allen Übersetzungen, uns viel Mühe gegeben, was nicht ausschließt, dass uns einige Fehler unterlaufen sind, sollte dies irgendwem auffallen, bitte meldet euch bei uns. Trotzdem bedanken wir uns an dieser Stelle bei dem Gefährten der uns mit der Korrektur aus dem Italienischen geholfen hat nochmals.

Einleitung zur zweiten Auflage

Hinter jedem Aspekt der anarchistisch insurrektionalistischen1 Theorie steht ein Projekt, ich sage nicht, ein erstickter Rahmen, der in allen seinen Teilen vollständig ist, sondern ein Projekt, das hinreichend erkennbar ist, weit über diese Seiten und die vielen anderen hinaus, die ich in meinem Leben zu diesem gequälten Thema geschrieben habe. Wenn dies nicht berücksichtigt wird, kann eine analytische Klärung nicht viel ausrichten, sondern läuft Gefahr, das zu bleiben, was sie ist: eine Ansammlung von Worten, die vorgeben, der Realität entgegenzuwirken, ein unangemessen idealistischer Anspruch. Die verlockenden Sukkulenten der klassischen deutschen Philosophie, mit ihren verführerischen Stacheln, haben schon viel Schaden angerichtet, ich hoffe, sie sind nicht noch mehr Spiegel für naive revolutionäre Lerchen.

Das soll nicht heißen, dass man das Problem der Methode ohne weiteres angehen kann, ohne zu berücksichtigen, was in allen Soßen gesagt worden ist, sogar von der klassischen deutschen Philosophie selbst, das wäre Naivität. In dieser Perspektive gibt es keine Abkürzungen oder bevorzugten Rezepte, sondern nur die harte revolutionäre Arbeit, das Studium und die Aktion. Die Ausrutscher, die ich in den letzten Jahren bei so vielen mehr oder weniger kantigen Zerstörern gesehen habe, trösten mich in dieser Starrheit der Absichten. Es wäre sinnlos, die eigene Radikalität für extrem zu halten, wenn man dann nur die Hand versteckt, ohne den Stein zu werfen. Dies ist kein Wettlauf um das aussagekräftigste Bild, um den Zauberspiegel, der sich mit schillernden Farben füllt und vier Sonntagsgedanken aus Perugina-Küssen kostbar garniert.

Dieses Büchlein veranschaulicht eine Methode, die anarchische und insurrektionalistische Methode, aber sie spricht von einer Erfahrung, nicht von Theorien, die sich mehr oder weniger widersprechen oder sogar vertragen. Eine Erfahrung, die sich im Laufe der Zeit fortsetzt und sich sozusagen vor Ort, in der konkreten Aktion, ablagert, die ihre Form und ihren literarischen Ausdruck fast zufällig in Artikeln, Berichten, Flugblättern oder anderen, sporadisch den Erfordernissen des Augenblicks anvertrauten Texten findet. Anstatt darin ein Element der Dissoziation2 zu sehen, sehe ich darin, wie ich es immer gesehen habe, eine besondere Bewegung, ein charakteristisches Zusammentreffen von Ideen und Aktionen, so dass von den letzteren ein besonderes Licht auf die ersteren fällt und umgekehrt, ohne Lösung der Kontinuität.

Viele, vom Innenminister abwärts, bis hin zum letzten Fan der Phantasie, haben darin eine unverdauliche Mischung aus kraftvollem, reifem Denken und alberner, kindischer Phantasie gesehen. Was kümmert mich das? Ich verfüge über eine ausreichend dicke Haut, um zu erkennen, dass es gleichermaßen weh tut, wenn die Kritik von einem Carabinieri kommt, der davon träumt, mir möglichst viele Jahre Gefängnis zu verpassen, und wenn sie in das Lob eines Schwachsinnigen oder in das literarische Geschwafel eines Esels getarnt, ich würde fast sagen, verpackt ist.

Jede Methode beruht auf der Realität, sonst ist sie keine Methode und kann auch kein Projekt beleben, sie ist nur eine Bewegung nervöser und unermüdlicher Beine, ein Spaziergang im Märchenwald, ein Enträtseln von Sphinx-Rätseln, ein Lösen von Problemen der Darstellenden Geometrie, die nur für Kinder schwierig sind. Das Leben ist eine zu harte Lektion, um sie zu akzeptieren, selbst als Mitreisende, als schwindelnde Parasiten, die gerne über ihre Eindrücke und ihre Sehnsucht nach Freiheit sprechen. Ein schweres Wort, sehr schwer.

Die Versuchung, frei zu sein, ist ungeheuerlich, man müsste sich die Brust aufreißen. Schon das Wort Freiheit ist ein Skandal, dass man es sagen kann, ohne rot zu werden, ist ein Skandal. Dass ich darauf bestehe, dieses Wort auszusprechen, ohne mich den Konsequenzen zu stellen, die das Wesen dessen, was dieses Wort impliziert und mir vor Augen führt, mit sich bringt, ist ebenso skandalös. Freiheit kann man ja nicht sagen, also ist dieses Wort Freiheit trügerisch und täuscht mich, sobald ich es ausspreche. Es wird zwar gesagt, aber es ist ein grundlegender Zusatz erforderlich, um mich selbst in Gefahr zu bringen. Diese Hinzufügung gibt dem Wort eine neue Bedeutung, unterbricht es und legt es kritisch bloß, durchschneidet die vielen bedeutungsvollen Brücken mit einem beharrlichen Geplapper, das von Laien in der Stimmung der Verrücktheit genährt wird, und entblößt es, indem es die Möglichkeit der Verwirklichung an die Oberfläche bringt. Verwirklichung der Freiheit um jeden Preis.

In dieser fragenden Phase gibt es einen Mechanismus, der in seinen Details noch verfolgbar ist, das Wort schwingt noch in der kritischen Geste mit, die sich mit dem bereits Gesagten auseinandersetzt, aber es ist nicht nur dies. Die tiefe Bedeutung dieses Wortes liegt gerade darin, dass man sich offen der eigenen Wahrheit stellen kann, ohne dass irgendetwas als Schutzschild dient, hinter dem man die Schläge abfedern kann. Der Mechanismus, von dem ich spreche, die revolutionäre Methode, kann nicht darauf abzielen, die Ergebnisse zu beruhigen – in diesem Fall wäre es eine wirklich positive Kritik, die philosophisch darauf ausgerichtet ist, zu bewahren und nicht zu zerstören -, sondern er ist darauf ausgerichtet, weiter zu beunruhigen, ein letztes Mal vor der Beteiligung zu zerreißen, nicht nur mir, sondern allen eine mögliche Schlussfolgerung zugänglich zu machen, die sich gerade durch die Anwendung der Methode und die Übernahme revolutionärer Verantwortung bietet.

Die außergewöhnliche neue Kondition/Bedingung, die ich auf diese Weise erahnen kann, ist die insurrektionalistische Methode, ein endloser Abgrund, von dem die wenigen angedeuteten Spuren, die ich als bereits geschehen ansehe, nur ein entferntes und blasses Bild sind.

Der Abstand zwischen dem Denken und der Aktion kann manchmal viel kürzer werden, und dann ist es der richtige Moment, um zuzuschlagen.

Triest, 20. Oktober 2007

Alfredo M. Bonanno

 

Einleitung zur zweiten spanischen Auflage des Sammelbandes meiner Schriften mit dem Titel: No podréis pararnos. La lucha anarquista revolucionaria en Italia3

Die Gefährten und Gefährtinnen, die die erste Auflage von No podréis pararnos. La lucha anarquista revolucionaria en Italia veröffentlicht haben, teilten mir mit, dass sie in die zweite Auflage eine Einleitung von mir einfügen möchten. Ich teile dieses Bedürfnis, weil die Auswahl der veröffentlichten Schriften das Vorhandensein von etwas Gemeinsamen, das Vorhandensein eines sowohl insurrektionellen als auch anarchistischen Projekts, vermuten lässt.

Der Text: El proyeto revolucionario, der in dem Buch enthalten ist, umfasst El trabajo del revolucionario, aus dem Jahr 1988, Afinidad y organización informal, aus dem Jahr 1985, Organización de sintesis y organización informal, ebenfalls aus dem Jahr 1985, Autonomia del individuo und ein Teil meines Buches Autogestione e anarchismo, aus dem Jahr 19774. In diesen Schriften spreche ich das Problem des revolutionären Projekts an, aber viele Aspekte davon werden nicht vertieft, zumindest auf der Grundlage der Überlegungen, die ich in den letzten Jahren anstellen konnte.

Viele Gefährten und Gefährtinnen haben die Anwesenheit dieses revolutionären Projekts in meinen Analysen hervorgehoben und wie es seit dem Kampf in Comiso gegen den im Bau befindlichen amerikanischen Stützpunkt in den Jahren 1982-1983 immer detaillierter und dringlicher in Form von Schriften und Aktionen geworden ist. Doch das Konzept des Insurrektionalismus selbst, der mögliche Traum eines insurrektionelen Anarchismus, der in der Lage ist, die Macht anzugreifen, indem er nicht nur die Herzen, sondern auch die Körper der Menschen bewegt, die methodologischen korrekten Konzepte der Affinität, der informellen Organisation, der Basiskerne, der Eingeschlossenen und der Ausgeschlossenen usw., machen das Projekt nicht deutlich.

Was meine ich mit Projekt?

Nicht nur eine bestimmte Menge mehr oder weniger umfangreicher, mehr oder weniger interessanter Analysen, Pamphlete, Bücher, Zeitungen, ja nicht einmal eine Reihe konkreter Aktionen, vom Kampf in Comiso bis zu den gegenwärtigen Kämpfen gegen den Bau von Hochgeschwindigkeitszügen. Mein Projekt lebt in meinem Herzen und ernährt sich von meinem Leben. Ich möchte mich bei dieser einleitenden Gelegenheit bemühen, etwas mehr zu sagen.

Zunächst einmal, was es nicht ist, um so die Bedenken derjenigen zu zerstreuen, die mir oft vorgeworfen haben, ich sei zu sehr auf organisatorische Details fixiert. Das Projekt ist kein Fundament. Aber wenn es kein Fundament gibt, d.h. wenn es sich nicht auf eine stereotype Form reduzieren lässt – und die Staatsrechtslehre der Macht alles tut, um diese Form den Polizisten und Richtern zur Verfügung zu stellen – was ist es dann? Ich denke, es ist eine Vorwegnahme von etwas, das später kommen kann, von einer Verwirklichung, die immer in der Schwebe hängt und nie vollständig verwirklicht wird, von einer Konkretheit, die vor mir und vor Tausenden von Gefährtinnen und Gefährten atmet, einer Konkretheit, die von Fakten genährt wird, die aber in denselben Fakten nicht abgeschlossen ist.

Das Projekt ist in den vielen Strömen, in denen es weiter pulsiert, ein Verweis auf die Zukunft. Es spricht von etwas, das heute zu tun ist, aber auf eine mögliche zukünftige Verwirklichung projiziert wird. Das Projekt beinhaltet also eine mögliche Bedingung, die in der Zukunft verwirklicht werden wird, an die ich glaube und für die ich bereit bin zu kämpfen. Ich spreche hier von einer Idee, artikuliert und wunderbar, komplex und schwer zu verstehen, ich spreche von Anarchie. Und ich spreche von einem Wert, der für mich hier ist, in meinem Herzen, als Vorgriff auf die Zukunft, auf die Zukunft, an die ich glaube, und nicht als literarische Übung. Der Wert, den das Projekt für mich hat, ist ein gegenwärtiger Wert, der mein Leben lenkt, der mich dazu bringt, jetzt Entscheidungen zu treffen und zu handeln (A.d.Ü., im Sinne von Aktionen durchzuführen), und nicht ein bloßer Zeithorizont, auf den ich zusteuere, und sei es nur aus der einfachen Tatsache heraus, dass ich lebe und mich dem Tod nähere.

Es gibt kein Projekt ohne einen Glauben an die Zukunft, genauso wie es keine Zukunft ohne ein mehr oder weniger detailliertes Projekt gibt. Ich erinnere mich daran, dass die Parole der schwarzen Insurrektion in Los Angeles vor etwa fünfzehn Jahren „No future“ lautete, und dies markierte die Grenze dieser Revolte, es war in gewisser Weise sein eigener Grabgesang.

Wenn ich ein Projekt habe, kann ich die Starrheit der Gegenwart, die stumpfe Bösartigkeit bestimmter Machtverhältnisse, das passive Hohngelächter der Macht, die nur auf einen Fehler von mir wartet, um mich zu zerstören, durchbrechen, mit meinem Projekt bin ich direkt in der Zukunft, ich akzeptiere nicht mehr die Unterordnung unter die Gegenwart, deshalb bin ich kaum kontrollierbar. Die Zukunft, meine Zukunft, aber auch die der Gesellschaft als Ganzes, ist nicht nur möglich, sondern auch realisierbar, und diese Möglichkeit der Verwirklichung ist mit meiner Erfahrung und der Erfahrung, die die Welt und die Gesellschaft sammeln, verflochten. Ein Projekt zu haben und für seine mögliche Verwirklichung zu agieren, bedeutet nicht nur zu träumen, sondern auch zu agieren, also Aktionen auf der Grundlage dessen, was ich bin, und auf der Grundlage dessen, was die Gesellschaft ist, auf der historischen Grundlage, die mich begleitet und die uns alle begleitet, zu realisieren. In die Zukunft projiziert zu leben bedeutet nicht, die eigene Geschichte und die Geschichte, in die die Gesellschaft eingebettet ist, zu vergessen, sondern sie kennenzulernen, indem man die vielen Unterschiede begreift, nicht nur die individuellen, sondern auch die kontinentalen, nationalen, regionalen, bis hin zu den einzelnen Gemeinschaften, den kleinsten.

Ich denke, dass das Projekt, an dem ich mein ganzes Leben lang gearbeitet habe, etwas ist, das ständig im Entstehen begriffen ist, aber noch nicht in der einen oder anderen Realisierung zu erkennen ist. Deshalb bleibe ich ungerührt von der Kritik, die immer wieder an Anarchistinnen und Anarchisten geübt wird, wonach sie bei all ihrer harten Arbeit, ihren Aktionen und Theorien immer mit der Faust im Sack dastehen. Die Schönheit der Anarchie liegt gerade darin, dass sie sich der Geschichte entzieht und ihren festen Platz in der Zukunft hat. Diese Idee widerspricht jeder Logik der Entschlossenheit, jedem dialektischen Mechanismus, mehr oder weniger revidiert und modifiziert, jedem Anspruch, die Geschichte als Lehrmeister des gelebten Lebens zu sehen.

Aber das Projekt ist, wie gesagt, kein Traum, der die unglaublichsten und absurdesten Formen annehmen kann, es ist ein Traum der besonderen Art, ein Tagtraum. Das Projekt, das sich an eine zukünftige Möglichkeit wendet, trägt die historische Notwendigkeit in sich, die es lebendig und funktionsfähig macht, die es dem möglichen Schicksal einer bloßen literarischen Flüchtigkeit entzieht. Sie ist in der Möglichkeit der Zukunft verwurzelt, aber in ihrem Inneren wird sie von den Koordinaten der Geschichte genährt, sie ist Geschichte, deshalb reagiert sie auf bestimmte Prinzipien, sie kann nicht ohne sie auskommen. Obwohl sie nicht deterministisch denkbar ist, bestimmt sie in ihrer Verwirklichung die vor ihr liegende Wirklichkeit. Der Insurrektionalismus entstand als Projekt aus dem begrenzten Traum der „grand soire“, aus der Revolution als spontanem und unvorhersehbarem Ereignis, aus dem vagen Millenarismus, der spätestens seit der Pariser Kommune weit verbreitet war. Der insurrektionalistische Anarchismus ist ein revolutionäres Projekt, das sich in die Zukunft projiziert, aber er hat seine Grundlage in der Geschichte und im Erbe der Kämpfe, die die Ausgebeuteten in der ganzen Welt angehäuft haben. Dieses Erbe macht die Möglichkeit der Zukunft lesbar. Wäre das insurrektionalistische Projekt nicht anarchistisch, würde es vor den tragischen Farcen enden, die von so vielen autoritären Revolutionen auf der ganzen Welt gespielt wurden und weiterhin gespielt werden. Nur das anarchistische Projekt der organisierten Revolte bietet eine positive Möglichkeit, die Idee der sozialen Revolution mit Leben zu füllen und aktiv zu gestalten, ohne sich in kleinliche Projekte zurückzuziehen, die oberflächlich betrachtet scheinbar bessere Aussichten bieten können.

Der anarchistische Insurrektionalismus als ein Projekt und als eine Aktion, die nie ganz abgeschlossen ist, weil sie sich ständig an die Zukunft wendet, kann sein und kann auch nicht sein, er muss nicht sein, so wie die Anarchie nicht notwendigerweise ein Merkmal der Zukunft ist, es ist keineswegs sicher, dass die Welt auf die Anarchie zusteuert, wie die kropotkinschen Deterministen im 19. Jahrhundert glaubten.

Bedeutet diese Macht nicht auch das mögliche Scheitern des insurrektionalistischen Projekts?

Nein. Der Indeterminismus5 ist eines der logischen Merkmale der Möglichkeit, die Tatsache, dass ein Projekt nicht verwirklicht wird, weder hier und jetzt noch dort und dann, beweist nicht die Unzuverlässigkeit des Projekts selbst. Und wenn es das Projekt selbst ist, das unvollständig und unvollendbar ist, gibt es keinen Zweifel an seiner Gültigkeit, die niemals durch dieses oder jenes Scheitern zerstört werden kann. Das revolutionäre Agieren ist diese Unvollständigkeit, es sei denn, man modifiziert das Projekt und reduziert die Revolution auf einen einfachen Wechsel des Herrschers/Chefs.

Diese wenigen Anmerkungen sollen verdeutlichen, dass das insurrektionalistische Projekt weder ein mehr oder weniger literarisch abgestimmtes Regelwerk ist, noch eine einfache Handlungsperspektive, wie man sie in Guerilla-Handbüchern findet.

Träume sind oft viel komplexer als die Realität.

Triest, 6. Januar 2007

Alfredo M. Bonanno

 

Einleitung zur ersten Auflage

Ein unangenehmer Widerspruch lauert unaufgelöst in diesem Buch und droht, der Leserschaft die Arbeit zu erschweren.

Ich sage gleich, dass diese einleitenden Zeilen überhaupt nicht hilfreich sein werden. Gleichzeitig sind sie aber auch für streng logische Zwecke unverzichtbar.

Die hier vertretene These ist das Ergebnis eines langen Weges des Ringens und Nachdenkens. Es handelt sich um eine schwierige und komplexe These, die nicht nur schwer darzulegen ist – was vielleicht ein Manko des Autors ist -, sondern auch ein für alle Mal in einige klare Elemente zu fassen ist.

Hier liegt der Widerspruch: das ganze Buch, das zu verschiedenen Zeiten über mehr oder weniger fünfzehn Jahre hinweg entstanden ist, spürt die Dringlichkeit und die Leidenschaft des Augenblicks, diese Einleitung, die kalt ist, tut es nicht. Hier habe ich die anatomische Absicht, die mit meinem ganzen Selbst kämpft, die grundlegenden Elemente des insurrektionalistischen Anarchismus aufzudecken. Wird das möglich sein? Ich weiß es nicht. Ich versuche es. Sollte die Lektüre dieser einleitenden Notizen das legitime Bedürfnis der Leserin oder des Lesers nach frischer Luft zu sehr bedrohen, dann lasst sie oder ihn das überspringen und tschüss.

Die Insurrektion der großen Massen oder eines ganzen Volkes zu einem bestimmten Zeitpunkt setzt bestimmte bereits vorhandene Elemente voraus, setzt zerrüttete soziale und ökonomische Verhältnisse voraus, wenn nicht gar eine Situation extremer Unfähigkeit des Staates, die Ordnung und die Einhaltung der Gesetze aufrechtzuerhalten, aber er setzt auch Individuen und Gruppen von Individuen voraus, die in der Lage sind, diese Zerrüttung jenseits der äußeren Zeichen, mit denen sie sich manifestiert, zu begreifen. Mit anderen Worten, man muss von Zeit zu Zeit in der Lage sein, über die oft zufälligen und sekundären Motivationen, die die ersten insurrektionellen Feuer, die ersten Zusammenstöße, die ersten Warnungen begleiten, hinauszusehen, um seinen eigenen Beitrag zum Kampf zu leisten und ihn nicht im Gegenteil als einfache und zersetzte Ungeduld mit der politischen Herrschaft an der Macht zu bremsen oder zu unterschätzen.

Doch wer sind die Personen, die bereit sind, diese Aufgabe in Angriff zu nehmen? Es könnten die Anarchistinnen und Anarchisten sein, nicht wegen ihrer grundlegenden ideologischen Entscheidung, ihrer erklärten Ablehnung jeglicher Autorität, sondern wegen der kritischen Fähigkeit, die sie haben sollten, um Kampfmethoden und Organisationsprojekte zu bewerten.

Außerdem können nur diejenigen, die rebellieren, die bereits rebelliert haben, wenn auch im Mikrokosmos ihres eigenen Lebens, die mit den Folgen dieser Rebellion konfrontiert waren und sie in vollen Zügen gelebt haben, die sensiblen Nerven und die nötige Intuition haben, um die Zeichen der sich anbahnenden insurrektionalistischen Bewegung zu erkennen. Nicht alle Anarchistinnen und Anarchisten sind Rebellen, und nicht alle Rebellen sind Anarchistinnen und Anarchisten. Erschwerend kommt hinzu, dass es nicht genügt, ein Rebell zu sein, um die Rebellion der anderen zu verstehen, sondern dass man auch bereit sein muss, zu verstehen, sich in die ökonomischen und sozialen Verhältnisse, mit denen man konfrontiert ist, zu vertiefen und sich nicht von der Flut der lautstarken Demonstrationen der populären Bewegung mitreißen zu lassen, selbst wenn diese mit dem Wind in den Segeln läuft und die ersten Erfolge die Fahnen der Illusion hochhalten. Kritik ist immer das erste Mittel, der Ausgangspunkt, aber es muss eine partizipatorische Kritik sein, eine Kritik, die das Herz mit einbezieht, die die Emotionen des tatsächlichen Kampfes gegen die Feinde aller Zeiten zum Klingen bringt, deren Gesichter zum ersten Mal im Staub aufgedeckt werden, und nicht eine mürrische Bewertung des Für und Wider.

Aber ein Rebell ist nicht genug, selbst wenn sich hundert Rebellen zusammentun, werden sie hundert Moleküle sein, die in der zerstörerischen Agonie der ersten Stunden verrückt werden, wenn der Kampf heftig lodert und alles hinwegfegt. Wichtige Figuren, die als Beispiel und Ansporn dienen, sind die Rebellen, die sich den Bedürfnissen des Augenblicks beugen. Je mehr ihr Gewissen sie zu dem oft blinden, aber wirksamen und radikalen Angriff veranlasst, desto mehr erkennen sie selbst eine unüberwindbare Grenze, sie sehen keinen organisatorischen Ausweg, sie warten auf Vorschläge, die von den aufbegehrenden Massen kommen, ein Wort hier, ein Wort dort, im Herzen des Kampfes, in den Momenten der Pause, wenn alle reden wollen, während sie darauf warten, den Kampf wieder aufzunehmen. Und sie sind sich nicht bewusst, dass selbst in diesen erheiternden Momenten immer auch Politiker lauern. Die Massen haben also nicht die Tugenden, die wir ihnen oft zuschreiben. Die Vollversammlung ist sicherlich kein Ort, an dem man sein Leben aufs Spiel setzt, aber das eigene Leben wird durch die Entscheidungen, die in der Vollversammlung getroffen werden, aufs Spiel gesetzt. Und die politischen Tiere, die in diesen kollektiven Momenten ihre Häupter erheben, haben immer eine klare Vorstellung davon, was sie vorschlagen wollen, sie haben ein schönes Programm der Rekuperation6, der Rückkehr zur Normalität, des Aufrufs zur Ordnung in der Tasche. Natürlich werden sie nichts sagen, was nicht politisch korrekt ist, und so werden sie für Revolutionäre gehalten, aber sie sind es doch, die politischen Tiere aller Zeiten, die den Grundstein für den Wiederaufbau der zukünftigen Macht legen, die den revolutionären Schwung rekuperieren7 wird, indem sie ihn in mildere Bahnen lenkt. Lasst uns die Zerstörung begrenzen, Gefährten und Gefährtinnen, bitte, schließlich ist es das, was uns gehört, was wir zerstören.

Vor anderen zu schießen und schneller zu sein, ist eine Wildwest-Tugend, die für einen Tag gut ist, danach muss man wissen, wie man seinen Kopf benutzt, und seinen Kopf zu benutzen bedeutet, einen Plan zu haben.

Und der Anarchist/Anarchistin kann nicht einfach ein Rebell sein, er muss ein Rebell mit einem Projekt sein. Das heißt, er muss sein Herz und seinen Mut mit dem Wissen und der Voraussicht der Aktion vereinen. Seine Entscheidungen werden daher immer vom Feuer der Zerstörung entzündet, aber durch das Holz der kritischen Analyse genährt werden.

Wenn wir einen Moment darüber nachdenken, gibt es kein Projekt, das spontan, wie man so schön sagt, mitten im Getümmel geboren werden kann. Es wäre töricht zu glauben, dass alles vom aufständischen Volk kommen muss, ein blinder Determinismus, der uns geknebelt in die Hände des ersten Politikers zu liefern droht, der auf einen Stuhl klettert und in der Lage ist, ein paar organisatorische und programmatische Linien anzudeuten, indem er mit vier rhetorisch aneinandergereihten Worten Rauch in die Augen wirft. Auch wenn die Insurrektion in erster Linie ein revolutionärer Moment großer kollektiver Kreativität ist, ein Moment, der analytische Anregungen von beträchtlicher Intensität liefern kann (man denke an die aufständischen Arbeiter der Pariser Kommune, die auf die Uhren schossen), kann er nicht die einzige Quelle theoretischer und planerischer (A.d.Ü. bezogen auf die Projektualität) Erkenntnisse sein. Die höchsten Momente des bewaffneten Volkes beseitigen zwar präventive Verzögerungen und Ungewissheiten, sie machen deutlich, was vorher verschwommen war, aber sie können nicht etwas beleuchten, das nicht da ist. Diese Momente sind der starke Scheinwerfer, der ein revolutionäres und anarchistisches Projekt realisierbar macht, aber dieses Projekt, auch in seinen methodologischen Umrissen, muss vorher existiert haben, muss vorher ausgearbeitet worden sein, wenn auch nicht in allen Einzelheiten, und, soweit möglich, experimentiert worden sein.

Wenn wir andererseits in Massenkämpfe, in Auseinandersetzungen um Zwischenforderungen eingreifen, tun wir das dann nicht fast ausschließlich, um unser methodologisches Erbe anzudeuten? Dass Fabrikarbeiter Arbeit fordern und versuchen, Entlassungen zu vermeiden, dass eine Gruppe von Obdachlosen versucht, eine Unterkunft zu bekommen, dass Gefangene für ein besseres Leben in Strafanstalten streiken, dass Schüler gegen eine Schule ohne Kultur rebellieren, all das interessiert uns bis zu einem gewissen Punkt. Wenn wir uns als Anarchistinnen und Anarchisten an diesen Kämpfen beteiligen, wissen wir sehr wohl, dass die quantitative Antwort, d.h. das Wachstum unserer Bewegung, sehr relativ ist, egal wie sie ausfällt. Oft vergessen die Ausgeschlossenen auch, wer wir sind, und es gibt keinen Grund, sich an uns zu erinnern, geschweige denn einen Grund, der auf Dankbarkeit beruht. In der Tat haben wir uns immer wieder gefragt, was wir als Anarchistinnen und Anarchisten und damit als Revolutionärinnen und Revolutionäre inmitten dieser rachsüchtigen Kämpfe tun, wir, die wir gegen die Arbeit, gegen die Schule, gegen jedes staatliche Zugeständnis, gegen das Eigentum und sogar gegen jede Art von Abmachungen sind, die gnädigerweise ein besseres Leben im Gefängnis ermöglichen. Die Antwort ist einfach. Wir sind dort, weil wir eine andere Methode haben. Und unsere Methode hat die Form eines Projekts. Wir sind an der Seite der Ausgeschlossenen, in diesen intermediären Kämpfen, weil wir ein anderes Modell vorschlagen, eines, das auf der Selbstorganisation der Kämpfe, auf dem Angriff, auf der permanenten Konfliktualität beruht. Das ist unsere Stärke, und nur für den Fall, dass die Ausgeschlossenen diese Angriffsmethode akzeptieren, sind wir bereit, an ihrer Seite zu kämpfen, selbst für ein Ziel, das an sich nur auf der Grundlage einer Forderung basiert (A.d.Ü., somit diese auch nicht verlässt).

Eine Methode bliebe in jedem Fall ein toter Buchstabe, ein Sammelsurium bedeutungsloser Worte, wenn sie sich nicht in einem Projekt artikuliert, einem Projekt, das in der Lage ist, dem spezifischen Problem, mit dem die Ausgeschlossenen konfrontiert sind, Substanz zu verleihen. So viele ängstliche Kritiker des anarchistischen Insurrektionalismus wären zu ihrem unterbrochenen Schlaf zurückgekehrt, wenn sie diesem Aspekt Aufmerksamkeit geschenkt hätten. Was nützt es uns, wenn wir uns vorwerfen, dass wir auf hundert Jahre alten methodologischen Forderungen beharren, wenn das, was wir sagen, nicht beachtet wird? Der Insurrektionalismus, von dem wir sprechen, ist etwas anderes als die glorreichen Tage auf den Barrikaden, auch wenn er in bestimmten Momenten die geeignetsten Anregungen für einen Kampf bieten kann, der auf einen Zusammenstoß auf den Barrikaden ausgerichtet ist. Nur, dass er an sich, als revolutionäre Theorie und Analyse, als Methode, die in einem Projekt verkörpert ist, diesem apokalyptischen Moment nicht unbedingt Rechnung trägt, sondern sich unabhängig von Fahnenschwingen und Gewehrsalven entwickelt und vertieft.

Viele Gefährten und Gefährtinnen sind sich der Notwendigkeit des Angriffs voll bewusst und bemühen sich nach Kräften, ihn zu realisieren. Sie erkennen verwirrt die Schönheit des Kampfes und der Konfrontation mit dem Klassenfeind, aber sie wollen sich nicht einem Mindestmaß an kritischer Reflexion unterziehen, sie wollen nichts von revolutionären Projekten hören, und so vergeuden sie weiterhin den Enthusiasmus ihrer Rebellion, der sich in tausend Rinnsale ergießt und schließlich in kleinen und uneinheitlichen Manifestationen der Intoleranz erlischt. Es gibt natürlich keine einheitliche Typologie dieser Gefährten und Gefährtinnen und man kann sagen, dass jeder von ihnen ein Universum für sich darstellt, aber sie alle, oder fast alle, haben ihre Verärgerung über jeden Diskurs, der methodologische Klarstellungen beinhaltet, gemeinsam. Unterscheidungen stören sie. Was nützt es mir, wenn ich von Affinitätsgruppen, von informeller Organisation, von Basiskernen, von Koordination spreche? Ist nicht alles klar, der Missbrauch und die Ungerechtigkeit, die Ausbeutung und die Grausamkeit der Macht stehen vor uns, deutlich sichtbar, sind sie nicht in den Menschen und Dingen verwirklicht, die in der Sonne liegen, als ob nichts sie stören könnte? Welchen Sinn ergeben Diskussionen, für die noch Zeit zu finden ist? Warum nicht sofort, hier und jetzt, angreifen, ja, warum nicht gleich die erste Uniform angreifen, die zur Hand ist? Schließlich war sogar ein „vernünftiger“ Mensch wie Malatesta in gewisser Weise dieser Meinung, als er sagte, dass er die individuelle Rebellion dem Abwarten vorzog, bis die Welt auf den Kopf gestellt wurde, um zu agieren.

Ich persönlich habe nie etwas dagegen gehabt, ganz im Gegenteil. Die Rebellion ist der erste Schritt, die unabdingbare Voraussetzung dafür, dass die Brücken hinter uns abgebrochen werden, dass die Verbindungen, die uns mit tausend starken Fäden an die Gesellschaft und die Macht binden, wenn nicht gekappt, so doch zumindest geschwächt werden, die Verbindungen mit der Familie, mit der herrschenden Moral, mit der Arbeit, mit dem Gehorsam gegenüber Gesetzen. Ich glaube aber, dass dieser Schritt nicht ausreicht. Ich glaube, wir müssen weiter gehen, über die Möglichkeiten nachdenken, unserer Aktion eine größere organisatorische Kraft zu verleihen, so dass die Rebellion in eine projektuale Intervention in Richtung einer verallgemeinerten Insurrektion umgewandelt wird, so dass wir von der individuellen Insurrektion, dem ersten und notwendigen Schritt, weitergehen.

Dass dieser zweite Moment für viele Gefährten und Gefährtinnen nicht sympathisch ist, ist eine ganz klare Tatsache. Da sie sich von allen Bemühungen in dieser Richtung entfremdet fühlen, gehen sie dazu über, das Problem zu unterschätzen oder, was noch schlimmer ist, alle anderen Gefährten und Gefährtinnen zu verachten, die dem organisatorischen Problem Aufmerksamkeit und Mühe widmen.

Dieses Buch versucht, einige wesentliche Elemente für eine eingehende Betrachtung des organisatorischen Aspekts des insurrektionalistischen Anarchismus zu liefern. Insbesondere geht es um die Probleme der Affinität und damit der Affinitätsgruppen, der Informalität und damit der informellen Organisation, der Selbstorganisation der Kämpfe und damit der Basiskerne und der Koordinierung zwischen diesen von Anarchisten und Nicht-Anarchisten gebildeten Kernen (A.d.Ü. nuclei8) mit den von Anarchisten gebildeten Affinitätsgruppen mittels der informellen Organisation.

Wie wir sehen, hat das Thema recht schwierige methodologische Merkmale, die die Verfügbarkeit bestimmter Konzepte erfordern, die oft aufgrund ihrer allgemeinen Bedeutung, die nicht immer mit der Bedeutung übereinstimmt, die sie im Kontext einer insurrektionalistischen Organisationstheorie annehmen, falsch dargestellt werden, und die vor allem ein wenig kritische Aufmerksamkeit erfordern, das heißt, dass wir uns von den Vorurteilen befreien, die manchmal unsere Sichtweise einschränken, ohne dass wir uns dessen bewusst sind.

Diese Einleitung wird auf den folgenden Seiten eher schematisch auf diese Konzepte eingehen, der Text wird deutlicher, aber vielleicht auch schwieriger zu verstehen sein, wenn man diese Schlüsselkonzepte nicht vorher verstanden hat.

Eine anarchistische Gruppe kann sogar unter völlig Fremden gebildet werden. Es ist mir schon oft passiert, dass ich in Italien und anderen Ländern die Räume von anarchistischen Gruppen betreten habe und fast niemanden kannte. Die bloße Anwesenheit an einem bestimmten Ort, die Haltung, die Art zu sprechen und sich zu verhalten, die Diskussion, die persönlichen Äußerungen, die mehr oder weniger von den grundlegenden ideologischen Entscheidungen des orthodoxsten Anarchismus durchdrungen sind, führen dazu, dass ein Anarchist in kurzer Zeit das Gefühl hat, mit den anwesenden Gefährten in bester Weise und zur gegenseitigen Zufriedenheit zu kommunizieren.

Es ist nicht meine Absicht, hier über die Art und Weise zu sprechen, wie eine anarchistische Gruppe organisiert werden kann. Es gibt viele Möglichkeiten, und jeder wählt seine Gefährten so, wie er es für richtig hält. Aber es gibt eine besondere Art und Weise, eine anarchistische Gruppe zu gründen, und das ist diejenige, die in erster Linie, aber nicht ausschließlich, das ist offensichtlich, die reale oder mutmaßliche Affinität zwischen allen Teilnehmern berücksichtigt. Nun ist diese Affinität ein Gut, das sich nicht in einer Grundsatzerklärung, in einem apriorischen Programm, in der Teilnahme an konkreten Kämpfen oder in einem Zeugnis der „Militanz“ findet, wie weit diese auch zurückreichen mag. Die Affinität ist ein Gut, das durch gegenseitiges Kennenlernen entsteht. Deshalb gibt es Fälle, in denen man annimmt, mit jemandem verwandt zu sein, nur um später festzustellen, dass man gar nicht verwandt ist, und umgekehrt. Eine Affinitätsgruppe ist also ein Schmelztiegel, in dem Affinitätsbeziehungen reifen und sich festigen.

Da aber die Vollkommenheit Sache der Engel und nicht der Menschen ist, muss auch die Affinität mit intellektuellem Scharfsinn betrachtet werden und darf nicht törichterweise als Allheilmittel für all unsere Schwächen akzeptiert werden. Ich kann nur dann entdecken, dass ich eine Affinität zu jemandem habe, wenn ich mich in Bezug auf diese Person in Gefahr begebe, d.h. wenn ich mich offenbare, wenn ich jede Vortäuschung ablege, die mich normalerweise wie eine zweite Haut schützt, die härter und widerstandsfähiger ist als die physische. Und diese Enthüllung meiner selbst kann nicht nur durch Plaudern, Erzählen, Warten auf das Plaudern des anderen erfolgen, sondern sie muss in den Dingen, die wir gemeinsam tun, in der Aktion stattfinden. Es gibt kleine Signale, die wir in der Praxis oft nicht überprüfen, die aber viel bedeutsamer sind als Worte, die wir in der Praxis besser überprüfen. Und aus diesem gegenseitigen Austausch entwickeln sich die Bedingungen, die für ein gegenseitiges Kennenlernen notwendig sind.

Wenn die gesamte Aktivität der Gruppe nicht auf das Tun um des Tuns willen ausgerichtet ist, auf das Ziel, quantitativ zu wachsen, auf das Ziel, hundert zu werden, während es gestern nur zehn waren, wenn dieses numerische Kalkül im Hintergrund bleibt, während das wesentliche Ziel das qualitative Ziel wird und bleibt, die anderen Gefährten und Gefährtinnen zu spüren, sie vereint zu fühlen und an der eigenen Spannung zur Aktion teilzuhaben, an dem eigenen Wunsch, die Welt zu verändern, wenn dies geschieht, befinden wir uns in der Gegenwart einer Affinitätsgruppe. Wenn dies nicht der Fall ist, ist die Suche nach Affinität wieder einmal die Suche nach einer Schulter, an die man sich anlehnen kann, um die Tränen zu vergießen, die wir alle so dringend brauchen.

Die Bildung einer Affinitätsgruppe ist also nicht ausschließlich eine Angelegenheit theoretischer Diskussionen, sondern fließt im Wesentlichen in die praktische Tätigkeit der Gruppe ein, in die Entscheidungen, die sie trifft, um in die Realität einzugreifen, in die sozialen Kämpfe, denn durch diese Entscheidungen und diese Kämpfe kann jeder einzelne Teilnehmer seine Kenntnisse mit allen anderen Gefährten vertiefen, und hier, in diesem vielfältigen und komplexen Prozess, auch die theoretische Vertiefung.

Die Affinität ist also einerseits ein gegenseitiges Wissen, andererseits ein Wissen in der Aktion, in der Praxis, in der Verwirklichung der eigenen Ideen. Der Blick zurück, den ich meinen Gefährten in Bezug auf meine Person gestatte, geht somit in den Blick nach vorn über, den wir alle zusammen, sie und ich, in die Zukunft werfen, wenn wir gemeinsam ein Projekt aufbauen, das heißt, wenn wir beschließen, in die Realität der Kämpfe einzugreifen und zu sehen, wie und in welche Richtung wir eingreifen können. Die beiden Momente, das rückwärtige Moment, das aus dem Moment des Wissens, sagen wir des Individuums, besteht, und das vorwärts gerichtete Moment, die Projektualität, die aus dem Wissen, sagen wir der Gruppe, besteht, schweißen zusammen und machen die Affinität der Gruppe selbst aus, so dass sie in jeder Hinsicht als „Affinitätsgruppe“ betrachtet werden kann.

Der auf diese Weise erlangte Zustand ist nicht für alle Zeiten in Stein gemeißelt. Er (Der Zustand) bewegt sich, er entwickelt sich und macht Rückschritte, er verändert sich im Laufe der Kämpfe, und innerhalb der Kämpfe nimmt er Nahrung auf, um sich theoretisch und praktisch zu verändern. Es gibt keine Monolithizität9, keinen Beschluss aus der Führungsspitze, keinen Glauben, auf den man schwören muss, keine Zehn Gebote, auf den man sich in Momenten des Zweifels und der Angst verlassen kann. Alles muss in der Gruppe diskutiert werden, und im Laufe der Kämpfe muss alles von Grund auf neu überdacht werden, auch wenn es scheint, dass die festen Punkte für immer garantiert sind.

Die Ausarbeitung eines Projektes der Intervention bleibt das gemeinsame Erbe der Affinitätsgruppe, da dies gerade das geeignetste Feld für die Untersuchung und Erforschung der Bedingungen ist, unter denen sie zu agieren beschließt. So hat die Affinitätsgruppe im Vergleich zu einer Gruppe, die einer Syntheseorganisation10 angehört, offensichtlich eine geringere Vorstellung von ihren Möglichkeiten der Intervention. Aber die Breite der Interessen einer anarchistischen Synthesestruktur ist nur scheinbar. Im Rahmen der Syntheseorganisation erhält die Gruppe zum Zeitpunkt des Kongresses eine Ansprache und kann sich zwar frei für alle Probleme interessieren, die eine in Klassen geteilte Gesellschaft kennzeichnen, aber sie arbeitet im Wesentlichen im Rahmen des Kongressdiktats. Da sie an die ein für alle Mal akzeptierten programmatischen Grundsätze gebunden ist, ist sie weit davon entfernt, anders entscheiden zu können, und da sie das nicht kann, tut sie es auch nicht, und indem sie es nicht tut, hält sie sich schließlich an die starren Grenzen, die auf dem Kongress von der Organisation gesetzt wurden, die als notwendige und unvermeidliche Bedingung in erster Linie den Schutz der Organisation selbst vorsehen, das heißt, die Macht so wenig wie möglich zu „stören“, um nicht „verbannt“ zu werden. Alle diese Grenzen werden von der Affinitätsgruppe umgangen, einige leicht, andere nur durch den Mut der Entscheidungen der Gefährten in ihr. Das ändert nichts an der Tatsache, dass auch eine solche Struktur den Gefährten und Gefährtinnen keinen Mut geben kann, wenn sie ihn nicht selbst besitzen, sie kann keine Entscheidungen zum Angriff vorschlagen, wenn in jedem von ihnen kein rebellischer Geist vorhanden ist, sie kann nicht agieren, wenn jeder beschließt, nur an das Nachmittagsgeschwätz zu denken.

Nachdem sie sich mit den Problemen der Realität auseinandergesetzt, die unverzichtbaren Dokumente gefunden und die Analysen formuliert hat, beschließt die Affinitätsgruppe, die Initiative zu ergreifen. Dies ist eines der grundlegenden Merkmale dieser Art von anarchistischer Struktur. Sie wartet nicht darauf, dass Probleme auftauchen, wie eine Spinne inmitten ihres Netzes, sie sucht sie, sie drängt sie zu einer Lösung, die, einmal vorgeschlagen, natürlich von der aus der Realität der Ausgeschlossenen, die direkt unter den negativen Folgen des Problems leiden, akzeptiert werden muss. Um jedoch einen Vorschlag der Projektualität für einen sozialen Kontext zu machen, der unter einem besonderen Angriff der Macht leidet, einem spezifischen, umschriebenen Angriff, der in einer oder mehreren repressiven Quellen und in einem bestimmten Territorium identifizierbar ist, ist es notwendig, physisch inmitten der Ausgeschlossenen, in diesem Territorium, anwesend zu sein und eine eingehende Kenntnis der Probleme zu haben, die das repressive Faktum im Gange kennzeichnen.

So richtet sich die Affinitätsgruppe immer auf eine lokalisierte Intervention, indem sie ein bestimmtes Problem gemeinsam mit den Leuten angeht und all jene Bedingungen schafft, psychologische und praktische, individuelle und kollektive, theoretische Vertiefung und Verfügbarkeit von Mitteln, damit dieses Problem mit den methodologischen Merkmalen angegangen wird, die die des Insurrektionalismus sind: Selbstorganisation, permanente Konfliktualität, Angriff.

Es ist nicht immer so, dass eine einzelne Affinitätsgruppe über die praktischen und theoretischen Möglichkeiten verfügt, eine solche Intervention durchzuführen. Wie die (wenigen und oft umstrittenen) Erfahrungen zeigen, ist es aufgrund des Ausmaßes des Problems, der Komplexität der Intervention, der Weite des Territoriums und der Langsamkeit der Mittel, die für die Verbreitung des vorgeschlagenen Modells der Projektualität in Zusammenarbeit mit den Ideen und Bedürfnissen der lokalen Bevölkerung eingesetzt werden müssen, oft erforderlich, dass breitere Kräfte zusammenarbeiten. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, ständigen Kontakt mit anderen Affinitätsgruppen zu halten, um eine breitere Intervention ins Auge zu fassen, die Anzahl der Gefährten und Gefährtinnen, die Verfügbarkeit von Mitteln und die Klarheit der Ideen an die Komplexität und den Umfang des zu behandelnden Problems anzupassen.

So wurde die informelle Organisation geboren.

Mehrere anarchistische Affinitätsgruppen schließen sich zu einer informellen Organisation zusammen, deren Ziel es ist, das Problem anzugehen, das die Intervention einer einzelnen Affinitätsgruppe unzureichend machte. Natürlich müssen alle Gruppen, die an der informellen Organisation teilnehmen, die Intervention in ihren Grundzügen teilen und sich dann sowohl an praktischen Aktionen als auch an theoretischen Ausarbeitungen beteiligen.

In der Praxis kommt es oft vor, dass Affinitätsgruppen informelle Beziehungen zueinander haben, die sich auf Dauer verfestigen, d.h. in regelmäßigen Treffen zur Vorbereitung spezifischer Kämpfe oder – noch besser – in Treffen, die im Verlauf bestimmter Kämpfe stattfinden. Das macht es einfacher, Informationen über einzelne laufende Interventionen, laufende Projekte und Anfragen aus der Welt der Ausgeschlossenen zu verbreiten.

Das „Funktionieren“ einer informellen Organisation ist sehr einfach. Es gibt keine Namen, um sie zu unterscheiden, da es keine Ziele für quantitatives Wachstum gibt. Es gibt keine festen Strukturen (abgesehen von einzelnen Affinitätsgruppen, die ihre Arbeit völlig unabhängig voneinander machen), sonst würde der Begriff „informell“ keinen Sinn mehr ergeben. Es gibt keine „konstituierenden“ Momente, es gibt keine Kongresse, sondern nur regelmäßige Treffen (die vorzugsweise direkt im Verlauf der Kämpfe stattfinden), es gibt keine Programme, sondern nur das gemeinsame Erbe der insurrektionalistischen Kämpfe und die Methodologie, die sie kennzeichnet: Selbstorganisation, permanente Konfliktualität, Angriff.

Positiv ist, dass der Zweck der informellen Organisation der ist, der ihr von den einzelnen Affinitätsgruppen, die sie bilden, gegeben wird. In der Regel handelt es sich bei den wenigen Erfahrungen, die gemacht wurden, um ein spezifisches Problem, wie z.B. die Zerstörung der Raketenbasis in Comiso 1982-1983. Es könnte sich aber auch um eine Reihe von Interventionen handeln, bei denen die informelle Organisation so artikuliert wird, dass sie den einzelnen Gruppen in verschiedenen Situationen eine Möglichkeit zur Intervention bietet, z.B. durch wechselnde Verpflichtung, wenn es darum geht, lange an einem bestimmten Ort präsent zu sein (in Comiso blieben die anwesenden Gruppen gut zwei Jahre dort). Ein weiteres Ziel könnte sein, analytische und praktische Mittel für die Untersuchung, aber auch finanzielle Unterstützung zur Verfügung zu stellen, über die die einzelne Gruppe vielleicht nicht verfügt.

Positiv ist, dass die informelle Organisation in erster Linie dazu dient, die verschiedenen Affinitätsgruppen und die Gefährten und Gefährtinnen in den Gruppen kennenzulernen. Das ist, wenn man darüber nachdenkt, ein anderer Grad der Untersuchung der Affinität. Dieses Mal sind die Grenzen des zu erreichendes Zieles, die Untersuchung der Affinität, die durch den Teil des Projektes intensiviert wird, aber die Vertiefung des individuellen Wissens nicht ausschließt, auf der Ebene von mehreren Gruppen zu finden. Daraus folgt, dass auch die informelle Organisation eine Struktur der Affinität ist, denn sie basiert auf der Menge der Affinitätsgruppen, die sie bilden.

Diese Überlegungen, die wir seit fast fünfzehn Jahren mehr oder weniger artikulieren, sollten allen interessierten Gefährten und Gefährtinnen das Wesen der informellen Organisation rechtzeitig bewusst gemacht haben. Das scheint nicht der Fall zu sein. Das größte Missverständnis rührt meiner Meinung nach von dem – in einigen von uns latent vorhandenen – Wunsch her, unsere Muskeln zu zeigen und uns eine starke Struktur der Organisation zu geben, weil es keine andere Möglichkeit gäbe, eine Macht zu bekämpfen, die ihrerseits muskulös und stark ist. Das erste Merkmal einer starken Struktur sollte nach Ansicht dieser Gefährten und Gefährtinnen (mehr oder weniger deutlich) spezifisch und robust, zeitlich stabil und gut sichtbar sein, um quasi ein Leuchtfeuer im Nebel der Kämpfe der Ausgeschlossenen zu sein, ein Leuchtturm, ein Wegweiser, ein Bezugspunkt. Leider! Wir sind nicht dieser Meinung. Die gesamte ökonomische und soziale Analyse des postindustriellen Kapitalismus macht deutlich, wie von einer solchen Struktur, die stark und für das bloße Auge sichtbar ist, die Macht einen Bissen abbekommen würde. Das Verschwinden einer Zentralität der Klasse (zumindest von dem, was in der Vergangenheit fälschlicherweise für Zentralität gehalten wurde) macht einen Angriff durch starre Strukturen, die deutlich sichtbar und stark in ihren Artikulationen sind, undurchführbar. Sollten diese Strukturen nicht beim ersten Aufprall zerstört werden, würden sie mit Sicherheit in die Sphäre der Macht kooptiert werden, mit der Aufgabe der Rekuperation und des Recyclings der unbeugsamsten Elemente. Aber in diesem Punkt verweisen wir auf die Lesart der hier vorgestellten Texte, die sicherlich viel überzeugender sind.

Solange die Affinitätsgruppe in sich geschlossen bleibt, eine Gruppe von Gefährten und Gefährtinnen, die sich selbst Regeln geben und diese einhalten, und mit geschlossen bleiben meine ich nicht nur, dass sie nicht aus ihrem Sitz herausgehen und sich auf die üblichen Diskussionen unter Eingeweihten beschränken, sondern auch, dass sie mit Erklärungen und entsprechenden Dokumenten auf die verschiedenen repressiven Abläufe der Macht reagieren, die von der Macht vorgeschlagen werden, solange die Dinge auf dieser Ebene bleiben, unterscheidet sich die Struktur der Affinität von jeder anderen anarchistischen Gruppe nur in ihren offensichtlichen Aspekten, in ihren Worten, in ihren „politischen“ Entscheidungen, in der Art und Weise, wie sie die verschiedenen Reaktionen auf die Anmaßungen der Macht, unser Leben und das Leben aller Ausgeschlossenen zu regeln, interpretiert.

Der tiefe Sinn, der wesentliche Zweck, eine „andere“ Struktur zu sein, d.h. auf organisatorischen Entscheidungen zu basieren, die sich von allen anderen anarchistischen Gruppen unterscheiden, die Affinität, wird nur bei dem Einsatz eines spezifischen Kampfprojekts effektiv wirksam. Und das kennzeichnende Element dieses Projekts, jenseits der Worte oder Motivationen, die es mehr oder weniger analytisch tiefgründig und praktisch wirksam machen, ist die Anwesenheit der Ausgeschlossenen, d.h. der Leute, kurz gesagt, der mehr oder weniger großen Massen, die unter den repressiven Effekten der Macht leiden, gegen die sich dieses Projekt richtet, indem sie auf die insurrektionalistische Methode zurückgreifen.

Die Teilnahme der Massen ist daher das Gründungselement des insurrektionalistischen Projekts und, ausgehend von der Bedingung der Affinität der einzelnen anarchistischen Gruppen, die daran teilnehmen, auch das Gründungselement dieser Affinität selbst, die eine arme elitäre Kameradschaft11 bliebe, wenn sie sich auf das gegenseitige Streben nach einer tieferen persönlichen Bekanntschaft zwischen Gefährten und Gefährtinnen beschränken würde.

Es wäre jedoch unsinnig, Menschen zu Anarchisten und Anarchistinnen zu machen, indem man ihnen vorschlägt, unseren Gruppen beizutreten, um den Kampf anarchistisch zu führen. Das wäre nicht nur Unsinn, sondern eine schreckliche ideologische Forcierung und würde den ganzen Sinn von Affinitätsgruppen und der eventuellen informellen Organisation, die geschaffen wurde, um mit dem repressiven Angriff umzugehen, den zu einem bestimmten Zeitpunkt, in einem bestimmten Gebiet, ein mehr oder weniger beständiger Teil der Ausgeschlossenen von der Macht erleidet, auf den Kopf stellen.

Um Organisationsstrukturen zu schaffen, die in der Lage sind, die Ausgeschlossenen so zu gruppieren, dass sie Angriffe gegen die Repression starten können, ist es notwendig, autonome Basiskerne ins Leben zu rufen, die natürlich jeden anderen Namen annehmen können, der auf das Konzept der Selbstorganisation hinweist.

Damit kommen wir zum zentralen Punkt des insurrektionalistischen Projekts: die Konstituierung/Bildung der autonomen Basiskerne (der Einfachheit halber akzeptieren wir diesen Begriff hier).

Ihr wesentliches, sofort sichtbares und nachvollziehbares Merkmal ist, dass Anarchisten und Nicht-Anarchisten an ihnen teilnehmen.

Aber es gibt noch andere Punkte, die schwieriger zu verstehen sind und die sich bei den wenigen praktischen Versuchen als Quelle für nicht wenige Missverständnisse erwiesen haben. In erster Linie sind es quantitative Strukturen. Wenn es sich um Strukturen dieser Art handelt, und das tun sie tatsächlich, muss deutlich gemacht werden, dass sie ein besonderes Merkmal haben. Sie sind reale Bezugspunkte, keine festen Orte, an denen die Menschen sich selbst zählen und an denen deshalb all jene Verfahren eingerichtet werden müssen, die eine aggregierte Persistenz im Laufe der Zeit ermöglichen (Mitgliedschaft, Zahlung eines Mitgliedsbeitrags, Bereitstellung von Dienstleistungen usw.). Da die autonomen Basiskerne nur den Zweck des Kampfes haben, funktionieren sie wie eine Lunge in ihrer Atmungsfunktion: sie schwellen an, wenn der Kampf intensiver wird und schrumpfen, wenn der Kampf schwächer wird, um beim nächsten Zusammenstoß wieder anzuschwellen. In den toten Winkeln, zwischen einer Verpflichtung und einer anderen – und mit Verpflichtung ist hier jeder Moment des Kampfes gemeint, selbst das Verteilen eines einfachen Flugblatts, die Teilnahme an einer Kundgebung, aber auch die Besetzung eines Gebäudes oder die Sabotage eines Instruments der Macht – bleibt der Kern als Referenz in der Zone, als Zeichen einer informellen organisatorischen Präsenz.

Wenn man ein stabiles quantitatives Wachstum der autonomen Basiskerne für möglich hält, muss man sie in parasyndikalistische Organismen umwandeln, d.h. in etwas Ähnliches wie die Cobas12, die die Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter in den verschiedenen Produktionssektoren verteidigen, indem sie ein breites Spektrum an defensiven und fordernden Interventionen zugunsten ihrer Vertreterinnen und Vertreter vorschlagen, mit der Folge, dass die Stimme des Organismus, der die Forderung vorschlägt, umso stärker ist, je höher die Zahl der Delegationen ist. Der autonome Kern hat nichts von alledem. Er schlägt keinen Forderungskampf mit der Methode von Forderungen und Delegation vor, er schlägt keinen Protest für allgemeine Ziele vor, die von der Verteidigung von Arbeitsplätzen über Lohnerhöhungen bis hin zum Gesundheitsschutz in den Fabriken usw. reichen können. Der Basiskern wird geboren und stirbt mit seinem einzigen Ziel, das im Moment der Aufnahme des Kampfes identifiziert wird, ein Ziel, das an sich auch einen fordernden Charakter haben kann, aber nicht mit der repräsentativen Methode der Delegation angestrebt wird, sondern mit der direkten Methode des unmittelbaren Kampfes, des permanenten und unangekündigten Angriffs, der Zurückweisung jeder politischen Kraft, die behauptet, jemanden oder etwas zu vertreten.

Die Anhänger der Basiskerne können daher nicht legitimerweise eine mehrfache Unterstützung erwarten, die einen breiten Bereich ihrer Bedürfnisse abdeckt. Sie müssen verstehen, dass es sich dabei nicht um eine parasitäre Unterstützung handelt, sondern um ein Instrument des Kampfes gegen ein bestimmtes Ziel, und dass er als Instrument nur dann gültig bleibt, wenn sie die ursprüngliche Entscheidung beibehalten, nur auf die oben genannten insurrektionalistischen Kampfmethoden zurückzugreifen. Die Teilnahme an den Kernen ist daher absolut spontan, da sie durch keinen anderen Nutzen als den spezifischen und ausschließlichen der größeren Stärke und Organisation bei der Erreichung des gemeinsam festgelegten Angriffsziels erbeten oder angeraten werden kann. Es ist daher mehr als logisch zu erwarten, dass diese Organisationen nie eine hohe, geschweige denn stabile quantitative Zusammensetzung erreichen werden. Wenn man sich auf einen Kampf vorbereitet, gibt es immer nur wenige, die das zu erreichende Ziel sehen, es teilen und darüber hinaus bereit sind, sich selbst zu gefährden. Wenn der Kampf beginnt und die ersten Ergebnisse erzielt werden, werden auch die Zögerlichen und Schwachen zum Mitmachen verleitet und der Kern schwillt an, nur um zu sehen, wie diese Teilnehmer in letzter Minute wieder verschwinden, eine Tatsache, die an sich völlig physiologisch ist und die nicht negativ beeindrucken oder ein negatives Urteil über dieses spezifische Instrument der Massenorganisation unterstützen sollte.

Ein weiterer Punkt, bei dem Unklarheit herrscht, ist die begrenzte Lebensdauer des autonomen Kerns, die auf das Erreichen (oder die gemeinsame Einigung über die Unmöglichkeit des Erreichens) des gesetzten Ziels beschränkt ist. Viele fragen sich: Wenn die Kerne „auch“ als Umgruppierungspunkte fungieren, warum lassen wir sie dann nicht für eine andere mögliche zukünftige Nutzung als die jetzige am Leben? Die Antwort hängt wieder einmal mit dem Konzept der „Informalität“ zusammen. Jede Struktur, die im Laufe der Zeit über den Zweck hinaus besteht, für den sie geboren wurde, wenn ihre wesentliche Existenzbedingung dieser Zweck war und nicht eine allgemeine, weitreichende Verteidigung derer, die an ihr teilnehmen, schrumpft früher oder später zu einer stabilen Struktur und wandelt ihren ursprünglichen Zweck in einen neuen und scheinbar legitimen Zweck des quantitativen Wachstums, der Stärkung zur besseren Erreichung einer Vielzahl von Zwecken, die alle gleichermaßen interessant sind und die sich dem nebulösen Horizont der Ausgeschlossenen nicht entziehen können. Parallel zur Verwurzelung der informellen Struktur in ihrer neuen stabilen Form werden geeignete Personen gefunden, um diese Struktur zu leiten, immer diejenigen, die am fähigsten sind und am meisten Zeit zur Verfügung haben, kurz gesagt, früher oder später wird sich der Kreis um eine Struktur schließen, die sich selbst als revolutionär und sogar anarchistisch bezeichnet und die damit ihren wahren und einzigen Zweck entdeckt hat: ihr eigenes Überleben. Selbst die seltenste Form der Macht, wie die, die wir in der „Stabilität“ einer organisatorischen Struktur, auch wenn sie anarchistisch und revolutionär ist, entstehen sehen, zieht eine Menge Leute an, die natürlich alle gutgläubige Gefährten und Gefährtinnen sind, die Gutes für die Menschen tun wollen, und so weiter und so fort.

Ein letztes organisatorisches Element, das manchmal unverzichtbar sein kann, ist die „Koordinierung von autonomen Basiskernen“. Diese Struktur, die die gleichen Merkmale der Informalität aufweist, setzt sich aus einigen wenigen Vertretern der Basis zusammen, und es ist fast immer unabdingbar, dass sie mit angemessenen Mitteln für den zu erreichenden Zweck ausgestattet wird. Wenn die einzelnen Kerne aufgrund ihrer Funktion als „Lunge“ auch eine Informalität in Bezug auf das Fehlen eines Veranstaltungsortes, eines Treffpunktes, haben können, da der Kern sich direkt auf dem Platz treffen kann, kann dies für die Koordination nicht geschehen, dies erfordert einen offiziell zugänglichen Ort, der im Falle eines Kampfes, der sich über Monate oder Jahre hinzieht und ein ziemlich großes Gebiet betrifft, auch wenn es durch die Besonderheit des Problems, das das Projekt hervorgebracht hat, begrenzt ist, zum Ort wird, an dem die verschiedenen Aktivitäten der Kerngruppen koordiniert werden.

Die Präsenz der Affinitätsgruppen ist in der Koordination nicht direkt sichtbar, und dasselbe gilt für die informelle Organisation. Natürlich sind alle anarchistischen Gefährten und Gefährtinnen, die sich im Kampf engagieren, in den verschiedenen Basiskernen präsent, aber dies ist fast immer nicht der beste Ort für anarchistische Propaganda im klassischen Sinne. Was innerhalb der Koordination und in den einzelnen Kernen vor allem getan werden muss, ist eine analytische Klärung des Grundproblems, des Ziels, das man erreichen will, und dann eine Vertiefung der insurrektionalistischen Mittel, die im Kampf eingesetzt werden sollen. Die Aufgabe der Gefährten und Gefährtinnen besteht darin, sich an dem Projekt zu beteiligen und gemeinsam mit allen Beteiligten die Mittel und Methoden zu vertiefen, die eingesetzt werden sollen. Obwohl dies in dieser Schematisierung einfach erscheint, erweist es sich in der Praxis als sehr kompliziert.

Die Funktion der „Koordination der autonomen Basiskerne“ ist daher die der Verknüpfung von Kämpfen. Hier wird nur ein Problem angedeutet (extrem unverdaulich für Anarchisten, aber sehr einfach für Nicht-Anarchisten): die Notwendigkeit, im Falle eines Massenangriffs gegen Machtstrukturen die einzelnen Aufgaben vor dem eigentlichen Angriff zu verteilen, d.h. sich bis ins kleinste Detail darüber zu verständigen, was zu tun ist. Viele stellen sich diese Gelegenheiten des Kampfes als ein Fest der Spontaneität vor: das Ziel liegt vor aller Augen, du musst nur dorthin gehen, die Kräfte, die es bewachen, in die Flucht schlagen und es zerstören. Ich habe es hier so formuliert, obwohl ich weiß, dass viele hundert verschiedene Nuancen sehen werden, aber der Kern ändert sich nicht. In solchen Fällen müssen entweder alle Teilnehmer genau wissen, was zu tun ist, da der Kampf in einem Gebiet stattfindet und bewaffneter Widerstand zu überwinden ist, oder wenn nur einige wenige wissen, was zu tun ist, und der Rest nicht, wird die Verwirrung genauso groß sein, wenn nicht sogar schlimmer, als wenn niemand weiß, was zu tun ist.

Deshalb ist ein Plan erforderlich. Es gab Fälle, in denen ein bewaffneter militärischer Plan nötig war, um ein Flugblatt zu verteilen (z.B. während der Insurrektion in Reggio Calabria). Aber kann dieser Plan wirklich allen zugänglich gemacht werden, selbst ein paar Tage vor dem Angriff? Ich glaube nicht. Es gibt Gründe zur Vorsicht, die dagegen sprechen. Zum anderen müssen die Details des Angriffsplans allen Beteiligten zugänglich gemacht werden. Daraus folgt, dass nicht jeder mitmachen kann, sondern nur diejenigen, die auf irgendeine Weise bekannt sind, entweder durch ihre Mitgliedschaft in den autonomen Basiskernen oder durch ihre Mitgliedschaft in Affinitätsgruppen, die durch informelle Organisation Teil der Koordination geworden sind. Damit soll verhindert werden, dass die Polizei und die Geheimdienste die Koordination unterwandern, was in solchen Fällen mehr als wahrscheinlich ist. Unbekannte Personen sollten von anderen, die sie kennen, verbürgt werden. Das mag unangenehm sein, aber es lässt sich nicht vermeiden.

Das Problem wird noch komplizierter, wenn das aktuelle Projekt, selbst in seinen Grundzügen, vielen Gefährten und Gefährtinnen bekannt ist und diese daran interessiert sein könnten, sich an einer dieser Angriffsaktionen zu beteiligen, über die wir gerade sprechen. In diesem Fall konnte der Zustrom beträchtlich sein (im Fall von Comiso kamen in den Tagen der versuchten Besetzung etwa dreihundert Gefährten aus ganz Italien und sogar aus dem Ausland) und die Notwendigkeit, die Anwesenheit von Infiltratoren zu vermeiden, noch viel ernster. Die Gefährten und Gefährtinnen, die erst im letzten Moment eintrafen, konnten sich daher in der Organisation der Aktion fremd fühlen und nicht verstehen, was vor sich ging. Auf die gleiche Weise finden sich all diejenigen, die sich entscheiden, die oben genannte Überprüfung nicht zu akzeptieren, de facto als Außenseiter wieder.

Und nun zwei letzte Fragen:

Warum halten wir die Methodologie und das insurrektionalistische Projekt für das am besten geeignete Mittel für die revolutionäre Auseinandersetzung heute?

Was versprechen wir uns vom Einsatz insurrektionalistischer Mittel in einer Situation, in der es sich nicht um eine laufende Insurrektion handelt?

In Bezug auf die erste Frage macht die Analyse der heutigen gesellschaftlichen und ökonomischen Formation deutlich, dass diese Mittel am besten geeignet sind und jeden Kampf, der auf der Grundlage von synthetischen Strukturen geführt wird, die im Kleinen wie im Großen alle Mängel der Parteiformen der Vergangenheit reproduzieren, entweder unmöglich machen oder nur für die Umstrukturierung der Herrschaft nützlich sind. Der größte Teil dieses Buches befasst sich eingehend mit diesem Problem.

Die zweite Frage kann damit beantwortet werden, dass wir nicht wissen, welche Bedingungen a priori für die Entwicklung einer Insurrektion gegeben sein müssen. Jede Gelegenheit kann die richtige sein, auch wenn es ein kleines, scheinbar unbedeutendes Experiment ist. Aber es gibt noch mehr: Ein Projekt des insurrektionalistischen Kampfes zu entwickeln, es aus einem spezifischen Problem heraus zu entwickeln, das in der Tiefe als repressive Tatsache zum Nachteil beträchtlicher Massen von Ausgeschlossenen wirkt, ist kein einfaches „Experiment“, es ist eine Insurrektion im Gange, ohne damit übertreiben zu wollen, was klein beginnt und fast sicher klein bleibt. Was zählt, ist die Methode, und in dieser Richtung haben Anarchisten und Anarchistinnen noch einen weiten Weg vor sich, sonst wären sie nicht auf die vielen Insurrektionen eines ganzen Volkes vorbereitet, die stattgefunden haben und weiterhin stattfinden.

Letztendlich ist dieses Buch ein Beitrag zu dem großen Problem „Was tun?“

 

Catania, 21. November 1998

Alfredo M. Bonanno

 

Ausgeschlossene und Eingeschlossene

Das Ende der Ideologien, aber nicht ganz.

Kein politischer Apparat kann jemals ganz ohne sie auskommen. Die grundlegenden Veränderungen in der Produktionsstruktur des Kapitals, die in den letzten zehn Jahren weltweit stattgefunden haben, haben plötzlich fast alle bestehenden ideologischen Hüllen entleert. Das soll nicht heißen, dass die politische Funktion als Verwaltungs- und Repressionsaktionen des Staates besser auf die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen abgestimmt ist. Unmittelbar hinter den alten Gespenstern sind andere aufgetaucht, deren Merkmale nicht leicht zu erkennen sind, da es sich um ideologische Hüllen handelt, die sich noch in der Entstehung befinden. Nach dem derzeitigen Stand der Dinge können wir nur sagen, dass ihr Ziel dasselbe ist wie immer: irrationale Gefühle und Instinkte anzusprechen, um ein Verhalten zu erreichen, das der Aufrechterhaltung der von der herrschenden Klasse auferlegten Ordnung dient.

Zu den unmittelbarsten Bewegungen, die sofort in den Vordergrund der Nachrichten sprangen, gehört die alte Fata Morgana der Freiheit, die in den logischen Fallen des alten Liberalismus einbalsamiert und in aller Eile entstaubt wurde, um eine Grundlage für die finstersten Operationen zur Verwaltung der neuen Märkte im Osten zu schaffen. Dass jeder Liberalismus auf einer präzisen Unterscheidung zwischen zwei Kategorien von Menschen beruht, denjenigen, die in den Genuss der Menschenrechte kommen, in erster Linie der politischen, aber auch der konkreteren, wie z.B. des Rechts auf Leben, und denjenigen, die diese Rechte nur in eingeschränktem Maße haben und daher anfällig für eine mögliche Aussetzung oder Unterdrückung sind.

Historisch gesehen muss hier nicht daran erinnert werden, dass Locke, der Paladin der politischen Freiheit, sein privates Vermögen den Investitionen verdankte, die er in die englischen Unternehmen getätigt hatte, die fast ein Jahrhundert lang im Sklavenhandel tätig waren, und dass die englische Revolution selbst, aus der die Idee des politischen Liberalismus hervorging, den Sieg über Spanien als eine große Eroberung betrachtet hatte, da sie mit dem Frieden von Utrecht die Zerstörung des spanischen Monopols im Sklavenhandel erreicht und diese lukrative Tätigkeit selbst und in großem Maßstab aufgenommen hatte.

Wenn wir genau hinsehen, besteht die neue ideologische Hülle, wie sie zumindest von den dafür verantwortlichen akademischen Organisationen schnell vorbereitet wird, in Wirklichkeit aus einer Aufpfropfung der alten liberalen Heuchelei in den sozialen Körper, der heute so zersetzt wie eh und je zu sein scheint. Von diesem uralten Gerede wird nur eine Sache wichtig, und die ist tatsächlich über jeden Zweifel erhaben. Die Menschen sind nur im Prinzip gleich, in der Praxis werden sie in zwei Kategorien eingeteilt: diejenigen, die Rechte haben, und diejenigen, die keine haben. Mit Rechten ist hier die substanzielle Möglichkeit gemeint, Zugang zu den Quellen des Wohlstands zu erhalten, transformative Bewegungen herbeizuführen, die in der Lage sind, die Unterschiede in der Einkommensverteilung zu verringern, mit anderen Worten, alles, was die Hoffnung auf eine bessere und weniger schwierige Zukunft als die Gegenwart zulässt.

Ob diese neuen politischen Bewegungen, die in der Praxis weltweit auf eine Phase der unternehmerischen Öffnung ausgerichtet sind, die sich als mögliche Teilhabe der unteren Schichten an den Lebensbedingungen der oberen Schichten definieren lässt, eine Reduzierung des gesamten Machtapparats der Staaten bewirken können, bleibt abzuwarten, während andererseits die ideologische Wirkung dieser Perspektive im Gange ist, eine Wirkung, die dazu beiträgt, die besten Voraussetzungen für die produktive Gestaltung der Welt in einer postindustriellen Perspektive zu schaffen.

Der wesentliche Punkt dieses Prozesses ist, dass nur ein kleiner und sehr kleiner Teil der Produzenten Zugang zu menschenwürdigen Lebensbedingungen haben wird. Mit menschenwürdigen Bedingungen meinen wir eine immer größere Übereinstimmung zwischen den Möglichkeiten, die der Staat und das kapitalistische System insgesamt bieten, und der Möglichkeit, sie auszubeuten. Der Rest, die große Mehrheit, wird einen Platz in der Segregation finden müssen, in jener „schmutzigen“ Arbeit, die die alten Liberalisten, wie zum Beispiel Mandeville, mit Sklavenarbeit verglichen. Nicht „schmutzig“ im Sinne der alten körperlichen Verrohung, sondern „schmutzig“ im wahren Sinne des Wortes, in dem Sinne, dass es die Intelligenz schmutzig macht, sie herabsetzt, sie auf das Niveau von Maschinen reduziert und ihr die charakteristischste Eigenschaft des Menschen, die Unberechenbarkeit, entzieht.

In diesem Kontext, in dem die ideologische Modernisierung mit tiefgreifenden Veränderungen in der Produktionsstruktur einhergeht und zu einem koordinierten System von realen und imaginären Prozessen führt, die alle synchron auf Flexibilität, Anpassung, demokratischer und vollversammlungsbezogener Diskussion und der kritischen Ablehnung jeglicher Autorität, die nicht effizient ist, basieren, wird die alte Funktion des Staates, der die Verwaltung und Repression zentralisiert, schwächer werden.

Und dieses Verblassen ist in der Ordnung der Dinge, im Geist der Zeit, wenn man so will.

Aber hier muss die Frage gestellt werden: Ist dieses Verblassen eine gute Sache? Die Antwort, zumindest für Anarchisten, sollte positiv ausfallen. Und so wäre es auch gewesen, wenn sie nicht in jüngster Zeit auf Überlegungen gestoßen wären, die wir hier hervorheben möchten.

Beginnen wir mit den positiven Aspekten. Jede Verringerung der Macht der Staaten ist eine positive Bewegung, die größere, wenn auch reduzierte Räume der Freiheit, konsequentere Verteidigungsbewegungen, das Warten auf bessere Zeiten, das Überleben, wenn man so will, aber auch organisatorische Formen des Kampfes ermöglicht, die die großen repressiven Giganten mit Leichtigkeit zerstören. Die Teilnahme an Kämpfen, die Staaten zersetzten, ist daher eine positive Bewegung, und in diesem Zusammenhang waren nationale Befreiungskämpfe – leider nicht immer – Gelegenheiten, den monolithischen Charakter der Macht zu untergraben und mögliche Linien sozialer Divergenz vorzuschlagen, Alternativen, die in der Lage sind, praktikable andere Wege aufzuzeigen. Oft wurde all dies durch das Aufkommen substanziellerer Bewegungen, kapitalistische Umstrukturierungen im Vordergrund, imperialistische Umwälzungen in der Machtverteilung auf Weltebene, den Mechanismus der ungleichen Entwicklung usw. überschattet.

Im Moment überschneiden sich andere Überlegungen mit den vorherigen. Das heißt nicht, dass wir nationale Befreiungskämpfe und alle Bewegungen, die auf die eine oder andere Weise dazu beitragen, die zentralisierenden Staaten der Vergangenheit aufzubrechen, negativ bewerten sollten, aber es sind dennoch Überlegungen, die das Problem auf eine andere Grundlage stellen, die der Zeit, in der wir leben, besser entspricht.

Zunächst einmal müssen wir die internationalen Ströme betrachten, die die verschiedenen Repressions- und Produktionsapparate der einzelnen Staaten im Rahmen von Vereinbarungen ausgleichen, die mehr oder weniger intime, mehr oder weniger hybride Zusammenschlüsse vorsehen, die in jedem Fall ausreichen, um jene Datenzirkulation zu gewährleisten, auf der jede Struktur der Kontrolle und der inneren Ordnung letztlich beruht. Diese Suprastrukturen werden sich in den nächsten Jahren ausweiten und die Welt, wie wir sie bereits kennen, neu aufteilen, wobei sich die Linien nicht so sehr von den bisherigen unterscheiden. So sehr sich diese neuen spaltenden Formen auch in ganz anderes ideologisches Papier verpackt präsentieren, erfüllen sie doch die Aufgabe, die alte Staatsmacht in ihren jetzigen zersetzenden Formen wiederherzustellen. Man könnte spekulieren, und das nicht zu Unrecht, dass die Ausarbeitung des Nationalismus als ideologisches Bindeglied bestimmter Auflösungsprozesse ein gar nicht so dummes Instrument ist, das absichtlich eingesetzt wird, um ansonsten unmögliche Strukturveränderungen zu ermöglichen. Es besteht kein Zweifel daran, dass die heutige weltweite Produktionsstruktur keine großen zentralisierten Staaten duldet, die daher in ihren Beziehungen zum Kapital zu elefantös sind, das auf der anderen Seite immer mehr an Kapazität gewinnt, um Produktionsprozesse zu beschleunigen.

Zweitens muss der Notwendigkeit Rechnung getragen werden, das demokratische Instrument der Konsensbildung an die veränderten Produktionsbedingungen anzupassen. Wenn letztere ein dequalifiziertes Individuum hervorbringen, das durch die prekäre Lohnarbeit nicht nur in Bezug auf seine Arbeitsfähigkeit, sondern auch in Bezug auf seine psychische Zusammensetzung im weitesten Sinne instabil wird, wenn dieses Individuum als Element der Gesellschaft, der Familie, der Arbeitskategorie, der Freizeitumgebung, der es angehört, kurz gesagt, als soziales Element, ständig in instabilen Verhältnissen gehalten wird, dann kann es nicht gezwungen werden, sich mit einer monolithischen Staatsbürokratie zu befassen, die heute mehr denn je der Vergangenheit anzugehören scheint. In dem Maße, in dem das Individuum, vor allem durch die Schule, der Instrumente der kulturellen Qualifizierung beraubt wird, die es endgültig von einem Subjekt in einen Staatsbürger eines demokratischen Staates verwandeln sollten, werden die Staatsapparate demokratisiert und fordern das Subjekt – das immer noch der so genannte Staatsbürger der verfassungsmäßigen Rechte und Freiheiten ist – zur maximalen Kooperation auf. Andererseits wäre eine demokratische Umstrukturierung der modernen Staaten ohne eine qualitative Verflachung der Individuen, ohne die Auflösung der traditionellen Organisationsformen des Proletariats und vor allem ohne die Vernichtung jener Klasseneinheit nicht möglich gewesen, die sich in der Vergangenheit immer wieder in wenn auch nicht revolutionären, so doch zumindest in Bewegungen geäußert hatte, die in der Lage waren, die Akkumulationsprozesse des Kapitals zu bremsen und zu stören.

Schließlich müssen wir die Tatsache berücksichtigen, dass diese zersetzenden Bewegungen auf zwei Ebenen wirken, von denen nur die zweite aus revolutionärer Sicht interessant erscheint. Die erste dieser Ebenen ist die offizielle Ebene, die von der Mittelklasse der fortschrittlichsten Länder gefördert wird, mit dem Ziel, die alten monolithischen Strukturen der Staaten auf einer akzeptableren Basis wiederherzustellen, entsprechend den neuen Produktionsprozessen des Kapitals. Und diese Basen erscheinen im Vergleich zu früheren Verwaltungen unzusammenhängend, nicht zuletzt, weil sie ideologisch geschickter sein müssen. Diese offizielle Bewegung des Staatszerfalls hat ihre Wurzeln in der regionalistischen These, die die administrative und in gewisser Hinsicht auch die politische Dezentralisierung zum Schlüssel für ein regeneriertes und effizienteres Staatssystem machte. Das weitgehende Scheitern des Regionalismus in Staaten wie Italien, einem guten Beispiel auf diesem Gebiet, darf uns nicht über eine Umkehrung dieses Trends hinwegtäuschen. Die herrschenden Klassen müssen die beherrschten Klassen illusorisch dazu bringen, sich an der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten zu beteiligen. Dieses Bedürfnis ist so alt wie die Welt, aber in den letzten Jahrzehnten ist es nicht nur eine schamlos und ständig verletzte Fassade, sondern eine unvermeidliche Realität geworden. Der italienische „Leghismus“ (A.d.Ü.: Separatismusbestrebung der damaligen Partei Lega Norte), ein Phänomen, das heute nicht nur in Italien auf großes Interesse stößt, muss auf diese Richtung des Zerfalls der monolithischen Staaten der Vergangenheit zurückgeführt werden und kann sich daher als Erbe und extremer Rationalisierer des alten Regionalismus betrachten. Der Übergang zwischen diesen beiden Arten, die öffentlichen Angelegenheiten zu verwalten, ist jedoch nicht kontinuierlich, denn es gibt einen Bruch, der vielleicht nicht sehr wichtig ist aus Sicht derjenigen, die Staaten als den Feind betrachten, den es in jedem Fall zu besiegen gilt, ohne zu subtil zu sein, aber wichtig für diejenigen, die versuchen, die Zusammensetzung des Feindes besser zu verstehen, um seine Schwachstellen zu erkennen: und dieser Bruch liegt genau in der ideologischen Veredelung, die mit der einfachen und offensichtlichen Beobachtung betrieben wird, dass die wohlhabenden Klassen der ökonomisch reichsten Regionen davon profitieren würden, einen verkleinerten Staat in Eigenregie zu verwalten. Andererseits hat sich diese ideologische Veredelung wie immer als unverzichtbar erwiesen, um die Menschen auf einer emotionalen Ebene anzusprechen, indem die Frustrationen der breiten Massen, die ohnehin weit vom Wohlstand der engstirnigen herrschenden Klassen entfernt sind, an den klassischen Symbolen der Diversität abgeladen werden: dem Schwarzen, dem Juden, dem Einwanderer, dem Dieb, dem Gewalttätigen, oder indem nationalistische Mythen konstruiert werden, die manchmal an die Lächerlichkeit grenzen. Aber in diesen Dingen ist das Lächerliche weit davon entfernt, ein negatives Element zu sein, denn in der allgemeinen Abwesenheit von kritischem Licht wird es zu einem Element des Zusammenhalts und der verbindenden Kraft innerhalb der breiten Masse.

Diese Ebene der Zersetzung, die von den herrschenden Klassen gesteuert und verwaltet wird, die jedes Interesse daran haben, für sich selbst privilegierte Zonen zu schaffen, mögliche teutonische Schlösser, in denen sie sich verschanzen können, um ihren privilegierten Zustand der Eingeschlossenheit zu verwalten, indem sie auf Distanz bleiben und mit dem Hauptinstrument der Ignoranz den ständigen Druck der Ausgeschlossenen verwalten, manifestiert sich heute auf europäischer Ebene und könnte morgen globale Dimensionen annehmen. Der Zerfall des Sowjetimperiums brachte den kolossalsten Schub für diese Art von Partikularismus mit sich, der in Regionen, in denen die ethnischen Besonderheiten in vierzig Jahren erzwungener Gemeinsamkeit nicht ausgelöscht worden waren, noch verstärkt wurde. Und es war diese Besonderheit, die es fast immer auf sich nahm, sich zu entwickeln und an die Bedingungen des laufenden Klassenkonflikts anzupassen, das ideologische Element, bis es zu den Zuspitzungen von Grausamkeit und Brutalität kam, die man im ehemaligen Jugoslawien in Aktion sehen kann. Trotz der unterschiedlichen Situationen und damit trotz der extremen Vielfalt im Verhalten der einzelnen Staaten zeichnet sich ein hinreichend klarer Trend ab, der sich in der Hypothese eines gesteuerten Zerfalls oder eines fließenden Übergangs zu einer anderen Art der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten zusammenfassen lässt. Das Rezept für diesen Übergang ist komplex und besteht auf jeden Fall, ohne zu sehr ins Detail zu gehen, aus einem administrativen und einem ideologischen Element. Diese beiden Elemente durchdringen und unterstützen sich gegenseitig, indem sie sich gegenseitig hervorbringen, ohne dass eines von ihnen den möglichen Rückgriff auf repressive Instrumente und eine vorübergehende Verwaltung der Macht ausschließen kann, die objektiv als eine Rückkehr in die Vergangenheit angesehen werden könnte. Politischer Pragmatismus zieht sich angesichts solcher Kleinigkeiten nicht zurück.

Aber es bleibt die andere Ebene der Zersetzung, die in die Köpfe der Menschen eindringt, die auf individueller Ebene wirkt und die der Staat nicht vermeiden kann, weil er die Zersetzung selbst steuern muss und keine Verhaltensmodelle und Wertmaßstäbe aus der Vergangenheit vorschlagen kann. Die einzige Grenze, die sie diesem mangelnden Sinn für den Staat entgegensetzen kann, ist die kulturelle Segregation, die viel rigider und effektiver ist als die physische Segregation, die wir in der Vergangenheit zu sehen gewohnt waren. Eine noch nie dagewesene Apartheid, die unüberwindbar ist, weil sie auf der Abwesenheit von Begehren beruht, denn man kann nicht begehren, was man nicht kennt. Aber vorläufig, und es ist nicht absehbar, bis wann, findet dieser Zerfall statt und geht einher mit dem Verschwinden des ideologischen Bindeglieds, was für die Länder des Ostens positiv und für den sogenannten antikommunistischen Westblock negativ ist. Die Funktion, die der proletarische Internationalismus in der UdSSR oder in China hatte, bestand darin, ein Gegengewicht zur Angst vor dem Kommunismus zu schaffen, die von den Herrschaftsinteressen des Westens geschürt wurde. Als all das verschwand, wurden die großen Illusionen durch kleine Phantasien ersetzt, die in einigen Fällen in die Tat umgesetzt wurden, wie im Fall der verschiedenen Nationalismen, die de facto auf der europäischen Bühne agieren, und in einigen anderen Fällen noch in der Planung sind.

Es ist nicht unwichtig, einige Überlegungen zu den Elementen dieser zerstörerischen Erosion von unten anzustellen, die heute nicht nur in Staaten mit fortgeschrittenem Kapitalismus zu beobachten ist. Beginnen wir mit dem Niedergang der Idee des Fortschritts. Dieses Konzept, das seinen Ursprung in der Aufklärung hat, sollte laut liberalistischem Geschwätz zuerst den Rechtsstaat und dann den demokratischen Staat untermauern, der es allen ermöglicht, zur Verbesserung der öffentlichen Angelegenheiten beizutragen. Nur, dass die Illusionen des Fortschritts13, um den Titel eines berühmten Buches von Georges Sorel zu verwenden, gerade dazu dienten, Hoffnungen auf Verbesserungen zu schüren, sowohl kurzfristige, reformistische, als auch langfristige, revolutionäre. Revolutionäre und reformistische Politiker teilten die Erwartung einer besseren Zukunft, die durch die objektive Bewegung der Geschichte garantiert wird. Diese Idee war alles andere als eine leere Übung müßiger Geister, sondern nährte in Millionen von Menschen Träume von zukünftigem universellem Überfluss, vom Greifen in den Haufen, indem sie Utopie und Verwaltungspragmatismus in denselben Korb warf. All das kam zu einem Ende und trug Stück für Stück zum fortschreitenden Zerfall bei.

In diesem Punkt identifizieren sich marxistische und liberalistische Ideologien miteinander. Beide versprachen Wohlstand und Arbeit für alle, einen allgemeinen, aber differenzierten Konsum und ein exponentielles ökonomisches Wachstum. Dann wurde erkannt, dass die Nachfrage nicht unbegrenzt aufrechterhalten werden kann und dass sich die Verbraucher in zwei Gruppen aufteilen müssen: diejenigen, die Zugang zum Konsum haben, und diejenigen, die ihre Bedürfnisse schrittweise bis zum Überleben reduzieren müssen. Auf globaler Ebene wird dies in den unterentwickelten Ländern deutlich, wo Menschen an Hunger, Krankheiten und mittelalterlichen Plagen sterben, ganz im Gegensatz zu den privilegierten Lebensbedingungen der herrschenden Klasse. Und diese Gegensätze sind nicht nur räumlich weit entfernt und durch Wüste oder Sümpfe begrenzt, sondern finden sich Seite an Seite in den großen Metropolen, die vielleicht der deutlichste Beweis für das Scheitern der progressiven Ideologie sind.

Bei der kontinuierlichen Entwicklung der sozialen Bedingungen in den letzten Jahren haben sich bestimmte Prozesse verstärkt, die jetzt als echte Veränderungen angesehen werden können.

Die Struktur der Herrschaft hat sich von einer klaren Herrschaftsbeziehung zu einer Beziehung verschoben, die auf Angleichung und Kompromissen beruht. Dies hat dazu geführt, dass die Nachfrage nach Dienstleistungen gegenüber der Nachfrage nach traditionellen Waren (z. B. langlebigen Konsumgütern) deutlich gestiegen ist. Dies hat zu einer Beschleunigung der IT-basierten Aspekte der Produktion und der damit verbundenen Robotisierung der Produktionssektoren geführt, was dazu geführt hat, dass der tertiäre Sektor (Handel, Tourismus, Transport, Kreditwesen, Versicherungen, öffentliche Verwaltung usw.) gegenüber den anderen Sektoren (Industrie und Landwirtschaft) die Oberhand gewonnen hat.

All dies bedeutet nicht, dass der Industriesektor an Konsistenz oder produktiver Bedeutung verloren hat, sondern nur, dass er prozentual immer weniger Arbeiter beschäftigen wird, während die bisherigen Produktionsstandards beibehalten oder sogar erhöht werden. Das Gleiche gilt auch für die Landwirtschaft, die eine starke Beschleunigung der produktiven Industrialisierung erleben wird und sich daher nur noch statistisch und nicht mehr sozial vom Industriesektor unterscheiden kann.

Im Wesentlichen sieht die Situation wie ein „Übergang“ aus, kein deutlicher und klarer Übergang, sondern eine Tendenzlinie. Es gibt keinen Bruch zwischen der industriellen und der post-industriellen Periode. Die Phase, in der wir uns befinden, ist sicherlich die der Überwindung veralteter Produktionsstrukturen, die umstrukturiert werden, aber es ist noch nicht die Phase der vollständigen Schließung von Fabriken und der Einführung der Herrschaft der computerisierten Produktion.

Die Tendenz zur Auflösung von Produktionseinheiten und zur Stimulierung kleiner unabhängiger Kerne, die die Logik der Selbstausbeutung innerhalb des zentralisierten industriellen Produktionsprojekts voll anwenden, ist sicherlich bereits vorherrschend; aber wie es sich für die vorsichtigen Strategien des Kapitals gehört, wird sie weiterhin von langsamen Anpassungen innerhalb des industriellen Sektors im traditionellen Sinne begleitet werden.

Das gilt viel mehr für eine Situation wie in Italien, die rückständiger ist als das japanische oder amerikanische Modell.

In einem langsamen und unumkehrbaren Prozess werden die Arbeiterinnen und Arbeiter von gestern nach und nach aus den Fabriken entfernt und in eine Atmosphäre hoher Konkurrenzfähigkeit katapultiert, die mit allen Mitteln versucht, ihre Produktionskapazitäten zu steigern – das einzig akzeptable Gut für die computerisierte Logik der Produktionszentren.

Die atomisierte kapitalistische Konfliktualität ist das tödlichste Element, das es gibt, das in der Lage ist, die andere Konfliktualität, die revolutionäre, die darauf abzielt, den Klassengegensatz nicht rekuperierbar zu machen, auszulöschen.

Der höhere Verdienst der Bewohner der produktiven „Inseln“, ihre scheinbar größere „Freiheit“, ihre Möglichkeit, ihre Arbeitszeiten selbst zu bestimmen, ihre qualitativen Unterschiede (wenn auch immer in der Wettbewerbslogik des Marktes, der von den Zentren, die die Aufträge liefern, angetrieben wird), all das erzeugt die Überzeugung, dass sie im gelobten Land angekommen sind: dem Reich des Glücks und des Wohlstands. Immer höhere Gewinne und immer mehr übersteigerte „Kreativität“.

Und diese Inseln des Todes werden sich mit ideologischen und praktischen Barrieren umgeben, die vor allem darauf abzielen, alle, die nicht dazugehören, in die stürmische See des unmöglichen Überlebens zurückzutreiben. Das Problem, das sich daraus ergibt, ist genau das der Ausgeschlossenen.

Erstens, diejenigen, die am Rande stehen. Sie wurden aus dem Produktionsprozess ausgeschlossen, weil sie sich nicht in die neue Wettbewerbslogik des Kapitals einfügen konnten, und sie sind oft nicht bereit, ein Mindestmaß an Überlebenschancen zu akzeptieren, das ihnen von einem Sozialstaat zugewiesen wird, der in einer Produktionssituation, die dazu neigt, die Tugenden des „Selfmademan“ zu verherrlichen, zunehmend als eine Ruine der Vergangenheit angesehen wird. Das werden nicht nur die Gruppen sein, die ethnisch zu dieser sozialen Rolle verurteilt sind, sondern im Zuge des sozialen Wandels, über den wir hier sprechen, werden auch soziale Gruppen daran teilhaben, die bisher in einer einschläfernden Lohnarbeit gefangen waren und nun in eine sich schnell und radikal verändernde Situation geworfen werden. Selbst die verbleibende Unterstützung, die diese zusätzlichen Gruppen genießen können (Frührente, Abfindungsfonds, verschiedene Sozialleistungen usw.), wird sie nicht dazu bringen können, eine Situation zu akzeptieren, die auch in qualitativer Hinsicht immer diskriminierender wird. Vergessen wir nicht, dass das Konsumniveau dieser ausgegrenzten Gruppen nicht einmal im Entferntesten mit dem der ethnischen Gruppen verglichen werden kann, die nie in die Lohnarbeitszonen aufgenommen wurden. Dies wird zweifellos zu Explosionen des „sozialen Unwohlseins“ anderer Art führen, die die Revolutionäre mit den grundlegenden Antrieben der Rebellion in Einklang bringen müssen.

Und dann sind da noch die Eingeschlossenen, die in den „Inseln“ der Privilegien ersticken werden. Hier wird der Diskurs, der komplizierter zu werden droht, nur dann wesentlich, wenn man bereit ist, dem Menschen und seinem wirklichen Bedürfnis nach Freiheit Anerkennung zu schenken. Gerade die „Rückkehrer“ aus diesem Gebiet werden mit ziemlicher Sicherheit zu den rücksichtslosesten Vollstreckern der Logik des Angriffs auf das Kapital in seiner neuen Form gehören. Wir steuern auf eine Zeit blutiger Zusammenstöße und harter Repression zu. Der soziale Friede, der einerseits erträumt und andererseits gefürchtet wurde, bleibt der unzugänglichste Mythos jenes utopischen Kapitals, das sich als Erbe der „friedlichen“ Logik des Liberalismus wähnte, das das Wohnzimmer vom Staub des Tages säuberte und in der Küche schlachtete, das sich zu Hause eine wohltätige Gesinnung gab und in den Kolonien mordete.

Die neuen Möglichkeiten für kleine, erbärmliche, obszöne tägliche Freiheiten werden mit einer tiefgreifenden, grausamen und systematischen Diskriminierung großer Teile der Gesellschaft bezahlt. Dies wird – früher oder später – innerhalb derselben privilegierten Schichten zum Wachstum eines Bewusstseins der Ausbeutung führen, das unweigerlich zu Rebellionen führen wird, selbst wenn diese auf einige wenige Personen beschränkt sind, selbst wenn es sich um die Besten handelt. Abschließend muss gesagt werden, dass der neuen kapitalistischen Perspektive eine starke ideologische Unterstützung wie in der Vergangenheit fehlt, die den Ausbeutern, insbesondere den mittleren Führungskräften, Halt geben könnte. Wohlstand um des Wohlstand willen ist zu wenig, vor allem für große Gruppen von Menschen, die in der jüngeren Vergangenheit direkt von befreienden Utopien, revolutionären Träumen und (wenn auch eingeschränkten und unglücklichen) Versuchen von insurrektionalistischen Projekten erfahren oder einfach nur darüber gelesen haben.

Und es wird nicht lange dauern, bis die Letzteren die Ersteren einholen. Nicht alle, die dazugehören, werden glücklich im künstlichen Glück des Kapitals leben. Viele von ihnen werden erkennen, dass das Elend eines Teils der Gesellschaft das Wohlbefinden der anderen vergiftet und die Freiheit selbst (umgeben von Stacheldraht) zu einem königlichen Gefängnis macht.

In den letzten Jahren hat das industrielle Projekt einige Kurskorrekturen erfahren, nicht zuletzt durch die Aufpfropfung von staatlichen Kontrollen und Methodologien, die mit den politischen Interessen der Konsensverwaltung verbunden sind.

Betrachtet man es von der technischen Seite, kann man sehen, wie sich die Organisation der Produktion verändert. Sie steht nicht mehr im Mittelpunkt der Tätigkeit, die an einem bestimmten Ort, z. B. der Fabrik, ausgeübt werden soll, sondern verteilt sich immer mehr über das gesamte Gebiet, auch in großer Entfernung. Dies ermöglicht die Entwicklung von Industrieprojekten, die eine bessere und ausgewogene Verteilung der Produktionseinheiten über das Gebiet berücksichtigen und einen Aspekt der sozialen Ungleichgewichte der Vergangenheit auslöschen: Ghettos und industrielle Superkonzentrationen, Gebiete mit hoher Umweltverschmutzung und systematischer Zerstörung von Ökosystemen. Das Kapital blickt nun in eine ökologische Zukunft, schöpft aus dem großen Kessel der Umweltschützer und vertritt eine Ideologie des Schutzes der natürlichen Ressourcen, die es möglich erscheinen lässt, eine Stadt der Zukunft mit einem „menschlichen Gesicht“ zu bauen, sei es nun sozialistisch oder nicht.

Das eigentliche Motiv, das das kapitalistische Projekt in diese fernen Länder der Utopie von gestern treibt, ist sehr einfach und keineswegs menschenfreundlich: es beruht auf der Notwendigkeit, das Unbehagen der Klasse zu minimieren und den tatsächlichen Konflikt mit einer honigsüßen progressiven Anpassung zu glätten, die auf unbegrenztem Vertrauen in die Technologie beruht.

Es liegt auf der Hand, dass den Eingeschlossenen die attraktivsten Vorschläge gemacht werden, nicht zuletzt, um – so weit wie möglich – Ausfälle zu vermeiden, die der kapitalistischen Zukunft ein echter Dorn im Auge sein werden, da die einzelnen Subjekte, die ihre Planung in einem revolutionären Sinne ändern werden, wenn sie aus der Sphäre des Produktionsprozesses selbst kommen, über echte Mittel verfügen werden, die sie der Revolution gegen die Hegemonie der Ausbeutung zur Verfügung stellen können.

Doch diese saint-simonistische Hoffnung14, die Welt durch „gute“ Technologie zu beherrschen, erweist sich schon jetzt als unbegründet, weil sie das Problem der physischen Dimensionen, die dem Ghetto der Ausgeschlossenen zuzuordnen sind, nicht berücksichtigt. Letztere können innerhalb des Gartenprojekts in einer Mischung aus Glück und Entbehrung recycelt werden, aber nur bis zu einem bestimmten Punkt.

Spannungen und ständige Wutausbrüche werden die ersehnte Utopie der Ausbeuter ernsthaft gefährden. Das war schon vorher klar. Die Probleme des Wettbewerbs und des Monopolismus drohten die Produktionsstrukturen in eine Reihe von wiederkehrenden „Krisen“ zu verwickeln. In den meisten Fällen handelt es sich um Produktionskrisen. Für die damalige Mentalität war es in der Tat unabdingbar, die sogenannten „Skaleneffekte“ zu erzielen, und das war nur möglich, indem man mit immer größeren Produktionsvolumina arbeitete und gleichzeitig die Fixkosten so gut wie möglich verteilen konnte. Daher die Standardisierung der Produktionsprozesse, die Anhäufung von Produktionseinheiten an bestimmten Orten, die chaotisch nach einer kolonisierenden Logik verteilt sind (z. B. die sizilianischen „Kathedralen in der Wüste“15), die Einheitlichkeit des Produkts, die Parzellierung von Kapital und Arbeit usw.

Die ersten Korrekturen kamen durch das massive Eingreifen des Staates zustande. Die Möglichkeiten, die sich durch diese Präsenz eröffneten, waren vielfältig. Der Staat war nicht länger ein passiver Zuschauer, ein bloßer „Kassierer“ des Kapitals, sondern ein aktiver Akteur, ein „Bankier“ und Unternehmer.

Im Wesentlichen geht es darum, die Produktion von Gebrauchswerten zu verringern und die Produktion von Tauschwerten zu erhöhen, um sozialen Frieden zu schaffen.

Das Kapital fand eine Teillösung und beendete damit seine Wettbewerbszeit. Der Staat half mit, um die ökonomische Produktion vollständig in die Produktion von sozialem Frieden umzuwandeln. Dieses letzte utopische Projekt ist offensichtlich unerreichbar. Früher oder später geht die Maschine kaputt.

Der neue Produktionsprozess – der schon oft als postindustriell bezeichnet wurde – ermöglicht niedrige Produktkosten auch bei nicht großvolumiger Verarbeitung; er erlaubt erhebliche Veränderungen in der Produktion, auch ohne Kapitalerhöhung; er entwickelt nie dagewesene Möglichkeiten für Veränderungen in der Produkt–Uniformität. Das eröffnet der Mittelklasse, den Führungskräften in der Produktion und der vergoldeten Isolation der herrschenden Klassen Horizonte der „Freiheit“, die vorher unvorstellbar waren. Aber es erinnert sehr an die Freiheit der Burg der Deutschordensritter im Nazi-Stil. Rund um die Mauern der Burg, die von bewaffneten Männern wimmelt, herrscht nur der Frieden der Friedhöfe.

Keiner der Verfechter der Ideologien des postindustriellen Neokapitalismus hat sich die Frage gestellt, was er angesichts der Gefahr, die auf ihn zukommt, tun soll.

Künftige Aufstände werden immer blutiger und schrecklicher werden. Und sie werden es noch mehr sein, wenn wir wissen, wie wir sie in einer Insurrektion der Massen verwandeln können.

Die negative Auslese gegenüber denjenigen, die von der Burg der teutonischen Ritter ausgeschlossen werden, wird nicht nur durch die reale Arbeitslosigkeit hervorgerufen, sondern vor allem durch den fehlenden realen Zugang zu Daten. Das neue Produktionsmodell wird zwangsläufig die Verfügbarkeit von Datenwissen verringern. Das ist nur zum Teil eine Folge der Computerisierung der Gesellschaft. Vielmehr ist sie eine der Voraussetzungen für die neue Herrschaft, die seit mindestens zwei Jahrzehnten geplant ist und ihren Höhepunkt in der Schule der Massen findet, die schon vor langer Zeit von adäquaten kulturellen Mitteln entleert wurde.

Genau wie zur Zeit der industriellen Revolution führte das Aufkommen der Maschinen zu einer Verringerung der Selbstbestimmungsfähigkeit großer Massen von Arbeiterinnen und Arbeitern und damit zu ihrem Eindringen in die Fabriken, wodurch die bisherige bäuerliche Kultur zerstört und dem Kapital eine Belegschaft ausgeliefert wurde, die praktisch nicht in der Lage war, die neue mechanisierte Welt, die sich abzeichnete, zu „verstehen“; die Computerrevolution, die vom Staat auf den Anpassungsprozess der kapitalistischen Widersprüche aufgepfropft wurde, ist dabei, das Industrieproletariat in die Hände eines neuartigen Mechanismus zu geben, der mit einer Sprache ausgestattet ist, die nur von einer privilegierten Minderheit verstanden wird. Der Rest wird zurückgedrängt und gezwungen, das Schicksal des Ghettos zu teilen.

Das alte Wissen, selbst das, das von Intellektuellen durch den deformierenden Spiegel der Ideologie gefiltert wurde, wird in Maschinensprache kodiert und mit den neuen Bedürfnissen kompatibel gemacht. Dies wird eine der historischen Gelegenheiten sein, um unter anderem den mageren Realgehalt des ideologischen Blödsinns zu entdecken, mit dem wir in den letzten zwei Jahrhunderten gefüttert worden sind.

Das Kapital wird dazu neigen, alles aufzugeben, was sich nicht sofort in diese neue, allgemeine Sprache übersetzen lässt. Traditionelle Bildungsprozesse werden inhaltlich immer mehr entwertet und ihre tatsächliche (und selektive) Warensubstanz freigelegt.

Als Ersatz für die Sprache wird ein neuer Verhaltenskanon bereitgestellt, der aus mehr oder weniger präzisen Regeln besteht und im Prinzip aus den alten Prozessen der Demokratisierung und des Funktionierens von Vollversammlungen besteht, die das Kapital bereits perfekt zu kontrollieren gelernt hat. Dies hat den doppelten Nutzen, dass die Ausgegrenzten beschäftigt bleiben und an der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten „teilhaben“ können.

Die computerisierte Gesellschaft von morgen hat vielleicht ein sauberes Meer und eine „fast“ perfekte Erhaltung der begrenzten Umweltressourcen, aber sie wäre ein Dschungel von Verboten und Regeln, die zu ihrem Entsetzen in eine tiefgreifende persönliche Entscheidung zur Beteiligung am Gemeinwohl umgewandelt werden. Ohne eine Orientierungssprache sind die Ghettoisierten nicht mehr in der Lage, zwischen den Zeilen der Kommunikation der Macht zu lesen, und es wird ihnen nichts anderes übrig bleiben, als sich spontan, irrational und selbstzerstörerisch aufzulehnen.

Die Zusammenarbeit derjenigen, die von der fiktiven Freiheit des Kapitals angewidert sind, die revolutionär einen kleinen Teil der Technologie beisteuern, die sie dem Kapital entrissen haben, wird nicht ausreichen, um eine Brücke zu bauen oder eine Sprache zu finden, auf der eine kluge und korrekte Gegeninformation aufbauen kann.

Die organisatorische Arbeit zukünftiger Insurrektionen wird notwendigerweise dieses Problem lösen müssen, um – vielleicht bei Null beginnend – die wesentlichen Bedingungen einer Kommunikation zu konstruieren, die im Begriff ist, unterbrochen zu werden, und die gerade im Moment ihrer Schließung durch spontane und unkontrollierte Reaktion zu Demonstrationen von solcher Gewalt führen könnte, dass vergangene Erfahrungen leicht in der Bedeutungslosigkeit verblassen würden.

Man darf sich das Ghetto nicht als Slum der Vergangenheit vorstellen, als einen Harlekinmantel aus dem Müll der Überflüssigen, der über das Leid der Entbehrung geworfen wird. Das neue Ghetto, das durch die Regeln der neuen Sprache kodifiziert ist, wird ein – natürlich passiver – Nutzer der Technologien der Zukunft sein und auch in der Lage sein, die rudimentären manuellen Fähigkeiten zu besitzen, die es ihm ermöglichen, Objekte zu bedienen, die nicht nur Bedürfnisse befriedigen, sondern selbst ein großes und kolossales Bedürfnis sind.

Diese Gesten werden so verarmt sein, dass sie perfekt zu der allgemeinen Verarmung der Lebensqualität im Ghetto passen.

Sogar Objekte von beträchtlicher produktiver Komplexität können zu relativ niedrigen Kosten geliefert und mit jenem panischen Gefühl der Exklusivität beworben werden, das die Käufer jetzt in den Bann der Projekte des Kapitals zieht. Wenn sich die Produktionsbedingungen geändert haben, werden wir außerdem nicht mehr eine serielle Wiederholung desselben Objekts mit erheblichen Schwierigkeiten (vor allem in Bezug auf die Kosten) für Modifikationen und technologische Entwicklungen haben, sondern (sogar innerhalb des Ghettos) eine Reproduktion von artikulierten, flexiblen, austauschbaren Prozessen, die in der Lage sind, (zu geringen Kosten) die neuen Ideen der Kontrolle zu nutzen und in besonderer Weise in der Lage sind, die Nachfrage selbst zu beeinflussen, sie zu orientieren und die wesentlichen Bedingungen der Produktion des sozialen Friedens zu realisieren.

Eine solche scheinbare Vereinfachung des Lebens, sowohl für die Eingeschlossenen als auch für die Ausgeschlossenen, eine solche technologische „Freiheit“ lässt Ökonomen und Soziologen heute träumen, die sich – wie die guten Menschen, die sie immer waren – erlauben, die Umrisse einer klassenübergreifenden Gesellschaft zu skizzieren, die in der Lage ist, „gut zu leben“, ohne die Ungeheuer des Klassenkampfes, des Kommunismus oder der Anarchie zu wecken.

Der Rückgang des Interesses an den Gewerkschaften/Syndikaten und die Entleerung der reformistischen Bedeutung, die diese Organisationen in der Vergangenheit hatten, und ihre Umwandlung in eine bloße Übermittlungskette für die Weisungen der Arbeitgeber werden als Beweis für das Ende des Klassenkampfes und das Aufkommen der klassenübergreifenden Realität gesehen, und das alles parallel zum Aufkommen der postindustriellen Gesellschaft. Das ist aus mehreren Gründen, die wir weiter unten sehen werden, nicht sinnvoll. Die Gewerkschafts- Syndikatsbewegung (welcher Art auch immer) hat ihre revolutionäre Bedeutung verloren (falls sie jemals eine hatte), und sogar ihre reformistische Bedeutung, nicht weil der Klassenkampf vorbei ist, sondern weil sich die Bedingungen des Kampfes grundlegend verändert haben. Letztendlich stehen wir vor einer Fortsetzung mit immer größer werdenden und unlösbaren Widersprüchen.

Schematisch können zwei Phasen rekonstruiert werden.

Im Industriezeitalter herrschen Kapitalkonkurrenz und ein Produktionsprozess, der auf Herstellung basiert. Der wichtigste ökonomische Sektor ist der sekundäre Sektor, der produzierte Energie als transformierende Ressource und Finanzkapital als strategische Ressource nutzt. Die Technologie dieser Zeit ist im Wesentlichen mechanisch und die prominenteste Produzentenfigur ist die des Fabrikarbeiters. Die in den Projekten angewandte Methodologie ist empirisch, d.h. sie basiert auf Experimenten, während die Organisation des gesamten Produktionsprozesses auf ökonomischem Wachstum bis ins Unendliche basiert.

In der postindustriellen Periode, auf die wir uns zubewegen, in die wir aber noch nicht ganz eingetreten sind, insbesondere in der italienischen Situation, setzt sich der Staat über die kapitalistische Konkurrenz durch und setzt seine Systeme der Konsensbildung und Produktionsordnung im Wesentlichen zum Zweck des sozialen Friedens durch. Die technische Herstellungsweise wird durch die Verarbeitung von Daten und die Umwandlung von Dienstleistungen ersetzt. Der vorherrschende ökonomische Sektor wird der tertiäre Sektor (Dienstleistungen, eben), der quartäre Sektor (spezialisierte Finanzen), der quinäre Sektor (Forschung, Freizeit, Bildung, öffentliche Verwaltung). Die wichtigste transformative Ressource ist die Information, die aus einem komplexen System der Datenübertragung besteht, während die wichtigste strategische Ressource das Wissen ist, das langsam das Finanzkapital ersetzt. Die Technologie verlässt die mechanische Komponente und bewegt sich auf die intellektuelle zu; der typische Mitarbeiter dieser neuen Technologie ist nicht mehr der Arbeiter, sondern der Techniker, der Fachmann, der Wissenschaftler. Die in den Projekten angewandte Methodologie basiert auf abstrakter Theorie und nicht mehr auf Experimenten, während die Organisation des Produktionsprozesses auf der Kodifizierung von theoretischem Wissen beruht.

Die Dämmerstunde der Arbeiter-Zentralität -. Indem er sich auf die industrielle Produktionsphase konzentrierte, betrachtete der Marxismus den Beitrag der Arbeiterklasse zur revolutionären Lösung der gesellschaftlichen Widersprüche als grundlegend. Daraus ergab sich eine tiefgreifende Konditionierung der Strategie der revolutionären Bewegung, die sich an den Zielen der Machteroberung orientierte.

Dahinter steckt der von Marx gepflegte Hegelsche Irrglaube, dass der dialektische Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie durch eine indirekte Stärkung des Proletariats durch die Stärkung des Kapitals und des Staates verschärft werden kann. Auf diese Weise wurde jeder Sieg der Unterdrückung als Vorzimmer des zukünftigen proletarischen Sieges gelesen. All dies in einer fortschrittlichen – typisch aufklärerischen – Vision von der Konstruierbarkeit des „Geistes“ in der Welt der Materie.

Mit zweifellos interessanten Modifikationen hat sich diese alte Vorstellung vom Klassenkampf bis gestern gehalten, zumindest in einigen der alptraumhaften Träume, die die Überlebenden der alten Projekte von Ruhm und Eroberung von Zeit zu Zeit hatten. Auf theoretischer Ebene hat es nie eine ernsthafte kritische Analyse dieser rein fantastischen Situation gegeben.

Man war sich nur mehr oder weniger einig, dass die zentrale Rolle der Arbeiterinnen und Arbeiter an eine andere Stelle verlagert wurde. Zunächst zaghaft, im Sinne einer Verbreitung der Fabrik im Gebiet. Dann, noch entscheidender, im Sinne einer fortschreitenden Ersetzung der klassischen sekundären durch tertiäre Produktionsprozesse.

Auch die Anarchistinnen und Anarchisten hatten ihre Illusionen, und auch diese sind untergegangen. Um die Wahrheit zu sagen, hatten sie nie die Illusion von der Zentralität der Arbeiterklasse, aber sie sahen die Rolle der Arbeit oft als grundlegend an, wobei die Industrie die Führung über den primären Sektor (Landwirtschaft) übernahm. Diese Illusionen wurden durch den Anarcho-Syndikalismus genährt.

Die letzten Feuer in diesem Sinne wurden mit der Wiedergeburt und dem anschließenden Erlöschen des Enthusiasmus für die aus der Asche auferstandene spanische CNT gesehen, und es waren viele, angefacht vor allem von denen, die heute als die radikalsten Verfechter der neuen „Wege“ des reformistischen Anarchismus erscheinen.

Die zugrundeliegende Vorstellung, die diese Form der Zentralität der Arbeiter antreibt (die sich von der der Marxisten unterscheidet, aber nicht so unterschiedlich ist, wie gemeinhin angenommen wird), war der Schatten der Partei. Die anarchistische Bewegung fungierte lange Zeit vor allem als synthetisierende Organisation, also mit dem schwerlastigen Teil der Partei. Natürlich könnten einige Gefährten einwenden, dass diese Aussagen zu allgemein sind, aber sie können nicht leugnen, dass die Mentalität, die die Synthesebeziehung bestimmt, die eine spezifische anarchistische Organisation mit der äußeren Realität der Bewegung herstellt, eine Beziehung ist, die der der klassischen „Partei“ nahe kommt.

Gute Absichten allein sind nicht genug.

Genau, diese Mentalität ist überholt. Nicht nur bei den jüngeren Gefährten und Gefährtinnen, die ein offenes und ungezwungenes Verhältnis zur revolutionären Bewegung wünschen, sondern vor allem in der gesellschaftlichen Realität selbst.

Wenn die für die Industrie typischen Produktionsbedingungen einen syndikalistischen/gewerkschaftlichen Kampf oder eine auf Syntheseorganisation basierende Strategie verständlich machten, so ist heute, in einer tiefgreifend veränderten Realität, in einer postindustriellen Perspektive, die einzig mögliche Strategie für Anarchistinnen und Anarchisten die informelle, d.h. von Gruppen von Gefährtinnen und Gefährten, die sich mit präzisen Zielen zusammenschließen, auf der Grundlage von Entscheidungen der Affinität (A.d.Ü., oder eher durch?) dazu beitragen, Basiskerne zu schaffen, die auf Zwischenziele ausgerichtet sind, und in der Zwischenzeit die Bedingungen schaffen, um die Situationen in insurrektionalistische Bedingungen zu verwandeln.

Die Partei des Marxismus ist tot. Auch die Syntheseorganisation der Anarchisten. Wenn ich Kritik wie die von sozialen Ökologinnen und Ökologen lese, die vom Tod des Anarchismus sprechen, wird mir klar, dass es sich dabei um ein sprachliches Missverständnis handelt und dass es an der Fähigkeit mangelt, sich mit den Themen auseinanderzusetzen. Was für sie – und auch für mich – tot ist, ist der Anarchismus, der sich als organisatorischer Bezugspunkt der kommenden Revolution verstand, der sich als Synthesestruktur verstand, die darauf abzielte, all die vielfältigen Formen zusammenzufassen, in denen sich die menschliche Kreativität zur Zerschlagung der staatlichen Konsens- und Unterdrückungsstrukturen verwirklicht. Was tot ist, ist der statische Anarchismus der traditionellen Organisationen, der auf den Ansprüchen von Forderung und Quantität beruht. Die Hoffnung, dass eine soziale Revolution zwangsläufig aus unseren Kämpfen resultieren muss, hat sich als unbegründet erwiesen. Es kann so sein, oder es kann auch nicht so sein.

Der Determinismus ist tot, und das blinde Gesetz von Ursache und Wirkung ist damit auch tot. Die revolutionären Mittel, die wir einsetzen, einschließlich der Insurrektion, führen nicht zwangsläufig zu einer sozialen Revolution. In Wirklichkeit gibt es das Kausalmodell, das den Positivisten des letzten Jahrhunderts so wichtig war, nicht. Genau deshalb wird eine Revolution möglich.

Kürzere Datenübertragungszeiten führen zu schnelleren Entscheidungen. Indem diese Zeiten auf Null zurückgesetzt werden (wie es bei der „Echtzeit“ der Fall ist), werden programmatische Entscheidungen nicht beschleunigt, sondern verändert. Sie sind etwas anderes.

Durch den Wechsel der Projekte werden auch die Elemente der produktiven Investitionen verändert, indem man vom traditionellen (hauptsächlich finanziellen) Kapital zum Kapital der Zukunft (hauptsächlich intellektuell) übergeht.

Die Verwaltung des Verschiedenen ist eines der grundlegenden Elemente von Echtzeit.

Aber die Macht, indem sie das Verhältnis zwischen Politik und Ökonomie verfeinert, Wettbewerbswidersprüche eindämmt, die Konsensbildung organisiert und, was noch viel wichtiger ist, all dies in einer Echtzeitperspektive programmiert, schneidet diese einen großen Teil der Gesellschaft ein für alle Mal aus: den Teil der Ausgeschlossenen.

Die Veränderung der Geschwindigkeit der Produktionsabläufe wird vor allem einen kulturellen und sprachlichen Wandel zur Folge haben. Und hier liegt die größte Gefahr für die Ghettoisierten.

Um der Macht die Legitimität zu negieren und ein „vielfältiges Verhalten“ zu erzeugen, braucht es eine Sprach-, wenn nicht sogar eine Interessengemeinschaft. Die Partei hat das Gleiche getan und die Gewerkschaften/Syndikate auch. Die Sprachgemeinschaft wurde in eine fiktive Opposition von Klassenunterschieden übersetzt, die durch die Forderung nach Verbesserungen und den Widerstand, diese zu gewähren, charakterisiert war.

Aber etwas zu fordern, setzt eine „Gemeinschaft“ mit denjenigen voraus, die die Sache, die du fordern willst, vertreten. Jetzt zielt das globale Unterdrückungsprojekt darauf ab, diese Gemeinschaft zu zerschlagen. Nicht unbedingt durch spezielle Gefängnismauern, Ghetto-Viertel, Trabantenstädte oder große Industriezonen, sondern ganz einfach durch die Dezentralisierung der Produktion, die Verbesserung der Dienstleistungen, die Ökologisierung der Produktionsmentalität und die absolute Ausgrenzung der Ausgeschlossenen. Und diese Trennung wird dadurch erreicht, dass sie schrittweise der gemeinsamen Sprache beraubt werden, die sie bis dahin mit dem anderen Teil der Gesellschaft hatten. Sie werden nicht mehr wissen, worum sie bitten sollen.

Die Konsensbildung basierte in einer Ära, die man noch als industriell bezeichnen konnte, auf einer möglichen Beteiligung an den produktiven Vorteilen. In einer Epoche, in der die Möglichkeiten der Veränderung des Kapitals praktisch unendlich sind, braucht das Duo Kapital-Staat eine eigene Sprache, die sich von der Sprache der Ausgeschlossenen unterscheidet, um diese Aussicht bestmöglich zu realisieren.

Die Unzugänglichkeit zur vorherrschenden Sprache wird eine noch wirksamere Segregation darstellen als die traditionellen Grenzen des Ghettos. Die immer schwieriger werdende Erschließung der dominanten Sprache wird nach und nach immer schwieriger werden, bis sie absolut „anders“ wird. Von diesem Moment an wird sie aus den Wünschen der Ausgeschlossenen verschwinden und völlig ignoriert werden. Von diesem Moment an sind die Eingeschlossenen für die Ausgeschlossenen „anders“ und umgekehrt.

Für das repressive Projekt ist diese Fremdartigkeit unerlässlich. Die grundlegenden Konzepte der Vergangenheit, wie die der Solidarität, des Kommunismus, der Revolution und der Anarchie, fanden ein sinnvolles Fundament in der anerkannten Bedeutung des Gedankens der Gleichheit. Aber für die germanischen Ritter, die in der Burg leben, werden die Ausgeschlossenen keine Menschen sein, sondern bloße Dinge, Gegenstände, so wie für unsere Vorfahren Sklaven bloße Dinge waren, die man kaufen und verkaufen konnte.

Wir fühlen uns dem Hund gegenüber nicht gleichberechtigt, weil dieses Tier nur bellt, also nicht unsere Sprache „spricht“. Deshalb lieben wir ihn zwar, aber wir empfinden ihn als „anders“ und machen uns keine Gedanken über sein Schicksal, zumindest nicht auf der Ebene aller Hunde insgesamt, sondern hängen lieber an dem Hund, der uns mit Herablassung, Zuneigung oder Wildheit gegenüber seinen Feinden versorgt.

Das Gleiche gilt für alle, die nicht dieselbe Sprache haben wie wir. Beachte, dass man hier nicht „Ausdrucksweise“ mit „Sprache“ verwechseln sollte. Unsere fortschrittliche und revolutionäre Tradition hat uns bewusst gemacht, dass alle Menschen gleich sind, ungeachtet der Unterschiede in Hautfarbe und Sprache. Stattdessen haben wir es hier mit einer möglichen Entfaltung des repressiven Projekts in dem Sinne zu tun, dass den Ausgeschlossenen die Möglichkeit genommen wird, mit den Eingeschlossenen zu kommunizieren. Indem sie die Verwendbarkeit des geschriebenen Wortes stark einschränkt, indem sie Zeitungen und gedrucktes Papier allmählich durch das per Kabel übertragene Wort, durch Bilder, Farben und Musik ersetzt, kann die Macht von morgen eine Sprache konstruieren, die nur für die Ausgeschlossenen geeignet ist, die ihrerseits verschiedene, sogar kreative Wege der sprachlichen Reproduktion entwickeln, aber immer innerhalb ihres eigenen Codes, völlig abgeschnitten von jeglichem Kontakt mit dem Code der Eingeschlossenen und damit von jedem möglichen Verständnis der Welt der Letzteren. Und von Unverständnis bis hin zu Desinteresse und Engstirnigkeit ist der Weg kurz.

In diesem Sinne befindet sich der Reformismus auf dem Weg in den Tod. Es werden keine „Ansprüche“ möglich sein, weil wir nicht wissen, was wir von einer Welt fordern sollen, die uns nicht mehr interessiert und uns nichts Verständliches mehr sagt. Abgeschnitten von der Sprache der Eingeschlossenen, werden die Ausgeschlossenen folglich auch von der von ihnen entwickelten Technologie abgeschnitten sein. Sie werden vielleicht in einer besseren, atemberaubenderen Welt leben, mit weniger Gefahren durch apokalyptische Konflikte, mit einer allmählichen Abschwächung der Spannungen auf ökonomischer Basis, aber mit einer Zunahme der Spannungen auf irrationaler Basis.

Von den eher peripheren Gebieten des Planeten, in denen die Durchsetzung des Projektes der Ausbeutung trotz seiner „Echtzeit“ immer auf Hindernisse ethnischer und geografischer Natur stoßen wird, bis hin zu den zentraleren Gebieten mit einem fortgeschrittenen Grad an Rigidität in der Klassenspaltung wird es eine Verschiebung weg von Konflikten auf ökonomischer Basis hin zu Konflikten irrationaler Natur geben.

Die Eingeschlossenen und ihre Projekte der Kontrolle mögen das Ziel verfolgen, einen Konsens zu erreichen, indem sie die ökonomischen Schwierigkeiten der Ausgeschlossenen verringern, sie mögen ihnen sogar vorgefertigte Sprachen zur Verfügung stellen, die auf die partielle und sklerotische Nutzung16 eines Teils der herrschenden Technologie ausgerichtet sind, sie mögen sogar eine bessere Lebensqualität ermöglichen, aber sie werden nicht in der Lage sein, die Ausbrüche irrationaler Gewalt zu verhindern, die aus dem Gefühl der Nutzlosigkeit, der Langeweile und der tödlichen Atmosphäre des Ghettos entsteht.

Die Massenbewegungen, die einige unserer Gefährten und Gefährtinnen heute so beeindrucken und ihnen ihre Gefährlichkeit (und ihrer Meinung nach auch ihre Nutzlosigkeit) vor Augen führen, weisen auf die am ehesten vorhersehbare Entwicklung der Kämpfe von morgen hin.

Viele Jugendliche sind praktisch nicht mehr in der Lage, die Situation, in der sie sich befinden, kritisch zu beurteilen. Ohne das Mindestmaß an Kultur, das die Schulen einst vermittelten, und bombardiert mit Botschaften, die auf grundloser und zweckloser Gewalt beruhen, werden sie auf tausend Arten zu einer unbewussten, irrationalen, spontanen Rebellion getrieben, ohne die „politischen“ Ziele, die frühere Generationen klar zu erkennen glaubten.

Die „Orte“ dieser kollektiven Explosionen und die Wege dorthin sind sehr unterschiedlich. Die Anlässe auch. In jedem Fall kann man jedoch einen Weg der Intoleranz gegenüber der Verwaltung des Todes zurückverfolgen, den die kapital-staatliche Kombination durchsetzen will.

Es ist völlig sinnlos, sich von solchen Demonstrationen einschüchtern zu lassen, denn ihnen fehlt der Interpretationsschlüssel, den uns die Tradition als Indikator für revolutionäre Instanzen in Massenbewegungen gelehrt hat.

Es geht nicht darum, Angst zu haben, sondern zur Tat zu schreiten17, bevor es zu spät ist.

Veränderungen in der Welt der Arbeit und der Schule

Der Glaube, dass die Planung einer konstanten Steigerung des kollektiven Wohlstands durch die Ausweitung der Nachfrage etwas Illusorisches und Unmögliches ist, erschüttert alle materiellen Erwartungen und verschiebt den Eintritt von Randgruppen in den Bereich des sinnvollen Konsums auf unbestimmte Zeit. Mit Schrecken stellt man fest, dass dieser Bereich im Gegenteil schrumpft, dass der Staat immer weniger in der Lage ist, ein akzeptables Wohlergehen zu gewährleisten, da immer größere Bevölkerungsschichten aus den Grenzen der Imperien drängen und jedes mittelfristige Rezept zu einem periodischen Scheitern wird, das prompt mit Definitionen eines hoffnungsvollen Possibilismus übermalt wird. Monumentale Programme entpuppen sich als minderwertige politische Betrügereien. Es wird nicht nur versäumt, das Armutsproblem durch eine umfassende soziale Umstrukturierung zu lösen, sondern es besteht auch der bewusste Unwille, das Problem zu lösen. Die Vereinigten Staaten als das reichste Land stellen damit die Geißel einer düsteren Zukunft für ihre proletarischen Massen dar, die sich auf dem Weg in die Deentlohnung18 und Marginalisierung befinden. In einer Welt, die immer mehr die Form von Nachrichtenverbreitung und Informationsverwaltung annimmt, vergrößert sich die Kluft zwischen Arm und Reich, anstatt sich zu verringern, und dieser inzwischen unüberbrückbare Abgrund ist in den solidesten und monolithischsten staatlichen Verhältnissen, in denen der Dezentralisierungsprozess noch in seinen formalen Aspekten stecken bleibt, noch viel größer. Ein riesiges Universum von heruntergekommenen Gebäuden breitet sich wie ein Lauffeuer aus und bedeckt selbst Gebiete, die früher als entwickelt galten, als Zentren der Geschäfte und des Ideenaustauschs, mit erschreckenden Flecken von radikalem Elend. Die Metropolen stellen den extremen Bruchpunkt dieses konzentrierten Universums innerhalb einer kontinuierlichen und ununterbrochenen Bewegung der Kommunikation dar. So ist man inmitten der Menschen auf sich allein gestellt, isoliert in der Wüste, die das globale Dorf selbst beinhaltet.

Es ist nicht nur ein Problem des ökonomischen Wohlstands. Es ist auch das Scheitern aller Freiheitsversprechen, aller Hoffnungen auf eine endgültige Bestätigung der Würde des Menschen, egal welcher Rasse und welchen sozialen Standes. Die Werte, die im globalen Dorf herrschen, sind alles andere als universell. Es sind Werte der Trennung, der Ghettoisierung, der endlosen Wiederholung aller Klischees, die Barrieren errichten und die erzwungene Konzentration ermöglicht haben. Im Gegenteil, von vielen Seiten, sowohl von der Rechten als auch von der Linken, kommen Argumente, die universelle Werte, die für alle gelten, für unangemessen erklären; Konzepte wie Gleichheit, die real und nicht fiktiv ist, werden oft mit wenig Unterscheidungsvermögen kritisiert. Bei der Verteidigung von Unterschieden werden einerseits Affinitäten markiert, die angemessene Reaktionen jenseits der alten Klassenmuster verfestigen könnten; andererseits werden Unterschiede, die keine solchen sind, wie die zwischen Nationen und Völkern, verschärft, wobei manchmal auf Diskurse zurückgegriffen wird, die mehr als vierzig Jahre lang begraben schienen. In diesem Hexenkessel scheint keine starke zentralistische Staatsperspektive akzeptabel zu sein, und das ist den Menschen definitiv bewusst geworden.

Eines der Symptome, und in anderer Hinsicht vielleicht auch eine der Ursachen, dieses von unten nach oben verlaufenden Zerfalls des Staatsverständnisses ist in der Krise der humanistischen Kultur zu suchen, der traditionellen Grundlage jedes starken Staates. Die unglaubliche Absenkung der Qualität der Schulbildung, einschließlich der Hochschulbildung, erreicht gerade in den Geisteswissenschaften und den höchsten Abschlüssen in Ländern mit dem höchsten industriellen Entwicklungsstand ungeahnte Ausmaße. Dies wird keineswegs durch einen ansonsten zu vernachlässigenden Zuwachs an technologischer Kultur kompensiert, und auf jeden Fall wäre diese letztere Kultur, selbst wenn sie in einem Lebens- und Denkmodell identifizierbar wäre, wie es die alte humanistische Kultur war, für einen starken und verwaltungsmäßig einheitlichen Staat nicht ausreichend.

Dieser reale Zustand der Auflösung des Staatsverständnisses kann für einen Anarchisten sehr interessant sein, wenn dieser wirklich in der Lage ist, aus den historischen Fesseln einer überholten -Ansammlung revolutionärer Konzeptionen auszubrechen. Gleichzeitig bleibt dieser Zustand ein Nährboden für die Ausbreitung unzähliger politischer Bewegungen, die sich auf einzelne Argumente stützen und nicht in der Lage sind, eine globale Vision des Lebens und der Gesellschaft zu bieten, wie es der Anarchismus ist. Auf dem Terrain des Verzichts auf den traditionellen Staat gibt es daher viele Referenzen, die politisch bleiben und deren einziger Zweck es ist, die tiefgreifenden Veränderungen des Kapitalismus in der Verwaltung öffentlicher Angelegenheiten im globalen Maßstab zu begleiten.

Aber das ist eine andere Sache.

a) Beziehungen zwischen Inflation und Beschäftigung

Es gibt viele Definitionen von Inflation, die sich in der einfachen Beobachtung eines Aufwärtstrends des allgemeinen Preisniveaus zusammenfassen lassen.

Für das neoklassische ökonomische Denken (bis in die 1920er Jahre) war Inflation nur auf den Fall eines totalen Währungskollapses (z. B. in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg) beschränkt, bei dem Preissteigerungen jenseits jedes logischen Maßes und jeder Progression liegen. Der normale Preistrend wurde als ausgleichender Trend des Marktes betrachtet, der auf diese Weise die günstigen Perioden, in denen die Preise plötzlich stiegen, mit Abwärtsphasen ausglich.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hingegen war der Preisanstieg ein ununterbrochenes Phänomen, das parallel zum Anstieg der Geldeinkommen verlief. Die neoklassischen Ökonomen gingen davon aus, dass es trotz der ständigen Ungleichgewichte und Abweichungen vom Vollbeschäftigungsniveau eine spontane Tendenz zur Rückkehr zum Gleichgewicht im System gibt, da eine Reihe von automatischen Mechanismen als Korrektiv wirken. Zu diesen Mechanismen gehören auch die Auswirkungen von Preisbewegungen. Sie sagten, dass in einem ökonomischen System mit einem Überangebot und daher einer Tendenz zu steigender Arbeitslosigkeit ein Rückgang der Preise (als Ergebnis einer Erhöhung des Produktangebots) zu einer Rückkehr zur Vollbeschäftigung führen würde (als Ergebnis eines Rückgangs der Löhne).

In Wirklichkeit sahen die Dinge anders aus. Der Preisverfall führte zu einer Verringerung der ökonomischen Aktivität und damit zu einem Rückgang der Nachfrage nach Einkäufen19 (aufgrund des Rückgangs der verfügbaren Lohnlinien, d.h. erhöhter Arbeitslosigkeit), was nicht zu einer Wiederherstellung des optimalen Beschäftigungsniveaus führte, sondern im Gegenteil zu immer größerer Arbeitslosigkeit.

Keynes war der erste, der der Meinung war, dass nur staatliche Eingriffe die Situation korrigieren könnten. Er zeigte den Zusammenhang zwischen Nachfrage, Einkommensniveau und Beschäftigung auf. Die Einwirkung auf die Beschäftigung wirkte sich also auf die Nachfrage aus, was die Produktion ankurbelte und einen Mechanismus in Gang setzte, der zur Vollbeschäftigung tendierte.

Das Denken dieses englischen Ökonomen entwickelte sich angesichts der Ereignisse, die den Kapitalismus in den 1930er Jahren betrafen. Damals herrschte hohe Arbeitslosigkeit in einem Kontext, der den Unternehmern selbst bei einem starken Rückgang der Kosten (sinkende Löhne, sinkende Zinsen für Kapitalkredite) keine Aussicht auf künftige Investitionen bot, und das, weil sie ihre Produkte mit ziemlicher Sicherheit nicht verkaufen konnten.

Die Arbeitslosigkeit hat heute andere Merkmale als in den 1930er Jahren. Das liegt an den institutionellen Mechanismen, die diesen Prozess verlangsamen (Tarifverträge, gewerkschaftliche/syndikalistische Kämpfe usw.), und ist nicht unbedingt mit sinkenden Löhnen und damit mit einer geringeren Kampfbereitschaft der Arbeiterinnen und Arbeiter verknüpft. Im Gegenteil, sie kann auch aus der Angst der Arbeitgeber entstehen, die Situation nicht unter Kontrolle zu haben. Zum Beispiel kann eine übermäßige Gewerkschafts-, Syndikatsmacht die andere Seite dazu bringen, keine neuen Mitarbeiter einzustellen und damit die Arbeitslosigkeit zu erhöhen. In diesem Fall – dem von Mitte der 1980er Jahre – reicht Keynes‘ Rezept zur Stützung der Nachfrage nicht aus.

Es entsteht die merkwürdige Situation, dass die Unterstützung der Verhandlungsmacht der Arbeiterinnen und Arbeiter, die zunächst als Mittel zur Stärkung der schwächeren Partei ausgegeben wurde, in der Praxis aber auf die Aufrechterhaltung der Nachfrage abzielt, einen ebenso unvermeidlichen Zweck erfüllt, nämlich die Verringerung der Investitionen aufgrund des Rückgangs der Renditeerwartungen für das Kapital, was zu einem Rückgang der Produktion und damit zu einem Anstieg der Inflation führt.

Das Kapital hat zwei Möglichkeiten, mit der Inflation umzugehen. Die erste geht davon aus, dass das kapitalistische System von einem inhärenten Mechanismus gesteuert wird, der es spontan zum Gleichgewicht der Vollbeschäftigung führt, der optimalen Situation, in der individuelles und kollektives Wohlergehen übereinstimmen sollten.

Der zweite ist der Meinung, dass der Kapitalismus in sich widersprüchlich ist und daher eine Gleichgewichtssituation unmöglich ist. Die einzige Lösung besteht also darin, in widersprüchlichen Situationen, die nicht miteinander vereinbar sind, mittelfristig den maximalen Gewinn zu erzielen.

Im ersten Fall wird die Inflation als Anomalie betrachtet, als ein mehr oder weniger vorübergehendes Übel, das geheilt werden kann und das das System beeinträchtigt, wenn es sich der Vollbeschäftigung nähert oder wenn es sich diametral von ihr entfernt. Die Verantwortung für das nicht perfekte Funktionieren des Systems wird also in dem nicht konformen Verhalten einer oder mehrerer Kategorien von ökonomischen Akteuren (Unternehmer, Gewerkschaften/Syndikate, Arbeitskräfte usw.) gesucht, die durch ihr Handeln/ihre Aktion den Prozess der Wiederherstellung des Gleichgewichts einleiten sollten.

Im zweiten Fall wird die Inflation als eine der Bedingungen für die Entwicklung des Systems selbst betrachtet, eine Form, die sie im Gesamtzusammenhang der Probleme der kapitalistischen Akkumulation annimmt. So wird eine bestimmte Kategorie von ökonomischen Subjekten – die Unternehmer – identifiziert, die die Investitionsentscheidungen treffen. Die Inflation wird in dieser Perspektive zu einem der Instrumente, die zur Durchsetzung der Interessen der herrschenden Seite eingesetzt werden können. Sie ist keine Krankheit mehr, die es zu vermeiden gilt, sondern ein unausweichliches Ereignis im turbulenten Leben des kapitalistischen Systems.

Die Inflation der Nachfrage ist die klassische Form der Inflation, die durch einen Überschuss der Nachfrage über das Angebot an Waren und Dienstleistungen bestimmt wird, woraus ein Anstieg der Marktpreise resultiert. Langfristig führt der Nachfrageüberschuss zu einem Anstieg der Zirkulation des Geldes (die übrigens aus einem nominalen Anstieg der Einkommen resultiert, so dass die Inflation der Nachfrage von Anfang an mit der Inflation der Kosten verbunden ist, wie wir gleich sehen werden), einem Anstieg der Geldmenge, der nicht mit dem produktiven Niveau des Kapitals und dem Niveau des Produktangebots übereinstimmt. Es ist klar, dass es nicht möglich ist, festzustellen, was zuerst steigt: die Marktpreise oder die Löhne, und daher kann kein eindeutiger Unterschied zwischen der Inflation der Nachfrage und der Inflation der Kosten festgestellt werden.

Wenn wir jedoch eine – wenn auch enge – Unterscheidung treffen wollen, ist es nur möglich, von einer Steigerung der Nachfrage zu sprechen, wenn wir es mit autonomen Expansionen der Nachfrage zu tun haben, die nicht an vorherige Erhöhungen der Produktionskosten (vor allem der Lohnkosten) gebunden sind. Dies ist der Fall, wenn eine nachfragefördernde ökonomische Politik nach dem Rezept von Keynes verfolgt wird, die in gewisser Weise einer Art Einkommensumverteilung entspricht, da sie vom Staat nur durch den Rückgriff auf öffentliche Schulden erreicht werden kann, da Steuern und Gebühren immer unzureichend sind. Die Staatsverschuldung besteht sowohl aus den Summen, die große und kleine Kapitalisten und Sparer dem Staat leihen, als auch aus dem Papiergeld, das gedruckt und ausgegeben wird. Der erste Teil ist theoretisch nicht inflationsfördernd, aber in der Praxis ist er es, weil er die Nachfrage anregt und damit zur Erhöhung der Marktpreise beiträgt; der zweite Teil der Staatsverschuldung ist zweifellos eine treibende Kraft für die Inflation (durch die Erhöhung der umlaufenden Geldmenge steigen die Preise).

Die Inflation der Kosten ist ein Anstieg der Verbraucherpreise, der auf einen direkten oder indirekten Anstieg der Produktionskosten (in erster Linie der Arbeitskosten) zurückzuführen ist. Schließlich wirken sich auch Erhöhungen der Kosten für die in der Produktion verwendeten Rohstoffe inflationär aus, aber es wäre korrekter, diese Erhöhungen auf den ursprünglichen Anstieg der Löhne in den rohstoffproduzierenden Industrien selbst zurückzuführen.

Nun ist der Arbeitsmarkt kein Wettbewerbsmarkt, sondern ein Monopolmarkt (basierend auf gewerkschaftlichen/syndikalistischen Lohnverhandlungen). Daraus folgt, dass man in der Kosteninflation keine Wettbewerbselemente finden kann, die auf die Existenz eines hypothetischen Ausgleichsmechanismus hindeuten könnten. Hier ist die Grundlage des Mechanismus ausschließlich sozialer und politischer Natur.

Diese Inflation ist also ein sozialer Konflikt über die Art und Weise, wie das Nationaleinkommen verteilt werden kann, der auf den ständigen Versuchen einiger sozialer Gruppen beruht, ihre Verfügungsmöglichkeiten (und damit ihren Konsum) schneller zu erhöhen, als es mit den Zielen anderer Gruppen und dem abstrakten Konzept der allgemeinen ökonomischen Stabilität vereinbar ist. Dies führt zu einem kontinuierlichen Anstieg der Preise und einer Spirale aus Preis-Lohn- und Lohn-Preis-Verhältnis.

In den letzten Jahren war es so, dass es selbst unter Bedingungen, die eine Preissenkung ermöglicht hätten, immer wieder zu Steigerungen kam, scheinbar ohne Grenzen. Solange es nun einen erheblichen Anstieg der Arbeitsproduktivität gibt, führt dies nicht zu weiteren Preiserhöhungen, weil der Anstieg durch die günstige Konjunkturentwicklung gedeckt ist und der bisherige Anstieg sogar als günstiger Beitrag zur Realisierung der Produktion angesehen wird, weil er die immer befürchtete Krise der Überproduktion hinausschiebt oder vermeidet (jedenfalls nie ganz). Aber diese ständigen Steigerungen schlagen sich früher oder später, vor allem unter den Bedingungen, dass es keine parallelen Produktivitätssteigerungen gibt, im weitesten Sinne auf die Reallöhne, nieder (d.h. auch im sehr weiten Sinne der Neuzusammensetzung der Arbeitskräfte unter den derzeitigen allgemeinen Lebensbedingungen der Gesellschaft mit fortgeschrittenem Kapitalismus, wenn nicht sogar postindustriell). Daraus folgt, dass ständige Erhöhungen der Geldlöhne notwendig sind, was sich auf die Arbeitskosten und damit auf den industriellen Gewinn auswirkt. Natürlich kann dieser letzte Schritt durch verschiedene Faktoren verzögert werden (Selbstfinanzierungsfähigkeit der Unternehmen, expandierende Märkte, geringe Abhängigkeit vom Finanzmarkt usw.), aber sobald er ausgelöst wird, wird er zu einer unaufhaltsamen Ursache der Kosteninflation.

Die internationalen Ursachen der Inflation sind ökonomische und politische Elemente, die andernorts zu einem Anstieg der Rohstoffpreise führen, die, wenn sie importiert werden, einen Inflationsprozess von immensen Ausmaßen verursachen.

Dies führt zu einer Reihe von Konsequenzen in Form von Erwartungen, Konflikten und Abwehrhaltungen in der Gesellschaft und damit auf dem Arbeitsmarkt. Die monopolistische Situation der Löhne verhindert korrigierende Eingriffe im kapitalistischen Sinne und setzt die Unternehmen den vollen Auswirkungen der internationalen Inflation aus, die nicht durch drastische Lohn- oder Beschäftigungskürzungen abgemildert werden kann. Der einzige Weg, den Kapitalisten dann einschlagen können, ist die Erhöhung der Preise.

Was sind die kapitalistischen Versuche, das Inflationsproblem zu lösen? Einkommenspolitik ist der Weg, den die Linke vertritt (natürlich immer im Namen des Kapitals). Das Ziel ist nicht so sehr, die Inflation zu beeinflussen, sondern die Arbeitslosigkeit, und wenn man Ersteres ändert, ändert man Letzteres. Es ist sicher, dass einige beschäftigungsfördernde Maßnahmen in der Vergangenheit (auch in jüngster Zeit) zu einer Veränderung des Verhältnisses zwischen Reallöhnen und Arbeitsproduktivität geführt haben, d.h. zu einer Verschlechterung der Produktionsbedingungen und damit zu einer Verringerung der Gewinne und folglich zu einem Rückgang der Investitionen.

Jetzt, angesichts der Inflation, spüren die Arbeiterinnen und Arbeiter zuerst die Kürzung der Reallöhne, die sie bekommen, also kämpfen sie für eine Erhöhung der Geldlöhne bei gleichzeitigem Erhalt der Beschäftigung. Die Unternehmer werden ihrerseits dazu gedrängt, zunächst einmal die Nachfrage nach Arbeitskräften zu straffen, während sie gleichzeitig versuchen, die Produktion zu rationalisieren. All dies erhöht den reinen Geldlohn, lässt aber die Probleme der Beschäftigung und der Produktivität ungelöst. Bleibt nur noch die Lösung, alle Kostensteigerungen auf die Preise umzulegen. Daraus ergibt sich eine konstante Senkung des Reallohns (im weitesten Sinne wie zuvor) und eine prompte Reaktion mit weiteren Erhöhungen des Nominallohns.

Was die Beschäftigung angeht, betrachten wir nun die vorherige Situation (industrielle Ökonomie). Die Beschäftigungsentwicklung in einer traditionellen Ökonomie wird von vielen Faktoren beeinflusst. Insbesondere die folgenden Faktoren erhöhen die Arbeitslosigkeit: die Anhebung des Rentenalters, der Zustrom höherer potenzieller Bildungsabschlüsse, die Zunahme der Arbeit von Frauen, der Zustrom von Arbeitskräften vom Land in die Stadt in Situationen geringerer industrieller Kapazität.

Lohnerhöhungen haben auch einen Einfluss auf die steigende Arbeitslosigkeit. Die Unternehmen gehen dazu über, Arbeitskräfte einzusparen, indem sie die Zusammensetzung der Investitionen ändern (erste Versuche zur Automatisierung der Fabriken werden unternommen), Arbeitsrhythmen werden beschleunigt (Überstunden, Zeitmessung usw.). Umstrukturierung spart Arbeit und erhöht die Arbeitslosigkeit.

In dieser Phase – die für Italien zwischen 1973 und 1980 anzusetzen ist – entwickelte sich auch eine sehr breite Schicht von Nicht-Erwerbstätigen, die nicht als „arbeitslos“ definiert werden konnten, da sie nicht auf der Suche nach Arbeit waren, sondern sich einfach „durchschlugen“ oder die Arbeit verweigerten und auch alle Verfahren, die zur Rolle der Arbeitslosen als Arbeitssuchende führen.

In diesem Klima der Rezession haben die Ökonomen erkannt, dass das System nicht spontan zum Gleichgewicht tendiert, so wie es in einem Klima der anfänglichen ökonomischen Entwicklung der Fall war, als es aus einer pathologischen ökonomischen Situation kam, die durch den Krieg und die Notwendigkeit des Wiederaufbaus verursacht wurde. Nach der Krise von 1973 haben die Ökonomen den Zusammenhang zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit besser verstanden.

In der Tat besteht innerhalb bestimmter Grenzen ein umgekehrtes Verhältnis zwischen der Veränderung der Löhne (und damit des Preisniveaus) und der Arbeitslosigkeit. Wenn die Löhne und die daraus resultierende Nachfrage nach Waren steigen (und damit die Arbeitslosigkeit sinkt), steigt das Preisniveau (d. h. die Inflation).

Die erste Folge dieser Entdeckung war, dass Keynes‘ These von der sozialen Stabilität als Folge der Vollbeschäftigung zu einer Illusion wurde. Ein Anstieg der Beschäftigung führt zwangsläufig zu einem Anstieg der Preise und damit zu einer ökonomisch und sozial instabilen Situation. Es war Milton Friedman, der auf die Notwendigkeit einer „natürlichen“ Arbeitslosenquote schloss, die in konstantem Verhältnis zu einem hypothetischen optimalen Preisniveau stehen sollte, damit es weder zu sozialen noch zu ökonomischen Störungen kommen würde.

Doch dieser theoretische Hinweis stieß auf praktische Hindernisse, die den Kapitalismus in den späten 1970er Jahren an den Rand des Zusammenbruchs brachten, von dem er sich mit dem Übergang zur postindustriellen Phase erholte. Diese Hindernisse waren: die gewerkschaftliche/syndikalistische Indexierung, die Grenzen der Arbeitskräftemobilität, die Starrheit der Investitionen, die Utopie der Vollbeschäftigung, die unzureichenden Marktinformationen und schließlich die tatsächlichen Kämpfe der Arbeiterinnen und Arbeiter.

Es war wiederum Friedman, bald gefolgt von Franco Modigliani und Ezio Tarantelli, der feststellte, dass die Förderung der Nachfrage einen Anstieg der Arbeitslosigkeit bedeutete und nicht, wie Keynes gedacht hatte, einen Rückgang.

Für Italien kann die postindustrielle Wende um 1981 herum angesetzt werden. Während die italienische Ökonomie zuvor ein System progressiver Anpassungen angesichts des internen und externen Inflationsdrucks (z.B. auch angesichts steigender Ölpreise) bevorzugt hatte, gibt es seither viel härtere und effektivere Anpassungsprozesse.

Die Kämpfe sind praktisch erloschen. Der Weg des gewerkschaftlichen/syndikalistischen Konflikts ist, wenn auch nur formal, versperrt. Das große Gerede über die „terroristische“ Gefahr trägt dazu bei, den letzten autonomen Widerstand des Arbeiterkampfes zu brechen. Es wird ein Klima der Einschüchterung und Kriminalisierung geschaffen, das dazu führt, dass diese Anpassungen kapitalistisch durchgesetzt werden können.

Der Rückgang der Beschäftigung nimmt dramatisch zu und breitet sich in der gesamten Industrie aus. Es kommt zu einer effektiven Schließung der großen Industrieanlagen. In der Lombardei beträgt der jährliche Rückgang nach 1981 um sieben Prozent. Nicht nur das Beschäftigungsniveau ändert sich, sondern auch die Klassenstruktur selbst. Die absurden Träume der alten und neuen Marxisten verblassen. Die Thesen der organisierten Autonomie erweisen sich als unbegründet.

Die italienische ökonomische Welt begann sich durch eine doppelte Aktion zu verändern. Erstens eine Produktionskrise, die zu einem deutlichen Rückgang der Auslastung von Industrieanlagen führt. Zweitens eine Produktivitätssteigerung infolge von Entlassungen, die bei älteren Arbeitern und Frauen beginnen und sich dann auf jüngere und mittelalte Arbeiter ausweiten. Der Arbeitsmarkt verändert sich entsprechend. Der kämpferischste Kern der Arbeiterklasse löst sich durch den weit verbreiteten Einsatz von Instrumenten zur Stabilisierung des Produktionszyklus auf: in erster Linie Entlassungsfonds. Die Löhne kommen zum Stillstand und die seltsamen Phänomene, die im letzten Jahrzehnt so häufig auftraten, dass die Löhne selbst in Zeiten geringerer Produktion stiegen, treten nicht mehr auf.

Jetzt wird die Beschäftigung nicht mehr durch starre Gewerkschafts- Syndikatsverträge verteidigt, und vor allem ist sie nicht mehr beängstigend in ihrer Fähigkeit zum autonomen Kampf, auch jenseits der Hinweise der Gewerkschaft/Syndikat und der Rekuperation der KPI (Kommunistische Partei Italien). Da das Kapital keine Angst mehr hat, wird die Beschäftigung in Bezug auf den Produktionszyklus weniger starr.

Die ersten positiven Ergebnisse für das Kapital zeichneten sich ab. In einer Situation starrer Beschäftigung blieb den Kapitalisten – um ihre Produktionsprobleme zu lösen – nur der Weg, die Preise zu erhöhen und damit die Inflation zu steigern. Nach 1981 erholte sich das italienische ökonomische System. Die Inflation verlangsamt sich. Lohnindexierungen haben eine geringere Verhandlungsmacht und machen es dem Kapital somit leichter, zu manövrieren. Die Produktivität von Unternehmen wächst durch die externe Mobilität von Arbeit. Ein heftiger Einsatz von Instrumenten zur Einkommensstabilisierung (Abfindungsfonds) beginnt.

Die Arbeiterklasse ist am Ende. Die Gewerkschaften/Syndikate, die von ihrer wahren Kampfkraft lebten, nur um sie zu kontrollieren und ganz sicher nicht, um sie zu beleben, sind ebenfalls am Ende. Es wird mit neuen Formen der Kontrolle des Arbeitsmarktes experimentiert. Insbesondere Fiat und Montedison bewegen sich auf ein anderes System der Einstellungskontrolle und auf eine Liquidierung von überschüssigen Arbeitskräften zu, die fast ausschließlich auf Entlassungen basiert.

Die Produktivität stieg also nicht aufgrund eines verstärkten Einsatzes von Produktionsfaktoren (technologische Verbesserungen und Beschäftigungszuwächse), sondern im Gegenteil aufgrund einer rationelleren Ausbeutung der vorhandenen Faktoren.

Die Gewerkschaften/Syndikate sahen sich gezwungen, Vorschläge zu machen, die sie einige Jahre zuvor selbst für absurd hielten, wie Solidaritätsverträge, Ausbildungsverträge, die Abrufe für junge Menschen zuließen, und die Verkürzung der Arbeitszeit als Versuch, die Beschäftigung auszuweiten (was in der Praxis höchst zweifelhaft war, da Italien die niedrigste jährliche Stundenauslastung seiner Arbeitskräfte aufweist).

Ab 1983 begann man in großen Unternehmen zu erkennen, dass die bloße Unterauslastung der Anlagen angesichts der Durchschnittszeiten nicht ausreicht, um eine Lösung des Problems zu gewährleisten. Daher nehmen Renovierungs-, Umstrukturierungs- und Innovationsprojekte zu.

Der Staat und die Gewerkschaften/Syndikate haben ihrerseits ein großes Interesse daran, eine neue Politik der Arbeitsplatzerfindung zu schaffen. Wieder einmal werden die Interessen der Kapitalisten mit denen der Gewerkschaften/Syndikate und des Staates gleichgesetzt. Erstere sind sehr besorgt über eine zukünftige Umschichtung der überschüssigen Arbeitskräfte (sonst würde die Nachfrage nach Gütern zu stark schrumpfen); letztere und dritte sind besorgt unter dem Gesichtspunkt der immer möglichen sozialen Unruhen und haben nun die Illusion einer spontanen Wiederaufnahme des Arbeitsangebots verloren.

So werden die tertiären Sektoren mit massiven staatlichen Investitionen ausgebaut, mit Hilfe der Gewerkschaften/Syndikate, die jetzt die Variable der Arbeitermobilität ausufern lassen, und zur großen Freude der Kapitalisten, die gerade aus diesem Sektor Nahrung für den Strukturwandel ihrer Unternehmen finden.

Dem Staat wird gesagt, dass monetäre Maßnahmen allein nicht mehr ausreichen, um die Produktionseffizienz der Unternehmen zu reorganisieren. Es ist eine Übertragung von Finanzinvestitionen erforderlich. Daher eine ökonomische Politik, die auf öffentlichen monetären Zuwendungen an die Industrie basiert, um technologische Innovationen zu ermöglichen, eine Kreditpolitik und eine Kapitalbeschaffung auf dem Aktienmarkt, die niedrige Zinsen begünstigt. Es geht nicht mehr nur um die Finanzierung der Industrie, sondern um ein allgemeines ökonomisches Klima (von der Börse bis zum Anleihemarkt, von Devisen bis zu Staatsschulden), das günstige Bedingungen für Innovationen schafft.

Das alte Konzept der Bevorzugung einiger weniger Industriesektoren zu begünstigen, die als „führend“ gelten, ist verschwunden (oder wird bald verschwinden). Jetzt bewegen sich alle Branchen auf technologische Verbesserungen zu, die den gesamten Produktionsapparat betreffen, von der Produktqualität bis zur Verwaltung. Elektronik ist weit verbreitet.

Diese Situation, die mindestens bis 1981 konstant blieb, brachte die auf Nachfragestützung basierende Beschäftigungspolitik (und damit die neokeynesianischen Ökonomen in Verruf) in den Fokus. Dies führte zu einer begrenzten Umverteilung der Einkommen, aber vor allem zu einer Verringerung des Verhandlungspotenzials der Gewerkschaften/Syndikate, die vor der Wahl standen, entweder die Forderungen der Arbeiterinnen und Arbeiter zu unterstützen und Träger des Inflationsprozesses zu werden oder die Forderungen der Kapitalisten zu unterstützen und als Verräter der Interessen der produktiven Klasse zu erscheinen.

Die monetaristische Politik ist die klassische Wahl der Konservativen und Technokraten. Sie basiert auf der Annahme, dass eine Kontrolle der umlaufenden Geldmenge und der Geschwindigkeit des Geldumtauschs dazu beitragen kann, die Inflation in einem für die kapitalistische Entwicklung akzeptablen Rahmen zu halten. Das führt zwangsläufig zu einer Arbeitslosigkeit, die über dem natürlichen Niveau liegt (das jetzt mit der Schulpflicht stark gestiegen ist). Aber das ist ein Opfer, das gebracht werden muss, um größeren Schaden zu verhindern. Die Lohnabhängigen müssen die Vorteile einer Verlangsamung des Preisanstiegs erkennen und die Tatsache, dass diese Vorteile erst nach einer gewissen Zeit und nicht sofort eintreten.

Ein dritter Weg besagt – basierend auf den Analysen von Modigliani und Tarantelli – dass eine klare Trennung zwischen den beiden vorherigen Wegen nicht möglich ist. Diese beiden Ökonomen argumentieren (um die Wahrheit zu sagen, der zweite nicht mehr, da er von den Roten Brigaden getötet wurde) für die Notwendigkeit, die Nachfrage und damit die Beschäftigung zu stützen, sprechen aber gleichzeitig von der Notwendigkeit, das Reallohnniveau zu senken. Modigliani erklärte auch, dass der einzige Ausweg, um die totale Zerschlagung der Gewinne zu vermeiden, die jeden Investitionsanreiz zerstört, die Senkung der überhöhten Arbeitskosten ist. Deshalb: Löhne und Entlassungen stoppen. Der erste Aspekt des Rezepts ermöglicht eine Neuausrichtung der Produktivität, der zweite eine rasche Umstrukturierung des Industriesektors.

Frühere Befürchtungen hinsichtlich dieser Lösung und möglicher sozialer Unruhen haben sich als unbegründet erwiesen. Modigliani und Tarantelli haben seit langem darauf hingewiesen, dass die Vorteile einer solchen Perspektive in Bezug auf die politische Stabilität es ermöglichen, soziale Unruhen zu vermeiden, weil sich die Menschen besser regiert fühlen, weil sie sehen, dass der Preisanstieg verzögert wird und weil alle der Illusion kurzfristiger Vorteile unterliegen, gerade weil sie in einer Situation der wirtschaftlichen und institutionellen Wiederbelebung leben.

b) Die neue Professionalität der Arbeit: Flexibilität

Die Professionalität der Arbeit wird heute durch das Produktionssystem anders gefordert. Es geht weder um einen einfachen Mangel an Professionalität noch um eine erweiterte Professionalität. Es gibt erhebliche Probleme in Bezug auf die Flexibilität. Das Konzept der horizontalen Spezialisierung bedeutet, oberflächlich zu arbeiten, im Gegensatz zu der vertikalen Spezialisierung, die die Produktionswelt der Vergangenheit brauchte.

Um die Probleme im Zusammenhang mit den veränderten Anforderungen an die Professionalität, die das Produktionssystem an das Bildungssystem richtet, besser verstehen zu können, müssen wir kurz gesagt die Bedingungen, unter denen diese Anforderungen gestellt werden, die Art und Weise, wie sie gestellt werden, und die möglichen Antworten kennen. Die allgemeine Situation des Produktionssystems ist die einer tieferen Integration zwischen der technologischen Komponente und der sozio-organisatorischen Komponente. Die technischen Hilfsmittel haben an Quantität und Qualität zugenommen und die Menschen, die sie bedienen, haben jetzt verschiedene Aufgaben, die unterschiedliche berufliche Fähigkeiten erfordern.

Man kann also sagen, dass der massenhafte (und qualitative) Einzug der Technologie in das Produktionssystem eine tiefgreifende Veränderung der sozialen Organisation, die ihm zugrunde liegt, bewirkt hat.

Diese Veränderung kann in zwei Aspekten beschrieben werden: a) einem quantitativen Aspekt, der durch einen erheblichen Rückgang der Beschäftigung gekennzeichnet ist, obwohl die Beziehung zwischen Computerisierung und Beschäftigung viel schwieriger ist als eine banale Gleichung zwischen Zunahme auf der einen und Abnahme auf der anderen Seite; b) einem qualitativen Aspekt, der durch eine tiefgreifende Veränderung in der Verteilung der Professionalität gekennzeichnet ist.

Der erste dieser beiden Aspekte wirkt sich auf den zweiten aus, da er einen Druck auf der Ebene der endogenen Entscheidungen des Produktionssystems ausübt, der wiederum zu Signalen für das Bildungssystem wird. Diese Entscheidungen werden erst zu einem späteren Zeitpunkt zu Orientierungsentscheidungen, sowohl für diejenigen, die die Lehrpläne erstellen, als auch für die Schüler selbst. All dies führt dazu, dass ein neues Modell der Professionalität entsteht, das heute weit verbreitet ist. Letztendlich wird das Problem unserer nahen Zukunft vielleicht nicht so sehr das der Arbeitslosigkeit und der damit verbundenen möglichen sozialen (revolutionären) Umwälzungen sein, sondern eher das Problem der Trennung von Wissen, das Problem der Schaffung einer absolut unüberwindbaren kulturellen Mauer zwischen denen, die eine operative und entscheidungsbefugte Professionalität besitzen, und denen, die nur eine exekutive Pseudoprofessionalität besitzen. Der zweite Aspekt, der qualitative Aspekt, kommt dann mit seiner ganzen Bedeutung zum Vorschein. Die Veränderung betrifft die Art und den Inhalt der Professionalität sowie ihre Verteilung auf die verschiedenen Ebenen, in denen die Produktionseinheit gegliedert ist. Das hat offensichtliche Auswirkungen auf die Dauerhaftigkeit innerhalb derselben Einheit, auf der einst die „Möglichkeit einer Karriere“ beruhte. Heutzutage ist diese Möglichkeit viel geringer, auch wegen der geringeren Professionalität, daher ist Flexibilität so wichtig. Aber dazu später mehr.

Die Abflachung der Professionalität ergibt sich aus dem System, das innerhalb der Produktionseinheit aufgebaut wurde. Es ist ein „geschlossenes“ Modell oder zumindest eines, das sich nach dem abstrakten Ideal der Automatisierung abschotten will. Der menschliche Bediener und die sich verändernde physische Realität können nicht in ein computergestütztes System der Regulierung und Kontrolle „passen“. Dieses System basiert auf einer mathematischen Logik und modelliert auf dieser Logik den Produktionsprozess der Umwandlungen durch eine Reihe von Informationen, die die Bedienterminals in Echtzeit erreichen. Es ist also das zwischengeschaltete Automatisierungssystem zwischen Mensch und Realität, das die „technische Expertise“ beinhaltet, die der Transformationsprozess weiterhin erfordert. Dem Menschen bleibt nur die Aufgabe, die Ausnahmen zu überwachen und zu kontrollieren.

Die neue „Professionalität“ hat also ganz andere Merkmale als die der Vergangenheit, und zwar nicht nur im Bereich der traditionellen Produktion (Industrie- oder Fabriksektor), sondern auch in der Dimension des Produktionssystems, die die so genannten „freien Tätigkeiten“ umfasst, vom Handwerk bis zu den freien Berufen.

Schematisch lässt sich diese neue Funktion wie folgt beschreiben:

(a) Visualisierungsprozesse. Diese sind unverzichtbar und erfordern eine Ausbildung des Auges und eine Reaktion des visuellen Reizes mit Geschwindigkeiten, die noch vor wenigen Jahren für den optischen Apparat unfassbar gewesen wären. Die Lektüre eines Videos ist eine sehr komplexe Angelegenheit, die die visuelle Anpassung nur schrittweise und mit einer „Ausbildung“ oder, wenn man so will, einer jahrelangen Konditionierung abdecken kann. Bei diesen Visualisierungsprozessen muss man aber auch die programmatischen Reaktionen einbeziehen, also alles, was nach der reinen visuellen Wirkung kommt. Mit anderen Worten: Auf die „Lektüre“ des Videos folgt die Ausarbeitung eines mentalen Schemas, das dem Subjekt einen ausreichenden Hinweis auf den stattfindenden Prozess gibt. Dabei geht es nicht so sehr um die einzelnen Elemente des Prozesses, sondern um eine globale Idee, die in groben Zügen die mehr oder weniger gute Eignung des tatsächlichen Prozesses für ein Sicherheitssystem angibt, das in der Lage ist, die Ausnahmen festzulegen. Einige dieser Ebenen sind in der Tat diskretionärer Natur und wären durch eine rein mathematische Verarbeitung nicht leicht zu erreichen, da die Auflösung der entsprechenden Algorithmen selbst mit modernen Computern nicht zu bewältigen ist.

b) Konzeptualisierungsprozesse. Dies ist das Element der Bewertung, die das Subjekt durch das mentale Schema vornehmen muss. Hier sehen wir die tatsächliche Verschlechterung der Fähigkeit zu konzeptionieren, d.h. die Probleme, die die Realität aufwirft, in Ideen umzuwandeln, um eine Entscheidung zu treffen, d.h. den Willen auf die Bedürfnisse eines zu erreichenden Ziels abzustimmen. Die Grenzen des Ermessensspielraums in diesen Prozessen der Konzeptualisierung sind sehr streng. Hier stirbt das Subjekt. Seine Autonomie schwindet genau in dem Moment, in dem die ganze Technologie zur Verfügung steht, um die großen Probleme zu lösen, die ihn in der Vergangenheit behindert haben. Je weniger Dinge es (A.d.Ü., das Subjekt) zu tun hat, desto weniger Dinge wird es tun wollen, denn desto weniger Dinge wird es können. Langsam verwandelt sich das denkende Subjekt in ein Subjekt, das die beste Lösung innerhalb eines Schemas findet, das nur funktioniert, um ein Ziel zu erreichen, das außerhalb seiner Wünschbarkeit liegt. Die Werteskala, auf die sich ein solcher Prozess stützt, ist außerhalb der Wünsche des Einzelnen festgelegt. Bei der Verarbeitung von Informationen teilt der Computer den Menschen in zwei Hälften.

c) Prozesse verstehen. Auch diese werden reduziert. Weniger Möglichkeiten für Ideen, weniger Möglichkeiten, etwas zu verstehen. Niemand kann außerhalb der Konzepte, die Unterscheidungen verarbeiten, verstehen. Je weniger Dinge es zu verstehen gibt, desto weniger versteht man. Wenn es weniger Dinge zu verstehen gibt, hat man die Illusion, mehr, schneller und besser zu verstehen. Das gibt ein Gefühl der Sicherheit, das typisch für Menschen ist, die wenig wissen und sich vormachen, dass ihr bescheidenes Wissen mehr oder weniger „alles“ Wissen ist. Zweifel und die damit verbundenen Mühen sind typisch für diejenigen, die die Grenzen ihres Wissens erweitern und dabei feststellen, dass sie neue, immer weiter entfernte Grenzen entdecken.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die „neue“ Professionalität sehr reduzierte Inhalte hat, die mit der Verfeinerung einiger Fähigkeiten und dem endgültigen Niedergang anderer einhergehen. Unter diesen Fähigkeiten, die neu bewertet werden, steht in einer hypothetischen Werteskala die Aufmerksamkeit an erster Stelle. Das ist eine Fähigkeit, die man entwickeln kann und die darin besteht, die Wahrnehmung des Prozesses und seine Umwandlung in ein mentales Schema innerhalb bestimmter Grenzen konstant zu halten. Diese Beständigkeit neigt natürlich dazu, in ihrer Häufigkeit nachzulassen, nicht nur wegen der Müdigkeit, sondern auch wegen der Wiederholungen und den verschiedenen Trieben des Verlangens und der Erinnerung. Die Wiederaufnahme dieser Senkungen innerhalb der Toleranzgrenzen, die in einer sehr kurzen Zeit erfolgen muss, kennzeichnet die Aufmerksamkeit, die, wie wir sehen, eine geistige Fähigkeit ist, die auf der Schnelligkeit des Eingreifens in anormalen Situationen beruht. Wenn Ausnahmen im Verhalten des Prozesses auftreten, muss die Aufmerksamkeit ihre Fähigkeit zeigen, die Normalität wiederherzustellen.

Auch das Verantwortungsbewusstsein, das bei der Betrachtung des Niveaus der neuen Professionalität berücksichtigt wird, ist nicht so sehr (oder zumindest nicht nur) eine ideologische Konditionierung und bedingungslose Akzeptanz bestimmter Werte (das reibungslose Funktionieren des Produktionssystems), sondern eine reale „Fähigkeit“, die wie die Aufmerksamkeit auch quantifizierbar ist. Tatsächlich wird das Verantwortungsbewusstsein von denjenigen, die die verschiedenen Ebenen der „Professionalität“ des betrieblichen Subjekts bewerten, unter dem Gesichtspunkt der Fähigkeit betrachtet, in einer bestimmten Zeiteinheit in eine genau festgelegte Reihe von Wahlmöglichkeiten einzugreifen und diejenige und nur diejenige Wahl zu treffen, die das bestmögliche Funktionieren des Systems ermöglicht. Es wäre falsch zu denken, dass diese Möglichkeit nur technischer Natur ist. Die Inhalte des Verantwortungsbewusstseins werden, sobald sie einzeln genommen werden, null und nichtig und kündigen ihre ideologische Essenz auf.

Wenn man diese Überlegungen berücksichtigt, kann man eine unterschiedliche Verteilung der Professionalität in der traditionellen Fabrik und in der postindustriellen Produktionseinheit schematisch darstellen.

a) In der traditionellen Fabrik gibt es eine große Bandbreite an differenzierten Aufgaben und kulturellen Ebenen. Sie reicht von einem Bereich mit niedrigem Gehalt bis zu einem mit hohem und sehr hohem Gehalt. Auf der Nachfrageseite zeigt sich, dass das traditionelle Produktionssystem weniger niedrige und hohe Professionalität absorbiert, während die Arbeitskräftenachfragekurve auf den mittleren Ebenen stark ansteigt. Das bedeutet, dass in der Fabrik in der Vergangenheit die durchschnittliche Professionalität viel gefragter war als die niedrige und hohe Professionalität.

b) In der postindustriellen Produktionseinheit hingegen ist die niedrige Professionalität stark gefragt, während die durchschnittliche Professionalität tendenziell auf ein Minimum sinkt und die hohe Professionalität (die in jedem Fall deutlich unter dem quantitativen Niveau der niedrigen Professionalität bleibt) dann wieder erheblich zunimmt.

In dieser Situation ist die Möglichkeit einer Versetzung oder Mobilität innerhalb derselben Produktionseinheit nicht mehr gegeben. Mit anderen Worten: es ist nicht möglich, von niedriger zu hoher Professionalität überzugehen, weil es einen Engpass bei den Anforderungen der durchschnittlichen Professionalität gibt. Dieser Engpass, der immer größer wird, bis er zu einer echten kulturellen Mauer wird, macht die interne Struktur der Produktionseinheit mit der Zeit immer starrer, sodass nur noch interstrukturelle Mobilität möglich ist. Deshalb ist es so wichtig, dass du flexibel bist und dich auf immer neue Arbeitsmöglichkeiten einlassen kannst. Die tiefe Trennung zwischen den Bereichen niedriger und hoher Professionalität bleibt jedoch immer bestehen.

Bevor wir dieses Thema verlassen, müssen wir daran denken, dass, so sehr das Konzept der neuen Professionalität auch darauf abzielt, den einzelnen Akteur von Inhalten zu entleeren und nur einige seiner Fähigkeiten zu schärfen, die Überlegung immer noch gültig ist, dass der Unterschied zwischen niedriger und hoher Professionalität nicht ausschließlich durch die Schärfung der individuellen Fähigkeiten gelöst wird, sondern auch durch die Wiederherstellung von Inhalten, einschließlich der traditionellen oder kulturellen Inhalte im engeren Sinne. Es ist außerdem logisch, dass diese Wiederherstellung ausschließlich in der Sphäre der Hochprofessionalität stattfindet, die auch die Aufgabe hat, die ideologischen Bedingungen zu schaffen, die es den niederen Berufsschichten ermöglichen, ihre reale Ausbeutungssituation zu akzeptieren.

Die Flexibilität ist, wie wir gesehen haben, eines der zentralen Konzepte, die im Übergang von den 1970er zu den 1990er Jahren entwickelt wurden.

Die letzte Periode der 1970er Jahre, die die spektakulärsten Rückentwicklungsprozesse innerhalb des altmodischen kapitalistischen Systems markierte, kann als eine Zeit des Bruchs in Erinnerung bleiben, in der die Gewissheiten einer fernen und nicht so fernen Vergangenheit zusammenbrachen. Die erste dieser Gewissheiten war die Programmierung des kapitalistischen Projekts, das auf fortschreitender Akkumulation und der Abflachung von Konflikten durch die Veredelung des Staates als Produzent und nicht mehr nur als Polizist beruht. Es ist nicht mehr legitim, von einer „Krise“ (in Anführungszeichen) zu sprechen. Das geht nur, wenn die ökonomische Theorie selbst und nicht nur die produktive Struktur in dieses Konzept einbezogen wird. Gerade die Theorien (sowohl die neoklassischen als auch die managementorientierten im engeren Sinne), die für die Möglichkeit plädierten, Ordnung in die Vielfalt der Phänomene zu bringen, um zu einer Programmlinie für die Entwicklung des Kapitals zu gelangen, wurden Ende der 1970er Jahre besiegt. Das ist genau die Situation, die nicht nur die Struktur, sondern auch die Theorien betrifft, die die Vernunft über die Kraft der Ereignisse siegen lassen wollten.

Die erste Entdeckung, die zu Beginn der 1980er Jahre gemacht wird, ist genau die der fehlenden Ordnung in der ökonomischen Realität. Das ist zweifellos eine Entdeckung der Krisensituation, aber es ist auch eine neue Theorie, die die frühere Bedeutung von Krisen auf Null zurücksetzt und sie zu einem Kraftpunkt für das Vorwärtskommen macht. Unternehmen arbeiten in Situationen extremer Unsicherheit und Instabilität. Die Kontrolle über die industrielle Situation ist praktisch verloren. Turbulenzen sind eine ständige Realität.

Die Elemente dieser Turbulenzen werden anschließend mit großer Genauigkeit theoretisch isoliert: die Gewerkschafts- Syndikatsbewegung der 1960er Jahre, das hohe Beschäftigungsniveau, die Inflation, die Währungsinstabilität. Es wird die These entwickelt, dass diese turbulente Realität nicht anpassbar ist. Die Pluralität der Kräfte in Aktion wird daher nur in kurzfristigen Situationen nachvollziehbar. Dies erfordert eine neue Fähigkeit des Produktionsunternehmens: Flexibilität, d.h. die Fähigkeit, sich an diese Situation ständiger Instabilität und Turbulenz anzupassen, im Gegensatz zur früheren Situation, in der die Widersprüche des Produktionssystems an die Starrheit der Struktur des einzelnen Unternehmens angepasst werden sollten.

Es geht also darum, die Flexibilität bei Entscheidungen, bei der Organisation von Produktionszyklen, beim Einsatz von Arbeitskräften, bei Programmen und bei der Anwendung von Ideologien zu maximieren. In diesem Sinne werden die Organisationsstrukturen dezentralisiert, bürokratische Aspekte (Buchhaltung, Steuern usw.) versuchen, ihre ewige Unbeweglichkeit zu verlieren, und das Paket an Arbeitskräften wird verschoben und stößt bei diesem vermeintlich sehr gefährlichen Vorhaben auf weniger Widerstand als erwartet. Risiken (einschließlich des Risikos sozialer Verwerfungen) werden Teil der Marktstrategie und werden hier durch Umstrukturierung (d. h. die Unterteilung von Produktionseinheiten) gelöst. In einem turbulenten und feindlichen Ambiente passt sich die Produktionseinheit an und wird flexibel. Wie das weiche Schilfrohr biegt es sich, um dem Sturm zu trotzen. Was früher starr und geordnet war, in stabilen Formen, die erfolglos mit den ständigen Widrigkeiten einer Umwelt kämpften, die sich per Definition für feststehend hielten, bricht jetzt auf tausend Arten zusammen, in hundert produktiven Strukturen, in Dutzenden von verschiedenen Denkweisen und vielfältigen Zielen. Der Pluralismus hält Einzug in die Welt der Produktion und entdeckt, dass er schließlich das einzige Element ist, das sich harmonisch mit einer politischen Situation mit demokratischer Struktur verbinden kann. Die autoritären Ideologien und repressiven Praktiken der Vergangenheit sind nur noch eine vage Erinnerung. Die harte Arbeit, die alle leisten, um den sogenannten „Terrorismus“ zu bekämpfen (einschließlich der Gefährten und der Gefährtinnen, die diesen Begriff leichtfertig verwenden, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass sie damit wieder für genau die Sache funktional werden, die sie bekämpfen wollen), trägt dazu bei, dieses neue Gewand der Possibilisten20 in weißen Kitteln zu befeuern. Die „Bösen“ werden beiseite geschoben, aber nicht auf brutale Art und Weise (es wird immer wieder über die Grenzen und Gefahren repressiver Entscheidungen gesprochen, die auf der Idee eines „Notstands“ basieren).

War es ein Zufall, dass der Weg der Flexibilität gewählt wurde, um die Situation der 1970er Jahre zu überwinden, und zwar genau zu dem Zeitpunkt, als die Technologie spezifische Apparate zur Verfügung stellte, die die Unternehmen in der Praxis flexibel machen konnten? Sicherlich nicht, und ebenso sicher ist es nicht möglich, die Bedingungen dieser Beziehung festzulegen, d.h. wie die Technologie diese Entscheidungen beeinflusst hat und diese Entscheidungen die Entwicklung der technologischen Forschung beeinflusst haben. Das Gleiche und noch viel mehr ist in den letzten Jahren passiert. Wir werden nie wissen, wie sehr die Technologie heute das Produktions- und Sozialsystem als Ganzes zu flexiblen Entscheidungen drängt und wie sehr diese Entscheidungen – die inzwischen unverzichtbar geworden sind – zu technologischen Erfindungen drängen, die zunehmend in der Lage sind, organisatorische Flexibilität zu realisieren.

Die Irrationalität wird zur Grundlage des theoretischen Projekts der Ökonomie und verdrängt die alten mechanistischen Mythologien des Gleichgewichts. Das bringt die neoklassische Theorie zurück in den Bereich der neuesten Entwicklungen in der Wissenschaft, die natürlich weit von den Mechanismen des 19. Jahrhunderts entfernt sind. Aber das hier, so interessant es auch ist, ist eine ganz andere Sache.

c) Die Welt der Schule

Vorbei sind die Zeiten, in denen die Schule als geschlossenes System mit eigenen Problemen betrachtet werden konnte, die man nach draußen tragen musste, um sie in einen größeren Zusammenhang zu stellen (Nachbarschaft, Fabrik usw.). Jetzt wird die Schule voll in die allgemeinen Bedingungen des sozialen Konflikts hineinprojiziert. Nur sind sich die Schülerinnen und Schüler (und die Lehrkräfte) dieser Realität nicht unbedingt bewusst und in sie eingebunden, obwohl sie de facto projiziert wird.

In der Praxis erfüllt die Schule sehr spezifische Funktionen, die zunehmend an die produktiven Realitäten angepasst werden.

1) Qualifizierung. Die Funktion, qualifizierte Arbeitskräfte zu produzieren, ist stark zurückgegangen, da das Produktionssystem nicht mehr auf vertikale Spezialisierungen angewiesen ist, die sich durch hohe Qualifikationen und geringe Anpassungsfähigkeit auszeichnen, sondern im Gegenteil auf horizontale Spezialisierungen mit Menschen, die eine Vielzahl von Dingen beherrschen, über geringe Qualifikationen verfügen und daher eine größere Bereitschaft haben, sich an wechselnde Arbeitsplätze anzupassen oder sogar ein langes Leben zu führen, indem sie einfach nach Arbeit suchen.

2) Unbestimmtheit der Lehrinhalte. Grundsätzlich sind die kulturellen Inhalte der Qualifizierung immer verfügbar und angesichts des beträchtlichen wissenschaftlichen Fortschritts gibt es auf allen Ebenen sehr zugängliche Instrumente für die Vermittlung dieser Inhalte (z. B. Lehrbücher, audiovisuelle Medien, Computer, Filme, Aufnahmen usw.). Es ist nur so, dass die Übertragung nicht stattfindet und wenn doch, dann nur teilweise. Der allgemeine Kontext ist nicht anregend. Die Lehrkräfte wiederum sind nicht ausreichend qualifiziert. Außerdem stellen sie fest, dass es für ihre Bemühungen keine betrieblichen Absatzmärkte gibt. Dadurch verringert sich auch der minimale Aufwand für die Vermittlung dieser kulturellen Inhalte, die ebenfalls zur Verfügung stehen würden. Das Ergebnis ist eine allgemeine kulturelle Verarmung der Schule, die dem Bedürfnis des Kapitals entspricht, eine Masse von Ausgeschlossenen mit weniger verfügbaren kulturellen Inhalten aufzubauen.

3) Demokratische Mentalität. Dies ist eine „neue“ Funktion des Bildungssystems. Ein Mensch, der flexibel, anpassungsfähig und mobil ist, kann nicht autoritär erzogen werden. Er muss von klein auf lernen, sich zu beteiligen. Daher die weite Verbreitung von Vollversammlungsprozessen und das Verschwinden der alten autoritären und begriffsstutzigen Auffassung.

4) Beitrag zur Lösung des Beschäftigungsproblems. Sie besteht in dem Versuch, die zukünftigen Arbeitskräfte präventiv auf die Sektoren zu lenken, in denen das Risiko der Arbeitslosigkeit am geringsten ist. Dabei geht es nicht so sehr darum, auf „geschlossene Zahlen“ in Fakultäten oder Gymnasien zurückzugreifen, sondern einfach darum, eine andere Ideologie und eine veränderte Werteskala in Bezug auf die traditionellen Unterteilungen der menschlichen Tätigkeit zu entwickeln.

5) Sozialer Schutz. Schulen reduzieren Spannungen und soziale Konflikte, indem sie den potenziellen zukünftigen Druck auf das Beschäftigungsniveau innerhalb einer Institution, die damit zu einer Art Parkplatz wird, aufhalten.

6) Einen Konsens herstellen. Die Schule wendet verschiedene Verfahren an, um dies zu erreichen. Einige sind „objektiver“ Natur, d.h. sie werden einfach durchgeführt, weil die Schulpflicht bis zu einem bestimmten Alter eingeführt wurde (was, wie wir gesehen haben, erhebliche Vorteile für das Kapital mit sich bringt). Andere sind absichtlich und geplant. Letztere sind:

(a) positive Bewertung des kapitalistischen Kulturmodells durch die Überarbeitung der Konzepte von Sparen, Arbeit, Eigentum, Familie, Gott, Staat usw;

b) die Akzeptanz des ökonomischen Gesellschaftsmodells, wonach die beste Lösung immer diejenige ist, die mit dem geringsten Aufwand das maximale Ergebnis erzielt;

c) Hindernis für „abweichendes“ Verhalten, aber mit Rückgriff auf Diskussion und Kritik und unter weitestgehender Vermeidung brutaler Unterdrückung;

d) Akzeptanz (Kritik) des hierarchischen Modells, da die Hierarchie existiert, weil sie die beste Lösung für das Problem des sozialen Funktionierens ist. Sie wird also nicht aufgezwungen, sondern nur kritisch akzeptiert (was viel effektiver ist);

e) Bau einer Brücke zwischen dem ökonomischen System und dem Schulsystem, die sicherstellt, dass die Aktivitäten der Schule besser auf die Anforderungen der Produktionssituation im Allgemeinen abgestimmt sind;

f) Vermittlung der brennendsten sozialen Probleme („Terrorismus“, Mafia, Drogen usw.) innerhalb der Schule, damit sie hier eine geeignete „Behandlung“ erfahren, um zu Elementen ideologischer Einheitlichkeit und damit eines gesellschaftlichen Konsenses zu werden;

g) Bereitstellung einer allgemeinen Anpassungsfähigkeit, die es den zukünftigen Arbeitskräften ermöglicht, auch unter Bedingungen tiefgreifender Veränderungen in der Arbeitswelt zu überleben.

Verlust der Sprache

Zu den Projekten der Macht gehört die Reduzierung der Sprache als vielfältiges und kreatives Mittel der Kommunikation. Als Sprache müssen wir hier die Gesamtheit aller Ausdrucksmittel betrachten und insbesondere diejenigen, die die Manifestation komplexer Konzepte sowohl in Bezug auf Objekte als auch auf Gefühle ermöglichen.

Diese Reduzierung ist für die Macht notwendig, denn bei dem Projekt, Kontrolle langsam durch bloße Repression zu ersetzen, spielt der Konsens eine grundlegende Rolle, und es kann keinen unmittelbaren und einheitlichen Konsens geben, wenn es eine weit verbreitete Kreativität gibt.

Das alte revolutionäre Problem der Propaganda hat sich in den letzten Jahren stark verändert und die Grenzen eines Realismus aufgezeigt, der auf dem Anspruch beruhte, den Ausgebeuteten die Verzerrungen der Welt deutlich vor Augen zu führen und sie so zu einem Bewusstsein zu befähigen.

Bleiben wir in der historischen Sphäre des Anarchismus, so haben wir den wirklich außergewöhnlichen Fall von Malatestas literarischer Fähigkeit, die auf einer für seine Zeit fast beispiellosen Essenz der Schriftsprache beruht. Malatesta setzte nicht auf rhetorische Effekte oder die Konstruktion von Schlagwörtern, sondern auf die elementare Logik von Schlussfolgerungen, die von einfachen Anhaltspunkten ausgingen, auf dem gesunden Menschenverstand beruhten und zu komplexen Schlussfolgerungen führten, die so für den Leser verständlicher waren.

Auf einer ganz anderen sprachlichen Seite agierte stattdessen Galleani, der viel mehr auf rhetorische Konstruktionen und die Suche nach einer musikalischen Satzstruktur setzte sowie auf die Verwendung von Wörtern, die zu seiner Zeit bereits beiseite gelegt worden waren und die er wieder in Gebrauch nahm, alles mit dem Ziel, eine sprachliche Atmosphäre zu schaffen, die seiner Meinung nach die Geister zur Aktion bewegen konnte.

Beide sind heute nicht mehr als Beispiele für revolutionäre Sprache geeignet. Malatesta, weil es immer weniger zu „beweisen“ gibt, Galleani, weil es immer weniger zu „bewegen“ gibt.

Vielleicht lassen sich die Vorbilder der revolutionären Literatur am besten in Frankreich erkennen, sowohl wegen der großen spezifischen Tradition, die mit der italienischen, spanischen oder englischen nicht zu vergleichen ist, als auch wegen des besonderen Geistes der Sprache und Kultur dieses Volkes. Bleibt man in derselben Epoche wie die zitierten italienischen Beispiele, so sind Faure, Grave und Armand wegen ihrer Klarheit und anschaulichen Darstellung hervorzuheben, während Libertad und Zo d’Axa wegen ihrer expositorischen und in gewisser Hinsicht auch rhetorischen Forschung hervorstechen.

Vergessen wir nicht, dass es in Frankreich bereits das Beispiel von Proudhon gab, dessen Stil in der Akademie selbst Zustimmung und sogar Begeisterung hervorgerufen hatte, und später das von Faure, der als eine Art Fortsetzer dieser großen Schule angesehen werden sollte, zusammen mit dem methodischen und asphyktischen21 Grave, einem Autodidakten und begeisterten Schüler von Kropotkin, dessen Französisch nicht schlecht war, sondern gerade deshalb, weil es, wie das von Bakunin, das Französisch eines Russen war.

Über die sprachlichen, literarischen und journalistischen Experimente von Libertad, Zo d’Axa und anderen, die idealerweise an den Vorläufer Cœurderoy anknüpfen, könnte man lange sprechen, aber obwohl sie eines der besten Beispiele für revolutionären Journalismus darstellen, sind selbst sie heute in der Art und Weise, wie sie realisiert wurden, undenkbar.

Tatsache ist, dass sich die Realität verändert hat, während die Revolutionäre ihre Sprache weiterhin auf die gleiche Weise produzieren, sogar noch schlimmer. Um den Verfall zu berechnen, muss man nur ein Flugblatt von Zo d’Axa „En dehors“, mit Daumiers großer Zeichnung auf der einen und Zo d’Axas Schrift auf der anderen Seite, mit einigen versteinerten Flugblättern von heute vergleichen, was ein solcher Vergleich auch wert sein mag.

Aber hier ist es nicht einmal mehr ein Versteinerungsproblem. Nicht nur unsere privilegierten Gesprächspartner verlieren die Sprache, sondern auch wir verlieren sie, und da wir uns zwangsläufig an einem gemeinsamen Treffpunkt begegnen müssen, wenn wir kommunizieren wollen, ist der Verlust nicht rekuperierbar22.

Der Prozess der allgemeinen Abflachung betrifft alle Sprachen, da er die Heterogenität des Ausdrucks auf die Einheitlichkeit des Mediums zurückführt, um sie zu ermöglichen. Der Mechanismus ist mehr oder weniger der folgende und kann mit dem Fernsehen veranschaulicht werden. Das quantitative Wachstum von Daten (Nachrichten) führt dazu, dass immer weniger Zeit für die Übermittlung von Bildern und Worten zur Verfügung steht. Dies führt zu einer fortschreitenden und spontanen Auswahl von Bildern und Wörtern, so dass einerseits diese an sich heterogenen Elemente essentialisiert werden und andererseits die Datenmenge wächst.

Die ersehnte Klarheit, über die Generationen von Revolutionären, die den Menschen die Realität erklären wollten, nachgeweint haben, wurde schließlich auf die einzig mögliche Art und Weise erreicht, nämlich nicht dadurch, dass man die Realität klar macht (was unmöglich ist), sondern dadurch, dass man die Klarheit real macht, d.h. dass man eine von der Technologie konstruierte Realität als wirklich existierend betrachtet.

Dies geschieht mit allen sprachlichen Ausdrücken und beinhaltet auch die verzweifelten Versuche, die menschliche Kreativität durch das privilegierte Tor der Kunst zu retten, die es schafft, immer weniger Möglichkeiten durchzulassen, die zudem auf dieser Ebene an zwei Fronten kämpfen müssen: gegen den Sog der Abflachung, der Gleichförmigkeit als kreativ erscheinen lässt, und gegen den entgegengesetzten Sog, der aber denselben Ursprung hat, des Marktes und der Zitate. Meine alten Thesen zur arte povera und Kunst als Zerstörung liegen mir immer mehr am Herzen.

Nehmen wir ein klärendes Beispiel. Jede Sprache hat als Werkzeug immer mehrere Möglichkeiten der Verwendung. Wir können auch sagen, dass sie dazu dienen kann, einen Code zu übermitteln, der einen Konsens bestätigt oder perfektioniert, oder eine Übertretung zu schaffen. Die Musik bildet da keine Ausnahme, denn sie hat ihre eigenen Probleme und findet den Weg der Transgression schwieriger. (Je leichter die Übertretung scheint, desto weiter ist man davon entfernt, sie zu verwirklichen). Nun, Rock ist eine Musik der Rekuperation und hat dazu beigetragen, einen großen Teil der revolutionären Energien der 1970er Jahre auszulöschen. Das Gleiche geschah seinerzeit mit der musikalischen Innovation der Wagnerzeit, so Nietzsches bemerkenswerte Erkenntnis. Man bedenke jedoch, welch großer thematischer und kultureller und damit auch technischer und sozialer Unterschied zwischen diesen beiden musikalischen Produktionen besteht, die beide auf denselben rekuperativen Zweck ausgerichtet sind. Wagner musste einen gewaltigen kulturellen Rahmen und eine tiefgreifende Verzerrung des sprachlichen Instruments konstruieren, um die revolutionäre Jugend seiner Zeit zu fesseln. Heute hat der Rock dieselbe Aufgabe übernommen, und zwar in einem viel größeren Maßstab und mit einem kulturellen Aufwand, der im Vergleich dazu sogar lächerlich ist. Die Massifizierung der Musik hat die Arbeit der Rekuperation und des Katalogisierens begünstigt.

Man kann also sagen, dass die reduktive Aktion in zweierlei Hinsicht wirkt: erstens im Sinne des Instruments, das einem Prozess der Vereinfachung und Entschlackung unterworfen wird, und zweitens im Sinne seiner Verwendung, die standardisiert wird und Effekte hervorbringt, die immer auf einen von allen oder fast allen akzeptierten Durchschnitt zurückzuführen sind. Dies geschieht in der sogenannten Literatur (Poesie, Belletristik, Theater) und auch in dem engen Mikrokosmos, der die revolutionäre Tätigkeit der Untersuchung sozialer Probleme darstellt. Egal, ob sie in Form von Artikeln in den Zeitungen der Bewegung oder in Form von Flugblättern, Pamphleten, Aufsätzen mit einem gewissen Tiefgang oder Büchern veröffentlicht werden, die damit verbundenen Risiken sind ziemlich ähnlich. Der Revolutionär ist auch ein Kind seiner Zeit und benutzt die Werkzeuge seiner Zeit.

Die Möglichkeit, die aktuellen Bedingungen der Gesellschaft und der produktiven Formation im Wasserzeichen zu lesen, hat abgenommen, sowohl weil es viel weniger an die Oberfläche zu bringen gibt als auch weil es weniger Interpretationswerkzeuge gibt. In einer Gesellschaft, die extrem in verschiedene Klassen polarisiert war, bestand die Aufgabe der Gegeninformation darin, die Realität der Ausbeutung ans Licht zu bringen, an deren Verschleierung die Macht ein Interesse hatte, also auch die Mechanismen der Ausbeutung des produktiven Mehrwerts, die repressiven Machenschaften, die autoritären Verzerrungen des Staates und so weiter. In einer Gesellschaft, die immer mehr zur demokratischen Verwaltung und zur computerisierten Produktion tendiert, wird das Kapital gerade deshalb lesbarer, weil es weniger wichtig ist, es zu lesen, weniger wichtig, seine Ausbeutungsmethoden zu entdecken, oder zumindest weniger wichtig, diese massive Umwälzung von Meinungen und Aktionen zu fördern.

Die heutige Gesellschaft muss mit kulturellen Instrumenten gelesen werden, die nicht nur Interpretationen unbekannter Tatsachen liefern, die so an die Oberfläche geholt werden, sondern auch unbewusste Konflikte, die weit entfernt sind vom alten und sehr sichtbaren Klassenwiderspruch. Damit soll verhindert werden, dass wir durch die Umkehrung von Lebensweisen in eine vereinfachende Ablehnung hineingezogen werden, die nicht in der Lage ist, die Mechanismen der Rekuperation, Konsensbildung und Integration zu beurteilen. Mehr noch als die Dokumentationen brauchen wir jetzt eine aktive Beteiligung, auch durch das Schreiben, an dem, was ein Gesamtprojekt sein muss. Wir können nicht einfach nur anprangern, sondern müssen analysieren, indem wir die Analysen in ein präzises Projekt einordnen, das im Zuge der Analyse selbst verstanden werden kann. Dokumentation oder Denunziation sind nicht mehr akzeptabel, mehr ist nötig, solange wir die /Zunge23 haben um zu sprechen und solange sie uns nicht abgeschnitten wird.

Diese neue Interaktion zwischen Ausdrucksform und Projekt macht die Stärke der Verwendung des sprachlichen Instruments aus, stößt aber auch an ihre Grenzen, wenn die Sprache sich selbst verarmen lässt, indem sie die reduktionistischen Absichten, die von der Macht erforscht und angewandt werden, aufnimmt und sich zu eigen macht.

Ich habe mich immer dagegen gewehrt, dass in Schriften, die revolutionäre Probleme klären sollen, eine losgelöste Objektivierung stattfindet. Der sprachliche Ausdruck hat als Instrument immer eine soziale Dimension, die im Stil zusammengefasst wird, der nicht nur „der Mensch“ ist, wie Buffon es ausdrückte, sondern „der Mensch in einer bestimmten Gesellschaft“, wie es genauer zu sagen ist. Und es ist der Stil, der das zugegebenermaßen schwierige Problem löst, zusammen mit jenem Minimum an unverzichtbarem Inhalt, den sogenannten Sachdaten, die Einbeziehung in ein Projekt zu gewährleisten. Wenn dieses Projekt lebendig und den Bedingungen des Konflikts angemessen ist, kann der Stil belebt werden, aber wenn der Stil nicht geeignet ist oder sich in einem illusorischen Traum von Objektivität verliert, läuft selbst das angemessenste Projekt Gefahr, verloren zu gehen.

Unsere Sprache muss daher Formen haben, die in der Lage sind, unseren revolutionären Inhalt zu tragen, die eine provokative Eigendynamik haben, die in der Lage sind, die gewohnten Kommunikationswege zu verletzen und umzustoßen, die es verstehen, die Realität, die uns am Herzen liegt, darzustellen, ohne sich in Schleier zu hüllen, die von versteckten und schwer zu erfassenden Logiken auferlegt werden. Projekt und Sprache, die zur Veranschaulichung verwendet werden, müssen sich im Stil treffen, und hier müssen sie sich gegenseitig anerkennen. Heute sind wir uns dessen bewusst, dass das Instrument einen erheblichen Teil des Inhalts ausmacht, auch wenn wir nicht bis zum Äußersten gehen wie in dieser These.

Wir müssen uns um diese Prozesse kümmern und dürfen uns nicht von einer neuen praktisch orientierten Ideologie überwältigen lassen, die uns suggeriert, dass das Wegwerfbare wichtig ist und kein Zusammenhang zwischen Projekt und Stil besteht.

Die anhaltende, allgemeine sprachliche Verarmung spiegelt sich also auch in dem kommunikativen Werkzeug wider, das wir als Revolutionäre nutzen können. Erstens, weil wir als Männer und Frauen unserer Zeit an den reduktiven kulturellen Prozessen teilnehmen, die sie kennzeichnen. Wir verlieren Werkzeuge, wie wir sie alle verlieren, wir verkümmern andere, und lassen wiederum andere verarmen. Das ist normal, auch wenn wir uns um bessere Ergebnisse bemühen sollten und mehr Widerstand gegen reduktive Projekte leisten können.

Diese Verringerung der stilistischen Möglichkeiten ist eine Folge der inhaltlichen Verarmung, aber sie kann auch zu einer weiteren Verarmung führen, da sie den wesentlichen Teil des Projekts nicht zum Ausdruck bringt, der an die Ausdrucksform gebunden bleibt, da er nicht anders objektiviert werden kann. Es ist also nicht das „Genre“, das den Inhalt rettet, sondern in erster Linie die Art und Weise, wie dieser Inhalt Gestalt annimmt. Jemand denkt sich im Rahmen seiner eigenen Fähigkeiten von vornherein ein Ausdrucksschema aus und wird dieses Schema nie los, sondern tut so, als ob er alle Inhalte, die er bekommen kann, in dieses Schema hineinfiltert, und denkt, dass dieses Schema „seine Art ist, sich auszudrücken“, als ob er ein lahmes Bein oder dunkle Augen hätte. Aber so ist es nicht. Früher oder später muss er sich aus diesem Gefängnis befreien, wie jeder andere auch, wenn er dem, was er mitteilt, Leben einhauchen will.

Manche wählen, um ein Beispiel zu nennen, den ironischen Schnitt24, um die innere Dringlichkeit zu vermitteln. Gut, aber Ironie hat von Natur aus, d.h. um ironisch zu sein und deshalb zu gefallen, die Leichtigkeit, den Tanz, den Witz, die anspielende Metapher. Sie kann nicht als System gewählt werden, denn dann verfällt sie in Wiederholung und wird pathetisch wie die satirischen Beilagen in Zeitungen, wie die Strips, von denen man erst wissen muss, wie die Geschichte ausgeht, sonst kann man sie gar nicht verstehen, wie Kasernenwitze. Ähnlich verhält es sich mit der Anziehungskraft der Realität, dem Bemühen, sie durch Kommunikation sichtbar und greifbar zu machen. Ausgehend von der Annahme, dass es keinen unmittelbaren Genuss von etwas geben kann, das der Realität nicht ähnelt, wird sie schließlich süßlich, unrealisierbar, verliert sich in einem ständigen Bedürfnis nach materiellen Beweisen und verliert jene Begrifflichkeit, die der wahren Kommunikation zugrunde liegt.

Ein Klischee aus dem Museum des alltäglichen Unsinns besagt, dass man nicht weiß, was man sagen soll, wenn man nicht weiß, was man sagen soll. Das ist nicht wahr. Der Kommunikationsfluss ist nicht unidirektional, sondern multidirektional, d.h. wir kommunizieren nicht nur, sondern empfangen auch Kommunikation. Und das gleiche Problem, das wir bei der Kommunikation mit anderen haben, haben wir auch beim Empfangen von anderen. Auch beim Empfangen gibt es ein Stilproblem, gleiche Schwierigkeiten, gleiche Illusionen. Wenn wir uns auf die geschriebene Sprache beschränken, z. B. wenn wir einen Artikel in einer unserer Zeitungen lesen, können wir auch die Art und Weise rekonstruieren, in der der Autor dieses Artikels die Mitteilungen, die von außen an ihn herangetragen werden, empfängt; der Stil muss zwangsläufig derselbe sein, wir können dieselben Lesarten, dieselben Fehler und dieselben Kurzschlüsse erkennen. Denn diese Begebenheiten und Einschränkungen sind nicht nur Elemente des Stils, sondern auch wesentliche Bestandteile seiner Gestaltung, der angewandten Methode und seines Lebens selbst.

Wir können gut erkennen, dass die Fähigkeit, die Artikulationen eines revolutionären Projekts zu erfassen, das notwendigerweise sowohl die eingehenden Kommunikationen als auch die Tatsachen transzendieren muss, umso bescheidener ist, je ärmer und repetitiver die eingehenden Kommunikationen sind, wie sehr sie auch direkt aus der Realität der Tatsachen stammen mögen. Was in Worten und leider auch in Fakten herauskommt, ist eine Annäherung, eine Ungewissheit, eine Elementarität von Ideen, die sowohl der Komplexität der Intuitionen und Erkenntnisse des Gegners als auch unserer eigenen revolutionären Intentionalität Unrecht tun.

Wäre es anders, wäre der sozialistische Realismus die einzig mögliche Lösung gewesen, mit einer guten Arbeiterklasse, die immer bereit ist, sich zu mobilisieren, wie die guten rumänischen Bergarbeiter, um Iliescus25 neue Ordnung wiederherzustellen.

Verlust der Kultur

Über den Kulturbegriff gäbe es viel zu diskutieren, von der allgemein humanistischen Sichtweise, die früher vertreten wurde, bis hin zu einem moderneren Konzept, das auf der zentralen Bedeutung der Wissenschaften beruht. Für uns ist Kultur etwas anderes, obwohl wir nicht sagen können, dass sie etwas ganz anderes ist.

Sie ist ein Produkt der Realität, in der wir leben, der Summe des Wissens, der Verfügbarkeit von Werkzeugen, aber sie ist auch ein wesentlicher Teil von jedem von uns, bis zu dem Punkt, dass sie ein Element des Lebens und der Möglichkeit ist, etwas zu begreifen, das im Leben Gefahr läuft, in Monotonie und Wiederholung zu versinken.

Es gibt also eine passive und eine aktive Art, seine Beziehung zu dem heterogenen kulturellen System zu leben, das wir durchlaufen und von dem wir ständig durchdrungen werden. Wir können seine Auswirkungen genießen, uns wie Ton formen lassen und als dressierte Papageien dastehen, die auf den Schrott starren, den die universellen Wissenszentren (die nicht einmal mehr in Technik und Humanismus unterteilt sind) anbieten. Aber aus einer anderen Perspektive können wir uns aktiv der Eroberung dieses Wissens widmen, ohne es in all seinen verrückten Variationen zu verfolgen, aber auch ohne es zu zerlegen, um es zu einem Brei für Säuglinge zu verarbeiten.

Dieses geheimnisvolle kulturelle Universum, das wir in einer von der Geschichte der Macht geprägten Wirklichkeit vor uns haben, ist zweifellos das Ergebnis der Aktivitäten der Macht selbst, Instrument und Produkt zugleich, Ursache und Wirkung, niemals trennbare Elemente einer kontinuierlichen menschlichen Schöpfung. Aber der Mensch ist auch dieses Ding hier, dieses historische Produkt der Macht, das zurückgeschält, befreit werden muss, und das kann nicht geschehen, indem man ein schönes, aber totes Simulakrum der libertären Ideologie an die Oberfläche holt, einen Menschen, der abstrakt frei, unbefleckt und rein ist und daher keine Kultur als Lebensmöglichkeit braucht.

Der revolutionäre Instinkt der Sauberkeit, vor allem der Zerstörung, ist sicherlich eine der wesentlichen Komponenten der transformierenden Aktion der Realität, aber er kann nicht an sich als Hüter und Träger der nackten Wahrheit betrachtet werden, das wäre eine triviale, aber auch widerwärtige Vereinfachung. Die Realität ist immer komplexer, als man sie sich vorstellen kann, und das gilt nicht nur für die gegenwärtigen, unter Ausbeutung liegenden Bedingungen, sondern auch für die zukünftigen, endgültig befreiten. Die entblößte Natürlichkeit ist auch eine kulturelle Inszenierung, die leider tragisch ideologisiert ist und die folkloristischsten und ungerechtfertigtesten Extremismen, die auf der Illusion eines persönlichen und endgültigen Kontakts mit der Natur basieren, zum Opfer fällt.

Die Realität ihrerseits ist immer von Schleiern umhüllt, die wir entdecken, interpretieren und zerreißen müssen, die wir aber nicht ignorieren können. Die Kultur verwaltet diese Schleier, natürlich auf ihre eigene Art und Weise und für ihre eigenen Interessen, indem sie sich mit der Verwaltung der verantwortlichen Macht verkörpert, aber sie verschließt sich nicht nur in dieser Verwaltung, sie ist selbst, als Kultur, ein Moment des Lebens, ein Aspekt des Werdens, der werdenden Aktion.

Die Wiederaneignung von Kultur ist also ein vielschichtiger Prozess mit unterschiedlichen Anreizen und Hindernissen. Sie mit einer simplen Reduktion auf das Offensichtliche gleichzusetzen, erscheint mir gefährlich, denn das Offensichtliche, das extrem Einfache, ist gerade die Komponente mit dem höchsten ideologischen Gehalt, man denke nur an die Werbung, die Sprache der Sportzeitungen, die Konventionen und ihre massenhaft produzierten Phrasen.

Die Anarchisten und Anarchistinnen, die innerhalb ihrer Bewegung schon immer verschiedene Komponenten hatten, die bewusst darauf ausgerichtet waren, diese Unruhen zu provozieren, haben in den letzten Jahrzehnten, von Ausnahmen abgesehen, ebenfalls einen starken Rückgang der Kreativität erlitten. Es gab einmal eine Zeit, in der mit Ausnahme der anarchosyndikalistischen Komponente, die zwangsläufig an die Module der Wiederholbarkeit gebunden war, andere Komponenten eine erstklassige Kultur hervorbrachten, die vielleicht sofort von den fortgeschritteneren Komponenten der Macht aufgegriffen wurde; heute, zumindest nach dem „Achtundsechziger“-Phänomen und seiner relativen Rekuperation, kann man sagen, dass eher ein Festhalten an kulturellen Modellen vorherrscht, die von der Akademie bereitgestellt und entsprechend ausgelöscht und angepasst wurden.

Durch Überladung wurde und wird dieser Anpassungsprozess auf die billige Art und Weise durchgeführt, d.h. indem diese akademischen Inhalte im Namen eines unangebrachten revolutionären Essentialismus vom technischen Teil befreit werden, begleitet von einer Verachtung für die Schwierigkeiten dieser Inhalte, die unsere allgemeine Unwissenheit verdeckt.

Wie viel Unsinn wurde zum Beispiel schon über Musik gesagt. Dass Musik ein Teil der Kultur ist, steht außer Frage, dass uns dieser Teil systematisch genommen wird, auch, aber dass sie nur „Freizeitbeschäftigung“ und nicht „kreativ“ ist oder dass sie „nie den Anspruch hatte, eine ernsthafte Sache zu sein“, halte ich für Ungeheuerlichkeiten. Musik ist Kultur und hat daher das Recht, mit all ihren Beschränkungen, die ihr durch die Verwaltung der Macht auferlegt werden, Teil der menschlichen Möglichkeiten zur Befreiung zu sein. Man muss sehen, wie man es angeht, aber das ist ein anderes Thema. Ich muss leider zugeben, dass dies sicherlich nicht der Weg für einen kritischen Ansatz ist, der zu revolutionären Durchbrüchen führen kann. Indem wir richtige Aussagen inmitten von anderen widersprüchlichen und oberflächlichen Aussagen machen, geben wir denen die Hand, die uns diese kulturellen Werkzeuge wegnehmen wollen. Und aus dieser Sicht gibt es keinen Unterschied zwischen Musik und Mathematik (zum Beispiel).

Wir werden von einer Pseudokultur belagert, das stimmt, Ballast, mit dem wir gefüttert werden, damit wir wahnwitzige Überlebensbedingungen akzeptieren, aber das bedeutet nicht, dass alles zu dieser unverdaulichen Scheiße geworden ist. Und diese Invasion wird zu einer Lawine, wenn sie die Form von Informationen, von Fakten annimmt. Berge von Informationen türmen sich vor uns auf, wir werden von Eruptionen und Flutwellen von Papier, Bildern und Werbung überwältigt. Geräusche, Rhythmen, Moden und Aufzeichnungen häufen sich auf lästige Weise. Wir werden dazu gedrängt, zu akzeptieren, zu empfangen, zu beobachten und uns mit einer Zwangsneurose zu bewegen, die uns beeinflusst und in uns stagniert.

Es geht nicht einmal mehr darum, von einer kritischen Herrschaft über dieses beängstigende kulturelle Universum zu träumen, das durch das Aufkommen der Telematik in Sachen Herrschaft perfektioniert wird. Aber wir können auch nicht alles über Bord werfen und von einer Unschuld träumen, die nie von dieser Welt war, von einer Rückkehr zur Natur, in der, wenn es einen Lärm gibt, es nicht der des Regimes ist, sondern nur der des Waldorchesters. Das ist Unsinn. Die Erstickung, die wir spüren, kann uns nicht dazu bringen, Unsinn zu sagen (und zu tun). Der Mensch ist heute mehr denn je in eine komplexe kulturelle Situation eingetaucht, die verstanden werden muss, wenn sie verändert werden soll. Der Gedanke, dass wir auf sie verzichten können, indem wir sie einfach austreiben oder abstrakte Verurteilungen aussprechen, ist kein geeignetes Mittel für die revolutionäre Aktion.

Die gute Technik

Die grundlegende Logik, oder besser gesagt der gesunde Menschenverstand, sagt, dass man die richtigen Mittel braucht, um etwas zu tun. Deshalb lese ich zufällig, dass Gefährtinnen und Gefährten, die wie ich nicht nur die Notwendigkeit, sondern auch die Dringlichkeit des Angriffs und der Zerstörung telematischer Netzwerke teilen, der Meinung sind, dass wir als ersten Schritt, um alles andere anzugreifen, „das Computerwissen in die Hand nehmen“ müssen.

Ich stimme dieser kognitiven Prämisse in dem Sinne zu, dass Wissen immer, oder fast immer, eine gute Sache ist, solange wir uns darüber im Klaren sind, was wir lernen und wie wir es nutzen können, und es vermeiden, in die jetzt aufgestellten Fallen zu tappen, die uns nur lernen lassen, was unsere Feinde wollen und nicht, was wir wollen.

Das Problem ist schwierig, aber es lässt sich auf einfache Weise schematisieren, indem man von der sogenannten Grenze der „guten“ Technologie ausgeht. Fast alle ökologischen Thesen beruhen auf einer angeblichen Lösung dieses Problems und auf einer ebenso angeblichen Identifizierung dieser Grenze. Solange man diese Perspektive beibehält, ist der Einsatz von weniger schädlichen Technologien sicherlich möglich und niemand würde auf die Idee kommen, eine Rückkehr in die Steinzeit vorzuschlagen. Aber Technologie ist nicht gleich Technologie, und es gibt einen großen Unterschied zwischen den Technologien, die auf die Entwicklung der Kernenergie abzielen, und denen, die auf die Implementierung des Telematiknetzes abzielen, das sich jetzt sehr schnell entwickelt.

Der Sektor der Nuklearproduktion ist ein Hochrisikosektor und stellt eine Gefahr für die Sicherheit aller dar. Daher berührt er Interessen, die in gewissen Grenzen sozial gegensätzliche Schichten, Ausgegrenzte und Eingeschlossene, sensibilisieren können. Die Angst vor einem totalen Krieg hat letztlich zu einer anderen Weltordnung geführt, die sich auf Teilkriege und eine schrittweise Reduzierung des Atomwaffenarsenals stützt. Wir haben es hier mit einem Interesse zu tun, das auf beiden Seiten der Klassenbarrikade verstanden wird, auch wenn es gegensätzlich ist.

Der Sektor der telematischen Produktion ist sicherlich auch ein Risikosektor, und zwar deshalb, weil er die Ordnung der Welt, wie wir sie kennen, stört, aber es ist ein Risiko, das die Eingeschlossenen nach und nach beseitigen, indem sie die Ausgeschlossenen von sich ablösen und so eine andere Interpretation der Interessen vorschlagen, die angesichts der Verbreitung telematischer Mittel geschützt werden müssen. Mit anderen Worten: die Folgen, von denen wir gleich sprechen werden, werden nicht für alle gleich sein – wie im Fall des Atomtods -, sondern von den Eingeschlossenen wahrgenommen und kontrolliert werden, während sie für die Ausgeschlossenen unbekannt, daher unkontrollierbar und daher tödlich sein werden. Was die Atomkraft im Grunde in einer sozialen Mischform vereinte, trennt die Telematik, indem sie eine Mauer hochzieht, die eine viel starrere Einteilung in Klassen ermöglicht als die, die wir historisch kennen.

Aber was könnten diese Konsequenzen sein? Viele fragen sich, was mit Informationstechnologie und Computern los ist, warum dieser Neo-Luddismus? Ist das nicht etwas Veraltetes? Riskieren ihre Befürworter in ihrer heiligen Wut nicht, sogar die gute Technologie zu untergraben, die wir nach der Revolution nutzen können, ja die wir heute nutzen müssen, um gegen den Klassenfeind zu kämpfen?

Das sind Fragen, die beantwortet werden müssen.

Die Telematik hat eine neue Welt eröffnet, aber es ist eine Welt, die, um verwaltet und genutzt werden zu können, technologisch gesehen, eine erhebliche Einschränkung der derzeitigen menschlichen Möglichkeiten in Bezug auf Intelligenz, analytische Fähigkeiten, Selbstbewusstsein, individuelle Autonomie, Reflexion und Planung erfordert. Keine Technologie ist an sich gut, man muss sehen, wie man sie einsetzt; aber diese Technologie ist an sich schlecht, nicht aus dem Grund, dass die Atomtechnologie schlecht war und ist (schlecht für alle), sondern weil die telematische Technologie nur für die Ausgeschlossenen schlecht ist. Denn während jede Technologie, auch die aus der Kernkraft, eine multiplikative Prothese menschlicher Fähigkeiten darstellt, ist die Telematik im Gegenteil eine reduktive Prothese derselben Fähigkeit.

Wenn sich die Telematik bis zur Welteroberung ausbreiten soll, muss sie die Menschen in ihrem Gebrauch schulen. Da sie den Einzelnen nicht auf seiner Ebene erreichen kann, auch nicht auf der des gesunden Menschenverstandes, muss sie ihn auf seine eigene Ebene herablassen, die der Maschine. Der neue Mensch, den die Telematik massenhaft und für den massiven Bedarf einer Ersatztechnologie herstellen will, ist ein Mensch mit wenig Intelligenz, wenig Kommunikationsfähigkeit, reduzierten phantasievollen und kreativen Möglichkeiten, aber sehr hohen Fähigkeiten in Bezug auf Mobilität, Reflexe und Entscheidungsfindung zwischen verschiedenen Elementen, die jedoch in einem präzisen, vorher festgelegten Rahmen angegeben werden.

Um dies zu erreichen, strebt das Projekt der Telematik eine tiefgreifende Veränderung der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit an. Wenn wir nun ein wenig über die grundlegende Bedeutung nachdenken, die diese Fähigkeiten für uns haben, wird uns klar, welch dramatische Situation in einem sozialen Kontext entstehen würde, in dem dieses Projekt unbemerkt und völlig unangewendet bleiben würde. Was sie verändern, ohne es zu merken, ist die Beziehung, die schon immer zwischen unserem Körper und der Technologie bestand, eine Beziehung der Prothese, also der Steigerung der Fähigkeiten des Körpers. Es ist sicher, dass eine kurzsichtige Person mit einer Brille besser sieht und durch die richtige Korrektur der Gläser sogar genauso gut sehen kann wie ein Mensch mit guter Sehkraft. Im Gegensatz dazu hat das digitale Bild, das die Telematik liefert, nichts mit der Realität zu tun. Wenn wir ein Haus mit unseren Augen sehen, setzen wir durch die mentalen Prozesse der Wahrnehmung und der Erinnerung ein komplexes System der analogen Rekonstruktion in Gang, das es uns ermöglicht zu behaupten, dass wir vor einem Haus stehen. Wenn wir aber ein Haus auf einem Computerbildschirm sehen, sind es die tausenden von Lichtimpulsen der Maschine, die ein Bild suggerieren, das überhaupt nicht wie ein Haus aussieht; um ein Haus zu sehen, müssen wir dazu erzogen werden, das heißt, wir müssen uns auf die Ebene der Maschine reduzieren.

Natürlich sind wir im ersten Moment geneigt, zu rebellieren und das Bild des Hauses „seltsam“ zu finden, aber es geht darum, die Zeit verstreichen zu lassen, ohne zu reagieren. Nach und nach entsteht eine neue Verhaltenskarte in unserem Bewusstsein. Wir reagieren anders auf dieses Bild und es fällt uns schwerer, uns gegen den Gedanken aufzulehnen, dass es wirklich das Bild eines Hauses ist. An diesem Punkt dringt der Computer in uns ein, die Technologie ist nicht länger etwas Äußerliches, die mechanische Hand von immenser Stärke ist eine umgekehrte Prothese, die in unser Gehirn eindringt und uns konditioniert.

So sind wir in der Lage, selbst eine lange Bildfolge und sogar eine ganze Fernsehsendung zu akzeptieren und sie fälschlicherweise für eine Wiedergabe der Realität zu halten. Unsere Fernsehkonditionierung wird uns in der Tat keine Rebellion mehr erlauben, im Gegenteil, mit kaum höherer Auflösung wird der integrierte Schaltkreis jeden heute noch wahrnehmbaren Unterschied auslöschen.

Die Telematik befasst sich aber nicht nur mit dem Problem des Empfangs (Wahrnehmung), sondern auch mit dem der Übertragung (Sprache). Auch in diesem Sinne muss man sich auf eine Reduzierung einstellen. Durch die Telematiktechnologie findet eine kontinuierliche Auslese des sprachlichen Erbes statt, wobei eine große Anzahl von Wörtern völlig unbrauchbar wird und in Vergessenheit gerät, um durch andere, oft englischsprachige Wörter ersetzt zu werden, die stärker essentialisiert sind.

Ein zentrales Problem in der Geschichte des Kampfes gegen den Klassenfeind stellt sich also in diesen Jahren: entscheiden oder nicht entscheiden für einen sofortigen und umfassenden Angriff gegen die Errungenschaften der Telematik? Diese Entscheidung muss getroffen werden, bevor die Entwicklung dieser Technologie uns die Möglichkeit raubt, uns für einen Kampf dagegen zu entscheiden. Es kann sein, dass wir nicht in der Lage sind, innerhalb kurzer Zeit die allgemeinen Auswirkungen der Telematik zu verstehen, und diese Unkenntnis kann sogar parallel zu unserem Wissen über das telematische Medium selbst wachsen, eben weil kein wirkliches Wissen über diese Technologie möglich ist, das nicht selbst stellvertretend ist, d.h. der Akzeptanz von Bedingungen allgemeiner intellektueller Unterwerfung unterliegt.

In Bezug auf das Wissen über Computer, das angeblich notwendig ist, um sie zu bekämpfen und zu ihrer Zerstörung beizutragen, gibt es einen unklaren Aspekt, den ich hervorheben möchte. Ich frage mich, was gemeint ist, wenn man sagt, dass man sich „Computerwissen aneignen“ muss. In diesem Zusammenhang möchte ich an eine Tatsache erinnern, die ich, wenn auch indirekt, selbst erlebt habe. Anfang der 1960er Jahre wurden zwei meiner mathematischen Freunde, beide Assistenten für Statistik an der Universität Catania, durch ein interessantes, von Olivetti subventioniertes und vom Institut für Mathematik der Universität Pisa koordiniertes Angebot angelockt und erklärten sich bereit, an die letztgenannte Fakultät zu wechseln, um am Bau des ersten rein italienischen Computers mitzuwirken. Nach einiger Zeit, ich glaube, ein paar Jahren, traf ich einen der beiden, der mir von seinen traurigen Schicksalsschlägen in Pisa erzählte. Hier war das Gesamtprojekt an einem bestimmten Punkt aufgrund von Schwierigkeiten bei der Lösung einiger komplexerer Algorithmen ins Stocken geraten. Der Leiter des Projekts hatte die geniale Idee, die direkte Lösung der Algorithmen, die viel Zeit und eine Menge mathematische Kreativität erforderte, zu umgehen, indem er eine Anzeige in der „Settimana enigmistica“ schaltete und um die Mitarbeit von Enthusiasten in der Branche bat, die sich gegen ein bescheidenes Entgelt meldeten und die Probleme, wie man sagt, auf indirekte Weise lösten, d.h. mit Hilfe von Tabellen oder Matrizen, die alle Möglichkeiten der binären Logik entwickeln, eine unglaublich lange, aber auch unglaublich dumme Arbeit. Als der Olivetti-Computer der sogenannten ersten Generation fertig war, löste er die oben genannten Algorithmen mühelos selbst.

Die traurige Realität in der Elektronik ist, dass abgesehen von den rein technischen Aspekten der Bauteile kaum eine Spur von echten kognitiven Problemen vorhanden ist. Viele Gefährtinnen und Gefährten, vielleicht angelockt durch die lautstarken elektronischen Diebstähle oder die Sabotage durch „Viren“-Programme, stellen sich vor, dass auch sie diese Kunststücke vollbringen können und leiten daraus die Notwendigkeit ab, zu lernen, wie man Programme herstellt und so weiter. Das führt dann zu mehr oder weniger sinnvollen Fantasien über die Gültigkeit von „Lehrgängen“ , die besucht werden müssen, oder Handbüchern, die „studiert“ werden müssen. Meiner Meinung nach unterscheidet sich das Problem nicht von dem, das dazu führt, dass man zu dem Schluss kommt,, obwohl man ihn in der eigenen Küche herstellen kann, dass es besser ist, Sprengstoff zu vermeiden: es ist schneller und weniger gefährlich, ihn zu kaufen und ganz einfach zu lernen, wie man ihn benutzt.

Die Sprache der Technik

Wir müssen Technologie doppelt kritisch betrachten: erstens, weil sie die Macht im Allgemeinen stützt, indem sie unvorhersehbare künftige Nutzungen ermöglicht, und zweitens, weil sie ein zweites Diskursgebiet eröffnet, das in sich selbst gefaltet werden kann, um sich an die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen anzupassen. Man kann sagen, dass es keine apologetische Aussage gibt, die nicht eine versteckte kritische Implikation enthält, die ebenso plausibel ist. Ebenso gibt es keine positive kritische Analyse, die die heutigen Fehler aufzeigt, um sie zu korrigieren, ohne eine apologetische Implikation, die umso stärker ist, je mehr sie sich als fähig erweist, die kritischen Überlegungen selbst zu überwinden.

Die Vielfalt der Handlungsfelder, in denen Technologie eingesetzt und reproduziert wird und in denen die Denksysteme ausgearbeitet werden, die die zeitgenössischen und ambivalenten Voraussetzungen für ihren Konsum und ihre Produktion schaffen, schafft oft absolut unvorhersehbare Probleme der Interaktion. Der unüberlegte Umgang mit der Nutzung bestimmter Technologien lässt keine Vorhersagen zu, weder positive noch negative. Streng genommen würde sie nicht einmal die negative, also destruktive Forderung rechtfertigen, die wir an sie stellen. Aber die Unwissenheit der anderen, also das einfache Stecken des Kopfes in den Sand, hat uns nicht dazu gebracht, zu glauben, dass passives Warten und Intuition gerechtfertigt sind. Es kann gut sein, dass wir uns irren und dazu beitragen, die geniale Geburt einer glücklichen Zukunft für die Menschheit im Keim zu ersticken oder zu erschweren, aber es sieht nicht so aus, als gäbe es im aktuellen wissenschaftlichen Panorama solche Hinweise, die uns nach einem Wunder schreien lassen. Annäherung und Oberflächlichkeit herrschen vor und werden nur in den kurzlebigen Projekten gemildert, die zunehmend den Platz der alten langfristigen Illusionen einnehmen.

Sicherlich haben wissenschaftliche Hypothesen und ihre technologischen Anwendungen die Materie immer verändert und sie den Bedürfnissen des Menschen unterworfen, seinem grundlegenden Wunsch, die Realität seinen eigenen Vorstellungen anzupassen.

Dieser „historische“ Verlauf menschlicher Ereignisse entspricht nicht genau dem, was wir als Realität zu bezeichnen gewohnt sind, denn viele technologische und wissenschaftliche Anpassungen der Materie können nicht als positive Ereignisse für den Menschen bezeichnet werden, vom Schießpulver bis zur Atombombe, aber wir können mit Sicherheit von einer gewundenen und oft widersprüchlichen Bewegung sprechen, die darauf abzielt, die Spontaneität der Natur und der Lebensprozesse im Allgemeinen auf die Kontrollierbarkeit und Reproduzierbarkeit der Technologie zu reduzieren. Schließlich ist der Mensch unter den Tieren derjenige, der am wenigsten in der Natur leben kann, einer der wehrlosesten, mit den schwächsten Jungen, aber mit der Fähigkeit, Umweltbedingungen von ungünstig zu günstig zu verändern.

Aus diesen Gründen ist der Mensch, wie wir ihn heute kennen, das Produkt einer kurzen geschichtlichen Entwicklung von ein paar tausend Jahren, auch ein Produkt der Technologie. Bis zu diesem Punkt wäre es nicht verkehrt, wenn diese Technik heute auch das einfache Programm hätte, die Realität zu verändern und Prothesen zu schaffen, die dem Menschen zwar nicht unbedingt nützlich sind, aber zumindest von ihm kontrolliert werden können. Natürlich verwandelt jede Prothese den Menschen durch die Vergrößerung seiner begrenzten Möglichkeiten in einen Giganten, der zu Zerstörungen fähig ist, von denen die Titanen nicht einmal zu träumen wagten. Das ist auch insofern richtig, als die Idee der Vervielfältigung der Kraft selbst den Keim der Gefahr in sich birgt, aber da die Prothese immer eine nützliche Sache ist, müssen auch gewisse Risiken in Kauf genommen werden. Und so wird es schon seit Jahrtausenden gemacht. Beängstigende Prothesen, von Bronze zu Eisen, von Stahl zu Raketen, haben sich oft überlagert, ohne Zeit zum Nachdenken zu lassen. Enthusiasmus und Schwachsinn, steriler Widerstand und hoffnungsvolle Verzauberung.

Bleibt man bei den Veränderungen der Materie, dann gab es bei der Konstruktion von Prothesen, egal wie groß die Gefahren waren, immer die Möglichkeit, wenn auch nur theoretisch, für Kontrollen zu sorgen, die den menschlichen Leichtsinn eindämmen konnten.

All das hat sich mit der Technologie der letzten zwei Jahrzehnte grundlegend verändert. Die Gefährlichkeit hat aus zwei Gründen, die oft missverstanden werden, unerträgliche Grenzen erreicht, so dass jede Kritik an der Technologie entweder in einem generischen Maximalismus endet, der nur versucht, eine unbekannte Gefahr zu bannen, oder in dem Wunsch, etwas zu unterscheiden, das gerade wegen der Unwissenheit, mit der man sich ihm nähert, nicht unterschieden oder gar erkannt werden kann.

Der erste dieser Gründe ist die Tatsache, dass die Technik heute nicht nur die Materie verändert, d.h. sie bearbeitet und anders nutzt, sondern in die Materie eindringt und so ihre Zusammensetzung verzerrt. Der zweite Grund ist, dass die verfügbaren Mittel, die durch die Technologie realisiert werden, durch diesen Eintritt in die Materie auf unvorhersehbare Weise verändert werden können, wodurch wissenschaftliche Aspekte, Hypothesen oder einfache technische Erkenntnisse, die zuvor unter Kontrolle gehalten wurden, gefährlich werden.

Die Erschaffung neuer Materialien, neuer Lebewesen, einer neuen virtuellen Realität, die als weiterer Schritt der wissenschaftlichen Forschung und ihrer technischen Anwendung betrachtet wird, kann nicht besorgniserregender sein, als es die Erfindungen von chemischen Waffen, Atomreaktoren oder der Wasserstoffbombe waren und sind. Sobald man aber ein bisschen mehr nachhakt, auch ohne auf bestimmte Themen einzugehen, kommt man nicht umhin, überrascht zu sein, dass man vor einer Schwelle steht, die noch nie zuvor überschritten wurde. Veränderungen auf genetischer oder molekularer Ebene, wie z.B. die Verwirklichung einer fantastischen Realität, in der man das volle Gefühl des Seins und Agierens haben kann, ermöglichen die groß angelegte Produktion absolut unbekannter Lebewesen und Materialien sowie die Suggestion von undenkbaren Verhaltensweisen und beschleunigen den Prozess der Loslösung von der Realität, der für das Konsensmanagement so nützlich ist. Viele dieser neuen Produkte – wenn man als Produkt auch die virtuelle Möglichkeit betrachtet, eine nicht existierende Realität zu erleben -, die sich in die Gesamtheit aller anderen Materialien und damit aller anderen Lebewesen und in die Erfahrung der Realität, die wir täglich kennen, einfügen, werden unvorhersehbare Folgen für diejenigen haben, die heute in der Enge der Labore lediglich diese Umwandlungen durchführen, ohne sich über die möglichen Konsequenzen Gedanken zu machen. Die einfache Herstellung einer gigantischen Kuh, eines winzigen Laborpferdes oder einer Maus, die so groß wie ein Pferd ist, kann niemanden außer Science-Fiction-Fans beeindrucken. Dasselbe gilt für die Herstellung von supraleitenden Materialien, die Strom fast verlustfrei übertragen können. Das Gleiche gilt für die Erfahrungen, die sich aus der virtuellen Realität ergeben, die nur die Schwelle zu einer massiven und fesselnden Nutzung des gesamten weltweiten Telematiknetzes darstellt, die zunächst fasziniert, dann schockiert und schließlich den Normen des neuen gesunden Menschenverstands entspricht, der in dem Moment eingeengt und konditioniert wird, in dem er sich im Gewand der größten Freiheit präsentiert, nämlich der, seine Träume konkret zu leben.

Niemand kann sagen, wie die Umwelt auf bestimmte Materialien und Lebewesen reagieren wird, niemand kann vorhersagen, wie sich unsere Welt durch unser verändertes Verhalten verändern wird, sobald wir in der Lage sind, mit den uns zur Verfügung stehenden neuen Materialien zu interagieren. Wenn die Technologie der Vergangenheit als komplexes System, das auf den wissenschaftlichen Hypothesen der Forschung und Analyse beruhte, Gefahren darstellte, die innerhalb bestimmter Grenzen begrenzt oder zumindest im Rahmen widersprüchlicher Interessen wechselseitig kontrolliert werden konnten, und wenn sie schließlich als befreiender Traum die verlockende revolutionäre Möglichkeit darstellte, eines Tages ein Instrument der Freiheit für alle zu sein, das die Teilung in Klassen und das Gespenst des Staates abschafft, wenn all dies in vielerlei Hinsicht begründet und plausibel war, dann lag das daran, dass jedes neue Stück des technologischen und wissenschaftlichen Gesamtrahmens innerhalb bestimmter Grenzen vorhersehbar war.

Heute, da diese Möglichkeit der Vorhersage fehlt, sowohl für die einzelnen Prothesen, die nun nicht mehr als solche definiert werden können, als auch für die Wechselwirkung, die jede neue technologische Produktion innerhalb des Gesamtensembles der sozialen Formation hat, haben wir endlich erkannt, dass auch die alte Verwaltungsillusion der Kontrolle und Begrenzung lediglich das Produkt einer historischen Epoche war, die nun vorbei ist.

Und da wir solche Folgen nicht vorhersehen können, können selbst die harmlosesten Experimente zur unwiederbringlichen Ausbreitung einer beängstigenden Katastrophe beitragen.

Das „Ende“ der Krise

Zu den verschiedenen Veränderungen, die in den kursierenden Analysen zu erkennen sind, gehört die unterschiedliche Rolle, die der „ökonomischen Krise“, verstanden im weitesten Sinne des Begriffs, zugewiesen wird.

In der Vergangenheit, auch in der jüngeren Vergangenheit, war in marxistischen Kreisen viel von einem „objektiven Werden der Krise“ die Rede, auf dem verschiedene strategische und organisatorische Überlegungen beruhten. So wurde nicht nur die Möglichkeit, eine revolutionäre Konfrontation mit dem Klassenfeind zu erlangen, sondern auch die strategische Funktion der revolutionären Partei und die „siegreiche“ Wahl des verallgemeinerten Instruments unter dem Begriff „bewaffneter Kampf“ mit dem angeblich objektiven Verlauf der „Krise“ verknüpft.

Das ist nicht mehr der Fall, das wissen wir auch, aber die Gründe, die zu dem jetzigen Zögern geführt haben, sind alles andere als seriöser Natur und verdienen keine weitere Untersuchung, denn sie lassen sich in der Umkehrung der Perspektive zusammenfassen, die aufgrund trivialer Fragen der Geschäftsführung erfolgte. Die Dinge liefen schief (aber hätten sie, ausgehend von dieser Prämisse, besser laufen können?) und so kam man zu dem Schluss, dass die „Funktion“ des objektiven Mechanismus nicht so funktionierte, wie sie sollte. Andere Schlussfolgerungen gehen in Richtung der Leugnung des Mechanismus in einem mit der Umstellung auf kollaborationistische Praktiken, die nur die Tatsache offenbaren, dass die geistige Trägheit von heute mit der von gestern identisch ist, nur dass die von gestern unter dem gnädigen Mantel vorgefertigter Wörter und Konzepte verborgen war.

Dass die Marxisten diesen Begriff auch in einem tröstlichen Sinne verwendet haben, ist eine bekannte Tatsache. In konfliktarmen Zeiten, wenn die Herzen lauwarm werden, setzt der deterministische Zug seinen Marsch fort. Die Krise arbeitet an der Stelle der Revolutionäre, sie gräbt sich in das Herz der sozialen und ökonomischen Formation und bereitet den Boden für die Widersprüche der Zukunft (A.d.Ü., vor). Auf diese Weise sieht der Militante, der alles den revolutionären Hoffnungen geopfert hat, nicht, dass ihm der Boden unter den Füßen fehlt, und kämpft weiter, weil er glaubt, einen mächtigen Verbündeten zu haben, der in der Natur der Dinge verborgen ist.

In widersprüchlicheren Zeiten, wenn das Niveau des Klassenkampfes steigt, hört der Determinismus auf, d.h. er wird unbrauchbar und wird durch einen opportunistischen Voluntarismus ersetzt, der in der Lage ist (oder hofft), auf den Initiativen der Bewegung, plötzlichen destruktiven Entscheidungen, spontanen organisatorischen Schöpfungen usw. zu reiten.

Aber jenseits der betrieblichen Probleme, die die Träumer der überholten Macht vorbringen, geht es um den eigentlichen Kern des Problems.

Tatsächlich ist der Verlauf des ökonomischen und sozialen Prozesses als Ganzes, sowohl im Detail der spezifischen Situation als auch in den großen internationalen Polarisierungen als Ganzes, nicht homogen. Es gibt Perioden der Beruhigung, der konstanten Produktivitätsindizes, des größeren internationalen (politischen und ökonomischen) Gleichgewichts; es gibt aber auch Perioden, in denen sich die Widersprüche verschärfen und das ganze System einen kritischen Punkt zu erreichen scheint.

Die Ökonomen selbst haben von „Zyklen“ gesprochen, waren sich aber nie einig über deren Identifizierung oder Spezifizierung. Man kann sagen, dass das Kapitel über Zyklen dasjenige ist, das die witzigsten Dinge in dieser ganzen lächerlichen Wissenschaft enthält.

Ist es für Kapitalisten möglich, die ökonomische Formation und ihre einzelnen Strukturen in Ordnung zu bringen? Die Antwort ist negativ.

Aber diese negative Antwort ist keineswegs diejenige, die zum Eingeständnis der Unvermeidbarkeit von Krisen führt und damit zu der möglichen, friedlichen Erwartung, dass die Dinge – aus sich heraus – zum revolutionären Durchbruch führen werden.

Im Gegenteil. Eine solche „revolutionäre“ Theorie hat sich mit der kapitalistischen Planungstheorie (d.h. Long Range Planning, d.h. strategische Langzeitplanung) gepaart.

In beiden Fällen wurde derselbe Fehler gemacht. Man betrachtete die ökonomische (und soziale) Formation als ein Ganzes, das wohlgeordneten Gesetzen unterliegt, die von einer präzisen Wissenschaft (der Ökonomie) und ihrer Kammerzofe (der Soziologie) untersucht und hervorgehoben wurden, so dass Revolutionäre (auf der einen Seite) und Kapitalisten (auf der anderen Seite) bestimmte Anhaltspunkte zur Festlegung ihrer langfristigen Strategien ableiten konnten.

Heute ist man sich darüber im Klaren, dass es keine Krisen gibt, und zwar nicht, weil die Welt perfekt geordnet ist, sondern im Gegenteil, weil sie absolut ungeordnet ist, weil sie ständig Turbulenzen ausgesetzt ist, die sich verstärken oder abschwächen können, die aber nicht als „Krisen“ bezeichnet werden können, da sie nicht „anomalen“ Situationen entsprechen, sondern, genauer gesagt, der Realität der ökonomischen und sozialen Formation selbst.

Für Kapitalisten wurde die langfristige Planung in den frühen 1970er Jahren obsolet. Für Revolutionäre ist der parallele Begriff der „Krise“ noch nicht überholt. Die Verzögerung ist nicht unbedeutend.

Es scheint mir sinnvoll, die veränderten Bedingungen der Ökonomie – zumindest auf der mikroökonomischen Ebene – genauer zu betrachten, um die Veränderungen zu verstehen, die in den revolutionären Analysen stattfinden, die auf der „Krise“ basieren, verstanden als ein begrenzendes Konzept, das einen angemesseneren Einsatz der Instrumente des Bruchs ermöglicht.

In der Tat besteht kein Zweifel daran, dass ein Großteil der anarchistischen Analyse selbst auf verzögertem Verständnis, unzulässigen Übertragungen und unfreiwilligen Akzeptanzen beruht. Lange Zeit dachten wir, wir könnten die ökonomischen Analysen der marxistischen Kirche nutzen, indem wir sie einfach von bestimmten Prämissen und Schlussfolgerungen befreien. Das hat schon genug Fehler verursacht. Es ist gut, wenn man versucht, das Problem zu lösen.

Ich glaube, dass marxistische Überlegungen in keiner Weise verwendet werden können. Außer sie von ihren dialektisch-deterministischen Prämissen zu befreien, was sie in unverdauliche Banalitäten verwandelt.

Die Notwendigkeit, die Produktion an Vorhersagen anzupassen, die auf der Grundlage einer nicht existierenden Prämisse (ökonomische Ordnung und ökonomische Gesetze) gemacht wurden, machte die Situation der kapitalistischen Unternehmen, die das wesentliche Element dessen darstellen, was wir „Kapital“ nennen, sehr riskant. Alle Abweichungen von der Vorhersage wurden daher als falsche Elemente betrachtet, die auf die ökonomische Situation zurückgeführt werden sollten. Der dauerhafte und konstante Charakter dieser vermeintlich außergewöhnlichen Ereignisse wurde dabei übersehen. Veränderungen der Nachfrage, oligopolistischer Wettbewerb, Marktverteidigung der Unternehmen, das Niveau der Preise, der Wechselkurse, der Kosten, der Beschäftigungsvorschriften, der Umweltbedingungen – all das konnte nicht länger als „eine Reihe störender Elemente“ betrachtet werden, die den „Gewissheiten“ der Theorie widersprachen, die als einzige zur Interpretation der Realität befugt war.

Auf diese Weise sorgte das Kapital auf der strategischen Ebene für Überraschungen. Mit anderen Worten, es war mit ständigen Änderungen der Prognosen konfrontiert, wodurch es immer schwieriger wurde, sich an Veränderungen der ökonomischen Realität anzupassen. So begann sich der Verdacht der möglichen Irrationalität des ökonomischen Verhaltens zu verbreiten – negativ.

Das korrigierende Eingreifen des Staates, vor allem Ende der 1970er Jahre, war zweifellos ein Aspekt einer möglichen Erholung, konnte aber allein nicht ausreichen. Nicht zuletzt, weil die staatlichen Anreize wohlüberlegt auf eine Verringerung der negativen Aspekte des „kapitalistischen Wettbewerbs“ abzielten, aber zu sehr auf die institutionellen Bedürfnisse der sozialen Kontrolle ausgerichtet waren. Schließlich ist der Staat ein eigentümliches ökonomisches Unternehmen, das dazu neigt, die gesamte ökonomische (und soziale) Formation auf ein einziges Unternehmen zu reduzieren, das ein einziges Gut produziert: den sozialen Frieden.

Das Kapital weiß sehr gut, weil es sich im deformierenden Spiegel der Erfahrungen mit dem Realsozialismus widergespiegelt sieht, dass der Weg zur kapitalistischen Regeneration, der über das Staatskapital führt, für es vielleicht ein noch schlimmeres Übel ist, weil es zwar das Fortbestehen der Herrschaft garantiert, aber die klassischen Aspekte des kapitalistischen Modells zu sehr verzerrt und in den engen Grenzen der institutionellen Kontrollbedürfnisse bändigt.

Denn wenn wir genau hinsehen, diente die ganze Phase der Einführung der korrigierenden Variable „Staat“ – eine Phase, die, rein ökonomisch gesehen, in den frühen 1980er Jahren endete – auch dazu, dass der Staat – zumindest in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern – das Projekt finanzierte, mit dem die tiefgreifendste technologische Innovation der Geschichte, die elektronische, eingeleitet wurde. Das war in der Tat ein unverzichtbares Element für das Leben mit dem Monster. Die Lösung lag darin, so schnell wie möglich eine maximale Produktionsflexibilität zu erreichen.

Die Ökonomen haben hart gearbeitet. Angesichts der Gefahr, nicht aus der „Krise“ herauszukommen, wurden sie aktiv. Zuerst kritisierten sie die neoklassische Theorie des Unternehmens, dann die Managementtheorie. Anfangs versuchte diese Kritik, die Theorie zu einer tieferen Suche nach „Uniformitäten“ zu drängen, um den Unsicherheiten, die durch die extreme Vielfalt der Phänomene entstehen, ein Ende zu setzen.

Dann kam die Kritik an der „Krisenkultur“, die als passive Akzeptanz einer anormalen Situation verstanden wurde, von der man annahm, sie sei überwindbar. Die gesamte Zeit der 1970er Jahre war geprägt von ökonomischer Forschung, die darauf abzielte, die mangelnde Gültigkeit von Prognosen, die auf früheren (neoklassischen oder betriebswirtschaftlichen) ökonomischen Theorien beruhten, in einem negativen Sinne zu untersuchen.

Mit Beginn der 1980er Jahre wurden schließlich die „Instabilität“ und die relative Komplexität der Phänomene als Strukturen der ökonomischen Formation anerkannt, und die Vorstellung eines Nebeneinanders widerstreitender Kräfte und Interessen, innerhalb derer eine Ordnung geschaffen werden könnte, wurde endgültig ad acta gelegt.

Ökonomen sprechen heute eindeutig von „Nicht-Regulierbarkeit“. Eine gegebene Situation – kurzfristig, wenn nicht sogar sehr kurzfristig – wird für das Unternehmen nur verständlich, wenn man die ökonomische Realität als ein Ganzes ohne Zentren und Ordnungsfähigkeit betrachtet, als eine Vielzahl von Kräften, die auf Entscheidungen einwirken, die sich nicht immer auf die abstrakten Kanons der „Rationalität“ zurückführen lassen.

Die ökonomische Theorie hat auf dieses Problem eine klare Antwort gegeben. Das kapitalistische Unternehmen kann mit dieser Situation nur umgehen, wenn es seine Flexibilität maximiert. Das ist keine „neue“ Situation, sondern eine „neue“ Art, die Realität zu sehen. Das Unternehmen muss flexibel sein in seinen Entscheidungen, in seiner Produktionsorganisation und in seiner Anpassung an den allgemeinen ökonomischen Wandel.

So werden Unternehmen dezentralisiert, Produktionsprozesse sind nicht mehr festgelegt, „Anomalien“ werden zur Regel, das Chaos wird in den beruhigenden Kanon des „ökonomischen Gesetzes“ zurückgebracht.

In Wirklichkeit ist das Chaos das gleiche geblieben, nur die Art und Weise, wie es betrachtet wird, hat sich geändert. Der Kapitalist lernt, das Monster zu reiten. Seit jeher ist er ein Mann mit wenigen Skrupeln und dem Mut eines Piraten. Heute wird er es noch mehr. Vorbei sind die Priester der Ökonomie, die ihm tröstende Wiegenlieder sangen. Wenn er überleben will, muss er das Messer zwischen seine Zähne nehmen. Raub und Gewalt sind zunehmend die Waffen der kurz- und mittelfristigen Zukunft. Große Planungsperspektiven – oft gefolgt von sozialem Gezänk – werden beiseite geschoben.

Die ökonomische Theorie der Vergangenheit kommt zu einem schlechten Ende. Das neoklassische Modell, das von einem rationalen ökonomischen Kalkül der Akteure ausging, die dann auf dem Markt aufeinandertrafen und dort ihr Gleichgewicht erreichten, wird auf den Prüfstand gestellt. Dasselbe gilt für die Managementtheorie, die sich ausschließlich auf die organisatorische Stabilität des Unternehmens und seine Planbarkeit stützte.

Diese Überbleibsel der Vergangenheit werden durch das Konzept „Versuch und Irrtum“ ersetzt, ein Konzept, das aus der Kybernetik übernommen wurde. Diese Versuche sind natürlich nur möglich, wenn das Unternehmen sehr flexibel geworden ist und wenn es diese Versuche selbst ausreichend kontrollieren kann, und zwar nicht a priori (was sich auch als hypothetisch erwiesen hat), sondern a posteriori, um die verschiedenen Versuche wirksam zu machen. Diese Thesen legten auch die Annahmen der „begrenzten Rationalität“ beiseite, die die Managementtheorie in den 1970er Jahren prägten.

Die neue Situation wirft eindeutig das Problem auf, wie sich das Unternehmen angesichts der Unmöglichkeit, externe Variablen und einige der gleichen internen Variablen zu kontrollieren, selbst regulieren muss. Gerade die „politischen“ Komponenten des Unternehmens, die Technostruktur im Sinne der amerikanischen „linken“ Ökonomen der 1960er Jahre, werden zu Elementen der Unsicherheit. Auf der Seite der Makroanalyse – insbesondere des Staates und seines Einflusses auf die Ökonomie – verlieren die Annahmen von vor ein paar Jahrzehnten ihre Bestimmtheit. Auf der Seite der Mikro-Analyse verlieren die einzelnen Unternehmen ihre strategische Planungskapazität.

Die neue Realität ist also gekennzeichnet durch den Einzug externer Instabilität in das Unternehmen, das Ende der Stabilität der Beziehungen zwischen verschiedenen Unternehmen, die Veränderung der Regulierungsfunktion des Staates (stärkere Betonung des Aspekts der einfachen Konsensbildung), das Ende der Stabilität der Organisationsverfahren innerhalb des Unternehmens und die Überwindung des Konzepts der kapitalistischen Akkumulation und des quantitativen Wachstums der Produktion.

Die neuen Methoden beruhen alle im Wesentlichen auf der Schnelligkeit der Entscheidungsfindung, der Flexibilität des produktiven Wandels und der erheblichen Substituierbarkeit der Produktionsfaktoren. Auf diese Weise verändert sich die unternehmerische Prägung des Unternehmens grundlegend. Die Wissenschaft der ökonomischen Entscheidungen verschwindet, an ihre Stelle tritt eine Praxis (oder, wenn man es vorzieht, eine Kunst) der empirischen, eklektischen, agilen und schamlosen Entscheidungsfindung, die auf dem unmittelbaren Profit und der sehr kurzen Frist basiert.

Die Ökonomen entwickeln die „Kontingenztheorie“, eine Theorie der Kontingenz, die das Unternehmen von innen heraus an unwiederholbare externe Situationen bindet. Man kann Prognosen, die auf Gesetzen beruhen, nicht einer ökonomischen Berechnung unterziehen, sondern nur kurzfristige Orientierungen bewerten, die auf empirischen Überlegungen beruhen und das Ergebnis der jüngsten Erfahrungen sind, die nichts mit langfristigen Gesetzen zu tun haben.

Die Träume des Neokapitalismus fallen für immer. Mit ihnen fällt – oder beginnt dessen Niedergang und endgültiger Untergang – das große Geschäft. Wir sind uns bewusst, dass die analytischen Kategorien, die aus der Perspektive einer starren Organisation entwickelt wurden, uns daran hindern, die ökonomische Realität in ihrem realen Aspekt zu betrachten und somit eine angemessene produktive Aktion verhindern.

Um diese Veränderungen zu verstehen, ist es notwendig, unsere Aufmerksamkeit auf einige wesentliche Elemente der bisherigen ökonomischen Analyse zu richten. Zum Beispiel der Produktlebenszyklus, die Kostenreduktionskurve als Funktion der Erfahrung mit einzelnen Produktionsprozessen, Konzentrationsindizes (für einzelne Unternehmen und für oligopolistische Branchengruppen), die Unternehmensgröße, die These, dass kleine Unternehmen den rückständigen Teil der Ökonomie darstellen, die Antriebsfunktion staatlicher Investitionen, das Vorhandensein technologisch fortgeschrittener Investitionskerne, die in der Lage sind, die gesamte Ökonomie eines Gebiets mitzureißen: Das sind eine Reihe klassischer Punkte des traditionellen Ansatzes. Diese fallen nach und nach alle weg. Die Schlussfolgerung ist, dass keine allgemeine Theorie möglich ist, sondern nur Annäherungen, die die Kontraste zwischen der äußeren Realität und dem Unternehmen abmildern. Aus diesem Schmelztiegel geht das „neue Unternehmen“ hervor.

Es ist nicht mehr zentralisiert und hat nicht die Absicht, als Bezugspunkt zu dienen, um – in seiner eigenen Struktur – die Funktionen und Interessen zu polarisieren, die außerhalb liegen. Einst waren Forschung, periphere Produktion, kommerzieller Vertrieb, die staatliche Nachfrage (die im Laufe der Zeit stetig wachsen musste), die Suche nach Rohstoffen, die Ausbreitung des Eigentums über das Territorium, das Wachstum der politischen Macht usw. Planungselemente, die mit der „zentralen“ Position des Unternehmens verbunden waren. Jetzt wächst das Unternehmen nicht mehr zu immer größerer Größe heran und sieht sich nicht mehr als kompakte Einheit. Es wächst weiter, aber auf eine andere Art und Weise.

Es ist wichtig, dieses Konzept zu verstehen. Das „neue Wachstum“ basiert ausschließlich auf den Beziehungen, die das Unternehmen mit der Außenwelt hat. So entstehen Vereinbarungen, Projekte, eine gemeinsame Sprache und Code-Harmonien. Nicht nur mit anderen Unternehmen (ohne Grenzen), sondern auch mit der Umwelt als Ganzes, mit dem Staat (ja, mit Staaten) sowie mit Zentren für Spitzentechnologie und wissenschaftliche Forschung. Dieses neue System (Japan war bis vor kurzem Vorreiter, weit vor den USA) verwandelt sich von einem geschlossenen System in eine System-Situation oder, wie es genannt wurde, in ein „System-Land“. Die System-Situation bietet die Technologie, die Professionalität der Arbeit, die Dienstleistungen, die Möglichkeiten zur Überwindung und Verbesserung der rechtlichen Infrastruktur, die Themen, das soziale und ideologische Verhalten. Mit einem Wort, es bietet die passende Umgebung. Nicht das objektive Umfeld, das existiert und auf das sich das traditionelle Unternehmen bezog, indem es versuchte, es auf seine eigenen Ordnungsbedürfnisse zu reduzieren, sondern ein überarbeitetes Umfeld, das für das neue Konzept der Unternehmensentwicklung geeignet ist.

Dieses Konzept muss beachtet werden, wenn man von der Fragmentierung des Unternehmens spricht. Man atomisiert nicht eine physische Situation, sondern eine Gesamtsituation. Ermöglicht wurde dies natürlich vor allem durch die Verfügbarkeit neuer elektronischer Technologien, die die Grenzen des Raums und die damit verbundene Grenze der Zeit aufgehoben haben. Ein modernes Unternehmen, das in Echtzeit arbeitet, braucht keine Lager und keine starren Lieferprognosen mehr, es braucht keine Produktionsanlagen, die über einen langen Zeitraum hinweg unveränderlich sind, und es braucht auch keine großen finanziellen Investitionen, um die notwendigen Änderungen an den Produktionslinien vorzunehmen. Seine Flexibilität ist so groß, dass sie exponentiell wächst, vor allem nachdem das Hauptproblem der Arbeit gelöst wurde und die Geister der sozialen Kämpfe, die dieser Knoten mit sich brachte, beiseite geschoben wurden.

Der multinationale Konzern, wie wir ihn in den vergangenen Jahren kennengelernt haben, hat sich ebenfalls verändert. Man hat nicht mehr den großen autarken Koloss. Es gibt kein Zentrum mehr, das seine eigene strategische Entwicklung auch den Staaten aufzwingen kann. Das neue multinationale Unternehmen ist an die Umwelt gebunden, mit der es interagiert, indem es versucht, die äußeren Bedingungen zu seinen Gunsten zu verändern. Es beherrscht nicht mehr die technologischen Kreisläufe und kontrolliert nicht mehr die Märkte. Kein einzelnes Unternehmen, egal wie groß es ist, kann heute die Entwicklung von Technologien kontrollieren und selbst entscheiden, ob es sie einsetzt oder nicht. Das multinationale Unternehmen wird tendenziell zu einem supranationalen kollektiven Unternehmen, das sich in eine Reihe von komplementären Unternehmen verwandelt, die intern durch die Produktionsbedingungen der Technologie und die individuell begrenzten Ausbeutungskapazitäten gebunden sind. Was wir – wenn auch in groben Zügen – beschrieben haben, kann nicht uninteressant für revolutionäre anarchistische Gefährten und Gefährtinnen sein.

Wenn das „Ende“ der Krise es dem Kapitalismus ermöglicht, zu überleben, indem er sich an die ökonomische Realität anpasst, die als Chaos verstanden wird, ist es nicht mehr möglich, mit friedlichem Herzen zu warten. Aus demselben Grund, aus dem wir nicht mehr von Planung, Vorhersehbarkeit und ökonomischen Gesetzen sprechen können, können wir auch nicht von „Krise“ als einer Situation sprechen, die wir zu unseren Gunsten wenden können.

Wir können uns den Klassenkampf auch nicht als einen Kampf mit wechselnden Phasen vorstellen. Zugegeben, dieser Konflikt ist im Laufe der Zeit nicht konstant, da Momente größerer und geringerer Intensität nur allzu deutlich zu erkennen sind, aber es handelt sich um qualitative und quantitative Veränderungen, die nicht deterministisch auf einfachen ökonomischen Stress zurückgeführt werden können. Dem Klassenkampf liegt ein riesiges Geflecht von sozialen und ökonomischen Beziehungen zugrunde. Keine Analyse kann uns einen sicheren Weg geben, um Erwartungen und Legitimationen von Verhalten zu messen. Die Zeit ist immer reif für einen Angriff, auch wenn die Folgen natürlich sehr unterschiedlich sein können.

In diesem Sinne sollten wir über eine mögliche revolutionäre Organisation nachdenken, die in der Lage ist, besser auf die Realität des Klassenkampfes zu reagieren.

Die Organisationsstruktur der Vergangenheit – von der Partei bis zur föderierten Gruppe, von der Gewerkschaft/Syndikat bis zu den Räten – entsprach mehr oder weniger genau einer Vorstellung von der ökonomischen Realität, die das kapitalistische Unternehmen im Zentrum sah, eine Konzentration von Macht und Ausbeutungskapazität. Im Gegensatz dazu wurde eine ebenso (oder etwas weniger) monolithische Struktur (Gewerkschaft/Syndikat, Partei, Föderation von Gruppen usw.) für notwendig erachtet.

Heute hat sich nicht nur die produktive Realität verändert (was in mancher Hinsicht gar nicht mehr in Frage kommt, vor allem nach der fortgeschrittenen technologischen Veredelung), sondern auch die Art und Weise, wie diese Realität betrachtet wird. Selbst in der Vergangenheit, als die Menschen auf die Ewigkeit der ökonomischen Gesetze schworen, war die produktive Realität chaotisch und bestrafte systematisch diejenigen, die sich ihr deterministisch näherten. Vielleicht lassen sich die Begriffe „Konjunktur“ und „Krise“ auf diese kollektiven Bestrafungen zurückführen.

Eine andere Organisationsstruktur, die weitgehend studiert und umgesetzt, aber sicher nicht von Grund auf neu entdeckt werden muss. Diese Aufgabe scheint uns vorrangig zu sein. Alle Versuche, die Leichen vergangener Organisationsprozesse (in erster Linie natürlich die Leiche der „revolutionären“ bewaffneten Partei) wieder zum Leben zu erwecken, sollten erklären, wie man mit einer ökonomischen (und sozialen) Realität umgeht, die heute immer mehr im Sinne von Unbestimmtheit und schon gar nicht im Sinne von starren ökonomischen Gesetzen lesbar wird.

Jedes Mal, wenn diese Erklärung versucht wird, jedes Mal, wenn wir von einem revolutionären Organisationsvorschlag ausgehen, der mit Bildern aus der Vergangenheit verknüpft ist (Parteien, Föderationen von Gruppen, Gewerkschaften/Syndikate usw.), sehen wir, wie die grundlegende Vorstellung der ökonomischen Realität mit der Annahme der Existenz von mehr oder weniger starren Gesetzen verbunden ist. Wenn diese Gesetze als selbstverständlich hingenommen oder zwischen den Zeilen versteckt werden, bleibt der Glaube an das zyklische Konzept der „Krise“ in vollem Umfang erhalten – ein Glaube, der, wie wir wissen, in schwierigen Zeiten sehr nützlich ist, genau wie der andere Glaube, der, der vom Himmelreich spricht.

Affinität

Bei den anarchistischen Gefährtinnen und Gefährten gibt es ein ambivalentes Verhältnis zum Problem der Organisation.

Die beiden Extreme sind die Akzeptanz einer dauerhaften Struktur, die mit einem genau definierten Programm ausgestattet ist, über (wenn auch wenige) Mittel verfügt und in Kommissionen unterteilt ist, und auf der anderen Seite die Ablehnung jeglicher stabiler und strukturierter Beziehungen, selbst auf kurze Sicht.

Die klassischen anarchistischen Föderationen (alte und neue) und die Individualisten bilden die beiden Extreme von etwas, das dennoch versucht, der Realität der Konfrontation zu entkommen. Der Gefährte oder die Gefährtin, der oder die an organisierten Strukturen festhält, hofft, dass aus dem quantitativen Wachstum eine revolutionäre Veränderung der Realität hervorgeht, und gibt sich deshalb der billigen Illusion hin, jede autoritäre Ausweitung der Struktur und jedes Zugeständnis an die Parteilogik zu kontrollieren. Der individualistische Gefährte ist eifersüchtig auf sein eigenes Ich und fürchtet jede Form der Ansteckung, jedes Zugeständnis an andere, jede aktive Zusammenarbeit und betrachtet diese Dinge als Verzicht und Kompromisse.

Selbst Gefährten und Gefährtinnen, die sich kritisch mit dem Problem der anarchistischen Organisation auseinandersetzen und eine individualistische Isolation ablehnen, befassen sich oft nur mit dem Problem der klassischen Organisation und tun sich schwer, an alternative Formen stabiler Beziehungen zu denken.

Die Basisgruppe wird als unverzichtbares Element der spezifischen Organisation angesehen und der Zusammenschluss zwischen Gruppen auf der Grundlage ideologischer Klärung wird zu ihrer natürlichen Folge.

Die Organisation entsteht also vor den Kämpfen und passt sich schließlich an die Perspektive einer bestimmten Art von Kampf an, die – so wird zumindest angenommen – die Organisation selbst wachsen lässt. Auf diese Weise erweist sich die Struktur als stellvertretende Form gegenüber den repressiven Entscheidungen der Macht, die aus verschiedenen Gründen den Schauplatz der Klassenkonfrontation beherrscht. Der Widerstand und die Selbstorganisation der Ausgebeuteten werden als molekulare Elemente gesehen, die hier und da erfasst werden können, die aber erst dann bedeutsam werden, wenn sie Teil der spezifischen Struktur werden oder sich unter der (mehr oder weniger erklärten) Führung der spezifischen Struktur zu Massenorganismen konditionieren lassen.

Auf diese Weise bleibt man immer in einer Warteposition. Wir sind alle wie auf Bewährung (A.d.Ü., auf „halber“ Freiheit). Wir hinterfragen das Verhalten der Macht und sind bereit, auf die Unterdrückung, die uns widerfährt, zu reagieren (immer innerhalb der Grenzen des Möglichen). Nur selten ergreifen wir die Initiative, werden selbst aktiv und kehren die Logik der Verlierer um. Diejenigen, die sich in strukturierten Organisationen wiedererkennen, warten auf ein unwahrscheinliches quantitatives Wachstum. Diejenigen, die innerhalb von Massenstrukturen arbeiten (z.B. in der anarchosyndikalistischen Sichtweise), erwarten, dass sie von den kleinen defensiven Ergebnissen von heute in das große revolutionäre Ergebnis von morgen übergehen werden. Diejenigen, die dies leugnen, erwarten das Gleiche, ohne zu wissen, was, oft in einem Groll gegen alles und jeden gefangen, sicher in ihren eigenen Ideen, ohne zu erkennen, dass diese nichts anderes sind als die leere negative Implikation der organisatorischen und programmatischen Aussagen anderer.

Stattdessen scheint es uns, dass andere Dinge getan werden können.

Wir gehen von der Überlegung aus, dass man Kontakte zwischen Gefährten und Gefährtinnen herstellen muss, um zur Aktion überzugehen. Allein ist man nicht in der Lage zu agieren, außer sich auf einen platonischen Protest zu reduzieren, so blutig und schrecklich wie man will, aber immer noch platonisch. Wenn man einschneidend auf die Realität agieren will, muss man viele sein.

Auf welcher Grundlage soll man andere Gefährten und Gefährtinnen finden? Was bleibt übrig, wenn man von der Hypothese ausgeht, dass die Programme und Plattformen von vornherein und ein für alle Mal festgelegt wurden?

Die Affinität bleibt.

Unter anarchistischen Gefährtinnen und Gefährten gibt es Affinitäten und Differenzen. Ich spreche hier nicht von charakterlichen oder persönlichen Affinitäten, also von jenen Gefühlsaspekten, die Gefährten oft miteinander verbinden (vor allem Liebe, Freundschaft, Sympathie usw.). Ich spreche von einer Vertiefung des gegenseitigen Wissens. Je mehr diese Vertiefung wächst, desto größer kann die Affinität werden, andernfalls können die Unterschiede so offensichtlich werden, dass ein gemeinsames Handeln (A.d.Ü., im Sinne von Aktionen) unmöglich ist. Die Lösung bleibt einem tiefen gemeinsamen Wissen anvertraut, das durch detaillierte Planung der verschiedenen Probleme, die die Realität der Klassenkämpfe aufwirft, entwickelt werden muss.

Es gibt eine ganze Reihe von Problemen, die in der Regel nicht in ihrer Gesamtheit erklärt werden. Wir beschränken uns oft auf die nächstgelegenen Probleme, weil sie uns am meisten betreffen (Unterdrückung, Gefängnisse usw.).

Aber gerade in der Fähigkeit, tiefer in das Problem einzudringen, das wir angehen wollen, liegt das geeignetste Mittel, um die Bedingungen für eine gemeinsame Affinität festzulegen, die sicherlich nicht absolut oder total sein muss (außer in sehr seltenen Fällen), aber ausreichen kann, um handlungsfähige (A.d.Ü., im Sinne von Aktionen) Beziehungen herzustellen.

Wenn wir unsere Interventionen auf die offensichtlichsten und oberflächlichsten Aspekte dessen beschränken, was wir als unmittelbare und wesentliche Probleme betrachten, werden wir nie in der Lage sein, die Affinitäten zu entdecken, die uns interessieren, und wir werden immer der Gnade plötzlicher und unerwarteter Widersprüche ausgeliefert sein, die jedes Projekt der Intervention in die Realität zunichte machen können. Ich bestehe darauf, dass wir Affinität und Gefühl nicht verwechseln dürfen. Es mag Gefährten und Gefährtinnen geben, mit denen wir uns verbunden fühlen, die uns aber nicht sehr sympathisch sind, und umgekehrt gibt es Gefährten und Gefährtinnen, mit denen wir keine Affinität teilen, die aber aus verschiedenen anderen Gründen unsere Sympathie haben.

Man darf sich in seinem Handeln (A.d.Ü., im Sinne von Aktionen) unter anderem nicht von falschen Problemen, wie dem der vermeintlichen Unterscheidung zwischen Gefühlen und politischen Beweggründen, behindern lassen. Aus dem vorher Gesagten könnte man schließen, dass Gefühle etwas sind, das von politischen Analysen getrennt werden muss, so dass wir zum Beispiel eine Person lieben können, die unsere Ideen überhaupt nicht teilt, und umgekehrt. Das ist im Prinzip möglich, auch wenn es noch so verletzend ist. In das Konzept der Vertiefung der Probleme, das weiter oben zum Ausdruck kam, muss jedoch auch der persönliche Aspekt (oder, wenn man es vorzieht, die Gefühle) einbezogen werden, denn wenn wir uns instinktiv unseren Impulsen unterwerfen, mangelt es uns oft an Reflexion und Analyse, da wir nicht zugeben können, dass wir einfach vom Gott des Exzesses und der Zerstörung besessen sind.

Aus dem Gesagten ergibt sich, wenn auch nebulös, eine erste Annäherung an unsere Vorstellung von einer anarchistischen Gruppe: eine Ansammlung von Gefährtinnen und Gefährten, die durch gemeinsame Affinität verbunden sind.

Je tiefer das Projekt ist, das diese Gefährten und Gefährtinnen gemeinsam aufbauen, desto größer ist ihre Affinität. Daraus folgt, dass echte Organisation, die effektive (und nicht fiktive) Fähigkeit, gemeinsam zu agieren, d.h. zueinander zu finden, analytisch zu studieren und zur Aktion überzugehen, mit der erreichten Affinität zusammenhängt und nichts mit Akronymen, Programmen, Plattformen, Fahnen und getarnten Parteien zu tun hat.

Die Affinitätsgruppe ist also eine spezifische Organisation, die sich um gemeinsame Affinitäten versammelt. Diese sind vielleicht nicht für jeden identisch, aber die verschiedenen Gefährten und Gefährtinnen werden unendliche Schattierungen von Affinität haben, die umso vielfältiger sind, je größer die Anstrengung der analytischen Vertiefung ist, die erreicht wurde.

Daraus folgt, dass die Menge dieser Gefährten und Gefährtinnen auch eine Tendenz zum quantitativen Wachstum haben wird, aber begrenzt und nicht der einzige Zweck der Aktivität. Die zahlenmäßige Entwicklung ist für das Handeln (A.d.Ü., im Sinne von Aktionen) unerlässlich und ist auch ein Beweis für die Breite der durchgeführten Analyse und ihre Fähigkeit, nach und nach Affinitäten mit einer größeren Anzahl von Gefährten und Gefährtinnen zu entdecken.

Daraus folgt, dass sich der so geschaffene Organismus irgendwann selbst gemeinsame Interventionsmittel gibt. Erstens ist es ein Diskussionsinstrument, das für eine gründliche Analyse notwendig ist und möglichst viele Hinweise auf eine breite Palette von Problemen geben kann, und gleichzeitig ein Bezugspunkt für die Überprüfung – auf persönlicher oder kollektiver Ebene – der Affinitäten oder Divergenzen, die nach und nach entstehen werden.

Abschließend muss gesagt werden, dass das Element, das eine solche Gruppe zusammenhält, zweifelsohne die Affinität ist, aber ihre treibende Kraft ist die Aktion. Wenn man sich auf das erste Element beschränkt und den zweiten Aspekt unterbewertet, trocknet jede Beziehung in byzantinischem Perfektionismus aus.

Informelle Organisation

Unterscheiden wir zunächst zwischen der spezifischen informellen anarchistischen Organisation und der spezifischen synthetischen anarchistischen Organisation. Aus dieser Unterscheidung ergeben sich hingegen bemerkenswerte Klarstellungen.

Was ist eine offensichtlich anarchistische spezifische Syntheseorganisation? Es handelt sich um eine Organisationsstruktur, die auf Gruppen oder Einzelpersonen basiert, die in mehr oder weniger ständiger Beziehung zueinander stehen, und die ihren Höhepunkt in regelmäßigen Kongressen hat. In diesen öffentlichen Vollversammlungen werden grundlegende theoretische Analysen besprochen, ein Programm analysiert und Aufgaben verteilt, die die ganze Bandbreite der Interventionen im sozialen Bereich abdecken. Diese Organisation ist daher ein Bezugspunkt, ein Pol, der in der Lage ist, die Kämpfe, die in der Realität der Klassenkonfrontation stattfinden, zu bündeln. Die verschiedenen Kommissionen dieses Organisationsmodells greifen in die Kämpfe ein (als einzelne Gefährtinnen und Gefährten, die sie bilden, oder als Gruppen) und leisten durch ihr Eingreifen ihren Beitrag, ohne jedoch die theoretische und praktische Ausrichtung aus den Augen zu verlieren, die die Organisation als Ganzes auf dem vorherigen Kongress beschlossen hat.

Wenn sich diese Art von Organisation in ihrer vollen Stärke entwickelt (wie es 1936 in Spanien geschah), beginnt sie auf gefährliche Weise einer Partei zu ähneln. Die Synthese wird zur Kontrolle. In Momenten der Müdigkeit fällt diese Rückbildung natürlich kaum auf und mag sogar wie Blasphemie erscheinen, aber zu anderen Zeiten ist sie deutlicher sichtbar.

Im Wesentlichen wird bei der Organisation der Synthese (die immer spezifisch und anarchistisch ist) ein Kern von Spezialisten vorausgesetzt, die Vorschläge auf theoretischer und ideologischer Ebene formulieren und sie so weit wie möglich an das auf dem Kongress beschlossene allgemeine Programm anpassen. Abweichungen von diesem Programm können auch bemerkenswert sein (schließlich würden Anarchisten und Anarchistinnen eine zu sklavische (A.d.Ü., wortgetreu, wortwörtlich) Anpassung nicht zulassen), aber wenn sie auftreten, wird darauf geachtet, sie kurz gesagt, wieder in die Normalität der zuvor beschlossenen Linie zurückzuführen.

Das Interventionsprojekt dieser Organisation besteht daher darin, in den verschiedenen Realitäten präsent zu sein: Antimilitarismus, Atomkraft, Gewerkschaften/Syndikate, Gefängnisse, Ökologie, Interventionen in der Nachbarschaft, Arbeitslosigkeit, Schulen, etc. Diese Präsenz äußert sich in direkten, d.h. direkt organisierten Interventionen oder in der Teilnahme an Interventionen, die von anderen Gefährtinnen und Gefährten oder anderen Organisationen (anarchistisch oder nicht) durchgeführt werden.

Daraus lässt sich ableiten, dass der Zweck der Beteiligung darin besteht, den Kampf in das Projekt der Synthese einzubringen. Er kann nicht autonom sein, er kann sich nicht wirklich an die Bedingungen des Kampfes anpassen, er kann nicht wirklich auf einer klaren Ebene mit den anderen revolutionären Kräften zusammenarbeiten, wenn nicht durch den ideologischen Filter der Synthese, wenn nicht durch die Bedingungen, die durch das auf dem Kongress verabschiedete Projekt auferlegt werden.

Diese Situation, die ohnehin nicht immer so starr ist, wie es hier den Anschein hat, bringt die unauslöschliche Tendenz der Syntheseorganisationen mit sich, das Niveau der Kämpfe zu senken, indem sie Vorsichtsmaßnahmen und Mittel vorschlagen, die darauf abzielen, jede Flucht nach vorn, jede Wahl von zu ungedeckten Zielen, jeden Einsatz von zu gefährlichen Mitteln zu reduzieren.

Lasst uns ein Beispiel nehmen. Wenn eine Gruppe, die zu dieser Art von Organisation gehört (die zwar eine Synthese darstellt, aber dennoch spezifisch und anarchistisch ist), sich einer Kampfstruktur anschließt, z.B. gegen die Repression, ist sie gezwungen, die von dieser Struktur vorgeschlagenen Aktionen im Lichte der Analysen zu bewerten, die zuvor erstellt und mehr oder weniger auf dem Kongress angenommen wurden. Daraus folgt, dass sich die Struktur des Kampfes an diese Analysen anpassen muss, sonst wird die Gruppe, die Teil der Syntheseorganisation ist, ihre Zusammenarbeit unterbrechen (wenn sie eine Minderheit darstellt) oder den Ausschluss derjenigen erzwingen (faktisch, wenn auch nicht mit einem präzisen Antrag), die andere Methoden des Kampfes vorgeschlagen hatten.

So sehr diese politische Realität auch einigen missfallen mag, so ist sie nun einmal.

Es stellt sich die Frage, warum der Vorschlag der Gruppe, die Teil der Syntheseorganisation ist, per definitionem immer rückständiger, d.h. rückwärtsgewandter oder vorsichtiger sein muss als andere Vorschläge, was mögliche Aktionen des Angriffs gegen die Strukturen der Unterdrückung und des sozialen Konsenses angeht.

Und warum? Die Antwort ist einfach. Die spezifische und anarchistische Syntheseorganisation, die, wie wir gesehen haben, ihr Hauptmoment im periodischen Kongress findet, hat als grundlegendes Ziel das quantitative Wachstum. Als Struktur der Synthese braucht sie eine operative Kraft, die wachsen muss. Nicht ganz unendlich, aber fast. Andernfalls wäre sie nicht in der Lage, in die verschiedenen Realitäten einzugreifen und könnte nicht einmal ihre Hauptaufgabe wahrnehmen, die darin besteht, sie zu einem einzigen Bezugspunkt zusammenzufassen.

Jetzt müssen diejenigen, deren primäres Ziel quantitatives Wachstum ist, Interventionsinstrumente einsetzen, die Proselytismus und Pluralismus garantieren können. Bei jedem Problem kann sie keine eindeutige Position einnehmen, die sich oft als ungenießbar für die meisten erweist, sondern muss einen Mittelweg finden, einen politischen Weg, der den wenigsten missfällt und für die meisten akzeptabel ist.

Auch hier gilt, dass bei einigen Themen, wie z.B. Repression und Gefängnisse, die richtigste Position oft sehr gefährlich ist, und keine Gruppe kann eine Organisation, der sie angehört, gefährden, ohne sich vorher mit den anderen Gruppen zu einigen. Aber das kann nur auf einem Kongress oder zumindest auf einer Sonderkonferenz geschehen, und jeder weiß, dass sich gerade in diesen Gremien immer die gemäßigtste und sicher nicht die fortschrittlichste Meinung durchsetzt. Die Präsenz der Syntheseorganisation in den realen Kämpfen, den Kämpfen mitten im Klassenkampf, stellt also eine (oft unfreiwillige, aber dennoch kontrollierende) Bremse und Kontrolle dar.

Bei der informellen Organisation gibt es diese Probleme nicht. Die Affinitätsgruppen und die Gefähren und Gefährtinnen, die sich in einem Bereich der Projektualität mit informellem Charakter wiedererkennen, sind de facto zusammen und sicher nicht wegen der Einhaltung eines Programms, das auf einem Kongress festgelegt wurde. Das Projekt, in dem sie sich wiedererkennen, wird durch sie selbst, ihre Analysen und ihren Aktionen realisiert. Es mag gelegentlich einen Bezugspunkt in einer Zeitung oder in einer Reihe von Treffen finden, aber das ist nur zur Erleichterung, während es nichts mit Kongressen oder ähnlichen Angelegenheiten zu tun hat.

Die Gefährtinnen und Gefährten, die sich mit einer informellen Organisation identifizieren, gehören ihr automatisch an. Sie bleiben mit anderen Gefährtinnen und Gefährten in Kontakt, sei es über die Zeitung oder auf andere Weise, aber noch wichtiger ist, dass sie an den verschiedenen Aktionen, Demonstrationen, Treffen usw. teilnehmen, die von Zeit zu Zeit stattfinden. Der zentrale Punkt der Verifizierung und Vertiefung wird dadurch gegeben, dass wir uns in Momenten des Kampfes sehen, die am Anfang auch einfach Momente der theoretischen Verifizierung sein können und dann zu etwas anderem werden.

In einer informellen Organisation gibt es kein Problem der Synthese, es gibt keinen Wunsch, in den verschiedenen Situationen präsent zu sein, geschweige denn, ein Projekt zu formulieren, das die Kämpfe wieder in den Rahmen eines zuvor genehmigten Programms bringt.

Der einzige Bezugspunkt ist die insurrektionalistische Methodologie: das heißt, die Selbstorganisation der Kämpfe, die permanente Konfliktualität und der Angriff.

Das revolutionäre Projekt

Es ist nicht einfach, die verschiedenen Aspekte der revolutionären Intervention zu erfassen. Noch schwieriger ist es, sie alle zusammen in einem Gesamtvorschlag zu erfassen, der seine eigene Logik und eine gültige operative Formulierung hat. Das ist es, was ich unter einem revolutionären Projekt verstehe.

Bei der Bestimmung des Feindes verstehen wir uns (fast immer) ausreichend. In die Vagheit der Definition packen wir die Elemente, die uns aus unseren Erfahrungen (Leiden und Freuden), aus unserer sozialen Situation und aus unserer Kultur zufallen. Jeder glaubt, dass er über geeignete Elemente verfügt, um eine Karte des gegnerischen Gebiets zu zeichnen und Ziele und Verantwortlichkeiten festzulegen.

Dass die Dinge nicht so sind, ist auch normal. Aber das ist uns egal. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, nehmen wir die entsprechenden Anpassungen vor und gehen weiter.

Unklar in der Art und Weise, wie wir vorgehen, unklar in den Dingen, die uns umgeben, beleuchten wir uns nur und ausschließlich mit der armseligen Kerze der Ideologie und gehen so sicher wie unter der Leitung eines Leuchtturms weiter.

Die tragische Tatsache ist, dass sich die Dinge um uns herum verändern, oft sehr schnell. Die Bedingungen des Klassenverhältnisses, die sich in der widersprüchlichen Situation ständig erweitern und verengen, werden heute enthüllt, um morgen wieder versteckt zu werden. So tauchen die Gewissheiten von gestern in die Dunkelheit von heute ein.

Wer einen konstanten, wenn auch nicht unbeweglichen Richtungspol beibehält, wird nicht für das gehalten, was er eigentlich ist, nämlich ein ehrlicher Navigator im Meer der Klassenverwirrungen, sondern für einen sturen Wiederholer veralteter Schemata und abstrakter ideologischer Metaphern. Diejenigen, die darauf beharren, den Feind hinter der Uniform, hinter der Fabrik, hinter dem Ministerium, hinter der Schule, hinter der Kirche usw. zu sehen, werden verachtet. Die Dinge in ihrer harten Realität werden durch das Abstrakte, die Art des Seins, die Relativität der Positionen ersetzt. Der Staat wird so zu einer Art, die Dinge zu sehen, und nicht zu einer materiellen Tatsache, die aus Menschen und Dingen besteht. Das Ergebnis ist, dass die Ideen des Staates nicht bekämpft werden können, ohne die Menschen und Dinge des Staates anzugreifen. Sie isoliert bekämpfen zu wollen, in der Hoffnung, dass sich die ihnen zugrunde liegende materielle Realität durch ihren Sturz in den kritischen Abgrund der logischen Widersprüche ändert, ist eine tragische idealistische Illusion. Und das ist es, was in Zeiten wie diesen passiert, in denen Kämpfe und operative Vorschläge zurückschlagen.

Kein Anarchist und keine Anarchistin würde die positive Funktion des Staates zugeben, um nicht respektlos zu sein. Daraus ergibt sich die logische Schlussfolgerung, dass diese Funktion, wenn sie nicht positiv ist, negativ sein muss, d.h. sie muss jemandem schaden, um jemand anderem zu nützen. Aber der Staat ist nicht (nur) die Idee des Staates, er ist auch das „Ding Staat“, und dieses „Ding“ besteht aus dem Polizisten und dem Polizeigebäude, dem Minister und dem Ministerium (auch dem Gebäude, in dem das Ministerium seinen Sitz hat), dem Priester und der Kirche (auch dem Ort, an dem der Kult des Betrugs und der Lüge stattfindet), dem Banker und der Bank, dem Spekulanten und seinem Büro, bis hin zum einzelnen Spion und seiner mehr oder weniger komfortablen Vorstadtwohnung. Der Staat ist dieses artikulierte Ding, oder er ist nichts: eine eitle Abstraktion, ein theoretisches Modell, das man nicht angreifen und besiegen kann.

Natürlich ist der Staat auch in uns und in anderen. Es ist also auch eine Idee. Aber da er eine Idee ist, ist er den physischen Orten und Körpern, die ihn verwirklichen, untergeordnet. Ein Angriff auf die Idee des Staates (auch auf die, die wir in uns tragen, oft ohne uns dessen bewusst zu sein) ist nur möglich, wenn wir gleichzeitig seine historische Materialisierung physisch und zerstörerisch angreifen, d.h. seine Präsenz vor uns in Fleisch und Blut und in Ziegeln und Beton.

Aber wie soll man angreifen? Die Zeiten sind hart. Die Menschen verteidigen sich und treffen Vorsichtsmaßnahmen. Auch die Wahl der Angriffsmittel ist einem ähnlichen Missverständnis zum Opfer gefallen.

Wir können (und müssen) mit Ideen angreifen, indem wir Kritik gegen Kritik, Logik gegen Logik, Analyse gegen Analyse ausspielen. Aber das wäre eine nutzlose Übung, wenn sie isoliert durchgeführt würde, losgelöst von der direkten Intervention in die Dinge und Menschen des Staates (und natürlich des Kapitals). Wie schon gesagt, greift man nicht nur mit Ideen an, sondern auch mit Waffen. Ich sehe keinen anderen Ausweg. Sich auf ein ideologisches Gewissen zu beschränken, trägt dazu bei, den Feind mit Elementen zu versorgen. Deshalb muss die theoretische Vertiefung parallel und gleichzeitig mit dem praktischen Angriff erfolgen.

Mehr. Gerade beim Angriff wird die Theorie zur Praxis und die Praxis nimmt ihre theoretischen Grundlagen auf. Wenn man sich auf die Theorie beschränkt, bleibt man im Bereich des Idealismus, einer typischen bourgeoisen Philosophie, die seit Hunderten von Jahren die Kassen der herrschenden Klasse und auch die Lager der Vernichter von rechts oder links gefüttert hat. Egal, ob sich dieser Idealismus manchmal als (historischer) Materialismus tarnte, es war immer noch der alte menschenverschlingende Idealismus. Ein libertärer Materialismus muss notwendigerweise die Trennung zwischen Idee und Tatsache überwinden. Wenn der Feind identifiziert ist, muss er getroffen werden, und zwar richtig. Nicht so sehr den optimalen Bewertungen seiner Zerstörung, den Bewertungen des Angreifers, sondern der allgemeinen Situation, die einen nicht zu vernachlässigenden Teil der gegnerischen Verteidigung und Möglichkeiten zur Überwindung und Erhöhung der Gefahr darstellt. Wenn man sie angreift, muss man das tun, indem man einen Teil ihrer Struktur zerstört und damit das Funktionieren des Ganzen erschwert. All dies läuft für sich betrachtet Gefahr, unbedeutend zu bleiben. Das heißt, es gelingt nicht, sie in etwas Reales umzuwandeln. Damit dieser Wandel stattfinden kann, muss der Angriff mit einer kritischen Vertiefung der Ideen des Feindes einhergehen, also jener Ideen, die Teil seines repressiven und unterdrückerischen Handelns (A.d.Ü., im Sinne von Aktionen) sind.

Aber diese gegenseitige Umwandlung von praktischer Aktion in theoretische Aktion und von Theorie in Praxis kann nicht als etwas künstlich Aufgesetztes stattfinden. Zum Beispiel im Sinne von jemandem, der, nachdem er eine Aktion durchgeführt hat, seine gute Tat mit einem Bekennerschreiben darauf druckt. Die Ideen des Feindes werden auf diese Weise nicht kritisiert und auch nicht vertieft. Sie kristallisieren sich im ideologischen Prozess heraus und werden als massiver Gegensatz zu den Ideen des Angreifers gesehen, die ebenfalls in etwas massiv Ideologisches verwandelt werden. Ich glaube, nur wenige Dinge sind mir so verhasst wie diese Art der Vorgehensweise.

Gibt es sonst noch etwas zu tun?

Der Ort, an dem die Theorie in die Praxis umgesetzt wird, und umgekehrt, ist der Ort des Projekts. Es ist das Projekt in seiner Gesamtheit, das praktische Aktionen und Kritik an den Ideen des Feindes anders sinnvoll macht.

Daraus folgt, dass die Arbeit des Revolutionärs im Wesentlichen die Ausarbeitung und Verwirklichung eines Projekts ist.

Aber bevor wir wissen, was ein revolutionäres Projekt sein kann, müssen wir uns darüber einig sein, was der Revolutionär und die Revolutionärin besitzen müssen, um an der Ausarbeitung ihres Projekts zu arbeiten.

Zuerst der Mut. Nicht der triviale der physischen Konfrontation oder des Angriffs auf den feindlichen Schützengraben, sondern der schwierigere der eigenen Ideen. Wenn man auf eine bestimmte Art und Weise denkt, wenn man eine bestimmte Einschätzung der Dinge und Menschen, der Welt und ihrer Angelegenheiten hat, muss man den Mut haben, den ganzen Weg zu gehen, ohne Kompromisse, ohne halbe Sachen, ohne Pietismus, ohne Illusionen. Auf halbem Weg stehen zu bleiben ist kriminell oder, wenn man so will, völlig normal. Aber der Revolutionär und die Revolutionärin sind keine „normalen“ Menschen. Sie müssen darüber hinausgehen, über das Normale, aber auch über das Außergewöhnliche, das die aristokratische Art ist, Vielfalt zu betrachten. Mehr als gut, aber auch mehr als böse, würden manche sagen.

Sie können nicht darauf warten, dass andere tun, was getan werden muss. Sie können nicht an andere delegieren, was ihr Gewissen ihnen vorschreibt zu tun. Sie können nicht friedlich akzeptieren, dass an anderen Orten andere Menschen wie sie selbst, die zitternd und begierig darauf sind, diejenigen zu zerstören, die uns unterdrücken, die Dinge tun, die sie selbst tun könnten, wenn sie nur wollten, wenn sie aus der Erstarrung und dem Betrug, dem Geschwätz und dem Missverständnis herauskämen. Also müssen sie arbeiten, und zwar hart arbeiten. Arbeit, um sich mit den nötigen Mitteln auszustatten, mit denen sie ihre Überzeugungen angemessen begründen können.

Und hier kommt der zweite Punkt: die Beständigkeit. Die Kraft, weiterzumachen, auszuharren, durchzuhalten, auch wenn andere entmutigt werden und alles schwierig erscheint.

Es gibt keine Möglichkeit, die Mittel zu beschaffen, die man braucht, wenn man nicht beständig an seiner Arbeit arbeitet. Der Revolutionär und die Revolutionärin brauchen kulturelle Mittel, d.h. Analysen, Basiswissen und institutionelle Vertiefung. Selbst Studien, die weit von der revolutionären Praxis entfernt scheinen, sind für das Handeln (A.d.Ü., im Sinne von Aktionen) unverzichtbar. Die Sprachen, die Ökonomie, die Philosophie, die Mathematik, die Naturwissenschaften, die Chemie, die Sozialwissenschaften, und so weiter. All dieses Wissen sollte jedoch nicht als Spezialgebiet betrachtet werden, aber auch nicht als dilettantische Übungen eines tänzelnden Geistes, der rechts und links kneift, wissbegierig, aber ständig unwissend ist, weil er keine Methode besitzt, die es ihm ermöglicht zu lernen. Und dann die Techniken: richtig zu schreiben (und zwar so, dass es für den Zweck, den man erreichen will, geeignet ist); vor anderen zu sprechen (mit allen Techniken des Sprechens, die nicht einfach und von großer Bedeutung sind); zu lernen (was auch eine Technik ist und auch als solche gelernt werden sollte, um das Lernen zu erleichtern und nicht als Spezialisierung an sich); das Erinnern (das verbessert werden kann und nicht immer der mehr oder weniger natürlichen Veranlagung überlassen werden muss, die wir von Kindheit an mitbringen); das Manipulieren von Gegenständen, d.h. der Gebrauch der Hände (den viele für ein mysteriöses Geschenk der Natur halten, der aber stattdessen eine Technik ist, die erlernt und perfektioniert werden kann); und andere. Die Suche nach Mitteln ist eine Arbeit, die nie endet. Ihre Verfeinerung, wie auch ihre Ausweitung auf verschiedene Bereiche, ist das ständige Bestreben der Revolutionäre.

Eine dritte Sache bleibt: Kreativität. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Mittel, die aufgebaut werden, nicht produktiv wären und in der Spezialisierung als Selbstzweck untergehen würden, wenn sie nicht sofort oder nach einer gewissen Zeit neue Erfahrungen hervorbringen würden, die das Individuum tiefgreifend verändern, und aus denen sich ohne Unterbrechung Veränderungen in den Mitteln selbst und in den Möglichkeiten ihrer Nutzung ergeben. Hier lässt sich die Kraft der Kreativität, d.h. die Frucht früherer Bemühungen, begreifen. Logische Prozesse bleiben zurück, werden zu einer Hintergrundtatsache, zu einem vernachlässigbaren Element, während ein neues, völlig anderes Element auftaucht: die Intuition.

Das Problem wird jetzt anders gesehen. Nicht mehr wie früher. Unzählige Verbindungen und Vergleiche, Schlussfolgerungen und Ableitungen finden statt, ohne dass wir es merken. Die Gesamtheit der Mittel, die wir in Besitz genommen haben, schwingt und wird lebendig. Erinnerungen und neue Erkenntnisse, alte unverstandene Dinge, die jetzt klar werden, Ideen und Spannungen. Eine unglaubliche Mischung, die selbst eine schöpferische Tatsache ist und die sofort der Disziplin der Methode, der Beherrschung von Techniken unterworfen werden muss, damit sie etwas hervorbringen kann, das zwar begrenzt ist, aber sofort wahrnehmbar und nutzbar ist. Leider besteht das Schicksal der Kreativität darin, dass ihr immenses anfängliches explosives Potenzial (das in Ermangelung der oben erwähnten grundlegenden Mittel zu einer armseligen Sache wird) später in die Grenzen der Technik im engeren Sinne zurückgeführt werden muss, zu Wort, zu Seite, zu Figur, zu Klang, zu Form, zu Objekt werden muss. Andernfalls bleibt es außerhalb des Rahmens dieses kleinen kommunikativen Gefängnisses verlassen und verstreut im Meer der Unermesslichkeit.

Und schließlich noch eine letzte Sache: die Materialität. Die Fähigkeit, die materielle, reale Grundlage dessen, was uns umgibt, zu erfassen. Zum Beispiel die Fähigkeit zu begreifen, dass man geeignete Mittel für die Aktion braucht, um zu agieren, was keine einfache Sache ist. Die Frage der Mittel scheint sehr klar zu sein, aber sie führt zu Missverständnissen. Nehmen wir den Fall des Geldes. Es besteht kein Zweifel, dass wir ohne Geld nicht die Dinge tun können, die wir tun wollen. Es besteht kein Zweifel daran, dass Revolutionäre den Staat nicht um Geld bitten können, um Projekte zu bauen, die darauf abzielen, den Staat selbst zu zerstören. Sie können nicht aus einem ethischen Grund und dann aus einem logischen Grund (der Staat würde sie ihm nicht geben) darum bitten. Sie können auch nicht ernsthaft glauben, dass sie mit kleinen (und in der Regel bescheidenen) persönlichen Abonnements all die Dinge tun können, die sie tun wollen (und für notwendig erachten). Sie können auch nicht endlos über den Geldmangel jammern oder sich damit abfinden, dass aufgrund des Geldmangels einige Dinge, die getan werden sollten, nicht getan werden können. Sie können auch nicht lange die Position von jemandem einnehmen, der kein Geld hat, sich aber damit abfinden, dass sie keins haben und sich nicht an den gemeinsamen Anstrengungen beteiligen, indem sie darauf warten, dass andere an ihrer Stelle tun, was getan werden muss. Natürlich ist es klar, dass Gefährtinnen und Gefährten, die kein Geld haben, nicht verpflichtet sind, etwas zu bezahlen, was sie sich nicht leisten können, aber ist es wirklich wahr, dass sie alles getan haben, was sie tun konnten, um das Geld zu bekommen? Oder gibt es nur einen Weg, um an das Geld zu kommen: darum betteln gehen, indem man von den Bossen ausgebeutet wird? Ich glaube nicht.

Innerhalb der Variationsbreite einer möglichen Lebensweise polarisieren persönliche Neigungen und kulturelle Aneignungen zwei grenzwertige Verhaltensweisen, die sowohl einschränkend als auch bestrafend sind. Auf der einen Seite derjenige, der das theoretische Moment bevorzugt, auf der anderen Seite derjenige, der sich dem praktischen Moment verschreibt. Fast nie sind diese beiden Polarisationen in ihrem „reinen Zustand“, aber sie sind oft genug charakterisiert, um zu Hindernissen zu werden.

Die großartigen Möglichkeiten, die die theoretische Vertiefung den Revolutionären zur Verfügung stellt, bleiben toter Buchstabe, ja, sie werden zu einem Element des Widerspruchs und des Hindernisses, wenn sie bis ins Unendliche ausgereizt werden. Es gibt Menschen, die können nicht mehr tun, als theoretisch über das Leben nachzudenken. Man muss kein Literat oder Gelehrter sein (für diese Leute wäre das schon fast normal), aber man kann auch ein beliebiger Proletarier sein, ein Ausgestoßener, der auf der Straße aufgewachsen ist, indem er sich geprügelt hat. Diese Suche nach der auflösenden Hypothese durch die Subtilität des Denkens verwandelt sich in eine desorganisierte Angst, in einen stürmischen Wunsch zu verstehen, der unweigerlich in pure Verwirrung umschlägt und die Vorrangstellung des Gehirns, die man um jeden Preis aufrechterhalten möchte, herabsetzt. Diese Gereiztheit reduziert die kritische Möglichkeit, die eigenen Ideen zu ordnen, sie erweitert die kreativen Möglichkeiten des Einzelnen, aber nur in einem reinen Zustand, man könnte sagen in der Wildnis, und liefert Bilder und Urteile, die absolut frei von einer Organisationsmethode sind, die sie nutzbar machen könnte. Das Subjekt lebt in einer Art Trance, isst schlecht, hat ein schlechtes Verhältnis zu seinem eigenen Körper und lebt schlecht mit anderen zusammen. Es wird leicht misstrauisch, wenn es nur darauf bedacht ist, verstanden zu werden, und häuft deshalb immer mehr einen Wust von widersprüchlichen Argumenten an, ohne einen roten Faden zu finden. Die Lösung, um aus dem Labyrinth herauszukommen, wäre eine Aktion. Aber um eine Aktion zu sein, muss sie nach dem von uns untersuchten Polarisierungsmodell zunächst dem Bereich des Gehirns, der Logik und des Denkens unterworfen werden. Auf diese Weise wird die Aktion getötet oder aufgeschoben oder schlecht erlebt, weil sie nicht verstanden wird, weil sie nicht zum Primat des Denkens zurückgebracht wird.

Auf der anderen Seite die Beständigkeit des Tuns, die Entfaltung des eigenen Lebens in den zu erledigenden Dingen. Heute, morgen. Tag für Tag. Vielleicht wartet man auf einen bestimmten Tag, der dem endlosen Aufschieben ein Ende setzt. Aber in der Zwischenzeit keine oder fast keine Suche nach einem Moment des Nachdenkens, der nicht ausschließlich mit den zu erledigenden Dingen zu tun hat. Das Primat des Handelns (A.d.Ü., im Sinne von Aktionen) tötet genauso wie das Primat des Denkens. In der Aktion an sich gibt es keine Überwindung des widersprüchlichen Moments des Individuums. Für die Revolutionäre ist die Lage noch schlimmer. Die klassischen Höflichkeiten, die der Einzelne entwickelt, um sich von der Nützlichkeit und Vollständigkeit der Aktion, die sie tun wollen, zu überzeugen, reichen für die Revolutionäre nicht aus. Das einzige Mittel, auf das sie zurückgreifen können, ist der Aufschub auf eine bessere Zeit, in der es nicht mehr notwendig ist, sich ausschließlich dem Tun zu widmen, sondern auch dem Denken. Aber wie soll man denken können, wenn man nicht die Mittel dazu hat? Ist das Denken eine automatische Aktivität des Menschen, wenn er aufhört zu agieren? Sicherlich nicht. Genauso wenig ist das Tun eine automatische Aktivität des Menschen, wenn er aufhört zu denken.

Wenn die Revolutionäre also bestimmte Dinge besitzen, wie Mut, Beständigkeit, Kreativität und Materialität, können sie die Mittel nutzen, die sie besitzen, und mit diesen ihr Projekt aufbauen.

Dabei geht es sowohl um die analytischen als auch um die praktischen Aspekte. Wieder einmal taucht eine Spaltung auf, die, um beseitigt zu werden, bis zum Kern, d.h. in ihrer wahren Dimension als Gemeinplatz der herrschenden Logik, vertieft werden muss. Ein Projekt ist eine Analyse (politisch, sozial, wirtschaftlich, philosophisch usw.), aber es ist auch ein organisatorischer Vorschlag.

Kein Projekt kann nur den einen oder den anderen dieser Aspekte haben. Jede Analyse erhält einen anderen Blickwinkel und eine andere Entwicklung, wenn sie in einen organisatorischen Vorschlag eingebettet ist und nicht in einen anderen. Umgekehrt wird ein Organisationsvorschlag nur dann fundiert, wenn er durch eine geeignete Analyse unterstützt wird.

Die Revolutionäre, die nicht in der Lage sind, die Analyse und das organisatorische Element ihres Projekts zu meistern, werden immer den Ereignissen ausgeliefert sein und immer erst nach den Dingen ankommen, nie vorher.

Das Ziel des Projekts ist es, zu sehen, um vorauszusehen. Das Projekt ist eine Prothese, wie jede andere intellektuelle Ausarbeitung des Menschen, um die Aktion zu erlauben, um sie zu ermöglichen, nicht um sie im sinnlosen Gerangel der Improvisation zunichte zu machen, sie ist aber nicht die „Ursache“ der Aktion. Das Projekt ist, wenn es richtig verstanden wird, die Aktion selbst, während die Aktion selbst das Projekt ist, insofern sie es verbessert, bereichert und verändert.

Das Nichtverstehen dieser grundlegenden Prämissen revolutionärer Arbeit führt oft zu Verwirrung und Frustration. Viele Gefährtinnen und Gefährten, die an Interventionen festhalten, die wir als reflexiv bezeichnen können, erleiden oft Rückschläge, die der Demotivation und Entmutigung ähneln. Eine äußere Tatsache (fast immer Repression) gibt den Anstoß für eine Intervention. Wenn das nicht mehr der Fall ist, hat die Intervention keine Daseinsberechtigung mehr. Daher die (frustrierende) Erkenntnis, dass man gezwungen ist, dorthin zurückzukehren, wo man vorher war. Man hat den Eindruck, dass man versucht, einen Berg mit einem Löffel abzutragen. Die Menschen erinnern sich nicht, sie vergessen schnell. Die Aggregation findet nicht statt. Es sind fast immer ein paar. Fast immer die üblichen. Bis zum Aufkommen des nächsten äußeren Reizes überleben die Wechselfälle des Gefährten, der nur noch reflexartig zu agieren weiß, die oft von radikaler Ablehnung bis zur Verschlossenheit in sich selbst, von empörter Stummheit bis zu Fantasien der Zerstörung der Welt (einschließlich der Menschen) reichen.

Stattdessen bleiben viele andere Gefährtinnen und Gefährten an das gebunden, was wir als Routine-Interventionen bezeichnen können, d.h. an literarische (Zeitungen, Zeitschriften, Bücher) oder vollversammlungsbezogene (Kongresse, Tagungen, Debatten, Vollversammlungen) Anlässe. Auch hier lässt die menschliche Tragödie nicht lange auf sich warten. Meistens geht es nicht so sehr um persönliche Frustration (die es auch gibt und die wir sehen können), sondern um die Verwandlung des Gefährten in einen Kongressbürokraten oder in einen Redakteur mehr oder weniger lesenswerter Zeitungen, der versucht, seine eigene propositionale Inkonsistenz zu verbergen, indem er den Ereignissen nachgeht, um sie im kritischen Licht seines eigenen Standpunkts zu erklären. Wie wir sehen können, ist die Tragödie immer die gleiche.

Das Projekt ist daher notwendigerweise propositional. Es ist das Element, das die Affinität abschließt und zusammenschweißt. Das beginnt mit der Bekanntschaft zwischen den verschiedenen Gefährtinnen und Gefährten, die Teil der Affinitätsgruppe sind, und blüht im Projektboden, wo es wächst und Früchte trägt. Da das Projekt proaktiv ist, kann es nicht anders, als die Initiative zu ergreifen. Erstens, die Initiative der operativen Art: Dinge, die auf eine bestimmte Art und Weise getan werden müssen. Dann die Initiative in organisatorischer Hinsicht: Wie kann man diese Dinge tun?

Vielen ist nicht klar, dass die Dinge, die zu tun sind (Klassengegensätze), nicht ein für alle Mal kodifiziert sind, sondern dass sie im Laufe der Zeit und im Zuge der sozialen Beziehungen unterschiedliche Bedeutungen annehmen. Das bringt es mit sich, dass theoretische Bewertungen der Dinge, die getan werden müssen, notwendig sind. Die Tatsache, dass einige dieser Dinge länger bestehen, als ob sie unbeweglich wären, bedeutet nicht, dass sie unbeweglich sind. Dass es zum Beispiel notwendig ist, sich zu organisieren, um den Klassenfeind zu schlagen, impliziert als Notwendigkeit eine Beständigkeit in der Zeit. Organisatorische Mittel und Wege kristallisieren sich heraus. Und in gewisser Hinsicht ist es gut, dass das so ist. Es ist nicht nötig, jedes Mal alles neu zu erfinden, wenn man sich neu organisiert, vielleicht nachdem man unter den Schlägen der Repression gelitten hat. Das bedeutet aber nicht, dass diese „Wiederaufnahme“ zwangsläufig die Merkmale der absoluten Wiederholbarkeit aufweisen muss. Frühere Modelle können kritisiert werden, auch wenn sie letztlich gültig bleiben und daher einen nicht zu vernachlässigenden Ausgangspunkt darstellen können. In dieser Angelegenheit fühlt man sich oft im Fadenkreuz der Kritik, auch der uninformierten und vorgefassten Kritik, und man möchte um jeden Preis den Vorwurf der Unbeugsamkeit26 vermeiden, der wie eine positive Bewertung klingt, aber auch ein bemerkenswertes Element der Anprangerung der Unfähigkeit enthält, die Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse als Ganzes zu verstehen.

Daher besteht die Möglichkeit, alte Organisationsmodelle zu nutzen, sofern sie einer radikalen Kritik unterzogen werden. Aber was könnte diese Kritik sein? Vor allem eines: die Anprangerung der Nutzlosigkeit und Gefährlichkeit zentralisierter und organisierter Strukturen, die Anprangerung der Delegationsmentalität, die Anprangerung des Mythos des Quantitativen, die Anprangerung des Mythos des Symbolischen und Grandiosen, die Anprangerung des Mythos der Nutzung großer Medien usw. Wie wir sehen können, sind dies Kritiken, die die andere Seite des revolutionären Himmels zeigen, den anarchistischen und libertären Aspekt. Die Ablehnung von zentralisierten Strukturen, Leitungsorganigrammen, Delegation, Quantität, Symbolik, Informationseffekten usw. bedeutet, dass man sich voll und ganz auf die anarchistische Methodik einlässt. Und ein anarchistischer Vorschlag erfordert einige Vorüberlegungen.

Am Anfang, vor allem für diejenigen, die nicht zutiefst von der Notwendigkeit und Gültigkeit dieser Methode überzeugt sind, mag sie weniger effektiv erscheinen (und ist es in mancher Hinsicht auch). Die Ergebnisse sind bescheidener, weniger offensichtlich, sie haben den Anschein von Zerstreuung und lassen sich nicht auf ein einheitliches Projekt zurückführen. Sie sind pulverisierte und diffuse Ergebnisse, d.h. sie leiten sich von minimalen Zielen ab, die nicht unmittelbar auf einen zentralen Feind zurückzuführen sind, zumindest nicht so, wie es in den beschreibenden Ikonographien, die von der Macht selbst erstellt werden, erscheint. Oft hat die Macht ein Interesse daran, die peripheren Verästelungen ihrer selbst und der Strukturen, die sie regieren, unter positiven Aspekten darzustellen, als ob diese Verästelungen lebensnotwendige soziale Funktionen erfüllten. Stattdessen versteckt sie sich sehr gut und sehr leicht, da wir nicht in der Lage sind, die Verbindungen, die Beziehungen zwischen diesen peripheren Strukturen und der Repression oder der Konsensbildung anzuprangern. Daraus ergibt sich die große Aufgabe der Revolutionäre, die durch ihr Auftreten auch mit einer anfänglichen Unverständlichkeit ihrer Aktionen rechnen müssen, und damit auch mit dem Bedürfnis nach Aufklärung. Und hier liegt eine weitere Falle. Diese Klarstellungen in ideologische Begriffe zu übersetzen, bedeutet, die genauen Bedingungen der Konzentration, der Zentralität, in Diffusion und Peripherie wiederzugeben. Die anarchistische Methode kann niemals durch einen ideologischen Filter erklärt werden. Als dies geschah, wurde unsere Methode einfach mit Praktiken und Projekten konfrontiert, die sehr wenig libertäres hatten.

Von der Denunziation/Anprangung der Delegation als schädliche und autoritäre Praxis (dieser zweite Aspekt mag für Gefährtinnen und Gefährten, die nicht schon immer Anarchistinnen und Anarchisten waren, weniger verständlich klingen) führt zur Vertiefung von Aggregationsprozessen. Das heißt, sie führt zu der Möglichkeit, eine indirekte Aggregation auf der Grundlage von Affinität und Informalität aufzubauen, also eine Form der organisatorischen Referenz, die nicht durch organigrammatische Grundlagen bedingt ist. Getrennte Gruppen, die durch Affinität und eine gemeinsame Methodologie miteinander verbunden sind, nicht durch hierarchische Beziehungen. Gemeinsame Ziele, gemeinsame, aber indirekte Entscheidungen, die alle durch die Objektivität gemeinsamer Entscheidungen, gemeinsamer Analysen und gemeinsamer Ziele angestrebt werden. Jeder macht sein eigenes Ding und hat nicht das Bedürfnis, direkte aggregative Beziehungen vorzuschlagen, die früher oder später in der Konstruktion von hierarchischen Organigrammen enden (auch wenn sie horizontal sind, da sie behaupten, innerhalb der anarchischen Methode zu bleiben) und deren schönes Ergebnis ist, dass sie von jedem aufkommenden repressiven Wind zerstört werden. Es ist der Mythos des Quantitativen, der fallen muss. Der Mythos der Zahl, die den Feind beeindruckt, der Mythos der „Kräfte“, die ins Feld gebracht werden sollen, der Mythos der „Befreiungsarmee“ und andere solche Dinge.

So werden alte Dinge, fast ohne es zu wollen, in neue verwandelt. Die Modelle der Vergangenheit: Ziele und Praktiken, werden von innen heraus revolutioniert. Im Vordergrund steht zweifelsohne das endgültige Ende der politischen Methode, der Anspruch, ideologische Modelle neu zu präsentieren, der subversiven Praktiken aufgezwungen werden sollen.

Im Übrigen ist es die Welt als Ganzes, die das politische Modell ablehnt, wenn man es richtig betrachtet. Das „Ende“ des Politischen ist eine alltägliche Angelegenheit. Die traditionellen politischen Strukturen mit ihren starken Konnotationen sind dabei, zu zerfallen. Die Parteien der Linken passen sich denen der Mitte an und die Parteien der Rechten drängen immer weiter in die Mitte, um nicht isoliert zu werden. Dieser Zusammenbruch des politischen Gerüsts geht mit einem tiefgreifenden Wandel der ökonomischen und sozialen Strukturen einher. Für diejenigen, die sich mit dem subversiven Potenzial der breiten Masse auseinandersetzen müssen, ergeben sich neue Anforderungen. Die Mythen der Vergangenheit, auch die des „kontrollierten Klassenkampfes“, sind vorbei. Die große Masse der Ausgebeuteten ist in Mechanismen hineingesogen worden, die mit den scharfen, aber oberflächlichen politischen Ideologien von gestern kollidieren. Aus diesem Grund haben sich die linken Parteien den Positionen der Mitte angenähert, was im Wesentlichen einer Nullung der diskriminierenden Politik und einer möglichen Verwaltung des Konsenses aus eigener Kraft entspricht, wenn auch nur aus administrativer Sicht. Es sind die Dinge, die getan werden müssen, die sehr kurzfristigen Programme, die Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten, die die Diskriminierungen in den Mittelpunkt stellen. Die idealen (und damit ideologische) politische Projekte sind untergegangen. Niemand (oder fast niemand) ist bereit, für eine kommunistische Gesellschaft zu kämpfen, sondern lässt sich wieder einmal in Strukturen reglementieren, die vorgeben, seine unmittelbaren Interessen zu schützen. Deshalb haben die politischen Kämpfe und Einsätze auf kommunaler Ebene gegenüber den breiteren politischen Strukturen, den nationalen und supranationalen Parlamenten, an Bedeutung gewonnen.

Der Niedergang des Politikers ist auf diesen Ebenen kein Element, das auf eine „anarchistische“ Wende in der Gesellschaft hinweisen könnte, die sich ihrer eigenen Vorrangstellung bewusst geworden ist und sich den Versuchen einer indirekten politischen Steuerung widersetzt. Nichts von alledem. Es geht um tiefgreifende Veränderungen in der modernen Struktur des Kapitals, die auch international vereinheitlicht wird, gerade wegen der immer stärkeren Verflechtung, die jetzt zwischen verschiedenen peripheren Realitäten besteht. Diese Veränderungen führen wiederum dazu, dass eine einvernehmliche Kontrolle durch die politischen Mythen der Vergangenheit nicht mehr möglich ist und dass man zu zeitgemäßeren Methoden der Kontrolle übergeht.

So seltsam es auch klingen mag, aber die Krise des Politischen als allgemeines Phänomen zieht zwangsläufig eine Krise der hierarchischen Beziehungen, der Delegation usw. nach sich, d.h. all jener Beziehungen, die dazu tendieren, die realen Bedingungen des Klassengegensatzes in die ideologische Dimension zu verdrängen. Das kann nicht lange ohne Folgen bleiben, auch für die Fähigkeit vieler Menschen zu verstehen, dass der Kampf nicht länger durch die Mythen des Politischen gehen kann, sondern in die konkrete Dimension der unmittelbaren Vernichtung des Feindes eintreten muss.

Es gibt auch diejenigen, die nicht verstehen wollen, was die Aufgabe der Revolutionäre ist, und angesichts der oben dargestellten sozialen Veränderungen der sanften Gegenposition den Vorzug geben, die neue Herrschaft durch passiven Widerstand zu behindern. Das ist meiner Meinung nach ein Missverständnis, das auf der Tatsache beruht, dass moderne Macht, gerade weil sie freizügiger ist und mehr auf Konsens beruht, als weniger „stark“ angesehen wird als die Macht der Vergangenheit, die auf absoluter Hierarchie und Zentralisierung beruht. Das ist ein Fehler wie jeder andere, und er rührt daher, dass in jedem von uns die Reste einer Parallele verbleiben: die Kraft, die die modernen Herrschaftsstrukturen Stück für Stück abbauen. Eine schwache, aber effiziente Macht ist vielleicht eine effektivere Macht als eine starke, aber grobe Macht. Ersteres dringt in das psychologische Gewebe der Gesellschaft ein, bis ins Individuum, und bezieht es mit ein; letzteres bleibt äußerlich, beißend, baut aber letztendlich nur Gefängnismauern, die früher oder später überwunden werden können.

Die Vielfalt der Aspekte des Projekts gibt der Arbeit der Revolutionäre eine Perspektive, die ebenfalls vielfältig ist. Kein möglicher Tätigkeitsbereich kann a priori ausgeschlossen werden. Aus demselben Grund kann es auch keine privilegierten Handlungsfelder geben, die dem Einzelnen „sympathisch“ sind. Ich kenne Gefährtinnen und Gefährten, die sich nicht zu bestimmten Interventionsfeldern hingezogen fühlen – zum Beispiel zum nationalen Befreiungskampf – oder zu bestimmten revolutionären Praktiken, wie zum Beispiel zu spezifischen Minderheitenaktivitäten. Die Einwände gegen die Ablehnung eines bestimmten Einsatzbereichs sind vielfältig, aber sie führen alle auf die (irrige) Vorstellung zurück, dass jeder das tun muss, was ihm die größtmögliche Befriedigung bringt. Diese Idee ist nicht deshalb falsch, weil es nicht richtig ist, dass eine der Quellen für die Aktion persönliche Freude und Befriedigung ist, sondern weil das Streben nach dieser individuellen Motivation ein anderes, umfassenderes und sinnvolleres Streben ausschließen kann, nämlich das, das auf der Gesamtheit der Intervention beruht. Vorurteile gegen bestimmte Praktiken oder Theorien zu haben, bedeutet, sich – allein aus „Angst“ – hinter der fast immer illusorischen Tatsache zu verschanzen, dass wir diese Praktiken und Theorien nicht mögen. Aber jede vorgefasste Ablehnung beruht immer auf einem Mangel an Wissen über das, was man ablehnt, auf wenig oder keiner Bereitschaft, sich der Sache zu nähern, die man ablehnt. Die Zufriedenheit und Freude von heute werden so zum ultimativen Ziel gemacht, in ihrer Unmittelbarkeit verschließen sie unsere Perspektiven für morgen. Unbewusst werden wir ängstlich und rechthaberisch, nachtragend gegenüber denen, die es schaffen, diese Hindernisse zu überwinden, misstrauisch gegenüber allen, die sich uns nähern, unzufrieden, unglücklich.

Die einzige akzeptable Grenze ist die unserer (begrenzten) Möglichkeiten. Aber auch diese Grenze lässt sich immer an der konkreten Tatsache erkennen und nicht als a priori existierend vermuten. Ich bin immer von der (offensichtlich absurden, aber real existierenden) Hypothese ausgegangen, dass ich grenzenlos bin, dass ich immense Möglichkeiten und Fähigkeiten habe. Dann übernahm die Praxis, die tägliche Praxis, die Aufgabe, mir die objektiven Grenzen meiner selbst und der Dinge, die ich tun wollte, aufzuzeigen. Aber diese Grenzen haben mich nicht von vornherein aufgehalten, sondern haben sich erst im Nachhinein als unausweichliche Hindernisse erwiesen. Kein noch so unglaubliches oder gigantisches Unterfangen hat mich aufgehalten, bevor ich es begonnen habe. Erst später, im Laufe der damit verbundenen Praktiken, kam die Bescheidenheit meiner Mittel und Fähigkeiten zum Vorschein, aber selbst mit ihrer unüberwindlichen Präsenz konnte sie mich nicht davon abhalten, Teilergebnisse zu erzielen, die dann das einzig menschlich Erreichbare sind.

Aber auch das ist ein Problem der Mentalität, d.h. der Art und Weise, wie wir die Dinge sehen. Wir halten uns oft zu sehr an das unmittelbar Wahrnehmbare, an den sozialistischen Realismus des Viertels, der Stadt, der Nation usw. Man ist ein Internationalist, wenn es ums Reden geht, aber wenn es um konkrete Fakten geht, bevorzugt man das, was am besten bekannt ist. Auf diese Weise verschließt man sich gegenüber der Außenwelt und dem Inneren. Man lehnt echte internationale Beziehungen ab, die von gegenseitigem Verständnis, der Überwindung von Barrieren (einschließlich Sprachbarrieren), von Zusammenarbeit und gegenseitigem Austausch geprägt sind. Aber man lehnt auch spezifische lokale Beziehungen ab, mit ihren eigenen Merkmalen, inneren Widersprüchen, Mythen und Schwierigkeiten. Das Komische daran ist, dass die Ersteren im Namen der Letzteren und die Letzteren im Namen der Ersteren abgelehnt werden.

Das Gleiche gilt für die spezifischen, vorbereitenden Aktivitäten, die darauf abzielen, revolutionäre Mittel zu finden. Auch hier ist die Delegation an andere Gefährtinnen und Gefährten etwas, das oft von vornherein entschieden wird. Sie basiert auf Bedenken und Ängsten, die, wenn sie richtig untersucht werden, nicht viel zu sagen haben. Die Professionalität, die anderswo zur Schau gestellt wird, hat in der anarchistischen Methodologie keinen Platz, aber auch nicht die a priori Ablehnung oder die vorgefasste Schließung. Das Gleiche gilt für das Verlangen nach Erfahrungen um ihrer selbst willen, die Dringlichkeit des Tuns, die persönliche Befriedigung, den Nervenkitzel. Die beiden Extreme berühren und durchdringen sich gegenseitig.

Das Projekt räumt diese Probleme aus dem Weg, weil es die Dinge in ihrer Gesamtheit sieht. Aus demselben Grund ist die Arbeit der Revolutionäre zwangsläufig mit dem Projekt verbunden, sie identifiziert sich mit ihnen, sie kann sich nicht auf Teilaspekte beschränken. Ein Teilprojekt seinerseits ist kein revolutionäres Projekt, es kann ein ausgezeichnetes Arbeitsprojekt sein, es kann Gefährtinnen und Gefährten und Ressourcen sogar für lange Zeiträume binden, aber früher oder später wird es bestraft, wenn es mit der Realität des Klassenkampfes konfrontiert wird.

Redaktionelle Anmerkungen

Ich berichte über die Zeitungen und Zeitschriften, in denen einige der hier veröffentlichten Artikel zuerst erschienen sind. Angesichts der Häufigkeit und Heterogenität der manchmal verwendeten Pseudonyme werden diese nicht angegeben. Aus demselben Grund werden Fälle von nicht unterzeichneten Artikeln nicht gemeldet. Die Tatsache, dass sie hier ohne weiteren Hinweis wiedergegeben werden, bedeutet, dass sie alle von mir geschrieben wurden.

Alle veröffentlichten Artikel und Aufsätze wurden überarbeitet und aktualisiert.

Esclusi e inclusi, ein Text mit dem Titel Per un’analisi di un periodo di superamento dalle illusioni post-industriali alle illusioni post-rivoluzionarie, beim Treffen „Anarchismo e progetto insurrezionale“, welches in Mailand am 13.10.1985 gehalten und präsentiert wurde, veröffentlicht in Atti del Convegno „Anarchismo e progetto insurrezionale“, Seconda Ed. Catania 1993, S. 41-51 und 58-62. Es existiert eine Übersetzung ins Englische unter den Titel: From Riot to Insurrection, London 1988, S. 13-37.

Die Veränderung der Welt der Arbeit und der Schule, unter dem Titel: „Scuola e società post-industriale“, in „Anarchismo“ Nr. 56, März 1987, S. 6-19. veröffentlicht.

„Perdita del linguaggio“, auf „Provocazione“ Nr. 25, August 1990, S. 8-9. veröffentlicht.

„Perdita della cultura“, auf „Provocazione“ Nr. 26, Februar 1991, S. 9. veröffentlicht.

„La tecnologia buona“, auf „Provocazione“ Nr. 24, Juni 1990, S. 11. veröffentlicht.

„La ‘fine’ della crisi“, auf“Anarchismo” Nr. 57, Juni 1987, S. 1-6. veröffentlicht.

Affinität, unter den Titel „Affinità e organizzazione informale“ in „Anarchismo“ Nr. 45, März 1985, S. 12-14. veröffentlicht.

Informelle Organisation, unter den Titel „Organizzazione di sintesi e organizzazione informale“ in „Anarchismo“ Nr. 47. Juni 1985, S. 24-25. veröffentlicht.

Das revolutionäre Pojekt, unter den Titel: „Il lavoro del rivoluzionario“ in „Anarchismo“ Nr. 59, Januar 1988, S. 45-52. veröffentlicht.


1A.d.Ü., Insurrektion, Insurrektionalismus und insurrektionalistisch sind Synonym zu Aufstand, Aufständischen Anarchismus, aufständisch.

2A.d.Ü., als Element der Trennung verstanden.

3No podréis pararnos. La lucha anarquista revolucionaria en Italia, erschien das erste Mal 2005, herausgegeben von Editorial Klinamen und Ediciones Conspiración, hier als PDF zum Lesen auf Spanisch und hier auf Englisch.

4A.d.Ü., die Titel der Texte wurden genauso aus dem Original übernommen, da die Titel auf Spanisch und Italienisch aufgezählt werden, es handelt sich daher nicht um einen Fehler.

5A.d.Ü., ein Ereignis was nicht bestimmt ist geschehen zu müssen.

6A.d.Ü., als Rekuperation, wieder einmal, ist die Wiedererlangung, Zurückgewinnung von etwas (eine Idee) oder jemandem zu verstehen. Normalerweise ist dies als ein Akt zu verstehen, wo das rekuperierte seiner ursprünglichen Idee entleert wird, es wird daher neutralisiert und seiner Ontologie beraubt.

7A.d.Ü., hier handelt es sich um die Handlung der Rekuperation.

8A.d.Ü., Nuclei bedeutet auf Italienisch Kern, wird aber sehr oft als Zelle übersetzt oder verstanden, was aber falsch ist.

9A.d.Ü., wie ein Monolith, für die Ewigkeit.

10A.d.Ü., gemeint ist damit die sogenannte Strömung des Synthetischen Anarchismus der versucht alle anarchistischen Strömungen in einer anarchistischen Organisation zu vereinen. Vertreter dieser Idee war vor allem der russische Anarchist Volin, eigentlich Wsewolod Michailowitsch Eichenbaum und Sebastian Fauré in den 1920er.

11Im Originialtext: camaraderie d´elité

12A.d.Ü., Cobas ist eine italienische Gewerkschaft/Syndikat

13A.d.Ü., unseres Wissens nach wurde dieses Buch noch nicht ins Deutsche übersetzt, der Originaltitel lautet Les illusions du progrès. Paris 1908, auf engl. The illusions of progress. University of California Press, Berkeley 1969.

14A.d.Ü., als Saint-Simonismus wird eine „frühe sozialistische“ Strömung in Frankreich aus dem 19. Jahrhundert bezeicht.

15A.d.Ü., als „Kathedralen in der Wüste“ werden in Italien gescheiterte öffentliche Bauprojekte der 1960er Jahre bezeichnet. Der Ausdruck macht auf eine persistente Praxis der öffentlichen Verwaltung große Bauprojekte ohne Sinn zu bauen aufmerksam, wie eine Kathedrale in der Wüste, zu der nie ihre Anhänger gehen werden.

16A.d.Ü., hier wird Bezug auf Sklerose genommen, dass es stückchenweise beschädigt und zerstört wird.

17A.d.Ü., im Sinne des, zu Aktionen zu übergehen.

18A.d.Ü., als ein entgegengesetzter Prozess zur Entlohnung.

19A.d.Ü., im Sinne des Erwerbs an Waren um den Profit zu steigern.

20A.d.Ü., hier ist die Rede von einer sozialistischen Strömung in Frankreich.

21A.d.Ü., leblosen.

22A.d.Ü., man kann es nicht rekuperieren.

23A.d.Ü., hier handelt es sich um eine Zweideutigkeit – lingua auf Italienisch heißt sowohl Zunge als auch Sprache.

24A.d.Ü., der Schnitt bezieht sich auf die Form des Ausdrucks.

25A.d.Ü., Ion Iliescu war ein Politiker aus Rumänien, der zuerst Karriere in der Kommunistischen Partei machte und nach dem Zerfall des Sozialismus in Rumänien sich der Sozialdemokratie anschloss.

26A.d.Ü., als irriducibilismo wird jene Haltung der Unbeugsamen-Unbeugsamkeit gemeint, wo Mitglieder bewaffneter Gruppen in den Jahren von 1970 bis heutzutage sich nicht von ihrer Geschichte, ihren Taten und ihrer Haltung distanziert und verraten haben. Hier handelt es sich auch um Menschen, die nie ihre Kampfgefährten und -gefährtinnen verraten haben.

]]>
(Dark Nights Nr.51) Krieg ist das höchste Drama einer vollständig mechanisierten Gesellschaft https://panopticon.blackblogs.org/2022/09/11/dark-nights-nr-51-krieg-ist-das-hochste-drama-einer-vollstandig-mechanisierten-gesellschaft/ Sun, 11 Sep 2022 21:06:25 +0000 https://panopticon.noblogs.org/?p=3318 Continue reading ]]> Ein Artikel aus der Ausgabe Nummer 51 der anarchistischen Publikation Dark Nights, es handelt sich um den gleichnamigen Aritkel, die Übersetzung ist von uns.

Krieg ist das höchste Drama einer vollständig mechanisierten Gesellschaft, Dark Nights, Mai 2022 Nr. 51, Für gegenseitige Hilfe und Solidarität

Krieg ist das höchste Drama einer vollständig mechanisierten Gesellschaft“ Lewis Mumford

Es ist keine Überraschung, dass wir wieder einmal die Ruinen einer apokalyptischen Natur in einer europäischen Stadt sehen, dass Mariupol zum neuen Aleppo geworden ist, ist kein Zufall, sondern weckt Erinnerungen an ähnliche Bilder von Sarajevo während des jugoslawischen Bürgerkriegs. Konflikte zwischen Nationen, zwischen imperialistischen Großmächten haben uns nie verlassen. Wenn überhaupt, dann ist der Krieg in der Ukraine eine Fortsetzung des Konflikts, der gegen alles Leben auf diesem Planeten geführt wird, die Geopolitik und der Krieg selbst sind Symptome eines zerstörerischen Prozesses, der sich zuspitzt, nämlich der Zivilisation und ihrer mechanisierten totalen Kontrolle. Die Warnzeichen für einen sterbenden Planeten sind allgegenwärtig und die technokratischen Eliten sind sich dessen sehr bewusst.

Krieg war schon immer ein Mittel der Reglementierung, um die Massen zu kontrollieren, aber auch um das Individuum einzuschränken. Der Krieg in der Ukraine ist da keine Ausnahme, genauso wenig wie die andauernden Konflikte in Syrien und im Jemen. Es ist eine Illusion der Propaganda in den sozialen Medien, zu glauben, dass es sich um einen simplen Konflikt zwischen einer scheinbar demokratischen Nation und einem faschistischen Unterdrücker handelt. Zelensky ist an all dem nicht unschuldig, denn es gibt viele Beweise dafür, dass er die Neonazis, die den jungen ukrainischen Staat bedrohten, mit offenen Armen empfing, Zelensky hat sogar den Asow an der Seite des SBU (des ukrainischen Sicherheitsdienstes, der von der CIA ausgebildet wurde) eingesetzt, um gegen die Opposition vorzugehen, egal ob sie pro-russisch, links oder kommunistisch ist, und das soll keine Entschuldigung für Russland und Putin sein, denn es wurde auch dokumentiert, dass die Auftragnehmer, die Wagner-Gruppe, voller Nazis sind, die in Syrien, Libyen und kürzlich in Mali Gräueltaten begehen. Wenn man dann noch bedenkt, dass die NATO offen faschistische Gruppen wie das Asow-Bataillon mit Waffen versorgt, ausgebildet und aktiv angeheizt hat, ergibt sich das Bild eines Stellvertreterkriegs, der an den Kalten Krieg erinnert. Wer zahlt die Kosten eines solchen Krieges? Die Männer, die zwangsrekrutiert werden, die Frauen und Kinder, die unter den Trümmern sterben, die in Massengräbern verscharrt werden, die Menschen, die der Propaganda eines Krieges glauben, der unter mythologischen Vorwänden geführt wird, während die Köpfe von der wahren Strategie der beteiligten Mächte abgewendet werden, die darin besteht, die Bevölkerungen innerhalb des Konflikts zu kontrollieren, während der Rest der Welt dem Spektakel beiwohnt, glücklich darüber, dass ihr sozialer Frieden gewahrt bleibt, ihr Komfort ungestört ist, die Sicherheit ihres endlosen Konsums weitergeht und die leviathanische Maschine das verschlingt, was von der natürlichen Welt übrig geblieben ist und durch das Furnier der künstlichen Welt ersetzt wird.

In all dem steckt einer der großen Profiteure des Krieges: die Technologie und der Profit, der aus ihr gezogen wird. Bereits in diesem Konflikt sehen wir die angepriesene internationale Hilfe in Form von neuen technologischen Waffen. Abgesehen von den Panzerabwehrraketen, NLAWs und Javelins. Drohnen werden in diesem Krieg immer häufiger eingesetzt, sei es zur Überwachung oder zu Angriffszwecken, aber auch die Switchblade-Drohnen von AeroVironment Inc, die als Kamikaze-Drohnen beschrieben werden, die klein genug sind, um in einen Rucksack zu passen, sind einen Schritt näher am Konzept der Schwarmdrohnen mit künstlicher Schwarmintelligenz.

Gesichtserkennung, die bereits in repressiven Kontexten, insbesondere bei der Überwachung, eingesetzt wird, sei es auf der Straße, an den Grenzen oder bei Krawallen, um jeden zu identifizieren, der es wagt, Widerstand zu leisten, wird nun auch zur Identifizierung von Feinden oder Leichen von Soldaten eingesetzt, und zwar mit Hilfe des größten Anbieters der Welt Clearview Al. Das Unternehmen selbst hat bereits zugegeben, dass es Milliarden von Bildern von der russischen Social Media Seite Vkontakte speichert, sogar von Selfies, ähnlich wie das Programm von Facebook. Wie üblich wird diese Technologie mit vermeintlich nützlichen Zwecken wie der Zusammenführung von Flüchtlingen gerechtfertigt, aber es gibt bereits Beweise dafür, dass sie von anderen ukrainischen Regierungsstellen für andere Zwecke eingesetzt wird, um die eigene Bevölkerung unter Kontrolle zu halten und die Überwachungsgesellschaft in einer anderen Ecke der Welt zu kolonisieren.

Außerdem werden nach einem Aufruf von Zelensky die Space X Starlink-Satelliten von Elon Musk eingesetzt, um die Ukraine mit Internet zu versorgen, nachdem das Internetnetz in vielen Teilen des Landes zusammengebrochen ist. Dies ist eine weitere Legitimation für eine neue Technologie, die nicht nur die Kolonisierung und Verschmutzung des Weltraums vorantreibt, sondern auch die Macht der Technokraten und das Vertrauen in sie selbst in einem Krieg erhöht. Der Traum, den Planeten mit Hochgeschwindigkeits-Breitband zu versorgen, ist auf dem besten Weg, denn du kannst nicht auf Twitter oder Tik Tok zugreifen, während dein Haus in Schutt und Asche gebombt wird und alle um dich herum sterben.

Wie wir bereits in früheren Veröffentlichungen erwähnt haben, sind wir von einem monumentalen Wandel in der Funktionsweise der Gesellschaft, der Staaten, des Kapitalismus und der gesamten Zivilisation umgeben. Durch diesen technologischen und wissenschaftlichen Wandel, der die Kontrolle über unser aller Leben weiter ausdehnen wird, wird es zu Konflikten und Kriegen kommen, da bestimmte Mächte nicht nur um die Kontrolle über die Technologien konkurrieren, sondern auch darum, ihren Einfluss auf Teile des Planeten zu vergrößern und als erste auf die schwindenden und neuen Ressourcen zuzugreifen, um die neuen Technologien zu entwickeln. Wir sehen den Krieg in der Ukraine als Fortsetzung eines Prozesses, der sich bereits in der immer noch andauernden Pandemie und der zunehmenden Kontrolle ganzer Bevölkerungsgruppen niedergeschlagen hat. Davor hatten wir die „ökonomische Krise“, den „Krieg gegen den Terror“, immer eine Fortsetzung einer „Krise“ der autoritären Systeme, die geschaffen wurden, aber auch eine Aufrechterhaltung eines Zustands der Angst, egal ob sie durch sie geschaffen wurden oder Symptome ihres Scheiterns sind.

Im Zuge dieser jüngsten Veränderungen gerät das so genannte perfekte Bild des sozialen Friedens aus den Fugen. Dies ist eine Folge des Zusammenbruchs des ökonomischen Systems aufgrund der Pandemie, aber auch eine Folge des Versuchs der Kapitalisten und Eliten, die Bevölkerung zurück in die Galeeren der Arbeit zu zwingen, die immer mehr zu einem Gefängnis der Überwachung und der totalen Kontrolle geworden sind, sei es durch die zunehmende Automatisierung, die ständige Überwachung jeder Handlung oder sogar die absolute Umwandlung der Arbeit in eine Sklaverei von Amazon-Ausmaßen. Bei all dem ist auch klar, dass sich nicht nur ein „neuer kalter Krieg“ zusammenbraut, sondern auch ein sogenannter „Energiekrieg“. Wie jeder weiß, ist Russland eine der größten Gas- und Ölquellen der Welt und die westlichen Mächte haben bereits davon gesprochen, dass sie nicht von ihnen abhängig sein wollen, sei es, indem sie selbst energieautonom werden, ihre eigenen fossilen Brennstoffquellen weiter ausbeuten oder erneuerbare Energiequellen ausbauen. Die Zerstörung des Planeten durch die weitere Ausbeutung fossiler Brennstoffe in neuen Gebieten mit noch zerstörerischeren Methoden und die parallele Zunahme „grüner Technologien“, die weitere umweltschädliche Ressourcen fördern, scheint eine höhere Priorität zu haben als die Beendigung eines Krieges.

Wo ordnen wir uns als Anarchisten in den Kriegen ein, die von Nationalstaaten, Supermächten und Technokraten geführt werden? In der Ukraine haben Anarchisten bereits ein sogenanntes „Resistance Committee“ (Widerstandskomitee) gegründet, das offen zugibt, Teil der „Territorialen Selbstverteidigung der Ukraine“ zu sein, die wiederum direkt den Streitkräften der Ukraine untersteht. Diese „Anarchisten“ sind Teil einer Einheit der Armee des ukrainischen Staates, desselben ukrainischen Staates, der Neonazis in seine Armee aufgenommen hat, deren Kommandeure von Zelensky selbst ausgezeichnet wurden und die offen erklärt haben, dass sie „die weißen Völker der Welt in einen letzten Kreuzzug führen“ wollen. Wir könnten die Korruption und die Verbindungen des ukrainischen Staates zu den Faschisten noch weiter aufzählen, aber das heben wir uns für einen späteren Text auf, in dem wir den Aufstieg des Nationalismus, der Faschisten und der Neonazis in der Ukraine und in Russland analysieren und aufzeigen, wie das Land zu einem Brennpunkt und einem Trainingsgelände für die internationale faschistische Bewegung geworden ist, die sowohl von der NATO als auch vom russischen Staat gefördert wird.

Der ukrainische Staat kann nicht mit einer Art Rückbesinnung auf den spanischen Bürgerkrieg mit dem Republikanischen Staat verwechselt werden, und auch nicht mit einem Bündnis der Makhnovisten mit den Bolschewiken, sondern mit dem freiwilligen Beitritt zu einer Armee, der auch Neonazis angehören.

Darüber hinaus haben diese „Anarchisten“ sogar die Grundprinzipien des Anarchismus und die frühere Beteiligung von Anarchisten an Konflikten vergessen. Anarchisten kämpfen nicht in einer staatlichen Armee, ziehen die Uniform an, nehmen die Befehle entgegen und gehorchen der Autorität der Offiziere. Anarchisten im spanischen Bürgerkrieg verloren ihr Leben während der Mai-Ereignisse in Barcelona 1937, als sie sich nicht nur gegen die Bildung eines Staates oder einer Konterrevolution wehrten, sondern auch gegen die Militarisierung ihrer Milizen. 1916 schrieben Kropotkin, Jean Grave und andere Anarchisten einen unverzeihlichen Text mit dem Namen „Manifest der Sechzehn“, in dem sie Anarchisten aufforderten, auf der Seite der Alliierten in den Weltkrieg einzutreten, weil die Zentralmächte offenbar besiegt werden mussten, während Millionen in den Schützengräben für Nationalismus und Imperialismus starben. Denselben Fehler würde man mit dem Zweiten Weltkrieg wieder begehen. Rudolf Rocker argumentierte, dass der Einsatz der Alliierten im Zweiten Weltkrieg gerecht sei, da er letztendlich zur Erhaltung der libertären Werte führen würde!

Wenn die Amnesie der Vergangenheit nicht ausreicht, scheinen sich diese „Anarchisten“ in einer Armee wohlzufühlen, die von Soldaten aus NATO-Ländern versorgt und ausgebildet wird, wie andere „Anarchisten“, die sich den kurdischen Streitkräften in Syrien anschließen. In diesem Krieg war es ihnen sogar recht, dass die Luft- und Spezialeinheiten der NATO-Länder mit ihnen zusammen gegen den Islamischen Staat kämpften. Es gibt hier eine Überschneidung zwischen dem, was in Rojava und jetzt in der Ukraine passiert ist, einer militarisierten und libertären kommunistischen Tendenz, die nicht anarchistisch ist, die ihre Wurzeln viel weiter zurück hat und die die internationalen anarchistischen Kreise so sehr korrumpiert hat, dass sie beginnen, Kommunisten, Liberale und Linke zu spiegeln und in eine Praxis abzusteigen, die zu Hause keine Bedrohung darstellt, weil ihre vermeintliche Revolution dort, wo sie herkommen, nie gewaltsam durchgeführt wird und eine noch schlimmere Version von Zivilisiertheit und Aktivismus fördert. Wir müssen in Zukunft eine längst überfällige Kritik an dieser Abweichung in internationalen anarchistischen Kreisen üben.

Anarchisten sind prinzipiell antimilitaristisch. Sie haben in vielen Kriegen die Wehrpflicht verweigert, auch die des Militärdienstes wie in Italien und Griechenland. Anarchisten haben sich während des Zweiten Weltkriegs als Partisanen in den antifaschistischen bewaffneten Kampf gestürzt und dort, wo es möglich war (Carrera, Pistoia, Genua und Mailand), autonome Formationen gegründet oder sich, wie es in den meisten Fällen der Fall war, anderen Formationen angeschlossen, die nicht Teil der italienischen Armee waren, die bereits unter der Kontrolle Mussolinis und seiner Faschisten stand, die sich mit Hitler und den Nazis verbündet hatten. Die „Galleanisten“ führten ihren eigenen Krieg gegen den amerikanischen Staat fort, obwohl dieser in den Ersten Weltkrieg gegen Deutschland eingetreten war. Das Militär und seine Industrie sind schon seit Jahrzehnten Ziel von Anarchisten. Ob gegen die US-Raketenbasis in Comiso, Italien in den 1980er Jahren, die Informelle Anarchistische Föderation, die international militärische Ziele und Zulieferer angreift, wie in Großbritannien gegen eine Eisenbahnlinie, die das Verteidigungsministerium und Militärunternehmen verbindet, einen Brandanschlag auf Royal Marines Reserves und einen Brandanschlag gegen BAE Arms. In den letzten Jahren wurden Rüstungsunternehmen und das Militär erneut zu Zielen, als Direct Action Cells in Griechenland mit einem Brandsatz ein Militärwohnheim angriffen und in Deutschland mehrere Ziele von Autonome angegriffen wurden, darunter die Brandanschläge auf MAN-Militärfahrzeuge und der Brand der Büros des Rüstungsunternehmens OHB in Bremen.

Aus dieser kurzen und begrenzten Chronologie wird deutlich, dass das Militär und seine Zulieferer, die Profiteure von Krieg und Tod, schon immer Ziele von Anarchisten waren, aber wie noch weiter zurück gezeigt wird, gibt es eine Tendenz, auch in Kriegszeiten gegen alle Staaten zu kämpfen. Wann findet nicht irgendwo auf der Welt ein Krieg statt? Befinden wir uns nicht ständig im Krieg mit unserem Feind, sei es der Staat, der Kapitalismus, die Technologie, die Faschisten oder die Zivilisation? Und gehören dazu nicht auch ihre Armeen?

Antimilitarismus ist Teil unseres Krieges gegen das Bestehende. Wir sind nicht die Pazifisten der Demonstrationen gegen den Irak-Krieg, die nichts bewirkt haben, oder die vom Untergang gezeichneten Ökoliberalen. Wir kämpfen nicht in nationalistischen oder imperialistischen Kriegen und bilden unmögliche Fronten mit denen, die uns foltern und töten würden, sobald wir ihnen den Rücken kehren. Die vergangenen anarchistischen Kämpfe sollten uns lehren, dass es keine Verhandlungen mit denen gibt, die das bestehende Gefängnis aufrechterhalten, egal wie freiheitlich oder demokratisch sie es zu sein versprechen.

Was in der Ukraine passiert, wenn „Anarchisten“ in den Streitkräften eines Nationalstaates kämpfen, der sich mit Faschisten verbündet hat, ist ein Verrat an allem, was anarchistisch ist, und sollte nicht als solcher bezeichnet werden. Es ist das Versäumnis, Autonomie zu verwirklichen, einen Konflikt gegen jede Autorität, gegen alle Staaten, gegen alle Manifestationen von Macht, mit tatsächlicher aufständischer Gewalt zu schaffen, anstatt sich so sehr auf eine Postmoderne, Identitätspolitik, liberale linke und sogar kommunistische Abweichungen zu konzentrieren.

Stattdessen schlagen wir, wie schon immer, informelle anarchistische Organisationen, Affinitätsgruppen, ja sogar Zellen vor, die Stadtguerilla im Gegensatz zum Soldaten in Uniform, der gegen seinen Willen zum Schlachten eingezogen wird. Wir rufen einmal mehr zu einer neuen internationalen Koordination auf, nicht nur gegen die NATO und den russischen Staat, sondern gegen alle Staaten.

Unser Krieg richtet sich gegen jede Militarisierung, gegen jede Reglementierung, gegen jede Verhandlung mit Macht und Autorität, die die ganze Gesellschaft durchdringt. Er richtet sich nicht nur gegen die militärischen Ziele, sondern gegen alle Erscheinungsformen der Kontrolle, von den Bullen bis zu den Bossen, von den Technokraten bis zu den Soldaten, allen Politikern und Bankern, gegen alles, was von uns profitiert und uns einsperrt, was alles Leben auf diesem Planeten zerstört und tötet. Der militärisch-industriell-technologische Gefängniskomplex muss erschossen, gesprengt und niedergebrannt werden!

Für 10, 100, 1000 aufständische und revolutionäre anarchistische Zellen! Für eine neue internationale anarchistische Koordinierung! 325 Kollektiv

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Fredy Perlman, Die Reproduktion des täglichen Lebens (1969) https://panopticon.blackblogs.org/2021/01/06/fredy-perlman-die-reproduktion-des-taeglichen-lebens-1969/ Wed, 06 Jan 2021 12:56:08 +0000 http://panopticon.blackblogs.org/?p=2017 Continue reading ]]> Fredy Perlman, Die Reproduktion des täglichen Lebens (1969)

Originaltitel: „The Reproduction of Daily Life“

Broschüre von Abbruch-distro, Bremgarten. Übersetzt von Hugin, wir haben diese Version überarbeitet und korrigiert.

Die alltägliche, praktische Tätigkeit von Stammesleuten reproduziert oder bewahrt einen Stamm. Diese Reproduktion ist nicht bloß physisch, sondern auch sozial. Durch ihre alltäglichen Aktivitäten reproduzieren die Stammesleute nicht bloß eine Gruppe von Menschen; sie reproduzieren einen Stamm, also eine bestimmte soziale Form, in welcher diese Gruppe von Menschen spezifische Aktivitäten in einer spezifischen Art und Weise ausübt. Diese spezifischen Aktivitäten der Stammesleute sind nicht das Ergebnis von „natürlichen“ Eigenschaften der Menschen, die sie ausüben, wie die Produktion von Honig das Ergebnis der „Natur“ der Biene ist. Das tägliche Leben, ausgeführt und bewahrt von den Stammesleuten, ist eine spezifische soziale Antwort auf spezifische materielle und historische Bedingungen.Die alltägliche Aktivität von Sklaven reproduziert Sklaverei. Durch ihre täglichen Aktivitäten reproduzieren Sklaven nicht bloß sich selbst und ihre Herren physisch; sie reproduzieren auch die Instrumente, mit welchen ihre Herren sie unterdrücken und sie reproduzieren ihr eigenes Verhalten der Unterwerfung unter die herrschaftliche Autorität des Herren. Für Menschen, die in einer Sklavengesellschaft leben, erscheint die Herr-Sklave Beziehung als eine natürliche und ewige Beziehung. Dies obwohl Menschen nicht als Herren oder Sklaven geboren werden. Sklaverei ist eine spezifische soziale Form und Menschen fügen sich ihr nur unter sehr spezifischen, materiellen und historischen Bedingungen.

Die alltägliche praktische Tätigkeit von Lohnarbeitern reproduziert Lohnarbeit und Kapital. Durch ihre alltäglichen Beschäftigungen reproduzieren „moderne“ Menschen – genau wie die Stammesleute und die Sklaven – die Bewohner, die sozialen Beziehungen und die Ideen ihrer Gesellschaft; sie reproduzieren die soziale Form des alltäglichen Lebens. Wie das Stammes- und das Sklavereisystem ist das kapitalistische System weder die natürliche, noch die endgültige Form der menschlichen Gesellschaft; wie die früheren, sozialen Formen, ist der Kapitalismus eine spezifische Antwort auf materielle und historische Bedingungen.

Im Gegensatz zu den früheren Formen sozialer Aktivität, verändert das alltägliche Leben in der kapitalistischen Gesellschaft systematisch die materiellen Bedingungen denen der Kapitalismus ursprünglich entsprochen hat. Einige der materiellen Grenzen menschlicher Aktivität kommen schrittweise unter menschliche Kontrolle. Auf einer hohen Ebene der Industrialisierung erschafft praktische Tätigkeit ihre eigenen, materiellen Bedingungen, ebenso wie ihre soziale Form. Demnach ist der Gegenstand der Analyse nicht nur wie die praktische Tätigkeit in der kapitalistischen Gesellschaft die kapitalistische Gesellschaft wiedergibt, sondern auch wie diese Aktivität selbst, die materiellen Bedingungen eliminiert, auf welche der Kapitalismus reagiert.

 

DAS ALLTÄGLICHE LEBEN IN DER KAPITALISTISCHEN GESELLSCHAFT

Die soziale Form regulärer, menschlicher Aktivitäten im Kapitalismus ist eine Antwort auf eine spezifische materielle und historische Situation. Die materiellen und historischen Bedingungen erklären die Wurzeln der kapitalistischen Form, sie erklären jedoch nicht, wieso diese Form weiter existiert nachdem diese ursprüngliche Situation verschwunden ist. Das Konzept des „kulturellen Rückstandes“ ist keine Erklärung für das Fortbestehen einer sozialen Form, nach dem Verschwinden der ursprünglichen Bedingungen, auf welche sie Bezug nimmt. Dieses Konzept ist lediglich ein Name für das Weiterbestehen dieser sozialen Form. Wenn das Konzept des „kulturellen Rückstandes“ den Namen gibt für eine „soziale Kraft“, welche menschliche Aktivität bestimmt, dann ist dies eine Verneblung der Tatsachen, die das Auskommen menschlicher Aktivität als eine externe Kraft darstellt, über welche die Menschen keine Kontrolle haben. Dies trifft aber nicht nur auf ein Konzept wie das des „kulturellen Rückstands“ zu. Viele Ausdrücke von Marx zur Beschreibung menschlicher Aktivität, sind in den Status externer oder gar „natürlicher“ Kräfte erhoben worden; Konzepte wie „,Klassenkampf“, „Produktionsbedingungen“ und im Besonderen „die Dialektik“ spielen die selbe Rolle in den Theorien einiger „Marxisten“ wie „die Erbsünde“, „Verhängnis“ und „die Hand des Schicksals“ in den Theorien der mittelalterlicher Mystiker gespielt haben.

Während der Ausführung ihrer täglichen Aktivitäten vollziehen die Angehörigen der kapitalistischen Gesellschaft simultan zwei Prozesse: sie reproduzieren die Form ihrer Aktivitäten und sie eliminieren die materiellen Bedingungen, auf die diese Form der Aktivität ursprünglich reagierte. Sie wissen jedoch nicht, dass sie diese Prozesse ausführen; ihre eigenen Aktivitäten sind für sie nicht transparent. Sie stehen unter der Illusion, dass ihre Tätigkeiten auf natürliche Bedingungen, jenseits ihrer Kontrolle antworten und sehen nicht, dass sie selbst die Erzeuger dieser Bedingungen sind. Die Aufgabe der kapitalistischen Ideologie ist, den Schleier aufrecht zu erhalten, der die Menschen davon abhält zu sehen, dass ihre eigenen Aktivitäten die Form ihres täglichen Lebens reproduziert. Damit ist die Aufgabe kritischer Theorie, die Aktivitäten des täglichen Lebens zu entschleiern, sie transparent zu machen, die Reproduktion der sozialen Form der kapitalistischen Gesellschaft innerhalb der alltäglichen Tätigkeiten der Menschen sichtbar zu machen.

Im Kapitalismus besteht das tägliche Leben aus verwandten Aktivitäten, welche die kapitalistische Form sozialer Aktivität reproduzieren und erweitern. Der Verkauf von Arbeitszeit für einen Preis (einen Lohn), die Verkörperung von Arbeitszeit in Waren (verkaufbare Waren, materielle wie immaterielle), der Konsum von materiellen und immateriellen Waren (wie Konsumwaren und Spektakel) – diese Aktivitäten, die das tägliche Leben im Kapitalismus charakterisieren, sind keine Manifestationen der „menschlichen Natur“, noch sind sie den Menschen von unkontrollierbaren Kräften auferlegt worden.

Wenn behauptet wird, dass der Mensch „von Natur aus“ ein nicht erfinderischer Stammesangehöriger und ein erfinderischer Geschäftsmann, ein unterwürfiger Sklave und ein stolzer Handwerker, ein unabhängiger Jäger und ein abhängiger Lohnarbeiter ist, dann ist entweder die „Natur“ des Menschen ein leeres Konzept, oder die menschliche Natur hängt von materiellen und historischen Bedingungen ab und ist tatsächlich eine Antwort auf diese Bedingungen.

 

ENTFREMDUNG LEBENDIGER AKTIVITÄT

In der kapitalistischen Gesellschaft nimmt kreative Beschäftigung die Form der Warenherstellung an. Genauer gesagt nehmen die Produktion vermarktbarer Waren, und die Ergebnisse menschlicher Aktivität die Form von Waren an. Vermarktbarkeit oder Verkaufbarkeit sind die allgemein gültigen Merkmale aller praktischen Aktivität und aller Produkte. Die Produkte menschlicher Tätigkeit, die für das Überleben notwendig sind, haben die Form verkaufbarer Waren: sie sind nur im Tausch gegen Geld erhältlich. Und Geld ist nur im Tausch gegen Waren verfügbar. Wenn eine große Anzahl der Menschen die Legitimität dieser Abmachung akzeptiert, wenn sie akzeptieren, dass Waren eine Voraussetzung für Geld sind und dass Geld eine Voraussetzung für das Überleben ist, dann sind sie in einem Teufelskreis gefangen. Da sie selbst keine Waren haben, ist ihr einziger Ausweg aus diesem Kreis, sich selbst oder Teile von sich selbst als Waren zu betrachten. Und tatsächlich ist das die eigenartige „Lösung“, die Menschen sich selbst im Angesicht von bestimmten materiellen und historischen Bedingungen aufbürden. Sie tauschen nicht ihre Körper oder Teile davon gegen Geld. Sie tauschen den kreativen Inhalt ihres Lebens, ihre praktische, tägliche Beschäftigung gegen Geld ein.

Sobald der Mensch Geld als Gegenwert für Leben akzeptiert, wird der Verkauf lebendiger Aktivität eine Bedingung für sein physisches und soziales Überleben. Leben wird für Überleben eingetauscht. Schöpfung und Produktion werden zu armselig verkaufter Tätigkeit. Die Aktivität eines Menschen ist nur dann „produktiv“, nützlich für die Gesellschaft, wenn sie verkaufte Aktivität ist. Und der Mensch selbst ist nur dann ein produktives Mitglied der Gesellschaft wenn seine alltäglichen Beschäftigungen, verkaufte Beschäftigungen sind. Sobald die Menschen die Bedingungen dieses Tausches akzeptieren, wird ihre alltägliche Beschäftigung zu allgemeiner Prostitution.

Die verkaufte, kreative Kraft oder die verkaufte tägliche Aktivität nimmt die Form von Arbeit an. Arbeit ist eine historisch spezifische Form menschlicher Beschäftigung. Arbeit ist abstrakte Aktivität mit einem einzigen Zweck: sie ist vermarktbar, sie kann für eine gegebene Menge Geld verkauft werden. Arbeit ist indifferente Beschäftigung; indifferent zur bestimmten, ausgeführten Aufgabe und indifferent zu dem bestimmten Ziel, auf welches die Aufgabe ausgerichtet ist. Graben, Drucken und Schnitzen sind verschiedene Beschäftigungen, doch alle drei sind Arbeit in der kapitalistischen Gesellschaft. Arbeit ist schlicht „Geld verdienen“. Lebendige Aktivität, welche die Form von Arbeit annimmt, ist ein Mittel um Geld zu verdienen. Leben wird zu einem Mittel des Überlebens.

Diese ironische Umkehrung ist nicht der dramatische Höhepunkt einer ausgedachten Geschichte; sie ist eine Tatsache des alltäglichen Lebens innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft. Überleben, genauer gesagt Selbsterhaltung und Reproduktion, sind keine Mittel zu kreativer, praktischer Beschäftigung, jedoch sind sie das genaue Gegenteil. Kreative Beschäftigung in der Form von Arbeit, namentlich verkaufte Aktivität, ist eine schmerzhafte Notwendigkeit für das Überleben; Arbeit ist ein Mittel zur Selbsterhaltung und Reproduktion.

Der Verkauf von lebendiger Aktivität bringt noch eine andere Umkehrung mit sich. Durch den Verkauf wird die Arbeit eines Individuums zum „Eigentum“ eines Anderen, sie wird sich von einem Anderen angeeignet, sie kommt unter die Kontrolle eines Anderen. Mit anderen Worten, die Beschäftigung einer Person wird die Beschäftigung eines Anderen, die Beschäftigung ihres Besitzers; sie wird der Person, die sie ausübt, fremd1. Auf diese Weise werden das eigene Leben, die Leistungen eines Individuums in der Welt, der Unterschied, welcher das eigene Leben im Leben der Menschheit macht, nicht nur in Arbeit, einer schmerzhaften Bedingung für das Überleben, umgewandelt; sie werden in entfremdete Beschäftigung umgewandelt, Beschäftigung die von ihrem Käufer dirigiert wird. In der kapitalistischen Gesellschaft sind die Architekten, die Ingenieure, die Arbeiter nicht die Erbauer; der Mann der ihre Arbeit kauft, ist der Erbauer, ihre Projekte, Berechnungen und Bewegungen sind ihnen fremd; ihre lebendige Beschäftigung, ihre Leistungen sind die Seinen.

Akademische Soziologen, die den Verkauf von Arbeit für selbstverständlich halten, verstehen diese Entfremdung als rein gefühlsmäßig: die Beschäftigung des Arbeiters „erscheint“ dem Arbeiter fremd, sie „scheint“ von einem Anderen kontrolliert zu werden. Allerdings kann jeder Arbeiter den akademischen Soziologen erklären, dass diese Entfremdung weder ein Gefühl, noch eine Idee in seinem Kopf ist, sondern eine Tatsache im täglichen Leben des Arbeiters. Die verkaufte Beschäftigung ist faktisch dem Arbeiter fremd2; seine Arbeit ist faktisch von ihrem Käufer kontrolliert.

Im Tausch für seine verkaufte Beschäftigung erhält der Arbeiter Geld, das herkömmliche, akzeptierte Mittel für das Überleben in der kapitalistischen Gesellschaft. Mit diesem Geld kann er sich Waren kaufen, Dinge, aber er kann nicht seine Tätigkeit zurück kaufen. Dies enthüllt eine bestimmte „Lücke“ in der Idee von Geld als „allgemeiner Gegenwert“. Eine Person kann Waren für Geld verkaufen und sie kann dieselben Waren für Geld kaufen. Sie kann ihre lebendige Aktivität für Geld verkaufen, aber sie kann ihre lebendige Aktivität nicht für Geld zurück kaufen.

Die Dinge, welche der Arbeiter mit seinem Lohn kauft, sind in erster Linie Konsumwaren, welche es ihm ermöglichen zu überleben und seine Arbeitskraft wiederherzustellen, damit er sie weiterhin verkaufen kann; und sie sind Spektakel, Objekte der passiven Bewunderung. Er konsumiert und bewundert die Produkte menschlicher Beschäftigung passiv. Er existiert in der Welt nicht als aktiv Handelnder, welcher sie umgestaltet, sondern als hilfloser impotenter Zuschauer, der seinen Zustand der machtlosen Bewunderung vielleicht als „Glück“ benennt und da Arbeit schmerzhaft ist, wünscht er sich vielleicht sein ganzes Leben lang „glücklich“, also inaktiv, zu sein (ein Zustand der dem totgeboren sein gleich kommt). Die Waren, der Spektakel konsumieren ihn; er benutzt auflebende Energie für passive Bewunderung; er wird von Dingen konsumiert. In diesem Sinne ist er weniger, je mehr er hat. (Ein Individuum kann diesen Tod-im-Leben durch geringe, kreative Beschäftigung überwinden, doch die Gesellschaft als Ganzes kann dies nicht, es sei denn durch die Aufhebung der kapitalistischen Form praktischer Beschäftigung, durch die Abschaffung von Lohnarbeit, um dadurch die Entfremdung von kreativer Aktivität rückgängig zu machen.)

 

DER WARENFETISCHISMUS

Durch die Entfremdung von ihrer Beschäftigung und ihrer Verkörperung in Waren, in materiellen Behältern menschlicher Arbeit, reproduzieren die Menschen sich selbst und schaffen Kapital. Vom Standpunkt der kapitalistischen Ideologie und im spezielleren von dem der akademischen Ökonomie ist es falsch zu sagen; dass Waren „nicht alleine das Produkt von Arbeit“ sind; sie sind produziert von den ursprünglichen „Produktionsmitteln“: Land, Arbeit und Kapital, der kapitalistischen, Heiligen Dreifaltigkeit und das wichtigste „Mittel“, Kapital, ist offensichtlich der Held des Ganzen.

Der Zweck dieser oberflächlichen Dreifaltigkeit ist nicht die Analyse, da Analysen nicht das sind, für was die Experten bezahlt werden. Sie werden dafür bezahlt, die soziale Form praktischer Beschäftigung im Kapitalismus zu verschleiern, zu maskieren. Sie werden dafür bezahlt, die Tatsachen zu verhüllen, dass die Produzenten sich selbst, ihre Ausbeuter und die Instrumente ihrer Ausbeutung reproduzieren. Die Dreifaltigkeitsformel ist jedoch nicht erfolgreich. Es ist offensichtlich, dass das Land nicht mehr Warenproduzent ist, als das Wasser, die Luft oder die Sonne. Des weiteren produziert Kapital welches auf einmal der Name für die soziale Beziehung zwischen Arbeitern und Kapitalisten, für die Instrumente der Produktion im Besitz eines Kapitalisten und für den Geldgegenwert ihrer Instrumente und „immateriellen Werte“ ist, nicht mehr als Ejakulationen, die von akademischen Ökonomen in veröffentlichbare Form gebracht werden. Selbst die Instrumente der Produktion, welche das Kapital eines Kapitalisten darstellen, sind nur dann ursprüngliche „Produktionsmittel“, wenn die eigenen Scheuklappen den Blick auf ein einzelnes, kapitalistisches Unternehmen beschränken, da ein Blick auf die gesamte Wirtschaft enthüllt, dass das Kapital eines Kapitalisten ein materieller Behälter ist, für die Arbeit, welche von einem anderen Kapitalisten entfremdet ist. Obwohl die Trinitätsformel nicht überzeugen kann, erfüllt sie dennoch die Aufgabe der Vernebelung indem sie den Gegenstand der Frage verschiebt; anstatt zu fragen, warum die Beschäftigung der Menschen im Kapitalismus die Form van Lohnarbeit annimmt, werden potentielle Analysten des kapitalistischen Alltags in akademische Hausmarxisten verwandelt, die sich fragen, ob Arbeit das einzige „Produktionsmittel“ ist oder nicht.

Demnach behandeln Ökonomen (und die kapitalistische Ideologie im allgemeinen) Land, Geld und die Produkte der Arbeit als Dinge, welche die Kraft haben zu produzieren, Wert zu schaffen, für ihre Besitzer zu arbeiten, die Welt zu verwandeln. Dies ist was Marx als den Fetischismus bezeichnet hat, der die alltägliche Begriffsbildung der Menschen charakterisiert und von den Ökonomen auf die Ebene des Dogmas gebracht worden ist. Für Ökonomen sind lebende Menschen Dinge („Produktionsmittel“) und Dinge leben (Geld „arbeitet“, „Kapital“ produziert).

Der Fetischanbeter ordnet das Produkt seiner eigenen Aktivität seinem Fetisch zu. Als ein Ergebnis daraus hört er auf sein eigenes Feuer zu bemühen (die Kraft seine Umgebung zu gestalten, die Kraft die Form und den Inhalt seines täglichen Lebens zu bestimmen); er wendet nur noch die „Kräfte“ an, die er mit seinem Fetisch verbindet (die „Kraft“ Waren zu kaufen). Mit anderen Worten beraubt sich der fetischistische Fetischanbeter selbst seiner Kraft und ordnet seinem Fetisch Zeugungsfähigkeit zu.

Doch der Fetisch ist ein totes Ding und nicht ein lebendes Wesen, er hat keine Zeugungskraft. Der Fetisch ist nicht mehr als ein Ding, für das und durch welches kapitalistische Beziehungen aufrecht erhalten werden. Die mysteriöse Kraft des Kapitals, seine „Kraft“ zu produzieren, seine Zeugungskraft, wohnt nicht ihm selbst inne, sondern in der Tatsache, dass die Menschen sich von ihrer kreativen Tätigkeit entfremden, dass sie ihre Arbeit an Kapitalisten verkaufen, dass sie ihre entfremdete Arbeit in Waren materialisieren oder vergegenständlichen. Mit anderen Worten die Menschen werden gekauft mit Produkten ihrer eigenen Beschäftigung, jedoch sehen sie ihre eigene Aktivität als die Aktivität des Kapitals und ihre eigenen Produkte als Produkte des Kapitals. Durch, die Zuordnung von kreativer Kraft zum Kapital und nicht zu ihrer eigenen Tätigkeit verzichten sie für das Kapital auf ihre lebendige Aktivität, auf ihr tägliches Leben, was bedeutet, dass die Menschen täglich sich selbst der Verkörperung des Kapitals, dem Kapitalisten, in die Hände geben.

Durch den Verkauf ihrer Arbeit, durch das Entfremden von ihrer Tätigkeit reproduzieren die Menschen täglich die Verkörperungen der herrschenden Formen von Aktivität im Kapitalismus; sie reproduzieren den Lohnarbeiter und den Kapitalisten. Sie reproduzieren diese Individuen nicht nur physisch, sondern genauso auch sozial; sie reproduzieren Individuen, die Verkäufer von Arbeitskraft sind und solche, welche die Besitzer von Produktionsmitteln sind; sie reproduzieren die Individuen, wie auch die spezifischen Tätigkeiten, den Verkauf wie auch den Besitz.

Jedes Mal wenn Menschen eine Tätigkeit ausführen, die sie nicht selbst definiert haben und nicht kontrollieren, jedes Mal wenn sie für Waren bezahlen, die sie mit Geld produziert haben, das sie im Tausch gegen ihre entfremdete Tätigkeit erhalten haben, jedes Mal wenn sie die Produkte ihrer eigenen Aktivität als fremde, von ihrem Geld beschaffte Objekte passiv bewundern, geben sie dem Kapital neues Leben und vernichten ihr eigenes.

Das Ziel dieses Prozesses ist die Reproduktion der Beziehungen zwischen Arbeiter und Kapitalisten. Jedoch ist dies nicht das Ziel der individuell Handelnden, die innerhalb dieses Prozesses beschäftigt sind. Ihre Tätigkeiten sind ihnen nicht transparent; ihre Augen sind auf den Götzen fixiert, der zwischen, der Tat und dem Ergebnis steht. Die individuell Handelnden halten ihre Augen auf Dinge gerichtet, genauer gesagt auf die Dinge, welche kapitalistische Beziehungen begründen. Der Arbeiter als Produzent beabsichtigt seine tägliche Arbeit gegen Geldlohn einzutauschen, er beabsichtigt genau das, was seine Beziehung zum Kapitalisten neu begründet. Der Arbeiter als Konsument tauscht sein Geld für Produkte der Arbeit ein, genauer gesagt für Dinge welche der Kapitalist verkaufen muss um, sein Kapital zu verwerten.

Die tägliche Verwandlung von lebendiger Tätigkeit in Kapital ist durch Dinge vermittelt, sie ist nicht durch Dinge ausgeführt. Der fetischistische Götzenanbeter weiß dies nicht; für ihn sind Arbeit und Land, Instrumente und Geld, Unternehmer und Bankiers alles „Faktoren“ und „Handelnde“. Wenn ein Jäger, der ein Amulett trägt, einen Hirsch mit einem Stein tötet, dann wird er das Amulett vielleicht als einen wichtigen „Faktor“ bei der Jagd auf den Hirsch und bar der „Bereitstellung“ des Hirsches als Objekt, das gejagt werden kann, betrachten. Wenn er ein verantwortungsvoller und gut erzogener Fetischanbeter ist, dann wird er seine Aufmerksamkeit dem Amulett widmen, es mit Fürsorge und Bewunderung nähren, um die materiellen Bedingungen seines Lebens zu verbessern. Er wird die Art, wie er seinen Fetisch trägt verbessern und nicht die Art, wie er den Stein wirft, ja er wird vielleicht sogar auf seine Art versuchen, sein Amulett für ihn, „jagen“ zu lassen. Seine eigenen, täglichen Beschäftigungen sind ihm nicht transparent: wenn er genügend essen kann, sieht er nicht, dass es seine eigene Handlung des Steinwerfens und nicht die Tat seines Amuletts ist, die ihn mit Nahrung versorgt; wenn er hungert, sieht er nicht, dass er sein Hungern verursacht, wenn er sein Amulett anbetet anstatt jagen zu gehen und dass dies nichts mit dem Zorn seines Fetisch zu tun hat.

Der Fetischismus von Waren und Geld, die Mystifizierung der eigenen, täglichen Beschäftigungen, die Religion des alltäglichen Lebens, die lebendige Tätigkeit auf unbelebte Dinge bezieht, ist nicht eine mentale Laune, die in der Vorstellungen des Menschen geboren wurde, sie hat ihren Ursprung im Charakter der sozialen Beziehungen im Kapitalismus. Menschen beziehen sich tatsächlich aufeinander durch Dinge; der Fetisch ist tatsächlich die Gelegenheit, bei welcher sie kollektiv handeln und durch welchen sie ihre Tätigkeit wiedergeben. Doch es ist nicht der Götze, der die Tätigkeit ausführt. Es ist nicht das Kapital, das Rohstoffe verwandelt, noch ist es das Kapital, welches Waren produziert. Wenn nicht lebendige Tätigkeit diese Materialien verwandelt hätte, wären sie immer noch ungeformte, inaktive, tote Materie. Wären die Menschen nicht dazu genötigt, ihre lebendige Tätigkeit weiterhin zu verkaufen, so würde die Kraftlosigkeit des Kapitals enthüllt; Kapital würde aufhören zu existieren; seine letzte verbleibende Macht wäre die Kraft die Menschen an eine überbrückte Form des täglichen Lebens zu erinnern, die sich durch allgemeine Prostitution charakterisiert hat.

Der Arbeiter entfremdet sein Leben um sein Leben zu erhalten. Wenn er nicht seine lebendige Tätigkeit verkaufen würde, könnte er keinen Lohn erhalten und könnte nicht überleben. Dennoch ist es nicht der Lohn, der Entfremdung zur Bedingung für das Überleben macht. Wenn die Menschen kollektiv nicht dazu bereit wären, ihre Leben zu verkaufen, wenn sie bereit wären, über ihre eigene Aktivitäten die Kontrolle zu übernehmen, wäre allgemeine Prostitution nicht die Bedingung für das Überleben. Es ist die Bereitschaft der Menschen, weiterhin ihre Arbeit zu verkaufen und nicht die Dinge für welche sie sie verkaufen, welche die Entfremdung von lebendiger Tätigkeit notwendig für die Erhaltung des Lebens macht.

Die lebendige Tätigkeit, verkauft vom Arbeiter, wird vom Kapitalisten gekauft. Und es ist nur diese lebendige Tätigkeit die Leben ins Kapital haucht und es „produktiv“ macht. Der Kapitalist, ein „Eigentümer“ von Rohstoffen und Instrumenten der Produktion, gibt natürliche Objekte und Produkte anderer Leute Arbeit als sein „privates Eigentum“ aus. Doch es nicht die mystische Kraft des Kapitals, welche das „private Eigentum“ des Kapitalisten erschafft; lebendige Tätigkeit schafft dieses „Eigentum“, und die Form dieser Tätigkeit lässt es „privat“ bleiben.

 

DIE VERWANDLUNG VON LEBENDIGER TÄTIGKEIT IN KAPITAL

Die Verwandlung von lebendiger Tätigkeit in Kapital geschieht täglich durch Dinge, doch sie wird nicht von Dingen ausgeführt. Dinge, die Produkte menschlicher Aktivität sind, scheinen aktiv Handelnde zu sein, weil Tätigkeiten und Kontakte für und durch Dinge etabliert werden und weil die Tätigkeiten der Menschen ihnen nicht transparent sind; sie verwechseln das vermittelnde Objekt mit der Ursache.

Im kapitalistischen Produktionsprozess vergegenständlicht oder materialisiert der Arbeiter seine entfremdete Lebensenergie in einem unbelebten Objekt, indem er Instrumente benutzt, welche die Vergegenständlichung der Tätigkeiten anderer sind. (Hochentwickelte, industrielle Instrumente verkörpern die intellektuelle und manuelle Tätigkeit von unzählbaren Generationen von Erfindern, Verbesserern und Produzenten aus allen Ecken der Welt und aus verschiedenen Formen der Gesellschaft.) Die Instrumente selbst sind unbelebte Objekte; sie sind zwar die materiellen Verkörperungen lebendiger Tätigkeit, sie selbst sind jedoch nicht lebendig. Der einzige, aktiv Handelnde ist der lebendige Arbeiter. Ex benutzt Produkte anderer Leute Arbeit und erfüllt sie, so zu sagen, mit Leben, jedoch ist das Leben sein eigenes; er ist nicht dazu in der Lage, die Individuen, die ihre lebendige Tätigkeit eingelagert haben, in seinem Instrument wiederzubeleben. Das Instrument ermöglicht ihm vielleicht, mehr in einer gegebenen Zeitspanne zu tun und in seinem Verständnis wird es vielleicht seine Produktivität erhöhen. Doch nur der lebende Arbeiter, der in der Lage ist zu produzieren, kann auch produktiv sein.

Zum Beispiel wenn ein Industriearbeiter eine elektrische Drehbank bedient, benutzt er Produkte von Generationen von Physikern, Erfindern, Elektroingenieuren, Drehbankbauern. Er ist offensichtlich produktiver als ein Handwerker, der das selbe Objekt von Hand schnitzt. Es ist jedoch in keiner Weise das „Kapital“, das dem Industriearbeiter zur Verfügung steht, welches produktiver ist, als das „Kapital“ des Handwerkers. Wenn sich nicht Generationen von intellektueller und manueller Beschäftigung in der elektrischen Drehbank verkörpert hätten, wenn der. Industriearbeiter Drehbank, Elektrizität und die elektrische Drehbank hatte erfinden müssen, dann hätte es ihn ein vielfaches seiner Lebensspanne gekostet, um ein einziges Objekt auf einer elektrischen Drehbank zu drehen und keine Menge an Kapital kann seine Produktivität über diejenige des Handwerkers, der dieses Objekt von Hand schnitzt, erheben.

Der Begriff der „Produktivität des Kapitals“ und besonders die detaillierte Messung dieser „Produktivität“ sind Erfindungen der „Wissenschaft“ der Ökonomie, dieser Religion des kapitalistischen Alltags, welche die Energie der Menschen für die Verehrung, Bewunderung und Schmeichelei an den zentralen Fetisch der kapitalistischen Gesellschaft verbraucht. Die mittelalterlichen Kollegen dieser „Wissenschaftler“ erhoben detaillierte Messungen der Höhe und Breite der Engel im Himmel, ohne sich je zu fragen was Engel oder der Himmel überhaupt seien und sie nahmen die Existenz von beidem als selbstverständlich an.

Das Ergebnis der verkauften Beschäftigung des Arbeiters ist ein Produkt, welches ihm nicht gehört. Dieses Produkt ist eine Verkörperung seiner Arbeit, eine Materialisierung von einem Teil seines Lebens, ein Behälter, der seine lebendige Beschäftigung enthält, doch es ist nicht Seins; es ist ihm so fremd wie seine Arbeit. Er hat sich nicht dafür entschieden, es zu machen und wenn es gemacht ist, verwendet er es nicht. Wenn er es will, muss er es kaufen. Was er gemacht hat, ist nicht einfach ein Produkt mit bestimmten, nützlichen Eigenschaften; dafür hatte er nicht seine Arbeitskraft an einen Kapitalisten im Tausch für einen Lohn verkaufen müssen; er hätte nur die nötigen Materialien und Werkzeuge suchen müssen, er hätte nur diese Materialien nach seinen Zielen und limitiert durch sein Wissen und seine Fähigkeiten formen müssen. (Es ist offensichtlich, dass ein Individuum dies nur geringfügig tun kann; menschliche Aneignung und Nutzung von Materialien und Werkzeugen, die ihnen zur Verfügung stehen, kann nur nach der Überwindung der kapitalistischen Form von Beschäftigung stattfinden.)

Was der Arbeiter unter den kapitalistischen Bedingungen produziert, ist ein Produkt mit einer sehr spezifischen Eigenschaft, der Eigenschaft der Verkäuflichkeit.. Was seine entfremdete Beschäftigung produziert, ist eine Ware.

Weil kapitalistische Produktion eine Warenproduktion ist, ist die Behauptung, dass das Ziel dieses Prozesses die Befriedigung von menschlichen Bedürfnissen sei, falsch; das ist eine Vereinfachung und eine Entschuldigung. Die „Befriedigung menschlicher Bedürfnisse“ ist nicht das Ziel des Kapitalisten oder der Arbeiter, die an der Produktion beteiligt sind, noch ist sie ein Resultat aus dem Prozess selbst. Der Arbeiter verkauft seine Arbeit um einen Lohn zu erhalten; der spezifische Inhalt seiner Arbeit ist ihm gleichgültig; er entfremdet seine Arbeit nicht für einen Kapitalisten der ihn im Austausch nicht bezahlt, ganz gleichgültig wie viele menschliche Bedürfnisse die Produkte dieses Kapitalisten befriedigen mögen. Der Kapitalist kauft Arbeit und verpflichtet sie zur Produktion, damit Waren daraus hervorgehen, die er verkaufen kann. Ihm sind die spezifischen Eigenschaften gleichgültig, wie ihm die Bedürfnisse der Menschen gleichgültig sind; alles was ihn am Produkt interessiert, ist für wie viel er es verkaufen kann und alles was ihn an den Bedürfnissen der Menschen interessiert, ist wie viel sie „benötigen“ und wie sie durch Propaganda und psychologische Konditionierung davon überzeugt werden können, dass sie noch mehr „benötigen“. Das Ziel des Kapitalisten ist es, seinen Bedarf an Kapital zu reproduzieren und es zu Erhöhen und das Ergebnis dieses Prozesses ist die erweiterte Vermehrung von Lohnarbeit und Kapital (welches keine „menschlichen Bedürfnisse“ sind).

Die Ware, welche vom Arbeiter hergestellt wurde, wird vom Kapitalisten gegen eine spezifische Menge Geld ausgetauscht; die Ware ist ein Wert, welcher gegen einen entsprechenden Wert ausgetauscht wird. Mit anderen Worten kann die lebendige und die vergangene Arbeit, materialisiert im Produkt, in zwei von einander verschiedenen, jedoch gleichwertigen Formen sein, entweder in Form von Waren oder in Form von Geld, also in dem ihnen innewohnenden gleichen Wert. Das bedeutet nicht, dass der Wert, gleichbedeutend mit der Arbeit ist. Der Wert ist die soziale Form vergegenständlichter Arbeit in der kapitalistischen Gesellschaft.

Im Kapitalismus bilden sich soziale Beziehungen nicht direkt, sie werden durch den Wert gebildet. Alltägliche Tätigkeiten werden nicht direkt ausgetauscht; sie werden als Wertform ausgetauscht. Konsequenterweise kann das, was mit lebendiger Tätigkeit im Kapitalismus geschieht, nicht durch das Beobachten der Tätigkeit selbst verfolgt werden, sondern nur durch die Beobachtung der Wertveränderung.

Wenn lebendige Beschäftigung von Menschen die Form von Arbeit (entfremdeter Aktivität) annimmt, eignet sie sich die Fähigkeit der Austauschbarkeit an; sie eignet sich die Form des Wertes an. Mit anderen Worten kann Arbeit gegen eine „entsprechende“ Menge Geld (Löhne) ausgetauscht werden. Die bewusste Entfremdung von lebendiger Beschäftigung, welche von den Mitgliedern der kapitalistischen Gesellschaft als für das Überleben notwendig erachtet wird, reproduziert die kapitalistische Form, in welcher Entfremdung notwendig für das Überleben ist. Da lebendige Aktivität ein Wert ist, müssen die Produkte dieser Aktivität ebenfalls ein Wert sein: sie müssen austauschbar gegen Geld sein. Dies ist offensichtlich, denn wenn die Produkte von Arbeit nicht die Form eines Wertes annehmen würden, sondern zum Beispiel die Form von nützlichen Objekten, die der Gesellschaft zur Verfügung stehen, dann würden sie entweder in der Fabrik bleiben oder sie würden von den Mitgliedern dieser Gesellschaft frei genutzt werden, wann immer eine Notwendigkeit dafür bestünde. In beiden Fällen hätten die Geldlöhne der Arbeiter keinen Wert mehr und die lebendige Aktivität könnte nicht mehr für eine „entsprechende“ Menge Geld verkauft werden; lebendige Aktivität könnte nicht mehr entfremdet werden. Konsequenterweise nehmen die Produkte lebendiger Aktivität einen Wert an, sobald diese lebendige Aktivität einen Wert annimmt, und die Reproduktion des alltäglichen Lebens geschieht durch die Veränderungen dieses Wertes.

Der Kapitalist verkauft die Produkte von Arbeit auf einem Markt; er tauscht sie gegen eine entsprechende Summe von Geld; er setzt einen festgelegten Wert um. Die spezifische Größe dieses Wertes auf einem bestimmten Markt ist der Preis der Waren. Für einen Ökonomen ist der Preis der Petrusschlüssel zu den Toren des Himmels. Wie Kapital selbst, bewegt sich auch der Preis in einer wundervollen Welt, die vollständig aus Objekten besteht. Diese Objekte haben menschliche Beziehungen miteinander und sie sind lebendig; sie verändern einander, kommunizieren miteinander, sie heiraten und haben Kinder. Natürlich sind nur durch die Gnade dieser intelligenten, mächtigen und kreativen Objekte, die Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft so glücklich.

Ökonomen stellen die Arbeiten im Himmel so dar, dass die Engel alles tun und der Mensch nichts; der Mensch genießt nur, was diese überlegenen Kreaturen für ihn tun. Es ist nicht nur so, dass Kapital produziert und Geld arbeitet, andere mysteriöse Wesen haben ähnliche Gaben. So legen Angebot – eine Menge von Dingen die verkauft werden – und Nachfrage – eine Menge Dinge die gekauft werden – zusammen den Preis fest, also eine Menge von Geld. Wenn Angebot und Nachfrage sich an einem bestimmten Punkt im Diagramm vereinigen, erschaffen sie das Gleichgewicht des Preises, welches einem universellen Zustand von Glück entspricht. Die Tätigkeiten des alltäglichen Lebens werden von Dingen ausgeführt, Menschen werden während ihrer Arbeitszeit zu Dingen („Produktionsfaktoren“) und während ihrer „Freizeit“ zu passiven Konsumenten von Dingen reduziert. Die Gabe des Ökonomen besteht in der Fähigkeit, das Resultat der alltäglichen Beschäftigungen der Menschen Dingen zuordnen zu können und in seiner Unfähigkeit die lebendige Tätigkeit der Menschen als etwas anderes als ein Ding zu sehen. Für den Ökonomen sind die Dinge, durch welche die Tätigkeit der Menschen im Kapitalismus reguliert werden, selbst die Mütter und Söhne, die Ursachen und Wirkungen ihrer eigenen Tätigkeit.

Die Größe des Wertes, namentlich der Preis einer Ware, die Menge an Geld für die sie getauscht wird, ist nicht durch Dinge festgelegt, sondern durch die täglichen Tätigkeiten der Menschen. Angebot und Nachfrage, vollkommener und unvollkommener Wettbewerb sind nicht mehr als soziale Formen von Produkten und Tätigkeiten in der kapitalistischen Gesellschaft; sie selbst haben kein Leben. Die Tatsache, dass Aktivität entfremdet ist, namentlich dass Arbeitszeit für eine spezifische Summe an Geld verkauft wird, dass diese Aktivität einen bestimmten Wert hat, führt zu mehreren Konsequenzen für die Größe des Wertes der Produkte dieser Arbeit. Der Wert der verkauften Waren muss mindestens gleich groß sein wie der Wert der Arbeitszeit. Dies ist offensichtlich vom Standpunkt eines einzelnen, kapitalistischen Unternehmens wie auch vom Standpunkt der Gesellschaft als Ganzes. Wenn der Wert der von einem Unternehmen verkauften Waren kleiner wäre, als der Wert der von ihr angeheuerten Arbeit, dann wären ihre Ausgaben größer als ihre Einnahmen und sie würde innerhalb kürzester Seit bankrott gehen. Sozial gesehen könnte die Arbeitskraft sich selbst nicht reproduzieren, wenn der Wert der Produktion der Arbeiter kleiner wäre als der Wert ihres Konsums, ganz zu schweigen von der Klasse der Kapitalisten. Wenn der Wert der Waren knapp gleich groß wäre, wie derjenige der für sie aufgewendeten Arbeitszeit, so würden die Warenproduzenten sich auch nur knapp reproduzieren und ihre Gesellschaft wäre keine kapitalistische Gesellschaft; ihre Tätigkeit würde vielleicht immer noch aus Warenproduktion bestehen, aber es wäre keine kapitalistische Warenproduktion.

Wenn Arbeit Kapital erzeugen soll, so muss der Wert der Produkte dieser Arbeit größer sein, als der Wert der Arbeit. Mit anderen Worten muss Arbeitskraft einen Mehrwert-Produkt erzeugen, eine Menge an Waren, die sie selbst nicht konsumiert und dieser Mehrwert muss in einen Mehrwert umgewandelt werden, eine Form von Wert, die nicht von der Arbeitern als Löhne, sondern von Kapitalisten als Profit angeeignet wird. Des weiteren muss der Wert der Produkte von Arbeit noch größer sein, da lebendige Arbeit nicht die einzige Art von Arbeit ist, die sich in diesen Produkten materialisiert. Während der Produktion verbrauchen Arbeiter ihre eigene Energie, aber auch die gelagerte Arbeit anderer in Form von Werkzeugen und sie bearbeiten Materialien, auf welche schon früher Arbeit verbraucht wurde.

Dies führt zu dem merkwürdigen Ergebnis, dass der Wert der Produkte eines Arbeiters und der Wert seines Lohnes verschiedene Größen sind, namentlich dass die Summe an Geld, die der Kapitalist erhält, wenn er Waren verkauft, die von den von ihm bezahlten Arbeitern produziert wurden, verschieden ist von der Summe, die er seinen Arbeitern zahlt. Diese Differenz kann nicht durch die Tatsache erklärt werden, dass die verbrauchten Materialien und Werkzeuge bezahlt werden müssen. Wenn der Wert der verkauften Waren gleich dem Wert der lebendigen Arbeit und der Werkzeuge wäre, dann gäbe es immer noch keinen Platz für Kapitalisten. Tatsache ist, dass die Differenz zwischen den beiden Werten groß genug sein muss, um die Klasse der Kapitalisten zu unterstützen – nicht nur die Individuen, sondern auch die spezifischen Tätigkeiten, welche diese Individuen ausführen, namentlich der Kauf von Arbeit. Die Differenz zwischen dem totalen Wert der Produkte und dem Wert der für ihre Produktion aufgewendeten Arbeit ist Mehrwert, die Wurzel des Kapitals.

Um den Ursprung des Mehrwertes zu finden, muss untersucht werden, wieso der Wert der Arbeit kleiner als der Wert der von ihr produzierten Waren ist. Die entfremdete Tätigkeit des Arbeiters verwandelt Materialien mit Hilfe von Instrumenten und produziert dadurch eine bestimmte Anzahl Waren. Jedoch wird, nachdem diese Waren verkauft und die verbrauchten Materialien bezahlt worden sind, den Arbeitern nicht der verbleibende Wert ihrer Produkte als Löhne gegeben, sie erhalten weniger. Mit anderen Worten führen die Arbeiter an jedem Arbeitstag unbezahlte Arbeit aus; erzwungene Arbeit für die sie keinen Gegenwert erhalten.

Die Ausführung dieser unbezahlten Arbeit, diese erzwungene Arbeit ist eine weitere „Bedingung für das Überleben“ innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft. Jedoch ist diese Bedingungen, genauso wie die Entfremdung, nicht durch die Natur gegeben, sondern entsteht durch die kollektive Praxis der Keuschen, durch ihre alltäglichen Tätigkeiten. Vor der Entstehung von Gewerkschaften akzeptierte ein einzelner Arbeiter jede erzwungene Arbeit die zu haben war, denn die Ablehnung von Arbeit hätte bedeuten, dass andere Arbeiter die vorhandenen Bedingungen akzeptiert hätten und der einzelne Arbeiter keinen Lohn erhalten hätte. Arbeiter konkurrierten untereinander um die Löhne, welche von den Kapitalisten geboten wurden, wenn ein Arbeiter wegen eines untragbar tiefen Lohnes kündigte, war schon ein arbeitsloser Arbeiter zur Stelle, um ihn zu ersetzen, denn für den Arbeitslosen war ein niedriger Lohn immer noch besser, als gar kein Lohn. Diese Konkurrenz unter den Arbeitern wurde von den Kapitalisten als „freie Arbeit“ bezeichnet und sie unternahmen große Anstrengungen um die Freiheit der Arbeiter aufrecht zu erhalten, denn genau diese Freiheit erhielt den Mehrwert für den Kapitalisten und ermöglichte es ihm sein Kapital zu vermehren. Es war nicht das Ziel eines Arbeiters, mehr Waren zu produzieren, als er dafür bezahlt wurde. Sein Ziel war es, einen Lohn zu erhalten, der so hoch als möglich war. Jedoch machte die Existenz von Arbeitern, die gar keinen Lohn erhielten und deren Vorstellungen von einem hohen Lohn klarerweise bescheidener waren, als diejenigen von, angestellten Arbeitern, es dem Kapitalisten möglich, Arbeit für einen niedrigeren Lohn zu kaufen. Tatsächlich machte die Existenz von arbeitslosen Arbeitern es dem Kapitalisten möglich, den niedrigsten Lohn zu zahlen, für den Arbeiter noch bereit waren zu arbeiten. Daher war das Ergebnis der kollektiven, alltäglichen Tätigkeit der Arbeiter, die alle individuell auf der Suche nach dem höchstmöglichen Lohn waren, dass alle niedrigere Löhne erhielten; der Effekt des Wettstreits Alle gegen Alle war, dass alle den kleinstmöglichen Lohn erhielten und der Kapitalist den größtmöglichen Mehrwert.

Die tägliche Praxis von allen hebelt das Ziel jedes einzelnen aus. Jedoch wussten die Arbeiter nicht, dass ihre Situation das Produkt ihres täglichen Verhaltens war. Für sie erschienen niedrige Löhne als natürlicher Bestandteil des Lebens, wie Krankheit und Tod und fallende Löhne schienen somit als Naturkatastrophe, wie eine Flut oder ein harter Winter. Die sozialistische Kritik und die Analysen von Marx, sowie eine Zunahme der industriellen Entwicklung, die mehr Zeit für Reflektion ermöglichte, entfernte einige der Schleier und machte es den Arbeitern möglich, ihre Aktivitäten bis zu einem gewissen Punkt zu durchschauen. Jedoch wurden alle Arbeiter in Westeuropa und den Vereinigten Staaten die kapitalistische Form des täglichen Lebens nicht los; sie gründeten Gewerkschaften. Und auf Grund der anderen materiellen Gegebenheiten der Sowjet Union und Osteuropas ersetzen die Arbeiter (und Bauern) die kapitalistische Klasse durch eine Staatsbürokratie, welche entfremdete Arbeit kaufte und Kapital vermehrte, im Namen von Marx.

Mit Gewerkschaften ist das tägliche Leben ähnlich zu dem vor den Gewerkschaften, tatsächlich ist es fast genau gleich. Das tägliche Leben besteht weiterhin aus Arbeit, aus entfremdeter Aktivität und aus unbezahlter oder erzwungener Arbeit. Der gewerkschaftlich organisierte Arbeiter handelt nicht länger selbst die Bedingungen seiner Entfremdung aus, Gewerkschaftsfunktionäre tun dies für ihn. Die Bedingungen zu welchen die Tätigkeit des Arbeiters entfremdet wird, sind nicht länger durch die individuelle Notwendigkeit für den Arbeiter, zu akzeptieren was vorhanden ist, bestimmt, sondern durch die Notwendigkeit für den Gewerkschaftsbürokraten seine Position als Zuhälter zwischen den Verkäufern und den Käufern von Arbeit zu sichern.

Mit oder ohne Gewerkschaften ist Mehrwert weder ein Produkt der Natur noch eines des Kapitals; er wird durch die täglichen Aktivitäten der Menschen geschaffen. Bei der Durchführung ihrer alltäglichen Tätigkeiten sind die Menschen nicht nur dazu bestimmt, ihre Aktivitäten zu entfremden, sie sind zudem noch dazu bestimmt, die Bedingungen zu reproduzieren, welche sie dazu zwingen ihre Aktivitäten zu entfremden, Kapital zu reproduzieren und damit die Kraft des Kapitals Arbeit zu kaufen. Dies ist nicht etwa so, weil die Menschen nicht wissen „was die Alternative ist“. Eine Person, die behindert ist auf Grund chronischer Magenbeschwerden durch zu viel Fett, hört nicht damit auf Fett zu essen, weil sie die Alternative nicht kennt. Entweder zieht sie ihre Behinderung dem Aufgeben einer fettreichen Nahrung vor oder aber es ist ihr nicht klar, dass ihr täglicher Konsum von fettreichem Essen ihre Behinderung verursacht. Und wenn ihr Arzt, Priester, Lehrer und Politiker ihr erzählen, dass erstens das Fett sie am Leben hält und zweitens, dass sie schon alles für sie erledigen, was diese Person selbst erledigen würde, wenn sie gesund wäre, dann ist es nicht erstaunlich, dass die Aktivität dieser Person ihr nicht transparent ist und sie auch keine großen Versuche unternehmen wird, sie transparent zu machen.

Die Produktion von Mehrwert ist eine Bedingung für das Überleben, nicht für die Bevölkerung aber für das kapitalistische System. Mehrwert ist der Teil des Werts von Waren, die von Arbeitern produziert wurden, der nicht an die Arbeiter zurückgegeben wird. Er kann sich entweder als Waren oder als Geld ausdrücken, (genau wie Kapital sich sowohl als eine Menge von Geld oder als eins Menge von Dingen ausdrücken kann), was aber nichts an der Tatsache ändert, dass er ein Ausdruck der materialisierten Arbeit ist, die in einer gegeben Menge Waren gelagert wird. Da die Produkte für eine „gleichwertige“ Menge Geld eingetauscht werden können, steht das Geld für denselben Wert wie derjenige der Produkte. Das Geld kann wiederum für eine andere Menge Produkte mit einem „gleichen“ Wert eingetauscht werden. Das Zusammenkommen dieser Tauschgeschäfte, welche während des kapitalistischen Alltags simultan ablaufen, bildet den kapitalistischen Prozess eines Wirtschaftskreislaufs. Durch diesen Prozess entsteht die Umwandlung von Mehrwert in Kapital.

Der Anteil des Wertes, der nicht wieder in die Arbeit fließt, also Mehrwert, erlaubt es dem Kapitalisten zu existieren und es erlaubt ihm noch weit mehr, als nur zu existieren. Der Kapitalist investiert einen Teil dieses Mehrwertes; er heuert neue Arbeiter an oder kauft neue Produktionsmittel; er weitet seine Herrschaft aus. Das heißt, der Kapitalist akkumuliert neue Arbeit, sowohl in Form von lebendiger Arbeit, die er anheuert, als auch in Form von vergangener Arbeit (bezahlt und unbezahlt), die in den Materialien und Maschinen, die er kauft, angehäuft ist.

Die kapitalistische Klasse als Ganzes akkumuliert den Mehrwert der Gesellschaft, doch dieser Prozess läuft auf einer sozialen Ebene ab und kann dadurch nicht erkannt werden, wenn nur die Aktivitäten eines einzelnen Kapitalisten beobachtet werden. Es muss klar sein, dass die Produkte die ein bestimmter Kapitalist kauft, dieselben Eigenschaften haben, wie diejenigen die er verkauft. Ein erster Kapitalist verkauft Werkzeuge an einen zweiten Kapitalisten für eine gegebene Summe an Wert und nur ein Teil dieses Wertes geht zurück an die Arbeiter in Form von Löhnen; der übrige Teil ist Mehrwert, mit welchem der erste Kapitalist neue Werkzeuge und Arbeit kauft. Der zweite Kapitalist kauft Werkzeuge für einen gegeben Wert, das heißt er zahlt für die gesamte Menge an Arbeit, die für den ersten Kapitalisten erbracht wurde; für die Menge, die entlohnt wurde, wie auch für die Menge, die unentgeltlich ausgeführt wurde. Demnach beinhalten die Werkzeuge, die der zweite Kapitalist akkumuliert hat, die unbezahlte Arbeit, die für den ersten Kapitalisten ausgeführt wurde. Der zweite Kapitalist wiederum verkauft seine Produkte für einen gegeben Wert und gibt nur einen Teil davon an seine Arbeiter zurück; er benutzt den Rest für neue Werkzeuge und Arbeit.

Wenn dieser ganze Prozess in eine Zeitperiode gezwängt würde und alle Kapitalisten in einen vereinigt würden, könnten wir sehen, dass der Wert mit welchem sich der Kapitalist neue Werkzeuge und Arbeit aneignet gleich dem Wert der Produkte ist, den er den Produzenten vorenthält. Dieser akkumulierte, Mehrwert-Arbeit ist Kapital.

Auf die kapitalistische Gesellschaft als Ganzes bedeutet dies, dass das gesamte Kapital gleich der Summe von unbezahlter Arbeit ist, ausgeführt von Generationen von Menschen, deren Leben aus der täglichen Entfremdung von ihren alltäglichen Tätigkeiten bestanden hat. Mit anderen Worten ist Kapital, angesichts dessen die Menschen ihre Lebenszeit verkaufen, das Produkt der verkauften Aktivität der Menschen und wird mit jedem Tag an dem ein Mensch einen weiteren Arbeitstag verkauft, mit jedem Moment in dem er sich dazu entscheidet, weiterhin in der kapitalistischen Form des täglichen Lebens zu leben, reproduziert und erweitert.

 

LAGERUNG UND AKKUMLIERUNG VON MENSCHLICHER AKTIVITÄT

Die Umwandlung von Mehrwert-Arbeit in Kapital ist eine spezifische Form eines allgemeineren Prozesses, dem Prozess der Industrialisierung, die permanente Umwandlung der materiellen Umgebung des Menschen.

Bestimmte essentielle Merkmale dieser Konsequenz aus menschlicher Aktivität im Kapitalismus können mit Hilfe einer vereinfachten Illustration verdeutlicht werden. In einer imaginären Gesellschaft verbringen die Menschen die meiste Zeit mit der Produktion von Nahrung und anderer, lebensnotwendiger Dinge; nur ein Teil ihrer Zeit ist „Mehrweit-Zeit“ im Sinne von Zeit, die von der Produktion von lebensnotwendigen Dingen ausgenommen ist. Diese Mehrwert-Aktivität wird vielleicht für die Produktion von Nahrung für Priester und Krieger, die nicht selbst produzieren verwendet; sie wird vielleicht für die Produktion von Opfergaben, die bei Ritualen verbrannt werden, verwendet; sie wird vielleicht für die Durchführung von Ritualen oder sportlicher Ertüchtigung verwendet. In all diesen Fällen ist es unwahrscheinlich, dass sich die materiellen Bedingungen dieser Menschen von einer Generationen zur Nächsten verändern, dies ist das Resultat ihrer täglichen Beschäftigung. Nichts desto trotz kann eine Generation dieser imaginären Gesellschaft ihre Mehrwert-Zeit lagern anstatt sie zu verbrauchen. Zum Beispiel wenn sie ihre Mehrwert-Zeit dafür verwenden, Federn aufzuziehen. Die nächste Generation wird dann vielleicht die Energie, die in den Federn eingelagert ist, für andere notwendige Aufgaben verwenden oder sie benutzen diese Energie dazu weitere Federn aufzuziehen. In beiden Fällen wird die eingelagerte, Mehrwert-Arbeit der früheren Generation, die neue Generation mit einer größeren Menge an Mehrwert-Arbeitszeit ausstatten. Die neue Generation wird nun vielleicht auch diesen Mehrwert in Federn oder anderen Gefäßen einlagern. In einer relativ kurzen Zeitspanne wird die Arbeit, die in den Federn eingelagert ist, die einer Generation verfügbare Arbeitszeit übersteigen; mit dem Aufwand von sehr wenig Energie sind die Menschen dieser imaginären Gesellschaft dazu in der Lage, die Federn für viele notwendige Tätigkeiten zu verwenden, auch für die Aufgabe weitere Federn für die nächste Generation aufzuziehen, Die meiste Zeit, die die Menschen früher dazu aufwendeten, lebensnotwendige Dinge zu produzieren, wird nun für Aktivitäten zur Verfügung stehen, die nicht von Notwendigkeit diktiert, sondern von Phantasie entworfen worden sind.

Auf den ersten Blick erscheint es unwahrscheinlich, dass Menschen ihre Zeit damit verbringen, Federn aufzuziehen. Es erscheint ebenso unwahrscheinlich, dass sie diese Federn für folgende Generationen aufsparen, da ja das Abspulen der Federn vielleicht ein großartiges Spektakel an Festtagen sein könnte.

Wenn jedoch die Menschen nicht im Besitz ihrer eigenen Leben wären, wenn ihre Tätigkeit nicht ihre eigene wäre, wenn ihre praktische Tätigkeit aus erzwungener Arbeit bestünde, dann könnte die menschliche Aktivität durchaus daraus bestehen, Federn aufzuziehen, sie könnte daraus bestehen, Mehrwert-Arbeitszeit in materielle Gefäße einzulagern. Bis historische Rolle des Kapitalismus, eine Rolle die von Menschen übernommen wurde, welche akzeptierten, dass andere ihre Leben lenken, bestand genau daraus, menschliche Aktivität mit Hilfe von erzwungener Arbeit in materiellen Behältnissen einzulagern.

Sobald Menschen sich der „Macht“ des Geldes unterwerfen, indem sie gelagerte Arbeit und lebendige Aktivität kaufen, sobald sie das fiktionale „Recht“ der Geldbesitzer akzeptieren, die eingelagerte wie auch die lebendige Aktivität einer Gesellschaft zu kontrollieren und zu benutzen, verwandeln sie Geld in Kapital und die Besitzer des Geldes in Kapitalisten.

Die doppelte Entfremdung, die Entfremdung von lebendiger Aktivität in Form von Lohnarbeit und die Entfremdung der Aktivitäten vergangener Generationen in Farm von eingelagerter Arbeit (Produktionsmittel), ist kein einzelner Akt, der irgendwann in der Geschichte geschehen ist. Die Beziehung zwischen Arbeitern und Kapitalisten ist nicht etwas, dass sich selbst an einem Punkt der Vergangenheit ein für. allemal der Gesellschaft aufgezwungen hat. Zu keiner Zeit hat der Mensch einen Vertrag unterschrieben oder nur eine mündliche Abmachung getroffen, in dem er all seine Bestimmung über seine lebendige Tätigkeit. und die Selbstbestimmung über die lebendige Aktivität aller künftigen Generationen in allen Teilen der Welt aufgegeben hat.

Gas Kapital trägt die Maske einer natürlichen Kraft; es erscheint so solide wie die Erde selbst; seine Bewegungen erscheinen so unumkehrbar wie die Gezeiten; seine Krisen erscheinen so unvermeidbar wie Erdbeben und Fluten. Selbst wenn eingestanden wird, dass die Macht des Kapitals durch den Mensch geschaffen wird, wird dieses Eingeständnis vielleicht höchstens dazu führen, dass eine noch eindrucksvollere Maske geschaffen wird, die Maske einer vom Menschen gemachten Kraft, ein Frankenstein-Monster, dessen Macht mehr Ehrfurcht auslöst, wie die jeder natürlichen Kraft.

Kapital ist jedoch weder eine Naturkraft noch ein von Menschen gemachtes Monster, das irgendwann in der Vergangenheit geschaffen wurde und seither das menschliche Leben dominiert. Die Macht des Kapitals liegt im Geld, denn Geld ist eine soziale Konvention, die nicht mehr „Macht“ hat, als das der Mensch bereit ist, ihr zu geben; wenn die Menschen es ablehnen, ihre Arbeit zu verkaufen, kann das Geld nicht einmal die einfachsten Aufgaben erfüllen, denn Geld „arbeitet“ nicht.

Die Macht des Kapitals liegt genauso wenig in materiellen Behältnissen, in denen die Arbeit früherer Generationen gespeichert ist, denn die potentielle Energie, die in diesen Behältnissen liegt, kann durch die Aktivität lebender Menschen befreit werden, ob nun die Behältnisse Kapital, namentlich fremdes Eigentum, sind oder nicht. Ohne lebendige Aktivität wäre die Sammlung von Objekten, die das Kapital einer Gesellschaft bilden, nicht mehr als ein verstreuter Haufen von verschiedenen Artefakten ohne eigenes Leben und die Besitzer von Kapital wären nicht mehr als eine verstreute Ansammlung ungewöhnlich unkreativer Menschen (durch Training), die sich selbst, im eitlen Versuch die Erinnerungen einer vergangenen Erhabenheit wiederzubeleben, mit Papierfetzen umgeben. Die einzige „Macht“ des Kapitals liegt in den täglichen Aktivitäten von lebenden Menschen; diese „Macht“ besteht aus der Bereitschaft der Menschen ihre täglichen Beschäftigungen im Tausch gegen Geld zu verkaufen und die Kontrolle über die Produkte ihrer eigenen Aktivität und die Aktivitäten früherer Generationen aufzugeben.

Sobald eine Person ihre Arbeit an einen Kapitalisten verkauft und akzeptiert, dass sie nur einen Teil ihres Produkts als Bezahlung für die Arbeit erhält, schafft, sie Bedingungen für den Kauf und die Ausbeutung anderer Menschen. Kein Mensch würde freiwillig seinen Arm oder sein Kind im Tausch gegen Geld hergeben; jedoch wenn ein Mensch absichtlich und andauernd sein Arbeitsleben verkauft, um lebensnotwendige Ding zu beschaffen, reproduziert er nicht, nur die Bedingungen, welche den Verkauf seinem Lebens zu einer Notwendigkeit für seinen Erhalt machen, er schafft damit auch die Bedingungen, die den Verkauf von Leben zu einer Notwendigkeit für andere Menschen machen. Spätere Generationen werden es zwar vielleicht ablehnen ihr Arbeitsleben zu verkaufen, aus dem selben Grund aus dem er seinen Arm nicht verkauft hat; doch jeder gescheiterte Versuch entfremdeter und aufgezwungener Arbeit zu widerstehen, vergrößert den Bestand an gelagerter Arbeit mit dem das Kapital arbeitende Leben kaufen kann.

Um Mehrwert-Arbeit in Kapital umzuwandeln muss ein Kapitalist Wege finden, sie in materiellen Behältnissen, in neuen Produktionsmitteln einzulagern und er muss neue Arbeiter anheuern, um die neuen Produktionsmittel zu aktivieren. Mit anderen Worten muss er sein Unternehmen vergrößern oder neue Unternehmen in einer anderen Branche gründen. Dies setzt das Vorhandensein von Material voraus, das zu neuen, verkaufbaren Waren geformt werden kann, es setzt auch das Vorhandensein von Käufern für diese Produkte voraus und von Menschen, die arm genug sind um freiwillig ihre Arbeit zu verkaufen. Diese Voraussetzungen sind von der kapitalistischen Tätigkeit selbst geschaffen und Kapitalisten anerkennen keinerlei Grenzen oder Hindernisse für ihre Tätigkeit; die Demokratie des Kapitals erfordert absolute Freiheit. Imperialismus ist nicht bloß die „letzte Stufe“ des Kapitalismus; er ist auch seine erste.

Alles, was in ein vermarktbares Gut verwandelt werden kann, ist Schrot für die Mühlen des Kapitals, ob es nun auf dem Land des Kapitalisten liegt oder auf dem seines Nachbarn; ob es nun auf dem Boden oder darunter liegt; Boote auf dem Meer oder Schnecken auf seinem Grund; ob begrenzt auf andere Kontinente oder andere Planeten. Alle menschlichen Entdeckungen der Natur, von der Alchemie bis zu Physik, werden dazu benutzt, neue Materialien zu suchen, um Arbeit darin zu speichern; werden gebraucht, um neue Objekts zu finden, die zu kaufen. jemand gelehrt werden kann.

Käufer von alten und neuen Produkten werden mit wirklich allen verfügbaren Mitteln geschaffen und neue Mittel werden weiter entdeckt. „Freie Märkte“ und „offene Türen“ werden mit Gewalt und Betrug etabliert. Wenn Menschen nicht über die Mittel verfügen, die Produkte der Kapitalisten zu kaufen, werden sie von Kapitalisten angeheuert und werden dafür bezahlt die Waren zu produzieren, die sie sich selbst wünschen; wenn lokale Handwerker etwas schon produzieren, das auch ein Kapitalist verkauf, dann werden die Handwerker ruiniert oder aufgekauft; wenn Gesetze oder Traditionen die Benutzung eines bestimmten Produkts verbieten, werden die Gesetze und Traditionen zerstört; wenn die Menschen nicht über die Objekte verfügen, für die sie die Produkte der Kapitalisten brauchen könnten, dann werden sie dazu „erzogen“, diese Objekte zu kaufen; wenn die Menschen keine weiteren physischen oder biologischen Bedürfnisse mehr haben, dann „befriedigen“ die Kapitalisten ihre „spirituellen Bedürfnisse“ und heuern Psychologen an, um diese zu schaffen; wenn die Menschen übersättigt, sind von den Produkten der Kapitalisten, sodass sie keine neuen Produkte mehr benutzen, dann werden sie dazu erzogen“ Objekte und Spektakel zu kaufen, die keinen Nutzen haben und nur noch beobachtet und bewundert werden können.

Arme Menschen können in vorlandwirtschaftlichen und landwirtschaftlichen Gesellschaften auf jedem Kontinent gefunden werden; wenn sie nicht arm genug sind, um ihre Arbeit freiwillig zu verkaufen, wenn die Kapitalisten erscheinen, dann werden sie durch die Aktivitäten der Kapitalisten selbst verarmt. Das Land der Jäger wird schrittweise zu „Privateigentum“ der „Besitzer“, welche die „Staatsmacht“ dazu benutzen, die Jäger in „Reservate“ zu sperren, die nicht über genügend Nahrungsmittel verfügen, um die Jäger am Leben zu halten. Die Werkzeuge von Bauern werden schrittweise nur noch bei einem Händler erhältlich sein, der ihnen auch noch freigiebig das Geld leiht, um sich diese Werkzeuge kaufen zu können, solange bis die „Schulden“ der Bauern so groß sind, dass sie dazu gezwungen, sind das Land zu verkaufen, das weder sie noch ihre Vorfahren je gekauft haben. Die Käufer von handwerklichen Produkten werden zu Kunden des Händlers reduziert, der die Produkte verkauft; bis eines Tages der Händler entscheidet, „seine Handwerker“ unter einem Dach unterzubringen und sie mit den Instrumenten auszustatten, weiche es ihnen ermöglichen, ihre Aktivität nur noch auf Produktion der profitabelsten Waren zu konzentrieren Unabhängige wie abhängige Jäger, Bauern und Handwerker, freie Menschen wie Sklaven werden in angeheuerte Arbeiter verwandelt. Jene, die früher ihre eigenen Leben im Angesicht von rauen materiellen Bedingungen bestimmt haben, hören auf über ihre eigenen Leben zu bestimmen, wenn sie damit beginnen, ihre materiellen Bedingungen zu verändern; jene, die frühe bewusste Schöpfer ihrer spärlichen Existenz waren, werden zu unbewussten Opfern ihrer eigenen Tätigkeit, selbst während der Beseitigung der Armseligkeit ihrer Existenz. Menschen die viel waren, und wenig hatten, haben nun viel und sind wenig.

Die Produktion neuer Waren, die „Öffnung“ neuer Märkte, die Schaffung neuer Arbeiter, dies sind nicht drei verschiedene Aktivitäten; es sind drei Aspekte ein und derselben Aktivität. Eine neue Arbeitskraft wird genau dann erschaffen, wenn eine neue Ware produziert wird; die Löhne, bezogen von diesen Arbeitern, sind selbst die neuen Märkte; ihre unbezahlte Arbeit ist die Quelle neuer Expansion. Weder natürliche noch kulturelle Barrieren halten die Ausbreitung des Kapitals auf, die Verwandlung der menschlichen Beschäftigung in entfremdete Arbeit, die Verwandlung ihrer Mehrwert-Arbeit in „Privateigentum“ der Kapitalisten. Dennoch ist Kapital keine Naturkraft; es ist eine Reihe von Tätigkeiten, die von Menschen jeden Tag ausgeführt werden; es ist eine Form des täglichen Lebens; seine weitere Existenz und Expansion setzt nur eine essentielle Bedingung voraus; die Bereitschaft der Menschen weiterhin ihre Arbeitsleben zu entfremden und dadurch die kapitalistische Form des täglichen Lebens zu reproduzieren.

 

1Anm. d. a., in dem Sinne ist sie entfremdent.

2Anm. d. Red., siehe Fußnote Nr. 2.

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[Analyse] Die Tyrannei der Flexibilität https://panopticon.blackblogs.org/2021/01/05/analyse-die-tyrannei-der-flexibilitaet-la-tirania-de-la-flexibilidad-2/ Tue, 05 Jan 2021 12:07:36 +0000 http://panopticon.blackblogs.org/?p=2014 Continue reading ]]> Auf spanisch gefunden auf Contra Toda Nocividad, die es ihrerseits aus dem französischen aus der anarchistischen Publikation Avis de tempêtes, übersetzt haben, die Übersetzung ins deutsche ist von uns.

[Analyse] Die Tyrannei der Flexibilität 

Der moderne Mensch ist bereits so tief entpersönlicht, dass er nicht mehr menschlich genug ist, um sich seinen Maschinen zu stellen. Der primitive Mensch vertraute auf die Macht der Magie und verließ sich auf seine Fähigkeit, die Naturkräfte zu lenken und zu kontrollieren. Der posthistorische Mensch, dem die immensen Ressourcen der Wissenschaft zur Verfügung stehen, hat so wenig Vertrauen in sich selbst, dass er eher bereit ist, seine eigene Ablösung, sein eigenes Aussterben zu akzeptieren, als die Maschinen zu stoppen oder sie auch nur mit geringerer Geschwindigkeit laufen zu lassen.“ Lewis Mumford, 1956Eine Epoche zusammenzufassen, ihre allgemeinen und charakteristischen Merkmale zu beschreiben, die sozialen Beziehungen, die sie bestimmen, zu durchdringen, ist vielleicht ein unmögliches Unterfangen. Es könnte sogar bedeuten – wie es gewöhnlich in den Arbeiten von Historikern, Anthropologen, Soziologen und Geschäftsleuten geschieht -, dass man zu einer verzerrten Herangehensweise gelangt, zu Gattungen zu gelangen, die die reale Beziehung zwischen Gesellschaft, Gemeinschaft und Individuum nicht kennen. Mit anderen Worten, wenn es um die Kultur einer bestimmten Zeit geht, besteht ein großes Risiko, dass die Individuen in den Schatten zu stellen, die sich davon lösen, die sich davon abwenden, die ein anderes Leben führen oder versuchen zu führen. Das menschliche Individuum ist jedoch nicht frei von einer Neigung, das Verhalten anderer zu assimilieren, und auch nicht von einer schrecklichen Geselligkeit, die ihn in einen fügsamen Sklaven oder einen wilden Soldaten verwandeln könnte. Wenn wir von der Kultur einer Epoche, einer menschlichen Gruppierung sprechen, beziehen wir uns immer auf die Mehrheit, obwohl man nie vergessen sollte, dass jedes Individuum, auch das geselligste, auch das anpassungsfähigste an die vorherrschenden Verhaltensweisen, seinen eigenen Weg geht. Wenn es viele Widersprüche erlebt hat, kann es sogar versucht sein, angesichts einer Enttäuschung oder einer Gelegenheit von der Regel abzuweichen und eine Ausnahme zu werden. Die Geschichte ist voll von Beispielen dafür, wie ein als allgemeine Regel akzeptiertes Verhalten, das eigentlich die Sitten und Gewohnheiten einer Gesellschaft begründet, oft mehrere unerwünschte Auswirkungen hat, die versteckter, heimlicher und doch ebenso konstitutiv für die Gesellschaft sind. Um ein einfaches Beispiel zu geben: Wenn mit dem Vormarsch des kapitalistischen Industrialismus die Kernfamilie dazu neigt, sich als Modell durchzusetzen (zuerst innerhalb der Bourgeoisie, dann in den anderen Schichten der Gesellschaft), entwickeln sich andere parallele Praktiken, vielleicht gegen dieses Modell. Von der Ehe, dem Eckpfeiler der patriarchalischen Kernfamilie. Es ist wichtig, sich immer vor Augen zu halten, dass keine allgemeine Beschreibung einer Epoche Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann, weder auf der Ebene der Gesellschaft noch auf der Ebene des Individuums.

Diese Prämisse scheint notwendig zu sein, um mit verheerenden Folgen für die Idee, für den Traum vom freien Menschen, zu skizzieren, was von der zeitgenössischen Mentalität die Beziehungen und Individuen beherrschen soll. In der Tat haben die Modifikationen und Veränderungen auf wirtschaftlicher, technologischer und sozialer Ebene eine solche Geschwindigkeit erreicht, dass jeder Versuch einer Beschreibung völlig vergeblich sein könnte. Es ist ein bisschen so, wie mit den brillantesten Ökonomen (und man muss schon genau hinschauen, um unter den Scharlatanen der Nützlichkeit jemanden zu finden), die es seit mindestens zwei Jahrzehnten aufgegeben haben, weitere Vorhersagen über die wirtschaftliche Entwicklung zu machen, weil sie erkannt haben, dass die Geschwindigkeit der Veränderungen so groß ist, dass jede Vorhersage, die schon von Anfang an fragwürdig war, nichts als reine Spekulation ist.

Selbsterfüllende Prophezeiungen, ein Konzept, das aus dem Bereich der Ökonomen stammt. Auf jeden Fall verbreiten und verallgemeinern sich die Veränderungen im Alltagsverhalten so schnell, dass wir bald nicht mehr die kritische Übertreibung brauchen, mit der der deutsche Philosoph des letzten Jahrhunderts vor dem moralischen Versagen warnte, das die Technifizierung der Welt mit sich bringt.

 

Von der Kaserne zum offenen Raum

Nach einer anfänglichen Periode chaotischer und wilder industrieller Entwicklung, die das verwüstete, was allgemein als unveränderlich galt, obwohl dieser Zustand seine eigene Geschichtlichkeit hatte, stellte die Industrialisierung ihre technischen Errungenschaften zur Schau, erwies sich aber als völlig unfähig, Elend und Armut zu verbergen. Sei es der Sozialismus mit der Idee einer Planwirtschaft nach den Bedürfnissen der Gesellschafts-Staates, sei es der demokratische Liberalismus mit der Idee einer Marktwirtschaft, die von einem Richter-Staat reguliert wird, der die verschiedenen Interessen vertritt, sei es der Faschismus mit der Idee einer korporatistischen Wirtschaft: Alle diese Massenströmungen haben versucht, eine Antwort auf die Lawine der Technologie und die daraus resultierenden beispiellosen Umwälzungen zu geben. Das „moralische Vakuum“, das durch die Entmenschlichung der sozialen Beziehungen entsteht, konnte nur eine Antwort von rechts und links erhalten. Parallel zur impliziten Standardisierung, die durch die industriellen Techniken der Zeit induziert wurde, wären die sozialen Beziehungen wiederum demselben Weg gefolgt. Die gesamte Gesellschaft begann einer riesigen Kaserne zu gleichen, die um den Konformismus früherer bäuerlicher Gesellschaften nicht mehr zu beneiden war, dank einer Uniformierungskultur, die während und nach dem Zweiten Weltkrieg an Fahrt gewann. Der Massenkonsum wurde damals als eine viel stärkere Kraft der Anwerbung, Nivellierung und des Zusammenhalts konzipiert (Ostermontag). Im Gegenzug für ein solch tristes Leben zeichnete sich für immer mehr von der Industriegesellschaft unterdrückte Schichten endlich ein gewisser materieller Wohlstand ab. In den 1970er Jahren hätte diese Mentalität vor allem angesichts des Ansturms von Außenseitern, Unzufriedenen, Träumern und jungen Rebellen Risse und Schwächen bekommen, zur Überraschung der alten revolutionären Kasernen, die dachten, dass ein neuer Anstrich der Wände für das Massenglück ausreichen könnte. Ablehnung von (nicht-kreativer) Arbeit, Ablehnung starrer Gewohnheiten, Ablehnung von Standardisierung und Uniformität, Ablehnung einer am Ort der Produktion verankerten Identität. Nachdem die subversiven Reste, die in diesen Angriffen enthalten waren, beseitigt waren, nachdem die revolutionären Minderheiten, die oft noch bestimmte Kasernen-Theorien (Marxismus, Leninismus, Staatssozialismus …) in sich trugen, getötet, eingesperrt und zerschlagen worden waren, hätte dieser proteanische Impetus sein trauriges Schicksal ereilt. Um, einmal verstümmelt und amputiert, in einer umfassenden Umstrukturierung des gesamten Unternehmens aufgefangen zu werden. Heute scheint diese Bewegung kurz vor der Realisierung zu stehen. Die alten ökonomischen Gleichgewichte wurden transformiert, die mit den neuen Produktionsmodellen unvereinbaren Mentalitäten wurden eliminiert oder isoliert, der Boden für das Wachstum eines anderen westlichen Kapitalismus wurde durch die Kraft der Delokalisierung, die Demontage der großen Produktionsstrukturen und ihrer Begleiterscheinungen befruchtet. Politik (Gewerkschaften, Parteien usw.), Automatisierung, Neudefinition des Verhältnisses zwischen Arbeit und Arbeitslosigkeit (Verwischung der Grenzen), gewisse Liberalisierung der Sitten usw. Auf jeden Fall erscheint die Kasernenmentalität von damals heute rückschrittlicher denn je. Die moralische Starrheit, die auf christlichen Vorbildern beruht, ist einem Konsumismus gewichen, für den die Verdinglichung aller Bereiche des Lebens, selbst der intimsten, zur Norm geworden ist. Und die brutale Beschleunigung dieser tiefgreifenden Veränderungen hätte nicht (ohne möglicherweise Aufstände zu provozieren, die in der Lage wären, die Türen zum Unbekannten zu öffnen), ohne die Einführung und Verallgemeinerung von Technologien in allen Bereichen der Gesellschaft nicht geschehen können.

 

Eine neue Mentalität in einer neuen Welt

Es lohnt sich es immer wieder zu wiederholen. Der Industrialismus, die Technologien, sind nicht nur für die Verwüstung und dauerhafte Vergiftung des Planeten und seiner Bewohner verantwortlich. Sie implizieren auch eine Mentalität, die das paradoxe Verdienst hat, viele Aspekte der Freiheit darzustellen, indem sie sie von innen heraus völlig entleert, d.h. sie unfähig macht, nach Freiheit zu streben. Ein funktionaler Liberalismus, der das genaue Gegenteil des anarchistischen Verhältnisses zu letzterem ist. Heute, in der neuen Welt, sprechen wir zum Beispiel nicht mehr von Arbeitsplätzen, sondern von offenen Räumen. Wir sprechen nicht von Produktion, sondern von Kreation/Schöpfung. Wir sprechen hier nicht von Mitarbeitern, sondern von Mitstreitern. Sie provoziert nicht Gehorsam, sondern Teilnahme. Überall blüht diese neue Mentalität, die entschlossen ist, die letzten Bastionen des „altmodischen“ Industrialismus zu beseitigen, gewinnt an Schwung, sammelt Ressourcen und Kapital auf, um zu den Märkten „durchzubrechen“. Und das verändert alles, stellt alles auf den Kopf. Wer hätte gedacht, dass das kleine schuldige Vergnügen am Samstagabend, nach einer harten Woche der Ausbeutung, eine Pizza von zu Hause zu bestellen, zu einem auf unzählige andere Bereiche ausgedehnten Ernährungsmodell werden würde? Dass der „Luxus“, eine Nacht in einem Hotel zu verbringen, sich „demokratisieren“ würde, um alle Wohnungen der Welt in potenzielle Hotelsuiten zu verwandeln? Auf die Gefahr hin, eher den Baum als den Wald zu betrachten, könnten wir sagen, dass die Technologie, die das, was wir über den „Menschen“ und seine Art, mit anderen in Beziehung zu treten, zu wissen glaubten, zutiefst erschüttert, durch einen dünnen Metallkasten mit einem hellen Touchscreen repräsentiert wird. Nach dem Start ist es unmöglich, mit irgendjemandem im Voraus einen Termin zu vereinbaren. Es ist zu starr, es ist nicht Teil der permanenten Flexibilität, zu der wir verurteilt sind (oder besser gesagt, die wir uns als schlechten Ersatz für Freiheit anmaßen zu leben). Es ist schwierig, sich auf eine Vereinbarung zu verlassen, denn alles unterliegt einer lebendigen, dringenden und kurzfristigen Änderung. Es ist kompliziert, ein Geheimnis oder eine beschämende Situation zu bewahren, denn alles wird geteilt, man muss teilen, auf die Gefahr hin, unsozial zu sein. Es ist unmöglich, nicht zu präzisieren, wo wir uns befinden. Man hat fast vergessen, dass ein Gespräch mit jemandem von Angesicht zu Angesicht nicht dasselbe ist wie die Worte auf oder in einem Bildschirm, möglicherweise hinter einem Menschen. Dass wir mit jemandem übereinstimmen, bedeutet nicht implizit, dass wir in letzter Minute durch diese verdammte technologische Prothese ändern können, was gestern festgelegt wurde. Wir haben vergessen, dass die Zeit, die wir mit jemandem verbringen, die Anwesenheit dieses Geistes ausschließt, der mit dem Klang der Glocken und der wechselnden Helligkeit in die Beziehungen eindringt. Wir haben vergessen, dass es nicht möglich ist, sich einer intensiven, manchmal schmerzhaften, aber besonders humanen Tätigkeit des Nachdenkens hinzugeben, wenn jeden Moment, wie ein Gefangener in seiner Zelle, der technologische Aufseher einbrechen kann.

Die wenigen „Partisanen“, die trotzdem weitermachen oder einfach versuchen, die Präsenz des elektronischen Halsbandes des Handys einzuschränken oder drastisch zu reduzieren, haben ein schweres Leben. Nicht nur, weil sie durch den Ring springen müssen, wenn sie auf den Kontakt mit einer Institution, einer Firma, einem Eigentümer, irgendeinem Arzt warten (den sie anrufen werden, wann und wie es ihnen passt), nicht nur, weil es fast keine Arbeit mehr gibt, ohne dass sie gezwungen sind, ständig mit dem Chef und mit Kollegen zu kommunizieren, nicht nur, weil ihnen Einladungen zu verschiedenen sozialen Beziehungen durch den Kopf gehen (die fast ausschließlich durch den Geist fixiert werden, und natürlich in letzter Minute, vorbehaltlich ewiger Änderungen von Zeit und Ort …), sondern weil sie die Gefahr laufen, jeglichen Kontakt zu verlieren (wenn sie ihre digitale Präsenz nicht erneuern, hören sie in den Augen der anderen auf zu „existieren“).

Auch sie haben ein schweres Leben, denn es ist nicht nur die Kaserne oder der Priester, es ist nicht nur die Schule oder die Arbeit, die sie all das erleiden lässt, sondern auch ihre Angehörigen tragen zu dieser Tyrannei der Flexibilität bei. Sie sind auch dem Senden von Bits und Bytes ausgesetzt. Sie erzwingen auch, manchmal gegen ihren (ausdrücklichen) Willen, ein verpflichtendes und schmerzhaftes Wissen mit dem Geisterwächter, bauen, Ring um Ring, Kette um Kette, das technologische Halsband um ihren Hals. Im Namen der Freundschaft, der Gefährtenschaft, der Liebe, des Teilens, natürlich. Und das ist vielleicht der schrecklichste Aspekt: Wie macht man einem Freund klar, dass man nicht nur nicht telefonieren kann, sondern es auch nicht gerne tut? Wie stellen man sicher fest, dass ihr Ärger, ihre Frustration, ihr Unmut nach einer erneuten Terminverschiebung durch den Geisterwächter nicht in eine hochmütige Starrheit, eine elitäre Arroganz, eine Unfähigkeit, die Sorgen anderer zu verstehen, übergeht? Manchmal hat man den Eindruck, unter den letzten Mohikanern, dass alles umsonst ist. Ermüdet davon, jähzornig und unflexibel zu erscheinen, nimmt man schließlich in Kauf, eines zu werden: zu selten, zu starr und „uncool“.

Bereits Anfang der 1990er Jahre warnte uns ein anarchistischer Text vor der Ankunft der neuen Mentalität, die in den Labors der Macht geschmiedet wurde: flexibel, inhaltsarm und basierend „auf kurzfristiger Anpassung, auf dem Prinzip, dass nichts sicher ist, aber alles. festgelegt werden kann“, es kann gelöst werden. Diese Mentalität „produziert eine moralische Degradierung, in der die Würde der Unterdrückten am Ende mit der Garantie des schmerzhaften Überlebens verhandelt und verkauft wird“. Wo „alles zusammenarbeitet und übereinstimmt, um Individuen zu bilden, die in jeder Hinsicht bescheiden sind, unfähig zu leiden, dem Feind zu begegnen, zu träumen, zu wünschen, zu kämpfen, zu handeln“, können sich Anarchismus und Anarchisten nur auf die Gefahr hin anpassen, als solche zu verschwinden. Und das ist vielleicht das, was passiert, obwohl es schwer zu erkennen und zu veranschaulichen ist, wir sind darauf reduziert, uns auf ein dummes und begrenztes Bild wie das des weit verbreiteten Gebrauchs des kommunikativen Halsbandes zu berufen. Wie könnten Anarchisten ernsthaft einen Vorschlag wie den der permanenten Verbindung vor nicht allzu langer Zeit verbreiten, um zu versuchen, seinen schrecklichen Konsequenzen zu entkommen? Wie könnte ein Anarchist am Ende zustimmen, umzukehren? Permanent mit eingeschaltetem Mikrofon und GPS, d.h. auch jenseits jeglicher „Notwendigkeit“, die als unvermeidlich angesehen wird (wie z.B. für die Arbeit zur Verfügung zu stehen), sich nicht nur unangemessenen Abhör- und Verfolgungsmaßnahmen aussetzt, sondern auch jeder bekannten Person oder jedem Außenstehenden, der mit unsichtbaren Gitterstäben in der Tasche den Käfig betritt? Ende der 1990er Jahre hatte ein Universitätsaufsatz das Verdienst, die Charakteristika des neuen Geistes einzufangen: „Das Bild des Chamäleons ist verlockend, um den Fachmann zu beschreiben, der es versteht, seine eigenen Beziehungen so zu gestalten, dass er leichter auf andere zugehen kann“, denn „ Anpassungsfähigkeit ist der Schlüssel, um den Geist des Netzwerks zu erreichen“. Deshalb ist es „realistisch, in einer vernetzten Welt ambivalent zu sein …, weil die zu bewältigenden Situationen selbst komplex und unsicher sind“. Ohne zu viel Heuchelei wurde erkannt, dass dies gleichbedeutend ist mit der „Aufopferung … der Persönlichkeit, verstanden im Sinne einer Seinsweise, die sich unabhängig von den Umständen mit ähnlichen Haltungen und Verhaltensweisen manifestieren würde“. Kurz gesagt, „um sich in einer verbindenden Welt niederzulassen, muss man ausreichend formbar sein“. Und wer würde nicht akzeptieren, einer zu werden? Dann besteht kein Zweifel, dass „Dauerhaftigkeit und vor allem Beständigkeit in sich selbst oder dauerhaftes Festhalten an“ Werten „als inkongruente oder pathologische Starre kritisiert werden kann. Und, je nach Kontext, als Ineffizienz, Unhöflichkeit, Intoleranz, Unfähigkeit zu kommunizieren“.

 

Der zu zahlende Preis

Die Ablehnung der Mentalität, die das Boot und seine Welt einflößen, scheint zu bedeuten, dass man sich sein eigenes Grab schaufelt, fern und vergessen bleibt. Nicht verbunden zu sein, ist gleichbedeutend damit, unsozial, mürrisch, intolerant und starr zu sein. Und es besteht kein Zweifel daran, dass der Preis, der für den Versuch zu zahlen ist, sich nicht von der Flut der „Kommunikations“-Technologie mitreißen zu lassen, im Laufe der Jahreszeiten und Jahre weiter steigen wird. Ob man nun zu den wenigen Deserteuren und Widerspenstigen gehört, die sich weigern, täglich von Anrufen und Nachrichten terrorisiert zu werden, oder ob man zu einer Einsamkeit verurteilt ist, wie sie kürzlich ein chilenischer Gefährte beschrieb, als die, die mit einer verborgenen Existenz einhergeht. Denn vielleicht ist es ja gerade eine neue Form der „Klandestinität“, die man erleben muss: die der Flucht aus den Tentakeln der technologischen Krake. Nicht nur, dass es nicht so sehr darum geht, der böswilligen Aufmerksamkeit der Repressionsmaschine in Uniform und Robe zu entgehen, sondern Schritt für Schritt eine viel wichtigere tägliche Repression zu bekämpfen, wenn man das so sagen kann, nämlich die Anpassung an die neue Welt des Alptraums in Bewegung.

Die Krake ihrer Antennen und Lichtleitfasern zu berauben, würde in der Tat viel an Bedeutung verlieren, wenn sie ihr Gift kampflos in unsere Adern und die unserer Komplizen und Liebsten eindringen ließe. Wie viel, um Schritt für Schritt eine viel wichtigere tägliche Verdrängung zu bekämpfen, wenn man so sagen darf, die die Anpassung an die neue Welt des Alptraums in Bewegung ist.

„Der Mensch kann nur das außerhalb seiner selbst bauen, was er zuerst in sich selbst erdacht hat“, warnte ein Dichter, der vom Unmöglichen träumte. Um eine Welt ohne Autorität zu errichten, muss man sie zunächst konzipieren. Es darf nicht programmiert, schematisiert oder gemessen werden. Nein, nur durch die Vorstellung, im doppelten Sinne des Wortes: an sie zu denken, heißt sie zu befruchten. Aber um eine Welt zu begreifen, müssen wir etwas anderes in uns haben, das keine Reflektion ist. Und genau dieser Aspekt des menschlichen Wesens ist nun das Ziel, Angriff um Angriff, der technologischen Welt. Wir können nicht gegen diesen „neuen Menschen“, diesen flexiblen und vernetzten Zombie – der in jedem von uns geboren wird – kämpfen, ohne in unseren Tiefen und in unseren Affinitätskreisen eine Welt zu erdenken, eine fiktive, einen Traum, der sich qualitativ von der Käfigwelt unterscheidet, in der wir gezwungen sind, zu überleben. Dieses Imaginäre kann nicht in unserem Gehirn und Herzen abgeschottet bleiben, es sei denn, wir ersticken vor Schmerz: Es muss auch in die Realität eindringen. Jenseits der zu führenden Kämpfe, der zu erwägenden Handlungen, der Konflikte, an denen man teilnimmt, oder besser gesagt, mit denen man vertraut ist, stellt sich die Frage nach der praktischen Ethik. Lehnen wir die Invasion der Elektronik so weit wie möglich und so weit wie unmöglich ab, kultivieren wir keine Abhängigkeit von technologischen Hilfsmitteln, passen wir uns nicht dem Zeitalter des Augenblicks an. Den Umgang mit Tinte auf Papier fortsetzen, um sich zu etwas mehr zu öffnen als einer schäbigen Reproduktion des Vorhandenen, sich den Inhalt dieser fast veralteten Objekte, die so schnell den Staub der Zeit aufsaugen, aneignen, um ihre Einzigartigkeit aus einer begrenzten Erfahrung heraus zu bereichern. Trage nicht zur Verarmung der Sprache bei, Schöpfer der Welten. Vermeide den Einsatz von Technologie, um Probleme zu lösen, die diese nicht erst seit gestern benötigen. Lehne das Modell des „neuen Menschen“, das sich um uns herum ausbreitet, ab, auch um den Preis, obsolet, unbehandelbar, irritierend zu erscheinen. Hier ist der neue Partisan, eine neue Art von Untergrund, der benötigt wird, um zu kämpfen, zu handeln und zu atmen, in einer komplett vernetzten Welt.

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[Analyse] Automatisierung, Robotik und Arbeit in der 4ten und 5ten industriellen Revolution https://panopticon.blackblogs.org/2020/08/30/analyse-automatisierung-robotik-und-arbeit-in-der-4ten-und-5ten-industriellen-revolution/ Sun, 30 Aug 2020 12:58:33 +0000 http://panopticon.blackblogs.org/?p=1750 Continue reading ]]> Zuerst haben wir diesen Text auf dem Blog Contra toda Nocividad gefunden und übersetzt, dann ist uns aber aufgefallen dass dieser Artikel urpsrünglich auf der englischsprachigen anarchistischen Publikation 325 erschienen ist, wir haben dann festgestellt dass auf der spanischsprachigen Version nicht nur alle Fußnoten fehlten, sondern auch ganze Sätze, daher haben wir den Rest von der englischen übernommen. 

[Analyse] Automatisierung, Robotik und Arbeit in der 4ten und 5ten industriellen Revolution

Seit Beginn der ersten industriellen Revolution in den 1700er Jahren haben die aufeinander folgenden industriellen Revolutionen die Arbeit, die Arbeiter selbst – und schufen sogar das Konzept der „Arbeiterklasse“ -, ihre Lebensweise, ihre Integration in die städtischen Höllen, die Fabrikgefängnisse, die Mühlen und die Bergwerksschächte tief greifend beeinflusst; ihre Kinder haben die Demütigung, ja sogar den Tod der modernen Sklaverei jener Zeit nicht verziehen. Die Industrialisierung, das Ergebnis der Mechanisierung der Industrie, nährte die moderne Sklaverei und die Domestizierung der Menschen in jedem Winkel der expandierenden Imperien und Kolonien und im Rest des lebenden Planeten. Wir stehen nun am Beginn einer vierten (4IR) und sogar fünften (5IR) industriellen Revolution, die unsere Gefangenschaft in der technologischen Gesellschaft genauso radikal beeinflussen wird wie in den früheren.

Der Begriff der Arbeit selbst, sogar die Arbeit selbst wird sich ändern, bis sie wieder unkenntlich wird. Bereits in der „Coronavirus-Pandemie“ und den Ausgangssperren, die Milliarden von Menschen auf der ganzen Welt verhängt wurden, tauchen die Zeichen der kommenden industriellen Revolutionen auf, und Millionen verlieren Berichten zufolge in vielen Ländern ihren Arbeitsplatz. So wird beispielsweise erwartet, dass ein Fünftel aller Arbeiter im Vereinigten Königreich, d.h. mehr als 7 Millionen, aufgrund von Entbindung und Ausgangssperre arbeitslos sein werden, was sich weiterhin auf eine sich abschottende Wirtschaft auswirkt.

Seit wir begonnen haben, diese Analyse zu schreiben, war es schwierig, konkrete Zahlen zur Arbeitslosigkeit zu erhalten, da 70 % der Unternehmen ihre Lohnsklaven auf so genannten „Urlaub“ setzen, d.h. sie bleiben der Arbeit fern, werden aber immer noch bezahlt. Unterdessen behaupten viele dieser Kapitalisten, sich in einer wachsenden Liquiditätskrise zu befinden: 59% von ihnen gaben an, höchstens drei Monate lang über Reservefonds zu verfügen. Etwa 140.000 Unternehmen beantragten das „Coronavirus Arbeitsplatzbeibehaltungsprogramm“ der Regierung, das 80 % des Gehalts eines Arbeitnehmers bis zu einer Obergrenze von 2.500 Pfund pro Monat dafür zahlt, zu Hause zu bleiben. Wer weiß, wie lange das dauern wird, denn die Urlaubsregelung verschiebt das Unvermeidliche, das bereits geschieht. Auf der anderen Seite des Atlantiks, in den Vereinigten Staaten, haben in nur einer Woche 4,4 Millionen Menschen Arbeitslosengeld beantragt, insgesamt über 30 Millionen seit Beginn der Coronavirus-Pandemie. Sogenannte Wirtschaftsexperten sagen eine „Finanzkrise“ voraus, vergleichbar mit der Wall-Street-Krise von 19291.

Selbst in China, das die letzte Rezession überlebt hat, stieg die offizielle Arbeitslosenquote im Dezember, als das Virus angeblich ausgebrochen sein sollte, um 3 Millionen (0,7%, von 5,2 auf 5,9%). Tatsächlich begann all dies, noch bevor der Covid-19 auf den Schauplatz der Krise brach, als die kapitalistischen Herren noch mit den Nachwirkungen der letzten „Finanzkrise“ und dem anhaltenden finanziellen Zusammenbruch zu kämpfen hatten. Dies ist vor allem auf einen Aspekt der 3. industriellen Revolution zurückzuführen, das Internet, das die Nutzung für physische Geschäfte ersetzt, z.B. die Online-Lieferung, wo wir unsere Beziehung zu Arbeit, Automatisierung und Robotik in der Gegenwart begannen.

Die Ersetzung menschlicher Arbeitskräfte durch Roboter oder einen automatisierten Prozess hat ein solches Tempo erreicht, dass inzwischen 50% der Manager in 45 Ländern der Welt die Einführung der Automatisierung in ihren Unternehmen beschleunigen, da die Arbeiter aufgrund des Ausbruchs des Coronavirus gezwungen sind, zu Hause zu bleiben. Der Kapitalismus bereitet sich auf eine Welt nach der Krise vor. Kurzfristig sind nach Schätzungen des Staates etwa 1,5 Millionen Arbeiter in Großbritannien einem hohen Risiko ausgesetzt, ihren Arbeitsplatz durch die Automatisierung zu verlieren. Man geht davon aus, dass es bis 2035 möglich wäre, 86% der Arbeitsplätze im Restaurant, drei Viertel der Arbeitsplätze im Einzelhandel und 59% der Arbeitsplätze im Freizeitbereich zu automatisieren. Welch ein Zufall, dass diese zu den Branchen gehören, die am stärksten von einer „Epidemie“ betroffen sind, die jetzt enorme Effizienzsteigerungen erfordert, wenn einige Unternehmen nicht weitermachen wollen. „Die Lohnassistenten in den Supermärkten haben bereits die Hauptlast des Technologie-Phänomens getragen“, sagte das Nationale Statistikamt im vergangenen Jahr, „25,3% der Arbeitsplätze sind zwischen 2011 und 2017 verschwunden“.

Einer der Arbeitsbereiche, der in letzter Zeit einen dramatischen Anstieg der Automatisierung und Robotik erlebt hat, ist das gesamte Logistik-, Vertriebs- und Lieferimperium sowie die Supermärkte. Dies ist nicht überraschend, wenn man die rasche Einführung von Selbstbedienungskassen in Supermärkten sieht, die mit Videoüberwachung ausgestattet sind, um den Diebstahl von „lebenswichtigen Gütern“ zu verhindern. McDonalds verfügt bereits über digitale Auftragskioske, um die Notwendigkeit zu beseitigen, mit deprimierten Mitarbeitern hinter dem Schreibtisch zu sprechen. Oder Amazon, die in den Verkauf von Lebensmitteln expandiert, die einen Supermarkt in Seattle mit nächtlichen Mitarbeitern hat, die sich stattdessen auf Sensoren verlassen, um zu verfolgen, was die Käufer aus den Regalen nehmen (sogar um zu verhindern, dass sie Produkte stehlen), und die „Grab-and-Go“-Technologie verwenden, um Kunden Rechnungen auszustellen und die letzten Schlangen zu beseitigen2. Dies mit dem Nachweis, dass viele Einzelhändler, die während der Covid-19-Pandemie vor kurzem geöffnet blieben, sich geweigert haben, physisches Bargeld zu erhalten, weil die Gesellschaft Angst vor verunreinigten Münzen und Banknoten hat. Die „bargeldlose Gesellschaft“ hat durch die Anhebung der Grenzwerte für kontaktlose Zahlungen und die ängstlicheren Konsumenten, die ihre Suchtgewohnheiten auf den Online-Verkauf übertragen, einen Aufschwung erfahren, was den Verlust von Arbeitsplätzen auf der Straße noch verstärkt hat.

Amazon und andere große Online-Einzelhändler sind einige der wenigen kapitalistischen Unternehmen, die tatsächlich profitieren, abgesehen von großen Supermärkten wie den Imperien von Lidl, Tesco und Wal-Mart oder Pharmazeutika wie GlaxoSmithKline und AstraZeneca oder Biotech-Giganten wie Gilead Science und Moderna. Es wird geschätzt, dass Amazons Gewinne auf 10.000 Dollar pro Sekunde, Tag und Nacht, gestiegen sind. Das ist nicht überraschend, wenn das „Amazonas-Imperium“ noch vor der Schließung expandiert und die Konkurrenz und den Lebensmitteleinzelhandel aufkauft, der bereits zu den größten Lohnsklavenhändlern gehört, die man sich vorstellen kann. Dies sind nur einige der ganz offensichtlichen Beispiele in der Konsumgesellschaft an der Oberfläche.

Im Grunde verändert sich das Logistiksystem dramatisch, ganze Lagerhäuser werden in Roboter und Automatisierung verwandelt. Ocado, der Online-Lebensmittelgigant, führte ein vollständig robotergestütztes Fulfillment-Center in Andover, Großbritannien, ein, bevor es aufgrund eines technischen Versagens abbrannte. Durch die Kombination von Robotik, künstlicher Intelligenz und 4G-Netzwerkkommunikation erfüllt das Lagerhaus die Anforderungen der 4. industriellen Revolution, die behauptete, Lebensmittel viel schneller zu sammeln als Menschen3. Das „Amazonas-Imperium“ ist mit einer wachsenden Zahl von Vertriebszentren lange vor allen anderen im High-Tech-Logistikspiel gewesen. Kiva-Roboter transportieren Produktregale zu menschlichen Arbeitern, die dann die zu versendenden Artikel aufnehmen, zusammen mit den Roboterarmen und Förderern, die die Produkte durch das Lager bewegen4. Sogar andere Firmen wie Alibaba, die gigantische Version von Amazon in China, haben ihre eigenen Versionen mit dem Namen Quicktron. Um dabei zu helfen, forschen viele Unternehmen auch an vollautomatischen Gabelstaplern und setzen diese ein, wie z.B. Toyota, das bereits seinen neuen AGV-Autopiloten5 entwickelt hat, der den Menschen vollständig eliminiert, um der Maschine beim Transport schwerer Güter in der Fabrik zu helfen; sie braucht nicht einmal einen Menschen, um die Batterie zu wechseln. Und um diese Produkte zu liefern? Kurz vor dem Erscheinen des Covid-19 in Milton Keynes, England, dem leuchtenden Beispiel einer „neuen Stadt“, begann Starship Technologies6, das von einem Skype-Mitbegründer ins Leben gerufen wurde, nach der Eroberung von Teilen der USA zum ersten Mal in Großbritannien mit autonomen Robotern, die Lebensmittel in das Zentrum eines Stadtgebiets liefern.

Smartphone-Benutzer können jetzt über die Starship-Lieferanwendung eine Lieferung bei Lebensmittel- und Getränkeanbietern anfordern. Ihre Werbung wirbt für den „grünen kapitalistischen“ Nutzen der Verringerung von Staus auf den Straßen der Stadt, der dem moralisch bewussten Verbraucher zufällt. Es kann Sie auch aufzeichnen und die Polizei rufen, wenn Sie angegriffen werden, und Ihnen sogar mitteilen, wer dies tut. Überall auf der Welt hören wir auch, dass Drohnen durch Covid-19 in den Augen der Menschen mehr Legitimität erhalten. Anstatt die Feinde des Kapitalismus in der Wüste zu bombardieren, wie sie es bis vor kurzem getan haben, liefern die Drohnen jetzt Medikamente in entlegene Gebiete und an isolierte ältere Menschen, denn es gibt nichts Besseres, als sie für Propagandazwecke zu nutzen.

Diese Firma experimentiert nicht nur mit Drohnen und Robotern, um Produkte zu liefern, was bereits im allgemeinen Bewusstsein ist, sondern auch vollautomatische Fahrzeuge sind auf dem Vormarsch7. Drohnen und Roboter können nur so viel befördern, deshalb testen sie jetzt Liefer- und Schwerlastfahrzeuge, die in der Lage sind, das zu tun, was neuere automatisierte Fahrzeuge leisten können. Beispiele sind der Volvo Vera, ein völlig autonomer Lieferwagen, der nicht einmal einen Ersatzfahrer benötigt, und Dominote, der sich mit dem Roboterunternehmen Nuro zusammenschließt, um seine R2-Pizzen ohne Fahrer zu bekommen, oder wie wäre es mit einem autonom betriebenen Laden? Kleinere Einkäufe einiger Artikel im Supermarkt; Robomart kombiniert E-Commerce, autonome Fahrzeuglieferung und sogar kostenlose Abholtechnologie und macht damit das, was früher der Milchmann tat. Es besteht kein Bedarf an Abholpersonal, Fachhändlern, Auslieferungsfahrern und dem gesamten Konzept der Geschäfte selbst8. Interessant ist, dass während der Covid-19-Pandemie dieselben Arbeiter, die ständig als „Schlüssel-“ oder „unentbehrliche“ Arbeiter angepriesen werden, auch diejenigen sind, denen der Verlust ihrer Arbeitsplätze durch die Automatisierung droht.

Die Zahl der Arbeiter, die aufgrund dieser technologischen Erneuerungen arbeitslos werden, ist jenseits dessen, was man denkt, der Logistiksektor ist nur eine Momentaufnahme, wie eine Branche betroffen sein wird. Es wird geschätzt, dass allein in den USA 47% der Arbeitsplätze aufgrund der Automatisierung verloren gehen werden, während in der EU 54% in die Arbeitslosigkeitsfalle tappen werden. Der „Ludditen-Trugschluss“9 und die „technologische Arbeitslosigkeit“10 sind keine Verschwörung mehr, da nicht nur der Produktions- oder Vertriebssektor von der Automatisierung bedroht ist, sondern auch der Dienstleistungssektor, wie etwa das Gesundheitswesen, das bereits seinen „gerechten Anteil“ erhalten hat, der sich seit „der Pandemie“ beschleunigt hat, wobei China mit Robotern, die Medikamente verteilen, indem sie Menschen auf das Virus scannen11, an der Spitze steht.

Sogar der 3D-Druck, ein weiterer Faktor der beginnenden Vierten Industriellen Revolution, ist bereits fortgeschritten, sogar ein menschliches Herz kann gedruckt werden12. Das macht die Ghost In The Shell13 Science-Fiction nicht nur noch realitätsnäher, sondern wirkt sich auch auf die Arbeit selbst aus. In jüngster Zeit wurden die Massenmedien mit Berichten über Unternehmen und Einzelpersonen überschwemmt, die 3D-Drucker zur Herstellung von PIDs verwenden, um den Gesundheitsdiensten entgegenzuwirken, die durch die Sparmaßnahmen der Regierung unter Druck geraten sind14. Dies bedeutet erhebliche Änderungen in der gesamten Umsetzung und Begründung des 3D-Drucks, nicht nur in Bezug auf bestimmte Elemente. Selbst komplizierte Gegenstände können weltweit von jedem gedruckt werden, der das Geld hat, in Technologie zu investieren, aber es bedeutet, dass die Art und Weise, wie Gegenstände hergestellt werden, nicht auf einen Schlüsselstandort beschränkt ist. Bald werden Objekte eher gedruckt als hergestellt werden, es wird noch weniger Bedarf an der Mitwirkung der Arbeiter geben, wenn sogar ein Artikel für die Privilegierten zu Hause gedruckt werden könnte. Es eröffnet auch die Möglichkeit, Technologien zu kombinieren, wie die jüngsten Experimente mit Robotern durch MX3D, um eine Brücke, die Auswirkungen auf die Beschäftigung in der Bauindustrie hat, in 3D zu drucken15.

Die spekulativeren Formen der Nanotechnologie (wie z.B. molekulare Assembler oder Nanofabriken, die es derzeit noch nicht gibt) erhöhen in Zukunft die Möglichkeit von Geräten, die automatisch jedes spezifizierte Produkt mit den richtigen Anweisungen und den erforderlichen Rohstoffen und Energie herstellen können. Die Zukunft wird eine Verlagerung des Schwerpunkts von der Art und Weise erleben, wie Fabriken und ihre physikalischen Prozesse sich ändern, um zu produzieren, wie Automatisierungsprozesse umprogrammiert werden, wie ein Softwareprogramm einfach umprogrammiert wird, um mit derselben Maschine etwas anderes zu produzieren. Sogar die Fähigkeit, neue Maschinen zu produzieren, hat sich mit dem 3D-Druck bereits herauskristallisiert, der allmählich auch für die Herstellung von Drohnen allein verwendet wird. Es ist ganz klar, dass Robotik, künstliche Intelligenz und 3D-Druck zusammen mit anderen nicht erwähnten Teilen der 4. Industriellen Revolution die Arbeitslosigkeit erhöhen werden, darunter Nanotechnologie, Quantencomputer, Biotechnologie, das industrielle Internet der Dinge, dezentralisierter Konsens und drahtlose Technologien der fünften Generation (5G). Es geht auch darum, wie Staat und Kapitalismus auf diese oder die nächste „Coronavirus-Pandemie“ reagieren werden, die sich in der bereits bestehenden „technologischen Arbeitslosigkeit“ manifestiert.

Es gibt bereits viele Theorien von Regierungen und ihren neoliberalen kapitalistischen Experten darüber, wie mit der daraus resultierenden Massenarbeitslosigkeit umzugehen ist, die zu einem endlosen Vormarsch neuer Technologien führen könnte. Eine Abhilfe, die von den Behörden diskutiert und angewandt wird, ist ein „Universelles Grundeinkommen“, das von der Gesellschaft verlangen würde, die Maßnahme über Steuern zu finanzieren, wobei nur Arbeitslose als Begünstigte in Frage kämen, aber früher oder später wird die Maßnahme auf alle ausgeweitet werden, unabhängig von ihrem Beschäftigungsstatus.

Für diejenigen, die sagen, dass die Menschen Geld umsonst bekommen würden, wären die Begünstigten gezwungen, eine freiwillige Arbeit zu leisten, um der Gesellschaft etwas zurückzugeben, ähnlich wie von den Arbeitslosen im Vereinigten Königreich erwartet wird, dass sie „unbezahlte Arbeit“ leisten16. Dies würde eine scheinbar ganzheitliche Kultur des „Wir sind alle zusammen“ schaffen, wo haben wir das schon einmal gehört?

Die vollständige Überarbeitung würde die Vorstellung, dass Einkommen auf Arbeit basiert, trennen und eine „utopische Gesellschaft“ schaffen, die frei von anderen Aktivitäten wäre. Dies ist die so genannte „Post-Knappheit“, eine Wirtschaft, die auf Produkten beruht, die im Überfluss ohne oder mit minimaler menschlicher Arbeitskraft hergestellt werden; statt einer von den Regierungen diktierten Arbeitspolitik werden sie die Freizeit auf allen Ebenen verwalten, statt einer echten Rente wird es subventionierte Freizeit geben. Sie brauchen niemanden um sich zu haben, „soziale Distanzierung“ ist längst Realität, Entfremdung ist mit dem immer heller werdenden Smartphone-Bildschirm und der zunehmend privilegierten Arbeit von zu Hause aus eine Tatsache. Stadtplanung und Bildung, Gesundheitsdienste für die Einheimischen, alles wird überprüft, die Idee des „sinnvollen Lebens“ wird modifiziert, wahrscheinlich diktiert. Die natürliche Welt wird bewirtschaftet, die nächsten industriellen Revolutionen versprechen eine sauberere, grünere Welt, genannt „grüner Kapitalismus“, am Horizont. In der „Gefängnisinsel“ Großbritanniens und in anderen Ländern sieht man bereits den Beginn all dieser Veränderungen mit „intelligenten Städten“, aber auch die Maschinen werden miteinander kommunizieren, und es werden keine physischen Servicemitarbeiter mehr benötigt, wenn Sie stattdessen einfach einen KI-Algorithmus anfordern17.

Daher die Anfänge der 5. Industriellen Revolution, offenbar eine ethisch bewusstere Beziehung zur Technologie? Eher würde das Problem anderswo angegangen, alles könnte grün werden, sogar der Faschismus, aber die Zerstörung der Erde wird weitergehen, wer wird davon profitieren? Wenn die industriellen Revolutionen und technologischen Beweise etwas zeigen, dann, dass die meisten von den vermeintlichen Vorteilen „ausgeschlossen“ werden. Es ist nicht alles, was in diesen Utopien und Träumen an HGWells erinnert, denn wir als Anarchisten verstehen, dass die Autorität nie von ihrer Macht ablassen kann, insbesondere mit ihrem privilegierten Wissen über neue Technologien. Alfredo Bonnano sagte in seiner Analyse „Vom Krawall zum Aufstand“ bereits 1988 voraus, dass wir am Anfang eines neuen Gefängnisalptraums stehen, der in einer postindustriellen Gesellschaft entstehen wird. Die Produktion würde durch Robotik ersetzt und ebenfalls dezentralisiert in produktive „Inseln“, in denen das Reich des Glücks regieren würde, umgeben von physischen Grenzen obendrein. Diese „Inseln des Privilegs“ gibt es bereits, und das Vereinigte Königreich ist ein Beispiel dafür.

Bonnano’s Konzept der „Teilhabenden“ und „Ausgeschlossenen“ wird hier mit den genauen Details hergestellt, es gibt bereits eine Kluft zwischen denen, die wissen, wie man Maschinen manipuliert oder Experten in der Sprache der Technik sind. „Ausgeschlossen“, diejenigen, die dieses Privileg nicht haben, von Anfang an gemieden, ausgefiltert, die es abgelehnt haben oder einfach nicht in das utopische Bild passen. Die „Ausgeschlossenen“ waren im August 2011 auf der Straße18, wohl wissend, dass ihnen ihre Zukunft verwehrt, ja sogar abgelehnt wurde. Nun gesellen sich zu ihnen diejenigen, die gezwungen waren, die Praxis der falschen Versprechungen einer nie endenden Beschäftigung aufzugeben, und die alle mit ihrer Situation unzufrieden sind.

Wie viele von uns können es sich leisten, einen 3D-Drucker zu benutzen? Wer hat gesagt, dass die Jobs von heute morgen ersetzt werden und dass viele nicht in der Lage sein werden, sich an die Sprache anzupassen, die sie ohnehin schon schwer verstehen oder gar wollen? Werden sie misstrauisch, wenn sie sich nicht anpassen? Ein Beispiel dafür ist, wie die künstliche Intelligenz bereits jetzt eine massive Kluft zwischen denjenigen aufreißt, die weiterhin in neuen digitalen Dienstleistungsjobs beschäftigt sein werden, die immer noch menschliche Eingaben erfordern, wie z.B. die Ausführung von Algorithmen für Aufgaben, die sie nicht ausführen können oder die Verwendung von Algorithmen zur Ausführung anderer Aufgaben, und denjenigen, die diese neuen Jobs nicht ausführen können, diejenigen, die niemals Sprache oder Ablehnung verstehen. In der Realität wird vorhergesagt, dass die KI die Aufgabe noch nicht vollständig eliminieren wird, es geht vielmehr darum, dass diejenigen, die damit umgehen können, es beherrschen und sogar in der Lage sein werden, andere stärker zu manipulieren, als dies bisher möglich war. Die Technokraten, Wissenschaftler und Psychiater in weißen Laborkitteln der neuen Post-Knappheit-Ordnung werden nur so viele Informationen geben, dass der Rest das Gefühl hat, teilzunehmen, aber merkt, dass sich alle so leicht täuschen lassen.

Indem die „Ausgeschlossenen“ und die „Teilhabenden“ eine Linie zwischen sich gezogen haben, haben sie deutlich gemacht, was ihre Pläne sind; dies wird zu Ausbrüchen von Rebellion führen, da der Prozess der Ausgrenzung immer schneller voranschreitet. Angesichts steigender Arbeitslosenzahlen aufgrund von Covid-19 und der daraus resultierenden deutlichen Wirtschaftskrise und keiner Garantie, dass die Regierungen der Welt für diejenigen sorgen werden, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, öffnet sich bereits der Weg für diese Veränderungen, aber auch der Weg zur Wiederbelebung. Es wird erwartet, dass mindestens 11 Millionen Menschen auf der Gefängnisinsel Großbritanniens in „finanzielle Schwierigkeiten“ geraten werden, von denen viele bereits in einer kürzlich durchgeführten Umfrage des Citizens‘ Council sagten, dass sie ihre Miete, ihre Versorgungsrechnungen, ihre Steuern und sogar ihre Lebensmittel nicht bezahlen können. Was ist mit Millionen von Menschen auf der ganzen Welt, die sich in einem so genannten „unsicheren Beschäftigungsverhältnis“ oder in der „Gig Economy19“ befinden? Laut der Internationalen Arbeitsorganisation wird geschätzt, dass es seit der „Finanzkrise“ im Jahr 2008 zu einer massiven Verlagerung hin zu Zeitarbeit oder Arbeitslosigkeit gekommen ist; ca. 75% haben eine solche Arbeit ausgeübt, und im letzten Jahr arbeiteten etwa 4,7 Millionen Menschen im Vereinigten Königreich in gigonomy20 Jobs. Was passiert, wenn sie ihre Rechnungen oder ihr Essen nicht bezahlen können oder wenn Zwangsräumungen und Gerichtsdienste wieder beginnen, wie in Großbritannien im Juni21?

Wir sehen bereits die wachsende Wut, die wir in der jüngsten „Finanzkrise“ ausbrechen sahen, mit Unruhen in Brüssel, Wuhan und Palästina, Plünderungen in Supermärkten in Süditalien und Südafrika, sogar Angriffe auf die Telekommunikationsinfrastruktur in Europa, verbunden mit 5G, die dafür verantwortlich sein wird, dass diese neue unterdrückerische Technologie mit sich selbst in Verbindung bleibt. All dies ist das Ergebnis klarer repressiver Maßnahmen in Verbindung mit der bereits stattfindenden Automatisierung der Arbeit, die dazu führt, dass die „Ausgeschlossenen“ ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Die Illusion eines Aufstandes einer Massenbewegung gegen die Unterdrückungsmacht, die die Bastille oder den Winterpalast stürmt, endet in einer reformistischen Sackgasse oder, schlimmer noch, in einem autoritären Alptraum, wobei sogar auf synthetische Organisationen aus der Zeit der Spanischen Revolution oder auf die professionelle aktivistische Mentalität gesetzt wird. Die kommenden Rebellionen werden ohne Vorwarnung ausbrechen und spontan organisiert werden, so dass viele derer, die sich an die antiken Relikte klammern, nicht in der Lage sein werden, sie zu verstehen, oder in ihrer Komfortzone feststecken werden, um nahe dran zu sein, die Aufstände vom August 2011 haben dies sehr deutlich gezeigt.

Die aufständische Methode ist heute wichtiger denn je, da die Wege anderer ‚Dissidenten‘ verschlossen und desinfiziert sind. Informelle Organisationen, die in der Lage sind, jetzt und selbst in diesen Momenten des Aufstands teilzunehmen, werden die Illusion dieses „sozialen Friedens“ angreifen und zerschlagen. Nichts ist ein Ersatz für einige wenige Gefährten, sogar Freunde, die den ständigen Kampf, die direkte Aktion und die Zerstörung der technologischen Gefängnisgesellschaft zum Ziel haben.

Die „Schauplätze“ und Ausdrucksformen dieser kollektiven Ausbrüche sind mannigfaltig. Auch die Gelegenheiten. Dennoch können sie in jedem Fall auf eine Intoleranz der Gesellschaft des Todes zurückgeführt werden, wie sie von der Partnerschaft Staat + Kapital inszeniert wird.

Es ist sinnlos, wenn wir diese Erscheinungen wegen unserer traditionellen Vorstellungen von revolutionärer Handlung innerhalb einer Massenbewegung fürchten. Es geht hierbei nicht um die Frage ob wir Angst haben oder nicht, sondern ob wir zum Handeln kommen, bevor es zu spät ist.“ A.M. Bonnano, Vom Krawall zum Aufstand

„Die Unzivilisierten“

 

Wenn Krawalle passieren, sollten wir nicht als „aussenstehende Schaulustige“ eines interessanten Ereignisses blöd herumstehen, denn schon aufgrund der Tatsache das wir Anarchisten sind, erfüllen uns Krawalle mit Befriedigung. Wir müssen als Realisierende eines Projektes von Anfang an dabei sein, ein Projekt das detailliert sein muss – von der ersten Minute an.

Wie kann so ein Projekt aussehen? Ein Projekt, dass Hand in Hand mit den „Ausgeschlossenen“ arbeitet. Nicht wie bisher, auf der ideologischen Ebene, nicht auf der Ebene der Vernunft, die einzig und allein auf den alten Konzepten des Klassenkampfs basiert, sonders auf der Basis von etwas unmittelbarem, imstande den Bezug zu realen Situationen herzustellen – zu verschiedenen realen Situationen. Es muss auch Situationen in Eurer Gegend geben, in denen es zu Spannungen kommt. Kontakte auf ideologischer Ebene sind in solchen Situationen fatal. Kontakte müssen auf einer anderen Ebene hergestellt werden, sicherlich auch organisiert, aber nicht anhand der althergebrachten Vorgaben. Dies kann durch eine grosse Organisation, die durch traditionelle und aufklärerisch-romantische Art und Weise einfordert Bezugs- und Verbindungspunkt aller Art von Situationen zu sein nicht geleistet werden. Nur eine lebendige flexible und zur Anpassung fähige Organisation kann dies leisten. Eine informelle Organisation anarchistischer GenossInnen – eine spezifische Organisation, die sich, ausgestattet mit anarchistischem Klassenbewusstsein, der Grenzen der alten Modelle bewusst ist und statt dessen andere, flexiblere Modelle befürwortet. Sie muss den Bezug zur Realität herstellen, eine klare Analyse entwickeln und diese vermitteln können, indem sie auch die Instrumente der Zukunft – nicht nur die der Vergangenheit – nutzt.“ A.M. Bonnano, Vom Krawall zum Aufstand

 

1Es sei darauf hingewiesen, dass auf jede industrielle Revolution eine Massenarbeitslosigkeit folgte bzw. während jeder industriellen Revolution auftrat, wobei viele Arbeiter durch Maschinen und andere Formen der Technologie verdrängt wurden, so dass andere Technologien innerhalb einer sehr kurzen Zeitspanne, die mit der „Finanzkrise“ zusammenfällt, veraltet sind.

2https://www.youtube.com/watch?v=zdbumR6Bhd8

3https://www.youtube.com/watch?v=4DKrcpa8Z_E

4https://www.youtube.com/watch?v=Y55HJE9RRg0

5https://www.youtube.com/watch?v=8Jlo5C8ydb4

6https://www.youtube.com/watch?v=6xkp2J3D-fM

7https://prnewswire2-a.akamaihd.net/p/1893751/sp/189375100/thumbnail/entry_id/1_0ohsl2cp/def_height/1400/def_width/1143/version/100011/type/1

8https://www.youtube.com/watch?v=WxE_KtRfRKo

9„Ludditen-Trugschluss“, dass neue Technologien nicht zu einer höheren Gesamtarbeitslosigkeit in der Wirtschaft führen. Stattdessen vernichtet die neue Technologie keine Arbeitsplätze, sie verändert nur die Zusammensetzung der Arbeitsplätze in der Wirtschaft. Die Ludditen waren eine geheime Organisation englischer Textilarbeiter im 19. Jahrhundert, eine radikale Fraktion, die die Textilmaschinen als eine Form des Protests zerstörte.

10Der Ausdruck „technologische Arbeitslosigkeit“ wurde in den 1930er Jahren von John Maynard Keynes, einem liberalen Wirtschaftswissenschaftler, populär gemacht, der sagte, es handele sich „nur um eine vorübergehende Phase der Fehlanpassung“.

11www.youtube.com/watch?v=Ut1BCR1fzv

12https://thenypost.files.wordpress.com/2019/04/3d-printing-human-heart-israel-tel-aviv-university.jpg

13A.d.Ü., evtl. wird hier der japanische Mangafilm von 1995 gemeint.

14https://www.bbc.co.uk/news/health-52201696

15https://www.youtube.com/watch?v=QQZjaosDToU

16Anfang 2011 führte die Tory-Regierung des Vereinigten Königreichs ein „Praktikumsprogramm“ ein, das zwar freiwillig ist, dessen Nichtinanspruchnahme jedoch eine Sanktionierung von Leistungen bedeuten würde, so dass es sich faktisch um ein Zwangsprogramm für unbezahlte Arbeit handelt!

17Eine intelligente Stadt ist ein Stadtgebiet, das verschiedene Arten von Sensoren des elektronischen Internets der Dinge (Internet of Things, IoT) verwendet, um Daten zu sammeln und dann die aus diesen Daten gewonnenen Erkenntnisse zu nutzen, um Vermögenswerte, Ressourcen und Dienstleistungen effizient zu verwalten. Dazu gehören von Bürgern, Geräten und Anlagen gesammelte Daten, die verarbeitet und analysiert werden, um Verkehrs- und Transportsysteme, Kraftwerke, Versorgungseinrichtungen, Wasserversorgungsnetze, Abfallentsorgung, Verbrechenserkennung, Informationssysteme, Schulen, Bibliotheken, Krankenhäuser und andere kommunale Dienste zu überwachen und zu verwalten.

18A.d.Ü., bezieht sich auf die Unruhen in Tottenham, die fast einen Monat lang in London und anderen Teilen Großbritanniens wüteten, wobei in der britischen Hauptstadt der Ausnahmezustand ausgerufen wurde

19A.d.Ü., Gig Economy, ist die Sparte der Wirtschaft die für Selbstständige, Freiberufler und geringfügige Beschäftigte gedacht. Bekannte Unternehmen in Deutschland wären Uber, Deliveroo und Foodora. Sprich die schon noch prekären Jobs von denen viele gleich mehrere ausüben müssen um zu Überleben.

20A.d.Ü., siehe Fußnote Nr.19

21Viele Hausbesetzerinnen und Hausbesetzer sind nach den neuen Gesetzen gegen Hausfriedensbruch in Großbritannien weiterhin vertrieben worden. In den USA zeichnen sich Massenvertreibungen ab, da der US-Staat die Arbeitslosen und die Gig-Economy sich selbst überlassen hat. Im Vereinigten Königreich wurde ein Uber-Fahrer aus seinem Haus in London rausgeworfen, weil er aufgrund seiner Arbeit Gefahr lief, sich mit Covid-19 zu infizieren, und zum Sterben auf der Straße zurückgelassen, weil er sich bereits mit dem Virus infiziert hatte. Geschichten wie seine mehren sich.

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