Kritik an Gewerkschaften/Syndikalismus – Soligruppe für Gefangene https://panopticon.blackblogs.org Für die Anarchie! Knäste, Staat, Patriarchat und Kapital abschaffen! Thu, 30 May 2024 09:04:05 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.1 https://panopticon.blackblogs.org/wp-content/uploads/sites/1233/2020/02/cropped-discharge-degenerik-blog-1-32x32.jpg Kritik an Gewerkschaften/Syndikalismus – Soligruppe für Gefangene https://panopticon.blackblogs.org 32 32 Anton Pannekoek, der Syndikalismus https://panopticon.blackblogs.org/2024/05/13/anton-pannekoek-der-syndikalismus/ Mon, 13 May 2024 10:22:21 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5817 Continue reading ]]> Anton Pannekoek, der Syndikalismus

Erschien ursprünglich in der Nummer Zwei, Bd. II im Januar 1936 in „International Council Correspondence”. Hier und hier.

Die italienische Übersetzung erschien in der Nummer 12, November-Dezember 1976, von „Anarchismo“. Die spätere Veröffentlichung vom „Edizione Anarchismo“ im November 2013 als die Nummer 53, der Reihe „Opuscoli Provvisori“.


Einleitende Anmerkung zur zweiten Auflage

Ein weiterer paläontologischer Beitrag. Auf den ersten Blick scheint es eine naheliegende Bewertung zu sein, aber das ist sie nicht. Eine Kritik des Gewerkschaftswesens/Syndikalismus aus der Ferne und gerade deshalb offenkundig noch lange nicht alt.

Heute kämpfen die Ausgebeuteten in der Mitte derselben Furt, sie kommen nicht vorwärts und denken nicht einmal daran – sie können es nicht -, umzukehren. Und mit ihnen die Anarchistinnen und Anarchisten, zumindest diejenigen, die über das Problem nachdenken, wie man etwas tun kann, um sich in Richtung Revolution zu bewegen, die anarchistische Revolution natürlich, denn von anderen Revolutionen, ob groß oder klein, mit Guillotinen im Einsatz oder nicht, sind die Seiten der Illustrierten voll.

Pannekoeks Schrift ist prägnant, Pulsinellis Einleitung ist prägnant, und sogar meine kleine Anmerkung, die ich hier im Anhang platziere, ist gültig. Im Übrigen verweise ich auf meine Kritik des Syndikalismus (A.d.Ü., Critica del sindcalismo, die Übersetzung ist ein Arbeit), die immer mehr zu einer lästigen Parade von „Ich hab’s dir ja gesagt“ wird, deren Lektüre aber unfehlbar gültig bleibt.

Die Phänomenologie der Clowns in der Regierung ändert sich, die blutigen Auswirkungen, die sich auf dem Rücken der Sklaven materialisieren, die jetzt von Fußmatten vernarbt sind, ändern sich, aber das bronzene Gesicht der Gewerkschafter/Syndikalisten bleibt immer dasselbe. Teilnahmslose Mumien, die ihren eigenen kleinen Garten bewachen. Der letzte Gedanke, der durch die wenigen Gramm grauer Substanz (ein flüchtiges Herz, das versteht sich von selbst) in ihrer Schädelkiste fließt, gilt ihren eigenen Interessen und denen der Kapitalisten – die durch das raue Auf und Ab der internationalen Finanzbilanz auf die Probe gestellt werden – und ganz sicher nicht denen der Arbeiter.

Wann wird die Beerdigung dieser abscheulichen Bürokraten stattfinden?

Triest, 25. November 2011

Alfredo M. Bonanno


Einleitung zur ersten Auflage

Der folgende Text stammt aus der amerikanischen Zeitschrift „International Council Correspondence“, Bd. II, Nr. 2 vom Januar 1936; er wurde von Anton Pannekoek unter dem Pseudonym J. Harper verfasst. Die Zeitschrift ‚I.C.C.‘ war das Sprachrohr der Rätekommunisten, die nach der Niederlage der revolutionären Bewegung und dem Aufkommen des Nationalsozialismus nach Amerika geflüchtet waren. Karl Korsch, Paul Mattick, Otto Rühle und andere nicht-leninistische Marxisten, die die deutschen Räteerfahrungen miterlebt und unterstützt hatten, sowie die KAPD, die niederländische Partei, die nicht Mitglied der leninistischen Internationale war, arbeiteten ebenfalls mit der „I.C.C.“ zusammen. Gegen sie schleuderte Lenin polemische Donnerschläge in, Der „Linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus.

Der Text von Pannekoek – Autor von Arbeiterräte – enthält an sich nichts Außergewöhnliches oder absolut Neues, er ist aber wertvoll für das klare Verständnis der inneren Grenzen des Gewerkschaftswesens/Syndikalismus und schafft es, Tendenzen und Erscheinungsformen vorwegzunehmen, die der Gewerkschaftswesens/Syndikalismus in den folgenden Jahrzehnten tatsächlich annahm.

Es gibt auch Naivitäten und Ansätze feststellbar, die nicht ganz unsere sind, die wir hier aber nicht hervorheben wollen.

Bei der Bewertung dieses Textes dürfen wir nicht das Jahr vergessen, in dem er veröffentlicht wurde: 1936. Die kritische Bewertung des Gewerkschaftswesens/Syndikalismus im negativen Sinne ist eindeutig, und zwar genau zu der Zeit, als wir – zum Beispiel in Spanien – an theoretischen Positionen festhielten, die dazu tendierten, die Gewerkschaft/Syndikat zum Verwaltungsorgan der Ökonomie und der Betriebe zu machen, die von der Anwesenheit der Bosse befreit waren. Im Wesentlichen wollten sie die Ökonomie „gewerkschaftlich/syndikalistisch organisieren“, also nicht unmittelbar diese durch Arbeiterinnen und Arbeiter vereinnahmen und verwalten zu lassen, sondern die – vermeintlich „neutrale“ – Gewerkschafts-, Syndikatsstruktur vermitteln lassen.

Pannekoeks Position zur Gewerkschaft/Syndikat unterscheidet sich deutlich von der letzteren. Diese beiden Positionen verdeutlichen, wie damals – und heute – die Gewerkschafts-, Syndikatsfrage und die Lösung, die ihr gegeben wird, zwischen verschiedenen Positionen unterscheiden, die von der Mitbeteiligung an der Verwaltung der kapitalistischen Ökonomie bis hin zur Übernahme von Haltungen und dem Eintreten für eine Praxis reichen können, die der kapitalistischen Ökonomie eindeutig entgegengesetzt und antagonistisch ist.

Was wir heute betonen wollen, ist, dass die Gewerkschaft/Syndikat eine perfekt integrierte und funktionale Institution für die Verwirklichung der kapitalistischen Planung ist, mit der spezifischen Aufgabe, die Klasse zu „kontrollieren“ und zu chloroformieren.

Als „Vertreterin“ der Arbeiterklasse stimmt sie sich mit den Bedürfnissen des Kapitals ab und durchdringt sie, indem sie die Kräfte – Kapital und Arbeit -, die bei der Realisierung von Profiten zusammenwirken, neu zusammensetzt, um immer stabilere Gleichgewichte zu erreichen, natürlich unter dem Vorzeichen der Kontinuität der Lohnsklaverei.

Die Gewerkschaft/Syndikat ist das verzerrte Spiegelbild der ökonomischen Bedürfnissphäre des Lohnempfängers und bringt das Warenwesen des Lohnempfängers, der sich verkauft, um andere Waren zu realisieren, voll zum Ausdruck.

Als verdinglichter Ausdruck der Reduktion des Menschen auf die Ware und mit dem Anspruch, nur ökonomische „Interessen“ zu interpretieren, delegiert sie am Ende alles andere an die „Partei“: Sie wird darauf reduziert, den Verkaufs- (und Kauf-)Preis der Arbeitskraft auszuhandeln.

Ihr Ziel ist nicht die Abschaffung der Lohnarbeit, sondern die Angleichung ihrer Kosten. Eine Funktion, die dem Kapital völlig fremd ist und seine ständige Rationalisierung vorantreibt.

Das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus neigt dazu, die Funktion des Lohnarbeiters zu fixieren – und aufrechtzuerhalten – und arbeitet nicht im Geringsten daran, das Lohnarbeiterdasein zu überwinden und zu verleugnen, um die Identität, die Würde und das Bewusstsein des Proletariats anzunehmen, d.h. als praktischer Negator des Kapitalismus, seines gewerkschaftlichen Derivats und von sich selbst.

Es ist völlig sinnlos, über den Zustand des herzlichen Einvernehmens und der perfekten Kollaboration des heutigen Gewerkschaftswesens/Syndikalismus mit dem Staat und den Bossen in der Zunftkammer zu sprechen, denn er ist für alle sichtbar.

Vielleicht ist es wichtiger, sich damit zu beschäftigen, wie sie ihr kapitalistisches Wesen vollständig verwirklicht haben, indem sie sich – im wahrsten Sinne des Wortes – in rein kapitalistische Strukturen wie Banken verwandelt haben. Das ist in Deutschland und den Vereinigten Staaten der Fall, wo die Gewerkschaften/Syndikate eine Reihe von Banken betreiben und somit: Handel treiben, Kredite vergeben, Profitraten festlegen, investieren, spekulieren usw.

Ist es heute sinnvoll, eine gewerkschaftliche/syndikalistische Erneuerung vorzuschlagen, Anarcho-Syndikate zu gründen oder sich als linker Gewerkschafter/Syndikalist sich zu stellen? Das sind die Fragen, über die wir diskutieren müssen.

Wir sind der Meinung, dass die Wiederherstellung einer organisatorischen Trennung zwischen dem ökonomischen und dem politischen Moment einen Rückschritt gegenüber dem Niveau der proletarischen Autonomie der letzten Jahre bedeutet. Es kann keine Trennung reproduziert werden, nur weil man den fotogensten und vorzeigbarsten Teil des Kapitals, nämlich die linke Seite seines Gesichts (die Gewerkschaften/Syndikate), bevorzugt oder zu imitieren versucht. Stattdessen geht es darum, Basisorganisationen zum Leben zu erwecken, die, ausgehend von der Besonderheit der sozialen Struktur, aus der sie hervorgehen, dazu neigen, die Gesamtheit der Spannungen und Bedürfnisse zum Ausdruck zu bringen und dabei kristallisierte Organisationsformen und Interventionspraktiken zu vermeiden.

Sie überschreiten die Grenzen des produktiven Bereichs, in dem sie tätig sind, und vereinen das Territorium und die Probleme, mit denen das Proletariat dort konfrontiert ist, mit allen anderen unerfüllten sozialen Bedürfnissen. Der Versuch, das Geflecht der Bedürfnisse und die Konflikte, die sie hervorbringen, nachzuvollziehen, in einem Moment der Kontinuität der Intervention und der theoretisch-praktischen Komplexität Fabrik und Territorium, antiproduktivistisches Moment und Wiederaneignung der produzierten Waren zu verbinden, den abstrakt „politischen“ Angriff auf die dominante Achse von Partei, Gewerkschaft/Syndikat, Staat und Kapital mit der praktischen Konkretheit der Selbstbeschränkung, der Hausbesetzung mit der Ablehnung von Steuern und der Aushöhlung der Löhne, der Forderung nach Verallgemeinerung der Löhne, der Massifizierung des Einkommens mit der Entlohnung der weiblichen Hausarbeit, der Forderung nach Beschäftigung mit der Abschaffung paläokapitalistischer Formen (von Schwarzarbeit, Akkordarbeit, Heimarbeit), die die Schule mit dem Territorium verbindet, d.h. das Problem des Studenten mit dem der Arbeitslosen, in dem er oder sie aussteigen wird, usw.

In den Fluss der proletarischen Selbstorganisation zu kommen, bedeutet, Anti-Macht-Zellen zu gebären, die perfekt in das soziale Gefüge eingebettet sind und das Krebsgeschwür der praktischen Negation der kapitalistischen Verhältnisse und Werte verbreiten: die Ideologie der Arbeit, des Profits, der Akkumulation, der Arbeitsteilung usw. sowie die Immunisierung der Repressionsstrukturen und ihrer Prätorianer.

Proletarische Selbstorganisation bedeutet, vom Spezifischen der gegebenen Situation auszugehen, um den Bereich der praktischen Intervention auf die Universalität der Funktionen und Rollen auszuweiten, die die Proletarierinnen und Proletarier übernehmen müssen, um das Kapital (und ihre eigene Versklavung) im Austausch für einen Lohn, d. h. einen infinitesimalen Teil der produzierten Waren, zu reproduzieren.

In diesem Prozess, der zur Totalität tendiert, ist es höchst schädlich, Organisationsformen – wie die Gewerkschaft/Syndikat – neu vorzuschlagen, deren Existenzgrundlage auf einer Teilung und Begrenzung beruht: dem ökonomischen Moment und dem Bereich der Produktion, d.h. dem Proletariat nur in der Phase der Produktion.

Diese Verstümmelung zu vermeiden, würde bedeuten, seinen eigenen Platz im Netzwerk der Anti-Macht-Organismen zu finden und vor allem das Proletariat als ein Wesen zu begreifen, das nicht nur produziert, sondern auch konsumiert, das sich mit Kultur, Unterhaltung und Sport entfremdet, das das Kapital in seiner Familie reproduziert (wo er der „Herr“ ist und seine Frauen-Kinder die Proletarier der Situation), dessen Sexualität immer verzerrt und sublimiert ist, das Lebensmittel mit geringem Nährwert isst, wenn sie nicht völlig schädlich sind, das in Städten des Wahnsinns und der Umweltverschmutzung lebt usw. Es geht darum, eine enorme kritische Intervention – theoretisch und dann praktisch – zu entwickeln, die sich auf die Gesamtheit der bestehenden Bedingungen erstreckt. Es geht darum, das Proletarische in seiner Gesamtheit zu begreifen, ohne das Ökonomische, das Politische, das Militärische, die Stadtplanung usw. zu privilegieren.

Sich auf die ökonomische Sphäre zu beschränken und sich darin zu erschöpfen, ist der beste Weg, um sich selbst dazu zu zwingen, auf alles andere zu verzichten und Schemata und Formeln – ähnlich wie ausgestopfte Tiere – einer proletarischen Bewegung zu reproduzieren, die sich gegen einen alten, jetzt veränderten Kapitalismus stellte.

Ist der Anarchosyndikalismus erneuerbar?

Tito Pulsinelli

[Veröffentlicht in „Anarchismo“ Nr. 12, November-Dezember 1976, S. 353-355]


Syndikalismus, von Anton Pannekoek, 1936

Quelle: Trade-Unionism / J[ohn]. H[arper]. [=Anton Pannekoek]. – In: International Council Correspondence, Vol. II (1935-1936), Nr. 2 (Januar 1936)

Wie muss die Arbeiterklasse den Kapitalismus bekämpfen, um zu gewinnen? Das ist die alles entscheidende Frage, vor der die Arbeiterinnen und Arbeiter jeden Tag stehen. Welche effizienten Aktionsmittel, welche Taktiken können sie anwenden, um die Macht zu erobern und den Feind zu besiegen? Keine Wissenschaft, keine Theorie kann ihnen genau sagen, was sie tun sollen. Aber spontan und instinktiv, durch Ausprobieren, durch das Erspüren von Möglichkeiten, fanden sie ihre Handlungsmöglichkeiten. Und als der Kapitalismus wuchs, die Erde eroberte und seine Macht ausbaute, wuchs auch die Macht der Arbeiterinnen und Arbeiter. Neue Aktionsformen, die breiter und effizienter waren, kamen zu den alten hinzu. Es liegt auf der Hand, dass sich mit den veränderten Bedingungen auch die Aktionsformen und Taktiken des Klassenkampfes ändern müssen. Das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus ist die wichtigste Form der Arbeiterbewegung im starren Kapitalismus. Die isolierten Arbeiterinnen und Arbeiter sind gegenüber den kapitalistischen Arbeitgebern machtlos. Um dieses Handicap zu überwinden, organisieren sich die Arbeiterinnen und Arbeiter in Gewerkschaften/Syndikate. Die Gewerkschaft/Syndikat bindet die Arbeiterinnen und Arbeiter zu gemeinsamen Aktionen zusammen, wobei der Streik ihre Waffe ist. Dann ist das Kräfteverhältnis relativ ausgeglichen oder manchmal sogar am stärksten auf der Seite der Arbeiterinnen und Arbeiter, so dass der isolierte kleine Arbeitgeber gegenüber der mächtigen Gewerkschaft/Syndikat schwach ist. Daher stehen sich im entwickelten Kapitalismus Gewerkschaften/Syndikate und Arbeitgeberverbände (Verbände, Trusts, Unternehmen usw.) als kämpfende Kräfte gegenüber.

Das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus entstand zuerst in England, wo sich der Industriekapitalismus zuerst entwickelte. Später verbreitete sie sich in anderen Ländern als natürlicher Begleiter der kapitalistischen Industrie. In den Vereinigten Staaten herrschten ganz besondere Bedingungen. Zu Beginn sorgte der Reichtum an freiem, unbesetztem Land, das den Siedlern offenstand, für einen Mangel an Arbeiterinnen und Arbeitern in den Städten und für relativ hohe Löhne und gute Bedingungen. Die American Federation of Labour wurde zu einer Macht im Land und konnte den in ihren Gewerkschaften/Syndikaten organisierten Arbeiterinnen und Arbeitern einen relativ hohen Lebensstandard sichern.

Es ist klar, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter unter diesen Bedingungen nicht einen Moment lang auf die Idee kommen konnten, den Kapitalismus zu stürzen. Der Kapitalismus bot ihnen einen ausreichenden und ziemlich sicheren Lebensunterhalt. Sie fühlten sich nicht als getrennte Klasse, deren Interessen der bestehenden Ordnung feindlich gegenüberstanden; sie waren ein Teil von ihr; sie waren sich bewusst, dass sie an allen Möglichkeiten eines aufsteigenden Kapitalismus auf einem neuen Kontinent teilhatten. Es gab Platz für Millionen von Menschen, die hauptsächlich aus Europa kamen. Für diese wachsenden Millionen von Bauern war eine schnell wachsende Industrie notwendig, in der Arbeiterinnen und Arbeiter mit Energie und Glück zu freien Handwerkern, kleinen Geschäftsleuten und sogar reichen Kapitalisten aufsteigen konnten. Es ist nur natürlich, dass hier ein wahrer kapitalistischer Geist in der Arbeiterklasse herrschte.

Das Gleiche war in England der Fall. Hier lag es an Englands Monopol im Welthandel und in der Großindustrie, am Mangel an Konkurrenten auf den ausländischen Märkten und am Besitz reicher Kolonien, die England enormen Reichtum brachten. Die Kapitalistenklasse brauchte nicht um ihre Gewinne zu kämpfen und konnte den Arbeiterinnen und Arbeitern einen angemessenen Lebensunterhalt ermöglichen. Natürlich waren anfangs Kämpfe nötig, um ihnen diese Wahrheit klarzumachen, aber dann konnten sie Gewerkschaften/Syndikate zulassen und Löhne im Austausch für den Arbeitsfrieden gewähren. So wurde auch hier die Arbeiterklasse vom kapitalistischen Geist durchdrungen.

Dies steht in völligem Einklang mit dem innersten Charakter des Gewerkschaftswesens/Syndikalismus. Das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus ist eine Aktion der Arbeiterinnen und Arbeiter, die nicht über die Grenzen des Kapitalismus hinausgeht. Ihr Ziel ist es nicht, den Kapitalismus durch eine andere Produktionsform zu ersetzen, sondern gute Lebensbedingungen innerhalb des Kapitalismus zu sichern. Ihr Charakter ist nicht revolutionär, sondern konservativ.

Natürlich ist die gewerkschaftliche/syndikalistische Aktion Klassenkampf. Im Kapitalismus gibt es einen Antagonismus der Klassen – Kapitalisten und Arbeiterinnen und Arbeiter haben entgegengesetzte Interessen. Nicht nur in der Frage der Erhaltung des Kapitalismus, sondern auch innerhalb des Kapitalismus selbst, wenn es um die Aufteilung des Gesamtprodukts geht. Die Kapitalisten versuchen, ihre Gewinne, den Mehrwert, so weit wie möglich zu steigern, indem sie die Löhne senken und die Arbeitszeit oder die Arbeitsintensität erhöhen. Die Arbeiterinnen und Arbeiter hingegen versuchen, ihre Löhne zu erhöhen und ihre Arbeitszeit zu verkürzen.

Der Preis der Arbeitskraft ist keine feste Menge, auch wenn er ein bestimmtes Hungerminimum überschreiten muss; und er wird von den Kapitalisten nicht aus freien Stücken gezahlt. So wird dieser Antagonismus zum Gegenstand einer Auseinandersetzung, dem eigentlichen Klassenkampf. Es ist die Aufgabe, die Funktion der Gewerkschaften/Syndikate, diesen Kampf zu führen.

Das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus war die erste Schule für proletarische Tugenden, für Solidarität als Geist des organisierten Kampfes. Sie verkörperte die erste Form der proletarischen organisierten Macht. In den frühen englischen und amerikanischen Gewerkschaften/Syndikate versteinerte diese Tugend oft und entartete zu einer engen Handwerkskorporation, einer wahrhaft kapitalistischen Geisteshaltung. Anders war es jedoch dort, wo die Arbeiterinnen und Arbeiter um ihre Existenz kämpfen mussten, wo die äußersten Anstrengungen ihrer Gewerkschaften/Syndikate ihren Lebensstandard kaum aufrechterhalten konnten, wo die volle Wucht eines energischen, kämpferischen und expandierenden Kapitalismus auf sie einschlug. Dort mussten sie die Weisheit lernen, dass nur die Revolution sie endgültig retten kann.

Es gibt also eine Diskrepanz zwischen der Arbeiterklasse und dem Gewerkschaftswesen/Syndikalismus. Die Arbeiterklasse muss über den Kapitalismus hinausblicken. Der Gewerkschaftswesen/Syndikalismus lebt vollständig innerhalb des Kapitalismus und kann nicht über ihn hinausblicken. Der Gewerkschaftswesen/Syndikalismus kann nur einen Teil des Klassenkampfes darstellen, einen notwendigen, aber engen Teil. Und er entwickelt Aspekte, die ihn in Konflikt mit den größeren Zielen der Arbeiterklasse bringen.

Mit dem Wachstum des Kapitalismus und der Großindustrie müssen auch die Gewerkschaften/Syndikate wachsen. Sie werden zu großen Unternehmen mit Tausenden von Mitgliedern, die sich über das ganze Land erstrecken, mit Sektionen in jeder Stadt und jeder Fabrik. Es müssen Funktionäre ernannt werden: Vorsitzende, Sekretäre, Schatzmeister, die die Geschäfte führen und die Finanzen verwalten, sowohl auf lokaler als auch auf zentraler Ebene. Sie sind die Anführer, die mit den Kapitalisten verhandeln und durch diese Praxis eine besondere Fähigkeit erworben haben. Der Vorsitzende einer Gewerkschaft/Syndikats ist ein hohes Tier, so groß wie der kapitalistische Arbeitgeber selbst, und er verhandelt mit ihm auf Augenhöhe über die Interessen seiner Mitglieder. Die Funktionäre sind Spezialisten für die gewerkschaftliche/syndikalistische Arbeit, die die Mitglieder, die ganz mit ihrer Fabrikarbeit beschäftigt sind, nicht selbst beurteilen oder leiten können.

Eine so große Körperschaft wie eine Gewerkschaft/Syndikat ist nicht einfach eine Versammlung einzelner Arbeiterinnen und Arbeiter; sie wird zu einem organisierten Körper, wie ein lebendiger Organismus, mit einer eigenen Politik, einem eigenen Charakter, einer eigenen Mentalität, eigenen Traditionen und eigenen Funktionen. Sie ist ein Organ mit eigenen Interessen, die sich von den Interessen der Arbeiterklasse unterscheiden. Sie hat den Willen zu leben und für ihre Existenz zu kämpfen. Sollte es dazu kommen, dass die Gewerkschaften/Syndikate für die Arbeiterinnen und Arbeiter nicht mehr notwendig sind, dann würden sie nicht einfach verschwinden. Ihre Gelder, ihre Mitglieder und ihre Funktionäre: All das sind Realitäten, die nicht sofort verschwinden, sondern als Elemente der Organisation weiterbestehen werden.

Die Funktionäre der Gewerkschaft/Syndikats, die Anführer der Arbeiterinnen und Arbeiter, sind die Träger der speziellen Gewerkschafts-, Syndikatsinteressen. Ursprünglich waren sie Arbeiterinnen und Arbeiter aus dem Betrieb, aber durch ihre lange Tätigkeit an der Spitze der Organisation haben sie einen neuen sozialen Charakter bekommen. In jeder sozialen Gruppe, die groß genug ist, um eine spezielle Gruppe zu bilden, prägt und bestimmt die Art ihrer Arbeit ihren sozialen Charakter, ihre Denk- und Handlungsweise. Die Funktion der Beamten und Beamtinnen ist eine ganz andere als die der Arbeiterinnen und Arbeiter. Sie arbeiten nicht in Fabriken, sie werden nicht von Kapitalisten ausgebeutet, ihre Existenz ist nicht ständig von Arbeitslosigkeit bedroht. Sie sitzen in Büros, in ziemlich sicheren Positionen. Sie müssen sich um die Angelegenheiten der Unternehmen kümmern, auf Versammlungen der Arbeiterinnen und Arbeiter sprechen und mit den Arbeitgebern diskutieren. Natürlich müssen sie sich für die Arbeiterinnen und Arbeiter einsetzen und ihre Interessen und Wünsche gegenüber den Kapitalisten verteidigen. Das unterscheidet sich jedoch nicht sehr von der Position eines Rechtsanwalts, der als Sekretär einer Organisation für deren Mitglieder eintritt und deren Interessen nach seinen Fähigkeiten verteidigt.

Es gibt jedoch einen Unterschied. Da viele der Anführer aus den Reihen der Arbeiterinnen und Arbeiter stammen, haben sie am eigenen Leib erfahren, was Lohnsklaverei und Ausbeutung bedeuten. Sie fühlen sich als Mitglieder der Arbeiterklasse und der proletarische Geist wirkt oft wie eine starke Tradition in ihnen. Aber die neue Realität ihres Lebens neigt dazu, diese Tradition immer weiter zu schwächen. Ökonomisch gesehen sind sie keine Proletarier mehr. Sie sitzen in Konferenzen mit den Kapitalisten und verhandeln über Löhne und Arbeitszeiten, wobei sie ihre Interessen gegeneinander ausspielen, genauso wie die entgegengesetzten Interessen der kapitalistischen Konzerne gegeneinander abgewogen werden. Sie lernen, die Position des Kapitalisten genauso gut zu verstehen wie die der Arbeiterinnen und Arbeiter; sie haben ein Auge für die „Bedürfnisse der Industrie“; sie versuchen zu vermitteln. Natürlich gibt es persönliche Ausnahmen, aber in der Regel haben sie nicht das elementare Klassengefühl der Arbeiterinnen und Arbeiter, die die kapitalistischen Interessen nicht verstehen und gegen ihre eigenen abwägen, sondern für ihre eigenen Interessen kämpfen. So geraten sie in Konflikt mit den Arbeiterinnen und Arbeitern.

Die Anführer der Arbeiter im fortgeschrittenen Kapitalismus sind so zahlreich, dass sie eine besondere Gruppe oder Klasse mit einem besonderen Klassencharakter und besonderen Interessen bilden. Als Vertreter und Anführer der Gewerkschaften/Syndikate verkörpern sie den Charakter und die Interessen der Gewerkschaften/Syndikate. Die Gewerkschaften/Syndikate sind notwendige Elemente des Kapitalismus, also fühlen sich auch die Anführer als nützliche Staatsbürger in der kapitalistischen Gesellschaft notwendig. Die kapitalistische Funktion der Gewerkschaften/Syndikate besteht darin, Klassenkonflikte zu regeln und den Arbeitsfrieden zu sichern. Daher sehen es die Anführer der Gewerkschaften/Syndikate als ihre Pflicht an, sich für den Arbeitsfrieden einzusetzen und bei Konflikten zu vermitteln. Die Bewährungsprobe der Gewerkschaft/Syndikats liegt ganz und gar im Kapitalismus; deshalb blicken die Anführer der Gewerkschaften/Syndikate nicht über ihn hinaus. Der Selbsterhaltungstrieb, der Wille der Gewerkschaften/Syndikate, zu leben und um ihre Existenz zu kämpfen, verkörpert sich in dem Willen der Anführer, für die Existenz der Gewerkschaften/Syndikate zu kämpfen. Ihre eigene Existenz ist untrennbar mit der Existenz der Gewerkschaften/Syndikate verbunden. Das ist nicht in einem kleinlichen Sinne gemeint, dass sie nur an ihre persönlichen Arbeitsplätze denken, wenn sie für die Gewerkschaften/Syndikate kämpfen. Es bedeutet, dass primäre Lebensnotwendigkeiten und soziale Funktionen die Meinungen bestimmen. Ihr ganzes Leben konzentriert sich auf die Gewerkschaften/Syndikate, nur hier haben sie eine Aufgabe. Das notwendigste Organ der Gesellschaft, die einzige Quelle von Sicherheit und Macht sind für sie also die Gewerkschaften/Syndikate; deshalb müssen sie mit allen Mitteln erhalten und verteidigt werden, auch wenn die Realitäten der kapitalistischen Gesellschaft diese Position untergraben. Dies geschieht, wenn sich die Klassenkonflikte durch die Expansion des Kapitalismus verschärfen.

Die Konzentration des Kapitals in mächtigen Konzernen und ihre Verbindung zur Großfinanz machen die Position der kapitalistischen Arbeitgeber viel stärker als die der Arbeiterinnen und Arbeiter. Mächtige Industriemagnaten herrschen wie Monarchen über große Massen von Arbeiterinnen und Arbeitern; sie halten sie in absoluter Unterwerfung und erlauben „ihren“ Leuten nicht, in Gewerkschaften/Syndikate einzutreten. Ab und zu brechen die schwer ausgebeuteten Lohnsklaven in einem großen Streik aus. Sie hoffen, bessere Bedingungen, kürzere Arbeitszeiten, humanere Arbeitsbedingungen und das Recht auf gewerkschaftliche/syndikalistische Organisierung durchzusetzen. Gewerkschaftliche/Syndikalistische Organizer kommen ihnen zu Hilfe. Doch dann setzen die kapitalistischen Herren ihre soziale und politische Macht ein. Die Streikenden werden aus ihren Häusern vertrieben; sie werden von der Miliz oder angeheuerten Schlägern erschossen; ihre Sprecher werden ins Gefängnis gesteckt; ihre Hilfsaktionen werden per Gerichtsbeschluss verboten. Die kapitalistische Presse prangert ihre Sache als Unordnung, Mord und Revolution an; die öffentliche Meinung wird gegen sie aufgehetzt. Dann, nach monatelangem Durchhalten und heldenhaftem Leiden, erschöpft von Elend und Enttäuschung, unfähig, der eisernen kapitalistischen Struktur eine Delle zuzufügen, müssen sie aufgeben und ihre Forderungen auf günstigere Zeiten verschieben.

In den Branchen, in denen die Gewerkschaften/Syndikate als mächtige Organisationen existieren, wird ihre Position durch dieselbe Kapitalkonzentration geschwächt. Die umfangreichen Mittel, die sie zur Streikunterstützung gesammelt hatten, sind im Vergleich zur Geldmacht ihrer Gegner unbedeutend. Ein paar Aussperrungen (A.d.Ü., lock-outs) können sie völlig aufzehren. Egal, wie sehr der kapitalistische Arbeitgeber die Arbeiterinnen und Arbeiter durch Lohnkürzungen und Arbeitszeitverlängerungen unter Druck setzt, die Gewerkschaft/Syndikat kann keinen Kampf führen. Wenn Verträge erneuert werden müssen, fühlt sich die Gewerkschaft/Syndikat als die schwächere Partei. Sie muss die schlechten Bedingungen akzeptieren, die die Kapitalisten anbieten; da nützt kein Verhandlungsgeschick. Aber jetzt beginnt der Ärger mit den einfachen Mitgliedern. Sie wollen kämpfen; sie werden sich nicht unterwerfen, bevor sie gekämpft haben, und sie haben nicht viel zu verlieren, wenn sie kämpfen. Die Anführer hingegen haben viel zu verlieren – die Finanzkraft der Gewerkschaft/Syndikats, vielleicht sogar ihre Existenz. Sie versuchen, den Kampf zu vermeiden, den sie für aussichtslos halten. Sie müssen sie davon überzeugen, dass es besser ist, sich zu einigen. Letztendlich müssen sie also als Sprecher der Arbeitgeber auftreten, um den Arbeiterinnen und Arbeitern die Bedingungen der Kapitalisten aufzuzwingen. Noch schlimmer ist es, wenn die Arbeiterinnen und Arbeiter darauf bestehen, gegen die Entscheidung der Gewerkschaften/Syndikate zu kämpfen. Dann muss die Macht der Gewerkschaft/Syndikats als Waffe eingesetzt werden, um die Arbeiterinnen und Arbeiter zu unterdrücken.

So ist der Anführer der Gewerkschaften/Syndikate zum Sklaven seiner kapitalistischen Aufgabe geworden, den Arbeitsfrieden zu sichern – nun auf Kosten der Arbeiterinnen und Arbeiter, obwohl er ihnen doch so gut wie möglich dienen wollte. Er kann nicht über den Kapitalismus hinausblicken, und innerhalb des Horizonts des Kapitalismus mit einer kapitalistischen Sichtweise hat er Recht, wenn er meint, dass Kämpfen nichts bringt. Ihn zu kritisieren kann nur bedeuten, dass das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus hier an der Grenze seiner Macht steht.

Gibt es denn einen anderen Ausweg? Können die Arbeiterinnen und Arbeiter durch Kämpfe etwas gewinnen? Wahrscheinlich werden sie das unmittelbare Thema des Kampfes verlieren; aber sie werden etwas anderes gewinnen. Indem sie sich nicht unterwerfen, ohne gekämpft zu haben, wecken sie den Geist der Revolte gegen den Kapitalismus. Sie proklamieren ein neues Thema. Aber hier muss die gesamte Arbeiterklasse mitmachen. Der ganzen Klasse, allen Arbeiterinnen und Arbeitern, müssen sie zeigen, dass es im Kapitalismus keine Zukunft für sie gibt und dass sie nur gewinnen können, wenn sie kämpfen, nicht als eine Gewerkschaft/Syndikat, sondern als eine vereinte Klasse. Das bedeutet den Beginn eines revolutionären Kampfes. Und wenn die anderen Arbeiterinnen und Arbeiter diese Lektion verstehen, wenn in anderen Branchen zeitgleiche Streiks ausbrechen, wenn eine Welle der Rebellion über das Land schwappt, dann werden in den arroganten Herzen der Kapitalisten vielleicht Zweifel an ihrer Allmacht und eine gewisse Bereitschaft zu Zugeständnissen aufkommen.

Der Anführer der Gewerkschaften/Syndikate versteht diese Sichtweise nicht, denn die Gewerkschaften/Syndikate können nicht über den Kapitalismus hinausgehen. Er lehnt diese Art des Kampfes ab. Den Kapitalismus auf diese Weise zu bekämpfen, bedeutet gleichzeitig eine Rebellion gegen die Gewerkschaften/Syndikate. Der Anführer der Gewerkschaften/Syndikate steht an der Seite des Kapitalisten, weil sie gemeinsam die Rebellion der Arbeiterinnen und Arbeiter fürchten.

Als die Gewerkschaften/Syndikate gegen die Kapitalistenklasse für bessere Arbeitsbedingungen kämpften, hasste die Kapitalistenklasse sie, aber sie hatte nicht die Macht, sie vollständig zu zerstören. Wenn die Gewerkschaften/Syndikate versuchen würden, alle Kräfte der Arbeiterklasse in ihrem Kampf zu mobilisieren, würde die Kapitalistenklasse sie mit allen Mitteln verfolgen. Sie könnten erleben, dass ihre Aktionen als Rebellion unterdrückt werden, ihre Büros von der Miliz zerstört werden, ihre Anführer ins Gefängnis geworfen und mit Geldstrafen belegt werden und ihre Gelder beschlagnahmt werden. Wenn sie andererseits ihre Mitglieder vom Kampf abhalten, kann die Kapitalistenklasse sie als wertvolle Institutionen betrachten, die erhalten und geschützt werden müssen, und ihre Anführer als verdienstvolle Staatsbürger. Die Gewerkschaften/Syndikate befinden sich also zwischen dem Teufel und dem tiefen blauen Meer: auf der einen Seite die Verfolgung, die für Menschen, die eigentlich friedliche Staatsbürger sein wollten, schwer zu ertragen ist; auf der anderen Seite die Rebellion der Mitglieder, die die Gewerkschaften/Syndikate untergraben kann. Die Kapitalistenklasse wird, wenn sie klug ist, erkennen, dass ein bisschen Scheingefechte erlaubt sein müssen, um den Einfluss der Anführer der Gewerkschaften/Syndikaten auf die Mitglieder zu wahren.

Die Konflikte, die hier entstehen, sind niemandes Schuld; sie sind eine unvermeidliche Folge der kapitalistischen Entwicklung. Der Kapitalismus existiert, aber er ist gleichzeitig auf dem Weg in den Ruin. Er muss als etwas Lebendiges und gleichzeitig als etwas Vergängliches bekämpft werden. Die Arbeiterinnen und Arbeiter müssen einen ständigen Kampf um Löhne und Arbeitsbedingungen führen, während gleichzeitig kommunistische Ideen, mehr oder weniger deutlich und bewusst, in ihren Köpfen erwachen. Sie klammern sich an die Gewerkschaften/Syndikate, weil sie glauben, dass diese immer noch notwendig sind, und versuchen ab und zu, sie in bessere Kampfinstitutionen zu verwandeln. Aber der Geist des Gewerkschaftswesens/Syndikalismus, der in seiner reinen Form ein kapitalistischer Geist ist, steckt nicht in den Arbeiterinnen und Arbeitern. Die Divergenz zwischen diesen beiden Tendenzen im Kapitalismus und im Klassenkampf zeigt sich jetzt als Riss zwischen dem Geist der Gewerkschaften/Syndikate, der hauptsächlich von ihren Anführern verkörpert wird, und dem wachsenden revolutionären Gefühl der Mitglieder. Diese Kluft zeigt sich in den entgegengesetzten Positionen, die sie in verschiedenen wichtigen sozialen und politischen Fragen vertreten.

Die Gewerkschaften/Syndikate sind an den Kapitalismus gebunden; sie haben die besten Chancen, gute Löhne zu erzielen, wenn der Kapitalismus floriert. In Zeiten der Depression muss sie also hoffen, dass der Wohlstand wiederhergestellt wird, und sie muss versuchen, ihn zu fördern. Für die Arbeiterinnen und Arbeiter als Klasse ist der Wohlstand des Kapitalismus überhaupt nicht wichtig. Wenn dieser durch Krisen oder Depressionen geschwächt ist, haben sie die beste Chance, ihn anzugreifen, die Kräfte der Revolution zu stärken und die ersten Schritte in Richtung Freiheit zu unternehmen.

Der Kapitalismus dehnt seine Herrschaft über fremde Kontinente aus und reißt deren Naturschätze an sich, um große Profite zu machen. Er erobert Kolonien, unterjocht die primitive Bevölkerung und beutet sie aus, oft mit schrecklichen Grausamkeiten. Die Arbeiterklasse prangert die koloniale Ausbeutung an und wehrt sich dagegen, aber die Gewerkschaften/Syndikate unterstützen oft die Kolonialpolitik als Weg zum kapitalistischen Wohlstand.

Mit der enormen Zunahme des Kapitals in der heutigen Zeit werden Kolonien und fremde Länder als Orte genutzt, an denen große Kapitalsummen investiert werden können. Sie werden als Absatzmärkte für die Großindustrie und als Rohstoffproduzenten zu wertvollen Besitztümern. Zwischen den großen kapitalistischen Staaten entsteht ein Wettlauf um die Kolonien und ein erbitterter Interessenkonflikt um die Aufteilung der Welt. In dieser Politik des Imperialismus werden die Mittelklassen in einer gemeinsamen Verherrlichung nationaler Größe mitgerissen. Dann stellen sich die Gewerkschaften/Syndikate auf die Seite der Herrenklasse, weil sie den Wohlstand ihres eigenen nationalen Kapitalismus als abhängig von seinem Erfolg im imperialistischen Kampf betrachten. Für die Arbeiterklasse bedeutet der Imperialismus zunehmende Macht und Brutalität ihrer Ausbeuter.

Diese Interessenkonflikte zwischen den nationalen Kapitalismen explodieren in Kriegen. Der Weltkrieg ist die Krönung der Politik des Imperialismus. Für die Arbeiterinnen und Arbeiter bedeutet der Krieg nicht nur die Zerstörung all ihrer Gefühle von internationaler Brüderlichkeit, sondern auch die brutalste Ausbeutung ihrer Klasse für den kapitalistischen Profit. Die Arbeiterklasse, als die zahlreichste und am meisten unterdrückte Klasse der Gesellschaft, muss alle Schrecken des Krieges ertragen. Die Arbeiterinnen und Arbeiter müssen nicht nur ihre Arbeitskraft, sondern auch ihre Gesundheit und ihr Leben hergeben.

Die Gewerkschaften/Syndikate müssen im Krieg jedoch auf der Seite des Kapitalisten stehen. Ihre Interessen sind mit dem nationalen Kapitalismus verknüpft, dessen Sieg sie von ganzem Herzen wünschen müssen. Daher trägt sie dazu bei, starke nationale Gefühle und nationalen Hass zu wecken. Sie hilft der Kapitalistenklasse, die Arbeiterinnen und Arbeiter in den Krieg zu treiben und jeden Widerstand niederzuschlagen.

Die Gewerkschaften/Syndikate verabscheuen den Kommunismus. Der Kommunismus entzieht ihr die Grundlage ihrer Existenz. Im Kommunismus, wo es keine kapitalistischen Arbeitgeber gibt, ist kein Platz für die Gewerkschafts/Syndikats- und Arbeiterführer. Es stimmt, dass in Ländern mit einer starken sozialistischen Bewegung, in denen die Mehrheit der Arbeiterinnen und Arbeiter Sozialistinnen und Sozialisten sind, auch die Anführer der Gewerkschaften/Syndikate Sozialisten sein müssen, sowohl von ihrer Herkunft als auch von ihrem Umfeld her. Aber dann sind sie rechte Sozialisten; und ihr Sozialismus beschränkt sich auf die Idee eines Gemeinwohls, in dem statt gieriger Kapitalisten ehrliche Anführer der Arbeiter die industrielle Produktion leiten werden. Die Gewerkschaften/Syndikate hassen die Revolution. Die Revolution bringt alle gewöhnlichen Beziehungen zwischen Kapitalisten und Arbeiterinnen und Arbeitern durcheinander. In ihren gewaltsamen Zusammenstößen werden alle sorgfältigen tariflichen Regelungen hinweggefegt; im Kampf ihrer gigantischen Kräfte verliert das bescheidene Geschick der verhandelnden Arbeiterführer seinen Wert. Mit all ihrer Macht stellt sich das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus gegen die Ideen der Revolution und des Kommunismus.

Dieser Widerstand ist nicht ohne Bedeutung. Das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus ist eine Macht für sich. Sie verfügt über beträchtliche Mittel als materielles Element der Macht. Sie hat ihren geistigen Einfluss, den sie durch ihre Zeitschriften aufrechterhält und verbreitet, als geistiges Element der Macht. Sie ist eine Macht in den Händen der Anführer, die sie überall dort einsetzen, wo die besonderen Interessen der Gewerkschaften/Syndikate mit den revolutionären Interessen der Arbeiterklasse in Konflikt geraten. Obwohl die Gewerkschaften/Syndikate von den Arbeiterinnen und Arbeitern aufgebaut wurden und aus Arbeiterinnen und Arbeitern bestehen, sind sie zu einer Macht geworden, die über den Arbeiterinnen und Arbeitern steht, so wie die Regierung eine Macht ist, die über dem Volk steht.

Die Formen des Gewerkschaftswesens/Syndikalismus sind in den verschiedenen Ländern unterschiedlich, was auf die verschiedenen Entwicklungsformen des Kapitalismus zurückzuführen ist. Sie sind auch nicht immer in jedem Land gleich. Wenn sie langsam auszusterben scheinen, gelingt es dem Kampfgeist der Arbeiterinnen und Arbeiter manchmal, sie zu verändern oder neue Formen des Gewerkschaftswesens/Syndikalismus zu schaffen. So entstand in England in den Jahren 1880-90 aus den Massen der armen Hafenarbeiter und der anderen schlecht bezahlten, ungelernten Arbeiterinnen und Arbeiter das „neue Gewerkschaftswesen/Syndikalismus“, das den alten Handwerksgewerkschaften (A.d.Ü., sowas wie Zünfte) einen neuen Geist einhauchte. Es ist eine Folge der kapitalistischen Entwicklung, dass sie bei der Gründung neuer Industrien und der Ersetzung von Facharbeitern durch Maschinenkraft große Mengen ungelernter Arbeiterinnen und Arbeiter anhäuft, die unter den schlechtesten Bedingungen leben. Sie werden schließlich zu einer Welle der Rebellion, zu großen Streiks gezwungen und finden so den Weg zu Einheit und Klassenbewusstsein. Sie formen das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus in eine neue Form, die an einen höher entwickelten Kapitalismus angepasst ist. Wenn der Kapitalismus danach zu noch mächtigeren Formen heranwächst, kann dieses neue Gewerkschaftswesen/Syndikalismus natürlich nicht dem Schicksal aller Gewerkschaften/Syndikate entgehen, und dann produziert es die gleichen inneren Widersprüche.

Die bemerkenswerteste Form entstand in Amerika, in den „Industrial Workers of the World“. Die i.w.w. entstand aus zwei Formen der kapitalistischen Expansion. In den riesigen Wäldern und Ebenen des Westens erntete der Kapitalismus die natürlichen Reichtümer mit den Methoden des Wilden Westens, der wilden und brutalen Ausbeutung, und die Arbeiterinnen und Arbeiter wehrten sich ebenso wild und eifersüchtig dagegen. Und in den östlichen Staaten wurden neue Industrien gegründet, die auf der Ausbeutung von Millionen armer Einwanderer beruhten, die aus Ländern mit niedrigem Lebensstandard stammten und nun in Ausbeuterbetrieben oder unter anderen miserablen Arbeitsbedingungen arbeiten mussten.

Gegen den engstirnigen, handwerklichen Geist des alten Gewerkschaftswesens/Syndikalismus, der A.F. of L (A.d.Ü., American Federation of Labor)., der die Arbeiterinnen und Arbeiter eines Industriebetriebs in eine Reihe von getrennten Gewerkschaften/Syndikate aufspaltete, stellte die i.w.w. den Grundsatz: Alle Arbeiterinnen und Arbeiter einer Fabrik müssen als Gefährte und Gefährtinnen gegen den einen Meister eine Gewerkschaft/Syndikat bilden, um als starke Einheit gegen den Arbeitgeber zu agieren. Gegen die Vielzahl der oft eifersüchtigen und zänkischen Gewerkschaften/Syndikate stellte der i.w.w. die Parole auf: eine große Gewerkschaft/Syndikat für alle Arbeiterinnen und Arbeiter (A.d.Ü., One big union for all the workers). Der Kampf der einen Gruppe ist die Sache aller. Die Solidarität erstreckt sich auf die gesamte Klasse. Entgegen der hochmütigen Verachtung der gut bezahlten alten amerikanischen Facharbeiter gegenüber den unorganisierten Einwanderern, waren es diese am schlechtesten bezahlten Proletarier, die der i.w.w. in den Kampf führte. Sie waren zu arm, um hohe Beiträge zu zahlen und gewöhnliche Gewerkschaften/Syndikate zu gründen. Aber als sie ausbrachen und sich in großen Streiks auflehnten, war es der i.w.w., der ihnen beibrachte, wie man kämpft, der im ganzen Land Unterstützungsgelder sammelte und der ihre Sache in seinen Zeitungen und vor Gericht verteidigte. Durch eine glorreiche Reihe von großen Schlachten brachte sie den Geist der Organisation und des Selbstvertrauens in die Herzen dieser Massen. Im Gegensatz zum Vertrauen in die großen Kassen der alten Gewerkschaften/Syndikate setzten die Industriearbeiterinnen und -arbeiter auf die lebendige Solidarität und die Kraft des Durchhaltens, getragen von einer brennenden Begeisterung. Anstelle der schweren, gemauerten Gebäude der alten Gewerkschaften/Syndikate vertraten sie das Prinzip des flexiblen Aufbaus, mit einer schwankenden Mitgliederzahl, die in Friedenszeiten schrumpft und im Kampf selbst anschwillt und wächst. Im Gegensatz zum konservativen kapitalistischen Geist der Gewerkschaften/Syndikate waren die Industriearbeiterinnen und -arbeiter antikapitalistisch und standen für die Revolution. Deshalb wurden sie von der gesamten kapitalistischen Welt mit großem Hass verfolgt. Sie wurden ins Gefängnis geworfen und aufgrund falscher Anschuldigungen gefoltert; für sie wurde sogar ein neues Verbrechen erfunden: das des „kriminellen Syndikalismus“.

Industrieller Syndikalismus/Gewerkschaftswesen allein ist als Methode zum Kampf gegen die Kapitalistenklasse nicht ausreichend, um die kapitalistische Gesellschaft zu stürzen und die Welt für die Arbeiterklasse zu erobern. Sie bekämpft die Kapitalisten als Arbeitgeber auf dem ökonomischen Feld der Produktion, aber sie hat nicht die Mittel, um ihre politische Hochburg, die Staatsmacht, zu stürzen. Trotzdem ist der I.W.W. bisher die revolutionärste Organisation in Amerika gewesen. Mehr als jede andere hat sie dazu beigetragen, Klassenbewusstsein und Einsicht, Solidarität und Einheit in der Arbeiterklasse zu wecken, ihren Blick auf den Kommunismus zu richten und ihre Kampfkraft vorzubereiten.

Die Lehre aus all diesen Kämpfen ist, dass das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus gegen den Großkapitalismus nicht gewinnen kann. Und wenn es doch einmal gewinnt, dann sind diese Siege nur eine vorübergehende Erleichterung. Und doch sind diese Kämpfe notwendig und müssen geführt werden. Bis zum bitteren Ende? – Nein, bis zum besseren Ende.

Der Grund dafür ist offensichtlich. Eine isolierte Gruppe von Arbeiterinnen und Arbeitern mag einem Kampf gegen einen isolierten kapitalistischen Arbeitgeber gewachsen sein. Aber eine isolierte Gruppe von Arbeiterinnen und Arbeitern ist gegen einen Arbeitgeber, hinter dem die gesamte Kapitalistenklasse steht, machtlos. Und das ist hier der Fall: Die Staatsmacht, die Geldmacht des Kapitalismus, die öffentliche Meinung der Mittelklasse, angestachelt durch die kapitalistische Presse, greifen die Gruppe der kämpfenden Arbeiterinnen und Arbeiter an. Aber steht die Arbeiterklasse hinter den Streikenden? Die Millionen anderer Arbeiterinnen und Arbeiter betrachten diesen Kampf nicht als ihre eigene Sache. Sicherlich sympathisieren sie und sammeln oft Geld für die Streikenden, was eine gewisse Erleichterung bringen kann, sofern die Verteilung nicht durch eine richterliche Verfügung untersagt wird. Aber diese nachsichtige Sympathie überlässt den wirklichen Kampf der streikenden Gruppe allein. Die Millionen stehen abseits, passiv. So kann der Kampf nicht gewonnen werden (außer in einigen besonderen Fällen, wenn die Kapitalisten es aus geschäftlichen Gründen vorziehen, Zugeständnisse zu machen), weil die Arbeiterklasse nicht als eine ungeteilte Einheit kämpft.

Anders sieht es natürlich aus, wenn die Masse der Arbeiterinnen und Arbeiter einen solchen Kampf als etwas ansieht, das sie direkt betrifft; wenn sie merken, dass ihre eigene Zukunft auf dem Spiel steht. Wenn sie selbst in den Kampf ziehen und den Streik auf andere Fabriken, auf immer mehr Industriezweige ausweiten, dann muss die staatliche Macht, die kapitalistische Macht, geteilt werden und kann nicht vollständig gegen die einzelne Gruppe von Arbeiterinnen und Arbeitern eingesetzt werden. Sie muss sich der kollektiven Macht der Arbeiterklasse stellen.

Die Ausweitung des Streiks auf immer breitere Kreise bis hin zum Generalstreik ist oft als Mittel zur Abwendung der Niederlage empfohlen worden. Aber das ist natürlich kein wirklich zweckmäßiges Muster, auf das man zufällig stößt und das den Sieg garantiert. Wäre das der Fall, hätten die Gewerkschaften/Syndikate es sicherlich schon mehrfach als reguläre Taktik eingesetzt. Es kann nicht von den Anführern der Gewerkschaften/Syndikate nach Belieben als einfache taktische Maßnahme verkündet werden. Sie muss den tiefsten Gefühlen der Massen entspringen, als Ausdruck ihrer spontanen Initiative, und diese wird erst dann geweckt, wenn das Thema des Kampfes größer ist oder wird als ein einfacher Lohnkampf einer Gruppe. Nur dann werden die Arbeiterinnen und Arbeiter ihre ganze Kraft, ihren Enthusiasmus, ihre Solidarität und ihr Durchhaltevermögen in den Kampf einbringen.

Und all diese Kräfte werden sie brauchen. Denn auch der Kapitalismus wird stärkere Kräfte als bisher ins Feld führen. Vielleicht wurde er durch die unerwartete Demonstration proletarischer Kraft besiegt und überrumpelt und hat deshalb Zugeständnisse gemacht. Aber danach wird er neue Kräfte aus den tiefsten Wurzeln seiner Macht schöpfen und seine Position zurückerobern. Der Sieg der Arbeiterinnen und Arbeiter ist also weder dauerhaft noch sicher. Es gibt keinen klaren und offenen Weg zum Sieg; der Weg selbst muss unter immensen Anstrengungen durch den kapitalistischen Dschungel gehauen und gebaut werden.

Aber auch so wird er einen großen Fortschritt bedeuten. Eine Welle der Solidarität ist durch die Massen gegangen, sie haben die immense Kraft der Klasseneinheit gespürt, ihr Selbstvertrauen ist gestiegen, sie haben den bornierten Gruppenegoismus abgeschüttelt. Durch ihre eigenen Taten haben sie eine neue Weisheit erlangt: was Kapitalismus bedeutet und wie sie als Klasse gegen die Kapitalistenklasse stehen. Sie haben einen Blick auf ihren Weg in die Freiheit erhascht.

So weitet sich das enge Feld des gewerkschaftlichen/syndikalistischen Kampfes zum weiten Feld des Klassenkampfes. Aber jetzt müssen sich die Arbeiterinnen und Arbeiter selbst ändern. Sie müssen einen breiteren Blick auf die Welt werfen. Von ihrem Beruf, ihrer Arbeit innerhalb der Fabrikmauern, muss sich ihr Blick auf die Gesellschaft als Ganzes weiten. Ihr Geist muss sich über die unbedeutenden Dinge um sie herum erheben. Sie müssen sich mit dem Staat auseinandersetzen; sie betreten das Reich der Politik. Die Probleme der Revolution müssen angegangen werden.

J.H.


Anhang

Jenseits von Operaismus und Syndikalismus. Das Ende des Syndikalismus entspricht dem Ende des Operaismus

Für uns ist es auch das Ende der quantitativen Illusion der Partei und der spezifischen Syntheseorganisation. Die Revolte von morgen wird neue Wege gehen.

Die Gewerkschaft/Syndikat befindet sich auf dem Weg zu ihrem traurigen Untergang.

Auf Gedeih und Verderb geht mit dieser strukturellen Form des Kampfes eine Epoche, ein Modell und eine zukünftige Welt zu Ende, die als (verbesserte und korrigierte) Reproduktion der gegenwärtigen Welt gesehen wird.

Wir bewegen uns auf neue und tiefgreifende Umwälzungen zu. In der Produktionsstruktur, in der Sozialstruktur.

Auch die Methoden des Kampfes, die Aussichten und die mittelfristigen Pläne selbst werden verändert.

Die sich ausbreitende Industriegesellschaft eignete sich gut für das Instrument der Gewerkschaften/Syndikate, die von einem Kampfinstrument bald zu einem Instrument der Unterstützung der Produktionsstruktur selbst wurden.

Auch der revolutionäre Syndikalismus spielte eine Rolle: Er trieb die kämpferischsten Komponenten der Arbeiterbewegung voran, drängte sie aber gleichzeitig als Fähigkeit zurück, über die Gesellschaft der Zukunft, die kreativen Bedürfnisse der Revolution nachzudenken. Alles blieb in der Dimension der Fabrik verpackt.

Der Operaimsus war nicht nur ein Gemeinplatz des autoritären Kommunismus. Privilegierte Orte der Klassenkonfrontation zu lokalisieren, ist immer noch eine der tief verwurzelten Gewohnheiten, die sich nicht ändern lassen.

Das Ende des Gewerkschaftswesens/Syndikalismus also. Wir führen dieses Gespräch nun schon seit mehr als fünfzehn Jahren [1975-1986].

Früher ernteten wir Kritik und Erstaunen, vor allem, wenn wir den Anarchosyndikalismus in einen Topf mit derselben negativen Bewertung warfen. Heute werden wir leichter akzeptiert. Denn wer ist nicht kritisch gegenüber dem Gewerkschaftswesen/Syndikalismus? Jeder, oder fast jeder. Nur vergessen wir die Zusammenhänge. Unsere Kritik an dem Gewerkschaftswesen/Syndikalismus war auch eine Kritik an der „quantitativen“ Methode, die alle Merkmale der Partei in „nuce“ aufweist; sie war auch eine Kritik an den spezifischen Syntheseorganisationen (z.B. – in gewisser Hinsicht – an der F.A.I. von heute und gestern); sie war auch eine Kritik an der Respektabilität der Klasse (A.d.Ü., eigentliche Spießbürgertum der Klasse), die von der Bourgeoisie übernommen und durch die Gemeinplätze der so genannten proletarischen Moral auf uns übertragen wurde. All das kann nicht beiseite gelassen werden.

Auch wenn es heute viele Gefährtinnen und Gefährten gibt, die mit uns in unserer mittlerweile traditionellen Kritik am Gewerkschaftswesen/Syndikalismus übereinstimmen, gibt es immer noch wenige, die alle Konsequenzen teilen, die sich aus dieser Kritik ergeben.

In der Welt der Produktion können wir nur mit Instrumenten intervenieren, die sich nicht in die quantitative Perspektive einordnen und daher nicht behaupten können, dass hinter ihnen spezifische anarchistische Organisationen stehen, die an der Hypothese der revolutionären Synthese arbeiten.

Dies erfordert eine andere Methode der Intervention, eine, die „Kerne“ in den Fabriken oder in den Zonen aufbaut und sich darauf beschränkt, den Kontakt zu einer spezifischen Struktur zu halten, die ausschließlich auf Affinität beruht. Aus der Beziehung zwischen der spezifischen Struktur und den Basiskernen entsteht ein neues Modell des revolutionären Kampfes, das darauf abzielt, die Strukturen des Kapitals und des Staates mit einer aufständischen Methodik anzugreifen.

Dieser Ansatz ermöglicht es, die tiefgreifenden Veränderungen in der Produktionsstruktur besser zu verfolgen. Die Fabrik wird bald verschwinden, an ihre Stelle werden neue

Produktionsorganisationen treten, die hauptsächlich auf Automatisierung basieren. Die Arbeitenden von gestern werden (teilweise) in eine Unterstützungsrealität (Dienstleistungen) oder einfach in eine kurzfristige Wohlfahrtssituation und langfristig in ein einfaches Überleben integriert werden. Neue Formen der Arbeit zeichnen sich am Horizont ab. Die klassische Arbeiterfront gibt es schon jetzt nicht mehr. Die Gewerkschaft /Syndikat natürlich auch nicht. Zumindest existiert sie nicht mehr in den Formen, in denen wir sie bisher kannten. Sie wird zu einer Art Holdinggesellschaft, die einen gesellschaftlichen Konsens herstellt. Ein Unternehmen wie jedes andere.

Ein Netzwerk von sich ständig verändernden Beziehungen, die alle unter dem Banner von Partizipation, Pluralismus, Demokratie, Versammlungsrecht usw. stehen, wird sich über die Gesellschaft ausbreiten und (fast) alle Kräfte der Subversion zügeln. Die extremen Aspekte des revolutionären Projekts werden systematisch kriminalisiert. Aber die Revolte wird neue Wege einschlagen, durch tausend neue unterirdische Kanäle eindringen und in hunderttausend plötzlichen Ausbrüchen blinder Wut, scheinbar zweckloser Zerstörung und einer neuen, unverständlichen Symbolik zum Vorschein kommen.

Wir müssen aufpassen, dass wir, die wir oft schmerzhafte und schwere Hypotheken aus der Vergangenheit mit uns herumtragen, nicht von einem Phänomen abgeschnitten werden, das wir am Ende nicht verstehen und dessen Gewalt uns an einem schlechten Tag sogar Angst machen könnte. Und wir müssen zuerst darauf achten, dass wir unsere kritische Analyse ohne Vorspiegelung falscher Tatsachen voll entfalten.

Alfredo M. Bonanno

[Veröffentlicht in „Anarchismo“ Nr. 52, Mai 1986, S. 3].

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Briefe zum Syndikalismus – Bartolomeo Vanzetti https://panopticon.blackblogs.org/2024/04/28/briefe-zum-syndikalismus-bartolomeo-vanzetti/ Sun, 28 Apr 2024 14:52:56 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5669 Continue reading ]]> Die Übersetzung ist von uns. Wir unterscheiden weder in diesem noch in anderen Texte zwischen Syndikalismus und Gewerkschaftswesen, genauso wenig zwischen Gewerkschaften und Syndikate, oder zwischen Gewerkschaftler/Gewerkschafterinnen und Syndikalisten/Syndikalistinnen. Wir beziehen uns auf den etymologischen Ursprung des Begriffs und auf die Verwendung dieser Begriffe (Syndikalismus, Syndikat, Syndikalisten/Syndikalistinnen) wie er im romanischen, also im ursprünglichen Raum, verwendet wird, wo keine Distinktionen gemacht werden, wie hier es einige tun und dabei dem Syndikalismus eine andere Aura zu geben, die er aber nicht hat.

Die Vorworte haben wir aus der französischen Ausgabe die von Anarchronique Editions, veröffentlicht wurde.


Briefe zum Syndikalismus

Bartolomeo Vanzetti

Originaltitel: Cartas sobre el sindicalismo Bartolomeo Vanzetti Erste Ausgabe: Barcelona, Juli 2015 diaclasa.net editorial[at]diaclasa.net Weder Rechte noch Pflichten Kostenlos für Gefangene, Strafgefangene und Sozialbibliotheken


Vorwort zur Ausgabe 20071

Ich bin und werde bis zum höchsten Augenblick (es sei denn, ich erkenne, dass ich im Irrtum bin) ein anarchistischer Kommunist sein, weil ich glaube, dass der Kommunismus die humanste Form des Gesellschaftsvertrags ist, weil ich weiß, dass der Mensch sich nur durch die Freiheit erheben, veredeln und vervollständigen kann2.

Dies sind die letzten Zeilen von Bartolomeo Vanzettis Autobiografie, die er im Gefängnis geschrieben hat und die erstmals 1924 vom Sacco-Vanzetti-Verteidigungskomitee veröffentlicht wurde.

Nachdem Vanzetti noch in Italien die Ideen des Frühsozialismus kennengelernt hatte, reifte seine anarchistische politische Überzeugung durch seine Erfahrungen als emigrierter Arbeiter in den Vereinigten Staaten. Ausschlaggebend war seine Begegnung mit der Gruppe von Luigi Galleani, einer damals sehr einflussreichen Gruppe innerhalb der Arbeiterbewegung, vor allem italienischer Herkunft. Auf den Seiten der „Cronaca Sovversiva. Anarchistische Wochenzeitschrift für revolutionäre Propaganda“, die 1903 von Galleani selbst gegründet wurde, bildeten sich viele Militante, die unter den proletarischen Massen sehr aktiv waren, und konfrontierten sie. Galleani war ein unermüdlicher Agitator, kompromisslos in den Grundsätzen des Anarchismus, ein entschiedener Verfechter anti-organisatorischer Positionen und ein Anhänger der direkten Aktion, der niemals sektiererisch war. „Seine Propaganda wirkte begeisternd, ja elektrisierend, und manchmal gelang es ihm, sich selbst in der amerikanischen Arbeiterbewegung verständlich zu machen, und zwar während der Agitationen, die von Lohn- und Gesetzesverbesserungen motiviert und geleitet wurden, bereits 1902 in Paterson, Barre, Lynn und anderen Industriezentren. „Galleani war ein anarchistischer Kommunist im Sinne Kropotkins, aber ein Anti-Organisator, weil er die autoritäre und kristallisierende Wirkung von Programmen und Plänen fürchtete. Er lehnte jedoch zeitweilige Vereinbarungen mit den Organisatoren nie ab und hatte immer einen tiefen und aufrichtigen Respekt vor Errico Malatesta und vor den positiven Auswirkungen seiner Aktion in einer Situation wie derjenigen in Italien“.3

Die politische Tätigkeit der Cronaca Sovversiva gegen Patriotismus und Krieg war während des Ersten Weltkriegs wichtig. Galleanis Urteil über den Krieg lässt sich gut im Titel des Buches zusammenfassen, das seine wichtigsten Artikel zu diesem Thema versammelt: „Gegen den Krieg, für den Frieden, für die soziale Revolution“. Über die Cronaca Sovversiva startete er einen Aufruf gegen die Einberufung italienischer Einwanderer in die amerikanische Armee, was in der Praxis eine Aufforderung war, die Wehrpflicht zu verweigern. In dem berühmten Artikel „Matricolati! (Melde dich!) prangert Galleani das italienische Proletariat in Amerika in seinem unverwechselbaren Stil an: „Du wusstest nie, wie man will, wie man sich traut; […. Heute will der Krieg, den du beschworen und gesegnet hast, neue Männer an der Front, andere Leichen, um die Lücke zu füllen, und hier oder dort, unter Maschinengewehren und Schlägen, wirst du die Haut riskieren, die du nie riskiert hast, um dem Bauch das tägliche Brot zu sichern, um den Geistern und den Häusern den Lichtstrahl zu geben, der an den Fronten und auf den Straßen der Zukunft brennt, und die Ziele, die Hoffnungen, die Kühnheiten und die Schicksale der Freiheit [….]. Sie werden sie registrieren, um ihre Haut abzustreifen, um sie bei der ersten Gelegenheit abzulegen“.4

1917 gingen Bartolomeo Vanzetti und Ferdinando Sacco (der sich erst nach seiner Ankunft in den USA Nicola nannte) zusammen mit anderen Gefährten heimlich nach Mexiko. Doch ihre beiden Situationen waren unterschiedlich: Nach dem Einberufungsgesetz konnten nämlich nur amerikanische Staatsbürger zwischen 21 und 30 Jahren und Ausländer, die das Verwaltungsverfahren zur Einbürgerung eingeleitet hatten, wie Vanzetti kurz zuvor, zum Militärdienst mobilisiert werden. Alle anderen, einschließlich Sacco, waren zu diesem Zeitpunkt nicht diensttauglich. Es ist zu befürchten, dass ihre Registrierung noch für zukünftige Einberufungen verwendet werden könnte.

Vor seiner Verhaftung hatte Vanzetti im Namen seiner Gefährten Andrea Salsedo und Roberto Elia intensive Propaganda- und Unterstützungsarbeit für eine anarchistische Gruppe in Boston geleistet. Elia und Salsedo waren im Februar 1920 von Bundesagenten des Bureau of Investigation verhaftet worden. Sie wurden für schuldig befunden, an einer Reihe von Bombenanschlägen im Frühjahr 1919 beteiligt gewesen zu sein, bei denen Paketbomben und Sprengsätze vor den Häusern von Mitgliedern der amerikanischen politischen und ökonomischen Elite platziert wurden (zu den Empfängern der Bomben gehörte Generalstaatsanwalt M. Palmer, der für die Deportation von Einwanderern und „sovversivi“ [Subversiven] zuständig war, J.D. Rockfeller und J.P. Morgan, führende Persönlichkeiten der Industrie und des Finanzwesens, sowie mehrere Mitglieder des Kongresses5). Salsedo, ein Typograf und Mitarbeiter der Cronaca Sovversiva, gab eine kleine Zeitschrift heraus, zu der auch Bartolomeo unter dem Pseudonym „Il Picconiere“ beigetragen hatte. Am 3. Mai, zwei Tage vor der Verhaftung von Sacco und Vanzetti, stürzte Salsedo aus dem vierzehnten Stock des Gebäudes, in dem er gefangen gehalten wurde, ein Selbstmord nach der offiziellen Version der Ereignisse. Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung hatte Sacco das Flugblatt in der Tasche, das eine Vollversammlung ankündigte, die zwei Tage später stattfinden sollte und auf der Vanzetti öffentlich den Mord an seinem Gefährten anprangern sollte.

In den Jahren vor der „Affäre“, als er noch ein anonymer Gastarbeiter war, hatte der Anarchist aus Villafalletto neben seiner militanten Tätigkeit auch einige Artikel in der Cronaca Sovversiva geschrieben, die immer mit „Il Picconiere“ unterzeichnet waren. Vom Knast in Charlestown aus beteiligte er sich außerdem an der Debatte über den Syndikalismus, die 1923 in den Spalten der L’Adunata dei Refrattari6 begann. Seine sechs Briefe, die zwischen Februar und Dezember desselben Jahres erschienen, wurden erstmals in einer Broschüre mit dem Titel „Letters on trade unionism“ (Briefe zum Syndikalismus) gesammelt, die 1957 von Edizioni L’Antistato in Cesena veröffentlicht wurde. Aus theoretischer Sicht sagt Vanzetti nichts Neues: Er vertritt stolz seine eigene politische Zugehörigkeit, indem er die Grundsätze in einfacher Sprache und zu Themen darlegt, die heute bei oberflächlicher Betrachtung altmodisch erscheinen könnten. Aber abgesehen von den Verweisen auf die Debatten seiner Zeit, was sagen uns diese Schriften?

Enthalten sie noch immer gültige Hinweise, um die Mechanismen der heutigen Gesellschaft zu interpretieren und politische Interventionen in ihr anzuregen?

Im ersten Brief löst Picconiere die Frage des Syndikalismus unmissverständlich. Er „entweder autoritär oder libertär ist: Wenn er autoritär ist, ist er Sozialismus; wenn er libertär ist, ist er Anarchismus“. Wir sehen in seinen Ideen ein Primat der politischen, globalen Sphäre über die der Verhandlung von Forderungen. Das Ziel der Arbeiter muss die soziale Revolution sein, nicht eine Bewegung für partielle Reformen, die sich auf eine günstigere Gesetzgebung für die Beziehungen zwischen Arbeit und Arbeitgeberverband beschränkt. Die Gesellschaft wird sich nicht ausschließlich durch den Kampf um die Arbeit verändern lassen: Das ist der Kern seiner entschieden antisyndikalistischen Haltung. In der Tat „ist es für eine Gewerkschaft/Syndikat oder eine ähnliche Organisation sinnlos, gegen die Arbeiterklasse zu agieren, da die von ihr unterstützten Forderungen (wie höhere Löhne, Gesetze zum Schutz der Arbeit von Frauen und Kindern, Arbeitslosengeld, Krankenversicherung…) „ein Hindernis auf dem Weg zur ganzheitlichen Befreiung“ darstellen […]. Für Vanzetti wie auch für Nicola Sacco war es daher notwendig, dass Anarchistinnen und Anarchisten in die Arbeiterorganisationen eintreten, ohne „irgendeine Verantwortung zu übernehmen, sondern den Autoritarismus durch ständige Kritik zu bekämpfen und ihren Gefährten den Betrug aufzuzeigen, der sich hinter der offiziellen Linie“ bestimmter syndikalistischen Organisationen verbirgt. Darüber hinaus war es notwendig, eine Linie vorzuschlagen, die auf direkter Aktion beruht und zum Sieg der proletarischen Kämpfe führt, wobei andere Mittel eingesetzt werden müssen, die viel wirksamer sind als die bisher angewandten, (um) die Wertschätzung und das Vertrauen der organisierten (Arbeiter) zu gewinnen“7. Die Aktion der Gewerkschaften/Syndikate ist nicht nur nutzlos, fügen wir im Geiste von Vanzettis Schriften hinzu, sondern auch schädlich, da diese notwendigerweise autoritären Strukturen den subversiven Impuls der Massen einschließen und auf reformistische Ziele lenken. Es ist der alte Diskurs von Mitteln und Zielen. Es ist absurd zu behaupten, dass die Gewerkschaften/Syndikate der Arbeiter durch die Praxis ihrer Forderungen Mittel für die Revolution sind, die das Bestehende stürzen und eine neue Welt befreien wird. Die Gewerkschaften/Syndikate sind von Natur aus reformistische und bürokratische Strukturen, die dem kapitalistischen Gesellschaftssystem inhärent sind, während die einzige Perspektive für die ausgebeuteten Massen der endgültige Bruch mit der Vergangenheit ist, sogar mit ihrer eigenen Vergangenheit als Partei-Kirche, indem sie vor allem in sich selbst Privilegien und Autorität abschaffen. Kurz gesagt, schreibt Picconiere: „Darüber zu diskutieren, ob der Syndikalismus ein Mittel ist, um Revolution und Anarchie zu begegnen, [ist] einfach dumm“.

Wir können leicht nachvollziehen, dass die Arbeitswelt zu Vanzettis Zeiten das wichtigste Terrain des Kampfes und der politischen Aktion in einer revolutionären Perspektive war, so wie es auch für einen Großteil des 19. und 20. Jahrhunderts. Aber Vanzettis zeitgenössischer Syndikalismus hat seine revolutionäre Ladung längst erschöpft, und die Gewerkschaften/Syndikate, die er als „sozialistisch“ oder besser „autoritär“ bezeichnete, sind ganz natürlich (weil es in der Logik der Dinge lag) zu den selbstreferentiellen und bürokratischen Organisationsformen zurückgefallen, die der sogenannten Demokratie eigen sind. Kein Syndikalist redet noch von der Abschaffung der sozialen Klassen und der Kontrolle der Produktionsmittel durch die Arbeiter in der globalisierten Welt (gegenteilige Beispiele finden sich jedoch in den jüngsten Experimenten des Kampfes und der Selbstverwaltung von Fabriken in Südamerika).

Eine Debatte wie die, die Vanzetti in seinen Briefen aus dem Knast geführt hat, scheint heute weit von der Realität entfernt zu sein, zumindest in den westlichen Ländern. Aber das ist noch nicht alles… Vielleicht sollten wir die Aktualität seiner Schriften nicht nur im Bereich der syndikalistischen Fragen suchen.

Vanzetti spricht in filigraner Weise über seine Vorstellung von Anarchismus. Wir kämpfen, so schreibt er, „für die Abschaffung jeglicher Autorität“, wir streben nach „einen umfassenden ökonomischen Wandel“, „tatsächlich streben wir eine Gesellschaftsform an, in der die Freiheit der Individuen, Gruppen, Kommunen und Konföderationen gewährleistet ist. „, „wir negieren die gegenwärtige politische Form ab und schlagen eine andere vor, die einzige, die die Erde aus den Händen der Politiker befreien kann“. Er weist insbesondere und eindringlich darauf hin, was seiner Meinung nach die Aufgaben der Revolutionäre sind: „dem Proletariat auf dem Weg zur Emanzipation vorauszugehen, ihm den Weg zu leuchten, die Fackel der Wahrheit zu tragen und mit gutem Beispiel voranzugehen. […]

Und die erste Bedingung ist die Vermittlung der grundlegenden Wahrheiten des Anarchismus, die, wenn man weiß, wie man sie vermitteln kann, auch dem einfachen Geist des Bescheidenen zugänglich sind. Er hat keine Zweifel über den Weg vorwärts: „Alles, was die Revolte und die Freiheit nicht fördert, ist ein Hindernis für sie“. Er betont den Wert der Bildung, die Bedeutung des Willens und der individuellen Aktion: „Die individuelle Rebellion ist das Prodrom des kollektiven Aufstands“.

Er ist sich auch darüber im Klaren, was es bedeutet, für eine Welt der Freiheit zu kämpfen. Der Idealist und Theoretiker, der wegen eines Verbrechens verurteilt wurde, für das er sich nicht schuldig bekannte, war sich jenseits von großspurigen Reden durchaus bewusst, was es heißt, gegen Unterdrückung zu kämpfen. In einem Brief an seine Gefährtinnen und Gefährten schrieb er: „Tod für Tod. Wir kämpfen für den Triumph einer Sache, nicht um von den Wächtern zermalmt zu werden, wir werden niemals gewinnen, wenn wir sie nicht stürzen. Sie sind Söldner, wir sind Idealisten; könnte ein freier Mensch oder ein Rebell zulassen, dass sie mit ihm machen, was sie wollen? „8 Die Rolle, die der anarchistischen Bewegung oder besser noch jedem ihrer Anhänger zugeschrieben wird, die sowohl Teil als auch Beispiel für die Ausgebeuteten sind, die sich gegen die Unterdrückung auflehnen, scheint plötzlich offensichtlich. Vanzetti verweist auf die Instrumentalisierung der Massen durch die Berufspolitiker: „Die Massen folgen eher den Personen als den Ideen. Der Grund dafür ist klar. Die Massen sind extrem unwissend und ständig von den Problemen des Lebens isoliert, die sie nicht zu lösen wissen. […] Deshalb ist das Volk das ewige Opfer von Politikern, Priestern, Militarismus, Sklavenhändlern, den verdammten Hirten, und entgegen der grausamen tausendjährigen Erfahrung hat es sich noch nicht entschlossen, sich zu emanzipieren, auf eigenen Füßen zu stehen.“ Die Täuschung der Armen und Ausgebeuteten durch diejenigen, die vorgeben, ihre Anführer zu sein, gab es schon zu Vanzettis Zeiten und gibt es, sowohl in glänzender und abscheulicher Form als auch auf heimtückischere Weise, auch heute noch: „Es ist die ewige Täuschung des Volkes und der Parias. Es ist die Täuschung des guten Glaubens, der Einfachheit, des Heldentums, des Opfers der Elenden, deren Haut und großzügigem Blut alle Revolutionen ihren Triumph verdanken. Es ist das unvermeidliche Ergebnis jeder Sache, die nicht endgültig mit der Vergangenheit bricht, die Privilegien und Autorität bewahren will.“

In seinem fünften Brief an L’Adunata dei Refrattari verurteilte Picconiere scharf die Strömungen der sozialistischen Parteien und Arbeiterorganisationen, die „vom Marxismus kontaminiert (waren): Eroberung der öffentlichen Gewalt, Kollaborationismus, Kooperativismus, Minimalprogramm, Sozialdemokratie und so weiter.“ Seiner Meinung nach hatten die marxistisch inspirierten Parteien und Gewerkschaften/Syndikate den Internationalismus und den revolutionären Impetus ihrer Ursprünge aufgegeben und verhandelten schließlich mit dem Feind. Die subversiven Aktionen der ersten sozialistischen Vereinigungen wurden laut Vanzetti eher von einem bestimmten Willen der Basis diktiert als von der Wahl der Ideen: Als sich die Organisationsstruktur durchsetzen konnte, wurden Unbeweglichkeit und demokratisches Abwarten notwendig. Im folgenden Brief stellt er die rhetorische Frage, was passieren würde, wenn das Volk nach der Revolution zuließe, dass diese autoritären Parteien „an die Macht kommen“. „einen neuen Staat, eine neue Autorität mit ihren Gesetzen, ihren Gefängnissen, ihrer Polizei, ihren Henkern und Armeen zulassen würden“ ist die Antwort, die tautologisch in der Frage enthalten ist.

Aber seine Kritik an sozialistischen Organisationen lässt sich auf jede Organisation als solche ausweiten; nicht zufällig kritisiert er auch die anarchosyndikalistische Position seines Gesprächspartners. Um zu existieren, muss eine strukturierte Organisation die Besonderheit jedes Individuums regulieren und seine Autonomie einschränken, und zwar im Namen ihrer eigenen Ziele (wenn ihr eigenes Überleben nicht das Ziel ist) und von Entscheidungsverfahren, die den Mechanismen der Repräsentation und Führung kaum entgehen. Dieser Form des Autoritarismus setzt Vanzetti die spontane und autonome Aktion der arbeitenden Massen entgegen (in diesem konkreten Fall, aber der Diskurs ist auch allgemeiner gültig). „Um zu siegen“, schreibt er, „es notwendig ist, mit all der Vergangenheit zu brechen, es ist notwendig, das Proletariat von den Fesseln, den Ketten, den Illusionen und dem Wahn des Arbeitersyndikalismus zu befreien.“, d.h. es ist notwendig, den spontanen revolutionären Impuls durch die trügerischen organisatorischen Mittel zu ersetzen.

Picconiere analysiert auch schonungslos, aber ohne jemals die Hoffnung auf die Möglichkeit der Befreiung und auf die rettende Kraft des Willens zur Freiheit zu verlieren, die Tendenz zur Unterwerfung der proletarischen Masse, die ihm zufolge „da ihm der Mut fehlt, dem Gesetz die Stirn zu bieten“ und „sucht er sein Heil im Bordell, in der Taverne, in der Lotterie, in der gewalttätigen politischen Parteinahme“. „Denn wenn das Proletariat geistig und moralisch emanzipiert wäre, hätte es schon längst seine Revolution gemacht; und wenn es jetzt emanzipiert wäre, würde es seine Revolution machen.“ Unter diesen Massen, die es vernünftigerweise nicht als explizit revolutionär betrachtet, ist es die Aufgabe der Anarchistinnen und Anarchisten, der Funke des Aufstandes zu sein. Denn selbst angesichts der Duldung des Systems durch die Ausgebeuteten gibt Vanzetti nicht nach. Nur der individuelle Wille, die Aktion des Individuums oder kleiner Gruppen „wird die Wiederaufnahme der populären Kämpfe herbeiführen“. Kämpfe, die sich dann sowohl quantitativ zu denen großer Teile der Bevölkerung entwickeln als auch in die Tiefe gehen müssen, indem sie sich vom spezifischen Terrain der Fabrik wegbewegen und die gesamte Gesellschaft umfassen, von der die Arbeit nur ein Aspekt ist. Im letzten Brief zitiert Picconiere einen Artikel (dessen Autor wir nicht kennen), der in der Cronaca Sovversiva erschien und der seiner Meinung nach sein Denken am besten erklärt. „[…] Ketzerei wird zur Lehre, die einzelne Tat schwängert die Massen mit ihren satanischen Vorzügen; Streiks, die aus kleinen Gruppen bestehen […] werden zu kühnen Aufständen, bei denen sich die großen Massen in der Fabrik, in der Provinz, in der Nation vereinigen, um den Feind in seinen Höhlen anzugreifen […] Auch hier (auf unserer Seite) die individuelle Revolte, der kollektive Aufstand, die Revolution.“

Während Vanzetti im Knast sitzt, sind die starken Impulse, die die Welt in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg zu erschüttern schienen, mit der Befriedung (und manchmal der Verwendung in einem reaktionären Sinne) jener Massen, die die Mächtigen in Angst und Schrecken versetzt hatten, und mit der demokratischen Strömung der marxistischen Parteien wieder aufgegriffen worden. „Die einzigen, die eine soziale Revolution wollen, sind die Anarchisten und Anarchosyndikalisten.. […] Deshalb sind wir heute allein.“ Diese bittere Tatsache ändert jedoch nichts an der Notwendigkeit eines radikalen Wandels und damit an der Notwendigkeit, in dieser Richtung individuell oder in kleinen Gruppen zu handeln. Eine Lektion, die sich diejenigen merken sollten, die wie wir heute in der „besten aller möglichen Welten“ leben.

Macht ist die zentrale politische Frage, und Anarchistinnen und Anarchisten haben sie nicht nur immer verurteilt, sondern auch auf die Risiken hingewiesen, die realen Impulse für Veränderungen in den üblichen Fallen der Repräsentation und Delegation zu suchen. Vanzetti warnt vor den Fallen, die die potenziell subversive Kraft der Massen korrumpieren, indem er in denjenigen, die behaupten, sie zu führen, indem sie sich ihre Vertretung anmaßen, die Hauptschuldigen für das Scheitern der revolutionären Bewegungen der Vergangenheit erkennt. Sich verpflichten, sich an die bestehenden Regeln zu halten und sich mit der Organisation zu besessen, trägt sicherlich nicht dazu bei, das Feuer der Revolte zu schüren, das den Kapitalismus und die ungerechte Gesellschaftsordnung, die aus ihm hervorgeht, hinwegfegen sollte.

Mit einer kritischen Haltung gegenüber jeglicher Autorität in den Bewegungen zu sein, subversiv gegenüber den Logiken zu sein, die die Forderungen in verpflichtenden Praktiken „begrenzen“: Das, sagt Vanzetti, ist die Aufgabe der Revolutionäre. Heute wie in der Vergangenheit. Radikale Praktiken des Kampfes zu experimentieren, die die Spannung zur ganzheitlichen Befreiung von Männern und Frauen wertschätzen, ohne Angst davor zu haben, vordefinierte Organisationsformen annehmen zu müssen. Uns selbst gegenüber kritisch zu sein, bereit, unsere Gewissheiten in Frage zu stellen, wenn die Ereignisse uns mit Misserfolgen oder unvorhergesehenen Realitäten konfrontieren. In unserem täglichen Verhalten und im Kampf an der Seite derer, denen wir auf dem Weg zur Emanzipation begegnen, kohärent zu sein. Kurz gesagt: Wir sind Anarchistinnen und Anarchisten (es sei denn, wir stellen eines Tages fest, dass wir uns geirrt haben).


Vorwort zur Ausgabe von 19579

[Wir geben hier das Vorwort zur Ausgabe der Briefe von 1957 wegen seines historischen Beitrags und der darin enthaltenen Klarstellungen wieder, nicht aber einen Teil des Endes des Textes, in dem der Autor über sein Konzept der direkten Aktion spricht. Er ist daher hier nicht enthalten, da er nicht unsere Zustimmung findet; außerdem ist er, was unsere Auswahl erleichtert, nicht notwendig].

Im Gefängnis las Vanzetti alle Bücher, die er bekam; nicht so sehr, um sich die Zeit zu vertreiben, sondern um zu lernen, auf der Suche nach gültigen Elementen für die Lösung des sozialen Problems. Seine Schriften aus dieser Zeit sind die Frucht vieler Überlegungen und ein wertvoller Beitrag für die Sache, für die er sich einsetzte, sowie ein Spiegel seines edlen Herzens und seiner scharfen Intelligenz: unzählige Briefe an Freunde und Gefährten, Artikel für proletarische Zeitungen in italienischer Sprache, Erklärungen, die Vanzetti selbst für die Verteidigung während verschiedener Debatten im Prozess vorbereitete, und schließlich zwei autobiografische Werke, darunter die „Geschichte eines proletarischen Lebens“, die in 20 Zeitungen in Fortsetzungen veröffentlicht wurde und viel Lob erhielt.

Die sechs Briefartikel, die die Verlagsgruppe „L’Antistato“ heute in Heftform herausgibt, stammen aus den Ausgaben der „L’Adunata dei Refrattari“ von 1923. Sie befassen sich mit einem Thema, das auch heute noch viel diskutiert wird, nämlich dem Verhältnis zwischen Anarchismus und Syndikalismus. Und diese neue Ausgabe kommt zur richtigen Zeit, denn nach wie vor halten viele Menschen, die die Gründe für unsere Ablehnung des Syndikalismus nicht kennen, die anarchistische Position für abstrakt theoretisch und unfähig, in den Kämpfen der Arbeiter konkret zu handeln.

Vanzettis aufschlussreiche Analysen, die sich auf die breiteste historische Erfahrung stützen, und die klaren Argumente, die er daraus ableitet, sind immer dazu geeignet, diesen Irrtum der Perspektive bei denjenigen zu beseitigen, die sie ohne Vorurteile lesen. Und man darf nicht vergessen, dass die Ideen, die Vanzetti in einer reinen Meditationsphase niederschreibt, dieselben sind, die sein gesamtes Handeln in den zwölf Jahren vor seiner Verhaftung geleitet haben; ein Handeln, das die schreckliche juristische Intrige gegen ihn und Sacco, einen anderen der aktivsten und intelligentesten in den Arbeiterkämpfen, nach sich zog, genauso wie der große Einfluss, den die Gruppen der „Cronaca Sovversiva“ (mit der gleichen Tendenz wie Vanzetti) über ein weites Gebiet ausübten, den Zorn der herrschenden Klassen und der konstituierten Macht auf sich zog.

Denn sie waren mehr als nur abstrakte Theorien.

Sie zeigten mit ihrem Beispiel, wie jede Anarchistin und jeder Anarchist mit klaren Vorstellungen und dem Mut, danach zu handeln, es heute tut, wie es möglich ist, konkret in eine revolutionäre Richtung zu arbeiten, ohne den eigentlichen Weg des Anarchismus zu verlassen.

Vanzettis These, die auch die der spezifischen anarchistischen Bewegung als Ganzes ist, leugnet nicht den Wert, ja sogar die Notwendigkeit einer konkreten Vereinigung der Arbeiterinnen und Arbeiter als unverzichtbare Grundlage für ihre Emanzipation; aber er will vor der leichten Illusion warnen, dass eine Gewerkschaft/Syndikat oder irgendeine Organisation diese von sich aus konkretisieren kann; noch weniger, wenn sie von Parteien oder Anführern beeinflusst oder genötigt wird. Auch weil Institutionen im Allgemeinen (und unter ihnen auch die Gewerkschaft/Syndikat, die in einer in antagonistische Klassen gespaltenen Gesellschaft entstanden ist) von Natur aus dazu neigen, Zustände aufrechtzuerhalten, die über die kontingenten Bedürfnisse hinausgehen, mit denen sie bei ihrer Entstehung konfrontiert waren, und so ihrerseits ein Hindernis für die Dynamik des sozialen Wandels darstellen. Vor allem aber, weil nur die Praxis der direkten Aktion im Bewusstsein der Arbeiterinnen und Arbeiter allmählich ihre gemeinsamen Interessen verdeutlichen und die Voraussetzungen für eine echte Vereinigung schaffen kann, die somit ein Ergebnis, ein Ziel und keine Voraussetzung ihrer Vereinigung ist.

Es war die alte Warnung des anarchistischen Föderalismus an die autoritären Sektionen der Ersten Internationale, die bereits Ende 1872 auf dem Haager Kongress und dann in Saint-Imier deutlich ausgesprochen worden war. Diese Warnung, deren Unverständnis und Ablehnung das Opfer so vieler vom revolutionären Geist durchdrungener Massen nutzlos machte, die aufgrund dieses anfänglichen Unverständnisses unmerklich in die alten Schemata der politisch-sozialen Organisation, zu deren Bekämpfung sie entstanden waren, zurückgezogen wurden, bis sie jeden revolutionären Charakter verloren.

Dieses Phänomen der Regression war bereits 1923 (als diese Briefe geschrieben wurden) deutlich zu erkennen und Vanzetti gibt uns ein umfassendes Bild davon. Außerdem zeigt schon die Entstehung des Syndikalismus als Forderung nach einer Rückkehr zu revolutionären Methoden, dass der Wechsel von den ursprünglichen Positionen auch innerhalb der Gruppen, die bereits der Ersten Internationale angehörten, wahrgenommen wurde. Das bedeutet nicht, dass die Mittel, um dies zu ändern, unzureichend waren.

Seitdem haben sich viele Fakten angehäuft, die die anarchistische These bestätigen; und die Arbeiterinnen und Arbeiter, wenn sie nicht schon längst die Gewohnheit abgelegt hätten, mit dem eigenen Kopf zu denken, anstatt ihren Predigern immer wieder zu glauben, hätten etwas zum Nachdenken, um zu verstehen, inwieweit ihre kleinen Errungenschaften illusorisch sind und warum ihre Probleme, weit davon entfernt, gelöst zu sein, immer komplizierter werden.

Fangen wir noch einmal von vorne an.

Die Arbeiterorganisation auf internationaler Ebene entstand spontan aus der Übereinstimmung der Interessen und Bestrebungen der Arbeiter aller Länder, die sich gegen die Tyrannei des Kapitalismus richteten. Unterschiedliche Denkströmungen hatten sich demselben Ziel genähert, und die Vitalität der Ersten Internationale beruhte auf dem aktiven Beitrag von Individuen zu Gruppen, von Gruppen zu größeren Vollversammlungen und zu der allumfassenden Organisation auf internationaler Ebene. Die Vielfalt der Ansätze hätte in den freien Debatten der Vollversammlung harmonisiert werden können, wenn das gemeinsame Interesse nicht dem einer Gruppe geopfert worden wäre. Doch Marx und seine Anhänger, unterstützt von einer Ideologie, die das Individuum leugnet und behauptet, es in der Gemeinschaft zu verwirklichen, lehnten diese föderalistische Lösung von Anfang an ab. Sie hielten sie für utopisch und stellten sie mit List und Gewalt der Praxis des autoritären Sozialismus entgegen, der durch die Eroberung der Macht – organisiert von der Zentrale mit eiserner Disziplin – zur Diktatur des Proletariats führen sollte, die als „Übergangsperiode“ betrachtet wurde, um die Gesellschaft freier und gleicher Menschen zu erreichen, nach der alle strebten.

Wir haben gesehen, inwieweit dieser auf Zwang basierende Internationalismus oder Unitarismus vergänglich war, vor allem angesichts des Phänomens „Krieg“, der, obwohl er den Interessen und der Solidarität des internationalen Proletariats im Kern zuwiderlief, nicht nur nicht vermieden, sondern sogar gespalten wurde und die Internationalisten selbst (als Ganzes) in sein Schicksal hineinzog. Letztere verwiesen die Lösung dieses schwerwiegenden Problems auf die Machtergreifung, ohne zu erkennen, dass es gerade die Macht ist, die Kriege hervorbringt. Und als sie sich, Lenin folgend, immer weiter von ihrem ursprünglichen Internationalismus entfernten, akzeptierten sie den Krieg, weil sie dachten, sie könnten die daraus resultierende Krise nutzen, um den Untergang des Kapitalismus herbeizuführen; eine Krise, die natürlich nicht eintrat, da der Krieg schon immer das natürliche Sicherheitsventil zur Überwindung der regelmäßigen ökonomischen Krisen war, denen der Kapitalismus, ob traditionell oder staatskapitalistisch, unterworfen ist.

Letztendlich geben diejenigen, die sich irreführenderweise „Friedensverteidiger“ nennen, ein Lippenbekenntnis zu einer Antikriegspropaganda ab, die, indem sie die wahren Kriegsursachen (d.h. den Staat, den Kapitalismus, die Autorität aller Seiten) ignorieren, zu einem hohlen Akademismus wird; während sie in der Praxis die widersprüchlichste Kriegstreiberei betreiben, indem sie einerseits nationalistische Kriege in Afrika und Asien gegen den westlichen Imperialismus unterstützen und anheizen, andererseits aber den Imperialismus des Ostens verteidigen, der sich nicht von dem anderen unterscheidet und dessen wahres Gesicht seit den schrecklichen Repressionen, dem Verrat und den Massendeportationen des heldenhaften ungarischen Volkes, das sich lediglich des Wunsches nach sozialer Gerechtigkeit und Unabhängigkeit sowohl im Osten als auch im Westen schuldig gemacht hat, niemand mehr ignorieren kann.

Aber nicht nur angesichts des Problems des Krieges brach der autoritäre Sozialismus mit dem Versprechen der Machtübernahme zusammen. Es reicht, seinem Gleichnis in groben Zügen zu folgen, um zu sehen, wie wenig von dem Programm und den Zielen der Ersten Internationale von dieser „pragmatischen“ Tendenz im Gegensatz zum „Utopismus“ der föderalistischen Anarchistinnen und Anarchisten verwirklicht wurde. Die sogenannte „demokratische“ und kollaborationistische Tendenz hat, wenn sie nicht völlig von der Bourgeoisie domestiziert wurde, immer zu Kriegen, zur Repression von Revolutionären und schließlich zu Faschismus, Nazismus, Falangismus, etc. geführt. Die Tendenz, einen „Übergang“ durch die Diktatur des Proletariats anzustreben, ist diejenige, die am weitesten verbreitet war und ist.

Die Tendenz zum „Übergang“ durch die Diktatur des Proletariats, die in Russland am weitesten und konsequentesten angewandt wurde, wo ihre 40-jährige Erfahrung keineswegs nur vorläufig ist, zeigt uns, wie sie zur grausamsten Ein-Mann- und Ein-Parteien-Diktatur geworden ist, wie die Anführer dieser Tendenz selbst in Chruschtschows Bericht an den 20. Kongress der KPdSU gestanden hat. Mit diesen Eingeständnissen sollten die Arbeiterinnen und Arbeiter die unmenschlichen Verfolgungen überdenken, denen die aufrichtigsten und selbstlosesten Revolutionäre in Russland ausgesetzt waren und die von denjenigen als Verräter betrachtet wurden, die wiederum innerhalb der führenden Partei selbst in den regelmäßigen Prozessen auf hoher Ebene zwischen 1934 und 1953 als Abweichler bezeichnet wurden: Denn dies waren Verbrechen, die nicht der Mann, sondern das ganze System verübte (so sehr, dass nicht einmal die Entstalinisierung etwas an seiner schrecklichen Ausrichtung änderte), ohne sich dabei auf die Errungenschaften des Sozialismus im ökonomischen Bereich berufen zu können (vgl. Stalins Erklärungen auf dem 19. Universitätskongress, die Aufstände in Ost-Berlin 1953 und in Polen und Ungarn 1956). Genauso wie der Verrat, der in Spanien innerhalb der revolutionären Front begangen wurde, der nicht auf irgendeine taktische Notwendigkeit zurückzuführen war, sondern nur auf die Sorge um die Hegemonie des russischen Bolschewismus über die anderen politischen Sektoren, eine Sorge, die sich überall in seiner Außenpolitik manifestierte, die der des Zarismus folgte.

Konnte der Syndikalismus diesen Rückschritt ausgleichen?

Graham (der in Vanzettis 3. Brief zitiert wird) bezeugt, dass „… dass die syndikalistische Bewegung im Laufe von kaum zwanzig Jahren zu einer Kopie der Berufsorganisationen geworden ist, und dass die Anarchisten, die zu ihrer Bildung beitragen, nur noch Anführer und Vorarbeiter dieser Organisationen sind.“. Was hat sich in den letzten dreißig Jahren getan, als die Haltungen der einzelnen politischen Sektoren gegenüber dem Problem der Arbeiterinnen und Arbeiter gereift sind? Dort, wo der Kampf noch nicht zur Hegemonie einer Einzelgruppe geführt hat – was im Übrigen das uneingestandene Ziel der so genannten Demokraten ist – haben die verschiedenen Parteien jeweils begonnen, von oben herab eine Gewerkschaft/Syndikate zu gründen, um die Organisation der arbeitenden Massen in ihren jeweiligen Wahl- und Parlamentskämpfen zu nutzen. Ein typisches und aktuelles Beispiel für dieses Phänomen war in Italien – in der letzten Nachkriegszeit – die Gründung der C.G.I.L. von oben durch die Mehrheitsparteien und die anschließende Spaltung (U.I.L., C.S.I.L. und andere kleinere Parteien10).

Dort, wo sich im Gegenteil totalitäre, aus der Konterrevolution hervorgegangene Regime durchgesetzt haben, haben sich die Arbeiterinnen und Arbeiter in der einzigen Gewerkschaft/Syndikat (nazifaschistisch, peronistisch, falangistisch, bolschewistisch) zusammengeschlossen und eingekapselt, die das Maximum an Hochstapelei und Degeneration erreicht hat. Es genügt zu sehen, dass in diesen Regimen, die von den Interessen einer Gruppe zum Nachteil des Kollektivs geschaffen und aufrechterhalten werden, der Klassenkampf – aus dem die Gewerkschaft/Syndikat ihren Ursprung und ihre Daseinsberechtigung bezieht – nicht einmal im Prinzip anerkannt wird. Schließlich ist der Syndikalismus dort, wo besondere historische und soziale Bedingungen es den Anarchistinnen und Anarchisten ermöglicht haben, einen moralischen Einfluss auf die organisierten Massen auszuüben, wie zum Beispiel in der spanischen CNT, in der argentinischen FORA11 usw., zu seiner ursprünglichen revolutionären Ausrichtung zurückgekehrt, NUR FÜR DIE ANARCHISTISCHEN IDEEN, die das Denken und Handeln der Mitglieder angeregt haben. Allerdings ist der syndikalistische Ansatz auch in einem besonders günstigen Umfeld nicht vor voreingenommenen Positionen gefeit, die zwar schwer zu erkennen sind, da sie latent bleiben, aber in entscheidenden Momenten durchaus sichtbar sind und Schaden anrichten können, wie wir während der Spanischen Revolution 1936-38 bei der Beteiligung der CNT, mit den uns bekannten Folgen, gesehen haben.

Diese Erfahrungen zeigen uns, dass die vage Berufung auf die direkte Aktion (wie es der Syndikalismus tut), die das politische Problem überschattet, weder auf der revolutionären Ebene noch für die Einheit der Arbeiterinnen und Arbeiter hilfreich ist: Denn das Problem kann nicht nur ökonomisch verstanden werden, sondern ist im Wesentlichen politisch; und wenn das politische Konzept auf die Eroberung der Macht ausgerichtet ist, kann man auch von der direkten Aktion ausgehen, aber man wird immer zu einer zentralisierten Organisation kommen, die jede individuelle Initiative erstickt und die Ungerechtigkeit wiederherstellt; Wenn die Gewerkschaft /Syndikat Elemente verschiedener politischer Richtungen zusammenbringt, wie es bei der CGIL in Italien der Fall war, ist es offensichtlich, dass jeder versuchen wird, seine eigenen Pläne zum Nachteil der anderen zu verwirklichen, und dass es schon vor der formellen Spaltung keine Aktionseinheit geben kann.

All das hat Vanzetti bereits mit großer Klarheit unterstrichen, und es reicht aus, um unsere Vorbehalte gegenüber dem Syndikalismus zu begründen. Die Konstituierung der imperialistischen Blöcke in Ost und West, die Gefahr eines dritten Weltkriegs, die neue industrielle Revolution, die in Amerika und England mit der Automatisierung bereits im Gange ist, kurzum die brennendsten Probleme der Gegenwart, sowie die Tatsache, dass die Arbeitskräfte mehr denn je gespalten und untereinander zerstritten sind, offenbaren die ideologische Armut der syndikalistischen Organisationen und ihre Unfähigkeit, diese Probleme zu lösen. Insbesondere das „elektronische Gehirn“ mit seiner enormen Produktionskapazität zeigt heute auf unvergleichliche Weise, dass die Notwendigkeit der Verwirklichung einer libertären sozialistischen Gesellschaft eine Frage von lebenswichtiger Bedeutung nicht nur für die Kategorien des Gewerbes, sondern für die gesamte Gesellschaft ist, die vor dem Dilemma zwischen ihrer absolutsten Versklavung und ihrer totalsten Emanzipation steht.

Die gesamte Gesellschaft, und nicht nur die Arbeiterklasse, ist daher aufgerufen, sich diesem Konflikt zu stellen, der von Anarchistinnen und Anarchisten immer als ein Konflikt zwischen Autorität und Freiheit bezeichnet wurde und in dem die Ökonomie nichts anderes als das Herrschaftsinstrument einer Minderheit über die Massen darstellt, sei es, dass diese Minderheit durch den Staat und den Kapitalismus oder durch die Bürokratie der Organisatoren und Verwalter repräsentiert wird, denen die Macht nach und nach übertragen wird. Der technisch-industrielle Fortschritt in Verbindung mit der aktuellen Krise des „wissenschaftlichen Sozialismus“ macht die anarchistische Forderung nach der totalen Revolution, die von unseren praktischen Gegnern bisher als utopisch angesehen wurde, sehr aktuell und fest im individuellen Bewusstsein verankert.

Sind wir also alle Anarchistinnen und Anarchisten? wird der Gesprächspartner einwenden und die These als utopisch bezeichnen. Vanzetti erklärt, dass dies nicht notwendig ist. Und wir möchten hinzufügen, dass, da Anarchie mehr als eine Überzeugung ist, eine Lebensbedingung, die es jedem Menschen erlaubt, im wahrsten Sinne des Wortes er selbst zu sein, die Praxis der direkten Aktion ihr Ziel (das mit theoretischer Propaganda so schwer zu erreichen scheint) viel leichter und breiter erreichen kann, als man sich vorstellt: Das zeigen die historischen Erfahrungen der Ukraine und Spaniens während ihrer jeweiligen revolutionären Perioden, wo ganze Bevölkerungen ohne politische Orientierung, nachdem sie den Staatsapparat mit Gewalt zerschlagen hatten, dem Beispiel der anarchistischen Minderheiten folgten, anarchisch zu leben wussten und diese Lebensweise gegen den Zugriff und die Gewalt der Faschisten und Bolschewiken verteidigten, die sie mit Blut unterdrücken wollten, und den Kampf gegen den Franquismus auch heute noch mit dem Opfer vieler junger Menschen am Leben erhalten.

Mit dem Nachdruck dieser Briefe zu einer Zeit, in der die verschiedenen politischen Zentren den Mythos der syndikalistischen Einheit neu auflegen, um sich von seiner Unbeliebtheit und seinem Scheitern zu erholen und die Kontrolle über die Massen für ihre politischen und parlamentarischen Manöver wiederzuerlangen, wollen wir den Arbeiterinnen und Arbeitern (insbesondere den neuen Generationen, die der Faschismus von den sozialen Erfahrungen ausgeschlossen hat) die notwendigen Elemente bieten, um diese alte Täuschung zu verstehen, die gegen sie reproduziert wird.

[…]

Michela Bicchieri, Januar 1957

Das Vorwort ist aus dem Buch Per l’abolizione di ogni autorita 1927- 2007 Lettere di Bartolomeo Vanzetti su sindacati e sindacalismo, Edizioni Il Picconiere, Villafalletto, August 2007, übersetzt. Bartolomeo Vanzettis Briefe wurden ursprünglich in L’Adunata dei Refrattari in den Ausgaben vom 24. Februar 1923, 24. März 1923, 7. Juli 1923, 17. November 1923, 24. November 1923 und 1. Dezember 1923 veröffentlicht. Sie wurden mit einem Vorwort von Michela Bicchieri in Lettere sul sindacalismo, Edizioni L’Antistato, Cesena 1957, neu gedruckt.


I

Dein letzter Brief, in dem du über Anarchismus und Syndikalismus sprichst, ist äußerst interessant, denn er lädt zum Nachdenken und zur Diskussion über sehr wichtige und dringende Probleme ein.

Du beklagst die allgemeine Verwirrung; ich halte sie für die Hauptursache des gegenwärtigen Unglücks.

Ich erwarte daher deine Zustimmung, die Diskussion, die wir privat abegonnen haben, öffentlich zu führen. Bedenke, dass das Schreiben das einzige Mittel ist, mit dem ich der gemeinsamen Sache dienen kann, und dass mich nichts anderes motiviert als die ehrliche Absicht, mir und meinesgleichen zu helfen. In deiner Antwort widerlegst du mich:

„In deinem letzten Brief sagst du mir, dass der Syndikalismus entweder autoritär oder libertär ist: Wenn er autoritär ist, ist er Sozialismus; wenn er libertär ist, ist er Anarchismus. Ich hingegen bin der Meinung, dass der revolutionäre Syndikalismus weder Anarchismus noch Sozialismus ist, sondern apolitisch, d.h. eine Organisation, in der Menschen verschiedener Tendenzen und Glaubensrichtungen Mitglied sind, die aber als Hauptziel den Syndikalismus, die Abschaffung der beiden Klassen und des Privateigentums, akzeptieren.“

Bevor ich mit der Widerlegung deiner Behauptung beginne, halte ich es für grundlegend und nützlich zu sagen, dass meine Meinung über den Syndikalismus auch die Meinung fast aller Anarchisten ist, und unter ihnen die der ältesten und weisesten Gefährten, deren Worte ich nur in schlechterer Form wiederhole.

Lass uns zur Sache kommen.

Wenn du sagst: „Der revolutionäre Syndikalismus ist eine Organisation“ usw., dann ist klar, dass du die Gewerkschaft/Syndikat und den Syndikalismus als ein und dieselbe Sache interpretierst. Die Wahrheit ist jedoch, dass die Gewerkschaft/Syndikat nicht der Syndikalismus ist und der Syndikalismus nicht die Gewerkschaft/Syndikat ist. In Wirklichkeit ist der Syndikalismus gerade erst entstanden, während die Gewerkschaft/Syndikat älter ist als Methusalem.

Ein flüchtiger Blick ins Wörterbuch, ein Appell an den gesunden Menschenverstand und eine schnelle historische Untersuchung des betreffenden Themas werden so schnell wie möglich, besser und unwiderlegbar für alle Polemiker klären, wer von uns beiden Recht hat.

In meinem Webster’s Dictionary, dem einzigen erklärenden Wörterbuch, das mir die Vorsehung zur Verfügung gestellt hat, steht síndico12: „1. ein Assistent eines Gerichts, ein Anwalt, ein Magistrat, der in verschiedenen Nationen unterschiedliche Befugnisse hat. 2. ein Beauftragter für Angelegenheiten, ein Mandatsträger“, und so weiter. Dann kommt das Wort Gewerkschaft/Syndikat: „Beruf oder die Zuständigkeit eines síndicos13; Rat oder Gremium der sindicados14. 2. eine Assoziation von Personen, die befugt sind, über eine Sache zu verhandeln oder ein industrielles oder finanzielles Projekt zu organisieren“.

Was den Syndikalismus angeht, an den du glaubst, den Syndikalismus, der zu jung ist, um zu den „kriminellen Assoziationen“ gezählt zu werden, unter den Ausnahmegesetzen, aber alt genug, um von der vorsehenden Magistratur dieser verdammten Republik als krimineller Syndikalismus definiert zu werden: Diesem Syndikalismus verweigert mein Wörterbuch die Ehre der Gastfreundschaft (vielleicht aus Ignoranz, vielleicht aus… Vorsicht) und schweigt. Aber jeder von uns weiß, auch in der Sprache der Arbeit, dass das Wort Gewerkschaft/Syndikat ein Synonym für Zusammenschluss und Organisation ist. Jeder weiß, dass es auf der Welt finanzielle, industrielle, kommerzielle und proletarische Gewerkschaften/Syndikate gibt. Deshalb bedeutet das Wort Gewerkschaft/Syndikate, unabhängig vom Zweck der Gewerkschaften/Syndikate, nur Assoziation, weshalb sie keinesfalls eine Doktrin, ein Zweck, sondern ein Mittel sein kann.

Das bisschen Geschichte, das ich kenne, versichert mir, dass diese verschiedenen Arten von Gewerkschaften/Syndikate schon in der freien und verbündeten Stadt des antiken Griechenlands existierten, dass sie ins heidnische Rom übergingen, dass sie während des psychologischen Terrors der ersten christlichen Jahrhunderte einen rein religiösen und kirchlichen Charakter annahmen, um später zurückzukehren und in das zivile Leben des Mittelalters hineinzuschnuppern, wo sie sich wunderbar entwickelten, und dass sie, extrem unterdrückt durch den Aufstieg des Staates und durch die Forderungen der entstehenden Großindustrie, wütend ihr Haupt erhoben und sich in der Ersten Internationale behaupteten. So viel zur Arbeit.

Der gesunde Menschenverstand versichert uns, dass Gewerkschaften/Syndikate in der dumpfen, ignorierten oder halb ignorierten Gesellschaft der fernen Vergangenheit existierten. Denn sie sind das spontane und unvermeidliche Produkt von Antagonismen zwischen Klassen und Individuen; Antagonismen, die jeder irrationalen menschlichen Gesellschaft eigen sind, die nicht weiß oder nicht will, wie sie das Wohlergehen und die Interessen des Individuums mit denen des Kollektivs in Einklang bringen soll, und in der jedes Individuum sein eigenes Wohlergehen nicht mehr in Solidarität und Gleichheit, sondern in Macht und Ausbeutung sucht.

Die verschiedenen Gewerkschaften/Syndikate sind also ein Produkt dieser verfassungsrechtlichen Plage, auf der vergangene Halbzivilisationen aufgebaut waren und durch die die heutige Zivilisation auf den Abgrund zu galoppiert. Man kann also behaupten, dass es die proletarische „Gewerkschaft/Syndikat“ (in verschiedenen Formen und Aspekten) schon immer gegeben hat und so lange geben wird, bis der Mensch die unglücklich unvollkommenen gesellschaftlichen Verhältnisse überwunden hat – oder nur abgemildert und auf weniger als eine Bestie reduziert wird -, die der Ursprung der schrecklichen Folgen dieser gesellschaftlichen Verhältnisse sind. Das soll nicht heißen, dass die Gewerkschaft/Syndikat die Probleme, die ihre Mitglieder plagen, aus eigener Kraft lösen kann, ganz im Gegenteil. Aus dieser unbestreitbaren Wahrheit geht also hervor, dass die alte Gewerkschaft/Syndikat nicht der junge Syndikalismus ist.

Wann entstand dieser und was ist der Syndikalismus?

Du weißt genau, dass es Sorel war, der den Syndikalismus theoretisiert und organisiert hat. Wer war Sorel und wie, wann und wo hat er sein Werk dargelegt?

Sorel war ein Anarchist, zumindest bevor er sich dem Syndikalismus zuwandte; er wurde in Frankreich geboren und lebte dort. Zu Beginn seiner pro-syndikalistischen Aktivität waren die Arbeiterorganisationen in Frankreich, die fast vollständig von der sozialistischen Partei beherrscht wurden, von ihr in die Sackgasse des Wahlkampfes und der halbherzigen Agitation für unmögliche Reformen und Verbesserungen gezogen worden.

Sorel sagte damals, dass es weder klug noch gesund für das Proletariat ist, den parlamentarischen Fakiren wie Schafen zu folgen – in mehrere neutrale Organisationen gespalten zu bleiben, gleichgültig, wie feindlich sie einander sind -, die unter der Ferse der Bourgeoisie stehen und sich doch nach völliger Befreiung sehnen. Die Direkte Aktionen, eine einzige Vereinigung, proletarisches Bewusstsein und proletarische Bildung: Das sind die Mittel. Die Abschaffung des Privateigentums, die soziale Verwaltung durch die Arbeiter: Das sind die Ziele. Das ist es, was Sorel sagte, das ist es, was die anderen Verteidiger des Syndikalismus sagten. Aus historischen, umweltbedingten, ökonomischen und psychologischen Gründen, die leicht zu erklären sind, schlug der Syndikalismus in Frankreich Wurzeln, entwickelte sich schnell und hatte vorübergehend Erfolg.

Nicht, weil er beschloss, loszuziehen und das bereits organisierte Arbeiterelement zu erobern – auf diesem Gebiet gewann er eher wenig -, sondern weil er die Unterstützung der Parias der Arbeit gewann. Dann überquerte er das Meer, die Flüsse und die Berge, die Frankreich abriegeln und einschließen, und breitete sich in der ganzen Welt aus. Und überall erreichte er dasselbe: Es gelang ihm nicht, eine Fraktion des bereits organisierten Proletariats für sich zu gewinnen, sondern er bildete sich aus den neuen Organisationen, die aus primitiven Elementen bestanden.

Du siehst: Alles, was Sorel und die ersten Syndikalisten sagten, ist nur ein Teil dessen, was schon lange vor den Syndikalisten und den Anarchisten der Ersten Internationale gesagt wurde.

Die Sozialisten änderten schnell ihren Ton, aber die Anarchisten wurden und werden nie müde, die guten alten Gründe zu wiederholen, die durch ein halbes Jahrhundert an Beweisen, Studien und Erfahrungen (logischerweise) modifiziert wurden.

Wer könnte guten Gewissens leugnen, was der Syndikalismus allein aus dem Sozialismus und dem Anarchismus bezieht?

Aber besitzt der Syndikalismus ein eigenes Projekt, eine eigene Vision für die Zeit nach der Revolution, die ihn von den anderen sozialistischen Schulen unterscheidet und ihm einen eigenen Charakter verleiht?

Soweit ich weiß, strebte der Syndikalismus, oder besser gesagt die Syndikalisten, eine soziale Republik an, wie die alten Sozialisten, wie die Mazzinianer15 und, wie es scheint, auch wie die Anarchisten in der Vergangenheit. Es stimmt, der Syndikalismus hat seit jüngster Zeit seine intellektuellen Theoretiker, die die sprichwörtlichen sieben Hemden schwitzten16, um Unsinn auszuarbeiten, der nicht immer lustig und harmlos war. Diese Omenoni17 versuchten, den Syndikalismus einen Charakter, eine Physiognomie, ein eigenes Ziel zu geben, auch wenn sie für die neue Aufmachung auf den Ballast der alten Schulen zurückgreifen mussten, und ein bisschen…. ja, des Germanismus, das jetzt im national-römischen syndikalistischen Faschismus von il divo Mussolini und seinem würdigen… errötenden Rossoni18 verwurzelt ist.

Trotz des guten Willens sowie eines ebenso frommen wie kleinlichen Unilateralismus kamen diese Theoretiker mit langen Ärmeln bei ihrem unrealistischen Versuch schlecht weg. Denn wo platzieren sie die Landwirtschaft, das erste Lebensbedürfnis und die einzige Grundlage der Gesellschaft, und ist es wahr, dass der Industrialismus an sich den Vorzug hatte, die Menschen zu verbessern und glücklich zu machen? Außerdem, welche sozialistische Schule versucht nicht, zumindest in ihrem Diskurs, den Arbeitern die Leitung der Industrie zu übertragen?

Du magst mir entgegenhalten, dass die Sozialisten sich für einen zentralisiert gelenkten Staat einsetzen, während die Anarchisten von freien Kommunen, freier Assoziation und individueller Initiative sprechen, und dass aus beiden Hypothesen das Konzept der direkten Leitung der Industrie durch das Können der Arbeiter hervorgeht.

Was die etatistischen und autoritären Sozialisten angeht, so lasse ich die Fakten für sich selbst sprechen, triefend vor Tränen und Blut gemischt mit Scham. Was die Anarchisten angeht, so sage ich schnell, dass es, egal ob es sich um eine freie Gemeinschaft, eine industrielle Initiative oder eine freie Assoziation handelt, immer um die Arbeiter geht; nach der Revolution ist klar, dass alle in einer Gesellschaft von Gleichen Produzenten sein müssen.

Aber ist es wahr, dass die Syndikalisten die Autonomie für heute und für die Zeit nach der Revolution fördern? Ich habe sowohl anarchistische Syndikalisten als auch sozialistische, autonomistische und zentralistische Syndikalisten kennengelernt, bei denen die Revolution nur ein Wunsch ist. Außerdem habe ich einige gekannt, die je nach Ort, Zeit und Wind erst Autonomie, dann Zentralismus, dann wieder Autonomie, dann unfallbedingt unpolitisch, dann politisch, dann… angenommen haben, ich lasse es hier, um nicht böswillig zu erscheinen. Und die Massen sind immer ihren verdammten Hirten gefolgt.…

In Russland, wo die Revolution triumphierte, bekämpften die Syndikalisten die Zentralregierung nur auf der Ebene der Industrie und nicht auf der Ebene der lokalen Autonomie, während die Menschewiki seltsamerweise an der Seite der Anarchisten für die Unabhängigkeit der Kommunen kämpften. Das ist wahr. Und? Dann kann der Syndikalismus libertär oder autoritär sein. Wenn er libertär ist, ist er Anarchismus, wenn er autoritär ist, ist er Sozialismus. Ich sollte weitermachen, aber ich bin fertig. Ich werde darauf zurückkommen.

Mit freundlichen Grüßen,

L’Adunata dei Refrattari, 24. Februar 1923

II

Die Meinungen über den Syndikalismus sind zahlreich, vielfältig und widersprüchlich. Die einen halten ihn für Anarchismus, die anderen für Sozialismus, kurzum, sie halten ihn für eine eigenständige Doktrin mit eigenen Theorien, Mitteln und Zielen.

Was ist er in Wirklichkeit?

Wie ich bereits im ersten Schreiben sagte, gibt es unter den Syndikalisten diejenigen, die es als libertär und diejenigen, die es als autoritär halten; diejenigen, die die syndikalistische Autonomie hier und jetzt anstreben, und diejenigen, die die Politik nach der Revolution anstreben; diejenigen, die Zentralität und Autoritarismus sowohl für jetzt als auch für nach der Revolution anstreben.

Tatsache ist, dass es die Personen sind, die die Doktrinen erschaffen (daher, wenn sie einmal erschaffen sind, sind es die Doktrinen, die die Personen erschaffen), weshalb der Syndikalismus, wie jede andere theoretische Schule, das ist, was die Syndikalisten daraus machen und sich verändert, wenn sich die Syndikalisten verändern.

Die Massen folgen eher den Personen als den Ideen. Der Grund dafür ist klar. Die Massen sind extrem unwissend und ständig von den Problemen des Lebens isoliert, die sie nicht zu lösen wissen. Es ist daher mehr als logisch, dass diejenigen, die nicht wissen, wie man rechnet, und die das Bedürfnis haben, dies zu tun, sich auf den Buchhalter berufen und sich an ihn wenden. Deshalb ist das Volk das ewige Opfer von Politikern, Priestern, Militarismus, Sklavenhändlern, den verdammten Hirten, und entgegen der grausamen tausendjährigen Erfahrung hat es sich noch nicht entschlossen, sich zu emanzipieren, auf eigenen Füßen zu stehen. Deshalb sind die syndikalistischen Anführer überall dort, wo sie ihr Hemd gewechselt19 und den Rubikon20 überquert haben, ihnen blindlings gefolgt und von dort zum Aufruf zur Abstimmung, zur Spaltung und zur Unterstützung des Krieges, sowohl des libyschen21 als auch des Weltkrieges. Das Schlimmste ist, dass nach so vielen Purzelbäumen und Pirouetten, Rücktritten und Inkohärenz, nachdem sie die vergifteten Früchte gepflückt haben, die durch den Verrat ihrer Bosse und durch ihre eigene Ignoranz gereift sind, die Herdenmenschen, auch wenn sie rückwärts gehen, sich selbst davon überzeugen, dass sie bewusster, revolutionärer und näher an der Wahrheit sind als zuvor. Das gilt für den Syndikalismus genauso wie für den Sozialismus. Um nur ein Beispiel zu nennen, muss man nur den Fall De Ambris und das Verhalten der französischen Confédération générale du travail (CGT) während des Krieges anführen. Als Marx die Sache des Proletariats ruinierte, indem er die Eroberung der öffentlichen Macht einführte, änderten auch seine Herdenmenschen, die jahrelang die revolutionäre Intransigenz guthießen, ihre Meinung und stimmten ihm zu. Später, als das Fehlverhalten die sozialistischen Parteien zu regelrechten Agramante-Lagern22 machte, folgten die Massen ihren unzuverlässigen Anführern blindlings, wohin auch immer ihre persönlichen Interessen sie führten. Wo Ferri regierte, folgten die Untertanen Ferri23; wo die Giuffrida und Podrecca regierten, folgten die Untertanen den Giuffrida und Podrecca24.

Ich fasse zusammen und komme zum Schluss: Der Syndikalismus veränderte und verändert sich von Ort zu Ort und von Epoche zu Epoche, je nach denjenigen, die sie verkörpern, und der Art des historischen Moments.

Für mich kann der Syndikalismus jedoch nur Anarchismus oder autoritärer Sozialismus sein.

Wenn die Mitglieder einer Gewerkschaft/Syndikat nach wahrer Freiheit streben und für die Abschaffung jeglicher Autorität kämpfen, ist der Syndikalismus Anarchismus; aber wenn die Mitglieder einer Gewerkschaft/Syndikat eine proletarische Diktatur oder einen zentralisierten Staat anstreben, ist der Syndikalismus Staatssozialismus. Findest du das nicht auch?

Du sagst, dass der Syndikalismus apolitisch ist. Manche Leute denken das Gleiche über den Anarchismus. Das scheint mir ein Missverständnis zu sein, es sei denn, mit „apolitisch“ ist die einfache Verneinung des Parlamentarismus und anderer Formen der Klassenzusammenarbeit gemeint. Der Anarchismus hat ein politisches Ziel; was auch immer der Syndikalismus ist, als ökonomische Doktrin muss er ein politisches Ziel haben.

Wir streben einen umfassenden ökonomischen Wandel an, und ein umfassender ökonomischer und sozialer Wandel bedeutet und erfordert einen totalen politischen Wandel.

Denn das Wort Politik bedeutet nicht nur die Kunst, das Volk zu betrügen und zu beschwindeln; Politik bedeutet auch Verwaltung, Beziehung.

Tatsächlich streben wir eine Gesellschaftsform an, in der die Freiheit der Individuen, Gruppen, Kommunen und Konföderationen gewährleistet ist. In einer gerechteren und rationaleren Gesellschaft könnte die Politik auf eine einfache Berechnung oder auf viele Berechnungen reduziert werden. Die Notwendigkeit einer Vertretung würde verschwinden. Die einzigen politischen Repräsentanten sollten die sein, die durch kausale Zufälligkeiten erforderlich sind, und sollten für jede Willkür entlassen werden, sollten konkrete Anweisungen haben, sollten nur diejenigen vertreten, die sie delegiert haben – ich sage delegiert, nicht gewählt – und sollten widerrufbar sein.

Das ist der politische Teil des Anarchismus, um den ökonomischen Teil zu garantieren und zu schützen. Das Land für den Bauern, die Mine für den Bergarbeiter, das Schiff für die Seeleute, die Züge für die Eisenbahner und die Fabrik für den Arbeiter.

Mit anderen Worten: Wir Anarchisten wollen, dass die Transportmittel, die Rohstoffe, das Land und die Arbeitsmittel den Arbeitern gehören, die gleichzeitig die Produzenten und Verwalter ihrer Produkte sein müssen. Genau deshalb sind wir politisch: Wir negieren die gegenwärtige politische Form ab und schlagen eine andere vor, die einzige, die die Erde aus den Händen der Politiker befreien kann.

Du sagst: „Der Syndikalismus ist eine Organisation, der Menschen verschiedener politischer Tendenzen und unterschiedlicher Glaubensrichtungen angehören, die aber als Hauptziel des Syndikalismus die Abschaffung des Privateigentums und der beiden Klassen akzeptieren“.

Glaubst du, dass „Menschen verschiedener politischer Tendenzen und unterschiedlicher Glaubensrichtungen“ die „Abschaffung des Privateigentums und der Klassen“ akzeptieren können?

Nein, das glaube ich nicht; das ist nicht möglich, denn beides führt zu einem: Entweder ist man für Freiheit und Kommunismus, oder man ist für Privateigentum, Autorität und organisierte Gewalt zur Verteidigung von Privilegien.

Unbewusst zu sein bedeutet nicht, dass man nicht reaktionär und unehrlich ist; im Gegenteil, es bedeutet, dass man sich nicht bewusst ist, dass es so ist, oder dass etwas schädlich wird, oder dass man glaubt und erwartet, dass es zum Vorteil wird. Ich spreche von allen Menschen im Allgemeinen, aber von Arbeitern im Besonderen.

Du sagst: „Ich bin ein Anarchist, was das Endziel angeht, aber als Mittel des Kampfes, das sage ich dir ganz ehrlich, scheint mir der Syndikalismus der einfachste Weg zur Abschaffung der Ausbeutung zu sein“.

Und du fügst hinzu: „Da die Mentalität der Arbeiterklasse sich negiert, ein so erhabenes und großartiges Ideal wie den Anarchismus zu verstehen, sollten wir wenigstens versuchen, ihnen klarzumachen, dass sie nicht ihr ganzes Leben lang Knechte sein sollten“.

Goldene Worte, aber die Realität ist nicht ganz so; die Realität ist größer, tiefer, komplexer, dunkler und auch schöner.

Wenn es eine Sache gibt, die man aus der bitteren Erfahrung des Lebens lernen kann, dann ist es, dass es keinen Arbeiter mehr gibt, ob Sklaven oder Leibeigenen, dem die Hoffnung nicht zulächelt. Der übergroße Eifer des Lebens hat die Stimmen der Instinkte des Herzens und der Intelligenz gebrochen, nicht das Vermögen der Hoffnung und Verzweiflung. Der einzige Unterschied ist, dass Freiheit und Glück auf unterschiedlichen Wegen, mit unterschiedlichen Mitteln, Kriterien und Vorstellungen angestrebt werden.

Während der bewusste Arbeiter die Fesseln des Verstandes und des Geistes sprengt und seine Befreiung in Freiheit und Gerechtigkeit sucht, betätigt sich der korrupte Arbeiter als Spitzel und Henker seiner Gefährten, sucht und hofft, Wohlstand und Unabhängigkeit in der Ausbeutung zu erlangen; und die großen Massen, unterdrückt und geschwächt durch Kummer, Elend und säkulare Verrohung, versunken in Ignoranz und Aberglauben, fügen sich gleichgültig dem Stock und der Peitsche und gehorchen blindlings.

Die Aufgabe der Revolutionäre ist es, dem Proletariat auf dem Weg zur Emanzipation vorauszugehen, ihm den Weg zu leuchten, die Fackel der Wahrheit zu tragen und mit gutem Beispiel voranzugehen.

Wir müssen das Gute in den Herzen der Unterdrückten kultivieren und verhindern, dass die bösen Absichten der Politiker und ihrer Demagogen ihnen in die Quere kommen.

Es ist zwingend notwendig, die grundlegenden Wahrheiten des Anarchismus zu lehren, die, wenn sie gelehrt werden, auch den einfachsten Gemütern der Menschen zugänglich sind.

Du glaubst an Organisation, ich nicht. Aber das bedeutet nicht, dass ich zu oberflächlicher Kritik greife.

Du glaubst und ich sage dir in brüderlicher Weise: Mach weiter, beobachte, hinterfrage, lerne, analysiere und verbreite die geglaubte Wahrheit. Aber denk daran, dass alles, was die Revolte und die Freiheit nicht fördert, sie behindert.

Wenn ich etwas mehr Zeit zur Verfügung habe, werde ich dir von den Gewerkschaften/Syndikate der Arbeiter erzählen und dir erklären, warum ich nicht an ihre Gutmütigkeit glaube.

Mit freundlichen Grüßen,

L’Adunata dei Refrattari, 24. März 1923

III

Nach meinem zweiten Brief über Syndikate und Syndikalismus schreibst du mir:

„Dein Urteil über den Syndikalismus erscheint mir ungerecht, und um es dir zu beweisen, schicke ich dir einige anarchistische Schriften.

Natürlich wärst du meiner Meinung nach ein ‚Anarchist‘ und kein ‚anarchistischer Syndikalist‘.“

Wer hingegen sieht nicht den Anspruch der Unbeschreiblichkeit? Komm schon! Trotzdem bin ich von der Wahrhaftigkeit all dessen überzeugt, was ich über den Syndikalismus behauptet habe. Und mindestens fünfzehn Jahre Lernen, Erfahrung, Beobachtung und Tätigkeit in der Arbeiterbewegung haben mich davon überzeugt.

Ich weiß: Ein aufrichtiger Glaube, gewohnte Konventionen und diejenigen, die dieses und jenes vertreten und zum Ausdruck bringen, liegen jedem geselligen Menschen am Herzen; und es tut ihm immer in den Ohren weh, wenn Kritik diesen Glauben, diese Konventionen und diese Menschen angreift, analysiert, hinterfragt und erschüttert.

Aber nur durch die außergewöhnliche Leidenschaft des Geistes kann der Mensch die himmlische Freude schmecken, sich der Wahrheit zu nähern, sie zu erobern. Und Wahrheit, mein Freund, ist Emanzipation. Wahrheit ist Freiheit, und je mehr sich der Mensch emanzipiert, desto mehr erobert er die grundlegende Wahrheit seines Seins und des universellen Seins.

Die Anforderungen des Briefformats dieser Dissertation über den Syndikalismus zwingen mich dazu, mich auf Behauptungen und Tatsachenfeststellungen zu beschränken.

Da ich außerdem versprochen habe, über die auf dem Berliner Kongress (1921) beschlossene Anarchistische Internationale (!?) zu sprechen, werde ich hier einen großen Teil dessen wiedergeben, was der Gefährte F. S. Graham im Artikel „Che cosa apettarsi da un altro Congresso Anarchico“ [Was von einem weiteren anarchistischen Kongress zu erwarten ist], der in den Ausgaben 11 und 12 von L’Adunata veröffentlicht wurde, über diesen Kongress sagt.

Und das tue ich gerne, denn der Gefährte Fred Graham bestätigt und erweitert nicht nur, was ich oben bereits über die Beziehung zwischen Anarchismus und Syndikalismus gesagt habe, sondern ist auch ein Gelehrter und ein Polyglott – zwei Eigenschaften, die ihn kompetent machen.

Der Internationale Anarchistische Kongress in Berlin verdient es aus mehreren Gründen nicht, als solcher bezeichnet zu werden.

Hier sind die wichtigsten Gründe:

„Der Berliner Kongress ging aus einer ausdrücklichen antimilitaristischen Erklärung hervor, überging aber stillschweigend den Interventionismus von Pjotr Kropotkin, Jean Grave25 und einigen anderen, aber bedeutenden Anarchisten. Diese Tatsache hinterließ den Eindruck, dass die anarchistische Bewegung nicht einstimmig gegen den Krieg war. Es war daher notwendig, einen energischen, präzisen und einmütigen Standpunkt gegen den bourgeoisen Krieg einzunehmen, um den Unterstellungen entgegenzuwirken, die unsere Feinde gegen die Befürchtungen der Massen zu erwecken versuchen. Dies wurde nicht getan; und diese Trennung zwischen den Anarchisten und den Massen, die durch den Interventionismus einiger weniger Gefährten entstanden ist, dauert an.

Der Kongress hat den proletarischen Massen nicht erklärt, warum und wie die kurzzeitige Zusammenarbeit der russischen Anarchisten mit der bolschewistischen Regierung, die kurzzeitige Unterstützung Gefährten verschiedener Nationen (mit einigen Ausnahmen) mit der bolschewistischen Regierung und die Zusammenarbeit der Anarchosyndikalisten, die fast ausschließlich bis März 1921 mit der bolschewistischen Regierung zusammenarbeiteten, zustande kam. Eine solche Erklärung war mehr als notwendig, um den Schaden wiedergutzumachen, der der anarchistischen Bewegung durch das Verhalten der Anarchisten selbst in der Anfangsphase der Russischen Revolution zugefügt worden war. Gerade damals, als sie im völligen Gegensatz zu ihrem Ziel und zur Realität mit dem Aufbau der roten Tyrannei kollaborierten, verschleierten sie die anarchistischen Prinzipien, verwirrten den Geist der einfachen Leute und erschütterten das bereits gewonnene Vertrauen.

Der Berliner Kongress begrüßte (und tat gut daran) einen Delegierten, der eine Bewegung vertrat, die auf den Einsatz von Terror verzichtet und Enteignung und Gewalt anprangert, aber ein sibyllinisches Schweigen bewahrt, das weder zustimmend noch ablehnend ist. Auf diese Weise machte es der Berliner Kongress der Kommunistischen Internationale leichter, sich gegenüber dem internationalen Proletariat als die einzige revolutionäre Bewegung zu verkünden und die anarchistische Bewegung als pazifistisch zu brandmarken.

Der Kongress hat sich nicht dazu geäußert, ob es für die Befreiung der Tausenden von anarchistischen Gefährten, die in kapitalistischen… und sozialistischen Gefängnissen sitzen, nicht effektiver ist, revolutionäre statt legale Methoden anzuwenden.

Die individualistischen Anarchisten wurden auf dem Kongress nicht so behandelt, wie sie es verdient hätten. Die Aktion, die gegen die individualistischen Anarchisten in Deutschland ergriffen wurden, konnten nur Feindseligkeit hervorrufen; und sie rechtfertigen die gewalttätigen Angriffe der anarcho-individualistischen Presse in Italien, Deutschland und Spanien.

Mit ruhiger Unvoreingenommenheit führt der Autor das oben erwähnte Scheitern des Berliner Kongresses eher auf die historische Natur des Moments zurück, in dem er stattfand, als auf die Schuld der Menschen, die ihn konstituierten.

In jedem Fall bleiben die Tatsachen bestehen, und wenn wir dazu noch die gegenwärtige Feindseligkeit gegenüber dem Syndikalismus seitens derjenigen, die ihn früher befürwortet haben, und das schädliche und zerstörerische Wirken der gegenwärtigen Reaktion hinzufügen, sieht der Berliner Kongress wie ein Akt des guten Willens (im besten hypothetischen Fall), aber wie eine historische Farce aus, von der wir uns mit dem einfachsten gesunden Menschenverstand nichts erwarten dürfen.

Hier ist also eine kurze und synthetische Darstellung des Schadens, den der Syndikalismus dem Anarchismus zugefügt hat. Graham stellt fest:

„Ein weiterer Punkt, der der anarchistischen Bewegung wahrscheinlich den größten Schaden zugefügt hat, ist der Syndikalismus.

In Frankreich, wo er seinen Ursprung und seinen größten Einfluss hat, wurde (der Syndikalismus) von einer revolutionären Organisation, die die soziale Revolution herbeiführen sollte, zu einer Vereinigung von Berufen. In seinen Reihen finden sich viele aktive Anarchisten, die von ihren Gefährten schon seit einiger Zeit als Abtrünnige betrachtet werden.

In Italien wurde die syndikalistische Bewegung am Ende des Krieges unerwartet zu einem mächtigen Faktor. Hinzu kam der Einfluss der Rückkehr von Malatesta. Indirekt half ihm der kämpferische Syndikalismus. Zwei Jahre später kehrte Malatesta zu seiner früheren aktiven Opposition gegen den Syndikalismus zurück und bezweifelte den Wert einer anarchistischen Beteiligung selbst in der einfachen Zunft.

In Deutschland wurde der Syndikalismus ebenso wie in Italien am Ende des Krieges gestärkt. Auch hier profitierte die Bewegung dank der Unterstützung des Gefährten Rudolf Rocker, der sie zunächst ablehnte, von dem Aufschwung.

Drei Jahre später sieht sich der anarchosyndikalistische Kongress mit einer Opposition konfrontiert, die darauf hinweist, dass der Syndikalismus zu einer zentralisierten Organisation geworden ist, dass einige seiner Mitglieder an politischen Wahlen teilnehmen, der Kirche helfen und wie Kritik von seinen Anführern aufgenommen wird.“

Nach einer akribischen Untersuchung des mehr oder weniger falschen Charakters der anarchosyndikalistischen Bewegung in Spanien, in Argentinien, in China, Bulgarien, Norwegen und Holland, erinnert Graham:

„Andererseits sollte daran erinnert werden, wie in den zitierten Beispielen bewiesen wird, dass die syndikalistische Bewegung im Laufe von kaum zwanzig Jahren zu einer Kopie der Berufsorganisationen geworden ist, und dass die Anarchisten, die zu ihrer Bildung beitragen, nur noch Anführer und Vorarbeiter dieser Organisationen sind.

Und der Berliner Kongress gab der anarchosyndikalistischen Bewegung seine volle Unterstützung und wurde so zum moralischen Verteidiger aller ihrer Ansprüche in der Welt.“

Zwei sehr schmerzhafte Wahrheiten gehen aus dieser nackten Realität hervor: Die Beteiligung am Syndikalismus untergräbt den Charakter der Anarchisten, der Anarchismus wird verkleinert und hört auf, sich gemäß seiner Natur als universelle Lehre unaufhörlich zu entwickeln.

Was ist von der auf dem Berliner Kongress beschlossenen Internationale zu sagen?

Es ist höchst demoralisierend, dass intelligente Menschen wie diejenigen, die am Kongress teilgenommen haben, bis heute an die Verkündung einer Internationale glauben können!

Das Gefühl und das Konzept des Internationalismus können nicht per Dekret begüngstigt werden. Der Internationalismus entspringt dem Herzen und dem Geist des Menschen, und je mehr sich das Individuum entwickelt, stärkt und arbeitet, desto mehr erwirbt es Wissen und Sensibilität. Erziehung deshalb, und nicht Dekrete oder Tagesordnungen, nutzlos, wo Bewusstsein und Wille vorhanden sind, machtlos, wo Unbewusstheit und Ignoranz herrschen.

Du sagst:

„Ich stimme zu, dass der Syndikalismus nicht das Syndikat ist, dass er kein eigenes Ziel hat, dass er aus dem Sozialismus und Anarchismus kommt und dass er nichts anderes als ein Mittel zur Anarchie ist.“

Für dich, Syndikalist-Anarchist, mag das Syndikat nur „ein Mittel zur Anarchie“ sein, aber für die Mehrheit der Syndikalisten, unter denen sich bekennende und nicht bekennende Autoritäre befinden, die in Wirklichkeit wenig von Anarchie hören wollen, ist der Syndikalismus ein Selbstzweck: Er genügt sich selbst.

Als ob das Problem des Lebens selbst in den engen Grenzen einer unsicheren sozialistischen Theorie eingedämmt und gelöst werden könnte, wie es der Syndikalismus anstrebt.

Ich kann deine Ansicht, dass der Syndikalismus „ein Mittel zur Anarchie“ ist, nicht teilen. Die Gründe dafür habe ich bereits in diesem und im vorherigen Brief dargelegt.

Aber du fährst fort:

„Wir, die Syndikalisten-Anarchisten, bündeln all unsere geistigen und körperlichen Kräfte, um die Abschaffung des Privateigentums – der Hauptursache des sozialen Übels – zu erreichen, und wir nehmen in unseren Syndikaten alle Arbeiter auf, die danach streben, selbst die Kontrolle über ihre eigenen Produkte zu erlangen, ganz gleich, welcher Glaubensrichtung sie angehören.“ Und ich denke, das ist weder Sozialismus noch Anarchismus.

Jedes Wort hat seine Bedeutung, oder? Nun, um ein System „Anarchie“ zu nennen, müsste es ausschließlich aus Anarchisten bestehen.

Aber wenn die Mentalität der Mehrheit nach der Abschaffung des Privateigentums immer noch weit von der schönen anarchistischen Philosophie entfernt ist, wie würdest du dann ein solches System nennen?“

Wenn ich über die Bedeutung der zitierten Passage in deinem Brief nachdenke, denke ich, dass du den Syndikalismus von Sozialismus und Anarchismus unterscheiden willst, nicht wegen ihrer theoretischen Unterschiede, auch nicht wegen der Unterschiede in ihren Methoden und Zielen, sondern weil:

1. Ihr nehmt in euren Syndikate alle Arbeiter auf, die selbst die Kontrolle über ihre Produkte haben wollen, ganz gleich, welcher Glaubensrichtung sie angehören, und das ist weder Sozialismus noch Anarchismus.

2. Weil du eine Übergangszeit nach der Revolution vorhersagst, in der, wenn „das Privateigentum abgeschafft ist, die Mentalität der Mehrheit noch weit von der schönen anarchistischen Philosophie entfernt ist“, wäre das weder Sozialismus noch Anarchismus.

Diese Behauptungen von dir verdienen es, diskutiert und erläutert zu werden, aber da dein letzter Brief mich zu Abschweifungen und Beteuerungen verleitet hat und dieser Brief schon zu lang ist, werde ich die Diskussion in einem anderen Brief von mir weiterführen und bedauere, dass ich das Versprechen, das Thema in diesem Brief abzuschließen, nicht einhalten konnte.

Mit freundlichen Grüßen,

L’Adunata dei Refrattari, 7. Juli 1923.

IV

Wie du dich erinnern wirst, habe ich am Ende meines letzten Briefes einige Absätze aus einer deiner Antworten zitiert. Ich habe eine Schlussfolgerung gezogen und am Ende Fragen gestellt, die geklärt und diskutiert werden sollten. Da ich mir aber so viel Zeit gelassen habe, wäre es gut, wenn ich sie wiedergebe, bevor ich mit der Diskussion und Klärung beginne.

Also:

1. „Wir, die Syndikalisten-Anarchisten, bündeln all unsere geistigen und körperlichen Kräfte, um die Abschaffung des Privateigentums – der Hauptursache des sozialen Übels – zu erreichen, und wir nehmen in unseren Syndikaten alle Arbeiter auf, die danach streben, selbst die Kontrolle über ihre eigenen Produkte zu erlangen, ganz gleich, welcher Glaubensrichtung sie angehören.“ Und ich denke, das ist weder Sozialismus noch Anarchismus“.

2. „Nun, um ein System „Anarchie“ zu nennen, müsste es ausschließlich aus Anarchisten bestehen. Aber wenn die Mentalität der Mehrheit nach der Abschaffung des Privateigentums immer noch weit von der schönen anarchistischen Philosophie entfernt ist, wie würdest du dann ein solches System nennen?“

Aus deinen Argumenten entnehme ich, dass der Syndikalismus für dich „ein Mittel zur Abschaffung des Privateigentums ist; sobald die Revolution gewonnen hat, ein Mittel zur Anarchie.“

Und nun, da wir unser Gedächtnis aufgefrischt haben, wollen wir sehen, ob deine Argumentation den Tatsachen und der Wahrheit entspricht und ob der Syndikalismus wirklich das Mittel der Vorsehung ist, für das du ihn hältst.

Der erste der beiden oben wiedergegebenen Absätze ähnelt dem in deinem Brief, auf den ich mit dieser bescheidenen Abhandlung über Syndikate und Syndikalismus geantwortet habe, um vor allem zu zeigen, dass der Syndikalismus entweder ein autoritärer Sozialismus oder ein libertärer Sozialismus, also Anarchismus, sein kann und dass der Syndikat kein Syndikalismus ist. Dann habe ich, gezwungen durch die Natur des Themas und die logischen Konsequenzen der Argumentation, gezeigt, dass die Arbeitersyndikate, die aus Syndikalisten bestehen, durch die Ausführung inakzeptabler Taten alle – wie der Gefährte Graham sagt – „zu einer Kopie der Berufsorganisationen geworden ist, und dass die Anarchisten, die zu ihrer Bildung beitragen, nur noch Anführer und Vorarbeiter dieser Organisationen sind“. An dieser Stelle möchte ich daran erinnern, dass die Erste Internationale, die inhaltlich den später entstandenen Organisationen weit überlegen war, sehr bald degenerierte und dem siegreichen sozialdemokratischen Lügen zum Opfer fiel. Selbst die American Federation of Labor war in ihren Anfängen viel revolutionärer als der heutige Syndikalismus, oder genauer gesagt, als seine Syndikate. Was aus ihnen geworden ist, wissen wir alle!

Sogar die Unione Sindicale Italiana (USI) war von internen Kämpfen, von Konflikten zwischen den Ideen und Prinzipien ihrer Repräsentanten betroffen. Und ohne die außergewöhnlichen und plötzlichen Ereignisse des italienischen Nationallebens, die die italienische proletarische Bewegung auseinander rissen, hätten wir sehr wahrscheinlich eine „Wendung nach rechts“ dieser Organisation erleben müssen. Eine Wendung nach rechts!

Jede Seite der Geschichte hat ihre „Wendung nach rechts“. Es ist die ewige Täuschung des Volkes und der Parias. Es ist die Täuschung des guten Glaubens, der Einfachheit, des Heldentums, des Opfers der Elenden, deren Haut und großzügigem Blut alle Revolutionen ihren Triumph verdanken. Es ist das unvermeidliche Ergebnis jeder Sache, die nicht endgültig mit der Vergangenheit bricht, die Privilegien und Autorität bewahren will.

Es ist immer möglich, die Armen zu täuschen, oder besser gesagt, die Armen täuschen sich selbst, und im Namen einer vermeintlich neuen Freiheit schmieden sie neue Ketten für ihre Handgelenke; und im Namen einer neuen vermeintlichen Freiheit akzeptieren sie den alten Betrug, der von den Revolutionären umbenannt und als neu verkleidet wurde: „Geh aus dem Weg und ich komme rein“.

Und warum? Der Grund ist jedem klar, der sich nicht mit der Geschichte befasst hat und wenig über die Mentalität der Bescheidenen weiß. Aber historische Illustrationen und psychologische, soziale, historische und naturwissenschaftliche Untersuchungen zu diesem Phänomen sind hier nicht möglich. Ich beschränke mich daher darauf, jeden aufrichtigen Revolutionär aufzufordern, über diese historische Wahrheit nachzudenken, die nicht nur wenig bekannt ist, sondern sogar freudig verleugnet und durch den verhängnisvollen historischen Faschismus gewisser sozialistischer Schulen und, warum soll ich es nicht sagen, auch von gewissen Anarchisten verheimlicht wird.

Aber wenn das stimmt – nur aus Ignoranz und Bösgläubigkeit könnte es negiert werden – wäre es einfach absurd, darüber zu diskutieren, ob der Syndikalismus ein Mittel zur Beschleunigung von Revolution und Anarchie ist.

Und stimmt es außerdem, dass ihr in euren Syndikaten „alle Arbeiter auf(nimmt), die danach streben, selbst die Kontrolle über ihre eigenen Produkte zu erlangen, ganz gleich, welcher Glaubensrichtung sie angehören.“?

Nein, mein Freund, das ist nicht so. Der Arbeiter, der in einer Stadt, aus dem verschwommenen Geschehen des Lebens der Armen herausgeworfen wird, in der die Arbeiter in einer der vielen reaktionären Organisationen von heute organisiert sind – in der Vergangenheit waren sie alle revolutionär -, muss den Mitgliedsausweis kaufen und den Monatsbeitrag zahlen, wenn er seinen Job behalten will. Genauso verhält es sich in einem Ort, in dem die Organisation reformistisch, sozialistisch, kommunistisch, katholisch, anarchistisch oder schließlich faschistisch ist.

Und der Syndikalismus macht keine Ausnahme von dieser Regel; im Gegenteil, Syndikalisten selbst schließen die Politik a priori von ihren Syndikaten aus, die rein ökonomisch sein müssen. Als ob „Politik“ und „Ökonomie“ nicht integrale und untrennbare, wenn auch variable Bestandteile einer jeden Gesellschaftsordnung wären.

Aber in ihren Syndikaten „alle Arbeiter auf(nehmen), die danach streben, selbst die Kontrolle über ihre eigenen Produkte zu erlangen, ganz gleich, welcher Glaubensrichtung sie angehören“ zu akzeptieren!

Andererseits ist es nur möglich, Arbeiter massenhaft zu organisieren, wenn man nicht an seinen eigenen Prinzipien festhält, vor allem in Organisationen, die sozialistisch oder revolutionär sind oder dies von sich behaupten, denn die Mehrheit der Arbeiter ist konservativer als die Bourgeoisie. So werden Subversive gezwungen, reaktionären Organisationen beizutreten, und reaktionäre Arbeiter werden gezwungen, Organisationen beizutreten, die behaupten, revolutionär zu sein, obwohl sie wissen, dass mindestens 75 Prozent von ihnen aus konservativen, reaktionären Arbeiter bestehen.

Leider ist es zwar möglich, die schafähnlichen Menschenmassen unter der untreuen Führung und den betrügerischen Versprechungen der schlechten Hirten oder auch der guten Hirten – in diesem Fall ist das Übel schlimmer – zu versammeln, aber es ist nicht möglich, diese Menschenherden zum Handeln zu bringen, wenn der Moment und die Tatsachen es erfordern, wenn Niederlage und Schande schmerzen.

Und hier wiederhole ich die Frage, die ich bereits in einem früheren Brief beantwortet habe:

Wird es nie möglich sein, dass Arbeiter, egal welcher Glaubensrichtung, diejenigen sein wollen, die ihre Produkte kontrollieren? Wird es nie möglich sein, dass die Ausgebeuteten, die durch Jahrtausende der Sklaverei verroht sind, vergiftet durch eine tausendjährige und systematischer Indoktrinierung von Irrtümern, die die Fähigkeiten des Geistes von Anfang an entstellen, eingetaucht in die Dunkelheit der schrecklichsten Unwissenheit, unfähig zu einer realeren Vorstellung von Freiheit und Gerechtigkeit und zu den Mitteln, mit denen diese Inspirationen in die tatsächliche Lebensrealität umgesetzt werden können, stündlich und täglich, pervertiert durch das schlechte Beispiel von oben, gequält von wahnsinnigen Gelüsten, geschwächt und absorbiert durch den unmenschlichen Kampf um die elementarsten und unentbehrlichsten Lebensnotwendigkeiten, könnte es möglich sein, dass sie diejenigen sein wollen, die ihre Produkte kontrollieren? Ist es möglich, Kosaken, Vandalen, Sklaven und Sklavenhalter zu sein und gleichzeitig den libertären Sozialismus, den ersten Schritt zur Emanzipation der Arbeit, des Proletariats und der Menschheit, verwirklichen zu wollen?

Kämpfe für die Wahrheit, schlag auf die Brust, den Schädel, die Rippen der modernen Heloten, der vom Urbanismus Pervertierten, leg dein Ohr an den dumpfen Donner und du wirst vom Gegenteil überzeugt sein.

Beobachte sie, höre ihnen zu, frage sie unbemerkt aus, und du wirst überzeugt sein, dass jeder Sklave leidet und seine persönliche Emanzipation aus dem Zustand des ausgebeuteten Produzenten erhofft, aber seine Rettung in der Ausbeutung, der Spionage, dem Raub und dem legalen Betrug sucht; da ihm der Mut fehlt, dem Gesetz die Stirn zu bieten, sucht er sein Heil im Bordell, in der Taverne, in der Lotterie, in der gewalttätigen politischen Parteinahme, im Krieg: in allem, außer in der Abschaffung von der Ausbeutung und Unterdrückung, in der Revolution und der Anarchie.

Denn wenn das Proletariat geistig und moralisch emanzipiert wäre, hätte es schon längst seine Revolution gemacht; und wenn es jetzt emanzipiert wäre, würde es seine Revolution machen.

Denn entweder ist das Proletariat stärker als die ausbeutenden, tyrannischen und korrupten Klassen und hat für seine natürliche Gerechtigkeit und soziale Funktion Recht und Vernunft, oder aber wir irren uns und werden zu irrtümlicherweise verurteilt und müssen uns selbst erlösen und die Bedürfnisse des ausbeutenden Chefs, der unterdrückenden Regierung und des betrügerischen Priesters anerkennen.

Aber wir wissen, dass die erste Hypothese die wahre ist, nicht wahr?

Wenn also die Sklaven mehr körperliche Kraft haben als die Sklavenhalter und ihre Henker, wenn Vernunft, Recht und Gesundheit in uns und mit uns sind; wenn jeder arme Mensch sich danach sehnt, sich von der bestialischen Mühsal, den Qualen und der Erniedrigung zu emanzipieren, zu der die Gesellschaft der Diebe diejenigen verdammt, die für ihr Brot schwitzen, und zu diesem Zweck zu allen Mitteln greift, die er kennt und auf die er hofft und vertraut – selbst zu den schändlichsten, gewalttätigsten und irrigsten – und so zum blinden Werkzeug der Mörder der Bourgeoisie wird, der er sich unbewusst anschließt und verewigt; Wenn es stimmt, dass die revolutionären Institutionen des Proletariats degeneriert sind und unterdrückt wurden: dann liegt es an uns Revolutionären, die Ursachen, die Faktoren und die Elemente dieses sozialen Phänomens zu untersuchen, in sein innerstes Wesen einzudringen und ihm entgegenzutreten, wie es unsere Sache und sein höchstes Ziel verlangen.

L’Adunata dei Refrattari, 17. November 1923

V

Im kurzen Vorwort zu seinem schönen Buch The Mind in the Making sagt James Harvey Robinson Folgendes:

„Meine Idee ist also, dass alle Ausflüchte vor der gegenwärtigen Realität und vor dem, was Desjardin als höchste Pflicht ansieht, heute, wie nie zuvor in der Geschichte, schwache und feige Fahnenflucht vor der Pflicht des Jetzt sind, eine Verschwendung wertvoller Energie und, was vielleicht das Schlimmste ist, ein Symptom für eine niedrige persönliche oder zivile Moral, oder beides. Wahre Größe besteht nur darin, jedes Ding, ob Vergangenheit, Zukunft oder Ferne, in den Begriffen des Hier und Jetzt zu sehen, das heißt, in der Fähigkeit der Vergegenwärtigung.“

Richtig, wirst du sagen, aber das ist altes Zeug; und auf die historische Erfahrung des Sozialismus in all seinen Versionen verweisen, nach seinem Glauben, seiner Daseinsberechtigung und seinem viaticum zu seinem Sieg. Einverstanden, aber was beweisen die Fakten, was sagt uns die Realität des Hier und Jetzt?

Um diese heikle und komplexe Frage genauer zu beantworten und um aus der bitteren Erfahrung der Vergangenheit und der Leidenschaft der Gegenwart die schärfste Warnung und die tiefste Lehre zu ziehen, werde ich die Geschichte eigenmächtig in drei Perioden einteilen: die gesamte historische und prähistorische Vergangenheit bis zur Ersten Internationale; von der Ersten Internationale bis zum Weltkrieg (1914); und von 1914 bis 1923, dem heutigen Jahr.

Die Prähistorie lehrt uns also, dass sehr alte Völker zur höchsten Zivilisation aufstiegen und dann verschwanden und bis zur niedrigsten Degradierung verfallen sind.

Die Geschichte lehrt uns, dass die Völker schon immer gegen Unterdrückung und Ausbeutung gekämpft haben. Der Buddhismus, das Christentum, der Spartakusaufstand, die Reformation, die Renaissance, die englische, amerikanische und französische Revolution, die italienische und griechische Revolution für die Unabhängigkeit, die gegenwärtige aufständische Bewegung in Indien, Marokko und anderen Völkern, die den europäischen Großmächten unterworfen sind, sind alles Beweise dafür. Aber alles läuft auf einen Wechsel des Namens, der Form, der Formalitäten, der Mittel oder der Herren hinaus, oder vielmehr auf eine Vereinigung der Herren, denn die alten schließen sich den neuen an.

Das sollte uns davon abhalten, aufzuschreien und zu denken, dass der Sozialismus unausweichlich … war, dass die Bourgeoisie auf den Selbstmord zusteuert, während auf der anderen Seite immer der Pöbel die Rechnung bezahlt.

Es muss also gesagt werden, dass die Anarchisten in dieser Frage klarer sahen als ihre „wissenschaftlichen Gegner“.

Die Erste Internationale war in ihren Anfängen im wahrsten Sinne des Wortes revolutionär, d.h. antikollaborativ, politisch und ökonomisch sozialistisch und aufständisch. Dann wurde sie vom Marxismus kontaminiert: Eroberung der öffentlichen Gewalt, Kollaborationismus, Kooperativismus26, Minimalprogramm, Sozialdemokratie und so weiter.

Schließlich taucht der Syndikalismus auf, eine Schöpfung unzufriedener oder unruhiger Anarchisten und Sozialisten, um das Subproletariat in ihren Reihen zu versammeln. Und er war auch erfolgreich!

Und der Anarchismus, der weit von der Psychologie und dem Verständnis der Massen entfernt war, weil er zu innovativ und heroisch war, musste leiden.

Von der Bourgeoisie gnadenlos verfolgt, von Sozialisten und Syndikalisten verspottet und mit allen Waffen und Mitteln bekämpft, von den Massen missverstanden, denen im Tausch gegen eine Karte oder eine Stimme das Paradies versprochen wurde: Wie konnten die Anarchisten die Massen erobern und erziehen?

Viele wandten sich ab; andere, unfähig, den Menschen zu erschaffen, verschwendeten ihre Zeit mit vergeblichen Versuchen, den Übermenschen zu erschaffen; oder sie schwelgten in Zarathustra und unterhielten sich mit Stirners Paradoxien. Dennoch ist die Geschichte des Proletariats eine leuchtende Geschichte anarchistischer Aktionen; wertvolle Einsichten in die menschliche Natur fließen aus ihren Spekulationen; ihre Bewegung wird stärker; und was vielleicht am wichtigsten ist, sie kam zu der Einsicht, dass es, um zu siegen, es notwendig ist, mit all der Vergangenheit zu brechen, es ist notwendig, das Proletariat von den Fesseln, den Ketten, den Illusionen und dem Wahn des Arbeitersyndikalismus zu befreien.

Und dann?

Dann, als der Sozialismus in jeder Nation Millionen von Anhängern zählte, als er die Bourgeoisie mit Präsidenten für die Republiken versorgte, als er einen Schatz von Genossenschaften, der Presse usw. geschaffen hatte, als der Syndikalismus triumphiert hatte, brach der Weltkrieg aus.

Was sagt uns dieses letzte Jahrzehnt, was lehrt uns der große Krieg, der immer noch andauert, nur durch die Kraft der Dinge abgeschwächt, und der zu einem noch größeren Konflikt heranreift?

Und nach dem Krieg, was sagt uns dieser, was lehrt uns dieser? Was beweist die russische Revolution, die den Kapitalismus, nachdem sie diesen auflöste, nun gerne zurückfordert? Was beweist die siegreiche deutsche Revolution, die von den Sozialdemokraten ergriffen und in eine bourgeoise Republik kristallisiert wurde?

Was sagt uns die gewaltsame Repression der Massen und Revolutionäre durch die russischen Kommunisten und die deutschen Sozialdemokraten? Was sagen uns die niedergeschlagenen Revolutionen in Finnland, Ungarn, Italien, Spanien und Bulgarien? Was sagt uns der Faschismus in Italien? Die Militärdiktatur in Spanien, Ungarn, Russland und die, die in Frankreich, Deutschland, Griechenland und anderen Nationen wächst? Was sagen uns die der Reaktion ausgelieferten Menschenmassen, die unterdrückte Standesfreiheit, die zerstörten proletarischen Institutionen, was sagen uns unsere durch Feuer und bourgeoise Eisen Getöteten, die Hunderttausende unserer Gefangenen, unsere Exilanten und Flüchtlinge und der Verrat, die Bösgläubigkeit und Niedertracht der Anführer sowie die Angst, der Terror, die Unordnung und die Unbeständigkeit der hungernden, zerlumpten, massakrierten und noch nicht revolutionären Massen?

Welches sind die Menschen und die sozialistischen Parteien, die, auch wenn sie die gegenwärtige Niederlage eingestehen müssen, die Fehler der Vergangenheit erkennen?

Die eine oder andere Ausnahme mag sich zu Wort melden, aber im Allgemeinen machen die sozialistischen Parteien, ob sozialdemokratisch oder arbeiteristisch, mit den alten Fehlern weiter.

Nur der Syndikalismus hat sich – nach dem russischen Experiment und der „Wendung nach Rechts“ einiger großer Syndikate – in Richtung Anarchismus bewegt, aber mehr durch die Arbeit von Anarchisten als von ihren Mitgliedern. Aber dieser Libertärtum scheint mir fiktiv und inkohärent zu sein.

Von Entwicklung, von Fehlern der Vergangenheit, von der Notwendigkeit theoretischer und taktischer Verbesserungen sprechen nur Anarchisten: „Wir wollen die Methoden und Taktiken der Anarchie weiterentwickeln, verfeinern, vervollkommnen und den Weg der Wahrheit und der Freiheit suchen und finden […]“, heißt es in einem Brief der Aggruppamento Autonomo Universale „Anarchia“, mit dem die Veröffentlichung des Messaggero della riscossa angekündigt wird (siehe L’Adunata dei Refrattari Nummer 14). Und eine andere Gruppe von Gefährten, die einer anarchistischen Zeitung namens Fede Leben einhauchen wollten, gab ein schönes Kommuniqué aus Rom heraus, in dem sie sagten:

„Da wir neu anfangen müssen, sehen wir die Notwendigkeit, uns neu zu überprüfen, uns selbst zu beurteilen; unsere Gedanken zu klären, uns von all den Gewichten und all dem Flitter zu befreien, die uns lähmten, als unser Wille auf eine bestimmende Kraft zählen konnte.“

Und das ist gut so. Auch dieses Mal sind die Anarchisten, die weniger schuldig und mehr geschlagen sind als alle anderen, die ersten, die auf anarchistische Weise ihre Unzulänglichkeiten und Fehler erkennen und versuchen, den erlittenen Schaden zu beheben und sich zu verbessern.

Es ist jedoch schon so lange her, dass wir festgestellt haben, dass viele von denen, die sagen oder glauben, Sozialisten zu sein, es nicht sind, dass die Sozialdemokratie die letzte Bastion des Kapitalismus ist und sein wird, dass ein autoritärer Sozialismus, wie ihn Marxisten aller Couleur wollen, nicht machbar ist, dass Genossenschaftswesen, die Eroberung der öffentlichen Gewalt, der Autoritarismus und der Arbeitersyndikalismus das Proletariat ruiniert haben. Heute geben uns die Fakten recht.

Aber du beharrst darauf: „in unseren Syndikaten alle Arbeiter auf, die danach streben, selbst die Kontrolle über ihre eigenen Produkte zu erlangen“, usw. „ist weder Sozialismus noch Anarchismus“.

Stimmt; aber das ist auch kein Syndikalismus, wenn mit Syndikalismus eine sozialistische Lehre gemeint ist: Es ist einfach „Arbeitergenossenschaft“, und zwar umso mehr und umso besser, als niemand von den Mitgliedern der Syndikate verlangt, „ selbst die Kontrolle über ihre eigenen Produkte zu erlangen“, wenn sie beitreten wollen.

Die Zeit wird kommen, in der die Geschichte ihr Urteil über diese Plage des heutigen Proletariats fällen wird, und der Gelehrte wird, statt von der Blindheit der Massen und der Perversität und dem Verrat ihrer Bosse, von dem Glauben beeindruckt sein, den so viele aufrichtige Revolutionäre an den Arbeitersyndikalismus hatten. Aber unsere aktuelle Aufgabe ist es, den Weg zur anarchistischen Revolution von allen Hindernissen zu befreien.

Und das ist genug für heute. In einem der nächsten Briefe werde ich auf den zweiten Absatz antworten.

L’Adunata dei Refrattari, 24. November 1923

VI

Lass uns nun zu deinem zweiten Absatz kommen, in dem du behauptest und fragst:

„Nun, um ein System „Anarchie“ zu nennen, müsste es ausschließlich aus Anarchisten bestehen. Aber wenn die Mentalität der Mehrheit nach der Abschaffung des Privateigentums immer noch weit von der schönen anarchistischen Philosophie entfernt ist, wie würdest du dann ein solches System nennen?“

Wenn man den Sinn deines Absatzes analysiert und den logischen Verlauf des menschlichen Denkens aufgreift, d.h. von deinen Behauptungen und Schlussfolgerungen ausgeht, um die Versprechen und die Gründe zu finden, denen sie entspringen, kann (oder besser gesagt muss) man folgern, dass du:

1. Es für unmöglich hältst, die Anarchie zu verwirklichen, solange nicht alle oder die große Mehrheit Teil der schönen anarchistischen Philosophie sind.

2. Du die Abschaffung des Privateigentums in einer Gesellschaft für möglich hältst, die nicht auf dem integralen Sozialismus, der ökonomischen Grundlage des Anarchismus, basiert.

3. Du denkst, dass die zukünftige Revolution, bevor sie die Anarchie erreicht, ihre Entwicklung bis zu einem gewissen Grad kristallisieren wird; du denkst, dass ihre Übergangsinstitutionen festgelegt werden und so ein unvollkommener sozialer Staat entsteht, der später zur Anarchie tendiert.

4. Schließlich scheinst du in der gegenwärtigen Phase der anarchistischen Lehre und in ihrer Gesellschaftskonzeption die endgültige menschliche Vollkommenheit und das Streben danach zu sehen.

Wenn das so ist, wenn die Ansichten, die in deinen Worten mitschwingen, so sind, wie ich sie verstehe, dann muss ich dir sagen, dass sie falsch sind, sie stehen im Widerspruch zum Wesen der Dinge, im Widerspruch zu allen historischen und gelebten Erfahrungen und darüber hinaus äußerst gefährlich und schädlich für die Zukunft unserer Sache. Ich werde versuchen, es dir zu beweisen.

Wenn ein System nur aus Anarchisten bestehen darf, um „anarchistisch“ zu sein, dann musst du aufhören, das gegenwärtige System „kapitalistisch“ zu nennen, denn es besteht weder tatsächlich noch prinzipiell ausschließlich aus Kapitalisten. Im Gegenteil: Die Mehrheit ist nicht kapitalistisch.

Aber es gibt noch mehr, was die politischen Systeme eines solchen Kapitalismus angeht: In Frankreich herrscht die Republik, in Italien die Monarchie, in Russland bis vor kurzem die Autokratie und jetzt der Bolschewismus. Aber in Frankreich sind sie nicht alle Republikaner und in Italien nicht alle Monarchisten, genauso wenig wie sie in Russland zur Zeit des Zaren alle Zaristen waren oder jetzt in der guten Zeit der Diktatur des…. Bolschewismus. Es stimmt dass das ökonomische System immer noch kapitalistisch ist, Frankreich ist republikanisch, Italien monarchisch und so weiter, trotz der vielen Dissidenten und Gegner. Aber warum?

Weil die Bourgeoisie mit ihrer Revolution die alten Tyranneien entthront hat; hier hat sie sie gegen eine Republik, dort gegen eine konstitutionelle Monarchie ausgetauscht und dann die alten Institutionen und die Klassen, die sie getragen haben, in sich aufgesogen und die alte organisierte Gewalt zu ihrer Verteidigung und ihrem Dienst umgewandelt: Die Polizei und die Armee unter dem Kommando der politischen Staaten der Bourgeoisie, die geschaffen wurden, um die Legitimität ihrer Herrschaft und ihres Kommandos selbst zu behaupten und sie mit Eisen und Feuer zu verteidigen, wo ziviler und religiöser Betrug und Lügen nicht ausreichten, um die Sklaven in christlicher Resignation und Gehorsam gegenüber dem Gesetz der Bosse auf dem Boden zu halten.

Es liegt in der Natur des kapitalistischen Systems und seiner verschiedenen Regierungsformen – des Priesters, des Polizisten, des Henkers -, dass es „durch die geschichtliche Konsequenz“ oder „durch den natürlichen geschichtlichen Verlauf“, wie einige gesagt haben, zur Verewigung dieses Systems tendiert, es sei denn, es wird, richtig verstanden, durch offene Rebellion bekämpft, die der physischen und geistigen Kraft der Wiederherstellung dieser alten Formen überlegen sein muss. Ich glaube also, dass wir ein solches System zu Recht als „anarchistisch“ bezeichnen können, wenn der Kapitalismus und der Staat zu Fall gebracht – auf die eine oder andere Weise zerschlagen – werden und Produktion, Verteilung, Austausch und Fortbewegung auf einer ökonomisch und politisch libertären Grundlage (freie Verständigung und Initiative sowie Kommunismus) organisiert werden, so fehlerhaft und unvollkommen es auch sein mag.

Denn auf dieser Grundlage würde es im Anarchismus ganz natürlich dazu tendieren, sich in eine anarchistische Richtung zu entwickeln.

Nur so wäre eine Übergangsperiode der zukünftigen – und bereits gegenwärtigen – sozialen Revolution möglich, in der das Eigentum tatsächlich abgeschafft würde, auch wenn die Mentalität der Mehrheit noch weit von der schönen anarchistischen Philosophie entfernt wäre. Denn wenn wir und das Volk, nachdem wir die Bourgeoisie, ihre Staaten und das vergesellschaftete Privatkapital besiegt haben, einer der verschiedenen revolutionären, aber autoritären und etatistischen Parteien erlauben würden, die Revolution zu übernehmen, wenn wir – sogar im Namen der Revolution selbst – einen neuen Staat, eine neue Autorität mit ihren Gesetzen, ihren Gefängnissen, ihrer Polizei, ihren Henkern und Armeen zulassen würden, weißt du, was dann passieren würde?

Es würde das passieren, was in einer solchen Situation immer passiert und passieren wird: Die neue Regierung wird sich schnell den gesellschaftlichen Reichtum aneignen und mit diesem Reichtum alle Unterdrücker aus der Zeit vor der Revolution rekrutieren, alle Söldner, und mit ihnen wird die neue revolutionäre Regierung im Namen der Revolution erst einmal alle Revolutionäre, die nicht mit ihr übereinstimmen, einen nach dem anderen unterdrücken, und dann, wenn die unvermeidlichen negativen Folgen die Massen zum Aufstand treiben, wird sie auch die Massen en masse unterdrücken.

So geschah es in Frankreich, während der großen Revolution, die zu Napoleon führte. Es geschah auch während der russischen sozialistischen Revolution, die nach Lenin-Robespierre in diese Richtung geht, und mit der deutschen Revolution, die auf eine Militärdiktatur im Namen des Kaisers und durch den Kaiser, oder wie auch immer er heißen mag, zusteuert.

Da auch ich nichts anderes tun kann, als zu kritzeln, habe ich beschlossen, hier einige Worte wiederzugeben, die besser und sachkundiger als ich über das revolutionäre Problem sind, um meine These zu bekräftigen und noch etwas hinzuzufügen.

Hier sind einige Passagen aus dem Artikel „Accidenti agli Scioperi!“ [Unfälle bei den Streiks!] von Old Man, veröffentlicht in der Cronaca Sovversiva, Jahrgang I, Nummer 3, neue Serie:

„[…] unter uns ist es offensichtlich, dass die soziale Revolution etwas mehr ist als ein doktrinäres Postulat oder eine politische Orientierung; durch konkrete Aktionen wird die große ökonomische Umwälzung vollzogen, die die Erneuerung ermöglicht, die sie am unmittelbarsten verbindet, nämlich die Abschaffung jedes Organismus der Autorität, und vor allem des Staates.

Die Geschichte lehrt uns einerseits, dass es kindisch wäre, aus der Revolution die verschwenderische und vereinfachende Vorstellung abzuleiten, die die verächtlichen Hirten unter den Massen kultivieren, die behauptet, dass wir – die unserer Generation – die Revolution machen, alles schnell lösen und das unmittelbare Morgen beherrschen werden, weshalb wir bereits die entsprechenden ökonomischen Organismen haben müssen, und mit ihnen die politischen Hierarchien, durch die die souveräne Diktatur der proletarischen Klassen sofort Gestalt annehmen und sich bilden wird.

130 Jahre sind seit dem Tag vergangen, an dem die Verfassunggebende Versammlung die Erklärung der Menschen- und Staatsbürgerrechte veröffentlichte, und die politische Gleichheit, die seit dem ersten großen Akt der Französischen Revolution ratifiziert wurde, ist immer ein Anspruch geblieben, der weit von der Realität entfernt ist. Und sie war und ist nichts weiter als formale Eroberungen, politische Leere.

Stellen wir uns vor, wie lange eine Revolution dauern würde, wenn sie nur die Rechte, die Befugnisse, die politischen Hegemonien einer Kaste oder einer Klasse verändern wollte, sondern die grundlegenden Interessen, auf denen die gegenwärtige Ordnung beruht, in die Realität der alltäglichen Beziehungen übertragen würde, und zwar gleichberechtigt für jede und jeden, auf ein Dasein, das im weitesten Sinne verstanden wird, in der maximal vorstellbaren Entfaltung aller individuellen und kollektiven Energien.

Wir wollen keineswegs ausschließen, dass während des Krieges gegen die Bourgeoisie die Produktion und die Verteilung der Produkte etabliert werden, dass die Revolution in dem Moment, in dem alle ihre Ressourcen benötigt werden, genährt wird, dass ihre praktischen Ergebnisse gepflegt werden und gleichzeitig den Massen mit dem unmittelbar realisierbaren Wohlstand ein vernünftiges Versprechen auf das Größere und Stabilere gegeben wird, das allen durch ihren endgültigen Triumph zugesichert wird.

Doch schließen wir kategorisch aus, dass solche Absichten einen endgültigen Charakter annehmen können und dass auf der Grundlage von Organen mit absolutem Charakter und provisorischen Funktionen irgendeine Form der Regierung gebildet werden müsste, dass irgendeine Form der Regierung etabliert werden müsste. Umso gefährlicher ist es, dass die Träumer der drohenden Diktaturen bis heute vorgeben, sich im Namen der Vertretung, die sie zu Dienern und Mandataren des Proletariats macht, als Herren aufzuspielen; die neuen Herren beanspruchen den Platz der alten mit derselben absurden Gier und sind darauf erpicht, den Willen der Individuen, ihre Gründe, ihre Standpunkte den übergeordneten Wünschen der von ihnen zusammengefassten und vertretenen Kollektivität unterzuordnen; ein idiotischer und grausamer Jakobinismus, den der edelste Idealismus und die heldenhaften Holocausts der Revolution in das „Geh aus dem Weg, ich setze mich rein“ übersetzen würden, mit dem alle politischen Revolutionen zur bitteren Enttäuschung der Ankündiger und der großzügigen Architekten geendet haben.

So unerträglich, dass jeder von uns den Wert und die Funktionen der Parteien und ihre absolute Unfähigkeit, die Revolution zu machen, versteht“.

Und da es mir scheint, dass du die Minderheiten als historischen Faktor und das Eingreifen und die Fähigkeit der Massen, die Revolution zu machen und zu entwickeln, nicht kennst, hör dir ein weiteres Fragment aus demselben Artikel „Accidenti agli Scioperi“ an, das sich mit der Entstehung und Entwicklung von Revolutionen befasst:

„Wer revolutionäre Phänomene studiert, erkennt leicht den Prozess: Der Protest geht dem Gedanken voraus; der Gedanke wird ausgearbeitet, integriert, blitzt auf, zieht in privilegierten Seelen die Glut des Glaubens an, die das Gesicht in den Seelen der Vorläufer erhellt, der Blitz, von dem die Phalanx der Anhänger erleuchtet wird. Die individuelle Rebellion ist das Prodrom des kollektiven Aufstands, dessen Seele, wenn sie von einem höheren Sinn für Wahrheit und Gerechtigkeit durchdrungen ist, zur Seele der Linie, der Epoche, der neuen Ordnung wird, die heranreift und am Horizont der Geschichte erscheint, indem sie alle Bindungen mit der verdrängten Ordnung bricht: Sie wird zur Revolution“.

Der Kürze halber verzichte ich hier auf die historische Prosa der italienischen Nationalrevolution, die der Autor synthetisch darlegt, um seine These zu untermauern, und beschränke mich auf die historische Darstellung der sozialistisch-anarchistischen Bewegung.

„Babeuf, der sich im Beisein der Richter die Kehle durchschneidet, ist der erste Protest gegen die Hehler der großen Revolution. Ein halbes Jahrhundert später werden Proudhons Hände zu einem Akt des Protests gegen das individuelle Eigentum; Marx, Bakunin, Cafiero, gehen zum Plebs; Cartagena, Benevento, das sind die ersten Etappen, dann wird der ferne, verworrene, allgemeine Idealismus innerhalb der Internationale bewusst. Die Bewegung zersplitterte schnell: Auf der einen Seite wurde das Gefühl der Kollaboration mit der herrschenden Klasse übertrieben, auf der anderen Seite wurde die ikonoklastische Rebellion hervorgehoben. „Das Eigentum ist der Feind?“ Und das Eigentum wird in den Tresoren angegriffen.

„Der Feind ist der Staat?“ Und seine gekrönten Symbole werden angegriffen; das überlebende heilige Amt in den Inquisitoren, die bourgeoise Ordnung in all ihren Rissen, die bourgeoise Moral in all ihrer Heuchelei; und in der Luft ziehen strahlende Phantome vorbei, Ravachol, Angiolillo, Bresci und Czolgosz, verflucht von den gestörten Göttern des Olymps, verflucht und verleugnet mit gleicher Wut von den ängstlichen und überholten revolutionären Bruderschaften.

Aber Ketzerei wird zur Lehre, die einzelne Tat schwängert die Massen mit ihren satanischen Vorzügen; Streiks, die aus kleinen Gruppen bestehen, die resigniert die Waffen strecken, werden zu kühnen Aufständen, bei denen sich die großen Massen in der Fabrik, in der Provinz, in der Nation vereinigen, um den Feind in seinen Höhlen anzugreifen, um seine Niederlage zu beschleunigen, deren diskrete Kapitulation wir das Verhängnis und die Frist vorhersehen können. Auch hier (auf unserer Seite) die individuelle Revolte, der kollektive Aufstand, die Revolution“.

Doch seit den frühen 1920er Jahren, als diese Worte geschrieben wurden, haben sich die Dinge stark verändert, und zwar zum Schlechten, und die Kapitulation des Feindes, die damals nahe schien, ist heute weiter entfernt als je zuvor.

Du kennst die revolutionäre Psychologie der meisten europäischen Völker zu dieser Zeit sehr gut. Es waren die Massen, die die Parteien zur Revolution trieben, die sie zwangen, revolutionär zu sein oder so zu tun, als ob sie es wären.

In Italien waren damals sogar die Priester auf ihre Weise Revolutionäre. Auch die Sozialisten murmelten, ein wenig aus Zwang, ein wenig aus Liebe, ein wenig aus Wahlspekulationen, von Revolution.

Die Sozialdemokratie war gezwungen, in der steigenden revolutionären Flut zu trinken oder zu ertrinken, mit der sie der allgemeinen Welle folgte, in der Hoffnung, die Revolte ihrer ungezähmten Massen in einer bourgeoisen Wählerschaft zu kristallisieren. Und die Republikaner waren bereit, für ihre Republik zu kämpfen.

¡1923! Jetzt hingegen sind die Massen misstrauisch, korrumpiert, teilweise von der Reaktion. Angesichts der Geschehnisse in Russland oder Deutschland würde keine autoritäre Partei eine Revolution wagen wollen, wenn sie nicht von vornherein sicher wäre, dass sie sie an der Leine ihres Programms durchziehen und den Sieg erringen könnte, um an die Macht zu kommen.

Diese autoritären Parteien waren nie, so wie sie es jetzt sind, gegen die Revolution. Sie erfüllen die Funktion einer Stützmauer für die Massen, ohne die ein revolutionäres Eingreifen unmöglich ist.

Die einzigen, die eine soziale Revolution wollen, sind die Anarchisten und Anarchosyndikalisten. Aber wenn das gute Wetter naht, werden sicher auch die anderen zu Revolutionären, aus Wahlspekulation und Herrschsucht, um die Zeit für die Revolution zu vergeuden, um sie zu monopolisieren. Deshalb sind wir heute allein.

Mit Zuneigung,

L’Adunata dei Refrattari, 1. Dezember 1923


Die doppelte Verurteilung von Bartolomeo Vanzetti

(Anmerkung des Herausgebers)

Bartolomeo Vanzetti wurde 1888 in Villafalleto, einer kleinen Stadt in der Provinz Cuneo im Piemont, geboren und sein Leben ähnelte dem vieler anderer Proletarier in Italien zu dieser Zeit. Nachdem er von klein auf in sehr harten und schlecht bezahlten Jobs gearbeitet hatte, beschloss er im Alter von zwanzig Jahren, sich in die Vereinigten Staaten, das „Gelobte Land“ – wie er es selbst nannte – zu begeben, um sein Glück zu versuchen.

Dort angekommen, trifft er auf eine ganz besondere Realität, die ihn tief prägen wird: die Ausbeutung im großen Stil und das Leben und den Kampf der großen Gemeinschaft italienischer Arbeiter in den Vereinigten Staaten.

Im Jahr 1914 begann Vanzetti für die Plymouth Cordage Company zu arbeiten, das größte Tauwerkunternehmen der Welt und Eigentümer der Stadt Plymouth, in der ganze Kolonien von Italienern und Portugiesen beschäftigt waren. Am 17. Januar 1916 brach in der Fabrik ein großer Streik aus, „der erste in der Geschichte der Tauwerkindustrie“. Vanzetti war einer der Organisatoren.

Als die Fabrik einen Monat lang geschlossen war, gewährte das Unternehmen eine Lohnerhöhung.“27 Diese Erfahrung der Selbstorganisation und des Kampfes sollte Vanzetti ermutigen und positiv begleiten.

„Durch meine aktive Teilnahme am Streik der Seilarbeiter in Plymouth war mir klar, dass es für mich keine Beschäftigung geben konnte…. Tatsächlich wurde es durch meine immer häufigere Teilnahme an den Redelisten von Gruppen aller Klassen immer schwieriger für mich, irgendwo Arbeit zu finden. Das ging so weit, dass ich in einigen Fabriken definitiv auf der „schwarzen Liste“ stand.28

Ein Jahr später, als die US-Regierung unter der Führung von Präsident Woodrow Wilson beschloss, in den Krieg einzugreifen, der Europa in ein wahres Gemetzel verwandelte, um amerikanische Interessen zu verteidigen und die Gewinne der Rüstungsindustrie zu kassieren, wurde eine Kampagne zur Zwangsrekrutierung von „Staatsbürgern und Ausländern“ gestartet. Vanzetti floh zusammen mit seinem Freund und Gefährtin Nicola Sacco und anderen Anarchisten nach Mexiko, wo sie sich in Lehmhäusern niederließen und eine regelrechte Kommune von Deserteuren gründeten, die so viel arbeiteten, wie sie konnten, und alles teilten, was sie hatten.

Unter den Italienern, die nach Mexiko flohen, waren nicht nur Sacco und Vanzetti, sondern auch andere bekannte Gefährten wie Luigi Galleani, ein großer Redner und Herausgeber der Zeitschrift Cronaca Sovversiva, und Andrea Salsedo, ein gelernter Typograf und Mitarbeiter von Galleanis Zeitschrift.

Als sich die Lage in den Vereinigten Staaten entspannte und die Gefährten die Nachricht erhielten, dass es möglich war, der Einberufung zu entgehen, kehrten sie zurück. Dennoch war die Situation für den Kampf schwierig geworden. Am 16. Mai 1918 verabschiedete die Regierung den Sedition Act, der zusammen mit dem 1917 verabschiedeten Espionage Act dazu dienen sollte, viele Anarchisten, vor allem ausländischer Herkunft, abzuschieben, zu inhaftieren und zu foltern. Dieses Gesetz verbot „illoyale, gotteslästerliche, verleumderische oder beleidigende Äußerungen“ gegenüber der US-Regierung, ihrer Flagge oder ihren Streitkräften und wurde mit fünf bis 20 Jahren Gefängnis bestraft. Dieses Gesetz richtete sich auch gegen fremdsprachige Publikationen, die in den Vereinigten Staaten veröffentlicht wurden.

Am 16. Oktober 1918 wurde der Anarchist Exclusion Act verabschiedet, der die Definition eines Anarchisten präzisierte und die Möglichkeiten der Deportation erweiterte. Luigi Galleani, Emma Goldman, Alexander Berkman und viele andere Libertäre wurden in den folgenden Monaten deportiert.

Am 25. Februar 1920 wurden zwei italienische Anarchisten, die bereits erwähnten Andrea Salsedo und Roberto Elia, verhaftet, um sie wegen subversiver Pamphlete zu verhören. Am 3. Mai, nach mehr als zwei Monaten Haft und Folter, stürzte Salsedo aus dem 14. Stock des Park Row Building, in dem das FBI seine Büros hatte. Nach Angaben des FBI hatte er „Selbstmord begangen“.

Zwei Tage später werden Vanzetti und Sacco auf dem Rückweg von einem Treffen zur Organisation einer Kundgebung für Salsedos Tod verhaftet, was die ganze Geschichte zur Folge hat, die jeder kennt und die sieben Jahre später mit ihrem Tod auf dem elektrischen Stuhl endet, nachdem sie fälschlicherweise beschuldigt wurden, an dem Überfall und Mord an einem Fabrikzahlmeister und seinem Begleiter beteiligt gewesen zu sein. Die ganze Odyssee wird in Büchern, Artikeln, Publikationen, Liedern und Filmen festgehalten.

***

Über die Fakten rund um Vanzettis Leben hinaus wollen wir die Bedeutung seiner Positionen und seiner Ideen hervorheben, denn, wie er selbst sagen würde, ist „die wahre und tiefe Geschichte“ eines Menschen nicht „in den äußeren Umständen […], sondern im inneren Erwachen seiner Seele, seines Verstandes und seines Gewissens zu finden“29.

Bei der Anprangerung des Prozesses gegen Sacco und Vanzetti, der vollständig von den Behörden inszeniert wurde und voller falscher Anschuldigungen war, wurde vergessen, dass sie Anarchisten waren, die der antiorganisatorischen anarcho-kommunistischen Strömung angehörten, die fälschlicherweise als Galleanisten30 bezeichnet wurde, und die den aktiven Kampf gegen staatliche Unterdrückung befürworteten.

Die hier veröffentlichten Briefe, die ursprünglich von der Gruppo Editore L’Antistato aus Italien im Jahr 1957 veröffentlicht wurden, dienen dazu, Vanzettis Position in der Frage des Syndikalismus zu vertiefen, einer damals sehr aktuellen Diskussion, aber auch seine Vorstellungen über Organisation, Politik und „revolutionäre“ Parteien, die vielen Anarcho-Kommunisten seiner Zeit gemeinsam waren.

Im Vorwort der 1957 erschienenen Ausgabe dieser Briefe erzählt Michela Bacchieri, dass Vanzetti im Gefängnis „so viele Bücher wie möglich las, nicht so sehr, um sich die Zeit zu vertreiben, sondern vielmehr aus dem Wunsch heraus, durch Forschung die Elemente zu kennen, die für die Lösung des sozialen Problems gelten „31 , d. h. die Ausbeutung und die Notwendigkeit, sie durch eine Revolution zu überwinden.

„Die Frucht so vieler Überlegungen und ein wertvoller Beitrag für die Sache, die er sich auf die Fahnen geschrieben hatte, sowie ein Spiegel seines edlen Herzens und seiner lebhaften Intelligenz sind die Schriften dieser Zeit: unzählige Briefe an Freunde und Gefährten, Artikel für italienischsprachige proletarische Zeitungen, Berichte, die er für die Verteidigung seines Prozesses vorbereitete, und schließlich zwei autobiografische Werke, von denen „Geschichte des Lebens eines Proletariers“ in mehr als 20 Zeitungen veröffentlicht wurde […]32“.

Die in diesen Briefen enthaltene Kritik und Ablehnung des Syndikalismus, die wir hier veröffentlichen, stammen aus der Zeit zwischen seiner Verhaftung und seiner Ermordung durch die amerikanische Justiz. Seine Analyse basiert nicht auf abstrakten Ausarbeitungen, sondern vor allem auf seinen praktischen Erfahrungen im Arbeiterkampf. Auch heute, mehr als 90 Jahre später, haben seine luziden Beiträge nichts von ihrer Kraft und Relevanz eingebüßt. Er sah im Syndikalismus einen neuen blinden Glauben im religiösen Sinne des Wortes, der viele Anarchisten und Revolutionäre mit sich zog und der wiederum jeden einzelnen der alten Fehler der revolutionären sozialistischen Bewegung reproduzierte.

Wir denken, dass die erstmalige Veröffentlichung dieser Briefe in spanischer Sprache dazu dienen wird, über Syndikalismus und Organisation nachzudenken und diesen Vanzetti kennenzulernen, der zur alleinigen Rolle des Märtyrers des Anarchismus verurteilt wurde und der nicht nur wegen der schrecklichen Machenschaften der Justiz gegen ihn in Erinnerung bleiben sollte, sondern auch als aktiver anarchistischer Agitator, der mit seinen klaren Argumenten dazu beigetragen hat, die stets aktuelle Debatte über Organisationsformen und den revolutionären Kampf lebendig zu halten.


1Per l’abolizione di ogni autorita 1927-2007 Lettere di Bartolomeo Vanzetti su sindacati e sindacalismo, Edizioni Il Picconiere, Villafalletto, Août 2007

2B.Vanzetti, «Una vita proletaria», Galzerano editore, Casalvelino Scalo ü(SA), 2005, p.37

3Cerrito, „Sull’organizzazione anarchica negli Stati Uniti d’America“, in Volontà, Jahrgang XXII, Nr. 4, Juli/August 1969 , S.273.

4L. Galleani, „Matricolati!“, in: Cronaca Sovversiva, Lynn, Massachusetts, 26. Mai 1917. Auszüge abgedruckt in einer ausgezeichneten Biografie über Galleani: U. Fedeli, „Luigi Galleani. Quarant’anni di lotte rivoluzionarie. 1881-1931“, Centrolibri, Catania, 1984, S.101. [Vollständig abgedruckt in einer reichen Sammlung von Galleanis Artikeln gegen den Krieg: „Una battaglia“, Biblioteca de L’Adunata dei refrattari, Rom, 1947. Anm. d. Ü.]

5Cf. Paul Avrich, «Sacco and Vanzetti. The anarchist background», Princetown University Press, Princetown N.J., 1991, Kapitel. 12 und 13.

6Wochenzeitung, die 1922 in Newark, New Jersey, als Nachfolgerin der Cronaca Sovversiva gegründet wurde. Im Jahr 1928 wurde Raffaele Schiavina, bereits Galleanis rechte Hand bei der Cronaca, Redakteur und leitete die Zeitschrift bis zu ihrer Schließung im Jahr 1971. Die Redaktion von L’Adunata schloss sich nicht nur der Kampagne für Sacco und Vanzetti an und veröffentlichte Sammlungen mit Texten von Galleani, sondern beteiligte sich auch konkret an den laufenden Kämpfen: Sie schickte Geld an Severino di Giovanni in Argentinien und half 1931 Michele Schirru bei seiner Rückkehr nach Italien, um ein Attentat auf Mussolini zu verüben.

7G. Manga, «Note storico considerative sul sindacalismo conosciuto da Bartolomeo Vanzetti e Nicola Sacco in America negli anni 1908-1923» in Notiziario dell’Istituto Storico della Resistenza in Cuneo e Provincia, n°33, Juni 1988, 1er Semester, S.89.

8P. Avrich, «Sacco and Vanzetti», zit., S. 159.

9Vorwort von a Lettere sul sindacalismo, Edición L’Antistato, Cesena, 1957

10Die CGIL (Confederazione Generale Italiana del Lavoro) wurde 1944 als Zusammenschluss von Sozialisten, Kommunisten und Christdemokraten gegründet. 1948 spalteten sich die Christdemokraten ab und gründeten die Confederazione Italiana Sindacati Lavoratori (Italienische Konföderation der Syndikate der Arbeiter). 1950 verließen die Sozialisten diesen und gründeten die Unione Italiana del Lavoro (Italienische Vereinigung der Arbeit). [Anm. d. Ü.]

11Federación Obrera Regional Argentina (Argentinische Regionale Arbeiterföderation), 1901 gegründet und Teil der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA).

12A.d.Ü., altes Wort für einen Mitglied eines Syndikates.

13A.d.Ü., altes Wort für einen Syndikat.

14A.d.Ü., altes Wort für jene die in einem Syndikat organisiert sind.

15Anhänger der republikanischen Ideen von Giuseppe Mazzini. [Diese Notiz und alle folgenden gehören zur spanischen Ausgabe].

16A.d.Ü., italienischer Spruch, bedeutet wenn man sich sehr anstrengen muss.

17Omenoni sind die telamons oder atlantes, Statuen mit der Figur eines Mannes, die in der hellenistischen Architektur als Säule dienen, auf der ein Gesims oder ein Gebälk ruht.

18Vanzetti spielt mit dem Wort rossore (erröten) und dem Namen des faschistischen Politikers Edmondo Rossoni.

19A.d.Ü., opportunistisch sein.

20Ein Fluss in Italien, der durch die Provinz Forlì-Cesena fließt und in die Adria mündet, den Caesar nach langem Zögern mit seiner Armee zu überqueren beschloss. Der Ausdruck „den Rubikon überqueren“ wird als Äquivalent für „eine kühne Entscheidung treffen und die möglichen Konsequenzen in Kauf nehmen“ verwendet.

21Der Libyen-Krieg, auch bekannt als „Libyen-Feldzug“, der zwischen 1913 und 1921 stattfand, ist eine der operativen Phasen nach dem italienisch-türkischen Krieg zur Sicherung der Souveränität der italienischen Kolonie Libyen.

22Anspielung auf das Sprichwort „Zwietracht ist ein Feld von Agramante“, das aus dem Gedicht „Orlando Furioso“ (1516) des Renaissance-Dichters Ludovico Ariosto stammt.

23Enrico Ferri, Kriminologe und Sekretär der Sozialistischen Partei Italiens, der auch Herausgeber der Parteizeitung Avanti! war, näherte sich in seinen späteren Jahren dem faschistischen Regime an, zu dessen Senator er kurz vor seinem Tod ernannt wurde. Dieser Rechtsruck fand einige Jahre nach diesen Briefen und Vanzettis Tod statt.

24Giuseppe de Felice Giuffrida war ein sozialistischer Politiker und Abgeordneter. Guido Podrecca war ein Politiker, der aus der Sozialistischen Partei ausgeschlossen wurde und später für die Nationalfaschistische Partei kandidierte.

25Er bezieht sich auf die Position dieser und einer Handvoll anderer großer Namen im Anarchismus, die sich für eine Beteiligung am Krieg zugunsten des Bündnisses gegen Deutschland aussprachen. Vgl. Ante la guerra. El movimiento anarquista y la matanza mundial de 1914-1918, erschienen im selben Verlag.

26A:d.Ü., bezieht sich an dieser Stelle auf das ‚Genossenschaftswesen‘, oder ‚Kollektive, Betriebskollektive‘, wie sie heutzutage genannt werden.

27John Dos Passos, Ante la silla eléctrica, Errata Naturae, Madrid 2011, S. 105.

28Bartolomeo Vanzetti, «Historia de la vida de un proletario», en VV.AA. Sacco y Vanzetti. Sus vidas, sus alegatos, sus cartas.Terramar, Buenos Aires 2011, S. 18.

29Bartolomeo Vanzetti, «Historia de la vida de un proletario», zit., S. 27.

30Denn sie gelten als Anhänger des alten Galleani, dessen Ideen in der bereits erwähnten Cronaca Sovversiva verbreitet wurden, die fünfzehn Jahre lang in den Vereinigten Staaten veröffentlicht wurde.

31«Prefazione all’edizione del 1957» in Per l’abolizione di ogni autorità. Lettere di Bartolomeo Vanzetti su sindicati e sindicalismo, Edizioni Il Picconiere, Cuneo 2007, S. 53.

32Ebenda.

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(IRK 1937) Revolution und Konterrevolution in Spanien https://panopticon.blackblogs.org/2024/02/11/irk-1937-revolution-und-konterrevolution-in-spanien/ Sun, 11 Feb 2024 15:56:34 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5411 Continue reading ]]> Gefunden auf aaap, ursprünglich erschienen in Internationale Rätekorrespondenz: Theoretisches und Diskussionsorgan für die Rätebewegung. – Ausg[abe]. der Gruppe Int[ernationaler]. Kommunisten, Holland. – 1937, Nr. 22 (Juli).

Genauso wie im vorherigen Text, (Helmut Wagner, 1937) Der Anarcho-Syndikalismus und die spanische Revolution, setzt er sich mit Fragen auseinander, aber schon nach den berühmt berüchtigten Mai-Ereignissen in Barcelona. Genauso wie der Text von Helmut Wagner, setzt sich dieser mit Fragen auseinander die nicht an Relevanz verloren haben. Wir würden uns hier nur mit der Einleitung des Textes von Helmut Wagner wiederholen.


Revolution und Konterrevolution in Spanien

Die allgemeine Bilanz

„Die republikanische Valencia – Regierung hat, nachdem es gelang, den anarchistischen Elementen Herr zu werden oder ihren Einfluss ganz zu brechen und ein verhältnismäßig diszipliniertes Heer aufzubauen, beschlossen, dass dieselbe Politik auch in Katalonien durchgeführt werden soll. Sie hat dem Herrn Companys1 und der Generalidad angeraten, jetzt endlich jenes Dekret, welches bis dahin lediglich auf dem Papier stand und welches die Entwaffnung der Extremisten der libertären Bewegung anordnet, zur Durchführung zu bringen. Die Anarchisten, die in Barcelona, was ihre Stärke und die Stärke ihrer Bewaffnung anbetrifft, die größte Macht darstellen, nahmen daraufhin unverzüglich ihre Maßnahmen [in Angriff] und begannen mit der individuellen Entwaffnung der Guardias de Asalto. So begann der Kampf auf den Straßen; und seine ersten Resultate waren derart, dass die Regierung es für nötig achtete, mit den Libertären zu einer Übereinstimmung zu kommen und von deren Entwaffnung Abstand zu tun. In diesem Moment beschloss die Regierung in Valencia zu intervenieren und die Aufrechterhaltung der Ordnung in Katalonien in ihre Hände zu nehmen. Der General Pozas wurde mit dem Kommando der geregelten Kräfte der Generalidad belastet. Gleichzeitig schickte die zentrale Regierung motorisierte Einheiten und gab drei Kriegsschiffen den Auftrag, sich nach Barcelona zu begeben“.
(Le Temps, 8. Mai)

Die Ereignisse in Barcelona waren der Beginn einer neuen Phase im Kampf zwischen Revolution und Konterrevolution. Die Phrase von der „Antifaschistischen Einheitsfront“ ist für alle, die sehen wollen, eindeutig widerlegt. Von einer Einheitsfront zwischen Bourgeoisie und Proletariat kann auch in Spanien keine Rede sein.

Zum ersten Male in der Ära der Volksfront standen sich die beiden Klassen der kapitalistischen Ordnung wieder offen gegenüber. Die Frage nach der Macht in der Gesellschaft wurde mit aller Deutlichkeit gestellt. Dieser Kampf um die Macht ist allerdings vorläufig beendet, ohne eine definitive Entscheidung gebracht zu haben. Die Arbeiter haben sich durch die Führer ihrer Organisationen zur Beendigung des Kampfes überreden lassen, sie haben sich mit Versprechungen und bedeutungslosen Zugeständnissen begnügt.

Alle wirklichen Vorteile dagegen sind der Bourgeoisie in den Schoss gefallen. Sie, die überhaupt sich auf dem Gebiete des auf geschliffene Weise Unterminierens der Machtpositionen der Arbeiterschaft mehr zu Hause fühlt als auf dem Gebiete des offenen Kampfes, in dem sie ja ihr konterrevolutionäres Gesicht gar zu deutlich zeigen müsste, konnte ihre Politik von vor dem 5. Mai nicht nur fortsetzen, sondern sogar verschärfen. Es gelang ihr, die ganze Regierungsmacht in ihren Händen zu vereinigen und wichtige militärische und ökonomische Positionen neu zu besetzen. Sie begann mit der Entwaffnung der revolutionären Arbeiter und hat die Verfolgung derselben eröffnet. Das Resultat der Ereignisse des 3.-5. Mai ist ein noch weiteres Aufrücken der bourgeoisen Kräfte gegenüber dem Proletariat.

Aber der Kampf ist noch nicht zu Ende, er hat den Proletariern nicht einzig und allein Nachteile gebracht. Allerdings sind die Arbeiter zurückgedrängt, geschlagen jedoch sind sie nicht.

Sie haben zwar viele materielle Positionen verloren, aber der Gegensatz zur Bourgeoisie ist verschärft, und das ist ein Gewinn.

Noch gelingt es der Bourgeoisie mit Hilfe ihrer Handlanger den größten Teil der Proletarier zu missleiten und ihm den Glauben an ein freies und demokratisches Spanien unter kapitalistischer Herrschaft aufzuschwätzen. Dieses aber wird von Tag zu Tag schwieriger, die Revolutionäre in Spanien erhalten damit ein stets dankbareres Arbeitsfeld. Die wachsende Verfolgung der revolutionären Kräfte in Spanien ist der Beweis nicht allein für das Anwachsen der Konterrevolution, sondern auch für einen Aufschwung des revolutionären Bewusstseins.

Es ist schwierig, über den zukünftigen Verlauf des Kampfes zwischen Revolution und Konterrevolution sichere Voraussagen zu machen. Das spanische Proletariat weiß, dass es im Falle der konsequenten Durchsetzung seiner Revolution die Bourgeoisie aller Länder gegen sich vereinigt sehen wird. Dieses Wissen ist eine die revolutionäre Entwicklung stark bremsende Kraft, Stalinisten und Sozialdemokraten machen von ihr weitgehend Gebrauch. Sie sollen auch in Zukunft alles tun, um das Gefühl der Ohnmacht zu verstärken, indem sie immer und immer wieder betonen, dass Franco ohne die Hilfe der Bourgeoisie nicht zu besiegen ist. Es ist von großer Bedeutung festzustellen, dass demgegenüber bereits andere Stimmen hörbar werden, die der Beweis sind für eine tiefere Einsicht in die tatsächliche Lage der Dinge. Die „Bolschewiki-Leninisten“, die Trotzkisten, die der offiziellen p.o.u.m.-Leitung oppositionell gegenüber stehen, die mit der Volksfront-Politik derselben nicht einverstanden sind, schreiben in einem zum ersten Mai ausgegebenen Manifest unter der Überschrift „Gegen Faschismus und bürgerliche Reaktion – die Diktatur des Proletariats!“ das Folgende: „Einem spanischen Proletariat, das die Macht eroberte, wird die Solidarität des Weltproletariats im ungleich höherem Masse als gegenwärtig zuteilwerden. Die demokratischen Imperialisten helfen Spanien nicht, weil sie fürchten, die Arbeiter könnten die Waffen, die sie dann erhalten würden, gegen ihre eigene Bourgeoisie richten. Dagegen steht es fest, dass z. B. das englische Proletariat einem proletarischen Baskenland viel mehr Hilfe zukommen lassen würde, als es heute katholischen Nationalisten gegenüber tut. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass die baskische Reaktion den Kampf sabotiert und über die Köpfe der Arbeiter hinweg einen Waffenstillstand vorbereitet.

„Ohne Weltrevolution sind wir verloren“ sagte Lenin. Dies gilt ganz besonders für Spanien; aber um das Weltproletariat zum Aufstand zu bringen, müssen wir mit unserem Vorbild voran gehen.

Um das französische Proletariat zu veranlassen, mit der Volksfront zu brechen, ist es notwendig, die Volksfrontpolitik unserer eigenen Führer zu zerbrechen und ihr die revolutionäre Front der Arbeiter gegenüber zu stellen.

Die Entwicklung des Kampfes in Spanien hängt ab von der Entwicklung in der ganzen Welt, aber auch das Umgekehrte ist wahr. Die proletarische Revolution ist international, die Reaktion ist es ebenfalls. Jede Aktion der spanischen Proletarier findet ihr Echo in der übrigen Welt und jedes Aufflammen des Klassenkampfes hier, ist eine Stütze für die spanischen proletarischen Kämpfer.

Wird auch im Moment das spanische Proletariat zurückgedrängt, sein Kampf ist noch nicht verloren, denn er ist lediglich eine Phase in der internationalen Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit, diese aber wird weitergehen. In ihr gibt es Zeiten des Aufstiegs und des Niedergangs, doch der Sieg der Proletarier ist gewiss. Die Pflicht des revolutionären Arbeiters ist darum, seine Sache unentwegt bis zum Äußersten hoch zu halten und niemals das Ziel, die Befreiung seiner Klasse aus dem Auge zu verlieren. All sein Handeln muss ihm untergeordnet sein.

Eine der ersten Vorbedingungen der Entwicklung des Kampfes im proletarisch-revolutionärem Sinne ist das Wissen der Proletarier von der Notwendigkeit dieses unversöhnlichen Klassenkampfes. Deswegen ist ein Aufräumen mit der Ideologie jener 0rganisationen, die sie an die Volksfront binden, im höchstem Masse notwendig. Trotz alles und allem dürfen die revolutionären Arbeiter niemals vergessen, die Schädlichkeit der Volksfrontpolitik aufzudecken. In diesen Rahmen fällt auch die Entlarvung der c.n.t. und f.a.i., die ebenfalls, und mögen sie es auch ableugnen, die Volksfront und damit die bürgerliche Reaktion unterstützen.

Die Haltung der C.N.T. vor den 3. Mai

Wieder einmal haben die Ereignisse den Bankrott der anarcho-syndikalistischen Grundsätze ans Licht gebracht. Im selben Augenblick, in dem der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie offen losbrach, hat die c.n.t., trotz der Tatsache, dass sie selbst in den Zusammenstoß der Kräfte einbezogen war, trotz der Tatsache, dass die Militanten aus ihren Reihen seit Tagen eine deutliche Antwort auf die Frage, ob die Arbeiter sich entwaffnen lassen sollten oder nicht, formuliert hatten, sich zum politischen Schacher verleiten lassen und hat damit geholfen, den Widerstand der Arbeiter zu zerbrechen. Die c.n.t. ist eine der Hauptschuldigen an der Unterdrückung des Aufstands, weil sie das Proletariat in dem Augenblick, in dem es gegen die demokratische Reaktion in Bewegung kam, demoralisierte. Man kann diese Haltung der c.n.t. nicht scharf genug anprangern, denn sie beweist den definitiven Bruch dieser Organisation mit dem revolutionären Klassenkampf und verstärkt ihre Verbindung mit der Volksfront und mit der kapitalistischen Reaktion.

Immerhin jedoch ist es notwendig, sich über die Ursachen klar zu werden, welche die c.n.t. zu dieser Haltung veranlassten. Es wäre nämlich ein Irrtum etwa anzunehmen, dass die c.n.t. einen gemeinen Verrat durchgeführt habe, indem sie sich bewusst gegen die Arbeiterrevolution gewandt hätte. Ein ebenso großer Irrtum wäre auch die Auffassung, dass diese Haltung nicht in Übereinstimmung mit dem Willen des größten Teiles der Arbeiterklasse gewesen sei. Es ist gerade umgekehrt, die c.n.t. brachte nichts anderes zum Ausdruck als das Bestreben der großen Masse der katalonischen Arbeiter, die zwar bis zum Äußersten den Kampf gegen den Faschismus und für ihre Befreiung führen wollen, aber die gesellschaftlichen Probleme nicht klar genug erkennen, um den revolutionären Kampf vom Reformismus, um bürgerliche Demokratie, von proletarischer, um Kapitalismus von Kommunismus zu unterscheiden. Die c.n.t. drückte nichts anderes aus als die Meinung des schwankenden, politisch noch unreifen Teiles des Proletariats. Und ebenso wenig als man die nicht revolutionär – bewussten Arbeiter als Klassenverräter kennzeichnen kann, weil die Angst vor Franco sie in ihrem Kampf gegen die „demokratische“ Reaktion schwächt, ebenso wenig kann man dies gegenüber den Organisationen tun, die ihre Auffassungen verkörpern. Viel besser ist es, die Ursachen und Motive dieser Haltung begrifflich zu erfassen, nicht in seiner Auswirkung, sondern an seiner Wurzel anzugreifen. Die c.n.t., die Millionen Arbeiter umfasst, die die einzige revolutionäre Organisation von Bedeutung in ganz Spanien war, die nach dem 19. Juli praktisch die gesamte katalonische Arbeiterbevölkerung als Anhängerschaft zählen konnte, ist trotzdem nie eine wirkliche Klassenorganisation gewesen. Die c.n.t., die alle Politik stets kategorisch ablehnte, die alle Staats- und Parteidiktatur verurteilte, hat sich nun so verirrt in Parteipolitik und Regierungsschacher, dass sie als revolutionäre Organisation daran zugrunde gehen musste. Der Widerspruch zwischen Theorie und Handeln erscheint riesenhaft, aber ist nur oberflächlich. Der Vorwurf ausländischer Anarchisten, dass die c.n.t. ihre anarchistischen Prinzipien verraten habe, ist keineswegs angebracht. Die c.n.t. konnte gar nicht anders handeln mit ihren absolut wirklichkeitsfremden Grundsätzen, sie musste sich einer der kämpfenden Mächte anschließen.

Gerade ihre anarchistischen Grundsätze‚ ihre Illusion, dass sie die Organisation sei, die den Kampf der Arbeiter verkörpere, hielt sie ab von der Vorbereitung der wirklichen Klassenorganisation und trieb sie in die Arme der Bourgeoisie, wo sie als revolutionäre Klassenkampforganisation ihren Untergang fand.

Der Syndikalist vom 29. August 1931 schrieb:

„Es gibt im nationalen Komitee der c.n.t. eine Anzahl Kämpfer, die nicht glauben, dass die c.n.t. in ihrem augenblicklichen Stadium nicht imstande ist, die Produktionsleitung zu übernehmen, sie möchten Zeit haben, sehr viel Zeit, um die c.n.t. besser zu organisieren.“

Diese Äußerung ist charakteristisch für die gesamte anarcho-syndikalistische Bewegung bis auf den gegenwärtigen Tag. In den Augen der spanischen anarcho-syndikalistischen Bewegung ist der Kommunismus eine Angelegenheit der Übernahme der Produktion durch die c.n.t. und der Leitung derselben durch die Syndikate, also nicht das Werk der Arbeiterklasse insgesamt mittels seiner eigenen Räteorganisationen.

Diese Auffassung, die kennzeichnend ist für eine Gewerkschaft, die infolge besonderer Umstände kampfkräftig blieb und nicht reformistisch entartete, ist darum nicht weniger im Widerspruch zur Wirklichkeit.

Hier liegt der wesentliche Grund, warum die c.n.t. ihrer revolutionären Aufgabe nicht gewachsen ist.

Wie sehr diese Auffassung das ganze Denken und Handeln der c.n.t. beherrscht, so dass sie selbst die leiseste Spur einer wirklichen Klassenpolitik vernichtete, ist deutlich ersichtlich aus den Materialien, die die c.n.t. anlässlich der Ereignisse in Katalonien herausgegeben hat. Wir verweisen auf das in deutscher Sprache erschienene Informationsbulletin der a.i.t. (i.a.a.) vom 11. Mai 1937:

„Wir müssen jedoch auch einsehen, dass eine der beiden Gewerkschaften, c.n.t. oder u.g.t., allein nicht imstande sein wird, um diese Arbeit (nämlich das Vorwärtsschreiten nach konkreten Formen des ‚freien Sozialismus‘) zu erfüllen. Die u.g.t. kann sich der c.n.t. nicht aufdrängen, aber auch das Gegenteil ist unmöglich, das würde Bürgerkrieg bedeuten. Es können auch keine zwei Produktionsformen nebeneinander bestehen. Die Arbeiter in den Betrieben haben die Lösung in dem praktischen Zusammenwirken beider Richtungen gefunden. Dies muss im Landesmaßstabe auch geschehen. Wenn wir für den Ausbau der Industrieföderationen und die Allianz c.n.t.-u.g.t. arbeiten, dann werden wir die Fundamente jener neuen iberischen Wirtschaft legen, die wesentlich verschieden ist von allen bisherigen sozialen Experimenten, die Ausdruck unseres Volkes ist.“

Die c.n.t. sieht also die Lösung der Gegensätze zwischen Sozialdemokratie und Anarchismus in einer Einheitsfront der Organisationen, die jedoch an den Zielstellungen derselben nichts verändern kann. Welche Politik muss diese Einheitsfront nun führen, eine sozialdemokratische oder eine anarchistische? Oder muss sie zwischen beiden Richtungen hindurchlavieren? Die Sozialdemokratie denkt in ihren „revolutionärsten“ Augenblicken vielleicht einmal an eine allgemeine Nationalisierung der Ökonomie, während sie in der Praxis jede Veränderung des ökonomischen Lebens sabotiert. Die Anarchisten stehen prinzipiell jeder Staatsmacht feindlich gegenüber und wollen die Produktion unter die Führung der Gewerkschaften bringen und dies, wie sie meinen, als Ausdruck einer selbständigen Arbeitermacht. Ein Kompromiss zwischen einer solchen Arbeitermacht und der Sozialdemokratie ist jedoch ein unmögliches Ding. Falls ein Kompromiss zwischen Sozialdemokraten und Anarchisten aber doch besteht, muss es notwendig einen anderen Charakter haben als den oben angegebenen. Und in der Tat, es ist so. Es bedeutet nichts anderes als eine Reihe von Konzessionen der c.n.t. an die Sozialdemokratie mit der Hauptverpflichtung, die bestehende bürgerliche „Demokratie“ nicht anzugreifen. Die notwendige Folge hiervon ist, dass die Gewerkschaftsorganisationen als bereits jetzt schon mehr oder minder verbürokratisierte Apparate in kurzer Zeit vollkommen mit dem Staat verwachsen, der Arbeiterschaft total entfremdet werden und dann von selbst als überflüssiger Ballast verschwinden. So erscheint der Kompromiss zwischen Sozialdemokratie und Anarchismus nicht als ein Kompromiss zwischen c.n.t. und u.g.t., sondern als ein vollkommener Sieg der Sozialdemokratie und des Bürgertums.

Aber die c.n.t. kann dies nicht einsehen. Nach ihrer Meinung ist es bereits Sozialismus, wenn die Gewerkschaften die Leitung der Produktion übernehmen.

Warum sich also Sorgen machen über die verschiedenen politischen Richtungen? Die Produktion unter gemeinsamer Leitung der Syndikate, das ist zugleich Beginn und Ende der Revolution. Das ist Kommunismus nach ihrer Auffassung. Der ganze Rest ist eine Angelegenheit technischer Art und weiter nichts. Die fortwährende politische Diskussion jedoch [steht] der Einheit im Wege und darum, fort mit aller Politik! Gemeinschaftliche Leitung durch die Gewerkschaften! Wenn nur die Sozialdemokraten wollen, dann ist alles in Ordnung! Dann sind diese, mögen sie sich noch so sehr gegen die Tatsache sträuben, Anarchisten geworden. Sie haben dann doch immerhin verwirklicht, was die Anarcho-Syndikalisten sich als Ziel gestellt hatten, der freie Kommunismus ist also geboren.

Die Anarchisten begreifen nicht, dass revolutionäre Klassenmacht etwas ganz anderes ist. Gewiss ist die Einheit der Arbeiterklasse notwendig, aber gerade die Scheineinheit des Kompromisses der Organisationen verhindert das Zustandekommen der revolutionären Klasseneinheit. Es ist keine Einheit möglich zwischen der sozialdemokratischen Auffassung, die die Macht in die Hände des bürgerlichen Staates legen will, welche die Arbeiter zu entwaffnen versucht, sobald sich ihr die Möglichkeit bietet, jede Vergesellschaftung rückgängig macht und jenen revolutionären Auffassungen die Parole : „Alle Macht dem Proletariat“ als Ausgangspunkt nehmen. Wenn die Arbeiterklasse sich in einem revolutionären Kampf organisiert, dann geschieht das nicht, um die Macht einer Volksfrontregierung zu übergeben und sich durch diese entwaffnen zu lassen – sondern um alle Macht selbst auszuüben.

Die Organisationen, die Parteien so gut als die Gewerkschaften, verkörpern die verschiedenen politischen Strömungen, welche in der Arbeiterklasse vorhanden sind und die sich beziehen auf die innerhalb des Kapitalismus gegen die Bourgeoisie zu führende Politik. In einem revolutionären Kampfe traten den Arbeitern jedoch neue Probleme entgegen. Die sie nur lösen können auf der Basis der konkreten Forderungen des Augenblicks. Hierzu ist eine völlige Umwälzung in den Köpfen der Arbeiter notwendig.

Die alten Organisationen ließen den Ideenkampf zu einen Kampf um überlieferte Dogmen erstarren; sie stehen der geistigen Erneuerung der Arbeiter im Wege. Auch darum müssen sich die Arbeiter von ihnen lösen, denn sie bedrohen die Revolution ebenso durch ihren geistigen als auch materiellen Einfluss. An Stelle des Kompromisses zwischen c.n.t. und u.g.t. gilt es die Losung: „Alle Macht an die Arbeiterräte“ zu stellen. Die Arbeiter müssen ihre Macht unmittelbar ausüben, und nicht auf dem Umwege über eine Bürokratie, die sich ihnen, je länger je mehr, entfremden muss. Ihre geistige Befreiung aus den Fesseln des Kapitalismus kann ebenfalls nur ihre eigene Aufgabe sein. Sie kann sich keinesfalls durch Kuhhandel und Abkommen der Bürokraten vollziehen.

Aus diesem Grunde sind die revolutionären Oppositionen so bedeutungsvoll, nicht allein, weil sie die Einzigen sind, die mehr oder weniger klar einen revolutionären Standpunkt vertreten, sondern auch weil sie den erstarrenden Einfluss der alten Organisationen brechen. Sie verwandeln den Kampf der Organisationen in einen Kampf der Auffassungen, die nicht länger mehr nach ihrer Herkunft beurteilt werden können, sondern allein nach ihrem Wert für die Revolution. Sie verkörpern selbst dort, wo sie unzulänglich erscheinen, den geistigen Befreiungskampf des Proletariats.

„Mit klarem Blick für die Möglichkeiten des Augenblickes erklärte die c.n.t., dass sie auf eine sofortige Verwirklichung ihres eigentlichen Zieles, des freien Kommunismus verzichte. Doch setzte sie sich ein für die Kollektivierung der Groß- und Mittelbetriebe durch die Arbeitergewerkschaften und für die fortschreitende Zersetzung der alten Staatsinstitutionen durch neue wirtschaftliche und politische und kulturelle Organe unter Kontrolle der Arbeitersyndikate. Da die c.n.t. sich schon vor dem 19. Juli darüber klar war, dass sie allein diese Aufgabe nicht durchführen könnte, erklärte sie als Mittel zur Erreichung dieser Gegenwartsziele die revolutionäre Allianz zwischen den anarchistischen und sozialistischen Gewerkschaften, d.h. zwischen c.n.t. und u.g.t.. Von diesem Gesichtspunkt ausgehend gestand die c.n.t. der u.g.t. selbst in Katalonien in allen Komitees Parität zu, obwohl in Katalonien eine u.g.t. nicht bestanden hatte und erst nach dem 19. Juli geschaffen wurde als Zufluchtsstätte gewisser gehobener Arbeiterschichten und des gesamten Kleinbürgertums.“
(Aus demselben Bulletin).

„Wir sehen die Dinge so wie sie sind, ohne Brille, ohne doktrinäre Voreingenommenheit. Es handelt sich um eine Revolution und nicht um gelehrte Diskussionen über dieses oder jenes Prinzip. Prinzipien dürfen nicht strenge Gebote sein, sondern handliche Formen zur Bewältigung und Gestaltung der Wirklichkeit. Garantiert diese unsere Plattform die Errichtung des reinen freiheitlichen Kommunismus am Tage nach der Revolution? Sicherlich nicht. Aber sie garantiert die Zerschlagung des Kapitalismus und die Vernichtung seiner Stütze, des Faschismus. Sie garantiert die Errichtung eines proletarischen, demokratischen Regimes ohne Ausbeutung und ohne Klassenprivilegien und ein breites Zugangstor zu einer freiheitlichen Gesellschaft im weitesten Sinne.“ (Deutsches Bulletin der a.i.t. vom 11. Mai 1937).

Hier erreicht die anarchistische Verwirrung ihren Höhepunkt. Welches sind nun gemäß der c.n.t. oder i.a.a. die konkreten Aussichten dieses Kampfes? Nicht der freie Kommunismus‚ wohl aber die Vernichtung des Kapitalismus, Errichtung eines proletarisch demokratischen Regimes ohne Ausbeutung und Klassenprivilegien. Aber wenn dies noch kein freier Kommunismus ist, was ist es dann wohl?

Wir waren immer der Meinung, dass nach der Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise und der Aufhebung der Ausbeutung in Verbindung mit der Durchführung der proletarischen Demokratie, der Kommunismus verwirklicht sein würde. Anscheinend haben wir uns geirrt. Oder – sollte die c.n.t. unter proletarischer Demokratie, Aufhebung der Ausbeutung usw. etwas anderes verstehen als wir?

Angesichts der Praxis ist die Antwort nicht schwierig. Die Verwirklichung dessen, was die i.a.a. als ein Minimum-Programm bezeichnet, können wir in der gegenwärtigen Praxis erkennen.

Proletarische Demokratie? Gemeint ist: Gleichmäßige Vertretung der Gewerkschaftsverbände in der Regierung, also Verhinderung der revolutionären Einheit mittels einer Scheineinheit, dargestellt durch den Kompromiss und den Konkurrenzkampf der Meinungsfraktionen.

Aufhebung des Kapitalismus? Gemeint ist: Ausschaltung der Kapitalisten, jedoch ohne dass die ökonomische Macht über die Betriebe in den Besitz der Arbeiter gelangt.

Aufhebung der Klassenprivilegien? Gemeint ist: Die Arbeiterorganisationen dürfen neben den bürgerlichen in der Regierung Platz nehmen, während das Arbeitslose Einkommen der Besitzer [?] bestehen bleibt.

Aufhebung der Ausbeutung? Gemeint ist: Aufhebung der Ausbeutung durch die Privatkapitalisten, die Übergabe der Produktionsleitung an die Syndikate.

Da die Syndikate jedoch bürokratische Organisationen sind, in denen der Einfluss der Arbeiter absolut ausgeschaltet ist – die Praxis hat dies auch in Spanien zur Genüge bewiesen (Siehe auch Rätekorrespondenz, Nr. 21) –, bedeutet dies, dass die Arbeiter das Bestimmungsrecht über Produkt und Produktionsmittel aus den Händen geben und zwar an eine bürokratische Organisation, die ihnen entfremdet ist. Das bedeutet, dass eine über den Arbeitern stehende herrschende Schicht über die durch diese erzeugten Produkte verfügt und dieselben nach eigenem Gutdünken verteilt. Das bedeutet letzten Endes, dass die Arbeiter anstatt durch Privatkapitalisten durch die Gewerkschaftsbürokratie ausgebeutet werden. Hieraus muss sich dann notwendig eine neue Staatsherrschaft bilden, da nun einmal keine Überherrschung ohne Staat existieren kann.

Dies sind also die Programmpunkte, wie sie in konkreten Fällen durch die c.n.t. ausgearbeitet wurden. Wenn dies ihr Minimum-Programm ist, dann hat sie allerdings recht, wenn sie meint, dass dies kein freier Kommunismus ist. Aber sie hat auch doppelt unrecht, wenn sie behauptet, dass es die Eingangspforte zum freien Kommunismus weit öffnet.

Kapitalismus und Kommunismus sind Begriffe, welche die c.n.t. anscheinend nicht gut unterscheiden kann. Ihre ganze Handlungsweise trägt den Stempel dieses Unvermögens. Überall proklamiert sie die „Proletarische Demokratie“. Und darum schließt sie die Einheitsfront mit der u.g.t., von der sie selbst schreibt, dass sie: „in Katalonien nicht bestanden hatte und erst nach dem 19. Juli geschaffen wurde als Zufluchtsstätte gewisser gehobener Arbeiterschichten und des gesamten Kleinbürgertums.“

Und mit Hilfe dieser Organisation will sie die proletarische Demokratie errichten, den Kapitalismus vernichten, die Ausbeutung aufheben, die Sonderstellung der Klassen abschaffen!

„Die im Lande verbliebene kleine und mittlere Bourgeoisie, die Berufspolitiker, Parlamentarier, Angestellten reformistischer Arbeiterorganisationen und vor allem die Kommunisten leiteten jedoch eine immer aktiver werdende Politik zur Wiederherstellung der alten Verhältnisse ein. Der korrupte bürgerliche Parlamentarismus wurde als Ideal des kämpfenden antifaschistischen Volkes hingestellt. Eine große Offensive gegen die revolutionären Komitees setzte ein, die‚ zusammengesetzt aus c.n.t. und u.g.t. oder diesen beiden Gewerkschaften und den antifaschistischen Parteien, alle wesentlichen Funktionen des öffentlichen Lebens übernommen hatten.“

Die Konterrevolution, umfassend die Reste der Bourgeoisie, Berufspolitiker, Parlamentarier, Beamter der reformistischen Organisationen, Kommunisten, also Esquerra, p.s.u.c., u.g.t., griffen also die Revolution an, die in den revolutionären Komitees verkörpert war, welche aus Gewerkschaften und Parteien bestanden, d.h. ebenfalls aus Esquerra, p.s.u.c., u.g.t., und c.n.t.-f.a.i..

Wie steht es denn nun eigentlich mit den Stalinisten, Sozialdemokraten, und Bürgerlichen? Sind sie revolutionär oder konterrevolutionär? Augenscheinlich sind sie revolutionär in den Komitees und konterrevolutionär in der Regierung. Und doch führen sie an beiden Stellen dieselbe Politik…

Es ist übrigens genügend bekannt, dass von den Anarchisten fortwährend Konzessionen den Richtungen und Organisationen gemacht wurden und werden, die sie selbst als konterrevolutionär bezeichnen.

„Die c.n.t. […] opferte der antifaschistischen Einheit manche Forderung, die von den revolutionären Arbeitern als unveräußerlich betrachtet worden war. Die Massen der c.n.t. hielten Disziplin und bissen die Zähne zusammen.“
(Im selben Bulletin).

Hier geht es um die Vernichtung der anarchistischen Machtpositionen an der französischen Grenze, um die direkte Vorbereitung zum konterrevolutionären Angriff. Die Anarchisten geben hier im Interesse der Einheit eine der wichtigsten Positionen preis und schneiden sich selbst die Verbindung zum französischen Proletariat ab. Dies alles zu Gunsten einer „Einheit“, die nur existieren konnte durch die absolute Niederlage des einen Teils, nämlich des kämpfenden Proletariats. Und dies, während die Anarchisten selbst erklären:

„Für die revolutionären Arbeiter Spaniens hatte die Verteidigung gegen den Faschismus nur Sinn als gleichzeitiger Kampf gegen das kapitalistische Regime.“
(selbes Bulletin).

Aber wir müssen wiederholen; die Widersprüche zwischen diesen Äußerungen und den Taten sind nur scheinbar. In Wirklichkeit besteht Übereinstimmung, weil die Anarchisten nun einmal unter Kapitalismus und Kommunismus, Revolution und Reformismus etwas Anderes verstehen als wir. Bei ihnen ist die Revolution nichts weiter als eine einfache Übernahme der Produktion durch die c.n.t. und Kommunismus nichts anderes als die Leitung der Produktion durch die Gewerkschaften. Wird dieser Maßstab angelegt, dann erhält das Zurückweichen der c.n.t. nur den Charakter ziemlich unbedeutender Konzessionen, während es in Wirklichkeit eine vollständige Kapitulation vor der Reaktion darstellt.

Die Haltung der C.N.T. während der Maitage

Nach alledem braucht die Haltung der c.n.t. während der Maitage keine Verwunderung mehr zu erregen. Wir erinnern an das scharfe Manifest der iberischen libertären Jugend2, welches die Anklage der anarcho-syndikalistischen Jugend gegen die Volksfrontpolitik enthielt und zur Kenntnis des spanischen Volkes gekommen ist. Hier handelt es sich um einen Teil der anarchistischen Bewegung, die sich mitten im revolutionären Kampf befindet und darum die Gegensätze zwischen Revolution und Konterrevolution scharf erkennt. Mit der offiziellen c.n.t. steht es dagegen ganz anders, sie hat sich im Laufe der Monate zu einem Teil des Regierungsapparates entwickelt. Ihre Komitees sind ein Teil des Staates. Ihre Leute sitzen in den Ministerien und hohen Armeepositionen. Aber sie sitzen dort nicht (natürlich nicht) als Vollstrecker des Willens der Arbeiter, sondern als Agenten des herrschenden Regimes. Die Regierungskrisis in Katalonien, die Ernennung eines Regierungsgenerals zum Kommandanten der katalanischen Miliztruppen, – der Versuch der Besetzung der Telefonzentrale hatte für sie nur die Bedeutung von Zwischenfällen. Sie widersetzte sich diesen Versuchen und billigte den Widerstand ihrer Anhänger gegen diese Maßregeln; aber sie ging nicht weiter, weil sie nicht begreifen konnte, dass diese Maßnahmen nur Teilaktionen im Rahmen eines großangelegten Versuches der Bourgeoisie, die Arbeiterklasse zu entwaffnen, darstellten. Die Anarchisten erhielten „Genugtuung“, indem einzelne „Provokateure“ ihrer Funktion enthoben und durch andere Offiziere zwecks Aufrechterhaltung der Ordnung ersetzt wurden. Und schon rief die c.n.t. ihre Anhänger zur Einstellung aller Aktionen auf. Der Zwischenfall war für sie erledigt, die Konterrevolution hatte gesiegt. Doch Letzteres scheint die c.n.t. nicht zu wissen.

„Wir sind ermächtigt zu erklären, dass weder die c.n.t. noch die f.a.i. noch irgendwelche andere verantwortliche Organisation, die von diesen abhängt, die antifaschistische Einheitsfront gebrochen oder dazu irgendeinen Versuch unternommen haben.
Die Gewerkschaften und die anarchistischen Organisationen arbeiten weiter mit voller Loyalität, wie bis heute, mit allen anderen gewerkschaftlichen und politischen Sektoren der antifaschistischen Front zusammen. Beweis dafür ist, dass die c.n.t. weiter an der Regierung der Republik, wie an der Generalidad von Katalonien mitarbeitet, wie auch in allen Gemeinden. Als der Konflikt in Barcelona hervorgerufen wurde, haben die c.n.t. im regionalen und Landesmaßstab alles getan, um den Konflikt so rasch wie möglich lösen zu können. Am zweiten Tage des Konfliktes kamen in Barcelona der Sekretär des Nationalkomitees der c.n.t. und der Justizminister, ebenfalls ein bekanntes Mitglied der c.n.t., an und taten alles Menschenmögliche, damit der Bruderkampf aufhörte. Außer den Schritten, die sie bei den Verantwortlichen der anderen politischen Sektoren unternahmen, richteten sie an die Bevölkerung von Barcelona Reden, die die ganze Welt gehört hat; sie muss erkennen, dass aus ihnen nur Ernst und Wille zur Einigkeit in der Aktion gegen den gemeinsamen Feinde, den Faschismus, sprachen.“

Der Sekretär des Nationalkomitees, Mariano Vasques, sagte in seiner Rede vor dem Mikrofon der Generalidad am 4. Mai folgendes:

„Wir müssen aufhören mit dem was hier vorgeht. Wir müssen aufhören, damit unsere Genossen an der Front wissen, dass wir uns die Realitäten des gegenwärtigen Augenblickes vor Augen gehalten haben, und damit sie wissen, dass wir gewillt sind uns miteinander zu verständigen. Keinen Augenblick darf dieses Gefühl der Unsicherheit im Hinterlande bestehen, darf der Faschismus Hoffnung haben. Stellt das Feuer ein, Genossen! Aber niemand soll diesen Waffenstillstand dazu benützen, Positionen zu erobern. Wir sind hier vereinigt und werden solange diskutieren, wie es notwendig ist, aber wir werden die Lösung finden, einen Akkord zwischen allem, weil es unsere Pflicht ist, weil es der Selbsterhaltungstrieb uns befiehlt, dass in diesem Punkte alle antifaschistischen Kräfte der Generalidad in Katalonien unter sich einig werden. Wir hier Versammelten und insbesondere das Exekutiv-Komitee der u.g.t. und das Nationalkomitee der c.n.t., wir sind in größter Eile hierher gekommen, um die schwere Situation, in der sich Barcelona befindet, zu beendigen und wir kommen mit der Absicht, das Gemeinsame zu finden, damit ein Ende gemacht wird mit dem, wir wiederholen es, was nur dem gemeinsamen Feind, dem Faschismus nützen kann.“
(aus Nr. 44 des Bulletin der i.a.a.).

„Stellt das Feuer ein, Kameraden!“ so spricht der anarchistische Vorsitzende aus dem Gebäude der Generalidad, welches durch die revolutionären Anarchisten belagert wird. „Stellt das Feuer ein“! Wir werden solange diskutieren, bis Revolution und Konterrevolution zur Übereinstimmung gekommen sind.

Die konföderale Presse hat verschiedene Aufrufe zur Wiederaufnahme der Arbeit erlassen. Die durch [das] Radio gegebenen Noten an die Syndikalisten, an die Verteidigungskomitees waren nichts anderes als Aufrufe zum Ernst und zur Befriedigung der Geister.

Ein weiterer Beweis dafür, dass die c.n.t. nicht die antifaschistische Einheitsfront brechen wollte, besteht darin, dass sie am 5. Mai die Bildung einer neuen katalonischen Regierung ermöglichte, an welcher der Sekretär des Regionalkomitees der c.n.t. selbst teilnimmt.

Wir sind weiterhin ermächtigt zu erklären, dass die c.n.t. und die f.a.i. in keinem Falle die öffentliche Gewalt, noch die Einrichtungen des Staates oder der Generalidad angegriffen haben. An keinem Orte, für den die Mitglieder der c.n.t. verantwortlich waren, ist ein ‚erster Schuss‘ gefallen.

Die verantwortlichen Männer der Konföderation, die an der Spitze des Kriegsministeriums stehen, haben Befehle an sämtliche Kräfte gegeben, die vom Ministerium abhängen, dass sie in keiner Weise in den Konflikt eingreifen sollen. Sie haben auch darüber gewacht, dass diese Befehle durchgeführt wurden.

Die verantwortlichen Genossen der konföderalen Verteidigungskomitees der c.n.t. und f.a.i. gaben die Parole aus, dass aus den Bezirken niemand sich entfernen und niemand auf Provokationen antworten soll, Befehle, die ebenfalls überall durchgeführt wurden.

Die Regionalkomitees der c.n.t.-f.a.i. haben weiterhin die Parole ausgegeben, dass sich in ganz Katalonien niemand bewegen und die Ordnung nirgends gestört werden solle.

Als es sich darum handelte, das normale Leben der Stadt wiederherzustellen, waren die c.n.t. und die FAI die ersten, die ihre Mitarbeit anboten, die ersten, die die Parole zum Einstellen des Feuers gaben. Als die Zentralregierung beschloss, die öffentliche Ordnung selbst in die Hand zu nehmen, war die c.n.t. die erste, die der öffentlichen Ordnung ihre Kräfte zur Verfügung stellte. Als die Zentralregierung beschloss, Kräfte nach Barcelona zu schicken, um die politischen Elemente, die sich der Kontrolle zu entziehen versuchten, zu überwachen, war die c.n.t. wieder die erste, die in allen katalonischen Bezirken den Durchmarsch dieser Kräfte erleichterte, und ermöglichte so, dass diese nach Barcelona kamen. (Nr. 44 des i.a.a.-Bulletins).

Arbeiterdemokratie! Die Losung der c.n.t. Garantiert durch ihr Programm und durch die Verbündung mit der u.g.t. Was aber ist die Wirklichkeit?

Ministerkonferenzen, Aufrufe, den Kampf zu beenden, Verbote, die die Bewegungsfreiheit der Arbeiter einschränken, Begünstigung der Truppentransporte nach Barcelona, Bewachung jener „Elemente, die sich der Kontrolle entziehen“. Und die Arbeiter – sie müssen den Parolen gehorchen und abwarten, was Mariano Vasques mit Herrn Caballero und seinesgleichen verabredet. Und dann: Gehorsam! Keine Opposition, in jedem Falle keinen Kampf. Diskutieren. – So verteidigt die c.n.t. die Arbeiterdemokratie! So verteidigt sie die Revolution!

Aber nochmals: Es ist dies die logische Konsequenz der ganzen Entwicklung der c.n.t. und ihrer Auffassungen. Bedeutet nämlich Arbeiterdemokratie nichts anderes als paritätische Vertretung der Organisationen, dann muss der Kompromiss mit der u.g.t. um jeden Preis gerettet werden. Ein c.n.t.-General, Mariano Vasques, hat aufgerufen, den Kampf zu beenden. Er ist c.n.t.-Mann, also: Er personifiziert das katalonische Proletariat. Was wollen die Arbeiter noch mehr? Ihr Vertreter diskutiert mit Caballero, ist dies nicht die beste Garantie dafür, dass sie zu ihren Rechten kommen? Arbeiter Kataloniens, geht nur ruhig nach Hause, Mariano Vasques wird sowohl die Demokratie als auch die Revolution retten.

Das einen Tag später erschienene Bulletin vom 11.5., aus dem wir bereits einige Zitate entnahmen, gibt zwar einen einigermaßen anderen Eindruck von den Ereignissen, obwohl die konkreten Tatsachen dieselben sind. Während sich in dem zitierten Manifest der c.n.t.-f.a.i. diese Organisationen jeder Solidarität verschließen, schreibt das Bulletin der i.a.a. vom 11. Mai:

„Der 3. Mai bewies jedoch Barcelona von neuem, was der katalonische Anarcho-Syndikalismus ist. Wie am 19. Juli, so wurde auch an diesen Tagen eine Totalmobilmachung der Arbeiterbevölkerung der Stadt durchgeführt. Diese Bewegung war ein Plebiszit auf den Straßen. Alle Arbeiterviertel der Stadt, alle ohne Ausnahme, waren mit einem Schlage in Festungen der c.n.t. verwandelt. Die Wohnbezirke der proletarischen Massen Barcelonas stehen zur c.n.t. – heute wie immer.“

Inzwischen wurden auch hier dieselben Tatsachen bezüglich der Aufrufe zur Niederlegung der Waffen wiederholt. Noch einmal wird der Beweis geliefert, dass die Anarcho – Syndikalisten außerstande sind, den Klassenkampf als Klassenkampf zu sehen. Ihnen erscheint die ganze Angelegenheit nur als ein Kampf für diese oder jene Organisation. Obgleich sie selbst konstatiert, dass: „ Wo in diesen Stadtteilen, Kasernen und Wachen der Polizei und der republikanischen und marxistischen Milizen vorhanden waren, stellten sich diese entweder, wie die Polizei in Sans und San Gervasio, auf die Seite der Arbeiter oder sie erklärten ihre Neutralität wie die Soldaten der kommunistischen Kaserne in Sarria.

“[…] Die alte Polizei, die Marxisten und die Republikaner hingegen hielten die bürgerlichen Wohngegenden und das Stadtinnere besetzt, wo die durch sie vertretenen Bevölkerungsteile ansässig sind.“
(aus demselben Bulletin).

Die Folgen der Liquidation

Die c.n.t. half den Kampf in den Straßen Barcelonas mit allen Mitteln zu liquidieren. Man lese, wie i.a.a. die Folgen der Liquidation in ihrem, bereits oft zitierten Bulletin beurteilt:

„Am Abend des 5. Mai wurde eine neue katalonische Regierung gebildet. Sie ist zusammengesetzt aus je einem Vertreter der c.n.t., der u.g.t., der bürgerlichen Linken und der Kleinbauern. Nachdem das Feuer überall eingestellt und die Barrikaden auf Anordnung des Komitees der c.n.t. und f.a.i. zum großen Teil wieder abgebaut waren, griff auch die Regierung von Valencia ein. Es kamen in Barcelona 5000 Mann neue Guardia de Asalto an, die – so wird angegeben – die bisherige katalonische Polizei ablösen sollen. Wie es im Autonomiestaat Kataloniens für innere Unruhen vorgesehen ist, übernahm die Zentralregierung außerdem provisorisch die Kontrolle der öffentlichen Ordnung in Katalonien. Der Minister Aiguade und der Polizeichef Rodriguez Salas sind aus ihren Funktionen ausgeschieden. Zwei ausgesprochene Feinde der revolutionären Arbeiter, für die die Aufrechterhaltung der ‚öffentlichen Ordnung‘ gleich bedeutend war mit der Ausrottung der c.n.t. und der f.a.i., sind damit ausgeschaltet worden. Die von Valencia einsetzten neuen Verantwortlichen der öffentlichen Ordnung, denen jetzt die Polizeikräfte und die antifaschistischen Kontrollpatrouillen unterstehen, versichern, ihre Aufgabe unparteiisch erfüllen zu wollen. Die nächsten Wochen werden es zeigen.“

Es will uns scheinen, dass die Arbeitermacht – von der Ernennung einiger Polizeioffiziere abhängig – auf eine sonderbare Weise gesichert ist. Eine anarchistische Forderung heißt, „Die Arbeiter ernennen ihre Kommandanten selbst“. Jetzt aber ernennen die Kommandanten ihre Untergebenen. Lasst uns also hoffen, dass sie ihre Aufgabe unparteiisch erfüllen, sie haben es doch versprochen. (Aiguade und Salas etwa nicht?) „Die kommenden Wochen sollen es zeigen“. Aber bereits der 6. Mai hat es gezeigt. Auf derselben Seite desselben Bulletins lesen wir:

„Noch nachdem c.n.t. und u.g.t. am Morgen des 6. Mai einen gemeinsamen Aufruf zur Wiederaufnahme der Arbeit erlassen hatten, stürmten Kommunisten und Polizei das Ledersyndikat der c.n.t., wo sie die gesamte Einrichtung zertrümmerten, andere Syndikate, wie Sanität und Distribution wurden ebenfalls angegriffen und durch die Beschießung fast zerstört. Massenhaft wurden in der inneren Stadt Genossen der c.n.t.-f.a.i. entwaffnet und verhaftet, trotzdem sie wie alle anderen antifaschistischen Elemente zum Waffentragen autorisiert sind. In den Arbeitervierteln der Stadt jedoch gingen auch die bewaffneten Proletarier energisch vor gegen diejenigen Polizeikräfte, die sich gegen die Arbeiter gestellt hatten. So ergab sich z.B. nach heftigem Kampf eine Kaserne der Zivilgarde und 400 Mann Polizei fielen in die Hände der c.n.t. In ihrer Kaserne fand man faschistische und monarchistische Abzeichen. Trotzdem behandelte man die Gefangenen menschlich und gab sie wie alle anderen von den Arbeitern entwaffneten und festgesetzten Polizisten nach dem Waffenstillstand wieder frei.“

Für dieses Handeln der c.n.t. gibt es nur eine Bezeichnung, nämlich verbrecherisch. Die Arbeiter, die die Kaserne der reaktionären Guardia Civil stürmten, taten dies sicherlich nicht, um ihnen anschließend die Freiheit zu geben. Sie haben die Polizisten im guten Vertrauen der c.n.t. übergeben und diese hat die bewaffneten Faschisten und Monarchisten wieder frei gelassen! War dies vielleicht der Preis, den sie für ihre Ministersessel bezahlte? In derselben Zeit wurden Genossen der c.n.t.-f.a.i. massenweise arrestiert! Und diese Tatsache erscheint der c.n.t. so nebensächlich, dass sie die „kommenden Wochen abwarten will, um die Loyalität des neuen Kommandanten kennen zu lernen“. Ist es nicht dieser Haltung zu danken, wenn die c.n.t. von der Bourgeoisie zum alten Eisen gerechnet wird? Und hat die Arbeiterklasse viel dabei verloren?

Die Erklärung für dieses jämmerliche Verhalten ist in der Angst vor Franco zu suchen. Die Angst vor Franco bringt die c.n.t. dazu, sich und die Arbeiterklasse an jene „Demokratie“ auszuliefern, die nichts lieber will, als den Kampf gegen Franco durch einen Kompromiss mit demselben zu beenden. Es ist dieselbe Demokratie, die der Aragonfront die Waffen vorenthält, die die revolutionären Arbeiter ins Gefängnis wirft und den Verräter von Malaga beschützt. Es ist dieselbe „Demokratie“, die die reaktionäre Guardia Civil neu formiert und faschistische Spione unter ihren Schutz nimmt. Und dieser „Demokratie“, der Bundesgenossin des internationalen Kapitals will man die Macht geben aus Angst vor einem Siege Francos. Sie ist nichts anderes als die Verkörperung der Konterrevolution. Ihr müssen die Arbeiter denselben Widerstand entgegensetzen wie Franco, oder aber sie werden der dunkelsten Reaktion ausgeliefert sein. Es gibt für die Arbeiterschaft nur eine Hoffnung und nur eine Möglichkeit: der unversöhnliche Kampf gegen Faschismus und Reaktion bis zum Äußersten. Dies aber hat die CNT vergessen.

Im Bulletin, Nr. 45 der i.a.a. scheint die c.n.t. eine wichtige Entdeckung über den Charakter der Regierung zu machen: „Bereits seit Monaten war deutlich zu erkennen, dass die großen Arbeiterorganisationen (c.n.t. und u.g.t.) aus der Leitung der öffentlichen Angelegenheiten ausgeschaltet werden mussten. Die verkappte Konterrevolution forderte es und ausländischen Mächte, deren Dienerin die Konterrevolution ist, haben es soweit gebracht.“

Die verkappte Konterrevolution forderte es. Und die c.n.t. diskutierte und gehorchte.

„Der spanische Antifaschismus treibt nun steuer- und richtungslos dahin, es ist traurig, aber es muss laut gesagt werden. Ein Haufen von Nutznießern dieser Situation will das Steuer nach rechts herumreißen und so schnell wie möglich in den Hafen eines sogenannten Friedens einlaufen, der nicht der Sieg über den Faschismus wäre.“
(Bulletin, Nr. 45).

Die c.n.t., die stets von sich behauptete, dass sie das „wirkliche katalonische Volk und damit den wirklichen Antifaschismus repräsentiere“ erkennt also selbst ihre Ohnmacht. Wenn der spanische Antifaschist nun Steuer und Richtung verloren hat, dann heißt das nichts anderes, als dass die c.n.t. nicht mehr im Stande ist, ihm diese zu geben, dass sie außerstande ist, die Aufgabe, die sie auf sich nahm, zu erfüllen.

„Man will die Zukunft Spaniens, die Zukunft des Proletariats, das sein Blut im Kampfe vergießt, man will sie verschachern; verschachern zusammen mit der internationalen Demokratie und dem internationalen Faschismus. Aber das Proletariat ist nicht in den Kampf gezogen für die Verteidigung einer verfälschten demokratischen Republik, sondern für den Sieg der Revolution, für ein neues Leben, für die moralische und ökonomische Umgestaltung des Landes. Die Konterrevolution jedoch wollte den Vormarsch der Massen nicht länger dulden, die sich zum Kampf bereithielten und auf die Straße gingen, nur auf sich, aber nicht auf gewisse Mächte vertrauend, die nichts anderes wollen als eine Rückkehr zur Vergangenheit. Hier liegt der Schlüssel zum Verständnis der Ereignisse in Barcelona, der Hauptstadt des revolutionären spanischen Proletariats.“
(Bulletin, Nr. 45).

Und wer hat mitgeholfen, den Aufmarsch der Massen zurückzudrängen? Die c.n.t.!

Aber auch jetzt, wo das Fiasko der bisherigen Haltung der c.n.t. offensichtlich ist, kann sie vom bisherigen Weg nicht mehr zurückkehren. Ihr ganzer organisatorischer Apparat ist nun einmal eingestellt auf den Versuch, das ökonomische Leben mittels der Gewerkschaften zu verwalten. Hiervon kann sie nicht loslassen. Hierin liegt dann auch die Ursache, dass die c.n.t. auch jetzt noch die Parole der Zusammenarbeit mit der u.g.t. anhebt.

„Jetzt mehr denn je Allianz c.n.t.-u.g.t. Jetzt mehr denn je: Arbeiter Spaniens, vereinigt euch!“
(Bulletin, Nr. 45).

Jawohl, vereinigt Euch, aber nicht in der Allianz c.n.t.-u.g.t.. Das wäre die Allianz mit der Konterrevolution!

Der Anarcho-Syndikalismus hat seine Unfähigkeit bewiesen!


1A.d.R., damalige Präsident von Katalonien.

2A.d.R., gemeint ist die FIJL Federación Ibérica de las Juventudes Libertarias.

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(Helmut Wagner, 1937) Der Anarcho-Syndikalismus und die spanische Revolution https://panopticon.blackblogs.org/2024/02/11/helmut-wagner-1937-der-anarcho-syndikalismus-und-die-spanische-revolution/ Sun, 11 Feb 2024 14:58:02 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5409 Continue reading ]]>

Quelle dieses Textes hier, ursprünglich erschienen in „Der Anarcho-Syndikalismus und die spanische Revolution – In: Internationale Rätekorrespondenz: Theoretisches und Diskussionsorgan für die Rätebewegung. – Ausg[abe]. der Gruppe Int[ernationaler]. Kommunisten, Holland. – 1937, Nr. 21 (April)“

Es gibt auch eine englische Übersetzung die im Juni 1937 in den Nummer 56 in der von Paul Mattick herausgegebenen „International Council Correspondence“ erschien. Da heißt aber der Text „Anarchism and the Spanish Revolution (The Economic Organization of the Revolution)“.

Wie es schon viele Texte danach auch gemacht haben und wie wir kürzlich in den Texten/Diskussion/Schlagabtausch zwischen Finimondo und Agustín Guillamon hinweisen wollten, ist die Auseinandersetzung unter Anarchistinnen und Anarchisten zu der eigenen Geschichte, zu der eigenen Theorie und zu der eigenen Praxis unausweichlich.

Dieser Text von Helmut Wagner ist dafür enorm nützlich, sowie der Text von Paul Mattick, „Die Barrikaden müssen niedergerissen werden“, aber der Hauptpunkt warum wir diesen Text ausgraben liegt der Frage zugrunde ob und wie der Syndikalismus (egal mit welchen Adjektiv, sprich Gewerkschaften gänzlich) ein nützliches Werkzeug für das Proletariat sein kann.

Warum sich viele Fragen immer wieder wiederholen, gerade warum gewisse historische Ereignisse (Pariser Kommune, die revolutionäre Phase von 1917-1921, die spanische Revolution, der proletarische Ansturm der 1960er bis in die 1980er…) immer wieder eine große Rolle spielen und die Auseinandersetzung mit diesen so wichtig überhaupt sein könnte, wollen wir hiermit erneut unterstreichen.

Helmut Wagner erinnert anhand von Ereignissen dass nur durch die Praxis die Theorie überprüft werden kann. Wir sind nicht mit allem was er sagt einverstanden, als ob die Kritik die er damals der anarchistischen Bewegung in Spanien widmete, universell bezüglich des Anarchismus sein könnte. Denn auch damals, wahrscheinlich wusste er es nicht, es auch Gruppen und Stimmen gab die seiner Kritik beigestimmt hätten. So wie die Gruppe Los Amigos de Durruti.

Was Wagner in diesem Text eröffnet, ist auch die Frage/Debatte der Vergesellschaftung, bzw. der Kollektivierung der Produktionsmittel, der Text „Revolution und Konterrevolution in Spanien“, der auf diesem folgt, der in Internationale Rätekorrespondenz, tut es auch, und ob die CNT, bzw., der Anarcho-Syndikalismus, dafür ein geeignetes Werkzeug ist. Daran gebunden wäre die Kritik am Syndikalismus, hier die bisherige Reihe zum Thema, ob dieser eine revolutionäre Funktion überhaupt erfüllen kann oder nicht. Mehrere Kritiken dazu sind in den letzten 150 Jahren geschrieben und deshalb finden wir dass dieser Text an vielen Punkten, genau für diese Kritik, überhaupt nichts an Aktualität verloren hat.

Sowie andere Punkte die Wagner nicht vergisst zu erwähnen, wie die Kritik am Antifaschismus als eine klassenübergreifende Kritik, jene ‚union sacrée‘ die die soziale Revolution immer opfern wird und als dies geschah wurde der Konflikt im spanischen Staat zu einem innerimperialistischen Krieg indem verschiedene kapitalistische Fraktionen (demokratische, stalinistische und faschistische) um den Ausgang wetteiferten. Um so mehr der Krieg international ausgetragen wurde, verstand auch Wagner, sowie viele andere auch, dass die soziale Revolution auch nur international ausgetragen werden muss. Die Kritik am Parlamentarismus und an der Demokratie fehlt im Text auch nicht.

Dieser Text wurde im April 1937, also noch vor den Mai-Ereignissen 1937, geschrieben, dies ist von enormer Wichtigkeit und dennoch sieht es quasi gewisse Ereignisse im Voraus. Daher können wir nur betonen wie bereichernd es gewesen ist, ein weiteren Text zu entdecken der sich mit der Materie auseinandersetzt.

Soligruppe für Gefangene und den sozialen Krieg


Der Anarcho-Syndikalismus und die spanische Revolution

Die Feuerprobe des Anarchismus

Der heldenhafte Kampf der spanischen Arbeiter gegen die Faschisten ist ein Markstein in der Entwicklung der internationalen Klassenbewegung des Proletariats. Die spanischen Arbeiter haben durch ihren Kampf der Reaktion ein kräftiges „Halt!“ zugerufen und durch ihre Aktion die neue Periode des wiedererstarkten Klassenkampfes eingeleitet.

Aber nicht nur in dieser Hinsicht ist der spanische Kampf von großer Wichtigkeit für das Proletariat. Seine Bedeutung besteht andererseits auch darin, dass eine alte, in den Reihen des Proletariats propagierte Taktik und Ideologie, die des Anarchismus und Anarcho-Syndikalismus, auf die Probe gestellt wurde.

Spanien war immer das klassische Land des Anarchismus. Der gewaltige Einfluss, den diese Lehre in Spanien gewann, wird verständlich, wenn man sie in Beziehung setzt zur allgemeinen Klassenlage in diesem Lande. Die Lehre Proudhons vom individuellen, selbständigen Kleinbetrieb und ihre Verlängerung auf dem Gebiet der Großindustrie durch Bakunin stand in vollkommenem Einklang mit dem Freiheitskampf der spanischen Kleinbauern, der auch die proletarische Klassenbewegung ideologisch stark beeinflusste. Die anarchistischen Auffassungen waren tief ins spanische Proletariat eingedrungen, und sie haben ihren Stempel auf die massive Widerstandsbewegung gegen den Faschismus gedrückt.

Natürlich wollen wir nicht sagen, dass der Verlauf des Kampfes von den anarchistischen Auffassungen bestimmt worden ist oder dass er völlig das Streben der Anarchisten zum Ausdruck bringt. Umgekehrt, wir werden sehen, wie im wirklichen Kampfe die Anarchisten sich immer mehr von ihren alten Auffassungen loslösen mussten, und „Konzessionen“ machten, die schließlich auf eine totale Vernachlässigung ihrer alten Ideen hinauskam. Aber gerade darin liegt der Beweis, dass der Anarchismus den Problemen des revolutionären Klassenkampfes nicht gewachsen ist. Die anarchistischen Kampfesmethoden haben sich in Spanien als untauglich erwiesen, nicht in dem Sinne, dass der zu geringe Umfang der proletarischen Widerstandsbewegung ihnen nicht gestattete, sich vollkommen zu entfalten, sondern umgekehrt in dem Sinne, dass die anarchistischen Kampfmethoden zur Organisierung des proletarischen Kampfes nicht geeignet waren. Wie die Bolschewiki in Russland Schritt für Schritt von ihrer alten kommunistischen Theorie abwichen und schließlich mit bürgerlich-kapitalistischen Methoden die Arbeiter- und Bauernmassen unterdrücken und ausbeuten, so werden jetzt auch die Anarchisten in Spanien auf diesen Weg gedrängt. Und ebenso, wie der Verlauf der russischen Revolution die Unzulänglichkeit der bolschewistischen Auffassungen um die Fragen des Klassenkampfes zu lösen bewiesen hat, so beweist jetzt die spanische Revolution die Unzulänglichkeit der anarchistischen Auffassungen zu dieser Aufgabe.

Dies zu konstatieren, ist von außerordentlicher Wichtigkeit. Der für jeden ernsthaft revolutionären Arbeiter greifbare Verrat der II. und III. Internationale gibt den Anarchisten jetzt in der Arbeiterklasse neuen Kredit. Und der heldenhafte Kampf der spanischen Arbeiter hilft nicht wenig, um den revolutionären Glorienschein der Anarchisten zu vergrößern. In dieser Entwicklung liegt eine große Gefahr, weil sie die alten anarchistischen Illusionen mit neuer Kraft belebt, und so eine immer größere Verwirrung in der Arbeiterklasse zu Wege bringt. Gerade jetzt, wo die Anarchisten sich auf den spanischen Kampf berufen, um die Berechtigung ihrer Kritik am „Marxismus“ zu beweisen, müssen wir am konkreten Verlauf dieses Kampfes zeigen, dass es gerade die anarchistischen Auffassungen sind, die dort Schiffbruch erlitten haben, und dass noch immer die marxistische Lehre, wenn auch nicht in ihrer sozialdemokratischen Verfälschung, sondern in ihrer ursprünglichen revolutionären Reinheit, an erster Stelle steht, wo es um das Begreifen der Situation und um das Aufzeigen des Weges und der notwendigen Methoden des revolutionären Kampfes geht.

Die Schwäche der anarchistischen Auffassungen hat sich in erster Linie gezeigt in der Haltung der anarchistischen Organisationen der Frage der Organisierung der politischen Macht gegenüber. Sie haben die Auffassung vertreten, dass es, um den revolutionären Sieg zu sichern genüge, die Leitung der Betriebe in die Hände der Gewerkschaften zu legen. Sie haben nichts getan, um der Volksfrontregierung die Macht zu entreißen, haben nicht gearbeitet an der Organisierung einer politischen Rätemacht. Sie haben nicht die Lehre des Klassenkampfes der Arbeiter gegen die Bourgeoisie, sondern die des Klassenfriedens in der antifaschistischen Einheitsfront gepredigt. Später, als die Arbeitermacht von der Bourgeoisie immer mehr zurückgedrängt wurde, haben sie an der neu gebildeten Regierung teilgenommen, was sie vorher stets mit Entrüstung abgelehnt hatten. Sie versuchten diese Haltung zu rechtfertigen durch die Behauptung, dass nach der Kollektivierung die Volksfrontregierung keine politische Macht mehr sei, sondern nur eine wirtschaftliche, weil nur die Gewerkschaftsorganisationen, wozu sie auch die kleinbürgerliche Esquerra1 zählten‚ in ihr vertreten seien. Die Grundlage der Macht liege ja in den Betrieben, und diese seien in den Händen der Gewerkschaften, also der Arbeiter. Die Anarchisten in der Regierung haben in die Liquidierung der Milizkomitees eingewilligt. Die Aufnahme der Arbeitermilizen in das reguläre Heer, das Verbot der p.o.u.m. – Organisation in Madrid geschah mit ihrer Zustimmung. Sie haben mit derselben Kraft bei dem Zustandekommen der bürgerlichen Macht geholfen, wie sie die Formung einer proletarischen politischen Macht zu verhindern versuchten.

Nicht, dass wir die Anarchisten für den Verlauf des Abwehrkampfes und seine Ablenkung in die bürgerliche Sackgasse verantwortlich machen wollen. An diesem Verlauf sind andere Ursachen schuld, in erster Linie die Passivität der Arbeiter in den anderen Ländern. Aber was man den Anarchisten nachzusagen hat, ist, dass sie die Kritik an dieser Situation nachgelassen haben, dass sie nicht mit aller Kraft in die Richtung einer proletarisch-revolutionären Entwicklung gesteuert haben, dass sie sich im Gegenteil mit dem jetzigen Verlauf identifiziert haben und so die Position der Arbeiter der Bourgeoisie gegenüber außerordentlich erschwerten und Illusionen schufen, die sich im weiteren Verlauf als sehr gefährlich erweisen werden. Dieser Kritiklosigkeit der spanischen Anarchisten gegenüber haben viele „Libertaire“ im Auslande eine abweisende Haltung angenommen und sie sogar des Verrats an den anarchistischen Prinzipen beschuldigt. Doch ihre Kritik ist nur negativ und ihre Haltung den Fragen des Klassenkampfes gegenüber völlig wirklichkeitsfremd. Das kann auch nicht anders sein, weil die anarchistischen Lehren nun einmal keine Antwort auf die von der Praxis gestellten Fragen geben. Keine Anteilnahme an der Regierung, keine politische Machtbildung, das ist die Losung, die von ihnen verkündet wird. Syndikalisierung der Produktion. Es ist aber gerade die Unzulänglichkeit dieser Losungen, die auf die Frage der Organisierung des revolutionären Kampfes keine Antwort geben, wodurch das Wiederaufkommen der bürgerlichen Mächte möglich wurde. Die spanischen Anarchisten sind gerade deshalb ins Fahrwasser dar Bourgeoisie geraten, weil sie gegenüber den in der Praxis unerfüllbaren anarchistischen Losungen keine proletarischen zu setzen wussten. Und dieses Manko in den anarchistischen Auffassungen auszufüllen, dazu sind auch die ausländischen Anarchisten nicht im Stande, weil eine Lösung dieser Probleme nur auf der Basis der marxistischen Lehre möglich ist.

Am extremsten verhalten sich die holländischen Anarchisten (mit Ausnahme der im n.s.v. organisierten Anarcho-Syndikalisten). Die „prinzipiellen“ Anarchisten in Holland lehnen jeden bewaffneten Kampf ab, weil er in Widerspruch zum anarchistischen Endziel stehe. Sie leugnen die Existenz der Klassen. Wenn sie auch nicht umhin können, ihre Sympathie für die an der Seite der Volksfront kämpfenden Massen auszusprechen, so ist ihre Haltung in Wirklichkeit doch nichts anderes als eine Sabotage des Kampfes. Sie wenden sich gegen alle Aktionen, die danach streben, den spanischen Arbeitern durch Beschaffung von Waffen zu Hilfe zu kommen und setzen in den Mittelpunkt ihrer Propaganda die These, dass man alles tun müsse, um eine Ausdehnung des Kampfes auf das übrige Europa zu vermeiden. Sie propagieren den „passiven Widerstand“ nach dem Rezept – Ghandi, der, in die Wirklichkeit umgesetzt, die unbewaffneten Klassen wehrlos den faschistischen Schlächtern ausliefert.

Die oppositionellen Anarchisten sagen, dass jede Zentralisierung der Macht in einer proletarischen Diktatur oder in einer zentralen Heeresleitung eine neue Unterdrückung über die Arbeiter bedeutet. Die spanischen Anarchisten antworten darauf, dass auch sie keine politische Macht anstreben, sondern gerade durch die Syndikalisierung der Produktion jede Unterdrückung der Arbeiter unmöglich machen. Sie sind der Meinung, dass, wenn die Betriebe in den Händen der Arbeiter sind, keine über die Arbeiter herrschende Macht mehr möglich sei. Sie sind dabei dem Irrtum verfallen, dass die Macht der Arbeiter über die Betriebe und die Produktion aufrechterhalten werden kann, ohne dass diese Macht zentral und politisch organisiert ist. Die harte Praxis des Klassenkampfes hält natürlich mit diesem Irrtum keine Rechnung; die zentrale und politische Macht über die Produktion und damit auch über die Arbeiter setzt sich durch, auch wenn die Anarchisten sie nicht wollen. Wenn die Arbeiter in den Betrieben unter dem Einfluss der anarchistischen Lehre diese Macht nicht selbst organisieren, wird die politische Macht von den Vertretern der bürgerlich-kapitalistischen Interessen, den parlamentarischen Parteien, ausgeübt. Und dann bedeutet die Syndikalisierung der Produktion nichts anderes, als dass sich die Syndikate, die angeblich im Namen der Arbeiter die Betriebe verwalten, sich nach den Verordnungen und Gesetzen der bürgerlich kapitalistischen Regierung richten müssen.

Esperantistoj! Legu: „KLASBATALON“, eldonata de la grupo de internacisj komunistoj – Nederlando. Skribu al nia korespondadreso. Enhavo de Noj. 3 k 4 i.a: Rusio hodiaua, Historia materialismo, Letero Germanio

Die Macht in den Betrieben

So gesehen drängt sich die Frage auf: „Ist es wahr, dass die Arbeiter in Katalonien, wo die Anarchisten die Syndikalisierung der Produktion durchgeführt haben, die Macht in den Betrieben hatten?“ Zur Beantwortung dieser Frage genügt es, ein paar Auszüge aus der Broschüre: „Was sind die c.n.t. und f.a.i.?“ (offizielle Ausgabe der c.n.t. und f.a.i.) heranzuziehen.

„Die Leitung der kollektivierten Betriebe liegt in den Händen der Betriebsräte, die in allgemeiner Betriebsversammlung gewählt werden. Diese Räte sollen aus fünf bis fünfzehn Mitgliedern bestehen. Die Dauer der Zugehörigkeit zu den Betriebsräten ist zwei Jahre […]“

„Die Betriebsräte sind verantwortlich vor der Betriebsversammlung und dem Generalrat des Industriezweiges.“

„Zusammen mit dem allgemeinen Rat des Industriezweiges regeln sie die Produktion“.

„Ferner regeln sie die Fragen der Arbeitsentschädigung, Arbeitsbedingungen, sozialen Einrichtungen usw.“

„Jeder Betriebsrat bestimmt einen Direktor. In Betrieben mit über 500 Arbeitern muss diese Ernennung im Einvernehmen mit dem Wirtschaftsrat geschehen. Im Einvernehmen mit den Arbeitern des Betriebes wird ferner in jedem Betrieb ein Betriebsratsmitglied als Vertreter der Generalidad2 bestimmt.“

„Die Betriebsräte erstatten sowohl der Betriebsversammlung wie der Generalidad ihres Industriezweiges laufend Bericht über ihre Arbeiten und Pläne.“

„Im Falle von Unfähigkeit oder Weigerung der Befolgung von Beschlüssen können Mitglieder des Betriebsrates von der Betriebsversammlung oder vom Generalrat der Industrie abgesetzt werden.“

„Wird eine solche Absetzung vom Generalrat der Industrie vorgenommen, dann können die Arbeiter des Betriebes dagegen appellieren, und das Wirtschaftsdepartement der Generalidad entscheidet über den Fall nach Anhörung des antifaschistischen Wirtschaftsrates.“

„Die Generalräte der Industriezweige werden zusammengesetzt aus: vier Vertretern von Betriebsräten, acht Vertretern der Gewerkschaften, je nach der Proportion der einzelnen Gewerkschaftsrichtungen in der Industrie, und vier Technikern, die der antifaschistische Wirtschaftsrat stellt. Dieses Komitee arbeitet unter dem Vorsitz eines Mitgliedes des Wirtschaftsrates.“

„Die Generalräte der Industrien beschäftigen sich mit folgenden Problemen: Regelung der Produktion, Kostenberechnung, Vermeidung von Konkurrenz zwischen den Betrieben, Studium des Bedarfs an Produkten der Industrie, Studium der in- und ausländischen Märkte, Ausarbeitung von Vorschlägen über Schließung und Neuschaffung von Betrieben, Zusammenlegungen usw., Studium und Anregungen auf dem Gebiete der Arbeitsmethoden, Vorschläge für die Zollpolitik, Errichtung von Verkaufszentralen, Erwerb der Arbeitsmittel und Rohmaterialien, Aufnahme von Krediten, Errichtung technischer Versuchsstationen und von Laboratorien, Produktions- und Bedarfsstatistik, Vorarbeiten für die Ersetzung ausländischer Materialien durch inländische usw.“

Nimmt man an, dass diese Wiedergabe der Zustände mit der Wirklichkeit übereinstimmt – und es besteht kein Grund anzunehmen, dass es anders ist – dann sieht man, dass die „Generalräte der Industrie alle wirtschaftlichen Funktionen in den Händen haben. Diese Generalräte sind zusammengesetzt aus 8 Vertretern der Gewerkschaften, 4 vom antifaschistischen Wirtschaftsrat ernannte Techniker und 4 Vertreter der Betriebsräte. Der antifaschistische Wirtschaftsrat ist die bekannte Körperschaft aus dem Beginn der Revolution, der sich aus Vertretern der Gewerkschaften und der Kleinbourgeoisie (Esquerra usw.) zusammensetzt. Als direkte Vertreter der Arbeiter würden also nur die vier Vertreter der Betriebsräte gelten können. Wir sehen aber, dass die Absetzbarkeit der Betriebsratsmitglieder so geregelt ist, dass auch hier die Generalidad und der antifaschistische Wirtschaftsrat entscheidenden Einfluss hat. Denn der allgemeine Industrierat kann ihm nicht angenehme Betriebsräte absetzen, wogegen die Arbeiter Berufung einlegen können bei der – Generalidad, die in Übereinstimmung mit dem antifaschistischen Wirtschaftsrat entscheidet! Die Betriebsräte regeln die Arbeitsbedingungen, aber sind nicht nur den Arbeitern gegenüber verantwortlich, sondern auch dem Industrierat. Ein Direktor wird durch den Betriebsrat angewiesen, aber bei den großen Betrieben ist die Zustimmung des Industrierates erforderlich. Die Betriebsräte haben eine zweijährige Sitzungsperiode.

Kurz gesagt: Die Arbeiter haben in Wirklichkeit über den Verlauf der Dinge nichts zu sagen. Die Entscheidung liegt in den Händen der Gewerkschaften. Was das zu sagen hat, werden wir sehr bald sehen.

Wir können denn auch nicht, wie die c.n.t., so enthusiastisch über den „sozialen Aufbau“ sein. „In den öffentlichen Büros pulst das Leben einer wirklichen, konstruktiven Revolution“, schreibt Rosselli in „Was sind die c.n.t. und f.a.i.“ (S. 38-39). Nach unserer Meinung schlägt der Herzschlag eines „wirklichen Lebens“ der Revolution nicht in den öffentlichen Büros, sondern in den Betrieben. In den Büros schlägt das Herz eines anderen Lebens, und zwar des Bürokratismus.

Nicht an den Tatsachen üben wir Kritik. Die Wirklichkeit ist so, wie sie den Umständen und Machtverhältnissen entsprechend ist, und für die Tatsache, dass die Arbeiter in Katalonien nicht die Herrschaft ausüben, tragen nicht sie die Schuld. Die Ursache dafür ist in erster Linie in der internationalen Situation zu suchen; die die spanischen Arbeiter der Bourgeoisie der ganzen Welt gegenüberstellt. Unter solchen Umständen kann das spanische Proletariat sich nicht von seinen kleinbürgerlichen „Bundesgenossen“ frei machen; wodurch die spanische Revolution schon in ihren ersten Anfängen erstickt wird.

Unsere Kritik richtet sich nur dagegen, dass die Zustände in Katalonien als Sozialismus bezeichnet werden. Denn diejenigen, die dies den Arbeitern als Wahrheit verkünden – teils weil sie selbst dieser Meinung sind, teilweise aber auch, weil sie ihren Einfluss auf den Gang der Dinge nicht verlieren wollen –, verhindern damit, dass Arbeiter sich klar werden über das, was in Spanien stattfindet, und erschweren damit die Entwicklung des revolutionären Kampfes.

Die spanischen Arbeiter können sich nicht gegen die Herrschaft der Gewerkschaften zur Wehr setzen, weil das den Zusammenbruch der militärischen Front zur Folge haben müsste. Und sie können den Kampf nicht aufgeben; sie müssen kämpfen, wenn sie nicht untergehen wollen. Jede Hilfe im Kampfe gegen die Faschisten, gleich von wem, ist ihnen willkommen. Sie fragen nicht, ob das Endziel ihres Kampfes Sozialismus oder Kapitalismus sein wird, denn wie auch die Frage beantwortet wird – an der Notwendigkeit des unmittelbaren direkten Kampfes, unter den Umständen so wie sie eben jetzt sind, wird damit nichts geändert. Nur ein kleiner Teil des Proletariats ist bewusst revolutionär.

Wenn die Gewerkschaften den Kampf organisieren, dann werden sich die Arbeiter dagegen sicher nicht zur Wehr setzen. In ihren Augen ist das absolut notwendig, wenn die Fortführung des Kampfes gesichert und der Zusammenbruch an der Front vermieden werden soll. Dass daran ein Kompromiss mit dem Bürgertum verbunden ist, wird dabei als nicht zu umgehen hingenommen. Die Parole der c.n.t. aus den ersten Wochen: „Zuerst der Sieg über die Faschisten und dann erst steht die soziale Revolution auf der Tagesordnung“, bringt denn auch die allgemeine Auffassung bei den spanischen Arbeitern zum Ausdruck.

Der Grund für eine solche Haltung ist in den zurückgebliebenen spanischen Verhältnissen zu suchen; sie ermöglichen nicht nur, sie zwingen selbst zum Kompromiss mit dem Bürgertum. Doch wird damit auch der Charakter des revolutionären Kampfes selbst verändert; er kann sich nicht gegen die Klassenherrschaft des Bürgertums richten und muss notwendiger Weise zur Festigung einer neuen bürgerlich-kapitalistischen Ordnung führen.

Die ausländische Hilfe erdrosselt die Revolution

Die Arbeiterklasse in Spanien kämpft nicht nur gegen die eigene faschistische Bourgeoisie, sondern gegen die der ganzen Welt. Die „faschistischen“ Länder, Italien, Deutschland, Portugal, Argentinien u.a. unterstützen dabei die spanischen Faschisten mit allen Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen. Diese Tatsache allein schon macht in Spanien den Sieg der Revolution unmöglich. Die gewaltige Macht der feindlichen Staaten ist für das spanische Proletariat zu groß.

Wenn angesichts dieser gewaltigen Macht die spanischen Faschisten bis jetzt nicht gesiegt haben, vielmehr gerade in der letzten Zeit an mehreren Fronten militärische Niederlagen erleiden, ist das vor allem die Folge von der Lieferung von modernen Waffen an die antifaschistische Regierung aus dem Auslande. Während Mexico schon vom Beginn an, sei es dann in beschränktem Masse, Waffen und Munition lieferte, begann Russland erst damit, nachdem der Kampf fünf Monate gedauert hatte. Diese Hilfe kam erst, nachdem die faschistischen Truppen mit modernen Waffen aus Italien und Deutschland ausgerüstet und auch sonst durch die faschistischen Mächte in jeder Weise unterstützt, die antifaschistische Miliz mehr und mehr zurückdrängte. Die Fortführung des Kampfes wurde dadurch möglich. Die weitere Folge davon war, dass Deutschland und Italien noch mehr Waffen und auch Truppen sandten, wodurch diese Länder in steigendem Maße den politischen Zustand in Spanien selbst beherrschten. Eine solche Entwicklung der Dinge konnte Frankreich und England nicht gleichgültig bleiben, die sich ihrerseits um die Verbindung mit ihren Kolonien besorgt machen. Mehr und mehr bekommt dadurch der Kampf in Spanien den Charakter einer Auseinandersetzung zwischen den imperialistischen Großmächten, die offen oder versteckt an diesem Kampfe teilnehmen, die um die Verteidigung alter oder Eroberung neuer Machtpositionen kämpfen. Von beiden Seiten werden jetzt die feindlichen Fronten in Spanien mit Waffen und Hilfskräften versorgt, und es ist noch nicht abzusehen, wo und wann dieser Kampf enden wird.

Inzwischen wurden durch diese Hilfe des Auslandes die spanischen Arbeiter vor der direkten Niederlage gerettet. Zugleich aber wurde damit der Revolution der Gnadenstoß gegeben. Die modernen Waffen aus dem Auslande machen den militärischen Kampf wieder möglich, aber zugleich wurde das spanische Proletariat den imperialistischen Interessen, in erster Linie von Russland, unterworfen. Russland hilft der spanischen Regierung nicht, um die Revolution zu befördern, sondern um die Ausdehnung der Macht von Italien und Deutschland im Mittelmeer zu verhindern. Das Anhalten von russischen Schiffen und die Beschlagnahme von Schiffsladungen lassen deutlich erkennen, was Russland zu erwarten hat, wenn es Deutschland und Italien den Sieg davontragen lässt.

Russland versucht in Spanien festen Fuß zu bekommen. Wir deuten nur eben darauf hin, wie nach und nach unter russischem Druck der Einfluss der spanischen Arbeiter auf den Gang der Dinge abbröckelt; wie das Miliz-Komitee aufgehoben, die Staatsmacht im Wirtschaftsleben vergrößert, die p.o.u.m. von der Regierung ausgeschlossen, die c.n.t. in die Enge getrieben wurde usw. Den Miliztruppen der c.n.t. und p.o.u.m. an der Aragon-Front werden seit Monaten Waffen und Munition verweigert. Das alles beweist, dass die Macht, die die spanischen Antifaschisten materiell von sich abhängig gemacht hat, auch den Kampf der spanischen Arbeiter beherrscht. Sie können sich zur Wehr setzen gegen den russischen Einfluss, die russische Hilfe können sie nicht entbehren. Und darum werden sie schließlich alles hinnehmen müssen, was Russland verlangt. Solange die Arbeiter außerhalb Spaniens nicht zum Aufstand kommen gegen ihre eigene Bourgeoisie und dadurch aktive Hilfe leisten auch für den revolutionären Kampf in Spanien, werden sie darum ihr sozialistisches Ziel opfern müssen.

Die wahre Ursache des inneren Zusammenbruchs der spanischen Revolution liegt darin, dass die spanischen Arbeiter von der materiellen Hilfe der kapitalistischen Länder – (in diesem Falle vom russischen Staatskapitalismus) – abhängig waren. Wenn die Revolution sich auf ein genügend großes Gebiet erstreckt; wenn sie sich z.B. in England, Frankreich, Italien, Deutschland, Belgien durchsetzt, dann stehen die Dinge anders. Dann hätte niemand an die Unterstützung der Faschisten in Spanien gedacht. Wenn die Konterrevolution in den wichtigsten Industriegebieten von Europa niedergeschlagen ist, so wie jetzt in Spanien in Madrid, Katalonien und Asturien, dann ist die Macht der faschistischen Bourgeoisie gebrochen. Weißgardistische Truppen3 in reaktionären Gebieten können dann sicherlich noch die Revolution in Gefahr bringen, aber nicht mehr vernichten. Truppen, die über keine Industrie von einiger Bedeutung verfügen, sind schnell am Ende ihrer Kraft. Darum wird auch die Arbeiterschaft, wenn sich die proletarische Revolution in den wichtigsten Industriegebieten von Europa durchsetzt, nicht mehr von kapitalistischen Mächten des Auslandes abhängig sein. Die ist dann im Stande, alle Macht zu übernehmen.

So kommen wir erneut zu der Schlussfolgerung, dass die proletarische Revolution nur siegen kann, wenn sie international ist. Bleibt sie beschränkt auf ein kleines Gebiet, dann wird sie entweder mit bewaffneter Gewalt niedergeschlagen, oder sie entartet, indem sie für die imperialistischen Interessen der kapitalistischen Mächte gebraucht wird. Ist sie im internationalen Masse genügend stark, dann braucht auch eine Entartung in staats- oder privatkapitalistischem Sinne nicht befürchtet zu werden. Die Probleme, die dann auftauchen, behandeln wir im folgenden Abschnitt.

Der Klassenkampf im „roten“ Spanien

Wenn wir im vorigen Kapitel auseinandergesetzt haben, wie die internationalen Verhältnisse das spanische Proletariat zum Kompromiss mit den bürgerlichen Kräften zwangen, so ist damit nicht gesagt, dass nun im „roten“ Spanien der Klassenkampf aufgehört habe. Im Gegenteil: Auch unter dem Deckmantel der „antifaschistischen Einheitsfront“ wird er fortgesetzt. Die Angriffe der Bourgeoisie auf alle Machtpositionen der Arbeiter beweisen dies: die Liquidierung der Arbeiterkomitees, die schrittweise Verstärkung der Position der Regierung, usw. Die Arbeiter im „roten“ Spanien können sich dieser Entwicklung gegenüber nicht gleichgültig verhalten, ihrerseits müssen sie versuchen, die errungenen Positionen zu behaupten, das weitere Vordringen der Bourgeoisie zu verhindern und der Entwicklung eine neue, revolutionäre Richtung zu geben.

Wenn die Arbeiter in Katalonien versäumen, gegen das erneute Vordringen der Bourgeoisie Front zu machen, ist ihre völlige Niederlage gewiss. Nach einem eventuellen Sieg der Volksfrontregierung über die Faschisten wird diese alle Kräfte einsetzen, um das Proletariat in seine vorherige Lage zurückzudrängen. Der Kampf zwischen der nach Befreiung aus der kapitalistischen Knechtschaft strebenden Arbeiterklasse und der Bourgeoisie wird dann weitergeführt werden, aber in ungleich schwierigeren Verhältnissen für das Proletariat, weil die „demokratische“ Bourgeoisie nach ihrem durch die Arbeiter erkämpften Siege über die Faschisten dann alle Kräfte für den anti-proletarischen Kampf aufbieten kann. Die systematische Abbröckelung der Arbeitermacht dauert schon seit Monaten an, und in den Reden Caballeros4 kann man schon jetzt hören, was die Arbeiter von der heutigen Regierung erwarten können, wenn sie dieser einmal zum Siege verholfen haben.

Wir haben gesagt, die spanische Revolution kann nur siegen, wenn sie sich im internationalen Rahmen ausdehnt. Aber die spanischen Arbeiter können nicht warten, bis die Revolution im übrigen Europa ausbricht, sie können nicht warten auf eine Hilfe, die bis jetzt nur zu den frommen Wünschen gehört. Sie müssen schon jetzt ihre Sache verteidigen, nicht nur gegen die Faschisten, sondern auch gegen ihre bürgerlichen „Bundesgenossen“. Die Organisierung ihrer Macht auch in der heutigen Lage ist für sie eine zwingende Notwendigkeit.

Wie verhält sich nun die spanische Arbeiterbewegung selbst dieser Frage gegenüber?

Die einzige Bewegung, die auf dieser Frage eine konkrete Antwort gibt, ist die p.o.u.m.. Sie propagiert die Einberufung eines allgemeinen Rätekongresses, aus dem eine wirkliche proletarische Regierung hervorgehen soll.

Dazu ist zu sagen, dass die Grundlage für ein derartiges Streben bis jetzt noch nicht vorhanden ist. Die sogenannten „Arbeiterräte“, insoweit sie noch nicht liquidiert sind, stehen zum großen Teil unter dem Einfluss der Generalidad, die auf ihre Zusammensetzung eine scharfe Kontrolle ausübt. Übrigens, auch sonst kann die Zusammenrufung eines Kongresses nicht die Macht der Arbeiter über die Produktion sichern. Die gesellschaftliche Macht umfasst mehr als die Ausübung einer Regierungsfunktion. Nur wenn die proletarische Macht das ganze gesellschaftliche Leben durchdringt, kann sie sich behaupten. Die zentrale politische Macht, wie groß ihre Bedeutung auch sein möge, ist doch nur das Verbindungsglied der überall in allen Teilen des gesellschaftlichen Lebens wurzelnden Machtpositionen.

Wenn die Arbeiter ihre Macht der Bourgeoisie gegenüber organisieren wollen, können sie diese Aufgabe nur von Grund auf anfassen. Als erstes müssen sie ihre Betriebsorganisationen von dem Einfluss der offiziellen Parteien und Gewerkschaften befreien, weil diese sie an die heutige Regierung und dadurch an die kapitalistische Gesellschaft binden. Von den Betriebsorganisationen aus müssen sie ihren Einfluss in allen Teilen des gesellschaftlichen Lebens zur Geltung bringen. Nur auf dieser Grundlage ist die Bildung der proletarischen Macht möglich. Und nur auf dieser Grundlage können sich die Kräfte der Arbeiterklasse zur Zusammenarbeit finden, nur von hier aus kann die Organisation der Arbeitermacht erfolgen.

Die ökonomische Organisierung der Revolution

Die Fragen der politischen und ökonomischen Organisierung der Revolution sind nicht voneinander zu trennen. Die Anarchisten, die die Notwendigkeit der politischen Organisation leugnen, konnten dadurch auch auf die Frage der ökonomischen Organisation keine zutreffende Antwort geben. Die Frage der Verbindung der Arbeit in den verschiedenen Produktionsstätten und der Güterzirkulation steht in enger Beziehung zu der Bildung einer politischen Arbeitermacht. Die Macht der Arbeiter in den Betrieben kann sich nicht behaupten ohne die Bildung einer politischen Arbeitermacht, eben so wenig wie die Letztere eine Arbeitermacht bleiben kann, wenn nicht die Betriebsräteorganisation ihre Grundlage bildet. So erhebt sich, nachdem wir die Notwendigkeit der Bildung einer politischen Macht aufgezeigt haben, die Frage nach der Form der proletarischen Macht, wie sie sich in der Gesellschaft durchsetzt und wie sie in den Betrieben wurzelt.

Angenommen, die militärische Macht der Bourgeoisie sei dadurch, dass die Arbeiter in den hauptsächlichen Industriegebieten, z.B. Europas, die Macht erobert hätten, zum größten Teil gebrochen, dann droht der Revolution von außen keine wesentliche Gefahr mehr. Aber jetzt sind die Arbeiter – die gemeinsamen Besitzer der Betriebe – vor die Aufgabe gestellt, diese für die Bedürfnisse der Gesellschaft umwandeln zu lassen. Hierfür sind Rohstoffe nötig. Woher müssen sie kommen? Oder, das Produkt ist fertig: Wohin muss es gesandt werden, wer hat Bedarf daran?

Alle diese Probleme können nicht gelöst werden, wenn jeder Betrieb nach eigener Weise zu arbeiten begänne. Die Rohstoffe für einen jeden Betrieb kommen aus allen möglichen Teilen der Erde und seine Produkte werden an allen möglichen Ecken und Enden verbraucht. Wie müssen die Arbeiter erfahren, von wo sie ihre Rohstoffe beziehen müssen, wie finden die Verbraucher ihre Produkte? Es kann auch nicht aufs Geratewohl produziert werden und es können keine Produkte oder Rohstoffe abgegeben werden, ohne festzustellen, dass sie in zweckentsprechender Weise verwandt werden. Wenn das Wirtschaftsleben nicht sofort zusammenbrechen soll, dann müssen Regelungen getroffen werden, nach denen eine Organisierung der Güterbewegung möglich ist.

Hierin liegt dann allerdings die Schwierigkeit. Im Kapitalismus wird diese Aufgabe erfüllt durch den „Freien Markt“ und durch das Geld. Auf dem „Markte“ treten sich die Kapitalisten, die Besitzer der Produkte, gegenüber; hier werden die Bedürfnisse der Gesellschaft festgestellt. Das Maß dafür ist das Geld. Die Preise bringen den ungefähren Wert der Produkte zum Ausdruck. Im Kommunismus dagegen fallen diese an den Privatbesitz gebundenen und ihm entspringenden Einrichtungen weg. Es entsteht also die Frage: Wie müssen die Bedürfnisse der Gesellschaft festgestellt und bestimmt werden?

Uns ist bekannt, dass der „freie Markt“ seine Aufgabe nur sehr mangelhaft erfüllt. Die Bedürfnisse, die er misst, sind nicht bestimmt durch die wirklichen Lebensbedürfnisse der Menschen, sondern durch die Kapitalkraft der Besitzenden und durch die Lohnhöhe der einzelnen Arbeiter. Im Kommunismus dagegen geht es darum, die wirklichen Bedürfnisse der Massen zu befriedigen; es muss also das wirkliche Bedürfnis festgestellt werden, und nicht jenes, das abhängt vom Inhalt des Portemonnaies.

Selbstredend können die Bedürfnisse der Massen nicht durch irgendeinen bürokratischen Apparat festgestellt werden, sondern nur durch die Arbeiter selbst. Es kommt hierbei nicht in erster Linie darauf an, ob die Arbeiter fähig sind, dies selbst zu tun, sondern es handelt sich dabei um das Verfügungsrecht über die gesellschaftlichen Produkte. Lässt man einen bürokratischen Apparat darüber verfügen, welche Bedürfnisse die Masse haben darf, so ist hiermit ein neues Machtinstrument über die Arbeiterklasse geschaffen. Für die Arbeiter ist es darum notwendig, sich in Verbraucher-Genossenschaften (Kooperationen) zusammenzuschließen und so selbst den Organismus zu schaffen, der ihre Bedürfnisse zum Ausdruck bringt. Genau dasselbe gilt für die Betriebe. Dort sind es die in den Betriebsorganisationen vereinigten Arbeiter, die feststellen, wieviel Rohstoffe usw. sie für das von ihnen herzustellende Produkt nötig haben. Es gibt also nur ein Mittel, um im Kommunismus die Bedürfnisse, und zwar die wirklichen Bedürfnisse der Massen, festzustellen, nämlich die Organisation der Produzenten-Konsumenten, der Arbeiter in Betriebsorganisationen und Verbrauchergenossenschaften.

Nun genügt es aber noch nicht, wenn die Arbeiter wissen, was zu ihrem Lebensunterhalt nötig ist und dass die Betriebe wissen, wieviel Rohstoffe usw. sie haben müssen. Die Betriebe untereinander beliefern sich gegenseitig, es findet ein Stoffwechsel statt, die Produkte durchlaufen in den verschiedenen Phasen mehrere Betriebe, bevor sie in den Verbrauch eingehen können. Um diesen Prozess aufrecht erhalten zu können, ist es nötig, nicht nur Quanten festzustellen, sondern auch zu administrieren. Wir kommen so auf den zweiten Teil des Mechanismus, der den „Freien Markt“ ablösen muss, nämlich die allgemeine gesellschaftliche Buchhaltung. Diese wird die Angaben, die sie von den verschiedenen Betrieben und Verbrauchergenossenschaften erhält, zu einem übersichtlichen Ganzen verarbeiten müssen, welches einen genauen Einblick in die Bedürfnisse und Möglichkeiten der Gesellschaft gestattet.

Die Errichtung einer solchen zentralen Buchhaltung ist unerlässlich, wenn die Gesamtproduktion nicht im Chaos untergehen soll. Zumindest dann, wenn der Privatbesitz an den Produktionsmitteln und mit ihr der „Freie Markt“ beseitigt ist. Oder besser gesagt, der „Freie Markt“ kann nicht eher verschwinden, ehe nicht eine derartige Organisation des Güterverkehrs mittels der Produzenten- und Konsumenten-Genossenschaften und der zentralen Buchhaltung ins Leben gerufen ist.

Russland zeigte, wie sich der „Freie Markt“ trotz aller durch die Bolschewiki angewandten Unterdrückungsmaßnahmen behauptete, und dies, weil die Organe, die ihn ersetzen sollten, nicht funktionierten. In Spanien ist die Ohnmacht der Organisationen, eine kommunistische Produktion aufzubauen, aus der Tatsache des Fortbestehens des „Freien Marktes“ deutlich zu konstatieren. Sehr wohl hat die alte Form des Eigentums ein anderes Gesicht angenommen. Anstelle des persönlichen Besitzes an den Produktionsmitteln steht heute teilweise ein Zustand, in dem die Gewerkschaftsorganisationen die Rolle des früheren Besitzers in etwas modifizierter Form übernommen haben. Die Form ist geändert, das System ist geblieben. Der Besitz als solcher ist nicht abgeschafft, der Tausch von Waren und Werten ist nicht verschwunden. Dies ist denn auch die große Gefahr, die die spanische Revolution von innen bedroht.

Die Arbeiter haben die Aufgabe, eine prinzipiell neue Form der Güterverteilung zu finden. Bleiben sie an den jetzigen Formen kleben, so haben sie damit für die völlige Restauration des Kapitalismus alle Türen offengelassen. Im anderen Falle, wenn tatsächlich eine zentrale Güterverteilung verwirklicht wurde, haben die Arbeiter die Aufgabe, den zentralen Apparat unter ihrer Kontrolle zu halten. Es besteht sonst die Möglichkeit, dass dieser Apparat, der eingesetzt wurde, zur bloßen Registration und zu statistischen Zwecken, sich Machtfunktionen aneignet und sich ein Machtinstrument schafft, welches gegen die Arbeiter eingesetzt werden kann. Die Entwicklung hätte damit den ersten Schritt in staatskapitalistischer Richtung eingeschlagen.

Die Übernahme der Produktion durch die Gewerkschaften

Diese Tendenz ist in Spanien sehr deutlich wahrnehmbar. In den Händen der Gewerkschaftsleitungen befindet sich ein großer Teil der Verfügungsgewalt über den Produktionsapparat. Ebenfalls üben sie auf die militärischen Formationen einen entscheidenden Einfluss aus. Der Einfluss der Arbeiter auf das ökonomische Leben geht nicht weiter als durch den Einfluss, die sie auf die Gewerkschaften haben. Wie sehr dieser Einfluss ein beschränkter ist, beweisen die Maßnahmen der Gewerkschaften, die wohl nicht zu einem ernsthaften Angriff auf das Privateigentum geführt haben.

Wenn die Arbeiter die Regelung des ökonomischen Lebens selbst in die Hand nehmen, wird eine ihrer ersten Maßnahmen gegen das Parasitentum gerichtet sein. Der Zustand, dass für Geld alles käuflich ist, dass Geld der Zauberer ist, der alle Pforten öffnet, er wird verschwinden. Eine der ersten Maßnahmen der Arbeiter wird ohne Zweifel die Ausgabe einer Art Arbeitsgeld sein. Nur der wird es erhalten, der für die Gesellschaft eine nützliche Arbeit verrichtet (besondere Regelungen für Alte, Kranke, Kinder, usw. werden natürlich notwendig sein).

In Katalonien ist dieses nicht geschehen. Hier blieb das Geld der Vermittler bei den Gütertransaktionen. Wenn auch eine gewisse Kontrolle auf die Güterbewegung eingeführt wurde, so hat dies doch nichts geändert an der Tatsache, dass die Arbeiter ihr bisschen Besitz ins Pfandhaus bringen müssen, während die Hausbesitzer ein arbeitsloses Einkommen in der Höhe von 4% ihres Kapitals bis zu einer gewissen Grenze garantiert bekommen. (L’Espagne Antifasciste – 10. Oktober).

Man kann mit dem Einwand kommen, dass die Gewerkschaften keine anderen Maßnahmen ergreifen konnten, weil sie sonst die antifaschistische Einheitsfront in Gefahr gebracht hätten. Und dass sie nach dem Sieg über die Faschisten sehr sicher das Versäumte nachholen und alle notwendigen Reformen durchführen würden. Die freiheitliche Einstellung der c.n.t. sei eine sichere Garantie dafür.

Wer so argumentiert, verfällt in denselben Fehlern wie die verschiedenen Bolschewiki von links und rechts. Die bisher ergriffenen Maßnahmen beweisen eindeutig, dass die Arbeiter heute die Macht nicht in Händen haben. Mit welchen Argumenten will man den Standpunkt verteidigen, dass dieselben Gewerkschaftsapparate, die heute über die Arbeiter herrschen, nach der Niederlage der Faschisten ihre Macht freiwillig in die Hände der Arbeiter legen werden?

Sicher, die CNT ist freiheitlich. Selbst wenn wir annehmen, dass ihre Spitzen bereit wären, wenn die militärische Lage es erlaubt, von ihrer Verfügungsgewalt Abstand zu nehmen, was wäre damit verändert? Denn nicht der eine oder der andere Führer hat die Macht; die Macht liegt in den Händen des großen Apparates, der sich aus all den unzähligen größeren und kleineren Bonzen, die die Schlüsselpositionen und Positiönchen beherrschen, zusammensetzt. Sie sind im Stande, in dem Moment, wo man sie aus ihrer selbstverständlich bevorrechteten Position vertreiben will, die ganze Produktion auf den Kopf zu stellen. Hier taucht genau dasselbe Problem auf, dass auch in der russischen Revolution eine solche schwerwiegende Rolle gespielt hat. Der bürokratische Apparat sabotierte dort, solange die Arbeiterkontrolle in den Fabriken bestand, das ganze Wirtschaftsleben. Genau so geht es in Spanien. Alle von der c.n.t. für die Idee des Selbstbestimmungsrechtes der Betriebsbelegschaften aufgebrachte Begeisterung ändert nichts an der Tatsache, dass die Gewerkschaftskomitees faktisch die Funktion der „Arbeitgeber“ übernommen haben, und somit den Arbeitern gegenüber als Ausbeuter aufzutreten gezwungen sind. Das System der Lohnarbeit ist in Spanien aufrechterhalten, nur eins ist verändert: War sie früher Lohnarbeit im Dienste des Kapitalisten, so ist sie es heute im Dienste der Gewerkschaften. Um das zu beweisen, seien einige Zitate aus „L‘Espagne Antifasciste“ angeführt. In Nummer 24 vom 28. Nov. 19365 finden wir einen Artikel: Die Revolution organisiert sich. Ihm entlehnen wir das Folgende:

„Das Provinzplenum von Granada, das am 2., 3. und 4. Oktober 1936 in Guadix stattfand, hat folgende Beschlüsse gefasst:6 […]
5. Das Komitee der Gewerkschafts-Einheit soll die Kontrolle über die gesamte Produktion (Es ist hier vom Landbau die Rede) ausüben. Es wird ihm dafür alles zur Aussaat und Ernte nötige Material zur Verfügung gestellt.
6. Als Grundlage der Zusammenarbeit mit anderen Gebieten muss jedes Komitee den Güteraustausch dadurch zustande bringen, indem es die Werte der Produkte nach Maßgabe der gangbaren Preise miteinander vergleicht.
7. Um die Arbeit zweckmäßig zu gestalten wird das Komitee dazu übergehen müssen, alle Bewohner, die nicht arbeitsfähig sind und die, die es wohl sind, statistisch zu erfassen. Damit ihm bekannt wird, mit wieviel Arbeitskräften gerechnet werden kann und wie die Lebensmittel nach der Größe der Familie rationsweise zu verteilen sind.
8. Das beschlagnahmte Land wird als Gemeinschaftseigentum erklärt. Jedoch darf das Land derjenigen, die über genügende physische und Berufskapazität verfügen, nicht enteignet werden. Dieses, um ein Maximum an Rentabilität zu erhalten.“

(Außerdem darf das Land der kleinen Eigentümer nicht beschlagnahmt werden. Die Inbeschlagnahme wird durch dass aus c.n.t. und u.g.t. zusammengesetzte Organe ausgeführt.)

Diese Beschlüsse sind aufzufassen als eine Art Plan, wonach das Gewerkschafts-Einheits-Komitee die Agrarproduktion organisieren will. Hierbei ist festzustellen, dass die Leitung der Kleinbetriebe –  und ebenfalls derjenigen Großbetriebe, bei denen die „Maximum-Rentabilität“ gewährleistet ist, – in den Händen der alten Besitzer verbleiben soll. Der übrige Grundbesitz wird für die „Gemeinschaft“ enteignet, d.h. unter die Leitung des Gewerkschafts-Einheits-Komitee gestellt. Ferner erhält das g.e.k. die Kontrolle über die Gesamtproduktion. Aber mit keiner Silbe wird erwähnt, welche Rolle die Produzenten selbst in dieser neuen Produktionsordnung spielen sollen. Dieses Problem besteht für u.g.t. und c.n.t. anscheinend überhaupt nicht. Sie sehen ihre Aufgabe lediglich darin, eine andere Leitung, und zwar die der g.e.k., für eine Produktion zu errichten, die weiter auf der Basis der Lohnarbeit bestehen bleibt. Und doch entscheidet gerade die Frage der Erhaltung des Lohnsystems über die Entwicklung der proletarischen Revolution. Wenn die Arbeiter nach wie vor Lohnarbeiter bleiben, sei es auch im Dienste eines durch ihre eigene Gewerkschaft errichteten Komitees, dann bleibt ihre Position im Produktionssystem unverändert. Die soziale Revolution wird durch den unvermeidlich einsetzenden Kampf um ökonomischen Einfluss für Gewerkschaft oder Parteien von ihrer Hauptrichtung abgedrängt.

Dann erhebt sich die Frage: Inwieweit kann man die Gewerkschaften als wirkliche Vertretung der Arbeiter betrachten, d.h., wieviel Machteinfluss haben die Arbeiter über die zentralen Gewerkschaftskomitees, die das gesamte ökonomische Leben beherrschen?

Die Wirklichkeit zeigt, dass die Arbeiter jeden Einfluss resp. Macht über diese Organisationen verlieren. Selbst im günstigsten Falle, wenn alle Arbeiter in der c.n.t. und u.g.t. organisiert sind und selbst die Komitees gewählt haben, verwandeln sich diese, einmal in Funktion, nach und nach in selbständige Machtorgane. Diese Komitees stellen alle Normen für die Produktion und Distribution fest, ohne Verantwortung gegenüber der Arbeiterschaft, die sie in ihre Funktion hob – ohne dass sie nach dem Willen der Arbeiter jeden Augenblick abgelöst und ersetzt werden könnten. Sie erhalten die Verfügung über alle für die Arbeit erforderlichen Produktionsmittel sowie über die Produkte, während die Arbeiter lediglich eine bestimmte Lohnsumme für die von ihnen geleistete Arbeit erhalten.

Das Problem für die spanischen Arbeiter besteht also vorläufig darin, die Macht über die Gewerkschaftskomitees, welche die Produktion und Distribution beherrschen, zu erhalten. Und hier zeigt sich deutlich, dass die anarcho-syndikalistische Propaganda die entgegengesetzte Wirkung erzeugt: Die Anarcho-Syndikalisten meinen, dass alle Schwierigkeiten überwunden sind, wenn nur die Gewerkschaften die Leitung der Produktion erhalten. Sie sehen wohl die Gefahr der Bildung einer Bürokratie, aber nur in den Staatsorganen – nicht in den Gewerkschaften. Sie glauben, dass die „freiheitliche Gesinnung“ eine derartige Entwicklung unmöglich mache.

Aber gerade in Spanien dürfte es sich genügend gezeigt haben, dass die „Freiheitliche Gesinnung“ beiseite geschoben wird, wenn die materielle Notwendigkeit ihre Forderungen stellt. Auch von anarchistischer Seite kann man die Entwicklung einer Bürokratie bestätigt finden. Der L’Espagne Antifasciste vom 1. Januar enthält einen Artikel, übernommen aus der Tierra y Libertad (Grund und Freiheit, Organ der f.a.i.), woraus wir Folgendes zitieren:

„Das letzte Plenum der ‚Regionalen Föderation‘ der Anarchistischen Gruppen in Katalonien hat […] den Standpunkt des Anarchismus gegenüber den Forderungen der Gegenwart festgestellt. Wir werden alle diese Beschlüsse bekanntgeben und dieselben mit einem kurzen Kommentar versehen.“

Aus diesen kommentierten Beschlüssen ist der nachstehende Auszug entnommen:

4) Es ist notwendig, die parasitäre Bürokratie, die sich gegenwärtig in starkem Maße in den unteren und oberen Organen des Staates entwickelt hat, zu beseitigen.“

„Der Staat ist der ewige Brutplatz gewesen für eine bestimmte Klasse: die Bürokratie. Gegenwärtig wird der Zustand ernst. Sie schleppt uns mit in eine Strömung, die für die Revolution gefährlich ist. Die betriebliche Kollektivierung, mit der Errichtung von Räten und Komitees, hat den Nährboden geschaffen für eine neue Bürokratie, die dem Schoß der Arbeiterschaft selbst entsprungen ist. Die Ziele des Sozialismus missachtend, geschieden von dem Geist der Revolution, handeln die Elemente, die die Leitung der Produktionsstätten oder der außerhalb der Gewerkschaftskontrolle stehenden Industrien in Händen haben, oft als wirkliche Bürokraten mit absoluten Vollmachten und treten auf als neue Herren.“

„In den Staatsbüros und in den örtlichen Organen kann man sich überzeugen von der Zunahme der ‚Federsnässer‘. Diesen Dingen muss ein Ende gemacht werden, Es ist die Aufgabe der Gewerkschaften und Arbeiter, gegen diesen Strom des Bürokratismus einen Damm zu errichten. Und es ist die Gewerkschaftsorganisation, die diese Aufgabe lösen kann.“

„Das Parasitentum muss aus der neuen Gesellschaft verschwinden. Es ist unsere gebieterische Pflicht, den Kampf dagegen mit den schärfsten Mitteln und ohne Zögern zu beginnen.“

Jedoch die Bürokratie durch die Gewerkschaften vertreiben, hieße den Teufel durch Belzebub austreiben wollen. Denn es sind die Machtverhältnisse und nicht die idealistischen Lehrsätze, die den Lauf der Entwicklung bestimmen. Der spanische Anarcho-Syndikalismus, der mit anarchistischen Lehrsätzen durchtränkt ist, erklärt sich für „Freien Kommunismus“ und gegen jegliche zentrale Gewalt. Jedoch seine eigene Kraft ist konzentriert in der Gewerkschaftsorganisation, und darum ist dieses das Mittel, wodurch die Anarchosyndikalisten den „freien“ Kommunismus verwirklichen wollen.

Der Anarcho-Syndikalismus

So sehen wir, dass bei den spanischen Anarchosyndikalisten Theorie und Praxis verschiedene Wege gehen. Dies konnten wir bereits feststellen, als ersichtlich war, dass CNT und FAI sich nur dadurch halten konnten, indem sie Schritt für Schritt ihren antipolitischen Standpunkt preisgaben. Genau dasselbe müssen wir nun konstatieren bei dem „ökonomischen Aufbau der Revolution“.

Theoretisch sind sie Vorkämpfer des „freien“ Kommunismus, aber um die „freien“ Betriebe in Bewegung zu bringen im Interesse der Revolution, sind sie gezwungen, ihnen die „Freiheit“ zu nehmen und die ganze Produktion einer zentralen Leitung unterzuordnen. Die Praxis zwingt auch hier zum Verlassen der Theorie. Das bedeutet also, dass die Theorie nicht für die Praxis berechnet war.

Eine Erklärung hierfür finden wir, wenn wir die Theorie vom „freien Kommunismus“ etwas näher betrachten. Dann zeigt sich sogleich, dass diese in Wirklichkeit den Auffassungen Proudhons entstammen, die seinerzeit durch Bakunin an die modernen Produktionsverhältnisse angepasst wurden.

Diese Auffassungen, die Proudhon vor etwa 100 Jahren in Bezug auf den Begriff des Sozialismus entwickelte, sind nichts anderes als idealistische Vorstellungen des Kleinbürgers, der die freie Konkurrenz der Kleinbetriebe als den idealen Zustand sah, auf den die Entwicklung gerichtet sein müsse. Die freie Konkurrenz solle automatisch alle Privilegien abschaffen, weil letztere nur dem Monopol, d.h. dem Geldmonopol der Banken und dem Grundmonopol der Großgrundbesitzer ihre Entstehung verdanken. Auf diese Weise solle dann auch aller Zwang von oben herab überflüssig werden. Die Profite sollten verschwinden, jeder solle nur den „vollen Ertrag seiner Arbeit“ erhalten, eben weil nach Proudhon die Profite nur durch das Handelsmonopol entstehen konnten. „Ich will das Eigentum nicht abschaffen, sondern verallgemeinern, d.h. auf den Kleinbesitz zurückführen und der Macht entkleiden; denn Proudhon verurteilt nicht die Tatsache des Besitzes, in der freien Verfügung über die Früchte der Arbeit sieht er ‚das Wesen der Freiheit‘. Er verurteilt das Eigentun als Vorrecht und Macht, das Herrenrecht am Eigentum.“ (Proudhon und der Sozialismus von Gottfried Salomon, S. 31). Das Geldmonopol z.B. wollte Proudhon durch die Errichtung einer zentralen Kreditbank abschaffen, oder auch durch den gegenseitigen Kredit der Produzenten untereinander, in jedem Falle jedoch musste der Kredit kostenlos sein. Werden wir hieran nicht erinnert, wenn wir in der „L’Espagne Antifasciste“ vom 10. Oktober Folgendes lesen:

„Das Syndikat c.n.t. der Beamten der Leihbank in Madrid schlägt die sofortige Umwandlung aller Leihbanken in Institutionen für Gratis-Kredite für die arbeitenden Klassen vor, und zwar gegen eine Vergütung von 2% per Jahr […]“

Aber der Einfluss von Proudhon auf die anarcho-syndikalistische Gesinnung beschränkt sich nicht allein auf diese relativ unwichtigeren Punkte. Der Sozialismus Proudhons stellt in seinen Grundzügen die Basis der gesamten anarcho-syndikalistischen Lehre dar, höchstens dass Annäherungen an die modernen großindustriellen Verhältnisse vollzogen wurden.

In den Auffassungen der c.n.t. sind einfach die Betriebe als selbständige Einheiten in den „Freikonkurrenz-Sozialismus“ aufgenommen. Die Anarcho-Syndikalisten wollen nicht zum Kleinbetrieb zurück, sie wollen diesen auf die Dauer selbst liquidieren, oder, noch besser, seines natürlichen Todes sterben lassen, weil derselbe nicht rationell arbeitet.

Aber ersetzt man in den Schriften Proudhons das Wort „Kleinbetrieb“ durch das Wort „Großbetrieb“ das Wort „Handarbeiter“ durch „Arbeitersyndikat“, dann erhält man den Sozialismus der c.n.t. zurück. Wenn die privatkapitalistischen Tendenzen in den russischen Agrarkollektiven sich weiter durchsetzen und diese sich unabhängig vom Staat machen könnten, dann würde die Organisation der russischen Agrarproduktion ein prachtvolles Beispiel des anarcho-syndikalistischen Sozialismus darstellen.

Die Notwendigkeit einer planmäßigen Produktion

In Wirklichkeit sind jedoch diese Auffassungen utopisch und, wie die Erfahrung zeigte, für Spanien nicht zu verwirklichen. Eine freie Konkurrenz ist gegenwärtig nicht mehr möglich und gewiss nicht in einer Kriegswirtschaft wie in Katalonien. Wo verschiedene Betriebe oder ganze Ortschaften sich frei und selbständig gemacht, aber in Wirklichkeit diese Freiheit benutzt hatten, um die Verbraucher ihrer Produkte auszuplündern, müssen nun c.n.t. und f.a.i. die Folgen ihrer ökonomischen Theorien mit Kraft bekämpfen. Die waren hierzu gezwungen, weil ein Kampf Aller gegen Alle zu entbrennen drohte, gerade in dem Augenblick in der der Bürgerkrieg die einheitliche Zusammenfassung aller Kräfte zwingend erfordert. Sie wissen keinen anderen Weg, als wie die Bolschewisten und Sozialdemokraten auch, nämlich Aufhebung der Selbständigkeit der Betriebe und Unterwerfung derselben an eine zentralökonomische Leitung.

Dass sie diese Leitung mittels ihrer eigenen Gewerkschaftsorganisation errichten, ändert an der wesentliche Bedeutung derselben nichts. Wenn nämlich die Arbeiter als Lohnarbeiter in das zentral geleitete Produktionssystem eingefasst sind, kann auch eine c.n.t.-Leitung nichts anderes daraus machen als ein nach kapitalistischen Prinzipien funktionierendes System. So zeigt sich, dass die theoretischen Auffassungen der Anarcho-Syndikalisten sich durch die Praxis in ihr Gegenteil verwandeln. Das ist auch nicht anders möglich, denn sie können keine Antwort geben auf die wichtigste Frage, vor welche die ökonomische Organisation der proletarischen Revolution zu stehen kommt. Diese Frage ist:

Auf welche Weise wird der Anteil bestimmt, den jeder Teil des Produktionssystems oder jedes Mitglied der Gemeinschaft vom Totalprodukt erhält?“

Gemäß der anarcho-syndikalistischen Theorien sollen die selbständigen Betriebe oder freien Individuen diesen Anteil durch den Gebrauch des „freien Kredits“, durch die Produktion für den Markt und den Rückempfang des vollen Wertes durch den Austausch selbst bestimmen. Dieser Grundgedanke wurde auch aufrechterhalten, als man – bereits vor Jahren – die Notwendigkeit der Planproduktion und darum auch der zentralen Buchführung einsah. Die Anarcho-Syndikalisten wollen wohl das ökonomische Leben planmäßig leiten und sind der Meinung, dass dies ohne zentrale Registrierung, wodurch das Produktionsleben statistisch erfasst und die gesellschaftlichen Bedürfnisse festgestellt werden können, nicht gut möglich ist. Sie versäumen jedoch, eine Basis anzugeben, worauf diese statistischen Feststellungen beruhen. Es ist doch eine feststehende Wahrheit, dass die Produktion nicht statistisch erfasst und planmäßig geregelt werden kann, wenn man nicht einen Maßstab besitzt, mit dem die Produkte gemessen werden können.

Bolschewistische oder kommunistische Produktion

Kommunismus bedeutet Produktion für die Bedürfnisse der breiten Massen. Die Frage, wieviel durch den Einzelnen konsumiert werden kann und schließlich die Frage, wie die Rohstoffe und Halbfabrikate über die verschiedenen Betriebe verteilt werden, kann nicht gelöst werden in der dem Kapitalismus eigenen Weise, nämlich durch den Gebrauch des Geldes als allgemeiner Maßstab. Das Geld ist als solches Ausdruck bestimmter Eigentumsverhältnisse. Wer Geld hat, hat mittels desselben Anspruch auf einen bestimmten Anteil des gesellschaftlichen Produktes.

Dies gilt für jeden Einzelnen ebenso wie für jedes Unternehmen. Im Kommunismus jedoch ist der Privatbesitz an Produktionsmitteln aufgehoben. Und doch muss jeder Einzelne seinen bestimmten Teil zur Konsumtion aus dem gesellschaftlichen Reichtum erhalten, ebenso müssen jedem Betrieb die benötigten Rohstoffe und Hilfsmittel erreichbar sein. Wie dies tun? Darauf kann uns der Syndikalismus keine andere Antwort geben, als dass dieser Teil „statistisch“ festgestellt werden muss.

Wir haben hier mit einem der schwerwiegendsten Probleme jeder proletarischen Revolution zu tun, und der Syndikalismus steht ihm ohnmächtig gegenüber. Würden die Arbeiter die Feststellung der Anteile des einzelnen einfach einem „statistischen Büro“ in die Hände geben, dann hätten sie damit eine Macht geschaffen, die durch sie nicht mehr kontrolliert werden kann. Umgekehrt dagegen, wenn die Arbeiter in den Betrieben einfach das Recht haben, sich einen willkürlichen Teil zu nehmen, ist ebenfalls eine geordnete Produktion ausgeschlossen.

Das Problem steht also im Grunde folgendermaßen: Wie sind die beiden, auf den ersten Blick entgegengesetzten Dinge, alle Macht den Arbeitern, also größtmöglicher Föderalismus, und planmäßige Regelung der Produktion, also äußerster Zentralismus miteinander zu vereinigen?

Die Antwort auf diese Frage ist nur zu geben, wenn man von einer Betrachtung der Grundlagen der gesamten gesellschaftlichen Produktion ausgeht. Die Arbeiter in den Betrieben geben allesamt an die Gesellschaft ein und dasselbe Ding, nämlich ihre Arbeit. Hierdurch erst werden sie zu vollwertigen Mitgliedern der kommunistischen Gesellschaft. In einer Gesellschaft ohne Ausbeutung, wie sie die kommunistische ist, kann es darin gar nicht anders sein, als dass die Arbeit, d.h. das, was der Einzelne der Gesellschaft gibt, der Maßstab ist für das, was er von der Gesellschaft an Konsumtionsmitteln zurückempfängt.

Im Produktionsprozess werden die Rohstoffe zu für die Konsumtion brauchbaren Produkten durch die Hinzufügung von Arbeit. Für ein „statistisches Büro“ würde es heute völlig unmöglich sein, die in den jeweiligen Produkten steckende Arbeit festzustellen. Das Produkt ist durch unendlich viele Hände gegangen, eine unübersichtlich lange Reihe von Maschinen, Hilfsmitteln, Rohstoffen und Halbfertigprodukten wurden zu seiner Fabrikation verwendet. Welches zentrale statistische Büro könnte alle diesen Summen zu einem übersichtlichen und für die Reproduktion brauchbaren Ganzen verarbeiten? Andererseits dagegen ist es für den einzelnen Betrieb sehr gut möglich, wenn ihm mitgeteilt wurde, wieviel Arbeitszeit die von ihm gebrauchten Rohstoffe befassen, festzustellen, wieviel Arbeitszeit er selbst verwandte, und aus diesen beiden Summen durch einfache Addition die Menge der bisher im Produkt kristallisierten Arbeitszeit anzugeben. Weil nun alle Betriebe miteinander im Produktionsprozess verbunden sind, ist es eine Kleinigkeit für den Einzelbetrieb aus allen erhaltenen Angaben die Gesamtmenge der Arbeitszeit, die im fertigen Produkt steckt, zu berechnen. Ebenfalls einfach ist es, durch Division von verwandter Arbeitszeit durch Produktenmenge die gesellschaftlich durchschnittliche Arbeitszeit für das einzelne Produkt anzugeben. Diese letztere Größe ist nun bestimmend für den Konsumenten: Um ein Produkt zu erhalten, muss er lediglich den Nachweis bringen, dass er die im Produkt steckende Arbeitszeit in anderer Form bereits an die Gesellschaft gegeben hat. Hier ist also jede Ausbeutung ausgeschlossen; jeder empfängt, was er gibt, jeder gibt dem, von dem er empfängt, nämlich die gleiche Summe gesellschaftlich-durchschnittlicher Arbeitszeit. Für ein zentrales statistisches Büro, welches den einzelnen Arbeiterkategorien „ihren“ Teil zuweist, ist im Kommunismus kein Platz.

Die Menge, die der einzelne Arbeiter verzehrt, wird nicht von „oben“ bestimmt, sondern jeder Arbeiter bestimmt durch seine Arbeit selbst, wieviel er von der Gesellschaft zurückfordern kann. Eine andere Möglichkeit zur Festlegung des Verhältnisses zwischen Geben und Nehmen kann es im Kommunismus (zumindest in seiner ersten Phase) nicht geben. Statistische Büros haben lediglich die Aufgabe der Administration, sie können auch aus den erhaltenen Einzeldaten gesellschaftliche Durchschnittswerte berechnen u. dergl. Sie sind ein Betrieb wie alle anderen Betriebe auch, besondere Rechte kommen ihnen nicht zu. Dort wo ein Zentrales Büro andere Funktionen, Machtfunktionen ausübt, ist kein Kommunismus, sondern Ausbeutung, Entrechtung, Kapitalismus.

Für eine mehr ins Einzelne gehende Betrachtung auf diesem Gebiete verweisen wir auf die von der a.a.u.e. ausgegebene Broschüre Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung und ihre Zusammenfassung in Rätekorrespondenz, Nr. 10-11. Hier war nur festzustellen, dass die Frage, ob die eine oder andere Diktatur entstehen muss, nicht gelöst werden kann von der Frage nach der Grundlage der Produktion und Verteilung, die in einer Gesellschaft herrschen. Nochmals, wenn nicht die Arbeitszeit als Maßstab für die gesamte Produktion und Distribution fungiert, wenn ein „statistisches Büro“ den Arbeitern die „Ration“ zuteilt, wenn das Verhältnis von Produktion und Konsumtion nicht unmittelbar durch den Produktionsprozess selbst bestimmt wird, dann folgt notwendig Kapitalismus, sei es auch eine neue Art Kapitalismus.

Die Syndikalisten bleiben auf die Frage, nach welchen Prinzipien die Güterverteilung geregelt werden soll, die Antwort schuldig. In der ganzen Abhandlung welche L‘Espagne Antifasciste an die ökonomische Rekonstruktion widmet, wird lediglich an einer einzigen Stelle die Frage nach der Recheneinheit im Kommunismus angeschnitten, nämlich in der Nummer vom 11. Dezember 1936, wo es heißt:

„In dem (sehr wahrscheinlichen) Falle, dass ein Tauschmittel eingeführt wird, das mit dem heutigen Gelde nichts mehr gemein hat, und nur zum Zwecke der Vereinfachung des Tausches fungiert, wird der ‚Rat für den Kredit‘ diese Tauschmittel administrieren.“

Der Gedanke der Notwendigkeit einer Recheneinheit, um eine Übersicht der gesellschaftlichen Bedürfnisse möglich zu machen und um einen Maßstab für Konsumtion und Produktion zu erhalten, ist hier nicht einmal im Keime anwesend. Das „Tauschmittel“ hat nur die Funktion, den Tausch zu erleichtern. Wie es diese Aufgabe erfüllen soll, darüber kein Wort. Nach welchem Maßstab die Produkte sich in diesem Tauschmittel ausdrücken sollen, – in der ganzen Abhandlung wird darüber nichts gesagt. Wie die Bedürfnisse festgestellt werden, ob durch Betriebsräte oder Verbrauchergenossenschaften oder durch die Techniker der Administrationsbüros, kein Wort, keine Silbe. Worin das neue Tauschmittel prinzipiell vom Gelde sich unterscheiden soll, dies wird nicht auseinandergesetzt. Dagegen wird die technische Ausrüstung des Produktionsapparates in allen Details behandelt. Die ökonomischen Probleme werden von den Syndikalisten zu technischen Problemen gemacht.

In dieser Beziehung sind die Syndikalisten eng verwandt mit den Bolschewisten. Auch bei den Bolschewisten steht die technische Organisation der Produktion im Zentrum des Interesses. Der einzige Unterschied zwischen den beiden Auffassungen ist die größere Naivität der syndikalistischen. Der Frage nach dem Entstehen neuer Bewegungsgesetze in der Ökonomie trachten sie beide zu entweichen. Dagegen geben die Bolschewisten wohl eine Antwort, sogar eine sehr konkrete, auf die Frage der technischen Organisation, sie sind für eine absolute Zentralisation unter Leitung eines diktatorischen Apparates. Die Syndikalisten hingegen, mit ihrem Streben nach „Selbständigkeit der einzelner Betriebe“, wissen noch nicht einmal dieses Problem zu lösen. Soweit sie dagegen in der Praxis Beiträge zu seiner Lösung liefern, tun sie es, indem sie das Selbstbestimmungsrecht der Arbeiter preisgeben. Denn Selbstbestimmungsrecht der Arbeiter über die Betriebe und Zentralisation der Leitung der Produktion sind nun einmal solange nicht zu vereinen, als die Grundlage des Kapitalismus, die Geld- und Warenwirtschaft nicht zerschlagen und eine neue Ordnung auf der Grundlage der gesellschaftlich-durchschnittlichen Arbeitszeit ins Leben gerufen ist. Die Einführung der Letzteren können die Arbeiter nicht von den Parteien erwarten, dazu bedarf es ihrer eigenen Tat.


1A.d.R., gemeint ist die Partei Esquerra Republicana.

2A.d.R., die Generalidad oder Generalitat auf Katalan, ist das institutionelle System der das politische Leben in Katalonien organisiert. Es besteht aus der Regierung in Katalonien, des Parlamentes dort und weiteren Institutionen.

3A.d.R., bezieht sich hier auf monarchistische Kräfte die im Russischen Bürgerkrieg einen Zaren einführen wollten.

4A.d.R., die Rede ist von Largo Caballero, der vom 04. September 1936 bis zum 17. Mai 1937 der Präsident der Spanischen Republik war.

5A.d.R., wir haben diese Stelle korrigiert, in der deutschsprachigen Fassung steht 1938 was nicht stimmen kann wenn der Artikel jeweils auf Deutsch wie auf Englisch 1937 erschien. Wir haben es mit der ICC Ausgabe verglichen und da steht 1936.

6A.d.R., wir haben diese Stelle mit dem Original, hier zu finden, verglichen und korrigiert, klang etwas holprig.

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Ein Text von Tridni Valka, die Übersetzung ist von uns.


Tridni Valka 15/2023: Die Stimme des Zorns ist aus dem Iran zu hören

Die Stimme des Zorns ist aus dem Iran zu hören

Wieder einmal haben sich die Augen der kommunistischen Militanten auf der ganzen Welt auf den Iran gerichtet, als Schlachtfeld der gigantischen proletarischen Umwälzung, eine weitere in der Reihe der Klassenkonfrontationen, die den Iran und die umliegende Region im letzten Jahrzehnt erschüttert haben.

Teheran, 16. September 2022 – Mahsa Amini starb, nachdem sie von der iranischen Religionspolizei verhaftet und brutal zusammengeschlagen worden war, weil sie beschuldigt wurde, ihr Kopftuch nicht in Übereinstimmung mit dem stupiden Gesetz des Islam zu tragen. Eine der vielen Ideologien, die uns von der herrschenden Klasse aufgezwungen werden, um in uns das falsche Bewusstsein der Klassengemeinschaft zu zementieren – die Religion; in diesem Fall eine der Varianten des abrahamitischen Märchens über den unsichtbaren Mann, der im Himmel lebt. Die darauf folgende Revolte gegen das iranische System der Geschlechterapartheid und die zu seiner Durchsetzung eingesetzte Staatsmaschinerie als besonderer Ausdruck der Gewalt des Staates hatte die große proletarische Bewegung in Gang gesetzt, die sich über das ganze Land ausbreitete und an allen Fronten die ideologischen, sozialen und ökonomischen Grundlagen der bourgeoisen Gesellschaft im Gebiet des Iran angriff. Einige der Aufgaben, die diese Bewegung übernommen hat, wenn auch auf unzureichende und unvollständige Weise, wie die Aufgabe, die strategischen Punkte der staatlichen Infrastruktur zu identifizieren und anzugreifen, die Repressionskräfte zu entwaffnen und sich selbst zu bewaffnen, usw., gehören zu den Aufgaben, die das Proletariat in der Aufstandsphase der globalen kommunistischen Revolution übernehmen muss.

Wenn der Mord an Mahsa ein Funke der Bewegung war und die Revolte der proletarischen Frauen gegen den Schleier der Wind war, der sie aufblies, so war ihr Treibstoff der brutale Ausdruck der Herrschaft des Kapitals auf dem Gebiet des Iran – Ausbeutung, Elend, Entfremdung, Krieg… und die Geschichte des Kampfes unserer Klasse gegen diese. Ein schwieriger und gewalttätiger Kampf mit Siegen und Niederlagen. Die Erfahrung der Gemeinschaft, wenn wir dem IRGC (dem so genannten „Islamic Revolution Guard Corps“ oder Pasdaran) und der Basij-Miliz in tödlichen Straßenkämpfen gegenüberstehen, wenn wir streiken und die unmenschliche Maschinerie der kapitalistischen Ausbeutung für einen Moment lahm legen, wenn wir gemeinsam die Strategien des Kampfes diskutieren, organisieren und planen. Freude im Moment des Sieges, wenn wir eine Polizeistation, ein Rathaus oder eine Moschee niederbrennen, wenn wir die Regimefunktionäre vor Angst zittern lassen. Brennender Hass und Wut auf unsere Ausbeuter, wenn sie uns ihrer schrecklichen Gewalt aussetzen – Erschießungen, Schläge, Folter, Vergewaltigung, Inhaftierung, Schikanen, Überwachung, Gehirnwäsche, Atomisierung…

Spätestens seit 2017 befindet sich die iranische Gesellschaft in einem Zustand des semipermanenten Aufruhrs mit immer wiederkehrenden Perioden militanter Straßenproteste, Konfrontationen mit den Kräften der Repression, Streiks, Besetzungen von Universitäten und Arbeitsplätzen, etc. – aus einer Vielzahl ökonomischer und politischer Gründe wie Benzin- und Lebensmittelpreise, Mangel an sauberem Trinkwasser, Nichtzahlung der Löhne, Gewalt des Staates, Verwicklung des Irans in verschiedene regionale Konflikte. Sie gehen jedes Mal vorübergehend zurück, was auf eine Kombination aus externen und internen Faktoren zurückzuführen ist. Einerseits sind sie auf die großen Anstrengungen des Staates zurückzuführen, sie durch außergewöhnliche Brutalität, Informationssperren, Mobilisierungsrunden von Anhängern und Versprechen von Reformen zu unterdrücken, die die schlimmsten Probleme lösen sollen. Andererseits ist der periodische Niedergang der Bewegung auf die Grenzen der Bewegung selbst zurückzuführen, die von den Kämpfen anderswo weitgehend isoliert bleibt und sich mit den konkreten miserablen Lebensbedingungen im Iran und bestenfalls mit dem Sturz des derzeitigen bourgeoisen Regimes, das sie dafür verantwortlich macht, beschäftigt.

Es muss erwähnt werden, dass die Bewegung bisher nicht in der Lage war, den Staat ausreichend zu destabilisieren, auch wenn sie in ihren Spitzenzeiten einige der dafür notwendigen Aufgaben teilweise übernimmt.

Die militanten Minderheiten gehen darüber hinaus und setzen sich für die Verneinung der gesamten kapitalistischen Gesellschaft ein, aber im gegenwärtigen Kräfteverhältnis stellen sie keine materielle Kraft dar, die in der Lage wäre, dies als Richtung der Bewegung durchzusetzen. Um den sozialen Hintergrund der aktuellen Klassenbewegung im Iran besser zu veranschaulichen, wollen wir kurz und ohne den Anspruch auf eine vollständige Chronologie der Ereignisse die wichtigsten Klassenkämpfe im Iran der letzten Jahre wiederholen.

Am 28. Dezember 2017 brachen in Mashhad die militanten Proteste gegen die Erhöhung der Preise für Grundnahrungsmittel wie Reis und Brot und gegen Kürzungen der Arbeitslosenunterstützung aus. Der Staat reagierte natürlich gewaltsam, was jedoch nicht zur Beendigung der Proteste führte, sondern sie vielmehr dazu motivierte, dass sie eskalierten und sich zunächst auf Teheran und später auf jede größere Stadt im Iran ausweiteten. Dies war der Beginn der größten Welle des Klassenkampfes, die den Iran seit Jahrzehnten heimsuchte, mit absolut weit verbreiteter Enteignung von Waren, dem Niederbrennen von Verwaltungsgebäuden einschließlich der Büros der Mullahs, Polizeistationen und Hauptquartiere der Basij-Miliz. Es gab auch Versuche der fortgeschrittensten proletarischen Formationen (wenn auch nur wenige), die Waffenlager der Kräfte der Repression zu plündern, sich zu bewaffnen und die erworbenen Waffen gegen den Staat einzusetzen. Zu den fortschrittlichsten programmatischen Äußerungen dieser Bewegung gehörte das Motto „Von Gaza bis Iran, nieder mit den Ausbeutern!“ (siehe unser Bulletin Nr. 6). Dies war ein Schlachtruf der Bewegung gegen die jahrzehntelange (und immer noch andauernde) Verwicklung des Iran in den regionalen kapitalistischen Krieg auf der Seite der „schiitischen Achse“. Gleichzeitig war es ein klarer revolutionärer, defätistischer Bruch mit den nationalistischen Strömungen, der den kapitalistischen Frieden als einzige Alternative zum Krieg propagierte, mit dem Motto „Weder Gaza noch Libanon, ich werde nur für den Iran sterben“.

Nach der brutalen staatlichen Niederschlagung, die Hunderten unserer Klassenbrüder und -schwestern das Leben kostete, beruhigten sich die Straßenproteste vorübergehend – oder so würden es sich unsere Klassenfeinde wünschen. In Wirklichkeit wandelte sich die Form des Klassenkampfes eher in diffusere Demonstrationen und Streiks in vielen Branchen, darunter die Erdölförderung, die Zuckerproduktion, der LKW-Verkehr, die Eisenbahnen und die Schulen. Im Februar 2018 brach in der Provinz Isfahan eine neue Welle von Protesten und Ausschreitungen aus, die sich später auf die Provinzen Khuzestan und Bushehr ausbreitete und sich gegen den Mangel an sauberem Trinkwasser richtete. Das Fehlen oder die schlechte Qualität von Wasser war der Auslöser für viele Proteste im Iran (wie auch im benachbarten Irak).

Im November 2019 kulminierten die sozialen Spannungen in einem weiteren Aufstand nach der Erhöhung der Treibstoffpreise um 200 %, bei dem die Demonstranten erneut Polizeistationen, Zentren der Basij-Miliz, Moscheen und Häuser von Imamen in Brand setzten, Autobahnen und Eisenbahnen blockierten und sich auch in organisierten Plünderungen von Benzin sowohl an Tankstellen als auch aus den staatlichen Reserven äußerten. Der Ausbruch wurde wieder einmal mit einer Kombination aus Gewalt – mindestens 1.500 Proletarier wurden ermordet -, Zensurkampagne und Internetsperre und der Wiederherstellung eines Teils der Benzinsubventionen niedergeschlagen, um den unmittelbaren Grund für die Klassenmobilisierung zu beseitigen. Das Beste, was die Bourgeoisie im Iran damit erreichen konnte, war eine Verlängerung ihrer Agonie für eine Weile und ein Aufschieben des unvermeidlichen Wiederaufflammens der Bewegung um einige Monate. Das liegt zum Teil daran, dass die lokale Fraktion der Bourgeoisie (wie übrigens jede lokale Fraktion der Bourgeoisie überall auf der Welt) die lokalen ökonomischen Bedingungen nicht vollständig unter Kontrolle hat und nicht vorhersehen kann, wann sie die Lebensbedingungen des Proletariats angreifen muss, um ihre eigene Gewinnspanne zu erhalten. Vor allem aber liegt es daran, dass die kämpfenden Proletarier im Iran sich nicht so leicht in die bourgeoise Trennung von „unmittelbaren“ und „historischen“ oder „ökonomischen“ und „politischen“ Forderungen einbinden lassen, trotz aller sozialdemokratischen Kräfte im Iran und im Ausland, die versuchen, die verinnerlichten bourgeoisen Konzepte innerhalb der Klassenbewegung aufzuspüren und sie zu sprengen, um sie zu kanalisieren. Auf den Straßen und Plätzen, in den Werkstätten, Fabriken und auf den Feldern des Iran herrscht ein allgemeines (wenn auch oberflächliches) Bewusstsein für den Zusammenhang zwischen den harten täglichen Arbeits- und Lebensbedingungen und der Existenz der staatlichen Strukturen, die dazu da sind, sie durchzusetzen.

Im Januar 2020 kam es zu Zusammenstößen zwischen Tausenden von Demonstranten und den Sicherheitskräften in der Teheraner Universität und an anderen Orten, nachdem ein ukrainisches Passagierflugzeug von der IRGC abgeschossen worden war. Der Staat reagierte mit Massenverhaftungen, aber auch mit einigen politischen „Geständnissen“ und „Entschuldigungen“ – einige Führungskräfte der mittleren Ebene des IRGC wurden entlassen. Den örtlichen Machthabern kam es gelegen, dass der Covid-19 den Iran hart traf. Ihre „Covid-Management-Strategie“, bei der Zehntausende starben, gab ihnen dennoch eine zusätzliche Waffe, um die Unruhen zu ersticken, und mit Ausnahme der Ausschreitungen der durch die Infektion dezimierten Gefangenen gelang es ihnen eine Zeit lang, eine brüchige Fassade des sozialen Friedens aufrechtzuerhalten.

Dies dauerte bis 2021, als in den Provinzen Sistan und Belutschistan massive Ausschreitungen gegen die Brutalität des Staates ausbrachen, nachdem die IRGC Hand in Hand mit pakistanischen Grenzsoldaten Dutzende von Straßenhändlern massakriert hatte, weil sie Öl über die Grenze „geschmuggelt“ hatten. In den heißen Sommermonaten des Jahres 2022, die zu den jüngsten Unruhen führten, kam es erneut zu gewalttätigen Demonstrationen gegen den Mangel an sauberem Trinkwasser (wie auch im benachbarten Irak) und gegen die in die Höhe schießenden Lebensmittelpreise.

Der erste Protest nach der Ermordung von Mahsa Amini fand am selben Tag vor dem Teheraner Kasra-Krankenhaus statt, in dem sie starb, und ein weiterer folgte am 17. September nach ihrer Beerdigung in ihrer Heimatstadt Saqqez. Von dort aus breitete sich die Bewegung rasch aus und erfasste alle größeren Städte sowie viele kleinere Orte in allen Provinzen. Von Anfang an wurde die Bewegung von jungen proletarischen Frauen angeführt, die ihre Kopftücher als Symbole ihrer Unterdrückung, Schikanierung und Gewalt auf der Grundlage der stupiden abrahamitischen Moral abrissen und verbrannten, um den öffentlichen Raum gegen die Regeln zurückzuerobern, die ihre soziale Rolle auf diejenigen beschränken, die „den Haushalt führen“.

Aber die Revolte blieb nicht auf die Frage des Schleiers beschränkt. Die sozialen Trennungen, die unserer Klasse von den bourgeoisen Ideologen von oben auferlegt und von den Proletariern durch die Sozialisierung in Familie, Schule, Moschee oder Armee verinnerlicht wurden, sind zusammengebrochen. Die Bewegung hat praktisch alle Unterschiede zwischen den proletarischen Frauen, die ihre Arbeitskraft direkt an die Kapitalisten verkaufen (d.h. sie „haben einen Job“), und denen, die sich darauf beschränken, sie indirekt über die „häuslichen Pflichten“ zur Reproduktion der Arbeitskraft ihrer Ehemänner und Söhne zu verkaufen (d.h. sie sind „die Hausfrauen“), aufgehoben; ebenso wie alle Unterschiede in Bezug auf Alter und Bildung.

Wichtig ist, dass die Revolte auch einen der zentralen Pfeiler der lokalen Mutation der herrschenden bourgeoisen Ideologie seit der „Islamischen Revolution“ frontal angriff – die institutionalisierte soziale Trennung und Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Weibliche Demonstranten mischten sich öffentlich unter ihre männlichen Klassenbrüder, diskutierten und organisierten sich direkt mit ihnen, gemeinsam stellten sie sich den Kräften der „Moral“ und „Normalität“ von Polizei, IRGC und Basij-Miliz entgegen, plünderten ihre Kasernen sowie Banken, Moscheen und öffentliche Ämter. Proletarische Männer sahen sich mit den Widersprüchen konfrontiert, die dem Komplex ihrer eigenen sozialen Rollen innewohnen – als Arbeiter, als Soldat, als Ehemann, als Vater, als Muslim, als Staatsbürger… Ihr Klassenfeind, der sie tagtäglich schuften ließ, ihre Arbeitskraft ausbeutete, sie in Kriege in der ganzen Region schickte, sie jedes Mal inhaftierte, folterte und tötete, wenn sie sich gegen ihre Lebensbedingungen wehrten, und der nun ihre Töchter, Ehefrauen und Schwestern tötete, weil sie einfach ihren Schleier abnahmen, erwartete von ihnen immer noch, dass sie seine ideologische Erzählung von der heiligen Dreifaltigkeit von Familie, Nation und Religion unterstützten.

Warum ist diese besondere Ausprägung der Geschlechterrollen so wichtig für die Stabilität des bestehenden bourgeoisen Regimes auf dem Gebiet des Iran? Nicht nur, weil es seine Kernideologie aus der abrahamitischen (islamischen) Moral und ihren traditionellen patriarchalischen Regeln bezieht, sondern auch, weil sie ein wesentlicher Bestandteil der sozialdemokratischen Strategie des „Islamischen Revolutionsrats (IRC)“ – des Vorläufers des heutigen Regimes – waren, um den proletarischen Aufstand von 1978-1979 zu entgleisen, einzudämmen und schließlich zu zerschlagen.

Es war eine Bewegung, die die bourgeoise Gesellschaft des Pahlavi-Regimes zerriss – zahllose Streiks und Fabrikbesetzungen führten zur Gründung von Arbeiterinnen- und Arbeiterräten (shuras) – als eine der Formen der proletarischen Selbstorganisation, die sowohl den Kampf als auch die Befriedigung der täglichen Bedürfnisse der kämpfenden Proleten organisierten. Als die örtliche Fraktion der Bourgeoisie die Armee schickte, um die Aufständischen zu zerschlagen, kam es stattdessen zu einer Reihe von Meutereien, Sabotagen und dem „Zerschlagen“ von Offizieren. Pahlavis Paläste, militärische Hauptquartiere, Gefängnisse und Folterzentren der SAVAK (Geheimpolizei des Schahs), Ministerien und die Gebäude der staatlichen Institutionen wurden niedergebrannt. Proletarier verbrüderten sich mit ihren Klassenbrüdern in Uniform, und die fortschrittlichsten Minderheiten knüpften militante Verbindungen zu Gefährten und Gefährtinnen in anderen Ländern (Irak, Frankreich, Großbritannien…). Es erübrigt sich zu sagen, dass wie in jeder militanten und verallgemeinerten proletarischen Bewegung die bourgeoise Trennung, die unsere Klasse in Zeiten des sozialen Friedens verinnerlicht hatte, zu bröckeln begann. Die proletarischen Frauen beteiligten sich neben den Männern aktiv an allen Aspekten des Kampfes. In ihrer Umwälzung der kapitalistischen Gesellschaft ging die Bewegung von 78-79 über die unmittelbaren Bedürfnisse des Kampfes hinaus. In einer dialektischen Einheit von Praxis und Theorie vollzog die militante Minderheit der Bewegung auch einen eigenen theoretischen Bruch mit den kapitalistischen Gesellschaftsverhältnissen, die auf der Ausbeutung der menschlichen Arbeit und der entfremdeten und atomisierten Existenz beruhen, die sie reproduzieren. Dazu gehörte auch die Kritik an ihren geschlechtsspezifischen Ausdrucksformen wie der Hyper-Sexualisierung der Frau, der Verdinglichung der intimen Beziehungen, usw.

Als kleine Randbemerkung: Es ist bezeichnend, dass die westlichen Feministinnen, die die Bewegung im Iran als „weibliche Revolution“ bejubeln, zwar in der Lage sind, die Ausdrucksformen der „Unterdrückung der Frau“ sowohl im Westen als auch im Iran zu erkennen und zu kritisieren, sie aber immer getrennt voneinander und von ihren kapitalistischen Wurzeln behandeln.

Als Teil ihres Versuchs, die Bewegung zu kanalisieren, taten IRC (und ihre linken, baldigen Opfer, aber zu diesem Zeitpunkt immer noch Verbündeten der Einheitsfront, wie MEK/PMOE, verschiedene Leninisten usw.) das, was die historische Sozialdemokratie in der Vergangenheit oft getan hat – sie gaben vor, die Kritik an diesen Aspekten des Lebens in der kapitalistischen Gesellschaft zu teilen, erklärten diese Dinge aber zum Produkt „spezifischer politischer Bedingungen“ und verdeckten so ihre Wurzeln in der kapitalistischen Produktionsweise. In diesem Fall wurden die spezifischen Bedingungen als „die Dekadenz des westlichen Imperialismus“ deklariert. Als Alternative schlug die „Einheitsfront des Iran“ die Rückkehr zur falschen „Gemeinschaft der Vorfahren“, „des einfachen Lebens“, „des natürlichen Lebens“ vor – in diesem Fall der „Ummah“, aber wir können die von Kropotkin und Lenin idealisierte russische „Obshchina“ in dieselbe Kategorie einordnen. In dieser mythischen Vergangenheit, die es in Wirklichkeit nie gegeben hat, waren die sozialen Widersprüche weniger gravierend. Jeder spielte seine „natürliche“ Rolle in dieser Gemeinschaft und war ein geachtetes und geschütztes Mitglied der Gemeinschaft – einschließlich der Frauen. Revolution bedeutet dann die Verjüngung dieser Fantasie und ihre ideologische und strukturelle Verfeinerung unter der Führung „der Partei“ (indiesem Fall der IRC).

Diese zentrale Rolle des Themas „Geschlechterapartheid“ für die ideologischen Wurzeln des Regimes der Mullahs bedeutet, dass jede Bewegung, die es und seinen symbolischen Ausdruck – den Schleier – in Frage stellt, der herrschenden bourgeoisen Fraktion nicht viel Spielraum für Manöver und Kompromisse lässt, um die Wut der Demonstranten zu kanalisieren. Der Widerstand gegen den Schleier ist organisch aus der proletarischen Bewegung heraus gewachsen und steht in Verbindung mit anderen sozialen Forderungen, ist unter radikalisierten Minderheiten sowohl unter weiblichen als auch männlichen Proletariern weit verbreitet und steht in direktem Zusammenhang mit der brutalen Gewalt des Staates. Das macht sie zu einem sehr starken Katalysator für die militante Konfrontation mit der Staatsmacht.

Natürlich öffnet es auch die Tür für die Schwäche, sich zu sehr auf die Opposition gegen die aktuelle politische Form des Staates zu konzentrieren und für die gegnerischen bourgeoisen Kräfte, sich als politische Alternative zu präsentieren und zu versuchen, die Bewegung von ihrem Klassencharakter abzulenken – wie wir es während der „Gezi-Proteste“ in der Türkei (2013) oder der „Gelbwesten-Proteste“ in Frankreich (2018-19) sehen konnten (siehe unseren Bulletin Nr. 9 und 10). Aber soweit wir sehen können und wie von den Gefährten und Gefährtinnen der Antikapitalistischen Arbeiterinnen und Arbeiter des Irans bezeugt, lehnt die Bewegung in gewissem Maße jeden solchen Versuch ab und die bourgeoisen Oppositionskräfte haben fast keine Bedeutung in ihr, was sie nicht daran hindert, sich als antikommunistische reaktionäre Kraft zu organisieren. Wie die Gefährten und Gefährtinnen es ausdrücken:

[…] die erloschenen Oppositionen der Bourgeoisie, von den Reformern bis zu den Anhängern der Monarchie, von den linken und rechten Milizen bis zu den nationalistischen Sekten und den von der politischen Macht faszinierten Linksparteien, sie alle beanspruchen immer noch, eine Alternative zu sein!!! Und sie behaupten, das Problem der Arbeiterinnen und Arbeiter sei das Fehlen eines Anführers und einer Kraft, die über den Arbeiterinnen und Arbeitern steht, um geführt zu werden. Das heißt, sie bezeichnen sich als die Retter der Arbeiterinnen und Arbeiter in der Masse. In der gegenwärtigen Situation sind sie nicht in der Lage, irgendeine Rolle zu spielen, aber bei einem allgemeinen Aufstand und der Unfähigkeit des Regimes, die Aufstände herauszufordern, und dem Fehlen einer Rätebewegung der Arbeiterklasse, werden sie versuchen, die katastrophalsten Szenarien für die Arbeitermassen unter dem Banner der Pole des globalen Kapitals auszuarbeiten.

Erklärung der antikapitalistischen Arbeiterinnen und Arbeiter des Iran

Nur eine kleine Randbemerkung – während wir die Arbeiterinnen- und Arbeiterräte als eine historisch wichtige Form der proletarischen revolutionären Organisation betrachten, beanspruchen wir sie nicht notwendigerweise gegenüber anderen Formen, da die Form nie eine Garantie für den revolutionären Inhalt war. Ansonsten teilen wir natürlich die Position dieser Gefährten und Gefährtinnen.

Ein weiteres deutliches Beispiel für die geringe Fähigkeit der bourgeoisen Opposition (in diesem Fall der pro-Pahlavi-Fraktion), die Bewegung zu kanalisieren, ist der weit verbreitete Ruf „Tod den Unterdrückern, sei es der Schah oder der Ayatollah“. Aus den uns vorliegenden Berichten und den im Internet kursierenden Videos von den Demonstrationen geht hervor, dass dies nicht nur eine Position der militanten Minderheit in der Bewegung ist, sondern von einem Großteil der Bewegung geteilt wird – von den Demonstranten auf den Straßen und in den Schulen von Teheran bis hin zu den streikenden Arbeitern und Arbeiterinnen in der Landwirtschaft.

Die Streiks der Arbeiterinnen und Arbeiter waren eigentlich von Anfang an Teil der Bewegung und betrafen viele Sektoren, von der Öl- und Gasproduktion (die für die iranische Ökonomie am wichtigsten ist) bis zur Zuckerproduktion (einschließlich der militanten Arbeiterinnen und Arbeiter der Zuckerfabrik Haft Tapeh) sowie Schulen und Universitäten. Auch die Lastwagenfahrer streikten und blockierten mit ihren Lastwagen die Autobahnen, um den Warenverkehr lahm zu legen. Die Taktik der Straßenblockade wurde auch von den Massen der Arbeiterinnen und Arbeiter aus verschiedenen Arten von informellen Arbeitsverhältnissen und von Arbeitslosen immer wieder angewandt.

In der Tat ging die Streikbewegung den Protesten nach dem Tod von Mahsa voraus und wird seit Jahren mit unterschiedlicher Intensität und Reichweite fortgesetzt. Der qualitative Unterschied liegt jedoch in der bewussten und praktischen Annäherung der Kämpfe auf der Straße und am Arbeitsplatz. Die Arbeiterinnen und Arbeiter in der Zucker- und Ölindustrie streikten dieses Mal als Ausdruck des Klassenzorns nach der Ermordung von Mahsa und in Solidarität mit den verhafteten Demonstranten und den radikalen Studenten, die die Teheraner Universität besetzten. Die streikenden Arbeiterinnen und Arbeiter der Ölindustrie schicken ihre Delegationen, um an den Straßenprotesten und Ausschreitungen teilzunehmen, während die Studentinnen und Studenten und andere Demonstranten die besetzten Arbeitsplätze besuchen. Diese Art von militanten Verbindungen entwickeln sich organisch und sind stärker als bei den proletarischen Massenbewegungen der letzten Jahre.

Ungeachtet dessen müssen wir zugeben, dass nach den uns vorliegenden Informationen der jüngste Umbruch im Iran eine dominante Form einer Straßenprotestbewegung beibehalten hat. Die Proteste waren massiv und gewalttätig und waren oft in der Lage, die Straßen und Plätze vollständig zu kontrollieren und die iranische Bourgeoisie und ihre Wachhunde um ihr Leben fürchten zu lassen. Die Ökonomie wurde in Mitleidenschaft gezogen, aber bei weitem nicht völlig lahm gelegt. Die Streiks waren zahlreich und konfrontativ, aber nicht weit genug verbreitet, um die Produktion vollständig zum Stillstand zu bringen. Außerdem wurden zwar einige Arbeitsplätze besetzt, aber die Frage der Enteignung der Produktionsmittel und ihrer Umwidmung für die Bedürfnisse des Kampfes wurde nicht praktisch durchgesetzt.

Auch der Repressionsapparat des Staates hat mit einigen Befehlsverweigerungen und Desertionen von Berufssoldaten Risse bekommen. Es gibt sogar Berichte darüber, dass einige Mitglieder der Basij-Miliz die Seiten gewechselt haben. Insgesamt waren die Auswirkungen der revolutionären Agitation und der Verbrüderung nicht stark genug, um die Fähigkeit des Staates zur Niederschlagung der Bewegung zu beeinträchtigen, wie das darauf folgende Blutbad zeigt.

Der iranische Staat hat alle seine Kräfte mobilisiert, um die Rebellion niederzuschlagen. Polizei, Religionspolizei, IRGC, Basij, Armee und bis an die Zähne bewaffnete Gruppen loyaler Bastarde in gepanzerten Fahrzeugen fegten durch die proletarischen Viertel, schossen und töteten bei nächtlichen Razzien links und rechts, die Tore der besetzten Universitäten und Fabriken wurden mit Sprengstoff in die Luft gesprengt, um die Insassen zu verhaften, die Repressionskräfte verhafteten und verprügelten brutal die Verwandten der bekannten Organisatoren des Kampfes, sie vergifteten Hunderte von Schulmädchen als Rache für ihre Auflehnung. Tausende wurden ermordet, einige von ihnen öffentlich hingerichtet – Zehntausende wurden ins Gefängnis gesteckt und grausam gefoltert. Gleichzeitig wurden die Kommunikationsmittel stark eingeschränkt – an vielen Orten im Iran waren die Mobilfunknetze und das Internet blockiert.

Und wie immer hat der Staat eine Propagandaoffensive gestartet und unsere Klasse als „Terroristen“, „Abtrünnige“ und „ausländische Agenten“ bezeichnet. Wie immer besteht ihr ganzes Bemühen darin, die falschen Gemeinschaften der Nation und der Religion zu reproduzieren, um die Existenz der gegensätzlichen Klasseninteressen zwischen Proletariat und Bourgeoisie zu leugnen. Sie versprechen „Reformen“ und „bessere Verwaltung“ und „Wohlwollen“ im Austausch für die disziplinierte Rückkehr der proletarischen Massen von den Straßen in ihre individuellen Wohnungen, individuellen Arbeitsplätze, individuellen Familien. Akzeptiert euer atomisiertes und entfremdetes Dasein der gehorsamen Arbeiterinnen und Arbeiter und Staatsbürger!

Aufgrund von Erschöpfung und brutaler Niederschlagung befindet sich der Klassenaufstand im Iran nun in der Abschwungphase, ist aber noch nicht besiegt. Noch im Juni 2023 gingen die Auseinandersetzungen zwischen den Aufständischen und den Repressionskräften weiter, wenn auch nur sporadisch. Wir gehen davon aus, dass das Land erneut an der Spitze des weltweiten Kampfes unserer Klasse stehen wird.

Der Iran (und die Region „Naher Osten“ im Allgemeinen) ist seit Jahrzehnten die Speerspitze der weltweiten proletarischen Bewegung, und wir haben die Zyklen der unglaublich brutalen Gewalt des Staates gegen ihn und die unerbittlichen Propagandakampagnen in der Vergangenheit oft erlebt. Dennoch gelang es nicht, die Explosion so vieler proletarischer Rebellionen zu verhindern – vom Aufstand im Irak 1991 (siehe unser Bulletin Nr. 3) über den „Arabischen Frühling“ mit Höhepunkten in Ägypten und Tunesien (siehe die Sonderausgabe unseres Bulletins) bis hin zu den „Gezi-Protesten“ in der Türkei und den wiederkehrenden Bewegungen in den Gebieten des Libanon, des Iran und des Irak im letzten Jahrzehnt (siehe unsere Bulletins Nr. 11 und 14).

Wir haben festgestellt, dass die Tendenz dieser Kämpfe (weltweit, aber der „Nahe Osten“ ist in diesem Sinne wieder einmal die Avantgarde) ihr wiederkehrender Charakter und ihre Kontinuität ist, wobei der Funke, der den Aufstand auslöst, ein unmittelbarer Anlass sein kann, aber die Klassenkonfrontationen nie nur in der in sich geschlossenen Blase des Augenblicks stattfinden. Oft läuft die Streikbewegung parallel und zwischen den großen Explosionen, und die vorangegangenen Bewegungen werden von einer großen radikalen Minderheit bewusst referenziert, analysiert und Lehren daraus gezogen. Mit anderen Worten, es gibt eine gewisse militante Kontinuität.

Wir bestehen immer darauf, dass der beste Weg, den Klassenkampf im anderen Teil der Welt zu unterstützen, darin besteht, sich zu erheben und gegen unsere eigene Ausbeutung in „unseren“ Ländern zu kämpfen, d.h. dort, wo der Wert direkt aus unserer eigenen Arbeit gewonnen wird, und „unsere“ Bourgeoisie und ihren Staat dort anzugreifen, wo ihre Gewalt und ideologische Herrschaft uns direkt betrifft.

Dies gilt insbesondere in der Zeit, in der wir leben, der Zeit der zunehmenden Polarisierung der globalen bourgeoisen Fraktionen in gegensätzliche ökonomische, politische und militärische Superblöcke. Wir müssen unsere Arbeitskraft aus der kapitalistischen (ideologischen und/oder militärischen) Befriedungsmaschinerie herausnehmen, die bereit ist, überall auf der Welt, wo das Proletariat sein Haupt erhebt, „Frieden und Demokratie zu bringen“. In der Tat, wir müssen sie angreifen und anprangern! Die iranische Armee und die IRGC sind über verschiedene Stellvertreter in die verschiedenen militärischen Konflikte im „Nahen Osten“ verwickelt (wir haben dies und die damit verbundenen ökonomischen Interessen in unseren früheren Texten über den Iran kurz erörtert) und sind jetzt auch auf der Seite Russlands in den Konflikt in der Ukraine verwickelt. Die iranischen Söldner und „Berater“ sind auf den ukrainischen Schlachtfeldern und iranische Killerdrohnen bombardieren ukrainische Städte.

Nur der koordinierte Klassenwiderstand sowohl an der militärischen Front in Form von Befehlsverweigerung, Desertion, Zersplitterung und Meuterei als auch an der Heimatfront in Form von Streiks, Ausschreitungen und Blockaden – mit besonderem Augenmerk darauf, die Waffenproduktion und -lieferung an die Front zu stoppen, die Truppen nach Hause zu bringen und den Angriff auf die Lebensbedingungen des Proletariats in der Ökonomie des Krieges abzulehnen – kann die Grausamkeit des kapitalistischen Krieges aufhalten. Aber nicht zugunsten des kapitalistischen Friedens, der nichts anderes ist als ein ewiges Interbellum, d.h. eine Periode der Vorbereitung auf den nächsten Zyklus des militärischen Gemetzels und an sich eine Fortsetzung des Klassenkrieges gegen unsere Klasse. Sowohl dem kapitalistischen Krieg als auch dem kapitalistischen Frieden müssen wir die revolutionären defätistischen Positionen gegen alle bourgeoisen Lager entgegensetzen und ihn in einen globalen Klassenkrieg verwandeln!

Wir rufen auch zur internationalen proletarischen Solidarität mit unseren Klassenbrüdern und -schwestern im Iran auf.

Wir können ihnen helfen, indem wir die Interessen und Vertreter des iranischen Staates (sowohl des Regimes als auch der Opposition) an den Orten angreifen, an denen wir leben. Machen wir das Leben der gegenwärtigen und vergangenen (und potenziell zukünftigen) Schlächter des Proletariats im Iran zur Hölle!

Diejenigen von uns, die in den geographisch nahe gelegenen Regionen leben, müssen die Aufgabe übernehmen, die proletarischen Militanten aus dem Iran vor der schrecklichen staatlichen Repression, der sie ausgesetzt sind, zu schützen, ihnen zu helfen, sich neu zu gruppieren und sie materiell zu unterstützen (so wie es viele Klassenmilitante auf dem Gebiet des Irak versuchen).

Die wichtigste Aufgabe der militanten Klassen im Rest der Welt ist es, den proletarischen Charakter der Bewegung im Iran zu verdeutlichen und gegen alle Arten von bourgeoisen Verfälschungen zu verteidigen und dabei zu helfen, die Materialien der kommunistischen Kollektive aus dem Iran zu verbreiten, wie z.B. die Gefährten und Gefährtinnen der Antikapitalistischen Arbeiterinnen und Arbeiter des Iran, um mit ihnen in einer globalen Kampfgemeinschaft zu diskutieren und zu organisieren.

Unser Ziel als Kommunistinnen und Kommunisten ist die totale Zerstörung des Kapitalismus und seines Staates und seine Ablösung durch die klassenlose menschliche Gemeinschaft durch die globale kommunistische Revolution. Natürlich ist der jüngste Klassenaufstand im Iran an sich – sowohl geographisch auf ein einziges Staatsgebiet beschränkt als auch in der Tiefe seines Bruchs mit der Gesamtheit der kapitalistischen Realität – nichts dergleichen. Nichtsdestotrotz betrachten wir ihn nicht nur als einen der wichtigsten Ausdrucksformen des Klassenkampfes in unserem bisherigen Leben, sondern wir möchten darauf bestehen, dass wir ihn als integralen Bestandteil der historischen Bewegung des Proletariats gegen seine Ausbeutung betrachten. In der Tat ebnet jeder Ausdruck unserer Klasse, selbst ein partieller und vorübergehender, der auf die Zerstörung der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse abzielt, bewusst, aber häufiger unbewusst, den Weg zum Kommunismus durch seine Praxis, seine Lektionen und Fehler, durch seine Siege und Niederlagen, durch seine Wiederaneignung des revolutionären Programms.

Um die Revolution zu ermöglichen, müssen sich die Klassenkonfrontationen wie im Iran, aber noch tiefgreifender, überall auf der Welt entwickeln. In Anbetracht der Realität der Vorbereitungsphase des neuen Weltkrieges und der ökologischen Katastrophe, in der wir leben, ist dies vielleicht die einzige Möglichkeit für die Menschheit zu überleben.

Revolution oder Tod!!!


Gegen das Kapital – Anticapitalist Workers‘ Tribune

(Zitate)

[…] Trotz der massiven Straßendemonstrationen in diesen Monaten sieht das kapitalistische islamische Regime die wirkliche Gefahr nicht in den massiven Straßendemonstrationen oder der Kontroverse einzelner oppositioneller Kreise, sondern in der Existenz der Arbeiterklasse, die den Kreislauf der Arbeit und der Kapitalproduktion antreibt. Solange diese Arbeiterklasse ihre Klassenmacht nicht ausübt und solange sich der Kreislauf der Kapitalproduktion dreht, hat die Bourgeoisie von keiner Kraft etwas zu befürchten. Das Regime hat über diese Frage genug nachgedacht und sie zur Grundlage seiner Aktionen gemacht, deshalb hat das islamische Regime die aktuelle Bewegung als verwundbar eingestuft und der Angriff auf sie ist die einzige Lösung. All dies ist ein Beweis dafür, dass die Islamische Republik Hinrichtungen mit unbeschreiblicher Grausamkeit fortsetzt […]. Hat der aktuelle Aufstand eine Möglichkeit, die Tötungsmaschine der Islamischen Republik zu stoppen?

Die obige Erklärung enthält eine klare Antwort auf diese Frage. Und zwar, dass nur der breite und landesweite Eintritt der arbeitenden Massen in das Feld des Klassenkampfes in der Lage ist, diese Rolle zu spielen. Die wichtigere, grundlegendere und verhängnisvollere Frage ist: Wenn die Arbeiterinnen und Arbeiter dies tun, aber wie und mit welchem Klassenhorizont? Mit welcher Anordnung der organisierten Klassenkräfte und mit welchem Ansatz werden sie das weite Feld des Klassenkampfes betreten? Es liegt auf der Hand, dass ihr erster Schritt darin bestehen muss, den Arbeitszyklus und die Kapitalproduktion auf breiter und landesweiter Ebene zu stoppen. Die Arbeiterklasse hat dies in der Geschichte schon oft getan, aber nicht für ihre eigenen Klassenforderungen, nicht aus eigenem Willen, nicht mit der eigenen radikalen Klassenstrategie und Herangehensweise, sondern im Auftrag dieser oder jener bourgeoisen Opposition, dieser oder jener nach politischer Macht strebenden Partei, dieser oder jener bourgeoisen Mafia, die den bisherigen Verlauf der Situation bestimmt haben. Aber dieses Mal kann die Arbeiterbewegung das Fundament der Vergangenheit umstürzen und mit einem neuen Plan und einem starken Klassenwillen und einer Entschlossenheit gegen den Kapitalismus ins Feld ziehen. Die Arbeiterklasse ist in der Lage, die islamische Bourgeoisie zu zwingen, alle Gefangenen bedingungslos freizulassen, indem sie auf die Schließung des Kreislaufs von Arbeit und Produktion zurückgreift. Aber das Verharren auf demselben Niveau der Forderungen, einschließlich der Freilassung aller politischen Gefangenen, ist nicht das Ende dieses Klassenkampfes. Die Arbeiterklasse muss den Prozess der Wiederholung des historischen Scheiterns überwinden und die bourgeoise Hinrichtungs- und Massakermaschinerie für immer stoppen, indem sie sich auf den landesweiten Streik stützt. Denn dies ist ein kleiner Schritt in Richtung Machtausübung und Durchsetzung ihres antikapitalistischen Klassenwillens gegen das herrschende Regime des Kapitals, und der nächste Schritt kann darin bestehen, sich so weit wie möglich darauf vorzubereiten, mehr Klassenmacht auszuüben. Dutzende Millionen rebellischer und protestierender Arbeiterinnen und Arbeiter […] können ihren Aufstand und ihren landesweiten Streik in eine organisierte antikapitalistische Räte-Macht verwandeln. Die Arbeiterklasse mit dieser Macht und dem Ausmaß ihrer Formierung und Organisierung sollte den Weg der Eroberung von Arbeits- und Produktionszentren einschlagen und auf diese Weise die Pläne und Ansätze jeglicher Art von linken oder rechten bourgeoisen Oppositionen marginalisieren. Durch diese radikale Herangehensweise muss der Weg der Übernahme des Arbeitsergebnisses und der Produktion nachfolgender Generationen der Arbeiterklasse aus den Händen der Kapitalistenklasse verwirklicht werden. All dies kann verwirklicht werden und ist der einzige wirkliche Weg, um alle Hinrichtungen durch das islamische Regime zu stoppen.

Sich auf die Lösungen von Regierungen und kapitalistischen Institutionen zu verlassen, eine Handvoll profitgieriger Demagogen zuzulassen und um ihre Unterstützung zu betteln, ist nicht nur kein Heilmittel für den Schmerz, sondern vergiftet und pervertiert die Macht unseres bestimmenden Schicksals.

# Nur die Macht der Klasseneinheit der Arbeiterinnen und Arbeiter ist in der Lage, die Hinrichtungsmaschine des islamischen Kapitalregimes zu stoppen – Dezember 2022

Wenn einige Arbeiterinnen und Arbeiter im Iran, vor allem diejenigen, die behaupten, Pioniere des Kampfes der arbeitenden Massen zu sein, sich über die Unterstützung der Anführer britischer und deutscher, französischer, italienischer und skandinavischer Gewerkschaften/Syndikate für „gewerkschaftliche/syndikalistische Rechte“ der iranischen Arbeiterklasse aufregen, bleibt keine andere Wahl als zu sagen, dass die Geschichte rückwärts gegangen ist!!! Natürlich hat dieses Wort einen emotionalen Aspekt, aber sein irdischer, materieller und klassenmäßiger Ausdruck und seine Bedeutung ist, dass die bezaubernde Macht des Kapitals bei der Gehirnwäsche der Menschen millionenfach stärker ist als frühere Gesellschaftssysteme. Erst nach der schrecklichen und verbrecherischen Bombardierung Vietnams durch das räuberische US-Militär sahen sich nur eine Handvoll dieser Gewerkschafts- und Syndikatsanführer unter dem starken Druck der Arbeiterinnen und Arbeiter und der öffentlichen Meinung gezwungen, ihre Stimme zu erheben. Zu keinem anderen Zeitpunkt hat man ihre Stimme zur Unterstützung der Arbeiterinnen und Arbeiter in der ganzen Welt gehört. Während der Auseinandersetzungen zwischen den kapitalistischen Staaten und den militärischen Konflikten haben die Anführer der Gewerkschaften/Syndikate, die zweifellos Verbündete des kapitalistischen Staates ihres eigenen Landes sind, immer darauf hingearbeitet, einen Teil der Bourgeoisie gegen einen anderen Teil in anderen Ländern zu stärken. Die politischen Entscheidungsträger, Planer und Anführer der Gewerkschaften/Syndikate sind Teil der Kapitalistenklasse der Länder und vertreten die Bourgeoisie in der Arbeiterbewegung und haben einen bedeutenden und unbestreitbaren Anteil am Eigentum und an der Macht sowie an den Profiten des Kapitals in den größten Konzernen. Die Anführer der Gewerkschaften/Syndikate und die Reformisten, die der Arbeiterbewegung aufgezwungen werden, sind mitschuldig an der brutalen Ausbeutung der arbeitenden Massen der Welt und sind auch ein wichtiger Teil der bourgeoisen politischen Machtstruktur und des kapitalistischen Staates. Jede Politik und Entscheidung, die sie treffen, zielt darauf ab, die Arbeiterbewegung aufzulösen und in die menschenfeindliche Ordnung des Kapitals zu integrieren und jeden antikapitalistischen Protest der Arbeiterklasse auf dem Friedhof des Kapitalismus zu begraben. Die Gewerkschaften/Syndikate haben niemals, weder während des anhaltenden Blutbads und der Folter durch das königliche Regime des Kapitalismus noch während der Etablierung der grausamen islamischen Bourgeoisie, die Kämpfe der Arbeitermassen im Iran nicht unterstützt und nicht einmal irgendeine Form der Klassensolidarität mit den iranischen Arbeiterinnen und Arbeitern gezeigt. Bei dem Blutbad und der Ermordung der politischen Gefangenen im Jahr 1989, dem Massaker an siebentausend Freiheitskämpfern durch die islamischen Herrscher des Kapitals, war trotz der großen Anstrengungen der linken Kräfte im Exil keine dieser Gewerkschaften/Syndikate und ihre Anführer bereit, irgendeine Zeile des Protestes gegen diesen Genozid zu schreiben. Sie haben einfach geschwiegen und sich nicht darum gekümmert. Bei dem massiven Aufstand der Arbeiterinnen und Arbeiter und der Werktätigen im Januar 2018 schwiegen diese Gewerkschaften/Syndikate mit ihren Anführern und forderten nicht einmal die Arbeiterinnen und Arbeiter auf, 30 Sekunden lang einen Protestruf zur Solidarität und Unterstützung der iranischen Arbeiterbewegung zu erheben. Sie wiederholten und zeigten die gleiche schamlose Reaktion auf den glorreichen Aufstand der iranischen Arbeiterinnen und Arbeiter im November 2020. Das haben sie immer, überall und zu jeder Zeit getan. Die Geschichte erinnert sich nicht daran, dass diese Gewerkschaften/Syndikate und ihre Anführer unter dem Titel der Solidarität mit den Kämpfen der Arbeiterinnen und Arbeiter dieses oder jenes Landes auch nur gefordert haben, das kapitalistische Produktionsrad für ein paar Sekunden anzuhalten. Das Produktionsrad anzuhalten!! Ganz und gar nicht!! Sie haben auch nirgendwo einen Aufruf zu einem mehrminütigen Straßenprotest veröffentlicht.

Die ganze schändliche Geschichte schreit eine Tatsache heraus. Wenn heute die Chefs der Gewerkschaften/Syndikate, diese Verteidiger der Interessen der Bourgeoisie in der Arbeiterbewegung in England, Deutschland und Frankreich oder sonst wo, einen Aufruf zur Unterstützung der „Rechte der arbeitenden Massen des Iran“ machen!!! Wenn sie die Arbeiterinnen und Arbeiter ihres Landes auffordern, sich auf einen Marsch zu den Parlamenten vorzubereiten!!! Das hat nur eine Bedeutung! Und zwar diese eindeutige irdische und materielle Bedeutung, dass die Gewerkschaften/Syndikate, als untrennbare Teile der bourgeoisen Ordnungs- und Koordinationsmaschine, das tun, was der eigene bourgeoise Staat will. In der Tat besteht ihre Aufgabe darin, die Arbeiterklasse zu opfern und die Macht der Arbeiterinnen und Arbeiter zu unterjochen, um einem Teil der Bourgeoisie gegen einen anderen Teil zu dienen und ihn zu stärken, und auch die Verteidigung und Stärkung eines Pols des Kapitalismus gegen einen anderen Pol und die Konsolidierung der Position und der Grundlagen der Herrschaft einer Partei, und zwar von einem Pol der Bourgeoisie gegen eine Partei, ein Regime und einen anderen Pol. Das Gleiche haben sie in Polen, in Lateinamerika und überall sonst getan. Es gibt nur wenige amerikanische Putsche, die ohne die Hilfe von Gewerkschafts-, Syndiaktsanführern gewonnen wurden.

Wenn diese Gewerkschaften/Syndikate und ihre Anführer heute die Fahne der Unterstützung der „Rechte der iranischen Arbeiterinnen und Arbeiter“ hochhalten, ist das nichts weiter als eine trügerische Lüge. Denn sie spielen die Rolle der Unterstützung des Staates der Kapitalisten und haben den Auftrag, das Lohnsklavereisystem zu verteidigen. Die derzeitige Rolle der Gewerkschaften/Syndikate, wie auch anderer kapitalistischer Institutionen, besteht darin, ein Werkzeug wie andere Druckmittel des kapitalistischen Staates Amerika und seiner westlichen Verbündeten gegen das islamische Regime des Kapitals zu werden, so wie der Royalist Reza Pahlavi und andere rechte politische Hebel eine ähnliche Rolle spielen. Der Unterschied zwischen den erstgenannten und der Rolle der letzteren ist nur einer. Die Gewerkschaften/Syndikate verrichten wie andere kapitalistische Institutionen ihre übliche und routinemäßige Arbeit, die letzteren riechen nach Grill, haben aber die Tatsachen falsch verstanden. Während der westliche Block des Kapitalismus trotz all seiner historischen Klassensäuberung die günstigen und ungünstigen Alternativen nie aus den Augen verloren hat, weiß er sehr wohl, dass exhumierte Leute wie der Royalist „Reza Pahlavi“ und andere wie sie nicht die Fähigkeit haben, eine Alternative zu werden. Ihre ganze Fähigkeit und Bedeutung besteht darin, ein Druckmittel zu werden. Indem sie Druck ausüben, um die Islamische Republik zur Vernunft zu bringen und sie davon zu überzeugen, sich dem westlichen Block anzuschließen. Kurz gesagt, was die Gewerkschaften/Syndikate getan haben und immer noch tun, hat nichts mit irgendeiner Form von Unterstützung für die „Rechte“ und Kämpfe der iranischen Arbeiterinnen und Arbeiter zu tun, denn es gibt nichts anderes, als ihre Pflicht in den aktuellen Konflikten zwischen den Grausamkeiten der Staaten der Bourgeoisie, für oder gegen diese oder jene Regierung zu tun. Es ist eine Katastrophe, wenn ein iranischer Arbeiter und eine iranische Arbeiterin in die Falle dieser Demagogen tappt. Die iranischen Arbeiterinnen und Arbeiter müssen ihre eigene antikapitalistische Klassenmacht erkennen, diese Klassenmacht organisieren und gegen den Kapitalismus einsetzen.

Lasst uns einen Punkt mit den Massen von Arbeiterinnen und Arbeitern in Europa oder anderswo teilen. Wir respektieren ihren Sinn für Solidarität, aber es ist bedauerlich, dass diese Solidarität den ruchlosen Zielen der Gewerkschaften/Syndikate und ihrer korrupten und selbstverliebten Anführer dient. Wenn die Arbeiterinnen und Arbeiter Europas einen festen Willen zur Klassensolidarität haben, sollten sie diese Unterstützung und Solidarität neben dem glorreichen Banner des gewerkschaftlichen/syndikalistischen Internationalismus und seinem antikapitalistischen Ziel zeigen. Aus Protest gegen die Inhaftierung, Folterung und Ermordung von Arbeiterinnen und Arbeitern im Iran, aus Solidarität mit dem Klassenkampf der iranischen Arbeitermassen, sollte die europäische Arbeiterklasse das Rad der Profiterzeugung des Kapitalismus in ihren eigenen Ländern zum Stillstand bringen und auf diese Weise die politische ökonomische Ordnung des Kapitalismus stören. Hätten sie so gehandelt, hätten sie sicherlich ein neues Kapitel der Klassenpflicht zur Befreiung der Menschheit gegenüber den gesamten Arbeiterinnen und Arbeitern der Welt aufgeschlagen.

Dass sie das nicht tun, ist erbärmlich und der radikalsten Kritik würdig.

# Ein paar kritische Worte zur Verteidigung der „Rechte“ der iranischen Arbeiterklasse durch die europäischen Gewerkschaften/Syndikate – 9. Februar 2023

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Der Betrug des „revolutionären Syndikalismus“ https://panopticon.blackblogs.org/2023/08/25/der-betrug-des-revolutionaeren-syndikalismus/ Fri, 25 Aug 2023 09:21:46 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5147 Continue reading ]]>

Aus dem Spanischen von uns übersetzt. Hier ein weiterer Text von Anarchistinnen und Anarchisten die den Syndikalismus/Gewerkschaftswesen kritisieren. Wenn auch sehr auf die iberische Realität geschneidert, sind Kritiken inne die der Kritik am Syndikalismus/Gewerkschaftswesen inhärent sind. Die Kritiken richten sich vor allem gegen die CNT und die CGT, dabei sind viele der Beispiele zwar nicht mehr aktuell, haben aber an ihrer Gültigkeit nichts verloren, weil sie auch die Ursache für die Konflikte waren die unter anderem zu diesen Kritiken geführt haben.


Der Betrug des „revolutionären Syndikalismus“1.

Über, wie alle Gewerkschaften/Syndikate versuchen, die bestehende Ordnung zu erhalten, indem sie sie schminken.

Der historische Sinn des Syndikalismus/Gewerkschaftswesen

Der Ursprung der Gewerkschaften/Syndikate geht auf die Zeit zurück, als der Kapitalismus seine Expansion begann. Sie wurden notwendig, um die Arbeits- und Überlebensbedingungen innerhalb des Systems erträglich zu machen. Es stimmt zwar, dass es nicht die Kapitalistenklasse war, die die Gewerkschaften/Syndikate ins Leben rief (und sie anfangs auch nicht direkt förderte), aber die Bourgeoisie selbst erkannte und respektierte schließlich ihre Rolle, da sie die proletarische Gewalt kanalisierte und in eine Vielzahl von isolierten Kämpfen zerstreute und so die Gefahr unkontrollierbarer Explosionen vermied.

Mit der hohen Technologisierung und Bürokratisierung der kapitalistischen Gesellschaften wird jede Gewerkschaft/Syndikat, trotz ihrer Demagogie, zu einem spezifischen Instrument der Integration der Ausgebeuteten in das kapitalistische System. Sie wird nie ein Instrument des Bruchs sein, da sie die Anerkennung der Staatsmacht und Verhandlungen mit den Bossen als Ende eines jeden Konflikts erwartet. Später, wenn wir konkrete Beispiele für gewerkschaftliche/syndikalistische Kämpfe anführen, werden wir besser erklären, warum der Syndikalismus/ Gewerkschaftswesen in der Theorie und in der Praxis die ökonomische und soziale Ordnung, die uns beherrscht, nur akzeptieren und legitimieren kann.

Es sei auch darauf hingewiesen, dass der Syndikalismus/ Gewerkschaftswesen vor allem in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg eine sehr wichtige Rolle gespielt hat. Ab den 1950er Jahren verstanden die europäischen Kapitalisten besser denn je, dass eine regelmäßige Erhöhung des Lebensstandards der Arbeiterinnen und Arbeiter eine Grundvoraussetzung für das Funktionieren des Systems ist, denn ohne eine kontinuierliche Ausweitung des Marktes für Konsumwaren kann es keine kapitalistische Expansion geben, wie wir sie kennen. Es ist auch klar, dass die Steigerung der Kaufkraft der Massen zu einer Vergrößerung des Binnenmarktes, zur Erreichung des lang erträumten „sozialen Friedens“ und zu einer Steigerung der Profite des Kapitals führte.

Im Jahr 1895 sagte jemand: „Was ist eine Gewerkschaft/Syndikat? Eine Gruppierung, in der sich die Verrohten nach Berufen zusammenschließen, um zu versuchen, die Beziehungen zwischen Bossen und Arbeitenden (A.d.Ü., Arbeiterinnen und Arbeiter) weniger unerträglich zu machen. Entweder gelingt es ihnen nicht, dann ist die gewerkschaftliche/syndikalistische Aufgabe nutzlos, oder sie haben Erfolg, dann ist die gewerkschaftliche/syndikalistische Aufgabe schädlich, denn eine Gruppe von Menschen hat ihre gegenwärtige Situation weniger unerträglich gemacht und damit die gegenwärtige Gesellschaft am Leben erhalten“. Mitte 2005 können wir ganz klar sagen, dass der historische Sinn des Syndikalismus/ Gewerkschaftswesen darin bestand, die Kontrolle einer möglichen proletarischen Revolte außerhalb der offiziellen Strukturen, d.h. autonom (auf Griechisch: sich einen eigenen Namen geben), sicherzustellen. Der Syndikalismus/Gewerkschaftswesen hat in der Vergangenheit das Streben der Ausgebeuteten nach einer klassenlosen Gesellschaft (ohne Ausgebeutete und Ausbeuter, ohne Chefs und Leibeigene) im Keim erstickt. Man kann also sagen, dass sie eine grundlegende Waffe der mächtigen Klassen war, um das herrschende soziale und ökonomische System aufrechtzuerhalten.

Demaskieren wir alle Arten des Syndikalismus/Gewerkschaftswesen

Die syndikalistische/gewerkschaftliche Mafia

Analysieren wir zunächst kurz die syndikalistische Logik in ihrer mafiösen und reaktionären Form.

Ohne zu sehr auf das mehr als groteske Spektakel der CCOO oder UGT (und anderer lokalistischer Nebenprodukte wie der ELA in Euskadi, der CIG in Galicien oder der SOC in Andalusien) einzugehen, zeigt die Realität, dass diese beiden „Mehrheitsgewerkschaften-, syndikate“ (man muss dazu sagen, dass der Organisationsgrad der ausgebeuteten Klasse in Spanien nicht einmal 10 % erreicht) – zusammen mit dem Kapital – am meisten für die beklagenswerten Lebensbedingungen derjenigen unter uns verantwortlich sind, die sich verkaufen müssen, um zu überleben. Sie sind es, die schändliche Pakte mit der Mafia der Bosse schließen. Sie sind diejenigen, die die Kämpfe der Arbeiter anführen und sie unterdrücken, wenn sie außer Kontrolle geraten (denk an die Kämpfe der Sintel-Arbeiter, als Fidalgo – der Anführer der CCOO – von einem verzweifelten Arbeiter eine saftige Abmahnung in Form eines Schlags auf den Kopf erhielt, oder an den Konflikt in Puerto Llano, als die Unzufriedenheit der Proletarier mit dem Unternehmen und den Gewerkschaften/Syndikaten Méndez dazu zwang, die Stadt unter Geleitschutz zu verlassen). Sie sind es auch, die uns mit Ausbildungskursen täuschen, die dann nicht in die Praxis umgesetzt werden (erinnere dich an den Fall der FORCEM-Kurse) oder die direkt stehlen (erinnere dich an die Betrügereien in der Firma Citibank, bei denen CCOO und UGT laut einem Gerichtsurteil 650.000 Euro als Gegenleistung für die Genehmigung eines wunderbaren Personalabbaus verlangten). Die Liste ließe sich fortsetzen, aber sie wäre endlos.

Dazu müssen wir natürlich sagen, dass wir nicht gegen die Ausgebeuteten sind, die sich von der Gewerkschafts-, Syndikatsbürokratie hinters Licht führen lassen. Wenn wir diesen Arbeiterinnen und Arbeitern laut sagen, dass sie sich nicht unterdrücken und kontrollieren lassen sollten und, warum nicht, dass sie ihre Gewerkschaft-, Syndikatssausweise zerreißen und sich selbst organisieren sollten, ohne dass eine syndikalistische/gewerkschaftliche Polizei2 ihnen sagt, wann sie eine Vollversammlung oder einen Streik einzuberufen haben. Und wir sagen das nicht, um uns eine goldene Nase zu verdienen oder um einer verkommenen Ideologie Gehör zu verschaffen. Wir tun es, weil auch wir ausgebeutet und unterdrückt werden und weil wir wissen, dass Agitation, Angriffe und Propaganda für andere ausgebeutete Menschen von grundlegender Bedeutung sind, um sich ebenfalls der kapitalistischen Ausbeutung entgegenzustellen, aber auf organisierte, bewusste und autonome Art und Weise.

Was wir für einen Betrug halten, ist der Versuch einiger, diese mafiösen Gewerkschaften/Syndikate zu reformieren. Und das sagen wir laut zu den „alternativen“ Anführern des kritischen Sektors (? ) der CCOO, der messianischen Führung des Sindicato de Obreros del Campo (einer andalusischen Gewerkschaft/Syndikat, die zwar den Anschein von Kampfbereitschaft aufrechterhält, den CCOO oder UGT in den ländlichen Gebieten nicht aufrechterhalten, den Kampf aber immer in legalen, reformistischen Begriffen und mit der sakrosankten Erlaubnis ihrer Anführer Cañamero und Sánchez Gordillo, Erlöser des unterdrückten andalusischen Volkes und mit dem IU-Apparat verbunden, darstellt) und anderen, noch minoritäreren Gewerkschaften/Syndikate, die uns ebenfalls die „andere Gewerkschaft/Syndikat“ verkaufen, wie Solidaridad Obrera (eine Abspaltung von der Confederación General del Trabajo), das Colectivo Autónomo de Trabajadores (ein attraktives Akronym, hinter dem sich eine andere Gewerkschaft/Syndikat verbirgt, die als solche dem Kapital gehorcht) oder das mehr als beleidigende Sindicato de Estudiantes, das saftige staatliche Subventionen genießt, mit seinen Mitstreitern von El Militante eine „linke PSOE-IU“-Regierung fordert (? ) und die niemals einen Vers des heiligen Trotzki in einem ihrer Kommuniqués vergessen hat.

Der Betrug des „revolutionären Gewerkschaft-, Syndikatsswesens“.

Die CGT

Die CGT (Confederación General del Trabajo) ist eine von der CNT (Confederación Nacional del Trabajo) abgespaltene Gewerkschaft/Syndikat, die in den 1980er Jahren als Ergebnis verschiedener interner Kämpfe um die Ausgestaltung ihres „revolutionären Syndikalismus“ gegründet wurde. Diese Organisation, die die Unverschämtheit hat, sich selbst als anarchistisch (oder libertär oder wer weiß was) zu bezeichnen, akzeptiert Subventionen vom kapitalistischen Staat, hat bezahlte Mitglieder (A.d.Ü., also Funktionäre), die in Betriebsräten mitarbeiten, und sie zeigt einen Eifer der Anführung in einer Vielzahl von Kämpfen, die sie übernimmt oder die sie auszunutzen versucht, um sich ins Bild zu setzen, den Bossen am Ende des Konflikts die Hand zu schütteln und diejenigen zu kontrollieren, die versuchen, ihren verrotteten Syndikalismus zu überwinden. Beobachte zum Beispiel, wie sie leider die Kämpfe vieler Einwanderer übernehmen, die sie „beraten“ und ihnen „helfen“, damit sie mit einem CGT-Aufkleber in der Zeitung erscheinen können (wir haben Informationen dank eines Gefährten aus Guinea Beweise darüber, dass diese Gewerkschaft/Syndikat einige Einwanderer erpresst hat, indem sie ihnen drohte, dass sie in ihrem Kampf allein dastehen würden, wenn sie nicht ihrer Gewerkschaft/Syndikat beitreten, sollten sie eine unabhängige Vereinigung gründen wollen); es ist auch illustrativ zu sehen, wie sie es schaffen, mit infamen Ankündigungen (besserer Tarifvertrag, mehr Arbeitsplatzsicherheit … als ob all dies, getan durch Verhandlungen, einen qualitativen Sprung in der Zerstörung des Kapitalismus bedeuten würde) ein Streik in der Telemarketing-Branche, der zu nichts führt und den viele Beschäftigte als seltsam empfinden, aufrufen.

Es ist bedauerlich, wenn auch logisch, zu sehen, wie viele getäuschte/betrogene Menschen in verschiedenen Gruppen (d.h. fälschliche bezeichnete) revolutionäre Gruppen, die den Ansätzen des reformistischen Zirkus folgen, ohne die Probleme an der Wurzel zu packen und sich der Mode der Globalisierungsgegner anschließen, die für eine „effektive Steuer gegen spekulative Finanztransaktionen“ (?) und anderen Dummheiten kämpfen, mit der CGT flirten, und zwar so sehr, dass sie sie für ein revolutionäres Kollektiv halten, weil sie als gute Verteidiger der „Zivilgesellschaft“ Geld an die EZLN spendet, den armen Saharauis hilft und, ja, die ausgebeuteten Revolutionäre verurteilt, die es (auch hier im spanischen Staat) wagen, gegen sie vorzugehen und die Konfrontation gegen Staat und Kapital hier und jetzt zu führen. Auf jeden Fall erkennen viele Menschen auch in bestimmten mehr oder weniger politisierten Kreisen, dass diese Gewerkschaft/Syndikat – wie alle anderen auch – eine echte Farce ist, ein reformistischer Schwindel, der nur darauf abzielt, die kapitalistische Ordnung mit „besseren“ Arbeitsbedingungen – und damit Ausbeutung – zu verschönern. Leider gilt das nicht für einen Weggefährten der CGT, denn aus einem Kieselstein kann man keinen Diamanten schleifen: die CNT.

Die CNT

Die Nationale Konföderation der Arbeit wurde 1910 in der unruhigen Stadt Barcelona gegründet. Die CNT, die von Anfang an zwischen Anarchismus und „revolutionärem Syndikalismus“ schwankte, wurde in den 1930er Jahren zu einer mächtigen proletarischen Organisation, die jedoch besser als jede Gewerkschaft bewies, dass alle, absolut alle Gewerkschaften dazu da sind, letztlich die kapitalistische Herrschaft zu sichern. Und das geschah 1936, als der populäre Prozess der Übernahme wichtiger Bereiche der Ökonomie und der Gesellschaft einer vorübergehenden Selbstkontrolle des Lebens und der Politik wich, bis im September desselben Jahres die Elite der CNT und der FAI (Federación Anarquista Ibérica, Schwesterorganisation der CNT3) Teil der Regierung unter dem Vorsitz von Largo Caballero wurde, und der Generalitat, drangen so in den Staat ein, beteiligten sich am Comité de Milicias Antifascistas (A.d.Ü., Komitee der antifaschistischen Milizen) (gegründet von der fortschrittlichen Bourgeoisie) und nahmen nach und nach den Sozialisierungsprozess der Ökonomie auseinander, um gemeinsam mit der PSUC (Partido Socialista Unificado de Cataluña (A.d.Ü., Vereinigte Sozialistische Partei Kataloniens), ein Ableger der PCE in diesem Teil des Staates) und anderen Söldnern dem Versuch der sozialen Revolution endgültig die Kehle zu durchschneiden.

Diese Geschichte, die wir kurz zusammengefasst haben, wird nach wie vor von vielen Mitgliedern der CNT (A.d.Ü., auf Spanisch, ‚Cenetista‘) versteckt, verzerrt oder manipuliert, die nicht zögern, ihre Organisation mit einem goldenen Mantel zu bedecken, damit sie niemand anrührt oder in Frage stellt. Aber lassen wir 36 und die ferne Geschichte hinter uns und konzentrieren wir uns darauf, was die CNT heute versteht und wofür sie steht.

Im 21. Jahrhundert ist die CNT eine Art Halbgott im „alternativen“ Milieu. Jede radikale Kritik an der CNT (d.h. jeder Vorschlag, die CNT als legale, vom Staat anerkannte Gewerkschaft/Syndikat zu zerstören) bedeutet, als „aufständisch/insurrektionalistisch“ gebrandmarkt zu werden (eine anarchosyndikalistische Erfindung gegen jeden, der im Rahmen des Antiautoritarismus Kampfformen fördert, die weit von den erlaubten Halbheiten entfernt sind; die Cenetistas vergessen außerdem, dass dieser Begriff nur ein Etikett ist, dass er absolut nichts definiert und dass vor allem, wenn der Anarchismus oder irgendeine revolutionäre Bewegung nicht aufständisch ist… was ist es dann?), als „Papasöhnchen“ (wenn es da draußen nicht einige Schwachköpfe gäbe, müssten wir das nicht kommentieren, aber es ist wirklich delirierend zu sehen, wie diejenigen, die die CNT kritisieren, nach Meinung einiger Getreuer der drei heiligen Akronyme, die die Bourgeoisie erzittern lassen, nicht arbeiten, nicht ausgebeutet oder geführt werden und deshalb so etwas wie petite bourgeoise Intellektuelle sind), „Eingeschleuste/Spitzel/Undercover Bulle“ (als ob jemand, der sich für Sabotage und bewaffneten Kampf entscheidet, automatisch ein Bulle sein muss) usw. Wir wollen damit nicht sagen, dass dies auf die ganze anarchosyndikalistische Militanz zutrifft; wir sagen auch nicht, dass alle unkritisch sind. Was wir sagen und behaupten, ist, dass die CNT als Organisation, als Struktur, heute ein Problem für die Ausgebeuteten des spanischen Staates als Ganzes ist. Das Problem sind nicht die Militanten, sondern das, was die Organisation letztendlich ist. Wir verstehen, dass die Beispiele ihrer täglichen Aktionen zeigen, was wir verteten.

Zunächst einmal ist es „überraschend“, dass in den gewerkschaftlichen/syndikalistischen Kämpfen, die von dieser Organisation geführt werden, keine revolutionären Proklamationen zu finden sind. Nicht einmal in den Kommuniqués findet sich ein Hinweis auf den abstrakten „libertären Kommunismus“, mit dem sie sich früher rühmte. Es ist symptomatisch zu sehen, wie in bestimmten Konflikten mit Unternehmen (z. B. im Streik der Stewardessen des AVE in Sevilla) reformistische Proklamationen wie „FÜR EINEN WÜRDEVOLLEN TARIFVERTRAG“ (als ob Würde in die kapitalistische Gesellschaft passen würde) oder das bekannte „FÜR EINE ARBEITSVERTEILUNG“ auftauchen (es ist nicht klar, auf welche Art von Arbeit sich das bezieht und in welchem Gesellschaftsmodell das stattfinden soll; in diesem Sinne: Erinnert sich jemand an die berühmte 30-Stunden-Woche, die so etwas bedeuten könnte wie „Wir wollen nur 30 Stunden pro Woche ausgebeutet werden“? ), usw. In diesem Zusammenhang muss auch gesagt werden, dass die cnt (die Zeitung, die die Organisation monatlich herausgibt) jeden Tag mehr und mehr einen sozialdemokratischen Diskurs führt (d.h. letztlich ein Verteidiger des Kapitals ist), was dadurch bewiesen wird, dass sie sogar die Frechheit besitzt, in einigen ihrer Leitartikel von Staatsbürgerschaft zu sprechen, obwohl das Konzept der Staatsbürgerschaft impliziert, dass sich die sozialen Klassen die Hände reichen, dass Ausbeuter und Ausgebeutete in einen Sack gesteckt werden und somit der vielgepriesene „soziale Frieden“ herrscht.

Darüber hinaus gibt es gewerkschaftliche/syndikalistische Praktiken, die an Absurdität grenzen. So hat die CNT (oder zumindest einige ihrer lokalen Sektionen) im Rahmen ihrer Kampagne gegen MERCADONA das Unternehmen sogar vor der Audiencia Nacional verklagt. Für diejenigen, die es nicht wissen: Die Audiencia Nacional wurde als Gericht geschaffen, um das franquistische Tribunal de Orden Público zu ersetzen. Mit anderen Worten, es ist ein Ausnahmegericht, das politische Verbrechen aburteilt; es verfolgt politisch Andersdenkende und fördert Folter und Isolation. Nun, nachdem wir das erklärt haben, könnte jemand fragen, welchen Sinn es ergibt, ein Unternehmen vor dieses Gericht zu bringen, wo es doch eine tragende Säule des Kapitals in Spanien ist. Wir sagen, dass es keinen Sinn ergibt, aber das überrascht uns nicht: Wenn die CNT dies tut – oder einfach nur vorschlägt -, dann deshalb, weil sie Teil einer Bewegung ist, die nicht weiß, wie sie sich in der Geschichte verorten soll, die Reformen anstrebt, um bis in alle Ewigkeit zu fragen, zu fragen und zu fragen, ohne ein revolutionäres Projekt auf mittlere oder lange Sicht, mit einer politischen Blindheit, die uns nicht mehr überraschen sollte.

Nachdem wir das gesagt haben, wollen wir nun ein paar Texte von Gefährten aus Asturien wiedergeben, die unserer Meinung nach noch mehr bestätigen, was wir euch sagen. Der erste spricht über die Beteiligung der CNT an den Kämpfen der Werftarbeiter; der zweite analysiert konkret die Situation dieser Gewerkschaft/Syndikat in Asturien und verbindet dies mit einer radikalen Infragestellung dieser reformistischen Organisation.

Ich denke, es lohnt sich, einen Moment innezuhalten und die Aktionen des „anderen Gewerkschaftswesens/Syndikalismus“, der „Basisgewerkschaft/Basissyndikat“, zu analysieren. Jenseits von Folklore und mehr oder weniger „radikaler“ Phraseologie hat das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus seine Daseinsberechtigung darin, dass es den Preis für die Ware Arbeitskraft aushandelt oder dies anstrebt. Wenn sie nicht in der Lage ist, diese Funktion zu erfüllen, wenn sie sowohl für das Kapital nutzlos ist (nutzlos als direkter Gesprächspartner; als Puffer und Bremse, die im „Niemandsland“ schwebt, ist sie sehr, sehr nützlich), als auch für die Lösung von Arbeitskonflikten, dann ist sie am Ende (dank ihrer Investitionsfonds und ihrer Treffen mit dem Arbeitsministerium, das ihnen Räumlichkeiten „zurückgibt“, denn sonst wäre sie schon längst verschwunden4) eine Karikatur einer Gewerkschaft/Syndikates, eine traurige Mischung aus Studentenkollektiv, Rentnerclub und bekehrenden Bürokraten.

Das Problem der CNT (für sie, für das Proletariat ist das Problem ihre Existenz) ist, dass sie ideologisch verleugnet, was sie ist oder sein will, nämlich ein Gesprächspartner des Kapitals. Wenn sie also Erfolg hat, sind die angeblichen „Unterschiede“ zu anderen Gewerkschaften/Syndikate verschwunden, und wenn sie keinen Erfolg hat, ist sie eine „nutzlose Gewerkschaft/Syndikat“, die in der Vorhölle der „alternativen“ Sozialdemokratie und der Geschichtsfälschung tanzt. Das gilt natürlich auch für jede andere „alternative“ Gewerkschaft/Syndikat, egal wie sie sich nennt.

Die CNT hat überall dort, wo sie eine Gewerkschafts- und Syndikatssektion hatte (Puerto Real und Sevilla), versucht, sich als gewerkschaftliche/syndikalistische Alternative zu profilieren, indem sie dem „schwachen Gewerkschaftswesen/Syndikalismus“, dem „von Subventionen abhängigen Gewerkschaftswesen/Syndikalismus“, dem „bürokratischen Gewerkschaftswesen/Syndikalismus“? und befürwortet „den Kampf gegen Prekarität und die Verteidigung der Werft und der Arbeitsplätze“ sowie „die Verteidigung der gewerkschaftlichen/syndikalistischen Freiheit“, wie sie es bei ihrem Treffen mit dem Betriebsrat von Izar-Sevilla tat, und natürlich „angesichts der bestialischen Repression und der polizeilichen Übergriffe, unter denen wir leiden, haben wir den Rücktritt des Delegierten und des Unterdelegierten der Regierung in Andalusien gefordert, eine Forderung, die wir auch an die Innen- und Arbeitsminister der Zentralregierung richten, weil sie keine Lösung für den Konflikt anbieten, sondern nur die brutalste und unverhältnismäßigste Repression, die die verfassungsmäßigen Rechte verletzt, die die Werftarbeiter als Staatsbürger und Menschen, die wir sind, haben“ (Auszug aus der Zeitung cnt, Nr. 299). Es bedarf nicht vieler Kommentare, sondern nur der Feststellung, dass du diese Dinge tun musst, um am demokratischen Spektakel teilzunehmen und Teil davon zu sein, auch wenn es gegen „die Idee“ geht und du Bilder von Durruti in deinen Räumlichkeiten hast.

Grob gesagt kann das „alternative“ Gewerkschaftswesen/Syndikalismus nichts anderes tun, als ideologisch zu behaupten, Vollversammlungen abzuhalten und das „offizielle“ Gewerkschaftswesen/Syndikalismus als bürokratisch und subventioniert (!) zu kritisieren. Denn natürlich kann sie nicht vom Klassenantagonismus, von unversöhnlichen Interessen und Bedürfnissen zwischen dem Unternehmen und „den Arbeitern“, von Massenentlassungen oder Arbeitsintensivierung als realen Notwendigkeiten der nationalen Wettbewerbsfähigkeit und der Diktatur des Werts selbst sprechen… Denn wenn diese Klassenposition beibehalten wird, wird natürlich die eigentliche Rolle der Verhandlung (und der Verhandelnden) zwischen menschlichen Bedürfnissen und den Bedürfnissen des Kapitals auf den Tisch gelegt. Der Klassenkampf ist für Anarchosyndikalisten eine Art Ideologie, ein Prinzip. Interessant sind diese Aussagen eines Mitglieds der gewerkschaftlichen/syndikalistischen Sektion der Sevilla-Werft in der anarchosyndikalistischen Zeitung „València llibertària“: „Die Krise ist nicht auf mangelnde Wettbewerbsfähigkeit, hohe Kosten oder fehlende Konkurrenz durch andere Werften zurückzuführen. Die Krise kommt von der Inkompetenz der Werftbürokratie, die aus handverlesenen Personen, Politikern und nachlässigen Schreibtischtätern besteht, die, anstatt nach Märkten und Aufträgen zu suchen, ihre Produkte anzubieten und Vereinbarungen mit REPSOL zu treffen, sich von den Fliegen fressen lassen… Wir haben bewiesen, dass wir unsere Schiffe früher als geplant fertigstellen. Das ist kein Problem der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit, denn wir sind bestens qualifiziert. Was wir von der Werftleitung verlangen, ist, dass sie ihre Arbeit macht, dass sie Aufträge bekommt und nicht darauf wartet, dass sie vom Himmel regnet“. Arbeiter- und Selbstverwaltungsideologie der schlimmsten Sorte, und wie gute Linke, Kritik an denen, die das System verwalten und nicht am System selbst, das ist die Rolle der „Basisgewerkschaft/Basissynikats“

Wir finden, dass das eine sehr gute Analyse ist, aber jetzt kopieren wir einen anderen Text, der auch sehr interessant ist.

ANARCHO-PÄDERASTEN

Zum Zeitpunkt ihrer Legalisierung und Anerkennung durch die Machthaber während der so genannten „transición“(A.d.Ü.,) hatte die asturische CNT mehrere hundert Mitglieder in ihren Reihen, vor allem im Baugewerbe in Oviedo und auf den Werften in Gijón. Diese Arbeiter verließen bald eine Gewerkschaft/Syndikat, die sich als funktionsunfähig, sklerotisiert und von organisierten Minderheiten dominiert erwies, und zwar in einem noch größeren Ausmaß als die anderen gewerkschaftlichen/syndikalistischen Optionen.

Asturien ist die Region in Spanien mit dem höchsten gewerkschaftlichen/syndikalistischen Organisationsgrad. Dafür gibt es mehrere Gründe: die Präsenz des öffentlichen Sektors, große Unternehmen, die historische Tradition … Die sprichwörtliche Dummheit der konföderalen Kader seit mindestens März 1937, gepaart mit dem rigidesten ideologischen Dogmatismus, schaffte es in kurzer Zeit, die Mitgliederzahl der Arbeiter auf ein lächerliches Niveau zu senken5, was jedoch den Vorteil hatte, dass das hysterische Wesen – das ist kein Druckfehler – der CNT erhalten blieb: die berüchtigten „Prinzipien, Taktiken und Ziele“, in deren Namen sie die Revolution von 1936 ohne mit der Wimper zu zucken liquidierten; genauso wie sie ohne mit der Wimper zu zucken die Mitglieder der Aktionsgruppen6, die während des Franquismus die Flamme des libertären Widerstands am Leben hielten, verrieten und ihrem Schicksal überließen.

Aber aufgrund ihres Namens und ihrer Geschichte vor 1937 ist die CNT nach wie vor ein Anziehungspunkt für die neuen Generationen. So widmete eine Regionalzeitung kürzlich eine Seite der attraktiven Neuigkeit der Besetzung eines Gebäudes in Moreda (Aller) durch eine Gruppe optimistischer junger Leute mit der naiven Absicht, ein pittoreskes „Sindicato de Oficio Varios“ der CNT zu gründen, die laut „La Voz de Asturias“ eine solche Aktion vehement unterstützt7.

Die alten asturischen konföderalen Bürokraten haben immer noch nicht aus ihren Fehlern gelernt, wie die angewandten Schwachköpfe, die sie sind. Es ist noch gar nicht so lange her, dass die Ereignisse in Gijón rund um das C.S.A. (Anarchistisches Soziales Zentrum)8 1994 in einigen Medien für einen Skandal sorgten. Ohne Angst, sich erneut lächerlich zu machen, setzten die CNT-Mitglieder (A.d.Ü., ceneteros) auf die versuchte Manipulation einer Gruppe junger Menschen, in der trivialen Hoffnung, weniger unruhige junge Menschen oder, falls nicht, eine neue, besser zu fassende Generation zu finden.

Die traurige Degeneration der CNT bringt sie sprunghaft näher an den Neofaschismus von Organisationen wie der Sindicato de Estudiantes (A.d.Ü., Gewerkschaft/Syndikat der Schülerinnen und Schüler, sowie der Studentinnen und Studenten im spanischen Staat) oder der Moon-Sekte heran. Mit ihrer im Wesentlichen patriotischen Ausrichtung – in diesem Fall ist die CNT das Heimatland -, die sie immer weiter von der Arbeitswelt entfernt, die sie eigentlich ansprechen sollte, ist die CNT schließlich zu einer Karikatur ihrer selbst geworden, die nur noch unreife junge Menschen in einem jungfräulichen territorialen Umfeld anziehen kann, das ihre Widersprüche, ihren Verzicht und ihr Elend nicht kennt.

Doch die Zeit des „revolutionären Gewerkschaftswesens/Syndikalismus“ ist längst vorbei, denn im modernisierten Kapitalismus hat jede Gewerkschaft/Syndikat, ob groß oder klein, einen anerkannten Platz im Spektakel der demokratischen Diskussion über die Verfeinerung des Status der Lohnarbeiter, d.h. als Gesprächspartner und Komplize in der Diktatur der Lohnarbeit. Von dem Moment an, in dem das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus und die Organisation der entfremdeten Arbeit sich gegenseitig als Mächte anerkennen, die diplomatische Beziehungen zueinander aufnehmen, entwickelt jede Art von Gewerkschaft/Syndikat, um ihre reformistische Tätigkeit auszuüben, in ihrem Inneren eine neue Art von Arbeitsteilung, die im Laufe der Zeit immer lächerlicher wird. Selbst wenn eine Gewerkschaft/Syndikat erklärt, dass sie ideologisch allen politischen Parteien feindlich gesinnt ist, kann sie keineswegs verhindern, dass sie in die Hände ihrer eigenen Bürokratie von Managementspezialisten fällt – die umso mittelmäßiger sind, als sich ihre Aufgabe darauf beschränkt, dieselben unveränderlichen historischen Wahrheiten zu wiederholen – genau wie jede politische Partei. Jeder Moment ihrer tatsächlichen Praxis beweist dies.

[Kommuniqué, veröffentlicht 1937 in Barcelona].

Wir sind überrascht von einem Flugblatt, das in der Stadt kursiert und von den „Amigos de Durruti“ (A.d.Ü., Freunden von Durruti) abgesegnet wurde. Sein Inhalt, der absolut nicht tolerierbar ist und im Konflikt mit den Bestimmungen der libertären Bewegung steht, zwingt uns, seinen Inhalt vollständig zu desavouieren (…) und gestern waren wir bereits verpflichtet, ein anderes [Manifest] zu desavouieren.

Das Regionalkomitee der CNT und der FAI ist weder bereit (….) noch kann irgendjemand mit zweifelhaften Positionen oder gar den Manövern echter Agents Provocateurs mitspielen.

(…) Jetzt, da sich der Rat der Generalitat konstituiert hat, müssen alle seine Entscheidungen akzeptieren werden, da wir in ihm vertreten sind.

Waffen weg von den Straßen.

Regionalkomitee der CNT und Regionalkomitee der FAI. Barcelona, 5. Mai 1937.

Was, wenn wir aus der Falle herauskommen?

Wir sind der Meinung, dass das Hauptproblem der Klassengesellschaft (d. h. der Gesellschaft, die in eine Elite, die Ökonomie und Politik kontrolliert, und die große Mehrheit von uns, die Ausgebeuteten und Unterdrückten, die von den mächtigen Klassen beherrscht werden, gespalten ist) nach wie vor die kapitalistische Ausbeutung und die verschiedenen repressiven Apparate, die sie schützen, als zentralen Kern hat. Deshalb glauben wir, dass der revolutionäre Ausweg immer noch in einem populären Aufstand liegt, der sich die grundlegenden Produktionsmittel wieder aneignet (und die Zerstörung derer, die an sich pervers sind, wie die Rüstungsindustrie im Dienste des Kapitals, die dumme und betrügerische Werbung, der Polizeiapparat und unzählige andere Arbeitsplätze, die vom Erdboden verschwinden könnten). Aber wir sind keine Arbeiteristen, d.h. wir sehen das revolutionäre Subjekt nicht in europäischen Arbeitern in blauen Overalls, die aus einer Fabrik kommen und glorreich die Internationale singen. Nein. Für uns bildet die Gesamtheit der Ausgebeuteten und Unterdrückten das revolutionäre Subjekt. Wir wissen auch, dass es in einigen Teilen der Welt (z. B. in Nepal) weiterhin Formen der Herrschaft gibt, die auf halbem Weg zwischen Feudalismus und Kapitalismus liegen. Und diese unterdrückten Klassen sind auch unsere Brüder im Kampf, unabhängig davon, ob sie direkt proletarisiert sind oder nicht.

Dabei sind wir uns bewusst, dass unser Aktionsradius der spanische Staat ist, obwohl in allen Staaten der Welt im Wesentlichen die gleichen Unterdrückungsbedingungen herrschen. Der revolutionäre Kampf ist internationalistisch, aber natürlich muss er sich in einem bestimmten räumlichen Kontext eines Staates entwickeln, der einige besondere Aspekte aufweisen kann (z. B. ein größeres Ausmaß an Unterdrückung). Ohne weiter ins Detail gehen zu wollen, geben wir dir unsere Beiträge zu dem, was unserer Meinung nach ein ganzheitlicher revolutionärer Kampf sein muss.

Vorschläge zum Nachdenken und zur Aktion

Wir glauben, dass es notwendig ist, in allen Betrieben große Agitationskampagnen durchzuführen. Unserer Meinung nach darf der Kampf jedoch nicht ausschließlich „im Unternehmen“ geführt werden, sondern muss die gesamte ausgebeutete Gesellschaft einbeziehen. Wenn wir z. B. ein Flugblatt über die Ausbeutung bei Leroy Merlin verteilen wollen, können wir das innerhalb des Unternehmens tun, an unsere eigenen Gefährten (wohl wissend, dass dies mit Risiken verbunden ist), oder wir können es in unserer Nachbarschaft oder anderswo verteilen. Es geht darum, dass der Kampf nicht auf einer Insel isoliert bleibt, damit die Solidarität zwischen allen Ausgebeuteten nach und nach durch tägliche Agitations- und Propagandamaßnahmen von der Basis aus aufgebaut werden kann.

Es gibt noch einen weiteren wichtigen Punkt, den wir hervorheben möchten. Es ist von grundlegender Bedeutung, die Praxis der proletarischen Autonomie wiederzuerlangen (was nichts anderes bedeutet als die Verwirklichung der Kämpfe der Ausgebeuteten außerhalb von Parteien und Gewerkschaften/Syndikate, Organe, die wir als fremd und fremd für die populären Klassen betrachten). Wir müssen die Befragung in den Betrieben (und – wir wiederholen – außerhalb der Betriebe), die Bildung von Vollversammlungen und Streikposten außerhalb der Gewerkschaften/Syndikate sowie die Ausweitung und Vereinheitlichung der Kämpfe fördern.

Und die Forderungen? Wir halten sie für legitim, wenn sie darauf abzielen, eine weitere Verschlechterung der miserablen Lebensbedingungen, die wir ertragen müssen, zu verhindern. Aber wenn eine Gruppe von Arbeiterinnen und Arbeitern in einen wilden Streik tritt (ohne gewerkschaftliche/syndikalistische Vermittlung, ohne gesetzliche/gerichtliche Genehmigung) und eine Lohnerhöhung fordert, ohne die Enteignung der Kapitalisten und ihre Vernichtung zu verlangen, ist der Kampf natürlich rein reformistisch und wird nur die gleiche Herrschaft aufrechterhalten. Anders wäre es, wenn wir bei dieser legitimen Forderung mit Worten und Taten die Anprangerung der Ausbeutung demonstrieren würden: mit Propaganda, mit Sabotage, mit wilden Streiks, mit der Lähmung der Produktion und des Warenvertriebs, mit der Zerstörung von Parteien und Gewerkschaften/Syndikate, mit der weltweiten Ablehnung dessen, was Lohnarbeit mit sich bringt. Dies wäre eine Konfrontation mit der etablierten Ordnung, denn es würde ihre gesamte Struktur in Frage stellen (und nicht den Arbeitsaspekt in einer isolierten und partiellen, d. h. syndikalistischen Weise).

In diesem Zusammenhang sind wir der Meinung, dass wir, die Beherrschten, verlangen müssen (nicht bitten oder fordern, denn es liegt in der Natur der Sache, dass eine Forderung eine Niederlage bedeutet: Sobald du um etwas bittest, setzt du dich zum Dialog zusammen, und mit der kapitalistischen Macht gibt es keinen Dialog; entweder du stellst dich ihr oder sie schafft es, dich niederzuhalten). Dazu ist es notwendig, das soziale Gefüge zu erweitern, das die Ausgebeuteten im Kampf unterstützt, dass wir uns eine soziale Deckung geben (dass wir Kassen des Widerstands aufstellen, dass wir Prozesse der populären Selbstorganisation in Stadtvierteln und Städten aktivieren usw.) und dass wir gleichzeitig die bewaffnete Unterstützung der Bevölkerung erhöhen, die unerlässlich ist, wenn wir die Kapitalistenklasse stürzen wollen. Letzteres, was manchen als vanguardistisch oder militaristisch erscheinen mag, ist von grundlegender Bedeutung, wenn man sich bewusst ist, dass die Ausbeuterklassen ihre Privilegien niemals friedlich aufgeben werden: Sie müssen ihnen entrissen werden, oder es wird nie dazu kommen.

Was liegt im spanischen Staat vor uns vor?

Die Situation in Spanien ist alles andere als ermutigend. Das Bewusstsein für das Elend der Mehrheit der Ausgebeuteten ist kaum vorhanden. Wenn überhaupt, dann gibt es vereinzelte kleine Funken, die die Wut zeigen, die viele von uns unbewusst haben. Aber diese leidenschaftliche Wut muss in einen viszeralen, aber organisierten Hass gegen die Strukturen, die uns regieren, umgewandelt werden. Wie einige Gefährtinnen und Gefährten sagten … lasst uns die Spontaneität organisieren.

Aber warum kämpfen wir? Wir kämpfen, um nach der Lähmung der kapitalistischen Ökonomie und der Zerstörung des Staates und der von ihm geschaffenen Verhältnisse eine menschliche Gesellschaft zu erreichen, die kollektiv selbstorganisiert ist und gleichzeitig die Individualität respektiert, die die Lohnarbeit abschafft und sie durch eine Reihe von Tätigkeiten ersetzt, die für das Gemeinwohl und nicht für eine parasitäre Klasse verrichtet werden, die ausgewogene Beziehungen zu diesem vom Kapital zerstörten Planeten entwickelt usw. Letztendlich kann die Welt, die wir erschaffen wollen, nur eine Skizze unserer Kämpfe sein, denn es ist weder möglich noch wünschenswert, ein Gerüst für eine zukünftige Gesellschaft zu entwerfen.


1A.d.Ü., aus dem spanischen sindicalismo, was wir im Text als Syndikalismus/Gewerkschaftswesen übersetzt haben, wir machen inhaltlich keine Trennung zwischen beiden.

2A.d.Ü., gemeint sind die Wachhunde der Gewerkschaften/Syndikate selbst.

3A.d.Ü., was historisch nicht stimmt.

4A.d.Ü., worauf hier angedeutet wird, ist dass nach der Zerschlagung der sozialen Revolution, unter anderem mit der Machtübernahme von Franco, der CNT, der FAI, der FIJL, usw. alle Räumlichkeiten die sie besaßen weggenommen/beschlagnahmt wurden. Nach Francos Tod wollte die CNT die Räumlichkeiten zurück, denn es handelte sich ja um Besitztümer, um hunderte von Immobilien. Bis heutzutage ein großer Streit.

5Würden ihre eigenen Statuten eingehalten, würden die meisten – wenn nicht sogar alle – der asturischen CNT Gewerkschaften/Syndikate nicht existieren, weil sie nicht die erforderliche Mindestanzahl an Mitgliedern haben.

6Die Liste der anarchosyndikalistischen Austritte, des Verrats und der Rekuperation würde bereits ein Buch erfordern, das mit der Entwaffnung des katalanischen Proletariats im März 1937 angesichts der stalinistischen Konterrevolution beginnen könnte; weiter mit dem schändlichen Verrat der libertären Aktionsgruppen (Sabaté, Facerías, etc.), der internationalistischen Gruppe 1º de Mayo (Granados und Delgado, etc. ), die autonomen Gruppen der 70er Jahre (MIL-GAC und Puig Antich, ERAT, A. Rueda usw.), die sie ohne zu zögern in „libertäre Märtyrer“ verwandelten, sobald sie tot waren; oder die aktuellen regelmäßigen Denunziationen unter ihren eigenen Namen derjenigen Gefährten, die von der konföderalen Bürokratie als „unkontrollierbar“ und „gefährlich“ angesehen werden. Kurz gesagt, der Verrat an jedem konsequenten Libertären.

7Nicht nur die CNT unterstützt „die Hausbesetzer“. Auch die so genannte Juventudes Comunistas de Asturies (JCA) (A.d.Ü., Kommunistische Jugend Asturiens ) bietet schnell ihre Unterstützung an und vergisst dabei, dass ihre Organisation, die Izquierda Unida, nicht nur für das aktuelle Strafgesetzbuch gestimmt hat, das im Gegensatz zum vorherigen die Hausbesetzung (Usurpation) mit Gefängnisstrafen ahndet, und damit den Bedürfnissen des Kapitals und des Staates bei der Aktualisierung von Klassenkämpfen Rechnung trägt, sondern ein Mitglied dieser Formation – López Garrido, der heute in der PSOE ist (wie so viele andere ehemalige junge „Kommunisten“) – gilt als der intellektuelle Urheber dieser Reform.

8Die C.S.A. befand sich in der alten Bar des Gewerkschafts- und Syndikatshauses in Gijón, dessen historischen Besitz die CNT beansprucht. In diesem Gebäude haben neben der CNT auch die Gewerkschaften/Syndikate CGT, CCOO und CSI ihre Räumlichkeiten, was die CNT nicht so sehr zu stören scheint wie der selbstverwaltete Weg, den die jungen Leute der CSA-Vollversammlung mit ihrer fortschreitenden Loslösung von der anarcho-syndikalistischen solipsistischen Lähmung und ihrer autonomen und revolutionären Option eingeschlagen haben, die die gewaltsame Räumung des Geländes mit Argumenten über das legale Eigentum an den Räumlichkeiten begründeten, ohne dabei die gleichzeitige Veröffentlichung von Aufklebern zu verschmähen, auf denen sie mit zirkusartiger Unverfrorenheit beteuern, dass „Eigentum Diebstahl ist. CNT“

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(1933) Anton Pannekoek – Die Arbeiter, das Parlament und der Kommunismus https://panopticon.blackblogs.org/2023/08/08/1933-anton-pannekoek-die-arbeiter-das-parlament-und-der-kommunismus/ Tue, 08 Aug 2023 10:44:12 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5109 Continue reading ]]> (1933) Anton Pannekoek – Die Arbeiter, das Parlament und der Kommunismus

Ein weiterer Text von Anton Pannekoek, indem er Demokratie, Parteien und Gewerkschaften/Syndikate angreift und kritisert.


Krise und Armut1

Die Gesellschaft gerät in eine Krise. Handel und Industrie schrumpfen beständig, große Betriebe sind still gelegt. Es herrscht Arbeitslosigkeit in bislang unvorstellbarem Maße. Millionen Arbeiter weltweit haben keine Stelle, und das schon seit Jahren, und müssen sich mit einer allzu knappen Arbeitslosenunterstützung mit knapper Not über Wasser halten. Die heranwachsende neue Generation hat keine Chance. Die Staaten Schotten sich durch hohe Schutzzölle voneinander ab und zerschlagen den internationalen Verkehr. Die Bauern finden für ihre Produkte keine Abnehmer. Überall herrscht das Gefühl, daß irgendetwas in unserer kapitalistischen Gesellschaft verkehrt läuft. Was früher als unerträglicher Zustand galt: die große Ausbeutung, die ewige Hetze, die Ständig drohende Existenzunsicherheit, die trostlose Aussicht, immer nur Proletarier zu bleiben – das erscheint nun beinahe als Idealzustand, den man sich zurückwünscht. Aber es ist sehr unwahrscheinlich, daß dieser Zustand wiederkehrt. Selbst wenn die Krise vorüberginge und die alte Betriebsamkeit wieder zurückkehrte – was niemand Vorhersagen kann –, würde sich doch alles verändert haben. Es ist gut möglich, daß es zu einem Aufschwung in den jungen Staaten von Amerika und Asien kommt und daß in Europa die Industrie auf Dauer zurückgeht.2 Untergang, tiefste Armut und größtes Elend scheinen die Zukunft der Arbeiter zu sein.

Und warum? Die Gesellschaft ist reicher als je zuvor, reicher durch ihre Fähigkeit Reichtum zu schaffen. Angewandte Wissenschaft und Technik ermöglichen es der Landwirtschaft und der Industrie Überfluß für alle zu produzieren. Schon vor fünfzig Jahren ist berechnet worden, daß auf der Basis der damaligen Technik eine Arbeitszeit von fünf Stunden täglich ausgereicht hätte, um jedem eine Existenz auf dem Niveau der oberen Mittelschicht zu sichern. Und vor kurzem hat ein Ingenieur-Büro unter der Leitung des Amerikaners Scott ausgerechnet, daß bei einer Arbeitszeit von zwei Stunden täglich die Menschheit in der Lage sein sollte, für jeden ein mehr als ausreichendes Einkommen zu schaffen.

Wenn das so ist, warum existiert dann der Widerspruch zwischen der faktischen und stets drohender werdenden Armut und dem Potential von Überfluß? Die Antwort: Weil es einen Konflikt zwischen der Arbeitsstruktur und der Eigentumsform gibt. Die Eigentumsformen passen nicht mehr zu den Arbeitsformen.

Der Konflikt zwischen Arbeit und Eigentum

Früher, in den Zeiten der Kleinbetriebe, hatte der Mann, der arbeitete, die Verfügungsgewalt über die Werkzeuge, die er benutzte, und natürlich auch über das Produkt, das er herstellte. Der Handwerker war Eigentümer seiner Gerätschaften und verkaufte sein Produkt; der Bauer war Eigentümer des Landes und des Viehs und verkaufte, was er nicht selbst verbrauchte. Das Privateigentum gehörte zum Kleinbetrieb. Der Eigentümer nahm Knechte und Gesellen zur Hilfe; Werkzeug und Produkt aber blieben sein Eigentum. An die Stelle der Werkzeuge rückten große Maschinen; der Kapitalist erwarb sie, nahm Arbeiter in Dienst und bezahlte als Lohn das lebensnotwendige Minimum. Immer noch war er Eigentümer der Werkzeuge und der Produkte; aus dem Mehrwert dessen, was er für das Produkt, das die Arbeiter hergestellt hatten, bezahlt hatte, erzielte er seinen Gewinn und vermehrte so sein Kapital. Dieses Wachstum aus der Tätigkeit der Arbeiter stieg im Zeitalter der Großindustrie ins Gigantische an, während die Arbeiter nicht mehr erhielten als das, was zum Lebenserhalt notwendig war, und manchmal nicht einmal das.

Der heutige Zustand sieht so aus: Der größte Teil der Produkte wird in Fabriken durch Organisationen kooperierender Arbeiter, Ingenieure und Techniker hergestellt, die den gesamten Maschinenpark gemeinsam bedienen. (Die Maschinen selbst sind das Produkt anderer Arbeitergruppen.) Aber das Ergebnis ihrer Arbeit, das Produkt, ist nicht ihr Eigentum; aus dem Ertrag erhalten sie lediglich ihren Lohn, der Rest ist für den Kapitalisten. Kapitalisten sind die Anteilseigner, die gemeinsam die Geschäftsführung der Fabrik einstellen, aber selbst völlig außerhalb des Produktionsprozesses stehen. Sie wohnen irgendwo in ihren Villen und übernehmen keinerlei Funktion in der Produktion, außer daß sie den Löwenanteil des Ertrags in die Tasche stecken. Sie sind die Parasiten der Gesellschaft. Ist das nicht verquer und unsinnig? Aber das ist die Rolle des Privateigentums, seitdem es kapitalistisches Eigentum geworden ist. Aber es kommt noch ärger: Diese Anteilseigner sind die Besitzer, die Herrscher über die Fabrik, über ihr Eigentum. Sie lassen nur dann arbeiten, wenn damit Gewinn zu erzielen ist; ob die Menschen die Produkte benötigen, kann sie solange nicht kümmern, wie diese dafür nicht genug bezahlen können. Wenn kein Gewinn zu machen ist, dann legen sie das Ganze still, wie das jetzt in der Weltwirtschaftskrise geschieht. Auf der einen Seite stehen die still gelegten und unbenutzten Maschinen, auf der anderen Seite stehen die Arbeiter, begierig sie in Bewegung zu setzen. Sie sollten Überfluß für alle schaffen können. Aber die Eigentümer der Produktionsmittel wollen das nicht, sie verhindern das. Deshalb gibt es Entbehrungen und Armut, obwohl die Voraussetzungen für Reichtum: hervorragende Produktionsmittel und Millionen williger Hände bereit stehen. Ist das Wahnsinn? Das ist die Wirkung des aus dem Zeitalter des Kleinbetriebs übernommenen Eigentumsrechts.

Der Konflikt besteht also darin: Die Arbeit ist gemeinschaftlich geworden, das Eigentumsrecht ist individuell geblieben. Daraus entstehen Ausbeutung und Krise als unvermeidliche Folgen.

Wie ist dieser Konflikt zu lösen? Es ist nicht möglich, die Arbeit in ihre frühere Form zurückzuverwandeln, die Maschinen in Stücke zu schlagen und die Kleinbetriebe wiederherzustellen. Deshalb muß das Eigentumsrecht in Übereinstimmung mit der Arbeit gebracht werden.

Die heutigen Werkzeuge, die großen Maschinen und die Fabriken werden durch die Gemeinschaft der Arbeiter bedient. Wenn das so ist, dann muß auch die Gemeinschaft der Arbeiter die Entscheidungsgewalt über Werkzeuge und Produkte haben. Die Arbeit hat ihren Charakter gewechselt, von einem individuellen, wie früher, zu einem kollektiven und gemeinschaftlichen Charakter heute. Keine außen stehenden Parasiten, sondern sie selbst, die die Arbeit tun, müssen über die Arbeit bestimmen können. Das ist die Form des Kommunismus, die an die Stelle des Kapitalismus rücken soll.

Der Klassenkampf

Wie kann man diese Entwicklung vorantreiben?

Von alleine verändert sich die Gesellschaft nicht; die Menschen müssen das tun. Die Kapitalisten haben keinen Grund, eine Veränderung zu wünschen, und widersetzen sich selbstverständlich mit aller Macht der Forderung, ihr Eigentum an den Produktionsmitteln aufzugeben. Aber auch die kleineren Mittelständler sind gegen eine Veränderung, weil sie darauf setzen, durch ihre Geschäfte ihren Besitz vermehren zu können. Zwar werden sie selbst massiv vom Großkapital unter Druck gesetzt, dennoch klammern sie sich an ihren Besitz, der sie von den besitzlosen Proletariern unterscheidet. Auch den meisten Bauern gibt der Umstand, daß sie ihren Hof besitzen, sosehr er auch durch Hypotheken belastet sein mag, Anlaß zu der Hoffnung, durch harte Arbeit nach oben zu kommen. Sie glauben, daß der Kommunismus es auf ihre kleinen Besitztümer abgesehen hat, ohne zu ahnen, wie der Kapitalismus mit ihrem Eigentum umgehen wird.

Nur die Arbeiterklasse hat ein unmittelbares Interesse am Kommunismus. Nur durch ihn kann ihrer Armut und ihrer Lebensunsicherheit ein Ende gemacht werden. Die Arbeiter können dieses Ziel durch den Kampf erreichen, durch den Kampf der Arbeiterklasse gegen die besitzenden Klassen.

Die Arbeiter bilden in den großindustriellen Ländern Westeuropas und Amerikas die Mehrheit und eine wohl stets wachsende Mehrheit. Das allein gibt ihnen die Sicherheit, daß sie diesen Kampf gewinnen können. Darüber hinaus sind sie die unentbehrlichste Klasse; ohne ihre Arbeit kann die Gesellschaft keinen Moment existieren. Sie haben den gesamten Produktionsapparat in Händen, zwar nicht im rechtlichen Sinn, aber faktisch. Wenn die gesamte Arbeiterklasse ihre Macht einig einsetzt, ist das lediglich auf Papieren beruhende Recht der Kapitalistenklasse dagegen machtlos. Die Kapitalisten verfügen über alle Macht, die der Besitz von Geld verleihen kann. Damit bezahlen sie alle die klugen Köpfe, mit denen sie ihre Gesellschaft steuern, organisieren und verteidigen. Sie kaufen, wenn es nötig sein sollte, bewaffnete Truppen, um die Arbeiter mit Waffengewalt niederzuhalten. Durch Presse, Schule, Kirche, Radio, Kino, durch alle geistigen Mächte und Mittel versuchen sie, die Arbeiter in Abhängigkeit zu halten. Hinzu kommt noch als ihr vornehmstes Machtmittel die politische Herrschaft, ihre Macht über den Staat. Die Staatsmacht ist eine solide gebaute Beamtenorganisation, die von einem einzigen Punkt aus gesteuert das Volk regiert, falls nötig durch bewaffnete Truppen, Polizei und Heer unterstützt. Jeder Versuch der Arbeiterklasse, sich gegen den bestehenden Zustand von Ausbeutung und Not zu wehren, wird durch die Staatsmacht tatkräftig unterdrückt. Der Staat ist wie eine solide Festungsmauer, die das Kapital um sich herum errichtet hat. Will die Arbeiterklasse den Klassenkampf gewinnen und die Kapitalisten überwinden, dann muß die Staatsmacht überwunden werden, dann muß sie die politische Macht erringen.

Das Ziel der Arbeiterklasse ist es, das Eigentumsrecht zu verändern, die Produktionsmittel aus dem Privateigentum zu lösen und zu gesellschaftlichem Eigentum zu machen. Das Eigentumsrecht muß durch Gesetze geregelt werden, die Gesetzbücher werden wie alle Gesetze durch die politischen Organe des Staates festgelegt. Wer über den Staat herrscht, der bestimmt auch über Recht und Gesetz. Deshalb muß die Arbeiterklasse sich zur Herrin der politischen Macht aufschwingen. Die politische Macht zu erobern ist eine notwendige Bedingung für die Veränderung des Eigentums, mit dem dem arbeitenden Volk Freiheit und Überfluß gesichert werden. Wie können die Arbeiter die politische Herrschaft erobern? Damit kommen wir auf die Wahlen zu sprechen.

Der Parlamentarismus als Befreiungsmittel

Die Sozialdemokraten verstehen den Parlamentarismus, das heißt Wahlen, als Mittel für die Arbeiter, die Herrschaft zu erringen.

Denn wer ist die Regierung, die die politische Macht ausübt und die Gesetze erläßt? In erster Linie das Parlament, die beiden Kammern, die aus gewählten Volksvertretern bestehen. In den westeuropäischen Ländern, zuerst in England, dann in Frankreich durch die Französische Revolution, anschließend in anderen Ländern hat sich die besitzende Klasse der Macht versichert, indem sie die gewählten Parlamente zur eigentlichen Regierungsgewalt gemacht hat.

Die sogenannte Regierung, die Minister, die an der Spitze des Staates, der Beamten und des Heeres stehen und die alle Machtmittel des Staates in der Hand halten, können nicht regieren, wenn das Parlament sie nicht will. Deshalb sind sie abhängig von der parlamentarischen Mehrheit. Seitdem die Arbeiter nach langem Kampf das allgemeine Wahlrecht erworben haben, wählt die Mehrheit des Volkes auch die Mehrheit des Parlaments. Das ist Demokratie. Wann auch immer deshalb in einem Land die Arbeiter die Mehrheit der Bevölkerung sind, können sie auch die Mehrheit des Parlaments wählen, wenn sie denn gut und richtig wählen und sich nicht durch schöne Versprechungen ihrer Feinde blenden lassen. Zu diesem Zweck bilden sie eine eigene politische Partei, eine Arbeiterpartei. Gelingt das, dann sind sie die Herren der Regierung und auf diese Weise über den Staat. Sie können Recht und Gesetz nach ihrer Auffassung und ihren Interessen ausrichten. Auf diese Weise kann sich die Arbeiterklasse, wenn sie nur ihren Verstand gebraucht, durch den Stimmzettel selbst befreien. Die neue Regierung, die aus Vertretern der Arbeiter besteht, hat dann die Aufgabe, die kapitalistischen Unternehmen zu enteignen und in Staatsbetriebe (oder lokal zu Gemeindeunternehmen) umzuwandeln, angefangen bei den großen Monopolen und Banken und weitergehend bei den kleineren Betrieben. In diesen Betrieben wird nicht mehr aus Profitinteresse, sondern nach Notwendigkeit produziert. Die Staatsorgane sorgen für die zentrale Steuerung dieser Produktion; die Arbeiter stehen im Dienst dieser Gemeinschaftsorgane; ihr Lebensunterhalt ist gesichert, Krisen und Arbeitslosigkeit verschwinden. Dadurch daß kein Profit an die Kapitalisten abgeführt werden muß, kommen die Arbeiter in den Genuß des gesamten Einkommens, allerdings nach Abzug der Kosten für Verwaltung und der öffentlichen Dienste wie Erziehung, Gesundheit, Verkehr und dergleichen. Weil jeweils die besten Arbeitsmethoden eingesetzt werden und der unproduktiven Stümperei, mit der heute soviel Arbeit vergeudet wird, ein Ende gemacht wird, wird in einer kurzen Arbeitszeit Überfluß für alle produziert werden können.

Die Arbeiterführer als Befreier

Im Grunde ist es also ganz einfach. Die Arbeiter müssen nur als Mehrheit in der richtigen Weise ihre Stimme abgeben und der Kapitalismus ist besiegt. Alle vier Jahre füllt der Arbeiter einen Stimmzettel aus. Mehr braucht er nicht zu tun; seine Abgeordneten tun den Rest. Er kämpft nicht selbst unaufhörlich für sein Recht; er überträgt seinen Kampf einem anderen, der für ihn kämpfen soll. Der Parlamentarismus ist ein Kampf zwischen anderen, den Führern. Auf diese anderen, die Abgeordneten, kommt es nun an, auf ihre Fähigkeit zum parlamentarischen Gezänk; deshalb sind es die Führer, die die eigentliche Arbeit tun, die sich am besten auskennen und deshalb selbstverständlich auch das meiste zu sagen haben.

Wir reden hier von Demokratie, weil das allgemeine Wahlrecht existiert. Aber diese parlamentarische Demokratie ist keine Herrschaft durch das Volk selbst, sondern durch die Parlamentarier. Nur am Wahltag selbst ist das Volk Herr; aber wehe, wenn es dann nicht gut wählt! Vier Jahre lang hat es dann nichts mehr zu sagen und vier Jahre lang können die Parlamentarier tun, was ihnen beliebt. Natürlich denken die Herren daran, daß nach vier Jahren erneut ein „Tag der Abrechnung“ kommt, aber sie setzen dann auf die notwendige Reklamekirmes, auf die großen Worte, die großartigen Prinzipien und geschickten Reden, um die Wähler so zu beeinflussen, daß es allein in wirklich extremen Fällen zu einer tatsächlichen Abrechnung kommt. Dann aber wird Piet durch Klaas ersetzt, der kaum anders ist als Piet. Außerdem: Suchen die Wähler in einem Bezirk denn selbst den Mann aus, der als ihr Vertrauensmann nach Den Haag geht? Keine Rede davon: Die verschiedenen großen und kleinen politischen Parteien stellen die Kandidaten auf, zwischen denen die Wähler sich entscheiden dürfen. Nur mit großer Mühe gelingt es manchmal Wählergruppen, selbst einen „wilden“ Kandidaten (so nennen sie das) aufzustellen und ihn wählen zu lassen; aber im Parlament steht so jemand allein und hat keinerlei Einfluß. Im Parlament spielen die großen politischen Parteien miteinander um die Macht.

Die parlamentarische Demokratie ist eine Scheindemokratie.

Der Parlamentarismus ist kein Instrument der Arbeiter, um sich selbst zu befreien; er ist ein Instrument, sich befreien zu lassen. Durch andere, die sagen: wählt uns und wir verschaffen euch den Sozialismus. Durch die Parlamentarier, durch die Arbeiterführer, durch die sozialistische Partei. Die Arbeiter stimmen für, soll heißen: sie geben den Auftrag an die sozialistischen Führer: Befreit uns, führt den Sozialismus ein und vernichtet den Kapitalismus. Die sozialistische Mehrheit im Parlament geht an die Arbeit, schickt die bisherigen Minister weg, beruft neue, sozialistische, setzt Gesetze in Kraft, mit denen sozialisiert wird, und unterdrückt derweil mit dem Staat im Rücken jeden Widerstand. Darauf folgt noch das Mühsamste, die Organisation und Steuerung der gesellschaftlichen Produktion. Es ist selbstverständlich, daß Sozialdemokraten, die den Kampf der Arbeiter hauptsächlich als einen Kampf der Führer sehen, sich auch eine sozialistische Gesellschaft nicht anders vorstellen können als von kompetenten Führern geleitet. Eine große Beamtenorganisation ist nötig, um das Kommando über die Produktion zu führen. Von ihren Fähigkeiten vor allem wird es abhängen, ob die Sache gut geht. Sie organisieren, und die Arbeiter gehorchen und arbeiten. Die Arbeiter spielen also weder in der Revolution noch im Aufbau des Sozialismus eine Rolle. Sie dürfen für die Führer stimmen, sie unterstützen, ihnen zujubeln und ausführen, was diese anordnen. Die wesentliche Arbeit machen die Führer; sie sollen deshalb auch – in demokratischen Formen – die wirkliche Macht haben. Die Arbeiter haben sich neue Herren an Stelle der alten gewählt, gute Herren an Stelle der schlechten. Diese verschaffen uns Sozialismus, Freiheit und Überfluß. Deshalb ist alles ganz einfach. So einfach, daß man sich fragt, ob es nicht zu einfach ist, um wahr sein zu können.

Und mit wie wenig Mühe das geschehen soll! In früheren Zeitaltern mußten die Bürger mit aller Macht dafür kämpfen, Leib und Leben einsetzen, gewalttätige Revolutionen in Szene setzen, um die Macht zu erobern. Die Arbeiter jedoch brauchen nur ihren Verstand zu gebrauchen und das Kreuz an der richtigen Stelle zu machen. Mehr brauchen sie für ihre Befreiung nicht zu tun. Und das, wo ihnen eine herrschende Klasse gegenüber steht, so mächtig an Geld und Besitz, an Wissen und Energie, an materiellen und geistigen Machtmitteln wie keine Klasse zuvor!

Kann irgendjemand daran glauben, daß sich eine solch mächtige Klasse in aller Ruhe enteignen läßt, sobald die Arbeiter eine sozialistische Mehrheit ins Parlament wählen? Jeder Arbeiter, auch wenn er sonst keine Ahnung hat, weiß und versteht, daß die Eroberung der Macht in der Gesellschaft nur das Ergebnis eines lang anhaltenden Kampfes, einer enormen Kraftanspannung und von schweren Opfern sein kann, daß seine Befreiung nur durch Kampf, Kraftanspannung und eigene Opfer möglich ist. Deshalb ist die Befreiung durch Parlament und Stimmzettel ein Trugbild. In der Idee der parlamentarischen Machteroberung ist von den Arbeitern kaum die Rede. Auch die Bourgeoisie ist offensichtlich nicht vorhanden und spielt keine Rolle. Lediglich die politischen Parteien, die Parlamentsabgeordneten und Minister werden erwähnt. Eine solche naive Vorstellung von einer ökonomischen Umwälzung, die gewaltiger ist, als alles, was die Welt je gesehen hat, kann nur bei Menschen entstehen, deren Horizont auf Politik beschränkt ist. Aber hinter all diesem parlamentarischen und politischen Getue stehen die Klassen, steht die Bourgeoisie und steht die Arbeiterklasse. Und der Kampf dieser beiden Klassen bestimmt die gesamte gesellschaftliche Entwicklung.

Die Bourgeoisie ist auch noch da

Die besitzende Klasse hat natürlich von vorneherein dafür gesorgt, daß die Parlamente nicht zu viele Entscheidungsbefugnisse erhalten. Die Herrschaft der Parlamentsmehrheit ist nur Schein. Neben dem Parlament gibt es auch noch andere politische Kräfte. Eine Parlamentsmehrheit kann ein Kabinett zum Abdanken zwingen. Aber sie kann keine neuen Minister ernennen. Das ist Aufgabe eines Königs oder eines Präsidenten. Die Umgebung eines Königs oder Präsidenten bilden einflußreiche Menschen, adelige Herren, hohe Offiziere, alte vornehme Politiker, reiche Kapitalisten; aus diesem Kreis und dessen Anhang oder auf deren Anordnung werden die neuen Minister benannt. Sie stellen eine Macht dar, die hinter den Kulissen wirkt und die vom reichsten und mächtigsten Teil der Bourgeoisie unterstützt wird.

Unterstellen wir, daß im Falle eines Konfliktes dieser Kreis doch einmal einen „echten“ Demokraten aus dem Parlament nehmen muß, dann sind dem Mann doch als Minister die Hände gebunden. Die gesamte Riege der hohen und niederen Beamten, die das Volk regieren und die Gesetze ausführen, in den Ministerien und außerhalb, bleibt dieselbe; einige von ihnen können sogar von Gesetz wegen nicht abgelöst werden, wie zum Beispiel die Richter. Diese Leute ändern nicht plötzlich ihre Richtung, nur weil die Minister wechseln. Überdies gehören sie selbst zur Bourgeoisie und fühlen sich als Teil der besitzenden Klasse. Selbst auf der untersten Stufe der Leiter, als Feldwächter oder Büroschreiber, fühlen sie sich als ein Teil der Obrigkeit, dazu berufen, das Volk zu regieren. Kann irgendjemand glauben, daß dieses Beamtenkorps sich von einem zum anderen Tag zum Werkzeug des Sozialismus machen ließe, auch wenn ein sozialdemokratisches Kabinett die Regierung stellt?

Eine Parlamentsmehrheit von sozialdemokratischen Arbeiterrepräsentanten würde damit auf ein Gebilde stoßen, das sie mit ihren eigenen Mitteln nicht besiegen kann. Gegen diese Absicherungen, mit denen die Bourgeoisie die Staatsorganisation versehen hat, sind alle Stimmzettel, alle Reden und alle Parteiklüngel machtlos. Das wissen die Sozialdemokraten selbst sehr gut, lediglich in ihrem Programm ist noch von der Einführung der „vollständigen Demokratie“ die Rede. Das wird allein dadurch möglich, daß sie sich auf die Arbeiter stützen. Diese sollen dann nicht durch den Stimmzettel, sondern mit aller Kraft ihre Macht gegen die Bourgeoisie ins Feld führen. Es kann aber auch schon geschehen, daß die besitzende Klasse den wachsenden parlamentarischen Einfluß der Arbeiter zu gefährlich findet; dann kann sie das allgemeine Wahlrecht wieder abschaffen, so sie noch über die parlamentarische Mehrheit verfügt. Mit parlamentarischen Mitteln kann man dagegen überhaupt nichts tun. Allein das Erscheinen der Arbeitennassen selbst kann das verhindern. Es kann als sicher gelten, daß teilweise schon die Furcht vor solchen massenhaften Auftritten der Arbeiter die Bourgeoisie davon abgehalten hat, das allgemeine Wahlrecht wieder anzutasten.3

Vor 25 Jahren wurde in Deutschland intensiv über die Abschaffung des Reichstagswahlrechts debattiert und dem der Generalstreik entgegengesetzt. Gegenwärtig hat die Bourgeoisie ein besseres Instrument zur Verfügung als die Abschaffung des Wahlrechts, nämlich die Ausschaltung des Parlaments und seine Ersetzung durch eine Diktatur – wie in Italien, Deutschland und anderen Ländern. Gegen die wirklichen Kräfte in der Gesellschaft, gegen den Macht- und Herrschaftswillen der Bourgeoisie ist die Parlamentswählerei völlig hilflos. In diesem essentiellen Kampf um die Macht, gegen diese wesentlichen gesellschaftlichen Veränderungen müssen die Arbeiter selbst auftreten. Die Macht, die im trügerischen Parlamentarismus ungenutzt bleibt, die Macht der Arbeiterklasse in ihrem Auftreten als Masse selbst, ist die einzige, die es mit der Bourgeoisie aufnehmen kann.

Der Nutzen des Parlaments, früher und heute

Nun stellt sich die Frage: Wenn die Grundidee der Befreiung durch den Parlamentarismus falsch ist, war es dann nicht schon immer die falsche Taktik, sich auf das Parlament zu stützen? War die Teilnahme an Wahlen nicht immer Kraftvergeudung? Dabei muß man freilich bedenken, daß sich die Gesellschaft beständig verändert. Was auf dem einen Entwicklungsstand gut und angemessen ist, kann auf einem anderen in die Irre führen und falsch sein. Die kapitalistische Gesellschaft hat sich in den letzten fünfzig Jahren stark verändert.

Als der Kapitalismus entstand, bestand die Bourgeoisie aus einer großen Zahl mäßig reicher Kapitalisten, die allein dadurch die Macht ergreifen konnten, daß sie die Parlamente gegen Fürsten und Adel stärkten. In dieser Zeit bildete sich auch die Arbeiterklasse, indem verarmte Handwerker und Bauernsöhne vom Land in die Stadt zogen, ohne einen Begriff von den neuen kapitalistischen Verhältnissen zu haben. Um sie zu organisieren, Klassenbewußtsein zu wecken und ihnen die Perspektive von Arbeitern zu vermitteln, schienen damals Wahlen ein hervorragendes Mittel zu sein. Das zog sie zu Versammlungen und in den Strom des öffentlichen politischen Lebens, das weckte ihr Interesse für gesellschaftliche Fragen, auf diese Weise wurde ihnen der Begriff des Sozialismus und die Notwendigkeit von Organisation nahe gebracht. Wo die Arbeiter kein Wahlrecht hatten, hat der Kampf um das allgemeine Wahlrecht in dieselbe Richtung gewirkt, die wachsenden Arbeitermassen in den Industriebezirken zum Kampf gegen den Kapitalismus aufzurütteln.

Dabei galt die Lehre, daß durch Wahlen auf die Dauer der Sozialismus und die Befreiung der Arbeiter kommen würden. In der realen Praxis dienten Wahlen jedoch dazu, den Kapitalismus zu einer erträglichen und akzeptablen Lebensform für die Arbeiter zu machen. Im Kapitalismus sind beide, Kapitalisten und Arbeiter, notwendig. Sie bekämpfen einander aufgrund ihrer widersprüchlichen Interessen, aber sie erfüllen dabei beide ihre Rollen. Ein normaler Kapitalismus kann allein dann bestehen, wenn die Arbeiter freie Menschen sind, imstande ihre Interessen zu verteidigen, versehen mit den Rechten und Freiheiten freier Bürger, mit dem Recht sich zu vereinigen, dem Streikrecht, der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, mit Wahlrecht, um das alles zu verteidigen. Ohne all das, und so auch ohne eine Arbeiterpartei, die im Parlament und außerhalb die direkten Interessen der Arbeiter verteidigt, ist der Kapitalismus nicht vollständig. Deshalb ist die Sozialdemokratie, nicht anders als die Gewerkschaften, ein unverzichtbares Organ der kapitalistischen Gesellschaft – das Organ, durch das alle Interessen, die die Arbeiter im Kapitalismus haben, auf eine geregelte Art und Weise zum Ausdruck kommen.

Einmal zum Organ des Kapitalismus geworden, kann die Sozialdemokratie sich von diesem Boden nicht mehr losmachen. Sie kann nicht zugleich Organ des Kapitalismus und Organ der Revolution sein. Sie redet natürlich viel über Revolution. Aber wenn sie die Arbeitermassen zu revolutionären, gegen den Staat gerichteten Aktionen aufrufen würde, dann würde die Staatsmacht ihre Organisation auflösen, ihre Konten in Beschlag nehmen, ihre Führer gefangen setzen. Damit wäre ihrer Existenz und ihrer Arbeit ein Ende gemacht. Darum fürchtet sie eine Revolution der Arbeiter durch Massenaktionen. Wenn diese jedoch ohne ihren Einfluß entstünden und Erfolg hätten, dann würde die Sozialdemokratie versuchen, sich an die Spitze der Bewegung zu setzen, um sie zu bremsen und in eine größere Regierungsgewalt für sich selbst umzulenken. Sie kann die Arbeiter nur als Wähler brauchen. Deshalb ist ihr höchstes Ziel, durch Wahlen eine Parlamentsmehrheit zu erreichen, um dann das Kabinett zu stellen. Wie sehr sie sich jedoch als Organ des Kapitalismus im Dienste der Arbeiterinteressen versteht, geht aus ihrer Praxis hervor, solange sie noch keine Mehrheit hat, sozialistische Minister zusammen mit anderen Parteien die Regierung bilden zu lassen. Dabei müssen diese Sozialdemokraten dann zugleich die Geschäfte der besitzenden Klasse betreiben und die Interessen des Kapitalismus wahrnehmen. In diesem Moment sind sie nichts anderes mehr als sozial fühlende bürgerliche Politiker. Noch schlimmer machte es die deutsche sozialistische Partei, als bei der Revolution 1918 die Macht in die Hände der Arbeiter gefallen war. Sie ließ den revolutionären Teil der Arbeiter durch Noske und die Generäle niederwerfen, bildete danach eine „sozialistische“ Regierung, tat dann aber für die Einführung des Sozialismus nicht mehr, als eine Kommission zu benennen, die darüber beraten sollte, welche Großbetriebe reif für die Nationalisierung waren. Unter dem Schutz der sozialistischen Regierung, die die Arbeiter mit süßen Reden bei Stimmung hielt, konnte das deutsche Kapital sich wieder erneuern und seine Macht wieder aufrichten. Danach wurden die sozialistischen Minister wieder nach Hause geschickt. Jetzt genießen die deutschen Arbeiter die Früchte dieser Arbeit. Früher konnte die Sozialdemokratie im Parlament für die täglichen Interessen der Arbeiter wirken. Aber in den letzten fünfzig Jahren Entwicklung hat sich auch der Kapitalismus verändert. Das Kapital ist in dieser Zeit enorm konzentriert worden. Von der großen Klasse der mittelständischen Selbständigen ist kaum noch etwas übrig. Riesige Banken, Konzerne und Monopole beherrschen das ökonomische Leben. Diese Großkapitalisten können ihre Interessen viel besser hinter den Kulissen bei Fürsten, Präsidenten und Ministern vertreten und durchsetzen als im Parlament. Deshalb verlieren die Parlamente immer mehr an Macht. Manchmal werden sie sogar ganz ausgeschaltet und durch eine Diktatur ersetzt, anderswo mißraten sie zu unwichtigen Schwatzbuden, auf die nur noch die sozialdemokratischen Arbeiter mit Achtung schauen. Haben unter diesen Umständen Parlamentswahlen keinen Nutzen mehr? O doch, sie haben einen großen Nutzen – nämlich für das Kapital. Während Wahlen früher den Arbeitern nutzten, hatten sie zugleich auch Nutzen für die Bourgeoisie, weil sich dabei der Kapitalismus ruhig und ungestört entwickeln konnte, ohne daß unter den Arbeitern immer wieder Aufstände ausbrachen.

Heute, da die Wahlen für die Arbeiter unbedeutend geworden sind, haben sie für den Kapitalismus jedoch ihren Nutzen bewahrt. Denn solange die Arbeiter wählen gehen und davon etwas erwarten, verschwenden sie ihre Gedanken nicht an andere Aktionen, die den Kapitalismus wirklich berühren würden.

Arbeiter, die an Wahlen teilnehmen, geben damit zu erkennen: Wir lassen uns noch brav an der Nase herumführen; der Kapitalismus kann beruhigt sein, er ist noch sicher.

Die kommunistische Partei

Wir haben die ganze Zeit von der Sozialdemokratie gesprochen. Ganz anders aber ist die kommunistische Partei, ruft sie doch die Arbeiter immer wieder zu Revolution und Aktionen auf. Es ist richtig, sie unterscheidet sich darin von der Sozialdemokratie, daß sie gewaltigere Worte verwendet, in scharfen Worten über die Kapitalisten und ihre Wortführer schimpft und in donnernden Kraftworten zur Revolution aufruft. Aber in Ziel und Praxis unterscheidet sie sich eigentlich nicht von der Sozialdemokratie. Sie setzt genauso auf Wahlen, mit demselben Erfolg: Wenn die Arbeiter zustimmend lesen, wie die Parteikommunisten im Parlament auf die Bourgeoisie einschlagen, sagen sie: Was sich diese Kerle trauen! Die müssen wir haben, die sollen uns befreien! Und dann werfen sie einen roten Wahlzettel in die Wahlurne und vergessen, daß sie selbst gegen den Kapitalismus kämpfen müssen.

Die kommunistische Partei will die Arbeiterrevolution in den großindustriellen Ländern Westeuropas genau so durchführen wie die bolschewistische Revolution in dem frühindustriellen und bäuerlichen Rußland, natürlich unter der Führung der Partei. In Rußland herrscht Staatskapitalismus. Dort steuert und reguliert eine allmächtige Staatsund Parteibürokratie die gesamte Industrie. Die Arbeiter werden von oben herab herumkommandiert, auch werden von oben Arbeitslohn und Arbeitszeit festgesetzt. Diese Herrschaft der Parteiführer über die Arbeiterklasse und diese Regelung der Industrie durch eine Steuerungsorganisation ist auch ihr Ziel für Westeuropa.

Die direkte Aktion der Massen

Auch in früheren Zeiten hat es Aktionen der Arbeitermassen gegeben, wo die Kraft des Parlaments nicht weit genug reichte. Zum Beispiel vor etwa einem halben Jahrhundert Massendemonstrationen und Generalstreik zur Eroberung des allgemeinen Wahlrechts in Belgien. Die Sozialdemokratie glaubt, daß solche Aktionen manchmal notwendige, aber doch außergewöhnliche Ereignisse sind, eine Art reinigendes Unwetter, nach dem der normale parlamentarische Geschäftsgang wieder wie gewohnt ablaufen kann. Das war möglich, weil die Aktionen gelangen und die Bourgeoisie schnell nachgab. Was aber, wenn die Bourgeoisie einmal nicht nachgibt, weil es um ihren Herrschaftsanspruch geht?

Kann dann die Arbeiterklasse durch solche Massenaktionen doch die Bourgeoisie besiegen?

Wir können natürlich zukünftige Ereignisse nicht präzise vorhersagen.

Noch weniger kann jemand Rat geben, wie die Arbeiter dann, später, handeln müssen. Man kann allein aus dem, was bei bisherigen Massenaktionen wie bei früheren Revolutionen geschehen ist, einigermaßen ableiten, welche Kräfte dabei auftreten und welche Wirkungen sie haben.

Wir setzen hier voraus, daß die Arbeiter die Masse der Bevölkerung ausmachen und daß die besitzende Klasse eine Minderheit darstellt. Aber diese Minderheit stützt sich auf die Staatsmacht. Die Staatsmacht besteht aus einer Beamtenorganisation, überall in der Bevölkerung verstreut, die selber eine Minderheit ist, jedoch durch eine straffe Organisation verbunden und durch einen gemeinsamen Geist beseelt ist sowie durch einen Willen aus dem Herrschaftszentrum heraus geführt wird; außerdem verfügt sie, falls nötig, über die bewaffnete Macht der Polizei und des Heeres. So kann sie eine Bevölkerungsmehrheit von vereinzelten Menschen ohne Einheit und verbindendes Element beherrschen.

Wenn jedoch die Arbeiter als eine fest geschlossene Masse in einer Riesenkundgebung gegen die Regierung aufziehen, dann versteht sie das als einen Aufstand, der den Kern ihrer Macht berührt. Sie kann nicht gleichgültig bleiben und sagen: Laßt sie mal machen. Sie kann auch nicht nachgeben wollen. Deshalb versucht sie, mit ihrer Macht die neue Macht zu brechen. Sie ruft Verbote aus, verkündet neue, einschränkende Gesetze, schickt die Polizei ins Feld. Ist jedoch der Zusammenhalt, die Geschlossenheit, die Masse auf der Kundgebung so groß, daß sie sich nicht zerstreuen läßt, dann hat die Autorität bereits Schaden davon getragen. Die Staatsmacht hat zwar noch stärkere Waffen; sie hat das Heer. Aber die Erfahrung zeigt, daß auf die Dauer Soldaten, die gegen Massenaktionen eingesetzt werden, aber selber aus dem Volk stammen, wankelmütig und unzuverlässig werden. Auch die Arbeiter haben stärkere Waffen: Massenstreiks, durch die die gesamte gesellschaftliche Struktur durcheinander gerät. Kann die Regierung diese Aktionen nicht unterdrücken, und das ist der Fall, solange sie nicht die „Ordnung wiederhergestellt“ hat, dann verliert sie noch mehr an Autorität. Außerdem wird durch allgemeine Verkehrsblockaden die Verbindung zwischen den lokalen Autoritäten und der zentralen Regierung unterbrochen. Jeder Bürgermeister muß dann auf eigene Verantwortung handeln; die Einheit und der feste Zusammenhalt der gesamten Staatsmacht werden damit zerrüttet. Natürlich versucht umgekehrt die Regierung zusammen mit der besitzenden Klasse die Organisation4 und die Einheit der kämpfenden Arbeitermassen zu brechen, durch die Ausrufung des Belagerungszustandes, durch die Inhaftierung von Anführern oder Wortführern, durch den Einsatz von Gewalt an der einen Stelle, durch Versprechungen und Zugeständnisse an der anderen, und durch die Verbreitung von Falschmeldungen über Fehlschläge, um das Selbstvertrauen der Arbeiter zu mindern. Und vor allem durch die traditionelle Aufsplitterung der Arbeiter in allerlei Verbände, Parteien, Richtungen und Ideologien, durch die Führer dieser Verbände, oder sie setzen darauf, Uneinigkeit und Mißtrauen unter den Arbeitern zu säen. In jeder Aktion kommt es deshalb darauf an, welcher Teil der kämpfenden Mächte innerlich der stärkste und am meisten gefestigte ist. Jeder bezwingt durch die eigene Stärke die des Gegenübers.

Bei ihren ersten Massenaktionen – die teilweise aus politischen Konflikten, teilweise aus großen Streiks, zum Teil aber auch aus Notlagen entstehen können – ist die Macht der Arbeiter noch gering. Sie können zwar manchmal bescheidene Erfolge verbuchen, wenn es um ein begrenztes Ziel geht. Aber oft erleiden sie auch Niederlagen. Die innerliche Zersplitterung in viele Verbände und Parteien wirkt noch nach, Selbstvertrauen, Einsicht und Solidarität sind noch unzureichend. Solange sie auch noch ihr Vertrauen in andere setzen und glauben, daß die sozialdemokratische oder kommunistische Partei sie durch das Parlament befreien kann, werden sie sich von den Mühen und Opfern der direkten Aktion abschrecken lassen. Am Ende werden sie aber trotzdem kämpfen müssen, immer wieder aufs Neue, durch die Not im Kapitalismus gezwungen. Und mit jeder Kampferfahrung wachsen ihre Kraft und ihr Zusammenhalt. Nicht auf einmal, aber in einer Reihe von revolutionären Massenbewegungen kann die Arbeiterklasse siegen. Denn die wesentliche Bedingung ihres Sieges ist, sich selbst zu einer festen, durch stahlharte Solidarität unantastbaren Kampfmacht zu machen, der gegenüber alle Unterdrückungsversuche der Staatsmacht machtlos abprallen. Natürlich ist das nicht einfach. Was hier in einfachen zusammenfassenden Worten gesagt wird, wird eine lange Zeitspanne – wie lange wissen wir nicht – und schwere Kämpfe brauchen, auf die spätere Geschlechter als wichtigste Umwandlungsphase in der Geschichte zurückblicken werden. Noch nie zuvor in den Revolutionen vergangener Zeiten stand der aufkommenden Klasse ein so starker, gerüsteter Feind gegenüber. Aber auch noch nie zuvor besaß sie solche Kraft. Die Bourgeoisie wird bis zum Äußersten kämpfen, denn für sie geht es um Leben und Tod. Auch wenn das eine Regierungssystem zusammenbricht, wird sie Mittel und Wege finden um ein neues zu errichten. Drohen Massenstreiks, organisiert sie Heere von Streikbrechern, um die Schlüsselindustrien weiter betreiben zu können. Sind die normalen Truppen unzuverlässig, dann stellt sie fanatische Freikorps aus kleinbürgerlichen und subproletarischen Elementen und solchen mit mangelndem Klassenbewußtsein auf, die für sie kämpfen. Aus der modernen Kriegstechnologie wird sie grausame Angriffswaffen gegen aufständische Arbeiter einsetzen. Versuchen die Arbeiter besetzte Fabriken zu Stützpunkten im Kampf auszubauen, dann wird sie versuchen, die Fabriken mit gehorsamen „gelben“ Elementen weiter zu führen.5 Das alles kann ihr in einem solch außergewöhnlichen Fall hilfreich sein. Aber danach werden die Geschlossenheit und der Zusammenhalt der Arbeitermassen wieder zu großer Macht anwachsen. Denn diese ziehen stets neue Kraft aus der Tatsache, daß sie die Arbeiter sind, die die Welt, ihre Welt tragen, daß sie ihre Freiheit erringen müssen, während die anderen, durch die Entwicklung überflüssig geworden, eine Parasitenklasse darstellen, die künstlich ihre Herrschaft aufrecht zu erhalten versucht. Es ist kein anderes Ende möglich, als daß die Staatsmacht zerbröselt und zu Staub zerfallt, ihre Autorität verfliegt und die vormalige Bourgeoisie machtlos wird. Dann besitzt die Arbeiterklasse die politische Herrschaft, dann hat sie die Macht über die Gesellschaft erobert. Das ist dann der Zustand, den Marx die Diktatur des Proletariats genannt hat.

Die Arbeiterräte

Der revolutionäre Kampf der Arbeiterklasse wird meist als im Wesentlichen destruktive, zerstörende Kraft verstanden. Die Organe der alten Autorität der Bourgeoisie müssen besiegt werden und gehen dabei zu Grunde. Natürlich müssen in diesem Fall zugleich neue Institutionen aufgebaut werden, die der Einheit und dem Zusammenhalt der Arbeiter entsprechen. Weil Einheit im Handeln zentrale Steuerung hervorbringt und die Führung als Vertreter doch von allen demokratisch gewählt werden muß, liegt der Irrtum nahe, daß auf diese Weise durch die Arbeiter doch wieder eine neue Staatsmacht, Regierung und Parlament eingeführt werden müssen. Vor allem, um die Gesetze zu erlassen, mit denen das neue sozialistische Eigentumsrecht eingeführt wird. So kommt man, scheint es, doch wieder dorthin, wo auch die Sozialdemokratie hin will. Das ist aber nur scheinbar so. Zum ersten ist es nicht richtig, daß neue Eigentumsformen durch Gesetze eingeführt werden müssen. Ein Gesetz kann genauso gut lediglich als bindende Regel festhalten, was bereits zum größten Teil Realität geworden ist. Während des Kampfes selbst haben die Arbeiter die Produktionsmittel, die Fabriken in Besitz genommen, weil sie sie zum arbeiten brauchen, um die lebensnotwendigen Produkte herzustellen. Die gesetzliche Regelung folgt dem lediglich. Auch ist es durchaus richtig, daß die siegreiche Arbeiterklasse Organe schaffen wird, mit denen die Einheit des Handelns garantiert wird. Diese werden aber völlig anders aussehen als Parlamente oder Regierungen. Sie erwachsen aus den gesellschaftlichen Notwendigkeiten und beginnen sich bereits im Kampf selbst zu bilden. Bei jedem großen Kampf, zum Beispiel einem Streik, der viele Fabriken erfaßt, müssen die Arbeiter für Einheit im Handeln sorgen, indem sie sich beständig darüber verständigen. Weil nicht die gesamte Masse in einer Versammlung diskutieren kann, schickt jede Belegschaft ihre Sprecher. Bei Massenbewegungen, die sich über größere Gebiete erstrecken, ist dies noch viel notwendiger. In diesem Fall werden die Versammlungen der Abgeordneten der jeweiligen Fabriken und Werkstätten zu den wichtigsten Organen, die die Leitung innehaben. Das sind die Arbeiterräte. Sie sind etwas ganz anderes als Parlamente, weil die Räte jeweils Vertreter der Betriebsgruppen sein werden, die sie entsenden, und sagen und tun werden, was diese Gruppen denken und wollen und in jedem Moment abberufen und von anderen Vertretern ersetzt werden können. Sie haben deshalb nichts von unabhängigen Führern. Die Arbeiter selbst können jederzeit über alles entscheiden und sind selbst verantwortlich. Das ist der Beginn der Arbeiterdemokratie, der wahren Demokratie, im Gegensatz zum scheindemokratischen Parlamentarismus.

In dem Maße, in dem die Macht der Arbeiter in revolutionären Bewegungen zunimmt und die des bürgerlichen Staatsapparates schwindet, erhalten diese Arbeiterräte stets größere und wichtigere Aufgaben. Sie müssen dabei jeweils unterschiedliche Formen annehmen, die der Forderung des jeweiligen Augenblicks entsprechen: hier Streikleitung, dort Organ für die Lebensmittelversorgung oder -produktion, woanders Regierungsorgan für die Handhabung der neuen Ordnung. Denn in dem Maße, in dem die Macht der Arbeiter wächst, werden ihre Institutionen mehr und mehr zur rechtlichen Autorität der Gesellschaft, während die ehemalige besitzende Klasse, die durch ihren Widerstand die neue Ordnung stört, unterdrückt werden muß.

Die Arbeiterräte sind die politischen Organe der Diktatur des Proletariats. Durch die Art und Weise, wie sie gewählt werden, bleibt die Bourgeoisie von ihnen völlig ausgeschlossen. Wer darin einen Verstoß gegen die Demokratie, gegen die Rechtsgleichheit jedes Menschen sieht, muß berücksichtigen, daß die Bourgeoisie kein Existenzrecht mehr hat und verschwinden muß – im Gegensatz zum Kapitalismus, in dem beide, Bourgeoisie und Arbeiterklasse, notwendig sind und deshalb einander anerkennen müssen. In der neuen Gesellschaft gibt es nur noch Arbeiter, die gemeinsam ihre Arbeit regeln und darüber entscheiden, in Industrie und Landwirtschaft, im kleinen Maßstab der Fabrik wie im großen Maßstab des Volkes, des Staates und der Menschheit, die das Zusammenwirken der Weltproduktion zu regeln und zu organisieren hat. So kann es als sicher gelten, daß eine Befreiung der Menschheit aus dem Kapitalismus auf parlamentarischem Wege, in dem die Arbeiter ihren Kampf auf Führer übertragen, nicht möglich ist. Sie ist nur durch Massenaktionen der Arbeiter selbst möglich. Bei ihren Versuchen, diese Massenbewegung zu unterdrücken, wird die Staatsmacht, als Organ der herrschenden Klasse, schließlich in einer revolutionären Phase zu Grunde gehen. Die siegreiche Arbeiterklasse errichtet die neue kommunistische Gesellschaft und sie organisiert die Arbeit nach den Vorgaben der Arbeiterräte. Die Befreiung der Arbeiter kann nur das Werk der Arbeiter selbst sein.


1[ED.] (Anonym), De Arbeiders, het Parlement en het Kommunisme. Uitgeven door: Groep van Internationale Communisten (G.I.C.), Amsterdam 1933. In einigen Exemplaren ist neben der GIC die „Linksche Arbeiders Oppositie” (LAO) als Mitherausgeber aufgeführt; wieder abgedruckt wurde der Text in dem Band: Anton Pannekoek, Partij, Raden, Revolutie. Samengesteid en van aantekeningen voorzien door Jaap Kloosterman, Amsterdam 1972, S. 63-80. Dem Text vorangestellt ist folgende redaktionelle Vorbemerkung:

„Zielsetzung

Die kapitalistische Entwicklung führt zu stets heftigeren Krisen, die in einer stets größeren Erwerbslosigkeit und einer immer tiefer gehenden Erschütterung der Wirtschaft zum Ausdruck kommen. Millionen Arbeiter werden dadurch von der Produktion ausgeschaltet und dem Hunger preisgegeben. Zugleich verschärfen sich die Gegensätze der verschiedenen kapitalistischen Länder so, daß die Konkurrenz, zum Wirtschaftskrieg geworden, ausmünden muß in einen neuen Weltkrieg.

Die fortschreitende Verarmung und die wachsende Unsicherheit der bloßen Existenz zwingen die Arbeiterklasse, für die kommunistische Produktionsweise zu kämpfen. Die Gruppen internationaler Kommunisten fordern die Arbeiter in diesem Kampf auf, Verwaltung und Leitung von Produktion und Distribution nach allgemein geltenden, gesellschaftlichen Regeln selbst in die Hand zu nehmen, um so die Assoziation freier und gleicher Produzenten zu verwirklichen. Die Gruppen internationaler Kommunisten sehen in der Entwicklung des Selbstbewußtseins der Arbeiter den wesentlichen Fortschritt der Arbeiterbewegung. Sie bekämpfen darum die Führerpolitik der parlamentarischen Parteien und der Gewerkschaften und erheben als Kampfeslosung: Alle Macht den Arbeiterräten!”

2Damit ist der Nährboden der „allmählichen Anhebung des Lebensstandards” zerstört und die Verarmung der Massen setzt sich fort.

3Zum anderen war es die Überzeugung, daß das allgemeine Wahlrecht als Sicherheitsventil, durch das sich die allgemeine Unzufriedenheit der Massen entladen kann, eine ruhige kapitalistische Entwicklung sicherstellt.

4Wenn hier von Organisation gesprochen wird, dann natürlich niemals im Sinne von Mitgliedschaft in einer Vereinigung, sondern allein im Sinne einer festen, unzerbrechlichen Einigkeit im Handeln.

5[ED] „Gelb” bezeichnet die Arbeiter und Arbeiterorganisationen, die die Idee des Klassenkampfes und seine Notwendigkeit bestreiten. Zum Teil von Seiten der „Kommunistischen Internationale” für die Sozialdemokratie verwandt, teilweise auch für Streikbrecher, wie in dem vorliegenden Zusammenhang.

]]>
(1920) Anton Pannekoek, Weltrevolution und kommunistische Taktik https://panopticon.blackblogs.org/2023/08/08/1920-anton-pannekoek-weltrevolution-und-kommunistische-taktik/ Tue, 08 Aug 2023 10:40:27 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5107 Continue reading ]]> (1920) Anton Pannekoek, Weltrevolution und kommunistische Taktik

Ein paar Wörter von uns, wir haben diesen Text von Anton Pannekoek, samt der Einleitung von der Internationalistischen Kommunistischen Gruppe veröffentlicht, im Falle von IKG um den ganzen nochmals einen historischen Blick zu geben, weil der von Anton Pannekoek 1920 veröffentlichte Text viele Fragen aufwirft die für alle Anarchistinnen, Anarchisten und sämtliche Revolutionäre die den Staat-Kapital zerstören wollen noch heutzutage von Bedeutung sind.

Nicht nur dass mit diesem Text Anton Pannekoek mit seiner sozialdemokratischen Vergangenheit komplett bricht und schon, bewusst oder unbewusst, den neue radikale Form der Sozialdemokratie seiner Zeit anfangen würde zu kritisieren, nämlich den Leninismus, sondern er erkennt mehrere Punkte die von enormer Bedeutung sind, wenn auch die Einleitung von IKG mehr darauf eingeht, hier ein paar Punkte. Die Herrschaft des Kapitalismus ist international, und genauso international muss seine Zerstörung sein, daher seine Analyse des Kapitals auf Weltebene. Dass die Demokratie die beste Herrschaftsform für den Kapitalismus ist und diese genauso angegriffen werden muss. Dass die Aufgaben aller Feinde des Kapitals-Staates immer praktischer Natur sein werden, dass diese niemals im Opportunismus und Reformismus verfallen darf. Dies uns vieles mehr kommt in diesem Text zur Sprache.

Soligruppe für Gefangene


Einleitung von GCI-IKG

Dieser Text stellt die zur Zeit beste Gesamtdarstellung des Standpunkts der kommunistischen Linken zu allen entscheidenden Problemen (vor allem in der unmittelbaren Zukunft) dar, die in der internationalen kommunistischen Bewegung bestehen: Opportunismus in der KI, Parlamentarismus, Frontismus, Gewerkschaftswesen/Syndikalismus, Arbeiterkontrolle, Arbeiterregierung…. Leider können wir ihn aus Platzgründen nicht in einer einzigen Ausgabe von Comunismo veröffentlichen, aber der zweite Teil wird in einer der nächsten Ausgaben erscheinen1. Obwohl dieser Artikel als Antwort auf Radeks Text „Die Entwicklung der Weltrevolution und die Taktik der kommunistischen Parteien im Kampfe um die Diktatur des Proletariats“ geschrieben wurde, einen Artikel, den Pannekoek als „die programmatische Schrift des kommunistischen Opportunismus“ bezeichnet, erhält dieser Text in dem Maße, in dem Radeks (und Levys) Politik von Lenin und allgemein von der Führung der KI übernommen wird, eine viel allgemeinere Gültigkeit. Die Lesenden sollten bedenken, dass dieser Text zeitgleich mit Lenins Text „Die Kinderkrankheit“ verfasst wurde und dass Pannekoek noch nicht wusste, dass die Führung der Bolschewiki die opportunistischen Positionen einnehmen würde, die er hier kritisiert, was erst auf dem Zweiten KI-Kongress und auf der Grundlage der Veröffentlichung von Lenins Pamphlet deutlich werden wird. Deshalb gibt es hier keine explizite Kritik an der bolschewistischen Führung, sondern fast eine Entschuldigung für sie, obwohl er in Wirklichkeit von A bis Z kritisiert, was später als marxistisch-leninistische Politik2 bekannt sein wird.

Es besteht kein Zweifel daran, dass man diesen Text am besten liest, wenn man immer den historischen Kontext im Auge behält (wofür es zum Beispiel sehr wichtig ist, die Chronologie nachzulesen, die wir in früheren Ausgaben veröffentlicht haben) und um zu wissen, worum es ging, Lenins Artikel über „Die Kinderkrankheit“ als parallelen und widersprüchlichen Text liest.

Im Allgemeinen wurde in der internationalen kommunistischen Linken der Artikel „Antwort auf Lenin“ von Herman Gorter als Gegenpol zu Lenins „Die Kinderkrankheit“ betrachtet, in dem der Autor erklärt, dass der Artikel „Die Kinderkrankheit des Kommunismus“ …. „für das revolutionäre kommunistische Proletariat das ist, was Bernsteins Buch für das vorrevolutionäre Proletariat war“. Der Artikel von Gorter, der zu einer Zeit geschrieben wurde, als die ersten katastrophalen Ergebnisse der von Lenin vertretenen opportunistischen Politik in Westeuropa bereits verifiziert waren, wird jedoch, obwohl er sehr wichtige Elemente beisteuert, von einer völlig falschen Idee beherrscht, nämlich dass die leninistische Politik, die in Westeuropa in eine Sackgasse führte, auch anderswo gültig sein könnte und Lenin zugestanden wird, dass sie in Russland gültig war. Das öffnet natürlich die Tür für die Ideologie von verschiedenen Revolutionen in verschiedenen Ländern, von nationalen Revolutionen, von der Gültigkeit demokratischer Aufgaben in dem einen oder anderen Land, vom Bündnis der Arbeiter und Bauern (Hammer und Sichel) für die Entwicklung des Kapitalismus? Dies wird sogar dazu führen, dass Teile der „kommunistischen Linken“ die Einzigartigkeit der Weltrevolution des Proletariats völlig aus den Augen verlieren und sogar den proletarischen Charakter der Revolution in Russland leugnen (Assimilierung der Bewegung an ihre Banner und ihre Führer), um wie Gorter sie als eine doppelte Revolution, teils proletarisch und teils bourgeois-demokratisch, zu betrachten. Die Krönung dieser Auffassung ist eine bis zur Absurdität getriebene, totale Reduzierung des geografischen Raums und des Subjekts der kommunistischen Revolution. Ein paar Jahre später wird Gorter im Manifest der „Kommunistischen Arbeiter-Internationale“ sagen: „Die wirklichen Länder der proletarischen Revolution sind England, Deutschland und ein Teil des östlichen Teils der Vereinigten Staaten“ (!!!).

Es liegt auf der Hand, dass diese Art von Material trotz dieser Fehler für verschiedene informative, methodische und konzeptionelle Aspekte wichtig ist, die die Stärken und Schwächen der internationalen kommunistischen Linken gut oder schlecht zum Ausdruck bringen, die es nie geschafft hat, sich angesichts der Degeneration der KI als echte alternative revolutionäre Führung des Avantgardeproletariats zu konstituieren.

Aber wenn wir Pannekoeks Artikel den Vorrang geben, dann nicht zufällig, sondern gerade weil die zentrale Achse des Textes (trotz dieses und jenes Punktes) die des Weltkapitalismus und der kommunistischen Weltrevolution ist. Und dass diese oder jene Taktik in Russland gültig und daher auch anderswo anwendbar war, was das starke Argument für das Manövrieren in der KI und die Anwendung aller taktischen Mittel des Opportunismus war, haben die kommunistische Linke im Allgemeinen und Pannekoek im Besonderen immer bestritten, aber es scheint uns, dass die beste Antwort von der russischen kommunistischen Linken selbst gegeben wurde, denn es waren die Protagonisten selbst, die die historische Falschheit von Lenins Argument anprangerten.

So behaupteten die Besten der bolschewistischen Partei gemeinsam mit Miasnikow, dass die Revolution in Russland nicht dank der Einheitsfront mit den Menschewiki, Populisten und Sozialrevolutionären gesiegt habe, sondern durch den Kampf gegen sie. Siehe Miasnikovs Manifest, das wir, wie du verstehen kannst, nicht zufällig veröffentlicht haben (A.d.Ü., erschien in derselben Ausgabe wie der Text von Pannekoek).

Das heißt, dass alles, was in diesen Artikeln besprochen wird, „die Weltrevolution und die Taktik des Kommunismus“ betrifft und keinesfalls auf ein regionales, westliches oder nationales Problem reduziert werden kann…

In dieser Darstellung, in der wir uns nicht damit aufhalten können, alle positiven oder negativen Punkte von Pannekoeks Beitrag aufzuzählen, wollen wir hervorheben, dass er nicht nur methodisch nie das weltweite Wesen des Kapitals aus den Augen verliert, sondern sogar so weit geht, die Umkehrung/Verwechslung von Zielen und Mitteln eingehend zu analysieren, die das Schlüsselelement ist, um die leninistische Peroration des Gegensatzes zwischen Taktik und Prinzipien aufzulösen. So stellt Pannekoek zum Beispiel im Gegensatz zu dem, was Lenin der kommunistischen Linken zuschreibt, keinen platonischen Gegensatz zwischen dem bourgeoisen Parlament und den Arbeitersowjets auf und leitet daraus ab, dass das Parlament nicht auf revolutionäre Weise genutzt werden sollte, sondern er geht der parlamentarischen Struktur auf den Grund, analysiert ihre Funktionsweise und die Folge, die sie hat, indem sie die Masse der Proletarier in Zuschauer verwandelt, denn unabhängig von jedem parlamentarischen Diskurs,3 wenn ihre Vertreter im Parlament sitzen, wird ihnen gesagt, dass es einem Zweck dient. So können sie erklären, dass das Parlament zwar als Mittel, als Taktik gilt und das theoretische Ziel der Partei die kommunistische Revolution bleibt; in Wirklichkeit ist der Kommunismus aber nur der Köder, das Mittel, um Arbeiterinnen und Arbeiter zur Unterstützung einer parlamentarischen Politik zu rekrutieren.

Dieser allgemeine Grundsatz, den Pannekoek aufstellt, gilt für alle opportunistischen Taktiken und wird in allen Parteien der bourgeoisen Linken bestätigt: Sie sagen, sie gehen ins Parlament, in die Gewerkschaften/Syndikate, in die Ministerien…, um die Revolution zu machen, in Wirklichkeit rekrutieren sie mit der zukünftigen Revolution, um ins Parlament, in die Gewerkschaften/Syndikate, in die Ministerien zu gehen.…

Dies hängt mit einem weiteren Punkt zusammen, der die Aufmerksamkeit des Lesers verdient. Um seine „infantilistischen“ Gegner lächerlich zu machen, nimmt der Leninismus den Gegensatz Massen/Bosse, der in sehr vielen Äußerungen der kommunistischen Linken auftaucht, vor allem in der deutsch-holländischen und ausdrücklich in diesem Text von Pannekoek. Es stimmt, dass es eine klassische, für die anarchistische Ideologie typische Auffassung dieses Problems gibt, nach der die Massen von Natur aus immer im Recht und sogar revolutionär wären, das Problem aber die Bosse wären, die die Bestrebungen der Massen systematisch verraten würden. Eine solche Auffassung ist – wie Marx bereits dargelegt hat – absurd, weil sie nicht erklären kann, warum sich die revolutionären Massen immer von Konterrevolutionären anführen lassen. Wäre dieser vereinfachende Gegensatz, der typisch für die vulgäre Logik ist, tatsächlich gültig, wäre die Revolution extrem einfach, die revolutionären Massen würden den Anführern die Köpfe abschlagen und es gäbe kein Problem. Wenn Letzteres gar nicht so einfach ist, liegt das daran, dass es etwas in den Massen gibt, das sie dazu bringt, „Verräter“ zu wählen, oder das sie dazu bringt, immer von den „Massen“ verteidigt zu werden, bzw. es muss eine Reihe von Mechanismen geben, die dafür sorgen, dass die Bosse nicht auf die Interessen der Massen eingehen. Während die idealistische Masse-Bosse-Opposition zu einer Forderung nach mehr Demokratie für die Massen führt, die weiterhin Bosse wählen werden, die sie bescheißen, macht der revolutionäre Marxismus deutlich, dass es gerade die Demokratie ist, die es der herrschenden Klasse ermöglicht, bestimmte Elemente unter den soziologischen Mitgliedern des Proletariats für die Verteidigung ihrer Interessen zu kooptieren, und dass diese Kooptation durch eine Reihe demokratischer Mechanismen (Vollversammlungen, Abstimmungen, Kongresse…) sichergestellt wird, in der nicht die Gemeinschaft des Kampfes gegen das Kapital vorherrscht, sondern der atomisierte einzelne Arbeiter, der nach seinen (notwendigerweise bürgerlichen) Vorstellungen entscheidet. Das heißt, es ist nicht notwendig, dass die Bourgeoisie manövriert oder sich in einer geheimen Sekte trifft, um Mitglieder der gegnerischen Klasse zu kaufen und sie in ihren Dienst zu stellen, sondern der eigentliche Inhalt der bourgeoisen Herrschaft – die Demokratie – bringt atomisierte Individuen hervor – ob sie nun Arbeiter sind oder nicht – die ihre Macht an andere Individuen delegieren, die diese demokratische Herrschaft objektiv verteidigen. Dieser Teufelskreis wird nur durch direkte Aktionen durchbrochen, gegen die Ware und die Demokratie, durch die Bejahung und Entwicklung der Kampfgemeinschaft, die das Individuum zerschlägt und damit die Grundlage der Demokratie unterdrückt. Unter diesen Umständen wird die Führung des Proletariats nicht von einem oder mehreren Anführern übernommen, an die die Massen die Macht delegiert haben, denn eine solche Delegation hat im Rahmen der Kampfgemeinschaft, die die Trennung von Notwendigkeit/Handlung/Entscheidung überwindet und zusammen mit dem Individuum hinweggefegt wird, keine Daseinsberechtigung, sondern von der historischen kommunistischen Perspektive, die sich in der Aktionsgemeinschaft konkretisiert (natürlich in globalen und nicht in unmittelbaren historischen Begriffen gedacht). Natürlich wird diese Führung von den konsequentesten Militanten verkörpert, aber anstatt eine Macht gegenüber denen zu sein, die sie delegiert haben (ein Produkt der Demokratie), sind sie echte Organe der Zentralisierung der Kampfgemeinschaft (ein Produkt des Kommunismus).

Pannekoek ging wie kein anderer Revolutionär seiner Zeit so weit, die allgemeine Kritik an der Demokratie explizit weiterzuentwickeln, die Karl Marx ein halbes Jahrhundert zuvor begonnen hatte, als er unter Überwindung der gängigen Auffassung, die die Demokratie mit einer einfachen Form der Herrschaft gleichsetzte, zeigte, dass sie die wahre Grundlage der Herrschaft des Kapitals ist, und demonstrierte, dass sie untrennbar mit dem Warenzyklus und der Produktion des Einzelnen verbunden ist. Doch Pannekoek war keineswegs der luzideste Kritiker Kautskys und einer der ersten, der die Theorie von der Besetzung des bourgeoisen Staates am klarsten und deutlichsten darlegte und die Notwendigkeit seiner Zerstörung argumentierte4. Seine Analyse der Massen/Bosse zielt auf die Kritik des Reformismus, also des Kapitalismus unter sozialistischer Kontrolle (Arbeiterkontrolle, Arbeiterregierung).

Die Sozialdemokratie als Partei im traditionellen Sinne des Begriffs, d. h. als Partei des bourgeoisen Staates, als Partei der Klientel, für die die Massen und ihre Banner nur das Rohmaterial sind, um ihre Beteiligung am Staat zu erhöhen, hatte kein Interesse an der Entwicklung der autonomen Initiative der Massen. Für die Revolution ist sie im Gegenteil unverzichtbar. Parlamentarismus, Gewerkschaftswesen/Syndikalismus, Bündnisse zwischen Parteien zur Beteiligung an Regierungen… entsprechen nicht nur dem Zusammenspiel zwischen den Teilungen des Staates, den Parteien, in die die Nation gespalten ist, sondern halten das Proletariat objektiv im Schlaf, als passive und amorphe Masse. Mit anderen Worten: Pannekoek begnügte sich nicht mit einer Kritik der „Taktik“ oder der Strukturen, auf die sich die Sozialdemokratie stützte, sondern versuchte, die tief sitzenden Mechanismen zu erfassen, die es ermöglichten, die bourgeoise Vorherrschaft inmitten der ökonomischen/sozialen Zersetzung des Kapitalismus aufrechtzuerhalten, d.h. die Mechanismen, die das Proletariat in seinem Bruch mit der Sozialdemokratie zurückhielten.

Wir sollten uns vor Augen halten, wie sehr diese Auffassung im Gegensatz zu der vorherrschenden Auffassung der Parteien stand, die sich der Dritten Internationale angeschlossen hatten und gerade dadurch ihren fehlenden Bruch mit der Sozialdemokratie demonstrierten. Für sie – wie auch für Kautsky – war alles eine Frage der politischen Kontrolle; was zu verurteilen war, war nicht der Parlamentarismus, sondern der Verrat der Parlamentarier; es war nicht der Gewerkschaftswesen/Syndikalismus, sondern das, was die Gewerkschaftsführer verkauft hatten (die „Arbeiteraristokratie“) und die Alternative war die Eroberung der Führung der Gewerkschaften/Syndikate durch Revolutionäre. … und grundsätzlich sei der Kapitalismus nicht zu verurteilen, sondern es komme darauf an, wer ihn kontrolliere, daher die Politik der „Arbeiterkontrolle“, der „Arbeiterregierung“, die (von der gesamten KI beklatschte) bolschewistische Politik der Entwicklung der kapitalistischen Produktion und Kommerzialisierung unter der Regie des „Arbeiterstaates“ (siehe Comunismo Nr. 15-16) usw. Pannekoeks Position ist glasklar: Es ist der Parlamentarismus selbst, in welcher Form auch immer, der die revolutionäre Aktion der Massen lähmt, und es ist genau der Mechanismus des Parlamentarismus, der die Bosse zu Verrätern macht: Wenn sie „Revolutionäre“ an die Stelle von „Reformisten“ setzen, werden sie am Ende selbst zu Reformisten. Das Gleiche gilt für die Gewerkschaften/Syndikate, denn im Gegensatz zu dem, was die vorherrschende Position in der KI glaubt (was sie sein wird). Die Gewerkschaften/Syndikate sind nicht die Gesamtheit der Gewerkschaften/Syndikate (in diesem Fall würde es ausreichen, wenn sie ihre Aktionen und ihre Führung ändern, um „revolutionäre“ Gewerkschaften/Syndikate zu machen), sondern eine Struktur, die den Proletariern fremd ist und die Ausbeutung reproduziert. Ein solches Verständnis erlaubt es Pannekoek, eine Kritik der Arbeiterkontrolle zu skizzieren und das revolutionäre Proletariat vor der Bildung sozialistischer Regierungen („die letzte Zuflucht des Kapitalismus“) zu warnen; vor allem aber führt er die Kritik an der damals vorherrschenden sozialdemokratischen Konzeption des Übergangs zum Sozialismus (siehe Comunismo 15-16) fort, indem er „Ökonomismus“ und „Politismus“ kritisiert und bekräftigt, dass die Revolution weder die einfache Übernahme der politischen Macht durch die Partei des Proletariats plus eine Reihe von ökonomischen Reformen ist, noch die Kontrolle der Fabriken durch die Arbeiter, sondern ein sozialer, ökonomischer und politischer Prozess der Zerstörung aller bisherigen gesellschaftlichen Verhältnisse („Auflösung der alten bestehenden Verhältnisse“, „aller Kräfte der alten Welt“), „bevor man vom eigentlichen Aufbau des Kommunismus sprechen kann“. .. Natürlich haben wir es hier nur mit den ersten Andeutungen oder Intuitionen einer Theorie des revolutionären Übergangs im Bruch mit der Sozialdemokratie zu tun, aber es muss bedacht werden, dass dies die Achillesferse der gesamten revolutionären Avantgarde ist. In Russland zum Beispiel wird keine der linken Oppositionen einen vollständigen Bruch mit Lenins politischer und verwaltungstechnischer Konzeption vollziehen, und so werden sie sich, anstatt für die effektive Zerstörung der Produktionsverhältnisse, der Ware, des Lohnarbeiters, der Rentabilität … zu kämpfen, der Forderung nach einer stärkeren Verwaltung der Produktion und der Gesellschaft durch die Arbeiter widmen, wie wir es bei Ossinski oder bei den anderen Arbeiteroppositionen gesehen haben (siehe Comunismo 18), und wie wir jetzt sehen werden, entgeht auch Miasnikovs Arbeitergruppe nicht dieser Entwicklung.

Das heißt, Pannekoek übt eine tiefgreifende Kritik am Reformismus und an der Demokratie, die bis zu den Wurzeln der Gegenposition Reformismus/Revolution geht, und das, obwohl er die Passivität der von den Bossen manipulierten Massen fast als einzige Achse der Frage ansieht, im Gegensatz zu einer echten sozialen Revolution, in der das Proletariat selbst durch Aktion revolutioniert wird. Natürlich war dies für diejenigen, für die „Revolution einfach eine Frage der Übernahme der politischen Macht, der Führung, des Austauschs korrupter Führer gegen revolutionäre Führer, der Arbeiterkontrolle oder „revolutionärer“ Parteien, die die Entwicklung des Kapitalismus lenken, war, entweder völlig unverständlich oder eine verallgemeinerte Denunziation, eine Kriegserklärung, die auf die Führung der KI und des russischen Staates anspielte (und einige Monate später noch deutlicher werden sollte). Aus dem einen oder anderen Grund, aus Unverständnis oder wegen eines Kampfmanövers, oder sicherlich aus beidem, haben sich die Reformisten der KI und des russischen Staates nie die Mühe gemacht, dem auf den Grund zu gehen, was Pannekoek oder andere Militante der kommunistischen Linken vorbrachten, und in allen Texten, in denen darauf Bezug genommen wird, werden sie als Gegner jeglicher Führung, als parteifeindlich, als Gegner der Parteidisziplin usw. dargestellt. Das ist objektiv und absolut falsch, wie der Leser in Pannekoeks Text sehen kann und noch mehr, wie wir zeigen können, wenn wir eine allgemeinere Arbeit über die Praxis der kommunistischen Linken in Deutschland machen, die immer die Konstituierung eines „ultrageformten Minderheitskerns“ im Bruch mit aller reformistischen, syndikalistischen und parlamentarischen Praxis in den Mittelpunkt ihres Handelns stellte, der „nicht nur durch Worte, sondern durch Taten“ weiß, wie man die wirkliche Führung des Proletariats ist.

Fraglich ist jedoch, ob in diesem oder anderen früheren Texten von Pannekoek Elemente zu finden sind, die Vorläufer der verrotteten räteorientierten und/oder antisubstitutionistischen Konzeption sind, die Pannekoek Jahre später annehmen wird. Natürlich gibt es Elemente, die in diesem Sinne interpretiert werden können, aber man darf nicht vergessen, dass alle revolutionären Militanten jener Zeit von der Sozialdemokratie beschuldigt wurden, Substitutionisten, Putchisten, Antidemokraten, Avantgardisten … zu sein, und alle von ihnen, selbst die formellsten „Parteigänger“ unter solchen Umständen, wie Sinowjew, Bela Chun, Trotzki … schienen das Gegenteil zu sagen.

Es scheint uns wichtiger, als nach individueller Kontinuität in diesem Sinne zu suchen, zu bedenken, dass mit der Niederlage des Proletariats, das objektiv wieder zu einer Manövriermasse der Konterrevolution wird, wieder zu sektiererischen Gruppierungen werden wird, zwei Theorien wieder auftauchen, die das Ergebnis dieser Tragödie sind: der Rätekommunismus und die „Parteilichkeit“, beides formalistische Theorien, die natürlich nichts mit der Konstituierung des Proletariats zu einer Klasse (in Bezug auf die die Räte nichts anderes sind als die Form, die eine solche Organisation in der letzten revolutionären Welle angenommen hat) und seiner Organisation zu einer revolutionären Partei zu tun haben.

Auf jeden Fall wäre es sträflich, den Beitrag von Pannekoek oder anderen Militanten der deutschen kommunistischen Linken für ihre späteren Fehler oder sogar für die, die sie im entscheidenden Moment gemacht haben, zu entwerten.


Anton Pannekoek, Weltrevolution und kommunistische Taktik (1920)

Auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.
Die Theorie ist fähig, die Massen zu ergreifen … sobald sie radikal wird.
Marx.

I

Zwei Kräfte, von denen eine aus der anderen entspringt, eine geistige und eine materielle, bewirken die Umwälzung des Kapitalismus zum Kommunismus. Die materielle Entwicklung der Wirtschaft schafft die Erkenntnis und diese bewirkt den Willen zur Revolution. Aus den allgemeinen Entwicklungstendenzen des Kapitalismus ist die marxistische Wissenschaft entstanden, die die Theorie zuerst der sozialistischen, dann der kommunistischen Partei bildete und der revolutionären Bewegung eine tiefe einheitliche geistige Kraft gibt. Während diese Theorie nur langsam einen Teil des Proletariats durchdringt, muss aus der eigenen Erfahrung in den Massen die praktische Erkenntnis der Unhaltbarkeit des Kapitalismus emporwachsen. Der Weltkrieg und der rasche wirtschaftliche Zusammenbruch bringt nun die objektive Notwendigkeit der Revolution, bevor noch die Massen geistig den Kommunismus erfasst haben – dieser Widerspruch bedingt die Widersprüche, die Hemmungen und Rückschläge, die die Revolution zu einem langen und qualvollen Prozess machen. Allerdings kommt nun auch die Theorie in einen neuen Schwung und ergreift die Massen in raschem Tempo; aber trotzdem muss beides bei den auf einmal riesengroß wachsenden praktischen Aufgaben zurückbleiben.

Für Westeuropa wird die Entwicklung der Revolution hauptsächlich durch zwei Triebkräfte bestimmt: durch den Zusammenbruch der kapitalistischen Wirtschaft und durch das Beispiel von Sowjetrussland. Die Ursachen, weshalb in Russland das Proletariat relativ rasch und leicht siegen konnte – die Schwäche der Bourgeoisie, das Bündnis mit den Bauern, die Revolution während des Krieges – brauchen hier nicht erörtert zu werden. Das Beispiel eines Staates, wo das arbeitende Volk herrscht, wo es den Kapitalismus beseitigte und damit beschäftigt ist, den Kommunismus aufzubauen, musste mächtig auf das Proletariat der ganzen Welt einwirken. Natürlich hätte das Beispiel allein nicht genügt, die Arbeiter in anderen Ländern zur proletarischen Revolution anzustacheln. Der menschliche Geist wird am stärksten durch die Einwirkung der eigenen materiellen Umgebung bestimmt; wenn also der heimische Kapitalismus in alter Kraft geblieben wäre, hätte die Kunde aus dem fernen Russland schwerlich dagegen aufkommen können. „Voll ehrfurchtsvoller Bewunderung, aber kleinbürgerlich-furchtsam, ohne den Mut, durch Taten sich selbst, Russland und die Menschheit zu retten“, so fand Rutgers bei seiner Rückkehr in Westeuropa die Massen. Als der Krieg zu Ende ging, hoffte man hier überall auf den baldigen Aufschwung der Wirtschaft, während die Lügenpresse Russland als eine Stätte des Chaos und der Barbarei ausmalte; daher warteten die Massen ab. Aber seitdem hat sich umgekehrt das Chaos in den alten Kulturländern verbreitet, während die neue Ordnung in Russland ihre wachsende Kraft zeigt. Nun kommen auch hier die Massen in Bewegung. Der wirtschaftliche Zusammenbruch ist die wichtigste Triebkraft der Revolution. Deutschland und Österreich sind wirtschaftlich schon völlig vernichtet und pauperisiert, Italien und Frankreich befinden sich im unaufhaltsamen Niedergang, England ist schwer erschüttert – und es ist fraglich, ob die kräftigen Rekonstruktionsversuche seiner Regierung den Untergang abwenden können – und in Amerika treten schon die ersten drohenden Symptome der Krise auf. Und überall – ungefähr in dieser Reihenfolge – fängt es an, in den Massen zu gären; in großen Streikbewegungen, die die Wirtschaft noch mehr erschüttern, wehren sie sich gegen die Verelendung; diese Kämpfe wachsen allmählich zu einem bewussten revolutionären Kampf aus, und ohne Kommunisten zu sein, folgen die Massen stets mehr dem Weg, den der Kommunismus ihnen zeigt. Denn die praktische Notwendigkeit treibt sie dorthin.

Mit dieser Notwendigkeit und dieser Stimmung, gleichsam von ihnen getragen, wächst in diesen Ländern die kommunistische Vorhut, die die Ziele klar erkennt und sich in der Dritten Internationale sammelt. Das Symptom und das Merkmal dieser wachsenden Revolutionierung bildet die scharfe geistige und organisatorische Trennung des Kommunismus von der Sozialdemokratie. In den Ländern Zentraleuropas, die durch den Versailler Vertrag sofort in eine scharfe wirtschaftliche Krise gestoßen wurden und wo eine Regierung von Sozialdemokraten notwendig war, um den bürgerlichen Staat zu retten, ist diese Trennung am längsten vollzogen. So unheilbar und tief ist dort die Krise, dass die Masse der radikal-sozialdemokratischen Arbeiter (USP), trotzdem sie noch im hohen Grade an den alten sozialdemokratischen Methoden, Traditionen, Losungen und Führern festhalten, auf Anschluss an Moskau drängen und sich für die Diktatur des Proletariats erklären. In Italien hat sich die ganze sozialdemokratische Partei der Dritten Internationale angeschlossen; eine kampfbereite revolutionäre Stimmung der Massen, die sich im fortwährenden Kleinkrieg mit Regierung und Bourgeoisie betätigt, lässt über die theoretische Mischung von sozialistischen, syndikalistischen und kommunistischen Anschauungen hinwegsehen. In Frankreich haben sich erst neulich kommunistische Gruppen aus der sozialdemokratischen Partei und der Gewerkschaftsbewegung losgelöst und schreiten zur Bildung einer kommunistischen Partei. In England ist aus der tiefen Einwirkung des Krieges auf die traditionellen Verhältnisse der Arbeiterbewegung eine kommunistische Bewegung entstanden, die noch aus mehreren Gruppen und Parteien verschiedenen Ursprungs und neuen Organisationsbildungen besteht. In Amerika haben sich zwei kommunistische Parteien von der sozialdemokratischen Partei losgelöst, während diese selbst sich auch für Moskau erklärt hat. Die unerwartete Widerstandskraft Sowjetrusslands gegen die reaktionären Angriffe, wodurch die Entente zum Verhandeln gezwungen ist – so wirkt immer der Erfolg – hat eine neue starke Anziehungskraft auf die westlichen Arbeiterparteien ausgeübt. Die Zweite Internationale bricht zusammen; eine allgemeine Bewegung der Mittelgruppen nach Moskau hat eingesetzt, durch die wachsende revolutionäre Stimmung der Massen getrieben. Indem sie sich den neuen Namen der Kommunisten beilegen, ohne dass sich an ihren überlieferten Grundauffassungen viel änderte, bringen sie Anschauungen und Methoden der alten Sozialdemokraten in die neue Internationale über. Als Symptom, dass solche Länder reifer zur Revolution geworden sind, tritt nun gerade die umgekehrte Erscheinung auf wie zuerst; mit ihrem Eintritt oder mit ihrem Bekenntnis zu den Prinzipien der Dritten Internationale (wie bereits für die USP erwähnt wurde) wird die scharfe Trennung von Kommunisten und Sozialdemokraten wieder abgeschwächt. Mag man auch versuchen, solche Parteien formell außerhalb der Dritten Internationale zu halten, um nicht alle Prinzipienfestigkeit zu verwischen, so drängen sie sich doch in die Leitung der revolutionären Bewegung in jedem Lande und durch die neuen Losungen, zu denen sie sich äußerlich bekennen, behalten sie ihren Einfluss auf die in Aktion tretenden Massen. So handelt jede herrschende Schicht: statt sich von den Massen abschneiden zu lassen, wird sie selbst „revolutionär“, damit unter ihrem Einfluss die Revolution möglichst verflacht wird. Und viele Kommunisten sind geneigt, hier nur das Wachstum an Kraft, nicht auch das Wachstum an Schwäche zu sehen.

Die proletarische Revolution schien durch das Auftreten des Kommunismus und das russische Beispiel eine einfache zielklare Gestalt gewonnen zu haben. In Wirklichkeit treten jetzt mit den Schwierigkeiten auch die Kräfte hervor, die sie zu einem höchst verwickelten und mühsamen Prozess machen.

II

Die Fragen und Lösungen, die Programme und die Taktik entspringen nicht abstrakten Grundsätzen, sondern werden nur durch die Erfahrung, durch die reale Praxis des Lebens bestimmt. Die Anschauungen der Kommunisten über das Ziel und den Weg mussten und müssen sich an der bisherigen revolutionären Praxis ausbilden. Die russische Revolution und der bisherige Verlauf der deutschen Revolution bilden das praktische Tatsachenmaterial, das uns bis jetzt über die Triebkräfte, die Bedingungen und Formen der proletarischen Revolution zu Gebote steht.

Die russische Revolution hat dem Proletariat die politische Herrschaft in einem so erstaunlich raschen Aufschwung gebracht, dass sie die westeuropäischen Beobachter schon damals völlig überraschte und jetzt, angesichts der Schwierigkeiten in Westeuropa, immer wunderbarer erscheint, trotzdem die Ursachen klar erkennbar sind. Die erste Wirkung musste notwendig diese sein, dass in der ersten Begeisterung die Schwierigkeiten der Revolution in der übrigen Welt unterschätzt wurden. Die russische Revolution hat die Prinzipien der neuen Welt in ihrer strahlenden, reinen Kraft dem ganzen Weltproletariat vor Augen gestellt: die Diktatur des Proletariats, das Sowjetsystem als die neue Demokratie, die Neuorganisation der Industrie, der Landwirtschaft, der Erziehung. Sie hat in mancher Hinsicht ein so einfaches, klares, übersichtliches, fast idyllisches Bild des Wesens und des Gehaltes der proletarischen Revolution gegeben, dass nichts einfacher erscheinen konnte, als diesem Beispiel nachzufolgen. Dass dies aber nicht so einfach war, hat die deutsche Revolution gezeigt und die dabei hervortretenden Kräfte gelten größtenteils auch für das übrige Europa.

Als der deutsche Imperialismus November 1918 zusammenbrach, war die Arbeiterklasse für eine proletarische Herrschaft völlig unvorbereitet. Geistig und moralisch zerrüttet durch den vierjährigen Krieg, befangen in sozialdemokratischen Traditionen, konnte sie nicht in den ersten wenigen Wochen verschwundener Regierungsgewalt eine klare Erkenntnis ihrer Aufgabe gewinnen; die intensive, aber kurze kommunistische Propaganda konnte diesen Mangel nicht ersetzen. Besser als das Proletariat hatte die deutsche Bourgeoisie aus dem russischen Beispiel gelernt; während sie sich mit Rot schmückte, um die Arbeiter einzuschläfern, begann sie sofort ihre Machtorgane wieder aufzubauen. Die Arbeiterräte legten ihre Macht freiwillig aus den Händen zugunsten der sozialdemokratischen Parteiführer und des demokratischen Parlaments. Die noch als Soldaten bewaffneten Arbeiter entwaffneten nicht die Bourgeoisie, sondern sich selbst; die aktivsten Arbeitergruppen wurden von den neugebildeten weißen Garden niedergeworfen, und die Bourgeoisie wurde in Bürgerwehren bewaffnet. Mit Hilfe der Gewerkschaftsleitungen wurden die jetzt wehrlos gemachten Arbeiter allmählich aller durch die Revolution gewonnenen Verbesserungen in den Arbeitsbedingungen beraubt. So wurde der Weg zum Kommunismus mit Stacheldrahtverhauen gesperrt, damit der Kapitalismus sich ausleben, d.h. stets tiefer in das Chaos hinabsinken könnte.

Zweifellos darf nun diese Erfahrung der deutschen Revolution nicht ohne weiteres auf die anderen Länder Westeuropas übertragen werden; dort wird die Entwicklung wieder anderen Linien folgen. Dort wird die Herrschaft nicht plötzlich durch einen politisch-militärischen Zusammenbruch den unvorbereiteten Massen in die Hände fallen; das Proletariat wird schwer darum kämpfen müssen und daher nach der Eroberung einen höheren Reifegrad erworben haben. Was in Deutschland im Fiebertempo nach dem Novemberumsturz geschah, findet in den anderen Ländern schon in Ruhe statt: Die Bourgeoisie zieht ihre Konsequenzen aus der russischen Revolution, rüstet sich militärisch für den Bürgerkrieg, während sie zugleich den politischen Betrug des Proletariats mittels der Sozialdemokratie inszeniert. Aber trotz dieser Verschiedenheiten zeigt die deutsche Revolution einige allgemeine Züge und bietet einige Lehren allgemeiner Bedeutung. Sie stellt uns klar vor Augen, dass und durch welche Kräfte die Revolution in Westeuropa ein langsamer, langwieriger Prozess sein muss. Die Langsamkeit der revolutionären Entwicklung Westeuropas wenn sie auch nur relativ ist – hat einen Gegensatz von einander bekämpfenden taktischen Richtungen hervorgerufen. In Zeiten schneller revolutionärer Entwicklung werden taktische Differenzen durch die Praxis rasch überwunden oder kommen nicht zum Bewusstsein; intensive prinzipielle Agitation klärt die Köpfe auf, während zugleich die Massen zuströmen und die Praxis der Aktivität die alten Anschauungen umwälzt. Wenn aber eine Zeit der äußeren Stagnation eingetreten ist, wenn die Massen regungslos alles über sich ergehen lassen und die hinreißende Kraft der revolutionären Losungen gelähmt scheint; wenn die Schwierigkeiten sich auftürmen und der Gegner nach jedem Kampfe sich riesiger zu erheben scheint; wenn die Kommunistische Partei noch schwach bleibt und nur Niederlagen erleidet – dann entzweien sich die Anschauungen, werden neue Wege gesucht und neue taktische Mittel. Der Hauptsache nach treten dann zwei Tendenzen hervor, die in allen Ländern trotz lokaler Abweichungen zu erkennen sind. Die eine Richtung will durch Wort und Tat die Köpfe revolutionieren, aufklären und sucht dazu die neuen Prinzipien möglichst scharf den alten überlieferten Anschauungen gegenüberzustellen. Die andere Richtung versucht, die Massen, die noch abseits stehen, für praktische Tätigkeit zu gewinnen, will dazu möglichst vermeiden, was sie abstoßen könnte, und hebt statt des Gegensatzes vor allem das Verbindende hervor. Erstere erstrebt die scharfe klare Scheidung, die zweite die Vereinigung der Massen; die erstere wäre als die radikale, die zweite als die opportunistische Tendenz zu bezeichnen. Bei der jetzigen Lage in Westeuropa, da einerseits die Revolution auf kräftige Widerstände stößt, andererseits die feste Kraft Sowjetrusslands gegenüber den Niederwerfungsversuchen der Entente-Regierung auf die Massen einen gewaltigen Eindruck macht und deshalb auf einen starken Zustrom bisher zögernder Arbeitergruppen zu der Dritten Internationale zu rechnen ist, wird zweifellos der Opportunismus eine starke Macht in der kommunistischen Internationale werden.

Der Opportunismus schließt nicht notwendig eine sanfte, friedfertige, entgegenkommende Haltung und Sprache im Gegensatz zu einer dem Radikalismus gehörenden schärferen Tonart ein; im Gegenteil verbirgt sich der Mangel an prinzipieller klarer Taktik nur zu oft hinter rabiaten kräftigen Worten; und es gehört gerade zu seinem Wesen, in revolutionären Situationen auf einmal alles von der großen revolutionären Tat zu erwarten. Sein Wesen ist, immer nur das Augenblickliche, nicht das Weiterabliegende zu berücksichtigen, an der Oberfläche der Erscheinungen zu haften, statt die bestimmenden tieferen Grundlagen zu sehen. Wo die Kräfte zur Erreichung eines Zieles nicht sofort ausreichen, ist es seine Tendenz, nicht diese Kräfte zu stärken, sondern auf anderem Wege, auf Umwegen das Ziel zu erreichen. Denn das Ziel ist der augenblickliche Erfolg, und dem opfert er die Bedingungen künftigen, bleibenden Erfolges. Er beruft sich darauf, dass es doch oft möglich ist, durch Verbindungen mit anderen „fortschrittlichen“ Gruppen, durch Konzessionen an rückständige Anschauungen die Macht zu gewinnen oder wenigstens den Feind, die Koalition der kapitalistischen Klassen zu spalten und damit günstigere Kampfbedingungen zu bewirken. Es stellt sich dabei jedoch immer heraus, dass diese Macht nur eine Scheinmacht ist, eine persönliche Macht einzelner Führer, nicht die Macht der proletarischen Klasse, und dass dieser Widerspruch nur Zerfahrenheit, Korruption und Streit mit sich bringt. Eine Gewinnung der Regierungsgewalt, hinter der nicht eine völlig zur Herrschaft reife Arbeiterklasse steht, muss wieder verlorengehen oder muss der Rückständigkeit so viele Konzessionen machen, dass sie innerlich zermürbt wird. Eine Spaltung der feindlichen Klasse – die viel gepriesene Losung des Reformismus – hindert die Einheit der innerlich zusammengehörigen Bourgeoisie doch nicht, während das Proletariat dabei betrogen, verwirrt und geschwächt wird. Zweifellos kann es vorkommen, dass die kommunistische Vorhut des Proletariats die politische Herrschaft übernehmen muss, bevor die normalen Bedingungen erfüllt sind; aber nur was dann an Klarheit, an Einsicht, an Geschlossenheit, an Selbstständigkeit der Massen gewonnen wird, hat einen bleibenden Wert als Fundament der weiteren Entwicklung zum Kommunismus.

Die Geschichte der Zweiten Internationale ist voll der Beispiele für diese Politik des Opportunismus, und in der Dritten fangen sie schon an sich zu zeigen. Damals bestand er in dem Bestreben, das sozialistische Ziel erreichen zu wollen mit Hilfe der Massen der nichtsozialistischen Arbeitergruppen oder anderer Klassen. Dies führte zur Korruption der Taktik und schließlich zum Zusammenbruch. Bei der Dritten Internationale liegen die Verhältnisse nun wesentlich anders; denn die Zeit der ruhigen kapitalistischen Entwicklung, da die Sozialdemokratie im besten Sinne nichts anderes tun konnte als durch eine prinzipielle Politik aufzuklären zur Vorbereitung späterer Revolutionszeiten, ist vorüber. Der Kapitalismus bricht zusammen; die Welt kann nicht warten, bis unsere Propaganda die Mehrheit zur klaren kommunistischen Einsicht gebracht hat; die Massen müssen sofort eingreifen und möglichst rasch, um sich selbst und die Welt vor dem Untergang zu retten. Was soll dann eine kleine, noch so prinzipielle Partei, wenn Massen nötig sind? Ist hier der Opportunismus, der die breitesten Massen rasch zusammenfassen will, nicht Gebot der Notwendigkeit?

Ebensowenig wie von einer kleinen radikalen Partei kann eine Revolution von einer großen Massenpartei oder einer Koalition verschiedener Parteien gemacht werden. Sie bricht spontan aus den Massen hervor; Aktionen, die von einer Partei beschlossen werden, können bisweilen den Stoss geben (das geschieht jedoch nur selten), aber die bestimmenden Kräfte liegen anderswo, in den psychischen Faktoren, tief im Unterbewusstsein der Massen und in den großen weltpolitischen Ereignissen. Die Aufgabe einer revolutionären Partei besteht darin, dass sie im voraus klare Erkenntnisse verbreitet, sodass überall in den Massen die Elemente vorhanden sind, die in solchen Zeiten wissen, was zu tun ist, und selbständig die Lage beurteilen können. Und während der Revolution hat die Partei die Programme, Losungen und Direktiven aufzustellen, die die spontan handelnde Masse als richtig erkennt, weil sie darin ihre eigenen Ziele in vollkommenster Gestalt wiederfindet und sich an ihnen zur größeren Klarheit emporhebt; dadurch wird die Partei zur Führerin im Kampfe. Solange die Massen untätig bleiben, mag es scheinen, dass dies erfolglos bleibt; aber innerlich wirkt das klare Prinzip auch bei vielen, die zuerst fernbleiben, und in der Revolution zeigt sich seine aktive Kraft, ihr eine feste Richtung zu geben. Hat man dagegen zuvor durch Verwässerung des Prinzips, durch Koalitionen und Konzessionen eine größere Partei zu sammeln gesucht, so bietet das in Zeiten der Revolution unklaren Elementen die Gelegenheit, Einfluss zu gewinnen, ohne dass die Massen ihre Unzulänglichkeit durchschauen. Die Anpassung an die überlieferten Anschauungen ist ein Versuch, Macht zu gewinnen ohne deren Vorbedingungen, die Umwälzung der Ideen; sie wirkt also dahin, die Revolution in ihrem Lauf aufzuhalten. Sie ist außerdem eine Illusion, da nur die radikalsten Ideen die Massen ergreifen können, wenn diese in die Revolution treten, gemäßigte dagegen nur, solange die Revolution ausbleibt. Eine Revolution ist zugleich eine Zeit tiefer geistiger Umwälzung der Ideen der Massen; sie schafft dazu die Bedingungen und wird durch sie bedingt; es fällt daher, durch die Kraft ihrer weltumwälzenden klaren Prinzipien, der kommunistischen Partei die Führung in der Revolution zu.

Im Gegensatz zu der starken, scharfen Hervorhebung der neuen Prinzipien (Sowjetsystem und Diktatur), die den Kommunismus von der Sozialdemokratie trennen, lehnt der Opportunismus in der Dritten Internationale sich möglichst an die aus der Zweiten Internationale überkommenen Kampfformen an. Nachdem die russische Revolution den Parlamentarismus durch das Sowjetsystem ersetzt und die Gewerkschaftsbewegung auf den Betrieben aufgebaut hatte, war das erste Streben in Westeuropa, diesem Beispiel nachzufolgen. Die Kommunistische Partei Deutschlands boykottierte die Wahlen für die Nationalversammlung und propagierte den sofortigen oder allmählichen organisierten Austritt aus den Gewerkschaften. Als aber die Revolution 1919 zurücklief und stagnierte, leitete die Zentrale der KPD eine andere Taktik ein, die auf die Anerkennung des Parlamentarismus und die Unterstützung der alten Gewerkschaftsverbände gegen die Unionen hinauskam. Das wichtigste Argument dabei ist, dass die Kommunistische Partei die Führung mit den Massen nicht verlieren darf, die noch völlig parlamentarisch denken, die durch den Wahlkampf und durch Parlamentsreden am besten zu erreichen sind und die durch massenhaftes Eintreten in die Gewerkschaften deren Mitgliederzahl auf 7 Millionen gesteigert hatten. Der nämliche Grundgedanke tritt in England in der Haltung der BSP zum Vorschein: Sie will sich nicht von der „Labour Party“ trennen, trotzdem diese der Zweiten Internationale angehört, um nicht den Kontakt mit den Massen der Gewerkschaftler zu verlieren. Diese Argumente sind am schärfsten formuliert und zusammengestellt von unserem Freund Karl Radek, dessen in der Berliner Gefangenschaft verfasste Schrift: Die Entwicklung der Weltrevolution und die Aufgabe der Kommunistischen Partei als die Programmschrift des kommunistischen Opportunismus anzusehen ist. Hier wird dargelegt, dass die proletarische Revolution in Westeuropa ein lang andauernder Prozess sein wird, in welchem der Kommunismus alle Mittel der Propaganda benutzen soll, in welchem Parlamentarismus und Gewerkschaftsbewegung die Hauptwaffen des Proletariats bleiben werden, und daneben als neues Kampfobjekt die allmähliche Durchführung der Betriebskontrolle.

Inwieweit dies richtig ist, wird eine Untersuchung der Grundlagen, Bedingungen und Schwierigkeiten der proletarischen Revolution in Westeuropa zeigen.

III

Wiederholt ist hervorgehoben worden, dass in Westeuropa die Revolution lange dauern wird, weil die Bourgeoisie hier soviel mächtiger ist als in Russland. Analysieren wir das Wesen dieser Macht! Liegt sie in der größeren Kopfzahl dieser Klasse? Die proletarischen Massen sind verhältnismäßig noch viel größer. Liegt sie in der Beherrschung des ganzen wirtschaftlichen Lebens durch die Bourgeoisie? Zweifellos war dies ein starkes Element der Macht; aber diese Herrschaft schwindet dahin, und in Mitteleuropa ist die Wirtschaft völlig bankrott. Liegt sie schließlich in ihrer Verfügung über den Staat mit allen seinen Gewaltmitteln? Gewiss, damit hat sie die Masse immer niedergehalten, und deshalb war Eroberung der Staatsgewalt das erste Ziel des Proletariats. Aber im November 1918 fiel die Staatsgewalt in Deutschland und Österreich machtlos aus ihren Händen, die Gewaltmittel des Staates waren völlig gelähmt, die Massen waren Meister. Und trotzdem hat die Bourgeoisie diese Staatsgewalt wieder aufbauen und die Arbeiter aufs Neue unterjochen können. Dies beweist, dass noch eine andere verborgene Machtquelle der Bourgeoisie vorhanden war, die unangetastet geblieben war und die ihr gestattete, als alles zusammengebrochen schien, ihre Herrschaft wieder neu zu errichten. Diese verborgene Macht ist die geistige Macht der Bourgeoisie über das Proletariat. Weil die proletarischen Massen noch völlig durch eine bürgerliche Denkweise beherrscht wurden, haben sie nach dem Zusammenbruch die bürgerliche Herrschaft mit eigenen Händen wieder aufgerichtet. Diese deutsche Erfahrung stellt uns gerade vor das große Problem der Revolution in Westeuropa. In diesen Ländern hat die alte bürgerliche Produktionsweise und die damit zusammenhängende hochentwickelte bürgerliche Kultur vieler Jahrhunderte dem Denken und Fühlen der Volksmassen völlig ihren Stempel aufgeprägt. Dadurch ist der geistige und innere Charakter der Volksmassen hier ganz anders als in den östlichen Ländern, die diese Herrschaft bürgerlicher Kultur nicht kannten. Und darin liegt vor allem der Unterschied in dem Verlauf der Revolution im Osten und im Westen. In England, Frankreich, Holland, Italien, Deutschland, Skandinavien lebte vom Mittelalter her ein kräftiges Bürgertum mit kleinbürgerlicher und primitiv kapitalistischer Produktion; indem der Feudalismus zerschlagen wurde, wuchs auf dem Lande ein ebenso kräftiges, unabhängiges Bauerntum empor, das auch Meister in der eigenen kleinen Wirtschaft war. Auf diesem Boden entfaltete sich das bürgerliche Geistesleben zu einer festen nationalen Kultur, vor allem in den Küstenstaaten England und Frankreich, die voran in der kapitalistischen Entwicklung schritten. Der Kapitalismus im 19. Jahrhundert hat mit der Unterwerfung der ganzen Wirtschaft unter seine Macht und mit der Hineinziehung der fernsten Bauernhöfe in seinen Kreis der Weltwirtschaft diese nationale Kultur gesteigert, verfeinert und mit seinen geistigen Propagandamitteln, Presse, Schule und Kirche, fest in die Köpfe der Massen eingehämmert, sowohl jener Massen, die er proletarisierte und in die Städte zog, als auch jener, die er auf dem Lande ließ. Das gilt nicht nur für die Stammländer des Kapitalismus, sondern ähnlich, sei es auch in verschiedenen Formen, für Amerika und Australien, wo die Europäer neue Staaten gründeten, und für die bis dahin stagnierenden Länder Zentraleuropas: Deutschland, Österreich, Italien, wo die neue kapitalistische Entwicklung an eine alte, steckengebliebene, kleinbäuerliche Wirtschaft und kleinbürgerliche Kultur anknüpfen konnte. Ganz anderes Material und andere Traditionen fand der Kapitalismus vor, als er in die östlichen Länder Europas eindrang. Hier, in Russland, Polen, Ungarn, auch in Ostelbien, war keine kräftige bürgerliche Klasse, die von altersher das Geistesleben beherrschte; die primitiven Agrarverhältnisse mit Großgrundbesitz, patriarchalischem Feudalismus und Dorfkommunismus bestimmten das Geistesleben. Hier standen daher die Massen primitiver, einfacher, offener, empfänglich wie weißes Papier, dem Kommunismus gegenüber. Westeuropäische Sozialdemokraten sprachen oft höhnisch ihre Verwunderung darüber aus, wie die „unwissenden“ Russen die Vorkämpfer der neuen Welt der Arbeit sein könnten. Ihnen gegenüber drückte ein englischer Delegierter auf der kommunistischen Konferenz in Amsterdam den Unterschied ganz richtig aus: Die Russen mögen unwissender gewesen sein, aber die englischen Arbeiter sind so vollgepfropft mit Vorurteilen, dass die Propaganda des Kommunismus unter ihnen viel schwieriger ist. Diese „Vorurteile“ sind nur die erste äußerliche Seite der bürgerlichen Denkweise, die die Masse des englischen und des ganzen westeuropäisch-amerikanischen Proletariats erfüllt.

Der ganze Inhalt dieser Denkweise in ihrem Gegensatz zur proletarisch-kommunistischen Weltanschauung ist so vielseitig und verwickelt, dass sie schwerlich in wenigen Sätzen zusammengefasst werden kann. Ihr erster Zug ist der Individualismus, der aus den früheren kleinbürgerlich-bäuerlichen Arbeitsformen stammt und nur langsam dem neuen proletarischen Gemeinschaftsgefühl und der notwendigen freiwilligen Disziplin weicht – in den angelsächsischen Ländern ist dieser Zug bei Bourgeoisie und Proletariat wohl am stärksten ausgeprägt. Der Blick ist auf die Arbeitsstätte beschränkt und umfasst nicht das gesellschaftliche Ganze; befangen in dem Prinzip der Arbeitsteilung sieht man auch die „Politik“, die Leitung der ganzen Gesellschaft, nicht als die eigene Angelegenheit eines jeden, sondern als ein Monopol der herrschenden Schicht, als ein spezielles Fach besonderer Fachleute, der Politiker. Die bürgerliche Kultur ist durch einen jahrhundertelangen Verkehr materieller und geistiger Natur, durch Literatur und Kunst, fest in die proletarischen Massen eingepflanzt und schafft ein Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit – tiefer im Unterbewusstsein wurzelnd, als es nach äußerer Gleichgültigkeit oder äußerlichem Internationalismus erscheint – das sich in einer nationalen Klassensolidarität äußern kann und die internationale Tat erschwert.

Die bürgerliche Kultur lebt im Proletariat erstens als geistige Tradition. Die darin befangenen Massen denken in Ideologien statt in Realitäten; bürgerliches Denken war immer ideologisch. Aber diese Ideologie und Tradition ist nicht einheitlich; aus den zahllosen Klassenkämpfen früherer Jahrhunderte sind die geistigen Reflexe als politische und religiöse Gedankensysteme überliefert worden, die die alte bürgerliche Welt und daher auch noch die ihr entstammenden Proletarier in nach ideologischen Anschauungen getrennten Gruppen, Kirchen, Sekten, Parteien, verteilen. So besteht die bürgerliche Vergangenheit im Proletariat zweitens als organisatorische Tradition, die der zu der neuen Welt gehörenden Einheit der Klasse im Wege steht; in diesen überlieferten Organisationen bilden die Arbeiter den Nachtrab und die Gefolgschaft einer bürgerlichen Vorhut. Die unmittelbaren Führer in diesen ideologischen Kämpfen gibt die Intelligenz ab. Die Intelligenz – die Geistlichen, Lehrer, Literaten, Journalisten, Künstler, Politiker – bildet eine zahlreiche Klasse, deren Aufgabe die Pflege, Ausbildung und Verbreitung der bürgerlichen Kultur ist; sie übermittelt diese den Massen und spielt den Vermittler zwischen Kapitalherrschaft und Masseninteressen. In ihrer geistigen Führerschaft über die Massen liegt die Kapitalherrschaft verankert. Denn wenn die unterdrückten Massen auch oft rebellierten gegen das Kapital und seine Organe, so nur unter ihrer Führung; und der in diesem gemeinsamen Kampfe gewonnene feste Zusammenhang und Disziplin erweist sich nachher, wenn diese Führer offen auf die kapitalistische Seite übergehen, als die stärkste Stütze des Systems. So zeigt sich die christliche Ideologie niedergehender kleinbürgerlicher Schichten, die als Ausdruck ihres Kampfes gegen den modernen kapitalistischen Staat eine lebendige Kraft geworden war, später oft als reaktionäres, staatserhaltendes Regierungssystem äußerst wertvoll (so der Katholizismus in Deutschland nach dem Kulturkampf). Ähnliches gilt für die Sozialdemokratie, trotzdem sie in theoretischer Hinsicht vieles Wertvolle geleistet hat, in der zeitgemäßen Zerstörung und Ausrottung alter Ideologien in der emporkommenden Arbeiterschaft. Sie ließ dabei die geistige Abhängigkeit der proletarischen Massen von politischen und anderen Führern bestehen, denen diese Massen als Spezialisten die Leitung aller großen allgemeinen Klassenangelegenheiten überließen, statt sie in die eigenen Hände zu nehmen. Der feste Zusammenhalt und die Disziplin, die sich in dem oft scharfen Klassenkampf eines halben Jahrhunderts ausbildeten, hat den Kapitalismus nicht untergraben, denn sie bedeutete eine Macht der Organisation und des Führertums über die Massen, die diese Massen im August 1914 und im November 1918 zu machtlosen Werkzeugen der Bourgeoisie, des Imperialismus und der Reaktion machte. Die geistige Macht der bürgerlichen Vergangenheit über das Proletariat bedeutet in vielen Ländern Westeuropas (so in Deutschland und Holland) eine Spaltung des Proletariats in ideologisch getrennte Gruppen, die die Klasseneinheit verhindern. Die Sozialdemokratie hatte ursprünglich diese Klasseneinheit verwirklichen wollen, aber – zum Teil durch ihre opportunistische Taktik, die die rein-politische Politik an die Stelle der Klassenpolitik setzte – ohne Erfolg: Sie hat die Zahl der Gruppen bloß um eine vermehrt.

Die Herrschaft bürgerlicher Ideologie über die Massen kann nicht verhindern, dass in Zeiten der Krise, die diese Massen zur Verzweiflung und zur Tat bringen, die Macht dieser Tradition zeitweilig zurückgedrängt wird – wie im November 1918 in Deutschland. Aber dann tritt die Ideologie neuerlich hervor und wird zur Ursache, dass der zeitweilige Sieg wieder verlorengeht. An dem deutschen Beispiel zeigen sich die konkreten Kräfte, die wir hier als Herrschaft bürgerlicher Anschauungen zusammenfassen: die Ehrfurcht vor abstrakten Losungen wie die „Demokratie“; die Macht alter Denkgewohnheiten und Programmpunkte, wie Verwirklichung des Sozialismus durch parlamentarische Führer und eine sozialistische Regierung; Mangel an proletarischem Selbstvertrauen, erkennbar in dem Einfluss des ungeheuren Schlammstromes der Lügennachrichten über Russland; Mangel an Glauben in die eigene Kraft; aber vor allem das Vertrauen in die Partei, die Organisation, die Führer, die während vieler Jahrzehnte die Verkörperung ihres Kampfes, ihrer Revolutionsziele, ihres Idealismus gewesen waren. Die gewaltige, geistige, moralische und materielle Macht der Organisationen, dieser von den Massen selbst in emsiger langjähriger Arbeit geschaffenen riesigen Maschinen, die die Tradition der Kampfformen einer Periode verkörperten, in der die Arbeiterbewegung ein Glied des emporsteigenden Kapitalismus war, zerdrückte jetzt alle revolutionären Tendenzen, die neu in den Massen aufflammten.

Dieser Fall wird nicht der einzige bleiben. Der Widerspruch zwischen der geistigen Unreife der Macht bürgerlicher Tradition im Proletariat und dem raschen wirtschaftlichen Zusammenbruch des Kapitalismus – kein zufälliger Widerspruch, da in einem blühenden Kapitalismus das Proletariat die geistige Reife zur Herrschaft und Freiheit nicht erwerben kann – kann nur gelöst werden durch den revolutionären Entwicklungsprozess, in dem spontane Erhebungen und Ergreifungen der Herrschaft mit Rückschlägen abwechseln. Er macht einen Verlauf der Revolution, bei dem das Proletariat lange Zeit immer vergebens mit allen alten und neuen Mitteln des Kampfes gegen die Kapital-Burg stürmt, bis sie schließlich und dann endgültig erobert wird, wenig wahrscheinlich. Und damit fällt auch die Taktik der langwierigen, kunstvollen Belagerung, die in Radeks Ausführungen dargelegt wird. Das Problem der Taktik ist nicht, wie möglichst rasch die Macht zu erobern, wenn sie nur erst eine Scheinmacht sein kann – sie wird den Kommunisten früh genug zufallen –, sondern, wie in dem Proletariat die Grundlagen für die dauernde Macht der Klasse auszubilden. Keine „entschlossene Minorität“ kann die Probleme lösen, die durch die Aktivität der ganzen Klasse gelöst werden können; und wenn die Bevölkerung scheinbar gleichgültig eine solche Machtergreifung über sich ergehen lässt, so bildet sie doch nicht eine wirklich passive Masse, sondern ist, soweit nicht für den Kommunismus gewonnen, zu jedem Augenblicke fähig, als aktive Gefolgschaft der Reaktion über die Revolution herzufallen. Eine „Koalition mit dem Galgen daneben“ wäre auch nur eine notdürftige Verdeckung einer solchen unhaltbaren Parteidiktatur. Wenn das Proletariat in einer gewaltigen Erhebung die bankrotte Herrschaft der Bourgeoisie zerschlägt und seine klarste Vorhut, die kommunistische Partei, die politische Leitung übernimmt, dann hat sie nur eine Aufgabe, alle Mittel anzuwenden, die Ursache der Schwäche des Proletariats fortzuschaffen und seine Kraft zu steigern, damit es den revolutionären Kämpfen der Zukunft im höchsten Grade gewachsen ist. Dann gilt es, die Massen selbst zur höchsten Aktivität zu bringen, ihre Initiative anzustacheln, ihr Selbstvertrauen zu heben, damit sie selbst die Aufgaben ins Auge fassen, die in ihre Hand gelegt werden, denn nur so können diese gelöst werden. Dazu ist nötig, das Übergewicht der überlieferten Organisationsformen und der alten Führer zu brechen – also auf keinen Fall mit ihnen eine regierungsfähige Koalition bilden, die nur das Proletariat schwächen kann –, die neuen Formen auszubauen, die materielle Macht der Massen zu festigen; nur dadurch wird es möglich sein, die Produktion neu zu organisieren, sowie die Verteidigung gegen die Angriffe des Kapitalismus von außen, und dies ist die erste Vorbedingung zur Verhinderung der Konterrevolution.

Die Macht, die die Bourgeoisie in der jetzigen Periode noch besitzt, ist die geistige Abhängigkeit und Unselbständigkeit des Proletariats. Die Entwicklung der Revolution ist der Prozess der Selbstbefreiung des Proletariats aus dieser Abhängigkeit, aus der Tradition vergangener Zeiten – was nur durch die eigene Kampferfahrung möglich ist. Wo der Kapitalismus schon alt ist und daher auch der Kampf der Arbeiter gegen ihn schon einige Generationen umfasst, musste das Proletariat in jeder Periode Methoden, Formen und Hilfsmittel des Kampfes aufbauen, der jeweiligen Entwicklungsstufe des Kapitalismus angepasst, die bald nicht mehr in ihrer Realität, als zeitlich beschränkte Notwendigkeiten gesehen, sondern als bleibende, absolut gute, ideologisch verhimmelte Formen überschätzt und daher später zu Fesseln der Entwicklung wurden, die gesprengt werden müssen. Während die Klasse in stetiger rascher Umwälzung und Entwicklung begriffen ist, bleiben die Personen der Führer auf einer bestimmten Stufe stehen, als Exponenten einer bestimmten Phase, und ihr mächtiger Einfluss kann die Bewegung hemmen; Aktionsformen werden zu Dogmen und Organisationen werden zum Selbstzweck erhoben, wodurch eine neue Orientierung und Anpassung an neue Kampfbedingungen erschwert wird. Das gilt auch jetzt noch; jede Entwicklungsstufe des Klassenkampfes muss die Tradition voriger Stufen überwinden, um ihre eigenen Aufgaben klar erkennen und lösen zu können – nur dass jetzt die Entwicklung in viel rascherem Tempo vor sich geht. So wächst die Revolution im Prozess des inneren Kampfes. Aus dem Proletariat selbst wachsen die Widerstände auf, die es überwinden muss. Indem sie es überwindet, überwindet das Proletariat seine eigene Beschränktheit und wächst auf zum Kommunismus.

IV

Der Parlamentarismus und die Gewerkschaftsbewegung waren die beiden hauptsächlichen Kampfformen in dem Zeitalter der Zweiten Internationale.

Die erste internationale Arbeiterassoziation hat auf ihren Kongressen die Grundlagen zu dieser Taktik gelegt, indem sie (entsprechend der Marxschen Gesellschaftslehre) gegenüber den primitiven Anschauungen aus vorkapitalistischer, kleinbürgerlicher Zeit den Charakter des proletarischen Klassenkampfes als ununterbrochenen Kampf gegen den Kapitalismus um die Lebensbedingungen des Proletariats bis zur Eroberung der politischen Gewalt bestimmte. Als das Zeitalter der bürgerlichen Revolutionen und bewaffneten Aufstände abgeschlossen war, konnte dieser politische Kampf nur im Rahmen der alten oder neu entstandenen Nationalstaaten geführt werden, der gewerkschaftliche oft noch in engerem Rahmen. Daher musste die Erste Internationale auseinanderfallen; und der Kampf um die neue Taktik, die von ihr selbst nicht durchzuführen war, sprengte sie, während in dem Anarchismus die Tradition der alten Anschauungen und Kampfmethoden lebendig blieb. Als Erbschaft hinterließ sie die neue Taktik denjenigen, die sie praktisch durchführen mussten, den überall entstehenden sozialdemokratischen Parteien mit den Gewerkschaften. Als aus ihnen die Zweite Internationale als lose Föderation entstand, hatte sie sich zwar noch in dem Anarchismus mit der Tradition auseinanderzusetzen; aber das Vermächtnis der Ersten Internationale bildete schon ihren selbstverständlichen taktischen Boden. Jeder Kommunist kennt heute die Gründe, weshalb diese Kampfmethoden während jener Zeit notwendig und nützlich waren. Wenn die Arbeiterklasse mit dem Kapitalismus emporkommt, ist sie noch nicht imstande und kann nicht einmal den Gedanken fassen, die Organe zu schaffen, durch die sie die Gesellschaft beherrschen und regeln könnte. Sie muss sich zuerst geistig zurechtfinden und den Kapitalismus und seine Klassenherrschaft begreifen lernen. Ihre Vorhut, die sozialdemokratische Partei, muss durch ihre Propaganda das Wesen der Regierung enthüllen und durch das Aufstellen der Klassenforderungen den Massen ihre Ziele zeigen. Dazu war es notwendig, dass ihre Wortführer in die Parlamente, die Zentren der Bourgeoisherrschaft, eindrangen, dort ihre Stimme erhoben und sich an den politischen Parteikämpfen beteiligten.

Anders wird es, wenn der Kampf des Proletariats in ein revolutionäres Stadium tritt. Wir reden hier nicht über die Frage, weshalb der Parlamentarismus als Regierungssystem nicht zur Selbstregierung der Massen taugt und dem Sowjetsystem weichen muss, sondern über die Benutzung des Parlamentarismus als Kampfmittel für das Proletariat. Als solche ist der Parlamentarismus die typische Form des Kampfes mittels Führer, wobei die Massen selbst eine untergeordnete Rolle spielen. Seine Praxis besteht darin, dass Abgeordnete, einzelne Personen, den wesentlichen Kampf führen; es muss dies daher bei den Massen die Illusion wecken, dass andere den Kampf für sie führen können. Früher war es der Glauben, die Führer könnten für die Arbeiter wichtige Reformen im Parlament erzielen; oder gar trat die Illusion auf, die Parlamentarier könnten durch Gesetzbeschlüsse die Umwälzung zum Sozialismus durchführen. Heute, da der Parlamentarismus bescheidener auftritt, hört man das Argument, im Parlament könnten die Abgeordneten Grosses für die Propaganda des Kommunismus leisten5. Immer fällt dabei das Hauptgewicht auf die Führer, und es ist selbstverständlich dabei, dass Fachleute die Politik bestimmen – sei es auch in der demokratischen Verkleidung der Kongressdiskussionen und Resolutionen –; die Geschichte der Sozialdemokratie ist eine Kette vergeblicher Bemühungen, die Mitglieder selbst ihre Politik bestimmen zu lassen. Wo das Proletariat parlamentarisch kämpft, ist das alles unvermeidlich, solange die Massen noch keine Organe der Selbstaktion geschaffen haben, also, wo die Revolution noch kommen muss. Sobald die Massen selbst auftreten, handeln und dadurch bestimmen können, werden die Nachteile des Parlamentarismus überwiegend.

Das Problem der Taktik ist – wir führten es oben aus – wie in der proletarischen Masse die traditionelle bürgerliche Denkweise auszurotten ist, die ihre Kraft lähmt; alles, was die überlieferte Anschauung neu stärkt, ist von Übel. Der zäheste, festeste Teil dieser Denkweise ist ihre Unselbständigkeit Führern gegenüber, denen sie die Entscheidung allgemeiner Fragen, die Leitung ihrer Klassenangelegenheiten überlässt. Der Parlamentarismus hat die unvermeidliche Tendenz, die eigene, zur Revolution notwendige Aktivität der Massen zu hemmen. Mögen da schöne Reden zur Weckung der revolutionären Tat gehalten werden, so entspringt das revolutionäre Handeln nicht solchen Worten, sondern nur der harten, schweren Notwendigkeit, wenn keine andere Wahl mehr bleibt.

Die Revolution erfordert auch noch etwas mehr als die massale Kampftat, die ein Regierungssystem stürzt und von der wir wissen, dass sie nicht von Führern bestellt, sondern nur aus dem tiefen Drang der Massen emporspringen kann. Die Revolution erfordert, dass die großen Fragen der gesellschaftlichen Rekonstruktion in die Hand genommen, dass schwierige Entscheidungen getroffen werden, dass das ganze Proletariat in schaffende Bewegung gebracht wird – und das ist nur möglich, wenn zuerst die Vorhut, dann eine immer größere Masse sie selbst zur Hand nimmt, sich selbst dafür verantwortlich weiß, sucht, propagiert, ringt, versucht, nachdenkt, wägt, wagt und durchführt. Aber das ist alles schwer und mühsam; solange daher die Arbeiterklasse glaubt, einen leichteren Weg zu sehen, indem andere für sie handeln – von einer hohen Tribüne Agitation führen, Entscheidungen treffen, Signale für die Aktionen geben, Gesetze machen – wird sie zögern und durch die alten Denkgewohnheiten und die alten Schwächen passiv bleiben.

Während die Bedeutung des Parlamentarismus einerseits das Übergewicht der Führer über die Massen stärkt, also konterrevolutionär wirkt, hat sie andererseits die Tendenz, diese Führer selbst zu verderben. Wenn persönliche Geschicklichkeit ersetzen muss, was aktiver Massenkraft fehlt, tritt eine kleinliche Diplomatie auf; die Partei, mag sie mit anderen Absichten hineingegangen sein, muss sich einen legalen Boden, eine parlamentarische Machtstellung zu erwerben suchen; so wird schließlich das Verhältnis zwischen Zweck und Mittel umgekehrt, und es dient nicht das Parlament als Mittel zum Kommunismus, sondern der Kommunismus als werbende Losung steht im Dienste der parlamentarischen Politik. Damit bekommt aber auch die kommunistische Partei selbst einen anderen Charakter. Aus der Vorhut, die die ganze Klasse zum revolutionären Handeln hinter sich sammelt, wird sie zu einer parlamentarischen Partei, mit derselben legalen Position wie die anderen, gleichartig sich mit den anderen herumzankend, eine Neuauflage der alten Sozialdemokratie unter neuen radikalen Losungen. Während im inneren Wesen zwischen der revolutionären Arbeiterklasse und der kommunistischen Partei kein Unterschied besteht, kein Gegensatz denkbar ist, da die Partei gleichsam das zusammengefasste klarste Klassenbewusstsein des Proletariats und seine wachsende Einheit verkörpert, zerbricht der Parlamentarismus diese Einheit und schafft die Möglichkeit eines solchen Gegensatzes: Statt die Klasse zusammenzufassen, wird der Kommunismus eine neue Partei mit eigenen Parteihäuptern, die sich zu den anderen Parteien fügt und so die politische Spaltung des Proletariats verewigt; und die Fälle werden vorkommen, wo die Partei nach Macht strebt, durch Konzessionen, Kompromisse und andere Mittel, die der Macht und Geschlossenheit der Klasse schaden. Alle diese Tendenzen werden zweifellos durch die revolutionäre Entwicklung der Wirtschaft wieder aufgehalten werden; aber auch die ersten Ansätze können der revolutionären Bewegung nur schaden, indem sie die geistige Entwicklung zum klaren Klassenbewusstsein hemmen; und wo die wirtschaftliche Lage zeitweilig in konterrevolutionärer Richtung zurückläuft, wird diese Politik den Weg der Ablenkung der Revolution ins Fahrwasser der Reaktion bahnen.

Das große, wirklich Kommunistische der russischen Revolution liegt vor allem darin, dass sie die eigene Aktivität der Massen geweckt hat und eine psychische und physische Energie in ihnen entfachte, die sie befähigte, die neue Gesellschaft zu bauen und zu tragen. Dieses Aufwachen der Massen zu solchem Kraftbewusstsein und zu solcher Kraft geht nicht in einem, sondern in Etappen; eine Etappe auf diesem Weg zur Selbständigkeit und Selbstbefreiung ist die Ablehnung des Parlamentarismus. Als die neuentstandene Kommunistische Partei Deutschlands, Dezember 1918, die Boykottierung der Nationalversammlung beschloss, entsprang dies nicht der unreifen Illusion eines leichten, raschen Sieges, sondern dem Bedürfnis, sich aus der geistigen Abhängigkeit von Parlamentsvertretern zu befreien – als Reaktion gegen die sozialdemokratische Tradition notwendig – da man jetzt den Weg zur eigenen Aktion in dem Aufbau des Rätesystems vor sich sah. Allerdings hat von den damals Vereinigten die eine Hälfte, die in der KPD Gebliebenen, nach dem Zurückfluten der Revolution den Parlamentarismus wieder adoptiert – mit welchen Folgen, wird sich noch herausstellen und hat sich zum Teil schon herausgestellt. Auch in anderen Ländern sind die Anschauungen unter den Kommunisten geteilt, und es wollen viele Gruppen sogar vor dem Ausbruch der Revolution den Parlamentarismus nicht anwenden. So wird während der nächsten Zeit der innere Streit über den Parlamentarismus als Kampfmethode voraussichtlich einer der hauptsächlichsten Streitpunkte der Taktik innerhalb der Dritten Internationale sein.

Allerdings sind alle darin miteinander einig: Er bildet nur einen untergeordneten Punkt unserer Taktik. Die Zweite Internationale konnte sich so weit entwickeln, bis sie den Kernpunkt der neuen Taktik hervorgehoben und klargestellt hatte: Das Proletariat kann den Imperialismus nur besiegen mit der Waffe der Massenaktionen. Selbst konnte sie sie nicht mehr anwenden; sie musste zugrundegehen, als der Weltkrieg den revolutionären Klassenkampf auf eine internationale Basis stellte. Das Resultat der vorigen war die selbstverständliche Grundlage der neuen Internationale; die Massenaktionen des Proletariats bis zum Massenstreik und zum Bürgerkrieg bildet den gemeinsamen taktischen Boden der Kommunisten. In der parlamentarischen Aktion ist das Proletariat national geteilt und ist ein wirklich internationales Auftreten nicht möglich; in den Massenaktionen gegen das internationale Kapital fallen die nationalen Trennungen fort und ist jede Bewegung, auf welche Länder sie sich ausbreiten oder beschränken mag, Teil eines gemeinsamen Weltkampfes.

V

So wie der Parlamentarismus die geistige, so verkörpert die Gewerkschaftsbewegung die materielle Macht der Führer über die Arbeitermassen. Die Gewerkschaften bilden unter dem Kapitalismus die natürlichen Organisationen für den Zusammenschluss des Proletariats; und als solche hat Marx schon in frühester Zeit ihre Bedeutung hervorgehoben. Im entwickelten Kapitalismus und noch mehr in dem imperialistischen Zeitalter sind diese Gewerkschaften stets mehr zu riesigen Verbänden geworden, die die gleiche Tendenz der Entwicklung zeigen wie in älterer Zeit die bürgerlichen Staatskörper selbst. In ihnen ist eine Klasse von Beamten, eine Bürokratie entstanden, die über alle Machtmittel der Organisation verfügt: die Geldmittel, die Presse, die Ernennung der Unterbeamten; oft hat sie noch weitergehende Machtbefugnisse, so dass sie aus Dienern der Gesamtheit zu ihren Herren geworden ist und sich selbst mit der Organisation identifiziert. Und auch darin stimmen die Gewerkschaften mit dem Staat und seiner Bürokratie überein, dass trotz der Demokratie, die darin herrscht, die Mitglieder nicht imstande sind, ihren Willen gegen die Bürokratie durchzusetzen; an dem kunstvoll aufgebauten Apparat von Geschäftsordnungen und Statuten bricht sich jede Revolte, bevor sie die höchsten Regionen erschüttern kann. Nur mit zäher Ausdauer gelingt es einer Opposition bisweilen, nach Jahren einen mäßigen Erfolg zu erzielen, der meist nur auf einen Personenwechsel herauskommt. In den letzten Jahren, vor dem Krieg und nachher, kam es daher – in England, Deutschland, Amerika – öfters zu Rebellionen der Mitglieder, die auf eigene Faust streikten, gegen den Willen der Führer oder die Beschlüsse des Verbandes selbst. Dass dies als etwas Natürliches vorkommt und als solches hingenommen wird, bringt schon zum Ausdruck, dass die Organisation nicht die Gesamtheit der Mitglieder ist, sondern gleichsam etwas ihnen Fremdes; dass die Arbeiter nicht über ihren Verband gebieten, sondern dass er als eine äußere Macht, gegen die sie rebellieren können, über ihnen steht, obgleich doch diese Macht aus ihnen selbst entsprießt – also wieder ähnlich wie der Staat. Legt sich dann die Revolte, so stellt sich die alte Herrschaft wieder ein, trotz des Hasses und der machtlosen Erbitterung in den Massen weiß sie sich zu behaupten, weil sie sich stützt auf die Gleichgültigkeit und den Mangel an klarer Einsicht und einheitlichem, ausdauerndem Willen dieser Massen und von der inneren Notwendigkeit der Gewerkschaft als einzigem Mittel der Arbeiter, in dem Zusammenschluss Kraft gegen das Kapital zu finden, getragen wird.

Kämpfend gegen das Kapital, gegen die verelendenden absolutistischen Tendenzen des Kapitals, sie beschränkend und dadurch der Arbeiterklasse die Existenz ermöglichend, erfüllte die Gewerkschaftsbewegung ihre Rolle im Kapitalismus und war dadurch selbst ein Glied der kapitalistischen Gesellschaft. Aber erst mit dem Eintritt der Revolution, als das Proletariat aus einem Glied der kapitalistischen Gesellschaft zum Vernichter dieser Gesellschaft wird, tritt die Gewerkschaft in Gegensatz zum Proletariat.

Sie wird legal, offen staatserhaltend und staatlich anerkannt, sie stellt den „Aufbau der Wirtschaft vor der Revolution“ als ihre Losung auf, also die Erhaltung des Kapitalismus. In Deutschland strömen nun viele Millionen Zahlen von Proletariern, die es bisher durch Terrorismus von oben nicht wagten, in sie hinein in der Mischung von Furchtsamkeit und beginnender Kampfstimmung. Jetzt wird die Verwandtschaft der fast die ganze Arbeiterklasse umfassenden Gewerkschaftsverbände mit einem Staatswesen noch größer. Die Gewerkschaftsbeamten kommen nicht nur darin mit der staatlichen Bürokratie überein, dass sie zu Gunsten des Kapitals durch ihre Macht die Arbeiterklasse niederhalten, sondern auch darin, dass ihre „Politik“ immer mehr darauf hinauskommt, die Massen mit den demagogischen Mitteln zu betrügen und für ihre Abkommen mit den Kapitalisten zu gewinnen. Und auch die Methode wechselt mit den Verhältnissen: roh und brutal in Deutschland, wo die Gewerkschaftsführer den Arbeitern mit Gewalt und schlauem Betrug die Akkordarbeit und die verlängerte Arbeitszeit aufhalsten, mit raffinierter Schlauheit in England, wo dieses Beamtentum – ähnlich wie die Regierung – sich den Anschein gibt, sich durch die Arbeiter widerwillig fortschieben zu lassen, während es in Wirklichkeit die Forderungen der Arbeiter sabotiert.

Was Marx und Lenin für den Staat hervorhoben: dass es seine Organisation trotz der formellen Demokratie unmöglich macht, ihn zu einem Instrument der proletarischen Revolution zu machen, muss daher auch für die Gewerkschaftsorganisationen gelten. Ihre konterrevolutionäre Macht kann nicht durch einen Personenwechsel, durch die Ersetzung reaktionärer durch radikale oder „revolutionäre“ Führer vernichtet oder geschwächt werden. Die Organisationsform ist es, die die Massen so gut wie machtlos macht und sie daran hindert, die Gewerkschaft zum Organ ihres Willens zu machen. Die Revolution kann nur siegen, indem sie diese Organisation vernichtet, d. h. die Organisationsform so völlig umwälzt, dass sie zu etwas ganz anderem wird. Das Sowjetsystem, der Aufbau von innen, ist nicht nur imstande, die staatliche, sondern auch die gewerkschaftliche Bürokratie zu entwurzeln und zu beseitigen; es wird nicht bloß die neuen politischen Organe des Proletariats gegenüber dem Parlament bilden, sondern auch die Grundlage der neuen Gewerkschaften. In den Parteistreitigkeiten in Deutschland ist darüber gespöttelt worden, als könne eine Organisationsform revolutionär sein, da es doch nur auf die revolutionäre Gesinnung der Menschen, der Mitglieder ankomme. Wenn aber der wichtigste Inhalt der Revolution darin besteht, dass die Massen selbst ihre Angelegenheiten – die Leitung der Gesellschaft und der Produktion – in die Hand nehmen, dann ist jede Organisationsform konterrevolutionär und schädlich, die den Massen nicht gestattet, selbst zu herrschen und zu leiten; daher soll sie ersetzt werden durch eine andere Form, die deshalb revolutionär ist, weil sie die Arbeiter selbst aktiv über alles bestimmen lädst. Das soll nicht bedeuten, dass in einer noch passiven Arbeiterschaft diese Form zuerst geschaffen und fertiggestellt werden soll, in der sich dann nachher der revolutionäre Sinn der Arbeiter betätigen könnte. Diese neue Organisationsform kann selbst nur im Prozess der Revolution von den revolutionär auftretenden Arbeitern geschaffen werden. Aber die Erkenntnis der Bedeutung der heutigen Organisationsform bestimmt die Stellung, die die Kommunisten zu den Versuchen einzunehmen haben, die jetzt schon auftreten, diese Form zu schwächen oder zu sprengen.

In den syndikalistischen und noch mehr in der „industriellen“ Gewerkschaftsbewegung trat schon das Bestreben hervor, den bürokratischen Apparat möglichst klein zu halten und alle Kraft in der Aktivität der Massen zu suchen. Daher haben sich die Kommunisten zumeist für die Unterstützung dieser Organisationen gegen die zentralen Verbände ausgesprochen. Solange der Kapitalismus aufrechtsteht, können allerdings diese Neubildungen keinen großen Umfang gewinnen – die Bedeutung der amerikanischen IWW ist dem besonderen Umstand eines zahlreichen ungelernten Proletariats meist fremden Ursprungs außerhalb der alten Verbände entsprungen. Dem Sowjetsystem vielmehr verwandt ist die Bewegung der Shop-Committees und Shop-Stewards in England, die in der Kampfpraxis geschaffene Organe der Massen gegenüber der Bürokratie sind. Noch absichtlicher der Sowjetidee nachgebildet, aber schwach durch das Stagnieren der Revolution, sind die „Unionen“ in Deutschland. Jede Neubildung solcher Art, die die zentralisierten Verbände und ihre innere Festigkeit schwächt, räumt ein Hemmnis der Revolution aus dem Wege und schwächt die konterrevolutionäre Macht der Gewerkschaftsbürokratie. Allerdings wäre es eine verlockende Idee, alle oppositionellen und revolutionären Kräfte innerhalb dieser Verbände zusammenzuhalten, damit sie schließlich als Majorität diese Organisation erobern und umwälzen könnten. Aber erstens ist dies eine Illusion – ähnlich wie es der verwandte Gedanke wäre, die SD-Partei zu erobern –, da die Bürokratie schon weiß, mit einer Opposition umzugehen, bevor sie zu gefährlich wird. Und zweitens läuft eine Revolution nun einmal nicht nach einem glatten Programm ab, sondern spielen elementare Ausbrüche leidenschaftlich aktiver Gruppen darin immer eine besondere Rolle als vorwärts treibende Kraft. Sollten aber Kommunisten, aus opportunistischen Rücksichten auf Augenblickserfolge, sich solchen Erstrebungen entgegenstellen zu Gunsten der Zentralverbände, so würden sie die Hemmnisse verstärken, die sich ihnen später am mächtigsten in den Weg stellen werden.

Die Bildung ihrer eigenen Macht- und Aktionsorgane, der Sowjets, durch die Arbeiter, bedeutet schon die Zersetzung und Auflösung des Staates. Die Gewerkschaft als eine viel jüngere, moderne, selbstgeschaffene Organisationsform wird sich viel länger erhalten, da sie in einer frischeren Tradition selbsterlebter Verhältnisse wurzelte und daher in der Anschauungswelt des Proletariats noch einen Platz behauptet, wenn es die staatlich-demokratischen Illusionen schon abgestreift hat. Da die Gewerkschaften aber aus dem Proletariat selbst hervorgekommen sind, als Produkte ihres eigenen Schaffens, werden sich hier am meisten Neubildungen zeigen als Versuche, sie jedes Mal neuen Verhältnissen anzupassen; hier werden dem Prozess der Revolution folgend, sich nach dem Muster der Sowjets neue Formen seines Kampfes und seiner Organisation in stetiger Umbildung und Entwicklung aufbauen.

VI

Die Vorstellung, die proletarische Revolution in Westeuropa sei einer geregelten Belagerung der kapitalistischen Festung zu vergleichen, in der das Proletariat, durch die kommunistische Partei in eine wohlorganisierte Armee zusammengefasst, sie mittels seiner altbewährten Methoden in wiederholten Stürmen angreift, bis der Feind sich ergibt, während es zugleich die Betriebskontrolle Schritt für Schritt erobert, ist eine neureformistische Vorstellung, die den Kampfbedingungen der altkapitalistischen Länder sicher nicht entspricht. Revolutionen und Eroberungen der Macht können da vorkommen, die wieder verloren gehen; die Bourgeoisie wird die Macht zurückgewinnen können, aber dabei die Wirtschaft noch hoffnungsloser zerrütten; politische Zwischenformen können auftreten, die durch ihren Mangel an Kraft das Chaos nur verlängern. Der Prozess der Revolution besteht zuerst in einer Loslösung der alten Bedingungen, die in jeder Gesellschaft vorhanden sein müssen, weil sie den gesellschaftlichen Gesamtprozess der Produktion und des Zusammenlebens erst ermöglichen und die durch die lange geschichtliche Praxis die feste Kraft spontaner Sitten und sittlicher Normen (Pflichtgefühl, Fleiß, Disziplin) bekommen haben. Ihr Zerfall ist eine notwendige Begleiterscheinung der Auflösung des Kapitalismus, während zugleich die neuen Bindungen, die zur kommunistischen Neuorganisation der Arbeit und der Gesellschaft gehören – deren Entstehung wir in Russland beobachteten – noch nicht kräftig genug sind. Daher wird eine Zeit des gesellschaftlichen und politischen Chaos als Übergangszeit unvermeidlich. Wo das Proletariat rasch die Herrschaft erobert und sie fest in der Hand zu behalten weiß, wie in Russland, kann die Übergangszeit kurz sein und rasch durch den positiven Aufbau beendet werden. Aber in Westeuropa wird der Zerstörungsprozess viel langwieriger sein. In Deutschland sehen wir die Arbeiterklasse gespalten in Gruppen, in denen diese Entwicklung verschieden weit gediehen ist und die deshalb noch nicht zur aktiven Einheit kommen können. Die Symptome der letzten Revolutionsbewegungen weisen darauf hin, dass das ganze Reich, wie Zentraleuropa überhaupt, sich auflöst, dass die Volksmassen nach Schichten wie nach Regionen auseinanderfallen, deren jede zuerst auf eigene Faust vorgeht, hier sich zu bewaffnen weiß und die politische Gewalt mehr oder weniger an sich zieht, da in Streikbewegungen die bürgerliche Gewalt lähmt, dort sich als eine Bauernrepublik abschließt, anderswo zum Stützpunkt von weißen Garden wird oder in elementaren agrarischen Revolten die feudalen Reste sprengt – die Zerstörung der Kräfte muss offenbar erst gründlich sein, bevor von einem wirklichen Aufbau des Kommunismus die Rede sein kann. Die Aufgabe der kommunistischen Partei kann dabei nicht sein, diese Umwälzung zu schulmeistern und vergebliche Versuche anzustellen, sie in eine Zwangsjacke überlieferter Formen zu pferchen, sondern überall die Kräfte der proletarischen Bewegung zu unterstützen, die spontanen Aktionen zusammenzufassen, ihnen das Bewusstsein ihres Zusammenhanges im großen Rahmen zu geben, dadurch die Vereinheitlichung der zersplitterten Aktionen vorzubereiten und sich so an die Spitze der Gesamtbewegung zu stellen.

Die erste Phase der Auflösung des Kapitalismus, gleichsam ihre Einleitung, sehen wir in den Ententeländern, wo seine Herrschaft noch unerschüttert ist, als ein unaufhaltsames Zurücklaufen der Produktion und der Valuta, ein Überhandnehmen des Streiks und eine starke Arbeitsunlust im Proletariat. Die zweite Phase, die Zeit der Konterrevolution, d. h. der politischen Herrschaft der Bourgeoisie im Zeitalter der Revolution, bedeutet den völligen wirtschaftlichen Zusammenbruch; wir können sie am besten in Deutschland und im übrigen Zentraleuropa studieren. Wäre sofort nach der politischen Umwälzung ein kommunistisches System aufgetreten, so hätte, sogar trotz der Friedensverträge von Versailles und St. Germain, trotz Erschöpfung und Armut, ein organisierter Aufbau beginnen können. Aber Ebert-Noske dachten so wenig wie Renner-Bauer an den organisierten Aufbau; sie ließen der Bourgeoisie die freie Hand und sahen es nur als ihre Aufgabe an, das Proletariat niederzuhalten. Die Bourgeoisie handelte, d.h. jeder Kapitalist handelte, wie es seiner Natur als Bourgeois entspricht; jeder hatte nur diesen einen Gedanken, möglichst viel Profit machen, für sich persönlich aus dem Zusammenbruch zu retten, was zu retten war. Es wurde zwar in Zeitungen und Manifesten von der Notwendigkeit geredet, das ökonomische Leben durch geordnete Arbeit wieder aufzubauen, aber das war bloß für die Arbeiter gemeint, um den harten Zwang zur intensivsten Arbeit trotz ihrer Erschöpfung mit schönen Phrasen zu verkleiden. In Wirklichkeit kümmerte sich selbstverständlich kein einziger Bourgeois um den wirtschaftlichen Aufbau als allgemeines Volksinteresse, sondern nur um seinen persönlichen Gewinn. Zuerst wurde der Handel wieder, wie in der Urzeit, das wichtigste Mittel zur Bereicherung; das Sinken der Valuta bot die Gelegenheit, alles ins Ausland zu verkaufen – Rohstoffe, Lebensmittel, Produkte, Produktionsmittel – was für den wirtschaftlichen Aufbau oder die bloße Existenz der Massen nötig gewesen wäre, und weiter die Fabriken selbst und die Eigentumsmittel. Das Schiebertum beherrscht alle bürgerlichen Schichten, von einer zügellosen Korruption des Beamtentums unterstützt. So wurde alles, was vom alten Besitz übrig geblieben war und nicht als Kriegsentschädigung abgegeben werden musste, von den „Leitern der Produktion“ ins Ausland verschoben. Und ähnlich trat auf dem Gebiet der Produktion die private Profitsucht auf, die durch ihre völlige Gleichgültigkeit für das Gemeinwohl das Wirtschaftsleben herunterbringt. Um den Proletariern die Akkordarbeit und verlängerte Arbeitszeit aufzwingen zu können oder die rebellischen Elemente unter ihnen los zu werden, wurden sie ausgesperrt und die Betriebe stillgelegt, unbekümmert um die Stagnation, die dadurch in der übrigen Industrie entstand. Dazu kam die Unfähigkeit der bürokratischen Leitung der Staatsbetriebe, die zur völligen Bummelei wurde, da die kräftige Hand der Regierung von oben fehlte. Beschränkung der Produktion, das altprimitive Mittel zur Steigerung der Preise, aber unter einem blühenden Kapitalismus infolge der Konkurrenz undurchführbar, kam wieder zu Ehren. In den Börsennachrichten scheint der Kapitalismus wieder aufzublühen, aber die hohen Dividenden sind ein Aufzehren des letzten Besitzes und werden selbst in Luxus verjubelt. Was wir in Deutschland in dem letzten Jahr beobachteten, ist nicht etwas Auffälliges, sondern die Wirkung des allgemeinen Charakters der Bourgeoisie als Klasse. Ihr einziges Ziel ist und war immer der persönliche Profit, im normalen Kapitalismus hält dieser Trieb die Produktion im Gang, im untergehenden Kapitalismus bewirkt er die völlige Zerstörung der Wirtschaft. Und daher wird es mit anderen Ländern denselben Weg gehen; ist einmal die Produktion bis zu einer gewissen Höhe zerrüttet und ist die Valuta stark gesunken, dann wird, wenn der privaten Gewinnsucht der Bourgeoisie freie Bahn gelassen wird – und das ist die Bedeutung der politischen Herrschaft der Bourgeoisie unter der Larve irgendwelcher nichtkommunistischen Partei – auch der völlige Untergang der Wirtschaft das Resultat sein.

Die Schwierigkeiten des Neuaufbaues, vor die sich das westeuropäische Proletariat unter solchen Umständen gestellt sieht, sind ungeheuer viel größer, als sie in Russland waren – die nachherige Verwüstung der industriellen Produktivkräfte durch Koltschak und Denikin gibt eine schwache Ahnung davon. Er kann nicht warten, bis eine neue politische Ordnung hergestellt ist, er muss schon im Prozess der Revolution begonnen werden, indem überall, wo das Proletariat die Macht ergreift, sofort eine Ordnung der Produktion durchgeführt wird, und die Verfügungsgewalt der Bourgeoisie über die materiellen Elemente des Lebens aufgehoben wird. Die Betriebskontrolle kann dazu dienen, in den Werkstätten die Verwendung der Waren zu überwachen; aber es ist klar, dass damit nicht alle gemeinschädlichen Schiebungen der Bourgeoisie erfasst werden. Dazu ist die volle bewaffnete politische Gewalt und ihre schärfste Handhabung nötig. Wo die Wucherer rücksichtslos ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl das Volksgut verschleudern, wo die bewaffnete Reaktion blindlings mordet und zerstört, muss das Proletariat rücksichtslos eingreifen und kämpfen, das Gemeinwohl, das Leben des Volkes zu schützen.

Die Schwierigkeiten der Neuorganisation einer völlig vernichteten Gesellschaft sind so groß, dass sie von vornherein unüberwindlich erscheinen, so dass es auch absolut unmöglich ist, im Voraus ein Programm für die Rekonstruktion aufzustellen. Aber sie müssen überwunden werden, das Proletariat wird sie überwinden durch die grenzenlose Selbstaufopferung und Hingabe, durch die unendliche Kraft der Seele und des Geistes, durch die ungeheuren psychischen und moralischen Energien, die die Revolution in seinem geschwächten und gemarterten Leib zu wecken vermag.

Ein paar Fragen mögen andeutungsweise erörtert werden. Die Frage der technischen Industriebeamten wird nur zeitweilig Schwierigkeiten geben, trotzdem sie absolut bürgerlich denken und einer proletarischen Herrschaft in tiefster Feindschaft gegenüberstehen, werden sie sich schließlich doch fügen. Das Ingangbringen von Verkehr und Industrie wird vor allem eine Frage der Zufuhr von Rohstoffen sein; und diese Frage fällt mit der Frage der Lebensmittel zusammen. Die Lebensmittelfrage ist die Kernfrage der westeuropäischen Revolutionen, da die stark industrialisierte Bevölkerung schon unter dem Kapitalismus nicht ohne fremde Zufuhr auskommen konnte. Die Lebensmittelfrage der Revolution ist aber aufs engste mit der ganzen Agrarfrage verknüpft, und die Prinzipien einer kommunistischen Regelung der Landwirtschaft müssen schon auf die Maßnahmen zur Steuerung des Hungers während der Revolution von Einfluss sein. Die Junkergüter, der Großgrundbesitz ist reif zur Enteignung und kollektiven Bewirtschaftung; das Kleinbauerntum wird von aller kapitalistischen Ausbeutung befreit und durch Unterstützung mit allen Mitteln der Staatshilfe und Kooperation auf den Weg intensiver Kultur geleitet werden; das mittlere Bauerntum, das zum Beispiel in West- und Südwestdeutschland die Hälfte des Bodens besitzt, das stark individualistisch, also antikommunistisch denkt, aber eine noch unerschütterliche wirtschaftliche Stellung einnimmt, also nicht zu expropriieren ist, wird man durch Regelung des Produktenaustausches und Förderung der Produktivität in den Kreis des gesamten Wirtschaftsprozesses einzufügen haben – erst der Kommunismus wird in der Landwirtschaft die Entwicklung zur höchsten Produktivität und die Aufhebung der Individualwirtschaft einleiten, die der Kapitalismus in der Industrie gebracht hat. Daraus ergibt sich, dass die Arbeiter die Gutsbesitzer als feindliche Klasse, die Landarbeiter und Kleinbauern als ihre Verbündeten in der Revolution anzusehen haben, während sie keinen Anlass haben, sich die Mittelbauern zu Feinden zu machen, wenn diese im voraus auch feindlich gesinnt sein mögen. Das bedeutet, dass, solange ein Austausch von Gütern noch nicht geregelt ist – in der ersten chaotischen Zeit – eine Requisition von Lebensmitteln bei diesen Bauernschichten nur als Notmaßnahme, als absolut unvermeidlicher Ausgleich des Hungers zwischen Stadt und Land, stattfinden kann. Der Kampf gegen den Hunger wird vor allem durch die Einfuhr von außen geführt werden müssen. Sowjetrussland wird mit seinen reichen Hilfsquellen an Lebensmitteln und Rohstoffen der Retter und Ernährer der westeuropäischen Revolution sein. Deshalb vor allem ist die Erhaltung und die Unterstützung Sowjetrusslands für die westeuropäische Arbeiterklasse das allerhöchste und ureigenste Lebensinteresse.

Der neue Aufbau der Wirtschaft, so ungeheuer schwierig er sein wird, ist nicht das erste Problem, das die Kommunistische Partei zu beschäftigen hat. Wenn die proletarischen Massen ihre höchste geistige und sittliche Kraft entfalten, werden sie es lösen. Die erste Aufgabe der Kommunistischen Partei ist, diese Kraft zu wecken und zu fördern. Sie hat alle überkommenen Ideen, die das Proletariat ängstlich und unsicher machen, auszurotten, allem, was in den Arbeitern Illusionen über leichtere Wege weckt und sie von den radikalsten Maßnahmen zurückhält, entgegenzusetzen, alle Tendenzen, die auf halbem Wege oder bei Kompromissen stehen bleiben, energisch zu bekämpfen. Und solche Tendenzen gibt es noch viele.

VII

Der Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus wird nicht nach dem einfachen Schema: Eroberung der politischen Gewalt, Einführung der Rätesysteme, Aufhebung der Privatwirtschaft, stattfinden, wenn dies auch die große Entwicklungslinie abgibt. Das wäre nur möglich, wenn man gleichsam im Leeren aufbauen könnte. Aber aus dem Kapitalismus sind Betriebs- und Organisationsformen entstanden, die ihren festen Boden im Bewusstsein der Massen haben und selbst erst in einem Prozess politischer und wirtschaftlicher Revolution umgewälzt werden können. Von den Betriebsformen erwähnten wir schon die agrarischen Formen, die eine besondere Entwicklung durchmachen. In der Arbeiterklasse sind unter dem Kapitalismus Organisationsformen entstanden – nach den Ländern in Einzelheiten verschieden –, die eine starke Macht darstellen, die nicht sofort zu beseitigen sind und die daher eine bedeutsame Rolle im Verlauf der Revolution spielen werden.

Das gilt zuerst von den politischen Parteien. Die Rolle der Sozialdemokratie in der heutigen Krise des Kapitalismus ist genügend bekannt, aber in Zentraleuropa bald ausgespielt. Auch ihre radikalsten Teile (wie die USP in Deutschland) wirken nicht nur dadurch schädlich, dass sie das Proletariat spalten, sondern vor allem, weil sie durch ihre sozialdemokratischen Ideen – die Herrschaft politischer Führer, die durch ihre Taten und Verhandlungen die Geschicke des Volkes lenken – immer wieder die Massen verwirren und von der Aktion zurückhalten. Und wenn eine Kommunistische Partei sich als parlamentarische Partei konstituiert, die statt der Klassendiktatur die Diktatur der Partei, das heißt die Diktatur der Parteiführer verwirklichen will, so kann sie auch zu einem Hemmnis werden der Entwicklung. Die Haltung der Kommunistischen Partei Deutschlands während der revolutionären Märzbewegung, als sie erklärte, das Proletariat sei noch nicht reif zur Diktatur und sie werde deshalb, wenn eine „rein sozialistische Regierung“ zustande käme, zu ihr als „loyale Opposition“ auftreten, also das Proletariat vom schärfsten revolutionären Kampf gegen eine solche Regierung zurückhalten, hat auch schon von verschiedenen Seiten Kritik erfahren.6

Eine Regierung sozialistischer Parteiführer kann im Verlaufe der Revolution als Zwischenform auftreten; in ihr kommt dann das augenblickliche Verhältnis der revolutionären und bürgerlichen Kräfte zum Ausdruck, und sie hat die Tendenz, das augenblickliche Verhältnis der Zerstörung des Alten und der Ausbildung des Neuen als das Ergebnis der Revolution festzuhalten und zu verewigen. Sie wäre so etwas wie eine radikalere Neuauflage der Ebert-Haase-Dittmann-Regierung. Was von einer solchen Regierung zu erwarten ist, ergibt sich aus ihrer Grundlage: ein scheinbares Gleichgewicht der feindlichen Klassen, aber unter einem Übergewicht der Bourgeoisie, eine Mischung von parlamentarischer Demokratie mit einer Art Rätesystem für die Arbeiter, Sozialisierung, durch das Veto des Entente-Imperialismus beschränkt, unter Erhaltung des Kapitalprofits, vergebliche Versuche, das scharfe Aufeinanderprallen der Klassen zu verhindern. Die dabei geprellt werden, sind immer die Arbeiter. Eine solche Regierung kann nicht nur nichts zum Aufbau tun, sie versucht es nicht einmal, da ihr einziges Ziel ist, die Revolution auf halbem Wege in ihrem Lauf aufzuhalten. Da sie sowohl den weiteren Abbruch des Kapitalismus zu verhindern sucht, wie die Ausbildung der vollen politischen Gewalt des Proletariats, wirkt sie direkt konterrevolutionär. Die Kommunisten können nicht anders, als in der rücksichtslosesten Weise eine solche Regierung bekämpfen.

Sowie in Deutschland die Sozialdemokratie die führende Organisation des Proletariats war, hat in England die Gewerkschaftsbewegung durch eine fast hundertjährige Geschichte die tiefsten Wurzeln in der Arbeiterklasse. Hier ist es schon lange das Ideal der jüngeren radikalen Gewerkschaftsführer – Robert Smillie mag als ihr Typus gelten –, dass die Arbeiterklasse mittels der Organisation der Gewerkschaften die Gesellschaft beherrscht. Auch die revolutionären Syndikalisten und die Wortführer der IWW in Amerika – obgleich der Dritten Internationale angeschlossen – denken sich die künftige Herrschaft des Proletariats vorwiegend in solcher Gestalt. Die radikalen Gewerkschaftler betrachten das Sowjetsystem nicht als die reinste Form proletarischer Diktatur, sondern vielmehr als eine Regierung von Politikern und Intelligenzlern, die auf einer aus Arbeiterorganisationen bestehenden Grundlage aufgebaut ist. Dagegen ist die Gewerkschaftsbewegung für sie die natürliche selbstgeschaffene Klassenorganisation des Proletariats, das sich darin selbst regiert und die ganze Arbeit beherrschen soll. Ist das alte Ideal der „industriellen Demokratie“ verwirklicht und die Gewerkschaft Meister in der Fabrik, dann wird ihr gemeinsames Organ, der Gewerkschaftskongress, die Funktion der Leitung und Verwaltung des wirtschaftlichen Gesamtprozesses übernehmen. Er ist dann das wirkliche „Parlament der Arbeit“, das an die Stelle des alten bürgerlichen Parteienparlaments tritt. Allerdings schreckt man in diesen Kreisen oft noch vor einer einseitigen und „ungerechten“ Klassendiktatur als Verstoß gegen die Demokratie zurück; die Arbeit soll herrschen, aber die anderen sollen nicht rechtlos sein. Dementsprechend könnte neben dem Arbeitsparlament, das die Grundlage alles Lebens, die Arbeit, verwaltet, ein durch allgemeines Wahlrecht gewähltes zweites Haus als Vertretung des ganzen Volkes kommen und seinen Einfluss auf öffentliche, kulturelle und allgemein politische Fragen ausüben.

Diese Auffassung einer Regierung von Gewerkschaften soll nicht mit dem „Laborism“ verwechselt werden, der Politik der „Labourparty“, die die Gewerkschaftler jetzt führen. Dies ist ein Eindringen der Gewerkschaften in das heutige bürgerliche Parlament, indem sie eine „Arbeiterpartei“ bilden auf gleichen Fuß mit den anderen Parteien und danach streben, an ihrer Stelle Regierungspartei zu werden. Diese Partei ist völlig bürgerlich, und zwischen Henderson und Ebert ist nicht viel Unterschied. Sie wird der englischen Bourgeoisie die Gelegenheit bieten – sobald es durch den drohenden Druck von unten nötig ist – auf breiterer Basis ihre alte Politik fortzusetzen, die Arbeiter dadurch schwach zu halten und irrezuführen, dass ihre Führer in die Regierung aufgenommen werden. Eine Regierung der Arbeiterpartei – die vor einem Jahr bei der revolutionären Stimmung der Massen nahe schien, die aber die Führer selbst seitdem durch die Niederhaltung der radikalen Strömung wieder in weite Ferne gerückt haben – wäre ähnlich wie die Ebertregierung in Deutschland nur eine Regierung für die Bourgeoisie. Aber es muss sich noch zeigen, ob die weitblickende kluge englische Bourgeoisie sich selbst nicht viel besser als diesen Arbeiterbürokraten die Einseifung und Niederhaltung der Massen zutraut.

Eine reine Gewerkschaftsregierung nach radikaler Auffassung steht gegenüber dieser Arbeiterparteipolitik, diesem „Laborism“, wie Revolution gegenüber Reform steht. Nur eine wirkliche Revolution der politischen Verhältnisse – ob gewaltsam oder nach alten englischen Mustern – kann sie herbeiführen; und im Bewusstsein der breiten Massen wäre dies dann die Eroberung der Herrschaft durch das Proletariat. Aber dennoch ist sie von dem Ziel des Kommunismus durchaus verschieden. Sie beruht auf der beschränkten Ideologie, die sich im Gewerkschaftskampf entwickelt, wo man nicht das Weltkapital als Ganzes in allen seinen verschlungenen Formen, nicht das Finanzkapital, nicht das Bankkapital, das agrarische Kapital, das Kolonialkapital, sondern nur seine industrielle Form sich gegenüber sieht. Sie stützt sich auf die marxistische Ökonomie, wie sie jetzt in der englischen Arbeiterwelt eifrig studiert wird, die die Produktion als Ausbeutungsmechanismus zeigt, aber ohne die tiefere marxistische Gesellschaftslehre, den historischen Materialismus. Sie weiß, dass die Arbeit die Grundlage der Welt bildet und will daher, dass die Arbeit die Welt beherrscht; aber sie sieht nicht, wie alle abstrakte Gebiete des politischen und geistigen Lebens durch die Produktionsweise bedingt werden, und sie ist deshalb geneigt, diesen der bürgerlichen Intelligenz zu überlassen, wenn diese nur die Vorherrschaft der Arbeit anerkennt. Eine solche Arbeiterregierung wäre in Wirklichkeit eine Regierung der Gewerkschaftsbürokratie, die sich ergänzt durch den radikalen Teil der alten Staatsbürokratie, denen sie als Sachverständigen die Spezialgebiete der Kultur, der Politik und dergleichen überlässt. Ihr wirtschaftliches Programm wird voraussichtlich auch nicht mit der kommunistischen Enteignung zusammenfallen, sondern nur auf die Enteignung des Großkapitals, des Wucher-, Bank- und Bodenkapitals gerichtet sein, während der „redliche“ Unternehmerprofit der von diesem Großkapital gerupften und beherrschten kleineren Unternehmer geschont wird. Es ist auch fraglich, ob sie in der Kolonialfrage, diesem Lebensnerv der herrschenden Klasse Englands, den Standpunkt völliger Freiheit für Indien einnehmen wird, der wesentlich zum kommunistischen Programm gehört.

In welcher Weise, in welchem Maße und in welcher Reinheit sich eine solche politische Form verwirklichen wird, ist nicht vorauszusägen; wir können nur die allgemeinen Triebkräfte und Tendenzen, die abstrakten Typen erkennen, aber nicht die überall verschiedenen konkreten Formen und Mischungen, in denen sie realisiert werden. Die englische Bourgeoisie hat immer die Kunst verstanden, durch partielle Konzessionen im richtigen Moment von revolutionären Zielen zurückzuhalten, inwieweit sie auch in Zukunft diese Taktik befolgen kann, wird vor allem von der Tiefe der wirtschaftlichen Krise abhängen. Wird in ungeregelten industriellen Revolten die Gewerkschaftsdisziplin von unten zerrieben, während der Kommunismus die Massen ergreift, dann werden die radikalen und reformistischen Gewerkschaftler sich auf einer mittleren Linie zusammenfinden; geht der Kampf scharf gegen die alte reformistische Führerpolitik, dann werden radikale Gewerkschaftler und Kommunisten Hand in Hand gehen.

Diese Tendenzen sind nicht auf England beschränkt. In allen Ländern bestehen Gewerkschaften als die mächtigsten Arbeiterorganisationen; sobald durch einen politischen Zusammenstoß die alte Gewalt stürzt, wird sie naturgemäß der bestorganisierten und einflussreichsten Macht zufallen, die dann vorhanden ist. In Deutschland bildeten die Gewerkschaftsvorstände im November 1918 die konterrevolutionäre Garde hinter Ebert; und bei der letzten Märzkrise traten sie auf die politische Bühne, mit dem Versuch, einen direkten Einfluss auf die Bildung der Regierung zu erwerben. Bei diesen Stützen der Ebert-Regierung handelte es sich dabei nur darum, durch den Trug einer „Regierung unter Kontrolle der Arbeiterorganisation“ das Proletariat noch schlauer einzuseifen. Aber es zeigt, dass hier die gleiche Tendenz vorhanden ist wie in England. Und wenn auch die Legien und Bauer zu sehr konterrevolutionär kompromittiert sind, neue radikalere Gewerkschaftler der USP-Richtung werden an ihre Stelle treten – so wie im vorigen Jahr die Unabhängigen unter Dissmann schon die Leitung des großen Metallarbeiterverbandes eroberten. Wenn eine revolutionäre Bewegung die Ebert-Regierung stürzt, wird zweifellos – neben der KP oder gegen sie – diese festorganisierte Macht von sieben Millionen Mitgliedern dabei sein, die politische Gewalt zu ergreifen.

Eine solche „Regierung der Arbeiterklasse“ mittels der Gewerkschaften kann nicht stabil sein, wenn sie sich bei einem langsamen ökonomischen Zersetzungsprozess auch lange wird behaupten können, so wird sie in einer akuten Revolution nur als schwankender Übergangszustand bestehen können. Ihr Programm, wie oben skizziert; kann nicht radikal sein. Eine Richtung aber, die solche Maßnahmen, nicht wie der Kommunismus, höchstens als zeitweilige Zwischenform zulässt, die er bewusst in der Richtung einer kommunistischen Organisation weiterentwickelt, sondern als definitives Programm betrachtet, muss notwendig im Gegensatz zu und in Streit mit den Massen kommen. Erstens, weil sie die bürgerlichen Elemente nicht völlig machtlos macht, sondern ihnen in der Bürokratie und vielleicht im Parlament eine gewisse Machtposition überlässt, von der aus sie den Klassenkampf weiter führen können. Die Bourgeoisie wird trachten, diese Machtpositionen zu stärken, während das Proletariat, weil es in solcher Weise die feindliche Klasse nicht vernichten kann, versuchen muss, das reine Sowjetsystem als Organ seiner Diktatur durchzuführen, in diesem Kampfe zweier kräftiger Gegner wird der ökonomische Aufbau unmöglich.7 Und zweitens, weil eine solche Regierung von Gewerkschaftsführern die Probleme, die die Gesellschaft stellt, nicht lösen kann. Denn diese sind nur zu lösen durch die eigene Initiative und Aktivität der proletarischen Masse, die durch eine so opferwillige, grenzenlose Begeisterung getrieben wird, wie sie nur der Kommunismus mit seinen Perspektiven völliger Freiheit und höchster geistiger und sittlicher Erhebung wecken kann. Eine Richtung, die die materielle Armut und Ausbeutung aufheben will, sich aber bewusst darauf beschränkt, den bürgerlichen Überbau nicht antastet und nicht zugleich den ganzen geistigen Ausblick, die Ideologie des Proletariats umzuwälzen weiß, kann diese mächtigen Energien in den Massen nicht auslösen; aber daher wird sie auch unfähig sein, das materielle Problem, den wirtschaftlichen Aufbau, zu lösen und das Chaos zu heben.

Ähnlich wie die „rein sozialistische“ Regierung wird die Gewerkschaftsregierung das augenblickliche Ergebnis des Revolutionsprozesses festzuhalten und zu stabilisieren versuchen – nur in einem viel weiteren Entwicklungsstadium, wenn die Vorherrschaft der Bourgeoisie zerstört ist und ein gewisses Gleichgewicht der Klassen unter Vorherrschaft des Proletariats eingetreten ist; wenn nicht der ganze Kapitalprofit mehr zu erhalten ist, sondern nur seine weniger anstößige kleinkapitalistische Form; wenn nicht mehr der bürgerliche, sondern der sozialistische Aufbau ernsthaft versucht wird, sei es auch mit ungenügenden Mitteln. Ihre Bedeutung ist also die einer letzten Zuflucht der bürgerlichen Klasse. Wenn die Bourgeoisie sich gegen den Ansturm der Massen auf der Linie Scheidemann-Henderson-Renaudel nicht mehr halten kann, zieht sie sich auf ihre letzte Rückzugslinie Smillie-Dissmann-Merrheim zurück. Kann sie durch „Arbeiter“ in einer bürgerlichen oder sozialistischen Regierung das Proletariat nicht mehr betrügen, so kann sie nur noch durch eine „Regierung von Arbeiterorganisationen“ das Proletariat von seinen fernsten radikalen Zielen zurückzuhalten suchen, um so einen Teil ihrer Vorzugsstellung zu erhalten. Der Charakter einer solchen Regierung ist konterrevolutionär, insoweit sie die notwendige Entwicklung der Revolution zur völligen Zerstörung der bürgerlichen Welt und zum völligen Kommunismus von dem Verfolgen seiner größten und klarsten Ziele zurückzuhalten sucht. Der Kampf der Kommunisten mag jetzt oft mit dem der radikalen Gewerkschaftler parallel laufen; aber es wäre eine schädliche Taktik, dabei die Gegensätze in Prinzip und Ziel nicht scharf hervorzuheben. Und diese Betrachtungen haben auch eine Bedeutung für das Verhalten der Kommunisten den heutigen Gewerkschaftsverbänden gegenüber; alles, was dazu beiträgt, ihre Geschlossenheit und ihre Kraft zu stärken, stärkt die Macht, die sich künftig dem Fortschreiten der Revolution in den Weg stellt. Wenn der Kommunismus einen starken und prinzipiellen Kampf gegen diese politische Übergangsform führt, ist er der Vertreter der lebendigen revolutionären Tendenzen im Proletariat. Dieselbe revolutionäre Aktion des Proletariats, die dadurch, dass sie den bürgerlichen Machtapparat bricht, die Bahn für die Herrschaft der Arbeiterbürokratie öffnet, treibt die Massen zugleich zur Schaffung ihrer eigenen Organe, der Räte, die sofort die bürokratische Maschinerie der Gewerkschaften in ihren Grundlagen untergraben. Der Aufbau des Sowjetsystems ist zugleich der Kampf des Proletariats, die unvollkommene Form der Diktatur durch die vollkommene Diktatur zu ersetzen. Aber bei der intensiven Arbeit, die alle nie aufhörende Versuche zur „Neuorganisation“ der Wirtschaft erfordern, wird eine Führerbürokratie noch lange eine große Macht behalten können und die Fähigkeit der Massen, sich ihrer zu entledigen, nur langsam wachsen. Diese verschiedenen Formen und Phasen der Entwicklung folgen einander auch nicht in der abstrakt-regelmäßigen Weise, wie wir sie logisch als Ausdruck verschiedener Reifegrade der Entwicklung hintereinander setzen, sondern laufen nebeneinander her, vermischen und durchkreuzen sich als ein Chaos sich ergänzender, bekämpfender und ablösender Tendenzen, in deren Kampf sich die Gesamtentwicklung der Revolution entzieht. „Proletarische Revolutionen“, sagte schon Marx, „kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihre Gegner nur niederzuwerfen, damit es neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte …“. Die Mächte, die aus dem Proletariat selbst aufwachsen als Ausdruck seiner unzulänglichen Kraft, müssen im Prozess der Entwicklung dieser Kraft – einer Entwicklung in Gegensätzen, also katastrophal, durch Kampf – überwunden werden. Im Anfang war die Tat, aber sie bildet nur den Anfang. Eine Herrschaft zu stürzen, erfordert einen Augenblick einheitlichen Willens, aber nur die bleibende Einheit – die nur möglich ist durch die klare Einsicht – vermag den Sieg festzuhalten. Sonst kommt der Rückschlag, der keine Rückkehr der alten Herrscher ist, sondern eine neue Herrschaft in neuen Formen, mit neuen Personen und neuen Illusionen. Jede neue Phase der Revolution bringt eine neue Schicht noch unverbrauchter Führer als Vertreter bestimmter Organisationsformen an die Oberfläche, deren Überwindung wieder eine höhere Stufe der Selbstbefreiung des Proletariats verkörpert. Die Kraft des Proletariats ist nicht nur die forsche Kraft der einmaligen gewaltigen Tat, die den Feind niederschlägt, sondern die geistige Kraft, die die alte geistige Abhängigkeit überwindet und so mit starkem Griff festzuhalten weiß, was im Sturmangriff erobert wurde. Das Wachstum dieser Kraft im Auf- und Niedergang der Revolution ist das Wachstum der proletarischen Freiheit.

VIII

Während in Westeuropa der Kapitalismus immer mehr zusammenbricht, wird in Russland mit ungeheuren Schwierigkeiten die Produktion unter einer neuen Ordnung aufgebaut. Die Herrschaft des Kommunismus bedeutet nicht, dass die Produktion völlig kommunistisch geordnet ist– dies ist erst durch einen längeren Entwicklungsprozess möglich – sondern dass die Arbeiterklasse mit bewusster Absicht die Produktion in der Richtung zum Kommunismus entwickelt.8 Diese Entwicklung kann zu jeder Zeit nicht weiter gehen, als die vorhandenen technischen und gesellschaftlichen Grundlagen zulassen, sie muss daher Übergangsformen zeigen, in denen Reste der alten bürgerlichen Welt hervortreten. Nach dem, was wir in Westeuropa über die russischen Zustände erfahren, sind diese auch in der Tat vorhanden.

Russland ist ein riesiges Bauernland, die Industrie hat sich nicht, wie in Westeuropa, zu dem unnatürlichen Umfang einer „Werkstätte“ der Welt entwickelt, die Ausfuhr und Expansion zu einer Lebensfrage machte, aber gerade genug, um eine industrielle Arbeiterklasse zu bilden, die fähig war, als eine entwickelte Klasse die Leitung der Gesellschaft in die Hand zu nehmen. Die Landwirtschaft beschäftigt die Volksmasse, und darin bilden die modernen Grossbetriebe eine, obgleich für die kommunistische Entwicklung wertvolle, Minderheit. Den Hauptteil bilden die Kleinbetriebe, nicht die elenden ausgebeuteten Kleinbetriebe Westeuropas, sondern Betriebe, die den Bauern Wohlfahrt sichern und die die Sowjetregierung durch materielle Versorgung mit Hilfsstoffen und Werkzeugen sowie durch intensiven, kulturellen und fachwissenschaftlichen Unterricht in immer festere Verbindung mit dem Ganzen zu bringen sucht. Dennoch ist es selbstverständlich, dass diese Betriebsform einen gewissen individualistischen, dem Kommunismus fremden Geist erzeugt, der bei den „reichen Bauern“ zu einer feindlichen, regelrecht antikommunistischen Gesinnung wird. Darauf hat zweifellos die Entente mit ihrem Projekt des Handels mit Genossenschaften spekuliert, um dadurch, dass sie diese Schichten in den Kreis bürgerlicher Profitsucht zu ziehen versuchte, eine bürgerliche Gegenbewegung zu entfachen. Weil aber doch ein zu großes Interesse, die Furcht vor der feudalen Reaktion, sie mit der heutigen Regierung verbindet, müssen solche Versuche fehlschlagen, und wenn der westeuropäische Imperialismus untergeht, so verschwindet diese Gefahr völlig.

Die Industrie ist vorwiegend zentral geregelte, ausbeutungslose Produktion, sie ist das Herz der neuen Ordnung, auf das industrielle Proletariat stützt sich die Leitung des Staates. Aber auch diese Produktion befindet sich in einem Übergangszustand; die technischen und Verwaltungsbeamten in Fabrik und Staatswesen üben eine größere Macht aus, als zum entwickelten Kommunismus passt. Die Notwendigkeit, rasch die Produktion zu heben, und noch mehr die Notwendigkeit, eine gute Armee gegen die Angriffe der Reaktion zu schaffen, nötigte dazu, im raschesten Tempo dem Mangel an führenden Kräften abzuhelfen; der drohende Hunger und die feindlichen Angriffe gestatten nicht, alle Kraft auf die Hebung – im langsameren Tempo – der allgemeinen Fähigkeit und Entwicklung aller als Basis eines kommunistischen Gemeinwesens zu verwenden. So musste aus den neuen Führern und Beamten eine neue Bürokratie entstehen, die die Reste der alten Bürokratie in sich aufnahm und deren Vorhandensein bisweilen als eine Gefahr der neuen Ordnung mit Besorgnis betrachtet wird. Diese Gefahr kann nur durch eine breite Entwicklung der Massen beseitigt werden, daran wird mit Feuereifer gearbeitet, aber ihre dauernde Grundlage wird erst von dem kommunistischen Überfluss gebildet werden, wodurch der Mensch aufhört, Sklave seiner Arbeit zu sein. Nur der Überfluss schafft die materielle Bedingung für Freiheit und Gleichheit; solange der Kampf gegen die Natur und gegen die Kapitalmächte noch ein schwerer Kampf ist, wird eine übermäßige Spezialisierung nötig bleiben.

Es ist bemerkenswert, dass nach unserer Untersuchung die verschiedene Entwicklung in Westeuropa – wo wir sie erst im weiteren Fortgang der Revolution voraussehen – und in Russland dieselbe politisch-wirtschaftliche Struktur hervorbringt: eine kommunistisch geregelte Industrie, in der Arbeiterräte das Element der Selbstverwaltung bilden, unter technischer Leitung und politischer Herrschaft einer Arbeiterbürokratie, während daneben die Landwirtschaft in dem vorherrschenden Klein- und Mittelbetrieb einen individualistischkleinbürgerlichen Charakter behält. Aber diese Übereinstimmung ist doch nicht sonderbar, da eine solche soziale Struktur nicht durch die politische Vorgeschichte, sondern durch technisch-wirtschaftliche Grundbedingungen bestimmt wird – die Entwicklungsstufe der industriellen und landwirtschaftlichen Technik sowie der Massenbildung – die da wie dort die gleichen sind.9 Aber bei dieser Übereinstimmung besteht ein großer Unterschied in Bedeutung und Ziel. In Westeuropa bildet diese politisch-ökonomische Struktur einen Übergangszustand, auf dem in letzter Linie die Bourgeoisie ihren Untergang aufzuhalten sucht, während in Russland versucht wird, die Entwicklung bewusst in die Richtung des Kommunismus weiterzusteuern. In Westeuropa bildet sie eine Phase im Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie, in Russland eine Phase in dem neuen wirtschaftlichen Aufbau. Unter gleichartigen äußeren Formen befindet sich Westeuropa auf der niedergehenden Linie einer untergehenden Kultur, Russland in der aufsteigenden Bewegung einer neuen Kultur.

Als die russische Revolution noch jung war und schwach und ihre Rettung von dem baldigen Ausbruch der europäischen Revolution erwartete, herrschte eine andere Auffassung über ihre Bedeutung. Russland ist, so hieß es damals, nur ein Außenposten der Revolution, wo durch eine zufällige Gunst der Umstände das Proletariat so früh die Macht ergreifen konnte; aber dieses Proletariat ist schwach und ungebildet und verschwindet beinahe in den endlosen Bauernmassen. Das Proletariat des wirtschaftlich rückständigen Russland kann nur zeitweilig voranschreiten; sobald die Riesenmassen des westeuropäischen Proletariats aufstehen werden, mit ihren Kenntnissen und ihrer Durchbildung, mit ihrer technischen und organisatorischen Schulung, und die Herrschaft über die entwickeltsten Industrieländer mit alter reicher Kultur übernehmen, dann wird man ein Aufblühen des Kommunismus erleben, neben dem der dankenswerte russische Anfang doch nur schwach und dürftig erscheinen würde. Wo der Kapitalismus seine höchste Kraft entfaltet – in England, in Deutschland, in Amerika – und die neue Produktionsweise vorbereitet hatte, da lag der Kern und die Kraft der neuen kommunistischen Welt.

Diese Auffassung hielt keine Rechnung mit den Schwierigkeiten der Revolution in Westeuropa. Wo das Proletariat nur langsam zu einer gefestigten Herrschaft kommt und die Bourgeoisie dann und wann die Macht oder Teile der Macht zurückzugewinnen weiß, dort kann von einem Aufbau der Wirtschaft nichts kommen. Ein kapitalistischer Aufbau ist unmöglich; jedes Mal, wenn die Bourgeoisie freie Hand bekommt, schafft sie ein neues Chaos und vernichtet die Grundlagen, die zum Aufbau einer kommunistischen Produktion dienen könnten. Durch blutige Reaktion und Zerstörung verhindert sie immer wieder die Festigung der neuen proletarischen Ordnung. Auch in Russland fand dies statt: die Zerstörung der Industrieanlagen und Bergwerke im Ural und im Donezbecken durch Koltschak und Denikin sowie die Notwendigkeit, die besten Arbeiter und den Hauptteil der Produktionskraft auf den Kampf gegen sie zu verwenden, hat die Wirtschaft tief zerrüttet und den kommunistischen Aufbau schwer geschädigt und zurückgeworfen – und wenn auch die Eröffnung der Handelsbeziehungen mit Amerika und dem Westen den Anfang eines neuen Aufschwungs erheblich fördern kann, so wird doch die größte, aufopferndste Anstrengung der Massen in Russland nötig sein, den Schaden völlig zu beheben. Aber – und darin liegt der Unterschied – in Russland blieb die Sowjetrepublik selbst unerschüttert, als ein organisiertes Zentrum kommunistischer Kraft, das schon eine große innere Festigkeit erworben hatte. In Westeuropa wird nicht weniger zerstört und gemordet werden, da werden auch die besten Kräfte des Proletariats im Kampfe vernichtet werden, aber hier fehlt die Kraftquelle eines schon gefestigten, organisierten, großen Sowjetstaates. Im verheerenden Bürgerkrieg erschöpfen sich die Klassen gegeneinander, und solange kann vom Aufbau nichts kommen, solange bleiben Chaos und Elend herrschend. Das wird das Los der Länder sein, wo das Proletariat nicht sofort mit klarem Blick und einheitlichem Willen seine Aufgabe erkannte, der Länder also, wo die bürgerlichen Traditionen die Arbeiter schwächen und spalten, ihre Augen trüben und ihre Herzen verzagt machen. Jahrzehnte werden nötig sein, um in den alten kapitalistischen Ländern den verpestenden lähmenden Einfluss der bürgerlichen Kultur auf das Proletariat zu überwinden. Und inzwischen bleibt die Produktion brach liegen und wird, wirtschaftlich, das Land zu einer Wüste werden.

Zur selben Zeit, als Westeuropa mühsam sich aus seiner bürgerlichen Vergangenheit emporringt, wirtschaftlich stagniert, blüht im Osten, in Russland, die Wirtschaft in der kommunistischen Ordnung empor. Was die Länder des entwickelten Kapitalismus vor dem rückständigen Osten auszeichnete, war ihr ungeheurer Besitz an materiellen und geistigen Produktionsmitteln – ein dichtes Netz von Eisenbahnen, Fabriken, Schiffen, eine dichte, technisch ausgebildete Bevölkerung. Aber im Zusammenbruch des Kapitalismus, im langen Bürgerkrieg, in der Zeit der Stagnation, wenn zu wenig produziert wird, geht dieser Besitz verloren, wird verbraucht oder zerstört. Die unzerstörbaren Produktivkräfte, die Wissenschaft, die technischen Fähigkeiten, sind nicht an diese Länder gebunden; ihre Träger finden in Russland eine neue Heimat, wohin auch ein Teil des materiellen, technischen Besitzes Europas durch den Handelsverkehr hinübergerettet werden mag. Das Handelsabkommen Sowjetrusslands mit Westeuropa und Amerika, wenn ernsthaft und kräftig durchgeführt, hat die Tendenz, diesen Gegensatz zu stärken, weil es den wirtschaftlichen Aufbau Russlands fördert, während es in Westeuropa den Zusammenbruch verzögert, den Ruin aufhält, dem Kapitalismus eine Atempause verschafft und die revolutionäre Tatkraft der Massen lähmt – auf wie lange und im welchem Maße, steht noch dahin. Politisch wird sich das in einer scheinbaren Stabilisierung einer bürgerlichen oder einer der oben behandelten Regierungsformen zeigen und in einem gleichzeitigen Überhandnehmen des Opportunismus in dem Kommunismus; durch die Anerkennung der alten Kampfmethoden, durch die Teilnahme an der parlamentarischen Arbeit und loyale Opposition in den alten Gewerkschaften werden sich die kommunistischen Parteien in Westeuropa eine legale Position erwerben, ähnlich wie früher die Sozialdemokratie, und wird sich demgegenüber die radikale, revolutionäre Richtung in die Minderheit gedrängt sehen. Ein wirkliches neues Aufblühen des Kapitalismus ist aber durchaus unwahrscheinlich; das Privatinteresse der mit Russland handelnden Kapitalisten wird sich um die Gesamtwirtschaft nicht kümmern und des Profits wegen wichtige Grundelemente der Produktion nach Russland verschleudern; das Proletariat ist auch nicht wieder in die Abhängigkeit zu bringen. Damit wird die Krise schleppend; eine bleibende Besserung ist unmöglich und wird stets wieder aufgehalten; der Prozess der Revolution und des Bürgerkrieges wird aufgeschoben und verlängert, die volle Herrschaft des Kommunismus und der Anfang neuen Aufblühens in eine weitere Zukunft verschoben. Inzwischen erhebt sich im Osten die Wirtschaft unbehindert im kräftigen Aufschwung, eröffnet neue Wege, sich stützend auf die höchste Naturwissenschaft – die der Westen nicht zu gebrauchen weiß – vereint mit der neuen Sozialwissenschaft, der neugewonnenen Herrschaft der Menschheit über ihre eigenen gesellschaftlichen Kräfte. Und diese Kräfte, hundertfach gesteigert durch die neuen Energien, die aus der Freiheit und Gleichheit entsprießen, werden Russland zum Zentrum der neuen kommunistischen Weltordnung machen.

Das wird ja nicht der erste Fall in der Weltgeschichte sein, dass bei dem Übergang zu einer neuen Produktionsweise – oder einer ihrer Phasen – das Zentrum der Welt nach anderen Gegenden der Welt verlegt wurde. Im Altertum wanderte es von Vorderasien nach Südeuropa, im Mittelalter von Süd- nach Westeuropa; mit dem Aufkommen des Kolonial- und Handelskapitals wurde zuerst Spanien, dann Holland und England, mit dem Aufkommen der Industrie wurde England das führende Land. Die Ursachen dieser Wandlungen sind auch in einem allgemeinen Gesichtspunkt zusammenzufassen: Wo die frühere Wirtschaftsform zur höchsten Entfaltung kam, sind die materiellen und geistigen Kräfte, die politisch-rechtlichen Institutionen, die ihre Existenz sichern und zu ihrer vollen Ausbildung nötig sind, so fest ausgebaut worden, dass sie einer Entwicklung zu neuen Formen fast unüberwindliche Widerstände in den Weg legen. So hemmte das Institut der Sklaverei am Ausgang des Altertums die Entwicklung einer feudalen Ordnung; so bewirkten die Zunftgesetze in den großen reichen Städten des Mittelalters, dass die spätere kapitalistische Manufaktur sich nur in anderen, bis dahin unbedeutenden Orten entwickeln konnte; so hemmte die politische Ordnung des französischen Absolutismus, die unter Colbert die Industrie förderte, im späteren 18. Jahrhundert die Einführung der neuen Großindustrie, die England zum Fabrikland machte. Es besteht sogar ein dem entsprechendes Gesetz in der organischen Natur, das als Gegenstück zu Darwins „das Überleben der Passendsten“ mitunter als „survival of the unfitted“, das „Überleben der Nichtangepassten“ bezeichnet wird. Wenn ein Tiertypus – wie zum Beispiel die Saurier im sekundären Zeitalter – sich spezialisiert und differenziert hat zu einem Reichtum an Formen, die allen besonderen Lebensbedingungen jener Zeit völlig angepasst sind, so ist er unfähig zur Entwicklung zu einem neuen Typus geworden: Allerhand Anlagen und Entwicklungsmöglichkeiten sind verloren gegangen und kommen nicht zurück. Die Ausbildung eines neuen Typus geht von den primitiven Urformen aus, die, weil sie undifferenziert sind, alle Entwicklungsmöglichkeiten bewahrt haben, und der anpassungsunfähige alte Typus stirbt aus. Als besonderer Fall dieser organischen Regel ist die Erscheinung zu betrachten – die die bürgerliche Wissenschaft mit der Phantasie einer „Erschöpfung der Lebenskraft“ einer Nation oder Rasse abtut –, dass im Laufe der Geschichte der Menschheit die Führung in der wirtschaftlichen, politischen, kulturellen Entwicklung fortwährend von einem Volke oder Land auf ein anderes übergeht.

Wir sehen jetzt die Ursachen, wodurch die Vorherrschaft von Westeuropa und Amerika – die die Bourgeoisie so gerne einer geistigsittlichen Überlegenheit ihrer Rasse zuschreibt – verschwinden wird und wohin sie voraussichtlich gehen wird. Neue Länder, wo die Massen nicht durch den Qualm einer bürgerlichen Weltanschauung vergiftet sind, wo durch einen Anfang industrieller Entwicklung ihr Geist aus der alten unbeweglichen Ruhe emporgetrieben wurde und ein kommunistisches Gemeinschaftsempfinden erwachte, wo die Rohstoffe vorhanden sind, um die vom Kapitalismus ererbte höchste Technik zu einer Erneuerung der überlieferten Produktionsformen anzuwenden, wo der Druck von oben kräftig genug ist, zum Kampf und zur Ausbildung der Kampftugenden zu zwingen, wo aber keine übermächtige Bourgeoisie diese Erneuerung verhindern kann solche Länder werden die Zentren der neuen kommunistischen Welt sein. Russland, mit Sibirien selbst ein halber Weltteil, steht schon an erster Stelle. Diese Bedingungen sind aber auch mehr oder weniger vorhanden in anderen Ländern des Ostens, in Indien, in China. Wenn hier auch wieder andere Ursachen der Unreife vorhanden sind, so dürfen diese Länder Asiens doch bei einer Betrachtung der kommunistischen Weltrevolution nicht übersehen werden.

Man sieht diese Weltrevolution nicht in ihrer vollen universellen Bedeutung, wenn man sie nur vom westeuropäischen Gesichtspunkt betrachtet. Russland ist nicht nur der östliche Teil Europas, sondern – nicht nur geographisch, sondern auch ökonomisch-politisch – in viel höherem Maße der westliche Teil Asiens. Das alte Russland hatte mit Europa wenig gemeinsam: es war das am weitesten nach Westen liegende jener politisch-wirtschaftlichen Gebilde, die Marx als „Orientalische Despotien“ bezeichnete und zu denen alle großen alten und neuen Riesenreiche Asiens gehörten. In ihnen erhob sich auf der Grundlage des Dorfkommunismus eines überall nahezu gleichartigen Bauerntums eine unbeschränkte Fürsten- und Adelsmacht, die sich außerdem auf einen relativ geringen, aber wichtigen Handelsverkehr mit einfachem Handwerk stützte. In diese, sich durch Jahrtausende – trotz Herrscherwechsel an der Oberfläche – immer wieder in derselben Weise reproduzierende Produktionsweise ist das westeuropäische Kapital von allen Seiten auflösend, umwälzend, unterwerfend, ausbeutend, verelendend eingedrungen; durch Handel, durch direkte Unterwerfung und Ausplünderung, durch Ausbeutung der Naturschätze, durch das Bauen von Eisenbahnen und Fabriken, durch Staatsanleihen an die Fürsten, durch die Ausfuhr von Lebensmitteln und Rohstoffen – was alles unter dem Namen Kolonialpolitik zusammengefasst wird. Während Indien mit seinem ungeheuren Reichtum früh erobert, ausgeraubt und dann proletarisiert und industrialisiert wurde, gerieten die anderen Länder erst später durch die moderne Kolonialpolitik in die Fänge des entwickelten Finanzkapitals. Auch Russland wurde – obgleich es äußerlich seit 1700 als eine der europäischen Großmächte auftrat – zu einer Kolonie des europäischen Kapitals: Durch seine unmittelbare kriegerische Berührung mit Europa ging es früher und rascher den Weg, dem Persien und China später folgten. Vor dem letzten Weltkrieg waren 70% der Eisenindustrie, die Mehrzahl der Eisenbahnen, 90% der Platinproduktion, 75% der Naphthaindustrie in den Händen europäischer Kapitalisten, die außerdem mittels der enormen Staatsschulden des Zarismus die russischen Bauern bis über die Hungergrenze hinaus ausbeuteten. Während die Arbeiterklasse in Russland in gleichartigeren Verhältnissen arbeitete als in Westeuropa, wodurch eine Gemeinschaft revolutionärer, marxistischer Anschauungen entstand, so war dennoch in seiner ganzen ökonomischen Situation Russland das westliche der asiatischen Reiche.

Die russische Revolution ist der Anfang der großen Revolte Asiens gegen das in England konzentrierte westeuropäische Kapital. Man achtet hier in der Regel nur auf ihre Einwirkung auf Westeuropa, wo die russischen Revolutionäre durch ihre hohe theoretische Schulung die Lehrer des zum Kommunismus emporstrebenden Proletariats geworden sind. Aber noch wichtiger ist ihr Wirken nach Osten; und daher beherrschen die asiatischen Fragen die Politik der Sowjetrepublik fast noch mehr als die europäischen Fragen. Von Moskau, wo die Delegationen asiatischer Stämme nacheinander eintreffen, geht der Ruf nach Freiheit und der Selbstbestimmung aller Völker und des Kampfes gegen das europäische Kapital über ganz Asien.10 Von der Turanischen Sowjetrepublik gehen die Fäden nach Indien und den mohammedanischen Ländern, in Südchina suchten die Revolutionäre dem Beispiel der Sowjetverfassung nachzufolgen; die in Vorderasien aufkommende panislamitische Bewegung unter türkischer Führung sucht sich an Russland anzulehnen. Hier liegt der große Inhalt des Weltkampfes zwischen Russland und England als den Exponenten zweier Gesellschaftssysteme; und daher kann dieser Kampf trotz zeitweiliger Pausen nicht mit einem wirklichen Frieden enden, denn der Gärungsprozess in Asien geht weiter. Englische Politiker, die etwas weiter blicken als der kleinbürgerliche Demagoge Lloyd George, sehen sehr gut die Gefahr, die hier die englische Weltherrschaft und damit den ganzen Kapitalismus bedroht; sie sagen mit Recht, dass Russland viel gefährlicher ist, als Deutschland je war. Aber sie können nicht energisch auftreten, da die beginnende Revolutionierung des englischen Proletariats eben keine andere Regierung als die der kleinbürgerlichen Demagogie zulässt. Die Sache Asiens ist die eigentliche Sache der Menschheit. In Russland, China und Indien, in der sibirisch-russischen Ebene und den fruchtbaren Tälern des Ganges und Jangtsekiang wohnen 800 Millionen Menschen, mehr als die Hälfte der ganzen Bevölkerung der Erde, fast dreimal so viel wie im übrigen kapitalistischen Europa. Und überall traten, außerhalb Russlands, auch schon die Keime der Revolte hervor; einerseits kräftig auflodernde Streikbewegungen, wo industrielle Proletarier zusammengepfercht sind, wie in Bombay und Hankau, andererseits nationalistische Bewegungen unter der noch schwachen emporkommenden nationalen Intelligenz. Soviel hier aus den spärlichen Nachrichten der ziemlich schweigsamen englischen Presse zu entnehmen ist, hat der Weltkrieg die nationalen Bewegungen stark angefacht, sie dann aber gewaltsam unterdrückt, während die Industrie sich in so kräftigem Aufschwung befindet, dass das Gold massenhaft aus Amerika nach Ostasien abfließt. Wenn die Welle der Wirtschaftskrise diese Länder erreicht – Japan scheint von ihr schon erfasst zu sein – wäre daher auf neue Kämpfe zu rechnen. Die Frage kann aufgeworfen werden, ob rein nationalistische Bewegungen, die in Asien ein national-kapitalistisches Regiment erstreben, unterstützt werden sollen, da sie sich doch feindlich zu der eigenen proletarischen Freiheitsbewegung verhalten werden. Aber voraussichtlich wird die Entwicklung nicht diesen Weg nehmen. Zwar hat sich bisher die aufkommende Intelligenz nach dem europäischen Nationalismus orientiert und als Ideologen der entstehenden einheimischen Bourgeoisie eine national-bürgerliche Regierung nach westlichem Muster propagiert. Aber mit dem Zerfall Europas verblasst dieses Ideal, und sie wird zweifellos stark unter den geistigen Einfluss des russischen Bolschewismus kommen und darin das Mittel finden, sich mit der proletarischen Streik- und Aufstandsbewegung zu verschmelzen. So werden vielleicht rascher, als jetzt nach dem äußeren Schein zu erwarten wäre, die nationalen Freiheitsbewegungen Asiens auf dem festen materiellen Boden eines Klassenkampfes der Arbeiter und Bauern gegen die barbarische Unterdrückung durch das Weltkapital eine kommunistische Gedankenwelt und ein kommunistisches Programm annehmen.

Dass diese Völker überwiegend agrarisch sind, braucht ebensowenig wie in Russland ein Hindernis zu sein: Kommunistische Gemeinwesen bestehen nicht in einer dichtgedrängten Menge von Fabrikstädten – da hier die kapitalistische Trennung von Industrieländern und Agrarländern aufhört – sondern die Landwirtschaft wird in ihnen einen großen Raum einnehmen müssen. Allerdings wird der vorwiegend agrarische Charakter die Revolution erschweren, da die geistige Disposition dabei geringer ist. Zweifellos wird in diesen Ländern auch eine längere Periode geistiger und politischer Umwälzung nötig sein. Die Schwierigkeiten sind hier anders als in Europa: weniger aktiv als passiv; sie liegen weniger in der Kraft der Widerstände als in der Langsamkeit des Erwachens zur Aktivität, nicht in dem Überwinden des inneren Chaos, sondern in der Bildung einheitlicher Kraft zur Vertreibung des fremden Ausbeuters. Auf die speziellen Unterschiede dieser Schwierigkeiten – die religiöse und nationale Zersplitterung Indiens, den kleinbürgerlichen Charakter Chinas – gehen wir hier nicht ein. Wie sich auch weiter die politischen und wirtschaftlichen Formen entwickeln werden, das Hauptproblem, das zuerst gelöst werden muss, ist die Vernichtung der Herrschaft des europäisch-amerikanischen Kapitals.

Der schwere Kampf zur Vernichtung des Kapitalismus ist die gemeinsame Aufgabe, die die Arbeiter Westeuropas und der USA Hand in Hand mit den Millionenvölkern Asiens zu lösen haben. Wir stehen jetzt erst in seinen ersten Anfängen. Wenn die deutsche Revolution eine entscheidende Wendung nimmt und sich Russland anschließt, wenn in England und Amerika revolutionäre Massenkämpfe ausbrechen, wenn in Indien die Aufstände auflodern, wenn der Kommunismus seine Grenzen zum Rhein und zum Indischen Ozean vorschiebt, dann tritt die Weltrevolution in die nächste gewaltigste Phase. Mit ihren Vasallen des Völkerbundes und ihren japanischen und amerikanischen Bundesgenossen wird die weltbeherrschende englische Bourgeoisie, von innen und außen angegriffen, durch koloniale Aufstände und Befreiungskriege in ihrer Weltmacht bedroht, durch Streik und Bürgerkrieg im Innern gelähmt, alle Kräfte anstrengen müssen und Söldnerheere gegen beide Feinde auf die Beine bringen müssen. Wenn die englische Arbeiterklasse, im Rücken gestärkt durch das übrige europäische Proletariat, ihre Bourgeoisie angreift, kämpft sie in doppelter Weise für den Kommunismus, indem sie dafür in England die Bahn selbst freimacht, und indem sie hilft, Asien zu befreien. Und umgekehrt wird sie auf die Unterstützung der kommunistischen Hauptmacht rechnen können, wenn bewaffnete Mietlinge der Bourgeoisie ihren Kampf im Blut zu ertränken suchen – denn Westeuropa mit den vorgelagerten Inseln ist nur eine aus dem großen russisch-asiatischen Länderkomplex hinausragende Halbinsel. Der gemeinsame Kampf gegen das Kapital wird die proletarischen Massen der ganzen Welt zu einer Einheit machen. Und wenn endlich am Ende des schweren Ringens die europäischen Arbeiter, tief erschöpft, im klaren Morgenlicht der Freiheit stehen, grüssen sie im Osten die befreiten Völker Asiens und reichen sie sich die Hände in Moskau, der Hauptstadt der neuen Menschheit.

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Anhang

Die vorstehenden Ausführungen wurden im April geschrieben und auf den Weg nach Russland abgeschickt, damit sie womöglich als Material zu den taktischen Entscheidungen des Exekutiv-Komitees und des Kongresses dienen könnten. Inzwischen haben sich die Verhältnisse dahin weiter entwickelt, dass das Exekutiv-Komitee in Moskau und die führenden Genossen in Russland sich völlig auf die Seite des Opportunismus gestellt haben und damit dieser Richtung das Übergewicht auf dem zweiten Kongress der Kommunistischen Internationale verschafften.

Zuerst trat diese Politik in Deutschland auf, in dem Bestreben Radeks, den deutschen Kommunisten mit allen geistigen und materiellen Mitteln, worüber er mit der Leitung der KPD verfügte, seine Taktik des Parlamentarismus und der Unterstützung der Zentralverbände aufzuzwingen, wodurch die kommunistische Bewegung gespalten und geschwächt wurde. Seitdem Radek als Sekretär des Exekutiv-Komitees auftrat, ist diese Politik zur Politik des ganzen Exekutiv-Komitees geworden. Die bis dahin vergeblichen Versuche, die deutschen Unabhängigen zum Anschluss an Moskau zu bringen, wurden eindringlich fortgesetzt; die antiparlamentarischen Kommunisten der KAPD dagegen, die, wie wohl keiner bezweifeln wird, ihrer Natur nach zur KI gehören, wurden frostig behandelt: Sie hätten sich, hieß es, in allen wichtigen Fragen der Dritten Internationale gegenübergestellt, und nur unter besonderen Bedingungen könnten sie zugelassen werden. Das Amsterdamer Subbüro, das sie als gleichwertig aufgenommen und behandelt hatte, wurde kaltgestellt. Mit den Delegierten des Zentrums der französischen SP wurde über den Anschluss verhandelt. Den englischen Kommunisten erklärte Lenin, dass sie nicht nur an den Parlamentswahlen teilnehmen sollten, sondern sich auch der zur Zweiten Internationale gehörenden „Labour Party“ – dem politischen Verein zumeist reaktionärer Gewerkschaftsführer – anschließen sollten. In allen diesen Stellungnahmen tritt das Bestreben der führenden russischen Genossen hervor, eine Verbindung mit den großen, noch nicht kommunistischen Arbeiterorganisationen Westeuropas herzustellen. Während die radikalen Kommunisten die Aufklärung und Revolutionierung der Arbeitermassen durch den schärfsten prinzipiellen Kampf gegen alle bürgerlichen, sozialpatriotischen und schwankenden Richtungen und deren Vertreter betreiben, sucht die Leitung der Internationale sie massenhaft zum Anschluss an Moskau zu gewinnen, ohne dass ihre überlieferten Grundanschauungen sich völlig umzuwälzen brauchen. Der Gegensatz, in dem die russischen Bolschewiki, ehemals durch ihre Taten die Lehrer der radikalen Taktik, in solcher Weise zu den radikalen Kommunisten Westeuropas geraten sind, tritt klar hervor in der eben erschienenen Broschüre Lenins „Der Radikalismus als Kinderkrankheit des Kommunismus“. Ihre Bedeutung liegt nicht in ihrem Inhalt, sondern in der Person ihres Verfassers. Denn die Argumente bieten kaum etwas Neues; es sind zumeist dieselben, die auch schon von anderen benutzt wurden; aber das Besondere ist, dass sie jetzt von Lenin gebraucht werden. Es kann sich deshalb auch nicht darum handeln, sie zu bekämpfen – ihre Fehler beruhen zumeist auf der Gleichsetzung der westeuropäischen Verhältnisse, Parteien, Organisationen, Parlamentspraxis u. d. mit den russischen gleichen Namens – und andere Argumente ihnen gegenüberzustellen, sondern die Tatsache, dass sie hier auftreten, als Ausfluss einer bestimmten Politik zu verstehen.

Die Grundlage dieser Politik ist in den Bedürfnissen der Sowjetrepublik unschwer zu erkennen. Durch die reaktionären Aufstände Koltschaks und Denikins sind die Grundlagen der russischen Eisenindustrie zerstört, während die Anstrengungen für den Krieg die kräftige Entfaltung der Produktion lähmten. Für den wirtschaftlichen Aufbau braucht Russland dringend Maschinen, Lokomotiven, Werkzeuge, die nur die intakt gebliebene Industrie der kapitalistischen Länder liefern kann. Daher braucht es den friedlichen Handelsverkehr mit der übrigen Welt, namentlich den Ententeländern, die umgekehrt zur Verhinderung des kapitalistischen Zusammenbruches auf die Rohstoffe und Lebensmittel Russlands angewiesen sind. Die russische Sowjetrepublik muss also – durch die Langsamkeit der revolutionären Entwicklung in Westeuropa gezwungen – einen modus vivendi mit der kapitalistischen Welt suchen, einen Teil ihrer Naturschätze als Kaufpreis hergeben und auf die direkte Förderung der Revolution in anderen Ländern verzichten. Gegen ein solches Übereinkommen, von beiden Seiten als Notwendigkeit anerkannt, ist an sich nichts einzuwenden; aber es wäre nicht sonderbar, wenn aus der Empfindung der Notwendigkeit und der beginnenden Praxis eines Übereinkommens mit der bürgerlichen Welt eine geistige Disposition der Mäßigung in den Anschauungen entstände. Die Dritte Internationale, als Bund der kommunistischen Parteien, die in allen Ländern die proletarische Revolution vorbereitet, steht formell außerhalb der Regierungspolitik der russischen Republik und sollte völlig unabhängig davon ihre eigenen Aufgaben erfüllen. Aber in Wirklichkeit ist diese Trennung nicht vorhanden; so wie die KP das Rückgrat der Sowjetrepublik ist, ist durch die Personen ihrer Mitglieder das Exekutivkomitee mit dem Vorstand der Sowjetrepublik aufs engste verknüpft und bildet so ein Instrument, mittels dessen dieser Vorstand in die westeuropäische Politik eingreift. So wird es verständlich, dass die Taktik der Dritten Internationale – wenn sie von einem Kongress für alle kapitalistischen Länder einheitlich festgelegt und zentral geleitet wird – nicht bloß durch die Bedürfnisse der kommunistischen Propaganda in jenen Ländern, sondern auch durch die politischen Bedürfnisse Sowjetrusslands bestimmt wird. Nun brauchen zwar die feindlichen Weltmächte des Kapitals und der Arbeit, England und Russland, beide den friedlichen Güteraustausch zum Aufbau der Wirtschaft. Aber nicht nur diese direkt-wirtschaftlichen Bedürfnisse bestimmen ihre Politik, sondern auch der tiefere ökonomische Gegensatz von Bourgeoisie und Proletariat, die Frage der Zukunft, die darin hervortritt, dass mächtige kapitalistische Gruppen in ihrer richtigen prinzipiellen Feindschaft jedes Übereinkommen zu verhindern suchen. Die Sowjetregierung weiß, dass sie sich nicht auf die Einsicht Lloyd Georges und das Friedensbedürfnis Englands verlassen kann; diese wurden einerseits durch die unbesiegbare Kraft der Roten Armeen erzwungen, andererseits durch den Druck, den die englischen Arbeiter und Matrosen auf ihre Regierung ausübten. Sie weiß, dass die Drohung des Ententeproletariats eine ihrer wichtigsten Waffen ist, die imperialistischen Regierungen zu lähmen und zum Verhandeln zu nötigen. Daher muss sie diese Waffe möglichst kräftig machen. Was sie dazu braucht, ist nicht eine radikale kommunistische Partei, die eine gründliche Revolution für die Zukunft vorbereitet, sondern eine große organisierte proletarische Macht, die für Russland eintritt und der die eigene Regierung Rechnung tragen muss. Sie braucht sofort größere Massen, mögen sie auch nicht völlig kommunistisch sein. Gewinnt sie diese für sich, so ist deren Anschluss an Moskau ein Zeichen für das Weltkapital, dass Vernichtungskriege gegen Russland nicht mehr möglich, also Frieden und Handelsbeziehungen unvermeidlich sind.

Daher muss in Moskau eine kommunistische Taktik für Westeuropa verfochten werden, die den überlieferten Anschauungen und Methoden der großen ausschlaggebenden organisierten Arbeitermassen nicht scharf widerspricht. In derselben Weise musste versucht werden, möglichst rasch in Deutschland an die Stelle der Ebert-Regierung, die sich als Werkzeug der Entente gegen Russland gebrauchen ließ, eine nach Osten orientierte Regierung zu bekommen; und dazu waren, da die KP selbst zu schwach war, nur die Unabhängigen brauchbar. Eine Revolution in Deutschland würde die Position Sowjetrusslands der Entente gegenüber enorm stärken. Allerdings könnte eine solche Revolution in ihrer weitesten Entwicklung für die Politik des Friedens und des Einvernehmens mit der Entente sehr unbequem werden, da eine radikale proletarische Revolution die Zerreißung des Versailler Vertrages und die Erneuerung des Krieges bedeuten würde – die Hamburger Kommunisten wollten sich auf diesen Krieg schon im voraus aktiv vorbereiten. Dann würde auch Russland in den Krieg gezogen werden, und wenn auch seine äußere Kraft dabei wüchse, so wäre doch der wirtschaftliche Aufbau und die Hebung der Not auf eine weitere Zukunft verschoben. Diese Konsequenzen könnten verhindert werden, wenn die deutsche Revolution sich innerhalb solcher Grenzen halten Messe, dass sie zwar die Macht der verbündeten Arbeiterregierungen dem Ententekapital gegenüber stark vergrößerte, aber es doch nicht unabweisbar zum sofortigen Krieg nötigte. Nicht die radikale Taktik der KAPD, sondern eine Regierung von Unabhängigen, KPD und Gewerkschaften, in der Form einer Räteorganisation nach russischem Muster wäre dazu nötig. Diese Politik hat aber noch weitere Aussichten als bloß die Gewinnung einer günstigeren Position für die augenblicklichen Verhandlungen mit der Entente. Ihr Ziel ist die Weltrevolution; aber es ist klar, dass dem besonderen Charakter dieser Politik auch eine besondere Auffassung der Weltrevolution entsprechen muss. Die Revolution, die jetzt durch die Welt schreitet, die bald Zentraleuropa und dann Westeuropa überziehen wird, wird getrieben von dem wirtschaftlichen Zusammenbruch des Kapitalismus; wenn es dem Kapital nicht gelingt, einen Aufschwung der Produktion herbeizuführen, müssen die Massen zur Revolution greifen, wollen sie nicht tatenlos zugrunde gehen. Aber während sie die Revolution machen müssen, befinden sich die großen Massen noch in der geistigen Abhängigkeit von den alten Anschauungen, den alten Organisationen und Führern, und diese werden zunächst die Macht in die Hände nehmen. Daher muss unterschieden werden zwischen der äußeren Revolution, die die Herrschaft der Bourgeoisie vernichtet und den Kapitalismus unmöglich macht, und der sich in einem längeren Prozess vollziehenden, die Massen innerlich umwälzenden kommunistischen Revolution, in der die sich von allen Fesseln befreiende Arbeiterklasse den Aufbau des Kommunismus fest in die Hand nimmt. Es ist die Aufgabe des Kommunismus, die Kräfte und Tendenzen, die die Revolution auf halbem Wege festhalten wollen, zu erkennen, den Massen den Weg darüber hinaus zu zeigen und durch den schärfsten Kampf für die fernsten Ziele, für die volle Macht, gegen jene Tendenzen, die Kraft im Proletariat zu wecken, die Revolution weiterzutreiben. Das kann er nur, wenn er jetzt schon diesen Kampf gegen die hemmenden Führertendenzen und die Führermacht führt. Der Opportunismus will sich mit ihnen verbinden und teil an der neuen Herrschaft nehmen; indem er glaubt, sie in den Weg des Kommunismus lenken zu können, wird er durch sie kompromittiert. Indem die Dritte Internationale diese Taktik zu der offiziellen kommunistischen Taktik erklärt, prägt sie der Besitzergreifung der Macht durch die überkommenen Organisationen und ihre Führer den Stempel der „Kommunistischen Revolution“ auf, festigt sie die Herrschaft dieser Führer und erschwert die Weiterführung der Revolution.

Vom Standpunkt der Erhaltung Sowjetrusslands ist diese Auffassung vom Ziele der Weltrevolution gewiss unanfechtbar. Wenn in den anderen Ländern Europas ein ähnliches politisches System besteht als in Russland: Herrschaft einer Arbeiterbürokratie, die sich stützt auf ein Rätesystem als Grundlage, dann ist die Macht des Welt-Imperialismus besiegt und gestürzt, wenigstens in Europa. Dann kann in Russland, umgeben von befreundeten Arbeiterrepubliken, ohne Furcht vor reaktionären Angriffskriegen der wirtschaftliche Aufbau zum Kommunismus ungestört vor sich gehen. So wird verständlich, dass, was wir als zeitweilige, ungenügende, mit aller Macht zu bekämpfende Zwischenform betrachten, für Moskau die Verwirklichung der proletarischen Revolution, das Ziel der kommunistischen Politik ist.

Daraus ergeben sich auch die kritischen Bedenken, die vom Standpunkt des Kommunismus gegen diese Politik zu erheben sind. Sie liegen zuerst in ihrer geistigen Rückwirkung auf Russland selbst. Wenn die in Russland herrschende Schicht mit der westeuropäischen Arbeiterbürokratie – die durch ihre Stellung, ihren Gegensatz zu den Massen, ihre Anpassung an die bürgerliche Welt korrumpiert ist – fraternisiert und sich deren Geist aneignet, so kann die Kraft, die Russland auf dem Wege zum Kommunismus weiterführen muss, verloren gehen; stützt sie sich gegen die Arbeiter auf das landbesitzende Bauerntum, so wäre eine Ablenkung der Entwicklung zu bürgerlichagrarischen Formen und damit eine Stagnation der Weltrevolution nicht unmöglich. Sie liegen weiter darin, dass dasselbe politische System, das für Russland als praktische Übergangsform zur Verwirklichung des Kommunismus entstand – und nur durch besondere Verhältnisse zu einer Bürokratie erstarren konnte – in Westeuropa von vornherein eine reaktionäre Hemmung der Revolution bedeutet. Wir hoben schon hervor, dass eine solche „Arbeiterregierung“ die Kräfte zum kommunistischen Aufbau nicht wird auslösen können. Da aber nach dieser Revolution die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Massen (zusammen mit den Bauern) noch eine ungeheure Macht darstellen – anders als in Russland nach der Oktoberrevolution – wird das Versagen des Aufbaues nur zu leicht die Reaktion wieder in den Sattel bringen, während zugleich die proletarischen Massen sich zu neuen Anstrengungen zur Beseitigung dieses Systems erheben müssten.

Es ist aber auch noch fraglich, ob diese Politik einer verflachten Weltrevolution zu ihrem Ziel gelangen kann und nicht vielmehr umgekehrt, wie jede opportunistische Politik, die Bourgeoisie neu stärken würde. Denn es ist nie eine Förderung der Revolution, wenn die radikalste Opposition sich im voraus mit der gemäßigten zwecks Teilung der Herrschaft verbindet, statt sie durch unerbittlichen Kampf vorwärtszutreiben; dabei wird die Gesamtangriffskraft der Massen so sehr geschwächt, dass der Sturz des herrschenden Systems verzögert und erschwert wird.

Die wirklichen Kräfte der Revolution liegen anderswo als in der Taktik der Parteien und der Politik der Regierungen. Trotz aller Verhandlungen kann es keinen wirklichen Frieden zwischen der imperialistischen und der kommunistischen Welt geben: Während Krassin in London verhandelte, zerschmetterten die Roten Armeen die polnische Macht und erreichten die Grenzen Deutschlands und Ungarns. Damit wird der Krieg auf Zentraleuropa übertragen; und die hier bis zur Unerträglichkeit gesteigerten Gegensätze der Klassen, der völlige innere wirtschaftliche Zusammenbruch, die die Revolution unabwendbar machen, die Not der Massen, das Wüten der bewaffneten Reaktion, sie werden den Bürgerkrieg in diesen Ländern hoch auflodern lassen. Wenn aber die Massen hier in Bewegung kommen, wird sich ihre Revolution nicht in die Grenzen bannen lassen, die die opportunistische Politik kluger Führer ihr vorschreibt; sie muss radikaler, tiefer werden als in Russland, weil viel gewaltigere Widerstände zu überwinden sind. Gegen die wilden chaotischen Naturkräfte, die aus der Tiefe dreier zerrütteter Völker hervorbrechen und der Weltrevolution einen neuen Schwung geben werden, fällt den Kongressbeschlüssen in Moskau nur eine untergeordnete Bedeutung zu.


1Diese Publikation wird mit der Veröffentlichung anderer spezifischerer Texte über die deutsche kommunistische Linke und insbesondere über die KAPD und ihre Polemik mit der Dritten Internationale verbunden sein.

2Angesichts dieser Situation wird Pannekoek ein „Postskriptum“ anfügen, das bei späteren Veröffentlichungen dieses Textes hinzugefügt wird und in dem er den Opportunismus der Führung der Bolschewiki offen kritisiert (dieses Postskriptum wird zusammen mit dem zweiten Teil dieses Textes in einer der nächsten Ausgaben von Comunismo veröffentlicht).

3Einige Ausdrucksformen der kommunistischen Linken in Italien kamen zu den gleichen Schlussfolgerungen. So hatte die Fraktion der Abstentionisten des PSI einige Monate zuvor (10.11.1919) in einem Brief an den ZK der KI erklärt: „…Es wird nicht möglich sein, eine rein kommunistische Partei zu gründen, wenn sie nicht auf Wahlen und parlamentarische Arbeit verzichtet“. Trotzdem gaben Bordiga und die Gruppe seiner Anhänger später der KI-Führung nach und akzeptierten die Wahl- und Parlamentsarbeit, was, um das zu paraphrasieren, was sie ein wenig früher geschrieben hatten…. den „Verzicht auf die Gründung einer rein kommunistischen Partei“.

4In der von Bordiga und seinen Gefährten in Italien herausgegebenen Zeitung Il Soviet (die trotz des Zusammenschlusses, den Lenin in „Die Kinderkrankheit“ vornimmt, eine ganz andere Linie als die von Pannekoek vertritt) wird bei der Veröffentlichung dieses Artikels von Pannekoek Folgendes betont: „…. halten wir es für angebracht, daran zu erinnern, dass Pannekoek Ende 1912, also noch vor Lenin, klar formulierte, was später der entscheidende programmatische Punkt des internationalen Kommunismus wurde, nämlich die Zerstörung des parlamentarisch-demokratischen Staates als erste Aufgabe der proletarischen Revolution. Wir erinnern uns auch daran, dass ein kompetenter und unverdächtiger Zeuge, Karl Radek, Pannekoek als ‚den klarsten Geist des westlichen Kommunismus‘ bezeichnete“ (Il Soviet Nr. 22 von 1920).

5In Deutschland wurde neulich der Grund angegeben, die Kommunisten müssen ins Parlament gehen, um die Arbeiter von der Nutzlosigkeit des Parlaments zu überzeugen. Aber man geht doch nicht einen falschen Weg, um anderen zu zeigen, dass er falsch ist, sondern geht lieber sofort den richtigen Weg.

6Wir verweisen zum Beispiel auf die eingehende Kritik des Genossen Koloszvary in der Wiener Wochenzeitschrift Kommunismus.

7Das Fehlen äußerlich sichtbarer imponierender Gewaltmittel der Bourgeoisie in England weckt mitunter die pazifistische Illusion, eine gewaltsame Revolution sei hier nicht nötig und ein friedlicher Aufbau von unten (wie in der Guildbewegung und den Shop Committees) werde alles besorgen. Sicher ist, dass bisher die mächtigste Waffe der englischen Bourgeoisie nicht die Gewalt, sondern der schlaue Betrug war; wenn es aber nötig ist, wird diese weltbeherrschende Klasse noch ungeheure Gewaltmittel aufzubieten wissen.

8Diese Auffassung der allmählichen Umwälzung der Produktionsweise steht im scharfen Gegensatz zu der sozialdemokratischen Auffassung, die den Kapitalismus und die Ausbeutung allmählich, in langsamen Reformen beseitigen wollen. Die unmittelbare Aufhebung alles Kapitalsprofits und aller Ausbeutung durch das siegreiche Proletariat ist die Vorbedingung, damit die Produktionsweise den Weg zum Kommunismus einschlagen kann.

9Ein bekanntes Beispiel für eine solche konvergente Entwicklung findet man in der sozialen Struktur am Ende des Altertums und zu Beginn des Mittelalters, vgl. Engels, Der Ursprung der Familie, Kap. VIII.

10Hier liegt der Grund zu der Haltung, die Lenin in 1916, zur Zeit Zimmerwalds, gegenüber Radek, der den Standpunkt der westeuropäischen Kommunisten vertrat, zum Ausdruck brachte. Diese betonten, dass die Losung des Selbstbestimmungsrechtes aller Völker – die die Sozialpatrioten mit Wilson anstimmten – nur Volksbetrug sei, da unter dem Imperialismus dieses Recht immer nur Schein und Trug sein kann, und dass daher diese Losung von uns bekämpft werden müsse. Lenin sah in diesem Standpunkt die Tendenz westeuropäischer Sozialisten, die nationalen Befreiungskriege der asiatischen Völker abzulehnen, wodurch sie sich dem radikalen Kampf gegen die Kolonialpolitik ihrer Regierungen entziehen könnten.

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Zu einer Geschichte der Abneigung der Arbeiterinnen und Arbeiter gegen die Arbeit https://panopticon.blackblogs.org/2023/05/24/zu-einer-geschichte-der-abneigung-der-arbeiterinnen-und-arbeiter-gegen-die-arbeit/ Wed, 24 May 2023 11:47:32 +0000 http://panopticon.blackblogs.org/?p=4979 Continue reading ]]>

Gefunden bei Etcetera, die Übersetzung ist von uns.


Zu einer Geschichte der Abneigung der Arbeiterinnen und Arbeiter gegen die Arbeit:

Barcelona während der Spanischen Revolution, 1936-38, Michael Seidman


Die Untersuchung der Abneigung gegen die Arbeit – Absentismus (A.d.Ü., von der Arbeit fern bleiben), Verspätungen, Unpünktlichkeiten, Delikte, Sabotage, langsames Arbeitstempo, Disziplinlosigkeit und Gleichgültigkeit – kann dazu dienen, unser Verständnis zweier zeitgleicher politischer Ereignisse zu vertiefen: der Spanischen Revolution und der französischen Volksfront1. Eine Analyse der Abneigung gegen die Arbeit in den Fabriken von Paris und Barcelona während der Volksfrontregierung in Frankreich und während der Spanischen Revolution zeigt wesentliche Kontinuitäten im Leben der Arbeiterklasse. Absentismus, Disziplinlosigkeit und andere Formen der Arbeitsverweigerung gab es schon vor dem Sieg der Volksfront in Frankreich und dem Ausbruch von Krieg und Revolution in Spanien. Es ist jedoch bezeichnend, dass dieser Widerstand auch noch Jahre später anhielt, nachdem die Parteien und Gewerkschaften/Syndikate, die für sich in Anspruch nahmen, die Arbeiterklasse zu vertreten, in beiden Fällen die politische und – auf unterschiedlichen Ebenen – die ökonomische Macht übernommen hatten. Tatsächlich wurden die linken Parteien und Gewerkschaften/Syndikate in beiden Situationen, der reformistischen wie der revolutionären, in zahllose Konfrontationen mit Arbeitern gezwungen, die sich weigerten zu arbeiten.

Die Abneigung gegen die Arbeit im 20. Jahrhundert wurde von vielen marxistischen Arbeitshistorikern und Modernisierungstheoretikern, zwei wichtigen, wenn auch nicht dominierenden Schulen der Arbeitshistoriografie, ignoriert und/oder unterschätzt2. Trotz der Unterschiede, die in vielen Fällen bestehen, teilen die beiden Richtungen eine fortschrittliche Sicht der Geschichte. Viele Marxisten sehen die Arbeiterklasse als allmählich klassenbewusst, sie entwickelt sich von „an sich zu für sich“, formiert sich und strebt manchmal nach der Enteignung der Produktionsmittel. Modernisierungstheoretiker sehen, dass sich die Arbeiter an die Art, die Struktur und die allgemeinen Anforderungen der Industriegesellschaft anpassen. Weder Marxisten noch Modernisierungstheoretiker haben die anhaltende Kultur der Arbeiterklasse ausreichend berücksichtigt, die ihren unbändigen Wunsch, nicht zu arbeiten, offenbart. Aber diese fortschrittliche Sichtweise der Arbeiterklasse kann das Fortbestehen von Absentismus, Sabotage und Gleichgültigkeit nicht angemessen analysieren. In beiden Fällen kann diese Haltung auch nicht als „primitiv“ oder als Beispiel für „falsches Bewusstsein“ abgetan werden. Das Fortbestehen vieler Formen der Abneigung gegen die Arbeit kann eine verständliche Reaktion auf die langfristigen Härten im Alltag der Arbeiterinnen und Arbeiter und eine gesunde Skepsis gegenüber den von Rechten und Linken vorgeschlagenen Lösungen darstellen.

In diesem Aufsatz wird die revolutionäre Situation in Barcelona untersucht und versucht, die Divergenz im Klassenbewusstsein zwischen militanten linken Arbeitern, die die Entwicklung der Produktivkräfte während der Spanischen Revolution unterstützten, und der großen Zahl nicht-militanter Arbeiter, die sich weiterhin gegen die Arbeit wehrten, zu zeigen, oft genauso wie sie es zuvor getan hatten. So wurden während der Spanischen Revolution verschiedene Arten von Klassenbewusstsein gegeneinander ausgespielt. Es geht nicht darum zu bestimmen, welches die „wahre“ Form des Klassenbewusstseins war, sondern darum zu zeigen, wie die Abneigung gegen die Arbeit die revolutionären Bestrebungen der Militanten untergrub und ihre Rechte als Vertreter der Arbeiterklasse in Frage stellte.

* * * * *

Zweifelsohne hat die Abneigung gegen die Arbeit eine lange Geschichte, die weit vor dem Bürgerkrieg und der Revolution zurückreicht. Im 19. Jahrhundert hielten die katalanischen Arbeiter wie ihre französischen Kollegen die Tradition des dilluns sant (Heiliger Montag) aufrecht, eines inoffiziellen Feiertags, den viele Arbeiter ohne Genehmigung als Fortsetzung ihrer sonntäglichen Ruhezeit nahmen. Die Kämpfe um den Arbeitskalender dauerten bis ins 20. Jahrhundert an, sogar während der Zweiten Republik. Im Jahr 1932 zum Beispiel wollten die Arbeiter am zweiten Maitag nicht zur Arbeit gehen, da der erste Tag ein Sonntag gewesen war. Noch wichtiger war der ständige Kampf gegen die „Wiedererlangung“ von Feiertagen mitten in der Woche, wenn es sich um traditionelle Feiertage handelte. Trotz ihrer Abneigung gegen den Klerus und ihrer tiefen Entchristlichung hielten die katalanischen Arbeiterinnen und Arbeiter daran fest, diese Feste zu feiern. 1927 stellte der Arbeitgeberverband (Fomento del Trabajo Nacional) mit Sitz in Barcelona fest, dass Arbeitgeber, die versuchten, ihre Beschäftigten zu zwingen, andere Feiertage als die Sonntage nachzuholen, trotz des Gesetzes in ernsthafte Schwierigkeiten gerieten3. In der Praxis kam es im Frühjahr und Sommer 1927 zu mehrtägigen Streiks, um gegen die Feiertagsregelung zu protestieren. Im Jahr 1929 kämpften die Arbeiterinnen und Arbeiter erneut für die Beibehaltung ihrer traditionellen Feiertage. In der Provinz Barcelona war der Konflikt besonders heftig, da „der Druck der Arbeiterklasse die Wiedererlangung der gesetzlichen Feiertage unter der Woche behinderte“4. Die „sozialen Spannungen“ in Barcelona machten die Wiedererlangung dieser Feiertage unmöglich.

Die Arbeiterinnen und Arbeiter in Barcelona kämpften hart für eine kürzere Arbeitswoche und dies war der Hauptgrund für die zahlreichen Streiks während der Zweiten Republik. Ende 1932 und Anfang des darauffolgenden Jahres streikten die Arbeiterinnen und Arbeiter in der Holzindustrie für eine 44-Stunden-Woche. 1933 streikten die in der CNT organisierten Bauarbeiter fast drei Monate lang für eine 40-Stunden-Woche und erreichten Ende August eine 44-Stunden-Woche anstelle der zuvor geforderten 48 Stunden. Im Oktober 1933 setzten die Wasser-, Gas- und Elektrizitätsbranchen der CNT und der UGT die 44-Stunden-Woche durch, ohne dass Streiks nötig waren5. Als die 48-Stunden-Woche im November 1934 wieder eingeführt wurde, kam es zu Streiks, bei denen die Arbeiterinnen und Arbeiter die Fabriken nach 44 Stunden verließen.

Die Abneigung der Arbeiterinnen und Arbeiter gegen die Arbeit während der Zweiten Republik äußerte sich nicht nur kollektiv in Form von Arbeitsniederlegungen und Streiks, sondern auch in individuellen Aktionen wie Fernbleiben von der Arbeit, vorgetäuschten Krankheiten und Gleichgültigkeit. 1932 warfen Industrielle in der Textilindustrie ihren eigenen Vorarbeitern ungerechtfertigtes Fernbleiben vom Arbeitsplatz vor6. Der Stolz der mechanischen Bauindustrie Barcelonas, La Maquinista Terrestre y Marítima, behauptete, dass sich Arbeiterinnen und Arbeiter während eines Brückenbauprojekts in Sevilla ihre Wunden durch Selbstverstümmelung infizierten, um von ihrem Krankengeld zu profitieren. Daraufhin stieg die Versicherungsgesellschaft von La Maquinista aus. Die katalanischen Unternehmer lehnten eine allgemeine Unfall- und Entschädigungsversicherung generell ab, weil sie befürchteten, dass diese die Arbeiterinnen und Arbeiter dazu verleiten könnte, ihre Krankheit zu verlängern. Sie verließen sich auf die Erfahrungen der Versicherungsgesellschaften, die hinreichend bewiesen hatten, dass es vorgetäuschte Krankheiten gab, zu denen noch die Selbstbeschädigung hinzukam7. Die Äußerungen der katalanischen Industriellen während der rechtsgerichteten Bienio Negro (1934-35), dass die Arbeiterinnen und Arbeiter oft „den geringsten Arbeitswillen“ zeigten, könnte man als einen überraschenden Zufall bezeichnen. Während der gesamten 1930er Jahre kämpften die Bosse hart gegen die ständigen Forderungen der CNT und der UGT, die Akkordarbeit abzuschaffen.

Die anarchosyndikalistischen Militanten der CNT schafften die Akkordarbeit in ihren Kollektiven ab, als die Revolution ausbrach, als Reaktion auf den Putsch, aber fast sofort waren die anarchosyndikalistischen und marxistischen Militanten, die die Kontrolle über die Fabriken übernommen hatten, gezwungen, auf den Widerstand der Arbeiter zu reagieren.

Nach der Niederlage der Generäle am 18. Juli, in den Tagen vor der Revolution, forderte die CNT die Arbeiterinnen und Arbeiter wiederholt auf, an ihre Arbeitsplätze zurückzukehren. Am 26. Juli rief eine Notiz in der CNT-Zeitung Solidaridad Obrera die Busfahrer dazu auf, ihr Fernbleiben von der Arbeit zu rechtfertigen. Am 28. Juli forderte ein anderer Artikel alle Arbeiterinnen und Arbeiter der Hispano-Olivetti eindringlich auf, zur Arbeit zurückzukehren, und warnte, dass Sanktionen gegen diejenigen verhängt würden, die keinen guten Grund für ihr Fernbleiben von der Arbeit hätten. Obwohl Solidaridad Obrera am 30. Juli verkündete, dass die Arbeit in fast allen Branchen wieder aufgenommen worden war, rief die anarchosyndikalistische Zeitung am 4. August zur „Selbstdisziplin“ auf. Einen Tag später erinnert die Friseurgewerkschaft alle ihre Mitglieder daran, dass sie verpflichtet sind, 44 Stunden pro Woche zu arbeiten, und dass sie keine Verkürzung der Arbeitszeit zulassen wird. Von Beginn der Revolution an war die Abneigung gegen die Arbeit ein Problem für die Militanten der Gewerkschaften/Syndikate, die die Fabriken und Geschäfte in Barcelona verwalteten. Diese Abneigung gegen die Arbeit widersprach natürlich der anarchosyndikalistischen Theorie der Selbstverwaltung, die die Arbeiterinnen und Arbeiter dazu aufforderte, mit Beginn der Revolution die Kontrolle über ihren Arbeitsplatz zu übernehmen. Mit anderen Worten: Sowohl anarchosyndikalistische als auch marxistische Militante forderten die Arbeiterinnen und Arbeiter enthusiastisch auf, sich für ihre Rolle als Arbeiter einzusetzen. Sie wehrten sich auch gegen die Forderungen der gewerkschaftlichen/syndikalistischen Militante, die sich manchmal über die mangelnde Aufmerksamkeit für die Fabrikvollversammlungen und die fehlenden finanziellen Beiträge an die Gewerkschaften/Syndikate beschwerten. Tatsächlich argumentierten die Aktivisten, dass die einzige Möglichkeit, die Arbeiterinnen und Arbeiter an den Vollversammlungen teilnehmen zu lassen, darin bestand, sie während der Arbeitszeit und damit auf Kosten der Produktion einzuberufen. Das Kollektiv Construcciones Mecánicas änderte beispielsweise seine Pläne, Vollversammlungen sonntags abzuhalten, mit der Begründung, dass „niemand kommen würde“, und wählte stattdessen den Donnerstag8 aus. Im revolutionären Barcelona schienen die Arbeiterinnen und Arbeiter manchmal zu zögern, sich an ihrer eigenen Demokratie zu beteiligen.

Nach seinen eigenen Berechnungen (die mit Vorsicht zu genießen sind) vertrat die CNT im Mai 1936 nur 30 % der Industriearbeiterinnen und -arbeiter (gegenüber 60 % der Industriearbeiterinnen und -arbeiter im Jahr 1931). So traten die „Hunderttausende“ von Arbeiterinnen und Arbeitern, die angeblich wenig „Klassenbewusstsein“ hatten, auf der Suche nach sozialem Schutz und stabiler Arbeit in die Gewerkschaften/Syndikate ein9. H. Rudiger, ein Vertreter der I. Internationale (IAA)10 in Barcelona, schrieb im Juni 1937, dass die CNT vor der Revolution nur zwischen 150.000 und 175.000 Mitglieder in Katalonien hatte. In den Monaten nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs stieg die Zahl der CNT-Mitglieder auf fast eine Million an. Rüdiger kam zu dem Schluss, dass:

„Vier Fünftel von ihnen sind neue Mitglieder. Ein großer Teil von ihnen kann nicht als Revolutionäre angesehen werden. Du kannst jede Gewerkschaft/Syndikat als Beispiel dafür nehmen. Viele von ihnen könnten in der UGT sein.“11

Die militanten Syndikalisten versuchten, bestimmte Wünsche ihrer Mitglieder zu erfüllen. Wie bereits erwähnt, ging die Textil- und Bekleidungsgewerkschaft der CNT zu Beginn der Revolution auf eine Forderung ein, die schon Jahre zuvor erhoben worden war: die Abschaffung der Produktionsanreize, insbesondere der Akkordarbeit, die laut der Gewerkschaft/Syndikat „eine der Hauptursachen für die miserablen Arbeitsbedingungen“ der Arbeiterinnen und Arbeiter war. Ob es nun an der geringen Produktivität oder an der Gleichgültigkeit der Arbeiterinnen und Arbeiter lag, die Abschaffung der Akkordarbeit wurde jedoch bald von der Gewerkschaft/Syndikat selbst kritisiert:

„In den Industriezweigen unserer Gewerkschaft/Syndikat (CNT), in denen früher viel im Akkord gearbeitet wurde, ist die Produktivität mit der Einführung des festen Wochenlohns gesunken.

Angesichts dessen können wir unsere Ökonomie nicht auf eine solide Basis stellen und erwarten von allen Arbeiterinnen und Arbeitern (…), dass sie die Werkzeuge und neuen Materialien mit äußerster Sorgfalt einsetzen und ihre maximale produktive Leistung erbringen.“12

In den Gewerkschaften/Syndikate der Bekleidungsindustrie gab es während der gesamten Revolution immer wieder Probleme mit der Akkordarbeit. Das Schneiderkollektiv F. Vehils Vidals mit fast 450 Beschäftigten, das Hemden und Strickwaren herstellte und verkaufte, führte im Februar 1937 ein ausgeklügeltes Anreizsystem ein, um die Beschäftigten zu motivieren. 1938 wurde die Akkordarbeit in der neu gegründeten Gruppe der Schneiderwerkstätten wieder eingeführt und ein Schuhmacher, der Mitglied der Textilgewerkschaft,- syndikat CNT war, protestierte gegen die Wiedereinführung und drohte, die Arbeit niederzulegen. Im Mai 1938 wurden die Eisenbahnarbeiter und -arbeiterinnen in Barcelona über die fast vollständige Wiedereinführung der Akkordarbeit informiert.

„Die Anordnungen der Vorarbeiter müssen befolgt werden.

Die Arbeiter erhalten einen angemessenen Lohn pro gefertigtem Stück. Sie dürfen die Grundregel der Zusammenarbeit nicht vergessen und dürfen nicht versuchen, den Vorarbeiter zu betrügen.

Eine Liste der geleisteten Arbeit (…) muss monatlich vorgelegt werden, zusammen mit einem Bericht, der die erzielten Ergebnisse mit denen der Vormonate vergleicht und die Ausführung der Arbeit und ihre Abweichungen begründet.“13

Im August 1937 schlug der Technische Verwaltungsrat der Baugewerkschaft CNT eine Revision der anarchosyndikalistischen Lohntheorien vor. Der Vorstand stand vor folgendem Dilemma: Entweder die Arbeitsdisziplin wiederherstellen und den Einheitslohn abschaffen oder eine Katastrophe erleben. Der Vorstand erkannte die „bourgeoisen Einflüsse“ der Arbeiterinnen und Arbeiter an und sprach sich für die Wiedereinführung von Anreizen für Facharbeiter und Vorarbeiter aus. Kurzum, er empfahl, nur noch „rentable Arbeit“ zu verrichten: Die Arbeit sollte kontrolliert werden, die „Massen müssen moralisch umerzogen werden“ und ihre Arbeit sollte nach Wert und Qualität entlohnt werden.

Im Juli 1937 wurde in einer gemeinsamen Erklärung der CNT und der Gewerkschaft/Syndikates des Baugewerbes vereinbart, dass die Löhne proportional zur Produktion sein sollten. Die Techniker jeder Sektion würden eine „Mindestleistungsskala“ festlegen.

„Wenn ein Kamerad dieses Minimum nicht einhält, wird er sanktioniert und anschließend rausgeworfen, falls er rückfällig wird.“

Der CNT-UGT-Bericht empfahl die Veröffentlichung von Leistungstabellen sowie Propaganda, um die Moral zu steigern und die Produktivität zu erhöhen. Dies führte oft dazu, dass die Bauarbeiter zu wenig leisteten und nach Abschluss eines Projekts arbeitslos wurden.

Sowohl öffentlich als auch privat verteidigte die marxistische UGT die Position, die Löhne an die Produktion zu koppeln und Verstöße gegen die Regeln zu bestrafen. Am 1. Februar 1938 forderte die UGT ihre Mitglieder auf, keine Kriegsforderungen zu stellen, und mahnte sie zu härterer Arbeit. Außerdem berichtete die Gewerkschaft/Syndikat der Maurer der UGT am 20. November 1937, dass der Lohnkonflikt im Baugewerbe die Arbeit zum Stillstand gebracht hatte und sogar sabotiert worden war. Sie berichtete auch, dass einige Arbeiter sich weigerten zu arbeiten, weil ihr Lohn weniger als 100 Peseten pro Woche betrug. Die Gewerkschaft/Syndikat der Maurer bezeichnete diese Haltung der Arbeiter als „katastrophal und unzeitgemäß“14. Am 15. Dezember 1937 erklärte sie, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter mit den niedrigsten Löhnen sie mit den anderen gleichstellen wollten und dass die Festlegung von Mindestlöhnen zwischen ihnen und der CNT diskutiert wurde. Im Januar 1938 berichtete die Baugewerkschaft der UGT, dass der Präsident der CNT-Bauföderation die vorgeschlagene Lohnerhöhung von einer Verbesserung der Arbeitsdisziplin abhängig machen wollte.

Angesichts der zahlreichen Lohnforderungen wendeten die Gewerkschaften/Syndikate verschiedene Taktiken an, um die Produktivität zu steigern, und versuchten, die Löhne von der Produktion abhängig zu machen. Wenn die Löhne in gewerkschaftlich/syndikalistisch kontrollierten Kollektiven oder Betrieben erhöht wurden, wurde dies an eine entsprechende Produktionssteigerung geknüpft. Im Juli 1937 forderte die Gewerkschaft der Zinngießer der CNT, die Löhne an die Produktion zu koppeln. Die Gewerkschaft der CNT für Metallbau meldete am 11. Juni 1938, dass die Lohnerhöhungen proportional zum Anstieg der geleisteten Arbeitsstunden sein würden. Die kleine Bekleidungsfirma J. Lanau mit ihren 30 Arbeiterinnen und Arbeiter befand sich in einer ähnlichen Situation. Laut dem Buchhaltungsbericht vom November 1937 waren die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter im Falle von Unfall, Krankheit und Mutterschaft versichert. Die Arbeiterinnen und Arbeiter behaupteten, ein gutes Verhältnis zu ihrem Chef zu haben und verfügten über einen Kontrollkomitee, das aus zwei Vertretern der CNT und einem der UGT bestand. Die Produktion lag jedoch unter 20%, und um das Problem zu lösen, empfahl der Buchhalter dem Betrieb, „die Produktionsquoten“ in den beiden Werkstätten und in der Verkaufsabteilung zu klären.

Lohnkonflikte und Diskussionen über die Akkordarbeit waren nicht die einzigen Probleme, die die Unzufriedenheit der Arbeiterinnen und Arbeiter offenbarten, und auch die Gewerkschaften/Syndikate sahen sich – genau wie die Bosse vor der Revolution – mit ernsten Problemen in Bezug auf das Arbeitsprogramm konfrontiert. Während der Revolution respektierte die katalanische Arbeiterklasse, der die Religion so gleichgültig war, weiterhin die traditionellen Feiertage in der Mitte der Woche. Die anarchosyndikalistische und kommunistische Presse kritisierte oft die starke Verteidigung dieser Traditionen, die – wie wir gesehen haben – in der Kultur der Arbeiterklasse verankert zu sein schienen. Solidaridad Obrera im Januar 1938 und Síntesis (die gemeinsame Publikation des Cros-Kollektivs CNT-UGT) vom Dezember 1936 verkündeten, dass religiöse und traditionelle Feiertage nicht als Vorwand für Arbeitsausfälle genutzt werden dürfen. Die Feier religiöser Feiertage an Arbeitstagen (Beobachter sahen nie einen nennenswerten Einfluss der Sonntagsmesse unter den Arbeiterinnen und Arbeiter in Barcelona) sowie Absentismus und Unpünktlichkeit deuteten jedoch auf einen ständigen Wunsch hin, der Fabrik zu entfliehen, auch wenn sie rationalisiert oder demokratisiert wurde.

Kämpfe um die Arbeitszeiten und Feiertage waren häufig. Im November 1937 weigerten sich mehrere Eisenbahner, am Samstagnachmittag zu arbeiten und wurden von der UGT sanktioniert. Der Zentrale Kontrollkomitee der Gas- und Elektrizitätsarbeiter wollte eine Liste der Arbeiterinnen und Arbeiter, die am Neujahrstag 1937 ihre Arbeit niedergelegt hatten, um gegen sie vorgehen zu können15. Am 4. Oktober 1937 gaben CNT-Vertreter auf einer offiziellen Sitzung des Rates für Gas und Elektrizität zu, dass einige ihrer Mitglieder den Arbeitsplan nicht einhielten. Als einer der UGT-Delegierten fragte, ob die Konföderation (A.d.Ü., gemeint ist die CNT) den Arbeitskalender erfüllen könne, antwortete der CNT-Vertreter:

„Ich fürchte nicht. Sie (die undisziplinierten Arbeiter) werden die gleiche Haltung wie immer beibehalten und keine Kompromisse eingehen wollen (…) Es ist sinnlos, irgendetwas zu versuchen, denn sie ignorieren die Vereinbarungen und Anweisungen der Komitees, der Sektionskommissionen usw. Sie schenken keine Beachtung, ob die Anweisungen von der einen (anarchosyndikalistischen) oder der anderen (marxistischen) Gewerkschaft/Syndikat kommen“.

In vielen Industriezweigen waren die Gefährtinnen und Gefährten oft „krank“. Im Februar 1937 erklärte die Gewerkschaft/Syndikat der Metallarbeiter freimütig, dass einige Arbeiterinnen und Arbeiter von Arbeitsunfällen profitierten. Im Dezember 1936 beschwerte sich ein führender Militanter der der Gewerkschaft für Blech (A.d.Ü., hojalata) über „die Unregelmäßigkeiten, die in fast allen Werkstätten in Bezug auf Krankheitsurlaub und Arbeitszeiten begangen werden“. Im Januar 1937 berichtete ein anderer Blechschmied von „Zügellosigkeit“ in mehreren Werkstätten:

„Es gibt viele Arbeiter, die einen Tag oder einen halben Tag ausfallen lassen, nur weil es ihnen gefällt und nicht weil sie krank sind.“16

Die technische Kommission der Maurer der CNT machte auf den Fall eines Arbeiters aufmerksam, der mit einem „Epileptiker“-Zertifikat bei einem Besuch von Mitgliedern dieser Kommission erwischt wurde, während er seinen Garten reparierte17.

Diebstähle wurden in Werkstätten und Kollektiven verzeichnet. Die Gewerkschat/Syndikate für nicht eisenhaltiges Metal der CNT behauptete, dass ein Gefährte, der in einer von der CNT kontrollierten Fabrik arbeitete, Werkzeuge mitnahm, als er zur Armee ging. Im Dezember 1936 meldete die mechanische Abteilung der berühmten Durruti-Kolonne der Gewerkschaft/Syndikat der Metallarbeiter von Barcelona, dass ein Gefährte „vielleicht versehentlich“ Arbeitswerkzeuge mitgenommen hatte, und forderte die Gewerkschaft/Syndikat auf, ihn dazu zu bringen, die gestohlenen Geräte so schnell wie möglich zurückzugeben. Die Gewerkschaft/Syndikat der Schuhmacher der CNT registrierte weitere Diebstähle. Einige militante Gewerkschaftler/Syndikalisten und Vorarbeiter der Kollektive wurden häufig der Unterschlagung und Veruntreuung von Geldern beschuldigt18.

Angesichts von Sabotage, Diebstahl, Fehlzeiten, Unpünktlichkeit, angeblichen Krankheiten und anderen Formen des Widerstands der Arbeiterinnen und Arbeiter gegen die Arbeit und den Arbeitsplatz arbeiteten die Gewerkschaften/Syndikate und Kollektive zusammen, um strenge Regeln und Vorschriften aufzustellen, die der kapitalistischen Kontrolle der Unternehmen gleichkamen und sie sogar übertrafen. Am 18. Juni 1938 verzeichneten die CNT- und UGT-Vertreter des Kollektivs Gonzalo Coprons y Prat, das Militäruniformen herstellte, einen gravierenden Produktionsrückgang, für den sie keine „zufriedenstellende Erklärung“ hatten. Die Gewerkschaftsvertreter forderten die Einhaltung der Produktionsquoten, des Arbeitsplans, eine strenge Kontrolle der Abwesenheiten und „die Festigkeit der moralischen Autorität der Techniker“19. Das Schneiderkollektiv F. Vehils Vidal, das ein ausgeklügeltes Anreizsystem für seine 450 Beschäftigten eingerichtet hatte, verabschiedete auf der Generalvollversammlung am 5. März 193820 bald ein strenges Maßnahmenpaket. Ein Arbeiter war für die Überwachung der Fehlzeiten zuständig, und mehrfaches Zuspätkommen bedeutete die Entlassung. Die Gefährtinnen und Gefährten, die krank waren, wurden von einem Vertreter des Kollektivrats besucht. Wenn sie nicht zu Hause waren, wurden sie entlassen. Es war verboten, das Kollektiv während der Arbeitszeit zu verlassen, und alle Arbeiten, die im Kollektiv erledigt wurden, waren für das Kollektiv erforderlich, sodass persönliche Projekte verboten waren. Gefährtinnen und Gefährten, die die Läden mit Paketen verließen, waren verpflichtet, diese den Wachleuten zu zeigen, die sie kontrollierten. Wenn ein Arbeiter Diebstahl, Betrug oder etwas anderes Unehrliches beobachtete, musste er es melden, wenn er nicht im Falle einer Unterlassung dafür verantwortlich gemacht werden wollte. Die Techniker mussten wöchentlich einen Bericht über Mängel und Verstöße in ihren Abteilungen erstellen. Es war nicht erlaubt, die „Ordnung innerhalb oder außerhalb des Unternehmens“ zu stören, und alle Beschäftigten, die nicht an den Vollversammlungen teilnahmen, wurden entlassen.

Andere Kollektive in der Bekleidungsindustrie führten ähnliche Maßnahmenpakete ein. Im Februar 1938 legte der CNT-UGT-Rat von Pantaleoni Hermanos ein intensives Arbeitsprogramm und Sanktionen für diejenigen fest, die zu spät zur Arbeit kamen. Ein Gefährte sollte für das Ein- und Auschecken zuständig sein. Zugewiesene Aufgaben und Regeln mussten ohne „Kommentare“ und innerhalb der vorgegebenen Zeit akzeptiert werden. Alle Bewegungen, auch innerhalb der Fabrik, mussten vom Sektionsleiter genehmigt werden, und bei Verstößen konnten Sanktionen verhängt werden, indem die Arbeiterinnen und Arbeiter suspendiert und 3 bis 8 Tageslöhne abgezogen wurden. Werkzeuge durften nicht ohne die Genehmigung des Kollektivs mitgenommen werden, und für alle Arbeiterinnen und Arbeiter wurde eine Probezeit von einem Monat festgelegt.

Der Kontrollkomitee der CNT-UGT in der Firma in Rabat warnte, dass jeder Gefährte und jede Gefährtin, der der Arbeit fernblieb und nicht krank war, seinen Lohn verlieren würde. Die Arbeiterinnen und Arbeiter dieser Firma, die meisten von ihnen Frauen, wurden gewarnt, dass Ungehorsam zum Verlust ihres Arbeitsplatzes führen könnte, und das in einer Branche, in der die Arbeitslosenquote bekanntlich hoch ist. Die Firma warnte alle Arbeiterinnen und Arbeiter, dass sie unter Androhung der Entlassung an Vollversammlungen teilnehmen müssten und dass sich Gespräche während des Arbeitstages nur auf die Arbeit beziehen dürften. Andere Kollektive wie Artgust, die ihre Beschäftigten erfolglos aufgefordert hatten, die Produktion zu erhöhen, verschärften ebenfalls ihre Regeln und verboten Gespräche, Zuspätkommen und sogar das Telefonieren. Im August 1938 verbot die Vollversammlung der Casa A. Lanau in Anwesenheit von Vertretern der CNT, der UGT und der Generalitat ausdrücklich das Fernbleiben von der Arbeit, das Vortäuschen von Krankheiten und das Singen während der Arbeitszeit. Die Lagerhäuser von Santeulália kontrollierten alle Pakete, die in ihrem Werk ein- und ausgingen. Die Gewerkschaften/Syndikate UGT und CNT in Badalona – einer Stadt im Industriegürtel Barcelonas – initiierten eine Krankenstandskontrolle und vereinbarten, dass alle Arbeiterinnen und Arbeiter Abwesenheiten begründen mussten, die angesichts der auf 48 Stunden verkürzten Arbeitswoche „unverständlich“ und missbräuchlich waren21.

Die Strenge dieser Regeln und Vorschriften war möglicherweise eine der Folgen des Rückgangs der Produktion und der Disziplin in vielen Textil- und Bekleidungsbetrieben. Am 15. Juni 1937 erstellte der CNT-UGT-Buchhalter von Casa Mallafré einen Bericht über die Schneidereien. Er kam zu dem Schluss, dass die Leitung des Kollektivs ehrlich war und ethisch gehandelt hatte, dass aber die Produktion „der heikelste Teil des Problems“ war und dass „in der Produktion das Geheimnis des kommerziellen und industriellen Scheiterns oder Erfolgs liegt“. Die Produktion in den Werkstätten blieb also auf einem extrem niedrigen Niveau, und der Buchhalter warnte, dass sie – selbst wenn sie kollektiviert oder sozialisiert würde – scheitern könnte. Die normale Produktion reichte immer noch nicht aus, um die Wochenlöhne zu decken, und müsste erhöht werden, wenn das Unternehmen überleben sollte. Ein anderes Kollektiv der CNT-UGT-Bekleidungsindustrie, Artgust, schrieb am 9. Februar 1938: „Trotz unserer ständigen Forderungen an das Fabrikpersonal ist es uns noch nicht gelungen, die Produktion zu verbessern“22. Artgust forderte die CNT und die UGT auf, vor dem Missverhältnis zwischen hohen Kosten und niedriger Produktivität zu warnen.

In vielen Kollektiven wurden Arbeiterinnen und Arbeiter entlassen oder suspendiert. Ein Gefährte in einer CNT-Schuhwerkstatt wurde wegen der niedrigen Produktion aufgefordert, seinen Arbeitsplatz zu verlassen. Ein unzufriedener Schneider, der darum gebeten hatte, an einen anderen Arbeitsplatz versetzt zu werden, griff einen Kollegen körperlich an, beleidigte den Betriebsrat und bedrohte den Geschäftsführer und einen Techniker. Er wurde im Juni 1938 von seinem Job suspendiert23. Eine Militante der Gruppe Mujeres Libres der CNT wurde der Unmoral, des ungerechtfertigten Fernbleibens und sogar der Kuppelei unter ihren Gefährtinnen beschuldigt, die Disziplinarmaßnahmen gegen sie forderten. Dieser Vorwurf der „Unmoral“ war während der Spanischen Revolution häufig zu hören und zeigt, dass für Syndikalistinnen und Syndikalisten Misserfolge oder Fehler bei der Arbeit „unmoralisch“ oder einfach pervers waren. Auch Aktivitäten, die nicht direkt mit der Produktion zusammenhingen, wurden als schädlich angesehen. Die Militanten der CNT wollten der „Unmoral“ ein Ende setzen, indem sie die Schließung von Vergnügungsstätten wie Bars oder Musik- und Tanzlokalen um zehn Uhr nachts erzwangen24. Prostituierte sollten durch Arbeitstherapie reformiert werden, um die Prostitution wie in der Sowjetunion zu beseitigen. Sex und Schwangerschaften sollten bis nach der Revolution in den Hintergrund verdrängt werden25.

Die Gewerkschaften der Metallarbeiter CNT-UGT versuchten, die Disziplinlosigkeiten, die in mehreren Kollektiven aufgetreten waren, zu kontrollieren. Im Jahr 1938 wurde erneut ein Arbeiter aus einem Kollektiv wegen „Unmoral“ entlassen, d.h. weil er unentschuldigt der Arbeit ferngeblieben war. Ein anderes Kollektiv wollte eine „gewissenlose“ Frau entlassen, die wiederholt falsche Entschuldigungen für ihr Fernbleiben von der Arbeit angegeben hatte26. Im August 1936 warnte die Gewerkschaft der Metallarbeiter der CNT Gefährten, die die ihnen zugewiesenen Aufgaben nicht erfüllten, dass sie „ohne jede Rücksicht“ ersetzt würden. Wie in der Textilbranche gaben mehrere Kollektive in der Metallbranche Kontrollblätter für den Krankenstand heraus:

„Der Rat ist verpflichtet, den Krankenstand durch einen Gefährten zu kontrollieren, den jeder in seine Wohnung einlassen muss (…) Die Kontrolle kann mehrmals am Tag erfolgen, so oft der Rat es für notwendig hält.“27

Das Kollektiv der Aufzugs- und Industrieanlageninstallateure erklärte, dass jeder Versuch, den Krankenstand zu betrügen, mit einem Rauswurf bestraft würde. Am 1. September 1938 wies die Vollversammlung des Unternehmens Masriera i Carreras, das eine UGT-Mehrheit hatte, darauf hin, dass „einige Gefährten die Angewohnheit haben, jeden Tag 15 Minuten zu spät zur Arbeit zu kommen“, und beschloss einstimmig, für jede fünf Minuten Verspätung eine halbe Stunde Lohn pro Tag abzuziehen. Im Januar 1937 legte die Gewerkschaft/Syndikat der Lampenarbeiter fest, dass ein Arbeiter, der eine halbe Stunde zu spät kommt, die Hälfte seines Lohns verliert. Im Juli 1937 legte das Kollektiv Construcciones Mecánicas eine Strafe von 15 Minuten Lohnabzug für das Händewaschen oder Anziehen vor Ende des Arbeitstages fest. Im öffentlichen Dienst waren die Probleme ähnlich gelagert. Am 3. September 1937 stellte der Generalrat der Gas- und Elektrizitätsindustrie einen Produktionsrückgang fest und erklärte, dass das Gemeinwohl gegen eine Minderheit verteidigt werden müsse, der es an „Moral“ fehle. Bei häufigem Fernbleiben oder Unpünktlichkeit konnten Arbeiterinnen und Arbeiter suspendiert oder entlassen werden. Arbeitervollversammlungen waren während der Arbeitszeit ausdrücklich verboten, und der Rat erklärte, dass er bei Bedarf disziplinarische Maßnahmen ergreifen würde.

Im Januar 1938 legte der Ökonomische Rat der CNT „die Pflichten und Rechte des Produzenten“ fest:

„Bei allen Tätigkeiten ist die Person, die die Arbeit verteilt, offiziell verantwortlich (…) für die Quantität, die Qualität und das Verhalten der Arbeiter.“

Diese verantwortliche Person war befugt, einen Arbeiter wegen „Faulheit oder Unmoral“ zu entlassen, und andere Vorarbeiter sollten die kleinsten Vorfälle „verdächtigen Ursprungs“ daraufhin überprüfen, ob sie echt oder „vorgetäuscht“ waren:

„Alle Arbeiter und Angestellten müssen eine Karte haben, in der die Einzelheiten ihres beruflichen und sozialen Charakters eingetragen werden.“28

Die Gewerkschaften/Syndikate ergänzten ihre Zwangsvorschriften und -regelungen mit umfangreichen Propagandakampagnen, um ihre Mitglieder zu überzeugen und zu zwingen, härter zu arbeiten. Diese Propaganda machte deutlich, dass niedrige Produktivität und Disziplinlosigkeit weit verbreitet waren. Das Kollektiv Vehils Vidal rief eindringlich zu „Liebe zur Arbeit, Aufopferung und Disziplin“ auf. Das CNT-UGT-Kollektiv Pantaleoni Hermanos rief seine Beschäftigten auf, „sich der Arbeit zu widmen“. Die Schuhmacher forderten „Moral, Disziplin und Aufopferung“29. Im April 1937 veröffentlichte die Zeitschrift des großen Textilunternehmens Fabra i Coats eine ganze Seite, in der sie ihre Arbeiterinnen und Arbeiter aufforderte, „zu arbeiten, zu arbeiten und zu arbeiten“30. Die CNT warnte ihre Mitglieder oft davor, Freiheit mit Zügellosigkeit zu verwechseln und wies darauf hin, dass diejenigen, die nicht hart arbeiteten, Faschisten seien31. Die Konföderation erkannte, dass Arbeiterinnen und Arbeiter oft eine bourgeoise Mentalität hatten, weil sie nicht so hart arbeiteten, wie sie sollten. Nach Ansicht der CNT mussten sich die Arbeiterinnen und Arbeiter zwischen sofortigen Vorteilen und echten Verbesserungen in der Zukunft entscheiden. Die Zeit der Selbstdisziplinierung war gekommen.

Im Februar 1937 erklärte das Kollektiv Marathon CNT-UGT, ein Hersteller von Automotoren, in seiner Zeitung Horizontes:

„Es gibt viele Arbeiterinnen und Arbeiter, die in der Kollektivierung nichts anderes sehen als einen einfachen Wechsel der Begünstigten und die vereinfachend glauben, dass sich ihr Beitrag zur Fabrik (…) darauf beschränkt, ihre Dienste in der gleichen Weise zu erbringen wie zu Zeiten, als die Fabrik privat war. Sie sind nur an den Löhnen am Ende des Monats interessiert“.

Im Mai 1937 versuchten die Militanten von Marathon, ihre Mitglieder davon zu überzeugen, dass sie das Beste aus den Maschinen machen sollten, die sie einst verabscheuten.

Im Januar 1938 veröffentlichte die CNT-Zeitung Solidaridad Obrera einen Artikel mit dem Titel: „Strenge Disziplin wird am Arbeitsplatz durchgesetzt“, der von den Zeitungen der CNT und UGT mehrfach nachgedruckt wurde:

„Leider gibt es einige, die die Bedeutung des heroischen Kampfes, den das spanische Proletariat führt, verwechselt haben.

Sie sind weder Bourgeois, noch Militärs, noch Priester, sondern Arbeiter, echte Arbeiter, Proletarier, die es gewohnt sind, brutale kapitalistische Repression zu ertragen.…

Ihr undiszipliniertes Verhalten am Arbeitsplatz hat das normale Funktionieren der Produktion gestört (…) Früher, als die Bourgeoisie zahlte, war es logisch, ihren Interessen zu schaden, die Produktion zu sabotieren und so wenig wie möglich zu arbeiten (…) Aber heute ist es ganz anders (…) Die Arbeiterklasse beginnt mit dem Aufbau einer Industrie, die als Grundlage für die neue Gesellschaft dienen kann.“

In einem vertraulichen Gespräch mit CNT Mitgliedern des Optikerkollektivs stimmte Ruiz y Ponseti, einer der wichtigsten UGT-Anführer und ein prominenter Kommunist, zu, dass das Verhalten der Arbeiterinnen und Arbeiter der schädlichste Faktor für die Kollektive sei. Laut diesem UGT-Anführer waren die Arbeiterinnen und Arbeiter, auch wenn er es nicht öffentlich erklärte, einfach nur „Massen“, deren Kooperation leider für den Erfolg der Unternehmen notwendig war32.

Im revolutionären Barcelona waren die Anführer und Militanten der Organisationen, die behaupteten, die Arbeiterklasse zu vertreten, also gezwungen, den hartnäckigen Widerstand der Arbeiter zu bekämpfen. Der anhaltende Kampf der Arbeiter gegen die Arbeit in einer Situation, in der Arbeiterorganisationen die Produktivkräfte lenkten, wirft die Frage auf, inwieweit diese Organisationen wirklich die Interessen der Arbeiterklasse vertraten. Es scheint, dass die CNT, die UGT und die PSUC (Katalanische Kommunistische Partei) den Standpunkt derjenigen widerspiegelten, die diese Organisationen als „bewusste“ Arbeiter betrachteten. Diejenigen, denen das „Klassenbewusstsein“ fehlte und die in der Überzahl waren, hatten keine formelle oder organisierte Vertretung. Diese Arbeiterinnen und Arbeiter schwiegen aus naheliegenden Gründen weitgehend über ihre Arbeitsverweigerung. Schließlich war ihre Arbeitsverweigerung subversiv in einer Revolution und einem Bürgerkrieg, in dem eine neue herrschende Klasse eifrig an der ökonomischen Entwicklung arbeitete. Das Schweigen der Arbeiterinnen und Arbeiter war eine Form der Verteidigung und eine bestimmte Art des Widerstands, aber das verhindert seine Quantifizierung. Ein großer Teil dieses Widerstands wurde nicht gezählt oder aufgezeichnet.

Die Geschichte ihrer Arbeitsverweigerung lässt sich zum Teil aus den Protokollen der Vollversammlungen der Kollektive rekonstruieren und paradoxerweise auch aus der Kritik der Organisationen, die behaupteten, die Klasse zu vertreten. Die Kämpfe gegen die Arbeit offenbaren eine Distanz und Trennung zwischen den Militanten, die sich für die Entwicklung der Produktionsmittel einsetzten, und der großen Mehrheit der Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich nicht für das Ideal der Militanten aufopfern wollten. Während die Militanten das Klassenbewusstsein mit der Kontrolle und Entwicklung der Produktivkräfte, der Schaffung einer produktivistischen Revolution und der übermenschlichen Anstrengung, den Krieg zu gewinnen, gleichsetzten, bestand der Ausdruck des Klassenbewusstseins vieler Arbeiterinnen und Arbeiter darin, die Arbeit und ihre Zeitpläne zu meiden, wie es vor der Revolution oft der Fall gewesen war.


1In diesem Artikel wurde die Untersuchung der französischen Volksfront beiseite gelassen, da sie als weiter von unserer Geschichte entfernt gilt. In jedem Fall ist die Schlussfolgerung dem Fall von Barcelona während der spanischen Revolution sehr ähnlich.

2Zur marxistischen Geschichtsschreibung vgl. Georg Lukacs, History and Class Consciousness (Cambridge, Mass. 1971), 46-82; Georg Rudé, Ideology and Popular Protest (New York, 1980), 7-26; vgl. auch die jüngste Neuformulierung von Lukacs‘ Position in Eric Hobsbawn, Workers: Worlds of Labor (New York, 1984), 15-32. Die Ansichten der Modernisierungstheoretiker finden sich in Peter N. Stearns, Revolutionary Syndicalism and French Labor: A Cause without Rebels (New Brunswick, NJ 1971) und idem, Lives of Labour: Wolk in a Maturing Industrial Society (New York, 1975). Für eine Kritik an Lukacs‘ Ansatz siehe Richard J. Evans (Hrsg.), The German Working Class (London 1982), 26-27.

3Fomento del Trabajo Nacional, actas, 15 abril 1932; Fomento, actas, 14 febrero 1927

4Federación de Fabricantes de Hilados y Tejidos de Cataluña, Memoria (Barcelona 1930)

5Albert Balcells, Crisis económica y agitación social en Cataluña de 1930 a 1936 (Barcelona 1971), 218

6Federación de Fabricantes, Memoria (Barcelona 1932)

7Alberto del Castillo, La Maquinista Terrestre y Marítima: Personaje histórico, 1855-1955 (Barcelona 1955), 464-65. Fomento, Memoria, 1932, 143

8Actas de Juntas de los militantes de las Industrias Construcciones Mecánicas, 25 febrero 1938, carpeta (a partir de ahora c.) 921, Servicios Documentales, Salamanca (a partir de aquí SD).

9Balcells, Crisis, 196; Albert Pérez Baró, 30 meses de colectivismo en Cataluña (Barcelona 1974), 47

10Hier verwechselt der Autor die I. Internationale die 1864 gegründet wurde mit der anarchosyndikalistischen Internationale die 1922 in Berlin gegründet wurde, beide tragen auf Spanisch dasselbe Akronym, nämlich AIT.

11H. Rudiger, „Materiales para la discusión sobre la situación española“. Rudolf Rocker Archives, nº 527-30, Instituto Internacional de Historia Social, Amsterdam. El muestreo por mi realizado sobre 70 trabajadores dio resultados algo diferentes. El 54% de los obreros escogidos se afilió a la CNT después de junio de 1936. De cualquier modo, casi todos los demás, el 42%, se afilió a la Confederación después de marzo de 1936. Solo el 4% estaba ya afiliado antes de 1936. Este fenómeno ha sido analizado por Balcells como la «recuperación sindical bajo el Frente Popular».

12Boletín de Información, 9 abril 1937

13Red Nacional de Ferrocarriles, Servicio de Material y Tracción, Sector Este, mayo 1938, c. 1043, SD.11 1051, SD.

14Libro de actas del Comité UGT, Sociedad de Albañiles y Peones, 20 noviembre 1937, c. 1051, SD.

15Carta del Consejo Obrero, MZA, Sindicato Nacional Ferroviario UGT, 24 noviembre 1937, c. 467, SD; Actas de la reunión del Pleno, 1 enero 1937, c. 181, SD.

16Sindicato de la Industria Sidero-Metalurgia, Sección lampista, Asamblea General, 25 diciembre 1936, c. 1453, SD.

17Boletín del Sindicato de la Industria de Edificación, Madera y Decoración, 10 noviembre 1937.

18Actas de la reunión de Junta de Metales no-ferrosos CNT, 18 agosto 1938, c. 847, SD; Sección mecánica, CNT-FAI, Columna Durruti, Bujaraloz, 13 diciembre 1936, c. 1428, SD; Actas de la Sección de Zapatería, 15 mayo 1938, c. 1436, SD. 1099, SD.

19Gonzalo Coprons y Prat, Empresa Colectivizada, Vestuarios militares, c. 1099, SD.

20Esta información está basada en el Projecte de Reglamentació interior de l’empresa, c. 1099, SD.

21Projecte d’estatut interior per el cual hauran de regir-se els treballadors, c. 1099, SD; Assemblea ordinaria dels obrers de la casa «Artgust», 6 setiembre 1938, c. 1099, SD; Acta aprobada por el personal de la casa «Antonio Lanau», 15 agosto 1938, c. 1099, SD; Magetzems Santeulália, c. 1099, SD; Boletín del Sindicato de la Industria Fabril y Textil de Badalona y su radio, febrero 1937. 1099, SD.

22Carta de Artgust a la Sección Sastrería CNT, 9 febrero 1938, c. 1099, SD.

23Actas de la Sección de Zapatería, 29 setiembre 1938, c. 1436, SD; Carta del Consejo de Empresa al Sindicato de la Industria Fabril CNT, Sección sastrería, 23 junio 1938, c. 1099, SD.

24Las diez de la noche es una hora bastante temprana para Barcelona. Actas de los metalúrgicos de CNT, 11 marzo 1937, c. 1179, SD. Carta del Comité de la fábrica nº 7, (n.d.) c. 1085, SD.

25Dr. Félix Martí Ibáñez, Obra: Diez meses de labor en sanidad y asistencia social (Barcelona 1937), 77; «Ruta», 1 enero 1937.

26Carta del Comité de Control, 16 julio 1938, c. 505, SD; Carta fechada el 29 noviembre 1938, c. 505, SD.

27Fábrica de artículos de material aislante, Normas para el subsidio de enfermedades, 1937, Archivos Pujol, Barcelona.

28José Peirats, La CNT en la Revolución española, 3 vols. (París 1971), 3; Boletín del Sindicato de la Industria de la Edificación, Madera y Decoración, 10 setiembre 1937.21.

29Projecte Reglamentació Interior, 5 marzo 1938, c. 109, SD; Projecte d ́estatut interior per el cual hauran de regir-se els treballadors, febrero 1938, c. 1099, SD; Actas de la Sección zapatería, 15 mayo 1938, c. 1436, SD.

30Revista dels Treballadors de Filatures Fabra i Coats, abril 1937

31Revista dels Treballadors de Filatures Fabra i Coats, abril 1937 Boletín del Sindicato de la Industria de la Edificación, Madera y Decoración, 10 setiembre 1937.

32Revista dels Treballadors de Filatures Fabra i Coats, abril 1937 Boletín del Sindicato de la Industria de la Edificación, Madera y Decoración, 10 setiembre 1937.Véase Informe Confidencial, 27 enero 1938, c. 855, SD.



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Außerhalb und gegen die Gewerkschaften/Syndikate https://panopticon.blackblogs.org/2023/05/01/ausserhalb-und-gegen-die-gewerkschaften-syndikate/ Mon, 01 May 2023 09:55:07 +0000 http://panopticon.blackblogs.org/?p=4942 Continue reading ]]> Hier eine weiterer Text, dieses Mal aus Großbritannien, eine weitere Kritik an Gewerkschaften/Syndikate. Fernab von den spezifischen Kritiken, ein Abriss der großen Streikwelle der Bergarbeiterinnen und Bergarbeiter in den 1980ern, mit denen sich dieser Text auseinandersetzt, ist nämlich nicht eine allgemeine historische Kritik, finden sich eben diese Kernelemente einer allgemeinen historischen Kritik an Gewerkschaften/Syndikate, die nämlich keine Instrumente/Werkzeuge für das Proletariat ist, sondern Instrumente/Werkzeuge die seinen Aufstand gegen die Welt des Kapitals-Staates, kanalisieren, domestizieren und demokratisieren soll.


Gefunden auf anarchist library, die Übersetzung ist von uns.

Außerhalb und gegen die Gewerkschaften/Syndikate

Einleitung

Dieses Pamphlet ist eine Antwort auf das Pamphlet „Refracted Perspective“ (erhältlich bei: 121 Bookshop, 121 Railton Road, Brixton, London SE24). Wie du vielleicht schon vermutet hast, ist dies vor allem ein fadenscheiniger Vorwand, um eine allgemeine Kritik an den Gewerkschaften/Syndikate zu üben – etwas, das wir in Wildcat schon lange nicht mehr getan haben. Er konzentriert sich auf die Situation in Großbritannien in den letzten Jahren, insbesondere auf den Bergarbeiterstreik 1984/85. Das liegt nicht an einer nationalistischen Besessenheit von den Geschehnissen auf den Inseln, sondern daran, dass wir unsere Analyse so konkret wie möglich machen wollen – das heißt, wir schreiben über Dinge, die wir aus zuverlässigen Quellen kennen oder an denen wir tatsächlich beteiligt waren. Außerdem wollen wir die Argumente von Mr. Douglass so gründlich wie möglich widerlegen, weshalb wir es nicht vermeiden können, über bestimmte Dinge zu sprechen, die die NUM getan hat.

Einen ausführlichen Artikel über die Ursprünge der modernen Gewerkschafts-, Syndikatsbewegung in Großbritannien, der sich auf das entscheidende Jahr 1842 konzentriert, als die Miners‘ Federation gegründet wurde, findest du in der Wildcat Nr. 16.

Auf den britischen Inseln und in Nordamerika mag die Gewerkschafts-, Syndijatsfrage zum jetzigen Zeitpunkt (Ende 1992) angesichts des geringen Niveaus des Klassenkampfes am Arbeitsplatz etwas irrelevant erscheinen. Seit 1979 ist die Zahl der Mitglieder der TUC-Gewerkschaften/Syndikate in Großbritannien von 12 Millionen auf 8 Millionen gesunken. Wir können jedoch sicher sein, dass die Gewerkschafts-, Syndikatsfrage wieder auftauchen wird, sobald der Kampf in den Betrieben wieder an Fahrt aufnimmt, und überall dort, wo Arbeiterinnen und Arbeiter als Arbeiterinnen und Arbeiter kämpfen, sei es in Deutschland, Südafrika oder Südkorea, ist das Thema so wichtig wie eh und je.

Diese Rede

Der Zweck von Douglass‘ Rede auf der internationalen Konferenz zum Klassenkrieg1 (der Text wurde unter dem Titel „Refracted Perspective“ veröffentlicht) war ganz klar. Es ging darum, die Kritik an der Gewerkschafts-, Syndikatsbewegung (A.d.Ü., kann auch verstanden werden als Kritik am ‚Syndikalismus‘ und am ‚Gewerkschaftswesen‘) in der anarchistischen Bewegung zu unterdrücken. Bevor wir uns auf eine ernsthafte Kritik an seinen Äußerungen einlassen, sollten wir darauf hinweisen, dass er nicht nur seine Meinung geäußert, sondern auch seine Rolle in der Gesellschaft verteidigt hat. Er ist nicht, wie er sich selbst gerne beschreibt, ein „Yorkshire-Bergarbeiter“, sondern ein Vollzeit-NUM-Delegierter.

Die wesentliche Methode, mit der er Kritik angreift, ist die klassische stalinistische „Amalgamtechnik“. Das bedeutet, dass zwei oder mehr sehr unterschiedliche politische Positionen, die dir nicht gefallen, absichtlich vermischt werden, um Verwirrung und unkritische Unterstützung für deinen Standpunkt zu schaffen. Zum Beispiel nannten die kommunistischen Parteien während des Zweiten Weltkriegs den „Trotzki-Faschismus“.

In ähnlicher Weise versucht Herr Douglass, idiotische Linke wie die Workers‘ Revolutionary Party mit Leuten zu vereinen, die er „Situationisten“ nennt – das ist offensichtlich ein Codewort für militante Klassenkämpfer, die aus kommunistischer Sicht gegen die Gewerkschaften/Syndikate sind. Ich nehme an, er nennt uns „Situationisten“, weil er den Eindruck erwecken will, wir seien ein Haufen von Außenseiter unter den Kunststudenten. Das waren die Situationisten nicht, aber es ist ein beliebtes Stereotyp über ihre Anhänger, an dem etwas Wahres dran ist.

Die Amalgamtechnik in ihrer gröbsten Form zeigt sich, wenn er behauptet, die Sozialistische Arbeiterpartei sei „giftig anti-gewerkschaftlich/syndikalistisch“. Seit wann das? Die SWP unterstützt nicht nur die Gewerkschaften/Syndikate, oft sind es SWupPies, die Gewerkschafts-, Syndikatszweige am Laufen halten. Dasselbe gilt für seinen Kommentar „Der Leninist mit seiner [sic] Vision von der Gewerkschaft/Syndikat als Hindernis für den Kampf…“. Die meisten Leninisten starren dich erstaunt an, wenn du behauptest, dass die Gewerkschaften/Syndikate gegen die Arbeiterklasse sind. Versuch es doch mal. Du könntest sogar sagen, dass „die leninistischen Intellektuellen von und zu sich selbst nur ein gewerkschaftliches/syndikalistisches Bewusstsein erreichen können“.

Um fair zu sein: Vieles von dem, was er über die Linken und den Bergarbeiterstreik 1984/85 sagt, ist wahr. Die SWP ist zum Beispiel der Meinung, dass der einzige Fehler bei der Massenstreikpostenaktion im Orgreave-Depot in S. Yorkshire darin bestand, dass sie nicht groß genug war. Diese Ansicht wird von den SWupPies bis heute vertreten. Seine Beschreibung eines Eispickelkopfes, der mitten im Aufruhr „Workers‘ Power“ verkauft, ist ebenso amüsant wie vertraut.

Anarcho-Leninismus

Dave Douglass greift die Linken an, weil sie den Arbeiterinnen und Arbeitern arrogant vorschreiben, was sie zu tun haben, und weil sie in den Kämpfen der Arbeiterinnen und Arbeiter nur ein Mittel sehen, ihre Politik zu verbreiten. Aber was er ihnen wirklich vorwirft, ist, dass sie zu ehrlich sind – sie versuchen offen, ihre Ideologie durchzusetzen und sich als Anführer zu präsentieren. Dave Douglass würde es gerne sehen, wenn Class War (A.d.Ü., Klassenkrieg) das etwas subtiler machen würde. Dass sich seine Sichtweise nicht sehr von der der Leninisten unterscheidet, zeigt seine Haltung zu Orgreave. Er schildert sehr gut, was an einem Grabenkrieg gegen die Schweine (A.d.Ü., gemeint sind Bullen) auf einem von ihnen selbst gewählten Terrain falsch ist. ABER er hat ihn öffentlich unterstützt (und damit zur Teilnahme an dieser Niederlage gegen die Schweine aufgerufen). Das ist nicht viel anders als bei den Linken, die Arbeiterinnen und Arbeiter dazu ermutigen, Dinge zu tun, von denen sie wissen, dass sie Quatsch sind – wie Labour zu wählen und den TUC zum Generalstreik aufzurufen.

Zweifellos waren diejenigen von uns, die damals sagten, Orgreave sei Zeitverschwendung, nur „Avantgarde“ , die „normalen Arbeiterinnen und Arbeitern sagen, was sie tun sollen“.
Seine Haltung wird im letzten Absatz seiner Really Fucked Perspective noch deutlicher, als er die klassische leninistische Trennung zwischen den Massen und der Partei verteidigt – „SIE WARTEN NICHT AUF UNS“. Wer sind „SIE ? Wer sind „UNS“? „Wir sollten sie so unterstützen, wie sie unterstützt werden wollen“ – Das ist herablassendes Gefasel. Was ist, wenn „SIE“ wollen, dass wir „ihnen“ bei der Lobbyarbeit auf dem Labour-Parteitag helfen? Wir würden ihnen sagen, dass das eine dumme Idee ist. Wenn uns das zu „Avantgardisten“ macht, dann ja, das ist ein fairer Bulle, Chef.

Warum sollte sich ein Teil der Arbeiterklasse einem anderen „zur Verfügung“ stellen? Wenn unsere Gefährten und Gefährtinnen im Kampf Fehler machen, müssen wir sie kritisieren und sie manchmal sogar physisch daran hindern, das zu tun, was sie tun wollen. Der Grund dafür ist ganz einfach: Wenn sie es vermasseln, vermasseln sie es für uns alle. Von „Selbstbestimmung“ für einen Teil der Klasse kann keine Rede sein: wir sitzen alle im selben Boot. Wenn dieser Ansatz dazu führt, dass wir nicht so viele Zeitungen verkaufen, wie wir gerne würden, ist das schade.

Die Gewerkschaften/Syndikate

Worüber Douglass in seinen Erinnerungen an den Großen Streik 1984/85 überhaupt nicht spricht, ist der Antagonismus, der zwischen dem Gewerkschafts-, Syndikatsapparat und den inoffiziellen Aktionen der Bergarbeiter und anderer in den Bergbaugemeinden bestand, die seiner Meinung nach nur eine Erweiterung der Gewerkschaften/Syndikate waren.

Beginnen wir mit einem Beispiel aus der Zeit vor dem Streik. Mitte 1983 wollte Arthur Scargill, der Präsident der NUM, den damaligen Vorsitzenden des Coal Board, Derek Ezra, in Pontypridd treffen. Einige walisische Bergarbeiter, die gegen die Schließung von Zechen streikten, besetzten das regionale NZB-Büro. Scargill kam persönlich vorbei, um ein Ende der Besetzung anzuordnen. Später am Tag machte er jedoch seinem Ruf als militant alle Ehre, indem er aus dem Treffen mit Ezra „herausstürmte“ und die Hitliste der bedrohten Gruben des Ausschusses enthüllte.

Offensichtliche Beispiele für den Streik waren:

1. Jeder, der sich ernsthaft am Bergarbeiterstreik beteiligte und nicht in einem Bergbaugebiet lebte, fand sehr schnell heraus (manchmal aus bitterer Erfahrung), dass die einzige Möglichkeit, Geld dorthin zu bringen, wo es gebraucht wurde, darin bestand, es direkt an die Streikenden und ihre Familien zu geben. Geld, das den Gewerkschafts-, Syndikatsbürokraten gegeben wurde, erreichte die Streikenden in der Regel überhaupt nicht und schon gar nicht diejenigen, die als Unruhestifter bekannt waren.

2. Die Gewerkschaft/Syndikat drohte damit, Bergleute zu disziplinieren und zu entlassen, die in Gascoigne Wood Ziegelsteine auf die Polizei warfen.

3. Während des gesamten Streiks erließen McGahey und seine Kumpanen Anordnungen, die Massenstreikposten in Schottland untersagten.

4. Anfang 1985 zog die Yorkshire Area NUM ihre Minibusse von den Fitzwilliam-Bergarbeitern ab, um sie von aggressiven Streikposten fernzuhalten.

5. Im März 1984 wurde in Ollerton, Notts, ein Streikposten von einem Streikbrecher-LKW getötet. Scargill stand auf einem Auto und rief zu zwei Schweigeminuten auf, um die Streikenden davon abzuhalten, sich an den Bullen und Streikbrechern zu rächen.

Ich könnte so weitermachen…

Anhand dieser Beispiele wird deutlich, dass seine Metapher von den Arbeiterinnen und Arbeitern, die den Bus der Gewerkschaft/Syndikat so weit wie möglich fahren, eher irreführend ist. Es geht nicht nur darum, dass die Bürokraten die Bremsen betätigen, sondern vielmehr darum, dass sie den Bus umdrehen und die Arbeiterinnen und Arbeiter damit überfahren!

Wenn er über „die Gewerkschaft/Syndikat“ schreibt, vergisst er (meistens), dass es überhaupt einen Gewerkschafts-, Syndikatsapparat gibt. Er redet so, als wäre die Gewerkschaft/Syndikat nur eine Ansammlung von autonomen Gewerkschafts-, Syndikatszweigen. Das macht es ihm viel leichter, die klassische Lüge aller linken Gewerkschafts-, Syndikatsschreiber zu wiederholen: „Es ist deine Gewerkschaft/Syndikat, du kannst mit ihr machen, was du willst. Sie ist eine demokratische Organisation und wenn du genug Unterstützung von den Mitgliedern bekommst, kannst du ihr jede Politik geben, die du willst“.

Die Lüge, dass die Gewerkschaft/Syndikat ihre Mitglieder sind, wird in der Praxis immer wieder aufgedeckt. Die NUM ist da keine Ausnahme. Der von Tony Benn initiierte Produktivitätsdeal von 1977, der so viel zur Spaltung der Bergarbeiter zwischen den Regionen beitrug, wurde vom NUM-Vorstand durchgesetzt, obwohl er in einer nationalen Abstimmung abgelehnt wurde. 1983 ignorierten die Anführer der NUM eine 80%ige Streikabstimmung in Südwales. Im April 1984 hielten die Anführer der NUM in Lancashire ein Treffen der Gebietsdelegierten ab, um einen Weg zu finden, die Bergarbeiter in Lancashire wieder an die Arbeit zu schicken. Dreißig der Bergarbeiter, die sich für das Treffen eingesetzt hatten, organisierten eine Besetzung der NUM-Zentrale in Bolton. Sie wollten weitere Versammlungen verhindern und sagten: „Man braucht keine Versammlung, um den Streik zu führen, sondern nur, um ihn abzubrechen“.

Was sind Gewerkschaften/Syndikate?

Dave Douglass möchte uns glauben machen, dass Gewerkschaften/Syndikate Selbstverteidigungsorganisationen der Arbeiterinnen und Arbeiter sind. Das ist die traditionelle linke Sichtweise, die du in jeder Trot-Zeitung (A.d.Ü., ein Trot ist auf Englisch die Abkürzung für Trotzkist) nachlesen kannst, die je geschrieben wurde. Auch Millionen von Arbeiterinnen und Arbeitern glauben das, aber nicht wir.

Wenn die Gewerkschaften/Syndikate die Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiter nicht verteidigen (auch nicht schlecht), was tun sie dann? Die Antwort lautet: sie verhandeln mit den Bossen. Sie verhandeln über den Grad der Ausbeutung.

Wir vertreten hier keine moralistische „Tod vor Verhandlung“-Haltung. Solange es Lohnarbeit gibt, werden Arbeiterinnen und Arbeiter von Zeit zu Zeit gezwungen sein, mit den Arbeitgeber zu verhandeln, vor allem, wenn Kämpfe niedergeschlagen werden. Die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter verhandeln auf die eine oder andere Weise mit ihren Chefs („Ich lasse dich früher nach Hause gehen, wenn du das hier fertig machst“).

Verhandlungen beinhalten jedoch immer eine Vereinbarung, sich an die Spielregeln zu halten, z. B. die Einhaltung von Produktivitätsvereinbarungen. Das ist eine Form der Klassenzusammenarbeit. Als Institutionalisierung des Verhandlungsprozesses müssen die Gewerkschaften/Syndikate zwangsläufig die Kämpfe der Arbeiterinnen und Arbeiter behindern. Es überrascht nicht, dass die Gewerkschaften/Syndikate schwer verhandelbare Kampfformen wie Diebstahl und Sabotage fast immer verurteilt haben. Das ist kein neues Phänomen. Im Jahr 1889 unterzeichnete Tom Mann, der berühmte Anführer der Londoner Dockergewerkschaft, mehrere Appelle an die Männer, mit mehr Enthusiasmus zu arbeiten. Sie versuchten, die Bosse dazu zu zwingen, die Zahl der Beschäftigten zu erhöhen, und machten weithin Gebrauch von „ca’canny“ (langsam gehen). Im Jahr 1892 schlug Tom Mann der Royal Commission on Labour (deren Mitglied er war) sogar die Einführung von Akkordlöhnen vor!

Verhandeln ist nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine politische Tätigkeit. Im Namen der Arbeiterinnen und Arbeiter mit den Bossen zu verhandeln, ist eine Form der politischen Vertretung. Bei der Vertretung/Repräsentation von Menschen geht es nicht darum, für ihre Interessen zu kämpfen. Es geht darum, die Loyalität einer passiven „Wählerschaft“ zu erhalten. Das zeigt sich deutlich an der Rekrutierungspolitik der Gewerkschaften/Syndikate, die versuchen, jedem eine Mitgliedschaft zu verkaufen, der bereit ist, den Mitgliedsbeitrag zu zahlen, egal wie reaktionär er ist, solange er in der richtigen Branche arbeitet. Es sollte klar sein, dass keine Organisation der Arbeiterklasse jemals so arbeiten könnte.

Es ist kein Zufall, dass die demokratische Ideologie in den Gewerkschaften/Syndikate stärker gefördert wird als irgendwo sonst in der Gesellschaft. Die eigenen Kämpfe der Arbeiterinnen und Arbeiter beginnen jedoch fast immer mit militanten Aktionen einer Minderheit. In der Praxis sind das „Mehrheitsprinzip“ (die Idee, dass nichts geschehen darf, wenn die Mehrheit nicht zustimmt) und die in der Demokratie verankerte Trennung zwischen Entscheidungen und Handlungen (A.d.Ü., im Sinne der Aktion) unsinnig. Die Demokratie mit ihrem Fetisch für Meinungsäußerungen und dem Moment der Entscheidung als Vorstufe zum Handeln (A.d.Ü., im Sinne der Aktion) bietet den Arbeiterinnen und Arbeitern nichts. Sie bietet alles für diejenigen, die ihre Kämpfe ablenken, institutionalisieren oder blockieren wollen, seien es die Rechten mit ihren geheimen Abstimmungen oder die Linken mit ihren Delegiertenkonferenzen und der partizipativen Massendemokratie.

Korporatismus

Unter Korporatismus versteht man die Identifikation von Arbeiterinnen und Arbeitern mit ihrem Arbeitsplatz oder ihrer Branche. Er ist nicht nur eine Idee. Er ist eine materielle Kraft, die sich aus der fehlenden Solidarität zwischen Arbeiterinnen und Arbeitern in verschiedenen Sektoren und zwischen Arbeitsplätzen und anderen Bereichen der Gesellschaft (insbesondere dort, wo Proletarier/innen leben) ergibt. Gewerkschaften/Syndikate sind die korporatistische Organisation par excellence. Die Bindung der NUM an den „Plan for Coal“ war nur ein Ausdruck davon.

Allerdings kann der Korporatismus nicht einfach auf die Gewerkschaften/Syndikate geschoben werden. Wenn Arbeiterinnen und Arbeiter auf einem Streikposten „Außenseitern“ gegenüber misstrauisch sind, dann nicht nur, weil sie an „die Gewerkschaft/Syndikat“ glauben (auch wenn der Vertrauensmann/Obmann in der Regel der erste ist, der fragt: „In welcher Gewerkschaft/Syndikat bist du denn?“). Und leider auch nicht nur, weil „sie sich nicht von Studenten aus der Mittelklasse vorschreiben lassen wollen, was sie zu tun haben“, wie uns viele Apologeten des Arbeiterklassenkonservatismus glauben machen wollen.

Jeder Kampf am Arbeitsplatz kann in die Falle des Korporatismus geraten, solange er nur ein Kampf am Arbeitsplatz bleibt. Den linken Arbeiterinnen und Arbeitern, die behaupten, dass Arbeiterinnen und Arbeiter nur am Ort der Produktion Macht haben, möchten wir entgegenhalten, dass territoriale Kämpfe das größte subversive Potenzial haben. Dies war zweifellos eine der Stärken der Anti-Poll Tax Movement (A.d.Ü., Anti-Steuer-Bewegung) (trotz des offensichtlichen Problems des „Lokalismus“, der meist mit sentimentalen Vorstellungen über „unsere lokale Gemeinschaft“ einhergeht). Auch im Bergarbeiterstreik gab es Höhepunkte, wenn sich die gesamte Arbeiterklasse in einem bestimmten Gebiet engagierte – z. B. bei der Verteidigung von Grubendörfern gegen die Polizei. Zum „Territorium“ gehören auch Arbeitsplätze, und oft ist es strategisch sehr wichtig, sie zu stören, zu besetzen und/oder zu zerstören. Arbeitsplatzbesetzungen sind zum Beispiel eine wichtige Möglichkeit, die Rolle des Arbeitsplatzes als ein vom Rest der Gesellschaft getrenntes „Unternehmen“ zu untergraben – indem andere Proletarier als die, die normalerweise dort arbeiten, in den Betrieb eingeladen werden, indem Ressourcen wie Druck- und Kommunikationsmittel wieder in Besitz genommen werden, indem nützliche Produkte, die im Betrieb gelagert werden, verschenkt werden… Und dann gibt es noch die direkte Zerstörung – indem man sie dem Feind verweigert! Die Bergleute, die während des Großen Streiks auf den Einsturz der Kohlegruben mit dem Spruch „Zur Hölle mit den Gruben“ reagierten, brachten damit einen echten Bruch mit dem Korporatismus der NUM zum Ausdruck.

Degenerierte

Eine Organisation, die sich für die Interessen von Arbeiterinnen und Arbeitern einsetzt, kann zu einer Gewerkschaft/Syndikat degenerieren. Das heißt, sie kann damit beginnen, den Kampf zu organisieren und auszuweiten, und ihn am Ende wegverhandeln. Das war oft das Schicksal unabhängiger Streikkomitees in Frankreich, Italien und Spanien (in Großbritannien werden sie meist einfach in die offiziellen Gewerkschaften/Syndikate integriert).

Die Frage, wann man aufhört, sich an einem solchen Komitee zu beteiligen und es anprangert, ist immer schwierig, aber bei offiziell anerkannten Gewerkschaften/Syndikate gibt es _keine_ solche Unklarheiten.

Natürlich müssen Gewerkschaften/Syndikate flexibel sein, um im Geschäft zu bleiben. Unter dem Druck der Basis werden sie oft eine militante Haltung einnehmen und den Arbeiterinnen und Arbeitern in gewissem Maße sogar erlauben, den lokalen Gewerkschafts-, Syndikatsapparat für ihre Kämpfe zu nutzen – z. B. Zweigstellenversammlungen, Streikkassen, Streikpostenkarawanen. Der Versuch, den Apparat zu „übernehmen“, führt jedoch in eine Sackgasse. Auch auf organisatorischer Ebene ist eine Gewerkschaft/Syndikat einfach nicht dafür ausgelegt, die Kämpfe von Arbeiterinnen und Arbeitern voranzutreiben. Die grundlegendsten Regeln der Gewerkschafts-, Syndikatsarbeit sind darauf ausgelegt, sie zu behindern. Mitte 1984 versuchten einige streikende Bergarbeiter aus South Kirkby, eine Gruppe von Bergarbeitern zu organisieren, die aufgrund der strengen Kautionsbedingungen nicht einfach auf Streikposten gehen konnten. Sie sollten an die Türen klopfen und versuchen, passive Streikende davon zu überzeugen, aktive Streikposten zu werden. Sie taten es trotzdem und versuchten, dem NUM-Zweig eine Resolution vorzulegen. Sie wurde vom Komitee der Sektion abgelehnt. Die Resolution konnte noch als Briefwechsel durchgehen, also versuchten sie, die Versammlung mit ihren Unterstützern zu füllen. Das Komitee lehnte dies ab. Einer der Streikenden schlussfolgerte: „Ich denke, das zeigt, dass wir das Regelbuch kennen müssen…“. Das ist Blödsinn. Was es zeigt, ist die Notwendigkeit, das Regelwerk aus dem Fenster zu werfen und damit auch die Autorität des Komitees.

Gewerkschaften/Syndikate sind sicherlich nicht dazu da, Streiks außerhalb der Industrie oder des Sektors, in dem sie beginnen, zu verbreiten. Ganz im Gegenteil. An vielen Streikpostenketten der Bergarbeiter durften auch Nicht-NUM-Mitglieder teilnehmen, und in Lancashire wurde nicht versucht, die Tagebaue in der Region zu schließen – diese gehörten nicht der NCB und ihre Arbeiterinnen und Arbeiter waren in der T&G und nicht in der NUM.

Während des Großen Streiks haben die NUM-Anführer (insbesondere Scargill) sicherlich an die Unterstützung anderer Arbeiterinnen und Arbeiter appelliert, aber das ging nie über Treffen mit anderen Gewerkschafts, Syndikatsführern und öffentliche Reden im Fernsehen hinaus. Ein direkter Appell an andere Arbeiterinnen und Arbeiter hätte gegen die demokratischen Umgangsformen zwischen den Gewerkschaften/Syndikate verstoßen – eine Reihe von „Gesetzen“, die der ach so radikale Herr Scargill nicht zu missachten gedenkt.

Bürokratie

Viele Leute sagen, das Problem mit den Gewerkschaften/Syndikaten sei, dass sie zu hierarchisch und bürokratisch sind. Das geht an der Sache vorbei. Die Gewerkschaften/Syndikate dienen nicht den Interessen des Kapitals, weil sie bürokratisch sind. Sie sind bürokratisch, weil sie den Interessen des Kapitals dienen. Der Verhandlungsprozess selbst fördert Spezialisten für den Verkauf von Arbeitskraft. Er erfordert zwangsläufig ein kleines Team von aktiven Verhandlungsführern und eine Menge Arbeiterinnen und Arbeiter, die auf das Ergebnis warten. Die Verhandlungsführer und die Bosse müssen ein persönliches Verständnis entwickeln und sich gegenseitig vertrauen. Normalerweise wird das alles von Gewerkschafts-, Syndikatsbürokraten erledigt, aber selbst wenn die Streikenden ihre eigenen Vertreterinnen und Vertreter wählen, fangen diese fast sofort an, sich gegen die Kontrolle und Widerrufbarkeit zu wehren, die über sie ausgeübt wird. Sie wollen die Rolle des Anführers gleichberechtigt mit ihren Verhandlungspartnern übernehmen und werden dabei von den Streikenden selbst unterstützt, die von Leuten angeführt werden wollen, die ihnen versichern, dass alles gut läuft. Wenn es schließlich zu einer Einigung kommt, wird es zweifellos diejenigen geben, die „Verrat“ schreien, aber es sind die Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich selbst verraten haben, indem sie die Logik der Verhandlungen akzeptiert haben.

Manche sagen, dass die Gewerkschaften/Syndikate mit reaktionären Ideen wie Parlamentarismus und Etatismus infiziert sind (z. B. durch die Mitgliedschaft in der Labour Party in Großbritannien). Auch das geht an der Sache vorbei. Es sollte nicht überraschen, dass diejenigen, die kapitalistische Institutionen leiten, meist schamlos pro-kapitalistische Ideen haben. Aber selbst wenn sie das nicht tun, zwingt die Tatsache, eine Gewerkschaft/Syndikat zu führen, ihre eigene Logik auf. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg hatte die syndikalistische Confédération Generale du Travail (CGT) in Frankreich auf ihren Kongressen zahlreiche Anträge verabschiedet, in denen sie zu einem Generalstreik im Kriegsfall aufrief. Sie hatte sogar Handbücher verteilt, die ihre Mitglieder über detaillierte praktische Schritte zur Sabotage der Kriegsanstrengungen informierten. Doch als der Krieg kam, schloss sich die CGT eilig Poincares Union Sacree an. Dies war eine Volksfront zur Unterstützung des Krieges.

Eng verbunden mit diesen Ideen ist die weit verbreitete Ansicht, dass es „echte Gewerkschaften/Syndikate“ (wie UCATT und NUPE) und „Streikbrechergewerkschaften,- syndikate“ (wie EEPTU und RCN) gibt und dass es besser ist, in einer echten Gewerkschaft/Syndikat zu sein als in einer Streikbrechergewerkschaft-, syndikat. Das hält selbst der oberflächlichsten historischen Untersuchung nicht stand. Jede Gewerkschaft/Syndikat hat zu irgendeinem Zeitpunkt in ihrer Geschichte Streikbrecherinnen und Streikbrecher unverhohlen gefördert. Im britischen Baugewerbe zum Beispiel ist es sicherlich wahr, dass EETPU-Mitglieder die Streikposten der UCATT übertreten haben, aber es ist auch wahr, dass UCATT-Mitglieder die Streikposten der EETPU übertreten haben – manchmal mit der Begründung, dass die EETPU eine Streikbrechergewerkschaft-, syndikat ist und es daher in Ordnung ist, sie zu beklauen!

Basisgewerkschaft-, syndikat

Die besondere Art von Basisgewerkschaft-, syndikat, die DD vertritt, ist nicht die übliche Trot-Variante (A.d.Ü., trotzkistische Variante). Er ruft die Arbeiterinnen und Arbeiter nicht dazu auf, die Anführer der Gewerkschaft/Syndikat zu beeinflussen. An einer Stelle kritisiert er sogar Arthur Scargill (in den Augen der meisten Linken und militanten Bergarbeiter ein schweres Vergehen!).

Er ist der Meinung, dass Arbeiterinnen und Arbeiter, die an subversiven Aktionen beteiligt sind (Angriffskommandos, Überraschungsstreikposten, Organisierung der gesamten Arbeiterklasse, nicht nur der Bergleute …), trotzdem ermutigt werden sollten, sich als Teil der Gewerkschaft/Syndikate zu sehen und zu versuchen, im Rahmen der Gewerkschaft/Syndikats zu handeln. Sie sollten der Gewerkschaft/Syndikat gegenüber loyal sein, auch wenn sie nicht immer einer Meinung sind. Wenn also Heathfield, der Anführer der NUM in Yorkshire, sie dafür verurteilt, dass sie sich gegen die Polizei gewehrt haben, oder die regionale NUM ihnen die Sektion der Minibusse (A.d.Ü., als einen Zweig der Berufe) wegnimmt, sollten sie trotzdem die Autorität dieser Leute respektieren.

Wie viele Anarchistinnen und Anarchisten hat auch DD großen Respekt vor den „normalen Menschen“. Er will, dass sie gewöhnlich bleiben, d.h. dem Kapital untertan sind. An einer Stelle fragt er: „Wer hat mehr Loyalität VON der Klasse“? Die Gewerkschaften/Syndikate oder obskure linke Gruppen? Die königliche Familie hat mehr Loyalität als beide.

Die NUM

Es stimmt, dass das Verhalten der NUM während des Streiks 1984/85 für Revolutionäre ein echtes Problem darstellte. Es schien nicht zu den vorgefassten Meinungen darüber zu passen, wie sich Gewerkschaften/Syndikate verhalten sollten. Außerhalb von ein oder zwei traditionellen Industriezweigen (das, was vom Bergbau übrig ist, das, was von der Einzelgewerkschaft-, syndikat in der Druckindustrie übrig ist …) ist die Erfahrung der Arbeiterklasse mit den Gewerkschaften/Syndikate in Großbritannien ziemlich eindeutig. Sie lehnen fast immer jeden Streik ab, bis sie merken, dass sie ihn verhindern können oder er zu Tode abgestimmt worden ist. Die Anti-Streik-Gesetze (die so genannten „anti-union-gesetze“), die unter den Thatcher-Regierungen verabschiedet wurden, haben dazu geführt, dass sie die Kämpfe der Arbeiterinnen und Arbeiter noch unverhohlener sabotieren, als sie es früher taten. Kurz gesagt: Die NUM ist nicht die T&G. Sie ist eine radikale, linksgerichtete Gewerkschaft/Syndikat. Der Hauptgrund dafür ist einfach – die Existenz einer militanten Basis. Ein Bezirksfunktionär der NUM, der versucht, sich wie sein Pendant bei NUPE oder NALGO zu verhalten, würde einfach die Kontrolle verlieren. Das ändert aber nichts an der grundlegenden Natur der NUM.

Die Militanz der Bergarbeiter war ein echtes Hindernis für die Kapitalakkumulation – eine Blockade, die nur durch die Schließung der Gruben beseitigt werden konnte. Die Militanz der Bergleute reicht weit zurück. In den 1930er Jahren war die Zahl der Streiktage, die die Bergarbeiter (für die Bosse) „verloren“ haben, so hoch wie die Zahl der Streiktage in der gesamten britischen Industrie. Nach der Verstaatlichung im Jahr 1947 machten sie immer noch ein Drittel der verlorenen Tage aus. Diese Tradition ist jedoch nicht ungebrochen. In den sechziger Jahren wurden Hunderte von Gruben geschlossen und viele Bergleute verließen die Branche. Mit anderen Worten: Die Vollbeschäftigung ermöglichte zunächst eine friedliche Umstrukturierung der Ökonomie; der Bergbau bildete da keine Ausnahme: 1970 lag die Zahl der Beschäftigten bei 47% des Standes von 1960. Doch die Vollbeschäftigung und die zentrale Bedeutung des Kohlebergbaus für die Energieversorgung einer weiter expandierenden Ökonomie schufen die Voraussetzungen für einen massiven Aufschwung der Militanz in den 60er und frühen 70er Jahren. Das Beispiel der Bergleute hat zweifellos viele Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter dazu inspiriert, sich den Bossen entgegenzustellen.

Seit ihrer Gründung am 1. Januar 1945 hat die NUM (genau wie ihr Vorgänger, die Miners‘ Federation) immer eine unverzichtbare Rolle bei der Bewältigung der kapitalistischen Ausbeutung gespielt. Nach der Verstaatlichung im Jahr 1947 verpflichtete sich der nationale Vorstand der NUM, „alles zu tun, um den Geist der Selbstdisziplin zu fördern und aufrechtzuerhalten … und die Bereitschaft, alle vernünftigen Befehle des Managements auszuführen“. In dieser Zeit kam es zu zahlreichen wilden Streiks, die von der NUM abgelehnt wurden. Als sich sieben Monate nach der Verstaatlichung ein Streik, der in Grimethorpe begann, auf 38 Gruben ausweitete, sagte der Generalsekretär der Region Yorkshire, dass die Männer „zwischen industrieller Demokratie und Anarchie“ wählen müssten. Ein anderer Gewerkschafts-, Syndikatsbürokrat, Will Lawther, sagte, dass die NZB die Streikenden strafrechtlich verfolgen sollte, „auch wenn es 50.000 oder 100.000 von ihnen sind“.

Ein wichtiger Faktor für die Militanz der Bergleute ist, dass der Bergbau (fast) der einzige Industriezweig ist, in dem Arbeiterinnen und Arbeiter noch in einer Gemeinschaft leben, die fast ausschließlich für diesen Industriezweig da ist. Das bedeutet, dass die Solidarität nicht nur am Arbeitsplatz, sondern auch auf der Straße und im Bergarbeiter-Wohlfahrtsverein gelebt wird. Die Einbindung der Gewerkschaft/Syndikate in die Gemeinde bedeutet, dass sie viel mehr Teil des täglichen Lebens ist als anderswo. Das macht es für die Bergleute viel schwieriger, unabhängig von der Gewerkschaft/Syndikat zu handeln. Im Gegensatz dazu besteht „die Gewerkschaft/Syndikat“ für die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter aus einer Mitgliedskarte, billigen Versicherungsangeboten und einer Gruppe von Schreiberlingen, die jeden Monat an einer unangemeldeten Zweigstellenversammlung teilnehmen.

Das macht es den Anführern der NUM leichter, die klassische Lüge zu verbreiten, dass „wir ohne unsere Gewerkschaft/Syndikat nicht kämpfen können“. Dass dies eine Lüge ist, zeigt die Geschichte der Kämpfe von Arbeiterinnen und Arbeitern. Wie wir gesehen haben, waren viele der wichtigen Streiks in der Kohleindustrie inoffiziell oder haben zumindest auf diese Weise begonnen. Ein noch besseres Beispiel sind die Hafenarbeiterinnen und -arbeiter in Großbritannien, die vor der „decasualisation“ (Entlassung von Gelegenheitsarbeitern (A.d.Ü., casual labourers, daher decasualisation) in ein festes Arbeitsverhältnis) im Jahr 1967 eine notorisch streikfreudige Gruppe von Arbeiterinnen und Arbeitern waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg führte die T&G (die wichtigste Gewerkschaft/Syndikat in den Docks) bis 1961 keinen offiziellen Streik durch, obwohl es mehr als ein Dutzend größere Arbeitsniederlegungen gab. Mitte der 60er Jahre war ein Drittel der Hafenarbeiter in Liverpool nicht einmal in einer Gewerkschaft/Syndikat, obwohl die Gewerkschaft/Syndikat die Einstellung von Arbeitskräften stark kontrollierte. Auf der ganzen Welt gibt es noch viel dramatischere Beispiele: Massenstreiks, die überhaupt nichts mit gewerkschaftlicher/syndikalistischer Organisation zu tun hatten – von den 10 Millionen Arbeiterinnen und Arbeitern, die im Mai 1968 in Frankreich gegen den Willen der von der Kommunistischen Partei kontrollierten Gewerkschaften/Syndikate (denen die meisten von ihnen angehörten) streikten, bis hin zu den iranischen Ölarbeitern, die 1979 streikten, obwohl ihnen Lohnerhöhungen von Hunderten von Prozent angeboten wurden (sie wollten das Regime des Schahs stürzen und nicht nur eine Lohnerhöhung durchsetzen!).

Aber was ist die Alternative…?

Das ist die Frage, die Linke und Gewerkschafter/Syndikalisten immer wieder an uns Spinneren stellen, die für den Kampf der Arbeiterinnen und Arbeiter, aber gegen die Gewerkschaften/Syndikate sind. Die kurze Antwort lautet: wir schlagen keine „Alternative zu den Gewerkschaften/Syndikate“ vor. Wenn du die Ausbeutungsrate aushandeln und den Korporatismus der Arbeiterklasse stärken willst, sind die Gewerkschaften/Syndikate ein hervorragendes Mittel dafür. Genau wie die Bullen machen auch die Gewerkschafts-, Syndikatsfunktionäre einen schwierigen Job, den sie unter den gegebenen Umständen sehr gut machen. Deshalb hassen wir sie.

Die wichtigere Frage lautet: „Wie sollten wir uns in den Betrieben organisieren, um für unsere unmittelbaren Bedürfnisse zu kämpfen und den Kapitalismus zu untergraben?“. Die kurze Antwort lautet: genauso, wie wir uns überall sonst organisieren. Es geht uns nicht darum, irgendjemanden zu vertreten, sondern Gruppen und Netzwerke von Aktivisten aufzubauen, die den Klassenkrieg mit allen Mitteln eskalieren wollen. Die Verbindungen, die wir jetzt zwischen militanten Klassenkämpferinnen und -kämpfern aufbauen, werden nützlich sein, wenn es zu Massenkämpfen kommt, wenn es darum geht, Kämpfe zu verbreiten und zu koordinieren, Informationen zu verbreiten, Ressourcen zu beschaffen und so weiter. Aus dem bisher Gesagten sollte klar hervorgehen, dass dieser Prozess nur außerhalb und gegen die Gewerkschaften/Syndikate stattfinden kann. Wie oft müssen Gewerkschafts-, Syndikatsfunktionäre noch versprechen, Arbeiterinnen und Arbeiter, die an Sabotage beteiligt sind, bei der Polizei zu verpfeifen, bevor dies jedem militanten Klassenkämpferin und Klassenkämpfer klar wird?


Glossar der oben genannten britischen Gewerkschaften/Syndikate:

COHSE: Confederation of Health Service Employees

Unorganisierte Arbeiterinnen und Arbeiter: Krankenhaushilfskräfte, einige Krankenschwestern

EETPU: Electrical, Electronic, Telecommunications and Plumbing Union

Arbeiterinnen und Arbeiter, die nicht organisiert sind: Elektriker, Drucker, Bauarbeiter

NALGO: National and Local Government Officers Association

Arbeiterinnen und Arbeiter, die nicht organisiert sind: Angestellte in lokalen Regierungsbüros

NUM: National Union of Mine Workers

Unorganisierte Arbeiterinnen und Arbeiter: Bergleute

NUPE: National Union of Public Employees

Arbeiterinnen und Arbeiter unorganisiert: Krankenhausangestellte, einige Krankenschwestern und -pfleger

RCN: Royal College of Nurses

Arbeiterinnen und Arbeiter, die nicht organisiert sind: Krankenschwestern und -pfleger

TGWU(T&G): Transport and General Workers‘ Union

Unorganisierte Arbeiterinnen und Arbeiter: Transportwesen/Ärzte, aber vor allem allgemein Ungelernte

UCATT: Union of Construction, Allied Trades and Technicians

Unorganisierte Arbeiterinnen und Arbeiter: Bauarbeiterinnen und Bauarbeiter


1A.d.Ü., im Originaltext Class War international conference

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