Kritik Imperialismus/Anti-imperialismus – Soligruppe für Gefangene https://panopticon.blackblogs.org Für die Anarchie! Knäste, Staat, Patriarchat und Kapital abschaffen! Sat, 25 Jan 2025 12:14:10 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.1 https://panopticon.blackblogs.org/wp-content/uploads/sites/1233/2020/02/cropped-discharge-degenerik-blog-1-32x32.jpg Kritik Imperialismus/Anti-imperialismus – Soligruppe für Gefangene https://panopticon.blackblogs.org 32 32 Dritte-Weltismus und Sozialismus, Cajo Brendel https://panopticon.blackblogs.org/2025/01/18/dritte-weltismus-und-sozialismus-cajo-brendel/ Sat, 18 Jan 2025 21:03:10 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=6145 Continue reading ]]>

Gefunden auf archives autonomies, die Übersetzung ist von uns. Eine Kritik von Cajo Brendel an „nationalen Befreiungsbewegungen“.


Dritte-Weltismus und Sozialismus, Cajo Brendel

In den zwei Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg wurde die politische Bühne von den antiimperialistischen Kämpfen der kolonialisierten Völker beherrscht. Die chinesische Revolution ist nur der prominenteste Fall eines Kolonialvolkes, das in sehr harte Kämpfe gegen einen viel mächtigeren imperialistischen Feind verwickelt ist – Kuba, Algerien und Vietnam sind ebenfalls Beispiele unter vielen.

Während diese antiimperialistischen Kämpfe tobten, führte die metropolitane Arbeiterklasse nur wenige politisch bemerkenswerte Schlachten gegen ihre eigenen Herren; in keinem der Industrieländer erhob sich das Proletariat gegen die Bourgeoisie, um deren politische Macht in Frage zu stellen. Der ungarische Aufstand von 1956 war wie der Kronstädter Aufstand 1921 in Russland1 von politischer Bedeutung, aber da er in einem Land stattfand, in dem das Privateigentum an Produktionsmitteln bereits abgeschafft worden war, passte er nicht in die orthodoxe marxistische Analyse der gesellschaftlichen Dynamik, und seine tiefere Bedeutung blieb unbeachtet. Unter diesen Umständen entstanden die „Dritte-Weltismus“-Theorien.

Diese Theorien konzentrierten sich hauptsächlich auf die folgenden Punkte:

1.) Das Proletariat der Industrieländer revoltiert nicht, weil es von den Brosamen der Ausplünderung der kolonialen Welt gesättigt ist. Dieser Umstand erstickt seine revolutionäre Initiative. Das Proletariat in diesen Ländern ist korrupt und in die bourgeoise Ordnung integriert.

2.) Die Bevölkerung der kolonialen Länder, deren Arbeit die Rohstoffe liefert, die der Imperialismus benötigt, bildet ein Weltproletariat“ (auch wenn es sich um Bauern handelt, die nicht in eine industrielle Tätigkeit eingebunden sind). Im Weltmaßstab sind sie die revolutionäre Klasse. Und sie sind es, die sich in bewaffneten Aufständen gegen den Imperialismus erhoben haben. Die antikoloniale Revolution ist daher die sozialistische Revolution unserer Zeit.

3. Bauern auf der ganzen Welt werden den bewaffneten Kampf aufnehmen und die städtischen Zentren einkreisen (genau wie in China und Kuba). Außerdem werden diese Zentren in einer ökonomischen Krise zusammenbrechen (da ihnen die Rohstoffquellen, Märkte und Arbeitskräfte entzogen wurden). Das städtische Proletariat wird sich in dieser Phase der siegreichen Revolution der kolonialen Bauern anschließen.

Die drei oben genannten Punkte, die vielleicht bis zu einem gewissen Grad vereinfacht sind, stellen dar, was wir unter der Theorie des „Dritte-Weltismus“ verstehen. Wie jede andere Orthodoxie hat sie viele Varianten, von denen jede für sich beansprucht, die einzig authentische zu sein. Auf jeden Fall bilden diese drei Punkte den gemeinsamen Nenner derjenigen, die der „Dritte-Weltismus“-Ideologie anhängen.

Der „Dritte-Weltismus“-Marxismus ignoriert die grundlegenden Annahmen der marxistischen Gesellschaftsanalyse. Nach Marx ist eine Revolution nicht nur ein Aufstand gegen das Elend. Sie ist die Legitimation eines neuen Ensembles von sozialen Beziehungen, die vor der Revolution aufgrund einer neuen Produktionstechnologie entstanden sind. Nach Marx ist es nicht die Revolution, die eine neue Gesellschaft hervorbringt, sondern ein neues Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse, das eine Revolution hervorbringt und ihr dann die Möglichkeit gibt, sich zu entwickeln. So konnten die großen Revolutionen in England (1640) und Frankreich (1789) nur die Gesellschaftsordnung legitimieren, die die Bourgeoisie jahrzehntelang hervorgebracht hatte.

Welche Art von Gesellschaft reifte in den Kolonialländern vor ihrer Unabhängigkeit heran? Das Industrieproletariat in diesen Ländern war fast nicht existent und konnte keine entscheidende Rolle spielen. Der Kampf der Kolonialvölker war in erster Linie eine Bauernrevolte. Revolutionen, die von halbmilitärischen Parteien angeführt und durch militärische Kämpfe vollendet wurden, brachten Regime hervor, die zutiefst von ihren Ursprüngen geprägt waren. Die neuen politischen Strukturen sind ein Abbild der Formen des Machtkampfes: reglementiert, autoritär, doktrinär, bürokratisch. Neue Regime dieser Art können die Millionen von Menschen, die in den modernen Industrieländern leben, nicht inspirieren. Alle Revolutionen in einem unterentwickelten Land haben die absolute Herrschaft einer politischen oder militärischen Bürokratie hervorgebracht. Selbst wenn sie von ihrer eigenen Bevölkerung toleriert werden (oft nach der Inhaftierung oder Hinrichtung jeglicher Opposition – einschließlich der Linken), können diese Regime nicht als Modell oder Ziel für die Menschen in einer modernen Industriegesellschaft dienen.

Das bedeutet nicht, dass diese Revolutionen wertlos waren. Wo Tausende von Menschen verhungern, ist man fehl am Platz, wenn man sich über den Mangel an Demokratie beschwert. Selbst wenn die chinesischen, kubanischen oder algerischen Revolutionen nichts weiter getan hätten, als das Elend in diesen Kolonialländern zu verringern, wären sie nicht nutzlos gewesen. In Wirklichkeit haben sie mehr getan, als nur hungrige Bäuche zu füllen: Sie haben das Analphabetentum beseitigt, das Privateigentum an Land abgeschafft, die Industrialisierung eingeleitet und so weiter. Aber nichts davon kann weder implizit noch explizit so verstanden werden, dass es auch nur das Geringste mit Sozialismus zu tun hätte: Die fortgeschrittenen Länder haben viel mehr als das produziert, und wir kritisieren sie immer noch gnadenlos. Beim Sozialismus geht es um eine grundlegende Veränderung der Produktionsverhältnisse: die Abschaffung des Verhältnisses von Herrschenden und Beherrschten in den Produktionskräften und in allen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens. Die Revolten in der Dritten Welt bringen keine neue Art von Gesellschaftsordnung hervor, die für die Industriegesellschaft gültig ist.

Darüber hinaus ist der Spielraum für nationale politische Autonomie, der in solchen Staaten existiert, oft sehr begrenzt. Ökonomische und militärische Hilfe, allgegenwärtige „Berater“, das Erbe besonderer politischer Strukturen und etablierter Handelsströme neigen dazu, solche Staaten in einer Situation der Abhängigkeit von ihren früheren imperialistischen Herren zu belassen: siehe die Beziehungen Algeriens zu Frankreich. Wo die Revolte tiefer ging, entstehen neue politische Strukturen und neue Handelsströme, und in der Regel findet sich das Land zunehmend unter dem Einfluss anderer Supermächte wieder. Die kubanische Unterstützung für den russischen Einmarsch in die Tschechoslowakei zeigte, wie sehr Castro davon abhängig war, dass die Russen die Zuckerernte aufkauften – der Handel mit Prinzipien steht in direktem Zusammenhang mit dem Prinzip des Handels. Selbst wenn echte „politische“ Unabhängigkeit erlangt wird, wie im Fall Chinas, werden die Prinzipien den durch den Handel vermittelten Vorteilen geopfert. 1964 sabotierte die maoistische KP Japans einen Generalstreik im Zusammenhang mit ihren Bemühungen, den chinesisch-japanischen Handel zu fördern, und zwei Jahre später wurde bekannt, dass die Chinesen die USA mit Flach- und Rundstahl belieferten, der für ihre Kriegsanstrengungen in Vietnam unerlässlich war.

Auch wenn die „ökonomische Katastrophe“ der Ballungszentren nicht eintritt – wie jeder, der mit dem Primat des internen Marktes im modernen Kapitalismus vertraut ist, leicht hätte vorhersehen können – ist es so, dass die Industrieländer weniger von den unterentwickelten Ländern abhängig sind als diese von den Industrieländern. Nicht nur, dass Kunstfasern die Baumwolle ersetzen können, sondern auch, dass die baumwollproduzierenden Länder sehr arme Märkte für z.B. Autos oder Computer darstellen. Moderne Industrieländer sind im Vergleich zu früher immer weniger von ihren ehemaligen Kolonien abhängig, sowohl was Rohstoffe als auch was Märkte betrifft. Holland hat Indonesien verloren, Belgien den Kongo, die USA wurden aus Kuba hinausgeworfen, ohne dass ihre Ökonomien zusammengebrochen wären.

Dennoch haben die Kämpfe der Kolonialvölker etwas zur revolutionären Bewegung beigetragen. Die Tatsache, dass schlecht bewaffnete Bauernvölker den enormen Kräften des modernen Imperialismus entgegentreten konnten, erschütterte den Mythos der Unbesiegbarkeit der militärischen, technologischen und wissenschaftlichen Macht des Westens. Ihr Kampf hat auch Millionen von Menschen die Brutalität und den Rassismus des Kapitalismus vor Augen geführt und viele, vor allem junge Menschen und Studenten, dazu gebracht, den Kampf gegen ihre eigenen Regime aufzunehmen. Die Unterstützung der kolonialen Völker gegen den Imperialismus bedeutet jedoch nicht die Unterstützung irgendeiner der Organisationen, die an diesem Kampf beteiligt sind.

Unsere Weigerung, politische Organisationen zu unterstützen, die nationalistische, bourgeoise oder staatskapitalistische Programme verfolgen, ist nicht nur eine Frage der Treue zu revolutionären, moralischen und ideologischen Prinzipien. Es ist auch eine Frage der politischen Solidarität. In vielen Fällen kommt es vor, dass es in großen, reichen und lauten Organisationen kleine Gruppen von Militanten gibt, revolutionäre Internationalisten, die in einem sehr scharfen Konflikt nicht nur mit dem Imperialismus, sondern auch mit ihren eigenen nationalistischen „Partnern“ stehen. In China wurden z. B. sowohl Anarchisten als auch Trotzkisten auf dem Weg der KP zum Sieg zerschlagen. Die Anwälte des „Realismus“, die ihre Unterstützung mehr nach Größe als nach Programm, nach objektiven Bedingungen als nach subjektivem Bewusstsein gewähren, verraten nicht nur ihre revolutionären Prinzipien, sondern auch diejenigen, die in den betreffenden Ländern für dieselben Prinzipien kämpfen. Es ist die Politik derer, die sich den „objektiven Bedingungen“ anpassen, anstatt die Politik derer, die es wagen, sie herauszufordern und zu verändern.


1Vgl. Ungarn, 1956 von Andy Anderson; und Ida Mett, La Commune de Cronstadt, Crépuscule sanglant des Soviets (Die Kronstädter Kommune, Blutige Dämmerung der Sowjets), Spartacus Hefte. (A.d.Ü., Ida Mett, Kommune von Kronstadt, auch auf unseren Blog veröffentlicht)

]]> Jenseits des Campismus https://panopticon.blackblogs.org/2024/06/26/jenseits-des-campismus/ Wed, 26 Jun 2024 10:54:41 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5909 Continue reading ]]>

Gefunden auf mauvais sang Nr. 8, die Übersetzung ist von uns.


Jenseits des Campismus

Während das unerträgliche Massaker im Gazastreifen durch die IDF mit Tausenden von Toten weitergeht und mit der Offensive auf Rafah derzeit eine noch abscheulichere Wendung nimmt, hat uns das aktuelle Klima im politischen Umfeld dazu veranlasst, diesen Artikel zu schreiben, um einige Beobachtungen zu wiederholen, die jedem antiautoritären Revolutionär klar sein sollten: Wie an jedem existierenden Ort auf diesem Planeten gibt es auch in Israel wie in Palästina eine Reihe von Menschen, die gegen die verschiedenen Mächte kämpfen, die sie unterdrücken.

In Israel finden seit einigen Monaten jedes Wochenende Demonstrationen statt, um einen Waffenstillstand und den Rücktritt von Benjamin Netanjahu und seiner Regierung zu fordern, die beschuldigt werden, einen sinnlosen und mörderischen Krieg im Gazastreifen fortzusetzen, um die Kontrolle zu behalten, und gleichzeitig die Freilassung der israelischen Geiseln zu verhindern, die von der Hamas festgehalten werden, weil sie die Kämpfe blindlings fortsetzen wollen.

Hatten die Massaker während des von der Hamas geführten Angriffs am 7. Oktober das Land schockiert und die Menschen an eine kurze Zeit der nationalen Einheit glauben lassen, kam es Mitte Oktober 2023 schnell zu Protesten, die den Staat aufforderten, der Freilassung der Geiseln Vorrang zu geben. Während die israelische Regierung stur den Krieg fortsetzte, der Zehntausende von Toten forderte, wurden diese abendlichen Demonstrationen immer stärker, bis Zehntausende von Menschen auf die Straße gingen. Bei der größten Demonstration seit Monaten blockierten die Demonstranten am 6. Mai die Ayalon-Autobahn und zündeten Feuer an. Einige Demonstranten griffen den Eingang des Verteidigungsministeriums an, bevor sie von der Polizei zurückgedrängt wurden.

Diese Demonstrationen erinnern an die Protestbewegung, die letztes Jahr bis September 2023 massive Streiks auslöste und mehrere hunderttausend Demonstranten gegen die Justizreform auf die Straße brachte. Sie hatte sich zum Teil auf die Anfechtung der Politik der israelischen Regierung gegenüber den Palästinensern ausgeweitet, aber auch auf den zunehmenden politischen Einfluss rechtsextremer zionistischer oder ultraorthodoxer religiöser Bewegungen. Bei einigen dieser Kundgebungen, die zu den größten in der Geschichte des Landes zählen, blockierten die Teilnehmer wiederholt wichtige Autobahnen, manchmal an mehr als 150 Orten in ganz Israel, sowie Seewege und näherten sich in einem der intensivsten Momente der Bewegung dem Wohnsitz von Netanjahu.

Heute mischen sich Gegner der Justizreform, Familien von Geiseln und Verweigerer, also junge Israelis, die den Wehrdienst verweigern und dafür ins Gefängnis müssen, auf die Straße. Die Regierung prangerte diese Demonstrationen mit der altbekannten nationalistischen Rhetorik der heiligen Vereinigung als „Geschenk“ der Israelis an die Hamas an, während die Polizei die Versammlungen brutal unterdrückte und in den letzten Wochen mehrere Dutzend Menschen festnahm. Die Polizei ging brutal gegen die Versammlungen vor und verhaftete in den letzten Wochen mehrere Dutzend Menschen, darunter auch Familienangehörige von Geiseln, vor allem wegen „Anstiftung zur Ausschreitung“.

Solidarität mit den in diesen Nächten Verhafteten und mit allen, die in Israel gegen den Staat, die polizeiliche Repression und die Militarisierung kämpfen.

Seit sie 2007 die Macht über die säkulare nationalistische Bewegung Fatah übernommen hat, versucht die Hamas, dem Gazastreifen ihre religiös-fundamentalistische Ideologie durch die Anwendung der Scharia aufzuzwingen, und unterdrückt jede Anfechtung ihrer Autorität über dieses Gebiet mit aller Härte. unter der israelischen Blockade leiden.

Das hält die Menschen im Gazastreifen jedoch nicht davon ab, sich gegen die Hamas, ihre Kontrolle über die ökonomischen Ressourcen oder ihre „Moralkomitees“ zu erheben, die die Anwendung religiöser Einschränkungen überwachen. Seit etwa zehn Jahren kommt es in der palästinensischen Enklave immer wieder zu Demonstrationen und Ausschreitungen. In den Jahren 2015 und 2017 fanden in Gaza-Stadt mehrmals Großdemonstrationen statt, um vor allem gegen die ständigen Stromausfälle zu protestieren, deren Netz und Versorgung damals teilweise von Hamas und Fatah kontrolliert wurde. ‚era. Im Jahr 2019 gingen die Menschen in Gaza auf die Straße, blockierten Straßen und setzten Reifen in Brand, um gegen die von der Hamas auf lebenswichtige Produkte erhobenen Steuern und gegen unmenschliche Lebensbedingungen zu protestieren, zwischen Armut, Arbeitslosigkeit, Mangel und Enge, dann dass die Anführer der Hamas nicht in Gaza leben und dass ihre Offiziere im Vergleich zum Rest der Bevölkerung sehr privilegierte Positionen genießen. Im Juli und August 2023 versammelten sich bei Protesten in den Städten Gaza, Rafah, Khan Younès und in den Flüchtlingslagern Jabalyah und Nusseirat Tausende von Palästinenserinnen und Palästinensern, insbesondere nach zahlreichen Aufrufen, die über den anonymen Instagram-Account „Al Sakher Virus“ oder „Mockingbird Virus“ verbreitet wurden. Die Palästinenserinnen und Palästinenser demonstrierten gegen die grausamen Lebensbedingungen, die von der israelischen Armee auferlegt wurden, aber auch gegen die lokale Macht der Hamas, deren Anhänger mit Steinen beworfen wurden und deren grüne Fahnen von den Randalierern verbrannt wurden. Die Gazanerinnen und Gazaner sangen vor allem „Das Volk will das Regime stürzen“.

Auf diese Demonstrationen haben die Hamas und ihre Polizei immer mit starker Repression reagiert, indem sie die Randalierer verprügelten und ins Gefängnis steckten, in die Luft oder auf die Menge schossen. Die Hamas hat ständig die Verbreitung von Bildern und Aufrufen in sozialen Netzwerken verhindert, obwohl uns viele Zeugnisse erreicht haben und jeden Tag geteilt werden. Seit der Machtübernahme hat sie außerdem mehrere Palästinenser zum Tode verurteilt und/oder hingerichtet und das Motiv der „Kollaboration mit Israel“ weit verbreitet. Die Hamas hat die Äußerung von Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Gazastreifens generell unterbunden und die Überwachung der Menschen im Gazastreifen verschärft. Dies geschieht durch: den Allgemeinen Sicherheitsdienst und seine Akten über jedes Individuum, das an den Demonstrationen von 2023 teilgenommen hat oder als „unmoralisch“ eingestuft wurde; ein umfangreiches Netzwerk von Informanten und die Ermutigung zur Denunziation.

Solidarität mit allen Menschen in Gaza, die nicht nur unter den wiederholten mörderischen Angriffen der IDF und der israelischen Blockade leiden, sondern auch gegen den militärischen und religiösen Autoritarismus der Hamas auf die Straße gehen.

Die Fakten, an die hier erinnert wird, zeigen, dass in Israel oder Palästina Individuen schon immer gegen diejenigen gekämpft haben und immer noch kämpfen, die versuchen, ihr Leben zu kontrollieren, egal ob es sich dabei um Soldaten und Politiker des israelischen Staates oder um Anhänger des Proto-Staates der Hamas (oder auch schon früher der Fatah) handelt. Diese Rebellen scheinen für die campistische Linke nicht zu existieren, so groß ist der Wunsch, alle in ihre jeweiligen Regierungen zu assimilieren, um ihre Ideologie aufrechtzuerhalten.

Seit dem 7. Oktober schwelgt ein Teil der Linken und der französischen und internationalen subversiven Bereiche in einem äußerst lähmenden Campismus. Während die Rechte und die extreme Rechte obszön die israelische Regierung, die Tsahal, und ihr „Recht“ auf militärische Antwort und Massaker unterstützen, reagierte die Linke unter dem Antiimperialismus, Bouteldjisten von Paroles d’Honneur bis Solidaires en durch die Trotzkisten, mit Unterstützung, „kritisch“ oder nicht, für diejenigen, die angeblich „das palästinensische Lager“ sind, in diesem Fall die Hamas, die als „palästinensischer Widerstand“ dargestellt wird. Die LFI schließlich, die sich um ihre Wahlperiode kümmert, macht sich gut, indem sie sich als die Partei präsentiert, die die Unterdrückten verteidigt, nachdem sie wiederholt zweideutige Positionen zu Bashar al-Assads Syrien oder zum Völkermord an den Uiguren durch China gezeigt hat.

Außerhalb der Fernsehgeräte folgen die studentischen Besetzungen nacheinander und einige der dort gestellten Forderungen stellen uns in Frage: Die Beendigung des Verfahrens gegen die mobilisierten Studierenden geht uns absolut nichts an, aber eine andere Forderung, die auftaucht, betrifft die Beendigung der Partnerschaften mit israelischen Universitäten, vor allem weil sie Kurse haben, die mit der israelischen Armee verbunden sind. Ziemlich witzig von Seiten der Science-Po-Studenten, von denen ein großer Teil die zukünftigen Politiker, Botschafter und Bürokraten der Ministerkabinette sind, die bald mit ihrem Staat und ihren Armeen und denen der ganzen Welt kollaborieren werden, wenn sie endlich mit dem Boykott von Dreifachkäse fertig sind. Sollte diese Forderung durchgesetzt werden, würde das darauf hinauslaufen, dass jeder akademische Austausch für Israelis, die nach Frankreich gehen wollen, verhindert wird, unabhängig davon, was diese Israelis von ihrer Regierung halten, wobei es anscheinend keine Rolle spielt, ob sie Verweigerer oder Krawallmacher sind, die seit dem letzten Frühjahr oder noch länger gegen den israelischen Staat kämpfen. Kürzlich wurde in Paris ein Aufruf gestartet, um die Absage des Besuchs israelischer Aussteller auf einer Rüstungsmesse in Paris zu fordern („Keine israelischen Waffen auf Eurosatory“). Ist der Antimilitarismus selektiv geworden, je nachdem, welches Land die neuen Militärtechnologien, die zum Töten in alle Richtungen eingesetzt werden, einsetzt, verkauft oder kauft? Gibt es jetzt gute und schlechte Raketen? Haben wir den grundlegenden Internationalismus für immer begraben?

Noch schlimmer ist, dass einige der von uns zitierten Personen unter dem Deckmantel des Antizionismus in reinster sowjetischer (oder slawischer) Tradition in Antisemitismus baden. Man könnte fast dazu kommen, bestimmte linke Äußerungen mit dieudonistischen Ausbrüchen zu verwechseln, vor allem, wenn einige, die damit die lange Tradition des linken Antisemitismus fortsetzen, diejenigen als „Zionisten“ beschuldigen, die die verwirrende oder antisemitische Rhetorik ihrer linken Idole kritisieren, die das alte Klischee von den „neuen Nazi-Juden“ oder der zionistischen Lobby, die die Welt kontrolliert, wiederholen. Oder dass andere ihre neue Form des perversen Negationismus auspacken, indem sie bekräftigen, dass der Nationalsozialismus nicht „zwangsläufig antisemitisch“ war (gesehen auf Twitter).

Wir erinnern diesen Abschaum hier daran, dass es möglich ist, Israel, seine Massaker, seine Kolonisierung im Westjordanland und seine allgemeine Politik gegenüber den Palästinensern zu kritisieren, ohne sich auf den sensationslüsternen Verweis auf die Nazis zu berufen, die eine ganz wesentliche Besonderheit hatten: Sie wollten die Juden ausrotten (was sie nicht daran hinderte, auch andere unreine und unerwünschte Menschen aus dem Dritten Reich auszurotten).

Damit erweist dieser Abschaum sowohl den Gazanern und ihren Unterstützungsinitiativen als auch dem Kampf gegen Antisemitismus einen Bärendienst.

Auf der anderen Seite des politischen Spektrums versucht die RN, eine Partei von Rassisten, die von ehemaligen Kollaborateuren und der Waffen-SS gegründet wurde, nun, alle davon zu überzeugen, dass sie eine Schutzpartei für die Juden ist, während sie gleichzeitig ihre Galle gegen nordafrikanische und arabische Einwanderer ausschüttet.

Was für eine verabscheuungswürdige Ära, die aber letztlich allen anderen ähnelt: Wie immer bringen uns sowohl die Linken als auch die Rechten zum Kotzen.

Antisemitische Handlungen haben überall stark zugenommen und angesichts der Verharmlosung, insbesondere auf der Linken, von Reden und Aktionen, die offen antisemitisch sind oder damit kokettieren, scheint es notwendiger denn je, eine Zäsur zu markieren.

Mit diesen wenigen Bemerkungen wollen wir daran erinnern, dass die Strategie, die darin besteht, Individuen mit Staaten oder Organisationen, die sie unterdrücken, zu verschmelzen, ein völliger faktischer und konzeptioneller Betrug ist, dem die Realität schon immer widersprochen hat und der gleichbedeutend damit ist, eben diesen Staaten die Absolution zu erteilen, die sich die Hände reiben, wenn sie sehen, dass ihre Reden so sauber übertragen werden.

Während es zweifellos schwierig sein muss, an etwas anderes als das Überleben zu denken, wenn man unter Bomben liegt, wie es die Menschen im Gazastreifen derzeit tun, ist es in Israel, wo die politische Macht intensive Propaganda für den Krieg und die Union Sacrée (Heilige Vereinigung) betreibt, sicher immer schwieriger, den nationalistischen Sirenen zu widerstehen, wir wissen, dass es dort immer ein Potenzial für Revolten gibt, auf beiden Seiten der Grenze. Es ist notwendig, dass Revolutionäre hier und überall in Solidarität bekräftigen, dass die Verteidigung einer Nationalflagge noch nie jemanden auf dieser Welt emanzipiert hat und dass der Kampf nicht zwischen Nationen, zwischen Religionen. , zwischen „Völkern“, sondern gegen diejenigen, die uns ausbeuten und unterdrücken, ob sie nun Soldaten, Religiöse, Demokraten oder Kapitalisten sind!

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Analyse der aktuellen Krise und Revolte in Kuba aus der radikalkommunistischen Perspektive https://panopticon.blackblogs.org/2024/03/24/analyse-der-aktuellen-krise-und-revolte-in-kuba-aus-der-radikalkommunistischen-perspektive/ Sun, 24 Mar 2024 09:31:06 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5614 Continue reading ]]>

Gefunden auf proletarios revolucionarios, die Übersetzung ist von uns. Hier ein weiterer Text, der im Kontext der Revolte in Kuba stattfand.


18. Juli 2021

Analyse der aktuellen Krise und Revolte in Kuba aus der radikalkommunistischen Perspektive

Die Tatsachen und ihre falschen Versionen von der Rechten und der Linken

Durch direkte und spontane Massenaktionen, die von Märschen und selbst einberufenen Vollversammlungen bis zum Umwerfen von Polizeiautos und Plündern von Geschäften reichen, erhebt sich das Proletariat der kubanischen Region auf den Straßen gegen Hunger und staatliche Tyrannei, d.h. gegen die miserablen materiellen Existenzbedingungen, die der Kapitalismus und seine gegenwärtige Krise auferlegt haben, genau wie das Proletariat der kolumbianischen, burmesischen, iranischen und südafrikanischen Region in diesem Jahr und wie das Proletariat der ecuadorianischen, chilenischen, haitianischen, französischen und irakischen Region, unter anderem, vor zwei Jahren.

Mit all ihren Schwächen, Beschränkungen und inneren Widersprüchen (Patriotismus, Interklassismus1, mangelnde revolutionäre Autonomie, Isolation usw.) ist die proletarische Revolte dieser Tage in der kubanischen Region ein weiteres Glied oder eine weitere Episode in der Tendenz zur Neuzusammensetzung der internationalen proletarischen Revolte, die 2018-2019 begonnen hat und durch die Pandemie und die konteraufständische Gesundheitsdiktatur oder präemptive Konterrevolution von 2020-2021 durch alle Staaten dieses Planeten „unterbrochen“ wurde.

Also von vornherein ein antikapitalistisches ABC in dieser Hinsicht: Seit Jahrhunderten sind der Kapitalismus, die Krise, das Proletariat und der Klassenkampf global. Die Unterschiede zwischen den einzelnen historischen Epochen und geografischen Regionen sind nur gradueller und formaler Natur, nicht aber in Bezug auf die grundlegenden Bedingungen, Beziehungen und Kategorien. Diese, vor allem Lohnarbeit und Kapitalakkumulation, haben sich vielmehr im Laufe der Zeit überall verbreitet und vertieft. Sowohl der „kubanische Sozialismus“ als auch die „kapitalistische Restauration in Kuba nach dem Fall der UdSSR“ waren also schon immer Mythen: In Wirklichkeit gab es in Kuba schon immer Kapitalismus und Klassenkampf, aber in einer anderen Form und in einem anderen Ausmaß, genauso wie in der ehemaligen UdSSR und überall auf der Welt. Das Einzige, was sich seit dem Zusammenbruch des Sowjetblocks bis heute wirklich geändert hat, ist die Vorherrschaft des Privatkapitals über das Staatskapital gegenüber dem Proletariat, das heute prekärer ist und ausgebeutet wird.

Die beiden Punkte, die in diesem Teil unserer Analyse folgen, sind daher die beiden Versionen der falschen Dichotomie zwischen der imperialistischen Rechten des Kapitals und der antiimperialistischen Linken des Kapitals, d.h. zwischen den beiden politischen Tentakeln desselben monströsen und gigantischen Kraken, der das weltgeschichtliche kapitalistische System ist:

Auf der einen Seite nutzen die kubanische rechte petite-bourgeoisie und der US-Imperialismus diese sich abzeichnende Konjunktion politisch und medial aus, und zwar auf der materiellen Grundlage der gegenwärtigen ökonomischen, ökologisch-gesundheitlichen und politischen Krise sowie in Ermangelung einer revolutionären historischen Situation und damit einer autonomen revolutionären Führung der aufständischen Massen selbst.

Deshalb ist ihre Version dieser Massenproteste die dominante Version oder die der dominanten Fraktion der Kapitalistenklasse in den Medien, um öffentlich zu positionieren, dass „der Sozialismus nicht funktioniert“ und dass in Kuba militärisch, politisch, technologisch und „humanitär“ interveniert werden muss, um „Demokratie, Freiheit und sozialen Frieden wiederherzustellen“, genau wie in Haiti oder Syrien.

Auf der anderen Seite konzentrieren sich die kubanische „sozialistische“ Regierung und der linke Flügel des internationalen Kapitals absichtlich nur auf ihren rechten imperialistischen Gegner, um den wirklich existierenden Kapitalismus und Klassenkampf in Kuba zu verbergen und so ihre Macht und ihr Image der Scheinrevolution und des Schein-Sozialismus/Kommunismus zu bewahren, im klassischen stalinistisch-orwellschen Stil, aber in einer lateinamerikanischen Version.

Deshalb disqualifizieren oder verleumden die Díaz-Canel-Regierung und die pro-kubanische Linke diese Massenproteste als „vom Imperialismus angeordnet und gelenkt“, „kalt kalkuliert“, „manipuliert“, „verkauft“, „mit einer interventionistischen Agenda“, „mit einem Putsch- und kolonialistischen Projekt“, „wurmartig“, „Scheißfresser“, „Söldner“, „reaktionär“, „faschistisch“, „konterrevolutionär“, usw. Was in der Tat falsch, absurd, verschwörerisch und zynisch ist.

Deshalb begegnet der kubanische Staat dieser Massenrevolte mit einer Kombination aus polizeilicher und militärischer Repression (trotz der bestehenden „Informationssperre“ oder Kommunikationsbelagerung gab es bei Redaktionsschluss bereits 5 Tote, Dutzende Verletzte und mehr als 150 Festgenommene und Verschwundene) und der Mobilisierung der noch verbliebenen ideologisierten und gefangenen gesellschaftlichen Basis sowie der Zwangsrekrutierung junger Menschen, die sich ihnen anschließen. Sie veranstalten ebenso repressive Gegenmärsche (Polizei in Rot), bei denen sie die gleichen alten patriotischen Slogans rufen und Nationalflaggen und Banner mit Bildern von Fidel Castro tragen, die an den Personenkult im stalinistischen Russland erinnern, sowie öffentliche Erklärungen zu „Antiimperialismus, nationaler Souveränität und Sozialismus“.

Aber Tatsachen sind töricht und egal, wie sehr sich die Herrschenden und ihre Handlanger auch anstrengen, der Massenhunger und die Wut lassen sich nicht verbergen.

Die konjunkturellen Ursachen und ihre Tatsachen

Zum einen ist es die aktuelle Krise der Ökonomie und der Gesundheit; Konkret ist es der durchschlagende Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 11% – der schlimmste in den letzten 3 Jahrzehnten -, in der Handelsbilanz – ein Defizit von 9 Milliarden Dollar, wenn man bedenkt, dass 80% der Konsumgüter importiert werden -, in den Devisen aus dem Tourismus – der zweiten Einkommensquelle für die kubanische Ökonomie und Bevölkerung, nach dem Export von Fachkräften oder „Humankapital“ – und der Produktion und dem Export von Zucker – aufgrund von Treibstoffmangel und Maschinenausfällen – aufgrund der Pandemie und auch aufgrund der Währungs- und Wechselkursreform, die Ende letzten Jahres von der Regierung Díaz-Canel erlassen wurde – genannt „Tarea Ordenamiento“ -, die die Krise nicht bekämpfte, sondern verschlimmerte (das Heilmittel war schlimmer als die Krankheit).

Das Ergebnis ist, dass es derzeit Arbeitslosigkeit, Mangel und Inflation gibt: Es mangelt an Arbeit, Geld, Lebensmitteln, Medikamenten und grundlegenden Dienstleistungen für die Mehrheit der Bevölkerung in Kuba (wir sagen für die Mehrheit der Bevölkerung, weil die kubanische bürokratisch-militärische Bourgeoisie und ausländische Touristen alle möglichen Privilegien genießen). Wie schon immer unter diesem Regime, aber heute mehr als gestern, mit dem erschwerenden Faktor des Wiederauflebens von Covid-19 (übrigens ein Zeichen für das Versagen des überbewerteten und mystifizierten kubanischen Gesundheitssystems) und seinen äußerst negativen Auswirkungen auf die Gesundheit, die Ökonomie und das tägliche Leben.

Noch konkreter: Im Oktober 2020 überlebten 8 von 10 Kubanern gerade so, 67% der Familien stuften ihre tägliche Nahrung als unzureichend ein, während 6 von 10 Familien nur 5 bis 10 Tage im Monat mit der libreta de abastecimiento (Bezugsbüchlein) mit Lebensmitteln versorgt waren. Nach der „Tarea Ordenamiento“ im Dezember 2020 verschlimmerte sich die Situation: Die Arbeitslosigkeit im öffentlichen Sektor stieg gleichzeitig mit der Proletarisierung und der Ausbeutungsrate („billige Arbeitskräfte“) im privaten Sektor, Dienstleistungen und Waren des Grundnahrungsmittelkorbs stiegen um 500-600% (Strom, Wasser und Medikamente wurden praktisch unbezahlbar), und sowohl die Überweisungen von Familien im Ausland als auch die einheimischen Bankeinlagen wurden vom Staat teilweise und vorübergehend „zurückgehalten“ oder „eingefroren“. Hinzu kommt, dass die Zahl der Infektionsfälle (mehr als 275.000 Menschen) und der Todesfälle (mehr als 1.800 Menschen) aufgrund des Wiederauftretens von Covid-19 auf der Insel gestiegen ist. Es ist auch gut möglich, dass die Fälle von Depressionen und Selbstmord zugenommen haben.

Mit anderen Worten: Es handelt sich um ein soziales Unwohlsein, das sich seit Jahrzehnten tagtäglich aufbaut, sich seit letztem Jahr verschlimmert hat und in diesem Jahr aus den oben genannten Gründen explodiert. Die Mehrheit der Bevölkerung des Landes ist heute hungriger, kränker und verzweifelter als je zuvor.

Deshalb gehen die enteigneten und hungrigen Kubanerinnen und Kubaner heute unter dem Ruf „Lebensmittel, Strom und Impfstoffe“ auf die Straße und protestieren in Massen, wie sie es seit Jahrzehnten nicht mehr getan haben. Man könnte also sagen, dass es sich in diesem Jahr um eine „Hungerrevolte“ handelt, genau wie die, die im Jahr 2008, dem Jahr der Nahrungsmittelkrise, überall auf der Welt ausbrach. Und das alles vor dem Hintergrund der Verwertungskrise, die die aktuelle Krise des Kapitalismus kennzeichnet.

Auf der anderen Seite ist es die politische Krise, genauer gesagt der „Mangel an demokratischen Institutionen“ oder „Volksmacht“, um soziale Forderungen zu kanalisieren und abzufedern. Dabei handelt es sich nicht um einen „Fehler beim Aufbau des Sozialismus“ oder einen „Widerspruch der Revolution“, denn in Kuba gibt es keine solche Revolution, sondern das kubanische Regime ist selbst unter dem politisch-demokratischen Gesichtspunkt der „Regierbarkeit“ und „Hegemonie“ nicht mehr legitim oder tragfähig, wenn nicht sogar durch institutionalisierte Unterdrückung und Lügen (z.B. durch die „Komitees zur Verteidigung der Revolution-CDR Comités de Defesna de la Revolución“).

Aus einer antikapitalistischen und staatsfeindlichen Perspektive ist die andere konjunkturelle Ursache – mit Elementen einer strukturellen Ursache – dieser Revolte die totalitäre Macht, die die Staatsbourgeoisie über die Mehrheit der Bevölkerung in dem karibischen Konzentrationslager oder tropischen Gulag Kuba ausübt; oder besser gesagt, die kapitalistische und bürokratisch-militärische Diktatur der kubanischen „kommunistischen“ Partei (PCC) der reichen und mächtigen Castro-Familie und der Grupo de Administración Empresarial S. A. (GAESA) anderer Militärs – Eigentümer und Anteilseigner von mehr als der Hälfte der Unternehmen, Gewinne und sogar der „Panama Papers“ dieses Landes – über das Proletariat – das zunehmend prekär, ausgebeutet, entfremdet und unterdrückt wird -, wie zu ihrer Zeit die UdSSR von Lenin und Stalin sowie Maos China (letzteres bis heute, zusammen mit Nordkorea und Venezuela).

Der offensichtliche Unterschied zwischen Kuba und Russland bzw. China besteht darin, dass Kuba Mitte des letzten Jahrhunderts zur neuen kleinen Zuckerrohrkolonie mit einem „charismatischen“ Militärführer an der Spitze jener kapitalistisch-imperialistischen Großmächte Asiens wurde, die sich als „Kommunisten“ tarnten; und dass im Gegensatz zu den letzteren, die heute immer noch Mächte, aber bereits hypermodernisiert sind, das Land in dieser Vergangenheit versteinert oder verrostet geblieben ist, aus der es dennoch sein touristisches Kapital für die europäische und nordamerikanische obere Mittelklasse sowie einen Fetisch nostalgischer emotionaler Anhänglichkeit für die ebenfalls klassengeplagte lateinamerikanische Linke des Kapitals gemacht hat, die den Mythos des „kubanischen Sozialismus“ religiös und mit aller Kraft verteidigt.

Im Gegenteil, das anonyme Proletariat der kubanischen Region hat es satt, so zu leben. Sie haben die Nase voll von so viel Elend und staatlicher Unterdrückung. Deshalb sind sie in diesen Tagen massenhaft auf die Straße gegangen und haben „Nieder mit der Diktatur“ und „Freiheit“ gerufen.

In diesem Sinne handelt es sich nicht mehr nur um eine „Hungerrevolte“, sondern auch um eine politische Revolte, bei der Klasseninstinkt und Spontaneität in Ermangelung einer revolutionären historischen und internationalen Situation leider nicht ausreichen. Das kubanische Proletariat ist auch in Bezug auf den revolutionären Kampf durch den kubanischen Staat unterentwickelt und unterdrückt worden. Aus diesem Grund wird diese Revolte von der rechten und imperialistischen Fraktion des Weltkapitals politisch und medial kapitalisiert, während sie von der linken und antiimperialistischen Fraktion des Weltkapitals selbst physisch und symbolisch unterdrückt wird.

Mit anderen Worten: Das Proletariat, das sich auf der „Insel“ auflehnt, wird buchstäblich isoliert, entwaffnet und in jeder Hinsicht angegriffen. Und wie die Geschichte des Klassenkampfes zeigt, verurteilt die Isolation jeden Aufstand – und jede Revolution – zur Niederlage.

Die strukturellen Ursachen und ihre Tatsachen

Es ist NICHT die „imperialistische Blockade“ – wie die Fanatiker des castrostalinistischen Regimes wiederholen -: Die USA sind der neunte Lieferant von Importwaren auf die Insel. Im Jahr 2019 gibt es 32 große US-Unternehmen (wie Visa, Accor, Mastercard oder Amazon), die in diesem Land investieren. Außerdem treibt Kuba mit 170 Ländern Handel und derzeit werden 40% seiner Exporte von China „unterstützt“.

Weder handelt es sich um einen nicht existierenden „degenerierten Arbeiterstaat“ noch um eine „kapitalistische Restauration“ in Kuba seit den 1990er Jahren – wie die Trotzkisten argumentieren -, weil das Kapital – verstanden als unpersönliches und fetischistisches Verhältnis von Produktion und gesellschaftlicher Reproduktion und nicht als einfaches rechtliches oder formales Eigentum an den Produktionsmitteln – nicht wiederhergestellt werden kann, wo es nie ausgerottet wurde, und weil das Einzige, was sich seither wirklich geändert hat, die Vorherrschaft des Privatkapitals über das Staatskapital gegenüber dem zunehmend prekären und ausgebeuteten Proletariat ist.

Was ist es also? Es ist die ökonomische, politische und soziale Krise des unterentwickelten kubanischen Staatskapitalismus [*], der seinerseits vom Weltmarkt abhängig ist. Es ist der Mythos des „kubanischen Sozialismus“, der in Wirklichkeit unter seinem eigenen Gewicht oder aufgrund seiner kapitalistischen Widersprüche und internen Klassenkämpfe zusammenbricht, und zwar nicht erst seit dem Fall der UdSSR, sondern bereits seit 1959 und erst recht heute im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts aufgrund der allgemeinen und multidimensionalen Krise des Weltkapitalismus, die sich konkret in der gegenwärtigen Wirtschafts- und Gesundheitskrise manifestiert und von immer häufigeren und explosiven proletarischen Protesten und Aufständen begleitet wird, die aber gleichzeitig flüchtig und ohne autonome und kraftvolle revolutionäre Führung der Massen selbst sind, da es keine revolutionäre historische Situation gibt.

Dieser historisch-strukturelle und globale Kontext einer allgemeinen kapitalistischen Katastrophe und eines nicht-revolutionären Klassenkampfes, der von ungleicher Entwicklung, Chaos, Turbulenzen und Unsicherheit geprägt ist, ist die eigentliche Erklärung für die Krisen, Proteste und Revolten der letzten Jahre in allen Ländern der Erde, von denen die aktuelle Revolte in Kuba nur eine weitere Episode ist, wenn auch mit den bereits erwähnten Besonderheiten.

Schlussfolgerungen und grundlegende Perspektiven

Angesichts des gegenwärtigen weltweiten Kontextes der ökonomischen und ökologisch-gesundheitlichen Katastrophe, der präventiven Konterrevolution und der flüchtigen Revolten ohne autonome revolutionäre Führung der Massen, die sich heute am deutlichsten in Ländern wie Kuba manifestiert, ist es sehr wahrscheinlich: dass diese proletarische Revolte gegen Hunger und staatliche Tyrannei weiterhin von der petite-bourgeoisen Rechten dieses Landes, dem US-Imperialismus und seinen internationalen Koryphäen politisch und medial kapitalisiert wird; dass die „sozialistische“ Staatsbourgeoisie sie unter dem Vorwand, sie sei „konterrevolutionär“, weiterhin verleumden und unterdrücken wird, bis sie besiegt ist, auch mit Zustimmung ihrer internationalen linken Koryphäen; und dass die ausgebeuteten und unterdrückten Massen der kubanischen Region weiterhin Hunger, Krankheit, Verzweiflung, Wut, Kampferfahrungen und Lehren aus dem Kampf ansammeln, bis es zu einem neuen Zyklus sozialer Ausbrüche des internationalen Proletariats gegen den Weltkapitalismus kommt (was laut dem IWF selbst wahrscheinlich ab 2022 der Fall sein wird).

Aber für diejenigen unter uns, die sich bemühen, die Realität ohne ideologische oder mystifizierende Scheuklappen zu sehen, hat diese spontane proletarische Revolte zumindest das Verdienst, im 21. Jahrhundert den Mythos des „kubanischen Sozialismus“ und dessen ideologische Grundlage, den Marxismus-Leninismus, zu zerstören, denn in Wirklichkeit sind sie nichts anderes als Kapitalismus bzw. „radikale“ Sozialdemokratie. Mit einem Wort: Sie sind nicht die Revolution, sie sind die Konterrevolution. Das politisch-militärisch-unternehmerische Regime der kubanischen „Kommunistischen“ Partei und ihrer Holdinggesellschaft GAESA verteidigt keine Revolution. Es verteidigt die kapitalistische Konterrevolution und ihre Diktatur über das Proletariat in dieser Region. Sie ist die linke, etatistische und antiimperialistische Fraktion des Weltkapitals in der Karibik. Diejenigen, die dieses Regime verteidigen, sind daher genauso konterrevolutionär, auch wenn sie das Gegenteil glauben und behaupten.

Um es noch deutlicher zu machen und um sich nicht den groben und böswilligen Falschdarstellungen sowohl der Rechten als auch der Linken des Kapitals auszuliefern: Die Ursache für die aktuelle Krise und den Aufstand in Kuba ist NICHT, dass „der Sozialismus nicht funktioniert“, und es ist NICHT „die imperialistische Blockade“ der USA. Angesichts so vieler Fake News und Analysen von beiden Seiten, die typisch für die falsche Links/Rechts-Dichotomie sind, ist es an der Zeit, das autonome antikapitalistische ABC in dieser Hinsicht zu betonen: Was in Kuba existiert, ist NICHT Sozialismus oder Kommunismus, es ist reiner und harter Kapitalismus; genauer gesagt, es ist ein unterentwickelter Staatskapitalismus, der in untergeordneter und abhängiger Weise am Weltmarkt teilnimmt, und der heute in der Krise ist, weil der historische und internationale Kapitalismus in der Krise ist.

Warum ist er in der Krise? Weil es keinen „Sozialismus in einem Land“ geben kann, da der Kapitalismus global ist. Weil die Verstaatlichung oder Nationalisierung von Landwirtschaft, Industrie, Handel und Banken nicht dasselbe ist wie die reale – nicht nur formale oder rechtliche – Abschaffung des Privateigentums an den Produktions-, Verteilungs- und Konsumtionsmitteln. Und vor allem, weil es im Kommunismus keine Warenproduktion, keine Lohnarbeit, keine Mehrwertschöpfung, kein Wertgesetz, keinen Markt, keinen Wettbewerb, keine Unternehmen, keine Kapitalakkumulation, kein Geld, keine sozialen Klassen, keinen Staat, kein Patriarchat, keine Mafia, keine Korruption, keine Prostitution und keine nationalen Grenzen gibt. Im Gegenteil, all diese Begriffe existieren in Kuba nicht als abstrakte Kategorien, sondern als ganz konkrete, alltägliche Realitäten. Ja, in Kuba gibt es soziale Klassen: Ausbeuter und Ausgebeutete, Unterdrücker und Unterdrückte, Ausgrenzer und Ausgegrenzte. Deshalb gibt es in Kuba einen Klassenkampf, ein unwiderlegbarer Beweis dafür sind die Proteste der proletarischen Massen aller Sektoren, Geschlechter, „Rassen“ und Generationen gegen den als „sozialistisch“ getarnten kapitalistischen Staat in diesem Land in den letzten Tagen.

Letztendlich ist das System, das in Wirklichkeit nicht mehr funktioniert, der Kapitalismus, egal in welcher Version, Form oder Verkleidung. Er überlebt jedoch inmitten seiner Zersetzung, weil es an revolutionären Bedingungen und Situationen fehlt, die nur die strukturellen Widersprüche des Kapitalismus selbst und die realen Klassenkämpfe im Prozess hervorbringen können – die materielle und spontane Massenphänomene sind, die zudem mehrere Generationen dauern – und nicht das Bewusstsein, die Ideologie, die Propaganda, der Wille und der politische Aktivismus einiger linker und ultralinker Organisationen und Personen.

Die radikale kommunistische Perspektive, die in dieser Analyse der aktuellen Situation enthalten ist, ist das Produkt nicht einiger brillanter und wahnhafter Köpfe, sondern des weltgeschichtlichen Klassenkampfes selbst und unserer konkreten Lebens- und Kampfsituation. In diesem Rahmen stehen wir staatsfeindlichen und internationalistischen Kommunistinnen und Kommunisten auf der Seite der Ausgebeuteten und Unterdrückten, die ohne Vertreter oder Vermittler und unabhängig von ihrer Nationalität um ihr Leben kämpfen, denn wir Proletarier haben kein Heimatland. In der Tat ist eine der konterrevolutionärsten Parolen, die es geben kann, die Parole „Vaterland oder Tod“, die von der derzeitigen linken kubanischen Regierung und ihren unkritischen Anhängern dort und überall automatisch wiederholt wird. Andererseits sind wir gegen alle Formen des Kapitalismus und der Staates-Nation, einschließlich des „sozialistischen Staates“, der in Wirklichkeit ein Staatskapitalismus ist, der selbst vom Weltmarkt bestimmt wird. Deshalb sind wir sowohl gegen die Rechte als auch gegen die Linke des Kapitals, denn beide sind keine Gegensätze, sondern komplementäre und sich abwechselnde Konkurrenten bei der Verwaltung des kapitalistischen Staates und der kapitalistischen Ökonomie. Im kubanischen Fall ist die Linke des Kapitals im Staat eine politisch-militärisch-unternehmerische Bürokratie, die das Proletariat ausbeutet oder ihm den Mehrwert entzieht, es überwacht und brutal unterdrückt, saftige Geschäfte mit transnationalen Konzernen macht und blutige Diktaturen in anderen Ländern sowohl links als auch rechts unterstützt hat.

Kurz gesagt, wir sind gegen den Kapitalismus, seine rechten Verteidiger und seine falschen linken Kritiker. Gleichzeitig sind wir für proletarische Autonomie, die sich in direkter Aktion und Massenselbstorganisation ausdrückt, für den revolutionären Bruch und die kommunistische Weltrevolution. Denn die Emanzipation der Arbeiter wird das Werk der Arbeiter selbst sein oder sie wird nicht sein. Weil es ohne einen Bruch mit den falschen Kritiken und falschen Alternativen zum Kapitalismus keine Revolution geben wird. Und weil die Revolution entweder marktfeindlich, staatsfeindlich und international sein wird oder sie wird nicht sein.

Deshalb sind wir im gegenwärtigen historischen und weltweiten Kontext, der immer noch konterrevolutionär ist, überall für proletarische Proteste und Revolten gegen die miserablen materiellen Existenzbedingungen unserer Klasse und gegen alle Regierungen des Kapitals, wie die derzeitige Revolte in Kuba, trotz aller Schwächen, Einschränkungen und Widersprüche. Denn die beste „Ausbildungsschule“ für das Proletariat ist der Klassenkampf selbst, und dieser wiederum ist der einzige Weg, um revolutionäre Krisen und Keime des Kommunismus und der Anarchie hervorzubringen. Wir sind vor allem für die Kämpfe, die Keime und Tendenzen der Klassenautonomie und des Bruchs mit den kapitalistischen Verhältnissen und vor allem mit ihrer eigenen Situation als ausgebeutete und unterdrückte Klasse zeigen. Diese Keime lassen sich in den Revolten der letzten Jahre erkennen. Ohne aufzuhören, ihnen gegenüber objektiv und kritisch zu sein. Mit der Perspektive, dass sich die Widersprüche und sozialen Konflikte verschärfen, dass sich das Kräfteverhältnis umkehrt, dass die globale proletarische Revolte zurückkehrt und dass sie sich selbst kritisiert und überwindet, so dass sie zu einer internationalen sozialen – nicht politischen, sozialen – Revolution wird.

Eine Revolution, in der alles, was existiert, aufbegehrt und kommuniziert wird, um der gegenwärtigen kapitalistischen Katastrophe Einhalt zu gebieten und ein lebenswertes Leben für alle Menschen überall zu schaffen, auch in der kubanischen Region. Revolution, die auf der Grundlage der Abschaffung von Lohnarbeit und Warentausch die Abschaffung der Gesellschaft der Klassen, Geschlechter, „Rassen“ und Nationalitäten herbeiführt. An ihre Stelle treten neue, vielfältige, nicht-kommodifizierte und nicht-hierarchische soziale Beziehungen zwischen frei assoziierten Individuen ohne Trennungen oder Grenzen jeglicher Art, die im Gleichgewicht mit der Natur stehen.

In der Zwischenzeit werden sich der Kapitalismus und der Klassenkampf auf dem ganzen Planeten ungleichmäßig und katastrophal weiterentwickeln, bis die Menschheit keine andere Wahl mehr hat als den Kommunismus oder die Auslöschung. Und davor wird nichts und niemand sicher sein. Das heutige Kuba ist nur eine weitere kritische Episode in diesem laufenden weltgeschichtlichen Drama.

Proletarios Cabreados (Wütende Proletarier)
Quito, Juli 2021


[*] An dieser Stelle muss klargestellt werden, dass „Staatskapitalismus“ ein Ausdruck ist, der von einigen Teilen der historischen kommunistischen Linken geprägt und verwendet wird, um den kapitalistischen Charakter der „kommunistischen Länder“ wie der UdSSR anzuprangern, die sowohl von der Rechten als auch von der Linken des Kapitals fälschlicherweise als solche bezeichnet werden, da der Kapitalismus weltweit ist und folglich der Kommunismus nur weltweit sein kann; und vor allem, weil in diesen Ländern die grundlegenden kapitalistischen Verhältnisse und Kategorien (Wert, Markt, Unternehmen, Lohnarbeit, Kapitalakkumulation, Geld, soziale Klassen, Staat, Ideologie…) nie ausgelöscht wurden, sondern blieben intakt und entwickelten sich weiter. In Wirklichkeit sind Kapital und Staat untrennbar miteinander verbunden: In dieser Gesellschaft kann der Staat nur der Staat des Kapitals sein, denn er ist die Zusammenfassung oder institutionelle Spitze der grundlegenden kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse, die ihrerseits diese Verhältnisse mit Gewalt und anderen Herrschaftsapparaten verwaltet, auch wenn er unterschiedliche Formen, Grade und Verwalter annimmt, wie in diesem Fall eine selbsternannte „kommunistische“ oder „sozialistische“ Bürokratie auf der Grundlage des Staatseigentums an den Mitteln der Warenproduktion und des Mehrwerts. Aus kommunistischer Sicht ist es daher streng genommen richtig, von Kapitalismus im engeren Sinne des Wortes zu sprechen und nicht von Staatskapitalismus. In diesem Artikel verwenden wir diesen unpräzisen Ausdruck jedoch wegen seiner oben erwähnten spezifischen historischen Aufladung sowie um die kommunistische Kritik an allen Arten von Staat zu betonen. Außerdem sind viele Leser mit diesen Begriffen und Debatten nicht vertraut.

Die gleiche zugrunde liegende Logik gilt übrigens auch für den ebenso falschen Ausdruck „Neoliberalismus“ oder „Kapitalismus der freien Marktwirtschaft“, der stattdessen von der anti-neoliberalen und neokeynesianischen Sozialdemokratie verwendet und missbraucht wird, während in Wirklichkeit „die unsichtbare Hand des Marktes“ nicht ohne „die eiserne Faust des Staates“ funktionieren kann und umgekehrt. Ein weiteres Beispiel für die falsche Links-Rechts-Dichotomie, die die kommunistische Perspektive kritisiert und aufbricht, indem sie bekräftigt, dass der Kommunismus die lebendige Gegenposition und Abschaffung/Aufhebung sowohl des Marktes als auch des Staates ist.


1A.d.Ü., klassenübergreifend

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Gefunden auf vamos hacia la vida, die Übersetzung ist von uns. Hier ein weiterer Text, der im Kontext der Revolte in Kuba stattfand.


Zuckerrohrstalinismus: Staatskapitalismus und Entwicklung in Kuba

Ursprünglich am 17.07.2021 veröffentlicht.

Am Sonntag, den 11. dieses Monats, begann eine Protestwelle in verschiedenen kubanischen Städten. Die allgemeine Verarmung, der Mangel an Impfstoffen, die ständigen Stromausfälle, die Gesundheitssituation und der Umgang der Regierung mit der Coronavirus-Pandemie gehören zu den sichtbarsten Faktoren dieser Demonstrationstage. Rechte Kreise, vor allem außerhalb der Karibikinsel, versuchen, die Unzufriedenheit zu schüren. Ein großer Teil der Linken wiederum verurteilt entweder die Massen, die auf die Straße gegangen sind, und macht sich damit die Version der Rechten zu eigen, oder sie fordert mehr oder weniger zaghaft „mehr Demokratie“ und eine stärkere Liberalisierung der Ökonomie. Aber was in Kuba passiert, ist der Welt nicht fremd. Überall entstehen soziale Revolten, denn es sind die von der kapitalistischen Gesellschaft auferlegten Lebensbedingungen, die von diesen Bewegungen angefochten werden. Und natürlich ist Kuba genauso kapitalistisch wie jede andere Region der Welt.

Der folgende Text, der ursprünglich in englischer Sprache auf der „Ritual“-Website (nicht mehr verfügbar) veröffentlicht wurde und später auch in anderen Medien nachgedruckt wurde (siehe: https://mcmxix.org/2018/07/09/sugarcane-stalinism/), befasst sich mit dem kapitalistischen Charakter des in Kuba herrschenden Regimes und demontiert die linke Mythologie, die in der Geschichte des Landes die Entwicklung einer Form des Sozialismus sehen will.

Sein Autor, der in Havanna geborene Kubaner Emanuel Santos, hat uns diese spanische Version zur Verfügung gestellt, die wir in einigen kleinen Details leicht verändert haben. Emanuels politischer Werdegang führt von einer ersten Annäherung an den Anarchismus zu einem wachsenden Interesse an Marx‘ Werk, das gerade durch die Debatte in sozialen Initiativen und anarchistischen Gruppen motiviert wurde. Später näherte er sich Positionen und Gruppen der kommunistischen Linken mit „bordiguistischer“ und „rätekommunistischeer“ Ausrichtung an. Es gibt auch eine portugiesische Version dieses Materials auf der Website „Critica Desapiedada“ (https://criticadesapiedada.com.br/2020/08/19/estalinismo-canavieiro-capitalismo-de-estado-e-desenvolvimento-em-cuba-intransigence/), der wir genau diese biografischen Elemente des Autors entnommen haben, die auf dieser Website ausführlicher dargestellt werden.

Vamos Hacia la Vida


Zuckerrohrstalinismus: Staatskapitalismus und Entwicklung in Kuba

Nationen können sich ebenso wenig wie Individuen den Imperativen der Kapitalakkumulation entziehen, ohne das Kapital zu unterdrücken.“ Grandizo Munis, Pro Zweites Kommunistisches Manifest1.

Das offizielle Narrativ über die Art der Veränderungen in der Ökonomie und der Gesellschaft im Allgemeinen, die von der kubanischen Regierung nach der sogenannten „Revolution“ von 1959 eingeführt wurden, lautet, dass die Agrarreform und die anschließende Verstaatlichung der Ökonomie – d.h. die Übertragung des Eigentums an den Produktionsmitteln von privaten Kapitalisten auf den Staat – Kuba auf den Weg zum Sozialismus gebracht haben. Diese Ansicht vertrat der französische Agrarwissenschaftler Rene Dumont, der als Berater der neu gebildeten „sozialistischen“ Regierung in Fragen der ökonomischen Entwicklung fungierte. Seitdem haben sich auch andere linke Akademiker ernsthaft mit der kubanischen Ökonomie beschäftigt. Samuel Farber sticht unter denjenigen, die sich kritisch mit der kubanischen Ökonomie auseinandergesetzt haben, als der intellektuell rigoroseste und konsequenteste heraus. Sein Buch über die kubanische Gesellschaft nach dem Triumph der Barbudos über die Batista-Diktatur ist zwar nicht unproblematisch, bietet aber einen wertvollen Einblick in das Innenleben des stalinistischen Systems in seiner kubanischen Ausprägung. Farber verteidigt die Theorie des „bürokratischen Kollektivismus“ und argumentiert, dass Kuba zwar nicht sozialistisch ist, weil die arbeitenden Massen keine wirkliche Kontrolle über die Ökonomie haben, dass es aber auch nicht als kapitalistisch bezeichnet werden kann, weil die Verstaatlichung der Produktionsmittel den Wettbewerb zwischen den Unternehmen angeblich unmöglich macht. Stattdessen argumentiert er, dass es sich in Kuba um eine qualitativ neue Klassengesellschaft handelt, die auf der autokratischen Herrschaft einer parasitären, in den Staatsapparat eingebetteten Bürokratie beruht, deren Beherrschung von Ökonomie und Gesellschaft generell jeden Versuch der Unternehmen vereitelt, ihre eigenen ökonomischen Interessen zu verfolgen2.

Obwohl seine Schlussfolgerungen grundverschieden sind, sind sich die Verfechter „sozialistischer“ und „nicht-sozialistischer, nicht-kapitalistischer“ (im Folgenden NS-NK) Theorien über Kuba und andere verstaatlichte Gesellschaften darin einig, dass die Verstaatlichung privater Unternehmen eine teilweise oder sogar absolute Negation des Kapitalismus und seiner Antriebsgesetze darstellt. Diese Auffassung, deren unglückliche Genealogie auf die „sozialistisch-staatlichen“ Ideen von Ferdinand Lassalle und seinen Anhängern in der Ersten Internationale zurückgeht, hat keine Grundlage in der von Marx und Engels ausgearbeiteten Theorie des Sozialismus. Für letztere bedeuteten Staatsmonopole nicht die Negation der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, sondern deren Verschärfung3. Sie bestanden sogar darauf, dass der Übergang zum Sozialismus zwangsläufig eine fortschreitende Schwächung oder „Auslöschung“ des Staatsapparats mit sich bringen würde. Im Folgenden wird eine kritische Analyse der oben genannten Theorien versucht, die sich auf einen methodisch marxistischen Ansatz stützt und sich offen für die Selbstemanzipation der Arbeiterinnen und Arbeiter einsetzt. Außerdem wird dargelegt, dass das „sozialistische“ Kuba in Wirklichkeit eine Gesellschaft ist, die auf Lohnarbeit und Kapitalakkumulation basiert. Die charakteristischen Merkmale dieser Gesellschaft, die wir als „Staatskapitalismus“ bezeichnen werden, sind die übermäßige Konzentration des Kapitals im Staat und die kollektive Ausübung der Kontrolle über die Produktionsmittel durch eine Staatsbourgeoisie.

Wie bei so vielen Intellektuellen der Neuen Linken ist auch bei Dumont nicht ganz klar, was er mit „Sozialismus“ meint. Wenn das Gesindel der Monthly Review, mit dem er verkehrte, ein Anhaltspunkt ist, dann können wir sicher davon ausgehen, dass der Staat in seiner Vorstellung eine zentrale Rolle spielt. Da er uns jedoch nicht einmal einen kurzen Abriss oder eine Arbeitsdefinition liefert, müssen wir seine Sichtweise anhand einiger Beobachtungen entschlüsseln, die in seinem Bericht über die Umgestaltung der kubanischen Ökonomie in Richtung des sowjetischen Modells verstreut sind. So stellt er beispielsweise die „sozialistische Planung“ der „unsichtbaren Hand des Profits“ gegenüber, die das Kapital dort verteilt, wo die Profitrate am höchsten ist. Im Gegensatz dazu sagt er, dass eine sozialistische Ökonomie das anarchische „Gesetz des Marktes“ durch den Willen des zentralen Planers ersetzen wird, obwohl er nirgends spezifiziert, was das Wirken eines solchen Gesetzes bedeutet oder wie es sich konkret in der gesellschaftlichen Produktion manifestiert4. Stattdessen langweilt Dumont seine Leser mit unaufhörlichen und ermüdenden Anekdoten, in denen er Unternehmensmanagern und staatlichen Buchhaltern vorwirft, dass sie ihre Pläne improvisiert und Produktionsziele auf der Grundlage falscher oder sogar erfundener Zahlen festgelegt haben. All das, so erklärt er, verhindert, dass eine Planwirtschaft richtig funktioniert5. Leider endete seine Untersuchung über das Scheitern der Wirtschaftsplanung in Kuba genau hier. Farber beweist ein hervorragendes Verständnis für die wahre Tiefe des Problems, indem er Ineffizienz, mechanische Pannen und Verschwendung im System als logische Folge der hierarchischen Organisation der Produktion identifiziert. So argumentiert er, dass das Fehlen einer echten Rückkopplung, die für die ökonomische Planung in jedem System unabdingbar ist, und die mittelmäßige Produktivität trotz chronischer Überbesetzung auf unzureichende oder nicht vorhandene materielle Anreize und die transparente Trennung von Produzenten und Arbeitsinstrumenten zurückzuführen sind6.

Diese Erklärung mag auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen. Schließlich sind die Arbeiterinnen und Arbeiter in den traditionellen kapitalistischen Ländern auch über die Produktionsmittel enteignet. Dennoch stehen den Unternehmensmanagern in beiden Systemen unterschiedliche Instrumente zur Verfügung, um ihre Untergebenen zu disziplinieren. Während Arbeiterinnen und Arbeiter in traditionellen kapitalistischen Ländern unter Androhung von Arbeitslosigkeit gezwungen werden können, ein bestimmtes Produktivitätsniveau aufrechtzuerhalten, sind ihre Kolleginnen und Kollegen in Kuba durch eine Bestimmung in der kubanischen Verfassung vor Langzeitarbeitslosigkeit geschützt, die Beschäftigung als ein Grundrecht der Staatsbürgerschaft festschreibt7. Infolgedessen sind die Unternehmensmanager oft gezwungen, ein gewisses Maß an Faulheit und sogar Fehlzeiten bei ihren Beschäftigten zu tolerieren, um die Produktionsquoten zu erfüllen, die ihnen von ihren Vorgesetzten in der bürokratischen Befehlskette auferlegt werden. Soweit es in Kuba eine ökonomische Planung gibt, hat sie also immer schlecht und uneinheitlich funktioniert. Tatsächlich werden die endgültigen Produktionsziele in den verschiedenen Industriezweigen und Unternehmen so häufig revidiert, dass es so etwas wie einen „Plan“ eigentlich gar nicht gibt. Diejenigen, die eine „sozialistische“ oder „NS-NK“-Perspektive vertreten, verweisen häufig auf die Beschäftigungsgarantie als unwiderlegbaren Beweis für die Nichtexistenz eines Arbeitsmarktes in Kuba. Manche argumentieren sogar, dass es in Kuba und ähnlichen Ländern keine Arbeiterklasse gibt, da die Arbeiterinnen und Arbeiter angeblich nicht die von Marx beschriebene doppelte Freiheit genießen – d.h. die „Freiheit“, ihre Arbeitskraft an einen Arbeitgeber zu verkaufen, und die „Freiheit“ aller Produktionsmittel -. Es ist unmöglich, diese Interpretation mit den Tatsachen in Einklang zu bringen. Erstens kann ein Arbeiter oder eine Arbeiterin in Kuba entlassen werden, wenn er oder sie wiederholt geringfügige Vergehen begeht oder sich an Aktivitäten beteiligt, die als subversiv gelten8. Dies ist jedoch unüblich, da ein Verstoß dieser Größenordnung in der Personalakte erscheint und zukünftige Beschäftigungsmöglichkeiten einschränkt9. Es ist auch bekannt, dass die Fluktuationsrate in staatskapitalistischen Ländern wie Kuba höher ist als in traditionellen kapitalistischen Ländern, was zeigt, dass Arbeit in Kuba gekauft und verkauft werden kann10.

Die konventionelle Weisheit der Linken behauptet, dass staatliche Planung in die unbewussten Marktkräfte eingreift, die die Produktion im Kapitalismus steuern. Der intellektuelle Erstgeborene dieser Idee ist der heterodoxe Stalinist Paul Sweezy. Obwohl sein Konzept alles andere als originell war, war Sweezy sicherlich einer der ersten, der dieses Sakrileg gegen den Marxismus systematisierte und es einem Publikum von selbsternannten „Radikalen“ und Intellektuellen in der englischsprachigen Welt präsentierte. Seine Theorie bildet einen Großteil des konzeptionellen Rahmens, der die „sozialistischen“ und „NS-NK“-Interpretationen untermauert, daher müssen wir seine Grundannahmen untersuchen. Laut Sweezy ist alles, was nötig ist, um das „Wertgesetz“ zu beseitigen – d. h. den sozialen Mechanismus, der den Austausch von Waren im Kapitalismus entsprechend der durchschnittlich für ihre Produktion benötigten Zeit regelt -, dass die staatliche Planung die Marktkräfte als wichtigstes Mittel zur Mobilisierung der Produktionsfaktoren ablöst11. Die Funktionsweise der heutigen kapitalistischen Gesellschaft reicht aus, um die Falschheit dieser These zu beweisen. Das Wertgesetz koexistiert heute mit staatlicher Planung in Form von importsubstituierender Industrialisierung, Investitionsanreizen und Subventionen für private Unternehmen, staatlicher Verwaltung von öffentlichen Versorgungsbetrieben und Großindustrien, Managementplanung (vgl. französischer Dirigismus) und Kontrolle des Geld-Kapitalflusses durch zentralisierte Banken. Die „entwicklungsorientierten“ Regierungen der Dritten Welt haben mehrere dieser Strategien angewandt, um sich Vorteile gegenüber ihren Konkurrenten auf dem Weltmarkt zu verschaffen und so die einheimischen Industrien zu stärken, bis sie in der Lage sind, international zu konkurrieren12. Der Zweck staatlicher Planung ist überall derselbe: Es geht darum, ein gewisses Maß an Regelmäßigkeit und Einheitlichkeit in die Ökonomie einzubringen, wo dies sonst nicht der Fall wäre, um das Erreichen bestimmter Ziele zu erleichtern und die Auswirkungen konjunktureller Krisen abzumildern. Die Notwendigkeit, die anämische Profitrate in den traditionellen kapitalistischen Ländern wiederherzustellen, führte zum Beispiel zu einem institutionellen Arrangement, das als „gemischte Ökonomie“ bekannt ist und bei dem der Staat mit einer Kombination aus „Zuckerbrot und Peitsche“, fiskalischen Anreizen und sogar direkten ökonomischen Interventionen die Kapitalinvestitionen und die Produktion auf die gewünschten Ziele ausrichtet. In den Vereinigten Staaten, dem Land des marktwirtschaftlichen Kapitalismus schlechthin, sind die Staatsausgaben als Prozentsatz des BIP seit 1970 auf 43 % gestiegen, während dieser Wert im gleichen Zeitraum nie unter 34 % gefallen ist, was darauf hindeutet, dass der Staat zu jeder Zeit zwischen einem Drittel und zwei Fünfteln der Ökonomie kontrolliert13. Auch wenn die US-Regierung den Unternehmen nicht vorschreibt, wie viel oder was sie produzieren sollen, so betreibt sie doch eine Form der Planung, bei der bestimmte Produktionsformen gegenüber anderen bevorzugt werden, indem sie die Gewinne aus den profitableren Wirtschaftssektoren durch Besteuerung und Defizitfinanzierung (d. h. Steuerstundungen) an die Bedürftigen umverteilt. Wir sehen also, dass die staatliche Planung die Märkte nicht zerstört, sondern zu ihrem Erhalt unerlässlich geworden ist.

Als soziales Gebilde hat das Kapital eine doppelte Existenz: eine phänomenale Existenz als eine Vielzahl unabhängiger ökonomischer Einheiten und eine essentielle Existenz als soziales Gesamtkapital, d. h. die Summe der Kapitalien in ihren dynamischen Wechselbeziehungen. Das gesamte Sozialkapital manifestiert sich ausschließlich durch seine einzelnen Fragmente. Diese Fragmente sind jedoch nur in einem relativen Sinne unabhängig voneinander und vom Gesamtsozialkapital, denn ihre Existenz setzt die Existenz beider voraus14. Stellen wir uns vor, dass das Kapital ein elektronischer Schaltkreis ist, während die einzelnen Fragmente die Knotenpunkte sind. Die Knotenpunkte sind ein integraler Bestandteil des Schaltkreises: Ohne sie gibt es keinen Schaltkreis und umgekehrt. Jeder Knotenpunkt ist Teil des gesamten Stromkreises und damit abhängig von ihm. Die einzelnen Knoten können näher oder weiter voneinander entfernt sein – oder, im Falle des Kapitals, mehr oder weniger konzentriert – aber sie können nicht außerhalb des Kreislaufs, außerhalb des Ganzen, existieren. Wendet man das gleiche Konzept auf die Lohnarbeit an, erhält man wichtige Erkenntnisse. Arbeiterinnen und Arbeiter in einer kapitalistischen Gesellschaft sind „frei“ in Bezug auf die einzelnen Kapitale, an die sie ihre Arbeitskraft verkaufen, während sie an das gesamte gesellschaftliche Kapital als dessen Zubehör gebunden sind. Tatsächlich bedeutet allein das Vorhandensein von Lohnarbeit, dass es einen Wettbewerb zwischen Unternehmen gibt, denn dies setzt ökonomische Einheiten voraus, die über genügend Autonomie verfügen, um unabhängige Entscheidungen über die Beschäftigung zu treffen15. Die Übertragung der Produktionsmittel auf eine einzige Einheit – was wir oben als „Hyper-Konzentration“ des Kapitals bezeichnet haben – hat den Wettbewerb in Kuba nicht ausgelöscht. Sie hat lediglich die juristisch-rechtliche Form des Privateigentums vom individuellen (privaten) Eigentum zum Staatseigentum verändert. Die Produktionsmittel bleiben das Klasseneigentum der Staatsbourgeoisie und das Nichteigentum der Arbeiterinnen und Arbeiter. Erklären wir es mit unserer Metapher des elektronischen Schaltkreises: Die Verstaatlichung der Unternehmen in Kuba hat die einzelnen Knotenpunkte des Schaltkreises, d. h. die Fragmente des gesamten gesellschaftlichen Kapitals, näher zusammengebracht, aber der Schaltkreis als solcher bleibt intakt. Die Gegner der Staatskapitalismustheorie und auch einige Befürworter, wie die Cliffites, behandeln Kuba und die anderen verstaatlichten Länder als eine einzige Produktionseinheit16. Die These von der „Riesenfabrik“ ist vor allem deshalb attraktiv, weil sie die Analyse dieser Gesellschaften überschaubarer macht, indem sie mehrere komplexe Phänomene zu einem einzigen Untersuchungsgegenstand verdichtet. Dabei wird von einem funktionalen Monolithismus ausgegangen, bei dem sich die einzelnen Elemente der gesellschaftlichen Gesamtheit wie Teile eines harmonischen und undifferenzierten Ganzen verhalten. Eine genauere Betrachtung unsererseits wird zeigen, dass diese Annahme völlig ungerechtfertigt ist.

Solange die gesamte gesellschaftliche Produktion funktional in eine Vielzahl von wechselseitig autonomen und konkurrierenden Unternehmen aufgespalten ist, besteht Wettbewerb. Zwei Kriterien sind nötig, um die relative organisatorische Trennung der Unternehmen nachzuweisen, und sie kann nur relativ sein. Das erste ist das Vorhandensein eines Arbeitsmarktes. Das zweite ist der Austausch von Produkten zwischen diesen Unternehmen in Form von Geld- und Handelswaren17. Es wurde bereits festgestellt, dass die Unternehmen in Kuba unabhängige Arbeitgeber von Arbeitskräften sind. Aber sie konkurrieren auch im marxistischen Sinne miteinander, d. h. sie konkurrieren als Käufer und Verkäufer von Waren miteinander. Wir wissen, dass dies der Fall ist, weil ihre Produkte gegen Geld getauscht werden, anstatt direkt angeeignet und physisch verteilt zu werden. In einem Bericht der CEPAL (Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik – eine regionale Unterabteilung der UN) über den Zustand der kubanischen Ökonomie während der Sonderperiode vor den Marktreformen Ende der 1990er Jahre heißt es: „Die Unternehmen des traditionellen Sektors verkaufen zu regulierten Preisen, werden häufig steuerlich und zolltechnisch bevorzugt behandelt und kaufen einen Großteil ihrer Vorleistungen mit Subventionen ein, um die Defizite zu decken, die durch den Verkauf zu subventionierten Preisen entstehen“. Weiter heißt es in dem Bericht: „Der Hersteller handelbarer Güter agiert auf internationalen oder nationalen Märkten und ist nicht verpflichtet, Vorleistungen auf dem heimischen Markt zu kaufen.“18 Mit anderen Worten, kubanische Unternehmen produzieren Waren, die sie dann auf inländischen und/oder ausländischen Märkten verkaufen; sie kaufen Rohstoffe sowie Zwischen- oder Halbfertigwaren untereinander und von ausländischen Unternehmen; und schließlich sind ihre Transaktionen, ob schriftlich oder in bar, Tauschgeschäfte, bei denen Geld als Wertmaßstab und Zirkulationsmittel fungiert. Man könnte argumentieren, dass diese Transaktionen reine Formalitäten sind, weil der Staat die Produktionsmittel besitzt. Eine andere Möglichkeit, diese These zu bekräftigen, wäre, dass der Prozess, den wir gerade beschrieben haben, zwar die Form eines Warentauschs hat, aber inhaltlich anders ist, weil der rechtliche Rahmen des Staatseigentums die Unternehmen in Kuba daran hindert, sich autonom zu verhalten. Das wirft jedoch die Frage auf, warum die Produkte menschlicher Arbeit überhaupt gegen Geld getauscht werden müssen bzw. den Anschein erwecken, dass sie getauscht werden. Die Antwort ist natürlich, dass der Staat von der Rentabilität der gesamten Ökonomie abhängt und damit die Unternehmen dazu zwingt, für ihre eigenen Finanzen verantwortlich zu sein, was sie zu unabhängigen Einheiten mit konkurrierenden ökonomischen Interessen macht. Die Befürworter der „sozialistischen“ und „NS-NK“-Theorien bestreiten auch, dass es in Kuba Wettbewerb gibt, weil der Staat unrentable Unternehmen zulässt. Es ist zwar üblich, dass Staaten einheimische Unternehmen – sogar ganze Branchen – unterstützen, indem sie deren Verluste übernehmen, aber nichts an dieser Regelung ist unvereinbar mit der Existenz von Wettbewerb und Warenaustausch. Die idealisierte Version des Kapitalismus als rein freier Markt mit nur den geringsten Eingriffen des Staates, die diese Menschen als Vergleichsmaßstab heranziehen, gibt es nur in Büchern. Sie widerspricht auch den Erfahrungen, die der Kapitalismus in den letzten anderthalb Jahrhunderten gemacht hat und die voll von Beispielen für staatliche Eingriffe in das „normale“ Funktionieren der Märkte sind. Das Ungewöhnlichste an der Art von Kapitalismus, die sich in Kuba etabliert hat, ist, dass alle Gewinne und Verluste an den Staat zurückfließen, der den Restbetrag unter den verschiedenen Branchen umverteilt. Auf diese Weise werden viele nicht lebensfähige Sektoren und Unternehmen künstlich am Leben erhalten. Allerdings können die zentralen Planer die Insolvenz nur bis zu einem gewissen Punkt tolerieren. Sie haben keinen Freibrief, Geld nach Belieben umzuverteilen, zumindest nicht unbegrenzt, da dies die Gesamtmenge des für die Kapitalbildung verfügbaren Geldes verringern und Kubas Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt untergraben würde. Das Gleiche könnte man über die Rohstoffpreise in Kuba sagen, denn sie müssen die Weltmarktpreise für Rohstoffe widerspiegeln, sonst kosten sie den kubanischen Staat Geld, wenn sie sich zu weit oder zu lange entfernen. Kurz gesagt, dieselben Mechanismen, die in den traditionellen kapitalistischen Ländern Arbeit und Kapital entsprechend den Erfordernissen der Verwertung mobilisieren, treten auch im Staatskapitalismus in Erscheinung, wenn auch in einer sehr verzerrten Form. Anstatt diese Mechanismen ganz abzuschaffen, zwingt der globale Wettbewerb den Staat dazu, eigene Mechanismen einzuführen, um bewusst (und weniger effizient) zu versuchen, das zu tun, was der Markt unbewusst tut19.

Die Kapitalakkumulation bzw. die erweiterte Reproduktion der Produktionsmittel ist das einzige Ziel der Produktion im Kapitalismus. Das liegt daran, dass, wie Marx erklärte, „die Entwicklung der kapitalistischen Produktion die ständige Vermehrung des in einem Industrieunternehmen angelegten Kapitals zu einem Gesetz der Notwendigkeit macht … sie zwingt [den Kapitalisten], sein Kapital ständig zu vermehren, um es zu erhalten, und er hat kein anderes Mittel, es zu vermehren, als die fortschreitende Akkumulation“20. Im Kapital gab Marx die Formel für die kapitalistische Reproduktion an: c + v + m, wobei c für das konstante Kapital oder Sachkapital, v für das variable Kapital oder den Lohn und m für den Mehrwert oder den Profit steht21. Die Masse des Mehrwerts lässt sich in zwei Teile aufteilen, von denen einer für den kapitalistischen Konsum und der andere für die Akkumulation bestimmt ist. Bezeichnen wir sie als k (kapitalistischer Konsumfonds) und a (Akkumulationsfonds), so dass die Masse des Mehrwerts M = k + a ist. Im Kapitalismus hängt das Wachstum von c direkt von der Menge von a ab, während v nicht zunimmt, außer in dem Maße, in dem es notwendig wird, zusätzliche Arbeitskräfte zu beschäftigen, um die erweiterte Kapitalmasse c in Betrieb zu nehmen. Im Gegensatz dazu würde in einer sozialistischen Gesellschaft das Wachstum von c ausschließlich von den Bedürfnissen von v, dem Reproduktionsbedarf der Bevölkerung, abhängen, während M und seine Bestandteile k und a denjenigen, die sie benötigen, in Form zusätzlicher konsumfähiger Produkte zur Verfügung stehen würden22. In Kuba, wie auch in allen anderen staatskapitalistischen Ländern, hängt jede Erhöhung des Arbeitsfonds, der die gesamte Arbeiterklasse unterstützt, v, direkt von der Vergrößerung von c, der Masse der Produktionsmittel, und des Akkumulationsfonds, a, ab, der sein Wachstum speist23. Die Nationalisierung von Industrien beseitigt nicht das Kapital und seine Akkumulation. Vielmehr beschleunigt sie die dem Prozess der Kapitalakkumulation bereits innewohnenden Tendenzen: 1) die Konzentration des Kapitals, die Marx als „Enteignung einiger Kapitalisten durch andere“ bezeichnete, und 2) die „Vergesellschaftung“ der Produktion, d. h. die Tendenz, dass die verschiedenen Industriezweige voneinander abhängig werden24. Beide dienen dazu, die Produktivität der Arbeit – also die Rate, mit der der Mehrwert aus der Arbeiterklasse herausgezogen wird – zu erhöhen, indem die organische Zusammensetzung des Kapitals (Verhältnis von c zu v) gesteigert wird. Die Nationalisierung von Industrien erreicht dies durch die Konzentration von Kapital in größeren und effizienteren Unternehmen aufgrund von Skaleneffekten, eine Dynamik, die die Produktionskosten pro Einheit senkt, wenn die industrielle Produktion expandiert. Andererseits harmonisiert die Vergesellschaftung der Produktion die verschiedenen Industriezweige und minimiert „Engpässe“, d.h. Ungleichgewichte in der Produktion entlang der einzelnen „Glieder“ der Produktionskette. Kurz gesagt, das Ziel der Produktion in Kuba bleibt die Kapitalakkumulation durch Profit. Das gesetzliche Monopol, das der kubanische Staat über die Arbeitsinstrumente ausübt, hat die gesellschaftliche Organisation der Produktion in keiner Weise verändert, denn „das Recht kann niemals über der ökonomischen Struktur der Gesellschaft stehen“25.

Die Anführer der Regierung, die 1959 an die Macht kam, waren zumindest anfangs optimistisch, dass Kuba in der Lage sein würde, sich von seiner Abhängigkeit vom Zucker zu befreien und seine Ökonomie zu diversifizieren. Sie stellten Marx auf den Kopf und argumentierten, dass es für den Aufbau des Sozialismus notwendig sei, die ökonomische Basis Kubas zu entwickeln, d.h. das Kapital schneller zu akkumulieren, indem man die Arbeiterinnen und Arbeiter einer verstärkten Ausbeutung aussetzt. Die US-Wirtschaftsblockade gegen Kuba führte zu einem Mangel an grundlegenden Konsumgütern und Ersatzteilen für bestehende Maschinen, die größtenteils aus den Vereinigten Staaten kamen. Da es keine alternative Quelle für Ersatzteile gab, wandte sich die neue Regierung an die andere imperialistische Großmacht, die Sowjetunion, und bat um ökonomische Unterstützung, die auch sofort gewährt wurde. Die Russen schickten Maschinen nach Kuba, aber die Industrialisierung stieß bald auf einige technische Probleme: Die „Zwischentechnologie“, die in der UdSSR und ihren Satellitestaaten produziert wurde, war schwerfällig und ineffizient und mit einem Großteil der bereits auf der Insel vorhandenen Ausrüstung nicht kompatibel. Kuba musste modernere Maschinen aus Westeuropa oder Japan importieren. Diese konnten jedoch nur mit Dollar gekauft werden, und der schnellste und zuverlässigste Weg, an Dollar zu kommen, war der Export von Zucker. Außerdem musste Kuba, obwohl es von den Russen viel Hilfe erhalten hatte, immer noch die enormen Importrechnungen bezahlen, die sich angehäuft hatten. Auch das konnte es nur durch den Verkauf von Zucker tun26. Der gleiche Prozess, der den kubanischen Staat in den Jahren zuvor dazu brachte, sich sozusagen auf die Zuckerproduktion als Haupteinnahmequelle festzulegen, gipfelte Ende der 1960er Jahre in dem Bestreben, zehn Millionen Tonnen Zucker zu ernten. Die Russen boten Kuba einen garantierten Markt für seine gesamte Zuckerproduktion, so wie es die Vereinigten Staaten bis 1960 (dem Jahr, in dem die Wirtschaftsblockade in Kraft trat) im Rahmen des Gegenseitigkeitsvertrags von 1902 getan hatten27. Da Kuba eine Einzelexportwirtschaft ist, war es schon immer auf einen imperialistischen Sponsor mit einem viel größeren Inlandsmarkt angewiesen, um seine Produktion aufzunehmen. Vor 1960 hatten die Amerikaner diese Rolle übernommen, und nun war die Sowjetunion an der Reihe. In beiden Fällen war der politische Preis, den Kuba zu zahlen hatte, sehr hoch. Die Amerikaner verlangten einen Marinestützpunkt auf souveränem kubanischem Territorium und das Recht, militärisch einzugreifen, um ihre ökonomischen Interessen zu verteidigen, während die Russen verlangten, dass Kuba in verschiedenen bewaffneten Konflikten auf der ganzen Welt als ihr Spielball dient. 1966 handelte Kuba ein lukratives Handelsabkommen mit der Sowjetunion aus, um ihr in den Jahren 1968-69 fünf Millionen Tonnen Zucker zu überhöhten Preisen zu verkaufen, aber die Gesamtproduktion blieb hinter der Quote zurück und betrug im Durchschnitt nur 3,7 Millionen Tonnen in jedem Jahr. Trotz dieses Misserfolgs waren die neuen Machthaber entschlossen, Kuba in eine Industriemacht zu verwandeln, und setzten sich ein noch ehrgeizigeres Ziel, das als Allheilmittel für die ökonomischen Probleme des Landes gedacht war: Kuba sollte den Gesetzen der Natur und der Ökonomie trotzen, indem es seine Produktion innerhalb eines einzigen Jahres verdreifachte und eine Zuckerernte von zehn Millionen Tonnen erzielte. Die Russen würden die 5 Millionen Tonnen zu dem Preis kaufen, der in ihrem Handelsabkommen mit Kuba festgelegt ist, und weitere 2 Millionen Tonnen würden auf dem Weltmarkt zum Durchschnittspreis verkauft, während die restlichen 3 Millionen Tonnen auf dem heimischen Markt an Verbraucher und Unternehmen verkauft würden. Der kubanische Staat, der zum großen Teil von der Partei und ihren gewerkschaftlichen/syndikalistischen Anhängseln unterstützt wurde, startete eine militärisch anmutende Kampagne, um das ganze Land zu mobilisieren, damit das Produktionsziel erreicht wird. Die Bemühungen waren letztlich erfolglos, und die Desorganisation, die die Kampagne in den anderen Wirtschaftszweigen verursachte, hatte dauerhafte Auswirkungen, von denen sich Kuba, so kann man behaupten, noch immer nicht erholt hat. Letztendlich wurden alle Pläne, Kuba im Eiltempo zu industrialisieren, wie es Stalin mit Russland in den ersten beiden Fünfjahresplänen getan hatte, durch die ökonomischen Realitäten der Zeit nach dem Putsch von 1959 sabotiert. Kuba hörte damit auf, die Zuckerkolonnie der Nordamerikaner zu sein, um zum Vasall der Sowjetunion zu werden28.

Die Agrarreformen wurden als das Herzstück des „sozialistischen“ Projekts in Kuba angepriesen. In Wirklichkeit dienten sie jedoch als eine Form der primitiven kapitalistischen Akkumulation und verwandelten die Bauernschaft in eine Klasse von landwirtschaftlichen Lohnarbeitern. Die Parallelen zwischen diesem Prozess und der angeblichen „primitiven sozialistischen Akkumulation“ in Stalins Russland, die zu dem Unsinn der „sozialistischen Marktproduktion“ führen sollte, sind bemerkenswert. Die staatlichen Farmen, die in Kuba durch die Zusammenlegung von Bauernland oder durch die Aufteilung von Großgrundbesitz entstanden sind, arbeiten heute als kommerzielle Farmen. Die Arbeiterinnen und Arbeiter dieser verherrlichten kapitalistischen Unternehmen, die zynisch als „Volksfarmen“ (Granjas del pueblo) bezeichnet werden, erhalten einen winzigen Bruchteil des Gesamtertrags der Ernte, v, der kaum zum Überleben reicht, während der kapitalistische Staat die überschüssigen Produkte, pl, auf den nationalen Märkten verkauft und so seinen Gewinn macht29. Die von oben nach unten verlaufende Verwaltungsstruktur dieser Unternehmen, die auf verstaatlichten Eigentumsverhältnissen beruht, und die fehlende Kontrolle über die Verteilung des entstehenden Produkts werden vom Staat als großer Hemmschuh für die Produktivität angesehen, obwohl es gar nicht anders sein könnte30. Jedes Maß an echter Kontrolle über die Ökonomie, das von den Direktproduzenten ausgeübt wird, bedroht nicht nur das Tempo der Kapitalakkumulation, sondern auch die funktionale Integrität des kubanischen politischen Systems, das auf einem überwältigenden Militarismus beruht und daher nicht toleriert werden kann. Private Bauern und Bäuerinnen sind als Kleinproduzenten und -produzentinnen mit Nießbrauchsrechten (aber nicht Eigentumsrechten) an den Böden in den Nexus der Mehrwertproduktion eingebunden. In der Praxis können sie jedoch nicht frei über das Produkt ihrer Arbeit verfügen, sondern müssen es über die staatlichen Sammelstellen zu festen Preisen an den Staat verkaufen, was einer Akkordarbeit gleichkommt31. So ungewöhnlich es auch erscheinen mag, ihre Situation ist typisch für die der kubanischen Arbeiterinnen und Arbeiter: Sie sind einer rücksichtslosen Ausbeutung ausgesetzt, die keine Grenzen kennt, nicht einmal die der menschlichen Physiologie; sie werden von einer allgegenwärtigen Staatsmaschinerie völlig ruhiggestellt und jeglicher Autonomie beraubt; sie werden ständig von der Polizei, den CDRs (Komitees zur Verteidigung der Revolution – Comités de Defensa de la Revolución) und am Arbeitsplatz von den Gewerkschaften/Syndikate überwacht, die auch eine organisatorische Rolle im kubanischen Staatskapitalismus spielen; sie haben kein Recht, sich zu organisieren oder zu sprechen; sie sind den Launen der Staatsbourgeoisie ausgeliefert usw. In keinem anderen Land wird die Arbeiterklasse so dominiert wie in Kuba, was die kubanische Regierung unmissverständlich als Hauptattraktion für ihre potenziellen Joint-Venture-Partner bewirbt. In einer Studie des Brookings-Instituts, einer kapitalistischen Denkfabrik, wurde festgestellt, dass „die kubanische Konföderation der Kubanischen Arbeiter (Confederación de Trabajadores Cubanos) und die Kommunistische Partei zwar in den Unternehmen verankert sind, diese Organisationen aber in der Regel mit den Produktionszielen des Unternehmens und der angeschlossenen staatlichen Stellen übereinstimmen“, so dass „die Unternehmensleitung keine Angst vor militanten Streiks oder Arbeitsniederlegungen haben muss“32. Der zutiefst reaktionäre Charakter der Gewerkschaften/Syndikate ergibt sich aus der Rolle, die sie im Kapitalismus als Regulierungsinstanz für den Kauf und Verkauf von Arbeitskraft spielen. Sie haben ein Interesse an der Aufrechterhaltung des Lohnarbeitssystems, weil ihre Existenz davon abhängt. Das hat dazu geführt, dass sie als Hilfsorgane in den kapitalistischen Staat integriert wurden, ein Prozess, der in staatskapitalistischen Ländern wie Kuba seinen höchsten Ausdruck findet33. Aber anders als in anderen kapitalistischen Ländern geben die kubanischen Gewerkschaften/Syndikate nicht einmal vor, Arbeiterinnen und Arbeiter zu vertreten oder in ihrem Namen mit den Arbeitgebern zu verhandeln. Sie sind ganz offensichtlich staatliche Organe, die die Aufgabe haben, Arbeitsdisziplin durchzusetzen und die Produktion zu steigern34.

Alle Maßnahmen, die die kubanische Regierung seit 1959 ergriffen hat und die von der Staatsbourgeoisie und ihren internen und externen Unterstützern als konkrete Beweise für ihren „revolutionären“ und „arbeiterfreundlichen“ Charakter angeführt werden, hatten Hintergedanken und wurden mit dem Ziel durchgeführt, den Kapitalismus auf der Insel zu stärken. Das vielleicht beste Beispiel, das diesen Punkt am besten veranschaulicht, ist die erfolgreiche Kampagne der kubanischen Regierung zur Ausrottung des Analphabetismus. Dies ist eines der bleibenden Vermächtnisse des kubanischen Staatskapitalismus und etwas, auf das die Regierung immer wieder zurückgegriffen hat, um ihre Existenz aus moralischer Sicht zu rechtfertigen. Kuba, so heißt es, war ein rückständiges Land mit einer unterentwickelten Ökonomie, das in einer parasitären Beziehung zu seinem nördlichen Nachbarn gefangen war, aber die Revolution hat ihm seine Unabhängigkeit gegeben und es zum Neid von ganz Lateinamerika gemacht. Was diese Leute nicht sehen oder nicht sehen wollen, ist, dass alle Errungenschaften der sogenannten „Revolution“ kategorisch kapitalistische Maßnahmen waren. Ihr Ziel war es nie, den Lebensstandard der kubanischen Arbeiterinnen und Arbeiter zu verbessern, sondern das kubanische Nationalkapital zu vermehren und so eine höhere Ausbeutungsrate (pl zu v-Verhältnis) durch bessere Nutzung der bereits vorhandenen Technologie zu erreichen. Als sich die Beziehungen zu den USA verschlechterten, beschloss Kuba, sich mit der Sowjetunion zu verbünden, und dem Land gingen in der Folge die qualifizierten Arbeitskräfte aus, die es für die Entwicklung seiner Ökonomie benötigt hätte. Die großzügigen Maschinen- und Rohstofflieferungen aus der Sowjetunion stapelten sich auf den Docks, da Kuba weder über das Personal verfügte, um sie zu bedienen, noch über Gebäude, in denen sie gelagert werden konnten35. Um sich zu industrialisieren und damit im globalen Wettbewerb zu bestehen, musste Kuba seine ungebildete Landbevölkerung in Arbeitskräfte verwandeln, die in der Lage waren, einen Mehrwert für den Staat zu erschaffen. Kuba stieß bei seinem Versuch, sich zu industrialisieren, auf unüberwindbare Hindernisse, aber als Restprodukt dieses gescheiterten Prozesses blieben hochqualifizierte Arbeitskräfte übrig. In den letzten Jahren ist der Export von Humankapital zur Haupteinnahmequelle geworden – anstelle der Zuckerproduktion, die nach dem Fall der Sowjetunion wegen des Verlusts eines garantierten Marktes zusammenbrach -, während Tourismus und Überweisungen aus dem Ausland an zweiter bzw. dritter Stelle stehen. Brasilien zahlt dem kubanischen Staat zum Beispiel 4.000 US-Dollar pro Monat für jeden Arzt, der auf eine „internationalistische Mission“ geschickt wird. Diese Ärzte verdienen im Durchschnitt 400 USD pro Monat36. Die Differenz wird von der Regierung als Mehrwert angeeignet, um Militärausgaben und den Luxuskonsum der Staatsbourgeoisie zu finanzieren, oder sie wird in lukrative kommerzielle Projekte reinvestiert, viele davon in Zusammenarbeit mit ausländischen Kapitalisten. Selbst das „sozialistische“ Gesundheitssystem, das von vielen als seine größte Errungenschaft angesehen wird, dient den Akkumulationsbedürfnissen des kubanischen Kapitals. Für das Kapital ist ein staatliches Gesundheitssystem einem privaten oder Mehrzahlersystem, wie es in den USA existiert, vorzuziehen, weil es der gesamten Kapitalistenklasse ermöglicht, das Geld zur Deckung der Kosten für die Reproduktion der Arbeitskräfte, zu denen auch die Gesundheitsfürsorge gehört, zusammenzulegen, anstatt sie einzeln tragen zu müssen. Da die Arbeiterinnen und Arbeiter dadurch häufiger zum Arzt gehen können und außerdem Zugang zu Präventivmaßnahmen haben, werden auch diese Kosten langfristig gesenkt, ganz zu schweigen von den Arbeitsstunden, die durch Krankheit verloren gehen37. Kurz gesagt, es geht darum, den Arbeiter oder die Arbeiterin nach den Anforderungen der erweiterten Reproduktion zu formen und die Kosten für seine oder ihre Bedürfnisse zu minimieren, um noch mehr Mehrwert zu erzeugen.

Die kapitalistische Ökonomie, ob privat oder staatlich, verlangt ein endloses ökonomisches Wachstum, das jedoch nur durch eine Erhöhung der Ausbeutungsrate oder eine Verringerung des Konsums der Arbeiterklasse erreicht werden kann. Die Staatsbourgeoisie in Kuba hat mit beiden Strategien experimentiert, mit katastrophalen Ergebnissen für die Arbeiterinnen und Arbeiter, deren Lebensstandard in den letzten sechs Jahrzehnten absolut dezimiert wurde. Rechte Dissidenten und linke Aktivisten, sowohl auf der Insel als auch im Ausland, haben ihre Lösungen vorgeschlagen, von denen einige diskussionswürdiger sind als andere, aber alle unter demselben Makel leiden: Sie stellen die Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft in keiner Weise in Frage. Der allgemeine Konsens auf der Rechten ist, dass der Befehlsapparat zugunsten eines Freihandelssystems abgebaut und staatliches Eigentum an private Unternehmen oder Einzelpersonen versteigert werden sollte. Weit weniger Einigkeit herrscht jedoch darüber, wie schnell die Entstaatlichung vorangetrieben werden soll (die Erfahrungen Russlands und der ehemaligen Sowjetblockländer sollen als Warnung vor den Gefahren einer „rücksichtslosen Privatisierung“ dienen) und welche Sozialprogramme von der Guillotine verschont bleiben sollen. Die Vorschläge der Linken reichen von der „Selbstverwaltung“ nach jugoslawischem Vorbild, bei der von Arbeiterinnen und Arbeitern geführte Unternehmen in einer Marktwirtschaft konkurrieren, bis hin zum „demokratisierten“ Staatskapitalismus38. Tatsächlich ist einer der häufigsten Kritikpunkte der Linken am Castro-Stalinismus, dass er ungerechterweise alle außer einer Handvoll Menschen von der Entscheidungsfindung ausschließt. Mit anderen Worten: Er ist autoritär und undemokratisch. Diese Kritik verwechselt jedoch die Symptome mit der Krankheit. Der starre und hierarchische Charakter der kubanischen Ökonomie ist eine Nebenwirkung des verstaatlichten Eigentums. Die Umwandlung in individuelles Privateigentum oder die Dezentralisierung mit legalistischen Mitteln würde nichts an ihrem Inhalt ändern. Das Einzige, was sich in diesem Fall ändern würde, wäre die spezifische institutionelle Form des Kapitalismus. In Wirklichkeit laufen alle vorgeschlagenen Lösungen auf kaum mehr als oberflächliche Modifikationen des derzeitigen Systems hinaus, während seine wesentlichen Säulen – Lohnarbeit und Kapitalakkumulation – fest an ihrem Platz bleiben. Es ist bezeichnend, dass alle Faktoren, die als Gründe für solche Veränderungen angeführt werden – z. B. die Verbesserung der Qualität der Rückkopplung, die Beseitigung von Verschwendung, die Steigerung der Produktivität, die Rationalisierung von Unternehmen usw. – auf den strukturellen Zwang zur Vermehrung des nationalen Kapitals zurückzuführen sind. Letztendlich stellt der Links-Rechts-Dualismus nichts anderes als verschiedene Alternativen für die Verwaltung des Kapitalismus dar. Die Arbeiterklasse muss dieses Paradigma in seiner Gesamtheit ablehnen und die sofortige Abschaffung der Lohnarbeit und des Warenaustauschs auf die Tagesordnung setzen, zunächst auf nationaler, dann auf internationaler Ebene. Dazu müssen sich die Ausgebeuteten in Kuba und in allen anderen Ländern als Klasse organisieren, um den kapitalistischen Staat zu stürzen und dieser Repressionsmaschine ein für alle Mal ein Ende zu setzen. Gleichzeitig müssen sie ihre eigene Machtstruktur aufbauen, die auf Arbeiterräten basiert: Gremien aus demokratisch gewählten und jederzeit widerrufbaren Delegierten. Diese Gremien werden für die Enteignung des Kapitals, die ökonomische Planung und die Überwachung der Ausdehnung des „vergesellschafteten“ Wirtschaftssektors – d. h. des Sektors, der ausschließlich für den Gebrauch produziert – auf alle produktiven Tätigkeiten zuständig sein. Das sind die Aufgaben, die vor uns liegen, und in Kuba, wie auch anderswo, kann nur die Arbeiterklasse sie erfüllen. Die Abschaffung des kapitalistischen Systems, in welcher Form auch immer, ist die unabdingbare Voraussetzung für die vollständige Emanzipation der Menschheit und ihre Wiedergeburt als echte Gemeinschaft.

Emanuel Santos


1Grandizo Munis, “Pro Segundo Manifiesto Comunista”, en Teoría y Práctica de la Lucha de Clases, P. 13.

2Samuel Farber (2011) Cuba Since the Revolution of 1959. Chicago: Haymarket. P. 18-19.

3Federico Engels (2009) Socialism: Scientific and Utopian. New York City: Cosimo Inc. P. 67.

4Rene Dumont (1970) Cuba: Socialism and Development. New York City: Grove Press. P. 110.

5Ibid., P. 111-113.

6Farber, op. cit., P. 55-56.

7Constitución de la República de Cuba. Capítulo VII – Derechos, Deberes y Garantías Fundamentales, artículo 45.

8Código de Trabajo de Cuba, Capítulo VI – Disciplina Laboral, sección III, artículos 158-159.

9Ibid., Capítulo II – Contrato de Trabajo, sección XII, artículo 61.

10Nancy A. Quiñones Chang, “Cuba’s Insertion in the International Economy Since 1990”, en (2013) Cuban Economists on the Cuban Economy. Gainesville: University Press of Florida. P. 91.

11Paul Sweezy (1942) The Theory of Capitalist Development. New York City: Monthly Review Press, 1942. P. 52-54.

12Ha-Joon Chang (2008) Bad Samaritans: The Myth of Free Trade and the Secret History of Capitalism. New York City: Bloomsbury Press. P. 14-15.

13OECD, General Government Spending: Total, % of GDP, 1970-2014.

14Karl Marx (1990) Capital, vol. 2. London: Penguin Classics. P. 427.

15Paresh Chattopadhyay (1994) The Marxian Concept of Capital and the Soviet Experience. Westport: Praeger Publishers. P. 18-20.

16Peter Binns & Mike Gonzales, “Cuba, Castro and Socialism”, en “International Socialism” 2:8 (Spring 1980).

17Chattopadhyay, op. cit., P. 54-55.

18CEPAL (2000) La Economía Cubana: Reformas Estructurales y Desempeño en los Noventa, 2nd ed. Mexico City: Economic Culture Fund. P. 205-206.

19Adam Buick and John Crump (1986) State Capitalism: The Wages System under New Management. New York City: St. Martin’s Press. P. 80-93.

20Karl Marx (1990) Capital, vol. 1. London: Penguin Classics. P. 739.

21Zur Klarstellung: Mehrwert und Profit sind nicht dasselbe. Letzterer leitet sich jedoch vom Mehrwert ab, und für den Zweck unserer Untersuchung haben sie dieselbe Funktion. Daher können wir von ihnen sprechen, als wären sie austauschbar.

22Grandizo Munis, “Partido-Estado, Stalinismo, Revolución” en Revolución y Contrarrevolución en Rusia, P. 78-80.

23Dies soll nur zur Veranschaulichung dienen, denn das Wertgesetz wird im Sozialismus nicht funktionieren und der Tauschwert wird überhaupt nicht existieren.

24Karl Marx, ibid., P. 929-30.

25Karl Marx (2008) Critique of the Gotha Program. Rockville: Wildside Press. P. 26.

26Richard Gott (2005) Cuba: A New History. New Haven: Yale University Press. P. 186-188.

27United States Tariff Commission (1929) The Effects of the Cuban Reciprocity Treaty of 1902. Washington: US Govt. Printing Office. P. 66-67.

28Gott, op. cit., P. 240-243.

29Diese wurden nach der Umstrukturierung des Produktivkapitals im Agrarsektor 1993 in Unidades Básicas de Producción Cooperativa -Basiseinheiten der genossenschaftlichen Produktion umbenannt. Ihre interne Organisation und grundlegende Arbeitsweise sind jedoch dieselben.

30Dumont, op. cit., P. 51-52.

31Ibid., P. 80-85.

32Richard E. Feinberg (2012) The New Cuban Economy: What Roles for Foreign Investment? Washington DC: Brookings Institution. P. 58.

33Grandizo Munis, “Los Sindicatos Contra la Revolución”, en Internacionalismo, Sindicatos, Organización de Clase, P. 85-86., hier und hier auch auf deutsch.

34Farber, op. cit., P. 138-139.

35Dumont, op. cit., P. 77.

36Martin Carnoy, “Cuba’s Biggest Export is Teachers, Doctors – Not Revolution”, “Reuters”, Diciembre 24, 2014.

37Für eine tiefergehende Anaylse des Gesundheitssystems in den Vereinigten Staaten, siehe den Artike von Red Hughs, “Capital’s Health Dilemma”, in der ersten Nummer der Zeitschrift “Intransigence”.

38Pedro Campos Santos, “Cuba Necesita un Socialismo Participativo y Democrático. Propuestas Programáticas”, “Cubaencuentro”, August 24, 2008.

]]> [Kubanischer Staat] Erste Erklärung der Anarchistischen Gruppe der Intervention (GAI Grupo Anarquista de Intervención) https://panopticon.blackblogs.org/2024/03/24/kubanischer-staat-erste-erklaerung-der-anarchistischen-gruppe-der-intervention-gai-grupo-anarquista-de-intervencion/ Sun, 24 Mar 2024 09:25:00 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5610 Continue reading ]]> Gefunden auf es.contrainfo, die Übersetzung ist von uns. Hier ein weiterer Text, der im Kontext der Revolte in Kuba stattfand.


[Kubanischer Staat] Erste Erklärung der Anarchistischen Gruppe der Intervention (GAI Grupo Anarquista de Intervención)

Veröffentlichungsdatum: 21. Juli 2021

WIR WERFEN DIESE FLASCHE INS MEER
(ERSTE ERKLÄRUNG DER GAI)

Angesichts eines Landes, das die soziale Kontrolle ausbaut; angesichts der polizeilichen und militärischen Invasion in unseren Städten; angesichts der Belagerung durch die Schergen in unseren Vierteln; angesichts des Zusammenbruchs der diskursiven Lüge; inmitten der Ohnmacht und der systemfeindlichen Wut der Jugend, die ihre Angst verloren hat; unter der Bedrohung, entlarvt und gefeuert zu werden, aber ohne sich selbst zu viktimisieren, stellen wir uns im kubanischen, lateinamerikanischen und karibischen Raum und allgemein unseren anarchistischen Brüdern und Schwestern in der Welt vor.

Die GRUPO ANARQUISTA DE INTERVENCION (GAI) besteht aus wenigen Personen, die sich freiwillig zusammengeschlossen haben. Wir sind nun schon seit einigen Monaten unterwegs. Wir fliehen vor der Isolation, aber wir distanzieren uns auch von all dem politischen Gezeter und dem bezahlten demokratischen Optimismus, der in einigen dissidenten Ecken herrscht. Wir sind allein unterwegs, ohne Anführer oder Führer. Verwaist von jeglicher Vormundschaft oder Subvention, mit der Absicht, gemeinsam mit den Menschen, die ihre Angst verloren haben und denen, die noch davon träumen, sie zu verlieren, Aktionen zur Intervention zu fördern. Wir haben nicht die Absicht, das Spiel irgendeiner politischen Gruppe zu spielen, weder von innen noch von außen. Wir sind apolitisch. Unser Vorschlag für eine Intervention besteht darin, verstärkende Räume des Kampfes zu schaffen und einen Kampf zu gestalten, der sich von der derzeitigen dichotomen Polarisierung von „links-rechts“, „Würmer-Revolutionäre“, „Söldner-Patrioten“, „Kommunisten-Antikommunisten“ unterscheidet.

Für uns sind all diese Begriffe leere Worte, die dem Diskurs der Macht, egal welcher Macht, zur Verfügung stehen. Für uns sind sie alle derselbe demagogische Schwachsinn.

Deshalb schlagen wir eine allgemeine Revolte gegen jede Macht, gegen jede Autorität vor, durch die kreative Praxis des Kampfes und den libertären Impuls all jener rebellischen Geister, die bereit sind, dieser Diktatur ein Ende zu setzen, die aber auch bereit sind, niemandem die Macht zu überlassen. Wir kämpfen nicht, um unsere schlechten Unterdrücker durch gute Unterdrücker zu ersetzen. Wir wollen keine schlechten Regierungen und wir wollen keine guten Regierungen. Wir kämpfen gegen diese Regierung und wir werden gegen die nächste kämpfen. Wir kämpfen für die Zerstörung der Macht; wir kämpfen für Anarchie.

48 Stunden nach der sozialen Explosion erzählt jeder seine „Wahrheit“ über die Unruhen, und die, die es nicht tun, erfinden sie und versuchen, den Kampf der Ausgeschlossenen auszunutzen. Einige sagen, dass es ein paar „gewalttätige Söldner“ waren, die von der US-Regierung manipuliert und bezahlt wurden und die „Revolutionäre“ auf der Straße angriffen, sogar mit Klingenwaffen. Andere sprechen von Millionen Kubanerinnen und Kubanern auf den Straßen, die Regierungseinrichtungen sowie Rundfunk- und Fernsehgebäude stürmten, begleitet von Militär und Polizei, die ihre Uniformen auszogen, um das „heldenhafte Volk“ zu umarmen. Manche sagen, es war die von der US-Regierung verhängte „völkermörderische Blockade“, die uns auf die Straße brachte. Andere sagen, es war Covid; der Mangel an Medikamenten und Impfstoffen; die Stromausfälle.…

Die Wahrheit ist den Protagonisten bekannt. Die Tausenden von Frauen und Männern jeden Alters, vor allem aber junge Menschen, die am vergangenen Sonntag in den 14 Provinzen auf die Straße gingen, riefen klar und deutlich: „Freiheit!“ und „Nieder mit der Diktatur“, weil sie die Nase voll hatten von so vielen Lügen und Demagogie. Viele riefen auch erwartungsvoll „Patria y Vida“ (Vaterland und Leben), um die Welt, die sie wollen, vorwegzunehmen und das Terrain des herrschenden nekrologischen Nationalismus zu bestreiten. Andere skandierten den alten chilenischen Slogan, der die täglichen Demonstrationen der Linken in Lateinamerika anspornt.

Die Proteste verliefen friedlich. Fast alle Demonstranten waren bereit, erst die eine und dann die andere Wange hinzuhalten. Fast alle wollten zeigen, dass Gewalt nur von der Polizei und den staatlichen Sicherheitsorganen ausgeübt werden würde. Als wir von den Schergen des Regimes angegriffen wurden, baten viele noch darum, nicht in die Provokation der Gewalt zu verfallen und begnügten sich damit, den Henkern „Schänder“ und „Mörder“ zuzurufen. Aber wir jungen Menschen stellten uns der Repression. Wir antworteten auf die Kugeln mit Steinen. Und wir drehten die Patrouillen um, so dass die PNRs (Policia Nacional Revolucionaria) fliehen mussten. Zum ersten Mal spürten sie die gleiche Angst, die sie uns eingeflößt hatten.

In den heißesten Vierteln kamen die Bewohner der Kloake des Landes heraus (A.d.Ü., gemeint sind Elendsviertel), um den Staat zu konfrontieren; die Bewohner der Randgebiete, die nicht in den Nachrichten oder auf den Touristenpostern oder auf den CD-Covern zu sehen sind; diejenigen, die nachts auf der Straße leben und im Elend wohnen; die Ärmsten der Armen; diejenigen, die vom System ausgeschlossen sind. Sie gingen hinaus, um ihre Würde wiederzuerlangen, aber auch, um ihren Hunger zu stillen. Sie stürmten die Geschäfte im MLC (moneda libremente convertible), in denen sie noch nie einkaufen konnten. Diese kollektive Katharsis wurde zu einem potenziellen Befreier, denn alle hatten ihre Angst verloren.

Jetzt leben wir in einer Totenstille. Die Städte und Gemeinden sind militarisiert. Die Zahl der Toten und Verwundeten, die die Repression hinterlassen hat, ist unbekannt; die Regierung gibt nur einen Toten unter den Demonstranten an. Es gibt Tausende von Verhafteten und Hunderte von Verschwundenen, aber auch hier ist die genaue Zahl nicht bekannt. Unabhängige Menschenrechtsorganisationen sprechen von mehr als 3000 Inhaftierten allein in Havanna und mehr als 15.000 auf der ganzen Insel. Sie sind noch nicht in Gefängnisse verlegt worden, sondern befinden sich in den Zellen von Polizeistationen und in einigen Militäreinheiten, während sie wegen „Vandalismus“ und „Konterrevolution“ verfolgt werden.

Die Kommunisten sind so zynisch, dass sie anklagen, „wie undankbar die Schwarzen sind, obwohl wir ihnen so viel gegeben haben und sie immer noch protestieren“; und aus den oberen Rängen der Partei sprechen sie von der „reaktionären Bevölkerung“, dem „Gesindel“, den „Delinquenten“, „sozialen Außenseitern“ und „marginalisierten Sektoren“, die alle vom Imperium bezahlt werden.

Wir haben unseren Anarchismus, Brüder und Schwestern, auf der Straße gelernt, in der Konfrontation mit der einzigen Blockade, die wir haben; der Blockade, die die Schergen auferlegt haben und die wir in der täglichen Repression ausgehebelt haben. Unser Anarchismus kam mit dem Punk und dem lateinamerikanischen Hiphop zu uns. Wir hatten keine Zeit, um in Büchern darüber zu lesen. Er wurde aus unserem Bauch heraus geboren und aus unserem Bauch heraus werden wir weiterhin für die Anarchie eintreten; wir versuchen, wachsam zu bleiben und von unseren chilenischen anarchistischen Brüdern und Schwestern zu lernen, die uns gelehrt haben, dass der Kampf nicht für einen Tag ist und dass wir jeden Tag die Anarchie zum Leben erwecken können.
Wir danken unseren chilenischen, italienischen und spanischen Brüdern und Schwestern, die uns auf der Straße begleitet und uns zugehört haben. Sie haben uns geholfen, den Mythos der Blockade und den ganzen kommunistischen Scheiß zu brechen, der auch von einigen, die sich Anarchistinnen und Anarchisten nennen, konsumiert wird.

GAI
Juli, 2021


Teilweise Liste der Gefangenen der Revolte:

1. Abdiel Cedeño Martínez (Santiago de Cuba)
2. Abel Lescay (Cruces, Mayabeque)
3. Adonis Abilleira (Cruces, Cienfuegos)
4. Adrian Portieles (Trinidad, Sancti Spíritus)
5. Alejandro Mejías Guerra (San Antonio de los Baños, Artemisa)
6. Alejandro Rodríguez Gelin (Jovellanos, Matanzas)
7. Alejandro Criado González (inhaftiert in Zanja, La Habana)
8. Alejandro Rojas Calzadilla (Havanna)
9. Alexander Fabregas (Trinidad, Sancti Spíritus)
10. Alvaro Otero Rodríguez (Trinidad, Sancti Spíritus)
11. Amalia Portieles (ICRT, Havanna)
12. Amanda Hernández (Havanna)
13. Amaury Pacheco (Havanna)
14. Anyelo Troya (inhaftiert an der 100. und Aldabó, Havanna)
15. Ariadna Pérez (Camagüey)
16. Ariel González Falcón (festgenommen an der Station Cerro, Havanna).
17. Arley Leandro Mejías (San Antonio de los Baños, Artemisa).
18. Armando Escobar Saldivar (Trinidad, Sancti Spíritus)
19. Armando Abascal (Jagüey Grande, Matanzas)
20. Beatriz Valdés García (La Habana)
21. Camila Acosta (Havanna)
22. Carlos Chaviano (Cruces, Cienfuegos)
23. Carlos Ortega (Batabanó, Mayabeque)
24. Ceimara Carcasés Lobaina (Havanna)
25. Celina Osorio Claro (Guantánamo)
26. César Domínguez (Sancti Spíritus)
27. Coco Fariñas (Villa Clara)
28. Dairon Labrada Linares (Santiago de Cuba)
29. Dairon Cuellar González (Encrucijada, Villa Clara)
30. Dayanne Victoria Sosa Rivas (Camagüey)
31. Dayris Ruth del Sol (Isla de la Juventud)
32. Denis Reyes (Artemisa)
33. Denis Turcaz Guilarte
34. Edel Carrero (Havanna)
35. Eduardo Machado Arocha (Santiago de Cuba)
36. Eliezet Sesma Diago (Havanna)
37. Emmanuel Hernandez Hernandez (Union de Reyes, Matanzas)
38. Enrique Ferrer Hechevarría (Santiago de Cuba)
39. Eros Greck (Colón, Matanzas)
40. Ezequiel Rafael Hermida Rodriguez (inhaftiert im PNR El Capri, Havanna)
41. Francisco Rangel (Colón, Matanzas)
42. Frank Garcia Hernandez (inhaftiert in Zapata y C, Havanna)
43. Frank David Suárez Cabrera (Palma Soriano, Santiago de Cuba)
44. Fredy Gregorio (Cienfuegos)
45. Gabriela González (inhaftiert in Marianao, Havanna)
46. Gretchen Santiesteban (inhaftiert in Sancti Spíritus)
47. Gretel Medina (inhaftiert in Vivac, Havanna)
48. Hairo Labori (Isla de la Juventud)
49. Henry Constantin Ferreiro (Camagüey)
50. Iris Mariño (Camagüey)
51. Isaac Blanco (Cienfuegos)
52. Ismael Molina Rodríguez (Trinidad, Sancti Spíritus)
53. Iván Alcaraz (inhaftiert in Zapata y C, Havanna)
54. Iván Arocha Quintana (Havanna)
55. Iván Arocha Quiala (Santiago de Cuba)
56. Jaime Mantilla Peña (Camagüey)
57. Javier González (verhaftet in Artemisa)
58. Javier Delgado
59. Javier Pérez Rodríguez
60. Javier Sánchez (Nuevitas, Camagüey)
60. Javier Alejandro Urquias Dumas (Santiago de Cuba)
61. José Bolaños Rodríguez (inhaftiert in Alt-Havanna)
62. José Daniel Ferrer (Santiago de Cuba)
63. José Luis Acosta (Camagüey)
64. José Manuel Sánchez Zerquera (Trinidad, Sancti Spíritus)
65. Juan Carlos Saenz (inhaftiert in Vivac, Havanna)
66. Juan Carlos Chillón Paizan (Santiago de Cuba)
67. Julio César Santos (Trinidad, Sancti Spíritus)
68. Julio Rolando Castañeda
69. Kender (Havanna)
70. Larisa Castillo Rodriguez (inhaftiert in Zapata y C, Havanna)
71. Lázara Naidelys Rodríguez (inhaftiert in 100 y Aldabó, Havanna)
72. Lázaro Díaz (Colón, Matanzas)
73. Leandry Gonzalez Capote (Artemisa)
74. Leonardo Romero Negrín (inhaftiert in Havanna)
75. Leonardo Fernandez Otaño
76. Liam Sanchez (Havanna)
77. Luis Manuel Otero Alcántara (Havanna)
78. Luis Mario Niedas Hernández (Sancti Spíritus)
79. Luis Raúl Ibarra (Santiago de Cuba)
80. Maykel González Vivero (Havanna)
81. Manuel Díaz (Bauta, Artemisa)
82. Manuel Cuesta Morúa (Havanna)
83. Manuel Alejandro Rodríguez Yong (Häftling)
84. Marieta Martínez Aguilera (Havanna)
85. Mario Miguel Pérez Valdés (inhaftiert in Zapata y C, Havanna)
86. Mario Miguel Miguel Pineda (Bejucal, Mayabeque)
87. Marisol Peña Cobas (Camagüey)
88. Michel Góngora (Havanna)
89. Michel Suárez Peña (San Antonio de los Baños, Artemisa)
90. Nadir Martín (San Antonio de los Baños, Artemisa)
91. Neife Rigau (Camagüey)
92. Nelvys Ismaray Ortega (Santiago de Cuba)
93. Néstor Vega (Havanna)
94. Niober García Fournier (Guantánamo)
95. Noel Ramirez
96. Omar Planos Cordoví (Santiago de Cuba)
97. Orelvis Cabrera (Cárdenas, Matanzas)
98. Oscar Antonio Escobar Fernández (Havanna)
99. Pedro Albert Sánchez (inhaftiert in Guanabacoa, Havanna)
100. Pedro Rafael Aslan (Havanna)
101. Pedro Rognis Puig Murgado (Santiago de Cuba)
102. Rafael Cruz
103. Rafael Fajardo Cardenas (Havanna)
104. Rafael Cruz Debora (Unión de Reyes, Matanzas)
105. Ramón Samada Suárez
106. Rangel Randy Aragón Carmenate (Havanna)
107. Ricardo Barrios (inhaftiert in Zanja, Havanna)
108. Richard Zamora „El Radical“ (verhaftet in seinem Haus in Matanzas)
109. Richard Berra (Unión de Reyes, Matanzas)
110. Roberto Carlos (Cienfuegos)
111. Rodmelis Nuñez (Batabanó, Mayabeque)
112. Rolando Rodríguez Robaina (Guantánamo)
113. Ruth Campos
114. Santiago Aldama Torres (inhaftiert in Zapata y C, Havanna)
115. Saúl Pérez Taño (inhaftiert in seinem Haus in Santa Fé, Havanna)
116. Sergio Santana (Sancti Spíritus)
117. Solveig Font (inhaftiert in Vivac, Havanna)
118. Tania Delgado
119. Víctor Manuel Rodríguez (Unión de Reyes, Matanzas)
120. William Echevarria Sayu (Unión de Reyes, Matanzas)
121. Yarian Sierra (Matanzas)
122. Yeremi Blanco (Matanzas)
123. Yilian Flores
124. Yilian Lorena Medinilla Pérez (Trinidad, Sancti Spiritus)
125. Yoan Carlos López (Encrucijada, Villa Clara)
126. Yoandry Benguria
127. Yolanda Carmenate Fernández (Granma)
128. Yumey Besu
129. Yusniel Pérez Montejo (Songo La Maya, Santiago de Cuba)
130. Zusely Echavarria Gregorio (Cienfuegos)
131. Cesar Alejandro Gattorno (Santa Clara, Villa Clara)
132. Jorge Naranjo
133. Yilian Lorena Medinilla Perez (Sancti Spíritus)

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(Antipolitika) Man kann den Imperialismus nicht mit Anti-Imperialismus bekämpfen https://panopticon.blackblogs.org/2023/08/30/antipolitika-man-kann-den-imperialismus-nicht-mit-anti-imperialismus-bekaempfen/ Wed, 30 Aug 2023 08:08:49 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5155 Continue reading ]]>

Dieser Text erschien in der dritten Nummer der anarchistischen Publikation aus dem Balkan, namens Antipolitika. Wir finden nicht nur die komplette Ausgabe sehr gut, interessant und lesenswert, sondern finden dass einige der Artikel aus mehreren Gründen ins Deutsche übersetzt werden müssen.

Der hier vorhandene Text interessiert uns vor allem angesichts der Debatte um den falschen Antagonismus zwischen Imperialismus und Anti-Imperialismus, zum Thema siehe auch Gegen die leninistische Position zum Imperialismus von Antithesi. Darüber hinaus sehen wir die falsche und inflationäre Verwendung dieses, und nicht nur dieses, Begriffes im Krieg in der Ukraine, wo alle Seiten die andere als imperialistisch beschimpfen. Nun denn, hier ein Text der hoffentlich etwas Klarheit verschaffen kann.

Soligruppe für den sozialen Krieg und für Gefangene


Man kann den Imperialismus nicht mit Anti-Imperialismus bekämpfen

Heute wird Imperialismus im Allgemeinen als ein Begriff verstanden, der die Tendenz bestimmter Länder beschreibt, andere Länder auszubeuten. Diese scheinbar einfache Formulierung führt zu sehr unterschiedlichen und oft widersprüchlichen Interpretationen – und politischen Praktiken.

Einleitung

Wie leisten Bevölkerungen in ausgebeuteten Ländern Widerstand? Welche Folgen hat die Tatsache, dass die Bevölkerung in den „mächtigen Ländern“, obwohl sie nicht für ihre Position verantwortlich ist, an den Privilegien ihres Landes teilhat? Bedeutet die Vorstellung, dass „[ganze] Länder andere [ganze] Länder ausbeuten“, nicht, dass Gesellschaften in Staaten organisiert sein sollten, um der Ausbeutung zu widerstehen? Und schließlich: Bedeutet die Existenz konkurrierender Imperialismen das Ende der sogenannten Globalisierung? All diese Fragen machen deutlich, dass Imperialismus nicht einfach zu definieren ist. Auf jeden Fall hat sich die Bedeutung des Wortes zwischen der Mitte des 19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts „nicht weniger als zwölf Mal“ geändert.1

Der folgende Text geht von der Prämisse aus, dass der Kolonialismus der Eckpfeiler des kapitalistischen Systems ist, und erörtert zunächst die Folgen des völligen Fehlens des Begriffs Imperialismus in Marx‘ Werk. Dann wird kurz darauf eingegangen, dass der Anti-Imperialismus, der von der Linken im Dienste des „Kampfes gegen den Imperialismus“ eingesetzt wurde, auf dieselben Ideologien zurückgriff, die die Bourgeoisie gegen den Feudalismus eingesetzt hatte, d.h. die angebliche Notwendigkeit des Nation-Staates, der Mythos der „Entwicklung“ und des „Fortschritts“ sowie die Vorherrschaft des ökonomischen gegenüber dem sozialen und politischen Bereich. Abschließend werden einige Überlegungen zur Rückkehr des Anti-Imperialismus in der gegenwärtigen Zeit angestellt, in der auf den vermeintlichen Triumph des globalisierten Kapitalismus eine tiefe Krise folgt, in deren Rahmen starke Antagonismen innerhalb des Systems zunehmen.

TEIL Ι. DER FREIE MARKT FÜHRT ZUM KRIEG, UND DER ANTI-IMPERIALISMUS VON LENIN AUCH

Marx hat den Produktionsprozess als Ausbeutung der Arbeit gründlich analysiert, aber er hat sich nur kursorisch und zögerlich zu den Voraussetzungen der kapitalistischen Produktion und dem Gründungskapital geäußert, das diesen Prozess ermöglicht hat. Ohne das Gründungskapital hätte es keine Investitionen, keine Produktion und keinen großen Sprung nach vorn geben können. (…) Diese Voraussetzung kann nicht aus dem kapitalistischen Produktionsprozess selbst hervorgehen, wenn dieser Prozess noch nicht in Gang gekommen ist. Sie muss von außerhalb des Produktionsprozesses kommen, und das tut sie auch. Sie kommt aus den geplünderten Kolonien. Sie kommt von den enteigneten und ausgerotteten Bevölkerungen der Kolonien. (…) Die primitive oder vorläufige Kapitalakkumulation ist nicht etwas, das einmal in der fernen Vergangenheit geschah und danach nie wieder. Sie ist etwas, das den kapitalistischen Produktionsprozess ständig begleitet und ein integraler Bestandteil davon ist.“ Fredy Perlman. Der anhaltende Reiz des Nationalismus, 19842

Imperialismus: der Ursprung eines Begriffs

Wie bereits erwähnt, unterscheiden Koebner und Schmidt zwölf Veränderungen des Imperialismusbegriffs im Laufe von hundert Jahren. Robert Young dokumentiert diese unterschiedlichen Verwendungen des Begriffs3: Das Wort „Imperialismus“ wurde 1858 zum ersten Mal im Englischen verwendet, als Synonym für Despotismus (in demselben Sinne, in dem Marx es später verwenden sollte). In der damals stärksten Kolonialmacht, die sich selbstgefällig das „Britische Empire“ nannte, war der Begriff Imperialismus zunächst abwertend und bezog sich auf das Regime von Napoleon III. Von 1880 bis 1890 erhielt der Begriff im Englischen eine positive Bedeutung und bezeichnete eine potenzielle angelsächsische Föderation, die sich über den ganzen Globus ausbreiten und innerhalb des Britischen Reiches alle Staaten mit einer Bevölkerung britischer Herkunft, wie die USA und Australien, vereinen würde. Im Jahr 1895 beschrieb der Begriff „neuer Imperialismus“ die neue Explosion des europäischen Kolonialismus. Nach den Burenkriegen (1899-1902) behielt der Begriff seine negative Konnotation sowohl gegenüber dem französischen als auch dem britischen Kolonialismus bei. Im Jahr 1902 verknüpfte John A. Hobson in seinem Werk Imperialism: A Study, den Imperialismus mit dem Kapitalismus in Verbindung. Die Unterkonsumtion, so schrieb er, sei die Hauptursache der kapitalistischen Krise, und der Imperialismus schaffe neue Märkte, um dieses Problem zu lösen.

Marx und der Imperialismus

Marcel Stoetzler merkt an, dass „Marx das Wort Imperialismus nur selten und nur in seiner damals üblichen Bedeutung verwendete, nämlich als Beinahe-Synonym für Cäsarismus oder Bonapartismus. In diesen Kontexten bezeichnete Imperialismus die Herrschaft auf der Grundlage von Bündnissen der Eliten mit den unteren Klassen gegen die liberale Bourgeoisie oder sogar gegen das Parlament und die Herrschaft über bestimmte politische Parteien nach dem Vorbild des römischen Imperiums, die auf zentralisierten staatlichen Behörden und Monopolen basierte“.4

Anthony Brewer analysiert Marx‘ Ansicht über die fortschrittliche Rolle des Kolonialismus im Zeitalter des industriellen Kaptalismus: „Marx definierte den Kapitalismus als Verhältnis zwischen einer Klasse von freien Lohnarbeitern und einer Klasse von Kapitalisten. Der Wettbewerb erzwingt Akkumulation und technischen Fortschritt. Der Kapitalismus braucht kein untergeordnetes Hinterland oder eine Peripherie, auch wenn er sie nutzt und von ihr profitiert, wenn es sie gibt. Bis zur industriellen Revolution wurden die Außenbeziehungen des Kapitalismus durch das Handelskapital vermittelt und veränderten nicht unbedingt die anderen Gesellschaften, die in den Weltmarkt einbezogen wurden. Sobald das Industriekapital das Kommando übernommen hatte, konnte die kapitalistische Eroberung eine fortschrittliche (wenn auch brutale) Rolle spielen, indem sie die kapitalistische Industrialisierung einleitete.“5

Der indische Marxist Prabhat Patnaik formulierte es so: „Das von Marx im Kapital analysierte Modell des Kapitalismus ist für alle praktischen Zwecke ein Modell einer geschlossenen und isolierten Ökonomie. Sicherlich kann man dieses Modell erweitern, um eine koloniale Beziehung einzubeziehen, die im Wesentlichen darin besteht, einen Markt zu schaffen, auf dem die Waren der Metropole in Produkte der Dritten Welt umgewandelt werden, die von der Metropole benötigt werden; aber der Kolonialismus ist ein Lieferant von Mehrwert für die Akkumulation in der Metropole (…)“ Patnaik zufolge „taucht der Imperialismus in Marx‘ Diskussion über die primitive Kapitalakkumulation auf. Aber danach spielt er in seiner Analyse kaum noch eine bedeutende Rolle.“ Der Imperialismus gehört für Marx zur Vorgeschichte des Kapitalismus“.6

Der Imperialismus und der klassische Marxismus

Rosa Luxemburg versuchte in ihrer „Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus“, wie sie es nannte, den analytischen blinden Fleck in Marx‘ Werk zu beseitigen.7 Laut Luxemburg ist die ständige Expansion der kapitalistischen Produktionsweise innerhalb der Grenzen eines rein kapitalistischen Systems unmöglich. Sie ist nur möglich, wenn sie von einer ständigen Ausweitung des Konsums begleitet wird. Je weiter sich jedoch das kapitalistische System und die Automatisierung entwickeln, desto weniger Kaufkraft haben die Arbeiterinnen und Arbeiter, so dass sich das System durch eine dritte, im Grunde vorkapitalistische und außerkapitalistische Produktionsweise reproduzieren muss. In ihren eigenen Worten: „[Die] vorherrschenden Methoden [des Kapitalismus] sind Kolonialpolitik, ein internationales Kreditsystem – eine Politik der Interessensphären – und Krieg. Gewalt, Betrug, Unterdrückung und Plünderung werden offen zur Schau gestellt, ohne dass man versucht, sie zu verbergen, und es bedarf einiger Anstrengung, um in diesem Gewirr aus politischer Gewalt und Machtkämpfen die strengen Gesetze des ökonomischen Prozesses zu entdecken.“

Lenin, dem es vor allem darum ging, die Rolle des Anführers des Proletariats zu übernehmen, verlangte von seinen Anhängern doktrinären Gehorsam gegenüber seinen eigenen theoretischen Konstruktionen des Marxismus. Es ging ihm nicht darum, Marx‘ Analyse zu verbessern, sondern darum, seine eigenen politischen Entscheidungen als unbestreitbare Konsequenz der marxistischen Orthodoxie zu fördern und unerschütterlich zu bestätigen. Lenins politisches Urteilsvermögen beschränkte sich auf die Überlegung, dass der Kampf der kapitalistischen Staaten um die Kontrolle der Kolonien den Zusammenbruch des Kapitalismus beschleunigen würde und dass die Bolschewiki bereit sein sollten, diese Chance zu ergreifen. Es ging ihm also nur darum, sich als unbestrittener Nachfolger von Marx in der Analyse des Status quo zu etablieren, und so ist auch sein berühmtes Pamphlet über den Imperialismus von 1916 zu verstehen. Sein Aufsatz griff die Argumente von Bucharin auf („Imperialismus ist die Politik des Finanzkapitals“), der wiederum die Analyse des Finanzkapitals des österreichischen Theoretikers der deutschen Sozialdemokratie Hilferding (1910) aufgegriffen hatte: „Finanzkapital bedeutet eine Vereinigung des Kapitals, da die früher getrennten Sektoren des Industrie-, Handels- und Bankenkapitals jetzt unter der Kontrolle des großen Finanzkapitals stehen, mit dem die Industrie- und Bankmagnaten eng verbunden sind. Die Theorie der ‚Unterkonsumtion‘ in den kapitalistischen Metropolen als Ursache für die imperialistische Expansion wurde bereits 1898 von dem bourgeoisen Ökonomen J.A. Hobson formuliert“.

Was den analytischen Strang selbst angeht, hat Lenins Ansatz wenig hinzuzufügen. Die generative Verbindung zwischen Finanzkapital und Imperialismus wird einfach ohne Erklärung verkündet – die Explosion des Finanzkapitals am Ende des 19. Jahrhunderts fiel mit der neuen Phase des kapitalistischen Kolonialismus zusammen, aber beide sollten als Folgen derselben Veränderungen im kapitalistischen System gesehen werden, nicht als Folgen des jeweils anderen. Offensichtlich ist der Imperialismus kein Stadium des Kapitalismus und schon gar nicht das letzte (er sollte vielmehr als Voraussetzung für die Entstehung des Kapitalismus betrachtet werden), während die permanente primitive Akkumulation, zu der der Imperialismus gehört, ein dauerhaftes Merkmal des kapitalistischen Systems ist. Das Neue und Entscheidende an Lenins Analyse sind die politischen Schlussfolgerungen: „Wenn die Kapitalisten die Krisen im eigenen Land abwenden könnten, dann wäre der Kapitalismus ewig. Sie sind entschieden blinde Bauern im allgemeinen Mechanismus (…) Die Desintegration in der ganzen Welt breitet sich immer weiter aus“ Für Lenin sind „[d]iese blinden Bauern, die Bolschewiki in der Lage, sie für die Interessen der Revolution zu benutzen“, denn „für die Stabilisierung der sozialistischen Demokratie ist das Bündnis mit einem Imperialismus gegen einen anderen prinzipiell nicht unrealistisch (…) Unsere Politik besteht darin, die kapitalistischen Länder, die vom Imperialismus erdrosselt werden, um die Sowjetrepublik zu gruppieren. (…) Die Zweifel und Ängste, die in den fortgeschrittenen Ländern immer noch bestehen, die behaupten, dass Russland eine sozialistische Revolution riskieren könnte, weil es ein riesiges Land mit eigenen Lebensmitteln ist, während sie, die Industrieländer Europas, dies nicht können, weil sie keine Verbündeten haben – diese Zweifel und Ängste sind unbegründet. Wir sagen: ‚Ihr habt jetzt einen Verbündeten, Sowjetrussland.’“8

Anti-Imperialismus als Produkt der leninistischen Taktik

Das oben erwähnte Zitat von Lenin bezieht sich auf die (wünschenswerte) Möglichkeit eines taktischen Bündnisses der „Sozialistischen Republik“ mit den USA. „Großbritannien ging mit riesigen Kolonien aus dem Krieg hervor. Das tat Frankreich auch. Großbritannien bot Amerika ein Mandat – so nennt man das heute – für eine der Kolonien an, die es erobert hatte, aber Amerika nahm es nicht an. Amerikanische Geschäftsleute haben offensichtlich andere Gründe. Sie haben gesehen, dass ein Krieg aufgrund der Verwüstungen, die er anrichtet, und der Stimmung, die er unter den Arbeiterinnen und Arbeitern hervorruft, ganz konkrete Folgen hat, und sie sind zu dem Schluss gekommen, dass es nichts bringt, ein Mandat anzunehmen. (…) Amerika steht in unvermeidlichem Widerspruch zu den Kolonien, und wenn es versucht, sich dort stärker zu engagieren, hilft es uns zehnmal mehr. Die Kolonien brodeln vor Unruhe, und wenn du sie anrührst, ob es dir gefällt oder nicht, ob du reich bist oder nicht – und je reicher du bist, desto besser -, wirst du uns helfen (…) Amerika kann sich nicht mit dem Rest Europas arrangieren – das ist eine Tatsache, die die Geschichte bewiesen hat.“9 Lenins Glaube an sich selbst als unfehlbaren und dämonischen Ingenieur der Revolution führte dazu, dass er die Kapitalisten der Vereinigten Staaten als einfache Geschäftsleute betrachtete. 1913 schrieb der US-Botschafter in Großbritannien, W. Page, an US-Präsident Wilson: „Die Zukunft der Welt gehört uns. . . . Was werden wir jetzt mit der Führung der Welt machen, wenn sie eindeutig in unsere Hände fällt?“ Und im Jahr 1914: „Was werden wir jetzt mit diesem England und diesem Empire machen, wenn die ökonomischen Kräfte die Führung der Rasse eindeutig in unsere Hände legen?“10

In diesem Wettstreit auf dem Weltschachbrett kam die Unterstützung der Kommunistischen Internationale für die „Selbstbestimmung der Völker“ zeitlich hinter der der Vereinigten Staaten zurück: Am 8. Januar 1918 machte US-Präsident Wilson in seiner Rede vor dem US-Kongress viele der Forderungen der damaligen Progressiven zu den Schlagworten der US-Außenpolitik: Freihandel, Demokratie und Selbstbestimmung der Völker. Am 11. Februar 1918 erklärte Wilson: „Nationale Bestrebungen müssen respektiert werden; die Völker dürfen nur noch durch ihre eigene Zustimmung beherrscht und regiert werden. Selbstbestimmung ist nicht nur eine Phrase. Es ist ein zwingender Grundsatz für Aktionen“11.

Nach der Schwächung der europäischen Mächte durch den Wettbewerb um die Kontrolle der Kolonien stimmte Lenin mit Wilson in der Aussicht überein, die kolonisierten Gebiete in Nation-Staaten zu verwandeln: „… wir sind zu dem einstimmigen Entschluss gekommen, nicht mehr von der „bourgeois-demokratischen“ Bewegung, sondern von der national-revolutionären Bewegung zu sprechen (…) Es steht außer Zweifel, dass jede nationale Bewegung nur eine bourgeois-demokratische Bewegung sein kann,“ (…) wir als Kommunisten sollten und werden die bourgeois-liberalen Bewegungen in den Kolonien nur unterstützen, wenn sie wirklich revolutionär sind.“12

Dieser Wandel in Analyse, Taktik und Strategie führte zu einer Reihe von Propagandastunts: Die bolschewistischen Anführer versprachen den muslimischen ehemaligen Untertanen des Russischen Imperiums einen „heiligen Krieg gegen den Imperialismus“ und riefen „Es lebe die Sowjetmacht, es lebe die Scharia“13. 1920 rief Gregory Zinoviev, Generalsekretär der Kommunistischen Internationale, auf dem Kongress der Völker des Ostens in Baku (Aserbaidschan) aus: „Brüder, wir rufen euch zum heiligen Krieg [Dschihad] auf, in erster Linie gegen den britischen Imperialismus!“ Der Anführer der Roten Armee, Michail Frunze, erklärte im Mai 1920 den 118 Delegierten des Ersten Kongresses der turkestanischen Frauen – die alle einen Schleier trugen -, dass in den Augen der sowjetischen Behörden ihr Parandschi (der schwere Rosshaarschleier, der fast bis zum Boden reichte) nichts Negatives über sie oder ihre politische Einstellung aussagt. Während des Bürgerkriegs dienten diese Schleier sogar einem militärischen Zweck: Die Delegierten könnten dabei helfen, Turkestan zu befreien, erklärte er und fügte hinzu, dass „unter dem Paranji ein ehrenhaftes Herz schlägt, unter dem Paranji [man] der Revolution treu dienen kann und der Paranji manchmal einen mutigen Späher für die Rote Armee verbirgt“.14

Das theoretische Schema innerhalb der leninistischen Taktik, mit dem die marxistische Theologie begründet wurde, wird von Marcel Stoetzler zusammengefasst:

„Im Mittelpunkt des leninistischen Imperialismuskonzepts steht die Vorstellung, dass sich der zweideutige Kapitalismus, der verschärfte Ausbeutung mit der Möglichkeit der Emanzipation verbindet (wie von Marx und Engels beschrieben), um 1900 in einen ganz und gar negativen Kapitalismus verwandelt hat: Letzterer ist ein ‚Monopolkapitalismus‘, der durch das Finanzkapital, eine korrupte Arbeiterinnen und Arbeiteraristokratie und den Imperialismus gekennzeichnet ist und mit allen Mitteln bekämpft und zerstört werden muss. Der völlig schlechte im Gegensatz zum zweideutigen Kapitalismus wird ergänzt durch die Vorstellung von schlechtem, pervertiertem Nationalismus (Imperialismus) im Gegensatz zu gutem, gutartigem Nationalismus (wie im „gesunden Patriotismus“ usw.). (…) Die Leninisten stützen sich bei ihrem Konzept des Selbstbestimmungsrechts der Nationen auf die damals von Liberalen und Demokraten geteilte Vorstellung des 19. Jahrhunderts, dass die Nationenbildung die spätfeudale Atomisierung überwindet und mit einer einheitlichen nationalen Gesellschaft die Voraussetzungen für emanzipatorische Bewegungen schafft. Die Behauptung der Leninisten, dass die „Völker des Ostens“ die Nationenbildung als erste Stufe der Emanzipation benötigen, während die „Völker des Westens“ diese „Stufe“ bereits hinter sich gelassen haben und für den Klassenkampf bereit sind, ohne durch Nationalität und Ethnizität belastet zu sein, hat wohl etwas Orientalisches. (Die Realpolitik des ‚Sozialismus in einem Land‘ hat selbst diese geografisch begrenzte antinationale Haltung schnell ersetzt.)“15

Kolonialismus als Vorbedingung des Kapitalismus

Mit anderen Worten: Es geht darum, klar zu sehen, klar zu denken – das ist gefährlich – und die unschuldige erste Frage klar zu beantworten: Was ist Kolonialisierung im Grunde? (…) Ein für alle Mal und ohne mit der Wimper zu zucken zuzugeben, dass die entscheidenden Akteure hier der Abenteurer und der Pirat, der Großhändler und der Reeder, der Goldgräber und der Händler, Appetit und Gewalt sind, und hinter ihnen der unheilvolle projizierte Schatten einer Zivilisationsform, die sich an einem bestimmten Punkt ihrer Geschichte aus inneren Gründen gezwungen sieht, den Wettbewerb ihrer antagonistischen Ökonomien auf die Welt auszudehnen.

Wenn ich meine Analyse fortsetze, stelle ich fest, dass die Heuchelei erst seit kurzem besteht; dass weder Cortez, der Mexiko von der Spitze des großen Teocalli aus entdeckt, noch Pizzaro vor Cuzco (geschweige denn Marco Polo vor Cambaluc) behaupten, sie seien die Vorboten einer höheren Ordnung; dass sie töten; dass sie plündern; dass sie Helme, Lanzen und Amoretten haben; dass die geifernden Apologeten später kamen; dass der Hauptschuldige in diesem Bereich die christliche Pedanterie ist, die die unehrlichen Gleichungen Christentum=Zivilisation, Heidentum=Saventum aufgestellt hat.

Ja, es würde sich lohnen, die Schritte, die Hitler und der Hitlerismus unternommen haben, im Detail klinisch zu untersuchen und dem sehr vornehmen, sehr humanistischen, sehr christlichen bourgeois des zwanzigsten Jahrhunderts klarzumachen, dass (… ), was er Hitler nicht verzeihen kann, ist nicht das Verbrechen an sich, das Verbrechen gegen den Menschen, es ist nicht die Erniedrigung des Menschen an sich, es ist das Verbrechen gegen den weißen Mann, die Erniedrigung des weißen Mannes, und die Tatsache, dass er auf Europa kolonialistische Verfahren anwandte, die bis dahin ausschließlich den Arabern in Algerien, den Kulis in Indien und den Schwarzen in Afrika vorbehalten waren.“ Aimé Césaire, Discours sur le colonialisme, 1955

TEIL II DIE „NEUE WELT“, DIE GÖTTLICHE AUFTEILUNG DES PLANETEN UND DER DREIECKSHANDEL

Das Zeitalter der Entdeckungen ist eine lose definierte europäische historische Periode vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. Es begann mit dem Wunsch der europäischen Mächte, die „Seidenstraße“ durch eine alternative Seeroute für wertvolle Produkte „aus Indien“ zu ersetzen, um den Umweg über die muslimischen Königreiche zu vermeiden, was die Kosten für Gewürze und andere exotische Produkte in die Höhe trieb. Die Seestreitkräfte der iberischen Königreiche waren Vorreiter bei diesem Unterfangen. Schiffe aus Lissabon versuchten, die Indischen Inseln zu erreichen, indem sie Afrika umsegelten, während die katholischen Könige von Kastilien und Aragonien die Expedition von Kolumbus finanzierten, der die Indischen Inseln auf einer Weltumsegelung erreichen wollte. 1470 entdeckten Seefahrer aus Lissabon eine unbewohnte Insel am Äquator mit einem idealen Klima für tropische Landwirtschaft, auf der 1493 die Kolonie São Tomé gegründet wurde. Mit dem Ziel, umfangreiche Zuckerplantagen zu errichten, schlossen die Portugiesen ein Abkommen mit dem benachbarten afrikanischen Königreich Kongo. Der König des Kongo konvertierte zum Christentum und lieferte den „Entdeckern“ im Tausch gegen europäische Produkte Sklaven für die Plantagen. Dies war der Beginn des Kolonialismus, des Sklavenhandels und des „Dreieckshandels“. In der Zwischenzeit „entdeckte“ Kolumbus mit seinen Expeditionen zur See die „neue Welt“. 1494 teilte Papst Alexander VI. mit dem Vertrag von Tordesillas die Welt in die Seekönigreiche von Iberien auf: Alle Länder westlich des Meridians, der durch die Azoren verläuft, sollten dem Thron von Lissabon gehören und die Länder östlich einer imaginären Linie („Linea Alexandrina“) dem Thron von Kastilien und Aragon. Bis heute wird in den beiden westafrikanischen Ländern und in Brasilien Portugiesisch gesprochen und nicht Spanisch wie im Rest von Süd- und Mittelamerika. Der Vertrag von Tordesillas wurde durch den Vertrag von Saragossa (1529) ergänzt, der die asiatischen „Besitztümer“ in die Königreiche Iberia, „westlich und östlich des Antimeridians“ aufteilte (was erklärt, warum auch auf den Philippinen Spanisch gesprochen wird und warum Portugiesisch in Osttimor und Macau noch immer als Amtssprache anerkannt ist).

Am 9. Juli 1595 brach auf São Tomé eine Sklavenrevolte, die Revolta Angolar, aus. Die Rebellen nahmen die Hauptstadt ein, die Revolte wurde ein Jahr später blutig niedergeschlagen. Da die Kolonialherren keinen neuen Aufstand riskieren wollten, beschlossen sie, das „Dreieckssystem“ in die sogenannte Neue Welt, nach Amerika, zu übertragen. Der transatlantische Sklavenhandel, der vom späten 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert betrieben wurde, bildete die Grundlage für das bekanntere „Dreieckshandelssystem“, ein System der Zirkulation von Sklaven, landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Industriewaren zwischen Afrika, Amerika und Europa. Afrikanische Sklaven wurden in der „kolonialen“ Landwirtschaft in Amerika eingesetzt, und die Produkte wurden dann nach Europa exportiert. Die Produkte wurden dann nach Europa exportiert. Die Waren wurden in Europa weiterverarbeitet und ein Teil davon nach Afrika exportiert, im Austausch gegen afrikanische Sklaven, die dann von Afrika nach Amerika transportiert wurden.

Die Sklaven wurden nicht nur für die Plantagen in die Neue Welt gebracht, sondern auch für die Edelmetallminen wie Gold (das „Eldorado“, das die Konquistadoren suchten) und vor allem Silber. Potosí ist eine Stadt und Hauptstadt des gleichnamigen Departamento (A.d.Ü., gleichzusetzen mit einem Bundesland in Deutschland) in Bolivien. Im 16. Jahrhundert galt die Region als der größte Industriekomplex der Welt und stand unter der Kontrolle der spanischen Kolonialregierung. Die Gründung der Stadt Potosi war auf die Entdeckung von Silber in der Gegend im Jahr 1544 zurückzuführen. Die Ureinwohner wurden zur Zwangsarbeit in den Silberminen von Potosi gezwungen. Von Anfang an starben Tausende von Sklaven aufgrund der harten Arbeitsbedingungen und der großen Höhe an Lungenentzündungen oder Quecksilbervergiftungen während der Silberverarbeitung. Um 1600 stieg die Sterblichkeitsrate in den lokalen indigenen Gemeinden sprunghaft an. 1608 baten die spanischen Bergbauherren den Thron von Madrid um die Erlaubnis, afrikanische Sklaven zu importieren. Es wird geschätzt, dass während der Kolonialzeit acht Millionen einheimische und afrikanische Sklaven für den Abbau von Silber starben.

Die kolonialen Besitztümer verwandelten das Königreich Kastilien und Aragonien in das Spanische Reich, „in dem die Sonne nie unterging“, da es über die ganze Welt verbreitet wurde. Aber der Unterhalt all dieser Besitztümer war sehr teuer und die Edelmetalle aus den neuen Besitztümern wurden hauptsächlich zur Finanzierung von Kriegen in Europa und zur Verteidigung der überseeischen Besitztümer gegen Piraten und Söldner verwendet. Da das spanische Reich den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus nicht vollzog, begann schließlich ein langer Weg des Niedergangs.

Die Geburt des kapitalistischen Systems

Die Weltherrschaft wurde von Kräften aus Nordeuropa beansprucht, die bereit waren, aus den neuen Bedingungen Kapital zu schlagen. Im Jahr 1602 wurde die erste offizielle Börse der Welt von der Niederländischen Ostindien-Kompanie (VOC – Verenigde Oostindische Compagnie) gegründet. Die VOC war das erste Unternehmen in der Geschichte, das Anleihen und Aktien ausgab. Die globalen Systemtheoretiker Wallerstein und Arrighi (REFS?) betrachten die ökonomische und finanzielle Dominanz der niederländischen Republik im 17. Jahrhundert als das erste historische Modell kapitalistischer Hegemonie. Der „Kaufmannskapitalismus“ der Niederlande basierte auf Handel, Schifffahrt und Finanzen und nicht auf der Produktion oder der Landwirtschaft. Die enorme Kapitalanhäufung in dieser Zeit schuf eine Nachfrage nach „Investitionsmöglichkeiten“. Dies erforderte neue Institutionen zur Regulierung des Investitionskapitals, was zur Gründung der Amsterdamer Börse und der Amsterdamsche Wisselbank führte. Es gab auch Neuerungen in der Seeversicherung und in der rechtlichen Struktur des Handels, wie z. B. die Gründung (ebenfalls zum ersten Mal in der Geschichte) von Aktiengesellschaften. Nach der 1602 gegründeten Niederländischen Ostindien-Kompanie (VOC) wurde (am 3. Juni 1621) die Niederländische Westindien-Kompanie (WIC – Westindische Compagnie) gegründet, deren Hauptzuständigkeitsbereich die Beteiligung der Niederlande am Sklavenhandel in der Neuen Welt (die oben erwähnten „Investitionsmöglichkeiten“) war. Es handelte sich auch um eine Art staatlichen Monopolkapitalismus, da die VOC und die WIC die ausschließliche Zuständigkeit für ihre individuellen Sektoren hatten, während sie gleichzeitig unter der Kontrolle der Föderation (Staten-Generaal) der „Parlamente“ der unabhängigen Regionen der Niederlande standen.

Nachdem die Niederlande ihre Unabhängigkeit von der damaligen Supermacht Spanien erlangt hatten, errichteten sie in einem 30-jährigen Krieg die kapitalistische Hegemonie über das bis dahin unschlagbare Spanien und Portugal, nur um anschließend (in einem weiteren 30-jährigen Krieg) von der englischen Marine besiegt zu werden, die konkurrierende Kolonial- und Handelsprojekte vorantrieb. Durch „Eisen und Blut“ wurde Großbritannien schließlich zur treibenden Kraft des Weltkapitalismus. Das heutige Zentrum des globalen Finanzsystems, die Wall Street, befindet sich an der gleichen Stelle, an der die Niederländische Westindien-Kompanie die „Waalstraat“ angelegt hatte, als Manhattan das Zentrum der Stadt war, die damals Neu-Amsterdam hieß und von einem der größten Sklavenhändler der Zeit, Pieter Stuyvesant, regiert wurde (zu dessen Ehren die gleichnamigen Zigaretten benannt sind). Am 13. Dezember 1711, als die Stadt unter die Kontrolle des englischen Throns übergegangen war und in New York umbenannt wurde, richtete der Stadtrat in der Wall Street einen gesetzlichen Markt für afrikanische und indische Sklaven ein. Die großen Gewinne der Händler und Spekulanten, die zum Sklavenmarkt strömten, und die zusätzlichen Transaktionen zwischen ihnen führten schließlich zur Gründung der New Yorker Börse am selben Ort.

Die neue Nutzung der Wall Street begann nur ein Jahrzehnt, nachdem die ehemaligen kolonialen Besitzungen Nordamerikas ihre Unabhängigkeit vom europäischen Kolonialismus erlangt hatten und die Vereinigten Staaten begannen, ihre eigene Kolonialgeschichte zu schreiben. Damit wurde gewissermaßen eine Brücke geschlagen zwischen der ersten Welle der expansiven Besetzung des gesamten Planeten durch westliche Mächte (15. bis 18. Jahrhundert) und der zweiten Welle, dem Kolonialismus des Industriekapitalismus am Ende des 19. Jahrhunderts. Die zweite Welle des Kolonialismus wurde weitgehend durch die Industrielle Revolution ausgelöst. Die Industriestaaten brauchten die Kolonien als Quelle billiger und stetig fließender Rohstoffe, als Absatzmärkte für die Industriegüter der jeweiligen Kolonialmacht, aber auch als Absatzmärkte für die Investition von überschüssigem (A.d.Ü., mehrwertigen/surplus) Kapital (mit garantierten Aussichten auf hohe Gewinne bei minimalem Risiko). Im Rahmen des industriellen Wettbewerbs zwischen den europäischen Staaten wurden Kolonien auch genutzt, um strategische Punkte wie die Straße von Gibraltar und den Suezkanal zu kontrollieren. Außerdem konnten die Kolonien als Militärstützpunkte auf der ganzen Welt genutzt werden.

Revolten als treibende Kraft der Geschichte

In dieser blutigen Darstellung der Geburt des Kapitalismus über den Kolonialismus bis hin zum „Imperialismus“ am Ende des 19. Jahrhunderts konnte die Aufzeichnung der Revolten, die von der eurozentrischen Geschichtsschreibung in der Regel ignoriert wird, nicht außer Acht gelassen werden. In der Tat wurden die Revolten während der ersten Welle des Kolonialismus in der Arbeiter- und sozialistischen Bewegung nicht einmal erwähnt. Die erste antikoloniale Revolte, die der Sklaven in São Tomé, fand, wie wir gesehen haben, bereits 1595 statt und führte zu einer Neuordnung des Dreieckshandels. Wir wollen hier nur die größten Revolten erwähnen, die folgten, als sich der Dreieckshandel zu einem Transfer von Sklaven aus Afrika in die „Neue Welt“ entwickelte und dort die großen Plantagen für „Kolonialprodukte“ entstanden: Revolten wie die berühmte „Nannie der Maroons“, die afrikanische Sklavin, die 1734 auf Jamaika den ersten „Maroon-Krieg“ auslöste. Es folgte der Aufstand von 1751 bis 1757 in St. Dominic, für den ihr Anführer, der afrikanische Sklave François Mackandal, von den französischen Kolonialherren als „Zauberer“ auf den Scheiterhaufen gebracht wurde. Es folgten der große Aufstand der Eingeborenen 1780-1782 in Bolivien und Peru und der Aufstand der „Schwarzen Jakobiner“ auf Haiti im Jahr 1791. Es wäre nicht übertrieben zu sagen, dass die Sklavenrevolten und die antikapitalistischen Revolutionen in der „Neuen Welt“ den Kurs des Kapitalismus bestimmten (eine alternative Version von Marx‘ Formulierung, dass die Geschichte der Menschheit die Geschichte des Klassenkampfes ist). Der Aufstand in São Tomé trug zur Verlagerung der Plantagen in die „neue Welt“ bei. Die Revolten in der Karibik (Mitte bis Ende des 18. Jahrhunderts) und die antikolonialen bourgeois-demokratischen Revolutionen in Lateinamerika verlagerten die „Aktivität“ der europäischen Kolonialisten auf die Sklavenplantagen im Süden der USA oder Brasiliens. Das Ende der Sklaverei in den USA (1865) und Brasilien (1888) lenkte die Aufmerksamkeit der Kolonialisten auf die Errichtung von Sklavenplantagen in Afrika selbst, im sogenannten „Kampf um Afrika“ – mit schrecklichen Folgen, z. B. starben im „freien (für die Ausbeutung) Staat Kongo“ (im Besitz des belgischen Throns) von 1885 bis 1908 fünf bis zehn Millionen Afrikaner auf Kautschukplantagen.

Schlussfolgerungen aus der kurzen Genealogie des Dekolonialismus als Kapitalismus

Einem weit verbreiteten (und manipulierbaren) Irrtum zufolge ist der Imperialismus relativ jung, besteht aus der Kolonisierung der gesamten Welt und ist die letzte Stufe des Kapitalismus. Diese Diagnose verweist auf ein bestimmtes Heilmittel: Nationalismus wird als Gegenmittel zum Imperialismus angeboten: Nationale Befreiungskriege sollen das kapitalistische Imperium zerschlagen.

Diese Diagnose dient einem Zweck, aber sie beschreibt kein Ereignis und keine Situation. Wir kommen der Wahrheit näher, wenn wir diese Auffassung auf den Kopf stellen und sagen, dass der Imperialismus die erste Stufe des Kapitalismus war, dass die Welt anschließend von Nation-Staaten kolonisiert wurde und dass der Nationalismus die vorherrschende, die aktuelle und (hoffentlich) die letzte Stufe des Kapitalismus ist. Die Fakten wurden nicht erst gestern entdeckt; sie sind so bekannt wie der Irrglaube, der sie leugnet.“ Fredy Perlman. Die anhaltende Anziehungskraft des Nationalismus, 1984

Der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus ist keine Folge der Entwicklung der Produktivkräfte; jahrhundertelang gab es kapitalistische Gesellschaften, in denen der Gegensatz zwischen Kapital und Lohnarbeit keineswegs im Mittelpunkt stand; die erste Verwirklichung der getrennten Arbeit war nicht die des Industriearbeiters und Arbeiters, sondern die des Söldnersoldaten. Die primäre Akkumulation fand nicht einmalig statt, sondern ist ein Prozess, der ununterbrochen andauert. Selbst in dem engen Sinne, in dem Marx sie beschrieb, geschah sie viel früher und an anderen Orten als in Europa. Im Kontext der westlichen Welt, in dem Marx das Phänomen der primitiven Akkumulation betrachtete, umfasste es viel mehr Ausprägungen.16

Jahrzehntelang war die Hauptinterpretation des Imperialismus durch die Linke, dass er Ausdruck einer anisotropen Entwicklung sei, d.h. dass die imperialistischen Länder die „Dritte Welt“ unterentwickelt hielten (und ihre „wahre“ kapitalistische Entwicklung verhinderten), um sie auszubeuten, während es vom ersten Moment des Kolonialismus an (Dreieckshandel) darum ging, wer mit Schwert und Kanone den Wert von Menschen und natürlichen Ressourcen in der globalen Ausbeutungsteilung bestimmt.

TEIL III ANTIIMPERIALISMUS ALS AUSSENPOLITIK

Imperialismus und Antiimperialismus in der Zeit des Kalten Krieges

Wie wir bereits gesehen haben, entschied sich Lenins Staatskapitalismus dafür, die nationale Ideologie zu „benutzen“, indem er sie mit verschiedenen antikapitalistischen Chips und Emanzipationsnuggets verzierte, um eine neue vereinheitlichende Ideologie namens Anti-Imperialismus aufzubauen. Die Formierung der kolonisierten Bevölkerungen auf der ganzen Welt zu Nation-Staaten unter der Kontrolle lokaler kommunistischer Parteien und Bourgeoisien schuf ein globales, ebenfalls imperiales System mit der UdSSR im Zentrum. Die Bindung an die Militärmaschinerie des Sowjetimperiums würde die neuen Nation-Staaten vor der Ausplünderung ihrer Rohstoffe durch die „Imperialisten“ schützen. Natürlich würde das „Mutterland des Sozialismus“ diese „Ausbeutung“ der natürlichen Reichtümer übernehmen, während seine regionalen Verbündeten eine rasche Industrialisierung durchführen sollten, um die „anisotrope Entwicklung“, die angeblich „vom Imperialismus aufgezwungen“ wurde, umzukehren – das war die alternative Beschreibung der „primitiven Akkumulation“, diesmal „zugunsten des Sozialismus“.

Das maoistische China trat als Konkurrent „von links“ des Sowjetimperiums auf, das bereits mit dem westeuropäischen und nordamerikanischen Kapitalismus konkurrierte. Im April 1969 erklärte Marschall Lin Biao (Mao Zedongs offizieller Nachfolger) in seiner Grundsatzrede zur Außenpolitik Chinas auf dem 9. ZK-Kongress einen Zweifrontenkampf gegen die USA und die UdSSR, bezeichnete beide Supermächte als „Papiertiger des Imperialismus“ und erklärte die Bereitschaft seines Landes zu groß angelegten Kriegen: „Der imperialistische Krieg ist der Vorabend der sozialistischen Revolution.“ Diese grundlegende These Lenins hat nichts von ihrer Aktualität verloren. Nach den historischen Erfahrungen des Ersten und Zweiten Weltkriegs können wir sicher sein, dass, wenn die russischen Revisionisten, die amerikanischen Imperialisten und die Weltreaktion beschließen, einen dritten Weltkrieg anzuzetteln, dies unweigerlich die Entwicklung der Widersprüche beschleunigen und populäre Revolutionen entfachen wird, die die ganze Meute der Imperialisten, Revisionisten und Reaktionäre eine Stunde früher ins Grab schicken werden. Dann begann China, das seine Kriegsführung gegen die UdSSR intensivierte, seine schrittweise Annäherung an die USA, um… Stalins politisches Erbe als weltweiter Anführer des internationalen Proletariats zu verteidigen, „ein Erbe, auf das die UdSSR mit ihrer Destalinisierung verzichtet hatte“.17

Während das „Mutterland des Sozialismus“ in den 1970er Jahren in seiner Einflusszone eine koloniale Politik des Staatskapitalismus durchsetzte, begann in der „freien Welt“ ein neuer Kolonialismus mit IWF-Krediten an die frisch entkolonialisierten Länder, die sie zu Schuldenkolonien machten. In den kapitalistischen Metropolen stand der antiimperialistische revolutionäre Militarismus im Mittelpunkt der Politik und des öffentlichen Diskurses, der zu einem unglaublichen Patchwork führte, zu dem die IRA, die ETA, Gaddafi, die Stasi, die RAF, „marxistische“ palästinensische Organisationen, „Carlos der Schakal“, die Unterstützung „antiimperialistischer“ Diktatoren in der „Dritten Welt“ und andere gehörten, und zwar in einer Weise, die eher an einen schlechten Kriminalroman erinnerte als an ein Zusammentreffen von befreienden Praktiken und Zielen. Gleichzeitig wurde die maoistische „Drei-Welten-Theorie“, für die Zehntausende von Rebellen auf der ganzen Welt starben, schließlich zu einer diplomatischen Karte in den internationalen Beziehungen, als sich die Kommunistische Partei Chinas zu dem wandelte, was sie heute ist, und es ihr gelang, ihr Modell des Totalitarismus zu ändern, ohne auch nur ihren Namen ändern zu müssen. In Angola unterstützten die USA im Zuge der „Annäherung“ zwischen den USA und dem kommunistischen China von den 1970er bis in die 1990er Jahre die maoistische Guerillagruppe UNITA gegen die prosowjetische Volksbefreiungsbewegung von Angola (MPLA) in einem Bürgerkrieg zwischen zwei kommunistischen antiimperialistischen Guerillagruppen, der 500.000 Menschen das Leben kostete.

Nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der Sowjetunion erlebten wir in der Balkanregion das groteske, aber auch äußerst tragische Ereignis der Unterstützung des „Antiimperialisten“ Milošević durch die griechische Geschäftswelt, die Medien, die orthodoxe Kirche, die Kommunistische Partei, verschiedene Zweige des Staatsapparats und die Neonazis. Die bekennenden griechischen Antiimperialisten haben in der letzten Phase der Kriege im ehemaligen Jugoslawien gegen den „von der NATO inszenierten“ Krieg gewettert.

Interessant ist, dass das Vorbild der „pro-NATO UCK“ die Koalition verschiedener antiimperialistischer kommunistischer pro-Hodscha („Interventionist“) Organisationen im Kosovo war. Nach den Arbeiterbewegungen 1981 in Jugoslawien und der gewaltsamen Repression der jugoslawischen Armee gegen albanische Arbeiterinnen und Arbeiter im Kosovo aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit schlossen sich verschiedene linke Gruppen zur Kosovo-Volksbewegung (LPRK) zusammen. Sie traten für den „echten Stalinismus“ Albaniens gegen die „westfreundlichen Revisionisten“ Belgrads ein und stellten die Ausbeutung des albanischsprachigen Agrar- und Industrieproletariats des Kosovo als jugoslawischen Imperialismus in Zusammenarbeit mit dem kapitalistischen Westen dar. Nach dem Zusammenbruch des Hoxha-Regimes in Albanien blieb vom „stalinistischen Anti-Imperialismus“ im Kosovo nur noch der Nationalismus übrig, der in der NATO Verbündete suchte.

Die „Besonderheit“ des Balkans

Die Geschichte des Balkans hat ihre eigenen besonderen und sehr wichtigen Merkmale. In regelmäßigen Abständen wird heutzutage irgendein Balkanland als „Pulverfass“ bezeichnet, womit das Stereotyp der Beschreibung des Balkans als „Pulverfass Europas“ aus den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg aufrechterhalten wird. Dies wird nach dem vorherrschenden Narrativ durch den Ausbruch der Jugoslawienkriege unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bestätigt. Das erste europäische Stereotyp über den Balkan war jedoch das des Vampirs – man denke an Le Fanus Horrorroman Carmilla (1872) oder Bram Stokers bekannteren Dracula (1892).

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Balkan zu einem beliebten Gesprächsthema und Reiseziel, da Städtereisende aus den entwickelten europäischen Nation-Staaten den exotischen Balkan als lebendiges Laboratorium sahen, in dem sie Zuschauer ihrer eigenen Vergangenheit werden konnten, da sich verschiedene Ethnogenesen direkt vor ihren Augen abspielten, während die Abwesenheit von kapitalistischer Ethik und eurozentrischem Szientismus auf dem Balkan die Westler mit ihrem wilden, animalischen Alltagsleben faszinierte. Die ethnisch unreine, „uneheliche“ und „fremde“ Identität des Balkans kommt am besten in der Figur des Dracula zum Ausdruck, des halbmenschlichen Untermenschen, der das rassisch reine Europa ansteckend bedrohte. In den Romanen dieser Zeit tauchen verschiedene fiktive Balkanländer wie Ruritanien, die Steiermark oder die Herzo-Slowakei auf, die den transzendentalen Charakter der Ethnogenese einfangen. In den darauffolgenden Jahren wurden transzendentale Erbfolgekriege provoziert, da die verschiedenen lokalen Bourgeoisien ihre Interessen mit einigen der europäischen Großmächte identifizierten, die ihre Konfrontation miteinander nach außen verlagert hatten und in diesem Fall den Nutzen aus dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches maximieren wollten. Die Geschwindigkeit, mit der der zivilisierte Westen von der Horrorliteratur zur schrecklichen Realität der Kriege für die kapitalistische Expansion übergehen konnte, ist nur mit der Geschwindigkeit der kapitalistischen Expansion selbst vergleichbar. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts suchte der Antagonismus der nationalen Kapitalistenklassen nach einem Vorwand, um auf dem Balkan auszubrechen. Am Ende desselben Jahrhunderts musste der Balkan erneut in den Krieg ziehen, dieses Mal im Namen der sogenannten kapitalistischen Globalisierung. Und jetzt hören wir wieder Kriegsgeschrei, im Kontext des innerkapitalistischen Wettbewerbs.

TEIL IV. DER KAMPF GEGEN DEN IMPERIALISMUS KANN NICHT ANTI-IMPERIALISTISCH SEIN

Den Kapitalismus herauszufordern bedeutet, die Art und Weise, wie er die Macht neu ordnet, zu verändern und schließlich abzuschaffen. Doch um dies effektiv zu tun, müssen wir genau verstehen, was wir in Frage stellen. Macht, so argumentieren wir, ist kein äußerer Faktor, der einen materiellen Akkumulationsprozess verzerrt oder unterstützt; sie ist vielmehr die innere Triebkraft, das Mittel und der Zweck der kapitalistischen Entwicklung im Allgemeinen. Aus dieser Sicht lässt sich der Kapitalismus am besten nicht als Konsum- und Produktionsmodus, sondern als Machtmodus verstehen und bekämpfen.18

Wenn der Anti-Imperialismus historisch gesehen die Antwort auf die Frage war, wie man mit dem nicht ökonomischen Aspekt des Kapitalismus (ein Aspekt, den die Anhänger des „exogenen Sozialismus“ viel zu spät entdeckt haben) so umgehen kann, dass er den Interessen des bolschewistischen und dann des maoistischen Staatskapitalismus dient, sollten wir wahrscheinlich eine andere Frage stellen: Wie können die Kämpfe derjenigen, die die Brutalität der Ausplünderung in der kapitalistischen Peripherie erleben, vermeiden, sich auf Nationalismus zu beschränken und alternative Wege zur kapitalistischen Ausplünderung aufzuzeigen? Wie können wir uns in den Wohlstandszonen organisieren, ohne die planetarische Ungleichheit zu ignorieren und ohne auf Orientalismus zurückzugreifen? Wie können wir die Kämpfe der Ausgeschlossenen und der von Ausgrenzung Bedrohten mit den Kämpfen in den globalen kapitalistischen Zentren verbinden? Wie schaffen wir es, auf internationalistische Weise auf das Aufkommen der extremen Rechten zu reagieren, die sich angeblich gegen die Auswirkungen der Globalisierung richtet? Wie können wir die kapitalistische Kriegsmaschinerie stoppen? Die Antworten auf diese Fragen hängen von der kollektiven Intelligenz und den vielschichtigen Aktivitäten der Bewegung ab. Hier wollen wir nur einige Punkte ansprechen.

Es gibt viele, die wohlwollend fragen: „Aber sollten sich die Bevölkerungen in der kapitalistischen Peripherie nicht selbst organisieren, um sich gegen ihre Ausbeutung zu wehren?“ In der Geschichte hat sich jedoch immer wieder gezeigt, dass, wenn sich eine Bevölkerung in einem vertikalen, pyramidalen Machtsystem organisiert, „um sich gegen die mächtigen Länder zu wehren“, die Verwalter dieses Systems versuchen werden, sie in ein breiteres Pyramidensystem zu integrieren. Mit anderen Worten: Sie werden sich nicht gegen die stärkeren kapitalistischen Mächte und schon gar nicht gegen hierarchische Systeme im Allgemeinen wenden. Darüber hinaus wird der heutige internationalisierte Kapitalismus über die vertikalen Strukturen hinaus, auf denen er beruht (die verschiedenen Nation-Staaten, ihre Armeen und ihre Polizeikräfte), von einem erdrückenden transnationalen Netzwerk von Banken beherrscht, aber auch von einem Mediensystem, das die imaginäre Dimension der Menschheit prägt und unser abstraktes und symbolisches Denken bestimmt. Wenn wir vertikale Machtstrukturen schwächen und Risse im Netz der globalen Ökonomie aufreißen wollen, müssen wir zuerst versuchen, genau dieses symbolische System zu verändern. Das geht nicht, indem wir Interpretationen wiederholen, die auf ganzer Linie versagt haben.

Es sollte auch darauf hingewiesen werden, dass der Kapitalismus zwar immer universeller wird, die „einheitliche Theorie“, die ihn zu erklären versuchte, sich aber längst aufgelöst hat. Gab es jemals ein anderes Beispiel für eine internationalistische Organisation und Aktion gegen den Kolonialismus als den Anti-Imperialismus des Sowjetimperiums? Die Antwort lautet: Ja. Die Erste Internationale hat durch ihre bloße Existenz und ihre erklärten Ziele Kräfte auf der ganzen Welt befreit. Die IWW war ein Vorbild für eine Organisation mit wirklich internationalistischem, revolutionärem Charakter, da sich Einwanderer aus Europa neben Einwanderern aus Asien und Nachkommen afrikanischer Sklaven in den USA organisierten. Die IWW unterstützten die rebellischen indigenen Bauern in Mexiko und organisierten darüber hinaus die ersten gemischten Gewerkschaften/Syndikate aus afrikanischen und weißen Arbeiterinnen und Arbeitern auf dem afrikanischen Kontinent. „Lange Zeit konnte man sagen, dass der Anarchismus ernsthafter internationalistisch war als sein Konkurrent [der Marxismus]. Diese Haltung kam zum Teil dadurch zustande, dass der Anarchismus auf den riesigen Migrationswellen aus Europa ritt, die die letzten 40 Jahre vor dem Ersten Weltkrieg prägten: Italiener, Spanier, Portugiesen, Polen, Juden und so weiter strömten in die Neue Welt, rund um das Mittelmeer und in die von den Europäern gegründeten Reiche in Asien und Afrika. (Malatesta verbrachte zum Beispiel Jahre in Argentinien und Ägypten, während Marx und Engels in Westeuropa blieben).“19

In vielen Teilen der Welt „kam es zu einer massenhaften proletarischen Migration, die transnationale Netzwerke von Militanten schuf und radikale Publikationen hervorbrachte. Die Kombination dieser Prozesse führte zur Entstehung einer Bewegung, die sich über alle Kontinente ausbreitete“.20 Dennoch war die Komintern, wie D. Broder feststellt, „… von Anfang an ein weitgehend europäisches Phänomen (…) es gab einige asiatische Vertreter, aber keine aus Lateinamerika oder Afrika.“ Die Komintern verbreitete sich dank der Politik des so genannten „Anti-Imperialismus“. Broder zitiert den charakteristischen autobiografischen Satz von Ho Chi Minh: „Was mich zuerst dazu brachte, an Lenin und die Dritte Internationale zu glauben, war nicht der Kommunismus, sondern der Patriotismus“.21

In krassem Gegensatz zu dieser Priorität des Vaterlandes stand die praktische Unterstützung der antikolonialen Kämpfe durch anarchistische Organisationen (die in der „tragischen Woche“ von Barcelona gipfelte, d.h. dem Aufstand der Arbeiterinnen und Arbeiter gegen Spaniens Kolonialkrieg in Marokko vom 26. Juli bis 2. August 1909), die mit einer ausdrücklichen Ablehnung sowohl des Militarismus als auch des Nationalismus einherging.

Zwei Jahre vor der Veröffentlichung von Lenins Pamphlet über den Imperialismus hatte William Du Bois, ein weithin missverstandener afroamerikanischer Schriftsteller und Militanter, im Atlantic Monthly eine ausführliche Analyse mit dem Titel „The African Roots of War“ veröffentlicht, in der er das Gemetzel des Ersten Weltkriegs nicht mit „ungleicher Entwicklung“, der „Verschmelzung von Bankkapital mit Industriekapital“ und „Monopolkapitalismus“ in Verbindung brachte, sondern den Krieg als Zusammenstoß konkurrierender Interessen zwischen den westlichen Mächten als Teil eines Prozesses betrachtete, der im späten 19. Jahrhundert begonnen hatte.

„Es ist nicht mehr nur der Handelsfürst oder das aristokratische Monopol oder sogar die Arbeiterklasse, die die Welt ausbeutet: Es ist die Nation; eine neue demokratische Nation, die aus vereintem Kapital und Arbeit besteht. Die Arbeiter bekommen zwar noch nicht so viel Anteil, wie sie wollen oder bekommen werden, und unten gibt es immer noch große und unruhige ausgeschlossene Klassen. (…) Solche Nationen sind es, die die moderne Welt beherrschen. Ihr nationales Band ist nicht nur sentimentaler Patriotismus, Loyalität oder Ahnenverehrung. Es ist die Vermehrung von Reichtum, Macht und Luxus für alle Klassen in einem Ausmaß, das die Welt noch nie gesehen hat.“22

In The Souls of White Folk (1920) interpretiert Du Bois den „neuen Imperialismus“ als eine Notwendigkeit für die Reproduktion der Macht im Westen:

„Der modernen weißen Zivilisation ist klar, dass die Unterwerfung der weißen Arbeiterklasse nicht mehr lange aufrechterhalten werden kann. Bildung, politische Macht und zunehmendes Wissen über die Technik und Bedeutung des industriellen Prozesses werden in naher Zukunft zu einer immer gerechteren Verteilung des Reichtums führen. Die Zeit der Superreichen neigt sich dem Ende zu, soweit es die einzelnen weißen Nationen betrifft. Aber es gibt ein Schlupfloch. Es gibt eine Chance für Ausbeutung im großen Stil und für übermäßigen Profit, nicht nur für die sehr Reichen, sondern auch für die Mittelklasse und für die Arbeiterinnen und Arbeiter. Diese Chance liegt in der Ausbeutung der dunkleren Völker. Hier winkt die goldene Hand. Hier gibt es keine Gewerkschaften/Syndikate oder Wählerstimmen oder fragende Zuschauer oder unbequeme Gewissen. Diese Männer können bis auf die Knochen ausgebeutet und in „Strafexpeditionen“ erschossen und verstümmelt werden, wenn sie revoltieren. In diesen dunklen Ländern kann die „industrielle Entwicklung“ in übertriebener Form alle Schrecken der europäischen Industriegeschichte wiederholen, von Sklaverei und Vergewaltigung bis hin zu Krankheit und Verstümmelung, mit nur einem einzigen Erfolgskriterium: der Dividende!“23

Die anti-imperialistischen Kämpfe gegen den Kolonialismus vertrauten auf den Rahmen der national-patriotischen staatskapitalistischen Perspektive, anstatt den Kapitalismus als Machtsystem, das auf Plünderung, Krieg und Rassismus – aber auch auf Integration – beruht, ins Herz zu treffen. Bei dem Versuch, alles auf den „zentralen Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit“ zu reduzieren, ignorierten die meisten Theoretiker des Marxismus entscheidende Kategorien wie Kolonialismus und Militarismus. Die Taktik des Leninismus brachte die nationale Ideologie durch die Hintertür ins Spiel. Das ist nicht ohne Bedeutung, denn heute erleben wir das scheinbar paradoxe Phänomen, dass „fortschrittliche“ Mitglieder der transnationalen globalen Elite sich gegen den wachsenden populistischen Nationalismus aussprechen. Ist es möglich, dass der Kapitalismus, der sich auf die nationale Ideologie (als einigendes ideologisches Regime, das die Religion ersetzt) verlassen hat, nun transnationale Formationen fördert und gleichzeitig den populistischen Nationalismus als seinen Gegner definiert? Der transnationale Kapitalismus strebt nach höheren Profiten durch die Verlagerung der Produktion in Zonen mit niedrigen Arbeitskosten, kombiniert mit einem neuen Kolonialismus (Plünderung von Ressourcen durch „Freihandel“, Kreditaufnahme und ständige Kriege „niedriger Intensität“ in der Peripherie) und mit dem Angriff auf Rechte und Leistungen in den „privilegierten Zonen“, wodurch Bedingungen extremer Ungleichheit innerhalb der kapitalistischen Zentren entstehen. In diesem Zusammenhang könnten wir „Imperialismus“ als ökonomischen, kulturellen und militärischen Expansionismus (außerhalb der eng gefassten kapitalistischen Produktionsweise) definieren, der darauf abzielt, den Kapitalismus als globales System zu reproduzieren. Darüber hinaus gibt es „individuelle Imperialismen“, die die jeweiligen (nicht unbedingt territorialen) Expansionsbestrebungen supranationaler Formationen oder regionaler Mächte im Rahmen eines Wettbewerbs um die Macht innerhalb des Weltsystems beschreiben. Schließlich sind alle Staaten innerhalb der globalen kapitalistischen Aufteilung und entsprechend ihrem Potenzial expansionistisch, da sie einerseits den Expansionismus ihrer bourgeoisen Klassen unterstützen und andererseits an suprastaatlichen Formationen beteiligt sind, die genau für die Bedürfnisse des imperialistischen Aspekts des Weltsystems eingerichtet wurden. Die nationale Ideologie ist immer noch notwendig: Sie ist das wirksamste falsche Bewusstsein der Unterdrückten. Konfrontationen führen zu einem neuen Gleichgewicht, da in jedem Land die Verschlechterung der Lebensqualität als Ergebnis eines „nationalen Feindes“ (eines anderen Staates, einer supranationalen Organisation, aber nicht des Kapitalismus und seiner Krise) gerechtfertigt werden kann. Außerdem bereiten sie ständig den Boden für einen Krieg, den ultimativen Neustart der kapitalistischen Maschine.

Der Nationalismus war für die sogenannte Bourgeoisie in ihren ersten Schritten nützlich, weil er sie einte, indem er sie spaltete. Der transnationale Kapitalismus wird nicht durch die Individuation seiner Subjekte bedroht. Im Gegenteil, er entwirft und reproduziert alle Arten der Trennung. Während innerstaatliche Rivalitäten und Antagonismen zwischen verschiedenen suprastaatlichen Formationen zunehmen, wird die globale Vorherrschaft des Kapitalismus nicht im Geringsten in Frage gestellt. Das kapitalistische Imaginäre wird nicht nur nicht in Frage gestellt, sondern die Apathie steigt in unvorstellbare Höhen. Im Gegensatz zu Guy Debords beruhigender Prophezeiung, dass „die Tage dieser Gesellschaft gezählt sind (…) ihre Bewohner in zwei Teile gespalten sind, von denen einer sie zerstören will“ (vielleicht der berühmteste Aphorismus aus der 4. italienischen Ausgabe der Gesellschaft des Spektakels), erzeugen die „Nationalismen von unten“ auf der ganzen Welt nun Spaltungen, die den Menschen helfen, die Strukturen unserer eigenen Unterwerfung tiefer zu verinnerlichen.


TEXTE:

Jason Adams (2003), Non-Western Anarchisms, Zabalaza Books.

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Robert Young (2001), Postcolonialism: An historical introduction, Oxford, Blackwell


1Richard Koebner und Helmut Dan Schmidt. „Imperialism: The Story and Significance of a Political Word“, 1964.

2A.d.Ü., auch wenn wir den Text von einer anderen Übersetzung auf unseren Blog übernommen haben, haben wir die Stelle selber nochmals übersetzt um gewisse marxistische Begriffe korrekter anzuwenden.

3Robert Young. Postcolonialism: An Historical Introduction 2007.

4Marcel Stoetzler. «Marx, Karl (1818-83) and imperialism», Palgrave Encyclopaedia of Imperialism and Anti-Imperialism, vol 1. 2016.

5Brewer 1980.

6Patnaik 2017.

7Rosa Luxemburg. The Accumulation of Capital 1913.

8V. I. Lenin, Eighth All-Russia Congress of Soviets, December 29, 1920.

9Lenin, Ebenda

10Briefe vom Botschafter Page and den Präsidenten Wilson, 1913 und 1914, zitiert von Aimé Cesaire, Discourse on Colonialism, übersetzt von Joan Pinkham, Monthly Review Press, New York 2001, p. 76.

1111 February, 1918: President Wilson’s Address to Congress, Analyzing German and Austrian Peace Utterances,http://www.gwpda.org/1918/wilpeace.html

12V. I. Lenin, The Second Congress Of The Communist International, July 19-August 7, 1920.

13Dave Crouch, “The Bolsheviks and Islam”, International Socialism 2 : 110, Spring 2006.

14Rote Armee Anführer Mikhail Frunze, 1920 zitiert in D.T. Northrop, Veiled Empire: Gender and Power in Soviet Central Asia, New York 2004.

15Marcel Stoetzler. „Critical Theory and the Critique of Anti-Imperialism“, The SAGE Handbook of Frankfurt School Critical Theory, τόμος 3. 2018.

16Zusammenfassungen dieser Idee, die hauptsächlich in den Werken von Silvia Federici, George Caffentzis und Peter Linebaugh entwickelt wurde, findest du zum Beispiel in: Camille Barbagallo, Nicholas Beuret und David Harvey (Hrsg.) Commoning with George Caffentzis and Silvia Federici, Pluto Press 2019. Siehe auch die Proceedings der Konferenz: Towards a Global History of Primitive Accumulation, International Institute of Social History, Amsterdam, 9. bis 11. Mai 2019.

17Lin Biao. Report to the Ninth National Congress of the Communist Party of China, delivered on April 1 and adopted on April 14, 1969, https://www.marxists.org/reference/archive/linbiao/1969/04/01.htm

18Shimshon Bichler und Jonathan Nitzan. “Capital as Power – Toward a New Cosmology of Capitalism,” Dissident Voice, May 2010.

19Steven Hirsch und Lucien van der Walt (eds.). «Anarchism and Syndicalism in the Colonial and Postcolonial World, 1870-1940», Studies in Global Social History, 6, 2010.

20Adams 2003.

21David Broder, “Machete and Sickle”, https://jacobinmag.com/2019/03/latin-american-communism-comintern-third-international].

22W.E.B. Du Bois, «The African Roots οf War», Atlantic Monthly, May 1915.

23W.E.B. Du Bois. The Souls οf White Folk, New York 1920.

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MATERIAUX CRITIQUES – Imperialismus / Antiimperialismus… Formeln der Verwirrung https://panopticon.blackblogs.org/2023/06/17/materiaux-critiques-imperialismus-antiimperialismus-formeln-der-verwirrung/ Sat, 17 Jun 2023 21:35:26 +0000 http://panopticon.blackblogs.org/?p=5016 Continue reading ]]> Angesichts dass uns dieses Thema sehr interessiert und wir schon einen Text darüber übersetzt haben, Gegen die leninistische Position zum Imperialismus von Antithesi, halten wir weiter an der Veröffentlichung von Texten die sich kritisch mit der Thematik, oder der falschen Feindschaft, zwischen Imperialismus und Antiimperialismus auseinandersetzen.

Die Gefährten und Gefährtinnen von Tridni Valka machten uns darauf aufmerksam dass dieser Text mittelmäßig ist und dass die Gruppe die es veröffentlicht sich nie wirklich von Leninismus verabschiedet hat. Wir sind Tridni Valka sehr dankbar für diese Anmerkung, sie haben uns auf bessere Texte angewiesen. Und trotzdem veröffentlichen wir diesen, trotz unserer Feindschaft gegen den Leninismus (und all seinen Nuancierungen), gerade weil wir die Thematik wichtig finden und die Debatte um den Imperialismus und seinen angeblichen Gegner, den Antiimperialismus, seit dem Krieg in der Ukraine wieder neuen Aufschwung bekommen hat.

In Zukunft werden wir noch viele Texte veröffentlichen die den Leninismus kritisieren und angreifen, also soll an unserer aufrechten Feindschaft gegen diesen nicht gezweifelt werden. Wenige anarchistische Gruppen haben sich in den letzten Jahren so sehr der Thematik gewidmet wie wir es tun, nebenbei gesagt.


MATERIAUX CRITIQUES

Imperialismus / Antiimperialismus… Formeln der Verwirrung

In diesem Text werden wir die Kritik an zwei sich ergänzenden Konzepten skizzieren: dem des Imperialismus und, im Gegensatz dazu, dem des Antiimperialismus. Im groben Verständnis des Linkstums und der Linken des Kapitals im Allgemeinen wäre der Imperialismus ein Synonym (A.d.Ü., gleichbedeutend) für den Weltkapitalismus und den Antiimperialismus, der eine Antwort auf diese „neue höchste Stufe“ der KPW (kapitalistische Produktionsweise) darstellt. Nach der gängigsten Akzeptanz dieser Begriffe ist der Imperialismus heute die herrschende Macht und der Antiimperialismus sind alle anderen Mächte und Bewegungen, die versuchen, ihm zu widerstehen.

Der am häufigsten identifizierte Vertreter des herrschenden Imperialismus – Spuren des Kalten Krieges – sind die Vereinigten Staaten und, für ihre – teuflische – Version im Nahen Osten, der Zionismus des Staates Israel. Als Reaktion darauf kann der Antiimperialismus leicht in einen „linken“ Antisemitismus abgleiten und von dort aus, durch die Befürwortung kommunaler Gewalt, für manche in den Islamo-Faschismus oder Faschismus im Allgemeinen.

Was ist Imperialismus?

Etymologisch gesehen bedeutet Imperialismus die Tendenz, Imperien zu errichten. Allgemeiner ausgedrückt ist es eine Doktrin, die darauf abzielt, die politische, militärische und/oder ökonomische Abhängigkeit eines Staates von anderen Bevölkerungen oder Staaten zu verringern. Aus diesem Grund gibt es in der Geschichte der verschiedenen vorkapitalistischen Produktionsweisen eine Vielzahl von Imperien: vom Römischen Reich bis Persien, vom Mongolischen Reich bis zum Byzantinischen oder Osmanischen Reich.

Es ist wichtig, an dieser Stelle zu betonen, dass diese Tendenz zur Bildung von Imperien keineswegs, wie bei den oben genannten Beispielen, eine Besonderheit des Kapitalismus ist, erst recht nicht in seiner reifen Phase. Im Gegenteil, die Geschichte des 20. Jahrhunderts war durch die beiden Weltkriege geprägt vom Ende der verbliebenen großen Imperien und der Entwicklung einer multipolaren Realität. Ein Beispiel für diese neue Realität ist der Wettbewerb zwischen den Nationen, die über die Atombombe verfügen. Es gibt die Nationen, die historisch gesehen als Großmächte gelten, die Atomwaffen besitzen (die Vereinigten Staaten, Russland, China, Frankreich und Großbritannien), und die Nationen, die unabhängig von den verschiedenen Verträgen als Besitzer der höchsten Waffe anerkannt sind (das sind Indien, Pakistan und Nordkorea), ohne Israel zu vergessen, das offiziell nicht als Besitzer anerkannt ist.

Der Imperialismus ist also eine Tendenz, die in verschiedenen Gesellschaftstypen zu finden ist und die sich dank des Prozesses der Kolonisierung der Welt, der Ursache und Folge der Entstehung der kapitalistischen Welt ist, in dem herauskristallisieren wird, was manche als „merkantilen Proto-Kapitalismus“ bezeichnen. Deshalb wird die „Geburt“ des Kapitalismus symbolisch oft mit der „Entdeckung“ Amerikas durch Kolumbus und dem Beginn der genozidalen Ausplünderung verbunden, zu der diese Entdeckung auf dem gesamten Kontinent führen wird1.

Der Proto-Kapitalismus bezeichnet also die dreieinhalb Jahrhunderte, in denen dank der kommerziellen und kolonialen Expansion der europäischen Großmächte in Amerika, Afrika und Asien die Herausbildung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse in Europa vollendet und die wichtigsten Bedingungen für ihre Reproduktion geschaffen wurden.“ (A. Bihr, 1415/1763, Das erste Zeitalter des Kapitalismus, T1, S. 28).

Eine der Grundlagen dieser kapitalistischen Entwicklung liegt also in dem, was Marx die moderne Theorie der Kolonisation nennt. In dieser Theorie zielt die Kolonisierung neben der Eroberung „jungfräulicher“2 Gebiete und der Plünderung des von früheren Gesellschaften angehäuften Reichtums darauf ab, das gesamte frühere, auf persönlicher Arbeit basierende Eigentum zu zerstören, indem die Situation des Produzenten verbessert wird, um ihn durch Lohnarbeit zu ersetzen, die ihrerseits das Kapital bereichert. Es ist anzumerken, dass Marx sich zwar in zahlreichen Texten ausgiebig mit dem Kolonialismus beschäftigt, um seine Funktion im jungen Kapitalismus zu beschreiben, den Begriff des Imperialismus aber nie verwendet, um die spezifisch kapitalistische Produktionsweise zu charakterisieren.

Die Enthüllung des Geheimnisses der Kolonialisierung am Ende des ersten Buches des Kapitals lautet wie folgt: Die aus der kapitalistischen Produktionsweise hervorgehende kapitalistische Aneignungsweise, daher das kapitalistische Privateigentum, ist die erste Negation des individuellen, auf eigne Arbeit gegründeten Privateigentums. (K. Marx: Das Kapital, XXIV Kapitel, Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation). Ebenso wird der Weltmarkt zu einem allgemeinen Merkmal des Kapitalismus, unabhängig von seiner Periodisierung: „Die Entdeckung Amerikas, die Umschiffung Afrikas schufen der aufkommenden Bourgeoisie ein neues Terrain. Der ostindische und chinesische Markt, die Kolonisierung von Amerika, der Austausch mit den Kolonien, die Vermehrung der Tauschmittel und der Waren überhaupt gaben dem Handel, der Schiffahrt, der Industrie einen nie gekannten Aufschwung und damit dem revolutionären Element in der zerfallenden feudalen Gesellschaft eine rasche Entwicklung. (…) Die große Industrie hat den Weltmarkt hergestellt, den die Entdeckung Amerikas vorbereitete. Der Weltmarkt hat dem Handel, der Schiffahrt, den Landkommunikationen eine unermeßliche Entwicklung gegeben. Diese hat wieder auf die Ausdehnung der Industrie zurückgewirkt, und in demselben Maße, worin Industrie, Handel, Schiffahrt, Eisenbahnen sich ausdehnten, in demselben Maße entwickelte sich die Bourgeoisie, vermehrte sie ihre Kapitalien, drängte sie alle vom Mittelalter her überlieferten Klassen in den Hintergrund. (…) Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt.“ (Marx-Engels: Manifest der Kommunistischen Partei).

Der koloniale Imperialismus als Ausdruck der Vitalität des jungen Kapitalismus

Der Prozess der Kolonialisierung und der Entwicklung des merkantilen Kapitals impliziert die Tendenz zur Bildung riesiger kolonialer Imperien, weshalb wir in dieser Zeit von Kolonialimperialismus sprechen sollten. Im Allgemeinen werden die verschiedenen aufstrebenden kapitalistischen Mächte nach ihren Kolonien hierarchisiert. Das gilt zunächst für Spanien und Portugal, dann, mit der Entwicklung der Industrie, für die Niederlande und Großbritannien. Innerhalb des globalen Rahmens der KPW verschiebt sich das Epizentrum des Kapitalismus in Zeit und Raum: Westeuropa war in seiner Jugend seine Wiege, während sich die kapitalistische Entwicklung heute zunehmend auf den pazifischen Raum (China, Indien, Japan…) konzentriert.

Als Folge dieser Verschiebung stellen wir fest, dass Gebiete, die früher als Avantgarde der kapitalistischen Entwicklung standen, heute zu Ödland und verarmt sind, während andere, die früher als „Dritte Welt“ bezeichnet wurden, heute als Avantgarde der kapitalistischen Entwicklung gelten. Die Vorstellungen von „Zentrum und Peripherie“ des Kapitals sind also relativ und verschieben sich. Der Prozess des kolonialen Imperialismus ist somit sowohl Ursache als auch Folge der Entwicklung des Handels auf der Ebene des Weltmarktes. Er steht für die Kraft des jungen Kapitalismus. Durch die Eroberung neuer Gebiete, die Ausplünderung und Versklavung der einheimischen Bevölkerung waren die ersten Kolonialmächte in der Lage, den immensen Reichtum zu importieren, der es ihnen ermöglichte, in ein Westeuropa zu fliehen, in dem sich der Feudalismus gerade in Auflösung befand.

Dieser Prozess der Ablösung der Produktionsweisen wurde durch den massiven Zufluss von Gold und Silber verstärkt, wobei letzteres als Mittel zur Auflösung der vorkapitalistischen feudalen Gesellschaftsbeziehungen diente. Die Kolonien dienten sowohl als Produktionsstätten für neue Rohstoffe (Baumwolle, Edelmetalle, Zuckerrohr, Melasse, Tabak usw.), die für die Produktion benötigt wurden, als auch als privilegierte Orte für den Export von Fertigwaren in die neuen kapitalistischen Metropolen wie Manchester, Amsterdam, Antwerpen usw. ….. Dieser duale Prozess – niedrige Verkaufspreise für Rohstoffe und hohe Weiterverkaufspreise für hergestellte Waren – wurde von einigen Ökonomen als ungleicher Tausch beschrieben und führte damit den Mythos ein, dass im Kapitalismus eine andere Art von Tausch möglich wäre.

Von Kolonien zum Aufbau von kolonialen Imperien

Dieser Prozess der kolonialen Eroberungen wird auch einer der Vektoren für die Bildung großer Handelsunternehmen mit monopolistischen Zielen sein, aus denen die großen kolonialen Imperien hervorgehen werden, die der Ausdruck der „imperialistischen“ Kraft des jungen Kapitalismus sind. Nach Spanien und Portugal werden es die Niederlande, Frankreich und England sein, die ein Imperium schmieden werden, das ihrer Handels- und Produktionsmacht entspricht3. Großbritannien wird in diesem Wettlauf gewinnen, als das Britische Empire, die erste kapitalistische Macht, die mehrere Jahrhunderte lang ein Gebiet beherrscht, das so groß ist, dass nach ihrer eigenen Entschuldigung „die Sonne dort nie untergeht“. Dieses Empire herrschte vom 16. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts; es vereinigte ein Viertel der Weltbevölkerung (etwa 400 Millionen Einwohner) und erstreckte sich über mehr als ein Fünftel der Landmasse der Welt.

Es ist erwähnenswert, dass es viele Konflikte und Kriege zwischen den verschiedenen Kolonialmächten brauchte, bevor die britische Imperialmacht zur führenden Weltmacht wurde. Deshalb haben auch heute noch die meisten Konflikte und andere seltsame Staatsgründungen ihren Ursprung in den vielfältigen Vergehen des „Foreign Office“; von der Palästinafrage bis zur Gründung des Libanon, des Irak und Hongkongs. In dieser historischen Phase, die durch die Vorherrschaft des absoluten Mehrwerts gekennzeichnet ist und von Marx als die Phase der formellen Unterordnung der Arbeit unter das Kapital bezeichnet wurde, wurden die meisten Nationen-Staaten gegründet, aber auch die großen kapitalistischen Imperien; neben dem britischen auch das Japanische, das Österreich-Ungarische, das Russische, das Osmanische… Imperium (A.d.Ü., oder Reich, je nach der richtigen historischen Selbstbezeichnung).

Wir möchten noch einmal unterstreichen, dass diese Tendenz zur Bildung von Imperien nicht einzigartig ist und nur einer Form der Umgruppierung aufgrund des immanenten Gesetzes der Konkurrenz zwischen Kapitalien und damit auch zwischen Nationen-Staaten entspricht. Dieses Gesetz impliziert den kolonialen Expansionismus als die eigentliche Notwendigkeit der erweiterten Akkumulation und hat als einzige objektive Grenze die geografische Begrenzung des Planeten. Diese Grenze ist erreicht, wenn der Planet in seiner Gesamtheit (A.d.Ü., Totalität im Originaltext) erobert worden ist. Dies wird also das Ende der kolonialen Eroberungen bedeuten. Dieses Ende wird im Allgemeinen nicht durch Eroberungen, sondern durch die Eröffnung neuer Kriege in Bezug auf die indigenen Bevölkerungen markiert.

Dann kommt es zu einer neuen Aufteilung zwischen den verschiedenen Kolonialmächten. Dies war sinnbildlich der Fall beim zweiten „Burenkrieg“ in Südafrika (1899-1902), bei dem es nach der Unterwerfung der Zulu-Bevölkerung zu einer großen Konfrontation zwischen den ersten „afrikaans“ Siedlern holländischer Herkunft (aber auch Deutschen und Hugenotten) und den Truppen des britischen Empire kam, die kurz zuvor nach der Entdeckung großer Goldvorkommen im Transvaal (Jameson-Raubzug) entsandt wurden. Dieser Burenkrieg leitet die so genannten „modernen“ Kriege ein, indem er insbesondere den Einsatz von Kampfgasen (Pikrinsäure), Kommandos, die militärische Nutzung von Stacheldraht4 und die britische Erfindung von Konzentrationslagern im Zuge der tödlichen Deportation der burenischen Zivilbevölkerung einführt. Er wird (mit dem Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898) offen als der erste innerimperialistische Krieg deklariert, dem viele weitere folgen (darunter der Russisch-Japanische Krieg von 1905 und der Balkankrieg von 1912/1913, um nur einige zu nennen), die den Ersten Weltkrieg direkt „vorbereiten“.

Diese verschiedenen Elemente werden sich natürlich im Ersten Weltkrieg vervielfachen, der nicht nur als „erstes Weltgemetzel“ bezeichnet wird, sondern auch die erste große Aufteilung von Territorien und Einflussgebieten in der Größenordnung mehrerer Kontinente sein wird. Das sprachliche Paradoxon liegt darin, dass die so genannte „imperialistische“ Phase in Wirklichkeit die Zeit des Verschwindens der großen Imperiensein wird, die es vorher gab. Tatsächlich wird das 20. Jahrhundert das Jahrhundert der Entkolonialisierung und der Entstehung einer Vielzahl von formal und rechtlich unabhängigen Nationalstaaten sein.

Kritik am Imperialismus nach Lenin (und seinen Epigonen)

1916 schrieb Lenin in Zürich sein berühmtes Pamphlet: „Der Imperialismus, als höchstes Stadium des Kapitalismus“. Der Untertitel dieses Pamphlets ist schon sehr aufschlussreich, denn es ist ein „Gemeinverständlicher Abriß“ und Lenin verschweigt uns im Vorwort nicht, dass er vor allem und mit großer Aufmerksamkeit das Werk des liberalen Ökonomen J.A. Hobson mit dem Titel „Der Imperialismus“ konsultiert hatte. Dieses Buch aus dem Jahr 1902 basiert auf den Erfahrungen des Autors, der als Journalist nach Südafrika geschickt wurde, um über den Burenkrieg zu berichten. Es handelt sich um einen umstandsbedingten Text, der das Aufkommen „neuer Tendenzen“ in der Entwicklung des Kapitalismus zu dieser Zeit beschreibt und ist keineswegs das strenge und analytische Werk, das die apologetische Geschichtsschreibung nach seiner Veröffentlichung daraus machte.

Andere Autoren der sozialdemokratischen Tradition haben zur gleichen Zeit ähnliche Themen entwickelt, und zwar oft auf viel umstrittenere Weise, wie Rudolph Hilferding, Rosa Luxemburg oder auch Nicolai Bucharin. Lenin versucht, den modernen Imperialismus als das letzte Stadium des Kapitalismus zu definieren, dessen katastrophales Ende unmittelbar bevorsteht. Um diese letzte drohende Krise zu charakterisieren, wird er einige Tendenzen des Kapitalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufzeigen, die er fälschlicherweise als imperialistisch bezeichnet. Mehr als ein Jahrhundert später ist klar, dass diese Tendenzen größtenteils nur nebensächlich waren und dass der Kapitalismus trotz oder dank der großen Krisen die zugegebenermaßen widersprüchliche, aber immer noch weltweit dominierende Produktionsweise ist.

Lenin stellt in seinem Pamphlet die Idee eines grundlegenden historischen Wandels in der Dynamik des Kapitals in den Mittelpunkt, nämlich: „Für den alten Kapitalismus, mit der vollen Herrschaft der freien Konkurrenz, war der Export von Waren kennzeichnend. Für den neuesten Kapitalismus, mit der Herrschaft der Monopole, ist der Export von Kapital kennzeichnend geworden.“ (Lenin: Der Imperialismus, als höchstes Stadium des Kapitalismus, Kapitel IV Der Kapitalexport).

In Kriegszeiten erfährt die ökonomische Politik des Kapitalismus natürlich Veränderungen, die mit dieser konfliktreichen Situation einhergehen: Verstärkung des staatlichen Interventionismus, Politik der territorialen Annexionen…. Der „freie“ Wettbewerb ist davon betroffen, weil er direkt in die Sphäre des Innerimperialismus eindringt. Es ist jedoch klar, dass das 20. Jahrhundert den Export von Waren nicht gestoppt hat, im Gegenteil. Die ökonomische Politik war während der beiden Kriege und der Zwischenkriegszeit vor allem von Protektionismus geprägt und mit der Krise von 1929 entwickelte sich der internationale Handel weniger florierend als während des 19.Jahrhunderts.

Seit 1945 ist das ganz anders: „Während sich die Zusammensetzung des Handels in der Zwischenkriegszeit im Vergleich zum vorigen Jahrhundert kaum verändert hatte und der Austausch von Rohstoffen und landwirtschaftlichen Erzeugnissen gegen Produkte weiterhin vorherrschend war, ist der Handel seit 1945 vor allem durch den internationalen Austausch von Industrieerzeugnissen oder Bestandteilen dieser Industrieerzeugnisse gekennzeichnet (der Anteil am Welthandel betrug im Jahr 1900 40 % und im Jahr 2000 75 %), während der relative Anteil der Landwirtschaft am Welthandel allmählich zurückging.“ (Welthandelsbericht 2013)

„(…) Gleichzeitig wuchs der Welthandel sogar schneller als die Weltproduktion, und zwar zwischen 1950 und 1980 um mehr als 7 % pro Jahr (mit einem stärkeren Wachstum bei Industriegütern als bei Primärprodukten), während das weltweite Bruttoinlandsprodukt (BIP) im selben Zeitraum um fast 5 % wuchs (WTO International Trade Statistics, 2012). Diese Zahlen unterstreichen die Stärke der Kräfte, die die globale ökonomische Integration vorantreiben“ (ebenda, Welthandelsbericht 2013).

Die von Lenin aufgezeigte Tendenz, einen „neuen modernen Imperialismus“ zu definieren, ist daher nicht strukturell für den gesamten reifen Kapitalismus. Auch die Monopole wurden in dieser Zeit nicht zur einzigen Tendenz und Perspektive des Kapitals. Tatsächlich führt die Dynamik des Wettbewerbs immer zu Monopolen und diese wiederum wecken und forcieren immer mehr Wettbewerb. Diese beiden Pole schließen sich nicht gegenseitig aus, sie unterstützen und regenerieren sich gegenseitig. Es gibt also nicht die eine historische Periode, die durch Wettbewerb und die andere durch Monopol gekennzeichnet ist.

Was für die bürgerliche Ökonomie eine theoretische Wendung darstellte, war in der Marxschen Kapitalanalyse eine der kapitalistischen Akkumulation von jeher innewohnende Entwicklungstendenz. Die Konkurrenz der Kapitale führt zu ihrer Konzentration und Zentralisation. Aus der Konkurrenz ergibt sich das Monopol, wie aus dem Monopol die monopolistische Konkurrenz.“ (P. Mattick: Monopolstaatskapitalismus).6

Eine weitere Einschätzung Lenins, die den Imperialismus definiert, bezieht sich auf den Export von Kapital. Es ist jedoch anzumerken, dass nicht die Zirkulation des Kapitals, sondern die Zunahme der Investitionen durch Kredit ein wirklich neues Merkmal des Kapitals in seiner Phase der realen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital ist. Der starke Aufschwung der Kreditnachfrage erklärt sich vor allem durch den Umfang und die Bedeutung neuer Investitionen, die durch die Notwendigkeit der Steigerung der Arbeitsproduktivität in der Konkurrenz mobilisiert werden, um mehr relativen Mehrwert zu erpressen. Der Kredit ist nichts anderes als eine Antizipierung von erwarteten zukünftigen Gewinnen.

Da diese Antizipierung selbst Gegenstand von Transaktionen und Spekulationen ist, entsteht das, was Marx „fiktives Kapital“ nennt. Die eigentliche Veränderung, die das 20. Jahrhundert kennzeichnet, liegt in diesem Übergang zu einer Kreditökonomie dank der Verallgemeinerung des Kreditgeldes. „das Kreditgeld in der Funktion des Geldes als Zahlungsmittel seine naturwüchsige Wurzel besitzt.“ (K. Marx: Das Kapital, Band I, Drittes Kapitel, Das Geld und die Warenzirkulation, c) die Münze. Das Wertzeichen). Die Grundlage dieses Kredits liegt in der Entstehung von zinstragendem Kapital, Geld, das für Investitionen oder Konsum verliehen wird, das wiederum noch mehr Geld erzeugt.

Mit dem zinstragenden Kapital erreicht das kapitalistische Verhältnis seine äußerste, am meisten fetischisierte Form. Hier haben wir G-A-G ́, Geld, das Geld erzeugt, einen wachsenden Wert, ohne dass Urteile zwischen den beiden Extremen vermitteln.“ (K. Marx, Das Kapital, Drittes Buch, Ediciones sociales, S. 362)5.

In dieser spezifisch kapitalistischen Periode, die deshalb niemand als imperialistisch bezeichnet, geht es weniger um den Kapitalexport als vielmehr um die allgemeine Vorherrschaft der Kreditökonomie, die die Möglichkeiten der produktiven Investitionen unabhängig von der Quelle des geliehenen Kapitals bestimmt: privat, öffentlich, national oder ausländisch. Die „Nationalität“ des geliehenen Kapitals findet ihre Bedeutung vor allem in den Zinssätzen und deren Renditen. Deshalb erscheint das Finanzkapital nicht als eine „parasitäre und kosmopolitische Form“ des produktiven Kapitals, sondern als die eigentliche Voraussetzung für produktive Investitionen.

Finanzkapital und produktives Kapital sind zwei komplementäre und unverzichtbare Formen des jeweils anderen; ohne Investitionen auf Kredit kein produktives Kapital, kein profitables produktives Kapital, keine Spekulation, keine Entlohnung für gewährte Vorschüsse. Das Kapital ist ein globales gesellschaftliches Verhältnis, das seinen Bewertungsprozess dank des Kredits immer weiter vorantreiben muss. In diesem Wettlauf, der unerbittlich nach höherer Produktivität verlangt, geht es darum, die Gewinne von morgen schon heute zu antizipieren. Der Wettbewerb zwischen den Kapitalien verschwindet nicht, im Gegenteil, er verschärft sich und wird die verschiedenen Kapitalien dazu bringen, sich in bestimmten Formen horizontaler, vertikaler oder finanzieller Zusammenschlüsse wie Kartellen, Trusts oder Holdinggesellschaften zu konzentrieren. Doch damit Kapitalakkumulation stattfinden kann, sind sowohl der Konzentrationsprozess als auch die konkurrierende Vermehrung der verschiedenen Einzelkapitale notwendig. Aus diesem Grund entsprechen Konzentration und Zentralisierung des Kapitals nicht demselben Bedürfnis. In dem Sinne, dass assoziative Formen nicht das erwiesene Zeichen eines neuen Stadiums des Kapitalismus sind, das der Imperialismus wäre, umso mehr, als es andere Strömungen gibt, wie z.B. das Subunternehmertum, das sich in bestimmten Sektoren immer mehr entwickelt. Lenin hat eine apokalyptische Vision dieses Stadiums; er sieht darin die „Fäulnis“ des kapitalistischen Systems, das „parasitär“ geworden ist und auf seinen Füßen verrottet, wie er sagt.

Diese Konzeption könnte die messianische Erwartung eines mechanischen Sturzes des Kapitals am Ende des Tages hervorrufen. Das ist jedoch nicht der Fall, und die Katastrophe der „finalen“ Krise impliziert in Marx‘ Konzeption den Aufstieg der Macht und Organisation der Arbeiterklasse als autonome Kraft, die als einzige in der Lage ist, die totale Zerstörung des Weltsystems durchzusetzen. Es muss noch eine Klasse von Menschen geben, die in der Lage ist, dieses Todesurteil über die Produktionsweise zu vollstrecken. Ohne das Handeln des Proletariats, des historisch bestimmten Totengräbers, gibt es keine Möglichkeit einer radikalen Veränderung und die einzige Aussicht für die Menschheit ist, immer tiefer in die „Barbarei“ zu versinken.

Neben dem moralisierenden Aspekt von Lenins Bezeichnungen handelt es sich hier um eine religiöse Überzeugung, die die Unmittelbarkeit der letzten Katastrophe ankündigt und bei den Militanten, die daran glaubten, Entmutigung und Desillusionierung hervorrief. Diese Haltung, die typisch für die Unmittelbarkeit der Linken ist, hat von Generation zu Generation die Energie der Aktivistinnen und Aktivisten erschöpft, die seit mehr als einem Jahrhundert verzweifelt auf die angekündigte und versprochene Revolution warten. Diese Enttäuschungen führen bei den einen zu einem zynischen Desinteresse und bei den anderen dazu, dass sie sich zu den neuen Kadern des Systems ausbilden lassen, das sie bisher verabscheut haben.

Der Imperialismus nach Lenin (und anderen) entspricht also einem unangemessenen Begriff und seine Merkmale wurden von den verschiedenen leninistischen Strömungen dogmatisiert, was zu einem tiefgreifenden und vereinfachenden Missverständnis der Kategorien der marxistischen Analyse führte und die Schaffung eines noch abscheulicheren Nebenprodukts inspirierte: den Antiimperialismus.

Antiimperialismus als das schädlichste Nebenprodukt des Imperialismus

Antiimperialismus von Narren“ versus revolutionärer Defätismus

Wie wir gesehen haben, wird der Krieg von 14/18 der erste Krieg sein, der weltweit geführt wird und an dessen Ende eine neue Verteilung der zuvor erworbenen kolonialen Eroberungen steht. Dieses grundlegende Merkmal, eine Folge der physischen Grenzen des Landes für die koloniale Ausdehnung, wird die konkurrierende Realität in den versteckten oder angenommenen Expansionszielen der kapitalistischen Kriege verstärken. Jede kriegführende Macht wird so noch stärker ihren Wunsch nach politischen, ökonomischen und militärischen Annexionen und ihren Wunsch, sich abhängige Territorien und Kolonien von ihren Konkurrenten anzueignen, durchsetzen. Wäre es nur diese Notwendigkeit des Kapitals, die den Begriff „moderner Imperialismus“ definiert, könnten wir uns darauf einigen, dass alle kapitalistischen Staaten, ob groß oder klein, ihrem Wesen nach individuelles Kapital sind, das durch die härteste Konkurrenz zu dieser Tendenz gezwungen wird, die den Handelskrieg am leichtesten in einen Krieg auf militärischem Terrain verwandelt. Alle kapitalistischen Staaten, unabhängig von ihrer ideologischen Abdeckung, sind daher in dieser Periode imperialistische Staaten.

Man könnte sogar behaupten, dass es meistens die kleineren Mächte oder diejenigen mit weniger Kolonien und Einfluss sind, die am aggressivsten sind und in Ermangelung eines besseren Konzepts als erste zum offenen Krieg übergehen. Das hat sich in den beiden Weltkriegen4 und in jüngerer Zeit, zum Beispiel im Golfkrieg 1990/91, deutlich gezeigt. Das Gleiche gilt für die Überbleibsel der so genannten nationalen Befreiungskriege, die, abgesehen davon, dass sie nie zur Befreiung vom Kapital geführt haben, in allen Fällen von der einen oder anderen gegnerischen imperialistischen Macht oder dem einen oder anderen Block instrumentalisiert werden. Es ist also das Verständnis der kapitalistischen Natur des Ersten Weltkriegs, das Lenins Position von Anfang an bestimmen wird. Deshalb schlägt Lenin für die gesamte Arbeiterbewegung die revolutionäre Losung des Defätismus auf allen Gebieten vor, um sich dem Krieg wirksam entgegenstellen zu können.

Die Revolution während des Krieges ist Bürgerkrieg, und die Überleitung des Krieges der Regierungen in den Bürgerkrieg wird einerseits durch die militärischen Mißerfolge („die Niederlage“) der Regierungen erleichtert; andererseits ist es unmöglich, in der Tat eine solche Überleitung anzustreben, ohne damit die Niederlage zu fördern.“ (Lenin: Über die Niederlage der eigenen Regierung im imperialistischen Krieg, 26. Juli 1915, in N. Lenin und G. Sinowjew: Gegen den Strom, 1921). Dieser revolutionäre Defätismus äußert sich im vorrangigen Kampf gegen die „eigene Bourgeoisie“, durch Desertion und Verbrüderung an der Front, mit dem Ziel, „Die Überleitung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg“ …. „Nicht Burgfrieden, Bürgerkrieg ist unsere Parole“ Karl Liebknecht (in Lenin-Zinowjew: Gegen den Strom, bereits zitiert, S.12). Dies ist einer der grundlegendsten Beiträge Lenins (mit dem bemerkenswerten Unterschied von Trotzki und R. Luxemburg) und natürlich seine führende Rolle in der Oktoberrevolution 1917. Diese Revolution ist auch das Ergebnis dieses revolutionären Defätismus, der konkret an der Front angewandt wurde.

Wir sind hier weit entfernt von den Positionen der Linken und der extremen Linken des Kapitals, für die „Antiimperialismus“ immer bedeutet, ein Lager gegen ein anderes zu unterstützen, einen als schwächer „eingeschätzten“ Imperialismus gegen den sogenannten stärkeren. Die einzige Position, die in der Zeit des reifen Kapitalismus den historischen Interessen des Proletariats entspricht, ist die des revolutionären Defätismus. „Einen der beiden Militarismen zu sabotieren bedeutet also nicht, dem anderen zu helfen, sondern beide zu sabotieren, ihr gemeinsames historisches Prinzip, ihre Mittel zur Erhaltung und Beherrschung zu sabotieren.“ (A. Bordiga: Die Lehren der jüngsten Geschichte, 1918, in: Russland und die Revolution in der marxistischen Theorie, S. 66, Spartacus). Wir stehen hier in totaler Opposition zu jeder konterrevolutionären Position, mit der Linke jahrzehntelang ihre Kompromisse und systematische Zugehörigkeit zu einem „imperialistischen“ Lager im Namen des „Antiimperialismus“ gerechtfertigt haben. Die erzwungene Entscheidung, sich einem imperialistischen Lager gegen ein anderes anzuschließen, wurde während des Zweiten Weltkriegs durch die behauptete Zugehörigkeit des einen Lagers zu den faschistischen Regimen noch verstärkt. Diese Mitgliedschaft provozierte eine antifaschistische Neuformulierung des einseitigen Antiimperialismus, während das „demokratische“ Lager seinerseits sein Gesicht vor dem „roten Faschismus „6 seines Verbündeten in der Person von Stalin verbarg.

Dieser offene Verrat am proletarischen Prinzip des Internationalismus wurde in der Folge durch die Bipolarisierung zwischen den kapitalistischen „zwei Welten“ begünstigt: die des „Freihandelskapitalismus“ und die des angeblich „verwirklichten Sozialismus“. Die Zeit des Pseudo-Kalten Krieges konnte so einem so genannten Internationalismus (aber konkreten realen Nationalismus) dienen, der darin bestand, den Sowjetblock systematisch im Namen des „Sozialismus“ und des „Antiimperialismus“ zu verteidigen und gleichzeitig den Imperialismus dieses so genannten Ostblocks zu leugnen und zu verschleiern. Diese beriefen sich auf Internationalismen, „die im Wesentlichen dualistisch und in ihrer Form nationalistisch waren; (…) Sie kritisierten ein „Lager“ in einer Weise, die als Legitimationsideologie für das gegnerische „Lager“ diente, anstatt die beiden „Lager“ als Teile eines größeren Ganzen zu sehen, das Gegenstand der Kritik hätte sein müssen“ (Moishe Postone: Kritik des kapitalistischen Fetischs: Kapitalismus, Antisemitismus und die Linke, S.26, PUF).

So nahm die Verteidigung des Stalinismus (und seiner exotischen sowie maoistischen, guevaristischen und anderen Versionen) das Gewand des „Antiimperialismus“ an und wurde für alle nützlichen Idioten schnell zur Pflicht des „Antikapitalismus“. In ihren Augen wird der Inbegriff des Imperialismus also von den Vereinigten Staaten und ihren „Dienern“, allen voran natürlich dem Staat Israel, repräsentiert. Der Antiimperialismus wird seinerseits von so „glorreichen“ und „fortschrittlichen“ Regimen wie dem Iran der Mullahs, Saddams Irak, Pol Pots Kambodscha, Khaddafis Libyen, Assads Syrien, Nordkorea, Kuba, China, Venezuela… alles kapitalistische Regime, meist diktatorisch und genozidal. „Diese Regime hatten eigentlich mehr mit dem Faschismus als mit dem Kommunismus zu tun und versuchten, ihre eigene Linke zu liquidieren“. (M. Postone, zitiert oben, S. 44).

Der Antiamerikanismus ist somit zum einzigen Credo der gesamten Linken und der extremen Linken des Kapitals geworden (wohlgemerkt, es gibt auch eine extreme Rechte, die faschistisch, antiamerikanisch und antiimperialistisch ist7). „Unsere ganze Aktion ist ein Kriegsruf gegen den Imperialismus und ein lebendiger Aufruf zur Einheit der Völker gegen den großen Feind der Menschheit: die Vereinigten Staaten.“ Ernesto Che Guevara8.

Dieser Antiamerikanismus reduziert sich somit auf einen einseitigen Antiimperialismus, der all diejenigen systematisch entlastet, die sich – aus welchen Gründen und mit welchen Methoden auch immer – gegen die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten stellen. Die bekannten Gemeinheiten des einen Lagers werden den ebenso unbestreitbaren Gemeinheiten des anderen gegenübergestellt und darüber hinaus wird jeder aufgefordert, in dieser rein kapitalistischen Polarisierung Partei zu ergreifen. Die weltweite Arbeiterklasse saß also in der Falle und war gezwungen, sich für das „kleinere Übel“ zu entscheiden, und nur wenige Proletarier vertraten die einzige Politik, die mit dem emanzipatorischen Charakter dieser Klasse vereinbar war, nämlich das dritte Lager, den revolutionären Defätismus in totalen kapitalistischen Kriegen.

Wie das Sprichwort sagt: „Wenn zwei Diebe kämpfen, gehen beide unter“. Wenn sich dieser einseitige Antiimperialismus in einem Konflikt wie dem Nahen Osten herauskristallisiert, werden wir Zeuge einer Radikalisierung des Schwachsinns, die zur Denunziation eines einzigen Imperialismus führt, gepaart mit einem verallgemeinerten staatlichen Antisemitismus der übelsten Art. „Vor einem Jahrhundert nannte man den Antisemitismus „den Sozialismus der Narren“. Heute kann er als „Antiimperialismus der Narren“ bezeichnet werden“. (M. Postone, bereits zitiert, S. 125).

Fazit

In diesem Text haben wir die Kritik am Konzept des Imperialismus dargelegt, einem Konzept, das weithin (falsch) behandelt wird und im Allgemeinen die größte Verwirrung stiftet. So ist der Begriff „Imperialist“, wie auch „Rassist“ oder „Faschist“, eher eine Beleidigung, die die so behandelte Person disqualifiziert, als eine echte Charakterisierung, die auf einer strengen Analyse seiner etymologischen und historischen Bedeutung beruht. Der Begriff des Imperialismus wird fast immer mit dem Kapitalismus gleichgesetzt, ohne in die Gesamtheit des widersprüchlichen Begriffsreichtums dieses gesellschaftlichen Produktionsverhältnisses integriert zu werden. Ein Epiphänomen kann niemals die Gesamtheit ausdrücken, der es entstammt.

Sich auf diesen Hilfsausdruck zu beschränken, führt dazu, dass er zu einer einfachen Funktionsstörung wird, die die Gesamtheit der Funktionsweise, in diesem Fall des Kapitalismus, nicht in Frage stellt. Dies ist die klassische Auffassung aller Reformisten. Wenn ihr antinomischer Begriff, der Antiimperialismus, analysiert wird, wird die Verwirrung noch größer, bis sie zu einer echten Mystifikation wird, in dem Sinne, dass alles, was sich gegen den Imperialismus richtet, im Kern emanzipatorisch, sogar revolutionär und „antikapitalistisch“ ist. Das ist es aber nicht.

Der Antiimperialismus, wie er meist von der Linken und der extremen Linken des Kapitals verstanden wird, bedeutet die Verteidigung eines anderen, angeblich weniger aggressiven oder „sozialistischeren“ Imperialismus und dient als bevorzugtes Vehikel des modernen Antisemitismus. Der Antiimperialismus wird so zum ultimativen Vorwand für eine imperialistische, antisemitische und antiamerikanische Neupositionierung mit der Folge, dass „Militante“ und „Persönlichkeiten“ von der Linken zur extremen Rechten des Kapitals und damit sogar zum Islamo-Faschismus abdriften.

Auch in dieser Frage hat der Grad der Verwirrung und Unwahrheit seinen Höhepunkt erreicht. Das giftigste Produkt der Antinomie „Faschismus/Antifaschismus“9 ist der demokratische Antifaschismus, für den der Faschismus nicht als geläuterter Ausdruck des reifen Kapitalismus gilt, sondern als vorübergehende und vorübergehende Störung, als „Unfall“ der Geschichte. Diese epiphänomenologische Sichtweise verhindert die Entwicklung eines wirksamen Kampfes sowohl gegen den Faschismus als auch gegen den Imperialismus, von dem er nur eine verschärfte Form ist. In der Tat haben alle faschistischen und verwandten Regime die Neigung zur Expansion und den Willen, diese durch einen Eroberungskrieg zu erreichen, gemeinsam.

In diesem Sinne verlängern die Faschismen die Tendenz zu imperialistischen Kriegen, obwohl diese keineswegs das einzige Produkt faschistischer Regime sind, sondern das Produkt des gesamten Kapitalismus in seiner Phase der Unterwerfung der realen Arbeit unter das Kapital. Deshalb konnten bestimmte revolutionäre Minderheiten angesichts dieser globalen Realität behaupten: „Vom marxistischen Standpunkt aus kann es keinen spezifischen Kampf gegen den Faschismus geben. Es gibt eine grundlegende Unvereinbarkeit zwischen dem antifaschistischen Kampf und dem proletarischen Kampf. Der Antifaschismus ist per Definition ein kapitalistisches Manöver.“ Kommunismus Nr. 1, Zeitschrift der belgischen Fraktion der internationalen kommunistischen Linken: 1937).

Das ist bei allen zersplitterten und partikularistischen Kämpfen der Fall, die Trennungen zum Nachteil des totalisierenden Kampfes verstärken, der als einziger den wirklich emanzipatorischen Kampf vereinen kann. Zwischen Antifaschismus und Antiimperialismus gibt es mehr als eine Analogie der Argumentation; sie sind zwei Ausdrucksformen dessen, was der moderne Kapitalismus ist. Dieser doppelte Ausdruck hat die schädliche Folge, dass das Verständnis der zentralen und grundlegenden Problematik skotomisiert wird. Tatsächlich sind Antifaschismus und Antiimperialismus Nebenprodukte des eigentlichen Objekts, gegen das der Kampf Sinn ergibt, nämlich die kapitalistische Produktionsweise.

November 2020: Fj et Marcm


1Für eine ausführliche Beschreibung dieses Prozesses verweisen wir auf das Werk von A. Bihr: 1415/1763, Das erste Zeitalter des Kapitalismus, Bd. 1, Seite2 / Syllepse.

2A.d.Ü., wie im Englischen virgen, also von der Menschenhand unangetastet.

3Das signifikante Gegenbeispiel zu diesem Prozess ist der Fall Deutschlands, das aufgrund seiner späten und unvollständigen Vereinigung durch Bismarck im Rennen um die Kolonien weitgehend zurückbleibt. Dies ist einer der Gründe, die später sein Bedürfnis nach kriegerischer Expansion rechtfertigen werden.

4Zu diesem Thema empfehlen wir das interessante Werk von Olivier Razac: Die politische Geschichte des Stacheldrahts, der Wiese, des Grabens, des Lagers, La fabrique.

5A.d.Ü., diese Stelle haben wir im dritten Band des Kapitals nicht gefunden, da keine weiteren Quellen angegeben worden sind. Daher haben wir uns die Freiheit es selber zu übersetzten, wohl wissend dass es falsch sein wird.

6(Otto Rühle) Brauner und Roter Faschismus

7Ein Beispiel für diese Entwicklung ist Jean Thiriard, der Gründer des faschistischen „Jungen Europa“, der sich für „Solidarität“ und „nationale Gemeinschaft“ einsetzt und stark antisemitisch und propalästinensisch eingestellt ist. Heute ähnelt diese Tendenz in Frankreich dem sogenannten „dritten Weg“ von Serge Ayoub.

8Website: https://www.marxists.org/francais//guevara/works/1967/00/tricontinentale.htm

9Die eigentliche Aussage des Antifaschismus als „Formel der Verwirrung“ stammt aus einem historischen Text der Zeitschrift „Bilan“ von 1934, um diesen wichtigen Beitrag zu lesen. Website: https://materiauxcritiques.wixsite.com/monsite/archives
(A.d.Ü., wir übersetzen gerade diesen Text)



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Gegen die leninistische Position zum Imperialismus | erschien auf Insurgent Notes von Antithesi https://panopticon.blackblogs.org/2023/02/18/gegen-die-leninistische-position-zum-imperialismus-erschien-auf-insurgent-notes-von-antithesi/ Sat, 18 Feb 2023 12:19:30 +0000 http://panopticon.blackblogs.org/?p=4810 Continue reading ]]> Gefunden auf der Seite von Insurgent Notes, erschien auch als Artikel in deren letzten Ausgabe, Nummer 25, die den Schwerpunkt des Krieges in der Ukraine trägt. Der Artikel wurde von der griechischen Gruppe ‚Antithesi‘ geschrieben. Wir haben alle Zitate direkt aus den Ausgaben auf deutscher Sprache übernommen, wird also mit den Quellen, bezogen auf die Seitenangabe, die angegeben werden meistens nicht stimmen, was wahrscheinlich egal ist, weil es eh niemand überprüft.

Zu der Ausgabe von Insurgent Notes wollen wir sagen, dass auf dieser sowohl sehr gute Artikel erscheinen die gegen jegliche Positionierung, nicht zu verwechseln mit einer Art von Enthaltung, oder Neutralität, in den Kriegen des Kapitals sind, aber auch jene die sich für die Unterstützung der Demokratie (sic) in der Ukraine stark machen. Für uns als eine anarchistische Gruppe ist es eine falsche Dichotomie sich entweder hinter Russland noch hinter der Ukraine sich zu stellen, daher werden wir solche Haltungen immer angreifen. Es gilt wie immer den Staat-Nation und das Kapital anzugreifen und nicht eine Feuerpause mit einer dieser Fraktionen beizuschwören, wenn auch gesagt werden muss, dass der Staat-Nation dies eigentlich nie von Anarchistinnen und Anarchisten fordert, umso konterrevolutionärer ist es daher, wenn diese es freiwillig machen.

Der Artikel von Antithesi ist dennoch eine mehr als willkommende Analyse und Kritik der Theorie des Imperialismus von der Hand von Lenin. Denn, wenn gewollt oder nicht, bewusst oder nicht, es ist nach wie vor die gängigste Form den Imperialismus, sprich seine historische Aufgabe und Rolle, zu beschreiben. Und wenn zwei reaktionäre Positionen, die Pro-Russische und die Pro-Ukrainische, zumindest bei letzterer anhand von Anarchistinnen und Anarchisten, den Imperialismus gleichermaßen beschreiben, dann muss entweder eine Seite falsch liegen, oder gleichermaßen beide.

Wir sagten es schon in unseren Texten dass jeder Staat-Nation, als territorialer Verwalter des Kapitals, egal wie groß oder klein dieser auch sein mag, durch die inhärenten Zwänge des Kapitals, sich zu erweitern, durch Akkumulation wachsen, usw., darausfolgend ein imperialistischer Staat-Nation sein muss. Es gibt also daher auf der Welt keine kleinen Staaten-Nationen die zu schützen sind, denn alle, ohne Ausnahme, unterliegen diesen Zwang. Für diese Aussage, die der von Lenin komplett konträr ist, wurden wir ironischerweiße schon als Leninisten bezeichnet, nun sei es so. Wir werden es so oft wiederholen müssen wie es notwendig ist, in diesen Konflikt werden die ausgebeuteten Massen für die Interessen der herrschenden Klasse der Länder in denen sie leben müssen massakriert. Es gibt daher keine Option zu diesem Schlachthaus außer der sozialen Revolution die alle Staaten, alle Nationen und den Kapitalismus zerstören müssen.

Soligruppe für Gefangene


Gegen die leninistische Position zum Imperialismus | erschien auf Insurgent Notes von Antithesi

Von Antithesi

Unser ursprüngliches Ziel vor der Veröffentlichung des Textes über den Krieg in der Ukraine „War and Crisis“ in englischer Sprache war es, zusammen mit anderen Genossen einen größeren, umfassenden Artikel zu verfassen, der neben dem Text über die gegenwärtige Situation auch eine Kritik des Imperialismus und des Antiimperialismus auf der Grundlage eines bestimmten Verständnisses von Kapital, Staat und Weltmarkt enthalten sollte. Ein Verständnis des Kapitals als soziales Produktionsverhältnis, des Staates als politische Form der Herrschaft des Kapitals und des Weltmarktes als Unterscheidungsmerkmal und wesentliches Element des Kapitalismus und als notwendige Bedingung für die Existenz von Nationen-Staaten. Außerdem sollte der Artikel eine Polemik gegen den linken Nationalismus und die verschiedenen Formen der Kriegstreiberei und der „Union Sacrée“ zwischen den Klassen sowie eine Verteidigung des revolutionären Defätismus enthalten. Leider war es aufgrund der Umstände nicht möglich, diesen Artikel als einen einzigen Essay fertigzustellen, und seine Teile werden als unabhängige Texte veröffentlicht.

Antithesi & Freunde

Der Konzept des Imperialismus wurde im zwanzigsten Jahrhundert verwendet, um zwei Hauptphänomene zu beschreiben: zum einen die militärische Aggression kapitalistischer Staaten (imperialistische Kriege, militärische Besatzung und territoriale Eroberung) und zum anderen die globale Expansion der kapitalistischen Produktionsweise in all ihren ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Aspekten.

Da Marx den globalen Charakter und die Expansion des Kapitalismus als inhärente Aspekte des Kapitalismus betrachtete, brauchte er kein spezifisches Konzept, um diese Phänomene zu bezeichnen. Und obwohl er die Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutung des Kolonialismus vehement angriff, war er auch der Meinung, dass der Prozess der kapitalistischen Modernisierung die Voraussetzungen für eine historische Situation schafft, in der die Menschheit eine emanzipierte Gesellschaftsform schaffen kann (obwohl er nicht der Meinung war, dass jede vorkapitalistische Gesellschaftsform auf dem Weg zur Emanzipation den Prozess der kapitalistischen „primitiven Akkumulation“ durchlaufen muss).

Aus diesem Grund hat der Begriff des Imperialismus (oder alternativ der Begriff des Imperiums) bei Marx eine ganz andere Bedeutung als im zwanzigsten Jahrhundert: er wird als Synonym für Bonapartismus oder Cäsarismus verwendet, d.h. für ein autoritäres politisches Regime, das die Interessen der Bourgeoisie im Allgemeinen vertritt. Der Begriff Imperialismus wird bei Marx deshalb verwendet, weil er sich direkt auf das Regime des Römischen Reiches (imperium) bezieht, in dem die Macht in der Person des Kaisers konzentriert ist, der sich gegen die kriegerischen Fraktionen der Patrizier durchsetzt. Im Marx’schen Konzept des Imperialismus oder Bonapartismus wird die Macht des Parlaments und ganz allgemein der liberalen Institutionen der demokratischen Repräsentation durch die Exekutive ersetzt, die Verwaltung des Staates wird vom Diktat der einzelnen Fraktionen der Bourgeoisie unabhängig gemacht, während der Anführer, in dessen Person die Staatsmacht konzentriert ist, versucht, die „unteren Klassen“ durch Wohltaten und demagogische Parolen für sich zu gewinnen, die natürlich die kapitalistische Ausbeutung der Arbeit nicht im Geringsten berühren (ein Phänomen, das in der modernen Terminologie als „Populismus“ bezeichnet wird). Auf diese Weise erscheint der Staat als eine neutrale Institution, die über die Gesellschaft erhoben wird. Wie Marx in einer seiner Schriften über die Pariser Kommune schreibt, ist der Imperialismus die höchste Form der bourgeoisen Staatsmacht: wenn der Staat ursprünglich von der Bourgeoisie für ihre Emanzipation vom Feudalismus eingesetzt wurde, nimmt der Staat in der voll entwickelten bourgeoisen Gesellschaft durch den Imperialismus/Bonapartismus den Charakter der nationalen Macht des gesellschaftlichen Gesamtkapitals über die Arbeit an, da er über die Interessen des einen oder anderen Teils der Bourgeoisie erhoben wird.

Im zwanzigsten Jahrhundert bekommt der Begriff „Imperialismus“ jedoch eine ganz andere Bedeutung. Das Hauptmerkmal dieses neuen Konzepts wurde erstmals von dem englischen liberal-sozialistischen Ökonomiewissenschaftler John Hobson in seinem 1902 erschienenen Hauptwerk Der Imperialismus formuliert. Obwohl er kein Marxist war, kritisierte John Hobson das Say’sche Gesetz, wonach „das Angebot seine eigene Nachfrage schafft“, scharf und wurde für seine Unterkonsumptionstheorie zur Erklärung der Weltwirtschaftskrise im späten neunzehnten Jahrhundert bekannt. Seiner Theorie zufolge war die Unterkonsumtion auf die große Ungleichheit der Einkommensverteilung zurückzuführen. Das begrenzte Einkommen der Vielen geht mit den übermäßigen Ersparnissen der wenigen Wohlhabenden einher, die stagnieren, da es schwierig wird, im Inland mit ausreichender Rentabilität zu investieren. Laut Hobson ist dies die treibende Kraft des Imperialismus, der in diesem Fall als die Suche nach neuen Märkten und Investitionsmöglichkeiten durch koloniale Expansion definiert wird, um überschüssiges Kapital (A.d.Ü., überschüssig im Sinne des Mehrwerts) zu exportieren und so die Krise zu lösen, die durch den zu geringen Konsum im eigenen Land entsteht. Hobson betrachtete den Imperialismus als ein unnötiges und unmoralisches Element des Kapitalismus, von dem er sich befreien könnte. Er schlug insbesondere die Beseitigung des überschüssigen Kapitals durch die Umverteilung von Einkommen und die Verstaatlichung von Monopolen vor, d.h. durch die Reform des Kapitalismus, ohne dass dessen revolutionärer Umsturz erforderlich ist.1

Neben dem liberalen Sozialisten Hobson gaben eine Reihe von Marxisten wie Parvus, Kautsky, Hilferding, Rosa Luxemburg und Lenin dem Begriff des Imperialismus eine ähnliche Bedeutung, ohne dass sie alle direkt von Hobson beeinflusst waren (z. B. Parvus und Luxemburg). Der gemeinsame Inhalt, den sie alle dem Imperialismus zuschrieben, war der Versuch, einen Ausweg aus der Reproduktionskrise des Kapitals zu finden, indem sie auf neue Märkte für den Export von Waren und Kapital expandierten – unabhängig davon, wie sie die Krise jeweils interpretierten (Krise der Unterkonsumtion im Fall von Luxemburg, Krise der Überproduktion im Fall von Parvus, Unverhältnismäßigkeit zwischen den Sektoren der kapitalistischen Produktion im Fall von Hilferding und Lenin und so weiter).

Das wichtigste und einflussreichste theoretische Werk, auf das sich mehr oder weniger alle oben genannten Marxisten stützten, war Rudolf Hilferdings Buch Das Finanzkapital, das erstmals 1910 veröffentlicht wurde. In diesem Werk führt Hilferding, beeinflusst von Parvus und Hobson, das Konzept des Finanzkapitals als letzte „Stufe“ oder „Phase“, wie er es nennt, des Kapitalismus ein. Er schreibt:

Das Finanzkapital bedeutet die Vereinheitlichung des Kapitals. Die früher getrennten Sphären des industriellen, kommerziellen und Bankkapitals sind jetzt unter die gemeinsame Leitung der hohen Finanz gestellt, zu der die Herren der Industrie und der Banken in inniger Personalunion vereint sind. Diese Vereinigung selbst hat zur Grundlage die Aufhebung der freien Konkurrenz des Einzelkapitalisten durch die großen monopolistischen Vereinigungen. Damit ändert sich naturgemäß auch das Verhältnis der Kapitalistenklasse zur Staatsmacht.[…] Die Politik des Finanzkapitals verfolgt somit drei Ziele: erstens Herstellung eines möglichst großen Wirtschaftsgebietes, das zweitens durch Schutzzollmauem gegen die ausländische Konkurrenz abgeschlossen und damit drittens zum Exploitationsgebiet der nationalen monopolistischen Vereinigungen wird.2

Das Finanzkapital ist die Endstufe des Kapitalismus, und auf dieser Endstufe weist der Kapitalismus laut Hilferding folgende Merkmale auf

– die Bildung von Trusts, Kartellen und allgemein monopolistischen Unternehmen (die die kapitalistische Konkurrenz abschaffen),

– die Verschmelzung von Bank- und Industriekapital zum Finanzkapital,

– die Abschaffung des Freihandels und seine Ersetzung durch Protektionismus zugunsten einheimischer Monopole

– die Unterordnung des Staates unter die Monopole und das Finanzkapital,

und die Entwicklung einer expansionistischen Politik der kolonialen Annexion und des Krieges, bei der die Staaten die Bewegung „ihres“ Kapitals unterstützen. Der Wettbewerb zwischen den einzelnen Kapitalien wird in eine geopolitische Rivalität zwischen den Nationalstaaten umgewandelt, die sich nach der Macht der einzelnen Staaten richtet.3

Hilferding hat diese kapitalistische Phase später als „organisierten Kapitalismus“ bezeichnet. Es besteht eine Affinität zu Marx‘ Begriff des Imperialismus/Bonapartismus in dem Sinne, dass, wie Hilferding hervorhebt:

Ökonomische Macht bedeutet auch politische Macht. Die Beherrschung der Ökonomie führt zur Kontrolle über die Instrumente der Staatsmacht. Je größer der Konzentrationsgrad in der ökonomischen Sphäre ist, desto uneingeschränkter ist die Kontrolle des Staates. Die rigorose Konzentration aller Instrumente der Staatsmacht nimmt die Form eines extremen Einsatzes der Staatsmacht an, die zum unbesiegbaren Instrument zur Aufrechterhaltung der ökonomischen Herrschaft wird.4

Doch das ist eindeutig ein kolossaler Irrtum: die Tatsache, dass der Staat den Charakter der nationalen Macht des sozialen Gesamtkapitals über die Arbeit annimmt und sich über die Interessen der einzelnen Teile der Bourgeoisie erhebt, ist keineswegs zwangsläufig identisch mit der Abschaffung der Konkurrenz und der vollständigen Verschmelzung von Staat und Monopolen, noch mit der Konzentration der Macht in den Händen der sogenannten „kapitalistischen Oligarchen“ (deren Diktatur somit durch die Diktatur der Parteiführer über das Proletariat ersetzt werden kann).

Im Wesentlichen übernimmt Lenin diese Position Hilferdings in seinem Werk Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus vollständig und entwickelt sie weiter. Kurz gesagt lautet seine Definition wie folgt:

Der Imperialismus ist der Kapitalismus auf jener Entwicklungsstufe, wo die Herrschaft der Monopole und des Finanzkapitals sich herausgebildet, der Kapitalexport hervorragende Bedeutung gewonnen, die Aufteilung der Welt durch die internationalen Trusts begonnen hat und die Aufteilung des gesamten Territoriums der Erde durch die größten kapitalistischen Länder abgeschlossen ist.5

Lenin zufolge ist der Imperialismus ein verfallender Kapitalismus, da jedes Monopol unter den Bedingungen des Privateigentums an den Produktionsmitteln zum Verfall neigt. Außerdem ist der Imperialismus bereits ein sterbender Kapitalismus, weil die Monopolisierung aufgrund der Zentralisierung eine Nekrose der Konkurrenz und damit keine weitere Entwicklung der Produktivkräfte bedeutet. Die Produktion wird in einem solchen Ausmaß vergesellschaftet, dass sie dem Privateigentum an den Produktionsmitteln widerspricht. Laut Lenin ist damit der Weg zur Revolution frei. Die Revolution entsteht jedoch nicht automatisch, sondern erfordert die bewusste, organisierte revolutionäre Aktion der Arbeiterklasse, natürlich unter der Führung der Partei.

Lenin argumentierte, dass der Imperialismus notwendigerweise das Endstadium des Kapitalismus ist und dass dieses Stadium bereits seit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts im Gange war. Doch anscheinend hat er sich gewaltig geirrt, denn ein Jahrhundert später gibt es zwar immer noch globale Monopole, aber das hat die Reproduktion einer unendlichen Zahl kleinerer Kapitale nicht verhindert, die jeden Tag Millionen von Proletariern ausbeuten. Abgesehen davon, dass die leninistische Imperialismustheorie eine Vorstellung von Revolution als Übertragung der Kontrolle über die monopolistische Produktion aus den Händen der Kapitalisten in die Hände der Parteiführer verankerte, bildete sie auch die ideologische Grundlage für die Legitimation der Unterstützung linker Parteien für kleine und mittlere Kapitalien gegen Monopole und Banken, eine langjährige Position sowohl der Kommunistischen Partei Griechenlands als auch der breiteren griechischen und internationalen Linken, die natürlich keineswegs gegen das Kapital als gesellschaftliches Verhältnis und gegen Lohnarbeit ist.

Außerdem argumentierte Lenin, dass der Kapitalismus auf der Stufe des Imperialismus parasitär wird, da

die Ausbeutung der unterdrückten Nationen, die untrennbar mit Annexionen verbunden ist, und insbesondere die Ausbeutung der Kolonien durch ein Häuflein von „Groß“mächten die „zivilisierte“ Welt immer mehr in einen Schmarotzer am Körper der nichtzivilisierten Völker, die viele hundert Millionen Menschen zählen. Der römische Proletarier lebte auf Kosten der Gesellschaft. Die heutige Gesellschaft lebt auf Kosten des modernen Proletariers.6

Das unmittelbare Ziel in der imperialistischen Phase ist also die Ausbeutung der schwachen Länder. Dies wird durch imperialistische Eroberungen verwirklicht, die eine ungleiche internationale ökonomische Realität schaffen, in der die imperialistischen Staaten eine dominante Position und die den Imperialisten untergeordneten Staaten und Menschen eine untergeordnete Position einnehmen.

Die Hauptannahme der leninistischen Imperialismustheorie ist daher, dass die Unterentwicklung und das Leiden der Menschen in der Peripherie durch die Abhängigkeit der Länder in der Peripherie von den Ländern in der Metropole verursacht wird. Dies wird durch die „Ausplünderung“ der Peripherie und durch die „Operation“ des ausländischen Kapitals, das das einheimische Kapital beherrscht, erreicht.

Abgesehen davon, dass die „Parasitismus“-These eindeutig konterrevolutionär ist, da sie die Proletarier der entwickelten kapitalistischen Länder als Ausbeuter der Proletarier der weniger entwickelten kapitalistischen Länder darstellt, ist sie auch falsch. Aufgrund der hohen Produktivität der Arbeit in den entwickelten kapitalistischen Ländern ist der Grad der Ausbeutung der Arbeiter in diesen Ländern viel höher als der der Arbeiter in den weniger entwickelten kapitalistischen Ländern. Außerdem führt eine solche Position zum Schmarotzertum zur Unterstützung nationaler Befreiungsbewegungen, d.h. zur Stärkung des Nationalismus und letztlich zur Unterstützung der Errichtung und Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse in den „unterentwickelten“ Ländern.

Ein Ereignis von entscheidender Bedeutung für die Verbreitung der antiimperialistischen Politik und den Verlauf der nationalen Befreiungs- und antikolonialen Bewegungen war der 6. Kongress der Komintern im Jahr 1928, der die Position vertrat, dass der Imperialismus ein Hindernis für die industrielle Entwicklung der Kolonien sei. Bis dahin hatten viele Kommunisten an der älteren, marxistischen Position festgehalten, die davon ausging, dass der Kolonialismus auf lange Sicht zur Industrialisierung führen würde, die wiederum als notwendige Voraussetzung für die allgemeine menschliche Emanzipation angesehen wurde. Die Position der Komintern spiegelt einen zentralen Widerspruch der marxistischen Theorie und Dialektik wider, nämlich die Dialektik zwischen Kapitalismus (und seiner wichtigsten zeitgenössischen politischen Form, dem Nation-Staat) und Emanzipation. Einerseits wurde die marxistische Auffassung von der Fortschrittlichkeit des Kapitalismus nachdrücklich bekräftigt, indem die intensive und schnelle Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise unter dem Pseudonym „Sozialismus“ gefördert wurde, während andererseits die globale Expansion des Kapitalismus unter dem Namen „Imperialismus“ dafür verantwortlich gemacht wurde, dass der Modernisierungsprozess in den Kolonien, der schließlich zur allgemeinen menschlichen Emanzipation führen sollte, verzögert und blockiert wurde. Durch einen Bruch mit dieser Dialektik wird die gute Seite des Kapitalismus, die Entwicklung und damit die Möglichkeit der Emanzipation mit sich bringt – und die von einem sozialistischen, d.h. staatskapitalistischen Regime durchgeführt wird, das irgendwann kommunistisch wird – von seiner bösen, zerstörerischen und ausbeuterischen Seite getrennt, die bekämpft werden muss und die den Namen „Imperialismus“ erhält. Letzterer (der sich ungleich entwickelnde Kapitalismus) muss von den nationalen Befreiungsbewegungen bekämpft werden, die im Laufe des Prozesses moderne Nation-Staaten gründen werden und die die natürliche Umgebung für die Entwicklung des Kapitalismus in seiner fortschrittlichen Form sind. Diese Auffassung spiegelt die Marxsche Dialektik zwischen Kapitalismus und Fortschritt sowohl wider als auch missdeutet sie und beraubt sie ihres dialektischen Charakters: die Position von Marx, dass die Arbeiterbewegung den sich gegenwärtig entwickelnden widersprüchlichen historischen Prozess der kapitalistischen Entwicklung ausnutzen muss, ist weit entfernt von der bolschewistischen Position, dass dieser Prozess der kapitalistischen Entwicklung von der proletarischen Bewegung durch die politische Revolution und die Diktatur der Partei organisiert und gefördert werden muss.7

Nach den so genannten „marxistisch-leninistischen“ Theorien des Imperialismus und des staatsmonopolistischen Kapitalismus verschmelzen die großen Monopolunternehmen mit dem Staat, was zur Bildung einer „einzigen, landesweiten kapitalistischen Ökonomie“ führt. Da die monopolistische Produktionsform den Zwang für die einzelnen Kapitalisten aufhebt, ihren Profit durch die Entwicklung der Produktivkräfte der Arbeit zu steigern, kann es den Staatsmonopolen auf dem Weltmarkt nur noch um den Kampf um politisch gesicherte Produktionssphären und um die Realisierung monopolistischer Überschüsse gehen. Die Stagnation der monopolistischen Phase des Kapitalismus erzwingt eine Art Antagonismus auf dem Weltmarkt, der die Form eines Krieges annimmt und dessen Inhalt die „Aufteilung der Welt unter den Großmächten“ ist8.

Der Staat, jeder Staat, egal wie klein oder groß, hat jedoch als strukturelles Merkmal die Tendenz, sich räumlich und/oder ökonomisch auszudehnen. Dies ist die grundlegende Komponente des Nationalismus, die seit Beginn der Ära der Nation-Staaten zu finden ist und keine besondere Eigenschaft des Staates in der Phase des Imperialismus ist, wie es unterstellt wird. Außerdem musste der Kapitalismus kein „besonderes“, „fortgeschrittenes“ oder „ultimatives“ Stadium erreichen, um mit der „Aufteilung der Welt“ zu beginnen – und hier beziehen wir uns auf innerstaatliche Rivalitäten und nicht auf eine angebliche Verschwörung zur Aufhebung der kapitalistischen Konkurrenz. Im Gegenteil, der Kampf um die „Aufteilung der Welt“ hat nichts spezifisch Kapitalistisches an sich; er war der Inhalt des Konflikts der Königreiche und Imperien vor dem Aufstieg des Kapitalismus und setzte sich auch während seines Aufstiegs fort, sogar während der so genannten „Freihandels“-Periode, die der so genannten „imperialistischen Phase“ vorausging, als das britische Empire die Vorherrschaft innehatte.

Die vollständige oder teilweise Übernahme leninistischer Positionen zum Imperialismus führt zwangsläufig zu problematischen und irreführenden Auffassungen:

1. Eine der treibenden Kräfte der kapitalistischen Produktionsweise ist der Wettbewerb zwischen den Kapitalisten in ihrem Streben nach maximalem Profit (die andere ist der Klassenkampf). Monopole existieren, und für Marx entstehen sie sowohl „natürlich“ innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise, insofern der Prozess der erweiterten Reproduktion des Kapitals ein Prozess der Konzentration und Zentralisierung des Kapitals ist, als auch „künstlich“, z. B. im Fall des Eigentums an Ressourcen, die dadurch monopolisiert werden (und die von technologischen Patenten bis zum Eigentum an ertragreichen Landparzellen reichen können). Für Marx bedeutet dies jedoch keineswegs die Abschaffung des Wettbewerbs und damit auch des „Wertgesetzes“. Die Angleichung der Profitrate zwischen den Unternehmen ist nicht als Herstellung eines stabilen Gleichgewichts zu verstehen, bei dem alle Unternehmen die gleiche Profitrate erzielen, sondern als eine Situation ständiger Kapitalbewegung, bei der sowohl innerhalb derselben Branche als auch zwischen verschiedenen Branchen unterschiedliche Profitraten erzielt werden, wobei die durchschnittliche Profitrate lediglich ein „Gravitationszentrum“ ist, um das sich die verschiedenen Raten bewegen.9 Indem er im dritten Band des Kapitals zeigt, dass die Praktiken der Preisfestsetzung (ebenso wie die variablen Überkapazitäten) mit dem Wertgesetz vereinbar sind, weist Marx darauf hin, dass im kapitalistischen System die Arbeitsproduktivität und die Ausbeutungsrate den Prozess der Kapitalakkumulation letztlich regeln. Das Monopol kann nur als eine besondere Erscheinungsform der Konkurrenz verstanden werden. Es kann sich der Konkurrenz nicht entziehen, weil die Ziele jedes Kapitals – die Erzielung eines möglichst hohen Profits – mit den Zielen jedes anderen Kapitals in Konflikt stehen, weil die Masse des Mehrwerts des Gesamtkapitals quantitativ begrenzt ist, ebenso wie die Grundlagen der Mehrwertproduktion in Form von Gebrauchswert (Masse der Arbeitskraft, Dauer des Arbeitstags, Intensität der Arbeit, Produktivkraft der Arbeit) begrenzt sind. Monopolgewinne können nicht absolut sein. Sie können auch nicht dauerhaft sein, da dies bedeuten würde, dass der Wettbewerb des Kapitals um höhere Renditen (Kapitalbewegungen zwischen verschiedenen Sektoren aufgrund von Unterschieden in den Profitraten) ausgeschaltet würde.

Im Gegenteil, Hilferding und Lenin, die Monopole als Aufhebung des Wettbewerbs betrachteten, übernehmen sogar das vulgärökonomische Konzept der „vollkommenen Konkurrenz“, dem der „Monopolmarkt“ entgegengesetzt wird.

2. Da das Kapital ein gesellschaftliches Verhältnis ist, ist die Vorstellung seines „Exports“ von den starken in die schwachen Länder eine gewaltige Verzerrung, die zu Ideologien über „Imperien“, „transnationale Machtzentren“ usw. führt, die den Klassengegner verdunkeln und mystifizieren und letztlich die Entfaltung des Klassenkampfes des Proletariats gegen die vor allem inländischen kapitalistischen Bosse verhindern. Da die einzelnen Kapitalisten, die Grenzen überschreiten, ihre Nationalität beibehalten, wird ihr Wettbewerb mit den einheimischen Kapitalisten durch den Klassenkampf ersetzt oder sogar mit diesem gleichgesetzt, der so paradoxerweise in einen Kampf zwischen Nationen verwandelt wird, der von nationalen Subjekten zwischen den Klassen geführt wird. Es entsteht der Irrglaube, dass die Arbeiterklasse und die Bourgeoisie eines Landes gemeinsam ihre Pendants in anderen Ländern ausbeuten. Michael Heinrich schreibt zu diesem Thema Folgendes „[D]ie Charakterisierung des Imperialismus als ‚parasitär‘ ist nicht nur wegen des moralischen Untertons problematisch, sondern auch, weil nicht ohne weiteres ersichtlich ist, warum die Ausbeutung einer ausländischen Arbeiterklasse schlimmer sein sollte als die Ausbeutung der einheimischen Arbeiterklasse. Was Lenin als Fortführung der Marx’schen Analyse beabsichtigte, hat letztlich fast nichts mit der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie zu tun. „10

Die Dependenztheorie

Eine Weiterentwicklung der Imperialismustheorie von Hilferding und Lenin war die so genannte „Dependenztheorie“, die in den 1960er und 1970er Jahren von einer Reihe von Theoretikern wie Samir Amin und Andre Gunder Frank formuliert wurde. Diese Theorie führte das Konzept ein, die Ökonomie der Welt je nach dem Stand der kapitalistischen Entwicklung in drei Zonen zu unterteilen: Zentrum, Halbperipherie, Peripherie.

Nach der Dependenztheorie wird der Mehrwert von den Ländern der Peripherie in die Länder des Zentrums transferiert. Die Länder der Peripherie werden in einem permanenten Zustand der Unterentwicklung gehalten, um die Interessen des Monopolkapitals aus den Ländern des Zentrums zu bedienen. Dies ermöglicht es dem ausländischen Monopolkapital, die Peripherie ohne Konkurrenz durch das einheimische Kapital auszubeuten.

Auf diese Weise wird das (nicht-marxistische) Konzept der Ausbeutung der Länder in der Peripherie durch die Länder im Zentrum eingeführt. Die Dependenztheorie führt nicht nur zu einer neuen Kategorisierung der Staaten, sondern auch zu einer neuen Kategorisierung der sozialen Klassen in jedem Land.

So werden sowohl die Arbeiterklasse als auch die Bourgeoisie des Zentrums von der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie der Peripherie unterschieden. Nach der Dependenztheorie kann sich die Arbeiterklasse der Peripherie mit der entsprechenden Bourgeoisie in einer gemeinsamen antiimperialistischen Front verbünden, genauso wie sich die Arbeiterklasse des Zentrums mit der entsprechenden Bourgeoisie zugunsten der imperialistischen Politik des Staates verbünden kann, dem sie angehört.

Der Fehler der Dependenztheorie ist, dass sie eine instrumentalistische Theorie des Staates impliziert. Der Staat wird als eine von den kapitalistischen Gesellschaftsverhältnissen unabhängige politische Einheit dargestellt, die entweder vom Monopolkapital genutzt werden kann, um seinen Partikularinteressen zu dienen, oder von einem Klassenbündnis aus Arbeitern und Kapitalisten in den Ländern der Peripherie, das die Entwicklungspolitik vorantreibt und damit den Sozialismus näher bringt. Abgesehen von einer instrumentalistischen Theorie des Staates impliziert die Dependenztheorie also die Annahme der Stufentheorie zum Kommunismus. Unserer Ansicht nach ist der Staat die politische Form der kapitalistischen sozialen Beziehungen: ein kapitalistischer Staat. In diesem Sinne dient jeder Staat der Reproduktion der kapitalistischen sozialen Beziehungen in ihrer Gesamtheit. Das bedeutet natürlich nicht, dass jede Nation-Staat der Reproduktion des globalen Kapitals im Allgemeinen dient. Staaten stehen in Konkurrenz (aber auch in Kooperation) zueinander, um globales Kapital innerhalb ihrer nationalen Grenzen anzuziehen und so ihren Anteil am globalen Mehrwert zu erhalten und auszubauen. Dabei geht es sowohl um die Schaffung der Bedingungen für die erweiterte Reproduktion des Kapitals innerhalb der Staatsgrenzen als auch um die Stärkung der auf der Ausbeutung der Arbeit basierenden Akkumulation innerhalb der Grenzen anderer Nationen-Staaten. Natürlich haben nicht alle Staaten die gleichen Wahlmöglichkeiten, was die Akkumulationsstrategien angeht, die sie anwenden können.

Historische Gründe und der Erfolg oder Misserfolg der Akkumulationsstrategie eines jeden Staates spiegeln sich in der ungleichen Entwicklung und der Bildung einer sich ständig verändernden Hierarchie kapitalistischer Staaten wider: der Bildung eines kapitalistischen „Zentrums“ und einer kapitalistischen „Peripherie“.11 In diesem Sinne ist jeder Staat imperialistisch, denn das Wesen des Imperialismus ist nicht das Monopolkapital, sondern der Wettbewerbsprozess der Reproduktion des Gesamtkapitals. Abgesehen davon, dass sie falsch ist, führt die Dependenztheorie politisch zur Klassenversöhnung und zur Vertiefung der nationalen Spaltungen innerhalb des globalen Proletariats.12

Wenn wir die Konzepte der „Dependenztheorie“ akzeptieren, haben wir Schwierigkeiten, die Realität zu verstehen. Wir müssten zum Beispiel akzeptieren, dass der Zerfall Jugoslawiens ausschließlich auf den Einfluss ausländischer Mächte zurückzuführen ist und nicht auf die Konfliktdynamik zwischen konkurrierenden Nationalismen und Kapitalisten in den einzelnen Föderalstaaten. Wir müssten akzeptieren, dass alle Kriege, die ausbrechen, zwischen Marionettenstaaten stattfinden, hinter denen immer Großmächte und deren Interessen stehen. Dass die Revolten in den Entwicklungsländern angezettelt werden, ohne dass die Arbeiter, die Einwohner, die herrschenden Klassen der jeweiligen Länder eine Rolle spielen. Der Klassenkampf verschwindet.

Der widersprüchliche Charakter dieser Theorie wird auch deutlich, wenn man die Bemühungen schwacher Länder untersucht, transnationalen ökonomischen Organisationen wie der EU, der Welthandelsorganisation usw. beizutreten, untersucht. Die offensichtliche Schlussfolgerung ist, dass diese Organisationen nicht nur existieren, um den Interessen des Kapitals mächtiger Staaten zu dienen. Ihr Zweck ist das Interesse des Kapitals im Allgemeinen, d. h. das Interesse jeder herrschenden Klasse, ob albanisch oder deutsch, an der Ausbeutung der Arbeiterklasse. Der Reichtum und die Akkumulation des Kapitals entstehen durch die Ausbeutung der Arbeit und nicht in erster Linie durch die Ausplünderung schwacher Länder.13

Antiimperialismus

Theorien über den Imperialismus haben einen zentralen Platz in den Analysen eines großen Teils der Klassenbewegung eingenommen. Da der Imperialismus die höchste Stufe des Kapitalismus ist, musste auch der antikapitalistische Kampf in einen antiimperialistischen umgewandelt werden, der allmählich zu einer zentralen Ideologie (im Sinne von falschem Bewusstsein) wurde.

Anstatt die Klassengegensätze innerhalb der Gesellschaften aufzudecken, wird die Nation gegen die bösen Imperialisten aufgehetzt. In der Regel beschränkt sich die antiimperialistische Politik darauf, das Großkapital oder die multinationalen Konzerne der großen kapitalistischen Länder zu bekämpfen und den einheimischen kleinen oder großen Bossen, die sie als Außenseiter einstuft, ein Alibi zu geben:

Das Problem ist also nicht mehr, dass der Kapitalismus jeden noch so entlegenen Winkel des Planeten erreicht und jeden Bereich menschlicher Aktivitäten erstickt hat, indem er alles, was er berührt, in eine Ware verwandelt. Das Problem für Antiimperialisten ist, dass die kapitalistische Expansion ungleichmäßig und asymmetrisch verläuft, dass sich der Kapitalismus in einigen mächtigen Staaten etabliert hat, während er in anderen – den abhängigen – erdrosselt wird und sich nicht ausreichend entwickeln kann. Wir können nur erstaunt ausrufen: Na und? Gibt es in den „abhängigen“ Ländern nicht immer noch Waren und Lohnarbeit; ist es dort nicht genauso wie in den „imperialistischen Mächten“ so, dass die einen die Produktionsmittel besitzen und die anderen nur ihre eigene Arbeitskraft zu verkaufen haben, dass die einen befehlen und die anderen gehorchen müssen? Herrschen dort nicht dieselben Ausbeutungsverhältnisse, möglicherweise sogar in einer noch härteren Form? Herrscht nicht derselbe Warenfetischismus, wie er auch in den entwickelten Ländern vorherrscht? Oder haben die Menschen dort die Kontrolle über ihr Leben gewonnen und niemand hat sich die Mühe gemacht, uns darüber zu informieren?14

Die Opposition gegen den Antiimperialismus läuft parallel zur Opposition gegen den Nationalismus, denn die antiimperialistische Ideologie fungiert als Mittel, um die nationale Ideologie in die radikalen Bewegungen einzuschreiben, die die Emanzipation der Menschen von allen Arten der Unterdrückung fordern. Die antiimperialistischen und nationalen Befreiungsbewegungen sind die wichtigsten Mechanismen, um die Forderungen und Bestrebungen nach sozialem Wandel, Freiheit, Emanzipation und Kommunismus dem Kapital und seinem Staat unterzuordnen und sie folglich durch ihre Entfremdung und ihre Umwandlung in Bewegungen, die Rechte gegenüber dem kapitalistischen Staat und alle Arten von Identitätspolitik einfordern, zu neutralisieren und effektiv zu beseitigen.15

Kapitalistischer Krieg bedeutet sozialer Frieden

„Jetzt stehen wir vor der ehernen Tatsache des Krieges. Uns drohen die Schrecken feindlicher Invasionen. Nicht für oder gegen den Krieg haben wir heute zu entscheiden, sondern über die Frage der für die Verteidigung des Landes erforderlichen Mittel … Für unser Volk und seine freiheitliche Zukunft steht bei einem Sieg des russischen Despotismus, der sich mit dem Blute der Besten des eigenen Volkes befleckt hat, viel, wenn nicht alles auf dem Spiel. Es gilt, diese Gefahr abzuwehren, die Kultur und die Unabhängigkeit unseres eigenen Landes sicherzustellen. Da machen wir wahr, was wir immer betont haben: Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich. Wir fühlen uns dabei im Einklang mit der Internationale, die das Recht jedes Volkes auf nationale Selbständigkeit und Selbstverteidigung jederzeit anerkannt hat, wie wir auch in Übereinstimmung mit ihr jeden Eroberungskrieg verurteilen … Von diesen Grundsätzen geleitet, bewilligen wir die geforderten Kriegskredite.“16 Und so schickte die Sozialdemokratische Partei Deutschlands das deutsche Proletariat 1914 in das Massaker des Ersten Weltkriegs.

Wenige Tage zuvor ermordet ein französischer Nationalist Jean Jaurès, einen pazifistischen, antimilitaristischen Anführer der Sozialistischen Partei Frankreichs, der versuchte, einen deutsch-französischen Generalstreik gegen den kommenden Krieg und einen französischen Generalstreik für den Fall einer Kriegserklärung Frankreichs zu organisieren. In der Trauerrede des Anführers der Confédération générale du travail (CGT) (A.d.Ü., Allgemeinen Gewerkschaftsbundes), Léon Jouhaux, der gegen die Erklärung eines Streiks und für die Teilnahme am Krieg war, sagte er unter anderem: „Vor diesem Sarg schreie ich unseren Hass auf den Imperialismus und den groben Militarismus heraus, die dieses schreckliche Verbrechen provoziert haben… Alle Werktätigen… wir ziehen mit der Entschlossenheit ins Feld, den Aggressor zurückzudrängen. „17 Da Jaurès und der Einfluss, den er inmitten eines nationalistischen Aufruhrs hätte ausüben können, verschwunden waren, beschlossen die Sozialisten im Parlament, alle Aktivitäten einzustellen, die die nationale Kriegsmaschinerie sabotieren könnten, und schickten das französische Proletariat mit ihrem Segen in das Gemetzel des Ersten Weltkriegs.

Interessant ist, dass sowohl in Deutschland als auch in Frankreich die Anführer der organisierten Arbeiterklasse die „Invasion“ beschworen, um vor der Bourgeoisie ihres Landes zu kapitulieren. Denselben Appell richtet die Bourgeoisie aber auch immer dann, wenn sie im Rahmen eines militärischen Konflikts die nationale Einheit erzwingen will. Der nationale Krieg wird immer als Verteidigungsmaßnahme gegen die Invasoren dargestellt, egal welche Form sie annehmen. Und für einen siegreichen Krieg muss der soziale Frieden herrschen.

In Deutschland hieß dieser Pakt der Klassenzusammenarbeit während des Ersten Weltkriegs Burgfrieden, während er in Frankreich Union Sacrée genannt wurde. In beiden Fällen erklärten die Gewerkschaften/Syndikate und die sozialdemokratischen Parteien einen Waffenstillstand zur Verteidigung des Vaterlandes und verpflichteten sich, bis zum Ende des Krieges keine Arbeitskämpfe zu führen und keine Forderungen der Arbeiterklasse zu stellen. Dies ging natürlich mit dem Kriegsrecht und einer strengen Zensur einher, denn jede Kritik an der Regierung, dem Krieg oder dem Pakt der Klassenkollaboration selbst wurde unter Androhung von Waffengewalt strengstens untersagt. In diesem Zusammenhang wurden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht von 1916 bis zum Ende des Krieges inhaftiert.

Propagandakarte für die Union Sacrée in Frankreich.

Den gleichen Weg der Klassenkollaboration beschritten die meisten sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften/Syndikate der am Krieg beteiligten Länder. Ausnahmen waren die Bolschewiki, die Sozialistische Partei Italiens18, die Sozialistische Partei Serbiens, die Sozialistische Partei Bulgariens, die Sozialistische Partei der USA, die von Luxemburg, Liebknecht, Clara Zetkin und Franz Mering gegründete Internationale Gruppe und die multiethnische Arbeiterorganisation Federación de Thessaloniki. Zu dieser Zeit gab es in Griechenland noch keine sozialistische Partei. Die Sozialistische Arbeiterpartei Griechenlands wurde 1918 gegründet und 1924 in Kommunistische Partei Griechenlands umbenannt. Sie war seit 1911 der osmanische Teil der Zweiten Internationale und vertrat bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine internationalistische, kriegsgegnerische Position.

In jedem Fall brach die Zweite Internationale zusammen. Das bedeutete, dass Millionen von Proletariern von ihren eigenen Organisationen, die eigentlich ihre Klasseninteressen vertreten sollten, dazu gedrängt wurden, zur Beute für die Kanonen der Kapitalisten zu werden: 10 Millionen tote Soldaten und 20 Millionen Verwundete, von denen die Hälfte lebenslang verkrüppelt war; 10 Millionen Zivilisten, die durch Bombardierungen, Hunger und Krankheiten starben. Ein riesiges Schlachthaus von Menschen…

Offensichtlich war die Zweite Internationale keine einheitliche Organisation. Es gab einen rechten Flügel mit Vertretern wie Ebert (der später Bundespräsident wurde, als Luxemburg und Liebknecht ermordet wurden), die Mitte mit Reformisten wie Kautsky und den revolutionären linken Flügel mit führenden Persönlichkeiten wie Luxemburg und Lenin. Nur diese linke Tendenz bewahrte den proletarischen Internationalismus, der die gesamte Zweite Internationale inspirieren sollte. Alle anderen schlossen sich dem Kampf an der Seite der Bosse an, um jede proletarische Bindung zu brechen, die die imperialistischen Pläne der Bourgeoisie gefährden könnte (getarnt als „defensive Haltung“). Natürlich könnte man sagen, dass dies für sie nicht unerwartet war. Klassenkollaboration war wahrscheinlich ohnehin Teil ihres reformistischen Programms.

Aber abgesehen davon gab es in der Zweiten Internationale selbst eine Position, die früher oder später jeden Anspruch auf proletarischen Internationalismus torpedieren würde. Wie wir oben in dem Zitat der deutschen Sozialdemokraten gesehen haben, argumentierte der Teil der Internationale, der in den kapitalistischen Krieg eingetreten war, dass er gegen keines der Prinzipien der Internationale verstoße, da er das Recht der Völker auf nationale Unabhängigkeit und Selbstverteidigung verteidige. Daher das ständige Gerede von der „Invasion“, sogar von den Deutschen, obwohl es Deutschland war, das formell in Frankreich einmarschiert war.

Schon seit Ende des 19. Jahrhunderts unterstützte die organisierte Arbeiterbewegung die nationalen Befreiungsbewegungen, zum einen, weil sie als modernisierende Kraft angesehen wurden, in dem Sinne, dass sie die Entwicklung des Kapitalismus als notwendige Etappe für den Sozialismus förderten, und zum anderen, weil sie zwar bourgeoise Charakterzüge hatten, aber große Teile des Proletariats einschlossen, die potenziell eine sozialistische Perspektive schaffen konnten, indem sie den Zusammenbruch des Kapitalismus beschleunigten. Ein solches Beispiel war die nationale Befreiungsbewegung Polens (Polen war zwischen dem deutschen, österreichisch-ungarischen und russischen Imperium aufgeteilt), die zur Spaltung der Polnischen Sozialistischen Partei (1894) zwischen dem patriotischen rechten und dem linken internationalistischen Flügel führte. Ähnlich wie 1914 war der Anführer der proletarisch-internationalistischen Tendenz Rosa Luxemburg, die gemeinsam mit ihren Genossinnen und Genossen für die Klassensolidarität zwischen polnischen und russischen Arbeitern, die sozialistische Perspektive und den universellen Kampf gegen den Kapitalismus warb und davor warnte, die Klassenfrage unter der nationalen zu begraben, denn schließlich lag die nationale Unabhängigkeit Polens in niemandes Interesse, außer dem der Bourgeoisie. Aufgrund dieser konsequenten proletarischen Position wurden sie innerhalb der Zweiten Internationale vom rechten patriotischen Flügel der polnischen Partei als „Polizeiagenten“ und als „ruchlose Bande“ verunglimpft!

Mehr als ein Jahrhundert nach diesen Ereignissen und nach dem Ersten Weltkrieg besteht kein Zweifel daran, dass nationale Befreiungsbewegungen und nationale Kriege nicht nur nicht den proletarischen Interessen dienen, sondern sie sogar vernichten, da das Proletariat de facto mit der Bourgeoisie verbündet ist, entweder mit dem Ziel, einen neuen „unabhängigen“ Nationalstaat zu errichten oder einen bestehenden „unabhängigen“ Nationalstaat zu verteidigen. Der Begriff „unabhängig“ steht in Anführungszeichen, denn im Kontext der kapitalistischen innerimperialistischen Antagonismen ist jede Nation-Staat an die Wagenräder der einen oder anderen stärkeren imperialistischen Macht gebunden. So können die USA zum Beispiel eine nationale Befreiungsbewegung, die ihren eigenen Interessen entspricht, vehement unterstützen und eine andere, die von Russland unterstützt wird, heftig bekämpfen und umgekehrt.

Die Entstehung von Nationen-Staaten ist eine relativ neue Episode der Geschichte im Zuge des Aufstiegs des Kapitalismus.19 Wir könnten sagen, dass die Verflechtung der Nationen-Staaten der modernen Welt und die Antagonismen zwischen ihnen eine Form der Existenz des gesamten sozialen Kapitals ist. Jede aktive Beteiligung des Proletariats an diesen nationalistischen Antagonismen reproduziert lediglich seine Position als ausgebeutete Klasse unter der Herrschaft des Kapitals. Kein Proletarier ist jemals durch einen nationalen Befreiungskrieg emanzipiert worden; im Gegenteil, jeder nationale Befreiungskrieg hat den Weg für die Konsolidierung einer neuen bourgeoisen Elite mit nationalen Merkmalen und einem kapitalistischen Programm geebnet (auch wenn es in ihren Reihen „Revolutionäre“ und „Helden“ der nationalen Befreiungsbewegung gab). Daher würde die Selbstemanzipation des Proletariats die Beseitigung jedes nationalistischen Elements erfordern, alles, was es an ein „Heimatland“ zu binden scheint, d.h. es müsste sich gegen seine Ausbeuter, die gegenwärtigen und die aufstrebenden, wenden und den nationalen Befreiungskrieg sofort in einen Klassenkrieg umwandeln. Er müsste den sozialen Frieden, der eine unverzichtbare Ergänzung zum kapitalistischen Krieg ist, in Schutt und Asche legen.

Die militaristischen A’s im Kreis

Nach dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine dauerte es nicht lange, bis einige Texte ukrainischer Anarchistinnen und Anarchisten erschienen, in denen sie erklärten, dass sie zu den Waffen gegriffen hätten, um die Ukraine und das ukrainische Volk gegen Russland zu verteidigen, das „einen langfristigen Plan hat, die Demokratie in Europa zu zerstören.“ Sie riefen die Menschen sogar dazu auf, sie finanziell zu unterstützen, ihnen Waffen zu schicken (!) und sich der von Zelensky selbst gegründeten „Internationalen Legion der Territorialen Verteidigung“ gegen den russischen Imperialismus anzuschließen. In Wirklichkeit handelt es sich um eine reguläre Militäreinheit, die wie alle anderen vollständig in die nationale Armee der Ukraine im Rahmen der Territorialen Verteidigung des Landes integriert ist. Diese Propagandatexte, begleitet von den notwendigen heroischen Fotos einiger schwer bewaffneter Männer, die anarchistische Fahnen schwenken, verbreiteten sich wie ein Lauffeuer in allen westlichen Mediennetzwerken, sowohl im Mainstream als auch im Umfeld der antagonistischen Bewegung. Das ist natürlich zu erwarten: alles, was den Nationalismus fördert, auch wenn es von Anarchistinnen und Anarchisten kommt, alles, was dazu aufruft, sich einer der beiden Seiten in einem nationalen Krieg anzuschließen, ist für das Kapital und seinen Staat nicht nur legitim, sondern die einzig akzeptable Position.

Aber was ist in der Ukraine passiert, während diese Anarchistinnen und Anarchisten an der Seite der nationalen Streitkräfte der Ukraine gekämpft haben, um „unser aller Freiheit zu verteidigen“? Zunächst einmal wurde das Kriegsrecht ausgerufen: das bedeutet, dass die Gesetze zum Schutz der Arbeiter, Arbeiterinnen und ihrer Vertretung durch die Gewerkschaften/Syndikate weitgehend außer Kraft gesetzt wurden, was Massenentlassungen und Arbeitsunterbrechungen, die Verlängerung des Arbeitstages von vierzig auf sechzig Stunden, die einseitige Kündigung von Tarifverträgen durch die Bosse, die Nichtzahlung von Löhnen, die obligatorische Änderung des Arbeitsgegenstandes entsprechend den militärischen Bedürfnissen des Staates, die Kürzung von Feiertagen usw. ermöglicht. In diesem Zusammenhang haben Hunderte von Unternehmen in der Ukraine die Tarifverträge, die bis zum Ausbruch des Krieges in Kraft waren, einseitig ganz oder teilweise außer Kraft gesetzt, insbesondere die Klauseln über Gewerkschafts-, Syndikatsaktivitäten, Sozialleistungen, Sicherheitsbedingungen und Arbeitszeiten. Zu diesen Unternehmen gehören ArcelorMittal, das größte Stahlwerk des Landes, das Kernkraftwerk Tschernobyl, die Nationale Eisenbahngesellschaft der Ukraine, der Hafen von Odessa und die Kiewer U-Bahn. Unter dem Kriegsrecht sind auch Streiks und Demonstrationen verboten und allen Männern zwischen 18 und 60 Jahren ist es untersagt, das Land zu verlassen.

Die kriegsbedingte Zerstörung von konstantem und variablem Kapital wird also von günstigen Regelungen für die Bosse in den Betrieben begleitet. Es ist kein Zufall, dass die Regierung Zelensky mitten im Krieg ein Gesetz zur Verabschiedung ins Parlament einbrachte, das die vollständige Deregulierung der Arbeitsbeziehungen vorsah. Damals war das Gesetz wegen der Reaktionen der Gewerkschaften/Syndikate und der Opposition nicht verabschiedet worden. Doch nun hat die ukrainische Regierung die verschiedenen Hindernisse, wie die Verhandlungsmacht der Arbeiter oder die Existenz der Opposition, aus dem Weg geräumt und es geschafft, den sozialen Frieden durch den Krieg zu erzwingen. Das oben erwähnte Gesetz, das in den allgemeinen ideologischen Rahmen der „Entsowjetisierung“ eingebettet ist, wurde im Sommer 2022 in einem schnellen parlamentarischen Verfahren verabschiedet. Der zentrale Kern dieses Angriffs auf das ukrainische Proletariat besteht darin, dass Arbeiter in kleinen und mittleren Betrieben mit bis zu 250 Beschäftigten nicht mehr von Tarifverträgen erfasst werden, sondern individuelle Verträge mit den jeweiligen Kapitalisten abschließen, ohne dass sie einen Schutz durch die Arbeitsgesetzgebung genießen. Das bedeutet, dass über 70 Prozent der ukrainischen Arbeitskräfte Einzelverträge haben werden, eine Entwicklung, die letztlich zur völligen Entwertung der Arbeitskraft des größten Teils des Proletariats des Landes führen wird. Das Einzige, was diesen Prozess aufhalten könnte, wäre eine massenhafte Rebellion gegen das Kriegsrecht, d.h. die Störung des sozialen Friedens, die von den nationalistischen Anarchisten und Anarchistinnen wahrscheinlich abgelehnt werden würde, denn wenn sie ein solches Ereignis angestrebt hätten, wären sie weder freiwillig in die ukrainische Armee eingetreten noch hätten sie diese Position propagiert. Wie sehr sie sich auch auf Kropotkin20 oder Bakunin (oder sogar Makhno!) berufen mögen, ihre aktive Teilnahme am kapitalistischen Krieg richtet sich direkt gegen proletarische Interessen.

Auf der anderen Seite stehen die westlichen linken Unterstützer von Putin, die den russischen Einmarsch in der Ukraine befürworten. Mit der reaktionären Ideologie des Antiamerikanismus und dem Anti-Nato-Narrativ als Vehikel verteidigen sie die militärischen Operationen und den Nationalismus Russlands, einer kapitalistischen nationalen Formation, die wie jede andere solche Formation ihre Existenz und Reproduktion auf die Ausbeutung des größten Teils ihrer Bevölkerung stützt: des Proletariats. Sie sind so verabscheuungswürdige Feinde der proletarischen Bewegung, dass sie sich sogar gegen den jüngsten Aufstand im Iran nach der Ermordung von Mahsa Amini durch die Polizei gewandt und behauptet haben, er sei von den Amerikanern angezettelt worden. Sie unterstützen aktiv jeden Schlächter, der sich gegen proletarische Interessen wendet, genau wie die oben erwähnten ukrainischen Anarchistinnen und Anarchisten, solange er/sie als antiamerikanisch eingestuft wird. Ihre angebliche Sorge als Linke um die Arbeiterklasse ist schlichtweg eine Lüge, denn sie unterstützen offen die Auslöschung ihrer Macht und ihrer eigenen Existenz – als einer der beiden antagonistischen Pole innerhalb des Kapitalismus und als variables Kapital – durch ihr aktives Engagement in den innerimperialistischen Kriegen.

Im Schlachthaus des kapitalistischen Krieges sind wir immer auf der Seite der Deserteure

„Wir wollen nicht weglaufen“, sagen die ukrainischen Anarchistinnen und Anarchisten, die sich der Territorialen Verteidigung des Landes angeschlossen haben. Gleichzeitig sind nach offiziellen Angaben seit Beginn des Krieges etwa 7 Millionen Menschen aus dem Land geflohen. Meistens Frauen und Kinder, denn Männern ist es verboten, das Land zu verlassen. Die Tatsache, dass der Staat das Kriegsrecht mit Ausreiseverbot, Wehrpflicht und ständigen Grenzkontrollen verhängt hat, zeigt eher, dass ein großer Teil der Männer zwischen 18 und 60 Jahren keine Lust hat, in der nationalistischen Kriegsmaschinerie mitzumachen. Viele haben versucht, die Grenze zu überqueren, versteckt in Koffern, Kisten, Truhen und sogar als Frauen verkleidet. Einigen ist es gelungen, andere wurden von den Grenzschützern erwischt und zur Wehrpflicht gezwungen. Auch den Transfrauen gelang es nicht, den Fängen der Kriegsmaschinerie zu entkommen, denn für den Staat und die Armee sind sie Männer und dürfen deshalb das Land nicht verlassen.

Aus proletarisch-internationalistischer Sicht sollten wir die Entscheidung und das Handeln (A.d.Ü., im Sinne einer Aktion) derjenigen Menschen fördern und unterstützen, die sich entweder aus Gründen der Selbsterhaltung oder aus politischen Gründen weigern, sich für das „Vaterland“ zu opfern und sich dem nationalen Kriegseinsatz zu entziehen. Wir sollten ihr Beispiel als wahre proletarische Praxis gegen die vorherrschende Ideologie des Militarismus und Nationalismus fördern, die sich sogar hinter den Bildern der roten und schwarzen Flagge versteckt hat.

Solange der Krieg und seine extremen Schrecken andauern, kann die Ideologie der Aufopferung für das „Vaterland“ zerbröckeln und zusammenbrechen und es kann zu Praktiken der Fahnenflucht in beiden Armeen kommen, wie es in den letzten Monaten tatsächlich geschehen ist. In der ukrainischen Armee, die trotz westlicher Unterstützung immer noch schwächer ist als die russische Armee, tritt das Phänomen der Desertion (A.d.Ü., Fahnenflucht) recht öfters vor. In vielen Fällen handelt es sich dabei nicht um Desertionen mit rein internationalistischem Hintergrund, sondern eher um eine Flucht vor einer Armee, die sie unausgebildet und unbewaffnet auf Selbstmordmissionen schickt wie Schafe zur Schlachtbank. Trotzdem sind sie sicherlich ein Riss im Kriegsgetümmel und ein Beispiel für den Widerstand gegen die staatlich-militärische Macht.

Auch in der russischen Armee gibt es Tausende von Soldaten, die sich weigern, an die ukrainische Front zurückzukehren, weil sie behaupten, dass sie zu ihrem Todesurteil geführt werden. Im September 2022 kündigte Putin eine Teilmobilisierung an, die rund 300.000 Reservisten betraf. Diese Ankündigung löste eine riesige Fluchtwelle aus (Schätzungen zufolge haben bis zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Textes über 300.000 Menschen das Land verlassen), da sie befürchteten, dass die Wehrpflicht verallgemeinert oder die Grenzen geschlossen würden. In vielen Regionen Russlands ist es zu Demonstrationen gegen die Mobilisierung gekommen, die von der Polizei brutal niedergeschlagen wurden. Außerdem gab es mehrere Angriffe auf Rekrutierungsbüros (seit Beginn des Krieges werden in Russland regelmäßig Rekrutierungsbüros niedergebrannt). Drei Tage nach der Ausrufung der Mobilmachung unterzeichnete Putin eine Gesetzesänderung, die eine zehnjährige Haftstrafe für Deserteure vorsieht.

Die Desertion in Kriegszeiten ist einer der radikalsten Akte des Widerstands gegen die nationalistische Ideologie. Aus diesem Grund sind Deserteure in Kriegszeiten seit jeher extremer Gewalt und Repressionen durch den Staat und die Militärbehörden ausgesetzt.

Revolutionärer Defätismus

Revolutionärer Defätismus war die Position der revolutionären Internationalisten im Ersten Weltkrieg, im Gegensatz zu jenem Teil der Zweiten Internationale, der sich für eine aktive Teilnahme am Schlachthaus entschied. Seitdem ist der revolutionäre Defätismus die Grundhaltung aller kommunistischen und anarchistischen Internationalisten, die sich dem kapitalistischen Krieg stellen.

Revolutionärer Defätismus ist nicht gleichbedeutend mit Pazifismus. Er bedeutet die Umwandlung des nationalen Krieges in einen Klassenkrieg, d. h. die Untergrabung des sozialen Friedens, den die Bourgeoisie mit Gewalt durchzusetzen versucht, um ihren Krieg erfolgreich zu führen. Es bedeutet Klassenkampf gegen unsere eigene Bourgeoisie und Solidarität mit den Proletariern anderer Länder, die ebenfalls ihren eigenen Kampf gegen ihre eigene Bourgeoisie entwickeln. Wir kämpfen gegen unsere eigene Bourgeoisie nicht, damit sie vom mächtigsten Staat besiegt wird, d.h. dem Staat, der sein eigenes Proletariat besser disziplinieren kann, sondern um die Interessen der Bourgeoisie insgesamt zu besiegen, wie sie auch im nationalen Krieg zum Ausdruck kommen. Revolutionärer Defätismus ist die aktive Mobilisierung gegen die Zwangseinberufung, die Unterstützung von Deserteuren, die Unterstützung der Kämpfe in den Betrieben gegen Lohnkürzungen, gegen die Erhöhung der Arbeitszeiten oder die Auferlegung von Zwangsarbeit wegen des Krieges. Revolutionärer Defätismus ist die Sabotage der Kriegsindustrie, die Verbreitung internationalistischer Propaganda an die Soldaten aller gegnerischen Lager, die Zusammenarbeit und praktische Solidarität mit den Proletariern aller beteiligten Länder und die Verbreitung von Kämpfen, die Enteignung von Gütern zur Befriedigung proletarischer Bedürfnisse und jede andere Aktion, die zu unserem Ziel beitragen kann, das nichts anderes ist als die Entwicklung der revolutionären Bewegung gegen die kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse, die die gegenseitige Abschlachtung der Proletarier im Krieg beinhalten.

Revolutionärer Defätismus bedeutet für uns hier und heute, mit dem andauernden Krieg in der Ukraine, dass wir die Klassenkämpfe dort, wo wir uns befinden, intensivieren müssen, vor allem wenn die Staaten, in denen wir uns aufhalten, aktiv in den militärischen Konflikt verwickelt sind und die Auswirkungen des Krieges auf unsere Klasse bereits verheerend sind. Dabei geht es natürlich nicht darum, die eine oder andere Seite zu unterstützen – das ist die Aufgabe aller Arten von Nationalisten, seien es Anarchisten, Linke oder Rechte. Sondern im Gegenteil, um genau den vorherrschenden nationalistischen Monolog zu unterbrechen und das durchzusetzen, was die Interessen unserer Klasse schon immer bestimmt hat: den Kampf des Lebens gegen den Tod.

3. November 2022


1Hobson war auch offen rassistisch und ein Verfechter der Eugenik zur schrittweisen Eliminierung „degenerierter oder unproduktiver Rassen“. Er schlug Beschränkungen für die Auswanderung einer großen Zahl von Juden aus dem Russischen Imperium nach Westeuropa vor, da dies den Interessen der dortigen Arbeiter schade, und war offen antisemitisch, indem er jüdische Bankiers als Parasiten darstellte, die die britische Regierung manipulierten.︎

2R. Hilferding, Finance Capital, Routledge, 1981, S. 301 und 326.︎

3R. Hilferding, „Der Funktionswechsel des Schutzzolles“, Die Neue Zeit, Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie, 21. Jahrgang 1902-1903, 2. Bd. Nr. 35, S. 280 und J. Milios, D. Sotiropoulos, Imperialism, financial markets, crisis, Nissos, 2011, p. 30 (auf Griechisch).︎

4R. Hilferding, Das Finanzkapital, S. 370.︎

5V.I. Lenin, Imperialism, the Highest Stage of Capitalism, Progress, 1963, p. 265.

6V.I. Lenin, “Imperialism and the Split in Socialism,” Lenin Collected Works vol. 23, Progress Publishers, 1964, p. 105.

7Marcel Stoetzler, “Critical Theory and the Critique of Anti-imperialism,” in Best et al., The Sage Handbook of Frankfurt School Critical Theory, Sage, 2018, p. 1471.

8Neususs, Imperialismus und Weltmarktbewegung des Kapitals, mentioned in Anders Möllander, “Monopoly and socialism in Lenin’s analysis of Imperialism,” Tekla 1, 1977 (auf Schwedisch).

9Ebenda

10Michael Heinrich, An Introduction to the Three Volumes of Karl Marx’s Capital, 2012, p. 215.

11Wir verwenden die Begriffe Zentrum-Peripherie nicht in dem Sinne, wie sie in der Dependenztheorie verwendet werden, sondern lediglich als Bezeichnungen für die verschiedenen Ebenen der kapitalistischen Entwicklung.

12Die Ausarbeitung dieses Abschnitts stammt aus einer Notiz, die einer der Autoren dieses Textes in einer Zeitschrift geschrieben hat, an der er früher beteiligt war.︎

13„Der angeblich durch die imperialistische Politik bedingte Kapitalexport fand tatsächlich statt, aber der größte Teil dieses Kapitalexports ging nicht in Kolonien und abhängige Gebiete, sondern in andere entwickelte kapitalistische Länder, die ebenfalls eine imperialistische Politik verfolgten. Das bedeutet, dass die Ursache für den Kapitalexport nicht allein in der mangelnden Rentabilität in den kapitalistischen Zentren liegen kann, denn das würde bedeuten, dass kein Kapital in andere Zentren exportiert werden konnte. Außerdem war ein solcher Kapitalexport nicht durch die imperialistische Politik des Heimatlandes gesichert.“ Heinrich, op. cit., S. 216.︎

14Yfanet, “There is only one enemy…,” Nation, anti-imperialism and antagonistic movement, Thessaloniki, 2007, p. 45 (auf Griechisch).︎

15Wie Marcus Stoetzler feststellt:

In seinem 1920 für den zweiten Kongress der Kommunistischen Internationale verfassten „Entwurf zur nationalen und kolonialen Frage“ erklärte Lenin, dass in „In bezug auf die zurückgebliebeneren Staaten und Nationen, in denen feudale oder patriarchalische und patriarchalisch-bäuerliche Verhältnisse überwieg“, „alle kommunistischen Parteien die bürgerlich-demokratische Befreiungsbewegung in diesen Ländern unterstützen“, sondern auch „die Geistlichkeit und sonstige reaktionäre und mittelalterliche Elemente zu bekämpfen“, einschließlich des „Panislamismus und ähnliche Strömungen zu bekämpfen, die die Befreiungsbewegung gegen den europäischen und amerikanischen Imperialismus mit einer Stärkung der Positionen der Khane, der Gutsbesitzer, der Mullahs usw. verknüpfen wollen“. Abgesehen von der mechanischen Auffassung der historischen Entwicklung, die dieser Position zugrunde liegt, setzt sie fälschlicherweise voraus, dass die bourgeoisen Nationalisten in diesen Ländern wirklich gerne Bündnisse mit Geistlichen, Panislamisten und anderen reaktionären Elementen eingehen, um sozialistische Unterstützung zu erhalten. Die Verschiebung hin zur Unterstützung „bürgerlich-demokratischer Befreiungsbewegungen“ fiel mit der „Annäherung der sowjetischen Regierung an bürgerliche Regime (vor allem die Türkei und Persien) zusammen, während militante Kommunisten in diesen Ländern erschossen und inhaftiert wurden“ (Loren Goldner, „’Socialism in One Country‘ Before Stalin, and the Origins of Reactionary ‚Anti-Imperialism‘: The Case of Turkey, 1917-1925“. Critique, 38(4): 631-661).

Eine weitere wichtige Beobachtung von Marcus Stoetzler ist, dass der Antiimperialismus auch Teil der ideologischen Agenda der extremen Rechten war. Die Idee eines Kampfes zwischen „volksnahen“ und „plutokratischen Nationen“ tauchte in den protofaschistischen Milieus in Deutschland, Frankreich und Italien während des Ersten Weltkriegs auf und wurde zu einem Merkmal der Rhetorik von Mussolini und Gregor Strasser und anderen. Wie er feststellt:

Ihr Kampf gegen einen dekadenten „Westen“ wurde von „konservativen Revolutionären“ wie Arthur Moeller van den Bruck und Ernst Niekisch in den 1920er Jahren beschworen; ihr faschistischer Antiimperialismus war „nichts anderes als die ‚außenpolitische Version‘ des faschistischen Antikapitalismus“ (Fringeli, 2016: 42). Auf der gegenüberliegenden Seite des Mittelmeers entwickelte sich der moderne Islamismus einschließlich seiner dschihadistischen Ableger parallel zu den gleichen Impulsen der „konservativen Revolution“ und ließ sich von ihnen inspirieren, einschließlich der ultrakonservativen Version des Widerstands gegen den „Kulturimperialismus“, d. h. die liberale Modernität. Als nach der Auflösung der Sowjetunion die bourgeoisen nationalistischen Regime des Nahen Ostens zerfielen, die – mit sowjetischer Unterstützung – eine antiimperialistische Ideologie mit dem Anspruch auf eine Form des Sozialismus verbunden hatten, wurde der Panislamismus, vor dem Lenin gewarnt hatte, schließlich zu einem bedeutenden Phänomen. Die deutsche „konservative Revolution“ und faschistische Ideen beeinflussten die Entwicklung des antiimperialistischen Denkens auch in Bolivien in den 1930er und 1940er Jahren und verbreiteten sich von dort aus in andere lateinamerikanische Länder (Goldner, 2016: Kapitel 4). Um 1935 hatten die Anführer der Sowjetunion erkannt, dass die Unterstützung des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“ in den meisten Fällen eher den Faschisten als ihnen selbst half, weshalb sie den Begriff fast zwei Jahrzehnte lang aufgaben. In den 1950er Jahren kehrte er zurück und dominierte die sowjetische Außenpolitik.

Op. cit., S. 1472.︎

16Zitiert in Rosa Luxemburg, Die Junius Broschüre, Kapitel II.︎

17Der erste Teil der Passage wird in der International Encyclopedia of the First World War im Eintrag über die „Union sacrée“ zitiert. Der zweite Teil wird im Wikipedia-Eintrag über Jean Jaurès zitiert.︎

18A.d.Ü., hier müsste gesagt werden das die PSI eher eine neutrale Haltung hielt, sie waren nicht für den Krieg, aber nicht explizit dagegen.

19Laut Fredy Perlman wurde der Nationalismus an sich am Ende des achtzehnten Jahrhunderts mit zwei Ereignissen begründet, die die Ankunft des Nation-Staates signalisierten: die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten im Jahr 1776 und die Französische Revolution im Jahr 1789. F. Perlman, The Continuing Appeal of Nationalism, Black and Red Books, 1985.︎

20Im Ersten Weltkrieg unterstützte Kropotkin die Entente, das Bündnis zwischen Großbritannien, Frankreich und Russland, gegen die Mittelmächte Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien und vertrat die Ansicht, dass jeder Versuch Deutschlands, in Westeuropa einzumarschieren, zerschlagen werden sollte. In diesem Zusammenhang sprach er sich für eine aktive Teilnahme am Krieg aus, ganz im Gegensatz zu den kriegsgegnerischen und antimilitaristischen Positionen des größten Teils der anarchistischen Bewegung zu dieser Zeit.︎

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