Miguel Amorós – Soligruppe für Gefangene https://panopticon.blackblogs.org Für die Anarchie! Knäste, Staat, Patriarchat und Kapital abschaffen! Tue, 25 Feb 2025 10:45:34 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.1 https://panopticon.blackblogs.org/wp-content/uploads/sites/1233/2020/02/cropped-discharge-degenerik-blog-1-32x32.jpg Miguel Amorós – Soligruppe für Gefangene https://panopticon.blackblogs.org 32 32 Die wahrscheinlichen Ursachen für den Aufstieg der extremen Rechten in der kapitalistischen Welt https://panopticon.blackblogs.org/2025/02/10/die-wahrscheinlichen-ursachen-fuer-den-aufstieg-der-extremen-rechten-in-der-kapitalistischen-welt/ Mon, 10 Feb 2025 21:40:28 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=6171 Continue reading ]]>

Von uns übersetzt.


Die wahrscheinlichen Ursachen für den Aufstieg der extremen Rechten in der kapitalistischen Welt

Miguel Amorós Peidro

Das auffälligste politische Phänomen unserer jüngsten Epoche, das einige zu Recht als das Zeitalter autoritärer Anführer bezeichnen, ist der Aufstieg der extremen Rechten in kapitalistischen, parteibasierten Ländern. Manche bezeichnen sie lieber als die neue radikale Rechte, ultranationalistisch oder populistisch, und die aggressivste, neofaschistische Rechte. Aus irgendeinem Grund wendet sich eine enttäuschte und wütende Menge, zum Teil aus der Arbeiterklasse, die sich von den Institutionen, denen sie vertraut hatten, verletzt, diskriminiert oder unzureichend bedient fühlt, dieser politischen Option zu. Weder Franco noch Hitler oder Mussolini sind auferstanden, auch wenn der Geschichtsrevisionismus ihre Regime nostalgisch betrachtet und ein gewisses Verständnis fördert. Es handelt sich um ein sehr modernes Phänomen. Für ein besseres Verständnis müssen wir den Kontext untersuchen, in dem es entstanden ist, um die Faktoren, die zu seiner Entstehung und Entwicklung beigetragen haben, einzeln aufzudecken. Zunächst einmal das Verschwinden der Arbeiterbewegung.

Zumindest im spanischen Staat kann man seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts weder von einer Arbeiterbewegung noch von proletarischer Autonomie oder Klassenbewusstsein sprechen.

Die im letzten Jahrzehnt erzielten Lohnerhöhungen, die Angst vor Arbeitslosigkeit und das Eingreifen der unter dem Schirm der Regierung organisierten Gewerkschaften/Syndikate, die die Verhandlungsmacht an sich rissen und die Mechanismen der Vollversammlungen abbauten, lösten eine Welle des Konformismus aus, die so weit verbreitet war, dass sie eine Deklassierung zur Folge hatte, die nicht mehr rückgängig zu machen war. Die Vorherrschaft des tertiären Sektors, die Automatisierung der Produktionsprozesse, die industrielle Umstrukturierung, die Abwanderung der arbeitenden Massen in die Randgebiete der Großstädte und das mit den ersten Phasen der Globalisierung verbundene ökonomische Wachstum trugen alle zu einer konsumorientierten Atmosphäre bei, die eine neue Mittelschicht von Angestellten hervorbrachte. Es war das Ende der autonomen Arbeiterbewegung. Der neue Lebensstil schuf eine individualistische und wettbewerbsorientierte Mentalität, die weit von den Werten entfernt war, die einst die Arbeiterklasse geprägt hatten. Das Privatleben verdrängte das gesellschaftliche Leben vollständig, wodurch sich die Gewerkschaftsbewegung/Syndikaismus und die Politik professionalisieren und korrumpieren konnten und sich in die Welt der Waren als gut bezahlte Arbeit und als Chance für den sozialen Aufstieg integrierten, natürlich immer im Dienste der herrschenden Interessen.

Das Eintauchen in das Privatleben, die für die Vororte der Metropolen typische soziale Isolation, die Gleichgültigkeit gegenüber der Politik – was sich in einer passiven Akzeptanz des parlamentarischen Systems niederschlug –, die Verschuldung und die Sorge um die Sicherheit waren die Merkmale, die die neue Mittelschicht am besten definierten, oder besser gesagt, die „vorsichtige Mehrheit“, wie sie später von den Beratern des letzten sozialliberalen Präsidenten genannt wurde. Das Einkommensniveau war zweitrangig, da es die mesokratische Ideologie kaum veränderte: Selbst heute, wo die reale Mittelschicht rapide verarmt, betrachten sich 60 % der Bevölkerung als Angehörige dieser Klasse und nur 10 % als Arbeiterklasse. Der Faktor Mittelschicht war ein entscheidender Faktor für die soziale Lähmung, die selbst in einer Situation der offensichtlichen Ungleichheit und der Verschlechterung des sogenannten „Wohlfahrtsstaates“ oder „Rechtsstaates“ durch seine Verfechter anhielt, oder genauer gesagt, in der Verschlechterung der öffentlichen Dienstleistungen, die die paternalistische Herrschaft des Staates rechtfertigten. Angst lähmt, und das ist die große Leidenschaft einer Klasse, die Solidarität ignorierte und nicht wusste, was sie mit Freiheit anfangen sollte. Panik nährt ihre Phantome, und die Forderung nach Schutz vor einem realen oder imaginären Feind wird zur obersten Priorität ihrer Forderungen.

Die Hegemonie der Mittelklasse hatte nicht nur praktische Folgen, wie die Aufgabe des Antikapitalismus in den populären Medien, sondern auch ideologische, mit dem Joker-Konzept der „Staatsbürgerschaft“, dem neuen imaginären politischen Subjekt des linken Diskurses. Extravagante Kuriositäten, die an amerikanischen Universitäten weit verbreitet sind, wie queere Glaubensbekenntnisse, Tiefenökologie, Intersektionalität und kritische Rassentheorie, verbreiteten sich in postmodernen sozialen Bewegungen und in der Politik mit unglaublicher Geschwindigkeit in Europa, bis ihr Vokabular in die Alltagssprache trendiger Aktivisten und Politiker eindrang die auf dem Laufenden sind. Die Zerstörung der Begriffe Klasse, Vernunft, Revolution, Emanzipation, Entfremdung, gegenseitige Hilfe, Proletariat, Erinnerung, Kommunismus usw. ermöglichte es, dass sich Unsinn, Widersprüche und Wahnvorstellungen in spekulativen Gedanken und militanter Sprache festsetzten und alle Arten von irrationalem und sektiererischem Verhalten förderten. Der ausbeuterische Feind war nicht mehr die unterdrückende Bourgeoisie und der Staat; unter den neuen progressiven Parametern war es der weiße, heterosexuelle und alles verschlingende Mann, ein potenzieller Rassist und Vergewaltiger. Der Klassenkampf wurde durch den Geschlechterkampf ersetzt. Das Identitätsgefühl verdrängte das proletarische Bewusstsein und die Idee der „Diversität“ die Idee der Universalität. Streikposten und Streiks der Arbeiter wurden durch Escrache1 und die „Cancel Culture“ ersetzt. Die Verteidigung des Territoriums wurde als Kampf gegen das Patriarchat angesehen … und so weiter und so fort. In zwei Jahrzehnten kleinbourgeoiser Postmoderne fand eine vollständige kulturelle Gegenrevolution statt. Die Revolutionen, die als historische Säulen für Proteste gedient hatten, wurden nicht mehr als Referenz herangezogen. Kurz gesagt, das freie, rationale und revolutionäre Denken wurde zugunsten einer Woke-Doktrin liquidiert. Die finanzielle Herrschaft ist so gefestigt, dass sie heute keine Gründe mehr braucht, es reicht aus, die Unvernunft auf ihrer Seite zu haben.

Die Finanzkrise, die 2008 ausbrach, erschütterte die kapitalistische Gesellschaft in ihren Grundfesten. Die staatliche Begünstigung der Banken und die Unzulänglichkeit sozialer Maßnahmen führten zu einer erheblichen Unzufriedenheit mit den Mehrheitsparteien, was zweifellos der Hauptgrund für den Aufstieg der Rechten war. Der Niedergang und die Diskreditierung von Regierungen, die aus dem Spiel der Parteipolitik hervorgingen und als „repräsentative Demokratie“ oder einfach als „Demokratie“ bezeichnet wurden, waren offensichtlich. Die Mittelklasse – insbesondere diejenigen mit niedrigem Einkommen und geringer Bildung – reagierte harsch auf die Finanzelite, die Regierung und die Gerichte und unterstützte improvisierte kritische rechte und linke Parteien, die von den Medien mit großem Tamtam beworben wurden. Sie wurden bald von dem System assimiliert, das sie regenerieren wollten. Das Spektakel der Erneuerung konnte die politische Krise vorerst abwenden; die ökonomische Krise wurde mit der Kürzung der öffentlichen Ausgaben und Versuchen einer „grünen“ Umstrukturierung von Produktion und Konsum nur schlecht eingedämmt. Die Farce war nur von kurzer Dauer, da die Migrationskrise von 2015 und die Pandemie ihr Ende beschleunigten. Die allgemeine Unzufriedenheit, die durch die Schwierigkeit, Arbeit zu finden, durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse, die hohen Wohnkosten, die mangelnde Gesundheitsversorgung, die winzigen Renten, die hohen Benzinpreise usw. verursacht wurde, trug nur dazu bei, die Distanz zur Politik zu verstärken und die Überzeugung der betroffenen Bevölkerung zu festigen, dass der Parlamentarismus gescheitert war und nicht mehr funktionierte. Dank einer anhaltenden Krise, die scheinbar keinen Ausweg bot, wurde das Geheimnis der politischen Elite öffentlich: Sie war nichts weiter als eine Kaste von Menschen mit eigenen Interessen, die nichts mit denen ihrer Wähler zu tun hatten, aber eng mit dem Überleben des Kapitalismus verbunden waren. Die Konsequenzen der Unruhen und Frustrationen waren sofort in hohen Stimmenthaltungen und dem Aufkommen populistischer Parteien erkennbar, die das Gefühl der Unsicherheit der verängstigten Bevölkerung ausnutzten und Slogans aus den Klischees der woken postmodernen Linken, die auf den Kopf gestellt wurden, auf den Markt brachten. Wenn politische Korrektheit, Klimaalarmismus und eine inklusive Sprache bereits Teil des Erbes der herrschenden Klasse waren, werden Beleidigungen, Leugnung und Sexismus die Sprache der Anti-Establishment-Bewegung der Gegenwart sein. So versteht es die neue populistische Bewegung, die geschickt genug ist, sich auf ihre eigene Weise die sozialen Forderungen zu eigen zu machen, die die klassischen Parteien und Gewerkschaften/Syndikate, die zu sehr in den Machtstrukturen verankert sind, vernachlässigt haben.

Misogynie, Homophobie, Transphobie und Rassismus werden ohne viel Originalität einen Diskurs schmücken, der die traditionelle Familie, die katholische Religion, das biologische Geschlecht, Eigentum, das Spanischsein und patriotische Mythen verteidigt. Die universalistischen Ideale der Arbeiterklasse verschwinden und werden durch nationalistische Identitätsprojekte ersetzt, die offen fremdenfeindlich sind und kulturellen Pluralismus und einheimische Sprachen ablehnen. In diesen ist der Fremde der größte Feind, die größte Bedrohung für die Identität. Vor allem, wenn er ein Muslim ist. Die extreme Armut, die durch Globalisierung und Geopolitik in vielen Ländern verursacht wurde, hat Massen von Einwanderern in die kapitalistischen Metropolen getrieben, wo sie von den schlechtesten Jobs leben, die niemand will, und die Lücken füllen, die durch den Ruhestand einer alternden arbeitenden Bevölkerung entstehen. Die Rassifizierung des Proletariats ist ein weiterer Faktor, der den Aufstieg der extremen Rechten erklärt, da sie den lumpenbourgeoisen Massen nicht nur einen idealen Sündenbock, den Einwanderer ohne Papiere, einen angeblichen Kriminellen, zur Verfügung stellt, sondern auch die Aufmerksamkeit vom wahren Feind, der herrschenden Kapitalistenklasse und ihren politischen Helfern, ablenkt.

Die Anwesenheit anderer, effektiverer Kapitalismusmodelle, wie das russische und chinesische Modell, die von starken Männern geführt werden, die entweder von mächtigen Polizei- und Militärapparaten oder von ausufernden politisch-administrativen Bürokratien unterstützt werden, war eine Inspirationsquelle und ein Bezugspunkt für Dissidenten des konventionellen Konservatismus und anderer fortschrittsfeindlicher „alternativer Demokraten“. Deshalb sind sie dagegen, sich der US-Außenpolitik anzuschließen. Für das postideologische autoritäre Denken erstreckt sich die Nutzlosigkeit von Parlamenten auch auf Parteien, Gewerkschaften/Syndikate und Gesetze, die Rechte garantieren, während der Schiffbruch des Wirtschaftsliberalismus in seiner keynesianischen und thatcheristischen Form die politische Führung der Wirtschaft in die Hände eines providentiellen Anführers legt, der gute Beziehungen zu Russland, dem Iran und China unterhält. Die extreme Rechte ist jedoch weder radikal antieuropäisch, noch erklärt sie sich als Gegnerin des parlamentarischen Systems: Sie neigt dazu, die EU und die Parlamente von innen heraus und nach und nach zu verändern. In institutionellen Fragen ist sie recht gemäßigt, da sie vor allem eine Partei der Ordnung sein will. Um dies zu erreichen, muss sie Wahlen gewinnen. Und Geschäfte machen. Auch hier wird die Technologie die Werkzeuge bereitstellen, die für die Umsetzung der ultra-Strategie erforderlich sind: soziale Netzwerke. Dies wird der entscheidende Faktor sein.

Die Netzwerke haben die gleiche Rolle gespielt wie einst das Radio bei der Entstehung der NSDAP. In den letzten zehn Jahren haben sich Information und Politik dank Plattformalgorithmen grundlegend verändert. Der Einfluss der offiziellen Presse ist stark zurückgegangen. Das Verständnis von Zeit ist unklar geworden: Die Zukunft, der Platz der Utopien, zählt nicht mehr; die Vergangenheit als Aufbewahrungsort eines auserwählten Goldenen Zeitalters dient nur noch dazu, die gewählte Identität zu legitimieren. Die Gegenwart ist die hegemoniale Zeit; die Welt der Netzwerke ist rasend präsent geworden. In der Gesellschaft der ignoranten Unmittelbarkeit ist die Staatsbürgerschaft des Post-Linken zu einer digitalen Menge geworden, einer Masse, die sich selbst informiert, emotional nährt und sich im Cyberspace in Echtzeit koordiniert. Die Chance, die andererseits die Tür zu einer umfassenden sozialen Kontrolle öffnete, wurde von den aufstrebenden linken Bewegungen politisch genutzt, aber es waren die postfaschistischen Seiten, die am Ende die Oberhand gewannen. Durch die Verschmelzung mit Netzwerken und Anwendungen wird ein Monster entstehen, das nicht mehr aufzuhalten ist. In der Cyberwelt ziehen abweichende und irrationale Inhalte viel mehr Aufmerksamkeit auf sich, da sie emotionale und kontroverse Reaktionen hervorrufen und Empörung auslösen. Deshalb sind Desinformation, Gerüchte, Lügen, Verschwörungen und Falschmeldungen im Internet alltäglich geworden: Sie bieten unzufriedenen virtuellen Gemeinschaften neue Schlüssel zur Interpretation der Realität. Eine gefälschte Nachricht verbreitet sich sechsmal schneller als wahrheitsgemäße Informationen. Nun gibt es eine enttäuschte und verärgerte Bevölkerung, die Politiker hasst (insbesondere die ehemaligen systemkritischen Figuren, die von der Macht vereinnahmt wurden, die Linken, die selbstgefällig geworden sind) und zunehmend empfänglich für Argumente ist, die aus einer Realität stammen, die parallel zu der von regierungsfreundlichen Journalisten beschriebenen verläuft, wodurch sie leicht von Chaosexperten manipuliert werden kann. Information und Politik haben einen qualitativen Sprung in der Fälschung gemacht, während das historische Bewusstsein zurückgegangen ist. Vergesslich und den Algorithmen ausgeliefert, sind die Menschen von heute nicht mehr das, was sie einmal waren. Es gibt auch keine Wut in der Bevölkerung.

Ohne wirksame Barrieren und begünstigt durch die Krise – ökonomisch, ökologisch, politisch, kulturell – wird die rechtsextreme Welle weiterhin Unterstützung bei Kleinbauern, der verarmten Mittelklasse und weißen Arbeitern finden, die sich im Prozess der Ausgrenzung befinden und in Kleinstädten, am Rande von Großstädten und in deindustrialisierten Gebieten leben. Sie übernimmt die soziale Basis des alten Stalinismus, der nach dem Fall des Eisernen Vorhangs politisch liquidiert wurde. Paradoxerweise ist die extreme Rechte weniger beängstigend als das Establishment. Der neue europäische Kurs, der durch die bevorstehende Katastrophe erzwungen wird, weist ähnliche Merkmale auf wie die, die vom Extremismus gepredigt werden. Der unwahrscheinliche Ausweg erfordert Deregulierungsmaßnahmen in Umweltfragen, Sparpolitik, Importzölle, Änderungen der Verteidigungspläne (insbesondere im Hinblick auf die Ukraine), Alternativen zur Verarmung und restriktive Vorschriften für Migration und Freiheiten, was nur im Rahmen eines nationalistischen Rückzugs möglich ist. Wenn die radikale Rechte triumphieren würde, würde der kontrollierte Abbau der Europäischen Union, der Traum der aufgeklärten Bourgeoisie, die den Nationalsozialismus besiegt hat, am Horizont auftauchen. Die politische Grundlage, die sie stützte, das von Washington gesegnete Bündnis zwischen Sozialdemokraten und Konservativen, würde den Bach runtergehen. In Bezug auf die tatsächliche Macht würde dies bedeuten, dass einige der transnationalen Führungskräfte die Fortsetzung des europäistischen Projekts in Betracht ziehen, das allmählich belastend und politisch immer weniger tragfähig wird. Sein Ende würde einen neuen kapitalistischen Zyklus und ein neues Kapitel der bourgeoisen Herrschaft abschließen. Für diejenigen, die sich der Katastrophe widersetzen, eröffnet sich ein entmutigendes Panorama, das jedoch so instabil ist, dass alle Ergebnisse möglich sind. Auch die besten.


1Escrache ist der Name, der in spanischsprachigen Ländern verwendet wird um eine öffentliche Demonstration zu bezeichnen bei der eine Gruppe von Personen das Haus, den Arbeitsplatz oder öffentliche Orte von jemandem aufsucht, den sie entlarven wollen. Normalerweise stehen sie vor der angezielten Person und brüllen sie an, mehr auch nicht. Aktivismus als höchster Ausdruck entfremdete Praxis (des Spektakels).

]]> Was ist Anarchismus? Von Miquel Amorós https://panopticon.blackblogs.org/2025/02/10/was-ist-anarchismus-von-miquel-amoros/ Mon, 10 Feb 2025 21:37:50 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=6169 Continue reading ]]>

Ein Text von Miguel Amorós der wichtige Kritik aufwirft, ein Text der sich lohnt zu diskutieren, auch wenn man nicht einverstanden ist, wie es auch bei uns der Fall ist, zumindest bei einigen seiner Schlussfolgerungen.

Auf a las barricadas gefunden, die Übersetzung ist von uns.


Was ist Anarchismus? Von Miquel Amorós

Ist es eine Doktrin, eine Ideologie, eine Methode, ein Zweig des Sozialismus, eine Verhaltensweise, eine politische Theorie? Die Antwort ist im Prinzip einfach: Anarchismus ist das, was Anarchisten denken und tun, und im Allgemeinen diejenigen, die sich als Feinde jeglicher Autorität und Auferlegung definieren. Diejenigen, die auf unterschiedlichen Wegen, von denen viele wirklich antagonistisch sind, „Anarchie“ anstreben, d. h. eine Gesellschaft ohne Regierung, eine Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die autoritären Neigungen fremd ist. Anarchismus wäre nichts anderes als der Weg zur Verwirklichung dieser Anarchie, die der Geograf Reclús als „höchster Ausdruck der Ordnung“ bezeichnete. Worin besteht er? Die Strategien zur Erreichung eines Ideals, das auf einer Negation basiert, von der es mehrere Versionen gibt, sind vielfältig und widersprüchlich, weshalb es zutreffender wäre, von Anarchismen zu sprechen, wie es beispielsweise Tomás Ibáñez tut. Wenn wir auch die aktuelle historisch-soziale Situation berücksichtigen, in der der Anarchismus keine große Rolle mehr spielt, sondern kaum noch ein Zeichen jugendlicher und halbakademischer Identität ist, das wenig mit glorreicheren vergangenen Epochen zu tun hat und vor jeder ernsthaften und objektiven Kritik geschützt ist, könnten die Definitionen ins Unendliche erweitert werden. Anarchismus wäre dann eine Art Sack voller unterschiedlicher Formeln, die als anarchistisch bezeichnet werden. Die Türen stehen für jede Art von Abweichung offen, sei es reformistisch, individualistisch, katholisch, kommunistisch, nationalistisch, kontemplativ, mystisch, verschwörerisch, avantgardistisch usw. Was die gutmütige Verwirrung in libertären Kreisen betrifft, die mit einer solchen Vielfalt einhergeht, könnten wir zu dem gleichen Schluss kommen wie der Autor oder die Autoren des Pamphlets „Über das Elend im Studentenmilieu“ (1966) über die Komponenten der Fédération Anarchiste: „Diese Leute dulden tatsächlich alles, da sie sich untereinander dulden.“ Die Aussichten sind nicht vielversprechend, denn heutzutage hängt das Verständnis sozialer Phänomene und der sie begleitenden Ideologien in hohem Maße davon ab, dass man über sie richtig nachdenkt, d. h. aus der Perspektive des historischen Wissens. Auch heute mangelt es dem Anarchismus nicht an ehrlichen und kompetenten Intellektuellen, die dieser Aufgabe gewachsen sind. Das häufigste Merkmal des postmodernen Anarchismus, der sich im postfaktischen Raum bewegt und Kohärenz ablehnt, ist jedoch die Ablehnung solchen Wissens. Darüber hinaus muss nach dieser Art von Anarchismus von der Gegenwart aus in die Vergangenheit eingegriffen werden, als eine Fundgrube ästhetischer Ressourcen, im Einklang mit den spielerischen Normen, der Transgender-Grammatik und den gastronomischen Gewohnheiten, die von der Mode auferlegt werden. Engagement ist zudem ephemer. Kurz gesagt, hier haben wir es mit Anarchismus zu tun, der mit Ausnahme einiger weniger gewerkschaftlicher/syndikalistischer Gruppen bewusst auf ein Phänomen der Buchmesse reduziert wird. Wir, die wir in die entgegengesetzte Richtung gehen, werden versuchen, dieses ständige Streben nach einer sozialen Organisation ohne Regierung und damit ohne Staat, ohne separate Autorität zu erklären, indem wir uns auf seine Ursprünge beziehen, wo auch immer sie zu finden sind, in den radikalen Sektoren der populären Revolutionen des 19. Jahrhunderts.

Zunächst müssen wir die Manie einiger anarchistischer Ideologen überwinden, angefangen bei Kropotkin, Reclus, Rocker und dem Historiker Nettlau, in allen Momenten der Geschichte und an allen Orten Vorfahren zu entdecken. Aus dieser Sicht wäre der Anarchismus keine neue Idee, sondern etwas, das so alt ist wie die Menschheit, beständig, ewig, dem biologischen Wesen der menschlichen Spezies eingeschrieben. Anarchisten wären demnach Diogenes der Zyniker und Zeno der Stoiker, Lao Tzu, Epikur, Rabelais, Montaigne und Tolstoi. Libertäre Züge finden sich in den mittelalterlichen Kommunen, in den englischen Diggers, im philosophischen Liberalismus von Spencer und Locke, in der politischen Arbeit von Stuart Mill und William Godwin, in jeder Veränderung der bestehenden Ordnung … Dagegen haben wir nichts einzuwenden, aber wir prangern den latenten Versuch an, mit diesem anti-historischen Ansatz eine klassenübergreifende Ideologie zu schaffen und der Arbeiterbewegung ihre entscheidende Rolle bei der Entstehung anarchistischer Ideen abzusprechen. Dies hatte verheerende Auswirkungen auf die antiautoritäre Praxis. Die Befürworter und Verteidiger dieser These versuchten, die soziale Realität nicht durch praktische Interventionen im politisch-sozialen Bereich zu überwinden, sondern durch Propaganda, durch eine intensive Anstrengung der Bildung der Massen, die eine allmähliche Entwicklung der Mentalität der Bevölkerung hin zu höheren Bewusstseinsebenen bewirken könnte. Für die Propagandisten der Bildung, insbesondere für die unbeweglichsten und selbstgefälligsten – nehmen wir Abad de Santillán als Beispiel – war der Anarchismus einfach „eine humanistische Sehnsucht“, der neue Name für „eine grundlegende humanistische Haltung und Auffassung“, eine Lehre, die weder spezifisch noch konkret war, ein vages ethisches Ideal, das es schon immer gegeben hatte, das in jeder sozialen Klasse vorkam und das – wie Federica Montseny hinzufügte und – auf der iberischen Halbinsel eine Tradition, ein rassisches Temperament und eine leidenschaftliche Liebe zur Freiheit in größerem Maße als anderswo gefunden hatte. Im Vorwort zu einem Buch des Staatsgründers Fidel Miró sagte Santillán mit kalkulierter Zweideutigkeit, dass „der Anarchismus die Verteidigung, Würde und Freiheit des Menschen unter allen Umständen, in allen politischen Systemen, von gestern, heute und morgen anstrebt […] er ist nicht an irgendeine Art von politischem Aufbau gebunden und schlägt auch kein System vor, das diese ersetzen soll.“ Es handelte sich also nicht um ein homogenes Projekt, sondern um ein pluralistisches, hybrides Projekt, dessen Grundlagen, Ziele und Umsetzungsstrategien, wenn wir dem misstrauischen Gaston Leval glauben wollen, dem Anarchismus eine „wissenschaftliche Grundlage“ geben sollten, indem sie den „konstruktiven“ Realismus in Politik und Ökonomie stärkten, und über das es keinerlei Einigkeit „unter den fähigsten Theoretikern auf diesem Gebiet“ gab („Precisiones del Anarquismo“, 1937 ). Die Spekulationen der führenden Persönlichkeiten des orthodoxen Anarchismus in Spanien im Jahr 1936 führten zu den Klischees des politischen Liberalismus, was verständlich ist, wie die extreme Anpassungsfähigkeit ihrer Überzeugungen an bourgeois-republikanische Prinzipien und Institutionen zeigt.

Rudolf Rocker sah im Anarchismus das Zusammenfließen zweier intellektueller Strömungen, die von der Französischen Revolution angetrieben wurden: Sozialismus und Liberalismus. Es sei darauf hingewiesen, dass die eine proletarisch und die andere bourgeois war. Diese Konfluenz bildete jedoch kein festes soziales System, sondern „eine klare Tendenz in der Entwicklung der Menschheit, die […] danach strebt, dass sich alle sozialen Kräfte frei im Leben entwickeln“ („Anarcho-syndicalism. Theory and practice.“)

Albert Libertad, der Herausgeber der individualistischen Zeitschrift L’Anarchie, war damit nicht zufrieden: „Für uns ist der Anarchist jemand, der die subjektiven Formen der Autorität überwunden hat: Religion, Land, Familie, Respekt vor dem Menschen oder was auch immer man will, und der nichts akzeptiert, was nicht durch das Sieb seiner Vernunft gegangen ist, soweit es sein Wissen erlaubt.“ Anarchie kann nur „die Philosophie der freien Untersuchung sein, die nichts durch Autorität aufzwingt und die versucht, alles durch Argumentation und Erfahrung zu beweisen“.

Für Sebastián Faure ist Anarchie „als gesellschaftliches Ideal und als effektive Verwirklichung die Antwort auf einen Modus Vivendi, in dem das Individuum, befreit von jeglicher rechtlicher und kollektiver Unterwerfung im Dienste der Staatsgewalt, keine anderen Verpflichtungen hat als die, die ihm sein eigenes Gewissen auferlegt.“ Sein Freund Janvion erklärte, Anarchismus sei „die absolute Negation der Autorität des Menschen über den Menschen“. Emma Goldman ging noch weiter und erklärte das Individuum zum Maß aller Dinge: „Anarchismus ist die einzige Philosophie, die dem Menschen sein Selbstbewusstsein zurückgibt, die behauptet, dass Gott, der Staat und die Gesellschaft nicht existieren, dass sie leere und wertlose Versprechen sind, da sie nur durch die Unterordnung des Menschen erreicht werden können.“ Obwohl auf abstrakte Weise, spielte sie auf Themen wie Produktion und Verteilung an, ohne dies jedoch zu spezifizieren. In ihrer Broschüre “Anarchismus. Was es wirklich bedeutet“ sagte sie: “Anarchismus ist die Philosophie einer neuen Gesellschaftsordnung, die auf uneingeschränkter Freiheit beruht, die Theorie, dass alle Regierungen auf Gewalt beruhen und daher falsch und gefährlich sind, sowie unnötig […] Er stellt eine Gesellschaftsordnung dar, die auf der freien Gruppierung von Individuen zum Zweck der Produktion von sozialem Reichtum beruht, eine Ordnung, die freien Zugang zum Land und den vollen Genuss der Notwendigkeiten des Lebensunterhalts garantiert…“ Soledad Gustavo erklärte kurz und bündig, dass Anarchie „der wahre Ausdruck totaler Freiheit“ sei, und Federica, die ihr Publikum aus der Arbeiterklasse nicht vergaß, betonte, was ihre Mutter gesagt hatte: „Anarchismus ist eine Lehre, die auf der Freiheit des Menschen, auf dem Pakt oder der freien Vereinbarung des Menschen mit seinen Mitmenschen und auf der Organisation einer Gesellschaft beruht, in der es weder Klassen noch private Interessen noch Zwangsgesetze jeglicher Art geben sollte“ („Was ist Anarchismus?“) In Anbetracht der föderalistischen Umsetzung der Idee fragte sich José Peirats in seinem kleinen Wörterbuch des Anarchismus, ob Anarchie „eine Idee ist, die in das revolutionäre politische Rezeptbuch eingerahmt werden kann, oder ob sie eine dunstige Masse ist, die sich verflüchtigt, wenn man versucht, sie zu erfassen?“ Er befürchtete, dass es sich um nichts weiter als „ein verwässertes Prinzip“, einen ätherischen Slogan, handelte und nicht, wie seine geschätzte Emma sagte, „die Schlussfolgerung, zu der eine Vielzahl entschlossener Männer und Frauen durch detaillierte Beobachtungen der Tendenzen der modernen Gesellschaft gelangt ist“, oder, wie Eliseo Reclus es ausdrückte, „das praktische Ziel, das von einer Vielzahl vereinigter Männer aktiv angestrebt wird, die entschlossen an der Geburt einer Gesellschaft mitwirken, in der es keine Herren gibt …“

Trotz der unbestreitbar entscheidenden Rolle der anarchistischen Massen in den Revolutionen des letzten Jahrhunderts werden wir, egal wie sehr wir die klassische anarchistische Literatur durchforsten, nur wenige Hinweise auf die Revolution als Mittel zur Umgestaltung der Gesellschaft finden. Aufgrund der zwangsläufig gewalttätigen Implikationen, die sie notwendigerweise enthalten, widersprachen sie den pazifistischen Postulaten der Ideologie, die, das sollten wir nicht vergessen, oft als ethisches Ideal und nicht als aufgezwungenes Ideal dargestellt wird; oder als moralische Rebellion (Malatesta), als befreite Subjektivität (Libertad), als „Verhalten innerhalb eines jeden Regimes“ (Alaiz) … Revolutionäre Prahlereien waren typisch für Männer der Aktion, deren Paradigma ist Bakunin, der mehr daran interessiert war, die unterdrückerische Seite der Reaktion zu besiegen, als eine Utopie zu schaffen, die vom Schreibtisch aus nach unumstößlichen Richtlinien funktioniert. Sie betrachteten Aktion grundsätzlich als Kampf, Auseinandersetzung, Konfrontation, nicht als Pädagogik und Experiment. Der Beiname „Anarchist“ wurde jedoch historisch verwendet, um das zu beschreiben, was konservative Fraktionen als revolutionäre Exzesse betrachteten. Während der Englischen Revolution wurde der Begriff zum ersten Mal in einem abwertenden Sinn gegen die Levellers und alle verwendet, die die etablierte Ordnung störten und die herrschende Macht, insbesondere die kirchliche Hierarchie, nicht anerkannten (der Begriff war gleichbedeutend mit radikal, atheistisch oder anabaptistisch) verwendet. In der Französischen Revolution bezeichneten gemäßigte Republikaner alle diejenigen als Anarchisten, die den revolutionären Prozess fortsetzen wollten, anstatt ihn zu stoppen, einschließlich die Jakobiner, die Enragés und die Hébertisten. Kurz gesagt war Pierre-Joseph Proudhon der erste, der sich in seinem berühmten Werk „Was ist Eigentum?“ als Anarchist im positiven Sinne bezeichnete, und er nannte Anarchie „die Abwesenheit von Herren und Souveränen, die Regierungsform, der wir uns nähern“. Er war auch der erste, der die Arbeiterklasse als autonome soziale Kraft gegen die Bourgeoisie in Stellung brachte. In anderen Fragen war er weit weniger innovativ. Kurz darauf erklärte Anselme Bellegarrigue in seinem Manifest von 1850: „Anarchie ist Ordnung, der Staat ist Bürgerkrieg“. Nettlau machte uns mit anderen Revolutionären bekannt, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts aktiv waren und einen Sozialismus ohne Bosse befürworteten: Joseph Déjacque, Coeurderoy, Pisacane, Cesar De Paepe, Eugene Varlin, Ramón de la Sagra … die wir durchaus als Anarchisten bezeichnen könnten, auch wenn sie diesen Begriff nicht verwendeten. Daher ist es nicht falsch, den Anarchismus als eine antiautoritäre Strömung des revolutionären Sozialismus zu definieren, als das intellektuelle Produkt des beginnenden Klassenkampfes, der für die kapitalistische Gesellschaft in den frühen Phasen der Industrialisierung typisch ist.

In Proudhons Korrespondenz finden wir die vollständigste Erklärung des Ideals: „Anarchie ist eine Regierungsform oder Verfassung, in der das öffentliche oder private Gewissen, das durch die Entwicklung von Wissenschaft und Recht geformt wurde, allein ausreicht, um die Ordnung aufrechtzuerhalten und alle Freiheiten zu garantieren; in der folglich das Prinzip der Autorität, die Institutionen der Polizei, die Mittel der Prävention oder Repression, der öffentliche Dienst, Steuern usw. auf ein Mindestmaß beschränkt werden, wo mit noch größerem Grund monarchische Formen und eine hohe Zentralisierung verschwinden und durch föderale Institutionen und gemeinschaftliche Bräuche ersetzt werden.“

Die Internationale Arbeiterassoziation war ein Meilenstein in der Organisation des Proletariats, da sie ihm nicht nur ökonomische, sondern auch politische Ziele gab. Die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Fraktionen, aus denen sie sich zusammensetzte, führten zu ihrem Zerfall. Während der kurzen und intensiven Zeit der IAA gelang es Bakunin, den unterentwickelten libertären Sozialismus in eine kohärente und revolutionäre politische Theorie zu verwandeln. Die Zeichen standen auf soziale Revolution; Bakunin, der über ein außerordentliches historisches und philosophisches Wissen verfügte, musste dieses nur noch in praktische Ideen umsetzen. Die Arbeiterklasse war das Subjekt der Revolution und somit der Rammbock des Antiautoritarismus. Daher musste er einige strategische Linien entwerfen, die sich vom sozialdemokratischen Reformismus, der für die marxistische Tendenz charakteristisch war, unterschieden. Der Begriff Anarchie nahm die ursprüngliche Bedeutung von zerstörerischem Aufruhr aus einer kreativen Perspektive auf. Für Bakunin war es „die ungezügelte Manifestation des befreiten Lebens des Volkes, aus der Freiheit, Gerechtigkeit, die neue Ordnung und die eigentliche Kraft der Revolution hervorgehen müssen“. Anarchie war für ihn also die unkontrollierte Explosion der Leidenschaften des Volkes, die die Hindernisse der Unwissenheit, Unterwerfung und Ausbeutung überwindet und von den Agitatoren, die in ihr vorhanden sind, auf die Zerstörung aller bestehenden Institutionen gerichtet wird. Auf dem Kongress von Saint-Imier im Jahr 1872 wurde über einen seiner Vorschläge abgestimmt: „Die Zerstörung aller politischen Macht ist die erste Pflicht des Proletariats.“ Im Gegensatz zu späteren Ideologen war er nicht daran interessiert, die neue Gesellschaft in ihren verschiedenen Facetten zu beschreiben, die das Ergebnis des Beitritts aller Arbeiter zur Internationale sein würde. Es würde sich um eine „natürliche Gesellschaft handeln, die das Leben aller unterstützen und stärken würde“ und aus einer „neuen Organisation bestehen würde, die keine andere Grundlage als die Interessen, die Bedürfnisse und die natürlichen Neigungen der Menschen hätte und auch kein anderes Prinzip als die freie Föderation von Individuen in den Kommunen, der Kommunen in den Provinzen, der Provinzen in den Nationen, kurz gesagt, dieser in den Vereinigten Staaten von Europa zuerst und später in der ganzen Welt .“ (Programm der Internationalen Brüder)

Die Spaltungen und Ausschlüsse aus der Internationale, die Niederlage der Pariser Kommune, die Niederschlagung der internationalistischen Aufstände in Spanien, das Scheitern des Bauernaufstands in Italien und die anschließenden Verfolgungen bremsten die Arbeiterbewegung, die sich auf kleine Zirkel beschränkte, die sich hauptsächlich der Verbreitung von Ideen widmeten. Kropotkin, Reclus, Malatesta und ihre Gefährten stachen in dieser Hinsicht hervor. Der Tod von Bakunin bedeutete das fast vollständige Verschwinden seines theoretischen Erbes. Keiner seiner Anhänger las jemals Hegel, Feuerbach oder Comte, und nur wenige interessierten sich für Babeuf, Weitling oder Proudhon. In dieser postrevolutionären Zeit wurde der Begriff „Anarchist“ weit verbreitet und eine eigene Ideologie wurde konstruiert, die außerhalb der unterdrückten Klassen lag, die durch doktrinäre Propaganda und vorbildliches Verhalten belehrt werden sollten. Im Falle des Marxismus stellte dies eigentlich kein System dar. Darüber hinaus fügte die Erhebung von Godwin, Tolstoi, Thoreau und Stirner zu Heiligen – Autoren, die Revolutionen überhaupt nicht befürworteten – der ideologischen Reflexion widersprüchliche Elemente hinzu. Es entwickelten sich untergeordnete Strömungen, die oft widersprüchlich und unvereinbar waren: diejenigen, die der zukünftigen Gesellschaft Vorrang vor der Gegenwart einräumten, Kommunismus (jeder nach seinen Bedürfnissen) vor Kollektivismus (jeder nach seiner Arbeit), Kommunalismus vor Individualismus, Organisation vor Spontaneität, Reflexion vor Aktion, Pazifismus vor Gewalt, Propaganda vor Enteignung oder Angriff, Legalität vor Klandestinität, die politische Partei bis hin zur ökonomischen Vereinigung usw. Die Verwirrung war so groß, dass ein nahestehender Intellektueller, Octave Mirbeau, feststellte: „Anarchisten haben breite Schultern; wie Papier können sie alles einstecken.“ Für andere, denen es sowohl auf den Inhalt als auch auf die Aktion ankam, war alles Anarchismus. Die Hauptsache war das Ziel; die Mittel, die oft im Widerspruch dazu standen, waren zweitrangig. Tárrida del Mármol wandte den Trick des „Anarchismus ohne Adjektive“ an, bei dem der wahre Ausdruck der revolutionären proletarischen Bewegung, der sich in der Arbeit von Bakunin und der antiautoritären Internationale widerspiegelte, auf dem Altar doktrinärer, nebulöser und sektiererischer Interpretationen der Realität geopfert werden sollte. Der Anarchismus als Ideal einer emanzipierten Gesellschaft und zugleich als Aktionsmethode, als einfache Variante des revolutionären Sozialismus, schien nicht auszureichen. Gustav Landauer wollte zu den Grundlagen zurückkehren, als er schrieb: „Anarchismus ist das Ziel, das wir verfolgen, die Abwesenheit von Herrschaft und Staat; die Freiheit des Individuums. Sozialismus ist das Mittel, mit dem wir diese Freiheit erreichen und sichern wollen.“ Im Gegensatz dazu machte es sich Fürst Kropotkin zur Aufgabe, das anarchistische Gedankengut zu ordnen, eine philosophische Grundlage dafür zu finden, die sich von der Bakunins unterschied, ihm biologische Wurzeln zu geben, den libertären Kommunismus als Endziel zu etablieren und einen wissenschaftlichen Optimismus zu verbreiten, der vor allem bei den unterdrückten Massen Anklang fand. Er war der meistgelesene und einflussreichste Autor in der Geschichte des Anarchismus.

Kropotkin formte den Anarchismus zu einer materialistischen, wissenschaftlichen, evolutionistischen, atheistischen und progressiven Philosophie um, die in einer Ethik gipfelte, die er nicht vollendete. Englische Philosophen und die wissenschaftlichen Entdeckungen des 18. Jahrhunderts, und natürlich Darwin, lieferten ihm das Material, auf dem er sein ideologisches Gebäude errichten konnte, in dem der wissenschaftliche Fortschritt den Status einer bestimmenden Kraft anstelle des Klassenkampfes erlangte. In seiner Broschüre „Moderne Wissenschaft und Anarchismus“ schrieb er: „Der Anarchismus stellt den Versuch dar, die durch die deduktiv-induktive Methode der Naturwissenschaften gewonnenen Verallgemeinerungen auf die Bewertung der Natur menschlicher Institutionen anzuwenden und auf der Grundlage dieser Bewertungen die wahrscheinlichen Aspekte des zukünftigen Marsches der Menschheit in Richtung Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit vorherzusagen.“ An anderer Stelle betonte er dasselbe: „Anarchismus ist eine Konzeption des Universums, die auf der mechanischen Interpretation von Phänomenen basiert, die die gesamte Natur umfassen, ohne das Leben in der Gesellschaft auszuschließen.“ In seinem Artikel für die Encyclopaedia Britannica hielt er sich an die Klassiker und definierte Anarchismus als „ein Prinzip oder eine Theorie des Lebens und Verhaltens, die eine Gesellschaft ohne Regierung vorsieht, in der Harmonie nicht durch die Unterwerfung unter das Gesetz oder Autorität erreicht wird, sondern durch freie Vereinbarungen zwischen verschiedenen territorialen und beruflichen Gruppen, die frei für Produktion und Konsum sowie für die Befriedigung der unendlichen Vielfalt von Bedürfnissen und Bestrebungen eines zivilisierten Wesens gerecht zu werden.“

Carlo Cafiero, ein Weggefährte Bakunins, hatte eine dynamischere Auffassung von Anarchismus: „Anarchie ist gegenwärtig eine Angriffskraft; ja, sie ist Krieg gegen die Autorität, gegen die Macht des Staates. In der zukünftigen Gesellschaft wird Anarchie die Garantie, das Hindernis für die Rückkehr jeglicher Autorität und jeglicher Ordnung, jeglichen Staates sein.“ Anarchie und Kommunismus gingen Hand in Hand, wie die Forderung nach Freiheit und die Forderung nach Gleichheit („Anarchie und Kommunismus“, 1880). Dennoch bedurfte die metaphysische Unterscheidung zwischen libertärem Kommunismus und Anarchie im eigentlichen Sinne, wie sie von einigen doktrinären Denkern verstanden wurde, weiterer Klärung. Für Carlos Malato, einen Anhänger, war Anarchie die Ergänzung des Kommunismus, „ein Zustand, in dem die Hierarchie der Regierung durch die freie Vereinigung von Individuen und Gruppen ersetzt wird; das Gesetz, das für alle verbindlich und von unbegrenzter Dauer ist, durch den freiwilligen Vertrag; die Vorherrschaft von Vermögen und Rang durch die Universalisierung und das Wohlergehen und die Gleichwertigkeit der Funktionen und schließlich die von scheinheiliger Grausamkeit, durch eine höhere Moral, die sich natürlich aus der neuen Ordnung der Dinge ergeben wird„ (“Philosophie des Anarchismus“). Beachtet man, dass keinerlei Hinweis darauf gegeben wird, wie dieses Paradies der Freiheit erreicht werden kann, und dass die Art und Weise, wie alltägliche Handlungen, nicht mehr die revolutionäre Perspektive, umgangen wurden, Agitatoren wie Pelloutier und Pouget waren sich der Gefahr methodischer Unbestimmtheit in Bezug auf den täglichen Kampf durchaus bewusst und forderten die Anarchisten auf, den Gewerkschaften/Syndikate beizutreten.

Malatesta wählte einen Mittelweg, der neben dem Streik auch den Aufstand und neben der Gewerkschaft/Syndikat auch andere Faktoren des Kampfes einbeziehen sollte. In der Zeitschrift „La Protesta“ (Buenos Aires) bezeichnete er die Gesellschaft der Zukunft als „eine rational organisierte Gesellschaft, in der niemand die Mittel hat, andere zu unterwerfen und zu unterdrücken“. Und er definierte Anarchismus als „die Methode, Anarchie durch Freiheit zu erreichen, ohne Regierung, ohne dass jemand – selbst jemand mit guten Absichten – seinen Willen anderen aufzwingt“. Er leitete sie von einem einzigen Prinzip ab: der Liebe zur Menschheit. Nach der humanistischen Auffassung von Malatesta war man eher aus Gefühl als aus begründeter Überzeugung Anarchist, weshalb Philosophie und Wissenschaft wenig damit zu tun hatten. Auch die historische Entwicklung oder die ökonomischen Bedingungen spielten keine Rolle. Es war eine Frage des Willens. Jeder konnte Anarchist sein, unabhängig von seinen philosophischen Überzeugungen oder wissenschaftlichen Kenntnissen; es genügte, einer sein zu wollen. Er selbst bezeichnete sich als Anarchokommunist. In der gleichnamigen Broschüre beschrieb er Anarchie als „Zustand eines Volkes, das ohne konstituierte Autorität regiert wird“, als „eine Gesellschaft freier und gleicher Menschen, die auf der Harmonie der Interessen und der freiwilligen Zusammenarbeit aller beruht, um soziale Bedürfnisse zu befriedigen“. Zeit seines Lebens äußerte sich Malatesta zum Ideal der Anarchie, einer „auf freier Übereinkunft beruhenden Gesellschaft, in der jedes Individuum die größtmögliche Entwicklung erreichen kann“, die er nicht vom libertären Kommunismus unterschied: „die Organisation des gesellschaftlichen Lebens durch freie Vereinigungen und Föderationen von Produzenten und Konsumenten“. In seinen letzten Schriften bekräftigte er, was er sein ganzes Leben lang gesagt hatte: „Anarchie ist eine Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens, in der Menschen wie Brüder leben, in der niemand andere unterdrückt oder ausbeutet und in der jeder über die Mittel verfügt, die die Zivilisation der Zeit bietet, um die höchste Stufe der moralischen und materiellen Entwicklung zu erreichen.“ Im Gegensatz zu den meisten Propagandisten des Ideals bestand Malatesta darauf, dass der Weg zur Anarchie über die Organisation von Anarchisten um ein Programm herum führt, wobei das revolutionäre Arsenal zur Abschaffung des Staates und „aller politischen Organisationen, die auf Autorität basieren“, eingesetzt werden sollte. Die Mittel mussten mit den Zielen übereinstimmen. Wenn die Ziele revolutionär waren, mussten auch die Mittel revolutionär sein.

Die anarchistische Militanz in den Gewerkschaften/Syndikate verlagerte die kollektive Aktion in den Bereich der Ökonomie und entfernte sich weiter von der Politik. Die Verbreitung des Ideals unter den Ausgebeuteten hatte ein geistiges Kind: den revolutionären Syndikalismus. Die Charta von Amiens aus dem Jahr 1906, sozusagen ihre Geburtsurkunde, verankerte die Hauptfunktion der Gewerkschaftsbewegung/Syndikalismus nicht nur im Kampf für Verbesserungen der Arbeitsbedingungen, sondern auch in der Vorbereitung „auf die vollständige Emanzipation, die nur durch die Enteignung des Kapitals erreicht werden kann; sie befürwortet den Generalstreik als Aktionsmittel und ist der Ansicht, dass die Gewerkschaft/Syndikat, die heute eine Widerstandsgruppe ist, in Zukunft die Gruppe der Produktion und Verteilung, die Grundlage der gesellschaftlichen Organisation sein wird.“ Um Missverständnisse zu vermeiden, bezeichnete einer der wichtigsten Theoretiker dieser Art von Syndikalismus, der sich dem politischen und reformistischen Syndikalismus widersetzte, Pierre Besnard, die Gewerkschaft/Syndikat als „die organische Form, die die Anarchie annimmt, um gegen den Kapitalismus zu kämpfen“.

In Spanien, einem Land, in dem die Arbeiterbewegung am engsten mit dem Anarchismus verbunden war, bezeichnete Salvador Seguí die Gewerkschaft/Syndikat als „die Waffe, das Instrument des Anarchismus, um seine Doktrin so schnell wie möglich in die Praxis umzusetzen“. Daher sei es konsequenter, vom Anarchosyndikalismus zu sprechen, so Rocker, ein weiterer Theoretiker und Gründer der IAA im Jahr 1923, als „das Ergebnis der Verschmelzung von Anarchismus und der revolutionären syndikalistischen Aktion“. Nachdem sich Kropotkin und fünfzehn weitere im Ersten Weltkrieg den Alliierten angeschlossen hatten, blieb den Anarchisten nichts anderes übrig, als ihren Antimilitarismus zu verschärfen, und der syndikalistische/gewerkschaftliche Bund war die am besten geeignete Massenorganisation, um die anarchistischen Ideologien aus dem metaphysischen und kriegerischen Abgrund zu befreien. Konkrete ökonomische Ziele wie die Abschaffung von Monopolen, die Enteignung von Land und Produktionsmitteln, kollektive Arbeit, sozialistische Verteilung, die Abschaffung von Löhnen und Geld usw. verdrängten nach und nach die liberale Rhetorik und die Plattitüden des Individualismus in der Propaganda der „Idee“. Leider wurden andere Themen wie der magonistische Einfluss auf die mexikanische Bauernschaft, der Arbeiterrat als Klassenorganisation in der deutschen Revolution, die Niederschlagung des Anarchismus in Russland – insbesondere die Niederlage der machnowistischen aufständischen Bewegung – oder die bolschewistischen Spaltungen in der anarchistischen Arbeiterbewegung in Lateinamerika in der libertären und syndikalistischen Presse kaum behandelt. Der Anarchismus konnte als Bewegung dank seiner Verbindung zu den Arbeitern überleben, aber außer in Spanien erreichte er nicht genügend Stärke, um dem Vormarsch des Faschismus zu widerstehen.

In den 1920er Jahren tobte ein verdeckter Krieg zwischen syndikalistischen, kommunistischen und individualistischen Anarchisten, der jeden Versuch einer spezifischen Organisation blockierte. Das von den exilierten Machnowisten vorgeschlagene Heilmittel, die sogenannte „Plattform von Arschinow“, war schlimmer als die Krankheit. Eine Organisation, die einer politischen Partei ähnelte, erweckte bei anarchistischen Gruppen viel Misstrauen. Sébastien Faure schlug eine „Synthese“-Organisation vor, die alles beim Alten beließ. Es handelte sich eher um einen Nichtangriffspakt, eine Aufweichung der dünnen Luft des Anarchismus „ohne Adjektive“. Seine Definition von Anarchismus entsprach seinem Vorschlag: „Es ist der höchste und reinste Ausdruck der Reaktion des Individuums auf die politische, ökonomische und moralische Unterdrückung, die ihm von allen autoritären Institutionen auferlegt wird, und andererseits die festeste und präziseste Bekräftigung des Rechts jedes Individuums auf seine ganzheitliche Entwicklung durch die Befriedigung von Bedürfnissen in allen Bereichen.“ („Die anarchistische Synthese“) Aber mehr oder weniger triviale Argumente verließen nie das libertäre Milieu. Die Kontroversen um Legalität und Pazifismus waren allgegenwärtig. Die byzantinischen Konflikte zwischen den Puristen des Kommunismus und den „entnervten Liberalen“ (Georges Darien dixit) hielten ebenfalls an. Die Ideologie legte ihre Fallen aus. Oft wurden Kapellen gebildet, nebensächliche Details und unbedeutende Aspekte wurden betont, wie eine Apostasie wurde das Ich in langen zu langweilig sich entwickelten Treffen benutzt, Prinzipien wurden mit lähmender Absicht erhoben, die Organisation wurde boykottiert und als unterdrückerisch bezeichnet, jede verbindliche Vereinbarung wurde als autoritär und jede historische Reflexion als nutzlos bezeichnet … Zu viel geistige Verwirrung, zu viel Narzissmus, zu viele Dogmen und leere Formeln, die in den 1930er Jahren zum Scheitern des Anarchismus führten. In Wirklichkeit verabscheute diese Art von Anarchismus die Aktion und begnügte sich mit Simulationen. Erst Camilo Berneri prangerte (in „L’Adunata dei Refratari“) den von ihm so bezeichneten „anarchistischen Kretinismus“ an und widmete sich der kritischen Analyse der sozialen Realität mit dem Ziel, die Epoche – den Anarchismus eingeschlossen – verständlich zu machen, eine Voraussetzung für den Versuch, sie zu verändern. Folgerichtig schenkte er der Nachwelt wenig Beachtung („Anarchie ist Religion“, sagte er sogar) und konzentrierte sich mehr darauf, echte Antworten auf konkrete Probleme zu finden, unabhängig davon, ob sie mit der Orthodoxie in Konflikt standen oder nicht. Er sprach provokativ von einem „libertären Staat“, indem er echte Anarchie als eine völlig dezentralisierte föderale Verwaltungsstruktur darstellte. Seine Werke befassten sich immer mit konkreten Problemen oder dringenden theoretischen Fragen, nie oder fast nie mit Prinzipien oder Zielen. Leider gab es nicht viele wie ihn. Mit Berneris Ermordung im Mai 1937 verlor der Anarchismus seinen scharfsinnigsten Kopf.

Der Spanische Bürgerkrieg war sowohl der Höhepunkt des Anarchismus (die Milizen, die antifaschistischen Komitees, die Vergesellschaftung) als auch der Abgrund, in den er stürzte (die Idee, dass revolutionäre Errungenschaften am besten verteidigt werden, indem man den Rückwärtsgang einlegt). Viele heilige Kühe wurden geschlachtet, und einige zeigten sogar Verständnis für den „Umständlichkeitskult“ der herrschenden Bürokratie der CNT-FAI. Die eigentliche Spaltung im Anarchismus erfolgte zwischen den bedingungslosen Befürwortern der Kollaborationspolitik der Komiteeführung und denjenigen, die sich mit den spanischen Libertären solidarisierten. Nach Francos Sieg konnte die Ideologie nicht so auf die iberische Bühne zurückkehren, als wäre nichts geschehen, wenn ihre Anhänger nicht zuerst eine Bilanz der gescheiterten Revolution und des monströsen Staatsanarchismus ziehen würden, der die Kapitulationen von 1936-37 hervorbrachte. Sie taten dies nicht, und die Folgen sind bis heute spürbar. Trotz allem bedeutete die historische Erschöpfung des Anarchismus, wie er in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg verstanden werden konnte, nicht den Tod des Ideals, sondern die Unmöglichkeit seiner vergangenheitsorientierten Neuformulierung. Zum Beispiel sind Kropotkins Vertrauen in die Wissenschaft und sein Glaube an den moralischen Fortschritt inakzeptabel. Der altmodische Gewerkschaftswesen/Syndikalismus wurde an den Rand gedrängt. Die futuristischen Visionen des Anarchismus aus anderen Epochen wirken heute ungeheuer kindisch. Mit der Auflösung der traditionellen Arbeiterbewegung und dem Vordringen des Kapitals in alle Lebensbereiche taucht der Anarchismus wieder auf, weniger als postmoderne Ideologie denn als diffuser Geisteszustand, der sich auf Feminismus, den Arbeitsplatz, das Landleben, Antientwicklung, Populärkultur und alternative Bildung konzentriert. In diesen Bereichen muss sie sich koordinieren, neue praktische Methoden des antikapitalistischen Kampfes finden und die theoretischen Waffen entwickeln, um identitätsbasierten Reaktionen mit ihren katastrophalen Vorstellungen von Macht und Wahrheit, Geschlecht/Gender und Sex, Religion und Rasse, Sprache und Essen, mit ihrer Essentialisierung von Unterschieden, ihrem Anti-Universalismus, ihrem Relativismus, ihren fiktiven Feinden, ihrer Technophilie entgegenzutreten. Es sei denn, man es vorzieht, sich in dem Müll zu suhlen, den irrationale und sektiererische Glaubensbekenntnisse bieten, die sich, um die Verwirrung noch zu vergrößern, auch Anarchisten nennen, obwohl sie es nicht sind.

Miquel Amorós.

1. August 2024.

]]> Anarchie vs. Nationalismus (Textsammlung aus Katalonien) https://panopticon.blackblogs.org/2023/04/04/anarchie-vs-nationalismus-textsammlung-aus-katalonien/ Tue, 04 Apr 2023 10:28:59 +0000 http://panopticon.blackblogs.org/?p=4874 Continue reading ]]> Die Irrwege der anarchistischen Bewegung sind vielseitig. Die Annahme dass viele Fragen und Positionen über die Jahrzehnte klar wären ist eine falsche, wie es viele Ereignisse immer wieder zeigen. Der Anarchismus der sich als Ziel gesetzt hat die Herrschaft des Kapitals und aller Staaten ein Ende zu setzen, scheint immer wieder von der Bahn zu kommen.

Wir nehmen die Beispiele von diversen nationalen Befreiungsbewegungen, wie die katalanische, die baskische, die kurdische, oder jetzt auf einer komplett neuen und deformierten Art, die des ukrainischen Staates, der sich, obwohl eigener souveräner Staat, nicht nur aufgrund des Krieges, sich von der Schirmherrschaft der Russischen Föderation befreien will.

Was all diese Bewegungen, viele andere Beispiele die aufgelistet werden könnten fehlen, die sich als fortschrittlich und emanzipatorisch darstellen, gemein haben, ist dass sie sich als Staat-Nation konsolidieren wollen, sei es in Form der Bildung eines Staates-Nation und/oder sich von der Herrschaft dritter zu befreien.

All dies enthält in sich axiomatische Argumentationen, moralischer Natur, denn es geht letztendlich um das Böse und das Gute, um das Böse gegen das Gute, und die Intentionen letzteren muss man schon gar nicht mehr erklären, weil eben gut. Keine Kategorien die wir verwenden, denn wir sind weder gut noch böse, genauso wie unsere Ziele, es sind historische Bedürfnisse die wir als ausgebeutete haben die uns vorantreiben, um die kapitalistische Realität ein Ende zu setzen.

Wir sehen also einen eklatanten Widerspruch und sagen ganz klar dass wer heutzutage darüber diskutieren will ob man einen Krieg gegen den Staat führen muss oder nicht, ob das Privateigentum zerstört werden muss oder nicht, ob man wählen soll oder nicht, ob man die Lohnarbeit abschaffen muss oder nicht, wird alles mögliche sein, außer ein Anarchist, eine Anarchistin oder Revolutionär. Dies gilt vielen Dingen mehr, aber was die Unterstützung, was die Teilnahme an einer solchen Bewegung, die nichts anderes sucht als die Herrschaft einer heimischen Bourgeoisie gegen eine fremde Bourgeoisie zu unterstützen, sich damit zu solidarisieren, nun wer so einen Weg geht, hat nichts mit Anarchismus zu tun. Sogar die Begriffe fremd und heimisch können willkürlich geändert werden, aber am Ende handelt es sich immer nur um Interessen, seien diese ökonomische oder politische. Mit emanzipatorisch, ja sogar befreiend hat all dies nichts zu tun.

Über all dies könnten wir, was andere schon getan haben, tausende von Seiten schreiben. Auch dies wird noch eine Aufgabe sein an der wir uns widmen werden müssen.

Wir haben daher eine Broschüre aus Katalonien mit einer Textsammlung übersetzt die dieses Phänomen dort, man erinnere sich an die bewegten Jahre und den Höhepunkt des katalanischen Separatismus zwischen 2012 und 2021, also den sogenannten ‚Proces‘, angreift, genauso wie die Teilnahme daran vermeintlicher anarchistischer Gruppen.

Wie immer, wir haben den Text ganz treu nach dem Original übersetzt, dass heißt wir haben den Begriff „Volk“ auch verwendet, genau da wo die Rede von „pueblo“ ist. Wir selbst lehnen diesen Begriff ab und verwenden den selbst nicht.

Soligruppe für Gefangene, 04.04.2023


Anarchie vs. Nationalismus


Unangebrachte Verwirrungen von Tomás Ibáñez

Wenn es in Katalonien zu so drastischen Veränderungen kommt, wie sie seit den Massendemonstrationen vom 15. Mai 2011 stattgefunden haben, ist es schwierig, nicht eine gewisse Verwirrung zu spüren.

Wie konnte es dazu kommen, dass einige der kämpferischsten Gruppierungen der katalanischen Gesellschaft von der „Umzingelung des Parlaments“ im Sommer 2011 dazu übergingen, die Institutionen Kataloniens im September 2017 zu verteidigen?

Wie konnte es dazu kommen, dass diese Gruppierungen/Bereiche der Gesellschaft nicht mehr den Mossos d’escuadra auf der Plaça Catalunya die Stirn bieten und ihnen Grausamkeiten wie die von Esther Quintana oder Andrés Benítez vorwerfen, sondern ihre Präsenz auf den Straßen begrüßen und befürchten, dass sie keine volle Polizeiautonomie haben?

Wie konnte es dazu kommen, dass einige dieser Gruppierungen die Regierung nicht mehr für ihre unsoziale Politik anprangern, sondern kürzlich für ihren Haushalt stimmten, und wie konnte es dazu kommen, dass bestimmte Gruppierungen des Anarcho-Syndikalismus nicht mehr behaupten, dass Freiheiten niemals durch Wahlen erreicht werden konnten, sondern nun die Möglichkeit verteidigen, dass sie den Staatsbürgern gegeben werden?

Die Liste der Fragen ließe sich noch lange fortsetzen und auf die wenigen, die hier formuliert wurden, könnten viele Antworten gegeben werden. In der Tat können Faktoren wie die Erschöpfung des ’78er Zyklus, die ökonomische Krise mit ihren entsprechenden Kürzungen und Unsicherheiten, die Etablierung des rechten Flügels in der spanischen Regierung mit ihrer autoritären Politik und der Beschneidung von Freiheiten, die skandalöse Korruption der Mehrheitspartei usw., usw. angeführt werden.

Es wäre jedoch naiv, von diesen Antworten diejenige auszuschließen, die auch den außergewöhnlichen Anstieg der nationalistischen Stimmung berücksichtigt. Ein Aufschwung, der zweifelsohne durch die von mir genannten Faktoren begünstigt wurde, der aber auch durch die Strukturen der katalanischen Regierung selbst und ihre Kontrolle über das öffentliche katalanische Fernsehen eine große Portion Treibstoff erhalten hat. Mehrere Jahre anhaltender nationalistischer Eifer konnten nicht ohne wichtige Auswirkungen auf die Subjektivitäten bleiben, zumal die Strategien zur Verbreiterung der Basis des katalanischen Nationalismus außerordentlich intelligent waren und sind. Die Macht eines Narrativs, das auf dem Recht zu entscheiden aufbaut und auf dem Bild der Wahlurne und der Forderung nach Wahlfreiheit basiert, war außergewöhnlich und konnte perfekt die Tatsache verschleiern, dass ein ganzer Regierungsapparat an der Förderung dieses Narrativs beteiligt war.

Heute ist die Estelada (rot oder blau) (A.d.Ü., es geht um die Fahne die den katalanischen Separatismus symbolisiert) ohne den geringsten Zweifel das emotional aufgeladene Symbol, unter dem sich die Massen mobilisieren, und genau dieser Aspekt sollte von denjenigen nicht unterschätzt werden, die, ohne ohne Nationalisten zu sein, in den Mobilisierungen für das Referendum eine Chance sehen, die Libertäre nicht verpassen sollten, um zu versuchen, Räume mit wenn nicht revolutionärem, so doch zumindest mit starkem sozialem Agitationspotenzial zu erschließen und sich so in den Kampf gegen die Regierungen Spaniens und Kataloniens zu stürzen.

Sie sollten es nicht unterschätzen, denn wenn eine Kampfbewegung eine wichtige nationalistische Komponente enthält, und das ist im aktuellen Konflikt zweifellos der Fall, sind die Chancen auf eine Veränderung mit emanzipatorischem Charakter gleich null.

Ich würde gerne den Optimismus der Gefährten teilen, die versuchen wollen, Risse in der gegenwärtigen Situation zu öffnen, um emanzipatorische Auswege zu ermöglichen, aber ich kann meine Augen nicht vor der Tatsache verschließen, dass populäre Aufstände und Bewegungen für soziale Rechte nie transversal sind, sondern dass sich die herrschenden Klassen immer auf einer Seite der Barrikaden zusammenrotten. Bei Selbstbestimmungsprozessen hingegen, und die aktuelle Bewegung ist eindeutig von dieser Art, gibt es immer eine starke klassenübergreifende Komponente.

Solche Prozesse bringen immer die Ausgebeuteten und die Ausbeuter zusammen, um ein Ziel zu verfolgen, das niemals die Überwindung sozialer Ungleichheiten ist. Die Geschichte hat gezeigt, dass die Selbstbestimmungsprozesse der Nationen am Ende immer die Klassengesellschaft reproduzieren und die populären Klassen wieder unterjochen, nachdem sie das Hauptkanonenfutter in diesen Kämpfen waren.

Das heißt nicht, dass wir nicht gegen die herrschenden Nationalismen kämpfen und versuchen sollten, sie zu zerstören, aber wir müssen dies tun, indem wir die aufstrebenden Nationalismen ständig anprangern, anstatt uns mit ihnen unter dem Vorwand zu verbünden, dass dieser gemeinsame Kampf uns Möglichkeiten bietet, ihre Ansätze zu überwinden und diejenigen in die Enge zu treiben, die nur die Schaffung eines neuen Nationalstaates anstreben, den sie kontrollieren können. Keine Frage, diese Weggefährten werden die ersten sein, die uns unterdrücken, sobald sie uns nicht mehr brauchen und wir genug davon haben, die Kastanien aus dem Feuer zu holen.

Tomás Ibañez

Barcelona, 26. September 2017


Brief an Tomás Ibañez von Miquel Amorós

Gefährte Tomás

Deine „unangebrachte Verwirrungen“ sind der beste Vertreter des gesunden Menschenverstandes und der revolutionären Vernunft, die nicht nur unter Libertären herrschen sollten, sondern unter all jenen, die diese Gesellschaft abschaffen wollen, anstatt sie zu verwalten, die ich je gelesen habe. Trotzdem wundert es mich nicht, dass viele Menschen, die behaupten, Anarchistinnen und Anarchisten zu sein, sich der nationalistischen Bewegung angeschlossen haben und mit Nachdruck das Recht verkünden, das Material zu bestimmen, aus dem ihre Ketten bestehen werden: Da ist Ricardo Mella und „das Gesetz der Zahl“! Es mangelt auch nicht an denen, die einst auf den Podemos- oder den Platformismus-Zug aufgesprungen sind und die Lumpen des Klassenkampfes gegen die neuen Kleider der Staatsbürgerschaft eingetauscht haben. Es ist typisch für den Anarchismus, dass er bei der kleinsten historischen Wegkreuzung damit kokettiert, den etablierten Mächten in die Hände zu spielen. Der spanische Bürgerkrieg ist das krasseste Beispiel dafür. Verwirrung, unwiderstehliche Anziehungskraft des Radau, Deklassierung, die Taktik des kleineren Übels, der Feind meines Feindes, was auch immer. Das Endergebnis ist folgendes: eine Masse von Hinterwäldlern, die jeder anderen Sache verfallen sind, und ein Haufen kranker Egos à la Colau oder Iglesias, die dafür bezahlen würden, sich zu verkaufen. Kurz gesagt: Schwarze Stürme wühlen die Luft auf und dunkle Wolken verhindern, dass wir sehen können (A.d.Ü., ist die erste Strofe vom anarchistischen Lied A las barricadas). Lasst uns versuchen, sie zu vertreiben.

Die Frage, die man sich stellen sollte, ist nicht, warum ein lokaler Teil der herrschenden Klasse beschließt, seine Differenzen mit dem Staat durch eine Mobilisierung auf der Straße auszutragen, sondern warum ein beträchtlicher Teil der Menschen mit gegensätzlichen Interessen, vor allem junge Menschen, als Bühnenbild und Stoßtrupp für die Kaste fungieren, die Katalonien patrimonialisiert hat, klassistisch, katholisch, korrupt und autoritär wie es nur geht. Das Spiel des katalanischen Patriotismus ist nicht schwer zu enträtseln und diejenigen, die es fördern und ausnutzen, haben nie versucht, es zu verbergen. Der „Procès“ war eine riskante Klassenoperation. Die Konsolidierung einer lokalen Kaste, die mit der ökonomischen Entwicklung verbunden ist, erforderte einen qualitativen Sprung in der Autonomie, den die Strategie des „peix al cove“ („Vogel, der fliegt“) nicht erreichen konnte. Die Weigerung der zentralen Plutokratie zum „Dialog“, d. h. zur Übertragung von Kompetenzen, vor allem finanzieller Art, blockierte den Aufstieg dieser Kaste und schränkte ihren Einfluss und ihre politische Handlungsfähigkeit gegenüber Geschäftsleuten, Industriellen und Bankern gefährlich ein, die bereit waren, sich von Souveränisten führen zu lassen, um ihre Gewinne zu verdreifachen. Die Entscheidung an der Spitze, sich für das „Zusammenprallen der Züge“ zu entscheiden, bedeutete einen radikalen Bruch mit der paktierenden Politik des politischen Katalanismus. Sie war nicht ernst gemeint, d.h. sie zielte nie auf eine einseitige Unabhängigkeitserklärung ab, sondern sollte nur dazu dienen, eine Verhandlung aus einer vorteilhafteren Position heraus zu erzwingen. Da es aber so aussehen musste, brauchte es einen gut geölten Agitationsapparat, um eine patriotische Mystik zu impfen, die die Identitätsbrühe kontrolliert zum Kochen bringen würde. Und die Mobilisierung wurde Wirklichkeit. Es war ein ziemliches Spektakel. Die Demagogie der Unabhängigkeitsbefürworter, bewaffnet mit dem Marketing der Identität, konnte sich in einer demokratischen Staatsbürgerschaft ausbreiten, mit der sie in der Lage war, Massen auf die Straße zu bringen, die zu domestiziert waren, um dies aus freien Stücken zu tun. Mit großem Geschick berührte sie den dunklen Strudel unterdrückter Emotionen und geselliger Gefühle, die sich in den Dienern des Konsums einnisten, das heißt, sie wusste, wie sie den Bodensatz der Entfremdung zu ihren eigenen Vorteil aufrühren konnte. Meiner Meinung nach wurde das Ziel erreicht, und die herrschende Staatskaste ist viel eher bereit, die postfranquistische Verfassung zu ändern, um sie besser an die katalanische Kaste anzupassen, auch wenn sie dafür einige Figuren opfern muss, vielleicht sogar Puigdemont selbst. Mächtige Vertreter des Großkapitals (z. B. Felipe González) scheinen darauf hinzudeuten.

Der Nationalismus wird von Betrügern betrieben, aber er ist kein Betrug an sich. Er ist die sentimentale Widerspiegelung einer frustrierenden Situation für eine Mehrheit von pulverisierten Subjektivitäten. Er handelt nicht rational, da er nicht die Frucht der Vernunft ist; er ist eher eine Psychose als ein Befreiungsschlag. Die Erklärung für den patriotischen Gefühlsausbruch in der katalanischen Gesellschaft wird man in der Massenpsychologie suchen müssen, und dafür werden wir Reich, Canetti oder sogar Nietzsche nützlicher finden als Theoretiker wie Marx, Reclus oder Pannekoek. Die Überzeugung und der Enthusiasmus der Menge kommen nicht von kalter logischer Argumentation oder strenger sozio-historischer Analyse; vielmehr hat es mit emotionalen Entladungen ohne Risiko zu tun, mit dem Machtgefühl, das von Menschenmassen erzeugt wird, mit dem Fetischismus der Flagge oder anderer Symbole, mit dem virtuellen Katalinismus der sozialen Netzwerke usw.., Merkmale einer entwurzelten, atomisierten und deklassierten Masse, die ohne eigene Werte, Ziele und Ideale dazu neigt, sich den Mühlsteinen zu fügen, die ihr gereicht werden. Der von der Macht der Ware und des Staates kolonialisierte Alltag ist ein Leben voller latenter und verinnerlichter Konflikte, die mit einem Energieüberschuss ausgestattet sind, der sie in Form von individuellen oder kollektiven Neurosen hervortreten lässt. Der Nationalismus, egal welcher Couleur, bietet einen hervorragenden Mechanismus, um diese Impulse zu kanalisieren, die, wenn sie bewusst werden, einen furchterregenden Faktor der Revolte darstellen würden.

Der Nationalismus spaltet die Gesellschaft in zwei paranoide Lager, die durch ihre Besessenheit künstlich gegeneinander ausgespielt werden. Materielle, moralische, kulturelle usw. Interessen spielen keine Rolle. Sie haben nichts mit universeller Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit und Emanzipation zu tun. Das katalanische Volk ist etwas so Abstraktes wie das spanische Volk, ein Gebilde, das als Alibi für eine Kastensouveränität mit ihrer bemerkenswert repressiven Polizei dient. Ein Volk kann sich nur gegen eine Macht definieren, die nicht von ihm ausgeht oder die sich von ihm abgrenzt. Deshalb ist ein Volk mit einem Staat kein Volk. Du wirst mir zustimmen, dass die Geschichte von den einfachen Menschen durch Vollversammlungen und Organe, die aus ihnen hervorgehen, gemacht wird, aber so wie die Dinge liegen, gehört die Geschichte denen, die sie am besten manipulieren. Was diese Leute tun, ist, den populären Rahmen für eine schlechte Theateraufführung zu liefern, in der eine prosaische Machtverteilung gezeigt wird. Jeder kann seine Berechnungen anstellen und in den nationalistischen Gewässern der eher ruhigen Turbulenzen navigieren oder nicht, aber er sollte nie den Kern der Sache aus den Augen verlieren.

Mit brüderlichen Grüßen,

Miquel Amorós, Alacant 27.09.2017.


Von Kapitänen und toten Fischen, nationalistische Gezeiten in Katalonien

Vielleicht haben viele von uns diesen Prozess als großen Zirkus gesehen, der gleich um die Ecke scheitern würde, vielleicht haben wir die Wirkung unterschätzt, die er in der Gesellschaft entfalten würde, und ihm keine Bedeutung beigemessen, denn vor ein paar Monaten war für viele Anarchist*innen klar, dass die Demokratie, welche Fahne sie auch immer haben mag, nur eine weitere Mauer ist, die es auf dem Weg zur Selbstverwaltung unseres Lebens einzureißen gilt, auf dem schmutzigen und widersprüchlichen Weg, der uns in die Freiheit und damit zur Konfrontation mit den falschen Kritiker*innen und den Kräften, die die Ordnung verteidigen, führen würde.

Es ist offensichtlich, dass auf den Straßen wenig Tinte in der Propaganda geblieben ist, die diesen Prozess in Frage stellt oder unsere Perspektive aufzeigt, deren Gründe jedes Individuum und jedes Kollektiv kennen wird. Es bringt also nichts, die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen oder mit dem Finger auf die „anarchistische Bewegung“ in Katalonien zu zeigen (sofern sie organisch und in ihrer Gesamtheit existiert) und ihr vorzuwerfen, sie sei angesichts dieser Realität unverantwortlich. Ich wiederhole: Jedes Individuum und jedes Kollektiv ist für seine Handlungen verantwortlich, wenn es sie jetzt als strategisches Versagen ansieht.

Anarchist*innen geht wählen!

Es scheint, dass viele „ Gefährt*innen“ in der Lethargie der Dynamik, in der wir leben, die Grundlagen des Anarchismus vergessen haben.

Ich weise darauf hin, weil einige der theoretischen/praktischen Grundlagen der Internationalismus als Antagonismus zu Grenzen und Nationalismen, die Infragestellung der Autorität von Staaten und Politikern als Verwalter des Kapitals. Der globale Markt als der eigentliche Wille, mit dem die heutigen Gesellschaften dem Puls der kapitalistischen Logik mit militärischem Rhythmus folgen, sei es durch demokratische Wahlen oder Staatsstreiche.

Ich würde nichts beitragen, wenn ich die Funktionsweise des demokratischen Systems beschreiben würde, aber mich interessiert die Tatsache, dass es das Regierungssystem ist, das dem Kapitalismus am nützlichsten ist; ein System, in dem seine Untertanen (seine Beherrschten) das Gewicht ihrer Versklavung nicht spüren und daher der Kampf um ihre Freiheit nicht sehr offensichtlich ist, da sie sich bereits frei fühlen. Der herrschende Diskurs in der demokratisch-kapitalistischen Gesellschaft lautet: „Sei frei! Fühle! Experimentire!“ und natürlich „konsumiere und wähle“. Die Demokratie und der Wahlzirkus decken sich perfekt mit dieser Philosophie des heutigen Kapitalismus.

Die Perversion schließt mit einer Wahlfreiheit, die durch einen Dschungel der Legalität begrenzt ist, der von Polizeikordons umgeben ist, die die Grenze des Überlebens und des Lebens markieren. Die Berge von Stimmzetteln und die Logik der Legalität sind eine der Grundlagen für die Aufrechterhaltung dieser elitären Gesellschaft oder sozialen Klassen, die die Beherrschten ökonomisch, philosophisch und politisch kontrollieren. Der Akt des allgemeinen Wahlrechts hat einerseits eine politische Lesart in Bezug auf die Anzahl der Beherrschten, die dieses System akzeptieren.

Die Statistik der Wählerzahlen ist nicht nur eine Zahl, die eine bestimmte Partei oder einen Vorschlag anschwellen lässt, sondern sie ist eine Lesart der Konformität, mit der die Demokratie gestärkt wird. Es gibt die „bewusste“ Wahlstimme (das Subjekt, das dies versteht) und die des demokratischen Staatsbürgers, der glaubt, dass diese falsche Wahl ihn oder sie frei macht.

Aber diese beiden Arten der Interpretation dieser Tatsache verstärken nur die endgültigen Prozentsätze der Anzahl der Wähler, verstärken die Heuchelei des Systems, verstärken die Perversion der Illusion, durch die der Wähler glaubt, dass er etwas verändert, in dem Prozess, durch den er glaubt, dass er in der Wahlurne ein Kontingent an verändernder Macht hinterlegt.

Die institutionelle Kontrolle, die polizeiliche Repression und die Knäste sind ein grundlegender Bestandteil sowohl linker als auch rechter Demokratien, denn das Privateigentum wird nicht in Frage gestellt, egal woher es kommt.

Die Kordons von Tausenden von Menschen, die Städte in völliger materieller und kultureller Marginalität einkreisen, und die Millionen von ausgegrenzten Menschen, die sich um die großen ökonomischen Mächte scharen, sind ebenfalls notwendig für die Stabilität von Kapitalismus und Demokratie. Das angebotene Paradies hat seinen Preis: die Kosten für die Verdrängung und Verschmutzung des Landes außerhalb der Ordnung der Staaten und die Kosten dafür, dass diese Menschen unter anderem gebraucht werden, um das Gesetz von Angebot und Nachfrage stabil zu halten.

Wenn das scheinbare Fenster der Freiheit geöffnet wird und wir es mit einer Stimme für diese oder jene Partei, ja oder nein, abdecken, anstatt außerhalb ihrer politischen Zeiten Taten der Würde anzubieten, verstärken wir auch das Netz der Kontrolle und der Ermordung derjenigen von uns, die kein Eigentum besitzen, derjenigen, die beschlossen haben, das Rad der demokratischen Freiheit zu durchbrechen.

Wie kann ein Individuum, das sich all dessen bewusst ist, entscheiden, dass die heutige Stimmabgabe ein Akt des Ungehorsams oder Teil eines vermeintlich radikalen Wandels ist, ohne weiter darüber nachzudenken?

Es geht hier nicht darum, von anarchistischem Purismus (A.d.Ü., Reinheit) zu sprechen, denn den gibt es in keinem Ideenkomplex oder „Ismus“, niemand ist außerhalb der Inkohärenz, denn wir leben in der Inkohärenz: Die meisten politischen Inkohärenzen werden fallen, wenn das Kapital und seine Formen der Verwaltung, die der Staat hat (Demokratie, Diktatur usw.), fallen, wenn das verweigerte Eigentum, das Privateigentum, zurückgewonnen wird, wenn es keine Elite mehr gibt, die andere kontrolliert.

Aber das rechtfertigt nicht alles, denn wenn wir in Inkohärenz leben, müssen wir uns entscheiden, welche Inkohärenz wir unterstützen wollen und welche nicht. Von hier aus kann man von einer Ethik und einer Strategie sprechen, d.h. von einem untrennbaren Denken und einer Praxis, dem Norden im Sturm der Ereignisse, durch den wir ständig hindurchgezogen werden.

Für einen Anarchist*innen wählen zu gehen ist kein Vergehen an der heiligen Kirche der Anarchie, sondern offenbart nur einen Mangel an Analyse der Realität einerseits und andererseits einen Mangel an Tiefe der kollektiven und individuellen Analyse der Grundlagen anarchistischer Ideen und der Lesarten, die die Geschichte in Bezug auf Kämpfe mit nationalem Charakter hinterlassen hat.

Wählen ist keine Inkohärenz, sondern eine politische Entscheidung, die mehr Gewicht hat, wenn sie von Menschen getroffen wird, die verstehen, was sie bedeutet.

Unser Ego akzeptiert keine Widersprüche, also sucht es nach Rechtfertigungen für unsere Handlungen jeglicher Art. In diesen Tagen hören wir die unterschiedlichsten und „amüsantesten“ Rechtfertigungen von Subjekten, die sich Anarchist’innen nennen, aber keine von ihnen unterstützt die Kritik an der Demokratie als System zur Aufrechterhaltung der Logik des aktuellen Regimes.

Das Erdbeben des Nationalismus hat die Infragestellung anarchistischer Ideen mobilisiert, vor allem unter den in Katalonien geborenen Anarchist*innen. Viele von ihnen sind enttäuscht von dem, was sie noch vor Monaten für einen weiteren Pfeiler ihrer Ethik hielten. Andere stellen sich einfach taub für ihre Kritik und lassen sich von der Flut der Gefühle mitreißen, die in der Kultur, in der sie aufgewachsen sind, seit ihrer Kindheit schlummern und eingeimpft wurden. Nationalismus ist im Grunde eine Leidenschaft, und angesichts dieser Leidenschaft ist keine rationale Kritik oder historische Betrachtung möglich.

Nationalistische Konflikte als Ausweg aus sozialen Konflikten

Das exponentielle Wachstum des katalanischen Nationalismus hat eine sehr naheliegende Wurzel, obwohl der Konflikt um die katalanische Unabhängigkeit schon einige Jahre alt ist. Die katalanische Rechte hat es geschickt verstanden, die Proteste und die allgemeine Unzufriedenheit, die durch die so genannte „Krise“ ausgelöst wurden, zu befrieden und in einen Konflikt zu verwandeln, der nicht mehr auf der Straße ausgetragen wird, sondern von den politischen Kräften und Institutionen, die noch vor ein paar Jahren in Frage gestellt wurden. Diese politischen Kräfte schlagen jetzt etwas Reales, Konkretes, nicht sehr „ideologisiertes“ und positives vor: Wählen als eine Form des Kampfes.

Die großen Protestmobilisierungen in Katalonien konzentrierten sich darauf, die Banken, den Kapitalismus, die Politiker und Geschäftsleute in Frage zu stellen, die bei der Entleerung der „öffentlichen“ Kassen begünstigt wurden. Mit schmerzhaften Folgen für die Bevölkerung: Unmöglichkeit, Hypotheken zu bezahlen, Zwangsräumungen, Entlassungen, mehr Arbeitsplatzunsicherheit, Selbstmorde von Menschen, die von dieser Situation überfordert waren, usw.

Die Mobilisierungen gingen von einer Komponente des symbolischen Angriffs auf die Entitäten, die das soziale Elend verwalten, dazu über, Figuren in den Straßen Barcelonas zu bilden (z. B. das große „V“ oder das große „X“), die dazu bestimmt sind, aus der Luft fotografiert zu werden, und das alles in einer spielerischen, festlichen und nationalistischen Atmosphäre, d. h.: null Demonstration des sozialen Konflikts, in dem wir leben.

Die Massendemonstrationen sind jetzt von einem Geist der „Rebellion“ durchdrungen. Der Diskurs (um es vereinfacht auszudrücken) der „Klasse“ verschwindet und derjenige, der für alles verantwortlich ist, rückt in weite Ferne: Das heißt, der Diskurs des spanischen Imperialismus setzt sich durch. Das ist eine Meisterleistung: Einerseits wird die Idee des äußeren Feindes gestärkt (was die Bilder von 1936 in den Vordergrund rückt), wobei die Idee des heldenhaften Opfers verstärkt wird: „Spanien unterdrückt uns“; andererseits wird der katalanische Nationalismus gestärkt und die katalanische Bourgeoisie bleibt intakt. Alles in einem Zug.

Die Rechten hatten kein Problem damit, diesen Schlag von Ertrunkenen durchzuziehen, nicht weil der Kapitalismus in Katalonien zusammenbrechen würde, sondern weil sie sahen, dass andere neue Parteien bereits von all dieser sozialen Unzufriedenheit profitierten. Die Rechte brauchte einen Ausweg und fand ihn, indem sie sich diskursiv ihrem Antagonisten an der Macht annäherte: der ungleichen katalanischen Linken, dem Ideal der Einheit und der entstehenden Nation-Staat.

So wurde in der Vergangenheit die Befürwortung der Unabhängigkeit fast schon mit linkem Radikalismus assoziiert, und heute behauptet sie, ein populärer Aufschrei zu sein, sowohl auf der nationalistischen Rechten als auch auf der „radikalen“ Linken, die uns bereits gezeigt haben, was ihre Prioritäten sind, was Mittel und Ziele anbelangt.

Die CUP ist die Partei, die sich damit rühmt, direkte Demokratie auf interner Ebene zu praktizieren: Man muss nur in eines dieser großen Theaterstücke gehen, die sie Vollversammlungen nennen, um zu sehen, wie sich das Spektakel der Demokratie selbst belügt, als ob sich zwei Spiegel gegenüberstehen (das Parkett und der Tisch auf der Bühne) und so eine Wahrheit schaffen, die sich in sich selbst wiederholt: „Wir sind für Versammlungen, wir sind die wahren Basisdemokraten“ von den Türen dieser großen Theater aus riecht man den fauligen Geruch von abgestandenem Essen und wenn man sich hinsetzt, um einen Vorschlag auszuarbeiten, ist der Tisch bereits gedeckt und die Vorschläge werden noch viel mehr abgestimmt, alles ist bereits auf politisch korrekte Art und Weise gekocht, es lebe die direkte Demokratie und der Mythos der großen partizipativen Vollversammlungen.

Der Diskurs des Ungehorsams war genau die rebellische Komponente, die sie brauchten, um die Unzufriedenheit der Bevölkerung zu kanalisieren und sie mit anderen Situationen der Rebellion auf historischer Ebene in Verbindung zu bringen. Auf diese Weise gewannen sie Sympathien auf lokaler und internationaler Ebene und ließen die Tatsache beiseite, dass der vermeintliche Ungehorsam nichts anderes als eine Strategie ist, die niemals die Hände der Herren in Frage stellen will, die die Ketten halten.

Der heute vorgeschlagene Ungehorsam ist nichts weiter als eine große Show, die nach den Regeln einer anderen, größeren und brutaleren Show abläuft: der Show der Demokratie. Alle Aktionen auf der Straße beruhen heute auf einem Gefühl der juristischen Unschuld und der verweigerten Legalität.

Der Schild der Demokratie

Wer auch immer wählt, wer auch immer gewinnt, der wahre Gewinner in diesem Konflikt sind die Institutionen und die Demokratie im Allgemeinen.

Nicht nur, weil sie nicht in Frage gestellt oder angegriffen wird, sondern auch, weil sie das Leitmotiv der Unabhängigkeitsbefürworter und der PP als Wortführerin der spanischen Einheit ist.

Beide Kräfte nutzen die Demokratie als Schild, und lächerlicherweise haben beide Kräfte in den letzten Tagen die Logik dieses Systems ausgequetscht, um ihre Strategien zu verwirklichen (die Strategie, die Volksabstimmung im Parlament zuzulassen und die verdeckte Anwendung von 155 durch die PP). Aber diese „Fummelei“ der Demokratie ist nichts anderes als die reinste Logik dieses Systems, weshalb es das profitabelste System für die Eliten Spaniens, Kataloniens und der Welt ist, denn alles geschieht innerhalb einer scheinbar neutralen Logik, während die reinste Realität ist, dass alles für die spezifischen politisch-ökonomischen Interessen jeder Partei getan wird; und die Gesetze, wenn sie nicht übergangen werden können, werden „interpretiert“. Die Ärzte der Gesetzesauslegung sind die Juristen, und dank ihnen und denen, die diese krankhaften Bedenken teilen, lässt sich in der Demokratie alles rechtfertigen: von der Registrierung konkurrierender politischer Parteien bis zur Militarisierung der Straßen.

Diese Militarisierung ist ein Markenzeichen der katalanischen Generalitat, die intelligente Kontrolle in Barcelona ist fast unvergleichlich in jeder anderen Stadt in Spanien und Europa. Die Straßen gehören uns, physisch und politisch, wenn wir diese Kontrolle in Frage stellen. Die Normalität in Barcelona ist eine extreme tägliche Militarisierung, nicht nur durch alle bestehenden Polizeikräfte – die örtliche Polizei, die Guardia Urbana, die Mossos d’Esquadra und heutzutage auch die Guardia Civil und die Policía Nacional – sondern auch durch den ehrbaren Staatsbürger, der den Diskurs des Staatsbürgersinns verinnerlicht hat.

Die Straßen Barcelonas und Kataloniens wurden nicht erst am 20. September militarisiert, der Polizeistaat ist schon lange da. Die Mannschaftswagen der Polizei stehen heute nicht nur am Hafen, sondern auch auf den großen Festivals, an den Ecken deines Viertels und vor den Werkstoren, wenn gestreikt wird.

Wir leben schon seit Jahren in einem Polizei- und Militärstaat! Und diejenigen von uns, die gegen sie und die Interessen, die sie vertreten, gekämpft haben, haben nie aufgehört zu sehen, wie sie die Rechte, von denen die Politiker heute reden, mit Füßen treten und verletzen.

Die Einwanderer und die Marginalisierten des beleuchteten und überwachten Barcelona kennen eine viel schlechtere Behandlung durch die örtliche Polizei und die katalanischen und spanischen Institutionen. Die respektvollen Stimmen dieser Tage zu den Politikern, die diese Aktionen im Rechtsstaat rechtfertigten und rechtfertigen, spielen heute die Rolle des Opfers mit einem volkstümlichen Charakter des Pseudokampfes, daher die Aussagen von Mas im Radio: „Wenn sie einige berühren, berühren sie alle“; oder die Aussagen des Vizepräsidenten der Generalitat, Oriol Junqueras: „Nur das Volk kann das Volk retten“. Die Intervention der Polizei in den symbolischen Prozess der Volksabstimmung, den wir gerade durchleben, hat nicht nur katalanische Politiker und Institutionen in die Position derjenigen gebracht die unter der „Repression litten“, sondern auch unentschlossene Wähler und Nichtwähler vereint, als ob die Verletzung katalanischer Institutionen ein Gleichnis für die Verletzung der Freiheit der in Katalonien lebenden Menschen wäre.

Der Prozess für die Unabhängigkeit und die Gründung eines katalanischen Staates musste durch andere Ideen und Konzepte gestärkt werden, die historisch nicht so sehr in Frage gestellt wurden wie die Demokratie. Die sogenannte „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ besiegelt letztendlich die Wahrhaftigkeit des Unabhängigkeitsprozesses. Wer kann gegen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und das Selbstbestimmungsrecht der Völker sein? Das ist eine weitere perverse Frage, die eines Politikers würdig ist.

Die Neutralität

Die Neutralität bedeutet nicht, zu wählen oder nicht zu wählen, mit den Massen auf die Straße zu gehen oder zu Hause auf dem Sofa zu bleiben. Das ist der Diskurs der Demokratie, das ist ihre Logik, die das Leben auf die Regeln reduziert, die sie für ihr Spiel aufstellt.

Die Neutralität in dieser Welt ist ein Konzept, das es nicht gibt. Wenn wir also vor der Frage stehen, auf wessen Seite Anarchist*innen angesichts des Vormarschs der spanischen Faschismus stehen werden, ist die Antwort einfach: die Frage selbst ist entweder schlecht formuliert oder eine Falle.

Wir werden die jagen, die wir schon immer gejagt haben: spanische Faschisten, katalanische Faschisten und Faschisten überall auf der Welt. Der Faschismus befindet sich nicht außerhalb Kataloniens und wartet auf den Befehl, einzutreten. Der Faschismus ist Teil des aktuellen Staates und des Staates, den die Unabhängigkeitsbefürworter gründen wollen, egal ob er die Form einer Republik hat oder nicht. Der Faschismus steckt in den menschlichen Beziehungen und wird von dort aus bekämpft.

Wenn es eine unterdrückte Sprache gibt, müssen wir sie und die anderen Sprachen, die in einem Gebiet koexistieren, verteidigen; wenn es eine unterdrückte Kultur gibt, stehen wir auf ihrer Seite, aber auf kritische und konstruktive Weise, indem wir die Werte der Standardisierung von Sprachen beachten, die Kulturen leben und die autoritären Werte, die sie haben, polieren, ohne den Respekt für eine Kultur in Gehorsam gegenüber ihren Traditionen umzuwandeln, sei es die katalanische Sprache und Kultur oder irgendeine andere, zu der wir uns entscheiden, zu gehören.

Über Allianzen in diesem Konflikt

Ich halte Bündnisse mit politischen Parteien oder Bewegungen, die für die Demokratie kämpfen, für Fehler, die eher historische Schrecken als innere Widersprüche darstellen würden.

Da wir uns nicht in einer Extremsituation wie einem Krieg oder einer Revolution befinden, ist es dumm, darüber nachzudenken. Man muss schon sehr verblendet sein, um diese Situation mit der von 1936 zu vergleichen oder mit einer Situation, in der Gehorsamsverweigerung einen Schuss in den Schädel oder Schlimmeres bedeutet. Und selbst wenn wir uns in einer solchen Situation befänden, ist das Thema so ernst und komplex, dass es nicht auf die leichte Schulter genommen werden kann.

Klar ist, wenn es in diesem ganzen Konflikt Kampfgeist und Würde gibt und wenn man es schafft, die Vision eines Staates und der Demokratie gegen die Vision eines zukünftigen Staates und seiner zukünftigen Demokratie zu überwinden, dann werden wir Seite an Seite stehen, so wie wir es bei den Streiks und auf den Straßen Tag und Nacht getan haben und auf die Ziele zielen, die die Herrschaft reproduzieren.

Wenn das Schema „guter Bulle/böser Bulle“, „ja oder nein“ durchbrochen werden kann, werden wir uns mit jedem Akt der Würde solidarisch zeigen. In der Zwischenzeit werden wir dort zielen, wo wir immer zielen.

Und was nun?

Das Problem, das sich heute stellt, ist die Frage, wie Anarchist*innen nicht zu einem Stoßtrupp des katalanischen Nationalismus werden. Werden wir erleben, wie Anarchist*innen mit der Policiía Nacional kämpfen, wenn sie in Wahllokale eindringen, um Wahlurnen mitzunehmen? Werden wir mit dem Volk auf den Straßen sein und dabei die Policía Nacional oder die Guardia Civil beschimpfen, während man die Mossos d’Esquadra schützt, indem man sie als repressive Kraft unsichtbar macht?

Wenn die Mossos ihre „neutrale“ Haltung ändern die sie gerade haben und zu einer repressiveren Haltung übergehen, die eine Reaktion der Bevölkerung auf die Mossos hervorruft, aber den kapitalistisch-demokratischen nationalistischen Diskurs beibehält?

Ist der nationalistische Kampf zu diesem Zeitpunkt gültig?

Werden wir Anarchist*innen die ersten sein, die sich den Gruppen spanischer Faschisten entgegenstellen, die in Barcelona demonstrieren wollen? Wenn es zu einem Generalstreik kommt, wie wird dann ein nationalistischer Generalstreik sein? Werden die katalanischen Institutionen und lokalen Banken von der Bevölkerung geschützt werden?

Wenn wir nicht offen sind, die Realität zu interpretieren, führt uns das zu Nationalismus oder einem anderen historischen Fehler. Jeder wird beurteilen, ob der Anarchismus in diesem Konflikt das fünfte Bein des Tisches ist oder ob er eine wesentliche Rolle als Diskurs spielt, der von denjenigen aufgenommen werden kann, die auf der Straße sind und die Grundlage der Repression in Frage stellen und ihre zivilen Handlungen in Akte der Würde verwandeln. Es ist wichtig zu verstehen, dass Massen auf der Straße nicht immer gleichbedeutend sind mit der Möglichkeit zur Revolte, zum Aufstand oder zum Sammeln von Erfahrungen.

Sich von der Verführung der Massen auf der Straße verführen zu lassen, ist ein emotionaler Fehler, und diesen ganzen Prozess abzutun, ist meiner Meinung nach ebenfalls ein emotionaler Fehler.

Was auch immer man tut, das Wichtigste sind die Gründe, warum man auf der Straße ist oder nicht. Nur eine gründliche Analyse der Situation wird uns nicht auf die Seite des Feindes bringen.

Das Ziel ist das Ende aller Herrschaft und derer, die uns beherrschen wollen.

Anarchische Grüße und revolutionärer Nihilismus.

3. Oktober 2017


Weder Katalanen noch Spanier

Positionierung der anarchistischen Gruppe „L’Albada Social (F.I.J.L.) zum schwarzen Block der Demonstration vom 11. September in Mataró.

Angesichts des Auftretens eines „schwarzen Blocks“ bei der von der von den linken Unabhängigkeitsbefürwortern organisierten Demonstration am 11. September in der Stadt Mataró, halten wir es für angebracht, die Position unserer Gruppe in Bezug auf die Teilnahme von Anarchisten an Aktionen und Mobilisierungen mit nationalistischem Charakter öffentlich zu machen.

Wir sind uns darüber im Klaren, dass wir nicht daran teilnehmen werden, und wir werden im Folgenden die Gründe dafür erläutern. Wir hoffen, dass unser Beitrag vom anarchistischen Standpunkt aus zur Entwicklung einer sozialen Kraft des Denkens und der Aktion beitragen kann, die sich der herrschenden nationalistischen Strömung entgegenstellt. Politische Parteien aller Couleur, bourgeoise und pseudo-Arbeiterparteien, rechte und linke, nähren eine herrschende Denkströmung mit patriotischem und nationalistischem Charakter, in der die katalanische Gesellschaft ertrinkt und der nur wenige von uns entkommen können.

Nationalistische Bewegungen neigen dazu, folgende Kriterien anzuwenden: Du bist entweder für mich oder gegen mich, du gehörst entweder zu meinem Volk oder zum Feind (du bist entweder Katalane oder Spanier, Serbe oder Kroate, Ukrainer oder Russe). Jeder, der sich entscheidet, sich von den Plänen und dem Programm einer nationalistischen Bewegung zu distanzieren, wird beschuldigt, das verhasste Volk, den Feind, zu bevorzugen und zu ihm zu gehören. Egal aus welchem Grund, es gibt keine (rationalen) Gründe, die dem (irrationalen) Gefühl der Zugehörigkeit zu einem Volk standhalten können, das entschlossen ist, seine ruhmreiche Tat zu verwirklichen.

Wir Anarchistinnen und Anarchisten folgen weder der katalanischen herrschende Strömung, noch rudern wir mit allen politischen Kräften für die Unabhängigkeit Kataloniens, noch identifizieren wir uns mit dem katalanischen Vaterland. Deshalb werden wir beschuldigt, Spanier zu sein.

Mit diesem Text wollen wir die katalanisch-spanische, pro-Unabhängigkeit-spanische Dualität aufbrechen. Wir wollen einfach eine dritte Vision anbieten, einen neuen Weg zur Überwindung des nationalen Konflikts. Wir wollen den Konflikt überwinden, indem wir den Fokus auf das Individuum legen, um eine gerechte Gesellschaft ohne Unterdrückung aufzubauen.

Über die Befreiung und das Selbstbestimmungsrecht der Völker

Heute breitet sich der Autoritarismus in seinen verschiedenen Formen (Kapitalismus, Patriarchat, Religion, Staat…) auf der ganzen Welt aus und hält alle Völker in der einen oder anderen Form in der Unterwerfung. Dieser entfremdenden und lähmenden Macht der Autorität setzen wir die Aktionen und Ideen derjenigen entgegen, die eine neue Welt schaffen wollen, die auf der brüderlichen, freien und unterstützenden Beziehung zwischen Individuen und ihren Gemeinschaften basiert: die Anarchistinnen und Anarchisten.

In Katalonien identifiziert sich ein großer Teil der Bevölkerung mit einer Reihe von sprachlichen und kulturellen Merkmalen, die in ihrer Gesamtheit nicht mit den sprachlichen, moralischen, religiösen, kulturellen, traditionellen, künstlerischen, ästhetischen und ethischen Werten übereinstimmen, die das Königreich Spanien fördert und allen seinen Untertanen gleichermaßen auferlegt. Man könnte sagen, dass sich ein großer Teil der katalanischen Bevölkerung einem Kollektiv von Menschen zugehörig fühlt, mit denen sie eine relativ ähnliche Art zu sprechen, Feste zu feiern, zu essen, Fußball zu schauen, Frauen zu heiraten… teilen.

Diejenigen, die sich mit diesem Kollektiv identifizieren, sind sich vielleicht nicht ganz im Klaren darüber, welche Eigenschaften sie haben müssen, welche Bedingungen sie erfüllen müssen, um zu diesem Club von Mitgliedern zu gehören, der so heterogen, so breit gefächert und so abstrakt ist. Die Mitglieder dieses Clubs sagen „Ich bin Katalane!“, aber sie können kaum sagen, was es bedeutet, Katalane zu sein, oder klar definieren, was das katalanische Volk ist.

Die Mitglieder und vor allem der Präsident des Clubs sind sich jedoch darüber im Klaren, wie du nicht sprechen darfst, wenn du Mitglied des Clubs sein willst, wie du Weihnachten nicht feiern darfst und welche Fußballmannschaft du nicht anfeuern darfst. Um Katalane zu sein, kannst du sprechen wie die vornehmen Leute in Barcelona oder die Zigeuner in Lleida, aber du kannst nicht sprechen wie Don Quijote, du kannst an Heiligabend keine Zarzuela essen, du kannst kein Madrid-Fan sein, du kannst nicht, du kannst nicht, du kannst nicht, du kannst nicht.…

Seit der Entstehung des spanischen Staates (1714) haben seine herrschenden Eliten einen Plan zur Homogenisierung der Bevölkerung auf kultureller und sprachlicher Ebene durchgeführt, indem sie kulturelle und sprachliche Merkmale einführten, die nur von einem Teil der Untertanen geteilt wurden: den Bewohnern von Kastilien. Das Ziel war es, eine homogene Gemeinschaft von Untertanen zu schaffen, die sich mit einer einzigen Sprache, einem einzigen König, einem einzigen Staat und einer einzigen Flagge identifizieren sollten.

Das Opfer dieses Prozesses der kulturellen Vereinheitlichung sind Vielfalt und Heterogenität. Dieses Herrschaftsverhältnis hat in der Vergangenheit zur Unterdrückung und Verfolgung aller kulturellen und sprachlichen Eigenheiten der katalanischen Gebiete geführt.

Gegen diese kulturelle Unterdrückung haben sich im Laufe der Geschichte auch soziale und politische Initiativen gebildet, die das Selbstbestimmungsrecht des katalanischen Volkes gefordert haben. Heute besteht diese Spannung weiter, wenn auch mit weniger Brutalität, und katalanische nationalistische und für die Unabhängigkeit eintretende Kräfte fordern weiterhin das Selbstbestimmungsrecht, aber immer unter dem gleichen Prinzip: die Schaffung eines katalanischen Staates. Aber in welcher Form kann das katalanische Volk wirklich frei sein?

Anarchistinnen und Anarchisten verstehen unter Freiheit die volle Entfaltung des Einzelnen in all seinen Facetten (intellektuell, emotional, kulturell, körperlich…) in einer freien und solidarischen Gesellschaft ohne jegliche Autorität. Deshalb lehnen wir die Vorstellung ab, dass irgendein Nationalstaat die Lösung für unsere Sklaverei sein könnte, auch wenn er sich katalanisch nennt. Wir sind für die Zerstörung aller Staaten und nicht für die Schaffung neuer Staaten.

Der Anarchismus schlägt vor, die Gesellschaft aufzubauen, indem er sich auf die Interessen jedes Einzelnen konzentriert, da er davon ausgeht, dass diese Individuen nicht geboren wurden, um die Wünsche anderer zu erfüllen, sondern um sich selbst zu verwirklichen. Der Nationalismus hingegen versucht, die Gesellschaft und die Gerechtigkeit aufzubauen, indem er sich auf die Interessen der Nationen konzentriert. Nationen sind abstrakte Gebilde, die auf einer höheren Ebene als der des Individuums konstruiert sind. In Nationen ist der Einzelne ein Mittel, um das nationale Interesse zu befriedigen. Sobald das Interesse des Einzelnen dem nationalen Interesse entgegensteht, zwingt die auf der Nation basierende Gesellschaft den Einzelnen dazu, gegen sein Interesse und seinen Willen zu handeln, um das zu befriedigen, was am heiligsten ist: den nationalen Willen.

So ziehen Soldaten in den Krieg gegen die feindliche Nation und sind bereit, ihr Leben zu geben, um das Vaterland zu retten.

Der katalanische Nationalismus neigt wie jeder andere dazu, eine homogenisierende und vereinfachende Vorstellung davon zu schaffen, was es bedeutet, an einem bestimmten Ort geboren zu sein. Das nationalistische Denken selbst, der Patriotismus, beschuldigt, schließt aus und bestraft kulturelle Vielfalt (z. B. die Koexistenz verschiedener Sprachen oder unterschiedlicher Identitäten innerhalb desselben Territoriums) und betrachtet sie als Bedrohung der eigenen Identität, die unterdrückt und kontrolliert werden muss. Die patriotische Verherrlichung dessen, was einem Volk eigen ist, führt auch oft dazu, dass wir Traditionen und Bräuche aufrechterhalten wollen, die, weil sie anachronistisch oder ungerecht sind, überwunden werden sollten.

Die eindeutigste Schlussfolgerung, die wir ziehen können, ist, dass jede Art von Nationalismus, auch der separatistische Nationalismus (z. B. der baskische oder katalanische), zentralistisch ist und die Unterschiede, die innerhalb der Nation bestehen, unterdrückt, da er auf der „Nation“ basiert und vergisst, dass jeder Mensch eine autonome Einheit mit eigenen Merkmalen ist, die ihn jedem anderen Menschen gegenüber ungleich machen.

Oft lassen sich zwei Völker, zwei Nationen, vor allem dadurch unterscheiden, dass sie eine unterschiedliche Religion praktizieren (Serben-Orthodoxe, Bosnier-Muslime und Kroaten-Katholiken), aber sie teilen eine gemeinsame Sprache (Serben, Bosnier und die meisten Kroaten teilen eine slawische Sprache namens štokavica, štokavština oder štokavsko *narječe).

Im Fall der Katalanen und der Kastilier ist die Sprache das entscheidende oder offensichtlichste Unterscheidungsmerkmal, denn sowohl die Katalanen als auch die Kastilier unterstehen traditionell dem Papst in Rom.

Im Laufe der Geschichte gab es immer wieder Beispiele für Nationen oder Völker, die je nach den politischen Interessen der herrschenden Eliten der jeweiligen Zeit gegründet und wieder aufgelöst wurden.

Um eine neue nationale Identität zu schaffen, die einen neuen Staat umfasst, muss man nur das, was allen Gebieten des Staates gemeinsam ist, in den Mittelpunkt stellen und ihm die Kategorie des nationalen Wertes, ein Unterscheidungsmerkmal, geben. Im Fall von Titos Sozialistischer Föderativer Republik Jugoslawien wurden die religiösen Unterschiede zwischen Serben, Bosniaken und Kroaten vergessen, und die jugoslawische nationale Identität wurde auf der Grundlage des Kampfes gegen den Faschismus und der gemeinsamen slawischen Sprache „Serbokroatisch“ aufgebaut.

Um eine Nation in zwei oder mehr Nationen aufzuteilen, muss man nur das Gemeinsame leugnen und das Unterschiedliche maximieren. Um die Katalanen von den Valencianern zu trennen, werden die Gemeinsamkeiten der valencianischen Sprache mit der westkatalanischen Sprache ignoriert und die Aufmerksamkeit auf die Besonderheiten der Sprache der valencianischen Hauptstadt gerichtet, um die Trennlinie zu ziehen. Um die jugoslawische Nation in die serbische, die kroatische und die bosnische Nation aufzuteilen, musste die Bevölkerung nur daran erinnert werden, in welche Kirche oder Moschee die Eltern der Serben, Bosnier und Kroaten vor der sozialistischen Ära gingen.

Die Schaffung von Nationen und ihre Entwicklung werden eindeutig von den politischen Interessen der herrschenden Eliten bestimmt, die Pläne zur Homogenisierung oder Spaltung der Bevölkerung umsetzen, indem sie kulturelle Unterschiede und Merkmale verstärken oder ausmerzen. Die Nationen, wie wir sie kennen, und ihre Grenzen sind das Ergebnis von Kriegen und Interessenkonflikten zwischen Machteliten aus verschiedenen Teilen des Territoriums.

Die Països Catalans (Katalonien-Nord, País Valencià, Franga de Ponent, Principat, Alguer, Balearen) sind das Ergebnis der Machtausweitung von Jaume I., der ethnischen Säuberung in den von den Mauren eroberten Gebieten und der Ansiedlung der katalanischen Bevölkerung in den von der Krone annektierten Territorien. Die katalanischen Nationalisten wollen den von Jaume I. geerbten Status quo für die nächsten Jahrhunderte aufrechterhalten, während die spanischen Nationalisten den von Felipe V. geerbten Status quo aufrechterhalten wollen.

Beide beabsichtigen, ihre Pläne auf eine bestimmte Bevölkerung anzuwenden. Sie versuchen bewusst, die Kultur des Landes zu formen und sie nach ihren Interessen zu gestalten, indem sie sich der natürlichen Entwicklung der kulturellen und sprachlichen Merkmale der verschiedenen Gemeinschaften widersetzen und diese zu verhindern versuchen. Für diese geplante kulturelle Umgestaltung werden die nationalen Medien genutzt, Sprachstandards geschaffen, wünschenswerte kulturelle Merkmale in den Schulen im ganzen Land gleich gelehrt oder im Extremfall ethnische Säuberungen durchgeführt und Rassismus gefördert.

Anarchistinnen und Anarchisten lehnen jeden Versuch einer geplanten Manipulation der Bevölkerung zur Verfolgung politischer Interessen ab. Wir stehen für kulturelle und sprachliche Vielfalt, für Vermischung aller Menschen, für Austausch, für die Überwindung ungerechter Traditionen. Wir verteidigen die freie und natürliche Entwicklung der Kulturen. Wir praktizieren den Respekt vor den Besonderheiten jedes Einzelnen und jeder Gemeinschaft.

Deshalb lehnen wir den spanischen Staat und seine Pläne zur künstlichen und vorsätzlichen Homogenisierung genauso ab wie den katalanischen Nationalismus, der darauf abzielt, Grenzen zu schaffen, zu katalanisieren und soziale Gerechtigkeit auf der Grundlage nationaler Interessen zu schaffen.

Nur wenn wir jede Art von Nationalismus, ob baskisch, spanisch, galicisch, katalanisch oder andalusisch, gleichermaßen bekämpfen, können wir einigermaßen kohärent sein, denn sie sind alle gleichermaßen schädlich. Und nur auf der Grundlage von Föderalismus und libertärem Internationalismus kann man die persönliche Autonomie, die verschiedenen einheimischen Kulturen und die Eigenheiten jedes Gebiets respektieren, ohne sie politischen Interessen zu opfern.

Über die Zusammenarbeit mit politischen Parteien und anderen Organisationen, die sich für den Staat als Institution zur Regelung des gesellschaftlichen Lebens einsetzen

Der „Schwarze Block“ wird bei der Demonstration am 11. September mit der politischen Partei CUP und anderen gesellschaftlichen Organisationen wie Maulets, die sich für die Schaffung eines katalanischen Staates einsetzen, zusammenkommen.

Wir gehen davon aus, dass der „schwarze Block“ die Freiheit für die Katalanen fordern wird, ohne dass sie einen eigenen Staat gründen müssen. Trotzdem sind wir der Meinung, dass es als Anarchisten inkohärent ist, an einer Demonstration teilzunehmen, bei der genau das Gegenteil von dem gefordert wird, was wir wollen. Wir respektieren den Willen der Genossinnen und Genossen, die im „Schwarzen Block“ demonstrieren, aber wir glauben, dass es in jedem Fall viel angemessener wäre, zu einer eigenen Mobilisierung aufzurufen.

In diesem Fall, wie in so vielen anderen, rufen die politischen Parteien und die sie unterstützenden sozialen Organisationen zur Einheit der „linken Kräfte“ gegen den „gemeinsamen Feind“ auf und dann sind sie diejenigen, die in Zukunft vom Erfolg der Mobilisierung profitieren können. Dieselben, die im Falle der Entstehung eines katalanischen Staates keinen Moment zögern werden, anarchistische Dissidenz zu unterdrücken, wenn sie an die Macht kommen

Über Gedenkveranstaltungen und historische Tage die in Anspruch genommen werden

Wir sind nicht besonders angetan von Gedenkveranstaltungen oder der Verherrlichung bestimmter historischer Daten. Dennoch sind wir der Meinung, dass Anarchistinnen und Anarchisten am 11. September nichts zu feiern oder zu gedenken haben sollten und dass es viel bessere Daten gibt, um die Freiheit der Katalanen zu rechtfertigen.

Am 11. September hat nicht das katalanische Volk verloren, sondern eine bestimmte königliche Familie, die Österreicher (A.d.Ü., gemeint sind die Habsburger), die sich wie die Bourbonen immer der Versklavung des Volkes verschrieben hatten und es durch Hunger, Religion und Gewalt unterjochten. Der Verlust der katalanischen Staatsinstitutionen und der Krone von Aragonien im Jahr 1714 kann nicht als Verlust für das katalanische Volk angesehen werden, denn sie dienten nur dazu, das Volk unterjocht zu halten und eine dominante und ausbeuterische Gesellschaftsschicht zu erhalten. Die wirkliche Freiheit Kataloniens kam nicht während der Zeit der Krone von Aragonien zustande, denn in dieser Zeit übten die katalanisch-aragonischen Institutionen einen widerwärtigen Imperialismus über mehrere Mittelmeergebiete aus.

Katalonien war im Juli 1936 frei, als die arbeitenden Menschen, inspiriert von den Ideen des Anarchismus und Anarchosyndikalismus, auf die Straße gingen, um den Faschismus zu bekämpfen, die Produktionsmittel zu kollektivieren und die staatlichen Institutionen durch revolutionäre Einrichtungen zu ersetzen. Als Anarchistinnen und Anarchisten und als Katalaninnen und Katalanen glauben wir, dass, wenn es einen Tag gibt, an dem man der Emanzipation und der Freiheit des katalanischen Volkes gedenken sollte, es zweifellos der 19. Juli 1936 ist und nicht der 11. September 1714.

Aber wir dürfen nicht vergessen, dass die Anarchistinnen und Anarchisten am 19. Juli nicht für die Freiheit Kataloniens gekämpft haben, sondern für die Freiheit des Einzelnen und seiner Gemeinschaft. Die Freiheit Kataloniens als solche ist das Ergebnis und die Folge der Freiheit jedes Einzelnen, der sich mit der abstrakten Gemeinschaft, die „das katalanische Volk“ ausmacht, identifiziert.

Anarchistische Gruppe „L’Albada Social“.

Federación Ibérica de Juventudes Libertarias – Iberische Föderation Libertärer Jugend


Epilog

Angesichts des gegenwärtigen innerbourgeoisen Krieges (spanische Bourgeoisie gegen katalanische Bourgeoisie) ist die einzige Position des bewussten Proletariats der „revolutionäre Defätismus“. Das heißt, dass die Soldaten ihre Gewehre auf ihre Offiziere richten und aufhören, Kanonenfutter zu sein, wie es die russischen Soldaten im Ersten Weltkrieg taten.

Und auf der anderen Seite werden 8 Berufspolitiker inhaftiert. 8 Berufspolitiker, die bürokratisch, bourgeois und korrupt sind (wie alle anderen auch). 8 Berufspolitiker, die mehr als 8.000 € im Monat verdienen. Sind das unsere neuen Helden?

Denkt also daran, dass die nächsten Wahlen am 21. Dezember nur dazu dienen, zu entscheiden, mit welcher Hand der Staat euch einen Ohrfeige geben soll. Mit der Linken oder mit der Rechten !!!!

Weder Krieg zwischen den Völkern, noch Frieden zwischen den Klassen“.

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(Miguel Amorós) Leninismus, faschistische Ideologie https://panopticon.blackblogs.org/2022/11/30/miguel-amoros-leninismus-faschistische-ideologie/ Wed, 30 Nov 2022 12:51:57 +0000 http://panopticon.blackblogs.org/?p=4641 Continue reading ]]> Übersetzt aus dem Spanischen.

Ein paar einleitende Wörter zu diesem Text und warum wir diesen veröffentlichen. Ein Gefährte, nochmals danke, schickte uns diesen Text vor langer Zeit, um es zu veröffentlichen und bat uns darum diesen zu korrigieren, außerdem führten wir einige Fußnoten bei, die unserer Meinung wichtig waren. Wir kennen die Schriften von Miguel Amorós und wissen dass er in seiner Scharfsinnigkeit, auch sehr fähig ist es zu übertreiben, oder weit übers Ziel hinausschießen kann. Dies haben wir gesehen wo er über Sachen schrieb über die er keine Ahnung hatte, oder wenig darüber wusste, bester Beispiel ist seine kritische Abhandlung ‚Professionelle Anarchie und theoretische Abrüstung: Zum Insurrektionalismus‘, welche milde gesagt ein fürchterlicher Text ist. Nicht desto trotz hat Miguel Amorós zu anderen Themen sehr viele interessante und wichtige Bücher und Texte zu historischen und aktuellen Ereignissen geschrieben, wir hoffen dass dies für eine lange Zeit noch so bleiben wird.

Wir beziehen uns auch gerade bei diesem Text auf die erste und prägendste Erscheinung, nämlich den Titel selbst. Wir sind nicht damit einverstanden den Leninismus als eine faschistische Ideologie zu bezeichnen. Konterrevolutionär; reaktionär, all dies ja, keine Frage, ob dass was Amorós eigentlich meinte, nämlich die logische Weiterführung von Lenin´s Ideen durch Stalin und dies als faschistisch bezeichnen will, nun dies erklärt er nicht und falls dies der Fall wäre, würde eine fundierte Analyse für die Feststellung fehlen, genauso wenig wenn er auf Schriften von Otto Rühle hinweist, die viel fundierter sind als sein Text und auf Fragen eingeht die er, also Amorós, selber nicht eingeht, auch wenn genau die Komparation bei beiden fehlt. Soweit wir Rühle selbst zum Thema des Leninismus verstanden haben, und wir denken dass wir es haben, sagt dieser dass Lenin den Weg für den Faschismus geebnet hat, weil dieser das revolutionäre Anstreben des Proletariats bekämpft hat, nun dies wäre ein Punkt des Texts ‚Brauner und Roter Faschismus‘ auf dem sich Amorós bezieht. Die historische Aufgaben des Bolschewismus und des Faschismus sind aber dennoch entgegengesetzte, wenn auch einen Ähnlichkeiten auffallen mögen, darauf jetzt tiefer einzugehen würde den Rahmen leider sprengen, dies ist eine Aufgabe der wir uns in kommender Zukunft widmen werden.

Dasselbe denken wir uns zu seiner Bemerkung von Amoros bezüglich der Zeitschrift ‚Bilan‘ und andere die er im Verlauf des Textes angreift, der Grund ist aber nicht immer ersichtlich, vor allem wenn man es sich selbst aus der Nase ziehen muss und nicht klar ist, was eigentlich damit gemeint sein kann. Vor allem im Bezug auf die belgische Publikation ‚Bilan‘ die in ihrer Kritik an den konterrevolutionären Charakter der anarchistischen Bewegung, ganz voran deren Anführer – was ein Widerspruch, aber dennoch zutreffend ist – während der sozialen Revolution von 1936, viel Zuspruch auch von Anarchistinnen und Anarchisten genießen die nicht nur der Selbstkritik und Kritik fähig sind, sondern diese auch leidenschaftlich anwenden.

Zusätzlich muss gesagt werden dass dieser Text sehr auf einen historisch-spezifischen Kontext im spanischen Staat sich bezieht. Auch wenn seine Kritik am Leninismus richtig ist, es gibt viel bessere, macht diesen Text aber deswegen nicht schlechter, wir weißen auf gewisse Aspekte und Lücken hin die uns aufgefallen sind. Alles andere, sein Abriss über den Konzept der Partei von Lenin, die Einflüsse von Kautsky, die Rolle der Bolschewiki während der russischen Revolution und einiges mehr, all dies ist richtig. Wir werden uns aus mehreren Gründen, was wir einige Male schon erwähnten, mit der Thematik des Leninismus beschäftigen und weitere Texte dazu veröffentlichen. Als letztes, wie Otto Rühle zu sagen vermochte, „Jede Schwächung der Revolution durch ein Kompromiß endet aber zwangsläufig im vorzeitigen Zusammenbruch oder im schließlichen Bankrott der revolutionären Bewegung.“

Soligruppe für Gefangene


Leninismus, faschistische Ideologie

Miguel Amorós

Befreit die Menschheit von dem segensreichen Joch des Staates! Es ist erstaunlich, in welchem Maße kriminelle Instinkte im Menschen schlummern. Ich sage es deutlich: kriminell. Freiheit und Kriminalität sind, wenn Sie so wollen, so eng miteinander verbunden wie die Bewegung eines Flugzeugs und seine Geschwindigkeit. Wenn die Geschwindigkeit des Flugzeugs null ist, bleibt es stehen, und wenn die Freiheit des Menschen null ist, begeht er kein Verbrechen. Das ist klar. Das einzige Mittel, den Menschen vom Verbrechen zu befreien, ist, ihn von der Freiheit zu befreien“. Jewgenij Samjatin, Wir, 1920.

Die Existenz von mehr oder weniger virtuellen immobilistischen Sekten, die sich auf Lenin berufen, hat heute mehr mit den Neurosen zu tun, die die Menschen unter den modernen Bedingungen des Kapitalismus plagen, als mit dem Kampf um Ideen, den die Rebellen gegen die Ideologen der herrschenden Klasse führen. Die Zeit vergibt nicht, und das endgültige Scheitern des Leninismus zwischen 1976 und 1980 hat die überlebenden Gläubigen zu einem schizoiden Überleben geführt. Wie Gabel bereits untersucht hat, ist der Preis, den sie für ihren Glauben zahlen müssen, ein gespaltenes Bewusstsein, eine Art gespaltene Persönlichkeit. Auf der einen Seite widerlegt die Realität das Dogma bis ins kleinste Detail, auf der anderen Seite muss die militante Interpretation sie verdrehen, korsettieren und bis zum Wahnsinn manipulieren, um sie dem Dogma anzupassen und eine manichäische Erzählung ohne Widersprüche zu fabrizieren. Als ob es sich um eine Bibel handeln würde, die alle Antworten enthält. Die leninistische Geschichte unterdrückt die Angst, die die Widersprüche der Praxis im Gläubigen hervorrufen, die eine mächtige Waffe ist, um der Realität zu entkommen. Das Ergebnis würde für den Rest der Lebewesen erbärmlich ausfallen, wenn es in einem kämpferischen Proletariat wie dem der 1970er Jahre Debatten gäbe, aber angesichts des gegenwärtigen Zustands des Klassenbewusstseins oder, mit anderen Worten, angesichts der spektakulären Umkehrung der Realität, bei der „das Wahre nur ein Moment des Falschen ist“, trägt die Anwesenheit von leninistischen Sektierern in den wenigen Diskussionen an der Basis nur dazu bei, die herrschende Verwirrung zu vervielfachen.

Die objektive Rolle dieser Sekten besteht darin, die Geschichte zu verfälschen, die Realität zu verschleiern, die Aufmerksamkeit von den wirklichen Problemen abzulenken, die Reflexion über die Ursachen des kapitalistischen Triumphs zu sabotieren, die Formulierung einer angemessenen Kampftaktik zu blockieren und schließlich die theoretische Aufrüstung der Unterdrückten zu verhindern. Die versteinerten Leninisten von heute sind nicht mehr (weil sie es nicht können) die Avantgarde der Konterrevolution von vor dreißig oder sechzig Jahren, aber ihre Funktion bleibt dieselbe: als Agents provocateurs für die Herrschaft zu arbeiten.

Angesichts der gegenwärtigen Zersetzung der Ideologie wäre es vielleicht besser, von Leninismen zu sprechen, aber weit davon entfernt, uns in den scholastischen Nuancen zu verlieren, die die verschiedenen Sekten unterscheiden, werden wir versuchen, die verwandten Merkmale zusammenzufassen, die sie am besten definieren, nämlich die kategorische Leugnung, dass es 1936 eine Arbeiterrevolution gegeben hat, die ebenso kategorische Bejahung der Existenz einer sich ständig weiterentwickelnden Arbeiterklasse und der Glaube an die Ankunft der führenden Partei, die Führung der Arbeiter auf dem Marsch zur Revolution. Erstere stammen entweder aus den defätistischen und kapitulierenden Analysen der belgischen Zeitschrift „Bilan“1 oder aus den triumphalistischen Diktaten der Komintern und der PCE2. Wenn es in dem einen Fall um einen imperialistischen Krieg ging, so ging es in dem anderen Fall um einen Unabhängigkeitskrieg; in beiden Fällen musste sich das Proletariat zermalmen lassen.

Im leninistischen Universum ist Lenin die Jungfrau Maria und die Arbeiterklasse, von der sie sprechen, ist wie das Christentum. In der heutigen Zeit ist das Internet eine Art Himmel, in dem sich praktisch ihre gesamte Tätigkeit konzentriert. Ein Schiit des Leninismus, d.h. ein Bordigist, beklagte im Internet: „Wenn sie uns die Arbeiterklasse wegnehmen, was bleibt uns dann noch?“ Für die Leninisten hat die Arbeiterklasse in der Tat eine rituelle, wenn man so will therapeutische, psychologische Funktion. Sie ist ein ideales Wesen, eine Abstraktion, in dessen Namen die Macht ergriffen werden soll. Ein verrückter Bordiga sprach ihr das Recht ab, ohne den „Rahmen“ der Partei zu existieren. Es ist nicht so, dass es eine solche Klasse nicht existiert, sie hat nie existiert. Die von Lenin nach dem russischen Modell von 1917 erfundene Minderheit der Arbeiterklasse in einem feudalen Land mit überwiegend bäuerlicher Bevölkerung, ohne eigene kulturelle Traditionen und daher zugänglich für eine äußere Führung, die sich aus in einer Partei organisierten Intellektuellen zusammensetzt, ist nichts was man jeden Tag sieht. Sie gehört einer überholten Vergangenheit an. Es ist ein utopisches, antihistorisches Ideal. Die trotzkistische Sekte der Posadisten3 glaubte, es bei den Außerirdischen in einer fernen Galaxie gefunden zu haben, von wo aus sie fliegende Untertassen mit sozialistischen Botschaften zur Erde schickten, ohne dabei zu scherzen. Die UFO-Enthüllungen müssen sich verbreitet haben, weil das leninistische Proletariat in jeder Planetensuppe auftaucht; laut der leninistischen Presse kann seine Epiphanie bei jedem Ereignis auftreten, zum Beispiel im Bürgerkrieg im Irak, bei den Mobilisierungen der französischen Studenten oder bei der Konstituierung einer gewerkschaftlichen/syndikalistischen „Linken“, wenn auch am häufigsten bei Arbeitskonflikten.

Da es für den Leninismus nach der Erstürmung des Winterpalastes keine Geschichte gibt, scheint es seit der Russischen Revolution weder Niederlagen noch bedeutende Siege gegeben zu haben, höchstens einige Stolpersteine entlang einer unveränderlichen Entwicklungslinie, die zu einer unbefleckten Arbeiterklasse führt, die auf die Priester der Kirche, ihre Führer, Mitglieder von Rechts wegen der „Partei“, wartet. Denn das eigentliche historische Subjekt ist für die Leninisten nicht die Klasse, sondern die Partei. Die Partei ist das absolute Kriterium der Wahrheit, die nicht aus sich selbst heraus existiert, sondern in ihr, in den heiligen Schriften, die von führenden Hohepriestern richtig interpretiert werden. Innerhalb der Partei die Rettung, außerhalb die ewige Verdammnis. Dieser halluzinierte Avantgardismus ist das antiproletarische Merkmal des Leninismus, denn die Idee einer einzigen messianischen Partei ist Marx fremd; sie stammt von der Bourgeoisie der Freimaurer und Carbonária4. Marx bezeichnete die Gesamtheit der Kräfte, die für die Selbstorganisation der Arbeiterklasse kämpfen, als Partei, nicht als autoritäre, aufgeklärte, exklusive und hierarchische Organisation.

Es ist aufschlussreich, dass Leninisten heute bestimmte5 ökonomische Interessen als Klasseninteressen ansehen, obwohl sie keine Klasseninteressen mehr sind, und dass sie sie in den 1970er Jahren, als sie noch welche waren, als gewerkschaftliche/syndikalistische, „trade unionistische“ Fragen behandelten. Der Unterschied ist, dass das Proletariat damals auf seine eigene Art und Weise, mit seinen eigenen Waffen, den Vollversammlungen, gekämpft hat. Dadurch wurde die Teilforderung in eine Klassenforderung umgewandelt. Aber die Leninisten verachten die wirklich proletarischen Formen der Organisation und des Kampfes: die Vollversammlungen, die gewählten und widerrufbaren Komitees, das imperative Mandat, die Selbstverteidigung, die Koordinationen, die Räte…. Und sie verachten sie, weil sie als authentische Formen der Arbeitermacht die Parteien ignorieren und den Staat auflösen, auch den „proletarischen“ Staat. Deshalb haben sie die Existenz der Vollversammlungsbewegung (Movimiento Asambleario)6 ebenso verheimlicht wie die Medien in den siebziger Jahren, denn sie sind Feinde der realen Arbeiterklasse, die mit der ihren nicht vergleichbar ist und deren spezifische Organisationsformen sie aus offensichtlichen Gründen hassen. Im Gegensatz zu Marx bestimmt für die Leninisten nicht das Sein das Bewusstsein7, sondern es muss durch das Apostolat der Führer beigebracht werden. Die Arbeiter, so Lenin, können nur ein gewerkschaftliches/syndikalistisches Bewusstsein erlangen und müssen auf die Rolle von bloßen Ausführenden reduziert werden; die Gewerkschaften/Syndikate oder Massenorganisationen, die sie bilden und kontrollieren, sind daher der Transmissionsriemen der Partei. Das hindert die Leninisten nicht daran, die Vollversammlungen und Räte zu loben, wenn sie dadurch einen gewissen Einfluss ausüben und Anhänger rekrutieren können. In den 1970er Jahren unterstützten sie sie, aber sobald sie sich stark fühlten, verrieten sie sie, genau wie Lenin es – abgesehen von historischen Unterschieden – mit den Sowjets tat.

Die von Paul Mattick herausgegebene Publikation „Living Marxism“ lancierte den Slogan, dass „Der Kampf gegen den Faschismus beginnt mit dem Kampf gegen den Bolschewismus“8. In den 1950er Jahren entwickelte sich der Kapitalismus der Manager zu den totalitären Formen des sowjetischen Staatskapitalismus. Heute, da die kommunistische bürokratische Klasse zum Kapitalismus konvertiert9 ist und die Welt mit technologischen Mitteln in Richtung faschistischer Herrschaft zerrt, ist die leninistische Ideologie residual, verstaubt und museumsreif. Sie untersucht den Kapitalismus nicht, weil der Kapitalismus nicht ihr Feind ist, und sie will ihn schon gar nicht bekämpfen. Es ist wie mit dem Knoblauch, es stoßt immer wieder auf10. Die Hauptaufgabe ihrer Sekten besteht darin, untereinander in Konkurrenz zu treten, indem sie „einen besonderen Punkt (hervorheben), der sie von der Klassenbewegung unterscheidet“ (Marx).

Der theoretische Kampf gegen die Leninisten ist also ein Nebenkriegsschauplatz, so etwas wie das Treten von lebenden Toten, aber als primärer Rahmen für neue Ideologien der Konterrevolution wie den Hardt-Negrismus sollte er nicht vernachlässigt werden, und mit diesem Ziel erinnern wir uns an einige grundlegende Banalitäten über den Leninismus, die jeder in den Werken von Rosa Luxemburg, Karl Korsch, den Rätekommunisten (Pannekoek, Gorter, Rülhe) oder den Anarchisten (Rocker, Berneri, Volin, Archinov) finden kann. Der Leninismus durch Negri und seinesgleichen (z.B. die neotrotzkistischen und nationalistischen Varianten, der linke Staatsbürgertum usw.), wie zuvor durch den Stalinismus, seine extreme Form, kehrt vollständig zum Denken und zu den Gewohnheiten der Bourgeoisie zurück, insbesondere in der totalitären Globalisierungsphase, was sich in der Verteidigung des Parlamentarismus, der politischen Kompromisse, der Mobiltelefonie und des Spektakels der Bewegung11 zeigt. Der Negrismus unterstützt ideologisch die schwachen, unterlegenen Fraktionen der Herrschaft, die politisch-administrative Bürokratie, den Gewerkschafts-, Syndikatsapparat und die Mittelschichten, die an einem Kapitalismus mit staatlicher Intervention interessiert sind. Im Allgemeinen verteidigt der Leninismus, auch wenn er sich als „Lagarterana“12 verkleidet, immer Interessen, die gegen das Proletariat gerichtet sind.

In Russland gab es 1905 keine Bourgeoisie, die in der Lage gewesen wäre, einen Kampf gegen den Zarismus und die Kirche als zukünftige herrschende Klasse zu führen. Diese Mission fiel den russischen Intellektuellen zu, die im Marxismus die Klärung ihrer nationalistischen Impulse suchten und im Lager der Arbeiter ihre besten Verbündeten fanden. Der russische Marxismus nahm einen völlig anderen Aspekt an als der orthodoxe Marxismus, da in Russland die historische Aufgabe, die es zu bewältigen galt, die einer zu schwachen Bourgeoisie war: die Abschaffung des Absolutismus und der Aufbau eines nationalen Kapitalismus. Die Marxsche Theorie, die von Kautsky und Bernstein adaptiert wurde, identifizierte die Revolution mit der Entwicklung der Produktivkräfte und dem entsprechenden demokratischen Staat, was eine reformistische Praxis begünstigte, die vielleicht in Deutschland, nicht aber in Russland funktionieren konnte.

Lenin akzeptierte zwar den sozialdemokratischen Revisionismus von Marx in seiner Gesamtheit, wusste aber, dass die Aufgabe der bolschewistischen Sozialdemokraten, den Zarismus zu stürzen, nicht ohne eine Revolution zu bewältigen war, für die bessere Kräfte als die der russischen Liberalen erforderlich waren. Eine bourgeoise Revolution ohne Bourgeoisie, und sogar gegen sie. Der Revolte der Arbeiter von 1905 fügte dem absolutistischen Regime ernsthafte Wunden zu, und die Revolution vom Februar 1917 bereitete ihm ein Ende. Obwohl es sich um eine Insurrektion der Arbeiter und Bauern handelte, hatte sie kein revolutionäres Programm und keine besonderen Parolen, so dass die Vertreter der Bourgeoisie ihren Platz einnahmen. Die Bourgeoisie war der Situation nicht gewachsen, während das Proletariat politisch gebildet und sich seiner Ziele bewusst wurde; in kurzer Zeit verlor die Revolution ihren bourgeoisen Charakter und nahm einen entschieden proletarischen Charakter an. Im April hatte Lenin seine Partei mit der Parole „Alle Macht den Sowjets“ überrascht, nur um sie im Juli für nicht mehr richtig zu halten und sie nach Kornilows Putsch im August wieder in den Vordergrund zu stellen. Bis dahin hatte Lenin ein bourgeoises Regime mit einer Präsenz der Arbeiter befürwortet, aber angesichts des Vormarschs der Sowjets oder Arbeiterräte änderte er seine Orientierung und ließ die Parole fallen, und er ging sogar so weit, über das Aussterben des Staates zu theoretisieren. Die Idee der horizontalen Macht war ihm (A.d.Ü., Lenin) jedoch fremd, denn er hatte eine Partei nach dem bourgeoisen militärischen Modell organisiert, vertikal, zentralisiert, immer von oben herab entscheidend, mit einer starken Trennung von Führung und Basis. Wenn er für die Sowjets war, dann nur, um sie zu instrumentalisieren und die Macht zu ergreifen. Seine Hauptfunktion war nicht die Entwicklung jener (A.d.Ü., der Sowjets), die in seinem System keinen Platz hatten; es war die Umwandlung der bolschewistischen Partei in einen bürokratischen Staatsapparat, die Einführung des bourgeoisen Autoritarismus in die Ausübung und Darstellung der Macht. Die Sowjets, die Protagonisten der Oktoberrevolution, wurden bald von einem „proletarischen“ Staat entmachtet, der es sehr eilig hatte, die Armee und die Polizei wieder aufzubauen. Die Bolschewiki kämpften im Namen der „Diktatur des Proletariats“ gegen die Arbeiterkontrolle und die Durchsetzung der Revolution in den Werkstätten und Fabriken und generell gegen die souveräne Manifestation des Willens der Arbeiter in Organen der direkten Demokratie. Im Jahr 1920 war die proletarische Revolution abgeschlossen und die Sowjets waren nur noch kastrierte, dekorative Gebilde. Die letzten Bastionen der Revolution, die Kronstädter Matrosen und die Armee der Makhnovisten, wurden mit einer Energie vernichtet, die sie bei den Weißgardisten nie an den Tag legten.

Während sie die Sowjets zerstörten, landeten die bolschewistischen Abgesandten in Deutschland, wo der Rätekommunismus in den Arbeitermassen erwacht war und die Räte im Begriff waren, zu wirksamen Organen der proletarischen Macht zu werden, um der Revolution in den Rücken zu fallen. Überall diskreditierten sie die Parole der Arbeiterräte und plädierten für eine Rückkehr zu den korrupten Gewerkschaften/Syndikate und der sozialdemokratischen Partei. Die deutsche Räterevolution fiel unter der Last der Verleumdungen, Intrigen und der Isolierung durch die Bolschewiki. Mit Lenins Segen konnten die alte Sozialdemokratie und der deutsche Nachkriegsstaat auf ihrer Asche wieder aufgebaut werden. Lenin versäumte es nicht, die Verteidiger des Rätesystems zu bekämpfen, indem er sie in der Lieblingsschrift aller seiner Anhänger, „Der „Linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus“13, mit Schimpfworten überzog. Dort nahm er seine Maske ab. Indem er die Linkskommunisten und die Räte mit Unwahrheiten überhäufte, verteidigte Lenin seinen gesamtrussischen Pseudosozialismus, der sich, von Stalin in die Praxis umgesetzt, als eine neue Form des Faschismus erweisen sollte. Er war weit davon entfernt zu glauben, dass die Befreiung der Unterdrückten nur durch die Zerstörung von Macht, Terror, Angst, Bedrohung und Zwang erreicht werden kann.

Wer eine Ordnung durchsetzen will, findet die besten Voraussetzungen in der absoluten Trennung zwischen Massen und Führern, Avantgarde und Klasse, Partei und Gewerkschaften/Syndikate. Lenin wollte eine bourgeoise Revolution in Russland und hatte eine Partei gegründet, die für diese Aufgabe perfekt geeignet war, aber die russische Revolution nahm einen Arbeitercharakter an und machte seine Pläne zunichte. Lenin musste mit den Sowjets siegen und dann gegen sie siegen. Der Kommunismus plus Elektrifizierung wich der NEP und den Fünfjahresplänen Stalins, was zu einer neuen Form des Kapitalismus führte, in der eine neue Klasse, die Bürokratie, die Rolle der Bourgeoisie übernahm. Das war totalitärer Staatskapitalismus. In Europa wurden die arbeitenden Massen zurückgehalten, entmutigt und in die Niederlage getrieben, bis sie demoralisiert wurden und das Vertrauen in sich selbst verloren, ein Weg, der zur Unterwerfung und zum Nationalsozialismus führte. Hitler kam leicht an die Macht, weil die sozialdemokratischen und stalinistischen Führer das deutsche Proletariat so korrumpiert hatten, dass es nicht zögerte, sich klaglos zu ergeben. In Spanien gewann Franco den Krieg dank der konterrevolutionären Arbeit der PCE. „Brauner undRoter Faschismus14 war der Titel eines erinnerungswürdigen Textes, in dem Otto Rülhe zeigte, dass der stalinistische Faschismus von gestern einfach der Leninismus von vorgestern ist. Dies ist die Inspiration für den Titel unseres Artikels.

Das letzte historische Auftreten des spanischen Leninismus während der turbulenten Periode von 1970-78 ist eine Konterrevolution wie aus dem Lehrbuch. Einerseits befürwortete die offizielle stalinistische kommunistische Partei ein Bündnis mit Teilen der herrschenden Klasse, um eine demokratische Umwandlung des Franco-Regimes zu erzwingen. Ihre Stärke beruht vor allem auf der Manipulation der Arbeiterbewegung, die sie in den faschistischen Gewerkschafts-, Syndikatsapparat einzubinden versucht. Alle leninistischen Verfahren zur Verhinderung der Selbstorganisationen der Arbeiter wurden von der PCE treu angewandt, aber die linken Parteien, die vor allem aus der Explosion der FLP15, den Spaltungen in der PCE und der ETA16 hervorgegangen sind, haben nicht anders gehandelt. Sie alle griffen die PCE an, weil sie nicht leninistisch genug war und nicht wie Lenin eine bourgeoise Revolution im Namen der Arbeiterklasse anstrebte. Sie bestritten ihr die Führung der Comisiones Obreras17, eine nutzlose Aufgabe, denn 1970 war Comisiones keine soziale Bewegung mehr, sondern die Organisation der Stalinisten und Sympathisanten in den Fabriken. Um Positionen zu erobern, machten sie Zugeständnisse an die echten Kampfformen der Arbeiter, die Vollversammlungen, aber sie haben sie nie gefördert. Nach den Ereignissen von Vitoria am 3. März 197618 verflüchtigten sich die Differenzen mit der PCE, und sie ahmten deren Kompromisspolitik nach. Sie stellten sich zur Wahl, ernteten die schlimmsten Misserfolge und verschwanden und hinterließen eine Spur von kleinen Sekten. Aber ihr politischer Selbstmord war auch der der PCE, die ab 1980 zu einer testimonialen Partei mit variabler Ideologie wurde, die nur von einigen proletarisierten Fragmenten der Mittel- und Kleinbourgeoisie getragen wurde.

Einige Wahrheiten können wir aus der klassischen Kritik des Leninismus lernen, auf die wir uns gestützt haben. Dieser Dialog mit Idioten ist konterrevolutionär: Leninisten werden weder diskutiert noch deprogrammiert, sie werden einfach bekämpft. Dass die Grundlagen der Aktion, die das soziale Gleichgewicht gegen den Kapitalismus kippen wird, nicht in gewerkschaftlichen/syndikalistischen oder parteilichen Organisationsmethoden, nicht in Parlamenten, nicht in staatlichen Institutionen und auch nicht in Zentren, die in irgendeiner Form der Herrschaft verpflichtet sind, zu finden sind. Dass die unterdrückten Massen isoliert und zerstreut sind, ohne Freunde. Dass Aktivisten die Fähigkeit zur Assoziation, die Stärkung des Willens zur Aktion und die Entwicklung eines kritischen Bewusstseins auch über unmittelbare Interessen stellen müssen. Dass die Massen zwischen Angst haben oder Angst auslösen zu entscheiden haben.

Beitrag zur Debatte über das antikapitalistische historische Gedächtnis, 03. Dezember 2006.


1A.d.Ü., Bilan war die Publikation der Linken Fraktion der Kommunistischen Partei (Italienisch), 1935 wird es zur theoretischen Publikation der Italienischen Fraktion der Kommunistischen Linken. Im Bezug zu dem was der Autor sagt, lässt sich verstehen, so zumindest denken wir, im Bezug was die Publikation selbst dazu sagte, dass die soziale Revolution in Spanien, oder zumindest das Anstreben danach, nicht existent gewesen wären, weil es sich um einen imperialistischen Konflikt handeln würde, wo verschiedene bourgeoise Fraktionen untereinander kämpften. Im Falle der anarchistischen Bewegung, hätte sich diese der demokratischen Fraktion der Bourgeoise angeschlossen, weil sie nicht den bewaffneten Konflikt neben der sozialen Revolution führte, denn, so sie, diese zweites dem ersten den Platz räumte. Dies wäre natürlich eine unglaubliche Verkürzung vom dem was Bilan sagte und es wäre einer interessanten Analyse wert, ob dies überhaupt zutreffend wäre.

2A.d.Ü., PCE Partido Comunista de España, Kommunistische Partei aus Spanien.

3A.d.Ü., die hier erwähnte Gruppe, oder Strömung ist nach dem in Argentinien geborenen Trotzkisten J. Posadas, der eigentlich Homero Rómulo Cristali Frasnelli hieß, benannt. Der Hinweise von Miguel Amorós bezieht sich auf eine 1968 veröffentlichte Broschüre mit dem Namen 1968 Platillos voladores, el proceso de la materia y la energía, la ciencia, la lucha revolucionaria y de la clase trabajadora y el futuro socialista de la humanidad (Fliegende Untertassen, der Prozess der Materie und der Energie, die Wissenschaft, der revolutionäre Kampf und der Kampf der Arbeiterklasse und die sozialistische Zukunft der Menschheit), auf die sich die Ideen des Posadismus stützen. Posadas war der Annahme dass, wenn er auch keine Beweise dafür hatte, es Außerirdische geben musste und dass diese so weit entwickelt sein mussten, dass sie den Kapitalismus schon überwunden haben müssten und nun der Menschheit helfen würden, diesen aufzuheben. Bzw., dass Außerirdische die Menschheit beobachten würden, um die Fortschritte des Sozialismus zu begutachten und erst dann die Menschheit in der galaktischen Gemeinde aufzunehmen.

4A.d.Ü., die Carbonária Portuguesa, war ein, Geheimbund, oder konspirative Gruppe die antiklerikale und revolutionäre Ideen verfolgte und in Portugal 1822 gegründet wurde.

5A.d.Ü., hier ist die Rede von intereses económicos particulares, was auch als typisch, charakteristisch, aber auch als ungewöhnlich, besonders, privat oder bestimmt übersetzt und verstanden werden kann.

6A.d.Ü., der Movimiento Asambleario war der Sammelbegriff aller Kämpfe die in den Stadtteilen, in den Fabriken, Universitäten, Knästen, usw., stattfanden, die ohne der Kontrolle von Parteien und Gewerkschaften/Syndikate sich organisierten. Die Vollversammlung galt als der Entscheidungsträger dieser Bewegung, wo alles entschieden wurde.

7A.d.Ü., der Satz von Marx geht eigentlich so,Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“

8A.d.Ü., was auch der Namen eines Textes von Otto Rühle ist, was hier zu finden ist und hier die erwähnte Publikation.

9A.d.Ü., im Originaltext ist die Rede se ha convertido al capitalismo und wir setzten einen Akzent auf den Begriff convertir was ein Begriff ist der eine religiöse Konnotation hat. Daher diesen Schritt, als einen religiösen zu verstehen.

10A.d.Ü., hierbei handelt es sich um einen Spruch aus dem spanischen. Es como el ajo, se repite. Dieser Spruch hat eine Doppeldeutung, denn der Begriff se repite bedeutet in dem Kontext, sowohl dass etwas wieder aufstoßt, als auch dass es sich wiederholt. In diesem Falle werden wohl beide Bedeutungen gemeint.

11A.d.Ü. espectáculo movimentista, als movimentismo wird die Ideologie bezeichnet, die den „politischen Kampf“ auf eine leicht reproduzierbaren Warenlogik, auch ästhetische, auf der Straße reduziert. Gemeint sind die großen, inhaltsleeren, unbedeutenden Ereignisse auf der Straße die sich in Gipfel und Gegengipfel, als Beispiel, manifestieren.

12A.d.Ü., hierbei handelt es sich auch um einen Spruch aus dem spanischen, Lagartera ist eine Ortschaft bei Toledo, und sie wie einer aus Lagartera anzuziehen oder zu verkleiden, bedeutet was zu sein was man nicht ist.

13A.d.Ü., Wladimir Iljitsch Lenin, Der „Linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus, 1920, hier zu lesen.

14A.d.Ü., Otto Rühle, Brauner und Roter Faschismus, 1939, hier zu lesen.

15A.d.Ü., Frente de Liberación Popular, Volksbefreiungsfront, oder Populäre Befreiungsfront, abgekürzt FLP oder FELIPE, war eine klandestine linke Organisation in Spanien von 1958 bis 1969.

16A.d.Ü., der Frente Obrero de ETA, war auf der Vollversammlung von Euskadi Ta Askatasuna (ETA), die im August 1973 im französischen Hasparren stattfand, dort kam es zu einem Zusammenstoß zwischen den beiden Strömungen, die innerhalb der Organisation nebeneinander existierten: der Militärischen Front (Frente Militar) und der Arbeiterfront (Frente Obrero). Die Militärische Front bestand aus Militanten der ETA, die den bewaffneten Kampf gegen das Franco-Regime führten, während die Arbeiterfront aus Militanten der ETA bestand, die klandestine politische oder gewerkschaftliche/syndikalistische Arbeit leisteten. Letztere beschuldigten den Ersteren, den gesamten Apparat der bewaffneten Strategie untergeordnet zu haben. In den Jahren 1973 und 1974 kam es zu starken Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Fraktionen. Einige der von der Militärischen Front durchgeführten Aktionen, die vorher nicht mit der Arbeiterfront abgesprochen oder konsultiert worden waren, insbesondere die Ermordung des Admirals und Ministerpräsidenten Luis Carrero Blanco im Dezember 1973, führten dazu, dass sich die Repressionen des Franco-Regimes gegen die Mitglieder der Arbeiterfront richteten. Im Sommer 1974 verließ ein großer Teil der Mitglieder der Arbeiterfront mit Sitz in Guipúzcoa die Organisation und gründete die Partei Langile Abertzale Iraultzaileen Alderdia (LAIA), „Partei der Revolutionären Patriotischen Arbeiter“.

17A.d.Ü., Comisiones Obreras, Arbeiterkommissionen, ist zwar heutzutage die größte Gewerkschaft in Spanien, hatte sie jedoch ursprünglich einen radikalen Ausdruck in der autonomen Organisierung des Proletariats in Spanien, als es klandestin in den 1960ern gegründet wurde und viele wilde Streiks bei den Bergarbeitern in Asturias innitiierte. Als diese neue autonome Form des Organisation des Proletariats von der PCE übernommen wurde, verlor sie sofort jegliche radikale Handlung und wurde zu einen Instrument für die Interessen der PCE.

18A.d.Ü., am 3. März 1976 eröffneten die Bullen während eines wilden Streiks in der baskischen Stadt Gasteiz (Vitoria), als sie zuvor eine Vollversammlung in einer Kirche mit Tränengas beschossen und dadurch auflösten, das Feuer, als die Menschen aus der Kirche flohen. Fünf Personen wurden ermordet und weitere 150 verletzt.

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(Argelaga) Über die Schuppen im libertären Milieu https://panopticon.blackblogs.org/2022/10/10/argelaga-uber-die-schuppen-im-libertaren-milieu/ Mon, 10 Oct 2022 11:44:25 +0000 https://panopticon.noblogs.org/?p=3445 Continue reading ]]> Gefunden auf der Seite der gleichnamigen Publikation Argelaga. Argelaga war eine anarchistische Publikation im spanischen Staat, sie existierte bis zum Jahr 2016, die Hauptthemen mit denen sich diese Publikation beschäftigte waren vor allem die Kritik an Technologie und Fortschritt, auch in seiner grünen Form, sowie die Verteidigung und Verbreitung der Kämpfe gegen die Zerstörung der Umwelt, aber nicht nur. Einer der bekanntesten Autoren war Miguel Amoròs, der in der französischen Publikation „Encyclopédie des Nuisances“ teilnahm, die von Jaime Semprún vorangetrieben wurde.

Dieser Artikel ist eine Kritik an der Ideologie des/der Staatsbürger-Staatsbürgerschaft (Ciudadano-Ciudadanismo) sowie an dem Plattformismus. Eigentlich handelt es sich um Staatsbürgerschaftismus, was für ein fürchterlicher Neologismus. Es bedarf einer Erklärung für die Lesenden, um die Kritik und Auseinandersetzung komplett zu verstehen. Denn in diesem Falle gehen beide Ideologie Hand in Hand hervor, daher eine Kritik an beide, die durch die Ereignisse im spanischen Staat, die in die Geschichte eingegangen sind als 15M, oder „Movimiento de los Indignados“. Diese fanden im Jahr 2011 statt; zur Erinnerung, es handelte sich um eine Protestbewegung die durch die Finanzkrise entstand, anfangs, ganz ganz ganz kurz, von anarchistischen Gruppen und radikalen Parolen bestimmt, welches aber kurz darauf von reformistischen und staatsbürgerlichen Machenschaften rekuperiert wurde. Ab dem Moment wurde unter anderem das Zwei-Parteien System kritisiert, genauso wie das Bankwesen, für eine reale Demokratie plädiert sowie für andere Forderungen die nie den demokratischen Rahmen verlassen haben und verlassen werden, was am Ende bedeutet den Kapitalismus nicht in Frage zu stellen zu wollen und zu können. Solch ein Phänomen, im eigentliche Sinne Ideologie, bekannt als Staatsbürgerschaft-Ciudadanismo-Citoyennisme-Citizenism fand einen Höhepunkt im Verlauf des 15M, durch die Gründung der Partei „Podemos“ unter anderem. Wie erwähnten es schon oben, diese Ideologie sieht die Demokratie als den einzigen Rahmen für gesellschaftliche Veränderungen. Da ihrer Meinung es keine Klassen mehr gibt, die Zentralität des Klassenkampfes nicht mehr existiert, auch durch die schwindende Kraft von Organisationen von Arbeiterinnen und Arbeitern, egal ob Parteien oder Gewerkschaften/Syndikate, kann nur noch das Subjekt des Staatsbürgers in und durch die Demokratie die Welt zu einem bessern Ort machen.

Die Konsequenz daraus die die plattformistische Organisation „Apoyo Mutuo“ gezogen hatte, war zu sagen dass die anarchistische Bewegung nicht im Stande ist zu handeln, wir nehmen hier nicht alles vorweg, der Artikel soll ja gelesen werden, weil sie keine einheitliche, populäre, demokratische und strafe Organisation anzubieten hat, ganz im Sinne der Waren.

Wir haben alle Themen, Kritik an den Plattformismus, Kritik an der Staatsbürgerschaft(-ismus), an den 15M, schon in mehreren Artikeln/Übersetzungen angerissen, werden uns, versprochen, intensiver mit all denen beschäftigen. Wobei gesagt werden muss, dass die beiden letzteren zusammenfließen, da der 15M die höchste, oder einer der höchsten, Emanationen dieses Phänomens, zumindest im spanischen Staat, gewesen ist. Die radikale Linke des Kapitals in Deutschland träumt so sehr davon, sowie Prometheus nach dem Feuer welches er den Göttern stahl, wobei das Ziel ist es nicht wie die Götter des Olympus zu leben, sondern sie alle zu guillotinieren.

Soligruppe für Gefangene, September-Oktober 2022


Über die Schuppen im libertären Milieu1 (A.d.Ü., oder, Über das Schäbige im libertären Milieu)

Argelaga Nummer 7, 20.06.2015

„Raus aus dem Ghetto“ ist ein häufig gesungenes Lied im libertären Milieu, was angesichts der verworrenen und verwässerten Situation, in der sich die ohnehin schon marginalisierten sozialen Kämpfe entfalten, nichts anderes bedeutet, als dass diejenigen, die es singen, bereit sind, der Wahrheit der Dinge um einer Überdosis Aktivismus willen den Rücken zu kehren. Sich in einen kurzsichtigen Veganismus, einen rein grammatikalischen Feminismus, die Lektüre von Foucault oder Punk zu flüchten, ist nichts weiter als eine harmlose Anpassung an die traurige Realität, aber blinder Voluntarismus oder organische Militanz2 sind nicht besser. Das führt zu nichts; es ist Brot für heute und Hunger für morgen. Es sind Zeiten des Zerfalls, in denen es kaum Mobilisierungen gibt, in denen es keine klaren und wütenden Mehrheiten gibt, und es bleibt nichts anderes übrig, als die Gegenwart gut zu analysieren und die Widersprüche aufzuzeigen, die die Risse im System vergrößern und die Revolte fördern können. Die Krise folgt ihrem eigenen Rhythmus, langsam und verzweifelt, offen für alle falschen Illusionen, die einzigen, die derzeit in der Lage sind, Mehrheiten zu finden. Aber die Augen vor den Erfahrungen der Vergangenheit zu verschließen und eklatanten Unsinn in Kauf zu nehmen, um in Gesellschaft zu sein und einen Handlungsersatz zu genießen, löst das Problem nicht, sondern verschlimmert es. Die populäre Weisheit ist in diesem Punkt falsch: wir lachen deshalb nicht mehr, nur weil wir viele sind3.

Wir sind der festen Überzeugung, dass die Anwesenheit von widerspenstigen Anarchisten in sozialen Bewegungen zu deren Radikalisierung beiträgt. Wenn sie sich darüber hinaus in Affinitätsgruppen organisieren und sich mehr oder weniger formell zusammenschließen (A.d.Ü., auch verstanden im Sinne eine Föderation), umso besser. Sie setzen eine historische Tradition fort, die sich bewährt hat. Die selbstverwalteten Räume, die Genossenschaften ohne Angestellte oder Arbeiter und die Nachbarschaftsvollversammlungen sind notwendige Instrumente des Kampfes. Aber wenn Teruel existiert4, dann existiert auch der rechte Anarchismus. Es muss anerkannt werden, dass die Ergebnisse der Kommunalwahlen vom 24. Mai das Vertrauen breiter Bevölkerungsschichten in die Institutionen wiederhergestellt haben, die während des 15M der Politik eher misstrauisch gegenüberstanden. Der aufbauende Anarchismus ist in bestimmten alternativen Milieus nicht mehr in Mode. Ein beträchtlicher Teil der politisch korrekten Libertären ist so gut wie traumatisiert, als sie mit ansehen mussten, wie ihre natürliche Umgebung, die verarmte und informatisierte Mittelschicht, die Studenten und die Nachbarschaftsbürokratie in andere Sümpfe abwanderten. Ihre Reaktion ließ nicht lange auf sich warten: in einer Vielzahl von Versammlungen schreien diejenigen, die auf den Erfolg der anderen neidisch sind, gegen „Kurzsichtigkeit“ an; die Generäle ohne Truppen rufen zu einem „sozialen und organisierten Anarchismus“ mit einer „Berufung der Mehrheiten“ auf; und die Originellsten schließlich verspüren das Bedürfnis nach „einer großen sozialen Initiative“, die uns dazu bringen wird, „gemeinsam eine wahre Demokratie zu erobern“. Dies ist der Fall bei den Verfassern des Manifests „Ein starkes Volk aufbauen, um eine andere Welt möglich zu machen – Construir un pueblo fuerte para posibilitar otro mundo5“, ein wahres Staatsbürgerplagiat6, das Hunderte von Unterzeichnern geblendet hat.

Was die Phantasie und das Handwerk angeht, kann man nicht sagen, dass die Autoren zu viel haben, aber im Zeitalter der flüssigen Moderne7 kommt es darauf an, sich mit SMS und Whatsapp auszukennen und nicht zu wissen, wie man Sätze von mehr als einer Zeile schreibt. Der Titel spielt auf den Slogan „eine andere Welt ist möglich” der Globalisierungsgegner an, aber man darf nicht vergessen, dass sie sich auf eine andere Globalisierung, einen anderen Kapitalismus bezogen, nicht auf ein „rupturistisches Modell“8, mit dem wir „uns als freie und souveräne Gesellschaft“ durch eine „libertäre Demokratie der Personen, nicht der Märkte“ „wiederaufbauen“ können. Die Analyse des „Übergangs“ ist so einfach wie das „Es war einmal“ in den Märchen: von einer Bilanz am weitesten entfernt. „Demokratie“ ist ein Wort, das ad nauseam (A.d.Ü., bis zum Überdruss) wiederholt wird, eine klare Anspielung auf die Indignados von 15M, die mit „unseren Rechten“ und „der Verteidigung unserer Freiheiten und Gemeingüter“ gegenüber einer „Elite“, die „uns nicht vertritt“, in Verbindung gebracht werden. Welche Freiheiten und welche Güter? Worte wie „Bourgeoisie“, „Proletariat“, „Klassenbewusstsein“, „herrschende Klasse“, „Ausbeutung“, „Elend“, „Revolution“, „Anarchie“ oder „Selbstverwaltung“ fehlen völlig, was normal ist, wenn man bedenkt, dass sich das Manifest an die Lumpenbourgeoisie in ihrer eigenen Sprache richtet, von der ein Teil es vorgezogen hat, für die „Gefährten“ zu stimmen, die „den institutionellen Weg wählen“. Dies ist ein Versuch, eine anarchistische „Marke“ zu schaffen, die der Mittelklasse gefällt, weshalb die verwendete Sprache von Begriffen befreit wurde, die sie als störend und gewalttätig empfinden. Der coole Anarchismus der liquiden Zeit tritt nicht als theoretischer Ausdruck des Klassenkampfes, der städtischen Revolte oder der Verteidigung des Territoriums auf, sondern als Ideologie der friedlichen Konfrontation „auf den Straßen und Plätzen“ zwischen abstrakten Entitäten wie „dem Volk“, „der Gesellschaft“ oder „der Mehrheit“ (was ihre politischen „Gefährten“ als „Staatsbürgerschaft“9 bezeichnen) und der bösen „Elite“ oder „den 1%“. Langfristig gesehen steht die Staatsbürgerschaft überhaupt nicht im Widerspruch zu der anderen, da sie nur versucht, die „Unabhängigkeit des Volkes zu fördern“, d. h. den Raum zu besetzen, den die ersteren aufgegeben haben, indem sie sich auf Wahlwege begeben haben.

Gut. Da wir schon genug über den Eintopf gesprochen haben, wollen wir nun über die Köche sprechen, denn sie sind nicht gerade Jungfrauen in der libertären Szene. Die Initiatoren des Manifests von Apoyo Mutuo (A.d.Ü., Gegenseitige Hilfe) sind Militante unterschiedlicher Herkunft, ebenso wie die Unterzeichner. In gewisser Weise repräsentiert Apoyo Mutuo im spanischen Staat den Plattformismus, die rückschrittlichste Strömung des Anarchismus, die vor allem durch den Fetischismus der Organisation, den heiligen Gral des „Programms“ und den grenzenlosen Opportunismus seiner Praxis gekennzeichnet ist. Obwohl dieses Phänomen auf Bakunin zurückgeht, wurde es vor fünfzehn Jahren in Chile geboren und brachte das Thema der zentralisierten, hierarchischen und disziplinierten „anarchistischen Partei“ mit einem einzigen Programm aus der Mottenkiste hervor. Ein „Exekutivkomitee“ war damit beauftragt, die Massen von außen zu „erwecken“, damit sie dank einer „korrekten“ Führung, die nicht zögerte, sich in politische Abenteuer zu verstricken, Formen der „Volksmacht“10 entfachten. Linkstum11 mit leninistischen Reminiszenzen, das ein hohes Maß an Sektierertum und Halluzinationen benötigt, um in einem bürokratisch-vanguardistischen Sinne eine Realität umzudeuten, die weit von den autoritären Wahnvorstellungen der Plattform entfernt ist. Es handelt sich also um ein Produkt des kulturellen, politischen, ökonomischen und sozialen Zerfalls des Kapitalismus, das dem egalitären Traum des Geschichtenerzählens wahrlich feindlich gegenübersteht und typisch für die mit der Verwaltung verbundenen Klassenfragmente ist, die das System in seinem rasanten Vorwärtsdrang vertreibt.

Der Plattformismus ist die einzige Strömung innerhalb des Anarchismus, die von „Macht“ spricht und ungeniert die eiserne Notwendigkeit einer vermittelnden Bürokratie rechtfertigt. Die spanische Version ist light und postmoderner, wie es in ihrem coolen Lexikon12 zum Ausdruck kommt, und ihr Avantgardismus ist besser in einem „Netzwerk von Militanten“ und einem flexiblen „Fahrplan“ (A.d.Ü., auch Marschplan) getarnt. Wie seine Mentoren betrachtet Apoyo Mutuo die Desorganisation als das schlimmste aller Übel und die Spontanisten als den großen Feind. Alle anderen Überlegungen außer Acht lassend, sind alle Übel im Lande auf mangelnde Organisation zurückzuführen, und schlimmer noch, auf das Fehlen eines „gemeinsamen Programms“, das ein „gemeinsames Handeln“ verhindert. Es ist notwendig, „der organisatorischen Zersplitterung ein Ende zu setzen“ und dank einer ausgeklügelten Trennung zwischen Teilzielen und Endzielen „die Strategien und Taktiken zu entwickeln, die für angemessen erachtet werden“, was sich in reformistischen und kämpferischen Praktiken gewerkschaftlicher/syndikalistischer, kommunaler, assoziierter oder parainstitutioneller Art niederschlagen wird. Apoyo Mutuo postuliert die Notwendigkeit einer führenden Bürokratie, die er als „organisiertes Volk“ bezeichnet, um die „Volksmacht“ zu verwalten. Sie hat in den anarchistischen Galionsfiguren, die die Revolution während des letzten Bürgerkriegs verraten haben, gute Lehrer gehabt; deshalb müssen sie für die Rehabilitierung der libertären Kaste sein, die auf alles verzichtet hat, nur nicht auf den Sieg ihres Verzichts. Ein notwendiger historiographischer Revisionismus für die Mythisierung einer Vergangenheit mit ihrem Elend in Verwahrung: die Partei der Wahrheit wird zur Parteiwahrheit. Das Manifest vermittelt eine klare Botschaft: die gute libertäre Sozialdemokratie ist da, um zu bleiben, und die undarstellbaren Kritiker des Organischen und die orientierungslosen Ghettobewohner sollen sich darauf einstellen: nichts außerhalb der „Organisation“, alles für sie! Nieder mit dem libertären Kommunismus! Es lebe die „ökonomische und politische Demokratie“!


1A.d.Ü., der Originaltext heißt, De la caspa en el medio libertario, was wir wortwörtlich als „Über die Schuppen im libertären Milieu“ übersetzt haben, dies wollen wir aber nicht unkommentiert lassen. Caspa bedeutet auf Spanisch „Schuppen“, es hat aber weitere Bedeutungen. Wie z.B., schäbig, von schlechten Geschmack, ekelig, abstoßend, ranzig und weitere ähnlichere Bedeutungen. Dieser Text wurde in der Ausgabe Nummer 55 von der anarchistischen Publikation Gai Dao unter dem Titel Von den Irrungen im libertären Lager, Eine Kritik der plattformistischen Bestrebungen in Spanien“ übersetzt und veröffentlicht. Die Übersetzung des Titels ist in dieser Form falsch, trotzdem großen Lob für die damalige Veröffentlichung, denn es handelt sich nicht um „Irrungen“. Deswegen haben wir in Klammern die sinngemäße Bedeutung geschrieben, aber um „Irrungen“ handelt es sich wie gesagt nicht. Wir haben diesen Text nicht von der Gai Dao übernommen, sondern nochmals selbst übersetzt, es aber mit der Übersetzung von der Gai Dao verglichen die trotzdem sehr gut war, auch einige Fehler vorkommen.

2A.d.Ü., militancia orgánica, dieser Begriff der eine klare Anspielung auf die CNT Bürokratie und deren eigenes Vokabular, sprich Idiosynkrasie, ist, ist eine Kritik an der sinnlosen Praxis die man macht, weil sie getan werden muss. Die Organisation ist alles, auch wenn dass was aus ihr vorgeht eine absolute Null ist, steht man trotzdem hinter ihr. Es handelt sich also um eine Kritik an Organisationsfetichismus, um es verständlicher zu machen ein Beispiel. Man betreibt einen Laden, soziales Zentrum, Bibliothek, usw., sei dieser der CNT, der FAU, schlicht anarchistisch und Aderweiten ist egal. Es wird mit preußischer Disziplin immer aufgemacht, aber niemand kommt, kein Mensch außerhalb des Ghettos, der eigenen Sekte benutzt den Raum. Diese Haltung nennt man im spanischen Raum als Kritik, Militanz.

3A.d.Ü., no por ser muchos reiremos más, diesen Spruch hätte man auf verschiedene Arten übersetzen können, wir präsentieren hier ein paar Alternativen: man lacht nicht deshalb mehr, weil es viele von uns gibt; nur weil wir viele sind, lachen, wir deswegen nicht häufiger.

4A.d.Ü., Teruel existe, (Teruel existiert) ist eine Partei im spanischen Staat, diese setzt sich angeblich für die Interessen die die Provinz von Teruel besiedeln, welches sich in der Autonomie (nicht gleich wie ein Bundesland, aber so würde man es hier nennen) von Aragón befindet. Teruel ist eine der Regionen in Spanien die sehr sehr dünn besiedelt sind. Daher ist der Fokus aller Regierungen, ob auf Staats-, Landes-, oder Regionalebene minimal, dass heißt keine Investitionen in Infrastrukturen, Arbeitsplätzen, usw. gibt, daher auch der Name, ein Appell oder eine Erinnerung an ihre Existenz, weil nicht nur wenige Menschen dort leben, sondern weil es dort wenige Stimmen zu hohlen gibt. Nun setzt sich diese Partei genau dafür, dass ihre Sitze im Parlament dafür ausgenutzt wird um bei entscheidenden Wahlen sie die fehlende Stimmen sind und soviel wie möglich für ihre Region rausholen können. Daher handelt es sich bei diesem Satz um einen Wortspiel, wenn die vergessene Region von Teruel existiert, dann existiert der rechte Anarchismus genauso. Anders formuliert, wenn Teruel nur noch durch die Partei existiert, dann der rechte Anarchismus auch als Partei.

5A.d.Ü., hier auf Spanisch zu lesen.

6A.d.Ü., im Originaltext wird der Begriff Pastiche, auf Deutsch ebenso, was bedeutet die im Sinne der Nachahmung des Stiles und der Ideen eines Autors.

7A.d.Ü., der Begriff der stammt aus dem polnischen Philosophen Zygmunt Baumann, dieser meint damit dass in den gegenwärtigen modernen Gesellschaften, das Leben dadurch charakterisiert ist, dass es keinen bestimmten Kurs im Leben gibt, da dieser sich in einer Gesellschaft entwickelt, in diesem Sinne flüssig, weil diese nicht lange dieselbe Form innehält. Dies ist dass was unsere Leben durch die konstante Prekarität und Ungewissheit bestimmt. So eine kurze Fassung dieses Konzeptes, welches von Baumann weitaus ausgeprägter dargestellt wird.

8A.d.Ü., Ruptur, was hier die Bedeutung von Bruch hat. Anders formuliert ein Modell des Bruchs.

10A.d.Ü., der Begriff Poder Popular (Volksmacht), sowie sein englischsprachiger Namensvetter Power to the People (Alle Macht dem Volke) können und sollten als anfängliche Rülpsen der Ideologie der Staatsbürgerschaft verstanden werden. Doch befassen wir uns nur mit erstem, in Kurzfassung besagt dieser Begriff dass das Volk und nicht das Proletariat oder die Bauern die Subjekte der sozialen Revolution sind, sondern eine dubiose und diffuse Masse die nicht nur klassenübergreifend ist, sondern durch die nationale Frage vereint. Unser Wissen nach fand der Ursprung des Konzeptes des Poder Popular und der Movimientos Popular, sowie alle andere Kombination mit dem Begriff Popular zum Schluss, in Lateinamerika in den 1950er statt. Von dort aus wurde der Begriff weltweit durch diverse Linke Parteien und Organisationen bekannt, die durch die chilenische MIR z.B., und wurde über die restliche Welt in diesem Sinne bekannt. Im spanischen Staat ein sehr weit verbreiteter Begriff unter reformistischen und konterrevolutionären Gruppen. Im deutschsprachigen Raum verwenden die Lakaien des Plattformismus, sowie andere Verfechter dieses Begriffes, in der Regel stalinistische Sekten Couleur, nicht diesen Begriff, sondern einen für den deutschsprachigen Raum abgeänderten, hier redet man über Gegenmacht.

11A.d.Ü., als Linkstum, auf Spanisch Izquierdismo werden alle Ideologien der Linken des Kapitals gemeint.

12A.d.Ü., auf Spanisch wird der Begriff buenrollista verwendet, abgeleitet vom Spruch buen rollo. Dieser steht für gute Laune, cool sein, gut drauf, usw. aber es bedeutet im diesen Sinne auch komplett unfähig für jede Art von Konflikt zu sein. Eigentlich sowas wie ein Hippie zu sein.

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Die libertäre Kritik an der Linken des Kapitalismus https://panopticon.blackblogs.org/2022/06/06/die-libertare-kritik-an-der-linken-des-kapitalismus/ Mon, 06 Jun 2022 08:28:01 +0000 https://panopticon.noblogs.org/?p=2660 Continue reading ]]> Zu der Textreihe und Auseinandersetzung zum Thema der Linken des Kapitals und warum jegliche revolutionäre Bewegung nicht in den Links/Rechts Schemata passt, warum wir als Anarchisten und Anarchistinnen gegen alle Fraktionen des Kapitals kämpfen, ganz voran jene die sich als radikal und revolutionär bezeichnen, hier ein weiterer Text dazu, wenn auch nicht der beste, geben wir gerne zu, der aber einige wichtige Punkte hervorhebt, vor allem in Dato der Debatte der Figur des Staatsbürgers (Citizenship, Ciudadanismo, etc.).

Miquel Amorós

Die libertäre Kritik an der Linken des Kapitalismus

Vortrag in der Cimade, Béziers (Frankreich), 29. Januar 2016.

Das Kapital hat die Welt proletarisiert und gleichzeitig die Klassen sichtbar unterdrückt. Wenn die Antagonismen integriert sind, wenn es keinen Klassenkampf gibt, dann gibt es auch keine Klassen. Und es gibt keine Gewerkschaften/Syndikate im eigentlichen Sinne des Begriffes. Wenn nämlich der Skandal der sozialen Trennung zwischen Habenden und Habenichtsen, zwischen Herrschenden und Beherrschten, zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten nicht mehr die Hauptquelle des Konflikts ist und die Kämpfe innerhalb des Systems stattfinden, ohne es in Frage zu stellen, gibt es keine Klassen im Kampf, sondern treibende Massen. Die Gewerkschaften/Syndikate, das Skelett einer aufgelösten Klasse, verfolgen ein anderes Ziel: die Aufrechterhaltung der Fiktion eines Arbeitsmarktes. Der Arbeiter ist die Grundlage des Kapitals, nicht seine Negation. Dieser übernimmt jede Tätigkeit und sein Prinzip strukturiert die gesamte Gesellschaft: Er verwirklicht die Arbeit, er verwandelt die Welt in eine Welt der Arbeiter. Das Ende einer separaten Arbeiterklasse, die außerhalb des Kapitals steht und sich diesem entgegenstellt, sowie die Verallgemeinerung der Lohnarbeit. Im Inneren gibt es nur eine lohnabhängige Masse, die allerdings nicht einheitlich, sondern fragmentiert ist: Jedes Fragment nimmt eine Stufe in der sozialen Hierarchie im Verhältnis zu seinem Kaufkraftniveau ein. Draußen: eine ausgegrenzte und vertriebene Masse, die um ihre Wiedereingliederung kämpft. Jede Schicht wird durch ihre Konsumkapazität definiert. Die Mittelschichten (middle class), das quantitative Ergebnis der Verschleierung sozialer Antagonismen, werden unter Umgehung der ehemaligen petite Bourgeoisie durch die mit unproduktiver Arbeit verbundenen Schichten qualifizierter Lohnempfänger verstärkt. Sie wurden mit der Rationalisierung und Bürokratisierung des kapitalistischen Systems geboren, um sich dank der fortschreitenden Tertiarisierung der Ökonomie (und der Technologie, die dies ermöglichte) zu entwickeln. Sie existieren als eine Ansammlung von Führungskräften, Angestellten und Beamten inmitten einer Marktgesellschaft. Wenn die Ökonomie funktioniert, sind sie alle Pragmatiker, dann Anhänger en bloc der etablierten Ordnung, d.h. der Parteitokratie. Als Parteitokratie bezeichnen wir das politische Regime, das in der Regel vom Kapitalismus übernommen wird. Es ist die autoritäre Herrschaft der Parteiführungen (ohne Gewaltenteilung), die moderne Form einer Oligarchie, die die Bildung einer autonomen Bürokratie mit eigenen Interessen und Klientel mit sich bringt, die die Politik zu ihrem Modus vivendi gemacht hat. Mehr noch als die Bourgeoisie sehen die Mittelschichten den Staat als Vermittler zwischen der Marktvernunft und der Zivilgesellschaft, oder besser gesagt, zwischen privaten Interessen und ihren privaten Interessen, die als öffentlich dargestellt werden. Und gerade die Trennung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten führte zur Entstehung der administrativ-politischen Bürokratie, die ein wesentlicher Bestandteil des Mittelstandes ist. Der parteikratische Staat bestimmt in gewisser Weise seine private Existenz. Unter günstigen Bedingungen, die eine konsumorientierte Lebensweise ermöglichen, sind diese Klassen nicht politisiert; es ist die Krise des so genannten Wohlfahrtsstaates, die ihre Politisierung bestimmt. Die aus der Krise hervorgegangenen Parteien sprechen dann im Namen der gesamten Gesellschaft und werden als deren authentischste Vertretung angesehen.

Wir befinden uns in einer Krise, die nicht nur ökonomischer, sondern umfassender Natur ist: Es ist die Krise des Kapitalismus. Sie manifestiert sich sowohl auf struktureller Ebene in der Unmöglichkeit eines ausreichenden Wachstums als auch auf territorialer Ebene in den zerstörerischen Auswirkungen einer generalisierten Industrialisierung. Die Folgen sind die Vervielfachung von Ungleichheiten, Ausgrenzung, Umweltverschmutzung, Klimawandel, Austeritätspolitik und verstärkte soziale Kontrolle. In der Phase der Globalisierung (in der es keine Arbeiterklasse mehr gibt) kommt es zu einer sehr sichtbaren Trennung zwischen den Profis der Politik und den Massen, die darunter leiden. Der Abstand wiegt schwerer, wenn die Krise die Mittelschichten, die unterwürfige Basis der Parteitokratie, erreicht und verarmt. Die Krise, die nur unter ihrem politischen Aspekt betrachtet wird, ist eine Krise des traditionellen Parteiensystems und natürlich auch des Zweiparteiensystems. Korruption, Vetternwirtschaft, Amtspflichtverletzungen/Rechtsbeugungen, Verschwendung und Veruntreuung öffentlicher Gelder werden erst dann zum Skandal, wenn Arbeitslosigkeit, Sparmaßnahmen, Lohnkürzungen und Steuererhöhungen diese Schichten erreichen. Dann reichen die alten Parteien nicht mehr aus, um die Stabilität der Parteiokratie zu gewährleisten. In den südeuropäischen Ländern spiegelt die Ideologie der Staatsbürgerschaft1 perfekt ihre abweisende Reaktion wider. Im Gegensatz zum alten Proletariat, das die Frage in sozialer Weise stellte, stellt die Staatsbürgerschaft die Frage ausschließlich in politischer Weise. Daher müssen sie auf die herrschende Sprache, dass der Herrschaft, zurückgreifen, wobei sie vorzugsweise das fortschrittliche und demokratische Vokabular verwenden, das ihrem geistigen Universum am besten entspricht. Die staatsbürgerlichen Parteien sprechen im Namen einer universellen Klasse, die nicht das Proletariat, sondern die Staatsbürgerschaft ist und deren Aufgabe nur darin besteht, eine Demokratie zu korrigieren die von schlechter Qualität ist. Sie betrachten die Demokratie, d.h. das parlamentarische Parteiensystem, als ein kategorisches Imperativ. Die Staatsbürgerschaft ist ein legitimierender Demokratismus, der den bourgeoisen Liberalismus von gestern Klischee für Klischee reproduziert und mit viel verbaler Prahlerei versucht, ihn nach links zu schieben. Vergessen wir nicht, dass ein großer Teil der Gründungsmitglieder der neuen Parteien aus dem Stalinismus und der Linken stammt, für die die neuen demokratischen Werte nichts anderes sind als die Umwandlung alter Avantgarde-Lieder, die wirklich den Geist aufgegeben haben. Formal gesehen befindet sie sich also auf der linken Seite des Systems. Sie ist die Linke des Kapitalismus.

Die meisten der neuen Parteien und Bündnisse, die hauptsächlich von Lehrern und Anwälten angeführt werden, die sich von der Umkehrung der konventionellen lateinamerikanischen Linken inspirieren lassen oder, anders gesagt, die Institutionen als Schlüsselarena für einen befreienden Wandel identifizieren, versuchen in Wirklichkeit, eine schlechte bürokratische Kaste durch eine gute zu ersetzen, indem sie gemäßigte Wähler auf der linken oder rechten Seite zurückgewinnen, was dem europäischen Neostalinismus und der Linken immer misslungen ist. Sie streben die Rolle einer neuen Sozialdemokratie an, die entweder konstitutionalistisch oder separatistisch ist2. Die staatsbürgerliche Revolution beginnt und endet an der Wahlurne, so dass Wahl-, Rechts- oder Verfassungsreformen (die Transformation des Regimes von 1978) von den Ergebnissen und den parlamentarischen Kombinationen abhängen. Es gilt, neue politische Mehrheiten zu finden oder, wie man sagt, die Regierbarkeit zu sichern, denn niemand will einen sozialen Bruch, selbst um den Preis, ihn durch einen nationalen Bruch abzuwenden. Die Demobilisierung, der Opportunismus und die rasche Bürokratisierung, die auf die verschiedenen Kampagnen folgten, zeigen dies: Aus den Agitatoren von einst werden schnell verantwortliche Verwalter. Die Linke des Kapitals hat erkannt, dass der Staat für den Kapitalismus unverzichtbar ist und dass diese Abhängigkeit in Zeiten ökonomischer Expansion eine Sozialpolitik ermöglicht: vom Neo-Keynesianismus bis hin zu neoliberalen Praktiken, die staatliche Unterstützung erfordern. Wir stehen vor der Renaissance des Nationalstaates: ein Sozialstaat, der im Rahmen eines Europas der Märkte vorgibt, souverän zu sein. Die Verteidigung des Staates ist die oberste Priorität der Staatsbürgerschaft, daher ihre Strategie der Erstürmung der Institutionen, ein lächerlicher Ersatz für die leninistische Machtergreifung, die sich vor allem auf konformistische, von den üblichen Parteien enttäuschte Wähler und subsidiär auf manipulierte soziale Bewegungen stützt. Auch wenn die Krise nicht überwunden werden kann, da es sich nach Ansicht der Experten um eine „Depression von langer Dauer und globaler Tragweite“ handelt, will der Wiederaufbau des Staates als Helfer und Vermittler zeigen, dass es möglich ist, von links für die Märkte zu arbeiten.

Kurz gesagt, es geht nicht darum, die Gesellschaft zu verändern, sondern darum, den Kapitalismus – innerhalb oder außerhalb der Eurozone – mit den geringstmöglichen Kosten und Repressionen für die Mittelschichten zu verwalten. Aufzeigen, dass ein alternativer Weg der kapitalistischen Akkumulation möglich ist und dass die Rettung der Menschen genauso wichtig ist wie die Rettung der Banken, d.h. dass die Opferung dieser Klassen nicht nur notwendig ist, sondern dass es ohne sie keine Entwicklung und Globalisierung geben wird. Das Ziel ist die Steigerung des Konsums der Bevölkerung, nicht die Umgestaltung der Produktions- und Finanzstruktur. Daher wird an Effizienz und Realismus appelliert, nicht an abrupte Veränderungen und Revolutionen. Dialog, Abstimmung und Pakte sind die Waffen der Staatsbürger, nicht Mobilisierungen oder Generalstreiks. Direkter Dialog mit der Macht, virtueller Dialog mit den bereits erwähnten „Menschen“. Die Mittelschicht ist vor allem eine gewaltlose und informatisierte Klasse: Ihre Identität wird durch Angst und das Netz bestimmt. In ihrem reinen Zustand, d.h. unbeeinflusst von Schichten, die für Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit durchlässiger sind, wie verschuldete Bauern, deklassierte Arbeiter und der Lumpenpöbel, wollen sie nichts anderes als eine ruhige und langsame Veränderung in dieselbe Richtung von innen heraus. Andererseits müssen sich die Staatsbürgerparteien in diesen Zeiten der ökonomischen Umstellung/Umstrukturierung, des Extraktivismus und der Austerität mit symbolischen institutionellen Handlungen begnügen, da ihre Fähigkeit, soziale Probleme zu lösen, sehr begrenzt ist. Sie sind abhängig von der globalen Situation, vom Markt, und dieser ist nicht vorteilhaft für sie und wird es wahrscheinlich auch in Zukunft nicht sein. Kurz gesagt, ihre Position vor den Kameras muss ihre Erfolglosigkeit verbergen, je länger desto besser, in der Erwartung oder besser gesagt in der Angst, dass sich andere Kräfte bilden, die mehr in die eine Richtung (ein viel härterer Totalitarismus) oder in eine andere Richtung (Revolution) gehen.

Der Kapitalismus ist im Niedergang begriffen, aber sein Niedergang wird nicht überall in gleicher Weise wahrgenommen. Es wurde nicht berücksichtigt, dass die Krise vielfältig ist: finanziell, demografisch, urban, ökologisch und sozial. Es wird auch nicht berücksichtigt, dass die Kriege in den Peripherien durch die kapitalistische Globalisierung verursacht werden. In Südeuropa wird die Krise als eine ökonomische Bedrohung und als ein politisches Problem interpretiert. Im Norden wird sie eher als muslimische Invasion und terroristische Bedrohung, d.h. als Grenz- und Sicherheitsproblem gesehen. Es hängt alles von der Hautfarbe, der Nationalität und der Religion der armen Arbeiter ab. Die internationale Arbeitsteilung führt dazu, dass sich die Finanzaktivitäten auf den Norden konzentrieren und der Süden zu einem großen Wohn- und Tourismusgebiet degradiert wird. Deshalb ist der Süden mehrheitlich pro-europäisch und gegen Austerität, während der Norden das Gegenteil ist. Die mesokratische Reaktion ist widersprüchlich, da einerseits die Illusion von Reformen und Offenheit vorherrscht, andererseits aber die blasenindustrielle Lebensweise und die Notwendigkeit einer absoluten Kontrolle der Bevölkerung durchgesetzt wird, was einen Ausnahmezustand „zur Verteidigung der Demokratie“ bedeutet. Dieselben Klassen wählen an einem Ort die Staatsbürgerschaft und an einem anderen die extreme Rechte. Die Libertären müssen diesen Zustand anprangern, indem sie versuchen, autonome Protestbewegungen auf dem zu verteidigenden sozialen und alltäglichen Terrain aufzubauen. Die Stimmenthaltung ist ein erster Schritt zur Abspaltung vom System. Die politische Perspektive kann durch einen radikalen Wandel – oder vielmehr eine Rückkehr zu den Anfängen – in der Art zu handeln und zu leben überwunden werden, indem man sich auf die außermarktlichen Beziehungen stützt, die der Kapitalismus nicht zerstören konnte oder deren Erinnerung er nicht ausgelöscht hat. Die Kritik des postmodernen bourgeoisen Weltbildes ist dringender denn je, denn es ist undenkbar, dem Kapitalismus mit einem Bewusstsein zu entkommen, das von den Werten seiner Herrschaft kolonisiert ist. Die notwendige Dekulturation (Deentfremdung), die alle Schrank-Identitäten zerstört, die uns das System anbietet, muss den Parlamentarismus, den Staat, die Idee des Fortschritts, den Entwicklungsprozess3, das Spektakel ernsthaft in Frage stellen… aber nicht, um „antifaschistische“ Versionen von all dem anzubieten. Es geht auch nicht darum, eine einzige Theorie mit Antworten und Formeln für alles zu entwickeln, eine Art modernen Professorensozialismus, oder eine Entelechie (starkes Volk, proletarische Klasse, Nation) zu schmieden, die ein erzmilitantes und avantgardistisches Organisationsmodell rechtfertigt, oder buchstäblich in die Vergangenheit zurückzukehren, sondern, so betonen wir, es geht darum, aus dem geistigen und materiellen Universum des Kapitalismus herauszutreten, indem man sich vom historischen Beispiel nicht-kapitalistischer geselliger Erfahrungen inspirieren lässt. Revolutionäre Arbeit hat viel mit Restaurierung zu tun.

Es stimmt, dass die antikapitalistischen Kämpfe noch schwach sind und oft rekuperiert werden, aber wenn sie standhaft bleiben und über die lokale Ebene hinausgehen, können sie sich weit genug ausbreiten, um die institutionelle Art und Weise zusammen mit der sklavischen Lebensweise, die sie stützt, zu stürzen. Die Krise ist immer noch nur eine halbe Krise. Das System ist an seine internen Grenzen gestoßen ( ökonomische Stagnation, Kreditbeschränkungen, unzureichende Akkumulation, sinkende Profitrate), aber nicht genug an seine externen Grenzen (Energie, Ökologie, Kultur, Soziales). Was wir brauchen, ist eine tiefere Krise, die die Dynamik des Zerfalls beschleunigt, das System unrentabel macht und neue Kräfte antreibt, die in der Lage sind, das soziale Gefüge auf geschwisterliche Weise nach nicht-marktökonomischen Regeln neu zu gestalten (wie in Griechenland) und eine wirksame Verteidigung zu artikulieren (wie in Rojava). Die Krise selbst führt jedoch zum Ruin und nicht zur Befreiung, es sei denn, die Ausgrenzung erfolgt in Würde und die Kräfte konzentrieren sich ausreichend außerhalb der Institutionen. Die gegenwärtige Strategie der Revolution (die Nutzung von Ausgrenzung und Kämpfen für ein höheres Ziel) muss – sowohl im täglichen Aufbau von Alternativen als auch im täglichen Kampf – auf die Aushöhlung jeglicher institutioneller Autorität, die Verschärfung der Gegensätze und die Bildung einer verwurzelten, autonomen, bewussten und kämpferischen Gemeinschaft abzielen, die ihre Verteidigungsmittel bereithält.

Libertäre wollen nicht in einem unmenschlichen Kapitalismus mit demokratischem Anstrich überleben und noch weniger in einer Diktatur im Namen der Freiheit. Sie verfolgen keine anderen Ziele als die der rebellischen Massen, daher sollten sie sich weder in noch außerhalb von Kämpfen organisieren. Sie erkennen als Grundprinzip der Gesellschaft weder einen Gesellschaftsvertrag noch den Kampf aller gegen alle an, noch gründen sie sie auf Tradition, Fortschritt, Religion, Nation oder Natur. Der libertäre Kommunismus ist ein soziales System, das sich durch gemeinschaftliches Eigentum auszeichnet und durch Solidarität oder gegenseitige Hilfe als wesentlichen Zusammenhang strukturiert ist. Hier verliert die Arbeit – kollektiv oder individuell – niemals ihre natürliche Form zugunsten einer abstrakten und phantomhaften Form. Technologien werden so lange akzeptiert, wie sie das egalitäre und solidarische Funktionieren der Gesellschaft nicht beeinträchtigen. Stabilität kommt vor Wachstum und territoriales Gleichgewicht vor Produktion. Die Beziehungen zwischen den Individuen sind immer direkt und nicht durch Waren vermittelt, so dass alle Institutionen, die sich aus ihnen ableiten, gleichermaßen direkt sind, sowohl in Bezug auf die Form als auch den Inhalt. Institutionen gehen von der Gesellschaft aus und sind nicht von ihr getrennt. Es ist Zeit für eine neue historische Gesellschaft, frei von entfremdenden Vermittlungen und Fesseln, ohne darüber schwebende Institutionen, ohne Arbeitsmarkt, ohne Markt und ohne Lohnabhängige. Das Proletariat gibt es im Kapitalismus nur aufgrund der Trennung zwischen manueller und intellektueller Arbeit. Das Gleiche gilt für die Ballungsräume, die das Ergebnis der absurden Trennung zwischen Stadt und Land sind. Eine selbstverwaltete Gesellschaft braucht keine Angestellten und Beamten, weil das Öffentliche nicht vom Privaten getrennt ist. Sie muss die Komplikationen beiseite lassen und sich selbst vereinfachen. Eine freie Gesellschaft ist eine geschwisterliche, horizontale und ausgewogene Gesellschaft, die entstaatlicht, entindustrialisiert, enturbanisiert und antipatriarchalisch ist. In ihr gewinnt das Territorium seine verlorene Bedeutung zurück, denn im Gegensatz zur heutigen Gesellschaft wird es eine Gesellschaft mit Wurzeln sein.


1A.d.Ü., es ist die Rede über ciudadanismo, eine Ideologie die denGlaube, dass die Demokratie in der Lage ist, dem Kapitalismus etwas entgegenzusetzen“ verbreitet, mehr dazu „Staatsbürgerschaft“ Ad-hoc-Ideologie der verallgemeinerten Bourgeoisie.

2A.d.Ü., was der Autor hier meint sind jene politischen Kräfte im spanischen Staat die entweder an diesen halten, oder die Unabhängigkeit einer Region, Land vom spanischen Staat anstreben, wie der Fall der Baskischen Länder (Euskal Herria), der Katalanischen Ländern (Països Catalans), Galizien und weitere.

3A.d.Ü., hier ist die Rede über desarrollismo, einer Ideologie die die ewige ökonomische Entwicklung/Aufschwung verfolgt, was in einer Welt mit endlichen Ressourcen unmöglich ist. Die Kritik gewisser reformistischer Strömungen nennt man daher anti-desarrollismo, die eine ökonomische Entwicklung verfolgt, die nicht stetig wächst, aber nicht das Problem der Ökonomie als solche angreift, oder diese in Frage stellt.

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(Spanien) Die neue Anomalie. Ein sanfter Staatsstreich https://panopticon.blackblogs.org/2020/11/23/spanien-die-neue-anomalie-ein-sanfter-staatsstreich/ Mon, 23 Nov 2020 11:44:55 +0000 http://panopticon.blackblogs.org/?p=1904 Continue reading ]]> Gefunden auf Panfletos Subversivos, die Übersetzung ist von uns

Die neue Anomalie. Ein sanfter Staatsstreich

Regieren durch Angst in Krisenzeiten

Miguel Amoros
12. November 2020
Spanien

Die Katastrophe ist nicht nur das Unglücksversprechen der industriellen Zivilisation, sie ist bereits unsere unmittelbare Gegenwart. Dies wird durch die Beunruhigung der Experten über die von den vier Winden angekündigte Möglichkeit eines Zusammenbruchs des Gesundheitssystems bestätigt. Indem sie das Ende des vorherigen Ausnahmezustands verordneten, versuchten die Machthaber, eine Verschärfung der Wirtschaftskrise zu verhindern. Die Eile, die Wirtschaft aus der Enge zu holen, hat jedoch zum Gegenteil geführt: Die Virusausbrüche ließen nicht lange auf sich warten, zumindest sagen das die Statistiken aus interessierten wissenschaftlichen Studien. Wie die Mittel der Desinformation vermuten lassen, hätte das effektive Management der Pandemie nicht katastrophaler sein können, denn eine Konsumgesellschaft ist zwar nicht in der Lage, mit einer halb gelähmten Wirtschaft zu überleben, aber sie kann die Verbraucher auch nicht im Regen stehen lassen. Ihr Grad der Verfügbarkeit für Arbeit und Ausgaben, mit anderen Worten, das, was gewöhnlich als Gesundheit bezeichnet wird, muss zufriedenstellend sein. Deutlicher gesagt: Weil sie bei der sozialen Kontrolle keinen ausreichenden Sprung nach vorn machten, waren die Führer gezwungen, einen Schritt zurückzutreten und einen neuen Ausnahmezustand auszurufen, um die früheren Disziplinarbestimmungen auszunutzen, die mit nutzlosen Einschränkungen für „nicht wesentliche Aktivitäten“, Ausgangssperren und Einsperrungen à la carte vorbereitet worden waren. Es ist nicht sicher, dass wir es mit einer „zweiten Welle“ zu tun haben, aber sicher ist, dass wir vor einem echten Staatsstreich stehen. Ausnahmsweise wird ein zweites Kapitel bei der Errichtung einer auf Dauer angelegten Gesundheitsdiktatur aufgeschlagen. Der Entwicklungsvogel brütet mit Hilfe des Medienvirus das Ei der Tyrannei aus.In Wahrheit stellen die Lebensbedingungen in der Gesellschaft des unendlichen Wachstums eine ernsthafte Bedrohung für die Gesundheit der Nachbarschaft dar, aber die Führer und ihre Berater schlagen keine technischen Lösungen vor, die den herrschenden Interessen nicht zuwiderlaufen. Das Problem ist, dass diese widersprüchlich sind. Es gibt einen Machtkonflikt und einen Konflikt in ihnen. Angesichts der kommenden Krisen, die der Interessenkonflikt hervorruft, werden die Machtstrukturen weltweit neu konfiguriert. Staaten, Kapitalismus und Techno-Wissenschaft – die Megamaschine – artikulieren sich wieder mit absehbaren schlechten Folgen für die Bevölkerung, von der ein wachsender Teil bereits jetzt für das System nutzlos ist. Es geht darum, Überschüsse technisch zu verwalten, entweder durch Kriege oder durch ansteckende Krankheiten. Wenn das, was verfolgt wird, bedingungsloser Gehorsam, Furcht und in ernsten Fällen Terror ist, ist es das notwendige Werkzeug der Regierung. Im konkreten Fall der Pandemie würde alles darin bestehen, die Gesundheit mit der Wirtschaft in Einklang zu bringen und letztere in eine Gelegenheit zur Technisierung und Entwicklung zu verwandeln. Das teure öffentliche Gesundheitssystem würde so belassen, wie es ist, d.h. halb abgebaut. Teure Medikamente und Wunderimpfstoffe wären das erste Ziel der pharmazeutischen Industrie, der korruptesten und natürlich auch der Regierungen. Begleitet von prophylaktischen Maßnahmen wie Händewaschen, Ellbogengruß, Zahlung per Karte, Maske, Distanz, Belüftung, Schweigen und bald auch einer Immunitätskarte würden sie einer allgemeinen Kontrolle weichen. Aber damit die Bevölkerung den Rat des Arzneibuchs des Spektakels befolgt, ist eine unterwürfige Unterwerfung dringend geboten, und da liegt das Problem: Niemand ändert seine sozialen Gewohnheiten aufgrund der sinnlosen Isolation freudig, egal wie sehr die Behörden es anordnen. Vermeintlich alarmierende Situationen erfordern höhere Dosen von Katastrophen und einen umfangreichen Polizeieinsatz. Herrschaft muss zuerst auf Angst und dann, wenn das nicht bei allen funktioniert, auf Gewalt zurückgreifen. Politisch bedeutet dies die Unterdrückung der demokratischen Erscheinungsformen des Parlamentarismus zugunsten des für Diktaturen typischen Autoritarismus, dessen Wirksamkeit nun von der absoluten digitalen Kontrolle abhängt. Die Unterdrückung der in den Verfassungen garantierten formellen Freiheiten (Freizügigkeit, Versammlungs-, Demonstrations-, Aufenthalts- und ärztliche Verschreibungsfreiheit usw.), die „Verfolgung“, die Geldstrafen und die Förderung der Denunziation haben nämlich sehr wenig mit dem Recht auf Gesundheit und viel mit der Umgestaltung der Macht zu tun, der der Vertrauensverlust der Regierten nicht fremd ist, die sich angesichts der Doppelzüngigkeit, der Unfähigkeit und der Verantwortungslosigkeit der Machthaber unverfroren in Ungehorsam üben. Und da die so genannte Volkssouveränität, in der die Globalisierung herrscht, nicht wirklich beim Volk liegt, das als irrationale Wesen betrachtet wird, die neutralisiert werden müssen, sondern beim Staat, der der treue Vollstrecker der Entwürfe der Hochfinanz ist, ist Despotismus die natürliche Antwort der Macht auf den Legitimitätsverlust. Indem der Staat durch Ad-hoc-Dekrete von fragwürdiger Legalität die Staatsführung vom Gesetz trennt, fordert er den Tribut einer angeblichen Krise, die er zugegebenermaßen nicht heraufbeschwören konnte, die er aber auf das „unzivilisierte Verhalten“ bestimmter Bereiche, vor allem junger Menschen, zurückführt. Wenn es keinen Widerstand gegen einen solchen Missbrauch gäbe, wäre das gesellschaftliche Leben am Ende auf den virtuellen Raum beschränkt und das einzige, was demokratisch bliebe, wäre die Ansteckung.

Vaneigems letztes Buch beginnt: „Von den dunklen Tagen, die die Nacht der Zeiten erhellten, war es nur eine Frage des Sterbens. Von nun an ist es eine Frage des Lebens. Wer am Ende lebt, baut die Welt wieder auf“. Im wahrsten Sinne des Wortes drängt die Situation zu einer kollektiven Reaktion gegen Privatisierung, Künstlichung und Bürokratisierung zur Verteidigung des Lebens, die eng mit der Verteidigung der Freiheit verbunden ist. Was den einen tötet (den Staat, das Kapital), tötet den anderen, also beginnt eine solche Verteidigung mit dem zivilen Ungehorsam gegenüber dem Diktat beider. Sie sind die eigentliche Gefahr, und nicht das Virus. Die ungehorsame Reaktion gegen alle Zumutungen stellt in dieser Zeit die Achse des sozialen Kampfes dar, aber Ungehorsam reicht nicht aus: angesichts der von der Macht geschürten Verwirrung muss die Wahrheit gerechtfertigt werden. Es muss um jeden Preis vermieden werden, dass der Protest durch die Halluzinationen von Verschwörung und Leugnung diskreditiert wird. Die Risse, die im wissenschaftlichen Konsens auftreten, können dazu beitragen. In Bezug auf die Pandemie rät die erste Regel der Selbstverteidigung dazu, eine hygienische Distanz zum Staat zu wahren und zur Selbstverwaltung des Gesundheitssystems überzugehen. Das Coronavirus, die Waffe des Staates, könnte auch gegen ihn eingesetzt werden. Die öffentliche Gesundheitsfürsorge ist nicht im Interesse, weil sie vom Staat und seinen autonomen Zweigen abhängt, sondern ein Gesundheitssystem in den Händen von Gruppen, die aus Gesundheitspersonal, Nutzern und Kranken bestehen. Es geht weniger darum, alternative Kliniken in der Umlaufbahn der Sozialwirtschaft zu schaffen – eine Option, die auch nicht verworfen werden kann -, als vielmehr darum, dem Staat die Verwaltung einer Medizin zu entziehen, die in menschlichem Maßstab, d.h. dezentral und eng, gewollt ist. Nichts wird möglich sein ohne anhaltende Wutausbrüche, die ungehorsame Massen in Bewegung setzen, die von der ungeschickten Manipulation der Behörden und ihrer dummen Gefangenschaft/Einsperung die Nase voll haben. Es ist besser, sich den Folgen ihres Ungehorsams zu stellen, als unter der Fuchtel ignoranter Führungskräfte und betrügerischer Technokraten zu leben. In einer Welt, die von toter Arbeit bestimmt und von einer medieninduzierten Psychose verschlungen wird, sollen sich immer mehr geistig gesunde Menschen auf die Seite der Natur, der Freiheit, der Wahrheit und des Lebens stellen.

Die Börse oder das Leben! Oder das wirtschaftliche und gesundheitliche Chaos oder das Ende der Herrschaft. Oder die trügerischen Annehmlichkeiten, die durch eine tödliche Wirtschaft oder das Abenteuer einer souveränen Existenz zunehmend eingeengt werden, das ist die Frage. Die bewussten Proteste des täglichen Lebens müssen als Horizont eine entwicklungsfeindliche, nicht patriarchalische Welt haben, ohne Umweltverschmutzung, ohne industrielle Nahrungsmittel, ohne Fabrikfreizeit, ohne Müll, ent-globalisiert und entartet. Wenn wir aufhören, wieder über Gesundheit nachzudenken, sollten wir uns daran erinnern, dass Viren, um sich ausbreiten zu können, eine große, dichte Bevölkerung in ständiger Bewegung benötigen. Auf der anderen Seite leiden kleine und ruhige Gruppen nicht an epidemischen Krankheiten. Überbevölkerung und Hyperaktivität fördern die Übertragung – Bedingungen, die in den Metropolen optimal vorhanden sind – sowie Massenbewegungen aufgrund von Hungersnöten, Krieg und Tourismus. Umso mehr muss die Welt wieder aufgebaut werden, damit sie ein Aggregat friedlicher, meist ländlicher, demotorisierter, enturbanisierter und entmilitarisierter Kommunen wird.

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(Spanien) Vorsicht vor staatlichem Umweltschutz! https://panopticon.blackblogs.org/2020/11/18/spanien-vorsicht-vor-staatlichem-umweltschutz/ Wed, 18 Nov 2020 21:13:36 +0000 http://panopticon.blackblogs.org/?p=1899 Continue reading ]]> Hier ein Text zur der sogenannten „Kollapsdebatte“, die besagt, dass wir vor einem, oder mitten in einem, ökologischen Kollaps, durch das Kapital verursacht, stecken. Diese Debatte die in anderen Ländern unter Anarchisten, Anarchistinnen und anderen Revolutionären sehr stark geführt wird, ist den meisten Anarchisten und Anarchistinnen im deutschsprachigen Raum sehr unbekannt, um dies ein Ende zu setzen, werden wir zu diesem Thema auch eine Textreihe eröffnen, wo aus verschiedenen anarchistischen Positionen diese Thematik debattiert und kritisiert wurde. Hier jetzt ein Text von Miguel Amorós, gefunden auf a las barricadas.

Vorsicht vor staatlichem Umweltschutz!

Wir leben in einer Welt, die nicht funktioniert, die eindeutig im Niedergang begriffen ist, die sinkt, wie die direkt nachprüfbaren Degradationssymptome zu zeigen scheinen, von der Störung des Klimas bis hin zu Hungersnöten und neu auftretenden Pathologien, von der weit verbreiteten Umweltverschmutzung und der grassierenden Entwaldung bis hin zur wachsenden sozialen Ungleichheit, von der Ausbreitung der religiösen und nationalistischen emotionalen Plage bis hin zu Kriegen um die Kontrolle der immer knapper werdenden Ressourcen. Es handelt sich also nicht um eine einfache Krise, sondern um eine ökologische und soziale Katastrophe, die den Anschein der Normalität mit sich trägt, das sie seit Jahren stattfindet. Tatsächlich hat sich die Weltwirtschaft, die letzte Stufe der kapitalistischen Zivilisation, als eine große zerstörerische Kraft erwiesen, die in der Lage ist, die Lebenszyklen der Natur irreversibel zu verändern, die Gesellschaft zu ruinieren und sich selbst mit beidem zu zerstören. Unerhört in der Geschichte haben die wirtschaftlichen und technologischen Auswirkungen auf den sozialen Bereich übergegriffen, und die Verwüstungen haben geologische Dimensionen angenommen. Die Bedingungen für das Überleben der menschlichen Spezies verschlechtern sich zusehends. Das Neue daran ist, dass es kein Zurück gibt. Kurz gesagt, der Kapitalismus ist die Katastrophe selbst, und das Problem ist nicht, dass er zusammenbricht, was in jeder Hinsicht gut ist, sondern dass er uns alle in seinem wahnsinnigen Wettlauf zum Abgrund hinunterzieht. Die aufrichtigen Seelen, die nicht aufhören, für die Rettung des Planeten Erde, für die Erhaltung des Lebensraums der Menschheit, gegen das Aussterben der Arten zu beten, täten gut daran, darauf hinzuweisen, dass er vor dem Kapitalismus in all seinen Facetten gerettet werden muss und dass dies seine Abschaffung bedeutet, nämlich die der Ungleichheiten, der Hierarchien, der politischen Apparate, der Arbeitsteilung, des Patriarchats, der Armeen und der Staaten.Die Natur ist vollständig Teil der Wirtschaft geworden; sie ist nicht länger eine unveränderliche Umwelt, die eine sich historisch entwickelnde Gesellschaft unterstützt. Es ist „zivilisiert“ geworden. Land, Meer, Luft und Lebewesen sind reine Marktobjekte. Die Gesellschaft, natürlich kapitalistisch, eignet sich die Natur oder, wie es oft gesagt wird, die Umwelt an, so wie sie zuvor die Gesellschaft übernommen hatte. Die Natur ist nicht mehr außerhalb der Geschichte, sie ist der linearen Zeit der Massengesellschaft nicht fremd, denn die Katastrophen, die sie betreffen, haben einen sozialen Ursprung. Sie sind die Folge eines historischen Prozesses, der mit dem Aufstieg und der Konsolidierung einer Klasse verbunden ist, die ihre Macht auf die Kontrolle der Wirtschaft gründet: die Bourgeoisie. Und dieselbe historisch gewandelte Klasse ist sich bewusst geworden, dass der neue Aufschwung der Wirtschaft – ein größerer Fortschritt bei der Ausplünderung des Territoriums – von der Bewältigung der Katastrophen abhängt, die ihr Einsatz hervorgerufen hat. Der Krieg gegen die Natur geht weiter, aber versteckt unter einem scheinbaren ökologischen Frieden. Der Katastrophismus ist heute ein wichtiger Teil der herrschenden Ideologie – der bis vor kurzem optimistischen und fortschrittlichen Ideologie der herrschenden Klasse -, da Pessimismus in einer Welt, die Wasser macht, willkommener ist. Eine Katastrophe kann nicht geleugnet oder umgeleitet werden. Sie muss zugelassen werden. Der Müll wuchert, die industrialisierte Freizeitgestaltung wuchert, die Artenvielfalt geht verloren und die Unterdrückung nimmt zu. Die aktuelle Botschaft der Macht ist klar: Die Katastrophe ist real, die Gefahr eines Kollaps ist sehr plausibel, aber die Verantwortung liegt bei einer abstrakten, vermögenshungrigen, hochproduktiven und genetisch selbstzerstörerischen Menschheit. Es stellt sich heraus, dass wir alle an der Katastrophe schuldig sind, weil wir so sind, wie sie sagen, Tiere, die nur nach privatem Profit streben. Nur die Staats- und Regierungschefs können uns davon befreien, denn nur sie haben die Fähigkeit, das Wissen und die Mittel, dies zu tun, ohne das Wirtschaftswachstum zu verlangsamen oder das Finanzmodell wesentlich zu verändern. Kurz gesagt, durch die getreue Aufrechterhaltung des Status quo, ohne die politischen und sozialen Strukturen grundlegend zu beeinträchtigen.

Die Lösung der Staats- und Regierungschefs liegt in einem neuen industriellen Produktions- und Dienstleistungssystem, das die Migrationsströme kontrolliert und Hand in Hand mit „grünen“ Technologien geht, den eigentlichen Protagonisten des „Übergangs“1 von der alten umweltfreundlichen Welt mit ihren „fossilen“ Energiequellen zur neuen nachhaltigen Welt mit ihren „Vorkommen“ „erneuerbarer“ Energie. Die neue „kohlenstoffarme“ Wirtschaft kommt der alten Ölwirtschaft zu Hilfe, nicht um sie zu verdrängen, sondern um sie zu ergänzen. Beide sind Extraktivisten und Entwicklungshelfer2. Die multinationalen Konzerne leiten die ganze Operation: der Kapitalismus ist derjenige, der grün wird. Somit wird der Verbrauch fossiler Brennstoffe nicht durch die Produktion von Agrotreibstoffen und Energie aus Quellen, die nur dem Namen nach „erneuerbar“ sind, beeinflusst. Der weltweite Energieverbrauch, den die Staats- und Regierungschefs als „grün“ bezeichnen, wird niemals den Verbrauch an „fossiler“ Energie übertreffen: derzeit liegt er bei weniger als 14% des Gesamtverbrauchs. Infolgedessen werden Kernkraft-, Wärme-, Verbrennungs-, Methanisierungs-, Wasserkraft- und Wasserreservoirs ihre Präsenz verstärken, diesmal in Begleitung der Wind-, Photovoltaik-, Solarthermie- und Biomasseindustrie. Die neuen Technologien unterstützen die Ausbeutergesellschaft, sie sind von ihr genauso oder mehr abhängig als das Gegenteil. Wachstum, Entwicklung, Kapitalakkumulation oder wie immer man es nennen will, basiert heute auf der „grünen“ Wirtschaft, auf „Nachhaltigkeit“, auf „grünen“ Arbeitsplätzen, auf öko-technischen Innovationen, die die Macht konzentrieren und die Vertikalität der Entscheidungsfindung verstärken. Die Ökologie des Staates ist sein neuer Verteidiger, die professionelle Hilfs-Avantgarde der vom Parlamentarismus erleuchteten politischen Klasse, der gefräßige Konsument öffentlicher und privater Gelder, die zur Finanzierung von Projekten der systemischen Unterstützung und der Rentabilität der Marginalität bestimmt sind.

Ein solcher Umweltschutz ist fast unverzichtbar als Instrument zur Stabilisierung der vom Markt verdrängten Arbeitskräfte, aber noch wichtiger ist er als Waffe zur Verlagerung umweltverschmutzender Aktivitäten in arme Länder, deren größte Chance, Teil der Weltwirtschaft zu werden, darin besteht, zu Müllhalden zu werden. Der staatliche Umweltschutz wird zum einen durch eine Reihe ökostalinistischer Parteien vertreten, die das Ergebnis der Verwertung von Restbeständen des klassischen Stalinismus unter den Parametern der populistischen Staatsbürgerlichkeit3 sind, wie Podemos, Comunes, IU oder Equo. Dann kommen viele reformistische Kollektive und Verbände, die nicht über die „solidarische“ Marktwirtschaft, den „verantwortungsvollen“ Konsum, die Nutzung „erneuerbarer“ Energien und den „nachhaltigen“ Entwicklungsalismus hinausgehen. Ein größeres Maß an Komplizenschaft mit der Ordnung haben die patentierten Umweltschützer der großen NGOs im Stil von Green Peace, WWF, Extinction-Rebellion oder Green New Deal, die danach streben, Lobbys zu werden, und vor allem die „Übergangs“4 -Talkshows, die „Kollapssologen“5 und die Stars der Show, die von der planetarischen Verwüstung bewegt werden. Der harte Kern dieser Art von Umweltschutz besteht jedoch aus einer beachtlichen Fauna von schwachsinnigen Ankömmlingen, emporkommende Aufsteigern und ausnutzende Abenteurern, die von Institutionen, Medien, sozialen Netzwerken und Bio-Domes als Experten, Berater, Betreuer und Manager ausgebeutet und verbreitet werden. Eine sehr umfangreiche Liste ihrer Namen kann erstellt werden. Allen gemeinsam ist, dass sie für nichts und niemanden eine Bedrohung darstellen. Sie stellen nicht die grundlegenden Klischees der bürgerlichen Herrschaft – „Demokratie“, „Fortschritt“, „Rechtsstaatlichkeit“ – in Frage, sondern eher das Gegenteil. Sie wollen den Kapitalismus wirklich nicht beenden oder die Welt deindustrialisieren. Ihre Ziele sind weit weniger ehrgeizig: Die meisten werden sich damit zufrieden geben, dass einige ihrer Vorschläge in die Tagesordnungen der großen Parteien und Regierungen aufgenommen werden. Schließlich beschränkt sich ihre berufliche Arbeit darauf, Druck auf Politiker auszuüben, und nicht darauf, die Politik zu bereinigen. Sie versuchen, auf dem territorialen Markt durch konservatorische Regelungen als Vermittler zu fungieren, so wie es die Gewerkschaften auf dem Arbeitsmarkt tun.

Der Staat strukturiert oder stört die Gesellschaft im Interesse der mächtigen Privatinteressen, der Interessen der industriellen Vorherrschaft, und nicht zum Nutzen der verwalteten Massen. Es ist etwas Unbewegliches. Die Ausplünderung des Territoriums durch die wirtschaftlichen Eliten wird durch den Staat erleichtert, der sich davon ernährt, indem er seine hierarchische Struktur stärkt, die politisch-funktionale Klasse konsolidiert und die Kontrollmechanismen der Bevölkerung ausweitet. Es ist kein „grüner“ Staat möglich, denn kein Staat, der sich selbst respektiert, wird gegen seine Interessen handeln, und diese werden eher eine intensive Ausbeutung der natürlichen Ressourcen durchlaufen, als dass sie abnehmen. Die Katastrophe zu stoppen, würde die der Entwicklung bedeuten, mit schrecklichen Folgen wie der Ausrottung des Konsumismus, der Zerschlagung der Industrien, der Autobahnen und der Großverteilung, der Enturbanisierung des Raums, der Auflösung der Bürokratie, der totalen Dezentralisierung der Energie- und Nahrungsmittelproduktion, dem Ende der Arbeitsteilung usw., die alle dem Charakter des Staates als Produkt der industriellen Zivilisation zuwiderlaufen. Deshalb wird der Ökologismus des Staates es vorziehen, seine Öffentlichkeit mit kleinen oberflächlichen Gesten der Bürgerverantwortung abzulenken. Sie wird nicht über Steuern, Dekrete und Überwachungskommissionen hinausgehen; sie wird nicht über die getrennte Abfallsammlung, die Begrenzung der Geschwindigkeit auf 80 km/h, die Förderung des Radfahrens, die Förderung von Bio-Lebensmitteln, die verbrauchsarme Beleuchtung oder das Verbot bestimmter Kunststoffverpackungen hinausgehen, von denen keines einen sichtbaren Beitrag zum ökologischen Wandel oder zur Demokratisierung der Gesellschaft leisten wird. Der Staat stützt sich auf eine Bevölkerung, die infantilisiert, von der Entscheidungsfindung ausgeschlossen und entpolitisiert ist, die sich ihrem eigenen Privatleben zuwendet; der Staat wird von einer künstlichen, geschichteten, klassenbasierten Gesellschaft genährt, die in hohem Maße unausgewogen mit der Umwelt und daher nicht nachhaltig ist. Wenn eine solche Gesellschaft nie ökologisch lebensfähig sein wird, wird auch kein Staat in ihr geschmiedet werden, so sehr man dies auch wünscht. Falsche Umweltschützer verehren den Staat über alle Ursachen.

Wahre Umweltschützer sind woanders. Wahre Umweltschützer sind Anti-Entwicklungspolitiker6. Ihr Programm lehnt die vorherrschende Rolle der Technologie bei der evolutionären Ausrichtung der Gesellschaft ab, d.h. sie verurteilen die Idee des „Fortschritts“ als einen verhängnisvollen Trugschluss. Sie kritisieren und bekämpfen auch die Konzentration der Bevölkerung in den Ballungsgebieten und die Proletarisierung des Lebens ihrer Bewohner, sowohl in ihrer materiellen als auch in ihrer moralischen Dimension. Sie kämpfen gegen Entfremdung und die notwendige Konsequenz der Massifizierung. Für sie sind die industrielle Zivilisation und der Staat, der sie repräsentiert, unreformierbar und müssen mit allen Mitteln bekämpft werden, natürlich mit Mitteln, die den Zielen nicht widersprechen. Boykotte, Aufmärsche, Besetzung, Mobilisierungen usw. Die Verteidigung des Territoriums ist in Form und Inhalt antistaatlisch und antikapitalistisch. Sie suchen einen Ausweg aus dem Kapitalismus, der Demerkantilisierung7 des Territoriums und der menschlichen Beziehungen sowie der öffentlichen Verwaltung durch die Agora, d.h. die Vollversammlungen. Die ökologische Katastrophe kann nur mit einer drastischen Veränderung der Lebensweise, einer „Entfremdung“, abgewendet werden, die uns auf die Wiederherstellung des normalen Stoffwechsels zwischen Stadt und Land, die Vereinigung von geistiger und körperlicher Arbeit, die Unterdrückung der industriellen Produktion, die Abschaffung der Lohnarbeit, das Aussterben der staatstragenden Formen verweist… Die theoretische und praktische Frage, die sich stellt, ist, wie eine realistische Massenstrategie entwickelt werden kann, um die beschriebenen Ziele zu erreichen. Die Rettung des Planeten und der leidenden Menschheit wird von der Fähigkeit der unterdrückten Bevölkerung abhängen, aus ihrer Lethargie herauszukommen und sich auf den langen Weg des Widerstands zu begeben, um eine anomale Welt zu beenden und an ihrer Stelle eine wahrhaft humane Gesellschaft aufzubauen.

Miquel Amorós, 26. Februar 2019. Argumente für die Nicht-Teilnahme an einem kollabierenden Tag

1A.d.Ü., im Originaltext ist hier die Rede von Transición was auch den Übergang im spanischen Staat vom Franquismus zur Demokratie beschreibt. Dieser Begriff wird aber als eine Negation einer Veränderung, oder in diesem Falle „Übergang“ verwendet, als eine falsche Dichotomie, ein Farce und ähnlicheres.

2A.d.Ü., im Originaltext ist hier die Rede des Desarollistas was als die Personifizierung der Entwicklung/Fortschritt auf einen Menschen verstanden werden soll. In diesem Fall als Kritik an jene Personen die die Entwicklung und den Fortschritt synthetisieren.

3A.d.Ü., hier wird auf die Debatte des Ciudadanismo eingegangen, wir zitieren an dieser Stelle aus dem Text „Die Staatsbürgerliche Sackgasse. Ein Beitrag zur einer Kritik des Staatsbürgertums(-ismus, –schaft), von Alain C.“, was wir auch bald übersetzten werden:

„Unter Staatsbürgerschaft verstehen wir im Prinzip eine Ideologie, deren Hauptmerkmale sind
1) die Überzeugung, dass die Demokratie in der Lage ist, dem Kapitalismus entgegen zu treten.
2) das Projekt der Stärkung des Staates (oder der Staaten) zur Umsetzung dieser Politik.
3) die Bürger als aktive Grundlage dieser Politik.“

4A.d.Ü., siehe Fußnote Nummer Eins.

5A.d.Ü., das Suffix -logie bezeichnet eine wissenschaftliche Theorie, in diesem Falle ist es ein Neologismus, weil es sich aus Kollaps und –sologen bildet, als dem Gelehrten der Kollapstheorie.

6A.d.Ü., siehe Fußnote Nummer Zwei.

7A.d.Ü., aus der Logik des Marktes, sprich des Kapitals, weg, dass es aufhört eine Ware zu sein.

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[Covid19] Der Staat mit der Atemschutzmaske, Miguel Amorós https://panopticon.blackblogs.org/2020/04/16/covid19-der-staat-mit-der-atemschutzmaske-miguel-amoros/ Thu, 16 Apr 2020 16:28:20 +0000 http://panopticon.blogsport.eu/?p=905 Continue reading ]]> Gefunden auf panfletos subversivos, von uns übersetzt

Zu seinem großen Bedauern seit dem 7. April 2020 in seinem Haus eingesperrt.

Die gegenwärtige Krise hat einige Wendungen in der sozialen Kontrolle des Staates bedeutet. Das Wichtigste in diesem Bereich war bereits recht gut etabliert, weil die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die heute herrschen, es verlangten; die Krise hat den Prozess nur noch beschleunigt. Wir nehmen gewaltsam als eine Masse von Manövern an einer Generalprobe teil, um die herrschende Ordnung angesichts einer globalen Bedrohung zu verteidigen. Das Coronavirus 19 war der Grund für die Wiederaufrüstung der Herrschaft, aber eine nukleare Katastrophe, eine klimatische Sackgasse, eine unaufhaltsame Migrationsbewegung, eine anhaltende Revolte oder eine schwer zu bewältigende Finanzblase wären dennoch gleich schwierig gewesen zu bewältigen. Die Ursache ist jedoch nicht unbedeutend, und die wahrhaftigste ist der globale Trend zur Konzentration des Kapitals, das, was führende Politiker unterschiedslos Globalisierung oder Fortschritt nennen. Dieser Trend korreliert mit der Tendenz zur Machtkonzentration und damit zur Stärkung des staatlichen Eindämmungs-, Desinformations- und Repressionsapparates. Wenn das Kapital die Substanz eines solchen Eies ist, ist der Staat die Schale. Eine Krise, die die globalisierte Wirtschaft gefährdet, eine Systemkrise, wie man heute sagt, provoziert eine fast automatische Abwehrreaktion und setzt bereits im Vorfeld vorbereitete Disziplinar- und Strafmechanismen in Gang. Das Kapital tritt in den Hintergrund, und dann erscheint der Staat in seiner ganzen Fülle. Die ewigen Gesetze des Marktes können Urlaub nehmen, ohne dass ihre Gültigkeit geändert wird.

Der Staat gibt vor, sich als der Rettungsring zu zeigen, an dem sich die Bevölkerung festhalten muss, wenn der Markt in der Bank- und Börsenhöhle einschläft. Während an der Rückkehr zur alten Ordnung gearbeitet wird, mit anderen Worten, wie die Informatiker sagen, während versucht wird, einen Punkt der Wiederherstellung des Systems zu schaffen, spielt der Staat die Rolle eines schützenden Protagonisten, obwohl dies in Wirklichkeit eher die Rolle eines halbstarken Witzbolds ist. Trotz allem, und wie sehr ich es auch sage, greift der Staat nicht zur Verteidigung der Bevölkerung ein, auch nicht der politischen Institutionen, sondern zur Verteidigung der kapitalistischen Wirtschaft und damit zur Verteidigung der abhängigen Arbeit und des induzierten Konsums, die die von ihr bestimmte Lebensweise kennzeichnen. In gewisser Weise schützt er sich vor einer möglichen sozialen Krise, die sich aus einer Gesundheitskrise ergibt, d.h. er verteidigt sich gegen die Bevölkerung. Die Sicherheit, die für ihn wirklich zählt, ist nicht die der Menschen, sondern die des Wirtschaftssystems, die üblicherweise als „nationale“ Sicherheit bezeichnet wird. Folglich wird die Rückkehr zur Normalität nichts anderes sein als die Rückkehr zum Kapitalismus: zu den Bienenkorbblöcken und Zweitwohnungen, zum Verkehrslärm, zur industriellen Ernährung, zum Individualverkehr, zum Massentourismus, zum Panem et Circenses… Extreme Formen der Kontrolle wie Gefangenschaft und Distanz zwischen Individuen werden ein Ende haben, aber die Kontrolle wird weitergehen. Nichts ist vergänglich: Ein Staat entwaffnet sich nicht aus freiem Willen und verzichtet auch nicht bereitwillig auf die Vorrechte, die ihm die Krise eingeräumt hat. Er wird die weniger populären (A.d.Ü., Maßnahmen) einfach „in den Winterschlaf“ versetzen, wie er es schon immer getan hat. Bedenken wir, dass die Bevölkerung nicht mobilisiert, sondern immobilisiert wurde, so ist es logisch zu denken, dass der Staat des Kapitals, der sich mehr mit ihm als mit dem Coronavirus im Krieg befindet, versucht, sich selbst gesund zu heilen, indem er immer unnatürlichere Überlebensbedingungen auferlegt.

Der vom System bezeichnete Staatsfeind ist der Ungehorsame, der undisziplinierte Mensch, der einseitige Befehle von oben ignoriert und sich weigert, eingesperrt zu werden, sich weigert, in Krankenhäusern zu bleiben und sich nicht auf Distanz (A.d.Ü., zu anderen) hält. Derjenige, der mit der offiziellen Version nicht einverstanden ist und seinen Zahlen nicht glaubt. Offensichtlich wird niemand mit dem Finger auf diejenigen zeigen, die dafür verantwortlich sind, dass das Gesundheitspersonal und die Pflegekräfte ohne Schutzausrüstung und die Krankenhäuser ohne ausreichende Betten oder Intensivstationen bleiben, auf die Chefs, die sich des Mangels an diagnostischen Tests und Beatmungsgeräten schuldig gemacht haben, oder auf die Verwaltungschefs, die die alten Menschen in den Heimen vernachlässigt haben. So wird auch nicht mit dem informativen Finger auf falsch informierte Experten, auf Geschäftsleute, die auf Schließungen spekulieren, auf Geier-Fonds, auf diejenigen, die vom Abbau des öffentlichen Gesundheitswesens profitiert haben, auf diejenigen, die mit dem Gesundheitswesen handeln, oder auf die multinationalen Pharmakonzerne gezeigt. Die Aufmerksamkeit wird immer auf irgendeine andere Seite gelenkt, oder besser ferngesteuert, auf die optimistische Interpretation von Statistiken, auf die Verheimlichung von Widersprüchen, auf die paternalistischen Regierungsbotschaften, auf die lächelnde Aufstachelung zur Fügsamkeit der Medienfiguren, auf die witzigen Kommentare zu den Banalitäten, die in den sozialen Netzwerken kursieren, auf das Toilettenpapier usw. Ziel ist es, die Gesundheitskrise durch ein höheres Maß an Domestizierung auszugleichen. Dass die Arbeit der Führungskräfte nicht in Frage gestellt wird. Dass das Böse unterstützt und die Täter ignoriert werden.

Die Pandemie hat nichts Natürliches an sich; sie ist typisch für die ungesunde Lebensweise, die der Turbokapitalismus aufzwingt. Es ist nicht das erste und wird auch nicht das letzte Mal sein. Die Opfer sind weniger die des Virus als vielmehr die der Privatisierung des Gesundheitswesens, der Deregulierung der Arbeit, der Verschwendung von Ressourcen, der zunehmenden Umweltverschmutzung, der ausufernden Urbanisierung, der Hypermobilität, der Überbevölkerung der Großstädte und der industriellen Nahrungsmittel, insbesondere aus Makrofarmen, Orte, an denen Viren ihr unschlagbares reproduktives Zuhause finden. All diese Bedingungen sind ideal für Pandemien. Das Leben, das sich aus einem Industrialisierungsmodell ableitet, in dem die Märkte isoliert, pulverisiert, stabilisiert, techno-abhängig und anfällig für Neurosen sind, alles Eigenschaften, die Resignation, Unterwerfung und „verantwortungsbewusste“ Bürgerschaft begünstigen. Obwohl wir von Nutzlosen, Untauglichen und Unfähigen regiert werden, darf uns der Baum der regierenden Dummheit nicht daran hindern, den Wald der Knechtschaft der Bürger zu sehen, die ohnmächtige Masse, die bereit ist, sich bedingungslos zu unterwerfen und sich auf der Suche nach der scheinbaren Sicherheit, die von der staatlichen Autorität versprochen wird, zu verschließen. Letztere hingegen belohnt in der Regel keine Loyalität, sondern hütet sich vor Ungläubigen. Und für sie sind wir potentiell alle Ungläubige.

In gewisser Weise ist die Pandemie eine Folge des Vorstoßes des chinesischen Staatskapitalismus auf den Weltmarkt. Der Beitrag des Ostens zur Politik besteht vor allem in der Fähigkeit, die staatliche Autorität durch die absolute Kontrolle der Menschen durch die totale Digitalisierung bis an ungeahnte Grenzen zu stärken. Zu dieser Art bürokratisch-polizeilicher Tugend könnte die Fähigkeit der chinesischen Bürokratie hinzukommen, dieselbe Pandemie in den Dienst der Wirtschaft zu stellen. Das chinesische Regime ist ein Beispiel für einen schutzwürdigen, autoritären und hochentwickelten Kapitalismus, der auf die Militarisierung der Gesellschaft folgt. In China wird die Herrschaft in Zukunft ein goldenes Zeitalter erleben. Es gibt immer kleinmütige Zurückgebliebene, die den Rückzug der „Demokratie“ beklagen werden, den das chinesische Modell mit sich bringt, als wäre das, was sie dies nennen, nichts weiter als die politische Form einer überholten Periode, die der einvernehmlichen Parteinahme entsprach, an der sie bis gestern gerne teilgenommen haben. Nun, wenn der Parlamentarismus für die Mehrheit der Geführten unbeliebt und stinkend zu werden beginnt und folglich als Instrument der politischen Domestizierung immer weniger wirksam wird, dann ist das weitgehend auf die Übermacht zurückzuführen, die Polizeikontrolle und Zensur in der neuen Zeit gegenüber der Parteienjonglage erlangt haben. Regierungen tendieren dazu, Alarmzustände als regelmäßiges Instrument der Regierung einzusetzen, da die Maßnahmen, die sie beinhalten, die einzigen sind, die in kritischen Momenten richtig funktionieren, um eine Herrschaft aufrecht zu erhalten. Sie verbergen die wahre Schwäche des Staates, die in der Zivilgesellschaft enthaltene Vitalität und die Tatsache, dass das System nicht durch seine Stärke, sondern durch die Atomisierung seiner unzufriedenen Subjekte aufrechterhalten wird. In einer politischen Phase, in der Angst, emotionale Erpressung und große Daten grundlegend für das Regieren sind, sind politische Parteien viel weniger nützlich als Techniker, Kommunikatoren, Richter oder die Polizei.

Worüber wir jetzt am meisten besorgt sein sollten, ist, dass die Pandemie nicht nur einige langjährige Prozesse wie die standardisierte industrielle Nahrungsmittelproduktion, die soziale Medikalisierung und die Reglementierung des Alltagslebens zum Höhepunkt bringt, sondern auch erhebliche Fortschritte im Prozess der sozialen Digitalisierung macht. Wenn Junk Food als globale Diät, der weit verbreitete Einsatz pharmakologischer Mittel und institutioneller Zwang die Grundzutaten des Kuchens des postmodernen Alltagslebens sind, so ist die digitale Überwachung (technische Koordination von Videokameras, Gesichtserkennung und Handyverfolgung) das Sahnehäubchen auf dem Kuchen. Diese Schlämme stammen aus diesen Pulvern. Wenn die Krise vorüber ist, wird fast alles wie vorher sein, aber das Gefühl der Zerbrechlichkeit und des Unbehagens wird mehr bleiben, als sich die herrschende Klasse wünschen würde. Diese Gewissensbisse wird die Glaubwürdigkeit der Siegerparteien von Ministern und Sprechern untergraben, aber es bleibt abzuwarten, ob sie allein dadurch aus dem Stuhl, auf den sie gesetzt wurden, vertrieben werden können. Andernfalls, d.h. wenn sie ihren Sitz behalten würden, bliebe die Zukunft der Menschheit in den Händen von Hochstaplern, denn eine Gesellschaft, die in der Lage ist, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, kann niemals im Kapitalismus und im Rahmen eines Staates gebildet werden. Das Leben der Menschen wird nicht beginnen durch die Wege der Gerechtigkeit, Autonomie und Freiheit zu gehen, ohne sich vom Fetischismus der Ware zu lösen, sich von der staatstragenden Religion abzuwenden und ihre großen Flächen und Kirchen zu leeren.

Miguel Amorós

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