Paul Mattick – Soligruppe für Gefangene https://panopticon.blackblogs.org Für die Anarchie! Knäste, Staat, Patriarchat und Kapital abschaffen! Tue, 07 May 2024 18:44:32 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.1 https://panopticon.blackblogs.org/wp-content/uploads/sites/1233/2020/02/cropped-discharge-degenerik-blog-1-32x32.jpg Paul Mattick – Soligruppe für Gefangene https://panopticon.blackblogs.org 32 32 (Paul Mattick und Walter Auerbach) Eine „marxistische” Annäherung zu der Judenfrage https://panopticon.blackblogs.org/2024/01/22/paul-mattick-und-walter-auerbach-eine-marxistische-annaeherung-zu-der-judenfrage/ Mon, 22 Jan 2024 15:39:33 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5394 Continue reading ]]>

Die folgenden Artikel von Paul Mattick und Walter Auerbach im ICC (1938), sowie wie die von Gato Mammone in BILAN (1936), erscheinen uns historisch und aktuell enorm wichtig und geeignet zu sein. Sowie es der Zufall will, handelt es sich in einem um eine Publikation (ICC, International Council Correspondence) die von hauptsächlich deutschsprachigen Kommunisten in den Vereinigten Staaten, im Exil, veröffentlicht wurde und im anderen um eine Publikation (BILAN), die auch von im Exil lebenden italienischen Kommunisten in Frankreich und Belgien veröffentlicht wurde.

In den Texten finden wir Kommunisten verschiedener Strömungen, wenn auch zu vielen Fragen gar nicht verschieden, die schon zu ihrer Zeit, bis zu unseren Zeit, sehr zutreffende Analysen machten. Beide Texte sind noch vor der Gründung des Staates Israel (1948) erschienen und dennoch kritisieren sie beide die nationalistischen Bestrebungen in den damaligen arabischen und jüdischen Lagern vor Ort, die den Konflikt aus der Klassenfrage verschiebten, damit Arbeiterinnen und Arbeiter aufeinander gehetzt werden könnten, was im Jahr 2024 noch wesentlich mehr an die Spitze getrieben worden ist.

Für uns als anarchistische Gruppe, dies haben wir sehr oft in Bezug auf den Krieg in der Ukraine gesagt, gibt es nur die Verteidigung des Internationalismus, anstatt sich auf irgendeine herrschende Partei sich einzureihen um deren Interessen zu verteidigen, egal wie diese dann geschmückt werden. BILAN wird es sehr klar ausdrücken, „Für echte Revolutionäre gibt es natürlich keine „palästinensische“ Frage, sondern nur den Kampf aller Ausgebeuteten des Nahen Ostens, Araber und Juden eingeschlossen, der Teil eines allgemeineren Kampfes aller Ausgebeuteten der ganzen Welt für die kommunistische Revolution ist.“

Mattick und Auerbach nehmen sich auch keinen Blatt vor dem Mund als sie sagen dass, „Die Verschärfung der kapitalistischen Widersprüche dient sicherlich den revolutionären Interessen der Arbeiterklasse, aber da das Proletariat eine internationale Revolution machen muss, kann es keine nationalistischen Fragen unterstützen, es kann weder die Araber noch die Juden fördern. Es muss immun bleiben gegen jede nationalistische Ansteckung und muss sich auf den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit konzentrieren, der durch die Produktionsverhältnisse bestimmt wird. Für die jüdischen Arbeiter gibt es keine nationale Lösung, so wie es auch keine Möglichkeit gibt, in den anderen Ländern jemals Frieden zu finden. Die jüdische Frage ist innerhalb der kapitalistischen Barbarei von heute unlösbar. Es ergibt keinen Sinn, die Augen vor der Realität zu verschließen: So schwierig, ja, so unmöglich es in vielen Fällen ist, die besonderen Gräueltaten gegen die jüdische Bevölkerung zu verhindern, Palästina ist keine Lösung. Der Kapitalismus bedeutet die Verlängerung dieser barbarischen Situation. Die Aufgabe der jüdischen Arbeiter ist die Aufgabe aller Arbeiter, das internationale System der kapitalistischen Ausbeutung zu beenden.“

Der Artikel kann hier auf Englisch gelesen werden, (International Council Correspondence, 1938, S. 153-156), die Übersetzung ist von uns.


(Paul Mattick und Walter Auerbach) Eine „marxistische” Annäherung zu der Judenfrage

Die Befürworter des Zionismus bzw. des jüdischen Nationalismus nähern sich den Arbeitern wie die Befürworter aller anderen nationalistischen Ideologien auf vielfältige Weise. Kürzlich hat die Poale Zion of America einige der Schriften von Ber Borochov1 neu veröffentlicht, der vor etwa 30 Jahren versuchte, den sozialistischen Ansatz des Zionismus zu vermitteln.

Borochov entstammte der jüdischen Intelligenzija in Russland. Zur Zeit seiner Tätigkeit hatten jüdische Arbeiter in Russland eine Organisation (Bund) aufgebaut, die eine sozialdemokratische gewerkschaftliche/syndikalistische Organisation war und sich gegen Zionismus richtete. Sie bestand aus Arbeitern, die ihre Organisation nach dem Vorbild der westeuropäischen gewerkschaftlichen/syndikalistischen Bewegung gegründet hatten. Sie hatten aufgehört, sich sehr viel mit nationalen Problemen zu beschäftigen und waren der Meinung, dass die sozialistische Revolution auch die Judenfrage lösen würde. Borochov war jedoch der Meinung, dass „jemand, der keine nationale Würde hat, auch keine Klassenwürde haben kann.“ Er versuchte zu beweisen, dass der Zionismus nicht nur die einzige Lösung für das jüdische Volk ist, sondern auch die marxistische Lösung. Er beobachtete „den langsamen Übergang der jüdischen Massen von unproduktiven zu produktiven Beschäftigungen“ und war überzeugt, dass diese Tendenz nur in Palästina zu ihrer vollen Entfaltung kommen konnte. Er war der Meinung, dass die Juden weder auf den „Fortschritt der Menschheit“ warten noch sich auf die Assimilation verlassen können, sondern dass ihre Freiheit von Verfolgung und Diskriminierung in erster Linie von der nationalen Selbsthilfe der jüdischen Massen abhängt. „Der nationale Selbsterhaltungstrieb, der in der sozialistischen Arbeiterklasse schlummert“, schrieb er, „ist ein gesunder Nationalismus“. Obwohl er anfangs davon ausging, dass die Klasseninteressen der jüdischen Arbeiter dieselben waren wie die der anderen Arbeiter und der Sozialismus das Endziel war, war die unmittelbare Notwendigkeit der Zionismus, und der Klassenkampf sollte beides verwirklichen.

Im Produktionsprozess entstehen verschiedene Produktionsverhältnisse. Aber die Produktion selbst, so argumentierte Borochov, ist von bestimmten Bedingungen abhängig, die von Ort zu Ort unterschiedlich sind. Diese „Produktionsbedingungen“, die aus geografischen, anthropologischen und historischen Gründen unterschiedlich sind, bilden die Grundlage für seine Vorstellung, dass für die jüdischen Arbeiter Zionismus und Sozialismus identisch sind. Der Nationalismus unterdrückter Nationalitäten sei eigenartig, und das Produktionssystem unterdrückter Nationalitäten unterliege immer anormalen Bedingungen. „Die Produktionsbedingungen sind abnormal, wenn eine Nation ihres Territoriums und ihrer Organe zur Erhaltung der Nation beraubt wird. Solche anormalen Bedingungen tendieren dazu, die Interessen aller Mitglieder einer Nation zu harmonisieren. Dieser äußere Druck schwächt und zerstreut nicht nur den Einfluss der Produktionsbedingungen, sondern behindert auch die Entwicklung der Produktionsverhältnisse und des Klassenkampfes, weil die normale Entwicklung der Produktionsweise gehemmt wird. Im Zuge des Kampfes um die nationale Emanzipation manifestieren sich jedoch die Klassenstruktur und die Klassenpsychologie“. Und so behauptete er, dass ein „echter Nationalismus keineswegs das Klassenbewusstsein verdeckt“, dass der Aufbau Palästinas vielmehr eine echte Grundlage für die Entwicklung des Klassenkampfes der Juden mit dem Ziel einer sozialistischen Gesellschaft bieten würde.

In Palästina, das keineswegs ein leeres Land oder ein internationales Hotel war, wie Borochov und seine Zeitgenossen zu glauben versuchten, fanden die Juden eine arabische feudalistische Agrargesellschaft mit Handelskapital in den Städten und Häfen vor. Die einwandernden Juden waren Handwerker des osteuropäischen Typs, Kaufleute aus Westeuropa und Vertreter von Finanziers aus London, der Wall Street und Südamerika. Hinzu kam ein neu gebildetes Proletariat von Studenten, Fachleuten und Intellektuellen, die sich mit großem nationalen Enthusiasmus daran machten, unter primitivsten Bedingungen für den jüdischen Staat zu arbeiten.

Nach Palästina wanderten Arbeitskräfte und Kapital ein, allerdings in kleinem Umfang. Die zunehmend „normaleren“ Produktionsbedingungen führten jedoch nicht zu einer Entwicklung, die den Träumen der Linkszionisten entsprach. Der Nationalismus förderte den Klassenkampf nicht, im Gegenteil, dieser wurde den Bedürfnissen der Nation geopfert. Das Klassenbewusstsein nahm nicht zu, sondern verschwand tendenziell, und das „gemeinsame“ Interesse gegen die Araber schuf eine fast ideale Harmonie. Der Zionismus war in der Praxis nur in der Lage, die jüdischen Arbeiter an die Interessen ihrer Ausbeuter und darüber hinaus an die imperialistischen Pläne Englands zu binden, das die jüdischen Bestrebungen für seine eigenen imperialistischen – strategischen Bedürfnisse förderte.

Es stimmt, dass mit dem Wachstum des palästinensischen Kapitalismus auch die Arbeiterklasse wuchs. Der Arbeitskräftemangel führte im Baugewerbe und ähnlichen Berufen zu relativ hohen Löhnen für einige Arbeiter2. Andere Arbeiter gründeten Genossenschaften, die als Bauunternehmen und Transportunternehmen fungierten. Diese Bedingungen förderten jedoch nicht den Klassenkampf für den Sozialismus, sondern schlossen eine große Anzahl von Arbeitern mit kapitalistischer Ideologie ein und führten zur Entwicklung einer gewerkschaftlichen/syndikalistischen Bürokratie, die an der Ausbeutung der Arbeiter beteiligt war. Die jüdischen Arbeiter fanden im Heiligen Land nicht nur ihre alten Ausbeuter wieder, sondern gewannen im Tausch gegen die leeren Versprechungen des Reformismus auch neue hinzu.

Borochovs „Beitrag zum Marxismus“, d. h. die Anerkennung der Bedeutung der „Produktionsbedingungen“ für die Entwicklung des Klassenkampfes, hat bisher nur kapitalistischen und imperialistischen Interessen gedient. Indem sie auf Palästina verwiesen, hielten die Zionisten die jüdischen Arbeiter davon ab, sich am Klassenkampf zu beteiligen; in Palästina verweisen sie nun auf die andere Seite der Grenze. Die zionistische Lösung der jüdischen Frage liegt nur im Kampf mit den Arabern. Unter den Bedingungen in Palästina kann der Zionismus nur im kapitalistischen Gewand auftreten. Die Juden sind gezwungen, kapitalistisch zu sein, um nationalistisch zu sein, und sie müssen nationalistisch sein, um Zionisten zu sein. Sie sind gezwungen, nicht nur kapitalistisch zu sein, sondern kapitalistisch in einer extrem reaktionären Form. Als Minderheit können sie nicht demokratisch sein, ohne ihren eigenen Interessen zu schaden; und da sie landhungrig sind, müssen sie gegen die Agrarreform kämpfen und sich mit den arabischen Feudalisten gegen die Fellachen verbünden. Sie sind nicht nur selbst reaktionär, sondern geben auch der arabischen Reaktion Auftrieb.

Die letzten zwanzig Jahre der zionistischen Praxis haben hinreichend gezeigt, dass der jüdische Nationalismus nicht weniger als jeder andere Nationalismus die Entwicklung des Klassenkampfes behindert hat. Den Lebensstandard der jüdischen Arbeiter auf einem halbwegs zivilisierten Niveau zu halten, war nur auf Kosten der arabischen Arbeiter möglich. Die von den jüdischen Gewerkschaften/Syndikate und den jüdischen Bossen praktizierte Diskriminierung der arabischen Arbeiter führte nicht zu Solidarität, sondern zu nationalistischem Hass unter den Arbeitern. All die wohlklingenden Phrasen über die Solidarität mit den arabischen Arbeitern verpufften, als sie in den Streiks von 1936 auf die Probe gestellt wurden; stattdessen brachte die zionistische Gewerkschaftsbürokratie die jüdischen Arbeiter erfolgreich dazu, das Eigentum ihrer Chefs zu verteidigen. Die Gewerkschaftsbürokratie und die nationalen Eigenheiten hinderten die Arbeitslosen daran, für Entlastung zu kämpfen, weil die Briten sonst die Einwanderung stoppen könnten. Die Knappheit in der palästinensischen Landwirtschaft führte zur Gründung von Genossenschaften hungernder Pioniere, den so genannten „Kommunen“ (Kvutsot). Es war das Verdienst der Borochowisten, diese Genossenschaften den „sozialistischen Sektor“ der Ökonomie Palästinas zu nennen und sie als „Vorposten des Sozialismus“ zu bejubeln. Aber auch hier verstecken die Zionisten nur hinter attraktiven Slogans den kapitalistischen Charakter und die Ausbeutung dieser Institutionen.

Der Zionismus kann nur dem Kapitalismus dienen. Borochov selbst, der sich anfangs nur für die zionistische Bewegung interessierte, um den Klassenkampf zu fördern, vergaß später seine ursprünglichen Absichten und sprach sich für die Klassenkollaboration aus. Er wandte sich nicht mehr an das Proletariat, sondern an „die gesamte jüdische Bevölkerung“, die „nicht der Vorstellung nachgeben sollte, dass die Juden unter den Nationen und fremden Kulturen verschwinden“. Ungeachtet dessen, dass selbst ein „Internationalist“ wie Leo Trotzki heute erklärt, „dass das jüdische Problem durch territoriale Konzentration gelöst werden muss“, kann der Nationalismus heute nur chauvinistisch sein, kann nur zu einem jüdischen Faschismus führen, der den Kampf gegen die Araber offen befürwortet. Und die Nicht-Faschisten akzeptieren diesen Kampf, indem sie schweigen oder heuchlerische Phrasen dreschen. Und nur die Anerkennung ihrer schwachen Position hindert sie daran, einen Platz unter den „Aggressor-Nationen“ zu finden, und zwingt sie dazu, den Diener des englischen Imperialismus zu spielen. Heute gibt es einen Bericht einer königlichen Kommission, der die Teilung Palästinas und die Gründung eines autonomen jüdischen Staates empfiehlt. Unabhängig davon, ob dieser Vorschlag jemals umgesetzt wird, bleibt die Tatsache bestehen, dass die Juden selbst die Wünsche der Zionisten nicht erfüllen können, sondern gezwungen sind, Verbündete des englischen Imperialismus zu bleiben.

Es stimmt zwar, dass die Förderung des Kapitalismus in Palästina durch den Zionismus und die Verschärfung der kapitalistischen Antagonismen „revolutionär“ sind, aber nur, weil der gesamte Kapitalismus revolutionär ist; für die Arbeiterklasse ist das nicht von Belang. Die Verschärfung der kapitalistischen Widersprüche dient sicherlich den revolutionären Interessen der Arbeiterklasse, aber da das Proletariat eine internationale Revolution machen muss, kann es keine nationalistischen Fragen unterstützen, es kann weder die Araber noch die Juden fördern. Es muss immun bleiben gegen jede nationalistische Ansteckung und muss sich auf den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit konzentrieren, der durch die Produktionsverhältnisse bestimmt wird. Für die jüdischen Arbeiter gibt es keine nationale Lösung, so wie es auch keine Möglichkeit gibt, in den anderen Ländern jemals Frieden zu finden. Die jüdische Frage ist innerhalb der kapitalistischen Barbarei von heute unlösbar. Es ergibt keinen Sinn, die Augen vor der Realität zu verschließen: So schwierig, ja, so unmöglich es in vielen Fällen ist, die besonderen Gräueltaten gegen die jüdische Bevölkerung zu verhindern, Palästina ist keine Lösung. Der Kapitalismus bedeutet die Verlängerung dieser barbarischen Situation. Die Aufgabe der jüdischen Arbeiter ist die Aufgabe aller Arbeiter, das internationale System der kapitalistischen Ausbeutung zu beenden.


1Nationalism and the Class Struggle. A Marxian Approach to the Jewish Problem. By Ber Borochov. Poale Zion-Zeire of America. New York, 205 pp., $1.50.

2Die an den Lebenshaltungskostenindex angepassten Wochenlöhne von neun Klassen städtischer Arbeiter im Oktober 1937 lassen den Schluss zu, dass die Reallöhne der jüdischen Arbeiter in Tel-Aviv 68 Prozent der Löhne der Arbeiter in London betrugen und dass die Löhne der Araber etwa 10 Prozent unter den Löhnen für jüdische Arbeiter lagen. Diese neun Klassen von städtischen Arbeitern, die für den oben genannten Lohnindex verantwortlich sind, gehören jedoch alle dem Baugewerbe an und sind nicht, wie oft angenommen, repräsentativ für die Löhne der Arbeiterklasse insgesamt. Der oft mit Stolz vorgetragene Index stimmt auch insofern nicht, als er bei den Lebenshaltungskosten den Faktor Miete ausklammert, der in Palästina aufgrund des gravierenden Wohnungsmangels sehr hoch ist.

]]> Paul Mattick – Karl Kautsky: Von Marx zu Hitler (1939) https://panopticon.blackblogs.org/2023/11/12/paul-mattick-karl-kautsky-von-marx-zu-hitler-1939/ Sun, 12 Nov 2023 15:15:03 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5274 Continue reading ]]>

Dieser unglaubliche Text von Paul Mattick, der sogar einen auf unsere Zeit ungewollten vorrausschauenden Blick hat, unterstreicht den absolut sozialdemokratischen und daher reformistischen und konterrevolutionären Charakter der radikalen Linken, die nichts anderes sein kann als die radikale Linke des Kapitals. Seine Kritik galt der SPD von Kautsky und Bernstein und erklärt, wieder einmal, warum die Reformierung des Kapitals, also der Reformen/Reformismus selbst, zwar nicht dem Kapitalisten, aber den Kapitals als solchen dient, wie eben dies zur weiteren Expansion des Kapitals führen musst. Dieser Kampf, der die Zerstörung des Kapitals nicht mehr heimsucht, sucht nur noch weitere Einbindung des Proletariats in die kapitalistische Gesellschaft, welche dann am Ende verteidigt werden muss, wie es der Fall beim Ersten Weltkrieg war, sowie in späteren Kriegen und Konflikten.


Paul Mattick – Karl Kautsky: Von Marx zu Hitler (1939)

Im Herbst 1938 starb Karl Kautsky im Alter von 84 Jahren in Amsterdam. Er galt als der wichtigste Theoretiker der marxistischen Arbeiterbewegung nach dem Tod ihrer Begründer und man kann ihn ohne Zweifel als einen ihrer typischsten Vertreter ansehen. Er verkörperte in aller Klarheit sowohl die revolutionären als auch die reaktionären Aspekte dieser Bewegung. Aber während Friedrich Engels am Grab von Marx sagen konnte, daß sein Freund „vor allem Revolutionär war“, wäre es schwierig, dasselbe am Grab seines bekanntesten Schülers zu sagen. „Die Politik und Theorie Kautskys werden stets der Gegenstand kritischer Untersuchung bleiben“, schrieb Friedrich Adler in Erinnerung an Kautsky. „Aber der Charakter Kautskys kann nie einem Zweifel unterliegen, er hat sein ganzes Leben unveränderlich gewirkt „der höchsten Majestät getreu, dem eigenen Gewissen“.“1

Kautskys Bewußtsein entwickelte sich in den Jahren des Aufstiegs der deutschen Sozialdemokratie. Er wurde in Österreich als Sohn eines am Wiener Kaiserlichen Theater angestellten Bühnendekorateurs geboren. Schon 1875, obwohl noch nicht Marxist, schrieb er für deutsche und österreichische Arbeiterzeitungen. 1880 wurde er Mitglied der deutschen Sozialdemokratischen Partei und erst jetzt, sagte er von sich selbst, „begann meine Entwicklung zu konsequentem methodischen Marxismus“.2 Er wurde, wie so viele andere, von Engels` „Anti-Dühring“ inspiriert und in seiner Orientierung von Eduard Bernstein unterstützt, der damals Sekretär des sozialistischen „Millionärs“ Hoechberg war. Seine ersten Arbeiten wurden mit Hoechbergs Hilfe publiziert und in der Arbeiterbewegung fand er als Herausgeber einer Reihe von sozialistischen Publikationen Anerkennung. 1883 gründete er die Zeitschrift „Neue Zeit“, die unter seiner Leitung das wichtigste theoretische Organ der deutschen Sozialdemokratie wurde.

Kautskys literarisches und wissenschaftliches Werk beeindruckt nicht nur durch die Weite seiner Interessen, sondern auch durch seinen Umfang. Selbst eine Auswahlbibliographie seiner Schriften würde viele Seiten füllen. In diesem Werk kommt alles zum Vorschein, was während der letzten sechzig Jahre in der sozialistischen Bewegung scheinbar oder tatsächlich wichtig war. Es zeigt, daß Kautsky in erster Linie Lehrer war und daß er, wegen seines schulmeisterlichen Blicks auf die Gesellschaft, die Rolle als führender Kopf einer Bewegung, deren Ziel darin bestand, die Arbeiter, aber auch die Kapitalisten zu erziehen, gut ausfüllte. Da er als Erzieher mit den theoretischen Aspekten des Marxismus befaßt war, konnte er revolutionärer erscheinen, als es der Bewegung, der er diente, tatsächlich entsprach. Er gab sich als „orthodoxer“ Marxist, der versuchte, das Marxsche Erbe als Schatzmeister zu sichern und die Grundlagen seiner Organisation zu erhalten. Revolutionär war Kautskys Lehre jedoch nur im Verhältnis zur allgemeinen kapitalistischen Ideologie der Vorkriegszeit. Im Gegensatz zu den revolutionären Theorien von Marx und Engels bedeutete sie eine Umkehr zu einfacheren Denkweisen und zu einer weniger komplexen Verarbeitung der widersprüchlichen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft. Doch obwohl er die Schatzkiste des Marxismus bewachte, bekam er nicht alles in den Blick, was sie enthielt.

1862 hatte Marx in einem Brief an Kugelmann seiner Hoffnung Ausdruck gegeben, daß seine nicht gemeinverständlichen Werke, mit denen er die ökonomische Wissenschaft zu revolutionieren suchte, zur rechten Zeit in einer populären Fassung vorgelegt werden würden, eine Aufgabe, von der er annahm, daß sie auf der von Ihm geschaffenen wissenschaftlichen Basis leicht zu bewältigen sei. „Mein Lebenswerk stand 1883 fest“, schrieb Kautsky; „die Propagierung, Popularisierung und, soweit meine Kräfte reichen, Fortführung der wissenschaftlichen Resultate Marxschen Forschens und Denkens.“3 Aber nicht einmal er, der größte Popularisator von Marx, erfüllte dessen Hoffnungen; seine Vereinfachungen erwiesen sich als neue Mystifikationen, aufgrund derer der wahre Charakter der kapitalistischen Gesellschaft nicht verstanden werden konnte. Doch sogar in ihren verwässerten Form blieben Marx` Theorien allen bürgerlichen sozialen und ökonomischen Theorien überlegen und Kautskys Schriften erwiesen sich für hunderttausende klassenbewußte Arbeiter als Kraftquelle. Er gab ihren eigenen Gedanken Ausdruck und dies in einer Sprache, die ihnen näher lag, als die des unabhängigeren Denkers Marx. Obwohl dieser mehr als einmal seine große Begabung für Verständlichkeit und Klarheit unter Beweis gestellt hatte, war er nicht Schulmeister genug, um die Freude an intellektuellen Feinheiten der Propaganda zu opfern.

Als wir darauf hinwiesen, daß Kautsky auch das repräsentierte, was in der alten Arbeiterbewegung reaktionär war, war das in einem ganz spezifischen Sinn gemeint. Die reaktionären Elemente bei Kautsky und in der alten Arbeiterbewegung waren objektiv bedingt und nur über den langen Zeitraum einer Konfrontation mit einer feindlichen Realität entwickelte sich die subjektive Bereitschaft, zu Verteidigern der kapitalistischen Gesellschaft zu werden. Im „Kapital“ weist Marx darauf hin, daß ein „steigender Preis der Arbeit infolge der Akkumulation des Kapitals in der Tat nur (besagt), daß der Umfang und die Wucht der goldenen Kette, die der Lohnarbeiter sich selbst bereits geschmiedet hat, ihre losere Spannung erlauben.“4 Unter den Bedingungen einer wachsenden Formierung des Kapitals führten verbesserte Arbeitsbedingungen und ein Anstieg der Kosten der Arbeit zu einer Umwandlung der Arbeitskämpfe in eine Verstärkung kapitalistischer Expansion. Wie der kapitalistische Wettbewerb dienten die Arbeiterkämpfe als Antrieb für weitere Kapitalakkumulation und verstärkten kapitalistischen „Fortschritt“. Alle Gewinne der Arbeiter wurden durch eine wachsende Ausbeutung kompensiert, die wiederum eine immer schnellere Kapitalexpansion erlaubte.

So diente selbst der Klassenkampf der Arbeiter zwar nicht den Bedürfnissen der individuellen Kapitalisten, aber des Kapitals. Die Siege der Arbeiter wandten sich immer gegen die Sieger. Je mehr die Arbeiter gewannen, um so reicher wurde das Kapital. Die Kluft zwischen Löhnen und Profiten wurde mit jedem Anstieg des Gewinnanteils der Arbeiter größer. Die scheinbar wachsende Bedeutung der Arbeit war tatsächlich eine zunehmende Schwächung ihrer Position im Verhältnis zum Kapital. Die „Erfolge“ der Arbeiter, von Eduard Bernstein als neue Ära des Kapitalismus begrüßt, konnten in diesem Kontext von sozialen Aktionen, nur in einer endgültigen Niederlage der Arbeiterklasse enden, sobald das Kapital von der Expansion in eine Phase der Stagnation geriet. Im Untergang der alten Arbeiterbewegung, einem Anblick, der Kautsky nicht erspart blieb, manifestierten sich die tausende von Niederlagen, die in der Aufschwungphase des Kapitalismus erlitten wurden und obwohl diese Niederlagen als Teilsiege gefeiert wurden, waren sie in der Tat nur Teilniederlagen, wo der Vorteil immer auf Seiten der Bourgeoisie liegt. Obwohl Bernsteins Revisionismus, der den Schein für Wahrheit nahm und von bürgerlichen Empirismus angeregt wurde, von Kautsky zuerst angegriffen wurde, bereitete er die Basis für seinen Erfolg. Denn ohne die nichtrevolutionäre Praxis der alten Arbeiterbewegung, deren Theorien von Bernstein begründet wurden, hätte Kautsky keine Bewegung und materielle Basis gefunden, auf deren Grundlage er sich als wichtiger marxistischer Theoretiker etablieren konnte.

Diese objektive Situation, die, wie wir gesehen haben, die Erfolge der Arbeiterbewegung in ebenso viele Schritte zu ihrer Vernichtung umwandelte, gebar eine nichtrevolutionäre Ideologie, die verstärkt mit der scheinbaren Wirklichkeit harmonierte und die später als Sozialreformismus, Opportunismus, Sozialchauvinismus und sogar als Verrat bezeichnet wurde. Dieser „Verrat“ jedoch tangierte kaum diejenigen, die verraten wurden. Im Gegenteil, die Mehrheit der organisierten Arbeiter begrüßte den Einstellungswechsel in der sozialistischen Bewegung, insofern er mit ihren eigenen Hoffnungen auf einen aufsteigenden Kapitalismus konform ging. Die Massen waren genauso wenig revolutionär wie ihre Führer und beide waren zufrieden mit ihrer Teilhabe am kapitalistischen Fortschritt. Sie organisierten sich nicht nur für einen größeren Anteil am Sozialprodukt, sondern auch für einen stärkeren Einfluß im politischen Bereich. Sie lernten in Begriffen der bürgerlichen Demokratie zu denken; sie fingen an, von sich selbst als Konsumenten zu sprechen; sie wollten an den Errungenschaften von Kultur und Zivilisation teilnehmen. Franz Mehrings „Geschichte der deutschen Sozialdemokratie“ endet typischerweise mit einem Kapitel über „Kunst und Proletariat“. Wissenschaft für Arbeiter, Literatur für Arbeiter, Schulen für Arbeiter, Teilnahme an allen Institutionen der kapitalistischen Gesellschaft, dies und nicht mehr war das wirkliche Bedürfnis der Bewegung. Statt das Ende der kapitalistischen Wissenschaft zu fordern; verlangte man nach Wissenschaftlern aus der Arbeiterklasse; statt das kapitalistische Recht abzuschaffen, wünschte man die Ausbildung von Juristen aus der Arbeiterklasse; in der steigenden Zahl von Historikern, Dichtern, Wirtschaftswissenschaftlern, Journalisten, Ärzten und Zahnärzten, sowie Parlamentariern und Gewerkschaftsbürokraten sah man die Sozialisierung der Gesellschaft, die damit immer mehr zu ihrer eigenen Gesellschaft wurde. Das, an dem man zunehmend Anteil hat, wird man bald schon verteidigungswert finden. Bewußt und unbewußt sah die alte Arbeiterbewegung im kapitalistischen Expansionsprozeß ihren eigenen Weg zu größerem Wohlstand und größerer Anerkennung. Je mehr das Kapital florierte, desto besser waren die Arbeitsbedingungen. Zufrieden mit Aktionen in den Grenzen des Kapitalismus, machten die Arbeiterorganisationen die Profitabilität des Kapitalismus nach und nach zu ihrer eigenen Sache. Die nationalen kapitalistischen Rivalitäten wurden nur auf einer verbalen Ebene bekämpft. Obwohl die Bewegung zuerst nur für ein „besseres Vaterland“ kämpfte und später bereit war, das zu verteidigen, was sie schon gewonnen hatte, erreichte sie bald den Punkt, wo sie bereit war, das Vaterland zu verteidigen „so wie es ist“.

Die Toleranz, welche die „Nachfolger“ von Marx gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft an den Tag legten, war nicht einseitig. Die Bourgeoisie selbst hatte in ihrem Kampf gegen die Arbeiterklasse gelernt, „die soziale Frage zu verstehen“. Ihre Interpretation der sozialen Erscheinungen wurde zunehmend materialistisch und bald gab es eine Überschneidung der Ideologien der beiden Weltbilder, was trotz der aktuellen Disharmonien in den Klassenauseinandersetzungen im Rahmen eines aufsteigenden Kapitalismus zu einer wachsenden „Harmonie“ führte. Allerdings waren die „Marxisten“ eher bereit „vom Feind zu lernen“ als die Bourgeoisie. Die revisionistischen Tendenzen hatten sich schon lange vor dem Tod von Engels herauskristallisiert. Dieser und selbst Marx hatten geschwankt und Momente gezeigt, in denen sie vom Erfolg ihrer Bewegung hinweggetragen wurden. Aber was bei ihnen nur eine kurzfristige Modifikation ihres im wesentlichen konsistenten Denkens war, wurde für die Bewegung, die in größerem Gewerkschaftsvermögen und in besseren Wahlergebnissen Fortschritt sah, zum „Glauben“ und zur „Wissenschaft“.

Nach 1910 fand sich die deutsche Sozialdemokratie in drei wesentliche Gruppen gespalten. Da waren die Reformisten, die offen den deutschen Imperialismus bejahten; da war die „Linke“, für die Namen wie Luxemburg, Liebknecht, Mehring und Pannekoek standen; und da war das Zentrum, das traditionellen Wegen zu folgen versuchte, allerdings nur in der Theorie, denn in der Praxis konnte die gesamte deutsche Sozialdemokratie nur das tun, was möglich war, d. h. was Bernstein wollte. Bernstein zu widersprechen konnte nur darauf hinauslaufen, der gesamten sozialdemokratischen Praxis zu widersprechen. Die „Linke“ als solche gewann erst in dem Moment eine Bedeutung, als sie die Sozialdemokratie als Teil der kapitalistischen Gesellschaft anzugreifen begann. Die Differenzen zwischen den beiden oppositionellen Gruppen konnten nicht ideologisch gelöst werden; sie wurden gelöst, als der Terror der Noske-Truppen im Jahre 1919 zur Ermordung von Mitgliedern der Spartakusgruppe führte. Mit dem Ausbruch des Krieges fand sich die „Linke“ in kapitalistischen Gefängnissen und die „Rechte“ im kaiserlichen Generalstab wieder. Das „Zentrum“, geführt von Kautsky, entledigte sich aller Probleme der sozialistischen Bewegung, indem es erklärte, daß weder die Sozialdemokratie noch ihre Internationale in Kriegszeiten funktionieren könnten, da beide wesentlich Instrumente des Friedens seien. „Der welthistorische Appell des Kommunistischen Manifests“, schrieb Rosa Luxemburg, „erfährt eine wesentliche Ergänzung und lautet nun nach Kautskys Korrektur: Proletarier aller Länder, vereinigt euch im Frieden und schneidet euch die Gurgel ab im Kriege!“5 Der Krieg und seine Folgen zerstörten die Legende von Kautskys marxistischer „Orthodoxie“. Sogar sein leidenschaftlichster Schüler, Lenin, sah sich gezwungen, sich vom Meister abzuwenden. Im Oktober 1914 mußte er zugeben, daß im Hinblick auf Kautsky Rosa Luxemburg Recht gehabt hatte. In einem Brief an Schlapnikow schrieb er: „Rosa Luxemburg hatte Recht, als sie bereits vor langer Zeit schrieb, Kautsky sei die „Servilität des Theoretikers“ eigen, einfacher gesagt, die Kriecherei vor der Mehrheit der Partei, vor dem Opportunismus. Es gibt jetzt für die ideologische Selbständigkeit des Proletariats nichts Schädlicheres und Gefährlicheres auf der Welt als diese schmutzige Selbstzufriedenheit und diese abscheuliche Heuchelei Kautskys, der alles vertuschen und verkleistern will, der das erwachte Gewissen der Arbeiter mit Sophismen und pseudowissenschaftlichen Tiraden beruhigen möchte.“6

Was Kautsky von dem allgemeinen Trend der Intellektuellen unterschied, die sich um die Arbeiterbewegung sammelten, sobald diese gesellschaftsfähig wurde, und die allzu eifrig bemüht waren, die Klassenkollaboration zu fördern, war die größere Liebe zur Theorie, eine Liebe, die sich weigerte, Theorie an der Aktualität zu messen, wie die Liebe einer Mutter, die ihr Kind davor behütet, der Realität des Lebens zu früh in die Augen zu schauen. Nur als Theoretiker konnte Kautsky Revolutionär bleiben; nur zu gerne überließ er die praktischen Dinge der Bewegung anderen. Wie auch immer, er betrog sich jedoch selber. In der Rolle eines bloßen Theoretikers hörte er auf, ein revolutionärer Theoretiker zu sein, richtiger noch, er konnte kein Revolutionär werden. Sobald die Grundlagen für eine wirkliche Auseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Sozialismus nach dem Krieg gegeben waren, brachen seine Theorien zusammen, weil sie in der Praxis bereits von der Bewegung, die sie zu repräsentieren schienen, getrennt waren.

Obwohl Kautsky zu dem übertrieben enthusiastischen Chauvinismus seiner Partei in Opposition stand, obwohl er zögerte, sich wie Ebert, Scheidemann und Hindenburg am Krieg zu erfreuen, obwohl er nicht für eine bedingungslose Zustimmung zu den Kriegskrediten votierte, war er bis zu seinem Ende gezwungen, die Legende seiner marxistischen Orthodoxie selbst zu zerstören, die er sich mit seiner dreißigjährigen schriftstellerischen Tätigkeit erarbeitet hatte. Er, der im Jahre 1902 angekündigt hatte7, daß eine Zeit der proletarischen Kämpfe um die Staatsmacht angebrochen sei, erklärte solche Versuche für schieren Unsinn, als Arbeiter ihn Ernst nahmen. Er, der so vehement gegen den Ministerialismus von Millerand und Jaure`s in Frankreich gekämpft hatte, begrüßte zwanzig Jahre später die Koalitionspolitik der deutschen Sozialdemokratie mit den Argumenten seiner früheren Gegner. Er, der sich bereits 1909 mit dem „Weg zur Macht“ befaßte, träumte nach dem Krieg von einem kapitalistischen Ultra-Imperialismus als einem Weg zum Weltfrieden und verbrachte den Rest seines Lebens damit, seine Vergangenheit neu zu interpretieren, um seine Ideologie der Klassenkollaboration zu rechtfertigen. „Im Verlauf seiner Klassenkämpfe“, schrieb er in seinem letzten Werk, „(ist es dem Proletariat beschieden, daß es) immer mehr zum Vorkämpfer wird für eine Erneuerung der Menschheit, an der im steigendem Grade auch nicht proletarische Schichten der Gesellschaft ein dringendes, brennendes Interesse haben. Das bedeutet nicht etwa einen Verrat an der Idee des Klassenkampfes. Diese Erkenntnis habe ich schon angesprochen zu einer Zeit, wo es noch keinen Bolschewismus gab, z.B. in der Artikelserie der „Neuen Zeit“ über „Klasseninteresse, Sonderinteresse, Gemeininteresse“ (1903, XXI, 2) wo ich zu dem Ergebnis kam, der proletarische Klassenkampf lehne die Solidarität der Klassen ab, erkenne aber die Solidarität der Menschen an.“8

Tatsächlich ist es nicht möglich, Kautsky als „Renegaten“ zu betrachten. Nur ein totales Missverstehen der Theorie und Praxis der sozialdemokratischen Bewegung und von Kautskys Aktivitäten konnten zu solch einer Sichtweise führen. Kautsky war bestrebt, ein guter Diener des Marxismus zu sein; Engels und Marx zu gefallen, schien tatsächlich seine Lebensaufgabe zu sein. Er bezeichnete letzteren in typisch sozialdemokratischer und philisterhafter Manier immer als „großen Meister“, als „Olympier“ als „Donnergott“ etc. Er fühlte sich extrem geehrt, weil Marx ihn „keineswegs so unnahbar (empfing) wie Goethe seinen jungen Kollegen“ Heine.9 Er muß sich selbst geschworen haben, Engels nicht zu enttäuschen, als dieser ihn und Bernstein als „vertrauenswürdige Vertreter der marxistischen Theorie zu betrachten begann, und fast sein ganzes Leben lang war er der eifrigste Verteidiger „der Schrift“. Er ist völlig ehrlich, wenn er sich bei Engels beklagt, „daß fast alle Gebildeten der Partei… für Kolonien (schwärmen), für den nationalen Gedanken, Wiedererweckung des germanischen Altertums, für vertrauensvolles Entgegenkommen gegenüber der Regierung, Ersetzung des Klassenkampfes durch die Macht der „Gerechtigkeit“, Abneigung gegen den Materialismus und die materialistische Geschichtsauffassung -Marxistische Dogmen, wie sie es nennen“.10 Er wandte sich gegen sie, um das zu verteidigen, was seine Idole begründet hatten. Als guter Schulmeister war er auch ein guter Schüler.

Engels verstand diese frühe „Degeneration“ der Bewegung nur zu gut. In der Antwort auf Kautskys Klagen stellte er fest, daß „die bürgerliche kapitalistische Entwicklung sich stärker (bewiesen) hat als der revolutionäre Gegendruck; zur neuer Erhebung gegen die kapitalistische Produktion bedarf es eines neuen, gewaltigen Anstoßes, etwa der Entthronung Englands von der bisherigen Weltmarktherrschaft, oder einer besonderen revolutionären Gelegenheit in Frankreich“.11 Aber weder das eine, noch das andere Ereignis trat ein. Die Sozialisten warteten nicht länger auf die Revolution. Bernstein wartete statt dessen auf Engels Tod, um nicht den Mann zu enttäuschen, dem er so viel verdankte, bevor er erklärte, daß „das Ziel nichts bedeutet und die Bewegung alles“. Es ist richtig, daß Engels während seiner letzten Lebensjahre die reformistischen Kräfte gestärkt hatte. Was in seinem Fall jedoch nur als individuelle Schwäche in bestimmten Standpunkten verstanden werden kann, wurde von seinen Epigonen als Ursprung ihrer Stärke angesehen. Immer wieder kehrten Marx und Engels zur kompromisslosen Haltung des „Kommunistischen Manifests“ und des „Kapitals“ zurück, z.B. in der „Kritik des Gothaer Programms“, dessen Veröffentlichung verzögert wurde, um die Kompromissler in der Bewegung nicht zu beunruhigen. Seine Veröffentlichung war erst nach einer Auseinandersetzung mit der Parteibürokratie möglich, was Engels zu der Bemerkung veranlasste, dass „es in der That ein brillianter Gedanke (ist), die deutsche sozialistische Wissenschaft, nach ihrer Befreiung vom bismarckschen Sozialistengesetz, unter ein neues, von den sozialdemokratischen Parteibehörden selbst zu fabrizierendes und auszuführendes Sozialistengesetz zu stellen“.12

Kautsky verteidigte einen bereits geschwächten Marxismus. Der radikale, revolutionäre antikapitalistische Marxismus war von der kapitalistischen Entwicklung besiegt worden. In einer Rede zum Kongreß der Internationalen Arbeiterassoziation 1872 in Den Haag hatte Marx selbst erklärt: „Der Arbeiter muß eines Tages die politische Gewalt ergreifen, um die neue Organisation der Arbeit aufzubauen… Aber wir haben nicht behauptet, daß die Wege, um zu diesem Ziel zu ge-langen, überall dieselben seien… und wir leugnen nicht, daß es Länder gibt, wie Amerika, England, und wenn mir eure Institutionen besser bekannt wären, würde ich vielleicht noch Holland hinzufügen, wo die Arbeiter auf friedlichem Wege zu ihrem Ziel gelangen können.“13 Diese Bemerkung erlaubte sogar den Revisionisten, sich selbst zu Marxisten zu erklären und das einzige Argument, daß Kautsky gegen sie vorbringen konnte, war, z.B. während des sozialdemokratischen Parteitages 1898 in Stuttgart, die Ablehnung der Annahme, daß der von den Revisionisten für England und Amerika behauptete fortschreitende Prozeß der Demokratisierung und Sozialisierung auch für Deutschland gültig sei. Er wiederholte Marx Position hinsichtlich der Möglichkeit eines friedvolleren Wandels der Gesellschaft in einigen Ländern und fügte dieser Bemerkung nur hinzu, daß auch er sich einen „Sieg… ohne Katastrophe… wünsche“.14 Allerdings bezweifelte er solch eine Möglichkeit.

Es ist verständlich, daß es auf der Basis eines solchen Denkens für Kautsky nur folgerichtig war, nach dem Krieg anzunehmen, daß aufgrund einer möglichen schnelleren Entwicklung der demokratischen Institutionen in Deutschland und Rußland in diesen Ländern auch ein friedlicherer Weg zum Sozialismus realisiert werden könnte. Der friedliche Weg erschien ihm der sicherere, da dieser mehr seinem Wunsch nach der „Solidarität der Menschen“ entsprach, zu der er beizutragen suchte. Die sozialistischen Intellektuellen wollten die Freundlichkeit erwidern, mit denen die Bourgeoisie sie zu behandeln gelernt hatte. Schließlich sind wir alle Gentleman! Das ruhige kleinbürgerliche Leben der Intelligenz, abgesichert von einer mächtigen sozialistischen Bewegung, hatte dazu geführt, daß sie den ethischen und kulturellen Aspekten der Dinge Wichtigkeit beimaßen. Kautsky haßte die Methoden des Bolschewismus nicht weniger stark, als dies die Weißgardisten taten, obwohl er, im Gegensatz zu diesen, mit den Zielen des Bolschewismus übereinstimmte. Hinter der Erscheinung der proletarischen Revolution sahen die Führer der sozialistischen Bewegung mit Recht ein Chaos, in dem ihre eigene Stellung nicht weniger gefährdet wäre als die der eigentlichen Bourgeoisie. Ihre Abscheu vor „Unordnung“ war nichts anderes als Ausdruck der Verteidigung ihrer eigenen materiellen, sozialen und intellektuellen Stellung. Der Sozialismus sollte sich unter legalen, nicht unter illegalen Bedingungen entwickeln, denn unter diesen Voraussetzungen würden die bestehenden Organisationen und ihre Führer weiterhin die Bewegung dominieren. Und ihre erfolgreiche Störung der drohenden proletarischen Revolution zeigte, daß nicht nur die „Fortschritte“ der Arbeiter im ökonomischen Bereich sich gegen diese selbst wandten, sondern auch die „Erfolge“ im politischen Bereich sich als Waffen gegen ihre Emanzipation erwiesen. Das stärkste Bollwerk gegen eine radikale Lösung der sozialen Frage war die Sozialdemokratie, deren Wachstum die Arbeiter als Maßstab ihrer eigenen wachsenden Macht zu sehen gelernt hatten.

Nichts zeigt den revolutionären Charakter von Marx´ Theorien deutlicher als die Schwierigkeit, sie in nichtrevolutionären Zeiten zu verteidigen. Es gab ein Körnchen Wahrheit in Kautskys Feststellung, daß die sozialistische Bewegung in Kriegszeiten nicht funktionieren könne, da Kriegszeiten zeitweise nichtrevolutionäre Situationen mit sich bringen. Der Revolutionär wird isoliert und sieht sich zeitweise besiegt. Er muß warten, bis sich die Situation ändert, bis die subjektive Bereitschaft, am Krieg teilzunehemen, von der objektiven Unmöglichkeit, diese subjektive Bereitschaft umzusetzen, zerrüttet ist. Ein Revolutionär muß von Zeit zu Zeit „außerhalb der Welt“ stehen. Zu glauben, daß eine revolutionäre Praxis, die ihren unabhängigen Ausdruck in unabhängigen Aktionen der Arbeiter findet, zu jeder Zeit möglich ist, heißt nichts anderes, als demokratischen Illusionen zum Opfer zu fallen. Aber es ist schwieriger, „außerhalb dieser Welt“ zu stehen, denn niemand kann wissen, wann sich die Dinge ändern und niemand wünscht zurückzubleiben, wenn die Änderungen ihren Lauf nehmen. Widerspruchsfreiheit existiert nur in der Theorie. Man kann nicht sagen, daß Marx´ Theorien widersprüchlich waren; man kann jedoch sagen, daß Marx selbst nicht von Widersprüchen frei war, d.h., daß auch er einer sich ändernden Wirklichkeit Achtung erweisen und, um überhaupt reagieren zu können, in nichtrevolutionären Zeiten auf eine nichtrevolutionäre Weise reagieren mußte. Seine Theorien konzentrierten sich auf die wesentlichen Aspekte des Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat, aber seine Praxis änderte sich schrittweise, indem er sich mit den Problemen beschäftigte, so wie sie sich ergaben, Probleme die nicht immer mit Hilfe von Grundprinzipien gelöst werden konnten. Da der Marxismus während der Aufschwungphase des Kapitalismus nicht stumm bleiben wollte, konnte er sich nur in einer Weise äußern, die einer Theorie widersprach, die aus der Erkenntnis eines realen und immer existierenden Klassenkampfes resultierte. Die Theorie eines immerwährenden Klassenkampfes ist nicht gerechtfertigter, als das bürgerliche Konzept des Fortschritts. Es gibt keinen Automatismus der Aufwärtsentwicklung; statt dessen gibt es Schlachten mit wechselnden Glück; es gibt einen Stillstand in den Kämpfen und die endgültige Niederlage. Die große Zahl der Arbeiter, die in den Zeiten, als die Geschichte den Kapitalismus begünstigte, in Opposition zum mächtigen kapitalistischen Staat standen, repräsentiert nicht den Riesen, auf dessen Rücken die kapitalistischen Parasiten ruhen, sondern eher den Bullen, der dorthin zu gehen hat, wohin ihn sein Nasenring zwingt. Während der nichtrevolutionären Periode des aufsteigenden Kapitalismus konnte der revolutionäre Marxismus nur als Ideologie existieren, der einer ihm gänzlich gegensätzlichen Praxis diente. Dieser Ideologie wiederum wurden durch die aktuellen Ereignisse Grenzen gesetzt. Als reine Ideologie mußte sie in dem Moment aufhören zu existieren, in dem große soziale Umwälzungen einen Wechsel von einer indirekten zu einer direkten Klassenkollaboration für kapitalistische Zwecke verlangte.

Marx entwickelte seine Theorien in revolutionären Zeiten. Als fortgeschrittenster bürgerlicher Revolutionär war er der dem Proletariat am nächsten stehende. Die Niederlage der Bourgeoisie als revolutionäre Klasse und ihr Erfolg im Rahmen der Konterrevolution brachten Marx zu der Überzeugung, daß die moderne revolutionäre Klasse nur die Arbeiterklasse sein kann und er entwickelte die sozioökonomische Theorie ihrer Revolution. Wie viele seiner Zeitgenossen unterschätzte er die Stärke und Flexibilität des Kapitalismus und erwartete allzu bald das Ende der bürgerlichen Gesellschaft. Zwei Alternativen stellten sich ihm: Er konnte sich entweder außerhalb der aktuellen Entwicklung stellen und sich auf ein praxisfernes radikales Denken zurückziehen oder unter den gegebenen Umständen an den aktuellen Kämpfen teilnehmen und die revolutionären Theorien für „bessere Zeiten“ aufheben. Diese letzte Alternative wurde umgesetzt in das „richtige Gleichgewicht zwischen Theorie und Praxis“ und Niederlage oder Erfolg proletarischer Aktivitäten wurde damit wieder einmal das Ergebnis von „richtiger“ oder „falscher“ Taktik, der Frage der richtigen Organisation und der korrekten Führung. Es war nicht so sehr Marx`frühe Verbindung mit der bürgerlichen Revolution, die zur weiteren Entwicklung des jakobinischen Aspekts in der Arbeiterbewegung, die seinen Namen trug, führte, sondern die aufgrund der nichtrevolutionären Zeiten nichtrevolutionäre Praxis dieser Bewegung.

Der Marxismus von Kautsky war somit ein rein ideologischer Marxismus und dazu verurteilt, im Laufe der Zeit in idealistische Strukturen zurückzufallen. Kautskys „Orthodoxie“ war in Wahrheit nichts anderes als die künstliche Bewahrung von Ideen, die der aktuellen Praxis widersprachen und somit letztlich zum Rückzug gezwungen waren, da die Realität immer stärker ist als die Ideologie. Eine wirkliche marxistische „Orthodoxie“ könnte nur bei einer Wiederkehr wirklich revolutionärer Situationen Sinn machen, wobei eine solche „Orthodoxie“ nicht eine solche der „Worte“ wäre, sondern eine solche, die sich auf die Prinzipien des Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat unter Berücksichtigung neuer und veränderter Aspekte beziehen würde. Der Rückzug der Theorie vor der Praxis kann mit außerordentlicher Klarheit anhand von Kautskys Schriften nachvollzogen werden.

Die vielen von Kautsky geschriebenen Bücher und Artikel befassen sich mit fast allen sozialen Problemen und darüber hinaus mit spezifischen Fragen der Arbeiterbewegung. Allerdings können seine Schriften in die Bereiche Ökonomie, Geschichte und Philosophie unterteilt werden. Im Bereich der politischen Ökonomie läßt sich zu seinem Beitrag nicht viel sagen. Er war der Popularisator des ersten Bandes von Marx` „Kapital“ und der Herausgeber von Marx` „Theorien über den Mehrwert“, die zwischen 1904 und 1910 veröffentlicht wurden. Seine Popularisierungen von Marx` ökonomischen Theorien unterscheiden sich nicht von den allgemein akzeptierten Interpretationen ökonomischer Erscheinungen in der sozialistischen Bewegung, die Revisionisten eingeschlossen. Tatsächlich wurden Teile seines berühmten Buches „Die ökonomischen Theorien von Marx“ von Eduard Bernstein geschrieben. An der hitzigen Diskussion, die um die Jahrhundertwende um die Bedeutung von Marx` Theorien im zweiten und dritten Band des „Kapital“ geführt wurden, hatte Kautsky kaum Anteil. Für ihn enthielt der erste Band des Kapital alles, was für die Arbeiter und ihre Bewegung wichtig war. Er handelte vom Produktionsprozess, der Fabrik und der Ausbeutung und enthielt alles, was dazu diente, eine Arbeiterbewegung gegen den Kapitalismus zu unterstützen. Die beiden anderen Bände, die sich detaillierter mit kapitalistischen Krisen- und Zusammenbruchstendenzen befassen, bezogen sich nicht auf die unmittelbare Realität und stießen nicht nur bei Kautsky, sondern auch bei allen anderen Theoretikern während der Aufschwungphase des Kapitalismus auf wenig Interesse. In einer 1886 geschriebenen Besprechung des zweiten Bandes des „Kapital“ vertrat Kautsky die Auffassung, daß dieser Band für die Arbeiter von geringerem Interesse sei, da er sich vorwiegend mit dem Problem der Realisierung des Mehrwerts beschäftigt, was eigentlich eher die Kapitalisten angehe. Als Bernstein im Zusammenhang mit seinem Angriff auf Marx`ökonomische Theorien dessen Zusammenbruchstheorie zurückwies, verteidigte Kautsky den Marxismus, indem er einfach leugnete, daß Marx jemals eine eigene Theorie hinsichtlich des objektiven Endes des Kapitalismus entwickelt habe und darauf hinwies, daß ein solches Konzept eine reine Erfindung Bernsteins sei. Schwierigkeiten und Widersprüche glaubte er in der Zirkulationssphäre zu finden. Der Konsum könne nicht so schnell wachsen wie die Produktion und eine permanente Überproduktion würde die Einführung des Sozialismus politisch notwendig machen. Gegen Tugan-Baranowskys Theorie einer ungehemmten kapitalistischen Entwicklung, die von der Tatsache ausging, daß das Kapital sich eigene Märkte schafft und sich entwickelnde Disproportionalitäten überwinden kann, eine Theorie, welche die gesamte reformistische Bewegung beeinflusste, erklärte er mit seiner Unterkonsumtionstheorie die Unausweichlichkeit kapitalistischer Krisen15, die schließlich die subjektiven Bedingungen für eine Umwandlung des Kapitalismus in den Sozialismus schaffen würden, 25 Jahre später gab er allerdings öffentlich zu, daß er sich in seiner Einschätzung der ökonomischen Möglichkeiten des Kapitalismus geirrt hatte, der ihm jetzt, „rein ökonomisch betrachtet weit lebenskräftiger erscheint, als vor einem halben Jahrhundert.16

Die theoretischen Unklarheiten und Widersprüche, die Kautsky in ökonomischen Fragen zeigte17, fanden ihren Höhepunkt in der Akzeptanz der einstmals zurückgewiesenen Ansichten von Tugan-Baranowsky. Dies war nur ein Spiegel seiner wechselnden allgemeinen Einstellung gegenüber bürgerlichem Denken und der kapitalistischen Gesellschaft. In seinem Buch „Die materialistische Geschichtsauffassung“ das er als Quintessenz seiner Lebensarbeit betrachtete und das sich auf nahezu zweitausend Seiten mit der Entwicklung der Natur, der Gesellschaft und des Staates beschäftigt, offenbart er nicht nur seine pedantischen Darstellungsweisen und sein umfassendes Wissen von Theorien und Fakten, sondern auch seine vielen Mißverständnisse im Hinblick auf den Marxismus und seinen endgültigen Bruch mit der marxistischen Wissenschaft. Hier erklärt er offen, daß „zeitweise Revisionen des Marxismus unvermeidlich (sind)“.18 Hier akzeptiert er jetzt alles, wogegen er sein ganzes Leben scheinbar angekämpft hatte. Er ist nun nicht länger nur an der Interpretation des Marxismus interessiert, sondern auch bereit, Verantwortung für seine eigenen Gedanken zu übernehmen, indem er sein Hauptwerk als seine eigene, von Marx und Engels zwar nicht sich völlig abwendende, aber von ihnen unabhängige Geschichtsauffassung präsentiert. Seine Meister, so behauptet er jetzt, hatten ein zu enges Konzept von materialistischer Geschichtsauffassung, da sie die Einflüsse der Natur in der Geschichte zu sehr vernachlässigten. Indem er sich nicht auf Hegel, sondern auf Darwin beruft, trachtet er danach, „das Gebiet der materialistischen Geschichtsauffassung so weit auszudehnen, daß es sich mit der Biologie berührt(e)“.19 Aber seine Erweiterung des historischen Materialismus erweist sich als schlichte Rückkehr zur Position des revolutionären Bürgertums, die Marx mit seiner Zurückweisung von Feuerbach überwunden hatte. Auf der Basis dieses naturalistischen Materialismus übernimmt Kautsky zwangsläufig, wie die bürgerlichen Philosophen vor ihm, ein idealistisches Konzept der sozialen Entwicklung, daß im Hinblick auf den Staat offen und vollständig die alten bürgerlichen Anschauungen, denen zufolge die Geschichte der Menschheit die Geschichte der Staaten sei, vertritt. Indem er beim bürgerlichen Staat endet, hält Kautsky fest, daß „der Kampf der Waffen für die Austragung von Klassenkonflikten keinen Raum mehr (findet). Sie werden in friedlicher Weise durch Propaganda und Abstimmung entschieden“.20

Obwohl wir an dieser Stelle Kautskys umfangreiches Buch unmöglich im Detail vorstellen können, müssen wir festhalten, daß es durchgängig den zweifelhaften Charakter von Kautskys „Marxismus“ aufzeigt.21 Seine Verbindungen zur Arbeiterbewegung waren, im Rückblick betrachtet, nie mehr als die Teilnahme an einer Art bürgerlicher Sozialarbeit. Ohne Zweifel hat er die wahre Position von Marx und Engels nie verstanden oder sich zumindest nie träumen lassen, daß Theorien eine unmittelbare Beziehung zur Realität haben können. Dieser scheinbar ernsthafte Marxschüler hat Marx nie wirklich ernst genommen. Wie viele fromme Priester, deren praktisches Engagement im Gegensatz zu ihren Lehren steht, war er sich wahrscheinlich der Dualität seines eigenen Denkens und Handelns nicht einmal bewusst. Zweifellos wäre er in Wirklichkeit gerne der Bürger gewesen, von dem Marx einmal sagte, er sei „Kapitalist nur im Interesse des Proletariats“. Aber sogar dies würde er ablehnen, wenn es nicht auf bürgerlich-demokratische Weise geschehen würde. Kautsky „verwirft die bolschewistische Melodie, die sein Gehör beleidigt“, schrieb Trotzki, aber er sucht nicht nach einer anderen. Die Lösung ist einfach: Der alte Tanzbär weigert sich überhaupt, auf dem Instrument der Revolution zu spielen.“22

Indem er am Ende seines Lebens erkennt, daß die von ihm erhofften Reformen des Kapitalismus auf demokratische und friedliche Weise nicht realisiert werden können, wandte sich Kautsky gegen seine eigene praktische Politik und so wie er früher der Befürworter einer marxistischen Ideologie war, die, gänzlich getrennt von der Realität, nur ihren Gegnern dienen konnte, wurde er jetzt zum Befürworter der bürgerlichen laissez-faire-Ideologie, die ebenso weit von den aktuellen Verhältnissen der sich entwickelnden faschistischen kapitalistischen Gesellschaft entfernt ist und dieser Gesellschaft ebenso dient wie seine marxistische Ideologie der demokratischen Phase des Kapitalismus gedient hatte. „Man liebt es heute“, schrieb er in seinem letzten Werk, „vom Liberalismus und seiner Ökonomie wegwerfend zu sprechen, und doch ist deren Theorie, die Quesnay, Adam Smith und Ricardo begründeten, in keiner Weise überwunden. Karl Marx selbst hat sie im Grunde anerkannt und weiter entwickelt. Marx hat nie bestritten, daß die liberalen Freiheiten der Warenproduktion für die Entwicklung der Warenproduktion den besten Boden bilden. Er unterschied sich von den Klassikern der bürgerlichen Ökonomie allerdings dadurch, daß sie die Warenproduktion von Privatproduzenten für die einzig mögliche Form der Produktion hielten. Er dagegen anerkannte, daß daß die höchste Form der Warenproduktion, durch ihre eigene Entwicklung Bedingungen für eine ihr überlegene Produktion schaffe, die der gesellschaftlichen Produktion, in der die Gesellschaft, identisch mit der Gesamtheit der Arbeiter, über die heute im kapitalistischen Privateigentum befindlichen Produktionsmittel verfügt und sie nicht zu Zwecken des Profits, sondern zur Deckung des Bedarfs der Gesellschaft anwendet. Diese, die sozialistische Produktionsweise unterliegt eigenen Gesetzen, die in vielem von den Gesetzen der Warenproduktion abweichen. Aber wo und solange die Warenproduktion besteht, wird sie am besten gedeihen, wenn in ihr die eigentümlichen Gesetze beachtet werden, die bereits in der Ära des aufkommenden Liberalismus entdeckt wurden.“23

Diese Ideen sind sehr überraschend für einen Mann, der Marx` „Theorien über den Mehrwert“ herausgegeben hatte, ein Buch, das erschöpfend bewies, „daß Marx und Engels zu keiner Zeit ihres Lebens der oberflächlichen Meinung gehuldigt haben, daß sich der neue Inhalt ihrer sozialistischen und kommunistischen Theorie als bloße ideologische Konsequenz aus der stockbürgerlichen Theorie der Quesnay, Smith und Ricardo ableiten ließe“.24 Diese Stellungnahme zu Kautsky verweist auf eine notwendige Einschränkung unserer obigen Feststellung, er sei ein hervorragender Schüler von Marx und Engels gewesen. Er war es nämlich nur in dem Ausmaß, in dem der Marxismus in seine eigene beschränkte Auffassung von sozialer Entwicklung und kapitalistischer Entwicklung eingepaßt werden konnte. Für Kautsky ist die „sozialistische Gesellschaft“ oder die logische Konsequenz der kapitalistischen Warenproduktion in Wahrheit nur ein staatskapitalistisches System. Als er einst Marx`Wertkonzept als Gesetz sozialistischer Ökonomie mißverstand, daß nur bewußt anzuwenden sei, anstatt es den „blinden“ Gesetzen des Marktes zu überlassen, wies Engels ihn darauf hin, daß Wert für Marx eine streng historische Kategorie sei und daß weder vor noch nach dem Kapitalismus eine Warenproduktion existiere, die sich nur der Form nach von der des Kapitalismus unterscheide.25 Und wie in seinem Werk „Die ökonomischen Theorien von Karl Marx“ (1887), in dem er Wert ebenfalls als historische Kategorie ansah, nachzulesen ist, akzeptierte Kautsky Engels`Feststellung. Später jedoch integrierte er, in Reaktion auf bürgerliche Kritik an sozialistischen ökonomischen Theorien, in seinem Buch „Die proletarische Revolution und ihr Programm“ (1922) das Wertkonzept, die Markt- und Geldökonomie und die Warenproduktion wieder in sein Schema einer sozialistischen Gesellschaft. Was einst historisch war, wird ewig; Engels hatte umsonst geredet. Kautsky war dahin zurückgekehrt, wo er hergekommen war, zum Kleinbürgertum, das mit gleicher Intensität sowohl die Kontrolle durch die Monopole als auch den Sozialismus haßt und einerseits rein quantitative gesellschaftliche Änderungen, eine erweiterte Reproduktion im Rahmen des Status Quo, einen besseren und stärkeren Kapitalismus und eine bessere und umfassendere Demokratie erhofft, andererseits einen im Faschismus gipfelnden oder in Kommunismus übergehenden Kapitalismus fürchtet.

Die Aufrechterhaltung der liberalen Warenproduktion und ihres politischen Ausdrucks wurden von Kautsky der „Ökonomie“ des Faschismus vorgezogen, weil dieses System ihm eine lange Zeit der Berühmtheit und nur eine kurze Zeit der Not beschert hatte. So wie er die bürgerliche Demokratie mit marxistischer Phraseologie verteidigt hatte, so verschleierte er die faschistische Realität mit demokratischer Phraseologie. Indem er ihre Gedanken auf die Vergangenheit, statt auf die Zukunft lenkte, verhinderte er bei seinen Nachfolgern eine mentale Ausrichtung auf revolutionäre Aktionen. Der Mann, der kurz vor seinem Tod von dem sich ausbreitenden Faschismus von Berlin nach Wien, von Wien nach Prag und von Prag nach Amsterdam vertrieben wurde, veröffentlichte 1937 ein Buch, daß in aller Deutlichkeit zeigt, daß, wenn ein ehemaliger „Marxist“ ein materialistisches Konzept sozialer Entwicklung durch ein idealistisches ersetzt, er zweifellos früher oder später jene theoretische Grenzlinie erreicht, wo Idealismus in Schwachsinn umschlägt.26 Es gibt eine in Deutschland kursierende Geschichte, der zufolge Hindenburg, als er eine Parade nationalsozialistischer Sturmtruppen beobachtete, sich zu einem neben ihm stehenden General wandte und zu ihm bemerkte: „Ich wußte nicht, daß wir so viele russische Gefangene gemacht haben.“ Auch Kautsky ist mit seinem letzten Buch geistig immer noch in Tannenberg. Sein Buch enthält eine gewissenhafte Beschreibung der von Sozialisten und ihren Vorläufern vom fünfzehnten Jahrhundert bis zur Jetztzeit der Kriegsfrage gegenüber eingenommenen verschiedenen Haltungen. Es zeigt, wenn auch nicht für Kautsky, wie unsinnig Marxismus werden kann, wenn er proletarische und bürgerliche Nöte und Bedürfnisse zusammenwirft.

Kautsky schrieb sein letztes Buch, um herauszufinden, „welche Haltung (die Sozialisten und Demokraten aller Länder) einnehmen werden, wenn es zum Krieg kommt, trotz unseres Widerstrebens“. Allerdings, so fuhr er fort: „Eine bestimmte Antwort läßt sich wohl nicht im Vorhinein geben, ehe nicht der Krieg da ist und wir deutlich sehen, wer ihn herbeigeführt hat, zu welchen Zwecken er geführt wird.“ Er tritt dafür ein, daß „eine der Hauptaufgaben in einem möglichen Krieg für die Sozialisten in der Erhaltung ihrer Einigkeit bestehen (wird), damit die sozialistischen Parteien aus ihm geschlossen hervorgehen und in der Lage sind, seine Früchte dort einzuheimsen, wo er zum Zusammenbruch eines volksfeindlichen Regimes führt. Im Jahre 1914 ging diese Einigkeit verloren. Daran leiden wir bis heute. Aber diesmal liegen die Dinge bisher wenigstens einfacher, klarer als damals, der Gegensatz zwischen demokratischen und antidemokratischen Staaten ist viel stärker aus geprägt. Da dürfen wir erwarten, daß, wenn es wirklich nochmals zu dem entsetzlichen Unheil eines Weltkrieges kommen sollte, die Sozialisten alle auf der gleichen Seite stehen werden, auf der der Demokratie.“27 Seit der Erfahrung des letzten Krieges und der seitherigen Geschichte gibt es weder eine Notwendigkeit nach dem schwarzen Schaf zu suchen, das für den Krieg verantwortlich ist, noch ist es länger ein Geheimnis, warum Kriege geführt werden. Solche Fragen zu stellen ist jedoch keine Dummheit, wie man glauben könnte. Hinter dieser scheinbaren Naivität versteckt sich die Absicht, dem Kapitalismus in der einen Form zu dienen, indem man ihn in einer anderen Form bekämpft. Sie dient dazu, die Arbeiter auf den kommenden Krieg vorzubereiten und sich dafür das Recht einzuhandeln, sich in Arbeiterorganisationen zusammenzuschließen, an Wahlen teilzunehmen und sich in Verbänden zu sammeln, die sowohl dem Kapital als auch den kapitalistischen Arbeiterorganisationen dienlich sind. Es ist die alte Politik von Kautsky, im Austausch für Millionen tote Arbeiter in den kommenden kapitalistischen Schlachten Konzessionen von der Bourgeoisie zu fordern. So wie die kapitalistischen Kriege, unabhängig von den politischen Differenzen der teilnehmenden Staaten und der unterschiedlichen benutzten Schlagworte, nur Kriege für kapitalistische Profite und gegen die Arbeiterklasse sein können, so schließen sie ebenfalls die Möglichkeit einer Wahl zwischen einer bedingungslosen oder einer an Bedingungen geknüpfte Teilnahme am Krieg für die Arbeiter aus. Eher werden der Krieg und sogar die Vorkriegszeit sowohl in faschistischen wie in nichtfaschistischen Ländern durch eine allgemeine und umfassende Militärdiktatur gekennzeichnet sein. Der Krieg wird die letzten Unterschiede zwischen demokratischen und antidemokratischen Nationen zum Verschwinden bringen. Und die Arbeiter werden Hitler dienen wie sie dem Kaiser gedient haben, sie werden Roosevelt dienen wie sie Wilson gedient haben und sie werden für Stalin sterben wie sie für den Zaren gestorben sind.

Kautsky fühlte sich von der faschistischen Realität nicht beunruhigt, da für ihn die Demokratie die natürliche Form des Kapitalismus war. Die neue Situation war nur eine Krankheit, eine zeitweilige Unzulänglichkeit, dem Kapitalismus aber eigentlich fremd. Er glaubte wirklich an einen Krieg für die Demokratie, der es dem Kapitalismus erlauben würde, auf seinem vorgegebenen Weg zu einer wirklichen Gemeinschaft voranzuschreiten. Und seine Voraussagen von 1937 beinhalteten Sätze wie die folgenden: „Es ist die Zeit gekommen, wo man endlich daran gehen kann, den Krieg als Mittel der Ausfechtung der politischen Konflikte zwischen Staaten vollständig zu beseitigen.“28 Oder: „Das erobernde Vorgehen der Japaner in China, der Italiener in Abessinien ist ein letzter Nachhall einer verschwindenden Zeit, des Zeitalters des Imperialismus. Weitere Eroberungskriege dieser Art sind kaum noch zu erwarten.“29 Es gibt hunderte von ähnlichen Sätzen in Kautskys Buch und manchmal kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß seine ganze Welt aus nicht mehr als den vier Wänden seiner Bibliothek bestand, in welche die neuesten Werke zur Gegenwartsgeschichte einzuordnen er vernachlässigte. Kautsky ist überzeugt, daß, auch ohne Krieg, der Faschismus besiegt werden wird, der Aufstieg der Demokratie sich fortsetzen und die Zeit für eine friedliche Entwicklung zum Sozialismus wiederkommen wird, wie in der Zeit vor dem Faschismus. Die grundlegende Schwäche des Faschismus erklärt er mit der Bemerkung, daß „gerade durch diesen rein persönlichen Charakter solche Diktatur die zeitlich auf ein Menschenleben begrenzte Dauer (bekundete).30 Er glaubte, daß es nach dem Faschismus eine Rückkehr zum „normalen“ Leben auf der Basis einer wachsenden allgemeinen sozialistischen Demokratie geben würde, welche die in der großen Zeit der sozialdemokratischen Koalitionspolitik begonnenen Reformen fortsetzen könnte. Heute allerdings ist es offensichtlich, daß die einzig objektiv mögliche kapitalistische Reform die faschistische Reform ist. Und tatsächlich wurde mittlerweile der größere Teil des Sozialisierungsprogramms der Sozialdemokratie, daß sie nie in die Praxis umzusetzen wagte, von den Faschisten realisiert. Ebenso wie die Forderungen der deutschen Bourgeoisie nicht 1848 erfüllt wurden, sondern in der folgenden Periode der Konterrevolution, so wurde auch das Reformprogramm der Sozialdemokratie, das sie während ihrer eigenen Regierungszeit nicht realisieren konnte, von Hitler in die Praxis umgesetzt. So erfüllte, um nur einige Beispiele zu nennen, nicht die Sozialdemokratie, sondern Hitler den von den Sozialisten lange gehegten Wunsch nach dem Anschluss Österreichs; nicht die Sozialdemokratie, sondern der Faschismus verwirklichte die gewünschte staatliche Kontrolle von Industrie und Banken; nicht die Sozialdemokratie sondern Hitler erklärte den Ersten Mai zum gesetzlichen Feiertag. Ein sorgfältiger analytischer Vergleich dessen, was die Sozialisten tatsächlich zu tun wünschten, aber nie taten, mit der aktuellen Politik seit 1933, wird jedem objektiven Beobachter zeigen, daß Hitler nichts anderes realisierte als das Programm der Sozialdemokraten, aber ohne die Sozialisten. Wie Hitler standen die Sozialdemokratie und Kautsky sowohl in Opposition zum Bolschewismus als auch zum Kommunismus. Gerade ein umfassendes staatskapitalistische System wie das russische wurde von beiden zugunsten einer bloßen staatlichen Kontrolle abgelehnt. Und was zur Realisierung eines solchen Programms nötig ist, wurde von den Sozialisten nicht gewagt, aber von den Faschisten umgesetzt. Der Antifaschismus von Kautsky illustriert nicht mehr als die Tatsache, daß, ebenso wie er sich einst nicht vorstellen konnte, daß marxistische Theorie durch marxistische Praxis zu ergänzen sei, er später nicht in Betracht zog, daß eine kapitalistische Reformpolitik eine kapitalistische Reformpraxis erfordert, als die sich schließlich die Praxis der Faschisten erwies. Aus dem Leben von Kautsky können die Arbeiter lernen, daß der Kampf gegen den Faschismus notwendigerweise den Kampf gegen die bürgerliche Demokratie, den Kampf gegen Kautskyanismus mit einschließt. Das Leben von Kautsky kann, in aller Wahrheit und ohne böse Absicht, in den Worten zusammengefaßt werden: Von Marx zu Hitler.


Dieser Text erschien zuerst ohne Quellenangabe in: Living Marxism, 7 Juni/1939 (4. Jg.), S. 193-207 und wurde wieder abgedruckt in Paul Mattick, Anti-Bolshevik Communism, London 1978, S. 1-17. Die Angaben wurden zum Teil ergänzt; die Anmerkungen 13 und 14 wurden hinzugefügt.


1Friedrich Adler, Karl Kautsky, in: Der sozialistische Kampf/La lutte socialiste, Paris, 12/5. November 1938, S. 271.

2Karl Kautsky, Aus der Frühzeit des Marxismus. Engels Briefwechsel mit Kautsky. Herausgegeben von Karl Kautsky, Prag 1935, S. 20.

3Ebd., S. 93

4Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Buch 1: Der Produktionsprozeß des Kapitals, in Marx Engels Werke (MEW) 23, S. 646.

5Rosa Luxemburg, Der Wiederaufbau der Internationale, in: Die Internationale. Zeitschrift für Theorie und Praxis des Marxismus, 1/April 1915, S. 8; jetzt in: Dies., Gesammelte Werke, Band 4, Berlin 1974, S. 25.

6W. I. Lenin, Briefe, Band IV. August 1914-Oktober 1917, Berlin 1967, S. 19.

7Karl Kautsky, Die soziale Revolution, I. Sozialreform und soziale Revolution, Berlin 1902, II. Am Tag nach der sozialen Revolution, Berlin 1902.

8Karl Kautsky, Sozialisten und Krieg. Ein Beitrag zur Ideengeschichte des Sozialismus von den Hussiten bis zum Völkerbund, Prag 1937, S. 673.

9Karl Kautsky, Aus der Frühzeit des Marxismus, a.a.O., S. 50.

10Ebd. S. 112.

11Ebd. S. 155.

12Ebd. S. 257.

13Karl Marx, Rede über den Haager Kongreß, in: MEW 18, S. 160.

14Karl Kautsky in: Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands . Abgehalten zu Stuttgart vom 3. bis 8. Oktober 1898, Berlin 1898, Berlin 1898, S. 129.

15Karl Kautsky, Krisentheorien, 5. Die Veränderung im Charakter der Krisen, in: Die Neue Zeit, 20. Jg. (1901/02), 5/1902, S. 133 ff.

16Karl Kautsky, Die materialistische Geschichtsauffassung, 2 Bände, Berlin 1927, Band 2, S. 623.

17Die Beschränktheiten von Kautskys ökonomischen Theorien und ihre Veränderungen im Laufe seiner Tätigkeiten sind von Henryk Grossmann in seinem Buch „Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems“ (Leipzig 1929, Neuauflage: Frankfurt am Main, 1970), das dem Interesse des Lesers empfohlen sei, hervorragend beschrieben und analysiert worden.)

18Karl Kautsky, Die materialistische Geschichtsauffassung, Band 2, a.a.O., S. 630.

19Ebd. S. 630.

20Ebd. S. 431/432

21Der Leser sei auf Karl Korschs ausführliche Kritik an Kautskys Werk verwiesen: „Die materialistische Geschichtsauffassung. Eine Auseinnandersetzung mit Karl Kautsky“, Leipzig 1929 (Neuauflage: Frankfurt am Main 1971).

22Leo Trotzki, Terrorismus und Kommunismus . Anti-Kautsky (1920), in Leo Trotzki,Terrorismus und Kommunismus. Anti-Kautsky/Karl Kautsky, Von der Demokratie zur Staatssklaverei. Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Hans-Jürgen Mende, Berlin 1920, S. 171.

23Karl Kautsky, Sozialisten und Krieg, a.a.O., S. 665

24Karl Korsch, Karl Marx, Frankfurt/Wien 1967, S. 61; Siehe auch Engels` „Vorwort zur ersten deutschen Ausgabe von Karl Marx`Schrift „Das Elend der Philosophie“ (1884) in MEW 3, S. 175-187 und sein „Vorwort zum zweiten Band des „Kapital““ aus dem Jahre Jahre 1885, in: MEW 24, S. 7-26.

25Karl Kautsky, Aus der Frühzeit des Marxismus, a.a.O., S. 145

26Karl Kautsky, Sozialisten und Krieg, a.a.O.

27Ebd., S. VII/VIII.

28Ebd., S. 116.

29Ebd., S. 656.

30Ebd., S. 646.

]]> „Partei und Arbeiterklasse“ von Anton Pannekoek und ein Kommentar von Paul Mattick dazu https://panopticon.blackblogs.org/2023/09/28/partei-und-arbeiterklasse-von-anton-pannekoek-und-ein-kommentar-von-paul-mattick-dazu/ Thu, 28 Sep 2023 08:27:15 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5207 Continue reading ]]>

Wir haben diese beide Texte ausgegraben und übersetzt, was der Fall beim Text von Paul Mattick ist, weil sie sich beide der Kritik der Parteien, auch der leninistischen Avantgardevorstellung der Partei, widmen. Dies sollte nicht nur für alle Anarchistinnen und Anarchisten interessant sein, sondern kann qualitativ in der Debatte zur Formalität vs. Informalität eingefügt werden. Denn die Kritik an Parteien-Avantgarden, Gewerkschaften/Syndikate und dergleichen wird rasch auf den entweder autoritären und/oder reformistischen Charakter beider zum Ausdruck gebracht. Nicht dass diese Kritiken falsch wären, liegt jedoch das Problem eher darin dass diese Kritik nicht den Umfang trägt denn die Kritik an sich inne haben müsste. Parteien-Avantgarden und/oder Gewerkschaften/Syndikate könnten durchaus „in der Lage sein“ dennoch die soziale Revolution vorantreiben, dass tun sie aber nicht und die Kritik von Mattick wie auch von Pannekoek unterstreicht dies auf einer materiellen und nicht idealistischen Art und Weise. Daher sehen wir diese Texte als eine Bereicherung für alle Anarchistinnen und Anarchisten die der aufständischen Praxis eine Absage gemacht haben.


(März 1936 Anton Pannekoek) Partei und Arbeiterklasse

Aus: Rätekorrespondenz, Heft 15, März 1936.

Wir sehen erst die allerersten Anfänge einer neuen Arbeiterbewegung emporkommen; die alte Bewegung ist verkörpert in Parteien; der Glaube an die Partei ist das schwerste Hemmnis, das die Arbeiterklasse jetzt machtlos macht. Daher vermeiden wir es, eine neue Partei zu bilden; nicht, weil wir zu wenig sind – jede Partei mußte klein anfangen – sondern weil eine Partei jetzt eine Organisation bedeutet, die die Arbeiterklasse führen und beherrschen will. Demgegenüber stellen wir das Prinzip: die Arbeiterklasse wird nur emporkommen und siegen können, wenn sie selbst ihre Geschicke in die Hand nimmt. Die Arbeiter sollen nicht gläubig die Losungen eines Anderen, einer Gruppe übernehmen, auch nicht die unsrigen, sondern selbst denken, selbst handeln, selbst entschließen. Daher betrachten wir als ihr natürliches Organ zur Aufklärung in dieser Zeit des Übergangs die Arbeitsgruppen, die sich selbst bildenden, ihren Weg selbst suchenden Studien- und Diskussionsorganisationen.

Diese Anschauung steht im schärfsten Widerspruch zu den überlieferten Auffassungen über die Rolle der Partei als wichtigstes Organ zur Aufklärung des Proletariats. Daher stößt sie in vielen Kreisen, die von der sozialistischen oder kommunistischen Partei nichts mehr wissen wollen, auf Widerstand und Ablehnung. Teilweise ist das die Macht der Tradition; wenn man immer den Arbeiterkampf als Parteikampf und Kampf der Parteien betrachtet hat, ist es sehr schwer, die Welt vom Gesichtspunkt der Klasse allein und des Klassenkampfes zu sehen. Aber teilweise steckt darin auch das Bewußtsein, daß trotz alledem die Partei eine wesentliche und wichtige Rolle in dem Befreiungskampf des Proletariats zu spielen hat. Diese wollen wir jetzt näher betrachten.

Der Unterschied, um den es sich hier handelt, läßt sich kurz dahin zusammenfassen: eine Partei ist eine Gruppierung nach Anschauungen, eine Klasse ist eine Gruppierung nach Interessen. Die Klassenangehörigkeit wird bestimmt durch die Rolle im Produktionsprozeß, die bestimmte Interessen mit sich bringt. Die Parteiangehörigkeit beruht auf dem Zusammenschluß von Personen, die die gleichen Ansichten über die wichtigen gesellschaftlichen Fragen hegen.

Früher hat man geglaubt, aus theoretischen und praktischen Gründen, daß dieser Gegensatz verschwinden werde in der Klassenpartei, der „ArbeiterPartei“. Während des Emporkommens der Sozial-Demokratie schien es, als ob diese Partei allmählich die ganze Arbeiterklasse umfassen sollte, teils als Mitglieder, teils als Mitläufer. Und weil die Theorie besagte, daß gleiche Interessen notwendig gleiche Ansichten und gleiche Ziele bewirken müssen, müßte der Unterschied zwischen Klasse und Partei stets mehr verschwinden. Die geschichtliche Entwicklung hat dann ganz andere Dinge gezeigt. Die Sozialdemokratie blieb eine Minderheit, andere Arbeitergruppen organisierten sich gegen sie, Teile spalteten sich ab, ihr eigener Charakter änderte sich, ihre Programmpunkte wurden revidiert oder bekamen eine andere Bedeutung. Die Entwicklung der Gesellschaft vollzieht sich nicht nach einer glatten Linie, sondern in Kämpfen und Gegensätzen. Mit dem Wachstum des Arbeiterkampfes wächst auch die Macht des Gegners und wirft immer wieder neue Unsicherheit und Zweifel in die Herzen der Kämpfer, welchen Weg sie zu wählen haben. Und jeder Zweifel bewirkt Spaltungen, innere Gegensätze und Richtungskämpfe innerhalb der Arbeiterbewegung.

Man soll diese Spaltungen und Richtungskämpfe nicht einfach bejammern als etwas Schädliches, das nicht sein sollte und die Arbeiter machtlos hält. Es ist schon oft in diesen Schriften gesagt worden: die Arbeiterklasse ist nicht schwach weil sie innerlich gespalten ist, sondern sie ist innerlich gespalten weil sie schwach ist. Weil die Macht des Gegners gewaltig ist und die alten Mittel gegen ihn sich unfähig zeigten, deshalb muß die Arbeiterklasse sich ihre neuen Wege suchen. Was sie zu tun hat, kann nicht als eine Erleuchtung von oben kommen; sie muß es sich in schwerer Arbeit, in Denkarbeit, im Zwiespalt entgegengesetzter Meinungen, im harten Meinungskampf erringen. Selbst muß sie den Weg suchen, und dazu dient der innere Kampf. Sie muß alte Gedanken und Illusionen aufgeben und neue Wege finden; und weil das jetzt gerade so schwer ist, deshalb ist die Spaltung so groß.

Man soll auch nicht die Illusion haben, daß diese scharfen Partei- und Meinungskämpfe nur für diese Übergangszeit natürlich sind und nachher in einer großen Einheit verschwinden werden. Gewiß, in der Entwicklung des Klassenkampfes kommen Zeiten vor, daß auf einmal alle Kräfte sich auf einen großen erreichbaren Erfolg konzentrieren, und die Revolution von einer mächtigen Einheit getragen wird. Aber dann, wie nach jedem Sieg, kommen sofort die Differenzen über die weiteren Ziele. Auch wenn die Arbeiterklasse siegreich ist, steht sie immer wieder vor den schwierigsten Aufgaben, die Gegner weiter niederzuwerfen, die Produktion aufzubauen, neue Ordnung zu schaffen. Es ist unmöglich, daß dabei alle Arbeiter, alle Schichten und Gruppen mit ihren oft noch verschiedenen Interessen dabei ganz dasselbe denken und fühlen, und sofort von selbst einmütig sind in dem weiteren Handeln. Gerade weil sie Menschen sind, die es selbst machen müssen, die selbst ihren Weg finden müssen, werden die schärfsten Meinungsverschiedenheiten auftreten, die sich gegenseitig bekämpfen, und dadurch erst die Gedanken zu Klarheit bringen können.

Wenn dabei nun die Personen mit gleichen Grundanschauungen sich zusammentun, zur Besprechung der praktischen Möglichkeiten, zur Klärung durch Diskussionen, zur Propaganda ihrer Ansichten, dann kann man solche Gruppen auch Parteien nennen. Der Name ist gleichgültig; das Wesentliche ist, daß in der Sache diese Parteien eine ganz andere Rolle haben als was die Parteien von heute für sich beanspruchen. Die Tat, das Handeln, der materielle Kampf ist die Sache der Arbeitermassen selbst, in ihrer Gesamtheit, in ihrer natürlichen Gruppierung als Fabrikbelegschaften, weil diese die Einheiten im praktischen Kampfe sind, oder in anderen natürlichen Gruppen. Es wäre widersinnig, wenn die Anhänger einer Parteimeinung in einen Streik treten und die Anhänger einer anderen Richtung weiter arbeiten sollten. Aber beide Richtungen werden durch ihre Anhänger ihren Standpunkt über Streik oder Nichtstreik in der Fabrikversammlung verfechten, und dadurch der Gesamtheit eine wohlbegründete Entscheidung ermöglichen. Der Kampf ist so groß, der Feind so mächtig, daß nur die Kraft der Massen in ihrer Gesamtheit einen Sieg erringen kann; materielle und moralische Kraft der Tat, der Einheit, der Begeisterung, aber zugleich geistige Kraft der Einsicht, der Klarheit. Und darin liegt die große Bedeutung solcher Parteien oder Meinungsgruppen, daß sie diese Klarheit bringen, durch ihre gegenseitigen Kämpfe, ihre Diskussionen, ihre Propaganda. Sie sind die Organe der Selbstaufklärung der Arbeiterklasse, mittels deren sie für sich selbst den Weg zur Freiheit herausfindet.

Es versteht sich dabei, daß solche Parteien und ihre Anschauungen nicht fest und unveränderlich sind. Mit jeder neuen Lage der Dinge, mit jeder neuen Kampfaufgabe werden sich die Geister trennen und vereinigen; andere Gruppierungen bilden sich mit anderen Programmen. Sie haben einen fluktuierenden Charakter, und passen sich damit den stets neuen Situationen an.

Die heutigen Arbeiterparteien haben einen völlig entgegengesetzten Charakter. Sie haben ja auch ein anderes Ziel; sie wollen die Herrschaft für sich erobern. Sie wollen nicht Hilfsmittel der Arbeiterklasse sein sich zu befreien, sie wollen selbst herrschen, und sagen, daß das die Befreiung des Proletariats sein wird. Die Sozialdemokratie, die im Zeitalter des Parlamentarismus aufwuchs, denkt sich diese Herrschaft als eine Parlamentsmehrheitsregierung. Die kommunistische Partei führt die Parteiherrschaft zur äußersten Konsequenz, als Parteidiktatur.

Solche Parteien, im Gegensatz zu dem oben Gesagten, müssen starre Gebilde sein, die sich fest abgrenzen, durch Mitgliedsbuch, Statut, Parteidisziplin, Aufnahme- und Ausschlußverfahren. Denn sie sind Machtapparate, kämpfen um die Macht, halten ihre Anhänger durch Machtmittel bei der Stange, und suchen ihre Ausdehnung, ihr Machtgebiet stetig zu erweitern. Ihre Aufgabe ist nicht, die Arbeiter zum Selbstdenken zu erziehen, sondern sie zu gläubigen Anhängern gerade ihrer Lehre zu dressieren. Während daher die Arbeiterklasse für ihre Machtentwicklung und ihren Sieg die unbeschränkteste Freiheit der geistigen Entwicklung braucht, muß die Parteiherrschaft alle anderen Meinungen als ihre eigene zu unterdrücken suchen. Bei „demokratischen“ Parteien geschieht das verhüllt, unter dem Scheine der Freiheit, bei den Diktatur-Parteien geschieht es durch offene brutale Unterdrückung.

Es gibt schon viele Arbeiter, die einsehen, daß die Herrschaft der sozialistischen oder der kommunistischen Partei nur eine verhüllte Form der Herrschaft einer bürgerlichen Klasse sein würde, wobei die Ausbeutung und Unterwerfung der Arbeiterklasse bestehen bleibt. Aber statt derer soll nun nach ihrer Ansicht eine „revolutionäre Partei“ aufgebaut werden, die wirklich die Herrschaft der Arbeiter erstrebt und den Kommunismus verwirklichen will. Nicht eine Partei in dem Sinne als wir im ersten Stück darlegten, eine Meinungsgruppe, die nur aufklärt, sondern eine Partei im heutigen Sinne, die selbst um die Macht kämpft, die als Vorhut der Klasse, als Organisation der bewußten revolutionären Minorität die Parteiherrschaft erobert, um sie für die Befreiung der Klasse auszunutzen.

Wir behaupten demgegenüber: In dem Namen „revolutionäre Partei“ liegt schon ein innerer Widerspruch. Eine solche Partei kann nicht revolutionär sein. Es sei denn, daß man einen Regierungswechsel mit etwas Gewalttätigkeit – wie z. B. den Beginn des dritten Reiches – eine Revolution nennt. Wenn wir über „revolutionär“ reden, ist dabei natürlich immer an die proletarische Revolution, die Machtergreifung durch die Arbeiterklasse gedacht.

Die „revolutionäre Partei“ beruht auf der Idee, daß die Arbeiterklasse eine Gruppe von Führern braucht, um für sie die Bourgeoisie zu besiegen und eine neue Regierung zu bilden – m. a. W. darauf, daß die Arbeiterklasse selbst noch nicht fähig zur Revolution ist. Sie beruht auf der Idee, daß diese Führer dann durch Gesetzesdekrete den Kommunismus einführen, – m. a. W. darauf, daß die Arbeiterklasse selbst noch nicht fähig ist, ihre Arbeit und Produktion zu verwalten und zu ordnen.

Ist aber diese Idee vorerst nicht richtig? Da jetzt, in diesem Augenblick, die Arbeiterklasse als Masse sich noch nicht fähig zeigt zur Revolution, ist es daher nicht nötig, daß jetzt die revolutionäre Vorhut, die Partei, es für sie macht? Und gilt das nicht solange die Massen den Kapitalismus ruhig ertragen? Demgegenüber muß die Frage gestellt werden: welche Macht könnte eine solche Partei zur Revolution aufbringen? Wie ist sie imstande, die kapitalistische Klasse zu besiegen? Nur dadurch, daß die Massen hinter ihr stehen. Nur dadurch, daß die Massen aufstehen und durch Massenangriff, Massenkampf, Massenstreik die alte Herrschaft stürzen. Also ohne das Auftreten der Massen geht es auf keinen Fall.

Dann kann zweierlei geschehen. Entweder die Massen bleiben bei der Aktion. Sie gehen nicht nach Hause, um der neuen Partei die Regierung zu überlassen. Sie organisieren ihre Macht in Fabriken und Werkstätten, sie bereiten den weiteren Kampf zur völligen Besiegung des Kapitals vor, sie bilden durch Arbeiterräte eine feste Verbindung, um damit die Leitung der ganzen Gesellschaft in die Hand zu nehmen – kurz, sie zeigen, daß sie nicht so ganz unfähig zur Revolution sind als es schien. Dann werden sich notwendig Konflikte entwickeln mit der Partei, die selbst die Herrschaft in die Hand nehmen will, und die durch ihre Lehre, daß die Partei Führerin der Klasse sein müsse, diese Selbsttätigkeit der Klasse nur als Unordnung und Anarchie betrachtet. Es kann dann geschehen, daß die Bewegung der Arbeiterklasse sich machtvoll entwickelt und über die Partei hinweggeht. Oder umgekehrt könnte die Partei mit Hilfe bürgerlicher Elemente die Arbeiter niederwerfen. Aber jedenfalls ist die Partei dann ein Hemmnis der Revolution. Weil sie mehr sein will als Propaganda- und Ausklärungsorgan. Weil sie als Partei herrschen und führen zu müssen glaubt. Oder die Arbeitermassen befolgen die Parteilehre und überlassen ihr die weitere Leitung der Sachen; sie folgen den von oben gegebenen Parolen, haben Zutrauen in die neue Regierung (wie in Deutschland 1918), die den Sozialismus oder Kommunismus verwirklichen wird, und gehen nach Hause an die Arbeit. Sofort setzt nun die Bourgeoisie ihre ganze Klassenkraft ein, deren Wurzeln noch ungebrochen sind: ihre Geldmacht, ihre gewaltige geistige Macht, ihre wirtschaftliche Macht in Fabrik und Großunternehmen. Dagegen ist die regierende Partei zu schwach; sie kann nur durch Mäßigung, durch Zugeständnisse, durch Nachgeben sich aufrecht erhalten. Dann sagt man, daß mehr im Augenblick nicht zu erreichen ist, und daß es Torheit bei den Arbeitern ist, durch Drängen unerfüllbare Forderungen durchsetzen zu wollen. So wird die Partei, beraubt von der Massenkraft einer revolutionären Klasse, zum Werkzeug der Erhaltung der bürgerlichen Herrschaft.

Wir sagten vorher, daß eine „revolutionäre Partei“ ein innerer Widerspruch sei, im Sinne der proletarischen Revolution. Man könnte es anders sagen: in dem Wort „revolutionäre Partei“ bedeutet revolutionär immer eine bürgerliche Revolution. Immer wenn die Massen auftreten, um eine Regierung zu stürzen, und dann die Herrschaft einer neuen Partei überlassen, haben wir eine bürgerliche Revolution, die Ersetzung einer herrschenden Schicht durch eine neue frische herrschende Schicht. So kam in Paris in 1830 die Geldbourgeoisie an die Stelle des Grundbesitzes, in 1848 die industrielle Bourgeoisie an Stelle der Finanz, in 1870 die gesamte kleine und große Bourgeoisie. So kam in der russischen Revolution die Parteibürokratie als regierende Schicht zur Herrschaft. Aber in West-Europa und Amerika ist die Bourgeoisie so viel mächtiger und fester verankert in Betrieben und Banken, daß sie sich durch eine Parteibürokratie nicht beiseite schieben läßt. Sie kann nur besiegt werden, indem immer wieder an die Massen appelliert wird und diese die Betriebe beschlagnahmen und ihre Räteorganisation aufbauen. Aber dann stellt sich immer wieder heraus, daß in den Massen die wirkliche Kraft liegt, die in der fortschreitenden eigenen Aktion die Kapitalsherrschaft vernichtet.

Diejenigen, die also von einer „revolutionären Partei“ träumen, ziehen nur eine halbe, beschränkte Lehre aus der bisherigen Entwicklung. Weil die Arbeiterparteien, die S.P. und die K.P. zu bürgerlichen Herrschaftsorganen zur Aufrechterhaltung der Ausbeutung geworden sind, ziehen sie nur den Schluß, sie müssen es besser tun. Sie sehen nicht, daß hinter dem Versagen jener Parteien ein viel tieferer Konflikt liegt, nämlich der Konflikt zwischen der Selbstbefreiung der ganzen Klasse durch eigene Kraft und der Beschwichtigung der Revolution durch eine arbeiterfreundliche neue Herrschaft. Sie glauben, eine revolutionäre Vorhut zu sein, weil sie die Massen ohne Aktivität, gleichgültig sehen. Die Massen sind aber inaktiv, weil sie den Weg des Kampfes, die Einheit der Klasse noch nicht klar sehen, und instinktiv die gewaltige Macht des Gegners und ebenso instinktiv die riesige Größe ihrer eigenen Aufgabe herausfühlen. Werden sie durch die Verhältnisse einmal zur Aktion getrieben, dann müssen sie diese Aufgabe, die Selbstorganisation, die Beschlagnahme der Produktionsmittel, den Angriff auf die wirtschaftliche Macht des Kapitals anfassen. Und dann stellt sich heraus, daß jene angebliche Vorhut, die versucht, die Massen nach ihrem Programm, mittels einer „revolutionären Partei“ zu führen und zu beherrschen, gerade durch diese Auffassung sich als rückständig erweist.


Gefunden auf marxists.org, die Übersetzung ist von uns.

(Paul Mattick 1941) Pannekoek’s „Die Partei und die Arbeiterklasse“

Unsere Gewohnheit, Namen wegzulassen, hat zu einem Missverständnis geführt. Der Artikel „Partei und Arbeiterklasse“, der nach seinem Erscheinen in der Council Correspondence von der APCF nachgedruckt und in Solidarity (Nr. 34-36) von Frank Maitland besprochen wurde, stammt von Anton Pannekoek. Dieser ist derzeit nicht in der Lage, auf Maitlands Kritik zu antworten. Da ich in gewisser Weise für den Inhalt der Council Correspondence verantwortlich bin, werde ich versuchen, einige der Fragen von Maitland zu beantworten.

Die aufgeworfenen Probleme können nicht abstrakt und allgemein angegangen werden, sondern nur spezifisch in Bezug auf konkrete historische Situationen. Als Pannekoek sagte, dass der „Glaube an Parteien“ der Hauptgrund für die Ohnmacht der Arbeiterklasse ist, sprach er von Parteien, wie sie tatsächlich existiert haben. Es ist offensichtlich, dass sie weder der Arbeiterklasse gedient haben, noch ein Instrument zur Beendigung der Klassenherrschaft waren. In Russland wurde die Partei zu einer neuen herrschenden und ausbeutenden Institution. In Westeuropa sind die Parteien durch den Faschismus abgeschafft worden und haben sich damit als unfähig erwiesen, die Arbeiterinnen und Arbeiter zu emanzipieren oder in Machtpositionen aufzusteigen. (Die faschistischen Parteien können nicht als Instrumente zur Beendigung der Ausbeutung der Arbeit angesehen werden). In Amerika dienen die Parteien nicht den Arbeiterinnen und Arbeitern, sondern den Kapitalisten. Parteien haben alle möglichen Funktionen erfüllt, aber keine, die mit den wirklichen Bedürfnissen der Arbeiterinnen und Arbeiter zu tun hat.

Maitland stellt diese Tatsachen nicht in Frage. Wie die Christen, die Kritik mit dem Argument zurückweisen, dass das Christentum nie ernsthaft ausprobiert wurde, argumentiert Maitland, dass „das Problem nicht ist, ob es eine Partei gibt oder nicht, sondern welche Art von Partei.“ Selbst wenn es stimmt, dass bisher alle Parteien gescheitert sind, beweist das seiner Meinung nach nicht, dass eine neue Partei, seine „Konzeption der Partei“, ebenfalls scheitern wird. Es ist klar, dass eine „Vorstellung von einer Partei“ nicht scheitern kann, nur weil reale Parteien gescheitert sind. Aber dann spielen „Konzepte“ keine Rolle. Die Partei, von der er spricht, gibt es nicht. Seine Argumente müssen in der Praxis bewiesen werden, aber eine solche Praxis gibt es nicht. Alle Parteien, die bisher funktioniert haben, sind mit Maitlands Vorstellungen davon gestartet, was eine Partei sein sollte. Das hat sie nicht daran gehindert, im Laufe ihrer Geschichte gegen diese Vorstellung zu verstoßen.

Die Partei, die „Lenin schaffen wollte“, und die Partei, die er tatsächlich schuf, waren zwei verschiedene Dinge, weil Lenin und seine Partei nur ein Teil der Geschichte waren; sie konnten der Geschichte nicht ihre eigenen Vorstellungen aufzwingen. Neben den Vorstellungen gibt es noch andere Kräfte in der Gesellschaft, die die Ereignisse beeinflussen. Maitland mag Recht haben, wenn er sagt, dass das „gegenwärtige Debakel der Komintern nicht beweist, dass Lenins Konzeption der Partei falsch war“, aber das Debakel zeigt mit Sicherheit, dass die Partei, unabhängig von seiner Konzeption, tatsächlich „falsch“ war, wenn man sie an Maitlands Ideen und den Bedürfnissen der internationalen Arbeiterklasse misst.

Die Partei, so Maitland, „ist eine historische Schöpfung, die nicht weggeworfen werden kann“. Leider war das in der Vergangenheit so, aber die Geschichte hat auch gezeigt, dass Parteien nicht das waren, was sie sein sollten. Sie sind eine historische Schöpfung des liberalen Kapitalismus und dienten – eine Zeit lang – den Bedürfnissen der Arbeiterinnen und Arbeiter, aber nur am Rande. Sie dienten in erster Linie dazu, das Gruppeninteresse und den sozialen Einfluss der Partei zu stärken. Sie wurden zu kapitalistischen Institutionen, die sich an der Ausbeutung der Arbeit beteiligten und mit anderen kapitalistischen Gruppen um die Kontrolle von Machtpositionen kämpften. Aufgrund der allgemeinen Krisenbedingungen, der Konzentration des Kapitals und der Zentralisierung der politischen Macht wurde der Staatsapparat zum wichtigsten gesellschaftlichen Machtzentrum. Eine Partei, die – legal oder illegal – die Kontrolle über den Staat erlangt, kann sich in eine neue herrschende Klasse verwandeln. Das haben die Parteien getan oder versucht zu tun. Wo immer die Partei Erfolg hatte, diente sie nicht den Arbeiterinnen und Arbeitern. Das Gegenteil war der Fall: Die Arbeiterinnen und Arbeiter dienten der Partei. Auch der Kapitalismus ist eine „historische Schöpfung“. Wenn die „Partei nicht abgeschafft werden kann, weil sie eine historische Schöpfung ist“, wie will Maitland dann den Kapitalismus abschaffen, da er mit dem Einparteienstaat identisch ist? In Wirklichkeit müssen beide „beiseite geworfen“ werden; die Abschaffung des Kapitalismus bedeutet heute auch die Abschaffung der Partei.

Für Maitland „sollte die Partei der materielle Apparat sein, um die bewusste Minderheit und die unbewusste Masse zu integrieren.“ Die Masse ist jedoch aus demselben Grund „unbewusst“, aus dem sie machtlos ist. Die „bewusste“ Minderheit kann die eine Situation nicht ändern, ohne die andere zu verändern. Sie kann der Masse kein „Bewusstsein“ bringen, wenn sie ihr nicht die Macht gibt. Wenn das Bewusstsein und die Macht von der Partei abhängen, bekommt die ganze Klassenkampffrage einen religiösen Charakter. Wenn die Menschen, die die Partei bilden, „gute“ Menschen sind, werden sie den Massen Macht und Bewusstsein geben; wenn sie „schlechte“ Menschen sind, werden sie beides zurückhalten. Hier geht es nicht um die Frage der „Integration“, sondern nur um die Frage der „Ethik“. Wir können also nicht nur auf abstrakte Vorstellungen darüber vertrauen, was eine Partei sein sollte, sondern auch auf den guten Willen der Menschen. Kurz gesagt: Wir müssen unseren Anführern vertrauen. Was Parteien geben können, können sie aber auch wieder wegnehmen. Unter den gegebenen Bedingungen ist das „Bewusstsein“ der Minderheit entweder bedeutungslos, oder es ist mit einer Machtposition in der Gesellschaft verbunden. Das „Bewusstsein“ zu stärken, bedeutet also, die Macht der Gruppe zu stärken, die es in sich trägt. Es entsteht keine „Integration“ zwischen „Anführern“ und „Geführten“, sondern die bestehende Kluft zwischen ihnen wird immer größer. Die bewusste Gruppe verteidigt ihre Position als bewusste Gruppe; sie kann diese Position nur gegen die „unbewusste“ Masse verteidigen. Die „Integration“ der bewussten Minderheit und der unbewussten Masse ist nur eine angenehmer klingende Beschreibung der Ausbeutung der Vielen durch die Wenigen.

Die Tatsache, dass Maitland die Partei als „materielles Instrument“ sieht, das das Denken und die Aktion koordiniert, zeigt, dass er noch in der Vergangenheit denkt. Deshalb plädiert er für die Partei der Zukunft. Der materielle Apparat (Versammlungen, Zeitungen, Bücher, Kino, Radio usw.), von dem er spricht, steht den Parteien, wie sie Maitland vorschweben, inzwischen nicht mehr zur Verfügung. Die Phase der kapitalistischen Entwicklung, in der Parteien wie jedes andere Unternehmen aufwachsen und die Instrumente der Propaganda zu ihrem eigenen Vorteil nutzen konnten, ist vorbei. In der heutigen Gesellschaft kann die Entwicklung von Arbeiterorganisationen nicht mehr den traditionellen Wegen folgen. Eine Partei, die „das Klassenbewusstsein in den Massen entwickelt“, kann nicht mehr entstehen. Die Propagandamittel sind zentralisiert und stehen ausschließlich im Dienst der herrschenden Klasse oder Partei. Sie können nicht genutzt werden, um sie zu stürzen. Wenn die Arbeiterinnen und Arbeiter nicht in der Lage sind, Kampfmethoden zu entwickeln, die sich der Kontrolle der herrschenden Gruppen entziehen, werden sie sich nicht emanzipieren können. Eine Partei ist keine Waffe gegen die herrschenden Klassen; es gibt sie nicht einmal in faschistischen Gesellschaften. Gegen die gegenwärtige Macht der Kombination aus Staat, Partei und Kapital hilft nur die „bewusste Aktion der ganzen Masse der Menschen“. Solange diese Masse „unbewusst“ bleibt, solange sie das „Gehirn“ einer Partei braucht, wird diese Masse machtlos bleiben, denn dieses „Gehirn“ wird sich nicht entwickeln.

Dennoch gibt es keinen Grund zur Verzweiflung. Wir können eine weitere Frage stellen: Was ist dieses „Bewusstsein“, das die Parteien den Arbeiterinnen und Arbeitern angeblich vermitteln sollen? Und was ist das für ein „Bewusstsein“, das die Unterstützung der Massen durch ein eigenes „Gehirn“ verlangt – durch die Partei? Ist diese Art von Bewusstsein, die wir in Parteien finden, wirklich notwendig, um die Gesellschaft zu verändern? Was bisher wirklich gefährlich für die Massen und ihre Bedürfnisse war, ist genau dieses „Bewusstsein“, das in Parteiorganisationen vorherrscht. Das „Bewusstsein“, von dem Maitland spricht und das er in der Praxis erlebt hat, hat nichts mit dem „Bewusstsein“ zu tun, das nötig ist, um gegen die Gegenwart zu rebellieren und eine neue Gesellschaft zu organisieren. Das Fehlen eines solchen Bewusstseins, das von Parteien genährt wird, ist kein Mangel, wenn es um die praktischen Bedürfnisse der Arbeiterklasse geht.

Die Aufgabe der Arbeiterinnen und Arbeiter ist im Grunde ganz einfach. Sie besteht darin, zu erkennen, dass alle bisher existierenden herrschenden Gruppen die Entwicklung einer wirklich sozialen Produktion und Verteilung behindert haben; sie besteht darin, die Notwendigkeit zu erkennen, Produktion und Verteilung abzuschaffen, die von den Profit- und Machtbedürfnissen spezieller Gruppen in der Gesellschaft bestimmt werden, die die Produktionsmittel und die anderen gesellschaftlichen Machtquellen kontrollieren. Die Produktion muss so umgestellt werden, dass sie den wirklichen Bedürfnissen der Menschen dient; sie muss zu einer Produktion für den Verbrauch werden. Wenn diese Dinge erkannt sind, müssen die Arbeiterinnen und Arbeiter darauf reagieren, um ihre Bedürfnisse und Wünsche zu verwirklichen. Es braucht nur wenig Philosophie, Soziologie, Ökonomie und Politikwissenschaft, um diese einfachen Dinge zu erkennen und nach dieser Erkenntnis zu handeln. Der tatsächliche Klassenkampf ist hier entscheidend und bestimmend. Aber auf dem praktischen Feld der revolutionären und sozialen Aktivitäten ist die „bewusste“ Minderheit nicht besser informiert als die „unbewusste“ Mehrheit. Eher das Gegenteil ist der Fall. Das hat sich in allen tatsächlichen revolutionären Kämpfen gezeigt. Außerdem ist jede Fabrikorganisation besser in der Lage, ihre Produktion zu organisieren als eine Partei von außen. Es gibt genug überparteiliche Intelligenz auf der Welt, um die gesellschaftliche Produktion und Verteilung ohne die Hilfe oder Einmischung von auf ideologische Bereiche spezialisierten Parteien zu koordinieren. Die Partei ist ein fremdes Element in der gesellschaftlichen Produktion, so wie die Kapitalistenklasse ein unnötiger dritter Faktor neben den beiden ist, die für die Durchführung des gesellschaftlichen Lebens benötigt werden: die Produktionsmittel und die Arbeit. Die Tatsache, dass Parteien an Klassenkämpfen beteiligt sind, zeigt, dass diese Klassenkämpfe nicht auf ein sozialistisches Ziel ausgerichtet sind. Sozialismus bedeutet schließlich nichts anderes als die Beseitigung des dritten Faktors, der zwischen den Produktionsmitteln und der Arbeit steht. Das „Bewusstsein“, das die Parteien entwickeln, ist das „Bewusstsein“ einer Ausbeutergruppe, die um den Besitz der gesellschaftlichen Macht kämpft. Wenn sie ein „sozialistisches Bewusstsein“ propagieren will, muss sie zuallererst das Parteikonzept und die Parteien selbst abschaffen.

Das „Bewusstsein“, gegen die Gesellschaft zu rebellieren und sie zu verändern, wird nicht durch die „Propaganda“ bewusster Minderheiten entwickelt, sondern durch die reale und direkte Propaganda der Ereignisse. Das zunehmende soziale Chaos gefährdet das gewohnte Leben immer größerer Massen von Menschen und verändert ihre Ideologien. Solange Minderheiten als separate Gruppen innerhalb der Masse agieren, ist die Masse nicht revolutionär, aber die Minderheit auch nicht. Ihre „revolutionären Vorstellungen“ können weiterhin nur kapitalistischen Funktionen dienen. Wenn die Massen revolutionär werden, verschwindet die Unterscheidung zwischen bewusster Minderheit und unbewusster Mehrheit und damit auch die kapitalistische Funktion des scheinbar „revolutionären Bewusstseins“ der Minderheit. Die Unterscheidung zwischen einer bewussten Minderheit und einer unbewussten Mehrheit ist selbst historisch bedingt. Sie ist von der gleichen Größenordnung wie die Unterscheidung zwischen Arbeiterinnen und Arbeitern und Bossen.

So wie der Unterschied zwischen Arbeiterinnen und Arbeitern und Bossen im Zuge der unlösbaren Krisenbedingungen und der damit verbundenen sozialen Nivellierung tendenziell verschwindet, so wird auch der Unterschied zwischen bewusster Minderheit und unbewusster Masse verschwinden. Wo sie nicht verschwindet, werden wir eine faschistische Gesellschaft haben.

„Integration“ kann nur bedeuten, dazu beizutragen, den Unterschied zwischen bewusster Minderheit und unbewusster Masse zu beseitigen. Innerhalb der Klassen und innerhalb der Gesellschaft wird es weiterhin Unterschiede zwischen den Menschen geben. Einige werden tatkräftiger sein als andere, einige klüger als andere usw. Es wird weiterhin eine Arbeitsteilung geben. Dass diese realen Unterschiede zu Unterschieden zwischen Kapital und Arbeit, zu Unterschieden zwischen Partei und Masse erstarrt sind, liegt lediglich an den historisch bedingten spezifischen Produktionsverhältnissen, an der kapitalistischen Produktionsweise. Diese Unterscheidung hinsichtlich der gesellschaftlichen Tätigkeit muss beendet werden, damit der Kapitalismus beendet werden kann. Wenn man die Notwendigkeit einer „Integration“ sieht, muss man das Problem auf eine ganz andere Weise angehen als Maitland. Die „Integration“ muss nicht von oben nach unten erfolgen – wo die Partei der Masse das Bewusstsein vermittelt -, sondern von unten nach oben, wo die Klasse ihre ganze Intelligenz und Energie für sich behält und sie nicht in getrennten Organisationen isoliert und damit kapitalisiert.

Die Produktion ist sozial. Alle Menschen, egal wer sie sind oder was sie tun, sind in einer sozial bestimmten Gesellschaft gleich wichtig. Ihre tatsächliche Integration, nicht die „ideologische Integration“ durch die traditionelle Partei-Masse-Beziehung, ist erforderlich. Aber diese tatsächliche Integration, die menschliche Solidarität, die notwendig ist, um dem Elend in der Welt ein Ende zu setzen, muss jetzt gefördert werden. Sie kann nur entwickelt werden, wenn die Kräfte, die ihr entgegenwirken, zerstört werden. Klassensolidarität und Klassenaktionen können nicht mit, sondern nur gegen Gruppen und Parteiinteressen entstehen.

August-September 1941

]]> (Paul Mattick 1934) Weltweiter Faschismus oder Weltrevolution? https://panopticon.blackblogs.org/2023/03/22/paul-mattick-1934-weltweiter-faschismus-oder-weltrevolution/ Wed, 22 Mar 2023 11:19:19 +0000 http://panopticon.blackblogs.org/?p=4854 Continue reading ]]> Hier eine weitere Übersetzung eines Textes von Paul Mattick aus dem Jahr 1934, bei dem er nicht nur die Ursachen des Faschismus analysiert, herausgehend von denen die des Kapitals, sowie die Aufgaben des Proletariats um die Herrschaft des Kapitals-Staates zu beenden, sondern auch den Bolschewismus als konterrevolutionäre Kraft scharf kritisiert und angreift.


(Paul Mattick 1934) Weltweiter Faschismus oder Weltrevolution? Manifest und Programm der United Workers Party of America

Manifest und Programm der United Workers Party of America (Vereinigte Arbeiterpartei von Amerika), bald bekannt als Council Communists (Rätekommunisten), einer Gruppe, die von Rätekommunisten gegründet wurde, die früher in der Arbeitslosenbewegung während der Großen Depression aktiv waren und eine linke Abspaltung der Proletarian Party of America waren.

VORWORT

In einer Periode der weltweiten Krise, die sich ständig verschärft, während eines Prozesses der allgemeinen und absoluten Verarmung der Arbeiterklasse in der ganzen Welt, angesichts der imperialistischen Tendenzen zu einem neuen weltweiten Gemetzel und mit dem Anblick des Marsches des Faschismus vor uns, der den Globus überzieht; trotz des vorübergehenden Triumphs der kapitalistischen Kräfte auf dem Grab einer einst mächtigen internationalen Arbeiterbewegung, nach der schwersten Niederlage des internationalen Kommunismus, legt die UNITED WORKERS PARTY OF AMERICA allen ernsthaften Revolutionären diese kleine Broschüre vor, um ihnen und uns zu helfen, unsere wirkliche Situation besser zu verstehen und die gegenwärtige ideologische Verwirrung, in der sich die Arbeiterklasse befindet, ein Stück weit zu klären.

Die dialektische Bewegung der Welt macht jedes Problem zu einem historischen Problem. Sie verändert in ihrem Verlauf auch die Rolle von Organisationen und Ideen. Was einst revolutionär war, wird mit der allgemeinen Entwicklung reaktionär. Organisationen, Taktiken und Ideologien, die einst Ausdruck der progressiven Entwicklung des proletarischen Kampfes gegen den Kapitalismus waren, werden mit der Zeit und im Laufe dieses Kampfes zu Hindernissen auf dem Weg der weiteren Entwicklung. Was einst revolutionär war, lebt trotz der Tatsache, dass es jetzt reaktionär geworden ist, als Tradition in seinem ursprünglichen Inhalt und seiner Form weiter und behindert die Entwicklung der neuen und der wirklich revolutionären Kräfte. Deshalb ist es notwendig, dass die Waffe der Kritik die Kritik der Waffen wird.

Die Partei und ihr Programm sind nur der Ausdruck der Rolle, die das revolutionäre Bewusstsein in der Geschichte spielt. Es ist ein Teil der Geschichte, nicht die Geschichte selbst. Ein Programm allein ist wertlos, wenn ihm keine Taten der Arbeiterklasse folgen. Wenn es praktisch ist, wenn es realistisch ist, dann wird es zu einer Kraft, die in Verbindung mit den revolutionären Kräften, die durch die objektiven Bedingungen der kapitalistischen Entwicklung selbst geschaffen werden, die Geburtswehen der neuen Gesellschaft verkürzen kann.

Wir sind der Meinung, dass wir nicht am Ende, sondern am Anfang der allgemeinen Krise des Weltkapitalismus stehen; und parallel zu dieser objektiven Situation stehen wir nicht am Ende, sondern am Anfang einer echten revolutionären Arbeiterbewegung, die sich auf einer völlig neuen prinzipiellen und taktischen Grundlage entwickeln muss und wird. Anfänge sind immer schwierig und jede revolutionäre Stimme ist zunächst eine Stimme in der Wüste, aber wir sind überzeugt, dass sich früher oder später die Realität selbst auf den fortschrittlichen Gedanken zubewegen wird und das, was heute noch eine Abstraktion zu sein scheint, zur tatsächlichen Praxis des kämpfenden Proletariats wird. Traditionen müssen aufgebrochen werden, um eine Einheit zwischen Theorie und Praxis zu erreichen. Eine Revolution ist nur möglich, wenn diese Einheit zur Realität wird. Diese Broschüre soll der revolutionären Bewegung helfen, sich dieser Situation zu nähern.

DIE UNITED WORKERS PARTY OF AMERICA

März 1934.

Weltweiter Faschismus oder Weltrevolution?


DIE PERIODIE DER ALLGEMEINEN KRISE FÜR DEN KAPITALISMUS.

Fünf Jahre der Krise auf der ganzen Welt sind vorbei. Alle Tendenzen deuten auf eine weitere Verschärfung der internationalen Krise hin. Die industrielle Weltproduktion liegt unter dem Niveau von 1914 und ist rückläufig. Das Arbeitslosenheer, das bereits die Hälfte des industriellen Weltproletariats in seinen Reihen hat, wächst noch weiter an. Das ökonomisch-politische Chaos zwingt alles in seinen tödlichen Abwärtstrend. Die Theorien der Ökonomen der herrschenden Klasse werden immer lächerlicher, und die Illusionen des petite-Bourgeoisie verwandelt sich in eine tödliche Angst. Der Kapitalismus ist von einem fortschrittlichen Element zu einem einschränkenden Element geworden. Seine Bewegung in Richtung Zusammenbruch ist eine Situation der Katastrophen, die der Menschheit immer mehr Elend und Leid bringt, und zwar in einem größeren Ausmaß als in jeder früheren Krise.

Traditionen hindern die Arbeiter daran, die Tatsache zu begreifen, dass die gegenwärtige Depression nicht innerhalb der kapitalistischen Grenzen überwunden werden kann. Die Hoffnung, die die herrschende Klasse in die Köpfe der Arbeiter gepflanzt hat, dass eine neue Boom-Periode (Aufschwung) kommen wird, ist nicht verschwunden, obwohl es noch schwieriger wird, das System zu verteidigen, wie die tägliche Praxis zeigt. Der Kapitalismus hat im Laufe seiner Entwicklung schon viele Krisen und Depressionen überstanden. Jede dieser Krisen war nur ein Schritt für eine weitere progressive Entwicklung, die die Grundlage für eine neue Krise auf einer höheren Ebene bildete; aber auf jede Depressionsperiode folgte ein Aufschwung, ein Boom. Alle anderen Depressionen wurden überwunden, warum also nicht auch diese? Das weltweite Ausmaß und die Tiefe der gegenwärtigen Krise mögen ihre Intensität und Länge erklären, aber sie können nicht die Dauerhaftigkeit ihres Charakters beweisen.

Die Arbeiterklasse muss verstehen, dass die gegenwärtige Krise für den Kapitalismus von Dauer ist. Bei der Analyse der gegenwärtigen Situation muss die Tatsache berücksichtigt werden, dass wir in einer neuen historischen Periode leben, einer Periode des positiven Niedergangs der kapitalistischen Ordnung. An der Position, die die Arbeiterbewegung in Bezug auf die Krise und den endgültigen Zusammenbruch des Kapitalismus einnimmt, wird sich der wahre Charakter der Bewegung zeigen. Wenn sie es nicht schafft, auf der Grundlage der Bewegungsgesetze der gegenwärtigen Gesellschaft die Tendenzen des gegenwärtigen Systems zu erklären, wird sie an ihrer Aufgabe scheitern.

Das historische Ausmaß der kapitalistischen Entwicklung.

Der kapitalistische Reproduktionsprozess wiederholt sich nicht in Form eines Kreises, sondern als eine sich auf einen Punkt verengende Spirale. Die kapitalistische Produktion muss aufgrund der ihr innewohnenden Widersprüche zu ihrer eigenen Negation führen; aber nur die Anhäufung dieser Widersprüche kann sie in etwas anderes verwandeln, in eine Revolution.

Nach Marx ist die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte die treibende Kraft der historischen Entwicklung. Wenn die Produktivkräfte zunehmen, müssen sich auch die Produktionsverhältnisse ändern, damit sie nicht im Widerspruch zu dieser Entwicklung stehen. Der Kapitalismus als ökonomisches System hatte die historische Aufgabe, die Produktivkräfte der Gesellschaft in einem viel größeren Ausmaß zu entwickeln, als es unter jedem früheren System möglich war. Der Wettlauf um den Profit ist im Kapitalismus die treibende Kraft bei der Entwicklung der Produktivkräfte. Aus diesem Grund kann dieser Entwicklungsprozess nur so lange weitergehen, wie er profitabel ist. Es gibt keinen ökonomischen Zusammenbruch, solange der erwirtschaftete Profit die Bedürfnisse einer fortschreitenden Akkumulation befriedigt. Wenn die Akkumulation nicht mehr fortgesetzt werden kann, wie in der gegenwärtigen Krise, dann hat der Kapitalismus sein historisches Ausmaß erreicht. Er geht dann in das Stadium des Niedergangs über. Erst in dieser Periode wird eine ECHTE revolutionäre Bewegung der Arbeiter möglich.

Marx betrachtete die ökonomischen Bewegungsgesetze immer unter zwei Gesichtspunkten: erstens als „naturgeschichtlichen Prozess“ und zweitens in ihren spezifischen, gesellschaftlichen, historischen Formen. Die Entwicklung der Produktivkräfte ging in jedem Gesellschaftssystem weiter; ein Prozess, der in einer immer höheren Produktivität der Arbeit aufgrund besserer Arbeitsmittel und -methoden besteht. Der Produktionsprozess hat in einem kapitalistischen System neben seinem natürlichen, allgemeinen Inhalt, den er mit allen anderen ökonomischen Systemen teilt, auch die Form eines Prozesses, der Werte und Mehrwert produziert. Dank dieser Eigenschaft konnte der Kapitalismus die Entwicklung der Produktivkräfte so enorm beschleunigen. Zu den Produktivkräften gehören nicht nur Maschinen, Rohstoffe und Arbeitskraft, sondern auch Kapital. Ihre Entwicklung bedeutet die Ausweitung der Produktion und Reproduktion des Kapitals, und das ist nur möglich, wenn Mehrwert oder Profit das Ergebnis des Produktionsprozesses ist. Bei der Analyse des Produktionsprozesses des Mehrwerts stellt Marx die Tendenz eines Konflikts zwischen den materiellen Produktivkräften und ihrem kapitalistischen Integument (Schichten) fest. Wenn nicht genügend Mehrwert aus der Produktion resultiert, gibt es keine Möglichkeit, die Entwicklung der Produktivkräfte fortzusetzen. Die kapitalistischen Formen müssen dann zerbrechen, um Platz für ein höheres, fortschrittlicheres ökonomisches und soziales System zu machen.

Der Akkumulationsprozess des Kapitalismus.

Die allgemeine fortschreitende Entwicklung der Menschheit drückt sich in allen Gesellschaftsformen in der Entwicklung der Produktionsmittel und -methoden aus. Dies führt zu einer Steigerung der Arbeitsproduktivität, der Masse der Produkte bei gleichzeitiger Abnahme der tatsächlich ausgeübten Arbeitskraft. Im Kapitalismus drückt sich das dadurch aus, dass immer mehr Kapital in Produktionsmittel investiert wird und immer weniger in Arbeit. Es stimmt natürlich, dass in Zeiten des Aufschwungs des Kapitalismus, wenn immer mehr Kapital in die Produktionsmittel investiert wird, auch die Menge des in die Arbeitskraft investierten Kapitals steigt, aber langsamer als im ersten Fall. Auf einem Höhepunkt der kapitalistischen Entwicklung nimmt die Zahl der beschäftigten Arbeiter im Verhältnis zum Gesamtkapital nicht nur relativ, sondern auch absolut ab. Da die Ausbeutung von Arbeitern die einzige Quelle von Profiten ist, bedeutet dies bereits, dass die Profite des Kapitalisten mit zunehmender Akkumulation sinken müssen.

Die Zunahme der organischen Zusammensetzung des Kapitals wird von einer sinkenden Profitrate begleitet. Diese sinkende Profitrate allein stellt keine Gefahr für den Kapitalismus dar, solange er die Möglichkeit hat, schneller zu akkumulieren, als die Profitrate sinkt. Dies wird durch eine Steigerung der Ausbeutung sowie durch die Ausweitung der kapitalistischen Produktionsfelder ermöglicht. Aber selbst wenn der Anstieg der Profitmasse den Rückgang der Profitrate ausgleicht oder sogar übertrifft, wächst die Profitmasse langsamer als die Profitmenge, die zur Befriedigung der ständig wachsenden Bedürfnisse der Akkumulation benötigt wird. Der Rückgang der Profitrate ist ein Indikator für den relativen Rückgang der Profitmasse, der in einem höheren Stadium der Akkumulation zu einem absoluten Rückgang wird.

Wenn die Akkumulation fortgesetzt werden soll, muss ein immer größerer Teil des von den Arbeitern produzierten Mehrwerts für die Entwicklung des Produktionsapparats verwendet werden; dadurch verringern sich die Teile, die für zusätzliche Arbeit und für den Konsum der Kapitalisten bestimmt sind. Irgendwann kommt dieser Prozess an einen Punkt, an dem der gesamte Mehrwert benötigt wird, um eine ausreichende Akkumulation zu ermöglichen. An diesem Punkt sind die Kapitalisten gezwungen, die Ausbeutung der Arbeiter enorm zu steigern, um einen gewissen Profit als Ausgleich für diese Entwicklung zu ermöglichen. Der Klassenkampf verschärft sich. Sollte die Menge des produzierten Mehrwerts trotz intensivster Ausbeutung nicht für die Bedürfnisse des Akkumulationsprozesses ausreichen, kommt der Akkumulationsprozess zum Stillstand und es kommt zur Krise.

Ein Stillstand im Akkumulationsprozess führt zu einer allgemeinen Krise, die alle Produktionsbereiche betrifft. Das Kapital, das zu klein ist, um profitabel reinvestiert zu werden, wird nun in Wirklichkeit zu einem Kapitalüberschuss (A.d.Ü., im Sinne des Mehrwertes). Das Kapital ist schneller gewachsen als die Möglichkeiten zur profitablen Expansion. Das Ergebnis ist eine Überakkumulation, die einerseits zu einem Kapitalüberschuss führt, der nicht in eine profitable Produktion reinvestiert werden kann, und andererseits zu einem riesigen Heer von Arbeitslosen, die keine Arbeit mehr finden können. Nur wenn es die Möglichkeit gibt, Profit zu machen, kann der Akkumulationsprozess wieder aufgenommen werden; wenn diese Möglichkeit ausgeschlossen ist, wird die Krise aus der Not heraus zum Dauerzustand. Eine permanente Krise bedeutet für den Kapitalismus den Zusammenbruch.

Der Zusammenbruch des Kapitalismus und seine Gegentendenzen.

Die Marx’sche Akkumulationstheorie ist das Gesetz des kapitalistischen Zusammenbruchs. Die Tendenz zum Zusammenbruch drückt sich in der Krise aus und wird in der Krise überwunden. Wenn die Krise ein Ausdruck des Zusammenbruchs ist, dann ist der endgültige Zusammenbruch nichts anderes als eine Krise, die nicht durch Gegentendenzen behindert wird.

Gegentendenzen sind in erster Linie Versuche, die Expansion des Kapitals auf einer profitablen Basis wiederherzustellen, indem man den gesamten Produktions- und Verteilungsmechanismus reorganisiert. In allen früheren Krisen hat der Erfolg dieser gegenläufigen Tendenzen die Depression in eine neue Boomphase verwandelt. Die allgemeine Rationalisierung, die Senkung der Produktionskosten, die Senkung der Löhne, die Senkung des Einkommens der kapitalistischen Mittelklasse, die Abschreibung des Kapitals, die Entwertung des Kapitals, die Sicherung des zusätzlichen Mehrwerts durch imperialistische Expansion, imperialistische Bewegungen zur Beschaffung billigerer Rohstoffe, die Verbesserung der Beziehungen zu den Märkten im Inland und auf dem Weltmarkt und viele andere Faktoren wirken als Tendenzen, die dem Kapitalismus helfen, die Krise zu überwinden.

Die Tendenzen gegen den Zusammenbruch des Kapitalismus sind jedoch, wie alles andere auch, historischer Natur. Im Laufe der Entwicklung verlieren sie ihre Kraft oder werden ganz überwunden. An einem bestimmten Punkt der kapitalistischen Entwicklung führt die Steigerung der Arbeitsproduktivität nicht zu einer Erhöhung, sondern zu einer Verringerung der Profite. Die Pauperisierung (A.d.Ü., Verarmung) der Arbeiterklasse hat ihre absoluten Grenzen. Die kapitalistische Expansion im Weltmaßstab erreicht ihre Grenzen, bevor sie die natürlichen Grenzen der Welt erreicht. Es gibt eine absolute Grenze, bis zu der die kapitalistische Produktion ausgeweitet und entwickelt werden kann. Die Tendenzen, die dem Kapitalismus in früheren Krisen erfolgreich aus der Patsche geholfen haben, sind in der gegenwärtigen Depression gescheitert. Sie existieren nicht mehr als Gegentendenzen oder sie sind zu schwach im Verhältnis zur Tiefe der gegenwärtigen Krise des internationalen Kapitalismus.

Die Schlussfolgerung, dass diese Krise dauerhaft ist und dass wir uns im Sterbeprozess des kapitalistischen Systems befinden, hängt von der Analyse der entgegenwirkenden Tendenzen ab. Wenn es Möglichkeiten zur Wiederherstellung der Profite, zur weiteren Akkumulation und zur weiteren Expansion gibt, dann müssen diese in Betracht gezogen werden.

Der Monopolkapitalismus und die verschwindenden Gegentendenzen.

In einer Depression schränkt das Monopolkapital die Produktion ein, indem es einige seiner Unternehmen schließt. Tritt eine größere Nachfrage ein, befriedigt es diese durch die Wiedereröffnung der notwendigen Betriebe oder Fabriken. Die großen Reserven an Produktionskapazitäten im Monopolkapitalismus machen keine neuen und großen Investitionen in das Anlagekapital erforderlich. In diesem Sinne schränkt er auch den technischen Fortschritt ein. Auf einer höheren Stufe schränkt er die Entwicklung der Märkte für Produktionsmittel ein, anstatt sie zu entwickeln.

Die Möglichkeit einer technischen Revolution, die zur moralischen Entwertung großer Kapitalmassen führen würde, ist nicht mehr zu erwarten, weil die Beschränkung der Produktivkraft zu einer „Lebensnotwendigkeit“ für den Monopolkapitalismus geworden ist. Das ist wahr, auch wenn es auf einen Prozess des Zusammenbruchs des Systems hindeutet. Der Kapitalismus lebt jetzt vom Sterben.

In früheren Krisen war die Entwertung des Kapitals ein wichtiger Faktor für die Erholung. Sie hat die organische Zusammensetzung des Kapitals gesenkt und dadurch das Gesamtkapital kleiner gemacht, so dass die Profite relativ höher wurden. Auch in früheren Krisen waren die überlebenden kapitalistischen Unternehmen, nachdem sie durch die Massenbankrotte aus dem Markt gedrängt worden waren, in einer Zeit des Preisverfalls durch die Konkurrenz gezwungen, ihre Produktionskosten zu senken. Es wurden neue und größere Maschinen benötigt, die auf dem neuen, niedrigeren Preisniveau profitabel arbeiten konnten. Die Nachfrage nach neuem Anlagekapital stieg, und diese Nachfrage riss andere Industrien mit in einen neuen Boom. In der jetzigen Krise hatte die große Zahl der Insolvenzen jedoch keinen ähnlichen Effekt.

Wie wenig eine erzwungene Entwertung des Kapitals im Monopolkapitalismus bedeutet, wird deutlich, wenn wir die Produktion des Monopolkapitals ins Verhältnis zur gesamten gesellschaftlichen Produktion setzen. Es gibt Branchen, in denen 90% der gesamten gesellschaftlichen Produktion vom Monopolkapital geleistet wird. Das gilt vor allem für die USA. Fast die Hälfte der gesamten gesellschaftlichen Produktion im internationalen Maßstab, in den wichtigsten Produktionszweigen, wird vom Monopolkapital erbracht. Welche Folgen können Bankrotte von Kleinunternehmen unter diesen Bedingungen haben? Die derzeitige Depression hat gezeigt, dass diese Gegentendenz, die Entwertung des Kapitals, so gut wie überwunden ist.

Die Rationalisierung kann den einzelnen Kapitalisten immer noch bereichern und in einigen Fällen seine individuellen Probleme lösen; aber für die Gesellschaft als Ganzes macht der Rationalisierungsprozess im Monopolkapitalismus die Gesellschaft tendenziell ärmer. Er mag zwar zu Lohneinsparungen führen und die Produktionskosten senken, aber alles, was eingespart wird, wird durch unproduktive Ausgaben aufgefressen, die durch das brachliegende Kapital in Form von geschlossenen Unternehmen und durch die weitere Einschränkung der Marktmöglichkeiten als Folge des Prozesses selbst entstehen. In der späteren Phase der Akkumulation wird sie zu einer gescheiterten Rationalisierung; sie dient nicht mehr als Mittel zur Überwindung der Krise, sondern vertieft eher die Depression.

Der Kapitalexport, der im Imperialismus eines der mächtigsten Mittel für den kapitalistischen Aufschwung und ein wichtiger Faktor für die Überwindung der Krise ist, ist im internationalen Maßstab auf nahezu Null zurückgegangen. Der imperialistische Wettbewerb um ausländische Märkte wurde dadurch immer schärfer. Die Tendenzen zum Krieg im Weltmaßstab bleiben eine ständige Bedrohung.

Die gegenwärtige Krise unterscheidet sich von allen vorangegangenen dadurch, dass die entgegenwirkenden Tendenzen entweder nicht vorhanden oder zu schwach sind, um erfolgreich zu wirken und die Profite so weit wiederherzustellen, dass eine weitere Expansion möglich ist, dass brachliegendes Kapital eingesetzt werden kann und der Prozess der Kapitalakkumulation wieder aufgenommen werden kann.

Der Kapitalismus in seiner Todeskrise.

Der Rückgang des gesamten Mehrwerts verschärft den Kampf zwischen den verschiedenen kapitalistischen Gruppen um ihren Anteil am Mehrwert. Die politischen Manöver der verschiedenen Interessen spiegeln diese ökonomische Situation wider. Die Schwere der gegenwärtigen Krise macht es dem Industriekapital zum Beispiel unmöglich, Verpflichtungen gegenüber dem Bankkapital zu erfüllen oder auch nur die Zinsen für dieses Geld zu zahlen. Auf den Bankrott der Industrie folgt der Bankrott des Bankkapitals. Inflation und ähnliche Maßnahmen werden ergriffen, um diese Schulden zu tilgen, und die Kosten für diese Tilgung werden dem Bankkapital, dem Mittelstand und der Arbeiterklasse aufgezwungen.

In seinem Kampf um die Steigerung seiner verfügbaren Profite ist der Kapitalismus gezwungen, heftige Angriffe auf die petite-Bourgeoisie zu unternehmen, um so viel wie möglich von den profitablen Mittelschichten zu eliminieren. Das Wachstum der Mittelschicht verläuft langsamer als der Prozess ihrer Proletarisierung. Die völlige Eliminierung der Mittelschicht ist im Kapitalismus jedoch unmöglich, denn der Kapitalismus braucht die Mittelschicht, um seine eigene Existenz zu sichern.

Mit der Todeskrise des Monopolkapitalismus verschärft sich die chronische Agrarkrise. Das Missverhältnis zwischen den Industriepreisen und den Preisen der Agrarprodukte hat die Bauern in vielen Ländern der Welt in eine offene Rebellion getrieben. Widerwillig sieht sich der Kapitalismus gezwungen, der Agrarbevölkerung Zugeständnisse in Form von Zollreformen, Darlehen und Krediten durch den Staat, Preisstabilisierungen, direkten Entlastungen im Gegenzug für Produktionsrückgänge usw. zu machen. Diese Zugeständnisse gehen jedoch in der Regel auf Kosten der Arbeiter.

Der Prozess der Pauperisierung der Arbeiterklasse geht mit der Entwicklung des Kapitalismus einher. Im Aufschwung des Kapitalismus handelt es sich um eine relative Pauperisierung, aber in der Todeskrise geht sie in eine absolute Pauperisierung über. Lohnkürzungen und die allgemeine Verschlechterung der Bedingungen des Proletariats führen zu Massenelend. Um soziale Unruhen zu verhindern, sind die Kapitalisten gezwungen, Entlastungen zu verteilen. Sie sind auch gezwungen, ihre „Zwangsgewalt“, die repressive Macht des Staates, zu stärken, um Aufstände zu verhindern. Die Aufrechterhaltung des Staates wird immer teurer. Im Widerspruch zu der Notwendigkeit, die Profite für den Kapitalismus zu steigern, sinken die verfügbaren Profite und damit steigen die Kosten für unproduktive Dinge.

Je tiefer die Krise wird, desto geringer werden die Möglichkeiten, sich auch nur teilweise zu erholen, und der kapitalistische Zusammenbruch als Tendenz wird immer aktiver. Der politische Zusammenbruch als Tendenz folgt, aber auch hier gibt es Gegentendenzen, die berücksichtigt werden müssen.

TENDENZEN ZUM „STAATSKAPITALISMUS“ und zu einer „PLANWIRTSCHAFT“.

Die Hoffnung, dass der Kapitalismus seine gegenwärtige Krise überwinden wird, setzt die andere Hoffnung voraus, dass es möglich ist, eine höhere ökonomische Form als den Monopolkapitalismus zu entwickeln. Diese Hoffnung ist im Rahmen des Privateigentums unmöglich. Der „Staatskapitalismus“ ist im ökonomischen Sinne keine höhere Form als der Monopolkapitalismus, sondern nur ein neues Gesicht für letzteren. Er ist eine politische Maßnahme, um den politischen Gefahren entgegenzuwirken, die mit den Klassenveränderungen in der letzten Phase des Kapitalismus einhergehen. Die politische Basis der herrschenden Klasse wird in dieser Phase zu klein, und sie muss die Staatsmacht im Interesse des Monopolkapitalismus direkter einsetzen.

Die Knappheit der Profite und die Unmöglichkeit, die Depression zu überwinden, führt zu einer Verschärfung des Kampfes um die Verteilung des Mehrwerts. Die sozial-politischen Beziehungen im Kapitalismus werden sehr instabil. Der Kampf zwischen Finanz-, Industrie- und Agrarinteressen verschärft den Kampf um die Kontrolle der Regierung. Dieser Kampf ist nur ein politischer Reflex der sich verschärfenden Weltkrise. Trotz vieler möglicher Veränderungen wird die stärkste kapitalistische Gruppe, das Monopolkapital, letztendlich die Kontrolle über die Situationen haben.

Der Kampf der Mittelschichten.

Die Mittelschicht, die direkt oder indirekt vom Mehrwert lebt, hat weder ökonomisch noch politisch etwas mit dem Proletariat gemein, obwohl sie oft versucht, die Arbeiter für ihre Sache zu gewinnen. Ihre Hoffnung und ihr Kampf ist es, aus ihrer kleinen Position in die Position eines echten Bourgeois aufzusteigen. Das ist nur möglich, wenn der Kapitalismus funktioniert; und die Chancen sind besser, wenn er gut funktioniert. Die tatsächliche Pauperisierung der Mittelschicht ändert in der Regel zunächst nichts an ihrer Haltung gegenüber der Arbeiterklasse, sondern verschärft nur ihren Kampf, um einem proletarischen Status zu entkommen. Sie werden nicht weniger, sondern mehr kapitalistisch veranlagt. Solange ihre Hoffnungen aufrechterhalten werden können, bleiben sie die Verbündeten der herrschenden Klasse und damit die stärkste Kraft gegen die proletarische Revolution.

Die Interessen der Landwirte.

Die Bauern im Allgemeinen, mit Ausnahme derjenigen, die sich durch die Industrialisierung ihrer landwirtschaftlichen Betriebe bereits als Kapitalisten betrachten, haben andere Interessen als die Industrie- und Finanzkapitalisten. Die Entwicklung basiert zum Teil auf der Zerstörung des alten Bauernhofs. Es liegt im Interesse des Kapitals, die Gewinne der Bauern so klein wie möglich zu halten, um sich größere Gewinne zu sichern. Um die Löhne in der Industrie zu senken, braucht es billige Preise für landwirtschaftliche Produkte. Die technische Rückständigkeit der landwirtschaftlichen Produktion hat den Bauern gewisse Privilegien eingeräumt, da ihre Gewinne nicht in die durchschnittliche Profitrate einkalkuliert wurden. Der Wegfall des Profits der Bauern bedeutet für den Kapitalisten eine Erleichterung der Depression. Durch den Einsatz von immer mehr fixem Kapital in der Landwirtschaft wird dieses Privileg der Bauern beseitigt, aber bis die gesamte Landwirtschaft wirklich industrialisiert ist, ist es noch ein weiter Weg. In der Zwischenzeit wird der Kampf zwischen dem Bauern und dem Kapitalisten nie aufhören, und dieser Kampf ist nur ein weiterer Ausdruck der zunehmenden Vergesellschaftung der Arbeit. Die zunehmende Spezialisierung der landwirtschaftlichen Produktion ermöglicht es dem Kapital auch, die Preise und Profite der Bauern immer mehr zu kontrollieren.

Die Bauern kämpfen nicht gegen den Kapitalismus, sondern für ihre „Interessen“ innerhalb des Kapitalismus. Die Bauern verteidigen ihr Privateigentum, das durch den Enteignungsprozess des Monopolkapitals bedroht ist. Der Kampf wird so lange andauern, wie der Kapitalismus besteht. In diesem Kampf wird ein Teil der Bauern gegen einen anderen Teil ausgespielt.

Daraus ergibt sich eine Situation des energischen Kampfes um die Existenz, in der jeder danach strebt, nicht eliminiert zu werden. Die Bauern werden radikaler und auch rebellischer, aber in einem reaktionären Sinne. Der Kampf der Bauern um ihr Privateigentum bringt sie nicht näher an die Arbeiter heran, sondern macht sie eher zum Feind der Arbeiterklasse.

Die Politik der Bauernbewegung sieht manchmal sehr freundlich zu den Arbeitern aus und hofft auf deren Unterstützung. In Wirklichkeit sind sie an hohen Löhnen für die Arbeiter in der Industrie interessiert, weil sie an hohen Preisen für ihre Produkte interessiert sind, die in den Konsum der industriellen Arbeiterklasse fließen. Diese Haltung schlägt jedoch sofort in einen erbitterten Kampf gegen die Arbeiterklasse um, wenn es um die Frage Kommunismus oder Kapitalismus geht. Der Kommunismus ist keine Lösung für die Bauern, denn der Kommunismus enteignet ihr Privateigentum und macht es zu gesellschaftlichem Eigentum. Im Kommunismus ist dies ein radikaler Akt. Der Enteignungsprozess im Monopolkapitalismus erfolgt schrittweise und betrifft immer nur einen kleinen Teil der Bauern.

Die Fronten des Klassenkampfes im Monopolkapitalismus werden deutlicher als je zuvor. Auf der einen Seite haben sie etwas zu verlieren, auch wenn es vielleicht nur ihre Hoffnungen sind; aber auf der anderen Seite haben sie nichts zu verlieren, nicht einmal Hoffnungen.

Im Aufschwung des Kapitalismus drückte sich der Konzentrations- und Zentralisierungsprozess in der Fortsetzung der Akkumulation des Gesamtkapitals aus. Jetzt, in der Niedergangsphase des Kapitalismus, wird derselbe Prozess nur noch durch die Eliminierung der schwächeren Kapitalisten, durch die Einschränkung und Senkung des Lebensstandards der Mittelschicht und der Bauern und die allgemeine und absolute Pauperisierung der Arbeiter fortgesetzt. Die Tendenz zum Staatskapitalismus ist der politische Ausdruck dieses Prozesses in der Stagnationsphase des Monopolkapitalismus. Die ökonomische Konzentration erfordert auch eine stärkere politische Konzentration in den Händen der herrschenden Gruppe von Kapitalisten.

Der „Staatskapitalismus“ kann nur als eine Tendenz verwirklicht werden. Er kann niemals vollendet werden. Dies ist ein weiterer Beweis für die Tatsache, dass der Monopolkapitalismus zu einer Fessel für die gesellschaftliche Entwicklung der Produktivität geworden ist. Es beweist auch den dauerhaften Charakter der gegenwärtigen Krise. /

Die Tendenzen zu einer „Planwirtschaft“.

Die Tendenzen des „Staatskapitalismus“ sind eng mit den kapitalistischen Tendenzen zu einer „Planwirtschaft“ verbunden. Es wird versucht, das russische Beispiel zu kopieren und dabei die Unterschiede in der ökonomischen Entwicklung der verschiedenen Länder außer Acht zu lassen. Das gilt vor allem für faschistische Nationen und solche, die zum Faschismus tendieren. Es wird eine intensive Propaganda für die Planwirtschaft betrieben, die das Missverhältnis in den verschiedenen Produktionsbereichen beseitigt, den Wettbewerb ausschaltet und die Löhne, die Arbeitszeit und die Preise für Waren staatlich reguliert. Sogar die Kontrolle der Profite wird in Betracht gezogen.

Die kapitalistische „Planwirtschaft“ ist eine Unmöglichkeit, denn das System kann sich nur so lange entwickeln und funktionieren, wie es anarchisch ist. Unter Kapitalverhältnissen würde eine Planwirtschaft einen statischen Kapitalismus voraussetzen und ein stationärer Kapitalismus bedeutet eine permanente Krise. Selbst wenn diese Theorien der Planwirtschaft zur Anwendung kämen, würden sie sofort wieder verschwinden, da ein neuer Boom einsetzen würde. Eine neue Boomphase ist nur möglich, wenn die Akkumulation wieder aufgenommen wird. Das bedeutet, dass die kapitalistische Produktion angekurbelt und nicht eingeschränkt wird, es bedeutet, dass die kapitalistische Anarchie zunimmt und nicht abnimmt.

Die planwirtschaftlichen Experimente in den USA, Italien und Deutschland haben bewiesen, dass dieser Prozess nur den Interessen des Monopolkapitals dienen soll. Sie nehmen die Form von Zwangstrustifizierung, Organisation von Kartellen, staatlichen Krediten, Lohnabsprachen auf der Grundlage der Verbreitung des allgemeinen Elends, Ausbeutung billiger Arbeitskräfte der Arbeitslosen, Senkung der Kosten für die Arbeitslosenhilfe usw. an. All diese Dinge helfen; keines von ihnen schadet den Interessen des Kapitalismus, aber sie lösen die Krise nicht.

Der New Deal.

Das New Deal-Programm des Roosevelt-Regimes war nichts anderes als die Neukonzeption der Monopolbewegung des amerikanischen Kapitals in der Dauerkrise. Sein einziger Wert für den Kapitalismus als Ganzes war die Stärkung der kapitalistischen Ideologie. Die Mittel, um dies zu erreichen, waren sehr einfach. Roosevelt lieh sich von der amerikanischen Arbeiterbewegung, die immer noch den Vorstellungen des Liberalismus folgt, die Slogans der Reformen. Diese Slogans und Ideen wurden formuliert, um das Missverhältnis in den verschiedenen Produktionsbereichen zu lösen, den unlauteren Wettbewerb zu beseitigen, höhere Löhne (?), einen kürzeren Arbeitstag, höhere Preise, ein besseres Bankensystem und andere Phrasen zu fördern, die manchmal sogar sensationell waren.

Im Gegensatz zu den Slogans und der Propaganda des New Deal war die Praxis jedoch ganz anders. Jeder einzelne seiner Versuche scheiterte. Jede einzelne dieser Ideen erwies sich als bankrott. Es wurde kein Aufschwung erreicht. Es kam zu keiner Ausweitung der Produktion, die Industriekredite stiegen nicht und die Arbeitslosenzahlen wurden nicht beeinflusst. Die landwirtschaftlichen Projekte blieben nur als Beweis für den Irrsinn des Systems mit seiner Zerstörung landwirtschaftlicher Produkte und seinen Produktionsbeschränkungen; aber die Last der Landwirte wurde dadurch in keiner Weise verringert. Die Beseitigung des „unlauteren Wettbewerbs“ richtete sich nur gegen die konkurrierenden Sweatshops der kleinen Kapitalisten und war damit ein Mittel zur weiteren Konzentration des Kapitals, das zu einer Verschärfung der allgemeinen Krise führte. Das Ergebnis der Verkürzung des Arbeitstages wurde durch weitere Rationalisierungen zunichte gemacht und hatte keine Auswirkungen auf die Situation der Arbeitslosen. All die schönen Theorien scheiterten als Mittel zur Überwindung der Depression.

Es stimmt zwar, dass die C.W.A. einer großen Zahl von Arbeitslosen eine befristete Beschäftigung verschaffte, was wiederum zu einem leichten Aufschwung in bestimmten Branchen führte; aber die Statistiken beweisen, dass die Summe der Gesamtlöhne nicht gestiegen, sondern in Wirklichkeit gesunken ist. Die Preise für Konsumgüter, die die Arbeiter brauchen, steigen schneller als die Löhne. Mit dem New Deal erhielten die Arbeiter als Klasse weniger vom gesamten Sozialprodukt als zuvor. Die Roosevelt-Politik hat das Tempo der allgemeinen Pauperisierung nur erhöht. Sie führte nur zu einer planmäßigeren Verteilung des Elends für die Arbeiterklasse. Auch wenn die Ausschaltung der Konkurrenz erfolgreich war, wirkt die Überakkumulation des Kapitals weiter und führt zum kapitalistischen Zusammenbruch.

FASCHISMUS.

Der Rückgang der Profite in der allgemeinen Krise verschärft den Klassenkampf. Sowohl der politische als auch der ökonomische Kampf werden schärfer. Durch den Konzentrationsprozess wird die politische Basis für die Herrschaft des Kapitalismus zu klein. Die Kapitalisten müssen ihre politischen Kräfte stärken, indem sie die Mittelschicht und die Bauern auf ihre Seite ziehen. Die alten demokratischen Methoden sind nicht mehr zufriedenstellend; sie müssen gegen schärfere und direktere Methoden ausgetauscht werden. Eine Regierung reicht nicht mehr aus; was wir brauchen, ist eine Diktatur. Die Gärung und die sozialen Unruhen in der letzten Phase des Kapitalismus müssen unterdrückt und kontrolliert werden, damit das System überleben kann.

Die soziale Ideologie.

Das soziale Bewusstsein ist im Kapitalismus eine Ideologie wie in allen anderen Klassengesellschaften. Der Zweck dieser Ideologie ist es, den wahren Charakter des Kapitalismus zu verschleiern; die unterschiedlichen Klasseninteressen und den Klassenkampf zu verbergen. In der kapitalistischen Realität gibt es keine gemeinsamen Interessen. Die Ideologie muss den Anschein eines gemeinsamen Interesses vortäuschen, um eine soziale Praxis zu ermöglichen. Die Bedürfnisse des Kapitalismus werden als die Bedürfnisse der gesamten Menschheit ausgegeben.

Mit der Verschärfung des tatsächlichen Klassenkampfes und dem wachsenden Widerspruch zwischen Ideologie und Realität wird es immer schwieriger, den Schein der Klassenkollaboration als Interesse aller Klassen aufrechtzuerhalten. Es wird notwendig, die Idee des Klassenkampfes noch rücksichtsloser zu bekämpfen. Das Kapital wird durch seinen Sprecher der Mittelklasse „sozial“; es ignoriert den Klassenkampf nicht mehr, sondern macht ihn für alle kapitalistischen Schwierigkeiten verantwortlich. Der Klassenkampf ist nicht das Ergebnis der Krise, sondern jetzt ist die Krise für den Kapitalismus das Ergebnis des Klassenkampfes. Die Idee des Klassenkampfes ist eine Erfindung, die von marxistischen Kriminellen in die Welt gesetzt wurde. Sie ist gefährlich, nicht nur für das Kapital, sondern für die gesamte Gesellschaft. Der echte „Sozialismus“ macht die Abschaffung des Klassenkampfes notwendig. Der Klassenkampf wird nicht durch die Abschaffung der Klassen abgeschafft, sondern durch die Zerstörung der marxistischen Klassenkampf-“Idee“. Die Mittelschichten, die lieber Mittelschichten bleiben, als Proletarier zu werden, machen sich diese Idee zu eigen und werden dadurch in eine Front mit dem Monopolkapital gegen die Arbeiter gebracht. Die Arbeiterbewegung hat darauf hingewiesen, was die Klassen unterscheidet; jetzt weist der Kapitalismus auf das hin, was die Klassen eint.

Auch der Ultranationalismus wird zu einem großen Teil der kapitalistischen Ideologie, so wird der Faschismus „nationalsozialistisch“. Die Nation wird gegen den Rest der Welt oder gegen spezielle Feinde eingesetzt. Ein „dritter“ Faktor, nicht das Klassensystem, ist für das ganze Elend verantwortlich, in dem sich die Menschen in einem bestimmten Land befinden. Die Propaganda für imperialistische Abenteuer wird dadurch immens gestärkt.

Der Faschismus ist jedoch nicht unbedingt an eine bestimmte Ideologie gebunden. Er kann je nach den Eigenheiten, der Geschichte, dem Entwicklungsstand und anderen Besonderheiten in den verschiedenen Ländern variieren. Das Wesentliche ist jedoch überall dasselbe. Sie wird entwickelt, um die bestehende Gesellschaftsordnung zu erhalten.

Die Wünsche der Mittelschicht wurden in der Vergangenheit besser erfüllt als in der Gegenwart. Das macht die faschistische Ideologie zu einer reaktionären Ideologie. „Zurück zu den guten alten Zeiten“ ist der Ruf des Faschismus in Europa; „zurück zu den Tagen der Frontier“ ist der Ruf in Amerika, aber reaktionär ist er nur als Ideologie. In Wirklichkeit befriedigt er den weiteren Konzentrationsprozess des Kapitalismus und sichert Profite für die herrschende Klasse.

Die Tatsache, dass es den Faschismus auch in den weniger entwickelten Ländern gibt, ändert nichts an der Schlussfolgerung, dass er eine Regierungsform des Monopolkapitalismus ist. Der Zarismus zum Beispiel unterscheidet sich vom deutschen Faschismus nur dadurch, dass im ersten Fall ein feudales Regime versuchte, die Macht zu behalten, und im zweiten Fall ein kapitalistisches Regime darum kämpft, die Kontrolle über die Gesellschaft zu behalten.

Der Faschismus in der allgemeinen Krise ist eine Situation der kapitalistischen Barbarei. Das Töten wird zu einer politischen Wissenschaft, der Raub wird zur Ökonomie. Die Pauperisierung der Arbeiter als einzige Quelle für mögliche Profite macht ein passives Proletariat notwendig. Um dies zu erreichen, müssen den Mördern genügend Privilegien eingeräumt werden. Die Rebellion der Mittelschicht richtet sich im Wesentlichen nicht gegen den Kapitalismus, sondern gegen ihre eigene Pauperisierung. Der Faschismus macht sich alle Energien der Mittelschicht zunutze und setzt sie im Interesse des Kapitalismus gegen die einzige revolutionäre Klasse ein – das Proletariat.

In Amerika gilt es nach dem Zusammenbruch des New Deal als wahrscheinlich, dass das Roosevelt-Regime zu einer faschistischen Diktatur wird; aber diese Schlussfolgerung ist nicht unbedingt richtig. Der Faschismus ist die beste Regierungsform in der Dauerkrise des Monopolkapitals, aber er ist keine absolute Notwendigkeit. Eine Diktatur der kapitalistischen Klasse selbst ist hier möglich, wo die Mittelschicht relativ schwach ist. Erst wenn ein Zustand eintritt, in dem die Arbeiter in einer bedrohlichen Lage sind, wenn die Mittelschicht rebellisch wird, wenn eine wirklich revolutionäre Situation vor dem Kapitalismus liegt, dann wird die herrschende Klasse gezwungen sein, die faschistischen Tendenzen zu forcieren.

Die neuen faschistischen Organisationen, die in Amerika entstehen und die versuchen, die Hitler-Bewegung zu kopieren, sind nicht die wesentlichen faschistischen Kräfte, sondern lediglich private Unternehmen von kleinen Politikern. Die wirklichen faschistischen Reserven stecken in den älteren Organisationen wie der American Legion und der American Federation of Labor, die schon immer der Ausdruck aller reaktionären Kräfte der Mittelklasse und der Arbeiteraristokratie waren. Diese Organisationen sind noch nicht faschistisch, weil der Klassenkampf noch nicht so weit fortgeschritten ist, dass der amerikanische Kapitalismus seine letzten Reserven einsetzen muss. Wenn die Mittelschicht stärker pauperisiert ist als heute, wird die faschistische Bewegung in den Vereinigten Staaten schneller wachsen als irgendwo sonst; in der Tat hat der Faschismus in der jetzigen Situation in Amerika mehr Chancen, sich zu entwickeln als die revolutionäre Bewegung der Arbeiter.

Die alte Arbeiterbewegung stirbt mit dem Kapitalismus. Das ermöglicht es dem Faschismus sogar, viele Arbeiter in seine Reihen zu ziehen. Von der sozialen Reform führt die Entwicklung zum sozialen Faschismus. Trotz dieser Entwicklung bleibt der Arbeiterklasse, um ihrem Elend zu entkommen, nichts anderes übrig, als den Faschismus und das kapitalistische System zu stürzen. Die Todeskrise unterscheidet sich in dieser Hinsicht von allen bisherigen Krisen, denn selbst wenn ein Teil der kapitalistischen Klasse die Depression vom Standpunkt ihrer Profite aus überwinden sollte, bedeutet der Fortbestand des Kapitalismus für die Arbeiter nur die ständige Verschlechterung ihrer Bedingungen. Der Anteil, den die Arbeiter vom Sozialprodukt erhalten, wird immer kleiner; Hunger und Tod sind die einzigen Perspektiven im Kapitalismus für die Arbeiter.

Der internationale Charakter der Depression, der internationale Charakter des Klassenkampfes, wird die Diktatur der ruinierenden Klasse auf der ganzen Welt erzwingen. Der Faschismus wird zu einer weltweiten Bedrohung. Um dieser Situation zu entkommen, ist nichts anderes möglich, als dass die Arbeiter den Kapitalismus mit der Weltrevolution stürzen. Die Geschichte hat die Weichen gestellt: – Weltfaschismus oder Weltrevolution – Barbarei oder Kommunismus.

DIE ALTE ARBEITERBEWEGUNG.

Die ökonomische Analyse hat gezeigt, dass die objektive Situation für eine soziale Revolution gegeben ist. Die politische Situation ist jedoch eine andere. Relativ gesehen war die internationale Bourgeoisie trotz ihrer chaotischen ökonomischen Lage politisch nie stärker. Die revolutionäre Arbeiterbewegung hat eine Niederlage nach der anderen erlitten, die in der Vernichtung der deutschen Bewegung gipfelte, die der Schlüssel zur Weltrevolution war. Diese Niederlagen sind nicht allein auf die Unreife der Bewegung zurückzuführen, sondern auch darauf, dass die Arbeiter die Bedeutung der Dauerkrise nicht begriffen haben und dass sich die Bewegung nicht von den Methoden und Traditionen der alten Arbeiterbewegung befreit hat, die der Revolution im Wege stehen.

Die alte Arbeiterbewegung hatte ihren Anfang und ihre Entwicklung in der Aufschwungphase des Kapitalismus, einer Zeit, in der die Pauperisierung der Arbeiter nur relativ verlief. Die Marxsche Theorie, dass mit der Akkumulation des Kapitals auch die Akkumulation des Elends der Arbeiter einherging, wurde für den oberflächlichen Betrachter widerlegt. Offensichtlich wurde mit der steigenden Produktivität auch der Lebensstandard der Arbeiter besser. Die Tatsache, dass die Arbeiter im Verhältnis zu dem, was sie produzierten, immer weniger bekamen – dass die Arbeiter einen immer kleineren Teil des Sozialprodukts erhielten, wurde ignoriert. Die gewerkschaftlichen/syndikalistischen und sozialreformerisch-parlamentarischen Organisationen wuchsen und auch der politische Einfluss der Arbeiter schien zuzunehmen. Eine opportunistische Politik, bei der die Arbeiter Reformen durchsetzten, indem sie sich mit kapitalistischen Gruppen gegen andere kapitalistische Gruppen verbündeten und so die Spaltung der Kapitalisten ausnutzten, zeigte nichts anderes als die Rückständigkeit des Klassenkampfes. Dies war die Grundlage der alten Arbeiterbewegung in einer Zeit, in der nur Reformen möglich waren. Auch die Arbeiterbewegung konnte nur eine kapitalistische Politik betreiben. Der Kampf zwischen Kapital und Arbeit war ein Kampf um einen größeren Anteil am Sozialprodukt – ein Kampf auf der Grundlage und innerhalb des Rahmens der kapitalistischen Gesellschaft.

Die Theorie des ökonomischen Zusammenbruchs und das Prinzip der Revolution gingen schnell verloren und an ihre Stelle trat das Ideal des „friedlichen Hineinwachsens in den Sozialismus“. Die Interessen der Arbeiterbewegung wurden mit den Interessen der Gesellschaft als Ganzes und damit auch mit den Interessen der Kapitalisten gleichgesetzt. Für den Reformismus war die Ursache der Krise die Unzulänglichkeit der kapitalistischen Organisation. Das Problem lag nicht in der kapitalistischen Produktion, sondern in der Warenzirkulation und in der Konkurrenz. Das Problem würde durch die Konzentration des Kapitals und durch die Erziehung der Arbeiter soweit gelöst, dass sie genügend legalistische politische Macht erlangen würden, um den Sozialismus durch Gesetzgebung herbeizuführen. Der revolutionäre Kampf wurde über Bord geworfen und diese kapitalistische Politik nahm ihren Platz ein, so dass die Bewegung nur noch ein Werkzeug zur Kontrolle des Kapitalismus war.

Von der sozialen Reform zum sozialen Faschismus.

Mit dem Ausbruch des Weltkriegs ließ die alte Arbeiterbewegung, die sich in der Zweiten Internationale zusammengeschlossen hatte, alle sozialistischen Phrasen fallen und wandte sich der Verteidigung der Kapitalisten in den verschiedenen Ländern zu. Sie bewiesen, dass ihre reaktionäre Form nur ein Deckmantel für ihren reaktionären Inhalt war. Sie zeigten auch in der revolutionären Periode am Ende des Krieges, dass diese Organisationen, die aufgebaut worden waren, um für Reformen innerhalb des Kapitalismus zu kämpfen, keinen Vorteil aus einer revolutionären Situation ziehen konnten.

Unter dem Eindruck der russischen und mitteleuropäischen revolutionären Aufstände wurde die neue Arbeiterbewegung geboren. Eine revolutionäre Bewegung in einer revolutionären Zeit. Das Ziel war der Umsturz des kapitalistischen Systems. Die Mittel dazu waren die neuen Organisationen der Arbeiter, die Aktionskomitees, die Arbeiterräte und die Sowjets.

Einmal mehr war die alte Arbeiterbewegung in der Lage, dem Kapitalismus zu dienen. Sie besiegte die junge revolutionäre Bewegung, indem sie in Deutschland viele tausend revolutionäre Arbeiter abschlachtete und in Russland den Arbeitersowjets die Kontrolle entriss und die Diktatur der bolschewistischen Partei über die Arbeiter einführte. Mit neuen Namen, neuen Slogans und neuen Führern wurde die Dritte Internationale zum Zentrum der neu organisierten Überbleibsel der alten Arbeiterbewegung. Ein neues Erscheinungsbild, aber derselbe alte sozialdemokratische Inhalt. So begann eine neue Periode des gewerkschaftlichen/syndikalistischen Kuhhandels und der parlamentarischen Fälschungen, in der die Arbeiterklasse von einer Niederlage zur nächsten eilte.

Die russische Entwicklung.

Um die Dritte Internationale, die bolschewistische Bewegung mit ihren verschiedenen Oppositionen, wie den Neobolschewiken der „Vierten Internationale“, zu verstehen, ist ein Rückblick auf die russische Entwicklung notwendig.

Die Industriearbeiter, die in der russischen Revolution die Führung übernahmen und kämpften, kämpften im Interesse des Kommunismus. Die Bauern jedoch, die die große Mehrheit und die eigentliche Kraft der Revolution waren, gingen nicht über die Neuverteilung des Bodens hinaus. Ihr Hauptanliegen war ein Aufstand gegen die feudalen Verhältnisse, um die Entwicklungsmöglichkeiten der kapitalistischen Agrartechnik herbeizuführen. Sie waren seit 1917 durchgehend ein bestimmender Faktor für die Entwicklung Russlands.

Der rückständige ökonomische Charakter des Landes ließ den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft nicht zu. Die einzige Politik, die unter diesen Bedingungen möglich war, bestand darin, alle notwendigen Zugeständnisse zu machen, um die Macht zu behalten. Diese Politik der Zugeständnisse auf nationaler und internationaler Ebene hat sich so weit entwickelt, dass sie sich jetzt gegen die Interessen des industriellen Weltproletariats und der Weltrevolution richtet.

Es stimmt, dass diese Politik der Zugeständnisse nur vorübergehend sein sollte und abgeschafft werden würde, sobald die Weltrevolution sich über Europa ausbreiten würde; aber mit der Niederlage der deutschen Arbeiter 1919 und erneut 1923 wurde die Hoffnung auf eine anhaltende Weltrevolution aufgegeben. Das Hauptziel bestand nun darin, die Macht der bolschewistischen Partei in Russland zu erhalten und zu stärken.

Die Russische Kommunistische Partei war die größte in der Dritten Internationale und wurde zur dominierenden Sektion. Der Sitz der Internationale in Moskau verstärkte diese Tendenz. Mit den nationalen und internationalen Interessen Russlands als bestimmendem Einfluss ging die Dritte Internationale dazu über, in den verschiedenen Ländern Massenparteien aufzubauen, um die russische Entwicklung zu unterstützen. Die verschiedenen Teile der kommunistischen Bewegung waren gezwungen, eine reformistische und opportunistische Politik zu verfolgen, um mit den Parteien der Zweiten Internationale zu konkurrieren und große Teile der Arbeiterklasse zu kontrollieren und zu nutzen. Die Verteidigung der Sowjetunion wurde zum ersten Prinzip aller kommunistischen Parteien der Dritten Internationale. Die Weltrevolution des Proletariats wurde beiseite geschoben, und die erste Pflicht der Kommunisten überall war nun die Unterstützung des bolschewistischen Regimes und der „Aufbau des Sozialismus in Russland“. Jeder, der diese Politik kritisierte, wurde sofort ausgestoßen. Die Tradition des bolschewistischen Erfolgs von 1917 überdeckte ihre konterrevolutionäre Praxis.

Der hauchende Zauber, der das bolschewistische Regime schützen sollte, führte zum Wachstum einer starken Bürokratie. Die „Diktatur der Arbeiter“ wurde zu einer Diktatur der Bürokratie über die Arbeiter. Sie identifizierten ihre Interessen mit den Interessen der russischen Arbeiter und sogar mit denen der internationalen Arbeiterklasse. Alle Maßnahmen, die sie für notwendig hielten, wurden „im Interesse der Weltrevolution“ ergriffen. Handelsbündnisse, Militärbündnisse mit kapitalistischen Ländern, Weltfrieden, um den Industrialisierungsprozess voranzutreiben und imperialistische Aktionen vorzubereiten, die Vernichtung aller wirklich revolutionären Bewegungen im Namen des Kommunismus, der Aufbau eines neuen Systems der Ausbeutung der Arbeiter unter dem Namen „Staatskommunismus“ – so lässt sich die gegenwärtige Politik der Bürokratie und ihres Werkzeugs – der Kommunistischen Internationale – zusammenfassen.

Die Haupttätigkeit der verschiedenen Sektionen der Dritten Internationale ist die Propaganda für Russland geworden. Durch die Darstellung der wunderbaren Fortschritte im „Vaterland der Arbeiter“ sollen die Arbeiter anderer Länder davon überzeugt werden, dass es ihre Lösung ist, dem Beispiel der russischen Arbeiter zu folgen. Auch hier, wie bei der Zweiten Internationale, wird der revolutionäre Prozess zu einem reinen Propagandaprozess. Eines Tages werden die Arbeiter überzeugt sein, und aufgrund ihres Bewusstseins werden sie handeln. Diejenigen, die am besten werben können, werden Erfolg haben. Das nennt man „Marxismus“ und Leninismus.

Den „Sozialismus“ aufbauen?

Lenins Ziel: „Der Staat des Arbeiters“ oder „Staatskapitalismus unter der Kontrolle der Arbeiter“ (was ja eine Utopie ist) hat in Wirklichkeit zur Entwicklung eines Staatskapitalismus geführt, der die Arbeiter kontrolliert. Alle sozialistischen Tendenzen werden getötet, während die kapitalistischen Tendenzen immer stärker werden. In der vorherrschenden Ideologie, die notwendig ist, um die Realitäten zu verschleiern, wird dies als „Staatskommunismus“ und „Aufbau des Sozialismus“ bezeichnet. Die ökonomische Grundlage ist jedoch die Ausbeutung der Arbeiter. An die Stelle der alten kapitalistischen und feudalen Ausbeuter sind neue getreten – die organisierte Bürokratie – die das Sagen hat. Diese Bürokratie, nicht die Arbeiter, hat die Kontrolle über die Produktionsmittel und damit auch über die Produkte. Damit ist die Ausbeutung der Arbeiter garantiert.

Es wird erklärt, dass die Ausbeutung jetzt zwar weitergeht, aber in einem späteren Stadium der Entwicklung in Form von sozialen Verbesserungen/Vorteilen und steigenden Löhnen an die Arbeiter zurückgegeben wird. Die Praxis des Staatskommunismus hat jedoch bewiesen, dass mit seiner Entwicklung die Arbeiter nicht weniger, sondern mehr ausgebeutet werden. Zwar können sie nachweisen, dass die Löhne der Arbeiter gestiegen sind, aber sie sind nicht so schnell gestiegen wie die Produktivität. Hier haben wir es mit einer relativen Pauperisierung der Arbeiter zu tun, die in einem späteren Entwicklungsstadium zur absoluten Pauperisierung wird. Der Hinweis darauf, dass es keine Arbeitslosigkeit gibt, beweist nichts anderes als die Tatsache, dass die industrielle Entwicklung nicht in der Lage war, die Bauernschaft so schnell in industrielle Lohnarbeiter umzuwandeln, wie es die heutige Technik erfordert. In einem späteren Stadium der Industrialisierung muss die Arbeitslosigkeit zwangsläufig genauso entstehen wie in anderen kapitalistischen Ländern.

Das Lohn-Kapital-Verhältnis der russischen Produktion, die Produktion von Tauschwerten, die Kontrolle über die Produktionsmittel durch die Bürokratie und nicht durch die Arbeiter, schließt jede Entwicklung zum Kommunismus in Russland aus. Dieses neue Ausbeutungssystem bringt eine neue herrschende Klasse hervor, die genauso ein Feind der proletarischen Revolution ist, wie es die Kapitalisten zuvor waren. Eine neue proletarische Revolution wird die Perspektive der russischen Arbeiter. Das Kapitalverhältnis in der Produktion führt zwangsläufig zu immer größerem Elend für die Arbeiter, zu einer Krise und schließlich zum Zusammenbruch.

Die Politik der Dritten Internationale, den Charakter der kommunistischen Bewegung in ein Verteidigungskorps für Russland umzuwandeln, lenkt diese organisierten Arbeiter vom eigentlichen Klassenkampf und dem wirklichen Kampf für die proletarische Revolution und den Kommunismus ab.

Bolschewistische Traditionen.

Traditionen aus der Vergangenheit behindern immer die wirkliche Entwicklung der Gegenwart. Die Arbeiter kämpfen im Klassenkampf weiterhin so, wie sie in der Vergangenheit gekämpft haben. Trotz der Tatsache, dass die beiden Internationalen als revolutionäre Organisationen zusammengebrochen sind, existiert die Ideologie dieser Organisationen immer noch und behindert die Entwicklung eines echten revolutionären Bewusstseins. In den Ländern, in denen die Arbeiterbewegung zerstört wurde, bauen sich die Arbeiter wieder auf den alten Prinzipien und in den alten Formen auf, die sie vorher hatten.

Die Oppositionsgruppen, die die Dritte Internationale wegen ihres Opportunismus und ihrer Widersprüche scharf kritisieren, versuchen, eine neobolschewistische Bewegung aufzubauen. Die Kritik, die sie vorbringen, ist jedoch rein taktischer Natur. Die falsche Taktik der Kommunistischen Internationale und ihrer verschiedenen Sektionen ist auf die schlechte Führung zurückzuführen.

Die Frage wird zu einer Frage von guter oder schlechter Führung, eine Position, die auf reiner Spekulation beruht, denn niemand kann sagen, wie lange die Anführer noch gut sein werden oder wie schnell sie schlecht werden. Der Konkurrenzkampf zwischen Anführern und Bürokratien in der Bewegung kennzeichnet auch den Kampf zwischen der Kommunistischen Internationale und ihren Oppositionen. In ihrem Kampf versuchen sie, den Kampf zwischen politischen Fraktionen zur Weltgeschichte zu erheben.

Das gesamte Programm der Neobolschewiki der Gruppen der „Vierten Internationale“ lässt sich in ihrem Slogan „Zurück zu Lenin“ zusammenfassen. Was Lenin betrifft, so hat er nicht mehr und nicht weniger getan, als die Marxsche Forderung nach der Diktatur des Proletariats in einem rückständigen Land in modifizierter Form vorzuschlagen. Die Abwandlung dieser Forderung, von der Diktatur der Arbeiter zur Diktatur der Partei, ergab sich aus der Rückständigkeit des Landes. Der bolschewistische Erfolg von 1917 ist ein historischer. Der Erfolg ihrer Politik zu dieser Zeit ist keine Garantie für den Erfolg in einem anderen Land in einer anderen historischen Periode. „Zurück zu Lenin“ ist in Wirklichkeit eine sinnlose, dumme Phrase. Eine Unterscheidung zwischen Leninismus und Stalinismus ist nicht möglich, da letzterer nur das Ergebnis des ersteren ist. Die Weltbewegung steht nicht nur vor einer Niederlage des Stalinismus, sondern die gesamte bolschewistische Periode, die mit Lenin begann, hat ihr historisches Ende gefunden. Die Frage lautet heute: Bolschewismus oder Kommunismus.

Sowohl für die bolschewistische Bewegung als auch für die reformistische Bewegung der Zweiten Internationale wurde die Entwicklung des Klassenbewusstseins durch die Entwicklung der Partei bestimmt. Ohne die richtige Partei, ohne die richtige Taktik und die richtige Führung, waren die Arbeiter hilflos. Die Arbeiter können zwar kämpfen, aber ihre Kämpfe können ohne die richtige Partei an der Spitze nicht erfolgreich sein. So wird die Partei zum entscheidenden Faktor. Die richtige Partei ist diejenige, die das richtige Programm und die richtige Taktik hat. Die richtige Taktik hängt von der richtigen Führung ab, und so wird die Geschichte letztlich wieder zum Werk großer Männer.

Die Gewerkschafts-, Syndikatsfrage.

Der Kampf der konkurrierenden Bürokratien in der Bewegung manifestiert sich in den Versuchen, Massenorganisationen aufzubauen. Mit diesem Ziel vor Augen versuchen sie, die Arbeiter in den Gewerkschaften/Syndikate zu gewinnen, oder sie versuchen, die Kontrolle über die Gewerkschaften/Syndikate zu erlangen. Eine Analyse der Gewerkschafts-, Syndikatsbewegung ist notwendig.

Der Erfolg der Gewerkschaften/Syndikate hängt davon ab, dass sich ein Teil der Arbeiter auf Kosten der übrigen Arbeiterklasse verbessert. Sie setzt eine Spaltung der Arbeiter in die organisierte Minderheit und die unorganisierte Mehrheit voraus. Sie kann zu keinem Zeitpunkt die Interessen der Arbeiterklasse vertreten. Sie kann nur im Kapitalismus funktionieren, und je stabiler der Kapitalismus ist, desto besser kann sie funktionieren. Ihre Funktion konzentriert sich auf den Kampf des organisierten Teils der Arbeiter für Reformen im Kampf gegen die relative Pauperisierung in der Aufschwungphase des Kapitalismus. In der Dauerkrise, wenn der Prozess der Pauperisierung absolut wird, verliert die Gewerkschafts-, Syndikatsbewegung jede Möglichkeit, auch im Interesse des organisierten Teils zu funktionieren. Schlimmer noch, sie wird nicht nur passiv in den Kämpfen zwischen Kapital und Arbeit, sondern sogar reaktionär in dem Maße, dass sie dazu beiträgt, alle wirklichen Kämpfe der Arbeiter gegen das Eindringen des Kapitals in ihren Lebensstandard zu vereiteln.

Aufgrund der Tendenz zu spontanen Streiks und der Möglichkeit, dass die bürokratische Führung der Gewerkschafts-, Syndikatsbewegung in der letzten Phase des Kapitalismus die Kontrolle über die Arbeiter verliert, verliert sie sogar ihren Wert für die kapitalistische Klasse. Infolgedessen verwandelt sie sich in ein „Bollwerk gegen die Revolution“ und wird zu einem der besten Unterstützer des Systems. Indem sie große Teile der Arbeiter neutralisiert, ist sie eine ebenso starke Kraft für den Faschismus, wie es die faschistische Bewegung ist, indem sie für ihn kämpft.

Die Politik des „Bohrens von innen“, um die Gewerkschaften/Syndikate zu erobern oder zu revolutionieren, ist genauso unmöglich wie die sozialistische Politik der Revolutionierung der kapitalistischen Regierung. Die neuen kommunistischen Gewerkschaften/Syndikate sind in den Ländern, in denen sie eine Chance hatten, sich zu entwickeln, genauso reaktionär geworden wie die alten.

Wenn die kapitalistische Krise ein gefährliches Stadium erreicht, wird der Kapitalismus die Gewerkschaften/Syndikate zerstören oder sie zu unterwürfigen faschistischen Organisationen machen, die gegen die Arbeiter vorgehen. Sie können nicht mehr zulassen, dass sie unabhängig funktionieren, weil die Gefahr besteht, dass die Führung die Kontrolle verliert und die Arbeiter einen Kampf anzetteln, der in einer solch prekären Phase für den Kapitalismus gefährlich wäre.

In der permanenten Krise hat die Gewerkschafts-, Syndikatsbewegung ihr historisches Ende erreicht und muss als Bedrohung für die revolutionäre Bewegung zerschlagen werden.

An der parlamentarischen Politik teilnehmen.

Die parlamentarisch-politischen Parteien sind wie die Gewerkschaften/Syndikate aufgebaut, mit einer bürokratischen Führung an der Spitze, die die Mitglieder und die Aktivitäten der Organisation kontrolliert. Die Organisation arbeitet immer im Interesse der Bürokratie und nicht im Interesse der Arbeiter.

Die Parlamente gehören der kapitalistischen Klasse und dem kapitalistischen System. Ihre Funktion ist es, als Instrument für die legalen Differenzen zwischen den kapitalistischen Gruppen innerhalb des Systems zu dienen. Als „revolutionäres Tribunal“ sind sie absolut nutzlos und können in der permanenten Depression nicht einmal die kleinste Reform zugunsten der Arbeiter zulassen. Der Einsatz von Wahlen als „Barometer für die Reife der Arbeiterklasse“ ist nur ein weiterer Deckmantel für parlamentarische Fälschungen ein „revolutionärer Parlamentarismus“ ist unmöglich, da die Beteiligung an der parlamentarischen Tätigkeit auf Kompromissen beruht und das bedeutet, dass die Arbeiter ihre wahren Klasseninteressen aufgeben müssen.

Das Parlament dient auch dazu, Illusionen in die Köpfe der Arbeiter zu setzen. Der aktive Kampf und die Initiative der Arbeiter sind nicht notwendig. Die Anführer werden die Ergebnisse für sie in den Parlamenten erzielen. Angesichts des wachsenden weltweiten Faschismus ist es ein Verbrechen, zur Teilnahme an parlamentarischen Aktivitäten aufzurufen, die die Arbeiter vom wirklichen Kampf zu einem illusionären Kampf ablenken.

In der letzten Phase des Monopolkapitalismus verliert der Parlamentarismus selbst für die kapitalistische Klasse seinen Wert. Selbst als Ideologie kann die „Demokratie“ nicht mehr toleriert werden. Die faschistische Diktatur wird zum einzigen Mittel der absoluten Kontrolle, das der Kapitalismus braucht.

Die Tätigkeit des Aufbaus der historisch überholten parlamentarischen Parteien besiegt die revolutionäre Bewegung der Arbeiterklasse, da sie dadurch den wirklichen Klassenkampf und die wirkliche revolutionäre Bewegung vernachlässigen.

DIE NEUE REVOLUTIONÄRE ARBEITERBEWEGUNG.

Sowohl für den Reformismus als auch für den Bolschewismus bedeutet die Entwicklung des Klassenbewusstseins die Entwicklung der Partei. Die Partei ist der Kopf, das Gehirn, der Regisseur im Klassenkampf und in der Revolution. Ohne eine Partei, und vor allem ohne eine Partei mit dem richtigen Programm und der richtigen Taktik, sind die Arbeiter hilflos. Die Arbeiter mögen sich auflehnen, aber ohne die Führung der Partei können sie nicht erfolgreich kämpfen. Das Tempo der Entwicklung der Partei ist das Tempo der Revolution selbst. Richtige Parolen, richtige Taktik sind wichtig und die Führung ist das Wichtigste von allem. Die Initiative der Massen wird getötet; Disziplin gegenüber der Parteilinie ist das, was zählt. Der Einfluss der Partei ist alles, die Revolution ist nur das Ergebnis dieses Einflusses.

Loyalität gegenüber der Partei bedeutet letztlich Loyalität gegenüber der herrschenden Bürokratie. Eine Kontrolle der Arbeiter selbst kann es nicht geben; auch eine wirkliche Einheitsfront der Arbeiter ist wegen der Konkurrenz zwischen den verschiedenen Gruppen von Anführern nicht möglich.

Die Auffassung der alten Arbeiterbewegung von Kautsky bis Lenin, dass die Arbeiter von sich aus niemals ein echtes Klassenbewusstsein entwickeln werden und dass die Partei notwendig ist, um dieses Bewusstsein in die Massen zu bringen, ist eine mechanische Auffassung von der Rolle, die das Bewusstsein im Klassenkampf spielt, und hat nichts mit Marx oder dem Marxismus zu tun. Für Marx ist die Revolution des Proletariats unvermeidlich. Sie erwächst aus dem gesellschaftlichen Prozess der Entwicklung der Produktivkräfte. Das Proletariat, eine Produktivkraft an sich, eine Klasse unabhängig von der Ideologie einer Organisation, ist die Materialisierung des Klassenbewusstseins, das aus der dialektischen Bewegung der Gesellschaft von einer niedrigeren zu einer höheren Form resultiert. Auch wenn Revolution und Bewusstsein ein sich abwechselnder Prozess sind, ist die Revolution der wichtigste Faktor. Die Revolution und nicht die Ideologie ist der entscheidende Faktor.

Das Klassenbewusstsein muss nicht in der Parteiform zum Ausdruck kommen; es kann auch in anderen Organisationsformen zum Ausdruck kommen. Wenn die Partei zu einem bestimmten Zeitpunkt des historischen Prozesses die Kristallisation des Klassenbewusstseins zum Ausdruck gebracht hat, heißt das nicht, dass dies immer der Fall sein wird. Die Tatsache, dass die Partei in den letzten zwanzig Jahren nie der entscheidende Faktor in einer revolutionären Situation war, ist eine unbestreitbare Tatsache. Die Sowjets, die Aktionskomitees, die Arbeiter- und Soldatenräte waren der spontane Ausdruck der kämpfenden Arbeiter.

Revolutionäres Klassenbewusstsein kann im Kapitalismus als Ideologie ausgedrückt werden und wird auch ausgedrückt. Aber es ist mehr als das; es ist auch identisch mit dem materiellen Kampf der Arbeiter, unabhängig von ihrer Ideologie. Es erwächst aus den Bedürfnissen und Kämpfen der Arbeiter in Aktion, während sich der ökonomische und historische Prozess entwickelt. Klassenbewusstsein ohne die Arbeiterklasse in Aktion bedeutet nichts.

Die Sowjets.

In der letzten Phase des kapitalistischen Niedergangs kann die herrschende Klasse nicht einmal mehr die kleinste ökonomische Störung ertragen. Ihre Position wird so prekär, dass sie die kleinste Bewegung der Arbeiter unterdrücken müssen. Sie sind gezwungen, die Arbeiter zu bekämpfen, als wären sie Revolutionäre, egal wie rückständig die Ideologie dieser Arbeiter auch sein mag. Damit zwingen sie die Arbeiter, sich zu wehren, als ob sie für revolutionäre Ziele kämpfen würden. Gegen ihren Willen bringt die herrschende Klasse den Arbeitern die Waffe des Bürgerkriegs bei. Der Kapitalismus bringt nicht nur seine eigenen Totengräber hervor, sondern zeigt ihnen auch, wie sie den Kapitalismus erfolgreich bekämpfen können.

Der Faschismus wird die alte Arbeiterbewegung zerstören, muss aber an ihrer Stelle eine neue Bürokratie aufbauen. Um an der Macht zu bleiben und ihre eigene Existenz zu sichern, muss die neue Bürokratie die Bewegung der Arbeiter ständig unterdrücken. Die permanente Krise erzwingt permanenten Terror, ein Ausdruck der kapitalistischen Barbarei in ihrem letzten Stadium. Er mag die Organisierung der Arbeiter verzögern, aber er kann den Klassenkampf nicht aufhalten.

Neue Organisationen werden entstehen und wieder verschwinden, und an ihrer Stelle werden wieder neue entstehen. Keine von ihnen wird dauerhaft bestehen oder stark genug sein, um große Teile der Arbeiter zu kontrollieren. Große, zentralisierte Organisationen werden in einer Situation der kapitalistischen Diktatur nicht mehr möglich sein.

Die politische Notwendigkeit der herrschenden Klasse, die Arbeiter sozusagen zu isolieren, zu atomisieren, ändert jedoch nichts an der ökonomischen Notwendigkeit, Arbeiter in großen Mengen in Fabriken, in Industrien, Arbeitslosenzentren, zivilen Arbeitsprojekten usw. zusammen zu haben. Wo Arbeiter mit gemeinsamen Interessen, gemeinsamen Situationen zusammenkommen, werden sie sich in der neuen Form organisieren, die nicht kontrolliert oder zerstört werden kann. Sie werden sich für Aktionen organisieren und aus ihren eigenen Reihen eine Führung wählen. Die Aktionskomitees sind hier die einzig mögliche Führung in den Arbeiterräten, den Sowjets. Die Führung der Arbeiter, die niemals von den kämpfenden Arbeitern getrennt ist und von den Arbeitern kontrolliert wird, wird im Falle einer Niederlage genauso leiden wie die Arbeiter, die besiegt werden. Die Sowjets oder Arbeiterräte, die bei allen Aufständen der Arbeiterklasse die eigentliche Organisation der Arbeiter waren, werden in der permanenten Krise des Kapitalismus zur einzig möglichen Form der Organisation. Die kapitalistische Unterdrückung bringt die Organisation und die Instrumente des Kampfes hervor.

Diese Organisationen werden trotz ihrer organisatorischen Schwäche die wirklichen Revolutionäre in ihren Reihen haben. Ihre Klarheit wird in den kommenden Massenaktionen mehr bedeuten als die automatische Gefolgschaft von Anführern, die die alte Arbeiterbewegung auszeichnet. Die Eigeninitiative der Arbeiter wird diese Bewegungen kennzeichnen. Die Sowjets werden zur Praxis der Arbeiterklasse, und damit wird die Revolution zur Frage des Tages. Die Revolution ist das Werk des Proletariats als Klasse, und die Klasse kann nur über alle Partei- und Gruppeninteressen hinweg in Aktion gebracht werden und kann in dieser Funktion nur in Form von Sowjets erfolgreich sein.

Die Rolle der Partei.

Die kommunistische revolutionäre Partei ist ein Instrument der Revolution und als solches muss sie diesem Zweck dienen. Sie hat keine von der Arbeiterklasse getrennten Interessen, sondern ist nur Ausdruck der Tatsache, dass Minderheiten früher als die breiten Massen bewusst revolutionär werden. Sie nutzt diesen Vorteil nur im Interesse der Arbeiterklasse. Sie strebt nicht nach Macht für sich selbst oder für irgendeine Bürokratie, sondern arbeitet daran, die Macht der Arbeiterräte, der Sowjets, zu stärken. Es geht ihr nicht darum, Positionen zu besetzen, sondern die Macht in die Hände von Arbeiterkomitees zu legen, die von den Arbeitern selbst ausgeübt werden. Sie versucht nicht, die Arbeiter zu führen, sondern fordert die Arbeiter auf, ihre eigene Initiative zu nutzen. Sie ist eine Propagandaorganisation für den Kommunismus und zeigt durch ihr Beispiel, wie man in der Praxis kämpft.

Die kommunistische revolutionäre Partei konkurriert nicht mit anderen Organisationen um Mitglieder oder um die Kontrolle von Massen von Arbeitern. Sie strebt keine Macht innerhalb des Kapitalismus an und hat daher keine Verwendung für Parlamente oder Gewerkschaften/Syndikate; da sie aber den reaktionären Charakter dieser Organisationen erkennt, muss sie alle Organisationen bekämpfen, die dazu neigen, die Arbeiter vom wirklichen Kampf und dem revolutionären Ziel abzulenken.

Da die Ausbeutung der Arbeiter im Kapitalismus nur möglich ist, weil die kapitalistische Klasse die Produktionsmittel und damit auch das Produkt kontrolliert, wird die Partei nicht nur für die Revolution kämpfen, sondern auch dafür, diese Kontrolle in die Hände der Arbeiter zu legen. Die proletarische Revolution für den Kommunismus muss das Lohnsystem abschaffen, und deshalb steht die Partei für die Abschaffung des Verhältnisses von Lohn und Kapital. Die Partei kämpft gegen den „Staatskommunismus“ für den echten Kommunismus, so wie sie die Diktatur der Partei für die Diktatur des Proletariats bekämpft.

Obwohl die Bühne für den endgültigen Konflikt zwischen Kapitalismus und Kommunismus in den USA noch nicht geschaffen ist, schließt dies die Möglichkeit eines echten revolutionären Programms nicht aus. Da die Partei keine von der Arbeiterklasse getrennten Interessen hat, kämpft sie jederzeit mit ihr in ihren Existenzkämpfen und weist dabei immer auf die endgültige Notwendigkeit der proletarischen Revolution hin. Die Partei beteiligt sich an den Kämpfen für unmittelbare Forderungen, solange die Arbeiter selbst direkt und tatsächlich an den Kämpfen beteiligt sind. Sie weigert sich, irgendetwas für die Arbeiter zu tun, denn niemand kann etwas für sie tun, was sie nicht selbst vollbringen können. Die Partei wird sich am Kampf der Arbeitslosen, an Streiks und an allen Aktivitäten beteiligen, die den Klassenkampf vertiefen und schärfen und die Eigeninitiative und Militanz der Arbeiter entwickeln. Die Partei beteiligt sich unter keinen Umständen an parlamentarischen Aktivitäten oder agiert als Vermittler zwischen Kapital und Arbeit im Bereich der Gewerkschaften/Syndikate. Sie ist nur am Kampf der Arbeiter und an der proletarischen Revolution interessiert; aus der Arbeiterbewegung ein Geschäft zu machen, überlässt sie ihren Feinden.

Wir, die Arbeiterklasse, befinden uns in der Todeskrise des Kapitalismus, in einer Situation, in der sich die Bedingungen ständig verschlechtern, in der allgemeines Elend herrscht, in der wir den Angriffen einer rücksichtslosen kapitalistischen Klasse ausgesetzt sind, in der wir von einer bösartigen weltweiten Bewegung des Faschismus bedroht werden, in der wir von der reaktionären sogenannten Gewerkschafts-,Syndikatsführung verraten werden, in der wir durch überholte Traditionen behindert werden und in der wir mit zahlreichen verschärften Kämpfen konfrontiert sind. In dieser Situation ist es nicht nur notwendig, den historischen Prozess zu verstehen, sondern auch unsere Feinde zu erkennen. Unsere Pflicht, unsere historische Aufgabe liegt vor uns. Während sich die Weltkrise vertieft, nähert sich die revolutionäre Situation, in der der endgültige Kampf gegen die kapitalistische Barbarei für die Diktatur des Proletariats und für die Verwirklichung des echten Kommunismus – die Vereinigung freier und gleicher Produzenten – ausgetragen werden muss.

PROGRAMM DER UNITED WORKERS PARTY of AMERICA.

Die gegenwärtige Krise zeigt eindeutig, dass der Kapitalismus seinen Zenit überschritten hat und sich nun im Stadium des Niedergangs befindet. Es wird eine permanente Krise sein, solange die kapitalistische Ordnung besteht. Von nun an können die Kapitalisten ihre Position als herrschende Klasse nur noch durch die allgemeine, absolute und kontinuierliche Pauperisierung der Arbeiterklasse aufrechterhalten. Um diese ununterbrochene Pauperisierung zu gewährleisten, muss die demokratische politische Struktur verworfen werden und eine offene Diktatur tritt an ihre Stelle. Der weltweite Faschismus stellt sich der Arbeiterklasse entgegen, wenn sie nicht eine erfolgreiche proletarische Revolution durchführt und die Diktatur des Proletariats in Form von Sowjets errichtet.

Die alte Arbeiterbewegung kann diese Notwendigkeit nicht erfüllen; sie hat keine Chance, die Angriffe der herrschenden Klasse zu überleben. Sie sind nicht in der Lage, die historische Aufgabe des Proletariats zu erfüllen. Die reformistische, die gewerkschaftliche/syndikalistische, die bolschewistische und die neobolschewistische Bewegung werden, selbst gegen ihren eigenen Willen, im Interesse des Kapitalismus handeln. Sie müssen beiseite geschoben werden, um Platz für die Arbeitersowjets, die kämpfenden Organisationen der Revolution, zu machen.

Im Gegensatz zu anderen Parteien, die in ihrem Streben nach zahlenmäßiger Stärke und Einfluss Zugeständnisse an die Agrarklassen und die petite-bourgeoisie machen, hält die Unitded Worth Workers‘ Party daran fest, dass die einzige wirklich revolutionäre Klasse in der Gesellschaft das Proletariat ist. Wir kämpfen mit den Arbeitern in ihren Kämpfen für unmittelbare Forderungen, solange die Arbeiter selbst an diesen Kämpfen beteiligt sind, wobei wir immer darauf hinweisen, dass die einzige endgültige Lösung für die Arbeiterklasse in der proletarischen Revolution liegt.

Wir sind gegen alle parlamentarischen und gewerkschaftlichen/syndikalistischen Aktivitäten, da diese in der Zeit der permanenten Krise nichts bewirken können, sondern den Interessen der Arbeiter als Klasse zuwiderlaufen; nur der tatsächliche Kampf der Arbeiter selbst kann etwas bewirken. Nur in der Periode des Kollapses des Kapitalismus ist die proletarische Revolution historisch möglich, und die einzige Organisationsform, die in dieser Phase überleben und erfolgreich funktionieren kann, sind die Arbeiterräte unter Führung der Aktionskomitees.

Unsere Theorie und Praxis ist marxistisch, und wir betrachten uns als die wirkliche kommunistische Bewegung der Gegenwart und Zukunft. Wir werden uns für den Zusammenschluss von Gruppen wie der unseren in den vielen Ländern der Welt einsetzen, um auf der Grundlage dieses Programms eine echte revolutionäre Internationale ins Leben zu rufen.

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(Paul Mattick) Marinus van der Lubbe, Proletarier oder Provokateur? https://panopticon.blackblogs.org/2023/01/04/paul-mattick-marinus-van-der-lubbe-proletarier-oder-provokateur/ Wed, 04 Jan 2023 11:38:16 +0000 http://panopticon.blackblogs.org/?p=4706 Continue reading ]]> Hier ein Artikel von Paul Mattick welches er in Verteidigung von Marinus van der Lubbe veröffentlichte, Zufall oder nicht, dieser Artikel wurde heute vor 89 Jahren veröffentlicht.


Paul Mattick

Marinus van der Lubbe
Proletarier oder Provokateur?

(4. Januar 1934)


Aus: Der Freidenker, Nr. 5/6, 4. Januar 1934, S. 7,New Ulm, Minnesota, U.S.A.

Mattick verfasste diesen Aufsatz 1934 im Auftrag des „Comite International pour la defense et la rehabilitation de Marinus van der Lubbe.“ [Paris}.

Das von der 3. Internationale herausgegebene „Braunbuch“ über den Reichtagsbrand enthält neben vielen Wahrheiten über den Naziterror auch weiterhin de Behauptung, das Marinus van der Lubbe ein Werkzeug der Hitlerbewegung sei. Als einziges Beweismaterial weist man auf die angebliche Homosexualität v.d.L. hin, als ob die Führer der Nazis einen jahrelang arbeitslosen Proleten als homosexuellen Partner nötig hatten? Dafür sollten doch die Nazis genug „anständige“ Leute in ihren eigenen Reihen haben. Aber selbst die Homosexualität v.d.L. haben sich die Schmierfinken der K.P. aus den Fingern gesogen. Ihre ganze Beweisführung ist von A bis Z erlogen und doch machen sie sie zum Zentralpunkt ihrer ganzen Argumentation.

M.v.d.L. gehörte bis zum November 1932 der Gruppe Internationale Kommunisten Hollands an. Er kennt den Parlamentarischen Verrat der S.P.D. und den parlamentarischen Kretinismus der K.P.D. Er sieht wie sich in Deutschland der Faschismus entwickelt und wie die Arbeiterpartien nichts zu seiner Abwehr tun. Kurz vor der Machtergreifung versuchen S.P.D und K.P.D. die Arbeiter vom wirklichen Kampf abzuhalten, indem sie ihnen empfehlen, mit den Faschisten an der Wahlurne abzurechnen. Der Stimmzettel soll die Revolution verhindern. Als die Hitlertruppen vor dem Karl Liebknechthaus demonstrieren, schreiben die K.P.D. Blätter: „Arbeiter gebt ihnen die Antwort am 5. März, wählt Kommunisten.“ Die Atmosphäre ist die des Bürgerkriegs, sie zieht den Revolutionär v.d.L. nach Deutschland. Die Arbeiterparteien tun aber alles um diesem Bürgerkrieg auszuweichen und bereiten damit die Niederlage vor. Am Abend vor der Aufrichtung der politischen Macht des Faschismus haben die Führer den Arbeitern nichts anderes zu empfehlen als den parlamentarischen Betrug. Zum Protest gegen diesen Schwindel setzt sich v.d. Lubbe den Reichtag in Brand. Ein Zeichen, dass es nicht zur Wahl Urne, sondern zur Revolution gehen soll. Ein Signal, dass mit dem parlamentarischen Schwindel Schluss gemacht werden muss.

Die Nazis lügen: „v.d.L. arbeitet für die K.P.D.“ – Kein Mensch glaubt ihnen das. Die K.P.-Bonzen lügen: „v.d.L. ist ein Provokateur der Nazi.“ Und viele Arbeiter glauben diesen Schwindel. Wohl haben die K.P.-Bonzen keinen wirklichen Beweis für diese ehrabschneidende Beschuldigung, aber was machts, sie haben Papier, das sich bedrucken lässt. Einmahl ist v.d.L. für sie ein Naziagent, ein andermal ist er von Deterding bestochen, um die Nazis zu zwingen, die Handelsbeziehungen mit dem russischen Petroleumtrust abzurechen: Jede neue Behauptung widerspricht einer früheren. Doch was ist v.d.L. für ein eigentümlicher Provokateur? – Er hat keine, die Schuld der K.P.D. oder S.P.D-Führer aufweisenden Papiere bei sich finden lassen. Er hat keinerlei Erklärungen abgegeben, die der Nazi-Polizei Gelegenheit zu Verhaftungen gegeben hätten.

Es ist außer Zweifel, dass die Nazis hunderte von Agenten und Spitzeln in den Reihen der K.P.D. und S.P.D hatten und haben. Weshalb dann, wählten sie sich für die Tat einen einfachen, holländischen Arbeiter, einen Rätekommunisten, also einen erklärten Gegner der parlamentarischen Arbeiterbewegung? Welch ein seltsamer Provokateur, der immer wieder erklärt: „Ich habe ganz allein gehandelt“, obwohl er als Agent doch andere zu belasten hätte? Obwohl er doch angeblich angestellt war, die Schuld am Reichtagsbrand auf die K.P.D. zu schieben, betont er immer wieder die K.P.-Angeklagten nicht zu kennen, weist er jede Verbindung mit der K.P.D. zurück. Die Beschuldigungen v.d.L. durch die K.P. stimmen nicht mit den Tatsachen überein. Sie können es nicht, weil sie schamlose Lügen sind.

Warum verwickeln sich die „roten Journalisten“ der Zweiten – und Dritten Internationale in derartige Widersprüche? Sie wollen die Welt zeigen, dass ein Kommunist so etwas, wie den Reichtag anzuzünden, nicht täte. Dazu kann nur ein Nazi fähig sein. Sie wollen den Bourgeois zeigen, dass die K.P.D. in Wirklichkeit nichts weiter will, als Handlangerdienste leisten für die Bourgeoisie. V.d.L. muss für die 3. Internationale ein Nazi sein, er muss für die Nazis ein Kommunist sein. Die Nazis zeigen der Welt die Gefährlichkeit des Bolschewismus in Person v.d.L., um Verständnis für ihre imperialistische Aufrüstung zu finden. Die 3. Internationale zeigt der Welt, dass die Nazis Mordbrenner sind in der Person v.d.L., um die deutsche Position zu schwächen. Im ganzen Prozess um den Reichtagsbrand widerspiegeln sich nur die Kriegsvorbereitungen indem ein Staatenblock gegen andere Staatenblocks steht. Noch gehört Deutschland nicht zum russischen Staatenblock, deshalb ist v.d.L. ein Agent des Mörders Göring. Im engeren Rahmen sehen die Parlamentarier in der Tat v.d.L. einen Schlag gegen sich selbst, gegen die Unterhändler, die Führer. Mit unfehlbarem Instinkt erkennen die Bonzen in v.d.L. den Mann einer ihnen feindlichen Welt. Aus den Millionen von Stimmvieh hat ein Arbeiter dem parlamentarischen Gesindel ins Gesicht geschlagen.

Arbeiter! Lasst Euch nicht dauernd von einer feilen Schreiberbande belügen. Verlangt die Beweise für die Behauptung, dass v.d.L. Mitglied des Mordsturmes 33 gewesen ist, dass Deterding ihm 25.000 Mark Belohnung versprochen hat. Wenn sie dies behaupten, so müssen sie Beweise haben, und können sie es nicht, dann schlagt ihnen ihre Lügen in den Schlund zurück. Man mag über den Wert oder Unwert der Tat v.d.L. denken wie man will, sie war eine Überzeugungstat, für die v.d.L. selbst einsteht. Das Signal, das er geben wollte, war zu schwach, um den ganzen Betrug der alten, verkommenen Arbeiterbewegung blitzschnell zu beleuchten. Aber das Signal wurde von einem Revolutionär gegeben.

Man wird, lässt sich die Lüge vom Naziagenten nicht mehr aufrecht erhalten, euch sagen, dass v.d.L. verantwortlich gemacht werden muss für den Hitlerterror , der nach den Brand einsetzte. Aber damit werden sie den alten Lügen nur eine neue anfügen. Die Nazis übten den Terror schon vor den Brand aus. Sie sprachen schon vorher öffentlich aus, dass sie alle Arbeiter, die sich ihnen entgegenstemmen werden, niederschlagen werden. Die Zahl der Arbeitermorde stieg schon vor dem Brand in schnellem Tempo. Der faschistische Terror war nicht eine Folge der Tat v.d.L., sondern seine Tat sollte der Beendigung des Terrors gegen die Arbeiterschaft dienen. Die Niederlage des deutschen Proletariats auf die Tat v.d.L. zurückzuführen zu wollen, ist nur ein Versuch, den eigenen Bankerott zu verbergen.

Mit dem Beginn des Reichtagsbrand-Prozesses schrieb die „Neue Weltbühne“, dass die Gefahr der Vergiftung der Angeklagten Torgler, Dimitrov usw. bestände und man deshalb nicht erstaunt sein solle, wenn diese Angeklagten Dinge aussagen, die man von ihnen nicht erwartet. Dass man dasselbe auch mit v.d.L. tun kann und hier tatsächlich tat, das kam den Herren nicht in den Sinn. Das war ja der Provokateur, der musste ja im Interesse des Gerichts aussagen, den brauchte man nicht erst vergiften, der wurde ja bezahlt. Über die Vergiftungserscheinungen v.d.L. machte sich die Intelligenzija und die K.P.-Presse nur lustig, v.d.L. wurde auf einmal ein Halbidiot. Und doch, nur die Vergiftung v.d.L. konnte für das Gericht einen Sinn haben. Seine Aussagen, die die anderen Angeklagten entlasteten, mussten entkräftet werden. V.d.L. durfte nicht sprechen, um den letzen Schein der Anklage gegen Torgler und Genossen nicht zu vernichten.

Die K.P. weiß, dass v.d.L. kein Naziagent ist, aber sie wird das Lügen nicht aufgeben, selbst dann nicht, wenn v.d.L. hingerichtet ist. Nach Monaten der Verhandlung die das ganze Lügengebäude um v.d.L. das die K.P. aufgebaut hatte, zerschlug, wagt die „Rundschau“ – ein kommunistischen Parteiorgan am 30. November noch zu schreiben: „Lubbe har den Auftrag erhalten, seine bisherige Schweigetaktik zu brechen.“. Die Forderung v.d.L. die Leibziger Komödie zu beenden, kommentiert die „Rundschau“ wie folgt: „Lubbe fordert die Einlösung der von den Faschisten ihm gemachten Versprechungen. Er selber besteht auf die Todesstrafe, weil er glaubt, dass man die ihm gemachten Versprechungen, ihn nachher laufen zu lassen, einlösen werde.“ War v.d.L. erst ein Agent, der die parteikommunistischen Angeklagten zu denunzieren hatte, so ist er heute ein Agent, weil er das nicht tut. Wenn v.d.L. vor dem Gericht erklärt: „Kein Mensch kann an die Schuld Torglers und der Bulgaren glauben“, dann schreibt die „Rundschau“: „An dieser Stelle scheint Lubbe sich besonders ungeschickt in seiner Rolle benommen zu haben.“ Und dann folgt ein sehr seltsamer Satz: „Es ist auch möglich, dass die plötzliche Lebendigkeit Lubbes darauf zurückzuführen ist, dass er am Tage vorher weniger gegessen und infolgedessen die Giftmengen, die seinem Essen beigemischt werden, diesmal nicht ganz gewirkt haben“. Weshalb soll man wohl einen Mann, der auf Auftrag handelt, der genau stets das tut, was die Nazis von ihm wollen, noch obendrein vergiften? Was mutet die NX „Rundschau“ ihren Lesern zu, was mutet die K.P., die 3. Internationale ihrem Anhängern zu ? Vor dieser Abgebrühtheit treten selbst die Nazis in den Schatten.

Arbeiter, zerstört diesen schmutzigen Schwindel. Zwingt die Kommunistische Partei, Euch Beweise zu geben, die die Provokateurtätigkeit v.d.L. bestätigen. Lasst die Bonzen weder mit dem Leben noch mit der Ehre von Revolutionären spielen. V.d.L. ist kein Agent der Nazis, sondern ein klassenbewusster Arbeiter, dem die Sympathien des revolutionären Proletariats gehören.

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(Paul Mattick) Kapitalismus und Ökologie https://panopticon.blackblogs.org/2022/12/19/paul-mattick-kapitalismus-und-oekologie/ Mon, 19 Dec 2022 21:06:12 +0000 http://panopticon.blackblogs.org/?p=4688 Continue reading ]]> Wir haben diesen Text von Paul Mattick ausgegraben weil er, trotz der Jahre die seit seiner Veröffentlichung vergangen sind, immer noch unglaublich aktuell ist. Würde man einige Namen ändern, würde der Text als eine Kritik gegen die jetzige Bewegung wirken die sich die Rettung der Umwelt, der Erde, usw., auf die Fahne geschrieben hat. Denn nach wie vor wird die Gesellschaftsform in der wir leben, die des Kapitalismus, nicht in Frage gestellt, sondern nur gewisse Ausdrücke von ihr. Wir wollen nicht viel mehr dazu sagen, man kann es ja selber lesen.

Soligruppe für Gefangene


Paul Mattick, Kapitalismus und Ökologie

Vom Untergang des Kapitals zum Untergang der Welt

1976

Die Geschichtlichkeit der Natur ergibt sich aus dem vor mehr als hundert Jahren von Carnot und Clausius entdeckten zweiten Hauptsatz der Thermodynamik oder der in den Wärmetod endenden zunehmenden Entropie. Unser Erdenleben hängt von der ständigen Energiezufuhr durch Sonnenstrahlung ab, die sich, wie langsam auch immer, mit wachsender Entropie vermindert. Die hier in Frage kommenden Zeitspannen sind vom menschlichen Standpunkt aus gesehen zu unbestimmt und zu ungeheuerlich, um praktisch in Betracht gezogen zu werden. Nichtsdestoweniger hat das Entropiegesetz eine stets vorhandene, direkte Einwirkung auf die Erde und damit auf das Schicksal der Menschheit. Zur Befriedigung ihrer Energiebedürfnisse stehen den Menschen, außer der Sonne, die Bodenschätze der Erde zur Verfügung. Deren Ausnutzung beschleunigt jedoch die Verwandlung von ‚freier’ in ‚gebundene’ Energie, d.h. Energie, die den Menschen nicht mehr zur Verfügung steht und zum Wärmetod degradiert. In anderen Worten, die vorhandenen Energiequellen haben nur einen einmaligen Nutzen. Mit ihrer Erschöpfung hört das menschliche Leben auf, und zwar sehr lange vor dem Erkalten der Sonne, da alle natürlichen Schätze der Erde nicht mehr Energie enthalten, als in ein paar Tagen Sonnenlicht zu finden ist.

Für die Menschheit beschränkt sich der zweite Hauptsatz der Thermodynamik damit auf die Begrenzung der natürlichen Bodenschätze. Je weniger von ihnen aufgebraucht wird, desto länger können die Menschen leben, je schneller sie verbraucht werden, desto eher gehen sie zugrunde. Da der Verbrauch von der Masse der Bevölkerung mitbestimmt wird, hängt der Zeitpunkt des Untergangs der Welt mit dem Bevölkerungsproblem zusammen. Um ihn hinauszuzögern, muß dem Bevölkerungszuwachs eine Grenze gesetzt werden und der Verbrauch der Bodenschätze eingeschränkt werden. Diesem Problem, das für die kapitalistische Welt vorn ‘Club of Rome’ aufgerollt wurde, wendet sich Wolfgang Harich1 mit Bezug auf den Kommunismus zu, der bisher ebenfalls einem unaufhörlichen wirtschaftlichen Wachstum verpflichtet war.

Von Harich kann man hier wohl sagen: ‚Die Katze läßt das mausen nicht’. Die vielen Jahre in Walter Ulbrichts Gefängnis haben seinen Oppositionsgeist nicht zu erschüttern vermocht. Wandte er sich dem 17. Juni 1953 gegen die Fortsetzung des stalinistischen Kurses in der DDR, um diese selbst zu schützen, so wendet er sich heute gegen die dort vorherrschende Wachstumsideologie, um mittels des Kommunismus die Welt zu retten. Wie die DDR nach 1953 dem Westen angenähert werden sollte, um ihre inneren Gegensätze zu bewältigen, so soll auch heute das im Westen aufgeworfene ökologische Problem vom Osten aufgegriffen werden, um den Untergang der Welt abzuwenden. Die Abschaffung des Kapitalismus ist für Harich damit nicht nur das Ziel kommunistischer Politik, sondern das einzig ausreichende Mittel zur Rückkehr in eine Welt ohne Wachstum, von der das langfristige Fortbestehen der Menschheit abhängig ist. Seine Ansichten werden in Interviews mit Freimut Duve vorgetragen undvon der Hoffnung begleitet, daß sie in der DDR nicht wieder falsch verstanden werden.

Weder Marx noch die klassische Ökonomie bezogen ihre Theorien auf das Entropiegesetz, obwohl das Bevölkerungsproblem durch Malthus zur Debatte gestellt worden war und die Tendenz abnehmender Bodenerträge von Ricardo als Schranke kapitalistischer Entwicklung angesehen wurde. Damit wurden die dem Kapitalismus spezifisch zugehörenden Widersprüche apologetisch auf natürliche Prozesse zurück-geführt und als unabänderlich dargestellt. Diese Theorien wurden zu einer Zeit entwickelt, in der die Landwirtschaft noch vorherrschend und die industrielle Entwicklung ihren ersten großen Anlauf nahm. Obwohl die Produktion von der Natur und den Menschen bestimmt ist, war das Hauptaugenmerk von Marx und Engels nicht auf die Schranken der Natur, sondern auf die der kapitalistischen Produktionsweise gerichtet, da die Welt — als Natur gesehen — durchaus noch unterbevölkert war, während die ‚Überbevölkerung’, auf die sich Malthus bezog, ein direktes Resultat der Kapitalproduktion war. Allerdings setze eine wachsende Bevölkerung die zunehmende Produktivität der Arbeit voraus und diese wiederum Veränderungen in der Gesellschaftsstruktur. ”Je mehr ich aber den Dreck betreibe”, schrieb Marx an Engels, ”um so mehr überzeuge ich mich, daß die Reform der Agrikultur, also auch der darauf basierenden Eigentumsscheiße, das A und O der kommenden Umwälzung ist. Ohne das behält Vater Malthus recht.”2

In Anbetracht der in der DDR herrschenden Wachstumsideologie, die der Entfaltung der Produktivkräfte über alles bisher Erreichte dienen soll, versucht Harich sein Interesse an der Ökologie mit Hinweisen auf Marx und Engels und den dialektischen Materialismus zu legitimieren. Sich auf den französischen Kommunisten G. Biolat berufend, behauptet er, daß ”die Entwicklung der Ökologie einem neuen zutiefst dialektischen Heran gehen an das Studium der Natur entspricht”, womit sein eigenes Anliegen ”so orthodox ist, wie man es sich nur wünschen kann”. Ökologie beziehe sich auf die ”Wechselwirkung zwischen Natur und Gesellschaft”, die nur von Anhängern der ”Naturdialektik” und der von ”Lenin präzisierten marxistischen Erkenntnistheorie” voll begriffen werden kann. Nun hat der Metabolismus zwischen Mensch und Natur, der auch als Wechselwirkung verstanden werden kann, an und für sich nichts mit der Frage der Dialektik der Natur zu tun und wird auch von denen nicht bestritten, für die die Dialektik keine Geltung hat. Deshalb bedarf es auch nicht der Leninschen Erkenntnistheorie, um auf die Ökologie und der ihr drohenden Gefahren hinzuweisen; wie auch der Besitz dieser Erkenntnistheorie, wie Harich zu seinem Leidwesen feststellen muß, bisher wenig zur Erkenntnis des ökologischen Problems beigetragen hat. Jedenfalls bezieht sich der ‚Club of Rome’ nicht auf den dialektischen Materialismus. Da es letztenendes auch für Harich gleichgültig sein muß, ob die ‚Naturdialektik’ das ökologische Problem schon in sich einschloß, braucht auf seine linientreue Lenin-Orthodoxie nicht eingegangen zu werden. Worauf er sich stützt, ist nicht die Dialektik der Natur, sondern die Berechnungen des ‚Clubs of Rome’, die von dem zu schnellen Verbrauch der natürlichen Ressourcen und der Bevölkerungsexplosion auf einen nicht zu fernen Untergang der Menschheit schließen.

Es gibt Aspekte der Natur, die sich mit der formalen Logik begreifen lassen, und andere, die nur mittels der dialektischen Logik zu erfassen sind. Entdeckungen in der Mikrophysik erzwangen eine diesem Gegenstand angepaßte komplementäre Logik, die weder mit der formalen noch der dialektischen Logik übereinstimmt. Aber die Mittel zur Erkenntnis der Natur und ihrer die Menschen betreffenden und von diesen ermittelten Regelmäßigkeiten geben noch keine Auskunft über die ‚Totalität’ der Natur und ihrer Bewegungsgesetze, die uns bisher, und wahrscheinlich für dauernd, verschlossen sind. Auch wenn die dialektische Logik ein unablässiges Mittel der Naturerkenntnis ist, so läßt sich damit noch nicht auf die Dialektik der Natur schließen — während die Dialektik der Gesellschaft durch ihre ökonomische Entwicklung und ihre Klassenkämpfe offensichtlich ist. Man kann allerdings, wenn man will, das Entropiegesetz als ‚dialektisch’ bezeichnen, eben weil es dauernd qualitative Veränderungen impliziert und wenn man alle ökonomischen und biologischen Prozesse auf physikalische Vorgänge zurückführt. Aber der zweite Hauptsatz der Thermodynamik ergab sich aus der physikalischen Chemie, nicht aus der dialektischen Methode, und ist durchaus imstande, die Ökologie in biologischer wie gesellschaftlicher Hinsicht zu erklären.

Der Marxismus ist keine Naturwissenschaft, überhaupt keine Wissenschaft im bürgerlichen Sinne, sondern bedient sich wissenschaftlicher Methoden, um die Voraussetzungen und Notwendigkeiten gesellschaftlicher Veränderung im allgemeinen und der Abschaffung des Kapitalismus im besonderen aufzudecken, um also praktisch in das gesellschaftliche Geschehen eingreifen zu können. An Naturgesetzen läßt sich nichts ändern; sie müssen hingenommen werden, wiewohl wachsende Erkenntnis über sie zu einer menschlichen Produktivkraft wird, die die Möglichkeiten gesellschaftlicher Entwicklung bestimmt. Wenn die für die Menschen in Betracht kommende Natur sich auch nur in einer Richtung entwickeln kann, nämlich ihrem Ende zu, solange die Welt besteht, sind die Probleme der Menschen von dieser Welt bestimmt und müssen in ihr ausgetragen werden. Auch wenn es wahr sein sollte, daß die Thermodynamik nur eine Eigentümlichkeit des expandierenden Universums ist und in einem möglicherweise schrumpf enden Universum den gegenteiligen Prozeß durchlaufen kann, um zu einer Neubildung der Materie aus der Radiation zu führen, so hat dies doch keinerlei Bedeutung für die inzwischen verschwundene Welt und ihre Bewohner.

Auch ohne Bezugnahme auf das Entropieprinzip ist es selbstverständlich, daß der Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur von der Fruchtbarkeit der Erde und der Ergiebigkeit ihrer Rohstoffe abhängig ist. Mit der Erschöpfung der letzteren vermindern sich die Energiequellen und damit auch die Möglichkeit menschlicher Eingriffe in das Naturgeschehen. Die Welt, in der sich Marx und Engels bewegten, kannte jedoch keine von der Natur gesetzten Grenzen der Produktion. Weder physische noch biologische Vorgänge vermochten den mißlichen Gesellschaftszustand zu erklären. Der Raubbau an den Gütern der Erde und die relative Überbevölkerung waren das direkte Resultat der Profitproduktion; sie konnten durch die Beseitigung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse abgeschafft werden. Von einer Krise der Ökologie konnte damals nicht die Rede sein und besonders nicht vom marxistischen Standpunkt.

Liegen die Dinge heute anders? Dem ‘Club of Rome’ und Harich zufolge stehen wir mitten in der ökologischen Krise, die auch den Marxismus zwingt, mehr als bisher auf die Naturbasis der Gesellschaft und auf die von Malthus aufgeworfene Bevölkerungsfrage einzugehen. Er glaubt feststellen zu können, daß sich die kommunistischen Wissenschaftler, wenn auch noch nicht in der DDR, so doch in der UdSSR ”mit wachsender Einsicht auf die ökologische Krise einzustellen beginnen”. Um zu wiederholen: das Problem läßt sich mit drei Worten umreißen — Umweltbelastung, Rohstoffverbrauch, Überbevölkerung. Die Lösung findet sich, nach Harich, in der Umkehrung dieser Vorgänge. Sie bedingt jedoch die Vernichtung der kapitalistischen Gesellschaft und damit revolutionäre Umwälzungen im Weltmaßstabe.

Es kann sich hier, Harich zufolge, jedoch nicht mehr um die uns bisher vorschwebende kommunistische Revolution handeln, welche die gesellschaftlichen Produktivkräfte von den Fesseln kapitalistischer Produktionsverhältnisse befreit, um damit die Produktion den wachsenden Bedürfnissen anzupassen, sondern um ein Zurückschrauben der Produktivkräfte und der menschlichen Bedürfnisse im Sinne der vor-industriellen asketischen Gütergemeinschaft Babeufs. Schon Marx hätte betont, daß die Produktivkräfte im Kapitalismus zu Destruktivkräften werden, ”und genau das”, sagt Harich, ”erleben wir jetzt.” Doch handelt es sich hier um ein Mißverständnis auf seiten Harichs. Eben in Anbetracht der destruktiven Seite kapitalistischer Entwicklung sah Marx im Kommunismus die einzige Möglichkeit einer weiteren progressiven Entfaltung der Produktivkräfte, von der die Überwindung des menschlichen Elends in seiner kapitalistischen Bestimmung, wie überhaupt, abhängig ist. Allerdings beinhaltete dieses Wachsender gesellschaftlichen Produktivkräfte, daß es sich nicht mehr auf den blinden Verwertungszwang des Kapitals bezog, sondern auf rationale menschliche Bedürfnisse, die von sich aus den technologisch-wissenschaftlichen Charakter der zusätzlichen Produktivkräfte bestimmen würden.

Nun mag sich dies als Utopie herausstellen, nicht nur durch die Langlebigkeit des Kapitalismus, sondern auch durch die von der Natur gesetzten und von Marx nicht berücksichtigten Grenzen wirtschaftlichen Wachstums. Die von Marx hervorgehobene relative Überbevölkerung ist, nach Harich, zur absoluten Überbevölkerung geworden, die auch nicht durch einen Wandel vom Kapitalismus zum Kommunismus behoben werden kann, sondern nur durch ihren systematischen Abbau mittels der Bevölkerungsplanung, und nicht nur für die ‚dritte Welt’, sondern auf globaler Grundlage. So läßt auch der Kommunismus keine weitere Entwicklung auf Basis der modernen Industrie zu, sondern erfordert eine Wirtschaftsplanung ohne Wachstum und möglicherweise die Liquidation schon vorhandener Produktionsformen.

In einer Hinsicht ist die vom ‚Club of Rome’ und anderen Leuten aufgedeckte ökologische Krise ein neuer Versuch — ähnlich den Bemühungen Malthus’ und Ricardos —, die gesellschaftlichen Schwierigkeiten auf natürliche Umstände zurückzuführen, da ihnen die Gesellschaftsform selbst als natürlich und unabänderlich erscheint. Das Neuartige ist, daß ihnen heute von ‚marxistischer’ Seite entweder mit reinem oder schlechtem Gewissen zugestimmt wird. Allerdings unterscheidet sich Harichs Position von der des ‚Club of Rome’, da er sich bewußt bleibt, daß auch bei völliger Erkenntnis der Krisensituation die kapitalistische Welt außerstande ist, Maßnahmen zu treffen, die das menschliche Leben, wenn auch auf weit bescheidenerer Basis, für die weiterliegende Zukunft zu erhalten. Der ‚Club of Rome’, bemerkt Harich, spricht zwar von einer zu erwartenden Verarmung und Zerstörung der Welt, aber ”er sagt nicht, daß die Reichen von der Bildfläche verschwinden müssen”. Man ist heute zwar schon bereit, ”Benzin zu rationieren”, aber nicht bereit, ”alles zu rationieren”. Aber warum soll nicht alles rationiert werden, und zwar auf sozialistischer Grundlage, ruft Harich aus; ”wäre das nicht bereits Kommunismus?” Wäre es nicht, ”infolge der rationierten Verteilung, der Kommunismus Babeufs, zu dem die Arbeiterbewegung nun auf höherer Stufenleiter, mit einer dialektischen Spiralenbewegung — Negation der Negation — zurückkehren muß, nachdem fast 200 Jahre lang Springquellen des kapitalistischen Reichtums voll geflossen sind?”

Aber warum bei Babeuf stehen bleiben? Warum nicht zurück zur perfekten Ökologie des Paradieses vor dem Sündenfall? Das eine wie das andere ist eine Unmöglichkeit, an der schon Babeuf scheitern mußte. Die Geschichte läßt sich nicht ungeschehen machen, auch nicht durch die Negation der Negation’. Selbst eine rationierte Verteilung setzt Produktivkräfte voraus, die den Bedürfnissen von vier Milliarden Menschen gewachsen sind, und damit die fortgesetzte produktive Entfaltung, um dem Gesetz der zunehmenden Entropie entgegenzuarbeiten, d.h. um mit dem geringsten Aufwand an ‚freier’ Energie die negative Entropie der lebendigen Welt zu erhalten.

Aber davon abgesehen: die Rationierung, von der Harich spricht, ist der kapitalistischen Welt durchaus nicht fremd und wurde in Kriegszeiten (oder auch im ‚Kriegskommunismus’) mit mehr oder weniger großer Gründlichkeit betrieben. Zudem basiert der Kapitalismus durch das Mehrwertgesetz auf einer Art von ‘Rationierung’ proletarischer Lebensbedingungen, ein Zustand, der auch die Produktionsverhältnisse der angeblich ‚sozialistischen’ Länder charakterisiert, obwohl der Mehrwert dort als Mehrprodukt aufzutreten vermag. Tatsächlich hängt die Existenz des Kapitals, wie Harich selbst ausführt, von der dauernden ‚Rationierung’ der Produzenten ab, um die wachsenden Mehrwertansprüche der Akkumulation zu befriedigen. Wenn und wo notwendig, wird das Kapital auch auf politischen Wegen versuchen, die Lebensbedingungen der Arbeiter auf ein bescheideneres Maß herabzusetzen. Das sich im Weltmaßstube ausbreitende Elend ist ein Produkt der Mehrwertproduktion, das Resultat der mit dem Kapitalismus verbundenen Rationierungs der Lebensbedingungen immer größerer Menschenmassen, und kann deshalb nicht als Lösung der ökologischen Krise empfohlen werden. Wäre es eine Lösung, so wäre das Kapital am besten imstande, sie durchzusetzen.

Wenn Harich von der Notwendigkeit der Herabsetzung der Produktion und Konsumtion spricht, so wirft sich die Frage auf: Wem erzählt er das eigentlich? Den Arbeitern, denen stets mehr Mehrwert entzogen wird? Den Arbeitslosen, die sich kaum über Wasser halten können? Den Hunderten von Millionen in den unterentwikkelten Ländern, die an Unterernährung leiden und langsam (oder oft sehr schnell) verhungern? Und wenn es die absolute Überbevölkerung und der zu schnelle Verbrauch der Rohstoffe sind, die diese Leiden verursachen, dann kann auch eine gerechtere Verteilung nichts Wesentliches daran ändern. Also muß, so Harich, mit der Akkumulation Schluß gemacht werden, damit sich die Gesamtproduktion auf Basis der einfachen gesellschaftlichen Reproduktion und ohne Bevölkerungszuwachs ausschließlich auf den Konsum beziehen kann.

Die kapitalistischen Produktions- und Eigentumsverhältnisse schließen die einfache gesellschaftliche Reproduktion aus. Mit dem Aussetzen der durch den Akkumulationszwang forcierten industriellen Entwicklung setzen die Wirtschaftskrise und das Elend der Depression ein. Von einem Standpunkt aus, der die ökologische Krise für bereits aktuell hält, wäre dies allerdings ein begrüßenswerter Zustand. Da jedoch der Krisenzustand ohne revolutionäre Beseitigung des kapitalistischen Systems nur zu einer neuen Akkumulationsphase führen kann, bleibt eine Verwirklichung der einfachen Reproduktion dem Kommunismus vorbehalten. Zwar ist der Kommunismus auch in Harichs Auffassung noch keine Realität, aber seine Voraussetzungen wären durch die Existenz ‚sozialistischer Länder’ bereits gegeben. Es hängt von diesen und den Arbeiterbewegungen der kapitalistischen Länder ab, ob der Gesellschaft ihre Naturbasis erhalten bleibt. ”Der Sturz der Bourgeoisie, die Errichtung der Diktatur des Proletariats und die Verwirklichung des Kommunismus sind”, nach Harich, ”die Voraussetzungen dafür, die Forderungen des ‘Club of Rome’ in der Gesellschaft durchzusetzen.”

Abgesehen von einer Handvoll von Wissenschaftlern sind sich aber weder die Autoritäten der ‚sozialistischen Länder’ noch die Arbeiter der kapitalistischen Welt dieser hohen Aufgabe bewußt geworden. Wie F. Duve hervorhebt: ”Nach wie vor findet Wirtschaftspolitik aller Staaten — ohne Ausnahme — statt, als hätte es die Studien des ‚Club of Rome’ etwa nie gegeben.” Das trifft auch für die ‚sozialistischen’ Staaten zu, was Harich jedoch nicht hindert, ihnen die Möglichkeit einer schnelleren und besseren Anpassung an die ökologische Krise zuzuschreiben, da in ihnen der Zwang zur erweiterten Reproduktion nicht besteht. Wenn auch die Umweltzerstörung ein Problem der Industriegesellschaft überhaupt ist, so wäre doch die Möglichkeit, dieses Problem in den Griff zu bekommen, auf keinen Fall systemneutral. Allerdings, und leider, mache der Rohstoffreichtum der ‚sozialistischen’ Länder kommunistische Regelungen vorderhand noch unnötig. Aber letztenendes würden sie sich doch der ökologischen Krise zuwenden, da Kommunisten sich ”nie und nimmer damit abfinden werden, daß die Menschheit zum Untergang verurteilt ist”.

Inzwischen gilt es von neuem ‘gegen den Strom’ zu schwimmen und der Welt ihr Zukunftsbild vor Augen zu halten, um sie auf den Pfad der Rettung hinzuweisen. Daß der‚ Club of Rome nur warnen und vorschlagen kann, ändert, nach Harich, nichts an der ”revolutionären Sprengkraft” der von ihm ermittelten ökologischen Erkenntnisse. Die sich daraus ergebenden Konsequenzen können nur von der Arbeiterbewegung und den Arbeiterstaaten gezogen werden, verlangen jedoch die Revision traditioneller kommunistischer Vorstellungen. ”Die Vorzüge des sozialistischen Systems müßten genützt werden, die Produktion aller materiellen Güter planmäßig so zu regeln, daß sie optimal den Kriterien der Ökologie […] gerecht wird.” Zu diesem Zweck, sagt Harich, ”müssen die Linksparteien schon jetzt, sofort damit anfangen, der Arbeiterklasse die Gründe darzulegen, aus denen sie, sobald sie zur Macht gelangt sind, das Wirtschaftswachstum stoppen und der ganzen Bevölkerung, mit Einschluß der Arbeiter, materielle Einschränkungen auferlegen werden.” Hier handelt es sich also um eine Revolution nicht für die Verbesserung, sondern für die Verschlechterung der Lebenslage der Arbeiter.

Es wird schwer fallen, viel revolutionären Enthusiasmus dafür aufzubringen. Aber das ist Harichs geringste Sorge. Als wahrheitsliebender Mensch will er keine Illusionen erwecken und den Arbeitern die Notwendigkeit neuer Entbehrungen klar machen, ”so populär, wie es möglich, und so unpopulär, wie es nach dem Urteil der Wissenschaft nötig ist”. Auf jeden Fall muß mit dem Wohlstandsdenken und dem Wachstumsfetischismus aufgeräumt werden, soweit wie möglich, ”mittels Umerziehung und aufklärender Überzeugung, doch, falls nötig, auch durch rigorose Unterdrükkungsmaßnahmen, etwa durch Stillegung ganzer Produktionszweige, begleitet von gesetzlich verfügten Massen-Entziehungskuren”. Es ist klar, wenigstens für Harich, ”daß dafür das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln, vom proletarischen Staat verwaltet, die unabdingbare Voraussetzung ist. Aber es genügt noch nicht. Der proletarische Staat muß vielmehr, darüber hinaus, über die Machtmittel verfügen, auch den Konsum der Individuen zu kontrollieren, und zwar nach Kriterien, die ihm die Ökologie an die Hand gibt. ”In dem endlichen System Biosphäre”, fährt Harich fort, ”in der der Kommunismus sich wird einrichten müssen, kann er die menschliche Gesellschaft nur in einen homöostatischen Dauerzustand überführen, der, sowenig er die Dynamik des Kapitalismus oder die des Sozialismus fortzusetzen erlaubt, auch keine schrankenlose Freiheit der Individuen zulassen wird. Jeder Gedanke an ein künftiges Absterben des Staates ist daher illusorisch.”

Diese ‚Revision’ des ‚klassischen Marxismus-Leninismus’ richtet sich allerdings nur gegen die Ideologie, nicht gegen die Realität der ‚sozialistischen’ Länder, die nie die Absicht hatten, noch haben, auf ”staatliche Autorität und kodifiziertes Recht” zu verzichten, um den Kommunismus im ursprünglichen Marxschen Sinne zu verwirklichen. Aber wie der autoritäre Staat, nach Harich, notwendig war, um mit ”beispielloser Härte und Brutalität” die ”schwerindustrielle Basis nationaler Selbstbehauptung” zu errichten, so wäre er noch viel notwendiger, um diese Basis wieder abzubauen. Wie Stalin zum Zweck industrieller Entwicklung ”das Land vergewaltigte”, so muß der die ”Voraussagungen der Wissenschaft mit ins Kalkül ziehende” proletarische Staat alle notwendigen Mittel anwenden, um die Menschen zu einem der Ökologie entsprechenden Leben zu zwingen. Selbst den Kommunismus Babeufs kann man den Arbeitern nicht selbst überlassen, er kann nur durch die unaufhebbare staatliche Gewalt marxistisch-leninistischer Parteien durchgesetzt werden.

An diesem Punkt wirft F. Duve ein, daß vom Standpunkt der autoritären kommunistischen Vorstellungen Harichs überhaupt nicht von Kommunismus gesprochen werden kann, da ”die Verwaltung des Mangels auf jeden Fall den Verwaltern die eigentliche Macht geben wird”. Die Verewigung des Staates ist natürlich die Verewigung der Klassengesellschaft und damit ausbeuterischer Produktionsverhältnisse, die zugleich Eigentumsverhältnisse sind. Als Staatseigentum treten die Produktionsmittel auch weiterhin als von den Arbeitern getrennte Produktionsmittel auf. Wie und was produziert wird, untersteht nicht ihrer Kontrolle, sondern der der staatlichen Institutionen, die angeblich die Interessen der Gesellschaft vertreten. Aber diese Gesellschaft bleibt geteilt in eine als durch den Staat organisierte Gruppe von Menschen, die die Produktionsmittel und damit die Verteilung beherrschen, und die Masse der Bevölkerung, die deren Anweisungen zu folgen hat. Dieser neue durch die staatliche Kontrolle der Produktionsmittel gekennzeichnete Gesellschaftstyp erscheint der Bourgeoisie als Staatssozialismus oder Sozialismus schlechthin, bleibt den Arbeitern gegenüber jedoch ein Kapitalverhältnis und findet in dem Begriff Staatskapitalismus seinen passenden Ausdruck, obwohl er ideologisch als Sozialismus aufzutreten versucht.

Ist diese Situation einmal gegeben, so vollzieht sich der gesellschaftliche Reproduktionsprozess auch als Reproduktion der staatlichen Beherrschung und das Anwachsen des gesellschaftlichen Reichtums als Zunahme der staatlichen Macht. Abgesehen von dem internationalen Konkurrenzkampf nationalorganisierter Kapital -massen, der durch die Unterschiedlichkeit der kapitalistischen Systeme noch verschärft wird, hat die sich innerhalb der staatskapitalistischen Verhältnisse herausbildende privilegierte Klasse schon von sich aus ein direktes Interesse an der Zunahme des ihr zur Verfügung stehenden Mehrprodukts und damit an der Entfaltung der Produktivkräfte auf staatskapitalistischer Basis. Von ihr kann keine freiwillige Unterbindung der Produktivkräfte erwartet werden, und wo sie ihr aufgezwungen werden sollte, wird sie die damit verbundenen Entbehrungen nicht auf sich selbst ausdehnen, sondern der machtlosen Masse der Bevölkerung überlassen. Das ökologische Argument böte allerdings ein gutes Alibi.

Es dient Harich schon heute zur Verteidigung der noch bestehenden Rückständigkeit der ‘sozialistischen’ Staaten gegenüber den kapitalistischen Industrieländern. ”Das West-Ost-Gefälle des Lebensstandards”, sagt er, ”das bisher den Fortgang der proletarischen Revolution in den kapitalistischen Industriestaaten gehemmt hat, müssen wir nun umkehren in ein Ost-West-Gefälle des vorbildlichen Umweltschutzes, des vernünftigen, maßvollen, haushälterischen Umgangs mit den Rohstoffen und einer damit in Einklang stehenden Qualität des sozialistischen Lebens.” Die Arbeiter des Westens müssen sich, wenn auch erst nach erfolgreicher Revolution, den niedrigeren Lebensstandard des Ostens zum Vorbild nehmen und gerade in dem Verzicht auf die wenigen Annehmlichkeiten, die ihnen der Kapitalismus gelegentlich noch bot, ihre revolutionäre Aufgabe erblicken. Was die Arbeiter der DDR anbetrifft, so sei ihnen klarzumachen, ”daß die Eigenschaften der DDR, wie des sozialistischen Lagers überhaupt, in denen wir Nachteile zu sehen gewohnt waren, sich als Vorzüge erweisen, sobald wir sie an den neuen Maßstäben der ökologischen Krise messen”.

Diese Umwertung bisheriger Werte kann jedoch auch in Harichs Auffassung nicht über Nacht erreicht werden. Der Gleichheitskommunismus Babeufs setze eine ”erste sozialistische Phase”, wie sie schon Marx hervorhob und wie sie in der DDR existiere, voraus, d.h. eine Verteilung nicht nach Bedürfnissen, sondern nach Leistungen. Da die Bewertung der Leistungen dem ‘proletarischen Staat’ untersteht, wird dieser Staat zum Instrument der Ungleichheit und beinhaltet nichts weiter als diese Ungleichheit, oder sich selbst. Aber sowenig wie die herrschende Klasse des Privatkapitalismus auf ihre Privilegien freiwillig verzichten wird, sowenig wird die durch den ‚proletarischen Staat’ zur Herrschaft gebrachte neue Klasse ihre damit verbundenen Privilegien aufgeben. Wie das Kapital, ist auch der ‚sozialistische Staat’ außerstande, im Sinne Babeufs die Warnungen des ‚Clubs of Rome’ wahrzunehmen, es sei denn auf Kosten der Arbeiter, was, mit öder ohne ökologische Krise, sowieso stets der Fall ist. Und sowenig wie die Arbeiterklasse unter den Bedingungen der Ausbeutung und Ungleichheit in den kapitalistischen Ländern bereit sein wird, ihre Bedürfnisse im Interesse der Umwelterhaltung herabzusetzen, so wenig werden die Arbeiter der ‚sozialistischen’ Länder im Interesse ‚kommender Generationen’ auf eine Verbesserung ihrer Lebenslage verzichten. Der Kampf der Klassen, der latent stets vorhanden ist, wird über den weiteren Verlauf der Wirtschaftsentwicklung entscheiden. So muß mit dem Abbruch des Wirtschaftswachstums auch der Klassenkampf abgeschafft werden, oder, in Harichs Terminologie, die ‚Diktatur des Proletariats’ unter Führung der kommunistischen Parteien auf weltweiter Ebene errichtet werden, um den Anforderungen der ökologischen Krise schon in der ‚ersten Phase’ des Kommunismus nachzukommen.

Mit den Mitteln der staatlichen Gewalt läßt sich der Klassenkampf zwar nicht aufheben, aber doch für längere oder kürzere Zeitspannen einseitig führen, d. h. durch die faschistische oder demokratische Diktatur des Kapitals oder durch die ‘Diktatur der Arbeiterklasse’ im Sinne des ‚Marxismus-Leninismus’. Wenn sich in der den kapitalistischen Produktionsverhältnissen entspringenden ökonomischen Krise die Klassengegensätze zuspitzen, so muß auch aus den Maßnahmen zur Überwindung der ökologischen Krise, die denen der ökonomischen Krise entsprechen, auf die Verschärfung der Klassenkämpfe gerechnet werden. Die dauernde Bedrohung der herrschenden Klassen wird diese einerseits zwingen, mit diktatorischen Mitteln ihre Macht zu erhalten; andererseits aber werden sie auch versuchen, den Forderungen der Arbeiter soweit wie möglich entgegenzukommen. Für das Privatkapital kann es sich dabei nur um Maßnahmen handeln, die zu einer Wiederaufnahme der Kapitalakkumulation und damit der Ausdehnung der Produktion führen. Um sich selbst zu erhalten, müssen die herrschenden Klassen der ‚sozialistischen’ Länder die Produktivität der Arbeit und die Produktion vermehren und sich ohne Rücksicht auf ökologische Folgen dem weiterer Wachstum verpflichten.

So stoßen die Warnungen des ‚Club of Rome’ überall auf taube Ohren und besonders in den ‚sozialistischen’ Ländern, in denen sich eine neue ‚Bourgeoisie’ auf staatlicher Grundlage herausbildet. Es handelt sich hier nicht, wie Harich es sich vorzuzaubern versucht, um einen Mangel an Verständnis auf seiten der ‚kommunistischen’ Autoritäten, dem durch ‚wissenschaftliche’ Einsicht abgeholfen werden kann, sondern um das Klassenbewußtsein einer neuen herrschenden Klasse, das dem der alten herrschenden Klasse um nichts nachsteht. Es ist die Verfälschung des Sozialismus in den Staatssozialismus, die einzige Art ‚Sozialismus’, die sich Harich vorzustellen vermag, welche es ihm erlaubt, seine ökologischen Hoffnungen von der staatlichen Diktatur und ihrer Verewigung abhängig zu machen.

Hängt die Rettung der Welt von den schon bestehenden und ähnlichen noch zu erwartenden ‚sozialistischen’ Ländern ab, dann kann man alle Hoffnung fahren lassen. Was Harich dem Kapitalismus vorwirft, nämlich die Unfähigkeit, dem wirtschaftlichen Wachstum Einhalt zu gebieten, trifft auch für die als ‚Sozialismus’ posierenden staatskapitalistischen Systeme zu. Seinem illusorischen Verlangen ”nach einem stationären Zustand der Menschheit im System der Natur” könnte nur durch die gleichzeitige Überwindung der kapitalistischen und staatskapitalistischen Systeme entsprochen werden und würde revolutionäre Bewegungen erfordern, die sich nicht dem ‚Urteil der Wissenschaft’ und der staatlichen Autorität bedingungslos unterwerfen, sondern die sich die Welt eigenmächtig, ihren eigenen Notwendigkeiten und Bedürfnissen entsprechend, einrichten.

Da es solche Bewegungen noch nicht gibt, werden wir in der ökologischen Krise verharren müssen. Die ‚Wissenschaft’ ist nicht verantwortlich für die praktische Anwendung oder Unterlassung der von ihr gewonnenen Erkenntnisse; diese bleiben den Regierungen und damit den herrschenden Klassen überlassen. Es ist eigenartig, daß sich Harich gegen den Wachstumsfetischismus im Namen der Wissenschaft wendet, da die letztere selbst nur ein Aspekt des Wachstumsfetischismus ist. Die Wissenschaft wird durch Menschen repräsentiert, die nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Mitglieder der Gesellschaft sind, und es sind die spezifisch gesellschaftlichen Interessen, die den praktischen Bereich der Wissenschaft bestimmen. Die Entfaltung der kapitalistischen Produktivkräfte oder, was dasselbe ist, die Erzeugung der ‚ökologischen Krise’ war ein durch die Wissenschaft geförderter Prozeß, war in wachsendem Maße ein direktes Resultat der Wissenschaft und ihrer Einwirkung auf die Technik. Von dieser umweitzerstörenden Wissenschaft erwartet nun Harich die notwendigen Anleitungen zur Wiederherstellung eines ökologischen Gleichgewichts, dessen praktische Verwirklichung nicht nur dem Wachstum der Wirtschaft, sondern auch dem der Wissenschaft definitive Grenzen setzen würde. Er spricht zwar von der Wissenschaft unter der ‚Diktatur des Proletariats’, aber da es sich dabei nur um eine Umbenennung des — durch das Staatseigentum — weiterbestehen- den Kapital-Arbeiter-Verhältnisses handelt, bleibt auch hier die Entwicklung der Wissenschaft vom weiteren Wachsen der Produktivkräfte abhängig, womit die gesellschaftlich bestimmten Interessen der Wissenschaftler dem Gedeihen des Staatskapitalismus verhaftet bleiben.

Dem widerspricht scheinbar die dem ‚Club of Rome’ zugemessene Anerkennung von seiten russischer Wissenschaftler, wie auch überhaupt die allgemeine Aufmerksamkeit, die den mit ‚revolutionärer Sprengkraft’ versehenen Ermittlungen des ‚CIubs of Rome’ zuteil werden. Es scheint verwunderlich, daß diese Forschungen von kapitalistischen Institutionen und Unternehmen, wie z. B. der Volkswagenstiftung, finanziert werden, ganz zu schweigen von der unerwarteten Liberalität totalitärer Staaten, ihren Akademikern das Recht auf pessimistische Zukunftsforschung einzuräumen. Bricht sich hier die Wissenschaft als solche, unabhängig von gesellschaftlichen Umständen, freie Bahn, oder sind ihre heutigen Besorgnisse auch die der diversen herrschenden Klassen? Hängt dies vielleicht mit den Geboten langfristiger Planung zusammen, oder ist es nur eine spontane Reaktion auf politisch-inszenierbare Verknappungen notwendiger Roh- und Brennstoffe im Rahmen des Preismechanismus? Oder handelt es sich hier um nichts mehr als eine der Wissenschaft erlaubte Narrenfreiheit, die letztenendes zu nichts weiter als einer weitgehenden Projektmacherei führen kann, um den Wissenschaftlern Beschäftigung und Einkommen zu vermitteln? Obwohl das ökologische Problem tatsächlich existiert, haben die von ihm ausgehenden Forschungen doch keinerlei praktische Bedeutung. Soweit ihnen praktische Bedeutung zugesprochen werden könnte, ist diese widersprüchlich: während sie den Arbeitern in Ost und West das Grausen beizubringen vermag und sie vom Kampf um bessere Lebensbedingungen zurückhält, vergrößert sie den Mehrwert oder das Mehrprodukt bei fortschreitender ökologischer Zerstörung.

Die absolute Einhaltung der ökologischen Balance ist unmöglich. Aber die Verlängerung der menschlichen Existenz durch die Berücksichtigung der ihr von der Natur gesetzten Schranken ist eine auch heute noch bestehende Möglichkeit, deren Realisierung allerdings das Ende des kapitalistischen Raubbaus voraussetzt. Die von der Natur gesteckten Grenzen sind auch jetzt noch nicht von erster Wichtigkeit. Was notwendig ist, heute und morgen, ist die Überwindung des durch die kapitalistischen Produktionsverhältnisse verursachten menschlichen Elends; und dies als Voraussetzung einer den naturgegebenen Bedingungen angepaßten rationalen planmäßigen Wirtschaftsgestaltung, nicht aber durch weitere Entbehrungen, sondern durch einen für alle Menschen erreichbaren höheren Lebensstandard, von dem die Einschränkung des Bevölkerungs-zuwachses abhängig ist und der die weitere Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte bedingt.

Die progressive Umweltzerstörung ist nicht so sehr das Resultat der wachsenden Produktivkräfte, vielmehr das der Entwicklung dieser Produktivkräfte unter kapitalistischen Bedingungen. Wäre kapitalistische Produktion wirklich, was von ihr behauptet wird, eine Produktion zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, dann hätte die Entwicklung der Produktivkräfte einen anderen als den ihr tatsächlich gegebenen Charakter, eine andere Technologie und andere ökologische Ergebnisse. Daran ändert auch die erweiterte Reproduktion bei zunehmender Bevölkerungszahl und zunehmenden Bedürfnissen prinzipiell nichts. Aber die Entwicklung der Produktivkräfte vollzieht sich auf Basis kapitalistischer Produktionsverhältnisse und ist damit an die Produktion von Kapital gebunden; sie kann die menschlichen Bedürfnisse nur insoweit betreffen, als diese mit den Akkumulationsnotwendigkeiten des Kapitals zusammenfallen. Damit ist jeder direkte Bezug auf die wirklichen gesellschaftlichen Bedürfnisse und auf die natürlichen Schranken gesellschaftlicher Produktion ausgeschlossen. Unter den Bedingungen der Kapitalkonkurrenz, die auch durch die Monopolisierung des Kapitals nicht aufgehoben wird und der — auf internationaler Basis — auch die staatskapitalistischen Systeme unterworfen sind, vollzieht sich die Entwicklung der Produktivkräfte blindlings, und dies um so mehr, je mehr auf nationaler Ebene versucht wird, die Produktion unter bewußte zentrale Kontrolle zu bringen. Dieser Prozeß bedingt eine ungeheure Vergeudung menschlicher Arbeitskräfte und natürlicher Ressourcen, die in einem anderen Gesellschaftssystem nicht (oder nicht in diesem Ausmaß) zu finden wäre.

Obwohl es nicht viel Sinn hat, könnte man berechnen, inwieweit die Expansion der kapitalistischen Produktion von den Notwendigkeiten oder den Bedürfnissen der menschlichen Existenz bestimmt ist und inwieweit sie sich auf den spezifischen Charakter der kapitalistischen Produktionsweise bezieht. Mit anderen Worten: Wie würde die Produktion aussehen, wenn alle sich aus dem Kapitalismus ergebenden produktiven und unproduktiven Aktivitäten wegfallen würden? Sicherlich würde eine solche Berechnung ergeben, daß zumindest die Hälfte der kapitalistischen Produktion aufgegeben werden könnte, ohne daß damit die Lebensbedingungen der Menschen beeinträchtigt wären. Der Großteil der heute angewandten Arbeit ist unproduktive Arbeit, die nur einen ‚Sinn’ innerhalb der kapitalistischen Markt- und Eigentumsverhältnisse hat. Sie ließe sich, bei gleichzeitiger Verminderung der Arbeitszeit, in produktive Arbeit verwandeln; nicht ‘produktiv’ im Sinne von profitabel, sondern im Sinne der Gebrauchswertproduktion. Diese Art von Produktion würde durch das Wegfallen des Profitprinzips, der Konkurrenz, und des unnötigen‚ moralischen Verschleißes’ der Produktionsmittel eine bedeutende Einsparung von Rohstoffen mit sich bringen, ohne deshalb die den menschlichen Bedürfnissen dienende Produktion herabzusetzen.

Eine solche Umstellung erfordert eine andere als die existierenden Gesellschaftsordnungen. Folgt man den Berechnungen des ‚Club of Rome’, so mag es sich, angesichts der Überbevölkerung, der begrenzten Ertragsfähigkeit der Erde und der versiegenden Energie-, quellen bereits um eine verpaßte Gelegenheit handeln. Freilich genügt ein Blick auf die heutige Weltproduktion, um festzustellen, daß von einem aktuellen Mangel materieller Ressourcen noch nicht gesprochen werden kann. Im Gegenteil, und trotz der vor kurzem künstlich erzeugten ‘Energiekrise’, scheint die Welt an ‚Überproduktion’ oder einer mangelnden zahlungsfähigen Nachfrage zu leiden, und zwar aufgrund einer zu niedrigen Akkumulationsrate, die schon von sich aus der Expansion der Produktion Schranken setzt. Die sich so darstellende Krisensituation hat noch keinerlei natürliche Ursachen, sondern hat ihren Grund in den Verwertungsbedürfnissen des Kapitals. Auch für den ‚Club of Rome’ werden sich die Auswirkungen der ökologischen Krise erst in ”zwei oder drei Generationen” voll bemerkbar machen und katastrophale Formen annehmen, und zwar nur dann, wenn bis dahin keine Schritte zu ihrer Abwendung unternommen werden.

In den zwei Berichten für den ‘Club of Rome”, auf die sich Harich beruft, zieht sich die der Welt noch gewährte Gnadenfrist bis in die zeitige Abschaffung der Unter- und Überentwicklung in den dies bezüglichen Regionen; einer entsprechenden weltweiten Allokation nicht regenerierbarer Roh- und Brennstoffe; einer effektiven Bevölkerungspolitik; der Zuwendung zur Sonnenenergie anstelle weiterer Kernreaktoren; einer großzügigen Unterstützung der armen durch die reichen Länder und ähnlicher lobenswerter Maßnahmen. Über die praktische Durchführung des Programms wird kein Wort verloren. Fest steht nur, daß die Lösung der problématique humaine die engste Zusammenarbeit im Weltmaßstab erfordert, da es eine Zukunft nur dann geben kann, ”wenn die Geschichte nicht mehr, wie bisher, von Persönlichkeiten oder sozialen Klassen bestimmt wird, sondern durch die Zuwendung zu den materiellen Ressourcen zur Sicherstellung der menschlichen Existenz”. Die Verkennung der kapitalistischen Realität steht der Harichs in Bezug auf die ‘sozialistische’ Welt um nichts nach. In beiden Fällen haben wir es nur mit in den Wind gesprochenen Beschwörungen zu tun. Irgendwie ist es den Autoren des zweiten Berichts dabei selbst nicht recht wohl zumute. So ‚rational’ der Computer ist, so irrational sind die Menschen. Obwohl der Computer nachwies, daß der Menschheit nicht durch Konflikte, sondern nur durch Zusammenarbeit geholfen werden kann, bezieht sich die Computer-Analyse notwendigerweise doch nur auf die materiellen Grenzen des Wachstums. Aber die Welt wird von den Menschen selbst bedroht aufgrund sozialer, politischer und organisatorischer Schwierigkeiten, die letztenendes der ‚menschlichen Natur’ entspringen. Da der ‚Club of Rome’ in politischer Hinsicht jedoch unparteiisch ist, kann nicht darauf eingegangen werden. Trotzdem wird angemerkt, daß der schnellste Weg zur Vernichtung der Menschheit wohl ein Atomkrieg wäre; aber diese Eventualität, wie auch die ungeheure Vergeudung kostbarer Ressourcen durch Aufrüstung und Militarismus, fällt nicht in den Rahmen der vom ‚Club of Rome’ aufgeworfenen Probleme, da die Welt auch ohne Atomkrieg der Gefahr völliger Vernichtung ausgesetzt ist.

Der Dialektiker Harich kann sich damit nicht zufrieden geben. Die vom ‚Club of Rome’ getroffene Unterscheidung der natürlichen von den gesellschaftlichen Problemen widerspricht der ‘Wechselwirkung’ zwischen Mensch und Natur. Für ihn stehen der drohende Atomkrieg und die ökologische Krise im engsten Zusammenhang. Zwar bestreitet er nicht, daß es gesellschaftliche Gegensätze sind, die Kriege hervortreiben, aber ”in einer Zeit, in der das Wirtschaftswachstum an unaufhebbare Naturschranken stößt, müssen wir auch da ein wenig umlernen. Unter den Bedingungen der ökologischen Krise verfilzen sich die natürlichen und die gesellschaftlichen Faktoren in nie dagewesener Weise […] Die Einwirkung der Gesellschaft auf die Natur kann eine Lage schaffen, die dann wieder die Gesellschaft dazu treibt, in einer Katastrophe Zuflucht zu suchen”. Es genügt also nicht, den Krieg zu verhindern, sondern es muß auf die ökologische Krise als eine der möglichen Ursachen des Krieges eingegangen werden, um diesen selbst abzuwenden.

Nun haben wir zwar schon zwei Weltkriege und viele kleinere Scharmützel hinter uns, noch ehe die Bedrohung der Ökologie ins Bewußtsein rückte und nicht weil sich die Nationen, wie Hunde um einen Knochen, um knapp werdende Rohstoffe balgten, sondern weil sich der kapitalistische Konkurrenzkampf um den von der arbeitenden Bevölkerung extrahierten Mehrwert auf weltweiter Ebene abspielt. Der Konkurrenzkampf existiert unter allen Umständen, mit oder ohne Rohstoffverknappung, hat also mit der letzteren nichts zu tun, sondern ergibt sich aus der kapitalistischen Produktionsweise. Auch wenn auf einen eintretenden Mangel an Rohstoffen und Lebensmitteln tatsächlich mit dem Krieg und nicht anderweitig reagiert werden würde, hinge diese Art der Reaktion mit der Gesellschaftsform und nicht mit dem allgemeinen Mangel zusammen. An diesem Punkt nähert sich Harich jedoch wieder der einseitigen Einstellung des ‚Club of Rome’ auf das rein ökologische Problem, ohne Bezugnahme auf die reale kapitalistische Welt. Diese Welt ist auch für ihn, trotz der ”Verfilzung der natürlichen und gesellschaftlichen Faktoren”, nur ein nachgeordneter Faktor, da es die ökologische Krise ist, die zum Krieg verleiten kann, so daß die Abwendung des Krieges die Beendigung der ökologischen Krise voraussetzt. Aber der Krieg kann morgen ausbrechen, die ökologische Katastrophe erst Mitte des nächsten Jahrhunderts. Ihr kann durch den Atomkrieg vorgegriffen werden, um auf diese gräßliche Weise nachzuweisen, daß die Menschheit nicht von der Natur, sondern vom Kapitalismus umgebracht wurde.

Aber wie steht es tatsächlich mit der ökologischen Krise? Die statistischen Ergebnisse der Computermodelle, auf die sich Harich und der ‚Club of Rome’ beziehen, sind nicht einwandfrei und können von verschiedenen Gesichtspunkten aus angezweifelt werden. Wie es sich nur in sehr ungenauer Weise feststellen läßt, was in den letzten 50 Jahren an Rohstoffen und Energie von den industriellen Ländern verbraucht worden ist, so läßt sich mit noch geringerer Sicherheit sagen, was noch vorhanden ist. Hier handelt es sich um eine unbekannte Größe, was schon daraus zu ersehen ist, daß diesbezügliche Schätzungen fortlaufend revidiert werden — nicht nur durch die Entdeckungen neuer Reserven, sondern auch durch die Verbesserung der Schätzungsmethoden. Um nur ein Beispiel anzuführen: Die unangetasteten Kohlevorkommen in den Vereinigten Staaten wurden 1969 auf 3.000 Milliarden Tonnen geschätzt, 1975 wurde dieser Bestand aufgrund besserer Schätzungsmethoden um 23 Prozent erhöht. Aber da auch Fehlschätzungen nach oben oder unten nichts daran ändern, daß die Roh- und Brennstoffe letztenendes verbraucht sein werden, hat es nicht viel Sinn, den pessimistischen Erwartungen optimistische entgegenzusetzen. Tatsächlich ist nämlich zu erwarten, daß für absehbare Zeit nicht ökologische Erwägungen die Wirtschaftspolitik und damit die Politik bestimmen werden, sondern — wie bisher — die dem Kapital immanente Notwendigkeit der Profitproduktion.

Die historische Schranke des Kapitals ist, nach Marx, das Kapital selbst. Die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte auf dem Wege der Akkumulation verbraucht nicht nur unersetzbare Rohstoffe und bringt die relative Überbevölkerung hervor, sondern auch die Tendenz fallender Profite im Verhältnis zur wachsenden Masse des Kapitals; und damit deutet sie auf die Grenzen kapitalistischer Expansion hin. Auch ohne ihm von der Natur gesetzte Schranken muß das Kapital zugrunde gehen. Es kann sich deshalb nicht an erster Stelle auf die Natur beziehen, sondern nur auf die vom Mehrwert abhängigen Profitraten, von denen, mit der Akkumulation, das Verhältnis zwischen Natur und Gesellschaft bestimmt wird. So haben auch die ‘ökologischen’ Befürchtungen des ‚Club of Rome’ oft einen sehr prosaischen Hintergrund, wie er z.B. in der sogenannten Ölkrise von 1973 hervortrat. Hier handelte es sich nicht um einen plötzlich einsetzenden Mangel an Öl, sondern um politisch erzielte Preiserhöhungen im Gefolge der allgemeinen weltweiten Inflation, die das Angebots-Nachfrage-Verhältnis zu Gunsten der Ölproduzenten verschob. Marktmäßig könnte nur eine erhebliche Abnahme der Nachfrage auf den Monopolpreis einwirken, was sich aber nur schwerlich (und nicht sofort) bewerkstelligen läßt. Die Vermehrung der Ölproduktion bei steigenden Preisen würde aber, dem zweiten Bericht des ‚Club of Rome’ zufolge, nicht nur die Energiequellen zu schnellerem Versiegen bringen, sondern auch zu einer Übertragung von Reichtum und ökonomischer Macht aus den Industrieländern in die ölproduzierenden Staaten führen. Iran besäße bereits eine Minoritätskontrolle über die deutschen Kruppwerke. Innerhalb von zehn Jahren könnten die Ölstaaten mit einem akkumulierten Kapital von 500 Milliarden Dollar einen großen Teil des westlichen Kapitals in ihre Hände bringen und die Weltwirtschaft, einschließlich der unterentwickelten Länder, aufs tiefste erschüttern. Ohne auf diese unbegründeten und mehr als zweifelhaften Spekulationen einzugehen, sei doch bemerkt, daß das Verlangen des ‚Club of Rome’ nach einer ”globalen Lösung des Energieproblems” mehr von ökonomischen als von ökologischen Gesichtspunkten bestimmt zu sein scheint. Jedenfalls ist es zur Zeit nicht ein tatsächlicher Mangel an natürlichen Ressourcen, der die Welt bedroht, sondern der mit allen Mitteln geführte Konkurrenzkampf um den Weltprofit.

Da die Bewegung der Welt vom Profit bestimmt wird, kümmern sich die Kapitalisten um das ökologische Problem nur insoweit, als es sich auf den Profit bezieht. Den Kapitalisten liegt nichts an der Zerstörung der Welt; sollte es sich herausstellen, daß auch die Erhaltung der Welt profitabel sein kann, dann wird auch der Schutz der Welt zu einem Geschäft. Und dies um so mehr, da die Umweltzerstörung selbst ein Instrument der Konkurrenz und der Aufteilung des Gesamtprofits ist. Dieses Problem erscheint in der ökonomischen Literatur als das ‚externer Effekte’ oder der Unterscheidung zwischen privaten Auswirkungen und den sozialen Begleiterscheinungen der kapitalistischen Produktion. Die sozialen sind zugleich ökologische Erscheinungen, wie z. B. die Emission von Schadstoffen aller Arten, die den Naturkreislauf beeinträchtigen, bis hin zur Zerstörung der notwendigen globalen Sauerstoffbilanz. So verbindet sich mit dem Raubbau eine Umweltzerstörung, die oft für noch aktueller und gefährlicher gehalten wird als der rapide Verbrauch materieller Ressourcen. Diese allzu bekannten Vorgänge, die einerseits der Profitproduktion zuzuschreiben sind, andererseits aber auch die Profitproduktion beschneiden, betreffen die verschiedenen Kapitale unterschiedlich und bringen damit schon Bestrebungen zur Einschränkung der Zerstörung innerhalb des Kapitalismus hervor. Es hängt dann von der Masse des Mehrwerts ab, ob diesen Bestrebungen nachgekommen werden kann, d.h. von der zunehmenden Ausbeutung der Arbeiter oder von deren ‚bescheidener Lebenshaltung’. An diesem Punkt treffen sich die Vorschläge Harichs mit den dem Kapital empfohlenen Maßnahmen, wie sie im ‚Club of Rome’ zum Ausdruck kommen.

Ist es auch nicht ausgeschlossen, daß — bei ausreichender Mehrwertproduktion — das Kapital selbst imstande ist, die Umweltzerstörung im eigenen Interesse zu vermeiden oder gänzlich auszuschalten, so kann dies doch nur auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung geschehen. Und da dem Mehrwert durch die Akkumulation Schranken gesetzt sind, ist die sich tatsächlich fortsetzende Umweltzerstörung auf die Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise zurückzuführen. Damit ist schon gesagt, daß es sich hier um ein soziales und kein ökologisches Problem handelt. Aber wie steht es mit der Überbevölkerung? Das ist ein Problem für sich, das auch durch einen vorstellbaren rationalen Umgang mit den Rohstoffen und dem Ende der Umweltzerstörung nicht aus der Welt zu schaffen ist. Im Verhältnis zur wachsenden Bevölkerung geht die Produktion von Nahrungsmitteln zurück. Wird die Erde unfruchtbarer? Oder reicht sie überhaupt nicht aus, um die wachsende Bevölkerung zu ernähren?

Neben anderen ergab auch eine vor drei Jahren für den ‚Club of Rome’ unternommene und von H. Linneman geleitete ‚Untersuchung’ daß die globale Kapazität der Lebensmittelproduktion auch einer Verdoppelung der Bevölkerung gewachsen wäre. Die abnehmende landwirtschaftliche Produktion im Verhältnis zur wachsenden Bevölkerung hat vorläufig nichts mit irgendwelchen von der Natur gesetzten Schranken zu tun, sondern findet ihre Ursachen in gesellschaftlichen Verhältnissen, die einer Ausdehnung der Produktion im Wege stehen. Zudem hat der in der Welt vorhandene Hunger nichts mit der Ergiebigkeit der landwirtschaftlichen Produktion zu tun. Auch eine Verdoppelung der Produktion könnte ihn nicht beseitigen, ja würde ihn höchstwahrscheinlich noch vermehren. Das Vorhandensein ausreichender Nahrungsmittel garantiert noch nicht die Befriedigung menschlicher Konsumtionsbedürfnisse. Waren existieren nur für die zahlungsfähige Nachfrage, und für die Nichtzahlungsfähigen kann eine Überproduktion noch gefährlicher sein als eine auf die Natur zurückführbare Mißernte. Daß auch Mißernten noch zum Hunger führen, hat ebenfalls nichts mit der unberechenbaren Natur zu tun, sondern mit der gesellschaftlichen Vernachlässigung von Maßnahmen, die, mit der Vermehrung der landwirtschaftlichen Produktion und der Verbesserung der Produktivität der Landwirtschaft, genügend Reservebestände hervorbringen, um Naturkatastrophen begegnen zu können.

Im größten Teil der unterentwickelten, vornehmlich agrarischen Welt, wie z. B. in Südasien, ist es nicht so sehr die geizige Natur, sondern ein soziales Klassensystem von Institutionen und Macht-beziehungen, das der Vermehrung der Produktion und der Produktivität im Wege steht. Neben der mehr und mehr unhaltbaren Subsistenzwirtschaft sind es der Grundbesitz, das Pachtsystem, das Wucherkapital, die Plantagenwirtschaft und die parasitäre staatliche Bürokratie, die jede progressive Entwicklung durch das Beharren auf der bestehenden Gesellschaftsstruktur verhindern. In den afrikanischen Staaten hat die durch das Kolonialsystem erwirkte Spezialisierung auf die Produktion von industriellen Rohstoffen zu einem Zustand geführt, der deren weitere Entwicklung auch heute noch dem kapitalistischen Krisenzyklus und dem damit verbundenen Elend unterwirft. Nicht nur dort, sondern auch in den südamerikanischen Staaten vollzieht sich die zunehmende Industrialisierung auf Kosten der landwirtschaftlichen Produktion. Frühere Exportländer werden zu Nahrungsmittel importierenden Ländern. Auch die russische Entwicklung zur konkurrierenden Weltmacht ließ sich nur durch die relative Vernachlässigung der Landwirtschaft erreichen und zwingt bei jeder Mißernte zur Lebensmittel- einfuhr. Die zunehmende Diskrepanz zwischen industrieller und landwirtschaftlicher Produktion hat weniger mit dem Bevölkerungszuwachs und abnehmenden Bodenerträgen zutun, als mit der durch die kapitalistische Konkurrenz erzwungenen einseitigen Überbetonung der industriellen Expansion oder der des Kapitals.

Es stimmt natürlich, daß die Bevölkerung enorm zugenommen hat. Da die Medizin die Sterblichkeitsziffern weitgehend senkte, erscheinen die gleichbleibenden Geburtenziffern als ‘Bevölkerungsexplosion’. Es stimmt ebenfalls, daß die Bevölkerung nicht dauernd wachsen kann und sich früher oder später den ökologischen Gegebenheiten gemäß zu stabilisieren hat. Aber es läßt sich nicht nachweisen, daß die existierende Bevölkerungszahl bereits für das in der Welt vorhandene Elend verantwortlich ist. Eine dem Bevölkerungszuwachs und deren Bedürfnissen angepaßte Produktion würde höchstwahrscheinlich ergeben, daß von einer absoluten Überbevölkerung noch nicht gesprochen werden kann. Die prozentuale Erhöhung der Produktion und Produktivität der Landwirtschaft in Ländern wie den Vereinigten Staaten und Australien übertrifft bei weitem den prozentualen Bevölkerungszuwachs. Obgleich nicht überall mit gleichen Produktionsmethoden gleiche Resultate erzielt werden können, ist es zweifellos noch möglich, die Weltproduktion von Nahrungsmitteln bedeutend zu steigern. Und nur von einer allgemeinen Verbesserung der Lebensbedingungen kann eine bewußte Beschränkung des Bevölkerungszuwachses erwartet werden. Allerdings kann sie auch durch die von Hunch gepriesene staatliche Gewalt erzwungen werden. So liegen in Indien zur Zeit Gesetzesvorlagen zur zwangsmäßigen Sterilisierung der Bevölkerung vor, der jede Familie nach dem zweiten Kind verfallen sein soll. Von hier aus ist es nur ein weiterer Schritt zur direkten Ausrottung der überzähligen Menschen. Aber es geht auch anders. Wenn sie auch vorerst das Privileg einer Minderheit der Weltbevölkerung ist, so demonstriert die in den hochentwickelten Ländern bereits realisierte freiwillige Geburtenkontrolle die Möglichkeit einer Bevölkerungsplanung, die im Laufe der Zeit die Bevölkerung nicht nur stabilisieren, sondern absolut vermindern kann.

Harichs und des ‚Club of Rome’ Warnungen wären völlig sinnlos, verbände sich mit ihnen nicht die Überzeugung der Abwendbarkeit der gefürchteten ökologischen Katastrophe. Ist dies eine objektive Möglichkeit, dann ist damit schon gesagt, daß es von der Gesellschaft und nicht von der Natur abhängt, ob die Menschheit noch eine unübersehbare Zukunft vor sich hat. Für Hanich ist die Abschaffung der Kapitalproduktion die dafür unerläßliche Voraussetzung. Nur damit wäre überhaupt an das ökologische Problem heranzukommen. Nur ist die von ihm ins Auge gefaßte Revolution keine Umwälzung, die zu einer kommunistischen Gesellschaft führen könnte und damit auch nicht zu einer Gesellschaft, die das ökologische Problem zu meistern imstande wäre. Der ‚Club of Rome’ kann sich nicht einmal Harichs Pseudo-Revolution vorstellen und verläßt sich auf den guten Willen und die Bereitwilligkeit einsichtiger Staatsmänner, die zur Lösung des ökologischen Problems notwendigen Maßnahmen zu treffen. Daß aber solche Maßnahmen mit der Gesellschaftsstruktur auch ihre Staatsmänner beseitigen würden, kann von dieser Seite aus nichts erwartet werden.3

Was also ist zu tun in dieser anscheinend hoffnungslosen Situation? Überhaupt nichts, wenn an das Problem vom Standpunkt der Ökologie herangetreten wird. Schon deshalb nicht, weil es nicht das nächstliegende ist, das die Weiterexistenz der Menschheit bedroht. Die ‘ökologische Krise’ ist zum großen Teil selbst ein Produkt der gesellschaftlichen Krisensituation, und die sich aus der letzteren ergebende herannahende Katastrophe geht der ökologischen Katastrophe voraus. Wie die Dinge heute liegen, macht die hohe Wahrscheinlichkeit atomaren kriegerischer Auseinandersetzungen die Beschäftigung mit der ökologischen Krise überflüssig. Alle Aufmerksamkeit muß auf die gesellschaftlichen Vorgänge gerichtet werden, um den Atomverbrechern in Ost und West zuvorzukommen. Gelingt dies den Arbeitern der Welt nicht, dann werden sie auch nicht in die Lage kommen, sich der ökologischen Bedrohung entgegenzustellen und mit der kommunistischen Gesellschaft die Voraussetzungen für die Weiterexistenz der Menschheit zu schaffen.


1Wolfgang Harich, Kommunismus ohne Wachstum? Babeuf und der ‚Club of Rome‘, Reinbek bei Hamburg, 1975.

2Marx/Engels, Werke, Bd. 27, S. 314.

3The limits of Growth, 1972, und Mankind at the Turning Point, 1974.

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Paul Mattick – Staat und Konterrevolution https://panopticon.blackblogs.org/2022/10/19/paul-mattick-staat-und-konterrevolution/ Wed, 19 Oct 2022 09:40:07 +0000 https://panopticon.noblogs.org/?p=3463 Continue reading ]]> Wir fahren mit einer weiteren Übersetzung aus dem Buch Marxism. Last Refuge of the Bourgeoisie? von Paul Mattick fort. Mit diesem Teil haben wir schon vier Kapitel des Buches übersetzt, nur zur Erinnerung, es handelt sich um Reform oder Revolution, Die Grenzen der Reform, Ideologie und Klassenbewusstsein.


Reform oder Revolution. Paul Mattick

Kapitel Nummer 6 – Staat und Konterrevolution

Lenins Staat sollte ein bolschewistischer Staat sein, der von den Arbeitern und Bauern getragen wird. Da von den privilegierten Klassen keine Unterstützung erwartet werden konnte, war es notwendig, sie zu entmündigen und damit die bourgeoise Demokratie zu beenden. Einmal an der Macht, schränkten die Bolschewiki die politischen Freiheiten – Rede-, Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie das Wahlrecht und die Möglichkeit, in die Sowjets gewählt zu werden – auf die werktätige Bevölkerung ein, d. h. auf alle Menschen, „die die Mittel zum Lebensunterhalt durch produktive und für die Gesellschaft nützliche Arbeit erworben haben, d. h. die Arbeiter und Angestellten aller Klassen, die in der Industrie, im Handel, in der Landwirtschaft usw. beschäftigt sind, sowie auf die Bauern und Kosaken, die keine Hilfskräfte zum Zwecke der Gewinnerzielung beschäftigen.“1 Die Bauern konnten jedoch nicht in die angestrebte „eine große Fabrik“ integriert werden, die „alle Staatsbürger in Lohnempfänger des Staates“ verwandelte, denn sie hatten ihre Revolution für „Privateigentum“, für eigenen Grund und Boden gemacht und dabei die Tatsache außer Acht gelassen, dass nominell aller Grund und Boden der Nation als Ganzes gehörte. Die Zugeständnisse an die Bauern waren der Preis, den die Bolschewiki für deren Unterstützung zahlen mussten. „Die russische Bauernschaft“, schrieb Trotzki, „wird an der Aufrechterhaltung der proletarischen Herrschaft zumindest in der ersten, schwierigsten Periode nicht weniger interessiert sein als die französischen Bauern an der Aufrechterhaltung der militärischen Rolle Napoleon Bonapartes, der den neuen Besitzern mit Gewalt die Unversehrtheit ihrer Landanteile garantierte.“2

Doch die politische Unterstützung der Bolschewiki durch die Bauern war eine Sache, ihre ökonomischen Interessen eine andere. Die Desorganisation durch Krieg und Bürgerkrieg reduzierte die industrielle und landwirtschaftliche Produktion. Der Großgrundbesitz war aufgelöst worden, um Millionen von Landarbeitern mit kleinen Betrieben zu versorgen. Die Subsistenzlandwirtschaft verdrängte weitgehend die kommerzielle Landwirtschaft. Doch selbst die marktorientierte Bauernschaft weigerte sich, ihre Überschüsse an den Staat abzutreten, da dieser ihr wenig oder gar nichts zu bieten hatte. Die Innenpolitik des bolschewistischen Staates wurde hauptsächlich durch sein Verhältnis zur Bauernschaft bestimmt, die nicht in die sich entwickelnde staatskapitalistische Ökonomie passte. Die Bauern zu beschwichtigen, war nur auf Kosten des Proletariats möglich, und letzteres zu begünstigen, nur auf Kosten der Bauernschaft. Um an der Macht zu bleiben, waren die Bolschewiki ständig gezwungen, ihre Positionen gegenüber der einen oder anderen Klasse zu ändern. Um sich schließlich von beiden unabhängig zu machen, griffen sie zu terroristischen Maßnahmen, mit denen sie die gesamte Bevölkerung ihrer diktatorischen Herrschaft unterwarfen.

Das Dilemma der Bolschewiki in Bezug auf die Bauern war allgemein bekannt. Trotz ihrer Sympathien für die bolschewistische Revolution konnte beispielsweise Rosa Luxemburg nicht umhin, die Agrarpolitik der Bolschewiki als schädlich für das Streben nach Sozialismus zu kritisieren. Das Eigentumsrecht müsse der Nation bzw. dem Staat überlassen werden, denn nur dann sei es möglich, die landwirtschaftliche Produktion auf sozialistischer Grundlage zu organisieren. Die bolschewistische Losung „sofortige Beschlagnahme und Verteilung des Bodens an die Bauern“ war keine sozialistische Maßnahme, sondern eine, die durch die Schaffung einer neuen Form des Privateigentums den Weg zu solchen Maßnahmen versperrte. Die leninistische Agrarreform, so schrieb sie, „hat eine neue und mächtige Schicht von Volksfeinden des Sozialismus auf dem Lande geschaffen, Feinde, deren Widerstand viel gefährlicher und hartnäckiger sein wird als der der adligen Großgrundbesitzer.“3 Diese Kritik war jedoch nicht mehr als eine Bekräftigung des unvermeidlichen Dilemmas. Während sie die Machtübernahme durch die Bolschewiki befürwortete, schreckte Luxemburg vor den Bedingungen zurück, unter denen dies allein möglich war. Lenin hingegen rechnete mit der fortdauernden Unterstützung der Bauern nicht nur, weil die Bolschewiki ihre Beschlagnahmung von Land ratifiziert hatten, sondern auch, weil der Sowjetstaat eine „billige Regierung“ sein wollte, um die Steuerlast der Bauern zu verringern.

Auch mit Blick auf diese „billige Regierung“ sprach Lenin immer wieder von der Notwendigkeit von „Arbeiterlöhnen“ für alle administrativen und technischen Funktionäre. Die „billige Regierung“ sollte das „Bündnis der Arbeiter und Bauern“ zusammenhalten. In der ersten Periode der bolschewistischen Herrschaft wurden die in Staat und Revolution verkündeten egalitären Prinzipien aufgrund der Schwierigkeiten bei der Versorgung der städtischen Bevölkerung mit dem Nötigsten weitgehend verwirklicht. Die Regierung sah sich gezwungen, den Bauern ihr gesamtes überschüssiges Getreide – und oft noch mehr – in Form von „Darlehen“ oder im Austausch gegen wertloses Papiergeld abzunehmen. Die heftigen Reaktionen der Bauern veranlassten die Bolschewiki, das System der Konfiskation durch eine Naturalsteuer zu ersetzen, was den Widerstand der Bauern jedoch nicht stillen konnte. Schließlich sah sich die Regierung 1921 gezwungen, eine Neue Ökonomische Politik (NEP) einzuführen, die eine teilweise Rückkehr zu kapitalistischen Marktbeziehungen und den Versuch beinhaltete, Kapital aus dem Ausland anzuziehen.

Die Einladung, in die russische Industrie zu investieren, wurde vom westlichen Kapitalismus weitgehend ignoriert. Das Problem blieb, wie das Land kapitalisiert werden konnte, ohne dass es zu einem privatökonomischen System kam – dem logischen Ergebnis einer Entwicklung der bäuerlichen Landwirtschaft unter freien Marktbedingungen. Die Neue Ökonomische Politik konnte entweder als ein bloßes Intervall im „Sozialisierungsprozess“ oder als eine dauerhaftere Politik betrachtet werden, die das Risiko in sich barg, dass die neu entstehenden privatkapitalistischen Kräfte den staatlich kontrollierten ökonomischen Sektor überholen und ihn sogar zerstören würden. In einem solchen Fall wäre die bolschewistische Intervention vergeblich gewesen – ein bloßer Zwischenfall in einer bourgeoisen Revolution. Lenin war sich jedoch sicher, dass eine teilweise Rückkehr zu den Marktverhältnissen politisch bewältigt werden konnte, d. h. dass die bolschewistische Partei die Staatsmacht halten und sich ein ausreichendes ökonomisches Gewicht sichern konnte, indem sie die Kontrolle über Schlüsselpositionen wie die Großindustrie, das Bankwesen und den Außenhandel behielt und so die entstehenden privaten Eigentumsverhältnisse in der Landwirtschaft, der Kleinindustrie und im Einzelhandel neutralisierte. Mit der Zeit würde sich die tatsächliche soziale Macht von der Bauernschaft auf die staatlich kontrollierte Industrie verlagern, da diese wachsen würde.

Letztlich wurden die Probleme der „gemischten Ökonomie“ der NEP-Periode jedoch durch die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, die zentrale Planwirtschaft und das Terrorregime des Stalinismus gelöst. Die Befürchtungen Rosa Luxemburgs in Bezug auf die bolschewistische Bauernpolitik erwiesen sich als unberechtigt. Die Zerstörung des bäuerlichen Eigentums durch die Kollektivierung führte jedoch nicht zum Sozialismus, sondern sicherte lediglich den Fortbestand des Staatskapitalismus. Die kollektivierte Form der Landwirtschaft hat an sich keinen sozialistischen Charakter. Sie ist lediglich die Umwandlung der kleinbäuerlichen in die großbäuerliche Produktion mit politischen Mitteln im Unterschied zu den Konzentrations- und Zentralisierungsprozessen, die in der kapitalistischen Marktwirtschaft, wenn auch unvollkommen, stattfinden. Die Kollektivierung sollte eine effektivere Ausbeutung des Arbeitsüberschusses der bäuerlichen Bevölkerung ermöglichen. Sie erforderte eine „Revolution von oben“, einen regelrechten Krieg zwischen der Regierung und der Bauernschaft4, in dem die Regierung fälschlicherweise behauptete, im Namen der armen Bauern zu handeln und von ihnen unterstützt zu werden, um die Kulaken, die reichen Bauern, die den Weg zum Sozialismus blockierten, zu vernichten.

Außer für höhere Löhne, die einen besseren Lebensstandard bedeuten, sehen die Lohnarbeiter keinen Grund, sich über das unvermeidliche Maß hinaus anzustrengen, das von ihren Chefs verlangt wird. Auch die Überwachung erfordert Anreize. Die neuen Kontrolleure der Arbeit zeigten wenig Interesse an der Verbesserung der Produktion zu „Arbeiterlöhnen“. Der negative Anreiz, der darin bestand, dass man Arbeit brauchte, um überhaupt leben zu können, reichte nicht aus, um das Aufsichts- und technische Personal zu größeren Anstrengungen anzuspornen. Er wurde daher bald durch positive Anreize in Form von Lohn- und Gehaltsunterschieden zwischen und innerhalb der verschiedenen Berufe sowie durch besondere Privilegien für besonders gute Leistungen ergänzt. Diese Unterschiede wurden nach und nach vergrößert, bis sie den in der Privatwirtschaft üblichen Unterschieden entsprachen.

Doch zurück zur bolschewistischen Regierung: Sie wurde von den Sowjets gewählt, war theoretisch dem Allrussischen Sowjetkongress unterstellt und konnte von diesem abberufen werden; sie war lediglich ermächtigt, im Rahmen der Weisungen des Kongresses zu handeln. In der Praxis spielte er eine unabhängige Rolle bei der Bewältigung der sich wandelnden politischen und ökonomischen Erfordernisse und der täglichen Arbeit der Regierung. Der Sowjetkongress war kein ständiges Organ, sondern trat in kürzeren oder längeren Abständen zusammen und übertrug legislative und exekutive Befugnisse an die Staatsorgane. Mit der „Übertragung des Klassenkampfes auf die ländlichen Gebiete“, d.h. mit den staatlich organisierten Enteignungsexpeditionen auf dem Lande und der Einsetzung bolschewistischer „Armenkomitees“ in den Dörfern, versprach sich das „Arbeiter- und Bauernbündnis“, das die Bolschewiki an die Macht gebracht hatte, zu verschlechtern und die bolschewistische Mehrheit im Kongress sowie die Partnerschaft mit den linken Sozialrevolutionären zu gefährden. Natürlich hätte die bolschewistische Regierung, die den Staatsapparat kontrollierte, den Kongress ignorieren oder ihn vertreiben können, so wie sie die Konstituierende Versammlung vertrieben hatte. Aber die Bolschewiki zogen es vor, im Rahmen des Sowjetsystems zu arbeiten und auf einen der Partei gehorchenden Sowjetkongress hinzuarbeiten. Zu diesem Zweck war es notwendig, die Wahlen der Abgeordneten zu den Sowjets zu kontrollieren und andere politische Parteien zu verbieten, vor allem die traditionelle Partei der Bauern, die Sozialrevolutionäre.

Da sich die Menschewiki und die rechten Sozialrevolutionäre aus dem Kongress zurückgezogen hatten und gegen die von ihm gewählte Regierung opponierten, konnten sie leicht entmachtet werden und wurden auf Beschluss des Zentralkomitees des Sowjetkongresses im Juni 1918 verboten. Der Anlass, den linken Sozialrevolutionären ein Ende zu setzen, ergab sich bald, nicht nur wegen der weit verbreiteten Unzufriedenheit der Bauern, sondern auch wegen politischer Differenzen, zu denen die Ablehnung des Friedensvertrags von Brest-Litowsk durch die Sozialrevolutionäre gehörte. Nach der Unterzeichnung des Vertrages zogen sich die linken Sozialrevolutionäre aus dem Zentralkomitee zurück. Der Fünfte Sowjetkongress im Juli 1918 schloss die linken Sozialrevolutionäre aus. Sowohl das Zentralkomitee als auch der Rat der Volkskommissare befanden sich nun ausschließlich in bolschewistischer Hand. Die Bolschewiki sicherten sich ihre Mehrheit in den Sowjets nicht nur, weil ihre Popularität immer noch anstieg, sondern auch, weil sie es verstanden hatten, Nicht-Bolschewiki den Zugang zu den Sowjets immer schwerer zu machen. Mit der Zeit wurde der Allrussische Sowjetkongress zu einem manipulierten Gremium, das automatisch die Maßnahmen der Regierung bestätigte. Die von Lenin mit der Parole „Alle Macht den Sowjets“ angeprangerte Entmachtung der Sowjets durch die Regierung wurde nun zum ersten Mal in der bolschewistischen Einparteienregierung tatsächlich verwirklicht.

Da die Sowjets nicht mehr als das Organisationsinstrument für ein sozialistisches Produktionssystem gedacht waren, wurden sie zu einer Art Ersatzparlament. Der Sowjetstaat, so wurde programmatisch verkündet, „während er den werktätigen Massen unvergleichlich größere Möglichkeiten als die bourgeoise Demokratie und die parlamentarische Regierung bietet, die Abgeordneten auf die für die Arbeiter und Bauern einfachste und zugänglichste Weise zu wählen und abzuberufen, … hebt er gleichzeitig die negativen Aspekte der parlamentarischen Regierung auf, insbesondere die Trennung von Legislative und Exekutive, die Isolierung der repräsentativen Institutionen von den Massen…. Die Sowjetregierung bringt den Staatsapparat den Massen dadurch näher, dass der Wahlkreis und die Grundeinheit des Staates nicht mehr ein territorialer Bezirk, sondern eine industrielle Einheit (Werkstatt, Fabrik) ist.“5

Das Sowjetsystem wurde von den Bolschewiki als „Transmissionsriemen“ betrachtet, der die staatlichen Behörden an der Spitze mit den breiten Massen an der Basis verbindet. Von oben kommende Befehle würden unten ausgeführt, und Beschwerden und Vorschläge der Arbeiter würden die Regierung über ihre Abgeordneten im Sowjetkongress erreichen. In der Zwischenzeit sorgten bolschewistische Parteizellen und die bolschewistische Herrschaft in den Gewerkschaften/Syndikaten für eine direktere Kontrolle in den Betrieben und stellten eine Verbindung zwischen den Kadern in den Fabriken und den staatlichen Institutionen her. Die Arbeiter konnten natürlich davon ausgehen, dass es über die Sowjets eine Verbindung zwischen ihnen und der Regierung gab und dass diese über das Wahlsystem tatsächlich die Politik der Regierung bestimmen und sogar die Regierungen wechseln konnten, wenn sie dazu bereit waren. Diese illusorische Annahme zieht sich durch mehr oder weniger alle Wahlsysteme und könnte auch für das der Sowjets gelten. Durch die Verlagerung des Wahlkreises vom territorialen Bezirk auf den Ort der Produktion haben die Bolschewiki zwar die nicht arbeitenden Schichten der Gesellschaft von der Teilnahme am parlamentarischen Spiel ausgeschlossen6, ohne jedoch das Spiel selbst zu verändern. Im Namen der revolutionären Notwendigkeit machte sich die Regierung immer unabhängiger von den Sowjets, um jene Zentralisierung der Macht zu erreichen, die für die Beherrschung der Gesellschaft durch eine einzige politische Partei notwendig ist. Auch wenn die Sowjets von den Bolschewiki beherrscht wurden, sollte die allgemeine Kontrolle von der Partei ausgeübt werden, und dort, so Trotzki, das letzte Wort hat das Zentralkomitee…. Dies ermöglicht eine extreme Einsparung von Zeit und Energie und bietet unter den schwierigsten und kompliziertesten Umständen eine Garantie für die notwendige Einheit der Aktion. Ein solches Regime ist nur möglich, wenn die unbestrittene Autorität der Partei und die Fehlerlosigkeit ihrer Disziplin vorhanden sind. … Die ausschließliche Rolle der Kommunistischen Partei unter den Bedingungen einer siegreichen Revolution ist ganz verständlich…. Die revolutionäre Überlegenheit des Proletariats setzt innerhalb des Proletariats selbst die politische Überlegenheit der Partei voraus, die ein klares Aktionsprogramm hat. … Man hat uns mehr als einmal vorgeworfen, wir hätten die Diktatur der Sowjets durch die Diktatur unserer Partei ersetzt. Aber man kann mit vollem Recht sagen, dass die Diktatur der Sowjets nur durch die Diktatur der Partei möglich wurde. Es ist der Klarheit ihrer theoretischen Vision und ihrer starken revolutionären Organisation zu verdanken, dass die Partei den Sowjets die Möglichkeit gegeben hat, sich von formlosen Parlamenten der Arbeit in den Apparat der Vorherrschaft der Arbeit zu verwandeln. Diese „Ersetzung“ der Macht der Partei durch die Macht der Arbeiterklasse hat nichts Zufälliges an sich, sondern ist in Wirklichkeit gar keine Ersetzung. Die Kommunisten bringen die grundlegenden Interessen der Arbeiterklasse zum Ausdruck. Es ist ganz natürlich, dass die Kommunisten in der Periode, in der die Geschichte diese Interessen zur Sprache bringt, zu den anerkannten Vertretern der Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit geworden sind7.

Während Trotzki in Bezug auf die Sowjets von 1905 feststellte, dass ihr „Wesen darin bestand, dass sie sich bemühten, zu Organen der öffentlichen Gewalt zu werden“, waren es nach dem Sieg der Bolschewiki nicht mehr die Sowjets, sondern die Partei und genauer gesagt ihr Zentralkomitee, die die gesamte öffentliche Gewalt ausüben mussten8. Die Bolschewiki, oder zumindest ihre führenden Vertreter Lenin und Trotzki, hatten keinerlei Vertrauen in die Sowjets, diese „formlosen Arbeiterparlamente“, die ihrer Meinung nach ihre Existenz der bolschewistischen Partei verdankten. Da es ohne die Partei überhaupt kein Sowjetsystem gäbe, war die Diktatur der Sowjets gleichbedeutend mit der Diktatur der Partei – das eine bedingt das andere. In Wirklichkeit war es natürlich umgekehrt, denn ohne die Revolution der Sowjets hätte die bolschewistische Partei niemals die Macht ergreifen können und Lenin wäre immer noch in der Schweiz. Doch um diese Macht zu erhalten, musste sich die Partei nun von den Sowjets trennen und diese kontrollieren, anstatt von ihnen kontrolliert zu werden.

Ungeachtet der Demagogie, die in Staat und Revolution an den Tag gelegt wurde, war die Haltung Lenins und Trotzkis bezüglich der Fähigkeiten und Unfähigkeiten der Arbeiterklasse keineswegs überraschend, denn sie wurde von den führenden „Eliten“ aller sozialistischen Bewegungen weitgehend geteilt und diente in der Tat dazu, ihre Existenz und ihre Privilegien zu rechtfertigen. Die soziale und technische Arbeitsteilung innerhalb des kapitalistischen Systems entzog dem Proletariat in der Tat jegliche Kontrolle und damit das Verständnis für den komplexen Produktions- und Verteilungsprozess, der die Reproduktion des Gesellschaftssystems sicherstellt. Ein sozialistisches Produktionssystem wird zwar eine andere Arbeitsteilung haben als das kapitalistische, aber die damit verbundenen neuen Regelungen werden sich erst mit der Zeit und im Zusammenhang mit einer völligen Neuorientierung des Produktionsprozesses und seiner Ausrichtung auf andere Ziele als die für den Kapitalismus charakteristischen durchsetzen. Es ist daher zu erwarten, dass der Produktionsprozess in jeder revolutionären Situation gestört wird, vor allem wenn sich der Produktionsapparat bereits in einem Zustand des Verfalls befindet, wie es im Russland von 1917 der Fall war. So ist es auch nicht verwunderlich, dass die Arbeiter ihre Hoffnungen in die neue Regierung setzten, um für sie das zu erreichen, was ihnen äußerst schwierig erschien.

Die Identifikation von Sowjets und Partei wurde offensichtlich von den Arbeitern und den Bolschewiki geteilt, denn sonst wäre die frühe Herrschaft der Bolschewiki in den Sowjets nicht nachvollziehbar. Sie war sogar stark genug, um es den Bolschewiki zu ermöglichen, die Sowjets durch hinterhältige Methoden zu monopolisieren, die Nicht-Bolschewiki von ihnen fernhielten. Für die breiten städtischen Massen waren die Bolschewiki tatsächlich ihre Partei, die ihren revolutionären Charakter gerade durch ihre Unterstützung der Sowjets und ihr Beharren auf der Diktatur des Proletariats bewies. Es kann auch kein Zweifel daran bestehen, dass die Bolschewiki, die ja überzeugte Sozialisten waren, es mit ihrer Hingabe an die Sache der Arbeiter todernst meinten – so sehr, dass sie bereit waren, sie sogar gegen die Arbeiter zu verteidigen, wenn diese ihre notwendigen Erfordernisse nicht erkannten.

Nach Ansicht der Bolschewiki konnten diese notwendigen Erfordernisse, d.h. „Arbeit, Disziplin, Ordnung“, nicht der Selbstdurchsetzung der Sowjets überlassen werden. Der Staat, in diesem Fall die bolschewistische Partei, sollte alle wichtigen ökonomischen Angelegenheiten durch staatliche Verordnungen mit Gesetzeskraft regeln. Der Aufbau des Staates diente keinem anderen Zweck als dem, die Revolution und den Aufbau des Sozialismus zu sichern. Sie verbreiteten diese Illusion unter den Arbeitern mit so großer Überzeugung, weil es ihre eigene war, denn sie waren überzeugt, dass der Sozialismus durch staatliche Kontrolle und den selbstlosen Idealismus einer revolutionären Elite eingeführt werden könnte. Sie müssen furchtbar enttäuscht gewesen sein, als die Arbeiter auf die Dringlichkeit des Aufrufs zu „Arbeit, Disziplin und Ordnung“ und auf ihre revolutionäre Rhetorik nicht richtig reagierten. Wenn die Arbeiter ihre eigenen Interessen nicht erkennen könnten, müsse man ihnen diese Anerkennung aufzwingen, notfalls mit terroristischen Mitteln. Die Chance auf den Sozialismus dürfe nicht leichtfertig vertan werden. Da sie sich nur ihrer eigenen revolutionären Berufung sicher waren, bestanden sie auf ihrem ausschließlichen Recht, die Mittel und Wege zum sozialistischen Umbau der Gesellschaft zu bestimmen.

Dieses Exklusivrecht verlangte jedoch nach ungeteilter absoluter Macht. Als erstes wurde neben Partei und Sowjets die Tscheka, die politische Polizei, organisiert, um die Konterrevolution in all ihren Erscheinungsformen und alle Versuche, die bolschewistische Regierung zu stürzen, zu bekämpfen. Revolutionäre Gerichtshöfe unterstützten die Arbeit der Tscheka. Es wurden Konzentrationslager für die Feinde des Regimes eingerichtet. An die Stelle des „bewaffneten Proletariats“ trat eine Rote Armee unter dem Kommando Trotzkis. Eine effektive Armee, die nur der Regierung gehorcht, kann nicht von „Soldatenräten“ geführt werden, die damit sofort abgeschafft werden. Die Armee sollte sowohl gegen äußere als auch gegen innere Feinde kämpfen und wurde von „Spezialisten“, d. h. von zaristischen Offizieren, die ihren Frieden mit der bolschewistischen Regierung gemacht hatten, geführt und organisiert. Da die Armee aus dem Krieg und dem Bürgerkrieg, der von 1918 bis 1920 dauerte, siegreich hervorging, stieg das Ansehen der bolschewistischen Regierung enorm und sicherte die Konsolidierung ihrer autoritären Herrschaft.

Krieg und Bürgerkrieg gegen die ausländische Intervention und die Weiße Konterrevolution gefährdeten das bolschewistische Regime nicht, sondern stärkten es. Es vereint alle, die unter einer Rückkehr der alten Machthaber zu leiden hätten. Unabhängig von ihrer Haltung gegenüber den Bolschewiki und ihrer Politik verteidigten die Bauern nun ihr neu gewonnenes Land, die Menschewiki und Sozialrevolutionäre ihr Leben. Die Bolschewiki, die zunächst innerlich zerstritten waren, schlossen sich angesichts des gemeinsamen Feindes zusammen und nahmen, wenn auch nur für die Dauer des Bürgerkriegs, die Hilfe der bedrängten, aber immer noch existierenden Menschewiki, Sozialrevolutionäre und sogar Anarchisten gerne als die einer „loyalen Opposition“ an. Schließlich verlieh der interventionistische Charakter des Bürgerkriegs dem bolschewistischen Widerstand die Euphorie des Nationalismus, da die Regierung die Bevölkerung mit der Parole „Das Vaterland ist in Gefahr“ auf ihre Seite zog. In diesem Zusammenhang muss darauf hingewiesen werden, dass der Nationalismus und der Internationalismus Lenins und damit der Bolschewiki insofern eine Besonderheit darstellten, als sie abwechselnd für die Geschicke der russischen Revolution und der bolschewistischen Partei eingesetzt werden konnten. In Trotzkis Worten: „Lenins Internationalismus bedarf keiner Empfehlung. Aber gleichzeitig ist Lenin selbst zutiefst national. Lenin verkörpert das russische Proletariat, eine junge Klasse, die politisch kaum älter ist als Lenin selbst, aber eine Klasse, die zutiefst national ist, denn in ihr ist die gesamte vergangene Entwicklung Russlands zusammengefasst, in ihr liegt Russlands gesamte Zukunft, mit ihr steigt und fällt die russische Nation.“9 Vielleicht hat Lenin, der so zutiefst national ist, durch bloße Selbstbeobachtung die nationalen Bedürfnisse und kulturellen Besonderheiten der unterdrückten Völker so sehr schätzen gelernt, dass er ihre nationale Befreiung und Selbstbestimmung bis hin zur Sezession als einen Aspekt seines Antiimperialismus und als Anwendung des demokratischen Prinzips auf die Frage der Nationalitäten befürwortete. Da Marx und Engels für die Befreiung Polens und die Selbstbestimmung Irlands eingetreten waren, befand er sich hier in bester Gesellschaft. Aber Lenin war in erster Linie ein praktischer Politiker, auch wenn er diese Rolle erst zu dieser späten Stunde ausfüllen konnte. Als praktischer Politiker hatte er erkannt, dass die vielen unterdrückten Nationalitäten im Russischen Reich eine ständige Bedrohung für das zaristische Regime darstellten, die zu dessen Sturz genutzt werden konnte. Lenin war freilich auch Internationalist und sah die sozialistische Revolution als Weltrevolution. Dennoch musste diese Revolution irgendwo beginnen, und im Kontext des russischen Vielvölkerstaates versprach die Forderung nach nationaler Selbstbestimmung die Gewinnung von „Verbündeten“ im Kampf gegen das Zarentum. Diese Strategie wurde durch die Hoffnung gestützt, dass die verschiedenen Nationalitäten, sobald sie frei waren, sich entweder aus Eigeninteresse oder auf Drängen ihrer eigenen sozialistischen Organisationen für den Verbleib im russischen Staatsverband entscheiden würden, falls es ihnen gelänge, die Regierungsmacht zu erlangen. Analog zum „freiwilligen Zusammenschluss der Kommunen zu einer Nation“, den Marx als mögliches Ergebnis der Pariser Kommune gesehen hatte, könnte die nationale Selbstbestimmung zu einer einheitlichen sozialistischen Russischen Föderation der Nationen führen, die einen größeren Zusammenhalt als das alte imperiale Regime aufweisen würde.

Bis zur Russischen Revolution blieb das Problem der nationalen Selbstbestimmung jedoch rein akademisch. Auch nach der Revolution war die Gewährung von Selbstbestimmung für die verschiedenen Nationalitäten innerhalb des Russischen Reiches eher bedeutungslos, da die meisten der betroffenen Gebiete von ausländischen Mächten besetzt waren. Das Selbstbestimmungsrecht war inzwischen zu einem politischen Instrument der Entente-Mächte geworden, um den Zerfall Österreich-Ungarns zu beschleunigen und die Landkarte Europas nach den Wünschen der Siegermächte imperialistisch neu zu gestalten. Aber „selbst auf die Gefahr hin, der Bourgeoisie in die Hände zu spielen, setzte sich Lenin weiterhin für die uneingeschränkte Selbstbestimmung ein, eben weil er davon überzeugt war, dass der Krieg sowohl die Doppelmonarchie als auch das Russische Reich dazu zwingen würde, vor der Kraft des Nationalismus zu kapitulieren.“10 Indem er das Selbstbestimmungsrecht förderte und damit das Proletariat zum Anhänger des Nationalismus machte, half Lenin, wie Rosa Luxemburg betonte, der Bourgeoisie lediglich, das Prinzip der Selbstbestimmung in ein Instrument der Konterrevolution zu verwandeln. Obwohl dies tatsächlich der Fall war, drängte das bolschewistische Regime weiterhin auf die nationale Selbstbestimmung, indem es sie nun auf die internationale Bühne projizierte, um andere imperialistische Mächte, insbesondere England, zu schwächen und so zu versuchen, koloniale Revolutionen gegen den westlichen Kapitalismus zu fördern, die den bolschewistischen Staat zu zerstören drohten.

Wenngleich sich Rosa Luxemburgs Vorhersage, dass die Gewährung der Selbstbestimmung an die verschiedenen Nationalitäten in Russland den bolschewistischen Staat lediglich mit einem Kordon reaktionärer konterrevolutionärer Länder umgeben würde, als richtig erwies, so war dies doch nur von kurzer Dauer. Rosa Luxemburg übersah, dass weniger das Prinzip der Selbstbestimmung die Politik der Bolschewiki diktierte als vielmehr die Macht der Umstände, auf die sie keinen Einfluss hatten. Bei der ersten Gelegenheit begannen sie, das Selbstbestimmungsrecht der Nationen auszuhöhlen, um schließlich alle verlorenen unabhängigen Nationen in ein wiederhergestelltes Russisches Reich einzugliedern und sich darüber hinaus Interessensphären in außerrussischen Gebieten zu schaffen. Aufgrund ihrer eigenen Imperialismustheorie hätte Rosa Luxemburg erkennen müssen, dass Lenins Theorie in einer Welt konkurrierender imperialistischer Mächte nicht anwendbar ist und auch nicht angewendet werden muss, wenn der Kapitalismus durch eine internationale Revolution zu Fall gebracht wird.

Der Bürgerkrieg in Russland wurde vor allem geführt, um die durch Krieg und Revolution freigesetzten zentrifugalen Kräfte des Nationalismus zu stoppen, die die Integrität Russlands bedrohten. Nicht nur an seinen westlichen Grenzen, in Finnland, Polen und den baltischen Staaten, sondern auch im Süden, in Georgien, sowie in den östlichen Provinzen des asiatischen Russlands etablierten sich neue unabhängige Staaten außerhalb der bolschewistischen Kontrolle. Die Februarrevolution hatte die Barrieren durchbrochen, die die nationalistischen oder regionalistischen Bewegungen in den nicht-russischen Teilen des Reiches zurückgehalten hatten. „Als die Bolschewiki die Provisorische Regierung in Petrograd und Moskau stürzten, übernahmen nationalistische oder regionalistische Regierungen in den nicht-großrussischen Gebieten des europäischen Russlands sowie in Sibirien und Zentralasien die Macht. Die Regierungsinstitutionen der muslimischen Völker der Transwolga (Tataren, Baschkiren), Zentralasiens und Transkaspiens (Kirgisen, Kasachen, Usbeken, Turkomanen) und Transkaukasiens (Georgier, Armenier, Aserbaidschaner, Tataren) befürworteten die Autonomie in einer russischen Föderation und stellten sich gegen die Bolschewiki11. Diese Völker mussten in dem darauf folgenden Bürgerkrieg zurückerobert werden.

Der nationalistische Aspekt des Bürgerkriegs wurde für revolutionäre und konterrevolutionäre Zwecke genutzt. Die Weiße Konterrevolution begann ihren antibolschewistischen Kampf bald nach dem Sturz der Provisorischen Regierung. Für den Kampf gegen die Bolschewiki wurden Freiwilligenarmeen gebildet, die von den Entente-Mächten finanziert und ausgerüstet wurden, um Russland wieder in den Krieg gegen Deutschland einzubinden. Britische, französische, japanische und amerikanische Truppen landeten in Murmansk, Archangel und Wladiwostok. Die tschechische Legion trat in den Konflikt gegen die Bolschewiki ein. In diesen Kämpfen wechselten die Territorien häufig den Besitzer, aber die konterrevolutionären Kräfte erwiesen sich trotz der Unterstützung durch die alliierten Mächte als machtlos gegen die neu organisierte Rote Armee. Die ausländischen Interventionen wurden auch nach dem Waffenstillstand zwischen den alliierten Mächten und Deutschland fortgesetzt, und mit Zustimmung der Alliierten kämpften die Deutschen zur Unterstützung der Konterrevolution in den baltischen Staaten, was zur Vernichtung der revolutionären Kräfte in diesen Ländern und zur Anerkennung ihrer Unabhängigkeit durch die Sowjetregierung führte. Polen erlangte seine Unabhängigkeit als antibolschewistischer Staat zurück. Die konterrevolutionären Kräfte waren jedoch weit verstreut und unorganisiert. Die alliierten Mächte konnten sich untereinander nicht über das Ausmaß ihrer Intervention und die zu erreichenden Ziele einigen. Sie vertrauten weder auf die Bereitschaft ihrer eigenen Truppen, den Krieg in Russland fortzusetzen, noch auf die Akzeptanz der eigenen Bevölkerung für einen langwierigen und groß angelegten Krieg zum Sturz des bolschewistischen Regimes. Die entscheidende militärische Niederlage der verschiedenen Weißen Armeen veranlasste die alliierten Mächte, ihre Truppen im Herbst 1918 zurückzuziehen und damit die besetzten Teile Russlands für die Rote Armee zu öffnen. Die französischen und britischen Truppen zogen sich im Frühjahr 1919 aus der Ukraine und dem Kaukasus zurück. Der amerikanische Druck führte 1922 zur Evakuierung der Japaner. Doch 1920 hatten die Bolschewiki den Bürgerkrieg endgültig gewonnen. Während die Revolution eine nationale Angelegenheit war, war die Konterrevolution wirklich international. Dennoch gelang es ihr nicht, das bolschewistische Regime zu stürzen.

Lenin und Trotzki, ganz zu schweigen von Marx und Engels, waren überzeugt, dass eine russische Revolution ohne eine proletarische Revolution im Westen nicht zum Sozialismus führen konnte. Ohne direkte politische Hilfe des europäischen Proletariats, so Trotzki mehr als einmal, würde die Arbeiterklasse Russlands nicht in der Lage sein, ihre vorübergehende Vorherrschaft in eine dauerhafte sozialistische Diktatur zu verwandeln. Die Gründe dafür sah er nicht nur im Widerstand der weltweiten Reaktion, sondern auch in den inneren Verhältnissen Russlands, da die russische Arbeiterklasse, wenn sie sich selbst überlassen bliebe, zwangsläufig in dem Moment zerschlagen würde, in dem sie die Unterstützung der Bauernschaft verlöre, was höchstwahrscheinlich eintreten würde, wenn die Revolution isoliert bliebe. Auch Lenin setzt seine Hoffnungen auf eine Ausbreitung der Revolution nach Westen, die andernfalls von den kapitalistischen Mächten niedergeschlagen werden könnte. Aber er teilte nicht Trotzkis Ansicht, dass ein isoliertes Russland an seinen eigenen inneren Widersprüchen zugrunde gehen würde. In einem Artikel aus dem Jahr 1915, in dem es um die Frage ging, ob es ratsam sei, die Forderung nach den Vereinigten Staaten von Europa in das sozialistische Programm aufzunehmen, wies er erstens darauf hin, dass der Sozialismus eine Frage der Weltrevolution und nicht eine auf Europa beschränkte sei, und zweitens, dass eine solche Losung fälschlicherweise so interpretiert werden kann, dass der Sieg des Sozialismus in einem einzigen Land unmöglich ist, und dass sie auch falsche Vorstellungen über die Beziehungen eines solchen Landes zu den anderen Ländern hervorrufen kann. Die ungleiche ökonomische und politische Entwicklung ist ein absolutes Gesetz des Kapitalismus. Daher ist der Sieg des Sozialismus zunächst in mehreren oder sogar nur in einem einzigen kapitalistischen Land möglich. Nach der Enteignung der Kapitalisten und der Organisierung ihrer eigenen sozialistischen Produktion wird sich das siegreiche Proletariat dieses Landes gegen den Rest der Welt – die kapitalistische Welt – erheben, die unterdrückten Klassen anderer Länder für seine Sache gewinnen, in diesen Ländern Aufstände gegen die Kapitalisten anzetteln und notfalls sogar mit Waffengewalt gegen die Ausbeuterklassen und ihre Staaten vorgehen12.

Offensichtlich war Lenin davon überzeugt – und alle seine Entscheidungen nach der Machtergreifung zeugen davon -, dass selbst ein isoliertes revolutionäres Russland in der Lage sein würde, sich zu behaupten, wenn es nicht direkt von den kapitalistischen Mächten gestürzt würde. Irgendwann würde der Kampf zwischen Sozialismus und Kapitalismus natürlich wieder aufgenommen werden, aber vielleicht unter für die internationale Arbeiterklasse günstigeren Bedingungen. Vorerst war es jedoch wichtig, an der Macht zu bleiben, egal was die Zukunft bringen würde.

Die Weltrevolution kam nicht zustande, und der Nationalstaat blieb das Betätigungsfeld für die ökonomische Entwicklung wie auch für den Klassenkampf. Nach 1920 rechneten die Bolschewiki nicht mehr mit einer baldigen Wiederaufnahme des weltrevolutionären Prozesses und richteten sich auf die Konsolidierung ihres eigenen Regimes ein. Für die bolschewistische Diktatur und ihre besondere Härte werden in der Regel die Nöte und Entbehrungen der Bürgerkriegsjahre verantwortlich gemacht. Dies ist zwar richtig, aber nicht weniger wahr ist, dass der Bürgerkrieg und sein siegreicher Ausgang den Erfolg der Diktatur begünstigt und gesichert haben. Die Parteidiktatur war nicht nur das unvermeidliche Ergebnis einer Notsituation, sondern war bereits in der Konzeption der „proletarischen Herrschaft“ als der Herrschaft der bolschewistischen Partei impliziert. Das Ende des Bürgerkriegs führte nicht zu einer Lockerung der Diktatur, sondern zu ihrer Verschärfung; sie richtete sich nun, nach der Niederschlagung der Konterrevolution, ausschließlich gegen die „loyale Opposition“ und die Arbeiterklasse selbst. Bereits auf dem Achten Parteitag der Bolschewiki im März 1919 wurde die Forderung erhoben, die Duldung der Oppositionsparteien zu beenden. Doch erst im Sommer 1921 beschloss die bolschewistische Regierung endgültig, alle unabhängigen politischen Organisationen und auch die oppositionellen Gruppen in den eigenen Reihen zu vernichten.

Im Frühjahr 1920 schien es klar, dass das militärische Gleichgewicht im Bürgerkrieg zugunsten der Bolschewiki ausfiel. Diese Situation führte zu einem Wiederaufleben der Opposition gegen das Regime und gegen die drakonischen Maßnahmen, die es während des Krieges angewandt hatte. Die Bauernunruhen wurden so stark, dass die Regierung gezwungen war, ihre enteignenden Exkursionen auf dem Land einzustellen und die „Komitees der armen Bauern“ aufzulösen. Die Arbeiter wehrten sich mit einer Welle von Streiks und Demonstrationen, die im Kronstädter Aufstand gipfelten, gegen die Hungersnot in den Städten und gegen das unerbittliche Streben nach mehr Produktion. Da die Erwartungen der Arbeiter einst auf der Existenz der bolschewistischen Regierung beruhten, war es nun diese Regierung, die die Schuld für all ihr Elend und ihre Enttäuschungen auf sich nehmen musste. Diese Regierung war zu einer repressiven Diktatur geworden und konnte nicht mehr mit demokratischen Mitteln über das Sowjetsystem beeinflusst werden. Um die Sowjets von ihrem Parteijoch zu befreien und sie wieder zu Instrumenten der proletarischen Selbstverwaltung zu machen, war nun eine „dritte Revolution“ erforderlich. Der Kronstädter Aufstand richtete sich nicht gegen das Rätesystem, sondern zielte auf dessen Wiederherstellung in seiner ursprünglichen Form. Die Forderung nach „freien Sowjets“ bedeutete Sowjets, die von der Einparteienherrschaft des Bolschewismus befreit waren; folglich bedeutete sie politische Freiheit für alle proletarischen und bäuerlichen Organisationen und Tendenzen, die an der Russischen Revolution teilnahmen13.

Es war kein Zufall, dass die weit verbreitete Opposition gegen die bolschewistische Herrschaft ihren deutlichsten Ausdruck in Kronstadt fand. Hier waren die Sowjets zur alleinigen Staatsgewalt geworden, lange bevor dies in Petrograd, Moskau und im ganzen Land zur vorübergehenden Realität wurde. Bereits im Mai 1917 hatten die Bolschewiki und die linken Sozialrevolutionäre die Mehrheit im Kronstädter Sowjet und erklärten ihre Unabhängigkeit gegenüber der Provisorischen Regierung. Obwohl es der Provisorischen Regierung gelang, dem Kronstädter Sowjet eine Art formale Anerkennung zu entlocken, blieb dieser dennoch die einzige staatliche Autorität in seinem Gebiet und trug so dazu bei, die bolschewistische Machtergreifung vorzubereiten. Es war das radikale Bekenntnis zum Sowjetsystem als der besten Form der proletarischen Demokratie, das die Kronstädter Arbeiter und Soldaten nun gegen die bolschewistische Diktatur aufbrachte, um ihre Selbstbestimmung wiederzuerlangen.

Natürlich konnte es nicht ausbleiben, dass die Kronstädter Meuterei von allen Gegnern des Bolschewismus und damit auch von Reaktionären und bourgeoisen Liberalen bejubelt wurde, die damit den Bolschewiki eine faule Ausrede für ihre bösartige Reaktion auf die Rebellion lieferten. Diese unaufgeforderte opportunistische verbale „Unterstützung“ kann jedoch nichts an der Tatsache ändern, dass das Ziel des Aufstandes die Wiederherstellung jenes Rätesystems war, das die Bolschewiki selbst 1917 zu propagieren verstanden hatten. Die Bolschewiki wussten sehr wohl, dass Kronstadt nicht das Werk „Weißer Generäle“ war, aber sie konnten nicht zugeben, dass sie vom Standpunkt der Sowjetmacht aus gesehen selbst zu einer konterrevolutionären Kraft geworden waren, als sie gerade dabei waren, ihre Regierung zu stärken und zu verteidigen. Deshalb mussten sie diesen letzten Versuch einer Wiederbelebung des Rätesystems nicht nur in Blut ertränken, sondern ihn auch als Werk der „Weißen Konterrevolution“ verleumden. Auch wenn die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre den Aufstand „moralisch“ unterstützten, hatten die daran beteiligten Arbeiter und Matrosen nicht die Absicht, die Konstituierende Versammlung wieder aufleben zu lassen, die sie als eine Totgeburt der unwiderruflichen Vergangenheit betrachteten. Es sei „an der Zeit, die Kommissarokratie zu stürzen. … Kronstadt hat die Fahne des Aufstandes für eine Dritte Revolution der Werktätigen erhoben. … Die Autokratie ist gestürzt. Die Konstituierende Versammlung hat sich in die Region der Verdammten begeben. Die Kommissarokratie bröckelt.“14 Die „dritte Revolution“ sollte die gebrochenen Versprechen der vorangegangenen Revolution einlösen.

Mit dem Kronstädter Aufstand hatte die Unzufriedenheit der Arbeiter und Bauern auf die Streitkräfte übergegriffen, und diese Kombination machte sie für das bolschewistische Regime besonders gefährlich. Der Aufstand war jedoch nicht erfolgversprechend, nicht weil er von den Bolschewiki niedergeschlagen wurde, sondern weil er, wäre er erfolgreich gewesen, nicht in der Lage gewesen wäre, einen freiheitlichen Sozialismus auf der Grundlage der Sowjetherrschaft aufrechtzuerhalten und auszuweiten. Er war in der Tat dazu verdammt, das zu sein, was sie genannt wurde: die Kronstädter Kommune. Wie ihr Pariser Pendant blieb sie trotz der allgemeinen Unzufriedenheit isoliert, und ihre politischen Ziele konnten unter den herrschenden russischen Bedingungen nicht erreicht werden. Dennoch gelang es ihr, Lenins „strategischen Rückzug“ auf die Neue Ökonomische Politik zu beschleunigen, die die bolschewistische ökonomische Diktatur lockerte und gleichzeitig ihre politische autoritäre Herrschaft verschärfte.

Die Unzufriedenheit der Arbeiter mit Lenins Diktatur fand ein gewisses Echo in seiner eigenen Partei. Oppositionelle Gruppen kritisierten nicht nur bestimmte Parteibeschlüsse, wie die staatliche Kontrolle der Gewerkschaften/Syndikate, sondern auch die allgemeine Tendenz der bolschewistischen Politik. In der Frage der „Ein-Mann-Leitung“ hieß es zum Beispiel, es handele sich nicht um ein taktisches Problem, sondern um zwei „historisch unvereinbare Standpunkte“, denn

„die Ein-Mann-Leitung ist ein Produkt der individualistischen Auffassung der Bourgeoisie … Diese Idee findet ihren Niederschlag in allen Bereichen menschlichen Strebens – angefangen bei der Ernennung eines Souveräns für den Staat und endend mit einem souveränen Direktor in der Fabrik. Dies ist die höchste Weisheit des bourgeoisen Denkens. Die Bourgeoisie glaubt nicht an die Macht einer kollektiven Körperschaft. Sie wollen nur die Massen zu einer gehorsamen Herde peitschen und sie dorthin treiben, wohin ihr unbändiger Wille sie treibt. Die Grundlage der Kontroverse (in der bolschewistischen Partei) ist hauptsächlich diese: ob wir den Kommunismus durch die Arbeiter oder über ihre Köpfe hinweg durch die Hand der Sowjetfunktionäre verwirklichen werden. Und lasst uns darüber nachdenken, ob es möglich ist, eine kommunistische Ökonomie durch die Hände und die schöpferischen Fähigkeiten der Sprösslinge der anderen Klasse zu erreichen und aufzubauen, die von ihrer Routine der Vergangenheit durchdrungen sind? Wenn wir anfangen, als Marxisten, als Menschen der Wissenschaft zu denken, werden wir kategorisch und ausdrücklich antworten: nein. Das ökonomische Verwaltungsorgan in der Arbeiterrepublik während der gegenwärtigen Übergangsperiode muss ein Organ sein, das direkt von den Produzenten selbst gewählt wird. Alle anderen administrativen ökonomischen Sowjetinstitutionen sollen nur als Exekutivzentrum der ökonomischen Politik dieses alles entscheidenden ökonomischen Organs der Arbeiterrepublik dienen. Alles andere ist ein Gänseschritt, der Misstrauen gegenüber allen schöpferischen Fähigkeiten der Arbeiter zum Ausdruck bringt, Misstrauen, das mit den erklärten Idealen unserer Partei nicht vereinbar ist… Es gibt keine Selbsttätigkeit ohne Gedanken- und Meinungsfreiheit, denn Selbsttätigkeit äußert sich nicht nur in Initiative, Aktion und Arbeit, sondern auch im unabhängigen Denken. Wir haben Angst vor der Aktion, wir haben aufgehört, uns auf die Massen zu verlassen, deshalb haben wir die Bürokratie bei uns. Um die Bürokratie zu beseitigen, die in den sowjetischen Institutionen Unterschlupf gefunden hat, müssen wir zuerst die gesamte Bürokratie in der Partei selbst beseitigen15.“

Offensichtlich haben diese Oppositionellen ihre eigene Partei nicht verstanden oder sind angesichts ihrer tatsächlichen Praxis von ihren Grundsätzen, wie sie Lenin seit 1903 dargelegt hat, abgewichen. Vielleicht hatten sie „Staat und Revolution“ für bare Münze genommen, ohne dessen Ambivalenz zu bemerken, und fühlten sich nun betrogen, da die Politik Lenins die reine Demagogie seiner revolutionären Erklärungen offenbarte. Aus Lenins Konzept der Partei und ihrer Rolle im revolutionären Prozess hätte hervorgehen müssen, dass diese Partei, einmal an der Macht, nur diktatorisch funktionieren konnte. Ganz abgesehen von den spezifischen russischen Verhältnissen legte die Vorstellung von der Partei als dem Bewusstsein der sozialistischen Revolution eindeutig alle Entscheidungsgewalt auf den bolschewistischen Staatsapparat.

Getreu seinen eigenen Prinzipien setzte Lenin den Oppositionellen ein schnelles Ende, indem er allen Fraktionen unter Androhung des Ausschlusses die Auflösung befahl. Mit den beiden Beschlüssen des Zehnten Kongresses der Kommunistischen Partei Russlands vom März 1921 „Über die Einheit der Partei“ und „Über die syndikalistische und anarchistische Abweichung in unserer Partei“ gelang es Lenin, das bis dahin nur annähernd Erreichte zu vollenden, nämlich dem Fraktionszwang innerhalb der Partei ein Ende zu setzen und die vollständige Kontrolle über die Partei durch das Zentralkomitee zu sichern, das zudem selbst so reorganisiert wurde, dass jede Opposition, die innerhalb der Parteiführung entstehen könnte, beseitigt wurde. Damit war ein Fundament gelegt, auf dem nichts anderes als die sich abzeichnende Allmacht der aufstrebenden Bürokratie von Partei und Staat und die unendliche Macht des obersten Anführers, der beiden vorsteht, aufgebaut werden konnte. Die Ein-Mann-Herrschaft der Partei, die aufgrund der überragenden „moralischen“ Autorität Lenins eine informelle Tatsache gewesen war, verwandelte sich in die unanfechtbare Tatsache der persönlichen Herrschaft desjenigen, der es schaffen sollte, sich an die Spitze der Parteihierarchie zu setzen.

Der bourgeoise Charakter der bolschewistischen Herrschaft, wie er von der internen Opposition festgestellt wurde, spiegelt den objektiv nichtsozialistischen Charakter der Russischen Revolution wider. Es handelte sich um eine Art „bourgeoise Revolution“ ohne die Bourgeoisie, eine proletarische Revolution ohne ein ausreichend großes Proletariat, eine Revolution, in der die historischen Funktionen der westlichen Bourgeoisie von einer scheinbar antibourgeoisen Partei durch die Übernahme der politischen Macht übernommen wurden. Unter diesen Bedingungen war der revolutionäre Inhalt des westlichen Marxismus nicht anwendbar, nicht einmal in modifizierter Form. Was auch immer man von Marx‘ Erklärung zur Pariser Kommune halten mag – dass die „politische Herrschaft des Proletariats unvereinbar ist mit der Externalisierung ihrer sozialen Knechtschaft“ (eine Situation, die nur schwer vorstellbar ist, außer als momentane Möglichkeit, d.h. als die Revolution selbst) – Marx sprach zumindest von den „Produzenten“, nicht von einer politischen Partei, die an die Stelle der Produzenten tritt, während das bolschewistische Konzept von der staatlichen Herrschaft allein als der notwendigen und hinreichenden Voraussetzung für die Umwandlung der kapitalistischen in eine sozialistische Produktionsweise spricht. Die Produzenten werden durch den Staat kontrolliert, der Staat durch die Partei, die Partei durch das Zentralkomitee und letzteres durch den obersten Anführer und seinen Hofstaat. Die zerstörte Autokratie wird im Namen des Marxismus wiedererweckt. Auf diese Weise hängen die Revolution und der Sozialismus sowohl ideologisch als auch praktisch letztlich vom geschichtsbildenden Individuum ab.

In der Tat dauerte es nicht lange, bis die Russische Revolution und ihre Folgen als Werk der Genies Lenin, Trotzki und Stalin angesehen wurden; nicht nur in der bourgeoisen Sichtweise, für die dies selbstverständlich ist, sondern auch ganz allgemein von Sozialisten, die sich auf die materialistische Geschichtsauffassung berufen, die ihre Dynamik nicht in den außergewöhnlichen Fähigkeiten von Individuen, sondern im Kampf der Klassen im Zuge der sich entwickelnden gesellschaftlichen Produktionskräfte findet. Weder Marx noch irgendein vernünftiger Mensch würde die Rolle des „Helden“ in der Geschichte leugnen, sei es zum Guten oder zum Schlechten; denn, wie bereits erwähnt, ist der „Held“ bereits in die Klassengesellschaft eingebunden und wird selbst in seinem Denken und Handeln von den Klassenwidersprüchen bestimmt, die die Gesellschaft bestimmen. So hat sich Marx in seinen historischen Schriften ausgiebig mit solchen „Helden“ befasst, wie dem kleinen Napoleon, der sein Land ins Verderben stürzte, oder wie Bismarck, der das von der totgeborenen bourgeoisen Revolution vernachlässigte Ziel der deutschen Einigung vollendete. Es ist durchaus denkbar, dass ohne Napoleon III. und ohne Bismarck die Geschichte Frankreichs und Deutschlands anders verlaufen wäre, als sie tatsächlich war, aber dieser Unterschied hätte nichts an der sozioökonomischen Entwicklung beider Länder geändert, die durch die kapitalistischen Produktionsverhältnisse und die Expansion des Kapitals als internationales Phänomen bestimmt war.

Was ist Geschichte überhaupt? Die Bourgeoisie hat keine Theorie der Geschichte, wie sie auch keine Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung hat. Da sie lediglich das beschreibt, was beobachtbar ist oder in alten Aufzeichnungen zu finden ist, ist Geschichte alles und nichts zugleich, und jede ihrer oberflächlichen Erscheinungsformen kann anstelle einer Erklärung hervorgehoben werden, die immer den zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehenden gesellschaftlichen Machtverhältnissen dienen muss. Wie die Ökonomie ist auch die bourgeoise Geschichte reine Ideologie und gibt keinen Aufschluss über die Gründe des gesellschaftlichen Wandels. Und so wie die Marktwirtschaft nur durch das Verständnis der ihr zugrundeliegenden Klassenverhältnisse verstanden werden kann, bedarf auch diese Art von Geschichte einer anderen Art, um ihren Sinn zu enthüllen. Aus der Sicht von Marx bedeutet Geschichte die Veränderung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse. Die Geschichte, die sich ausschließlich mit den Veränderungen in einer ansonsten statischen Gesellschaft befasst, ist, so interessant sie auch sein mag, für den Marxismus nur insofern von Belang, als diese Veränderungen den verborgenen Prozess anzeigen, durch den eine Produktionsweise gesellschaftliche Kräfte freisetzt, die auf den Aufstieg einer anderen Produktionsweise hinweisen. Aus dieser Sicht haben die historischen Veränderungen, die durch die russische Revolution und das bolschewistische Regime herbeigeführt wurden, ihren Platz innerhalb einer ansonsten unveränderten Produktionsweise, da ihre sozialen Beziehungen weiterhin Kapital-Arbeitsverhältnisse waren, auch wenn das Kapital – d. h. die Kontrolle über die Produktionsmittel – und mit ihm die Lohnarbeit aus den Händen privater Unternehmer genommen und in die Hände einer staatlichen Bürokratie gelegt wurden, die die Ausbeutungsfunktionen der ersteren ausübte. Das kapitalistische System wurde modifiziert, aber nicht abgeschafft. Die von den Bolschewiki gemachte Geschichte war immer noch kapitalistische Geschichte in der ideologischen Verkleidung des Marxismus.

Die Existenz von „großen Männern“ in der Geschichte ist ein sicheres Indiz dafür, dass Geschichte in der hierarchischen Struktur von klassengeprägten Wettbewerbsgesellschaften gemacht wird. Der Lenin-Kult, der Hitler-Kult, der Stalin-Kult usw. stehen für den Versuch, der Masse der Bevölkerung jede Art von Selbstbestimmung zu nehmen und auch für ihre vollständige Atomisierung zu sorgen, die dies technisch möglich macht. Solche Kulte haben wenig mit den „großen Männern“ als Persönlichkeiten zu tun, sondern spiegeln die Notwendigkeit oder den Wunsch nach völliger Konformität wider, um einer bestimmten Klasse oder einer bestimmten politischen Bewegung eine ausreichende Kontrolle über die breiten Massen zu ermöglichen, damit sie ihre spezifischen Ziele, wie Krieg oder Revolution, verwirklichen können. „Große Männer“ brauchen „große Zeiten“, und beide entstehen in Krisensituationen, die ihre Wurzeln in der Übertreibung der grundlegenden Widersprüche der Gesellschaft haben.

Die Hilflosigkeit des atomisierten Individuums findet eine Art imaginären Trost in der bloßen Symbolisierung seiner Selbstbehauptung in der Führung oder dem Anführer einer sozialen Bewegung, die für ihn zu tun behauptet, was er selbst nicht tun kann. Die Ohnmacht des sozialen Individuums ist die Potenz des Individuums, dem es gelingt, die eine oder andere Art des historisch gegebenen sozialen Strebens zu repräsentieren. Der antisoziale Charakter des kapitalistischen Systems erklärt seine scheinbare soziale Kohärenz in der symbolisierten Form des Staates, der Regierung, des großen Anführers. Die Symbolisierung muss jedoch ständig durch die konkreten Formen der Kontrolle durch die herrschende Minderheit verstärkt werden.

Es ist fast sicher, dass die Bolschewiki ohne Lenins Ankunft in Russland nicht die Regierungsmacht ergriffen hätten, und in diesem Sinne muss das Verdienst der bolschewistischen Revolution Lenin zugeschrieben werden – oder vielleicht dem deutschen Generalstab oder Parvus, der Lenins Eintritt in die russische Revolution ermöglichte. Aber was wäre in Russland ohne den „subjektiven Faktor“ der Existenz Lenins geschehen? Das völlig diskreditierte zaristische Regime war bereits gestürzt und wäre nicht durch einen konterrevolutionären Staatsstreich angesichts des vereinten und allgemeinen Widerstands von Arbeitern, Bauern, der Bourgeoisie und sogar Teilen des alten autokratischen Regimes wieder auferstanden. Darüber hinaus begünstigten die Entente-Mächte, die von der Allianz mit dem anachronistischen russischen autokratischen Regime befreit waren, die neue und angeblich demokratische Regierung, und sei es nur in der Hoffnung auf eine effizientere Kriegsführung gegen die mitteleuropäischen „antidemokratischen“ Mächte. Die Versuche, die Offensive im Westen wieder aufzunehmen, blieben erfolglos und verstärkten nur den Wunsch nach einem baldigen Frieden, sogar einem Separatfrieden, um das neue Regime zu konsolidieren und ein gewisses Maß an Ordnung in der zunehmenden sozialen Anarchie wiederherzustellen. Eine Konterrevolution hätte die erzwungene Fortsetzung des Krieges und die Beseitigung der Sowjets und der Bolschewiki zum Ziel gehabt, um den Privateigentumscharakter der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse zu sichern. Kurz gesagt, die „Diktatur des Proletariats“ wäre höchstwahrscheinlich durch eine Diktatur der Bourgeoisie gestürzt worden, durchgesetzt durch einen Weißen Terror und andere faschistische Herrschaftsmethoden. Ein anderes politisches System und andere Eigentumsverhältnisse hätten sich entwickelt, aber auf der Grundlage derselben Produktionsverhältnisse, die den bolschewistischen Staat aufrechterhalten haben.

In ähnlicher Weise besteht kaum ein Zweifel daran, dass der Zweite Weltkrieg von Adolf Hitler in dem Versuch ausgelöst wurde, den Ersten Weltkrieg durch einen zweiten Versuch der deutschen Kontrolle über das kapitalistische Europa zu gewinnen. Ohne Hitler wäre der Zweite Weltkrieg vielleicht nicht zu dem Zeitpunkt ausgebrochen, zu dem er tatsächlich stattfand, aber vielleicht auch nicht ohne den Stalin-Hitler-Pakt oder ohne die Verschärfung der weltweiten Depression, die der internen ökonomischen Politik der Nazis, von der ihre politische Vorherrschaft abhing, eindeutige Grenzen setzte. Es liegt jedoch auf der Hand, dass Hitler weder für den Ersten Weltkrieg noch für die dem Zweiten Weltkrieg vorausgehende weltweiten ökonomische Krise verantwortlich gemacht werden kann. Regierungen setzen sich aus Individuen zusammen, die bestimmte Ideologien und spezifische ökonomische Interessen vertreten, weshalb es immer möglich ist, die Schuld für eine bestimmte Politik einzelnen Politikern zuzuschreiben und anzunehmen, dass die Geschichte anders verlaufen wäre, wenn es sie nicht gegeben hätte. Das mag sogar stimmen, aber der andere Verlauf würde die allgemeine Entwicklung, soweit sie durch die kapitalistischen Produktionsverhältnisse bestimmt ist, in keiner Weise beeinflussen.

Kurz gesagt, es ist nicht möglich, verlässliche Vorhersagen über die geschichtliche Entwicklung aufgrund der Stärke der politischen Bewegungen und der Rolle der Individuen innerhalb dieser Bewegungen zu machen, die durch die Entwicklung des Kapitalismus und seiner Schwierigkeiten hervorgerufen werden, solange diese Ereignisse nicht die grundlegenden gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse betreffen, sondern nur Veränderungen innerhalb dieser Verhältnisse widerspiegeln. Es stimmt zwar, dass die politischen und ökonomischen Phänomene eine Einheit bilden, aber von einer solchen Einheit zu sprechen, bedeutet vielleicht nur, sich auf unberechenbare Bewegungen innerhalb der gegebenen sozialen Struktur zu beziehen, und nicht auf soziale Widersprüche, die dazu bestimmt sind, die gegebene politische und ökonomische Einheit durch revolutionäre Veränderungen zu zerstören, die eine andere Gesellschaft ins Leben rufen. Genauso wenig wie die ökonomische Entwicklung in ihren Einzelheiten vorhersehbar ist, d.h. wann eine Krise ausgelöst oder überwunden wird, so wenig ist die politische Entwicklung in ihren Einzelheiten vorhersehbar, d.h. welche soziale Bewegung erfolgreich sein oder scheitern wird, oder welche Person die politische Szene beherrschen wird und ob diese Person als „geschichtsbildende“ Person auftreten wird, ganz abgesehen von ihrer persönlichen Qualifikation. Was nicht begreifbar ist, kann nicht berücksichtigt werden, und politische wie ökonomische Ereignisse erscheinen als eine Reihe von „Unfällen“ oder „Schocks“, die scheinbar von außerhalb des Systems kommen, in Wirklichkeit aber von diesem System produziert werden, was die Anerkennung seiner inhärenten Notwendigkeiten ausschließt. Schon die Existenz des politischen Lebens zeugt von seiner fetischistischen Bestimmung. Außerhalb dieser fetischistischen Bestimmung, dieser hilflosen und blinden Unterwerfung unter den Kapitalvermehrungsprozess, würde die Einheit von Politik und Ökonomie nicht als solche erscheinen, sondern als die Eliminierung beider in einer bewusst gestalteten Organisation der gesellschaftlichen Erfordernisse des Reproduktionsprozesses, befreit von seinen ökonomischen und politischen Aspekten. Die Politik und mit ihr jene Art von Ökonomie, die notwendigerweise politische Ökonomie ist, wird mit der Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft aufhören.

Dass sich auch Lenin dessen in gewisser Weise bewusst war, lässt sich daran erahnen, dass er nach der Machtergreifung den Begriff „Lohnarbeit“ nur ungern verwendete. Nur einmal, auf dem Gründungskongress der Dritten Internationale im März 1919, sprach er aus Rücksicht auf ein internationales Publikum davon, dass „die Menschheit die letzte Form der Sklaverei abwirft: die kapitalistische oder die Lohnsklaverei“. Im Allgemeinen ließ er jedoch den Anschein erwecken, dass das Ende des Privatkapitals das Ende des Lohnsystems impliziert; auch wenn es das Lohnsystem im technischen Sinne nicht automatisch abschafft, so würde es doch von seinen ausbeuterischen Konnotationen befreit. In dieser Hinsicht, wie auch in vielen anderen, griff Lenin lediglich auf Kautskys Position von 1902 zurück, der behauptete, dass in den frühen Phasen des Aufbaus des Sozialismus die Lohnarbeit und damit das Geld (oder umgekehrt) beibehalten werden müsse, um den Arbeitern die notwendigen Anreize zur Arbeit zu geben. Auch Trotzki wiederholte diesen Gedanken, allerdings mit einer beispielhaften Schamlosigkeit, indem er erklärte, dass

„wir das Lohnsystem beibehalten und noch lange Zeit beibehalten werden. Je weiter wir gehen, desto mehr wird seine Bedeutung einfach darin bestehen, allen Mitgliedern der Gesellschaft alle lebensnotwendigen Bedürfnisse zu garantieren; und damit wird es aufhören, ein Lohnsystem zu sein. [Aber] in der gegenwärtigen schwierigen Periode ist das Lohnsystem für uns in erster Linie nicht eine Methode, um die persönliche Existenz eines einzelnen Arbeiters zu garantieren, sondern eine Methode, um zu schätzen, was der einzelne Arbeiter mit seiner Arbeit in die Arbeitsrepublik einbringt…. Schließlich kann der Arbeiterstaat, wenn er die einen belohnt (durch das Lohnsystem), nicht umhin, die anderen zu bestrafen – diejenigen, die eindeutig gegen die Arbeitersolidarität verstoßen, die die gemeinsame Arbeit untergraben und die sozialistische Erneuerung des Landes ernsthaft beeinträchtigen. Repression zur Erreichung wirtschaftlicher Ziele ist eine notwendige Waffe der sozialistischen Diktatur16.“

So wie das Lohnsystem die Grundlage der kapitalistischen Produktion ist, so bleibt es die Grundlage des „sozialistischen Aufbaus“, die es Leuten wie Lenin und Trotzki und ihrem Staatsapparat erst ermöglicht, nicht nur die Position einzunehmen, sondern auch mit der Stimme der Kapitalisten gegenüber der Arbeiterklasse zu sprechen. Als ob das Lohnsystem nicht schon immer die einzige Garantie für den Lebensunterhalt der Arbeiter gewesen wäre, und als ob es nicht schon immer dazu gedient hätte, die Höhe des Mehrwerts, der aus ihrer Arbeit zu gewinnen ist, abzuschätzen!

Als Theorie der proletarischen Revolution erkennt der Marxismus Veränderungen innerhalb unveränderter gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse nicht als historische Veränderungen im Sinne der materialistischen Geschichtsauffassung an. Er spricht von Veränderungen der gesellschaftlichen Entwicklung von der Sklaverei über die Leibeigenschaft zur Lohnarbeit und von der Abschaffung der letzteren und damit aller Formen der Arbeitsausbeutung in einer klassenlosen sozialistischen Gesellschaft. Jede Art von Klassengesellschaft wird natürlich ihre eigene politische Geschichte haben, aber der Marxismus erkennt diese als die Politik bestimmter gesellschaftlicher Formationen an, die jedoch mit der Abschaffung der Klassen, der letzten politischen Revolution im allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß, zu Ende gehen wird. Ganz abgesehen von der objektiven Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Abschaffung des Lohnsystems hatte das bolschewistische Regime nicht die Absicht, das Lohnsystem abzuschaffen, und war daher nicht damit beschäftigt, eine soziale Revolution im Marx’schen Sinne voranzutreiben. Es begnügte sich mit der Abschaffung der privaten Kontrolle über die Kapitalakkumulation, in der Annahme, dass dies ausreichen würde, um zu einer bewussten Planwirtschaft und schließlich zu einem egalitäreren Verteilungssystem überzugehen. Es stimmt natürlich, dass die Möglichkeit eines solchen Vorhabens Marx nicht in den Sinn gekommen war, für den das kapitalistische System in seiner Form des Privateigentums durch ein System ersetzt werden musste, in dem die Produzenten selbst die kollektive und direkte Kontrolle über die Produktionsmittel übernehmen würden. Unter diesem Gesichtspunkt ist das bolschewistische Bestreben eine historische Neuerung, die von Marx nicht in Betracht gezogen wurde und dennoch in die Geschichte der kapitalistischen Produktionsweise fällt.

Indem sie an der in der Zweiten Internationale entwickelten marxistischen Ideologie festhielten, gelang es Lenin und den Bolschewiki, ihre Umkehrung der Marx’schen Theorie als die einzig mögliche Form ihrer Verwirklichung zu erkennen. Auch wenn das bolschewistische Konzept nur die Errichtung eines staatskapitalistischen Systems vorsah, so war dies doch die Art und Weise, wie der Sozialismus um die Jahrhundertwende ganz allgemein verstanden worden war. Man kann den Bolschewiki also keinen „Verrat“ an den damals vorherrschenden „marxistischen“ Grundsätzen vorwerfen; im Gegenteil, sie verwirklichten die erklärten Ziele der sozialdemokratischen Bewegung, die selbst jegliches Interesse an der Umsetzung ihrer Überzeugungen verloren hatte. Was die Bolschewiki taten, war, das Programm der Zweiten Internationale mit revolutionären Mitteln zu verwirklichen. Indem sie dies taten, d. h. indem sie die Ideologie in die Praxis umsetzten und sie konkretisierten, identifizierten sie den revolutionären Marxismus mit der staatlich gelenkten sozialistischen Gesellschaft, wie sie sich der orthodoxe Flügel der internationalen Sozialdemokratie vorstellte.

Vor der bolschewistischen Revolution hatte die Bourgeoisie den Marxismus als eine sinnlose Utopie betrachtet, die im Widerspruch zu den natürlich gegebenen Marktbeziehungen und zur menschlichen Natur selbst stand. Natürlich gab es den Klassenkampf, aber auch dieser bedeutete, wie die Konkurrenz im Allgemeinen, nicht mehr als den darwinistischen Kampf ums Dasein, der seine Unterdrückung oder Verbesserung rechtfertigte, je nachdem, wie sich die Umstände oder Möglichkeiten entwickelten. Aber schon die Existenz der Bourgeoisie war Beweis genug dafür, dass die Gesellschaft ohne Klassenspaltung nicht bestehen konnte, da ihre Komplexität eine hierarchische Struktur erforderte. Der Sozialismus im Marx’schen Sinne der Selbstbestimmung der Arbeiterklasse war keine praktische Möglichkeit, und sein Eintreten war nicht nur dumm, sondern auch kriminell, denn seine Verwirklichung würde nicht nur die kapitalistische Gesellschaft, sondern die Gesellschaft selbst zerstören. Die Anpassung der reformistischen Arbeiterbewegung an die Realitäten des gesellschaftlichen Lebens und ihre erfolgreiche Integration in das kapitalistische System war ein zusätzlicher Beweis dafür, dass die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit die normalen gesellschaftlichen Beziehungen sind, an denen nicht gerüttelt werden kann, es sei denn um den Preis des sozialen Verfalls.

Dieses Argument wurde durch den Nachweis der Bolschewiki ad acta gelegt, dass ein „Sozialismus“ auf der Grundlage der Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit möglich ist und dass eine soziale Hierarchie ohne die Bourgeoisie aufrechterhalten werden kann, indem diese einfach zu Dienern des Staates, des alleinigen Eigentümers des gesellschaftlichen Kapitals, gemacht wird. Obwohl Marx gesagt hatte, dass der Kapitalismus den Kapitalisten voraussetzt, muss dies nicht den Kapitalisten als Bourgeois, als Besitzer von Privatkapital, implizieren, denn der Prozess der Kapitalkonzentration und -zentralisierung deutete auf die Verringerung ihrer Zahl und die zunehmende Monopolisierung des Kapitals hin. Wenn es ein „Ende“ dieses Prozesses gäbe, wäre es das Ende des Privatkapitals als Eigentum vieler Kapitalisten und das Ende der Marktwirtschaft, die auf das vollständige Monopol des Eigentums an den Produktionsmitteln hinausliefe. Dieses könnte ebenso gut in den Händen des Staates liegen, der dann zum Organisator der gesellschaftlichen Produktion in einem System würde, in dem die „Marktbeziehungen“ auf den Austausch zwischen Arbeit und Kapital durch die Aufrechterhaltung der Lohnarbeit in der staatlich kontrollierten Ökonomie reduziert würden. Dieses Konzept hätte den „Sozialismus“ für die Bourgeoisie verständlich machen können, wenn es nicht ihre Abschaffung als herrschende Klasse bedeutet hätte. Für die Bourgeoisie war es völlig unerheblich, ob sie sich durch einen Staat enteignet sah, der nicht mehr der ihre war, oder durch eine proletarische Revolution im Marx’schen Sinne, d. h. durch die Aneignung der Produktionsmittel durch die Arbeiterklasse. Der bolschewistische staatskapitalistische oder, was auf dasselbe hinausläuft, staatssozialistische Begriff wurde folglich mit dem Marx’schen Begriff des Sozialismus gleichgesetzt. Wenn die Bourgeoisie vom Marxismus spricht, bezieht sie sich immer auf dessen bolschewistische Interpretation, da dies die einzige ist, die konkrete Anwendung gefunden hat. Diese Identifizierung des Marxismus mit dem leninistischen Sozialismusbegriff machte diesen zu einem Synonym für Marxismus und prägt als solches den Charakter aller revolutionären und nationalrevolutionären Bewegungen bis heute.

Während für die Bourgeoisie Bolschewismus und Marxismus dasselbe bedeuteten, konnte die Sozialdemokratie das leninistische Regime unmöglich als sozialistischen Staat bezeichnen, obwohl sie ihr eigenes, längst vergessenes Ziel, den Sozialismus durch die Eroberung der Staatsmacht zu erreichen, verwirklicht hatte. Da der Bolschewismus aber die Bourgeoisie enteignet hatte, war es ebenso unmöglich, ihn als kapitalistisches System zu bezeichnen, ohne anzuerkennen, dass selbst die legale Eroberung des Staates mit parlamentarischen Mitteln nicht zu einem sozialistischen Produktionssystem führen muss. Hilferding beispielsweise löste das Problem, indem er einfach verkündete, der Bolschewismus sei weder Kapitalismus noch Sozialismus, sondern eine Gesellschaftsform, die man am besten als „totalitäre Staatswirtschaft“ bezeichnen kann, ein System, das auf einer „unbegrenzten persönlichen Diktatur“ beruht17. Es wurde nicht mehr durch den Charakter seiner Ökonomie bestimmt, sondern durch die persönlichen Vorstellungen des omnipotenten Diktators. In Abkehr von seiner eigenen, seit langem vertretenen Auffassung des „organisierten Kapitalismus“ als unvermeidliches Ergebnis des Kapitalkonzentrationsprozesses und des damit verbundenen Verschwindens des Wertgesetzes als Regulator der kapitalistischen Ökonomie besteht Hilferding nun darauf, dass es aus ökonomischer Sicht keinen Staatskapitalismus geben kann. Sobald der Staat zum alleinigen Eigentümer der Produktionsmittel geworden sei, mache er die Funktionen der kapitalistischen Ökonomie unmöglich, weil er genau den Mechanismus abschaffe, der den ökonomischen Zirkulationsprozess über die Konkurrenz, auf die das Wertgesetz einwirke, ermögliche. Doch während dieser Zustand früher mit dem Aufstieg des Sozialismus gleichgesetzt wurde, wird er heute als totalitäre Gesellschaft wahrgenommen, die sowohl vom Kapitalismus als auch vom Sozialismus gleichermaßen entfernt ist. Das einzige Element, das eine Umwandlung in den Sozialismus ausschloss, war das Fehlen einer politischen Demokratie. In diesem Fall stimmte Hilferding jedoch grundsätzlich mit Lenin in der Annahme überein, dass es möglich ist, den Sozialismus mit politischen Mitteln einzuführen, auch wenn es keine Einigung über die anzuwendenden politischen Mittel gab. In der Tat war Lenin Hilferding sehr zugetan, außer in seiner Ablehnung der Mittel der formalen Demokratie als Kriterium für den sozialistischen Charakter der staatlich kontrollierten Ökonomie.

In dieser Hinsicht ist es bemerkenswert, dass weder Lenin noch Hilferding sich um die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse als Kapital-Arbeitsverhältnisse kümmerten, sondern lediglich um den Charakter der Regierung, die über die „neue Gesellschaft“ herrschen sollte. Beide waren der Meinung, dass der Staat die Gesellschaft kontrollieren müsse, sei es mit demokratischen oder diktatorischen Mitteln; die Arbeiterklasse sollte das gehorsame Instrument der Regierungspolitik sein. Dennoch setzte sich Lenins Konzept der „Diktatur“ durch, denn die Bolschewiki hatten die Macht ergriffen, während Hilferdings „Demokratie“ durch die autoritären Tendenzen des kapitalistischen Systems langsam ausgehöhlt wurde. Außerdem hatte der „Marxismus“ der Zweiten Internationale am Vorabend des Ersten Weltkriegs seine Plausibilität verloren, während der Erfolg der bolschewistischen Revolution als eine Rückkehr zur revolutionären Theorie und Praxis des Marxismus angesehen werden konnte. Diese Situation sorgte dafür, dass die leninistische Interpretation des Marxismus, die von der Existenz einer Avantgardepartei nicht nur zur Machtergreifung, sondern auch zur Sicherung des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus abhängig ist, an Bedeutung gewann. Jedenfalls dominierte die leninistische Auffassung des Marxismus im Laufe der Zeit denjenigen Teil der internationalen Arbeiterbewegung, der sich als antikapitalistische und antiimperialistische Kraft verstand.

Wir haben uns ausführlich mit dem Bolschewismus und der Russischen Revolution befasst, um zwei Punkte hervorzuheben: erstens, dass die Politik des bolschewistischen Regimes nach Lenins Tod ihre Ursache in der vorherrschenden Situation in Russland und der Welt insgesamt sowie in den politischen Konzepten der leninistischen Partei hatte; und zweitens, dass das Ergebnis dieser Kombination von Faktoren eine zweite und scheinbar „endgültige“ Zerstörung der Arbeiterbewegung als marxistische Bewegung bedeutete. Der Erste Weltkrieg und seine Unterstützung durch die sozialistischen Parteien der Zweiten Internationale bedeuteten eine Niederlage des Marxismus als potenziell revolutionäre Arbeiterbewegung. Der Krieg und seine Folgen führten zu einer vorübergehenden Wiederbelebung revolutionärer Aktivitäten für begrenzte reformistische Ziele, was darauf hindeutete, dass die Arbeiter nicht bereit waren, das kapitalistische System zu stürzen. Nur in Russland gingen die revolutionären Umwälzungen über bloße Regierungswechsel hinaus, indem sie die Produktionsmittel – nicht auf einmal, sondern schrittweise – in die Hände des bolschewistischen Parteistaats spielten. Dieser scheinbare Erfolg bedeutete jedoch eine völlige Umkehrung der Marx’schen Theorie und ihre vorsätzliche Verwandlung in die Ideologie des Staatskapitalismus, die sich ihrem Wesen nach auf den Nationalstaat und dessen Kampf um Existenz und Expansion in einer Welt konkurrierender imperialistischer Nationen und Machtblöcke beschränkt.

Das Konzept der Weltrevolution als zu erwartendes Ergebnis des imperialistischen Krieges, das die Bolschewiki scheinbar zur Machtergreifung veranlasste, hing von Lenins Vorstellung von der unverzichtbaren Existenz einer Avantgardepartei ab, die in der Lage ist, die Gelegenheit zum Sturz des bourgeoisen Staates zu ergreifen, und die in der Lage ist, die ansonsten ziellose Verschwendung spontan freigesetzter revolutionärer Energien seitens der rebellischen Massen zu vermeiden oder zu korrigieren. Außer den russischen Bolschewiki gab es jedoch nirgendwo eine Avantgardepartei vom leninistischen Typ, so dass diese erste Voraussetzung für eine erfolgreiche sozialistische Revolution nicht erfüllt werden konnte. Im Lichte von Lenins eigener Theorie war es daher logisch inkonsequent, auf die Ausweitung der russischen zu einer internationalen Revolution zu warten. Aber selbst wenn solche Avantgardeparteien sozusagen über Nacht hätten entstehen können, wären ihre Ziele durch das leninistische Konzept des Staates und seiner Funktionen im gesellschaftlichen Transformationsprozess bestimmt gewesen. Wenn sie erfolgreich gewesen wären, hätte es mehr als ein staatskapitalistisches System gegeben, aber keine internationale sozialistische Revolution. Kurzum, es wäre zu einem früheren Zeitpunkt vollzogen worden, was nach dem Zweiten Weltkrieg ohne Revolution tatsächlich eingetreten ist, nämlich die imperialistische Aufteilung der Welt in monopolistische und staatskapitalistische nationale Systeme unter der Ägide instabiler Machtblöcke.

Angenommen, die Revolutionen in Westeuropa wären über rein politische Veränderungen hinausgegangen und hätten zu einer Diktatur des Proletariats geführt, die durch ein System von Sowjets ausgeübt worden wäre, die die ökonomischen und sozialen Beziehungen kontrollierten, dann hätte sich ein solches System in Opposition zum Parteienstaat in seiner leninistischen Inkarnation befunden. Höchstwahrscheinlich hätte es zu einer Wiederbelebung der inneren Opposition in Russland gegen das bolschewistische Machtmonopol und zur Entthronung seiner Führung geführt. Eine proletarische Revolution im Marx’schen Sinne hätte das bolschewistische Regime noch mehr gefährdet als eine bourgeoise und sozialdemokratische Konterrevolution, denn für die Bolschewiki war die Ausbreitung der Revolution nur als Ausdehnung der bolschewistischen Revolution und Beibehaltung ihrer spezifischen Merkmale im globalen Maßstab denkbar. Dies war einer der Gründe, warum die Dritte Internationale als „Werkzeug der Weltrevolution“ zu einer internationalen Replik der leninistischen Partei gemacht wurde.

Diese besondere Praxis basierte auf Lenins Theorie des Imperialismus. Mehr polemisch als theoretisch ist Lenins Imperialismus: Das höchste Stadium des Kapitalismus widmete den flüchtigen politischen Aspekten des Imperialismus mehr Aufmerksamkeit als der ihm zugrunde liegenden sozioökonomischen Dynamik. Es sollte den imperialistischen Charakter des Ersten Weltkriegs entlarven, der als allgemeine Voraussetzung für die soziale Revolution angesehen wurde. Lenins Argumente wurden durch einschlägige Daten aus verschiedenen bourgeoisen Quellen, durch eine kritische Nutzung der theoretischen Erkenntnisse von J. H. Hobson und Rudolf Hilferding und durch eine Ablehnung von Karl Kautskys spekulativer Theorie des Superimperialismus als Weg zu einem friedlichen Kapitalismus untermauert. Die Daten und Theorien waren an ein bestimmtes historisches Stadium der kapitalistischen Entwicklung gebunden und enthielten keine Anhaltspunkte für deren weiteren Verlauf.

Der Zwang zum Imperialismus ist der kapitalistischen Produktion inhärent, aber es ist die Entwicklung der letzteren, die ihre spezifischen Erscheinungsformen zu einem bestimmten Zeitpunkt ausmacht. Für Lenin wurde der Kapitalismus jedoch erst „auf einer bestimmten und sehr hohen Stufe der kapitalistischen Entwicklung“ imperialistisch, einer Stufe, die die Herrschaft nationaler und internationaler Monopole implizierte, die durch Vereinbarung oder Gewalt die ausbeutbaren Ressourcen der Welt unter sich aufteilten. Seiner Ansicht nach ist diese Periode weniger durch den Export von Waren als durch den von Kapital gekennzeichnet, der den großen imperialistischen Mächten und einem Teil ihrer arbeitenden Bevölkerung ein zunehmend parasitäres Leben auf Kosten der unterworfenen Regionen der Welt ermöglicht. Er betrachtete diese Situation als „höchstes Stadium“ des Kapitalismus, weil er davon ausging, dass seine vielfältigen Widersprüche unmittelbar zu sozialen Revolutionen auf internationaler Ebene führen würden.

Doch obwohl der Erste Weltkrieg zur Russischen Revolution führte, war der Imperialismus nicht der „Vorabend der proletarischen Weltrevolution“. Bemerkenswert ist jedoch die Kontinuität zwischen Lenins früher Arbeit über die Entwicklung des russischen Kapitalismus und seiner Theorie des Imperialismus und der bevorstehenden Weltrevolution. Im Gegensatz zu den Narodniks vertrat Lenin, wie wir gesehen haben, die Auffassung, dass der Kapitalismus der nächste Schritt in der Entwicklung Russlands sein würde und dass aus diesem Grund das Industrieproletariat in der russischen Revolution die dominierende Rolle spielen würde. Indem jedoch nicht nur die Arbeiter, sondern auch die Bauern und sogar Schichten der Bourgeoisie einbezogen würden, würde die Revolution den Charakter einer „Volksrevolution“ erhalten. Um all ihre Möglichkeiten zu verwirklichen, müsste sie von einer Organisation geführt werden, die den Sozialismus der Arbeiterklasse vertritt. Lenins Theorie des Imperialismus als „Vorabend der Weltrevolution“ war somit eine Projektion seiner Theorie der russischen Revolution auf die ganze Welt. So wie sich in Russland verschiedene Klassen und Nationalitäten unter proletarischer Führung zusammenschließen sollten, um die Autokratie zu stürzen, so sollen sich auf internationaler Ebene ganze Nationen in verschiedenen Entwicklungsstadien unter der Führung der Dritten Internationale zusammenschließen, um sich sowohl von ihren imperialistischen Herren als auch von ihren einheimischen herrschenden Klassen zu befreien. Die Weltrevolution ist also eine der unterdrückten Klassen und Nationen gegen einen gemeinsamen Feind – den monopolistischen Imperialismus. Diese Theorie machte nach Stalins Ansicht den „Leninismus zum Marxismus des imperialistischen Zeitalters“. Die Theorie, die von erfolgreichen sozialistischen Revolutionen in den fortgeschrittenen kapitalistischen Nationen ausging, konnte jedoch weder als richtig noch als falsch bewiesen werden, da die erwarteten Revolutionen nicht eintraten.

Dieser wahrhaft grandiose Plan, der den Bolschewismus in den Mittelpunkt des weltrevolutionären Prozesses stellt und, um es mit den Worten Hegels zu sagen, den Weltgeist in Lenin und seiner Partei manifestieren lässt, bleibt ein bloßer Ausdruck von Lenins Vorstellungskraft, denn mit jedem Schritt, den er unternimmt, gerät der „größte Realpolitiker“ in Konflikt mit der Realität. So musste er sein eigenes Agrarprogramm gegen das seiner sozialrevolutionären Gegner eintauschen, sich von der in der Periode des „Kriegskommunismus“ mit verheerenden Ergebnissen praktizierten „Naturalwirtschaft“ verabschieden und in der Neuen Ökonomischen Politik auf die Marktverhältnisse zurückgreifen, und das vom bolschewistischen Regime zunächst so großzügig gewährte Selbstbestimmungsrecht der unterdrückten Nationalitäten zu bekämpfen, so sah er sich gezwungen, die Dritte Internationale nicht für die Ausweitung der internationalen Revolution, sondern nur für die Verteidigung des bolschewistischen Staates aufzubauen und zu nutzen. Sein Internationalismus, wie auch der der Bourgeoisie, konnte nur nationalen Zielen dienen, die als allgemeine Interessen der Weltrevolution getarnt wurden. Aber vielleicht war es gerade dieses völlige Versagen, die erklärten Güter des Bolschewismus zu fördern, das wirklich von Lenins Beherrschung der Realpolitik zeugt, wenn auch nur in dem Sinne, dass ein prinzipienloser Opportunismus tatsächlich dem Zweck diente, die Bolschewiki an der Macht zu halten.

Lenins Zielstrebigkeit bei der Erlangung und dem Erhalt der Staatsmacht durch Kompromisse und opportunistische Kehrtwendungen, die ihm von den Umständen diktiert wurden, die sich seiner Kontrolle entzogen, war keine von der marxistischen Theorie geforderte Praxis, sondern ein empirischer Pragmatismus, wie er die bourgeoise Politik im Allgemeinen kennzeichnet. Der Berufsrevolutionär verwandelte sich in einen Staatsmann, der mit anderen Staatsmännern darum wetteiferte, die spezifischen Interessen des bolschewistischen Staates als diejenigen der russischen Nation zu verteidigen. Jede weitere revolutionäre Entwicklung wurde nun als abhängig vom Schutz des ersten „Arbeiterstaates“ betrachtet, der damit zur obersten Pflicht des internationalen Proletariats wurde. Die marxistische Ideologie diente nicht nur internen, sondern auch externen Zwecken, indem sie die Unterstützung der Arbeiterklasse für das bolschewistische Russland sicherstellte. Dies betraf zwar nur einen Teil der Arbeiterbewegung, aber es war der Teil, der die antibolschewistischen Kräfte, zu denen nun auch die alten sozialistischen Parteien und die Gewerkschaften/Syndikate gehörten, stören konnte. Die leninistische Interpretation des Marxismus wurde zur gesamten Marx’schen Theorie, als Gegenideologie zu allen Formen des Antibolschewismus und allen Versuchen, die russische Regierung zu schwächen oder zu zerstören. Gleichzeitig wurden aber auch Versuche unternommen, einen Zustand der Koexistenz mit den kapitalistischen Gegnern herbeizuführen. Es wurden verschiedene Zugeständnisse vorgeschlagen, um die gegenseitigen Vorteile aufzuzeigen, die durch den internationalen Handel und andere Formen der Zusammenarbeit erzielt werden konnten. Diese doppelgesichtige Politik diente dem einzigen Ziel, den bolschewistischen Staat zu erhalten, indem sie den nationalen Interessen Russlands diente.


1Verfassung der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (1918), Artikel 4, Kapitel XIII.

2Trotzki, Our Revolution (A.d.Ü., haben keine Quelle auf Deutsch gefunden), S. 98.

3Luxemburg, Die Russische Revolution, S. 46.

4Lord Moran berichtet über den folgenden Dialog zwischen Churchill und Stalin in Moskau im Jahr 1942: Churchill: „Als ich die Frage der Kolchosen und den Kampf mit den Kulaken ansprach, wurde Stalin sehr ernst. Ich fragte ihn, ob das so schlimm sei wie der Krieg. ‚Oh ja‘, antwortete er, ’schlimmer. Viel schlimmer. Es dauerte Jahre. Die meisten von ihnen wurden von den Bauern, die sie hassten, liquidiert. Zehn Millionen von ihnen. Aber wir mussten es tun, um die Landwirtschaft zu mechanisieren. Am Ende wurde die Produktion auf dem Land verdoppelt. Was ist eine Generation?‘ fragte Stalin, während er am Tisch auf und ab ging.“ C. Moran, Churchill: The Struggle for Survival, 1940-1965 (Boston: Houghton, 1966), S. 70.

5Lenin, Programm der KPdSU (B), angenommen am 22. März 1919 auf dem Achten Parteitag.

6Stalins Verfassung von 1936 führte das allgemeine Wahlrecht wieder ein, verband es aber mit einer Reihe von Kontrollen, die die Wahl von Personen in staatliche Institutionen ausschlossen, die nicht von der Kommunistischen Partei bevorzugt wurden, und zeigte damit, dass das allgemeine Wahlrecht und die Diktatur gleichzeitig existieren können.

7Trotzki, Dictatorship vs. Democracy (A.d.Ü., wir waren uns nicht sicher um welches Werk es sich hier genau handelt) (New York, 1922), S. 107-9.

8Trotzki, der zweifellos ein ebenso hervorragender revolutionärer Politiker wie Lenin war, ist in Bezug auf die bolschewistische Revolution weder als Theoretiker noch als praktischer Akteur von Interesse, weil er sich Lenin völlig unterordnete und dadurch eine große Rolle bei der Machtergreifung und dem Aufbau des bolschewistischen Staates spielen konnte. Vor seiner bedingungslosen Unterwerfung unter Lenin lehnte Trotzki sowohl die Menschewiki als auch die Bolschewiki ab, erstere wegen ihrer passiven Akzeptanz der erwarteten russischen Revolution als einer bourgeoisen Revolution im traditionellen Sinne, und letztere wegen Lenins Beharren auf einem „Bauern-Arbeiter-Bündnis“, das nach Trotzkis Ansicht nicht zu einer sozialistischen Revolution führen konnte, kann die sozialistische Revolution, die vom Industrieproletariat beherrscht wird, überhaupt nicht im Rahmen einer nationalen Revolution betrachtet werden, sondern muss von Anfang an als internationale Revolution angegangen werden, die die russische Revolution mit den Revolutionen in Westeuropa vereint, d.h. als eine „permanente Revolution“ unter der Hegemonie der Arbeiterklasse. Durch den Übergang zu Lenins Ideen und deren offensichtlicher Gültigkeit im Kontext der russischen Situation wurde Trotzki zum Gefangenen eines dogmatisierten Leninismus und somit unfähig, eine marxistische Kritik an der bolschewistischen Revolution zu entwickeln.

9Trotzki, „Lenin an seinem 50. Geburtstag“, in Vierte Internationale (Januar-Februar 1951), S. 28-9.

10A. J. Mayer, Wilson vs. Lenin (1964), S. 301.

11H.H. Fisher, „Soviet Policies in Asia“, in: The Annals of the American Academy of Political and Social Science (Mai 1949), S. 190.

12„Über die Losung für die Vereinigten Staaten von Europa“ (1915), in Gesammelte Werke, Band 21 (Moskau: Progress, 1964), S. 342.

13Dies fand seinen Ausdruck in dem von den Matrosen, Soldaten und Arbeitern von Kronstadt angenommenen Programm: 1) Unverzügliche Neuwahlen der Sowjets. Die derzeitigen Räte entsprechen nicht mehr den Wünschen der Arbeiter und Bauern. Die Neuwahlen sollten in geheimer Abstimmung erfolgen, und ihnen sollte eine freie Wahlpropaganda vorausgehen. 2) Rede- und Pressefreiheit für die Arbeiter und Bauern, für die Anarchisten und für die linken sozialistischen Parteien. 3) Das Versammlungsrecht und die Freiheit der gewerkschaftlichen/syndikalistischen und bäuerlichen Organisationen. 4) Die Einberufung einer Konferenz der überparteilichen Arbeiter, Soldaten und Matrosen von Petrograd, Kronstadt und dem Bezirk Petrograd spätestens am 10. März 1921. 5) Die Befreiung aller politischen Gefangenen der sozialistischen Parteien und aller inhaftierten Arbeiter, Bauern, Soldaten und Matrosen, die den Organisationen der Arbeiterklasse und der Bauern angehören. 6) Die Wahl einer Kommission, die die Dossiers aller in den Gefängnissen und Konzentrationslagern Inhaftierten prüft. 7) Die Abschaffung aller politischen Sektionen in den Streitkräften. Keine politische Partei sollte Privilegien für die Verbreitung ihrer Ideen haben oder zu diesem Zweck staatliche Subventionen erhalten. Anstelle der politischen Sektionen sind verschiedene kulturelle Gruppen zu bilden, die vom Staat finanziert werden. 8) Die sofortige Abschaffung der zwischen Stadt und Land aufgestellten Milizkommandos. 9) Die Angleichung der Rationen für alle Arbeiter, mit Ausnahme derer, die gefährliche oder gesundheitsschädliche Arbeiten verrichten. 10) Die Abschaffung der Parteikampfabteilungen in allen militärischen Gruppen. Die Abschaffung der Parteiwachen in Fabriken und Betrieben. Wenn Wachen erforderlich sind, sollten sie unter Berücksichtigung der Ansichten der Arbeiter ernannt werden. 11) Die Gewährung der Handlungsfreiheit für die Bauern auf ihrem eigenen Boden und das Recht, Vieh zu besitzen, vorausgesetzt, dass sie sich selbst darum kümmern und keine angeheuerten Arbeiter beschäftigen. 12) Wir fordern, dass sich alle Militäreinheiten und Offiziersanwärtergruppen dieser Resolution anschließen. 13) Wir fordern, dass die Presse diese Resolution in angemessener Weise bekannt macht. 14) Wir fordern, dass die handwerkliche Produktion unter der Voraussetzung genehmigt wird, dass sie keine Lohnarbeit einsetzt. Zitiert von Ida Mett, The Kronstadt Commune (London: Solidarity, 1967), S. 6-7. Für eine detaillierte Geschichte des Kronstädter Aufstandes siehe Paul Avrich, Kronstadt 1921 (Princeton: Princeton University Press, 1970).

14In Izvestiya. Journal of Kronstadt’s Temporary Revolutionary Committee, 12. März 1921; zitiert in The Truth about Kronstadt (Prag, 1921).

15A. Kollontai, Die Arbeiteropposition (1921).

16Dictatorship vs. Democracy, S. 149.

17Artikel für Sotsialistichesky Viestnik; englische Fassung in Proletarian Outlook 6:3 (1940).

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Nationalismus und Sozialismus, Paul Mattick 1959 https://panopticon.blackblogs.org/2022/08/04/nationalismus-und-sozialismus-paul-mattick-1959/ Thu, 04 Aug 2022 06:02:34 +0000 https://panopticon.noblogs.org/?p=2866 Continue reading ]]> Gefunden auf marxists.org, die Übersetzung ist von uns. Abgesehen dass dieser Text aus der Zeit in dem er geschrieben wurde verstanden werden soll, stellt er weiterhin die richtigen Fragen die sich alle Revolutionäre die alle kapitalistischen Staaten zerstören stellen sollten. Ein weiterer Beitrag, wenn auch sehr alt, zur Textreihe Kritik und Auseinandersetzung mit dem Nationalismus und dem Krieg in der Ukraine unter anderem.


Nationalismus und Sozialismus, Paul Mattick 1959

Quelle: American Socialist, Bd. 6, Sept. 1959, Nr. 9, S. 16-19;

Anmerkung der Redaktion: Wir sind sicher, dass unsere Leser in dem folgenden Artikel des langjährigen sozialistischen Schriftstellers Paul Mattick, dessen Beiträge bereits im American Socialist erschienen sind, viele wertvolle Einsichten finden werden. Herr Mattick streitet hier mit Nachdruck für die von Rosa Luxemburg und anderen vor dem Ersten Weltkrieg vertretene These der so genannten „nationalen Frage“.

Wir glauben nicht, dass es möglich ist, den Kampf für den Sozialismus von der allgemeinen revolutionären Welle in der unterentwickelten Welt zu trennen, einer Welle, die vom Streben nach nationaler Unabhängigkeit und einem besseren Leben angetrieben wird. Die beiden Strömungen stimmen nicht immer und überall überein, und der Nationalismus versperrt zuweilen den Weg zum Sozialismus. Uns scheint jedoch, dass jeder Versuch, die Komplexität und die Illusionen der lebendigen Geschichte zugunsten eines idealtypischen, ungetrübten sozialistischen Internationalismus zu vermeiden, den Sozialismus notwendigerweise auf kleine Gruppen von Ideologen beschränken würde.

Dennoch ist es wertvoll, an die doktrinären Grundlagen des Sozialismus und an sein nach wie vor leuchtendes Ziel erinnert zu werden: die internationale Brüderlichkeit der Menschen.


NATIONEN, ob sie nun durch Ideologie, durch objektive Bedingungen oder durch die übliche Kombination von beidem „zusammengestrickt“ sind, sind Produkte der gesellschaftlichen Entwicklung. Es ergibt ebensowenig Sinn, den Nationalismus prinzipiell zu schätzen oder zu verdammen, wie den Tribalismus oder einen idealen Kosmopolitismus zu schätzen oder zu verdammen. Die Nation ist eine Tatsache, die man erleidet oder genießt, für die man kämpft oder gegen die man kämpft, je nach den historischen Umständen und den Auswirkungen dieser Umstände auf die verschiedenen Bevölkerungsgruppen und die verschiedenen Klassen innerhalb dieser Bevölkerungsgruppen.

Der moderne Nationalstaat ist sowohl ein Produkt als auch eine Bedingung der kapitalistischen Entwicklung. Der Kapitalismus neigt dazu, Traditionen und nationale Eigenheiten zu zerstören, indem er seine Produktionsweise über die ganze Welt ausbreitet. Doch obwohl die Kapitalproduktion die Weltproduktion beherrscht und der „wahre“ kapitalistische Markt der Weltmarkt ist, entstand der Kapitalismus in einigen Nationen früher als in anderen, fand hier günstigere Bedingungen vor als dort und war an einem Ort erfolgreicher als an einem anderen, und verband so spezielle Kapitalinteressen mit besonderen nationalen Bedürfnissen.

Die „fortschrittlichen Nationen“ des letzten Jahrhunderts waren diejenigen mit einer raschen Kapitalentwicklung; „reaktionäre Nationen“ waren diejenigen, in denen die gesellschaftlichen Verhältnisse die Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise behinderten. Da die „nächste Zukunft“ dem Kapitalismus gehörte und der Kapitalismus die Voraussetzung für den Sozialismus ist, befürworteten nicht-utopische Sozialisten den Kapitalismus gegenüber den älteren gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen und begrüßten den Nationalismus insofern, als er dazu diente, die kapitalistische Entwicklung zu beschleunigen. Obwohl sie dies nur ungern zugeben, waren sie nicht abgeneigt, den kapitalistischen Imperialismus als eine Möglichkeit zu akzeptieren, die Stagnation und Rückständigkeit nicht-kapitalistischer Gebiete von außen zu durchbrechen und so deren Entwicklung in „fortschrittliche“ Bahnen zu lenken. Sie befürworteten auch das Verschwinden kleiner Nationen, die nicht in der Lage waren, große Ökonomien zu entwickeln, und ihre Eingliederung in größere nationale Entitäten, die zur kapitalistischen Entwicklung fähig sind. Sie würden sich jedoch auf die Seite der kleinen „fortschrittlichen Nationen“ gegen die größeren reaktionären Länder stellen und, wenn sie von letzteren unterdrückt würden, die nationalen Befreiungsbewegungen der ehemaligen Länder unterstützen. Zu allen Zeiten und bei allen Gelegenheiten war der Nationalismus jedoch kein sozialistisches Ziel, sondern wurde als bloßes Instrument des sozialen Aufstiegs akzeptiert, der seinerseits im Internationalismus des Sozialismus sein Ende finden würde. Der westliche Kapitalismus war die „kapitalistische Welt“ des letzten Jahrhunderts. Nationale Fragen betrafen die Einigung von Ländern wie Deutschland und Italien, die Befreiung unterdrückter Nationen wie Irland, Polen, Ungarn und Griechenland sowie die Konsolidierung „synthetischer“ Nationen wie der Vereinigten Staaten. Dies war auch die „Welt“ des Sozialismus; eine kleine Welt, wenn man das zwanzigste Jahrhundert betrachtet. Während die nationalen Fragen, die die sozialistische Bewegung in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bewegten, entweder gelöst waren oder sich im Prozess der Lösung befanden und in jedem Fall aufgehört hatten, für den westlichen Sozialismus von wirklicher Bedeutung zu sein, eröffnete die weltweite revolutionäre Bewegung des zwanzigsten Jahrhunderts die Frage des Nationalismus von neuem. Ist dieser neue Nationalismus, der die westliche Vorherrschaft abschafft und kapitalistische Produktionsverhältnisse und moderne Industrie in bisher unterentwickelten Gebieten einführt, noch eine „fortschrittliche“ Kraft wie der Nationalismus von einst? Decken sich diese nationalen Bestrebungen in irgendeiner Weise mit denen des Sozialismus? Beschleunigen sie das Ende des Kapitalismus, indem sie den westlichen Imperialismus schwächen, oder hauchen sie dem Kapitalismus neues Leben ein, indem sie seine Produktionsweise auf den gesamten Globus ausdehnen?

Die Position des Sozialismus des 19. Jahrhunderts in der Frage des Nationalismus beinhaltete mehr als die Bevorzugung des Kapitalismus gegenüber statischeren Gesellschaftssystemen. Die Sozialisten agierten innerhalb bourgeois-demokratischer Revolutionen, die auch nationalistisch waren; sie unterstützten die nationalen Befreiungsbewegungen der Unterdrückten, weil sie versprachen, bourgeois-demokratische Züge anzunehmen, denn in den Augen der Sozialisten waren diese national-bourgeois-demokratischen Revolutionen keine rein kapitalistischen Revolutionen mehr. Sie könnten, wenn nicht für die Errichtung des Sozialismus selbst, so doch für die Förderung des Wachstums der sozialistischen Bewegungen und für die Schaffung günstigerer Bedingungen für diese genutzt werden.

Um die Jahrhundertwende war jedoch nicht der Nationalismus, sondern der Imperialismus das große Thema. Die „nationalen“ Interessen Deutschlands waren nun imperialistische Interessen, die mit den Imperialismen anderer Länder konkurrierten. Frankreichs „nationale“ Interessen waren die des französischen Imperiums, so wie die Großbritanniens die des britischen Imperiums waren. Die Kontrolle über die Welt und die Aufteilung dieser Kontrolle zwischen den großen imperialistischen Mächten bestimmt die „nationale“ Politik. Die „nationalen“ Kriege waren imperialistische Kriege, die in weltweiten Kriegen gipfelten.

Es ist oft darauf hingewiesen worden, dass die russische Situation zu Beginn des 20. Jahrhunderts in vielerlei Hinsicht dem revolutionären Zustand Westeuropas in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ähnelte. Die positive Haltung der Frühsozialisten gegenüber den national-bourgeoisen Revolutionen beruhte auf der Hoffnung, wenn nicht gar der Überzeugung, dass das proletarische Element in diesen Revolutionen über die begrenzten Ziele der Bourgeoisie hinausgehen könnte. Nach Lenins Ansicht war die russische Bourgeoisie nicht mehr in der Lage, ihre eigene demokratische Revolution durchzuführen, und daher war die Arbeiterklasse dazu bestimmt, die „bourgeoise“ und die „proletarische“ Revolution in einer Reihe von sozialen Veränderungen herbeizuführen, die eine „Revolution in Permanenz“ darstellten. In gewisser Weise schien die neue Situation eine Wiederholung der revolutionären Situation von 1848 zu sein, allerdings in größerem Ausmaß. Anstelle der früheren begrenzten und zeitlich begrenzten Bündnisse von bourgeois-demokratischen Bewegungen mit dem proletarischen Internationalismus gab es nun ein weltweites Amalgam von revolutionären Kräften sowohl sozialer als auch nationalistischer Art, die über ihre begrenzten Ziele hinaus auf proletarische Ziele hinarbeiten konnten.

Der konsequente internationale Sozialismus, wie er beispielsweise von Rosa Luxemburg vertreten wurde, wandte sich gegen die bolschewistische „nationale Selbstbestimmung“. Für sie änderte die Existenz unabhängiger nationaler Regierungen nichts an der Tatsache, dass diese von den imperialistischen Mächten durch deren Kontrolle der Weltwirtschaft beherrscht wurden. Der imperialistische Kapitalismus könne durch die Schaffung neuer Nationen weder bekämpft noch geschwächt werden, sondern nur dadurch, dass dem kapitalistischen Supra-Nationalismus ein proletarischer Internationalismus entgegengesetzt werde. Natürlich kann der proletarische Internationalismus Bewegungen zur nationalen Befreiung von imperialistischer Herrschaft nicht verhindern und hat auch keinen Grund dazu. Diese Bewegungen sind Teil der kapitalistischen Gesellschaft, genauso wie der Imperialismus. Aber diese nationalen Bewegungen für sozialistische Zwecke zu „nutzen“, könnte nur bedeuten, ihnen ihren nationalistischen Charakter zu nehmen und sie in sozialistische, international ausgerichtete Bewegungen zu verwandeln.

Aus dem Ersten Weltkrieg ging die Russische Revolution hervor, die, was auch immer ihre ursprünglichen Absichten waren, eine nationale Revolution war und blieb. Obwohl sie Hilfe aus dem Ausland erwartete, gewährte sie niemals fremden revolutionären Kräften Hilfe, es sei denn, diese Hilfe war von den nationalen Interessen Russlands diktiert. Der Zweite Weltkrieg und seine Folgen brachten die Unabhängigkeit Indiens und Pakistans, die chinesische Revolution, die Befreiung Südostasiens und die Selbstbestimmung einiger Nationen in Afrika und im Nahen Osten. Auf den ersten Blick widerspricht diese „Renaissance“ des Nationalismus sowohl den Positionen Rosa Luxemburgs als auch Lenins zur „nationalen Frage“. Offensichtlich ist die Zeit der nationalen Emanzipation noch nicht zu Ende, und offensichtlich dient die steigende Flut des Antiimperialismus nicht den weltrevolutionären sozialistischen Zielen.

Tatsächlich deutet dieser neue Nationalismus auf einige strukturelle Veränderungen in der kapitalistischen Weltwirtschaft und das Ende des Kolonialismus des 19. Jahrhunderts hin. Die „Last des weißen Mannes“ ist zu einer tatsächlichen Last statt zu einem Segen geworden. Die Erträge aus der Kolonialherrschaft schwinden, während die Kosten des Imperiums steigen. Zwar bereichern sich Einzelpersonen, Unternehmen und sogar Regierungen immer noch an der kolonialen Ausbeutung. Dies ist jedoch eher auf besondere Bedingungen zurückzuführen – die Kontrolle konzentrierter Ölvorkommen, die Entdeckung großer Uranvorkommen usw. – als auf die allgemeine Fähigkeit, in Kolonien und anderen abhängigen Ländern profitabel zu wirtschaften. Die ehemals außergewöhnlichen Profitraten sinken nun auf den „normalen“ Wert. Wo sie außergewöhnlich bleiben, ist dies in den meisten Fällen auf eine versteckte Form der staatlichen Subventionierung zurückzuführen. Im Allgemeinen zahlt sich der Kolonialismus nicht mehr aus, so dass es zum Teil das Prinzip der Rentabilität selbst ist, das eine neue Herangehensweise an die imperialistische Herrschaft erforderlich macht.

Zwei Weltkriege haben die alten imperialistischen Mächte mehr oder weniger vernichtet. Aber das ist nicht das Ende des Imperialismus, der, auch wenn er neue Formen und Ausdrucksweisen entwickelt, immer noch die ökonomische und politische Kontrolle der schwächeren durch die stärkeren Nationen bedeutet. Der indirekte Imperialismus scheint vielversprechender zu sein als der Kolonialismus des neunzehnten Jahrhunderts oder seine verspätete Wiederbelebung in der Satellitenpolitik Russlands. Natürlich schließt das eine das andere nicht aus, etwa wenn reale oder imaginäre strategische Erwägungen eine tatsächliche Besetzung erfordern, wie die Kontrolle der USA über Okinawa und die britische Militärherrschaft auf Zypern. Aber im Allgemeinen kann die indirekte Kontrolle der direkten Kontrolle überlegen sein, so wie sich das System der Lohnarbeit der Sklavenarbeit als überlegen erwiesen hat. Abgesehen von der westlichen Hemisphäre war Amerika keine imperialistische Macht im traditionellen Sinne. Selbst hier erlangte es die Vorteile der imperialen Kontrolle eher durch „Dollar-Diplomatie“ als durch direkte militärische Intervention. Als stärkste kapitalistische Macht kann Amerika durchaus erwarten, die nicht-sowjetischen Regionen der Welt in ähnlicher Weise zu beherrschen.

KEINE der europäischen Nationen ist tatsächlich in der Lage, die vollständige Auflösung ihrer imperialen Herrschaft zu verhindern, außer mit Amerikas Hilfe. Aber diese Hilfe unterwirft diese Nationen wie auch ihre ausländischen Besitzungen der amerikanischen Durchdringung und Kontrolle. Als „Erben“ dessen, was vom untergehenden Imperialismus übrig geblieben ist, haben die Vereinigten Staaten keine dringende Notwendigkeit, zur Verteidigung des westeuropäischen Imperialismus zu eilen, es sei denn, eine solche Verteidigung vereitelt den östlichen Machtblock. Der „Antikolonialismus“ ist keine amerikanische Politik, die absichtlich darauf abzielt, die westlichen Verbündeten zu schwächen – auch wenn dies tatsächlich der Fall ist -, sondern er wird in dem Glauben betrieben, dass er die „freie Welt“ stärken wird. Diese umfassende Sichtweise schließt freilich zahlreiche engere Sonderinteressen ein, die dem amerikanischen „Antiimperialismus“ seinen heuchlerischen Charakter verleihen und zu der Überzeugung führen, dass Amerika, indem es sich dem Imperialismus anderer Nationen widersetzt, lediglich seinen eigenen fördert. Deutschland, Italien und Japan sind ihrer imperialistischen Potentiale beraubt und haben keine unabhängige Politik mehr. Der fortschreitende Niedergang des französischen und des britischen Imperiums degradiert diese Nationen zu zweitrangigen Mächten. Gleichzeitig können die nationalen Bestrebungen der weniger entwickelten und schwächeren Länder nur dann verwirklicht werden, wenn sie in die Machtpläne der dominierenden imperialistischen Nationen passen. Obwohl sich Russland und die USA die Weltherrschaft vorerst teilen, versuchen die schwächeren Nationen dennoch, ihre spezifischen Interessen durchzusetzen und die Politik der Supermächte bis zu einem gewissen Grad zu beeinflussen. Die Feindschaften und internationalen Widersprüche der beiden großen Rivalen gewähren auch neu entstehenden Nationen wie China und Indien ein gewisses Maß an Unabhängigkeit, das sie sonst nicht hätten. Unter dem Deckmantel der „Neutralität“ ist es einer kleinen Nation wie beispielsweise Jugoslawien sogar gestattet, sich von einem Machtblock zu lösen und zum anderen zurückzukehren. Die unabhängigen, aber schwächeren Länder können ihre Unabhängigkeit – so wie sie ist – nur wegen des größeren Konflikts zwischen Russland und den Vereinigten Staaten behaupten.

DIE Erosion des westlichen Imperialismus, so heißt es, schafft ein Machtvakuum in bisher kontrollierten Gebieten der Welt. Wenn das Vakuum nicht vom Westen gefüllt wird, wird es von Russland gefüllt. Natürlich verstehen weder die Vertreter des „neuen Nationalismus“ noch die des „alten Imperialismus“ diese Art von Gerede; da der erstere den letzteren verdrängt, entsteht kein Vakuum. Was also mit „Vakuum“ gemeint ist, ist, dass die „nationale Selbstbestimmung“ der unterentwickelten Länder sie für interne und externe „kommunistische Aggressionen“ offen lässt, es sei denn, der Westen garantiert ihre „Unabhängigkeit“. Mit anderen Worten: Nationale Selbstbestimmung beinhaltet nicht die freie Wahl der Verbündeten, auch wenn sie – zuweilen – die Bevorzugung westlicher „Schutzmächte“ beinhaltet. Die „Unabhängigkeit“ Tunesiens und Marokkos beispielsweise ist in Ordnung, solange die Unabhängigkeit von Frankreich nicht die Loyalität gegenüber Russland, sondern die Loyalität gegenüber dem von den USA dominierten westlichen Machtblock bedeutet.

Soweit sie sich in der Zwei-Mächte-Welt noch durchsetzen kann, ist die nationale Selbstbestimmung ein Ausdruck des „Kalten Krieges“, des politisch-militärischen Pattes. Die Entwicklungstendenz deutet aber nicht auf eine Welt mit vielen Nationen hin, die alle unabhängig und sicher sind, sondern auf die weitere Desintegration der schwächeren Nationen, d.h. auf ihre „Integration“ in den einen oder anderen Machtblock. Natürlich ermöglicht der Kampf um nationale Emanzipation im Rahmen imperialistischer Rivalitäten einigen Ländern, die Machtkonkurrenz zwischen Ost und West auszunutzen. Aber gerade diese Tatsache weist auf die Grenzen ihrer nationalen Bestrebungen hin, denn entweder eine Einigung oder ein Krieg zwischen Ost und West würde ihre Fähigkeit beenden, zwischen den beiden Machtzentren zu manövrieren. Unterdessen ist Russland, das nicht zögert, jeden Versuch einer echten nationalen Selbstbestimmung in den Ländern unter seiner direkten Kontrolle zu zerstören, bereit, die nationale Selbstbestimmung überall dort zu unterstützen, wo sie sich gegen die westliche Vorherrschaft richtet. Ebenso zögert Amerika, das Selbstbestimmung für Russlands Satelliten fordert, nicht, im Nahen Osten zu praktizieren, was es in Osteuropa verabscheut. Trotz nationaler Revolution und Selbstbestimmung ist die Zeit der nationalen Emanzipation praktisch vorbei. Diese Nationen mögen ihre neu gewonnene Unabhängigkeit behalten, doch ihre formale Unabhängigkeit entbindet sie nicht von der ökonomischen und politischen Herrschaft des Westens. Sie können dieser Oberherrschaft nur entkommen, indem sie die Russlands – innerhalb des östlichen Machtblocks – akzeptieren.

NATIONALE Revolutionen in kapitalistisch zurückgebliebenen Ländern sind Versuche der Modernisierung durch Industrialisierung, unabhängig davon, ob sie lediglich die Opposition gegen das ausländische Kapital zum Ausdruck bringen oder entschlossen sind, die bestehenden sozialen Beziehungen zu verändern. Aber während der Nationalismus des neunzehnten Jahrhunderts ein Instrument der Entwicklung des Privatkapitals war, ist der Nationalismus des zwanzigsten Jahrhunderts vor allem ein Instrument der staatskapitalistischen Entwicklung. Und während der Nationalismus des letzten Jahrhunderts den freien Weltmarkt und das Maß an ökonomischer Interdependenz, das durch die Bildung von Privatkapital möglich war, ausweitete, stört der heutige Nationalismus einen bereits zerfallenden Weltmarkt noch weiter und zerstört das Maß an „automatischer“ internationaler Integration, das der Mechanismus des freien Marktes bietet.

Hinter den nationalistischen Bestrebungen steht natürlich der Druck der Armut, der mit der zunehmenden Diskrepanz zwischen armen und reichen Nationen immer explosiver wird. Die internationale Arbeitsteilung, die durch die private Kapitalbildung bestimmt wird, impliziert die Ausbeutung der ärmeren durch die reicheren Länder und die Konzentration des Kapitals in den fortgeschrittenen kapitalistischen Nationen. Der neue Nationalismus wendet sich gegen die vom Markt bestimmte Konzentration des Kapitals, um die weitere Industrialisierung der unterentwickelten Länder zu gewährleisten. Unter den gegenwärtigen Bedingungen jedoch verstärkt die national organisierte Kapitalproduktion ihre Desorganisation im weltweiten Maßstab. Privates Unternehmertum und staatliche Kontrolle wirken jetzt gleichzeitig in jedem kapitalistischen Land und auch in der Welt insgesamt. Nebeneinander gibt es also die rücksichtsloseste allgemeine Konkurrenz, die Unterordnung der privaten unter die nationale Konkurrenz, die rücksichtsloseste nationale Konkurrenz und die Unterordnung der nationalen Konkurrenz unter die supra-nationalen Anforderungen der Machtblockpolitik.

Hinter den gegenwärtigen nationalen Bestrebungen und imperialistischen Rivalitäten verbirgt sich die tatsächliche Notwendigkeit einer weltweiten Organisation der Produktion und Verteilung zum Nutzen der gesamten Menschheit. Erstens, wie der Geologe K. F. Mather hervorgehoben hat, weil „die Erde viel besser für die Besetzung durch Menschen geeignet ist, die weltweit organisiert sind und ein Maximum an Möglichkeiten für den freien Austausch von Rohstoffen und Fertigprodukten in der ganzen Welt haben, als durch Menschen, die darauf bestehen, Barrieren zwischen Regionen zu errichten, selbst wenn sie so umfassend sind wie eine große Nation oder ein ganzer Kontinent.“ Zweitens, weil die soziale Produktion nur durch internationale Zusammenarbeit ohne Rücksicht auf partikulare nationale Interessen voll entwickelt werden kann und die menschliche Gesellschaft von Not und Elend befreien kann. Die zwingende gegenseitige Abhängigkeit, die eine weitere fortschreitende industrielle Entwicklung mit sich bringt, wird, wenn sie nicht akzeptiert und für menschliche Zwecke genutzt wird, zu einem nie endenden Kampf zwischen den Nationen und um imperialistische Kontrolle führen.

Die Unfähigkeit, auf internationaler Ebene das zu erreichen, was auf nationaler Ebene erreicht wurde oder im Begriff ist, erreicht zu werden – die teilweise oder vollständige Ausschaltung der Kapitalkonkurrenz -, erlaubt die Fortsetzung der Klassenantagonismen in allen Ländern trotz der Ausschaltung oder Einschränkung der privaten Kapitalbildung. Andersherum ausgedrückt: Weil die Verstaatlichung des Kapitals die Klassenverhältnisse intakt lässt, gibt es keine Möglichkeit, der internationalen Konkurrenz zu entkommen. So wie die Kontrolle über die Produktionsmittel die Aufrechterhaltung der Klassenspaltung gewährleistet, so gilt dies auch für die Kontrolle über den Nationalstaat, was die Kontrolle über seine Produktionsmittel einschließt. Die Verteidigung der Nation und ihrer wachsenden Stärke wird zur Verteidigung und Reproduktion neuer herrschender Gruppen. Die „Liebe zum sozialistischen Vaterland“ in den kommunistischen Ländern, der Wunsch nach einem „Anteil am Land“, wie er sich in der Existenz „sozialistischer“ Regierungen in den Wohlfahrtsstaaten zeigt, sowie die nationale Selbstbestimmung in den bisher beherrschten Ländern bedeuten die Existenz und den Aufstieg neuer herrschender Klassen, die an die Existenz des Nationalstaates gebunden sind.

WÄHREND eine positive Einstellung zum Nationalismus einen Mangel an Interesse am Sozialismus verrät, ist die sozialistische Position zum Nationalismus in Ländern, die um ihre nationale Existenz kämpfen, sowie in Ländern, die andere Nationen unterdrücken, offensichtlich unwirksam. Eine konsequente antinationalistische Position scheint, wenn auch nur notgedrungen, den Imperialismus zu unterstützen. Der Imperialismus funktioniert jedoch aus seinen eigenen Gründen, ganz unabhängig von sozialistischen Einstellungen zum Nationalismus. Darüber hinaus sind Sozialisten nicht erforderlich, um Kämpfe für nationale Autonomie in Gang zu setzen, wie die verschiedenen „Befreiungs“-Bewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg gezeigt haben. Entgegen früheren Erwartungen konnte der Nationalismus weder für sozialistische Ziele genutzt werden, noch war er eine erfolgreiche Strategie, um den Untergang des Kapitalismus zu beschleunigen. Im Gegenteil: Der Nationalismus zerstörte den Sozialismus, indem er ihn für nationalistische Ziele nutzte.

Es ist nicht die Aufgabe des Sozialismus, den Nationalismus zu unterstützen, auch wenn dieser gegen den Imperialismus kämpft. Aber den Imperialismus zu bekämpfen, ohne gleichzeitig den Nationalismus zu entmutigen, bedeutet, einige Imperialisten zu bekämpfen und andere zu unterstützen, denn der Nationalismus ist notwendigerweise imperialistisch – oder illusorisch. Den arabischen Nationalismus zu unterstützen bedeutet, den jüdischen Nationalismus zu bekämpfen, und den letzteren zu unterstützen bedeutet, den ersteren zu bekämpfen, denn es ist nicht möglich, den Nationalismus zu unterstützen, ohne auch nationale Rivalitäten, Imperialismus und Krieg zu unterstützen. Ein guter indischer Nationalist zu sein bedeutet, Pakistan zu bekämpfen; ein echter Pakistaner zu sein bedeutet, Indien zu verachten. Diese beiden neu „befreiten“ Nationen bereiten sich darauf vor, um umstrittene Gebiete zu kämpfen und ihre Entwicklung der doppelten Verzerrung der kapitalistischen Kriegsökonomie zu unterwerfen.

Und so geht es weiter: Die „Befreiung“ Zyperns von der britischen Herrschaft eröffnet nur einen neuen Kampf um Zypern zwischen Griechen und Türken und hebt die westliche Kontrolle weder von der Türkei noch von Griechenland auf. Die „Befreiung“ Polens von der russischen Herrschaft kann durchaus zu einem Krieg mit Deutschland um die „Befreiung“ der deutschen Provinzen führen, die jetzt von Polen beherrscht werden, und dies wiederum zu neuen polnischen Kämpfen um die „Befreiung“ der an Deutschland verlorenen Gebiete. Eine wirkliche nationale Unabhängigkeit der Tschechoslowakei würde zweifellos den Kampf um das Sudetenland neu entfachen, und dies wiederum den Kampf um die Unabhängigkeit der Tschechoslowakei und vielleicht auch um die der Slowaken von den Tschechen. Für wen soll man Partei ergreifen? Mit den Algeriern gegen die Franzosen? Mit den Juden? Mit den Arabern? Mit beiden? Wohin sollen die Juden gehen, um Platz für die Araber zu schaffen? Was sollen die arabischen Flüchtlinge tun, um den Juden nicht länger lästig zu sein? Was soll mit einer Million französischer „Colons“1 geschehen, denen nach der Befreiung Algeriens die Enteignung und Vertreibung droht? Solche Fragen können für jeden Teil der Welt gestellt werden und werden in der Regel von Juden mit Juden, Arabern mit Arabern, Algeriern mit Algeriern, Franzosen mit Franzosen, Polen mit Polen usw. beantwortet werden – und so werden sie unbeantwortet und unbeantwortbar bleiben. So utopisch das Streben nach internationaler Solidarität in diesem Durcheinander nationaler und imperialistischer Antagonismen auch erscheinen mag, so scheint es doch keinen anderen Weg zu geben, um geschwisterlichen Kämpfen zu entkommen und eine vernünftige Weltgesellschaft zu erreichen.

Obwohl die Sozialisten mit den Unterdrückten sympathisieren, beziehen sie sich nicht auf den aufkommenden Nationalismus, sondern auf die besondere Notlage doppelt unterdrückter Menschen, die sich sowohl einer einheimischen als auch einer ausländischen herrschenden Klasse gegenübersehen. Ihre nationalen Bestrebungen sind zum Teil „sozialistische“ Bestrebungen, da sie die illusorische Hoffnung der verarmten Bevölkerungen beinhalten, dass sie ihre Bedingungen durch nationale Unabhängigkeit verbessern können. Doch die nationale Selbstbestimmung hat die arbeitenden Klassen in den fortgeschrittenen Nationen nicht emanzipiert. Sie wird dies auch jetzt in Asien und Afrika nicht tun. Nationale Revolutionen, wie z.B. in Algerien, versprechen für die unteren Klassen wenig, außer dass sie sich unter gleicheren Bedingungen nationalen Vorurteilen hingeben. Zweifellos bedeutet dies etwas für die Algerier, die unter einem besonders arroganten Kolonialsystem gelitten haben. Aber die möglichen Ergebnisse der algerischen Unabhängigkeit lassen sich von denen in Tunesien und Marokko ableiten, wo die bestehenden sozialen Beziehungen nicht verändert wurden und sich die Bedingungen der ausgebeuteten Klassen nicht wesentlich verbessert haben.

Wenn der Sozialismus nicht nur eine Fata Morgana ist, wird er als internationale Bewegung wieder auferstehen – oder gar nicht. Auf jeden Fall müssen diejenigen, die an der Wiedergeburt des Sozialismus interessiert sind, aufgrund der bisherigen Erfahrungen vor allem seinen Internationalismus betonen. Ein Sozialist kann zwar unmöglich Nationalist werden, aber er ist dennoch Antikolonialist und Antiimperialist. Sein Kampf gegen den Kolonialismus impliziert jedoch nicht das Festhalten am Prinzip der nationalen Selbstbestimmung, sondern ist Ausdruck seines Wunsches nach einer ausbeutungsfreien, internationalen sozialistischen Gesellschaft. Sozialisten können sich zwar nicht mit nationalen Kämpfen identifizieren, aber sie können sich als Sozialisten sowohl dem Nationalismus als auch dem Imperialismus widersetzen. Zum Beispiel ist es nicht die Aufgabe der französischen Sozialisten, für die algerische Unabhängigkeit zu kämpfen, sondern Frankreich in eine sozialistische Gesellschaft zu verwandeln. Und obwohl die Kämpfe zu diesem Zweck zweifellos die Befreiungsbewegung in Algerien und anderswo unterstützen würden, wäre dies ein Nebenprodukt und nicht der Grund für den sozialistischen Kampf gegen den nationalistischen Imperialismus. In der nächsten Phase müsste Algerien „entnationalisiert“ und in eine internationale sozialistische Welt integriert werden.


1A.d.Ü., Kolonisten und Kolonistinnen.

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(Paul Mattick) Reform oder Revolution https://panopticon.blackblogs.org/2022/07/21/paul-mattick-reform-oder-revolution/ Thu, 21 Jul 2022 18:30:29 +0000 https://panopticon.noblogs.org/?p=2844 Continue reading ]]> Einleitung von der Soligruppe für Gefangene,

zu unseren kommenden Text – KEIN ANARCHISTISCHES PROGRAMM, Eine Kritik ananarchistischemIdealismus, Ideologien und Reformismus – setzen wir fort mit der Reihe an Texten, alles Übersetzungen, die sich mit der Thematik des Reformismus auseinandersetzen, dieses Mal aber vor allem das Thema Krieg und die Teilnahme oder nicht-Teilnahme, die Befürwortung oder die Ablehnung im selben. Denn eins sollte nicht vergessen werden, außer der sozialen Revolution, dem Klassenkrieg oder dem sozialen Krieg, sind alle Kriege immer die des Kapitalismus.

Wir fahren also mit einer Übersetzung aus dem Buch von Paul Mattick fort, nämlich Marxism. Last Refuge of the Bourgeoisie?. Letztes Mal veröffentlichten wir den Kapital Nummer Drei, Die Grenzen der Reform, sowie den Kapitel Nummer Acht, Ideologie und Klassenbewusstsein, dieses Mal haben wir uns das Kapital Nummer Zwei aus dem Englischen vorgenommen, Reform oder Revolution. Weiterhin ist unser Wissen nach, dieses Buch noch nicht ins Deutsche übersetzt worden. Wir haben die zufällige Gelegenheit beim Schopf gepackt, da vieles was der gute Paul auf diesen Kapitel schreibt lässt einen über den jetzigen Krieg in der Ukraine über vieles nachdenken.


Marxism. Last Refuge of the Bourgeoisie?

Kapitel Zwei, Reform oder Revolution. Von Paul Mattick

Die politische Revolution der Bourgeoisie war der Höhepunkt eines langwierigen Prozesses sozialer Veränderungen in der Produktionssphäre. Dort, wo die aufsteigende kapitalistische Klasse die vollständige Kontrolle über den Staat erlangte, garantierte dies eine rasche Entfaltung des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit. Der feudalistische Widerstand gegen diese Transformation/Umgestaltung war in den verschiedenen Ländern unterschiedlich stark ausgeprägt. Obwohl der Kapitalismus allgemein auf dem Vormarsch war, war seine Entwicklung sowohl von Gewalt als auch von Kompromissen gekennzeichnet, wobei sich das Neue und das Alte sowohl politisch als auch ökonomisch überlagerten. Die herrschenden Klassen teilten sich in einen reaktionären und einen fortschrittlichen Flügel, wobei letzterer nach politischer Kontrolle durch einen demokratischen kapitalistischen Staat strebte. Die Spaltung zwischen einer gefestigten Autokratie und der liberalen Bourgeoisie spiegelte das ungleiche Tempo der kapitalistischen Entwicklung wider und weitete die internen Unterschiede zwischen Reaktion und Fortschritt auf die Nationen selbst und ihre politischen Institutionen aus.

Die sozialistische Bewegung entstand in einer unvollständigen bourgeoisen Gesellschaft in einer Welt von Nationen, die noch mehr oder weniger im Bann der reaktionären Kräfte der Vergangenheit standen. Diese Situation führte zu einem zweckmäßigen, aber unnatürlichen Bündnis zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Historisch gesehen musste der Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital zunächst als Interessenidentität erscheinen, um die Produktionskräfte freizusetzen, die das Proletariat zu einer eigenständigen sozialen Klasse machen würden. An den bourgeoisen Revolutionen mit eigenen Forderungen teilzunehmen, widersprach nicht dem postulierten „historischen Ziel“ der Arbeiterklasse, sondern war eine unvermeidliche Voraussetzung für ihren zukünftigen Kampf gegen die Bourgeoisie.

Obwohl oft behauptet wurde, dass es die Angst vor dem Proletariat war, die die Bourgeoisie dazu veranlasste, ihren eigenen Kampf gegen die feudale Autokratie einzuschränken, war es vielmehr die Erkenntnis ihrer eigenen, noch begrenzten Macht gegenüber dem reaktionären Feind, die sie von radikalen Maßnahmen zugunsten ihrer eigenen politischen Bestrebungen zurücktreten ließ. Die Bourgeoisie fand zwar Unterstützung in der werktätigen Bevölkerung, war sich aber sicher, dass sie die Unterstützung der reaktionären Kräfte finden würde, sollte sich dies als notwendig erweisen, um die revolutionäre Initiative der Arbeiterklasse zu zerstören. Auf jeden Fall war die Zeit auf der Seite der Bourgeoisie, denn die feudalen Schichten der Gesellschaft passten sich dem Prozess der Kapitalisierung an und integrierten sich in die kapitalistische Produktionsweise. Die Integration der scheinbar unvereinbaren Interessen der konservativen Elemente, die sich weitgehend auf die Landwirtschaft stützten, und der fortschrittlichen demokratischen Kräfte, die das industrielle Kapital vertraten, verwirklichte schließlich die Ziele der gescheiterten bourgeoisen Revolutionen von 1848, die fast alle Nationen Westeuropas erfasst hatten. Das Jahr 1848 hatte Hoffnungen auf eine baldige proletarische Revolution geweckt, vor allem wegen der verheerenden ökonomischen Krisenbedingungen, die die politische Gärung überhaupt erst ausgelöst hatten. Aber die Jahre der Depression gingen vorbei und mit ihnen auch die sozialen Umwälzungen gegen alles, was dem sozialen Wandel im Wege zu stehen schien. Das Kapital akkumulierte sich nicht weniger in Ländern, die von politisch reaktionären Regimen regiert wurden, als in solchen, in denen der Staat die liberale Bourgeoisie begünstigte.

Der moderne Nationalstaat ist eine Schöpfung des Kapitalismus, der die Umwandlung schwacher in lebensfähige Staaten verlangt, um die Produktionsbedingungen zu schaffen, die einen erfolgreichen Wettbewerb auf dem Weltmarkt ermöglichen. Der Nationalismus war damals das Hauptanliegen der revolutionären Bourgeoisie. Die kapitalistische Expansion und die nationale Einigung wurden als komplementäre Prozesse betrachtet, obwohl der Nationalismus in seiner ideologischen Form als eigenständiger Wert angesehen wurde. In dieser Form nahm er überall dort revolutionäre Züge an, wo bestimmte Nationen, wie Irland und Polen, unter Fremdherrschaft geraten waren. Da der Kapitalismus die Bildung von Nationen voraussetzte, befürworteten die Befürworter des ersten notwendigerweise den zweiten, wenn auch nur als weitere Voraussetzung für eine künftige proletarische Revolution, die ihrerseits die nationalen Trennungen der weltweiten Ökonomie beenden sollte. In diesem Sinne traten Marx und Engels für die Bildung von Nationen ein, die stark genug waren, um eine rasche kapitalistische Entwicklung zu gewährleisten.

Natürlich spielte es keine Rolle, ob Marx und Engels die Bildung kapitalistisch lebensfähiger Nationalstaaten befürworteten oder nicht, denn ihr Einfluss auf die tatsächlichen Ereignisse war weniger als minimal. Alles, was sie tun konnten, war, ihre eigenen Gefühle und Präferenzen in Bezug auf die verschiedenen nationalen Kämpfe auszudrücken, die die Kapitalisierung des europäischen Kontinents begleiteten. In diesen Kämpfen konnten die Arbeiter bisher nur Kanonenfutter für Klasseninteressen liefern, die nicht oder nur indirekt ihre eigenen waren, da eine rasche kapitalistische Entwicklung eine Verbesserung ihrer Bedingungen innerhalb ihrer Lohnabhängigkeit versprach. Ihre Beteiligung an den damaligen nationalrevolutionären Umwälzungen und den darauf folgenden nationalen Kriegen war nur im historischen Sinne zu rechtfertigen, denn sie konnten damals nur den spezifischen Klasseninteressen der aufstrebenden und konkurrierenden Bourgeoisie dienen. Doch auch wenn die Geschichte von der Bourgeoisie gemacht wurde, machte es die Tatsache, dass deren Existenz die Existenz und Entwicklung des Proletariats voraussetzte, zwingend erforderlich, diesen Prozess auch vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus zu betrachten und eine Politik zu formulieren, die vermutlich ihre Interessen innerhalb der kapitalistischen Entwicklung fördern würde.

Da die Bildung lebensfähiger Nationalstaaten mit der Absorption weniger lebensfähiger nationaler Einheiten einherging, wurde eine Unterscheidung zwischen Nationen getroffen, die das Potenzial für eine umfassende kapitalistische Entwicklung besaßen, und anderen, die nicht so ausgestattet waren. Friedrich Engels beispielsweise unterschied zwischen Nationen, die dazu bestimmt waren, den Lauf der Geschichte zu beeinflussen, und anderen, die nicht in der Lage waren, eine unabhängige Rolle in der historischen Entwicklung zu spielen1. Seiner Meinung nach war der Nationalismus als solcher keine revolutionäre Kraft, außer indirekt in Situationen, in denen er einer raschen kapitalistischen Entwicklung diente. In der sich entfaltenden kapitalistischen Welt gab es keinen Platz für kleine oder rückständige Nationen. Nationale Bestrebungen konnten also entweder revolutionär oder reaktionär sein, je nachdem, ob sie sich positiv oder negativ auf die wachsenden gesellschaftlichen Produktionskräfte auswirkten. Nur soweit nationale Bewegungen die allgemeine kapitalistische Entwicklung unterstützten, konnten sie als fortschrittlich und damit für die Arbeiterklasse von Interesse angesehen werden, denn der Nationalismus war nur die kapitalistisch widersprüchliche Form einer Entwicklung, die den Weg für die Internationalisierung der Kapitalproduktion und damit auch für den proletarischen Internationalismus bereitete.

Natürlich musste diese allgemeine Auffassung empirisch konkretisiert werden, indem man in den tatsächlichen nationalen Bewegungen und nationalen Kriegen des neunzehnten Jahrhunderts zumindest verbal Partei ergriff. Je nach dem Grad ihrer kapitalistischen Entwicklung oder der klaren Notwendigkeit und dem Wunsch nach einer konkurrenzfähigen Position einer solchen Nation innerhalb der weltweiten Ökonomie bedeutete ihre Verteidigung die Verteidigung der Nation, und sei es nur, um das bereits Erreichte zu sichern. Je fortschrittlicher die Arbeiterklasse sich selbst einschätzte, desto deutlicher identifizierte sie sich mit dem vorherrschenden Nationalismus. Dort, wo die Arbeiter die kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse überhaupt nicht in Frage stellten, wie in England und den Vereinigten Staaten, war ihre Akzeptanz des bourgeoisen Nationalismus mit seinen imperialistischen Implikationen vollkommen. Wo es zumindest eine ideologische Opposition gegen das kapitalistische System gab, wie in der marxistischen Bewegung, wurden nationalistische Gefühle in einer eher heuchlerischen Weise gepriesen, nämlich als Mittel zur Umwandlung der Nation in eine sozialistische Nation, die stark genug war, um einem möglichen Ansturm externer konterrevolutionärer Kräfte standzuhalten. Es wurde nun unterschieden zwischen Nationen, die sich eindeutig auf dem Weg zum Sozialismus befanden, wie die wachsende Macht der sozialistischen Organisationen und ihr zunehmender Einfluss auf die Gesellschaft insgesamt zeigten, und Nationen, die noch völlig unter der Herrschaft ihrer traditionellen herrschenden Klassen standen und hinter der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung auf dem sozialistischen Weg zurückblieben.

Eine bestimmte Nation konnte so zu einer Art „Avantgarde-Nation2“ werden, die durch ihr Beispiel dazu bestimmt war, andere Nationen zu führen. Diese Rolle, die Frankreich in der bourgeoisen Revolution gespielt hatte, wurde nun im Hinblick auf die sozialistische Revolution für Deutschland beansprucht, dank seiner schnellen kapitalistischen Entwicklung, seiner geopolitischen Lage und seiner Arbeiterbewegung, dem Stolz der Zweiten Internationale. Eine Niederlage dieser Nation in einem kapitalistischen Krieg würde nicht nur die Entwicklung Deutschlands und seiner Arbeiterbewegung zurückwerfen, sondern damit auch die Entwicklung des Sozialismus als solchen. Im Namen des Sozialismus setzte sich daher beispielsweise Friedrich Engels für die Verteidigung der deutschen Nation gegen weniger fortgeschrittene Länder wie Russland und sogar gegen fortgeschrittenere kapitalistische Nationen wie Frankreich ein, falls diese sich mit dem potenziellen russischen Gegner verbünden sollten. Und es war August Bebel, der populäre Anführer der deutschen Sozialdemokratie, der seine Bereitschaft bekundete, für das deutsche Vaterland zu kämpfen, wenn dies notwendig sein sollte, um dessen ununterbrochene sozialistische Entwicklung zu sichern.

In einer Welt konkurrierender kapitalistischer Nationen sind die Gewinne einiger Nationen die Verluste anderer, auch wenn alle ihr Kapital mit der Vergrößerung des Weltmarktes vermehren. Der Prozess der Kapitalkonzentration schreitet sowohl international als auch national voran. Da die Konkurrenz zur Monopolisierung führt, wird der theoretisch „freie Weltmarkt“ zu einem teilweise kontrollierten Markt, und die Instrumente zu diesem Zweck – Protektionismus, Kolonialismus, Militarismus und Imperialismus – werden eingesetzt, um nationale Privilegien innerhalb der expandierenden kapitalistischen und weltweiten Ökonomie zu sichern. Monopolisierung und Imperialismus bieten somit ein gewisses Maß an bewusster Einmischung in den Marktmechanismus, wenn auch nur zum Zwecke der nationalen Vergrößerung. Da die bewusste Kontrolle der Ökonomie jedoch auch ein Ziel des Sozialismus ist, wurde die ökonomische Regulierung durch die Monopolisierung des Kapitals und seine imperialistischen Aktivitäten von einigen Sozialisten und Sozialreformern, wie den Fabians in England, als fortschrittlicher Schritt zur Entwicklung einer rationaleren Gesellschaft angesehen.

Da ein relativ ungestörtes Wachstum der Arbeiterorganisationen im aufsteigenden Kapitalismus eine Kapitalakkumulationsrate voraussetzt, die gleichzeitig ausreichende Profite und eine allmähliche Verbesserung der Bedingungen der arbeitenden Klassen ermöglicht, kann die national organisierte Arbeiterbewegung, ob sie nun auf soziale Reformen oder nur auf höhere Löhne aus ist, nicht umhin, die Expansion des nationalen Kapitals zu begünstigen. Ob man es nun zugibt oder nicht, der internationale Kapitalwettbewerb betrifft sowohl die Arbeiterklasse als auch das Kapital. Auch der sozialistische Flügel der Arbeiterbewegung wird sich diesem äußeren Druck nicht entziehen können, um den Kontakt zur Realität nicht zu verlieren und seinen Einfluss auf die Arbeiterklasse aufrechtzuerhalten, ungeachtet aller ideologischen Lippenbekenntnisse zum proletarischen Internationalismus als dem endgültigen, aber fernen Ziel der sozialistischen Bewegung.

Die nationale Aufteilung der kapitalistischen Produktion nationalisiert auch den proletarischen Klassenkampf. Dies ist nicht nur eine Frage der Ideologie, d.h. der unkritischen Übernahme des bourgeoisen Nationalismus durch die Arbeiterklasse, sondern auch eine praktische Notwendigkeit, denn der Klassenkampf wird im Rahmen der nationalen Ökonomie geführt. Da die Einheit der Menschheit ein weit entferntes und vielleicht utopisches Ziel ist, bestimmen der sich historisch entwickelnde Nationalstaat und sein Erfolg in der Konkurrenz um das Kapital das Schicksal seiner Arbeiterbewegung und das der Arbeiterklasse in Bezug auf die Bedingungen ihrer Existenz. Wie alle Ideologien muss auch der Nationalismus, um wirksam zu sein, einen gewissen Bezug zu den realen Bedürfnissen und Möglichkeiten haben, und zwar nicht nur für die direkt mit ihm verbundenen Klasseninteressen, sondern auch für diejenigen, die seiner Herrschaft unterworfen sind.

Einmal etabliert und systematisch aufrechterhalten, verselbständigt sich die Ideologie des Nationalismus wie das Geld und behauptet ihre Macht, ohne die spezifischen materiellen Klasseninteressen offenzulegen, die zu ihrer Entstehung geführt haben. So wie nicht der gesellschaftliche Produktionsprozess, sondern seine fetischistische Erscheinungsform die bewusste Wahrnehmung der kapitalistischen Gesellschaft strukturiert, so erscheint die nationalistische Ideologie, losgelöst von den ihr zugrunde liegenden klassenbestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen, als Teil des falschen Bewusstseins, das die gesamte Gesellschaft beherrscht. Der Nationalismus erscheint nun als ein Wert an sich und als die einzige Form, in der eine Art von „Sozialität/Gesellschaftlichkeit“ in einer ansonsten asozialen und atomisierten Gesellschaft verwirklicht werden kann. Er ist eine abstrakte Form der Sozialität anstelle einer realen Sozialität, aber er zeugt von dem subjektiven Bedürfnis des isolierten Individuums, seine Menschlichkeit als soziales Wesen zu behaupten. Als solche ist sie der ideologische Reflex der kapitalistischen Gesellschaft als einem System der gesellschaftlichen Produktion zum privaten Nutzen, das auf der Ausbeutung einer Klasse durch eine andere beruht. Sie ergänzt oder ersetzt die Religion als kohäsive Kraft der sozialen Existenz, da in diesem Stadium der Entwicklung der sozialen Produktionskräfte keine andere Form des Zusammenhalts möglich ist. Es handelt sich also um ein historisches Phänomen, das so „natürlich“ zu sein scheint wie die kapitalistische Produktion selbst und ihr eine Aura von Sozialität verleiht, die sie in Wirklichkeit nicht besitzt.

Die Zweideutigkeit von Ideologien, einschließlich des Nationalismus, ist sowohl ihre Schwäche als auch ihre Stärke. Um ihre Wirksamkeit auf Dauer zu bewahren, muss die Ideologie unermüdlich gepflegt werden. Die Verinnerlichung des ideologischen Nationalismus kann nicht dem widersprüchlichen Sozialisationsprozess selbst überlassen werden, sondern muss systematisch propagiert werden, um jeden aufkommenden Zweifel an seiner Gültigkeit für die Gesellschaft als Ganzes zu bekämpfen. Da aber die Mittel der Indoktrination zusammen mit denen der Produktion und der unmittelbaren physischen Kontrolle in den Händen der Bourgeoisie liegen, sind die Ideen der herrschenden Klasse die gesellschaftlich herrschenden Ideen und entsprechen in dieser Form dem subjektiven Bedürfnis des Einzelnen nach Integration in eine größere und schützende Gemeinschaft.

Das Kapital operiert international, konzentriert aber seine Profite auf das Inland. Seine Internationalisierung erscheint somit als ein imperialistischer Nationalismus, der auf die Monopolisierung der Quellen des Mehrwerts abzielt. Dies ist zugleich ein politischer und ein ökonomischer Prozess, auch wenn der Zusammenhang zwischen beiden nicht immer klar erkennbar ist, weil die nationalistische Ideologie relativ unabhängig existiert und die ihr zugrunde liegenden spezifisch kapitalistischen Interessen verschleiert. Diese Tarnung funktioniert umso besser, als die gesamte bekannte Geschichte die Geschichte von Plünderungen und Kriegen verschiedener Völker war, die damit beschäftigt waren, die eine oder andere ethnische Gruppe, das eine oder andere Imperium aufzubauen oder zu zerstören. „Nationale“ Sicherheit oder „nationale“ Sicherheit durch Expansion scheint der Stoff zu sein, aus dem die Geschichte ist, ein nie endender „darwinistischer“ Kampf ums Dasein, unabhängig von der historischen Besonderheit der Klassenbeziehungen innerhalb der „nationalen“ Einheiten.

So wie Monopolisierung und Wettbewerb oder Freihandel und Protektionismus Aspekte ein und derselben historischen Entwicklung sind, sind auch Nationalismus und Imperialismus untrennbar miteinander verbunden, auch wenn letzterer verschiedene Formen annehmen kann, von direkter Herrschaft bis zu indirekter ökonomischer und finanzieller Kontrolle. Politisch gesehen erscheint die Kapitalakkumulation als konkurrierende Expansion der Nationen und somit als imperialistischer Kampf um größere Anteile an den ausbeutbaren Ressourcen der Welt, seien sie real oder imaginär. Dieser Prozess, der der kapitalistischen Produktion innewohnt, teilt die Welt in mehr oder weniger erfolgreiche kapitalistische Nationen auf. Der spezifisch kapitalistische imperialistische Imperativ oder sogar die bloße Gelegenheit zur imperialistischen Expansion wurde von einigen Nationen früher als von anderen aufgegriffen, wie z. B. von England und Frankreich im achtzehnten Jahrhundert, und wurde von Nationen wie Deutschland und den Vereinigten Staaten bis zum neunzehnten Jahrhundert verzögert. Einige kleinere Nationen waren überhaupt nicht in der Lage, in den imperialistischen Wettbewerb einzutreten und mussten sich in eine von den großen kapitalistischen Mächten beherrschte Weltstruktur einfügen. Das wechselnde Glück der imperialistischen Nationen in ihrem Kampf um größere Anteile an den weltweiten Profiten zeigt sich ökonomisch in der Konzentration des weltweit wachsenden Kapitals auf eine abnehmende Zahl von Nationen. Dies würde sich schließlich auch aus der Expansion des Kapitals ohne imperialistische Interventionen seitens der konkurrierenden nationalen Kapitale ergeben: Nicht die Konkurrenz bestimmt den Verlauf der kapitalistischen Entwicklung, sondern die kapitalistische Produktion bestimmt den Verlauf der Konkurrenz und die blutige Geschichte des Kapitalismus.

Das Ziel der nationalen Rivalitäten ist die Anhäufung von Kapital, auf dem alle politische und militärische Macht beruht. Die Ideologie des Nationalismus beruht nicht auf der Existenz der Nation, sondern auf der Existenz des Kapitals und dessen Selbstexpansion. In diesem Sinne vermittelt der Nationalismus die Internationalisierung der Kapitalproduktion, ohne zu einer einheitlichen weltweiten Ökonomie zu führen, so wie die Konzentration und Monopolisierung des nationalen Kapitals dessen Charakter als Privateigentum nicht aufhebt. Sowohl die nationale als auch die internationale kapitalistische Produktion schafft die weltweite Ökonomie durch die Schaffung des Weltmarktes. Diesem allgemeinen Wettbewerbsprozess liegt ein tatsächliches, wenn auch noch abstraktes Bedürfnis nach einer weltweiten Organisation von Produktion und Verteilung zum Nutzen der gesamten Menschheit zugrunde. Dies nicht nur, weil die Erde für eine solche Organisation viel besser geeignet ist, sondern auch, weil nur durch eine uneingeschränkte internationale Zusammenarbeit ohne Rücksicht auf partikuläre Interessen die gesellschaftlichen Produktivkräfte weiter entwickelt und die Gesellschaft von Not und Elend befreit werden kann. Die zwingende gegenseitige Abhängigkeit, die eine fortschreitende gesellschaftliche Entwicklung mit sich bringt, setzt sich jedoch kapitalistisch in einem nicht enden wollenden Kampf um imperialistische Kontrolle durch. Um die Jahrhundertwende war nicht der Nationalismus, sondern der Imperialismus das große Thema. Die deutschen „nationalen“ Interessen waren nun imperialistische Interessen, die mit den Imperialismen anderer Nationen konkurrierten. Die französischen „nationalen“ Interessen waren die des französischen Imperiums, so wie die britischen die des britischen Imperiums waren. Die Kontrolle über die Welt und die Aufteilung und Neuaufteilung dieser Kontrolle zwischen den großen imperialistischen Mächten und sogar zwischen weniger bedeutenden Nationen bestimmten die „nationale“ Politik und gipfelten im ersten weltweiten Krieg.

So wie die Krise die grundlegenden Widersprüche der Kapitalproduktion offenbart, offenbart der kapitalistische Krieg den imperialistischen Charakter des Nationalismus. Der Imperialismus stellt sich jedoch als ein nationales Bedürfnis dar, eine Krisensituation in einem Verteidigungskampf gegen die imperialistischen Pläne anderer Nationen zu verhindern oder zu überwinden. Wo es solche Nationen nicht gibt, nimmt der Imperialismus den Anschein einer Maßnahme an, um das Wohlergehen der Nation zu erhalten und gleichzeitig seine „zivilisatorische“ Mission in neue Gebiete zu tragen. Es ist nicht allzu schwierig, die Zustimmung einer mehr oder weniger an die kapitalistischen Verhältnisse gewöhnten und somit unter dem Einfluss des Nationalismus stehenden Arbeiterklasse für jedes imperialistische Abenteuer zu erhalten. Der Zustand der absoluten Abhängigkeit der Arbeiter lässt sie spüren, dass ihr Los auf Gedeih und Verderb untrennbar mit dem der Nation verbunden ist. Da sie noch nicht in der Lage und daher auch nicht willens sind, für irgendeine Art von Selbstbestimmung zu kämpfen, gelingt es ihnen, sich davon zu überzeugen, dass die Belange ihrer Herren auch ihre eigenen sind. Dies umso mehr, als sie sich nur auf diese Weise als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft sehen können und als Bürger des Staates die „Würde“ und „Wertschätzung“ erhalten, die ihnen als Angehörige der Arbeiterklasse verwehrt bleibt.

Es ergibt keinen Sinn, sich über diesen Zustand zu ärgern und die Arbeiterklasse als dumme Klasse abzutun, die nicht in der Lage ist, ihre eigenen Interessen von denen der Bourgeoisie zu unterscheiden. Denn sie teilt lediglich die nationale Ideologie mit dem Rest der Gesellschaft, der sich ebenso wenig bewusst ist, dass der Nationalismus, wie früher die Religion und wie der Glaube an die Wohltaten der Marktbeziehungen, nur ein ideologischer Ausdruck für die Selbstexpansion des Kapitals ist, d.h. für die hilflose Unterwerfung der Gesellschaft unter „ökonomische Gesetze“, die ihren Ursprung in den ausbeuterischen sozialen Beziehungen der kapitalistischen Produktion haben. Zwar profitiert zumindest die herrschende Klasse von dem unsozialen Produktionsprozess der Gesellschaft, aber sie tut dies ebenso blind, wie die Arbeiterklasse ihr Leiden akzeptiert. Aus dieser Blindheit heraus erklärt sich die scheinbar unabhängige Kraft des ideologischen Nationalismus, der sich so über die gesellschaftlichen Klassenverhältnisse hinwegsetzen kann.

Die materialistische Geschichtsauffassung versucht, sowohl das Fortbestehen einer bestimmten Gesellschaftsform als auch die Gründe für ihren möglichen Wandel zu erklären. Die Anhänger des materialistischen Geschichtskonzepts sollten sich nicht über die Widerstandsfähigkeit einer bestimmten Gesellschaft wundern, die sich in ihrer kontinuierlichen Reproduktion und der damit einhergehenden Erneuerung der herrschenden Ideologie zeigt. Veränderungen innerhalb des Status quo können lange Zeit kaum wahrnehmbar oder in ihren zukünftigen Auswirkungen unerkennbar sein. Das Vorhandensein von Klassenwidersprüchen erklärt sowohl die soziale Stabilität als auch die Instabilität, die von Bedingungen abhängt, die weder von den Herrschenden noch von den Beherrschten kontrolliert werden können. Im Unterschied zu vorangegangenen Gesellschaftsformen beschleunigt das Kapital-Arbeits-Verhältnis der gesellschaftlichen Produktion jedoch kontinuierlich die Veränderungen der Produktivkräfte, während die grundlegenden gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse erhalten bleiben, und lässt somit eine baldige Konfrontation der konkurrierenden sozialen Klassen erwarten. Dies war jedenfalls die Schlussfolgerung, die die marxistische Bewegung aus der zunehmenden Polarisierung der kapitalistischen Gesellschaft und aus den inneren Widersprüchen ihres Produktionsprozesses zog. Die Klasseninteressen würden an die Stelle der bourgeoisen Ideologie treten und somit das Klassenbewusstsein der Bourgeoisie dem des Proletariats gegenüberstellen.

Wie bereits erwähnt, waren diese Erwartungen nicht unrealistisch und wurden auch von der Bourgeoisie gehegt, die auf das Aufkommen sozialistischer Bewegungen und die zunehmende Militanz der Lohnkämpfe mit repressiven Maßnahmen reagierte, die ihre Furcht vor der Möglichkeit einer neuen sozialen Revolution verrieten. Das Klassenbewusstsein schien tatsächlich den nationalen Konsens und den Einfluss der bourgeoisen Ideologie auf die arbeitende Bevölkerung zu zerstören. Bis etwa 1880 fand die Theorie von der Verarmung der Arbeiterklasse im Zuge der Kapitalakkumulation und der daraus resultierenden Verschärfung des Klassenkampfes ihre Bestätigung in den realen gesellschaftlichen Verhältnissen und begründete die Radikalisierung der arbeitenden Massen. Dieselbe Periode, die einer lang anhaltenden sozialen Krisensituation glich, legte jedoch auch den Grundstein für eine neue und sich beschleunigende Phase der Kapitalexpansion, die mit gelegentlichen Unterbrechungen fast bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs andauerte. Sie schuf die objektiven Bedingungen für die Legalisierung der organisierten Arbeit und ihre Integration in das kapitalistische System, sowohl in ökonomischer als auch in politischer Hinsicht.

Natürlich war die Akzeptanz der organisierten Arbeiterschaft und der sozialistischen Organisationen kein Geschenk, das der Arbeiterklasse von einer großzügigeren Bourgeoisie aus freien Stücken gemacht wurde, sondern sie war das Ergebnis von – wenn auch begrenzten – Klassenkämpfen, die der Bourgeoisie und ihrem Staat Zugeständnisse abtrotzten, die die materiellen Bedingungen der Arbeiter verbesserten und ihren sozialen Status innerhalb der bourgeoisen Demokratie aufwerteten. Diese Zugeständnisse konnten nicht ohne einen raschen Anstieg der Arbeitsproduktivität und eine damit einhergehende Beschleunigung des Akkumulationsprozesses gemacht werden. Dennoch erschienen sie als Ergebnisse der Selbstanstrengung der werktätigen Bevölkerung, einer im Rahmen des Kapitalismus aufstrebenden Klasse, die der wachsenden Illusion Vorschub leistete, dass die wachsende Macht der organisierten Arbeiterschaft die Arbeiterklasse schließlich zur gesellschaftlich dominierenden Klasse machen und die Bourgeoisie verdrängen würde. In Wirklichkeit bedeuteten die sich verbessernden Bedingungen der Arbeiterklasse nichts anderes als ihre zunehmende Ausbeutung, d.h. die Abnahme des Wertes der Arbeitskraft im Verhältnis zum Gesamtwert des Sozialprodukts. Aber sowohl die Kapitalisten als auch die Arbeiter denken im Alltag nicht in gesellschaftlichen Wertverhältnissen, sondern in der Menge der Produkte, die ihnen für die Zwecke der Kapitalexpansion oder des allgemeinen Konsums zur Verfügung stehen. Die Tatsache, dass die Verbesserung der Bedingungen der Arbeiterklasse aus dem beschleunigten Wachstum ihrer Produktivität resultierte, schmälerte nicht die Bedeutung der Verbesserung ihres Lebensstandards und deren Niederschlag in ihren ideologischen Verpflichtungen.

Enttäuscht von der langsamen Entwicklung des proletarischen Klassenbewusstseins in den führenden kapitalistischen Nationen und beunruhigt von der Fähigkeit der letzteren, ihre Krisensituationen zu überstehen und somit immer größere Höhen der Selbstexpansion zu erreichen, mussten die Sozialisten zugeben, dass die Vorhersagen von Marx über die Verarmung der Arbeiterklasse und die Entwicklung eines revolutionären Klassenbewusstseins als Auswuchs ihres Klassenkampfes durch die tatsächlichen Ereignisse unbegründet schienen. Friedrich Engels beispielsweise versuchte, diesen trostlosen Zustand mit der (später von Lenin nachgeplapperten) Behauptung einer von der Bourgeoisie bewusst geförderten „Korruption“ der Arbeiterklasse zu erklären, die es einem wachsenden Teil des Industrieproletariats ermöglichte, in gewissem Umfang an der Beute des Imperialismus teilzuhaben. Nach dieser Auffassung schwächte eine wachsende „Arbeiteraristokratie“ innerhalb der internationalen Arbeiterklasse die für einen konsequenten Kampf gegen die Bourgeoisie notwendige Klassensolidarität und trug die bourgeoise Ideologie, und hier insbesondere ihren nationalistischen Aspekt, in die Reihen des Proletariats. Der Niedergang des revolutionären Klassenbewusstseins zeigte sich in der stetigen Zunahme eines opportunistischen Reformismus, der auf der Akzeptanz der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und der bourgeoisen Demokratie beruhte.

Auf jeden Fall gab es keine direkte Verbindung zwischen dem ökonomischen Klassenkampf und der Revolutionierung des Arbeiterbewusstseins. Die Erwartung, dass die immer wiederkehrenden Auseinandersetzungen zwischen Arbeit und Kapital um Profite und Löhne zu der Erkenntnis führen würden, dass das Lohnsystem selbst abgeschafft werden muss, um die Sisyphusarbeit der Arbeiter für dieses System zu beenden, wurde enttäuscht, weil dies in diesem Stadium der kapitalistischen Entwicklung einfach nicht möglich war. Solange Gewinne und Löhne gleichzeitig – wenn auch unverhältnismäßig – steigen konnten und die Klassenverteilung des Sozialprodukts durch die soziale Gesetzgebung beeinflusst werden konnte, auch wenn dies ökonomische und politische Kämpfe mit sich brachte, wurde der Charakter dieser Kämpfe durch die begrenzten Forderungen des Teils der arbeitenden Bevölkerung bestimmt, der noch unter der Herrschaft der bourgeoisen Ideologie stand. Obwohl ihre Zahl und ihr gesellschaftlicher Einfluss wuchsen, blieben die Gewerkschaften/Syndikate und die sozialistischen Parteien in der Gesamtbevölkerung und sogar in der Arbeiterklasse insgesamt eine Minderheit.

Nicht nur, dass die Erwartungen an einen möglichen revolutionären Wandel nun in weite Ferne gerückt waren, auch das Wachstum der sozialistischen Bewegung wurde als langfristige, prosaische Erziehungsmaßnahme betrachtet, um die arbeitende Bevölkerung für die Akzeptanz der sozialistischen Ideologie zu gewinnen. Ungeachtet der Kämpfe um Löhne und Sozialreformen, die ihrerseits als Lernprozesse verstanden wurden, wurde der Klassenkampf hauptsächlich als ideologischer Kampf angesehen: Am Ende würden die Menschen den Sozialismus bevorzugen, weil er die sich entwickelnde Realität besser erfassen würde. Man musste nur den Zeitpunkt abwarten, an dem die objektiven Bedingungen selbst die sozialistische Kritik am kapitalistischen System bestätigten und damit die subjektive Unterwerfung des Proletariats unter die herrschende Ideologie beendeten.

Als organisierte Ideologie stellte sich der Sozialismus der vorherrschenden bourgeoisen Ideologie entgegen; der Klassenkampf wurde im Großen und Ganzen zu einem Kampf der Ideen und damit zur Sache der Verfechter von Ideologien. Die Ideologien konkurrierten um die Gunst der Massen, die als Empfänger und nicht als Produzenten der konkurrierenden Ideologien betrachtet wurden. Die Ideologen waren auf der Suche nach einer Anhängerschaft, um ihre Ziele durchzusetzen. Die Arbeiterklasse, die offensichtlich nicht in der Lage war, aus eigener Kraft eine sozialistische Ideologie zu entwickeln, wurde als abhängig von der Existenz einer ideologischen Führung betrachtet, die in der Lage war, die Sophistereien der herrschenden Klasse zu bekämpfen. Aufgrund der gesellschaftlichen Klassenstruktur und der damit verbundenen Arbeitsteilung lag die ideologische Führung in den Händen der Bildungsbourgeoisie, die sich für die Bedürfnisse der Arbeiter und die Ziele des Sozialismus einsetzte.

Die parlamentarischen Erfolge der sozialistischen Parteien, die eine wachsende Zahl von Vertretern der Arbeiterklasse in die politischen Institutionen des Kapitalismus brachten, veranlassten nicht nur eine wachsende Zahl von gebildeten Fachleuten, in die sozialistischen Organisationen einzutreten, sondern verschafften diesen auch ein Maß an Seriosität, das in einem früheren Stadium der sich entwickelnden sozialistischen Bewegung unbekannt war, wie begrenzt sie auch waren. Die Ausbreitung der sozialistischen Ideologie, die den Gewerkschaften/Syndikaten die ökonomischen Kämpfe überließ, wurde nun an der Zahl ihrer Vertreter im Parlament und an ihrer Fähigkeit gemessen, der Nation „die Sache des Sozialismus“ zu präsentieren und die soziale Gesetzgebung zur Verbesserung der Bedingungen der Arbeiterklasse zu initiieren und zu unterstützen. Politische Aktionen wurden nun als parlamentarische Aktivitäten verstanden, die von den Arbeitern durch ihre Vertreter durchgeführt wurden, wobei der „Basis“ nur noch die Rolle der passiven Unterstützung blieb. In relativ kurzer Zeit war die Unterwerfung der Arbeiter unter ihre intellektuellen Vorgesetzten in den Parlamenten und der Parteihierarchie so weit fortgeschritten, dass sich dieses beginnende Klassenbewusstsein in ein politisches Bewusstsein verwandelte, das von dem ihrer gewählten Führung abgeleitet war.

Was zunächst eine Tendenz innerhalb der sozialistischen Bewegung war, nämlich die Ersetzung der proletarischen Selbstbestimmung durch eine nichtproletarische Führung, die im Namen der Arbeiterklasse handelt, wurde später zur Überzeugung und Praxis aller Zweige des Sozialismus, sowohl des reformistischen als auch des revolutionären. Nicht nur die Rechtsrevisionisten, sondern auch der so genannte Zentrist Karl Kautsky und der Linke Lenin waren davon überzeugt, dass die Arbeiterklasse allein nicht in der Lage sei, ein revolutionäres Bewusstsein zu entwickeln, und dass dieses von außen, von Mitgliedern der Bildungsbourgeoisie, an sie herangetragen werden müsse, die allein die Fähigkeit und die Möglichkeit hätten, die Feinheiten des kapitalistischen Systems zu verstehen und somit eine sinnvolle Gegenideologie zur herrschenden kapitalistischen Ideologie zu entwickeln und so den Kampf der Arbeiterklasse zu führen. Natürlich war diese elitäre Vorstellung selbst ein Produkt des rasanten Aufstiegs der Arbeiterbewegung, die immer mehr Elemente aus der Mittelschicht (middle class) in ihre Reihen aufnahm. Ideologisch gesehen war der Sozialismus jedenfalls nicht mehr das ausschließliche Anliegen des erwachenden Proletariats, sondern wurde zu einer sozialen Bewegung, die auch für Angehörige der Mittelschicht (middle class) attraktiv war.

Diese Klasse befand sich in einem Transformationsprozess, gefangen zwischen den Mühlsteinen der Kapitalkonzentration und der sozialen Polarisierung. Die alte Mittelschicht (middle class) verlor ihren Eigentumscharakter und wurde in zunehmendem Maße zu einer Angestelltenklasse im Dienste der Großbourgeoisie und ihres Staatsapparats. Sie wurde zu einer Managerklasse/Verwaltungsklasse, die die Kluft zwischen Bourgeoisie und Proletariat füllte, und in den verschiedenen Berufen zu einer Klasse, die die persönlichen und kulturellen Bedürfnisse der geteilten Gesellschaft bediente. Die Vermittlungsfunktion der neuen Mittelschicht (middle class) zur Unterstützung der bestehenden gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse spiegelt sich in der sozialistischen Bewegung in der Bestimmung ihrer Theorie und Praxis durch ihre intellektuelle Führung wider. Zwar gelang es einigen Arbeitern, in ihren Organisationen in führende Positionen aufzusteigen, doch wurde der Ton ihrer Politik, der sich in einer angeblichen Vorherrschaft der Theorie gegenüber der Praxis ausdrückte, von der intellektuell emanzipierten, aus der Mittelschicht (middle class) stammenden Führung bestimmt. Dabei ging es weniger um das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis als vielmehr um das Verhältnis zwischen den Führenden und den Geführten. Die Politik wurde von einer gewählten Führung gemacht und fand ihre parlamentarische und außerparlamentarische Unterstützung in der disziplinierten Befolgung der Programme ihrer Organisationen und ihrer zeitbedingten Variationen durch die Masse der Arbeiter. Die für das kapitalistische System so notwendige Trennung zwischen geistiger und manueller Arbeit war somit auch ein Merkmal der Arbeiterbewegung.

Der rasche Zustrom bourgeoiser Elemente in die Führungspositionen der sozialistischen Bewegung beunruhigte selbst ihre intellektuellen Begründer. Ungeachtet seiner eigenen reformistischen Neigungen war zum Beispiel Friedrich Engels sehr besorgt über die zunehmende Unterwerfung der Selbsttätigkeit der Arbeiterklasse unter die politische Initiative der wohlmeinenden petite bourgeoisie (Kleinbourgeoisie). Sein eigener Reformismus sei schließlich eine bloße Strategie und keine Frage des Prinzips, während der Reformismus der Kleinbourgeoisie dazu neige, den Klassenkampf im Gehorsam gegenüber „den Regeln“ der bourgeoisen Demokratie gänzlich zu eliminieren. „Seit der Gründung der Internationale“, schreibt er an August Bebel, „lautet unser Schlachtruf: Die Emanzipation der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiter selbst sein. Wir können einfach nicht mit Leuten zusammenarbeiten, die offen erklären, dass die Arbeiter nicht genügend gebildet sind, um sich selbst zu befreien, und deshalb von einer philanthropischen Bourgeoisie von oben befreit werden müssen“3 Er schlug vor, diese Elemente aus den sozialistischen Organisationen herauszuwerfen, um ihren proletarischen Charakter zu wahren.

Die Arbeiter selbst zeigten sich jedoch unbeeindruckt, wenn nicht gar geschmeichelt von der Aufmerksamkeit, die ihnen von einigen der „besseren Leute“ zuteil wurde. Außerdem spürten sie das Bedürfnis nach Verbündeten in ihrem eher ungleichen Klassenkampf.

Aber in jedem Fall ging der revolutionäre Charakter des Sozialismus nicht wegen der von seiner nichtproletarischen Führung entwickelten klassenkollaborationistischen Ideen verloren, sondern weil die „Strategie“ des Reformismus als einzig mögliche praktische Tätigkeit zum Prinzip der Organisationen bei ihren Versuchen wurde, ihren Einfluss innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft zu festigen und zu vergrößern. Die deutsche Sozialdemokratie z.B. hatte 1913 fast eine Million Mitglieder und konnte bei nationalen Wahlen 4,5 Millionen Stimmen auf sich verbuchen. Sie schickte 110 Abgeordnete in den Reichstag. Die Gewerkschaften/Syndikate zählten rund 2,5 Millionen Mitglieder und verfügten über ein Finanzvermögen von 88 Millionen Mark. Die Sozialdemokratische Partei selbst investierte 20 Millionen Mark in die Privatindustrie und in Staatsdarlehen. Sie beschäftigte mehr als 4.000 Berufsfunktionäre und 11.000 Angestellte und kontrollierte 94 Zeitungen und verschiedene andere Publikationen. Die Partei zu erhalten und ihr ungestörtes weiteres Wachstum zu sichern, war die erste Überlegung derjenigen, die sie kontrollierten, eine Haltung, die in den rein proletarischen Gewerkschaften/Syndikate noch stärker ausgeprägt war.

Es ergibt keinen Sinn, diesen Prozess in anderen Ländern zu beschreiben, auch wenn sich deren Arbeiterbewegungen in der einen oder anderen Hinsicht von denen in Deutschland unterscheiden. Die Sozialdemokratie und die Gewerkschafts-, Syndikatsbewegung entwickelten sich – wenn auch meist langsamer als in Deutschland – in allen entwickelten kapitalistischen Ländern und weckten damit das Gespenst einer sozialistischen Bewegung, die schließlich mit reformistischen oder revolutionären Mitteln oder beidem den Kapitalismus in eine klassenlose, ausbeutungsfreie Gesellschaft verwandeln könnte. In der Zwischenzeit war es dieser Bewegung jedoch erlaubt, ja durch die Umstände sogar gezwungen, sich so gründlich wie möglich in das kapitalistische Gefüge zu integrieren, als eine besondere Interessengruppe unter denjenigen, die zusammen die kapitalistische Marktökonomie bilden. Das Gespenst des Sozialismus, das von der Bourgeoisie benutzt wurde, um die politischen und ökonomischen Bestrebungen der Arbeiterklasse einzugrenzen, blieb eine bloße Erscheinung, die nicht in der Lage war, das Selbstbewusstsein der herrschenden Klassen in Bezug auf ihre materielle oder ideologische Kontrolle der Gesellschaft zu zerstören. Die organisierte Arbeiterbewegung blieb, in welchem Gewand auch immer, eine kleine Minderheit innerhalb der Arbeiterklasse und zeigte damit, dass eine entscheidende Schwächung der bourgeoisen Ideologie den tatsächlichen Zerfall des Kapitalismus voraussetzt. Erst wenn sich die Diskrepanz zwischen Ideologie und Realität in einer anhaltenden Verschlechterung der ökonomischen und sozialen Verhältnisse offenbart, wird der ansonsten recht komfortable ideologische Konsens neuen, den neuen Notwendigkeiten entsprechenden Ideen weichen.

Es besteht auch ein ziemlicher Unterschied zwischen einer Ideologie, die sich auf die Tradition und die tatsächlichen Umstände stützt, und einer Ideologie, die sich auf nicht existierende Bedingungen stützt, mit Bezug auf eine Zukunft, die eine vernünftige Erwartung sein kann oder auch nicht. In dieser Hinsicht ist die sozialistische Ideologie gegenüber der herrschenden kapitalistischen Ideologie im Nachteil. Ein starkes Auftreten der letzteren zum Zwecke der Kriegsführung oder auch aus internen Gründen wird selbst bei einigen ihrer konsequentesten Anhänger ernsthafte Zweifel an der Gültigkeit oder Wirksamkeit der sozialistischen Ideologie hervorrufen. Das aufkommende Gefühl der Unsicherheit, gemischt mit der Angst vor dem Unbekannten, das die Massenhysterie bei Kriegsausbruch erklärt, wird auch die Sozialisten beeinflussen und sie dazu veranlassen, ihre eigenen ideologischen Verpflichtungen erneut zu hinterfragen. Ihre kritische Haltung gegenüber der herrschenden Ideologie, um es noch einmal zu sagen, entbindet sie nicht davon, so zu handeln, als stünden sie unter deren Einfluss, während sich ihre sozialistischen Überzeugungen unter den gegebenen Bedingungen ihrer Existenz nicht verwirklichen lassen. Sie können sich von der scheinbaren Euphorie der aufgewühlten Massen mitreißen lassen und ihre eigenen Zweideutigkeiten im trüben Meer des Nationalismus ertränken, indem sie spontan ihre latenten, aber noch nicht verlorenen Loyalitäten wieder bekräftigen.

Hinzu kommt die objektive Tatsache der nationalen Form des Kapitalismus und damit seiner Arbeiterbewegung, die nicht durch ein rein ideologisches Bekenntnis zum Internationalismus überwunden werden kann, wie es ein loses beratendes Gremium wie die Zweite Internationale leisten kann. Die verschiedenen nationalen Organisationen, aus denen sich diese Institution zusammensetzte, unterschieden sich untereinander hinsichtlich ihrer effektiven Kräfte in ihren jeweiligen Ländern und damit auch hinsichtlich ihrer Möglichkeiten, die nationale Politik zu beeinflussen. Was würde geschehen, wenn es der sozialistischen Bewegung eines Landes gelänge, die Bourgeoisie an der Kriegführung zu hindern, während dies der Bewegung eines anderen Landes nicht gelänge? Auch wenn „der Hauptfeind im eigenen Land steht“, kann ein ausländischer Feind dennoch eine Nation angreifen, die durch ihre sozialistische Opposition wehrlos geworden ist.

Die Erkenntnis, dass der Weg zum Sozialismus in der ungleichen kapitalistischen Entwicklung, die sich auch im ungleichen Klassenbewusstsein der arbeitenden Bevölkerung zeigt, ein Hindernis findet, veranlasste Marx und Engels, in imperialistischen Konflikten das eine oder andere Land zu bevorzugen und sich auf die Seite derjenigen zu stellen, die die größten Aussichten auf eine sozialistische Zukunft haben. Sie konnten sich eine kapitalistische Entwicklung ohne nationale Kriege nicht vorstellen, und sie zögerten nicht, ihre Präferenzen hinsichtlich des Ausgangs dieser Kriege zu äußern. Der Pazifismus ist keine marxistische Tradition. Es war also nicht allzu schwierig, die sozialistische Akzeptanz des Krieges zu rationalisieren und sogar die Namen von Marx und Engels zu ihrer Unterstützung anzuführen.

Ungeachtet der scheinbar allgemeinen Erkenntnis, dass im Zeitalter des Imperialismus alle Kriege Eroberungskriege sind, war es den Sozialisten immer noch möglich zu behaupten, dass sie aus ihrer Sicht auch defensiver Natur sein können, insofern sie die Zerstörung fortschrittlicherer Nationen durch sozial weniger fortgeschrittene Länder verhindern, was einen Rückschlag für den Sozialismus im Allgemeinen bedeuten würde. In der Tat wurde dies für die Mehrheit der Sozialisten in allen kriegführenden Nationen zur fadenscheinigen Rechtfertigung für die Teilnahme am imperialistischen Krieg, wobei jede nationale Organisation ihre eigenen fortschrittlicheren Bedingungen gegen die Rückständigkeit des feindlichen Landes verteidigte. Angeblich war es die Barbarei des russischen autokratischen Gegners, die die Verteidigung einer kultivierten Nation wie Deutschland verlangte, so wie es der barbarische aggressive Militarismus des noch halbfeudalen Deutschlands war, der die Verteidigung demokratischerer Nationen wie England und Frankreich rechtfertigte. Aber solche Rationalisierungen verdeckten lediglich die tatsächliche Unfähigkeit und den Unwillen, sich dem kapitalistischen Krieg auf die einzig wirksame Weise zu widersetzen, nämlich durch revolutionäre Aktionen. Die internationale Arbeiterbewegung war nicht mehr oder noch nicht eine revolutionäre Bewegung, sondern eine, die sich mit sozialen Reformen zufrieden gab und deshalb von einer Bourgeoisie geduldet wurde, die diese Zugeständnisse noch ohne Schaden für sich selbst gewähren konnte. Die Antikriegsresolutionen, die auf den Kongressen der Internationale verabschiedet wurden, waren nicht mehr als ein Pfeifen im Dunkeln und so undurchsichtig formuliert, dass sie praktisch unverbindlich waren.

1909, in der ersten Blüte seiner sozialistischen Bekehrung, schrieb Upton Sinclair ein Manifest, in dem er die Sozialisten und die Arbeiter Europas und der Vereinigten Staaten aufrief, sich der Gefahr des herannahenden Weltkriegs bewusst zu werden und sich zu verpflichten, dieses Unheil durch die Androhung eines Generalstreiks in allen Ländern zu verhindern. Er schickt das Manifest an Karl Kautsky zur Veröffentlichung in der sozialistischen Presse. Hier ist Kautskys Antwort:

„Ihr Manifest gegen den Krieg habe ich mit großem Interesse und herzlicher Sympathie gelesen. Dennoch bin ich nicht in der Lage, es zu veröffentlichen, und Sie werden weder in Deutschland noch in Österreich oder Russland jemanden finden, der es wagen würde, Ihren Aufruf zu veröffentlichen. Er würde sofort verhaftet werden und einige Jahre Gefängnis wegen Hochverrats bekommen…. Mit der Veröffentlichung des Manifests würden wir unsere eigenen Genossen in die Irre führen, ihnen mehr versprechen, als wir erfüllen können. Niemand, auch nicht der revolutionärste unter den Sozialisten in Deutschland, denkt daran, sich dem Krieg durch Insurrektion und Generalstreik zu widersetzen. Wir sind zu schwach, um das zu tun…. Ich hoffe, dass wir nach einem Krieg, nach dem Debakel einer Regierung, stark genug sein werden, um die politische Macht zu erobern…. Das ist nicht nur meine persönliche Meinung, in diesem Punkt ist sich die ganze Partei, ohne Ausnahme, einig…. Sie können sicher sein, dass niemals der Tag kommen wird, an dem die deutschen Sozialisten ihre Anhänger auffordern werden, für das Vaterland zu den Waffen zu greifen. Was Bebel ankündigte, wird nie geschehen, denn heute gibt es keinen Feind, der die Unabhängigkeit des Vaterlandes bedroht. Wenn es heute Krieg geben wird, dann nicht zur Verteidigung des Vaterlandes, sondern zu imperialistischen Zwecken, und ein solcher Krieg wird die gesamte Sozialistische Partei Deutschlands in energischer Opposition finden. Das können wir versprechen. Aber wir können nicht so weit gehen und versprechen, dass diese Opposition die Form der Insurrektion oder des Generalstreiks annehmen wird, wenn es nötig ist, noch können wir versprechen, dass unsere Opposition in jedem Fall stark genug sein wird, um den Krieg zu verhindern. Es wäre schlimmer als nutzlos, mehr zu versprechen, als wir erfüllen können4.“

Während sich Kautskys Pessimismus in Bezug auf die Möglichkeit, den herannahenden Krieg zu verhindern, als richtig erwies, erwies sich seine optimistische Einschätzung der Antikriegsposition der deutschen Arbeiterbewegung als völlig irrig. Im Übrigen war dies keine deutsche Besonderheit, sondern hatte, mit leichten Abwandlungen, in allen kriegführenden Nationen seinen Äquivalent. Natürlich gab es Ausnahmen von der Regel, aber der tatsächliche Ausbruch des Krieges zeigte, dass die großen Mehrheiten innerhalb der organisierten Arbeiterschaft und innerhalb der Arbeiterklasse insgesamt nicht nur bereit waren, den imperialistischen Krieg zu unterstützen, sondern dies sogar mit Begeisterung taten, was Kautsky dazu zwang, sich mit der Tatsache abzufinden, dass „die Internationale ein Instrument des Friedens, aber in Zeiten des Krieges unbrauchbar war.“ So einfach es war, über die Verhinderung eines Krieges zu diskutieren, so schwierig war es, zu handeln, wenn er kam. Der fait acompli (A.d.Ü., vollendete Tatsache) der herrschenden Klassen reichte aus, um Bedingungen zu schaffen, die eine internationale Bewegung über Nacht zerstörten, die jahrzehntelang versucht hatte, den bourgeoisen Nationalismus durch die Entwicklung von proletarischem Klassenbewusstsein und Internationalismus zu überwinden.

In Anlehnung an einen alten Slogan, der sich auf die französische Nation bezog, erklärte Marx einst: „Das Proletariat ist revolutionär oder es ist nichts.“ Im Jahr 1914 war es offensichtlich ein Nichts, da es sich anschickte, sein Leben für die imperialistischen Vorstellungen der Bourgeoisie hinzugeben. Die sozialistische Ideologie erwies sich als nur oberflächlich, unfähig, dem konzertierten Ansturm der gewohnten bourgeoisen Ideologie zu widerstehen, die das nationale mit dem allgemeinen Interesse identifiziert. Die Arbeiterklasse als Ganzes stellte sich den herrschenden Klassen für Kriegszwecke zur Verfügung, während sie in Friedenszeiten ihre Klassenposition akzeptierte. Die kapitalistische Realität wiegt schwerer als die sozialistische Ideologie, die noch keine tatsächliche, sondern nur eine potenzielle gesellschaftliche Kraft darstellt. So schwierig es auch ist, die vereinheitlichende Kraft der bourgeoisen Ideologie und ihren Einfluss auf die breiten Massen zu verstehen, so sehr ändert diese Schwierigkeit selbst nichts an der Kraft der traditionellen Ideologie. Erstaunlich war vielmehr, wie schnell sich die sozialistische Bewegung selbst den Erfordernissen des imperialistischen Krieges unterwarf und damit aufhörte, eine sozialistische Bewegung zu sein. Es war, als ob es überhaupt keine sozialistische Bewegung gegeben hätte, sondern nur eine Scheinbewegung ohne die Absicht, nach ihren Überzeugungen zu handeln.

Der Zusammenbruch der sozialistischen Bewegung und der Zweiten Internationale wurde propagandistisch als „Verrat“ an den Prinzipien und an der Arbeiterklasse dargestellt. Dies ist natürlich ein Rückgriff auf Idealismus und eine Leugnung der materialistischen Geschichtsauffassung. Tatsächlich hatten, wie wir oben festgestellt haben, die Veränderungen, die die Bewegung im Rahmen der allgemeinen kapitalistischen Entwicklung durchlaufen hatte, alle programmatischen Prinzipien längst in die rein ideologische Sphäre verbannt, wo sie jeden Zusammenhang mit dem opportunistischen Verhalten der Bewegung verloren. Der pragmatische Opportunismus der reformistischen Bewegung besaß keine Prinzipien mehr, die er „verraten“ konnte, sondern passte seine Aktivitäten an das an, was im Rahmen des Kapitalismus möglich war. Zweifelsohne waren die auf den internationalen Kongressen und in den einzelnen Ländern geäußerten Antikriegshaltungen echte Überzeugungen und die Sehnsucht nach einem immerwährenden Frieden ein echter Wunsch, und zwar bereits aufgrund der weit verbreiteten Befürchtung, dass der Krieg zur Zerstörung der sozialistischen Bewegung führen würde, da der bourgeoise Staat seine interne Opposition unterdrücken könnte, um den Krieg effektiver zu führen. Nicht gegen den Krieg zu sein, schien eine Möglichkeit zu sein, sich persönlich und organisatorisch abzusichern, aber das allein erklärt noch nicht den Eifer, mit dem die sozialistischen Parteien und Gewerkschaften/Syndikate ihre Dienste für den Krieg und sein erhofftes siegreiches Ende anboten. Dahinter steckte die Tatsache, dass diese Organisationen zu beachtlichen bürokratischen Institutionen geworden waren, die ihre eigenen Interessen im kapitalistischen System und im Nationalstaat verfolgten. Diese Errungenschaft wiederum hatte sowohl den Lebensstil als auch die allgemeine Einstellung derjenigen verändert, die die bürokratischen Positionen innerhalb der Arbeiterorganisationen besetzten. Waren sie einst Proletarier gewesen, die sich ihrer Klasseninteressen bewusst waren, so waren sie es nun nicht mehr, sondern fühlten sich als Angehörige der Mittelschicht (midde class) und änderten ihre Sitten und Gewohnheiten entsprechend. Abgegrenzt von der eigentlichen Arbeiterklasse und einem bequemen Routinismus verfallen, waren sie weder willens noch in der Lage, ihre Anhängerschaft zu ernsthaften Antikriegsaktivitäten zu bewegen. Selbst ihre harmlosen Mahnungen für den Frieden fanden mit der Kriegserklärung ein jähes Ende.

Sicherlich gab es Minderheiten innerhalb der Führung, der Basis und der Arbeiterklasse, die gegen die Kriegshysterie, die die breiten Massen erfasste, immun blieben, aber sie fanden keine Möglichkeit, ihre Standhaftigkeit in bedeutende Aktionen umzusetzen. Als der Krieg Realität wurde, sahen sich selbst die konsequentesten internationalen Sozialisten wie Keir Hardie von der britischen Independent Labour Party gezwungen, zuzugeben, „dass die Jungs, wenn sie erst einmal losgezogen sind, um die Schlachten ihres Landes zu schlagen, nicht durch Uneinigkeit zu Hause entmutigt werden dürfen“5. Da Sozialisten und Nicht-Sozialisten gemeinsam in den gegnerischen Schützengräben standen, schien es nur vernünftig, „die Jungs“ zu unterstützen und sie mit dem Nötigsten für die Kriegsführung zu versorgen. Der Krieg gegen den ausländischen Feind erforderte, kurz gesagt, die Beendigung des Klassenkampfes im Inland.

Der Triumph der Bourgeoisie ist ebenso absolut wie allgemein. Natürlich begann die Minderheit, die an sozialistischen Prinzipien festhielt, sofort, wenn auch nur im Verborgenen, den Widerstand gegen den Krieg zu organisieren und die internationale sozialistische Bewegung neu zu gründen. Aber es dauerte Jahre, bis ihre Bemühungen ein wirksames Echo fanden, zunächst in der Arbeiterklasse und dann in der Bevölkerung insgesamt.


1Die Position von Engels in dieser Frage wurde von dem Leninisten und ukrainischen Nationalisten Roman Rosdolsky in seinem Buch Friedrich Engels und das Problem der „Geschichtslosen Völker“ (Frankfurt: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 4, 1964) leidenschaftlich kritisiert.

2A.d.Ü., oder auch Vorreiternation.

3F. Engels, Briefe an Bebel (1879) (Berlin: Dietz, 1958), S. 41.

4Upton Sinclair, My Lifetime in Letters (Columbia, Mo.: University of Missouri Press, 1960), pp. 75-76.

5W. T. Rodgers and B. Donoughue, The People into Parliament (New York: Viking, 1966), p. 73.

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(Paul Mattick) Kapitel Nr. 8, Ideologie und Klassenbewußtsein https://panopticon.blackblogs.org/2022/07/06/paul-mattick-kapitel-nr-8-ideologie-und-klassenbewustsein/ Wed, 06 Jul 2022 22:24:17 +0000 https://panopticon.noblogs.org/?p=2776 Continue reading ]]> Wir fahren ein weiteres Mal mit dem Buch von Paul Mattick namens Marxism. Last Refuge of the Bourgeoisie? fort, hier handelt es sich um das achte Kapitel, Ideology and Class Consciousness. Zu vielen der Dinge mit denen wir uns beschäftigen finden wir sehr brauchbare Ansätze in Matticks Werk. Wir wollen aber nicht zu viel verraten.

(Paul Mattick) Kapitel Nr. 8, Ideologie und Klassenbewußtsein

Im Rückblick erscheinen alle verlorenen Angelegenheiten als irrationale Bemühungen, während diejenigen, die erfolgreich sind, rational und gerechtfertigt erscheinen. Die Ziele der besiegten revolutionären Minderheit wurden stets als utopisch und damit als nicht zu verteidigen bezeichnet. Der Begriff „utopisch“ bezieht sich jedoch nicht auf objektiv realisierbare Projekte, sondern auf imaginäre Systeme, die eine konkrete materielle Grundlage für ihre Verwirklichung haben können oder auch nicht. Der Versuch, über Arbeiterräte die Kontrolle über die Gesellschaft zu erlangen und die Marktökonomie zu beenden, hatte nichts Utopisches, denn im entwickelten kapitalistischen System ist das industrielle Proletariat der bestimmende Faktor im gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsprozess, der nicht notwendigerweise mit Arbeit als Lohnarbeit verbunden ist. Ob eine Gesellschaft kapitalistisch oder sozialistisch ist, in beiden Fällen ist es die Arbeiterklasse, die ihre Existenz ermöglicht, die Produktion kann ohne Rücksicht auf ihre Wertvermehrung und die Erfordernisse der Kapitalakkumulation betrieben werden. Die Verteilung und Aufteilung der gesellschaftlichen Arbeit hängt nicht von den indirekten Tauschbeziehungen des Marktes ab, sondern kann bewusst durch geeignete neue gesellschaftliche Institutionen unter der offenen und direkten Kontrolle der Produzenten organisiert werden. Der westliche Kapitalismus von 1918 war nicht das notwendige gesellschaftliche Produktionssystem, sondern nur das bestehende, dessen Umsturz es lediglich von seinen kapitalistischen Lasten befreit hätte.

Was fehlte, war nicht die objektive Möglichkeit zur gesellschaftlichen Veränderung, sondern die subjektive Bereitschaft der Mehrheit der Arbeiterklasse, die Chance zum Sturz der herrschenden Klasse und zur Inbesitznahme der Produktionsmittel zu nutzen. Die Arbeiterbewegung hatte sich mit dem sich wandelnden Kapitalismus verändert, allerdings in einer Richtung, die den Marxschen Erwartungen zuwiderlief. Trotz der pseudomarxistischen Ideologie tendierte sie zu der unpolitischen Position, die die Arbeiterbewegungen in den angelsächsischen Ländern kennzeichnet, und zu ihrer positiven Akzeptanz des kapitalistischen Systems. Die Bewegung war sozusagen politisch „neutral“ geworden, indem sie die politischen Entscheidungen den anerkannten politischen Parteien der bourgeoisen Demokratie überließ, zu denen unter anderem die Sozialdemokratische Partei gehörte. Die Arbeiter unterstützten die Partei, die versprach oder anscheinend beabsichtigte, sich um ihre besonderen unmittelbaren Bedürfnisse zu kümmern, die nun alle ihre Bedürfnisse umfassten. Sie hatten nichts gegen die Verstaatlichung der Industrie, wenn dies das Ziel der von ihnen favorisierten Partei war, aber sie hatten auch nichts dagegen, dass dieses Prinzip zugunsten des Privateigentums aufgegeben wurde. Sie überließen solche Entscheidungen einfach ihren gewählten und mehr oder weniger vertrauenswürdigen Anführern, so wie sie auch in den Fabriken die Anweisungen der Manager oder Unternehmer erwarteten. Sie verweigerten sich weiterhin jeder Art von Selbstbestimmung, indem sie die Dinge einfach so beließen, wie sie waren, was ihnen besser erschien als der Aufruhr und die Ungewissheit eines langwierigen Kampfes gegen die traditionellen Autoritäten. Man kann also nicht sagen, dass die Sozialdemokratie die Arbeiterklasse „verraten“ hat; was ihre Anführer „verraten“ haben, war ihre eigene Vergangenheit, da sie nun ein anerkannter Teil des kapitalistischen Establishments geworden waren.

Das Scheitern der deutschen Revolution scheint die Behauptung der Bolschewiki zu bestätigen, dass die Arbeiterklasse, sich selbst überlassen, nicht in der Lage ist, eine sozialistische Revolution durchzuführen, und daher die Führung einer revolutionären Partei benötigt, die bereit ist, diktatorische Macht zu übernehmen. Aber die deutsche Arbeiterklasse hat nicht versucht, eine sozialistische Revolution zu machen, und daher kann ihr Scheitern nicht die Gültigkeit der bolschewistischen Behauptung beweisen. Außerdem gab es eine revolutionäre „Avantgarde“, die versuchte, den rein politischen Charakter der Revolution zu ändern. Obwohl diese revolutionäre Minderheit sich nicht dem bolschewistischen Parteikonzept anschloss, war sie nicht weniger bereit, die Führung zu übernehmen, allerdings als Teil, nicht als Herrscher der Arbeiterklasse. Unter westeuropäischen Bedingungen hing eine sozialistische Revolution eindeutig von der Klasse und nicht von Parteiaktionen ab, denn hier ist es die Arbeiterklasse als Ganzes, die die politische Macht und die Produktionsmittel übernehmen muss. Natürlich ist es richtig – aber das gilt für alle Klassen, für die Bourgeoisie wie für das Proletariat -, dass immer nur ein Teil des Ganzen sich tatsächlich in die gesellschaftlichen Angelegenheiten einmischt, während ein anderer Teil untätig bleibt. Aber in jedem Fall ist es der aktive Teil, der für den Ausgang des Klassenkampfes entscheidend ist. Es geht also nicht darum, dass die gesamte Arbeiterklasse buchstäblich am revolutionären Prozess teilnimmt, sondern um eine Masse, die ausreicht, um sich mit den von der Bourgeoisie mobilisierten Kräften zu messen. Diese relative Masse ist nicht schnell genug angewachsen, um die wachsende Macht der Konterrevolution auszugleichen.

Die ganze konterrevolutionäre Strategie bestand darin, ein mögliches Anwachsen der revolutionären Minderheit zu verhindern. Der große Ansturm auf die Nationalversammlung als politisches Ziel der Sozialdemokratie wurde gleichzeitig von der Befürchtung diktiert, dass ein längeres Bestehen der Arbeiterräte zu deren Radikalisierung in Richtung der revolutionären Minderheit führen könnte. Mit der Demobilisierung der Armee würde die politische Vielfalt der Soldatenräte verschwinden, und die Zusammensetzung der Räte, die nun ausschließlich in den Fabriken angesiedelt waren, könnte einen konsequent revolutionären Charakter annehmen. Dass diese Befürchtung unberechtigt war, zeigten die Ergebnisse der Wahlen zur Nationalversammlung, bei denen die Mehrheits-Sozialisten 37,9 Prozent der Gesamtstimmen erhielten, während die radikaleren Unabhängigen Sozialisten nur 7,6 Prozent erhielten. Die Sozialdemokratie hatte trotz oder vielleicht gerade wegen ihres antirevolutionären Programms noch immer das Vertrauen der Masse der Arbeiterklasse. Dennoch blieb die Befürchtung bestehen, dass der Sieg der bourgeoisen Demokratie nicht der letzte Akt der Revolution sein könnte. Mit dem revolutionären Russland im Hintergrund blieb ein neuer revolutionärer Aufschwung möglich – eine Situation, die die systematische Vernichtung der revolutionären Kräfte erforderte, die sich weigerten, die erneute Konsolidierung des kapitalistischen Regimes zu akzeptieren.

Obwohl sie das Ende des Krieges forderte, schloss sich nicht die gesamte Armee der Revolution an. Um einen geordneten Rückzug von der Front zu ermöglichen und einen großen Bürgerkrieg zu vermeiden, akzeptierte die Oberste Heeresleitung jedoch sowohl die Soldatenräte als auch die provisorische sozialdemokratische Regierung. In enger Zusammenarbeit mit dem Oberkommando des Heeres begann die neu eingesetzte Regierung sofort damit, die vertrauenswürdigeren Elemente der sich auflösenden Armee auszuwählen und in freiwilligen Formationen (Freikorps) zu organisieren, um die revolutionäre Minderheit herauszufordern, zu entwaffnen und zu vernichten. Unter dem Kommando des sozialdemokratischen Militaristen Gustav Noske gelang es diesen Streitkräften stückweise, die bewaffneten Revolutionäre überall dort auszuschalten, wo sie versuchten, die Revolution über die Grenzen der bourgeoisen Demokratie hinauszutreiben. Der Zugriff auf den weißen Terror störte die Selbstzufriedenheit der sozialdemokratischen Massen etwas mehr als die revolutionäre Agitation der Kommunisten. Dieser Vertrauensverlust in die sozialdemokratische Führung kam den Kommunisten jedoch nicht zugute, sondern vergrößerte lediglich die Reihen der gespaltenen oppositionellen Unabhängigen Sozialisten. Zwischen den Wahlen zur Nationalversammlung im Januar 1919 und der Reichstagswahl im Juni 1920 sanken die Stimmen für die Mehrheits-Sozialisten von 37,9 Prozent auf 21,6 Prozent, während die der Unabhängigen Sozialisten von 7,6 Prozent auf 18 Prozent stiegen.

So wie die Sozialdemokratische Partei die Rätebewegung nutzte, um ihren eigenen politischen Einfluss zu erhalten, so hatte sie auch nichts gegen die vom Zweiten Kongress der Arbeiterräte geforderte Verstaatlichung der Großindustrie einzuwenden. Diese sollte von der Nationalversammlung aufgegriffen werden, die freilich keine Garantie dafür bot, dass die Forderung auch beachtet wurde. Aber dieses scheinbare Bekenntnis zur Verwirklichung eines Verstaatlichungsprogramms – als Synonym für Sozialisierung – erlaubte es der Provisorischen Regierung, ihren konterrevolutionären Kurs mit dem Versprechen zu tarnen, den Sozialisierungsprozess mit friedlichen, legalen Mitteln voranzutreiben, im Gegensatz zu den kommunistischen Bestrebungen, ihn auf dem Weg des Bürgerkriegs zu erreichen. Solange der weiße Terror herrschte, geschah dies nur, weil „der Sozialismus auf dem Vormarsch“ war und kein anderes Hindernis als den „bolschewistischen Anarchismus“ vorfand. Wo diese Verheißung ernst genommen wurde, wie etwa von den Arbeiter- und Soldatenräten im Ruhrgebiet, die einen ersten Schritt zur Vergesellschaftung machten, indem sie die Kontrolle über Industrien und Bergwerke übernahmen, in der Erwartung, dass die Regierung ihre Maßnahmen vollenden und bestätigen würde, wurde ihre eigenständige Initiative schnell mit militärischen Mitteln unterbunden. Das sozialdemokratische Konzept der Verstaatlichung beinhaltete jedenfalls keine proletarische Selbstbestimmung, sondern lediglich und bestenfalls die Übernahme von Industrien durch den Staat. Nur in diesem Sinne – also im bolschewistischen Sinne – war die Verstaatlichung überhaupt diskutabel und wurde bald zusammen mit dem ordnungsgemäß eingerichteten parlamentarischen Ausschuss für Sozialisierung als Diskussionsgegenstand verworfen.

Die Novemberrevolution selbst war somit ihr einziges Ergebnis. Abgesehen vom Sturz der Monarchie, einigen Änderungen im Wahlverfahren, dem Achtstundentag und der Umwandlung der Fabrikräte in unpolitische Vertrauensleuteausschüsse unter gewerkschaftlicher/syndikalistischer Schirmherrschaft blieb die liberale kapitalistische Ökonomie unangetastet und der Staat blieb ein bourgeoiser Staat. Alles, was die Revolution erreicht hatte, waren einige magere Reformen, die in jedem Fall im Rahmen der „normalen“ Entwicklung des Kapitalismus hätten erreicht werden können. In den Augen der reformistischen Sozialdemokraten war der gesellschaftliche Wandel stets ein rein evolutionärer Prozess kleiner progressiver Verbesserungen, die schließlich in ein quantitativ anderes Gesellschaftssystem münden würden. Sie sahen sich 1914 und 1918 nicht als „Konterrevolutionäre“ oder „Verräter“ der Arbeiterklasse, sondern im Gegenteil als deren wahre Vertreter, die sich sowohl um die unmittelbaren Bedürfnisse der Arbeiter als auch um ihre endgültige soziale Emanzipation kümmerten. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn auch die Kapitalisten sehen sich häufig als Wohltäter der Arbeiterklasse. Mit weitaus mehr Berechtigung konnte sich die sozialdemokratische Führung vorstellen, dass ihre Eingriffe in den revolutionären Prozess für die Arbeiterklasse am Ende vorteilhafter sein würden als ein radikaler Umsturz aller bestehenden Verhältnisse mit der damit einhergehenden Unterbrechung der routinemäßig notwendigen sozialen und produktiven Funktionen. Der Gradualismus schien die einzige Garantie dafür zu sein, dass die soziale Umgestaltung mit den geringsten Kosten an menschlichem Elend und natürlich mit dem geringsten Risiko für die sozialdemokratische Führung vonstatten gehen konnte. Darüber hinaus bot die politische Revolution zumindest theoretisch die Möglichkeit, den Prozess der sozialen Reform zu beschleunigen, indem die Gegensätze zwischen Arbeit und Kapital durch einen demokratischeren Staat und eine demokratischere Regierung überbrückt wurden.

Der Klassenkonflikt ließe sich nach dieser Auffassung durch staatlich veranlasste Zugeständnisse an die Arbeiterklasse auf Kosten der Bourgeoisie kontinuierlich abmildern. Eine Ausweitung der politischen Demokratie auf den ökonomischen Bereich und eine „Mitbestimmung“ über den gesellschaftlichen Produktions- und Verteilungsprozess seien möglich. Es bedürfe nicht der Diktatur einer Klasse, sei es der Bourgeoisie oder des Proletariats. Die während des Krieges praktizierte Klassenkollaboration könnte fortgesetzt werden, nun aber zu friedlichen Zwecken und zum Nutzen der gesamten Gesellschaft. Man stellte sich einen Zustand vor, wie er einige Jahrzehnte später mit dem „Wohlfahrtsstaat“ und der „sozialen Marktwirtschaft“ eintrat, in dem alle Konflikte geschlichtet statt ausgefochten wurden und ein für alle vorteilhafter sozialer Frieden hergestellt werden konnte. Die Zuversicht der Vorkriegszeit in die ökonomische Lebensfähigkeit des kapitalistischen Systems war noch lebendig: Die Rückschläge des Krieges konnten durch eine steigende Produktion überwunden werden, ungehindert von zeitraubenden und dislozierenden sozialen Experimenten. Ein bankrotter Kapitalismus wurde nicht als geeignete Grundlage für den Sozialismus angesehen; letzterer würde nach wie vor ein Problem der Zukunft sein, wenn die Ökonomie wieder in voller Blüte steht. Wenn einige Arbeiter dies nicht so sahen, sollte ihre Dummheit nicht dazu führen, dass dem Rest der Gesellschaft die Möglichkeit genommen wird, sich aus den vom Krieg hinterlassenen Trümmern zu befreien und ihre unmittelbaren Bedürfnisse in Form von Brot und Butter zu befriedigen.

Die Reformisten hatten keine Prinzipien zu „verraten“. Sie blieben, was sie immer gewesen waren, aber sie waren nun verpflichtet, in erster Linie das System zu bewahren, in dem ihre liebgewonnene Praxis fortbestehen konnte. Die Revolution musste auf eine bloße Reform reduziert werden, um ihre tiefsten Überzeugungen zu befriedigen und ganz nebenbei ihre politische Existenz zu sichern. Erstaunlich war nur die große Zahl der sozialistischen Arbeiter, für die die Reformen zumindest ideologisch nur eine Zwischenetappe auf dem Weg zur sozialen Revolution sein sollten. Nun, da sich die Gelegenheit bot, ihre „historische Mission“ zu verwirklichen, nutzten sie sie nicht und zogen stattdessen den „einfachen Weg“ der Sozialreform und die Liquidierung der Revolution vor. Auch dies ist keine Bestätigung der These von Kautsky-Lenin, dass die Arbeiterklasse nicht in der Lage ist, ihr Klassenbewusstsein über die bloße Gewerkschafts- Syndikatsarbeit hinaus zu erhöhen, denn die deutsche Arbeiterklasse war eine hoch sozialistisch gebildete Arbeiterklasse, die durchaus in der Lage war, eine soziale Revolution zum Sturz des Kapitalismus zu konzipieren. Außerdem war es nicht „revolutionäres Bewusstsein“, das die bourgeoisen Intellektuellen in die Arbeiterklasse hineingetragen hatten, sondern nur ihr eigener Reformismus und Opportunismus, der jedes revolutionäre Bewusstsein in der Arbeiterklasse untergrub. Der marxistische Revisionismus entstand nicht in der Arbeiterklasse, sondern in ihrer Führung, für die Gewerkschafts- Syndikatswesen und Parlamentarismus die ausreichenden Mittel für eine fortschrittliche gesellschaftliche Entwicklung waren. Sie verwandelten lediglich die historisch begrenzte Praxis der Arbeiterbewegung in eine Theorie des Sozialismus und konnten durch die Monopolisierung ihrer Ideologie die Arbeiter in die gleiche Richtung beeinflussen.

Dennoch zeigten sich die Arbeiter nur allzu bereit, die reformistischen Überzeugungen der Anführer zu teilen. Für Lenin war dies Beweis genug für ihre angeborene Unfähigkeit, ein revolutionäres Bewusstsein zu entwickeln, was sie dazu verdammte, der reformistischen Führung zu folgen. Die Lösung bestand also darin, die reformistischen durch revolutionäre Anführer zu ersetzen, die die revolutionären Potenziale der Arbeiterklasse nicht „verraten“ würden. Es war eine Frage der „richtigen Führung“, ein Kampf der Intellektuellen um die Köpfe der Arbeiter, ein Wettbewerb der Ideologien um die Gefolgschaft des Proletariats. Und so wurde der Charakter der Partei als das entscheidende Element des revolutionären Prozesses angesehen, auch wenn diese Partei das Vertrauen der Massen durch ihre intuitive Erkenntnis gewinnen musste, dass sie ihre eigenen Interessen vertrat, die die Massen selbst nicht in der Lage waren, in wirksamen politischen Aktionen zum Ausdruck zu bringen.

Gleichzeitig wurde die Unterscheidung zwischen Klasse und Partei als deren Identität angesehen, da letztere das fehlende politische Bewusstsein des weniger gebildeten Proletariats kompensieren sollte. Im Gegensatz zur Marxschen Theorie, wonach es die materiellen Bedingungen und sozialen Verhältnisse sind, die das Entstehen eines revolutionären Bewusstseins im Proletariat bedingen, hindern nach sozialdemokratischer Auffassung (ob reformistisch oder revolutionär) gerade diese Bedingungen die Arbeiter daran, ihre wahren Klasseninteressen zu erkennen und Mittel und Wege zu ihrer Durchsetzung zu finden. Sie sind zweifellos in der Lage, sich aufzulehnen, aber sie sind nicht in der Lage, ihren Zorn in erfolgreiche revolutionäre Aktionen und sinnvolle soziale Veränderungen umzusetzen. Dazu brauchen sie die Hilfe von Intellektuellen aus der Mittelschicht (A.d.Ü., middle-class), die sich die Sache der Arbeiter zu eigen machen, obwohl oder gerade weil sie nicht an den Entbehrungen der Arbeiterklasse teilhaben, die nach der Marxschen Auffassung die Arbeiter zu Revolutionären machen würden. Diese elitäre Vorstellung impliziert natürlich, dass die Ideen zwar ihren Ursprung in den materiellen gesellschaftlichen Verhältnissen haben, aber dennoch das unersetzliche und beherrschende Element im Prozess der gesellschaftlichen Veränderung sind. Aber als Ideen sind sie das Privileg derjenigen Gruppe in der Gesellschaft, die sich bei der gegebenen Arbeitsteilung um ihre ideologischen Erfordernisse kümmert.

Aber was ist Klassenbewusstsein überhaupt? Soweit es sich lediglich auf die eigene Stellung in der Gesellschaft bezieht, ist es sofort erkennbar: Der Bourgeois weiß, dass er zur herrschenden Klasse gehört; der Arbeiter, dass er zu den Beherrschten gehört; und die gesellschaftlichen Gruppen dazwischen zählen sich zu keiner dieser Grundklassen. Es gibt kein Problem, solange die verschiedenen Klassen ein und derselben Ideologie anhängen, nämlich der Vorstellung, dass diese Klassenverhältnisse natürliche Verhältnisse sind, die als Grundcharakteristikum des Menschseins immer vorherrschen werden. In Wirklichkeit divergieren natürlich die materiellen Interessen der verschiedenen Klassen und führen zu sozialen Reibungen, die mit der gemeinsamen Ideologie in Konflikt geraten. Letztere wird zunehmend als Ideologie der herrschenden Klasse erkannt, die die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse stützt, und wird als Ausdruck des unausweichlichen Schicksals der menschlichen Gesellschaft abgelehnt. Die herrschende Ideologie wird somit zwangsläufig der Ausdehnung des Klassenbewusstseins auf die ideologische Sphäre erliegen. Die Unterschiede der materiellen Interessen werden zu ideologischen Unterschieden und dann zu politischen Theorien, die auf den konkreten sozialen Widersprüchen basieren. Die politischen Theorien mögen aufgrund der Komplexität der sozialen Fragen, um die es geht, recht rudimentär sein, aber sie stellen nichtsdestotrotz einen Übergang vom bloßen Klassenbewusstsein zu der Einsicht dar, dass die sozialen Verhältnisse anders sein könnten als sie sind. Wir befinden uns also auf dem Weg vom bloßen Klassenbewusstsein zu einem revolutionären Klassenbewusstsein, das die herrschende Ideologie als Hochstapelei erkennt und sich mit Mitteln und Wegen zur Veränderung der bestehenden Verhältnisse befasst. Wäre dies nicht der Fall, wäre keine Arbeiterbewegung entstanden und die gesellschaftliche Entwicklung wäre nicht durch Klassenkämpfe gekennzeichnet.

Doch ebenso wie die Präsenz der herrschenden Ideologie nicht ausreicht, um die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse aufrechtzuerhalten, sondern ihrerseits von den materiellen Kräften des Staatsapparats gestützt werden muss, bleibt eine Gegenideologie eben dies, es sei denn, sie kann materielle Kräfte hervorbringen, die stärker sind als die der herrschenden Ideologie. Ist dies nicht der Fall, spielt die Qualität der Gegenideologie, ob sie nun rein intuitiv ist oder auf wissenschaftlichen Überlegungen beruht, keine Rolle, und weder der Intellektuelle noch der Arbeiter können eine Veränderung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse bewirken. Je nach der in der herrschenden Klasse vorherrschenden Mentalität dürfen Revolutionäre ihre Ansichten äußern oder nicht, aber unter welchen Bedingungen auch immer werden sie nicht in der Lage sein, die herrschende Klasse mit ideologischen Mitteln zu vertreiben. In dieser Hinsicht ist die herrschende Klasse im Vorteil, da sie mit den Produktionsmitteln und den staatlichen Kräften die Instrumente für die Aufrechterhaltung und Verbreitung ihrer eigenen Ideologie kontrolliert. Da dieser Zustand bis zum tatsächlichen Umsturz eines gegebenen Gesellschaftssystems anhält, müssen Revolutionen mit unzureichender ideologischer Vorbereitung durchgeführt werden. Kurzum, die Gegenideologie kann nur durch eine Revolution triumphieren, die die Produktionsmittel und die politische Macht in die Hände der Revolutionäre spielt. Bis dahin wird das revolutionäre Klassenbewusstsein immer weniger wirksam sein als die herrschende Ideologie.

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