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Kommentare zur Gesellschaft des Spektakels

Guy Debord

Paris, Februar-April 1988

Wie heikel eure Lage und die Umstände in denen ihr euch befindet auch immer sein mögen,verzweifelt nicht.In Umständen, wo alles zu fürchten gilt, heisst es nichts zu fürchten.Ist man von zahllosen Gefahren umgeben, so heisst es , keine zu fürchten.Ist man gänzlich ohne Mittel, so heisst es, auf alle zu zählen.Ist man überrascht , so heisst es den Feind selber zu überraschen

Sun Tse
Die Kunst des Krieges

I

Diese Kommentare werden mit Gewißheit sogleich fünfzig oder sechzig Personen zur Kenntnis gelangen, nicht wenigen angesichts der Zeiten, in denen wir leben, und bei der Behandlung von so schwerwiegenden Fragen. Aber auch, weil ich in gewissen Kreisen den Ruf eines Kenners genieße. Ebenfalls in Betracht gezogen werden muß, daß von der Elite, die sich dafür interessieren wird, die Hälfte oder annähernd die Hälfte aus Leuten besteht, denen um die Aufrechterhaltung des Systems der spektakulären Herrschaft zu tun ist, und die andere Hälfte aus solchen, die sich hartnäckig um das Gegenteil bemühen. Da ich somit äußerst aufmerksamen und unterschiedlich einflußreichen Lesern Rechnung zu tragen habe, kann ich selbstverständlich nicht in aller Offenheit sprechen. Vor allem muß ich mich in acht nehmen, nicht zu sehr irgendwen zu instruieren.

Das Unglück der Zeiten zwingt mich denn, erneut und auf eine andere Art zu schreiben. Bestimmte Elemente werden bewußt ausgelassen und der Plan recht unklar bleiben müssen. Man wird darin, wie die Unterschrift der Epoche, ein paar Köder ausgelegt finden. Unter der Bedingung, hier und da ein paar Seiten einzufügen, mag der Gesamtsinn erscheinen: so sind recht häufig dem, was Verträge offen festsetzten, Geheimklauseln hinzugefügt worden. Auch kommt es vor, daß chemische Stoffe einen unbekannten Anteil ihrer Eigenschaften erst in Verbindung mit anderen enthüllen. Im übrigen werden in dieser kurzen Abhandlung nur allzuviele Dinge zu finden sein, die zu verstehen leider ein Leichtes ist.

II

1967 habe ich in einem Buch, Die Gesellschaft des Spektakels gezeigt, was das moderne Spektakel bereits im wesentlichen war: die Selbstherrschaft der zu einem Status unverantwortlicher Souveränität gelangten Warenwirtschaft und die Gesamtheit der neuen Regierungstechniken, die mit dieser Herrschaft einhergehen. Da den 68er Unruhen, die sich in verschiedenen Ländern in den darauffolgenden Jahren fortgesetzt haben, nirgends ein Umsturz der herrschenden Gesellschaftsordnung gelungen ist, hat sich das Spektakel, das gleichsam spontan aus dieser hervorspringt, allenthalben weiter verstärkt. Das heißt, es hat sich nach allen Seiten bis zu den äußersten Enden hin ausgebreitet und dabei seine Dichte im Zentrum erhöht. Sogar neue Defensivtechniken hat es erlernt, wie dies gewöhnlich bei angegriffenen Mächten der Fall ist. Als ich mit der Kritik der spektakulären Gesellschaft begann, war, in Anbetracht des Augenblicks, vor allem der revolutionäre Inhalt ins Auge gefallen, den man in dieser Kritik ausmachen konnte, und natürlich wurde dieser als ihr verdrießlichstes Element empfunden. Was die Sache selber anbetrifft, so hat man mich manchmal bezichtigt, sie aus der Luft gegriffen zu haben, stets jedoch, mich bei der Einschätzung der Tiefe und Einheit dieses Spektakels und seiner tatsächlichen Aktion in Maßlosigkeit gefallen zu haben. Ich muß gestehen, daß die anderen, die im nachhinein neue Bücher zum gleichen Thema veröffentlichten, bestens gezeigt haben, das soviel gar nicht hätte gesagt werden brauchen. Sie hatten lediglich das Ganze und seine Bewegung durch ein einzelnes, statisches Detail von der Oberfläche des Phänomens zu ersetzen, wobei es der Originalität eines jeden Autors beliebte, ein verschiedenes und daher umso weniger beunruhigendes auszuwählen. Niemand hat der wissenschaftlichen Bescheidenheit seiner persönlichen Auslegung durch Hinzumengen kühner historischer Urteile Abbruch tun wollen.

Doch hat die Gesellschaft des Spektakels ihren Marsch fortgesetzt. Sie schreitet schnell voran; denn 1967 hatte sie kaum mehr als etwa vierzig Jahre hinter sich, diese aber voll ausgenutzt. Durch ihre eigene Bewegung, die zu studieren sich niemand mehr die Mühe machte, hat sie seitdem mit erstaunlichen Leistungen gezeigt, daß ihre tatsächliche Natur die war, die ich aufgezeigt hatte. Dieser Feststellung kommt freilich nicht nur ein akademischer Wert zu; denn es ist zweifellos unerläßlich, die Einheit und Artikulation dieser handelnden Kraft, die das Spektakel ist, erkannt zu haben, um von da aus suchen zu können, in welche Richtung sie sich hat verlagern können, angesichts dessen, was sie ist. Diese Fragen sind von großem Interesse: unter diesen Bedingungen wird sich zwangsläufig die Folge des Konflikts innerhalb der Gesellschaft abspielen. Das Spektakel ist heute mit Gewißheit stärker als zuvor. Was tut es mit dieser zusätzlichen Stärke? Bis zu welchem, zuvor von ihm nicht erreichten Punkt ist es vorgedrungen? Welches sind, mit einem Wort, zur Zeit seine Operationslinien? Das unbestimmte Gefühl, daß es sich hierbei um eine Art Blitzinvasion handelt, die die Leute dazu zwingt, ein äußerst verschiedenes Leben zu rühren, ist mittlerweile weit verbreitet, wird aber eher wie eine unerklärte Veränderung des Klimas oder eines anderen natürlichen Gleichgewichts empfunden; eine Veränderung angesichts derer die Ignoranz lediglich weiß, daß sie nichts zu sagen hat. Hinzu kommt, daß viele darin eine, im übrigen unvermeidbare, zivilisatorische Invasion sehen und sogar Lust haben, daran teilzunehmen. Wozu genau diese Eroberung dient und welchen Weg sie geht, wollen sie lieber nicht wissen.

Ich werde auf einige, noch wenig bekannte, praktische Konsequenzen zu sprechen kommen, die aus der schnellen Entfaltung des Spektakels während der letzten zwanzig Jahre hervorgehen. Nicht um Polemik ist es mir zu tun, bei keinem Aspekt des Problems. Diese ist nur allzu leicht und allzu unnütz geworden. Noch weniger will ich überzeugen. Auch am Moralisieren ist den vorliegenden Kommentaren nicht gelegen. Sie fassen nicht ins Auge, was wünschenswert oder schlicht vorzuziehen ist. Sie begnügen sich damit zu zeigen, was ist.

III

Nun da niemand mehr ernsthaft Existenz und Macht des Spektakels bezweifeln kann, ließe sich dagegen bezweifeln, ob man im Ernst etwas zu einer Frage hinzufügen kann, über die die Erfahrung ein so drakonisches Urteil gesprochen hat. In ihrer Ausgabe vom 19. September 1987 illustrierte die Tageszeitung Le Monde auf das Trefflichste das Motto »über das, was einmal da ist, wird nicht geredet«, regelrechtes Grundgesetz dieser spektakulären Zeiten, die, wenigstens in dieser Hinsicht, kein Land im Rückstand gelassen haben: »Daß die moderne Gesellschaft eine Gesellschaft des Spektakels ist, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Bald wird es die zu bemerken gelten, die sich nicht bemerkbar machen. Zahllos sind die Bücher, die ein Phänomen beschreiben, das nunmehr alle Industrieländer charakterisiert, ohne die Länder zu verschonen, die der Zeit hinterherlaufen. Spaßeshalber sei hier erwähnt, daß die Bücher, die dieses Phänomen analysieren, in der Regel, um es zu beklagen, ebenfalls dem Spektakel opfern müssen, um bekannt zu werden.« Freilich wird die spektakuläre Kritik des Spektakels, die spät kommt und, zu allem Hohn, noch auf demselben Terrain »bekannt werden« möchte, es zwangsläufig bei Phrasendrescherei oder heuchlerischen Bedauernsbekundungen belassen, ebenso leer wie jene blasierte Weisheit, die in einer Zeitung den Hanswurst spielt.

Die inhaltsleere Diskussion über das Spektakel, das heißt über das, was die Eigner dieser Welt treiben, wird so durch das Spektakel selber organisiert: man legt Nachdruck auf die enormen Mittel des Spektakels, um nichts über deren umfassende Verwendung zu sagen. So wird der Bezeichnung Spektakel oft die des Mediensektors vorgezogen. Damit will man ein einfaches Instrument bezeichnen, eine Art öffentlichen Dienstleistungsbetrieb, der mit unparteiischen »Professionalismus« den neuen Reichtum der Kommunikation aller mittels Mass Media verwaltet, der Kommunikation, die es endlich zur unilateralen Reinheit gebracht hat, in der sich selig die bereits getroffene Entscheidung bewundern läßt. Kommuniziert werden Befehle, und in bestem Einklang damit sind die, die sie gegeben haben, und auch die, die sagen werden, was sie davon halten.

Die Macht des Spektakels, so wesentlich unitär, zwangsläufig zentralisierend und in seinem Geist von Grund auf despotisch, entrüstet sich des öfteren darüber, daß sich unter seiner Herrschaft eine Politik des Spektakels bildet, eine Justiz- und eine Medizin des Spektakels oder weitere, ebenso erstaunliche »Medienauswüchse«. Das Spektakel sei somit weiter nichts als ein Auswuchs des Mediensektors, dessen unbestreitbar gute Natur – dient er doch der Kommunikation – bisweilen zu Auswüchsen neigt. Recht häufig kommt es vor, daß die Herren der Gesellschaft sich von ihren Angestellten in den Medien schlecht bedient wähnen, öfter noch werfen sie dem Plebs der Zuschauer seine Neigung vor, sich rückhaltslos, ja schier bestialisch, den Medienfreuden hinzugeben. So wird, hinter einer potentiell unendlichen Vielfalt sogenannter Mediendivergenzen verborgen, was im Gegenteil das Ergebnis einer mit bemerkenswerter Zähigkeit gewollten spektakulären Konvergenz ist. So wie die Logik der Ware den Vorrang hat vor den verschiedenen, miteinander konkurrierenden Ambitionen der Warenhändler oder so wie die Logik des Krieges stets über die häufigen Modifizierungen der Waffensysteme befiehlt, so steht die strenge Logik des Spektakels allenthalben der bunten Vielfalt der Extravaganzen des Mediensektors vor.

Der bedeutendste Wandel in dem, was sich seit den letzten zwanzig Jahren ereignet hat, besteht eben in der Kontinuität des Spektakels. Diese Bedeutsamkeit rührt nicht von der Perfektionierung seines medientechnischen Instrumentariums her, welches bereits zuvor schon eine sehr hohe Entwicklungsstufe erreicht hatte, sondern liegt schlicht und einfach darin, daß die spektakuläre Macht eine ihren Gesetzen gefügige Generation hat heranziehen können. Die völlig neuen Bedingungen, unter denen diese Generation im großen und ganzen tatsächlich gelebt hat, stellen ein präzises und ausreichendes Resümee dessen dar, was das Spektakel nunmehr verhindert, sowie dessen, was es gestattet.

IV

Auf rein theoretischer Ebene habe ich dem, was ich zuvor formuliert habe, nur ein Detail hinzuzufügen, dieses ist jedoch von beachtlicher Tragweite. 1967 unterschied ich zwischen zwei aufeinanderfolgenden und miteinander rivalisierenden Formen der spektakulären Herrschaft, der konzentrierten und der diffusen. Die eine wie die andere schwebte über der wirklichen Gesellschaft als ihr Ziel und ihre Lüge. Die erste stellte die um eine Führerpersönlichkeit herum zusammengefaßte Ideologie in den Vordergrund und war mit der totalitären Gegenrevolution einhergegangen, der nazistischen wie der stalinistischen. Die andere, die die Lohnabhängigen dazu anhielt, eine Wahl in einer bunten Vielfalt neuer, miteinander rivalisierender Waren zu treffen, stellte jene Amerikanisierung der Welt dar, die in den Ländern, in denen sich die Bedingungen der bürgerlichen Demokratien traditionellen Typus länger zu halten vermocht hatten, in mancher Hinsicht Angst machte, gleichzeitig aber einen großen Reiz ausübte. Eine dritte Form hat sich seitdem gebildet, eine fein abgewogene Kombination der beiden vorangegangenen, beruhend auf dem Sieg derjenigen, die sich als die stärkste erwiesen hatte, der diffusen Form. Es handelt sich um das integrierte Spektakuläre, das heute danach strebt, sich weltweit durchzusetzen.

Die Vormachtstellung, die Rußland und Deutschland bei der Bildung des konzentrierten und die die Vereinigten Staaten bei der des diffusen Spektakulären innegehabt haben, scheint durch das Zusammenspiel einer Reihe von historischen Faktoren Frankreich und Italien im Augenblick der Installation des integrierten Spektakulären zugefallen zu sein: die bedeutende Rolle der stalinistischen Partei und Gewerkschaft im politischen und geistigen Leben, die schwache demokratische Tradition, die lange Monopolisierung der Macht durch eine Regierungspartei, die Notwendigkeit, überraschend aufgetretener revolutionärer Kontestation ein Ende zu bereiten.

Das integrierte Spektakuläre tritt als konzentriert und diffus zugleich auf. Seit dieser fruchtbaren Vereinigung hat es es verstanden, die eine wie die andere Eigenschaft umfassender zu verwenden. Ihr früherer Anwendungsmodus hat sich stark geändert. Betrachten wir den konzentrierten Teil, so ist dessen Führungszentrum nunmehr geheim geworden: nie wieder wird darin ein bekannter Chef oder eine klare Ideologie zu finden sein. Was seinen diffusen Aspekt betrifft, so läßt sich sagen, daß der spektakuläre Einfluß noch nie zuvor die annähernde Totalität aller gesellschaftlich hergestellten Verhaltensweisen und Gegenstände so sehr gekennzeichnet hat. Denn der Sinn des integrierten Spektakulären ist letztlich darin zu finden, daß es sich in die Wirklichkeit integriert hat in dem Maße, wie es davon sprach und sie so rekonstruierte, wie sie davon sprach. Dergestalt, daß die Wirklichkeit ihm nicht mehr als etwas Fremdes gegenübersteht. In seiner konzentrierten Form entging dem Spektakulären der Großteil der peripheren Gesellschaft, in seiner diffusen Form ein geringer Teil und heute gar nichts mehr. Das Spektakel hat sich mit der Wirklichkeit vermischt und sie radioaktiv verseucht. Wie theoretisch leicht vorauszusehen war, hat die praktische Erfahrung der schrankenlosen Erfüllung des Willens der Warenvernunft rasch und ausnahmslos gezeigt, daß das Weltlich-Werden der Fälschung ein Fälschung-Werden der Welt bedeutet hat. Sieht man ab von einem zwar noch bedeutenden, jedoch der steten Verminderung beschiedenen Erbe an Büchern und alten Gebäuden, die, nebenbei bemerkt, immer mehr selektioniert und nach Belieben des Spektakels in Perspektive gesetzt werden, so gibt es in Kultur und Natur nichts mehr, was nicht gemäß den Mitteln und Interessen der modernen Industrie transformiert und verseucht worden wäre. Selbst zur Genetik haben die dominanten Kräfte der Gesellschaft unverwehrten Zugang.

Die Regierung des Spektakels, die nunmehr über alle Mittel zur Fälschung der gesamten Produktion, sowie der gesamten Wahrnehmung verfügt, ist zum absoluten Herrn über die Erinnerung geworden, wie auch zum unkontrollierten Herrn über die Pläne und Vorhaben, die der fernsten Zukunft Form gibt. Allenthalben regiert es allein und vollstreckt seine summarischen Urteile.

Unter solchen Umständen sehen wir, wie mit karnevalesker Heiterkeit urplötzlich ein parodistisches Ende der Arbeitsteilung ausbricht, das umso willkommener ist, als es mit der allgemeinen Bewegung des Verschwindens jeder echten Kompetenz zusammenfällt. Ein Financier wird zum Sänger, ein Rechtsanwalt zum Polizeispitzel, ein Bäcker gibt seine Lieblingsautoren zum Besten und ein Küchenchef philosophiert über die Kochzeiten als Marksteine der Weltgeschichte. Ein jeder kann plötzlich im Spektakel auftauchen, um in aller Öffentlichkeit, manchmal auch, weil er es heimlich tat, einer Tätigkeit zu frönen, die nichts mit der Spezialität gemein hat, durch die er sich ursprünglich einen Namen gemacht hat. Da wo der Besitz eines »Medienstatus« eine unendlich größere Bedeutung gewonnen hat, als der Wert dessen, was zu tun man wirklich imstande war, ist es normal, daß dieser Status leicht übertragbar ist und das Recht verleiht, auf dieselbe Art überall sonst zu glänzen. In den meisten Fällen setzen diese beschleunigten Medienteilchen ihre einfache Laufbahn in satzungsmäßig garantiertem Bewundernswerten fort. Doch kommt es vor, daß die Übergangsphase durch die Medien eine große Anzahl von Unternehmungen deckt, die offiziell voneinander unabhängig sind, insgeheim aber durch diverse AdHoc-Netze miteinander verbunden sind. So daß manchmal die gesellschaftliche Arbeitsteilung, sowie die durchweg vorhersehbare Solidarität ihres Gebrauchs unter völlig neuen Formen wiedererscheinen: so kann man heutzutage zum Beispiel einen Roman veröffentlichen, um einen Mord vorzubereiten. Diese pittoresken Beispiele besagen auch, daß man sich auf niemandem wegen seines Berufs verlassen kann.

Höchstes Bestreben des Spektakels ist jedoch, daß die Geheimagenten zu Revolutionären und die Revolutionäre zu Geheimagenten werden.

V

Die bis zum Stadium des integrierten Spektakulären modernisierte Gesellschaft zeichnet sich durch die kombinierte Wirkung der folgenden fünf Hauptwesenszüge aus: ständige technologische Erneuerung; Fusion von Staat und Wirtschaft; generalisiertes Geheimnis; Fälschung ohne Replik und immerwährende Gegenwart.

Die Bewegung der technologischen Erneuerung währt schon seit langem. Sie ist ein konstituierendes Element der kapitalistischen Gesellschaft, die manchmal Industrie- oder postindustrielle Gesellschaft genannt wird. Seit ihrer letzten Beschleunigung (unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg) verstärkt sie umso besser die spektakuläre Autorität, denn durch sie erfährt ein jeder, daß er der Gesamtheit der Spezialisten mit Leib und Seele ausgeliefert ist, ihren Kalkülen und den stets zufriedenen Urteilen darüber. Die Fusion zwischen Staat und Wirtschaft ist die augenfälligste Entwicklungstendenz dieses Jahrhunderts und zumindest darin ist sie zum Motor ihrer jüngsten ökonomischen Entwicklung geworden. Die offensive und defensive Allianz, die diese beiden Mächte, Staat und Wirtschart, geschlossen haben, hat ihnen, und zwar auf allen Gebieten, die größten gemeinsamen Gewinne gesichert. Von jeder der beiden läßt sich sagen, daß sie die andere in der Gewalt hat. Sie einander gegenüberzustellen, zu unterscheiden, worin sie vernünftig und worin sie unvernünftig sind, ist absurd. Auch hat sich diese Union als äußerst förderlich für die Entwicklung der spektakulären Herrschaft erwiesen, welche seit ihrer Bildung eben nichts anderes war. Die drei letzten Wesenszüge sind die direkten Auswirkungen dieser Herrschaft in ihrem integrierten Stadium.

Das generalisierte Geheimnis steht hinter dem Spektakel, als das entscheidende Komplement zu dem, was es zeigt und, wenn man den Dingen auf den Grund geht, als seine wichtigste Operation.

Die bloße Tatsache, nunmehr ohne Replik zu sein, hat dem Falschen eine neue Qualität verliehen. Mit einem Male ist es das Echte, das fast überall zu existieren aufgehört hat oder sich bestenfalls zu einer nie beweisbaren Hypothese herabgewürdigt sieht. Das Falsche ohne Replik hat der öffentlichen Meinung endgültig den Garaus gemacht. Erst sah diese sich außerstande, sich Gehör zu verschaffen, und sehr rasch dann, sich bloß zu bilden. Selbstverständlich zieht dies bedeutende Folgen in Politik, angewandten Wissenschaften, Justiz und Kunstverstand nach sich. Die Konstruktion einer Gegenwart, in der selbst die Mode stehengeblieben ist – von der Art sich zu kleiden bis hin zu den Sängern -, die die Vergangenheit vergessen will und die nicht mehr den Eindruck erweckt, noch an eine Zukunft zu glauben, diese Konstruktion einer Gegenwart wird durch den unaufhörlichen Rundlauf der Information erreicht, die jeden Augenblick auf eine äußerst kurze Liste von stets denselben Lappalien zurückkommt, welche mit Leidenschaft als wichtige Neuigkeiten ausposaunt werden. Dagegen kommen die wirklich wichtigen Nachrichten über das, was sich wirklich ändert, nur selten und in schnellen Stößen durch. Stets haben sie das Urteil zum Gegenstand, das diese Welt über seine eigene Existenz verhängt zu haben scheint, die Etappen seiner eigenen programmierten Selbstzerstörung.

VI

Als erstes hatte es die spektakuläre Herrschaft darauf abgesehen, die Kenntnis der Geschichte im allgemeinen zu beseitigen, angefangen mit fast allen Informationen und allen vernünftigen Kommentaren zur allerjüngsten Vergangenheit. Eine so flagrante Evidenz bedarf keiner weiteren Erklärung. Das Spektakel organisiert meisterhaft die Ignoranz dessen, was passiert, und unmittelbar darauf das Vergessen von dem, was trotzdem hat ruchbar werden können. Die größte Bedeutung kommt dem zu, was am verborgensten ist. Nichts ist seit zwanzig Jahren so sehr mit kommandierten Lügen überhäuft worden wie die Geschichte des Mais 1968. Und doch sind aus einigen entmystifizierten Studien nützliche Lehren über diese Tage und ihre Ursachen gezogen worden. Diese aber sind Staatsgeheimnis.

Vor zehn Jahren bereits verlieh in Frankreich ein Staatspräsident, seitdem der Vergessenheit anheimgefallen, damals aber auf der Oberfläche des Spektakels schwimmend, naiv der Freude Ausdruck, die er bei dem Gedanken empfand, daß »wir heute in einer Welt ohne Gedächtnis leben, in der, wie auf der Wasseroberfläche, ein Bild unaufhörlich das andere jagt«. Für den, der an der Macht ist und an der Macht zu bleiben versteht, ist dies freilich genehm. Das Ende der Geschichte ist für jeden Machtapparat von heute ein angenehmes Ruhekissen. Es garantiert ihm absolut den Erfolg aller seiner Unternehmungen oder zumindest die Nachricht des Erfolgs.

Eine absolute Macht eliminiert die Geschichte umso radikaler, als ihre Interessen und Verpflichtungen dazu zwingender und vor allem je nachdem ihr bei dieser Beseitigung mehr oder minder große Schwierigkeiten erwachsen sind. Shi-Huang-Ti hat Bücher verbrennen lassen, doch alle hat er nicht verschwinden lassen können. In unserem Jahrhundert hat Stalin die Realisierung eines solchen Unterfangens weiter getrieben. Trotz aller möglichen Komplizenschaften, die er außerhalb der Grenzen seines Reichs hat finden können, blieb seiner Polizei der Zugang zu einer riesigen Zone der Welt untersagt, in der man über seinen Schwindel lachte. Das integrierte Spektakuläre hat es besser gemacht, mit brandneuen Verfahrensweisen und diesmal auf Weltebene operierend. Nun, da die Albernheit sich überall Respekt verschafft, darf darüber nicht mehr gelacht werden. Auf jeden Fall ist es unmöglich geworden, wissen zu lassen, daß man darüber lacht.

Die Domäne der Geschichte war das Erinnerbare, die Gesamtheit der Ereignisse, deren Folgen lange nachwirken würden. Untrennbar davon war sie die Erkenntnis, die überdauern mußte und – wenigstens teilweise helfen würde zu verstehen, was Neues geschehen würde: »ein Besitz von dauerndem Wert«, wie es bei Thukydides heißt. Von daher war Geschichte das Maß echter Neuheit, und wer Neuheit verkauft, dem ist daran gelegen, das Mittel, diese zu messen, beiseite zu schaffen. Wenn das Wichtige sich gesellschaftlich anerkennen läßt als das, was augenblicklich ist und im nächsten Augenblick noch sein wird, anders und gleich und stets ersetzt durch eine weitere augenblickliche Bedeutsamkeit, so kann man genausogut sagen, daß das verwendete Mittel dieser so laut tönenden Unwichtigkeit so etwas wie Ewigkeit garantiert.

Den kostbaren Vorteil, den das Spektakel aus dieser Ächtung der Geschichte gezogen hat, daraus, daß es die ganze jüngere Geschichte zur Klandestinität verurteilt hat und mit Erfolg den gesellschaftlichen Geschichtssinn in weitestem Maße der Vergessenheit hat anheimfallen lassen, dieser Vorteil liegt zuerst darin, daß es seine eigene Geschichte abdeckt: die Bewegung seiner jüngsten Welteroberung. Seine Macht erscheint bereits vertraut, so als sei sie immer schon dagewesen. Alle Usurpatoren haben vergessen machen wollen, daß sie gerade erst an die Macht gekommen sind.

VII

Mit der Zerstörung der Geschichte entrückt das zeitgenössische Ereignis selber augenblicklich in eine fabelhafte Entfernung, zwischen unüberprüfbaren Berichten, unkontrollierten Statistiken, unwahrscheinlichen Erklärungen und unhaltbare Schlußfolgerungen. Auf alle spektakulär vorgebrachten Dummheiten können stets nur Medienleute antworten, mit irgendwelchen ehrfurchtsvollen Berichtigungen oder Vorbehalten. Und selbst damit geizen sie; denn, neben ihrer ausgesprochenen Ignoranz, macht es ihnen ihre berufs- und gefühlsmäßige Solidarität mit der Oberhoheit des Spektakels und der Gesellschaft, die es ausdrückt, zur Pflicht, ja gar zum Vergnügen, nie von dieser Autorität abzuweichen, deren Majestät keine Beleidigung duldet. Vergessen wir nicht, daß jede Medienfigur durch Gehalt und andere Belohnungen und Soldgelder stets einen, mitunter mehrere Herren hat, und um seine Ersetzbarkeit weiß.

Alle Experten sind Experten von Medien und von Staats wegen und beziehen ihre Anerkennung als Experten allein daraus. Jeder Experte dient seinem Herrn; denn alle früheren Möglichkeiten der Unabhängigkeit sind von den Organisationsbedingungen der heutigen Gesellschaft fast gänzlich zunichte gemacht worden. Am besten dient selbstverständlich der Experte, der lügt. Die, die den Experten benötigen, sind aus verschiedenen Beweggründen der Fälscher und der Ignorant. Wo das Individuum von selbst nichts mehr wiedererkennt, da wiegt es der Experte ausdrücklich in Sicherheit. Einst war die Existenz von Experten für etruskische Kunst normal,und sie waren stets kompetent, da es keinen Markt für etruskische Kunst gibt. Eine Epoche jedoch, die es zum Beispiel rentabel findet, eine große Anzahl berühmter Weine chemisch zu verfälschen, wird diese nur verkaufen können, wenn sie Weinspezialisten herangebildet hat, die die Flaschen (1. Unübersetzbares Wortspiel. Das Wort Cave hat eine doppelte Bedeutung: Weinkeller und einfältiges, unwissendes Individuum. {Anm.des Übers.)) dazu bringen, ihre neuen, leichter erkennbaren Aromata zu lieben. Cervantes bemerkt, daß »unter einem schlechten Rock oft ein guter Trinker steckt«. Der Weinkenner hat oft keine Ahnung von den Regeln, die in der Kernindustrie herrschen. Die spektakuläre Herrschaft ist jedoch der Ansicht, daß, wenn sich ein Experte schon in Sachen Atomenergie über ihn lustig gemacht hat, ein anderer dies ebenso gut in Sachen Wein tun kann. So weiß man zum Beispiel, wie sehr ein Experte in Medien-Meteorologie, der Temperaturen oder Niederschläge für die nächsten zwei Tage ankündigt, Rücksichtnahme walten lassen muß, ist er doch verpflichtet, wirtschaftliche, touristische und regionale Gleichgewichte zu einer Zeit aufrecht zu erhalten, da soviele Menschen so oft auf so vielen Straßen zwischen gleichermaßen verödeten Orten hin und herfahren, und so hat er sich denn eher als Entertainer einen Namen zu machen.

Ein anderer Aspekt des Verschwindens jeglichen objektiven historischen Wissens wird bei persönlichen Reputationen jedweder Art deutlich. Diese sind geschmeidig geworden und können nach Belieben korrigiert werden von denen, die die Information in ihrer Gesamtheit kontrollieren: die Information, welche man zusammenträgt und die, davon höchst verschieden, die ausgestrahlt wird. Sie können somit ungehemmt fälschen. Denn eine geschichtliche Evidenz, von der man im Spektakel nichts mehr wissen will, ist keine Evidenz mehr. Wo ein jeder nur noch den Ruf besitzt, der ihm wohlwollend von einem spektakulären Gerichtshof wie eine Gunst zugewiesen wurde, kann die Ungnade auf dem Fuße folgen. Eine anti-spektakuläre Notorietät ist etwas höchst Seltenes geworden. Ich selber gehöre zu den letzten Lebenden, die eine solche besitzen, die nie eine andere besessen haben. Doch auch dies ist äußerst suspekt geworden. Die Gesellschaft hat sich offiziell als spektakulär proklamiert und außerhalb spektakulärer Beziehungen bekannt zu sein, heißt bereits, soviel wie ein Feind der Gesellschaft zu sein.

Es ist erlaubt, jemandes Vergangenheit von Grund auf zu ändern, radikal umzumodeln, sie im Stil der Moskauer Prozesse zu rekreieren, ohne dabei unbedingt auf die Mühen eines Prozesses zurückgreifen zu müssen. Töten kann soviel billiger sein. An falschen, möglicherweise ungeschickten Zeugen – aber sind die Zuschauer, die den Taten dieser falschen Zeugen beiwohnen, überhaupt noch imstande, die Ungeschicktheit herauszuspüren? – sowie gefälschten Dokumenten von stets hervorragender Qualität wird es den Herrschern des integrierten Spektakulären oder ihren Freunden nicht mangeln. So ist es denn unmöglich geworden, von jemandem etwas zu glauben, was man nicht selbst und direkt erfahren hat. Aber im Grunde braucht man sehr oft gar nicht mehr falsche Beschuldigungen gegen jemanden vorzubringen. Von dem Zeitpunkt an, da man den Mechanismus in Händen hält, der die einzige soziale Verifikation steuert, die die volle und universelle Anerkennung genießt, kann man sagen, was man will. Das Spektakel führt seine Beweise, indem es schlicht und einfach im Kreise geht, zum Ausgangspunkt zurückkehrt, sich wiederholt und sich ständig auf dem einzigen Terrain äußert, auf dem nunmehr weilt, was öffentlich behauptet und geglaubt werden kann, denn einzig davon wird jeder Zeuge sein. Die spektakuläre Oberhoheit kann ebenfalls leugnen, was ihr gefällt, einmal, dreimal und dann sagen, daß sie kein Wort mehr darüber verlieren will, um daraufhin von etwas anderem zu reden. Dabei weiß sie, daß sie keinerlei Gefahr läuft, gekontert zu werden, weder auf ihrem eigenen, noch auf sonst einem Terrain. Denn eine Agora gibt es nicht mehr. Es gibt keine umfassenden Gemeinschaften mehr, auch nicht solche, die sich auf Zwischenkörperschaften beschränken, auf autonome Institutionen, auf Salons oder Cafés oder auf Arbeiter eines Unternehmens, keinen Ort, an dem sich die Diskussion über die Wahrheiten, die alle Daseienden betreffen, auf Dauer der erdrückenden Präsenz des Medien-Diskurses und der verschiedenen, zu seiner Ablösung bestimmten Kräfte entledigen könnte. Kein garantiert relativ unabhängiges Urteil gibt es heute mehr von selten derer, die die Welt der Gelehrten bildeten, derjenigen, die zum Beispiel dereinst ihren Stolz in die Fähigkeit zur Verifikation legten, die es ermöglichte, dem näherzukommen, was man eine unparteiische Geschichte der Tatsachen nannte, von der man zumindest glaubte, sie verdiene es, gekannt zu werden. Selbst eine unbestreitbare bibliographische Wahrheit gibt es nicht mehr, und die Computerresümees der Karteien in den Nationalbibliotheken können umso leichter deren Spuren verschwinden lassen. Es würde auf Abwege rühren, dächte man an das, was früher Magistrate, Ärzte und Historiker waren, sowie an die bindenden Pflichten, die sie für sich, oft in den Grenzen ihrer Kompetenzen, gelten ließen: die Menschen ähneln eher ihrer Zeit als ihren Vätern.

Das, worüber das Spektakel drei Tage lang nicht mehr zu reden braucht, ist wie etwas, was es nicht gibt. Denn es spricht dann über etwas anderes, und dies ist es denn auch, mit einem Wort, das von da an existiert. Die praktischen Konsequenzen davon sind, wie man sieht, enorm.

Man glaubte zu wissen, die Geschichte sei in Griechenland zusammen mit der Demokratie in Erscheinung getreten. Feststellen läßt sich, daß diese zusammen mit jener aus der Welt verschwindet.

Ein für die Macht negatives Ergebnis muß dieser Liste ihrer Triumphe jedoch hinzugefügt werden: ein Staat, in dessen Verwaltung sich auf Dauer ein großes Defizit an historischer Kenntnis einschleicht, kann nicht mehr nach strategischen Gesichtspunkten gelenkt werden.

VIII

Im Stadium des integrierten Spektakulären angelangt, scheint die Gesellschaft, die sich selbst als demokratisch ankündigt, allenthalben als eine Realisierung von anfälliger Perfektion akzeptiert zu sein. Dergestalt, daß sie nicht mehr Angriffen ausgesetzt werden darf, ist sie doch zerbrechlich – und, im übrigen perfekt wie noch keine Gesellschaft zuvor, gar nicht mehr attackierbar. Die Gesellschaft ist anfällig, weil sie die größte Mühe hat, ihre gefährliche technische Expansion zu bewältigen. Zum Regiertwerden ist sie dagegen wie geschaffen, und als Beweis dafür gilt, daß alle Regierungsanwärter sie mit den immer gleichen Methoden regieren und sie so, wie sie ist, lassen wollen. Zum ersten Mal im modernen Europa versucht keine Partei oder Splittergruppe auch bloß vorzugeben, sie wolle es wagen, etwas von Belang zu ändern. Die Ware kann von niemandem mehr kritisiert werden: weder als allgemeines System, noch bloß als dieser oder jener Tand, den auf den Markt zu bringen die Firmenchefs gerade übereingekommen sind. Überall da, wo das Spektakel herrscht, sind die einzigen organisierten Kräfte die, die das Spektakel wollen. Keine von ihnen kann somit Feind dessen sein, was ist, noch kann sie gegen die allumfassende Omertà verstoßen. Es ist ein für alle Mal geschehen um jene beunruhigende Konzeption, die mehr als zweihundert Jahre vorgeherrscht hat und derzufolge man eine Gesellschaft kritisieren oder ändern, sie reformieren oder revolutionieren kann. Dies ist nicht durch das Auftreten neuer Argumente erreicht worden, sondern lediglich dadurch, daß Argumente hinfällig geworden sind. An diesem Ergebnis vermag man, eher als das allgemeine Glück, die furchtbare Macht der Ringe der Tyrannei messen.

Nie zuvor hat es eine vollkommenere Zensur gegeben. Nie zuvor ist es der Meinung derer, denen man in einigen Ländern noch glauben macht, sie seien weiterhin freie Bürger, weniger gestattet gewesen, sich zu äußern, wenn es darum geht, eine Wahl zu treffen, die ihr wirkliches Leben beeinträchtigt. Nie zuvor war es vergönnt, sie mit einer so gänzlichen Folgenlosigkeit zu belügen. Vom Zuschauer wird angenommen, daß er von nichts eine Ahnung und auf nichts Anspruch hat. Wer stets nur zuschaut, um die Fortsetzung nicht zu versäumen, der wird nie handeln: und genauso hat der Zuschauer zu sein. Oft werden als Ausnahme die Vereinigten Staaten angeführt, wo Nixon eines Tages die Folgen einer Reihe von allzu zynisch ungeschickten Leugnungen zu spüren bekam, doch diese lokal bedingte Ausnahme, die gewisse alte historische Ursachen hatte, stimmt offensichtlich nicht mehr, hat Reagan doch ungestraft dasselbe tun können. Alles, was nicht geahndet wird, ist wirklich erlaubt. Von Skandal zu reden, ist somit überkommen. Einem hohen italienischen Staatsmann, der zugleich ein Ministeramt und einen Posten im P2 – Potere Due – Schattenkabinett innehatte, wird folgender Ausspruch zugeschrieben, der am besten die Periode resümiert, in die nach Italien und den Vereinigten Staaten die ganze Welt eingetreten ist: »Skandale hat es früher gegeben, heute nicht mehr.«

Im 18. Brumaire des Louis Bonaparte beschreibt Marx die ständig wachsende Rolle des Staats im Frankreich des zweiten Kaiserreichs, das damals über eine stolze halbe Million Beamte verfügte: »Alles wurde so zum Gegenstand der Regierungsaktivität gemacht, von der Brücke, dem Schulhaus und dem Kommunalvermögen einer Dorfgemeinde bis zu den Eisenbahnen, dem Nationalvermögen und der Landesuniversität Frankreichs.« Die berühmte Frage der Finanzierung der politischen Parteien stellte sich bereits damals, da Marx bemerkt, daß »die Parteien, die abwechselnd um die Herrschaft rangen, die Besitznahme dieses ungeheuren Staatsgebäudes als die Hauptbeute des Sieges betrachteten«. All dies mutet denn doch ein wenig bukolisch und, wie es heißt, altertümlich an, denn die Spekulationen des Staats von heute betreffen eher die Satellitenstädte und Autobahnen, den Tunnelverkehr und die Produktion von Atomstrom, die Suche nach Erdöl und die Elektronenrechner, die Verwaltung der Banken und Kultur-und Jugendzentren, die Änderungen in der »Medienlandschaft« und die geheime Ausfuhr von Waffen ,Bodenspekulation und pharmazeutische Industrie, Nahrungs- und Genußmittelindustrie und die Verwaltung der Krankenhäuser, Verteidigungskredite und die Geheimfonds des stetig wachsenden Departements, dem die Verwaltung der zahlreichen Schutzdienste der Gesellschaft obliegt. Und doch ist Marx leider allzu lang aktuell geblieben, wenn er in demselben Buch die Regierung beschreibt, die »nicht in der Nacht beschließt, um bei Tage auszuführen, sondern bei Tage beschließt und in der Nacht ausführt«.

IX

Diese so vollkommene Demokratie stellt selber ihren unvorstellbaren Feind her, den Terrorismus. Sie will nämlich lieber, daß man sie nach ihren Feinden und weniger nach ihren Ergebnissen beurteilt. Die Geschichte des Terrorismus wird vom Staat geschrieben; ihr kommt somit ein erzieherischer Wert zu. Selbstverständlich können die zuschauenden Bevölkerungen nicht alles über den Terrorismus wissen, stets aber genug, um überzeugt davon zu sein, daß, verglichen mit diesem Terrorismus, ihnen alles übrige eher akzeptabel zu erscheinen hat, jedenfalls rationeller und demokratischer.

Die Modernisierung der Repression hat zuerst im italienischen Pilotexperiment unter der Bezeichnung »Pentiti« vereidigte Berufsankläger entwickelt; bei ihrem erstmaligen Auftreten im 17. Jahrhundert während der Fronde-Unruhen wurden sie »urkundlich bestallte Zeugen« genannt. Dieser spektakuläre Fortschritt der Justiz hat die italienischen Gefängnisse mit Tausenden von Verurteilten bevölkert, die für einen Bürgerkrieg büßen, der nicht stattgefunden hat, eine Art riesigen bewaffneten Aufstand, dessen Stunde zufällig nie gekommen ist, ein Putschismus, gewebt aus dem Stoff, aus dem die Träume sind.

Es läßt sich hier bemerken, wie die Auslegung der Mysterien des Terrorismus scheinbar eine Art Symmetrie zwischen zwei entgegengesetzten Meinungen eingeführt hat, als handele es sich bei diesen um zwei philosophische Schulen, die absolut antagonistische metaphysische Gebilde lehren. Für einige steckt hinter dem Terrorismus weiter nichts als ein paar augenfällige Geheimdienstmanipulationen, andere sind im Gegenteil der Ansicht, daß den Terroristen nur ihr völliger Mangel an Geschichtssinn vorzuwerfen ist. Bediente man sich ein wenig historischer Logik, so ließe sich recht schnell folgern, daß die Annahme, Leute, denen der Geschichtssinn schlechthin abgeht, könnten ebenfalls manipuliert sein und gar noch leichter als andere, nichts Widersprüchliches an sich hat. Auch ist es leichter, jemanden dazu zu bringen, den Kronzeugen zu spielen, wenn man ihm zeigen kann, daß man von Anfang an all das wußte, was er aus freien Stücken zu tun glaubte. Klandestine Organisationsformen militärischen Typs bringen es unvermeidlich mit sich, daß es lediglich einiger weniger Leute an bestimmten Punkten des Netzes bedarf, um viele an der Nase herumzuführen und schließlich umfallen zu lassen. Bei Fragen der Einschätzung bewaffneter Kämpfe hat die Kritik manchmal eine besondere dieser Operationen zu analysieren, ohne sich durch die allgemeine Ähnlichkeit, die allen möglicherweise eigen ist, in die Irre rühren zu lassen. Es steht übrigens zu erwarten, daß die Schutzdienste des Staates, und das ist logisch wahrscheinlich, daran denken, alle Vorteile auszunutzen, die sie auf dem Terrain des Spektakels antreffen, welches eben seit langem schon dafür organisiert worden ist. Das es so schwer ist, auf diesen Gedanken zu kommen, verwundert und klingt falsch.

Gegenwärtig ist der Repressivjustiz auf diesem Gebiet natürlich daran gelegen, so schnell wie möglich zu verallgemeinern. Worauf es bei dieser Art von Ware ankommt, ist die Verpackung oder das Etikett: die Streifbandcodes. Jeder Feind der Demokratie ist einem anderen gleich, so wie eine spektakuläre Demokratie einer anderen gleich. Vom Asylrecht für Terroristen kann denn auch keine Rede mehr sein, und selbst wenn man ihnen nicht zur Last legt, Terrorist gewesen zu sein, so werden sie sicherlich solche werden, und die Ausweisung tut not. Anhand des Falls Gabor Winter, eines jungen Typographen, den die Regierung der Bundesrepublik Deutschland hauptsächlich der Abfassung einiger revolutionärer Flugblätter bezichtigte, hat Fräulein Nicole Pradain, Staatsanwältin beim Pariser Berufungsgericht, geschwind aufgezeigt, daß »politische Motive«, der einzige Grund, bei dem die deutsch-französischen Konvention vom 29. November 1951 die Auslieferung nicht gestattet, hier nicht in Frage kamen: »Gabor Winter ist kein politischer, sondern ein Sozialdelinquent. Er lehnt gesellschaftliche Zwänge ab. Ein echter politischer Straftäter steht der Gesellschaft nicht ablehnend gegenüber. Er geht gegen die politischen und nicht, wie Gabor Winter, gegen die gesellschaftlichen Strukturen an.« Dem Begriff des ehrbaren politischen Verbrechens ist in Europa erst Anerkennung zuteil geworden, als die Bourgeoisie mit Erfolg die alten etablierten gesellschaftlichen Strukturen angegriffen hatte. Die Bezeichnung des politischen Verbrechens war untrennbar verbunden mit den verschiedenen Absichten der Gesellschaftskritik. Dies galt für Blanqui, Varlin und Durruti. Heute gibt man sich den Anschein, als wolle man, wie einen leicht erschwinglichen Luxus, ein rein politisches Delikt beibehalten, das zu begehen mit Sicherheit keiner mehr die Gelegenheit haben wird, sieht man einmal von den Polit-Profis selber ab, deren Delikte jedoch stets straffrei ausgehen und im übrigen die Bezeichnung politisch nicht verdienen. Tatsächlich sind alle Delikte und Verbrechen sozialer Natur. Von allen Sozialverbrechen darf jedoch keines für schlimmer erachtet werden als die impertinente Anmaßung, etwas ändern zu wollen in dieser Gesellschaft, die der Meinung ist, bislang nur allzu geduldig und gutmütig gewesen zu sein und die sich nunmehr jeglichen Tadel verbittet.

X

Die Auflösung der Logik ist, gemäß den fundamentalen Interessen des neuen Herrschaftssystems, mit verschiedenen Mitteln betrieben worden, die operierten, indem sie sich stets gegenseitig Beistand leisteten. Mehrere dieser Mittel entstammen dem technischen Instrumentarium, die das Spektakel erprobt und popularisiert hat. Andere rühren eher von der Massenpsychologie der Unterwerfung her.

Wenn auf technischer Ebene das von jemand anderem erstellte und ausgewählte Bild die Hauptbeziehung des Individuums mit der Welt darstellt, die zuvor von ihm selber von jedem ihm zugänglichen Ort aus betrachtet wurde, dann ist klar, daß das Bild alles tragen wird, kann man doch darin alles und jedes widerspruchslos gegenüberstellen. Der Fluß der Bilder reißt alles mit sich fort, und wiederum ist es ein anderer, der nach seinem Gutdünken dieses vereinfachte Resümee der sinnlich wahrnehmbaren Welt regiert; der bestimmt, wohin dieser Strom zu fließen hat und der den Rhythmus dessen angibt, was darin zur Geltung kommen soll, als ständige willkürliche Überraschung, keine Zeit zum Nachdenken gewährend und völlig unabhängig von dem, was der Zuschauer davon verstehen oder denken mag. In dieser konkreten Erfahrung der permanenten Unterwerfung liegt die psychologische Wurzel der allgemein vorherrschenden Zustimmung zu dem, was da ist, Zustimmung, die darauf hinausläuft, ihm ipso facto hinreichenden Wert zuzusprechen. Über das hinaus, was im eigentlichen Sinne geheim ist, verschweigt der spektakuläre Diskurs natürlich alles, was ihm nicht paßt. Er sondert, von dem, was er zeigt, stets die Umgebung, die Vergangenheit, die Absichten und die Konsequenzen ab. Er ist somit völlig unlogisch. Da ihm niemand mehr widersprechen kann, hat das Spektakel das Recht, sich selbst zu widersprechen, seine Vergangenheit zu korrigieren. Das hochmütige Gebaren seiner Diener, wenn sie eine neue und vielleicht noch verlogenere Version bestimmter Tatsachen abgeben müssen, besteht darin, daß sie barsch die Unwissenheit und die falschen Auslegungen, die sie ihrem Publikum zuschreiben, korrigieren, während sie es doch waren, die mit ihrer gewohnten Dreistigkeit am Vortag eiligst diesen Irrtum verbreiteten. Die Unterweisung des Spektakels und die Unwissenheit des Zuschauers gelten ungebührlicherweise als antagonistische Faktoren, wo sie doch auseinander hervorgehen. Die binäre Sprache des Computers stellt gleichfalls einen unwiderstehlichen Anreiz dar, jederzeit und vorbehaltlos zu akzeptieren, was nach jemand anderes Gutdünken programmiert wurde und sich als zeitlose Quelle einer höheren, unparteiischen und totalen Logik ausgibt. Was für ein Zeitgewinn, was für eine Wortersparnis, um über alles ein Urteil abgeben zu können! Politisch oder sozial? Bitte wählen. Was das eine ist, kann nicht das andere sein. Meine Wahl drängt sich auf. Man pfeift uns zurück, und für wen diese Strukturen sind, wissen wir. So nimmt es nicht wunder, wenn von Kindesbeinen an die Schüler mühelos und begeistert mit dem Absoluten Wissen der Computer beginnen, während sie zunehmend das Lesen verlernen, welches ein wirkliches Urteil bei jeder Zeile voraussetzt und das ihnen einzig den Zugang zu der umfassenden präspektakulären Erfahrung der Menschheit verschaffen kann. Denn die Konversation ist so gut wie tot, und tot werden bald auch die sein, die zu konversieren verstanden.

Was das Denkvermögen der heutigen Bevölkerung anbetrifft, so ist klar ersichtlich, daß die Hauptursache für dessen Dekadenz darin zu finden ist, daß keiner der im Spektakel gezeigten Diskurse Platz für eine Antwort läßt; und gesellschaftlich gebildet hatte sich die Logik nur über den Dialog. Eine weitere Ursache ist, daß mit dem wachsenden Respekt vor dem, was im Spektakel spricht und für wichtig, reich und glänzend, für die Autorität schlechthin gehalten wird, sich bei den Zuschauern die Neigung breitmacht, genauso unlogisch wie das Spektakel sein zu wollen, um einen individuellen Abglanz dieser Autorität zur Schau zu tragen. Schließlich ist Logik nicht so einfach, und niemand hat sie ihnen beibringen wollen. Ein Drogensüchtiger studiert nicht Logik: zum einen, weil er sie nicht braucht, und zum anderen, weil er nicht mehr die Möglichkeit dazu hat. Diese Trägheit des Zuschauers ist ebenfalls die jedes x-beliebigen intellektuellen Kaders, die des schnell herangebildeten Spezialisten, der in allen Fällen versuchen wird, die engen Grenzen seiner Kenntnisse dadurch zu kaschieren, daß er dogmatisch irgendein Argument wiederholt, hinter dem eine unlogische Autorität steht.

XI

Einer weitverbreiteten Ansicht zufolge sind die, die das größte Unvermögen in Sachen Logik gezeigt haben, eben die, die sich Revolutionäre nennen. Dieser ungerechtfertigte Vorwurf entstammt einer früheren Epoche, in der fast alle mit einem Mindestmaß an Logik dachten, mit der eklatanten Ausnahme der Kretins und der politischen Aktivisten; und bei letzteren kam oft Unaufrichtigkeit dazu, die gewollt war, weil sie für wirksam gehalten wurde. Heute läßt sich jedoch die Tatsache nicht unter den Tisch kehren, daß der intensive Gebrauch des Spektakels, wie zu erwarten war, die Mehrheit der Zeitgenossen zu Ideologen gemacht hat, wenngleich auch nur stoßweise und bruchstückhaft. Der Mangel an Logik, d. h. der Verlust der Möglichkeit, augenblicklich zu erkennen, was von Belang und was unerheblich ist oder nicht zur Sache gehört, was unvereinbar oder im Gegenteil komplementär sein könnte, alles was diese oder jene Konsequenz beinhaltet und sie damit ausschließt, diese Krankheit ist bewußt von den Anästhesisten des Spektakels in hohen Dosen in die Bevölkerung injiziert worden. Die Kontestatäre sind mitnichten irrationeller gewesen als die, die sich unterworfen haben. Nur tritt bei jenen diese allgemeine Irrationalität stärker zutage, denn dadurch, daß sie ihr Vorhaben offen bekunden, haben sie versucht, eine praktische Operation durchzuführen, und sei es nur das Lesen bestimmter Texte, wobei sie so tun, als hätten sie deren Sinn verstanden. Sie haben sich diverse Pflichten zur Beherrschung der Logik auferlegt, bis hin zur Strategie, die das Feld ist, auf dem sich die dialektische Logik der Konflikte voll und ganz entfaltet. Dabei fehlt ihnen jedoch, genauso wie den anderen übrigens, schlicht die Fähigkeit, sich nach den alten und unvollkommenen Instrumenten der formellen Logik zu orientieren. Was bei diesen außer Zweifel steht, kommt einem bei den anderen nicht in den Sinn.

Das Individuum, welches dieses verarmte spektakuläre Denken zutiefst geprägt hat, und mehr als jedes andere Element seiner Entwicklung, stellt sich so von Anbeginn in den Dienst der etablierten Ordnung, mag seine Absicht auch das glatte Gegenteil dieses Resultats gewesen sein. Es wird im Wesentlichen der Sprache des Spektakels folgen, denn diese ist die einzige, mit der es vertraut ist, die, in der man ihm das Sprechen beigebracht hat. Mag es sich auch als Gegner seiner Rhetorik zeigen wollen, so wird es dennoch seine Syntax verwenden. Hierin liegt einer der bedeutendsten Erfolge, den die spektakuläre Herrschaft erzielt hat.

Das so rasche Verschwinden des vormalig existierenden Vokabulars ist lediglich ein Moment dieser Operation. Es leistet ihr Vorschub.

XII

Die Auslöschung der Persönlichkeit begleitet unvermeidlich die konkret den spektakulären Normen unterworfenen Existenzbedingungen. Eine Existenz, die so stets immer mehr von den Möglichkeiten getrennt ist, authentische Erfahrungen zu machen und dadurch seine individuellen Neigungen zu entdecken. Paradoxerweise hat sich das Individuum permanent zu verleugnen, wenn es in einer solchen Gesellschaft auf ein wenig Wertschätzung aus ist. Diese Existenz postuliert nämlich eine ständig wechselnde Treue, eine Folge von stets enttäuschenden Zustimmungsbekundungen zu täuschenden Produkten. Es gilt, rasch hinter der Inflation der entwerteten Zeichen des Lebens hinterherzulaufen. Drogen helfen dabei, sich mit diesem Sachverhalt abzufinden, Wahnsinn, ihm zu entfliehen.

In allerhand Unternehmungen dieser Gesellschaft, in der sich die Güterverteilung derartig zentralisiert hat, daß sie zugleich offenkundig und geheim über die bloße Definition dessen gebietet, was gut ist, kommt es vor, daß man manchmal bestimmten Personen Eigenschaften, Kenntnisse und gar Laster zuschreibt, die völlig aus der Luft gegriffen sind, um durch diese Ursachen die zufriedenstellende Entwicklung bestimmter Unternehmungen zu erklären, mit dem einzigen Ziel, die Funktion der verschiedenen, über alles entscheidenden Übereinkünfte zu verbergen oder zumindest sie so gut es geht zu bemänteln.

Doch trotz der vielfach bekundeten Absichten und der gewichtigen Mittel, mit denen sie das volle Maß bemerkenswerter Persönlichkeiten in ein helles Licht setzen will, zeigt die Gesellschaft von heute – und zwar nicht nur durch das, was heute an die Stelle der Künste getreten ist, oder durch die Diskurse hierzu -viel öfter das Gegenteil: eine völlige Unfähigkeit stößt mit einer anderen, vergleichbaren Unfähigkeit zusammen, sie werden kopfscheu, und eine sucht vor der anderen ihr Heil in der Flucht. Es kommt vor, daß ein Rechtsanwalt vergißt, daß er in einem Prozeß lediglich der Vertreter einer Sache zu sein hat und sich aufrichtig durch die Argumentationsweise des Anwalts der Gegenpartei beeinflussen läßt, selbst wenn diese Argumentationsweise genausowenig zwingend wie die eigene war. Auch kommt es vor, daß ein zu Unrecht Verdächtigter momentan ein Verbrechen gesteht, daß er nicht begangen hat, und zwar einzig deshalb, weil er sich durch die Logik der Hypothese eines Denunzianten, der an seine Schuld glauben wollte, hat beeinflussen lassen (Fall des Doktors Archambeau l984 in Poitiers).

Der erste Apologet des Spektakels, McLuhan höchstpersönlich, der der überzeugteste Dummkopf des Jahrhunderts schien, hat seine Meinung geändert, als er 1976 endlich entdeckte, daß »der Druck der Massen-Medien zum Irrationalen drängt« und daß es angeblich Not täte, deren Gebrauch zu mindern. Der Denker aus Toronto hatte zuvor mehrere Jahrzehnte damit verbracht, ob der zahllosen Freiheiten in Verzückung zu geraten, die dieses »Weltdorf« mit sich brachte und die einem jeden augenblicklich und mühelos zur Verfügung standen. Im Gegensatz zu den Städten sind die Dörfer stets von Konformismus, Isolierung, kleinlicher Bespitzelung, Langeweile und dem stets wiedergekäuten Tratsch über einige wenige und immer dieselben Familien beherrscht worden. Und so nimmt sich denn auch die Vulgarität des spektakulären Planeten aus, in der es unmöglich ist, die Dynastie der Grimaldi-Monaco oder die der Bourbonen-Franco von der zu unterscheiden, die den Platz der Stuarts eingenommen hat. Undankbare Schüler versuchen dennoch, McLuhan vergessen zu machen und seinen ersten Trouvaillen neue Jugend zu verleihen, wobei sie es ihrerseits auf eine Karriere im Medienloblied auf alle jene neuen Freiheiten abgesehen haben, die es aufs Geratewohl im Ephemeren »auszuwählen« gelte. Und höchstwahrscheinlich werden sie sich schneller verleugnen als der, der sie inspiriert hat.

XIII

Das Spektakel verhehlt nicht, daß die von ihm etablierte wunderbare Ordnung von so manchen Gefahren umringt ist. Die Verschmutzung der Weltmeere und die Zerstörung der Tropenwälder stellen eine Bedrohung für die Erneuerung des Sauerstoffs der Erde dar, deren Ozonsphäre dem industriellen Fortschritt schlecht standhält, und Strahlungsbelastungen atomaren Ursprungs akkumulieren sich unwiderruflich. Das Spektakel folgert daraus lediglich, daß all dies ohne Bedeutung ist. Es will einzig über Daten und Dosen mit sich reden lassen. Und einzig darin gelingt es ihm, Zuversicht einzuflößen, was ein prä-spektakulärer Geist für unmöglich gehalten hätte.

Die Methoden der spektakulären Demokratie sind im Gegensatz zur nackten Brutalität des totalitären Diktats von großer Flexibilität. So kann der Name beibehalten werden, wenn die Sache selber insgeheim geändert worden ist (Bier, Rindfleisch, ein Philosoph), oder der Name geändert, die Sache aber insgeheim beibehalten wurde. So hat die englische Wiederaufbereitungsanlage für Atommüll in Windscale zum Beispiel ihre Ortschaft in Sellafield umtaufen müssen, um nach einem verheerenden Brand im Jahre 1957 den Verdacht besser zu zerstreuen. Diese toponymische Wiederaufbereitung hat jedoch eine erhöhte Sterblichkeitsrate aufgrund von Krebs und Leukämie in der Umgebung nicht verhindern können. Die englische Regierung, so erfährt man demokratisch dreißig Jahre später, hatte damals beschlossen, einen Untersuchungsbericht über die Katastrophe geheimzuhalten, den sie, nicht zu Unrecht, für geeignet hielt, das Vertrauen zu erschüttern, welches die Bevölkerung der Kernenergie entgegenbrachte.

Die Praktiken der Atomindustrie, ob zu militärischen oder zivilen Zwecken, bedürfen einer stärkeren Dosis von Geheimhaltung als die anderer Gebiete, wo sie bekanntlich bereits in hohem Maße erforderlich ist. Um das Leben, das heißt die Lügen der von den Herren dieses Systems erwählten Wissenschaftler zu erleichtern, hat man den Nutzen entdeckt, der aus einer Änderung der Maßeinheiten entsteht, ihrer Variierung gemäß einer größeren Anzahl von Gesichtspunkten sowie ihrer Verfeinerung, um je nach Bedarf mit mehreren dieser schwer konvertierbaren Zahlen zu jonglieren. So stehen einem zur Messung der Radioaktivität die folgenden Maßeinheiten zur Verfügung: Curie, Becquerel, Röntgen, Rad, alias Centigray, Rem und, nicht zu vergessen, das schlichte Millirad und der Sivert, ein bloßes 100-Rem-Stück. Man fühlt sich an die Unterteilungen der englischen Währung erinnert, deren Komplexität den Ausländern so sehr zu schaffen machte, zu einer Zeit als Sellafield noch Windscale hieß.

Man stelle sich vor, welche Bündigkeit und Präzision im 19. Jahrhundert die Kriegsgeschichte und mithin die Strategietheoretiker hätten erreichen können, wenn man, um unbefangenen Kommentatoren oder feindlichen Historikern keine allzu vertraulichen Auskünfte zu geben, gewöhnlich über einen Feldzug wie folgt Rechenschaft abgegeben hätte: »Die Eingangsphase umfaßt eine Reihe von Gefechten, bei denen unsererseits eine starke Vorhut, bestehend aus vier Generälen und den ihnen unterstellten Einheiten, einem feindlichen, aus 13000 Bajonetten bestehenden Armeekorps gegenübersteht. Später entwickelt sich eine offene Feldschlacht, deren Ausgang lange Zeit ungewiß blieb und in deren Verlauf die Gesamtheit unserer Armee mit ihren 290 Kanonen und ihrer 18 000 Säbeln starken Kavallerie zum Einsatz kam. Der Feind seinerseits hat ihr Truppen gegenübergestellt, die es auf nicht weniger als 3 600 Infanterie-Leutnants, 40 Husaren – und 24 Kürassierhauptmänner brachten. Nach wechselndem Kriegsglück auf beiden Seiten darf die Schlacht letztendlich als unentschieden betrachtet werden. Unsere Verluste, die unter dem Durchschnitt liegen, der für gewöhnlich bei Kämpfen von vergleichbarer Dauer und Heftigkeit auftritt, sind fühlbar höher als die der Griechen bei Marathon, bleiben jedoch unter denen der Preußen bei Jena.« Nach diesem Beispiel vermag ein Spezialist wohl, sich ein ungefähres Bild der eingesetzten Kräfte zu machen. Die Führung der Operationen bleibt jedoch mit Sicherheit auch weiter über jegliches Urteil erhaben.

Im Juni 1987 hat der stellvertretende technische Direktor der staatlichen französischen Stromgesellschaft EDF, Pierre Bacher, die letzte Doktrin zur Sicherheit von Kernkraftwerken dargelegt. Durch ihre Ausstattung mit Ventilen und Filtern würden es viel leichter werden, schwere Katastrophen, wie Risse im Reaktor oder die Explosion der Anlage, die eine ganze »Region« in Mitleidenschaft ziehen würden, zu vermeiden, was nämlich passiert, wenn man zu sehr eingrenzen will. Besser ist es, jedesmal wenn die Maschine Anstalten macht, durchzudrehen, ein wenig Druck abzulassen und eine engbegrenzte Umgebung von einigen wenigen Kilometern zu berieseln, wobei die Umgebung jedes Mal anders und aufs Geratewohl durch die Laune des Winds vergrößert wird. Er enthüllt, daß in den letzten Jahren die diskret in Cadarache, im Bouches-du-Rhone-Departement durchgeführten Versuche »konkret gezeigt haben, daß die Emissionen – hauptsächlich Gase – ein paar Promille nicht überschreiten, schlimmstenfalls l % über der in der Anlage herrschenden Radioaktivität liegen«. Dieser schlimmste Fall bleibt somit durchaus in Grenzen: l %. Früher war man sicher, daß keine Gefahr bestand, abgesehen von einem Unfall, der logisch unmöglich war. Die Erfahrungen der ersten Jahre haben diese Argumentationsweise wie folgt abgeändert: ein Unfall ist immer möglich. Es muß deshalb vermieden werden, daß er katastrophale Ausmaße erreicht, und das ist leicht. Man braucht lediglich stoßweise und mit Maßen zu verseuchen. Und wer verstünde nicht, daß es weitaus gesünder ist, über Jahre hinweg täglich nur 140 Zentiliter Wodka zu trinken, anstatt gleich damit zu beginnen, sich sinnlos zu besaufen.

Es ist sicherlich schade, daß die menschliche Gesellschaft derartig brisanten Problemen zu einem Zeitpunkt begegnet, da es materiell unmöglich geworden ist, den leisesten Einwand gegen den Diskurs der Ware geltend zu machen, zu einem Zeitpunkt, da der Herrschaftsapparat, eben weil das Spektakel ihn davor schützt, für seine fragmentarischen oder haarsträubenden Entscheidungen und Rechtfertigungen Rede und Antwort stehen zu müssen, meint, nicht mehr denken zu brauchen; und tatsächlich nicht mehr zu denken vermag. Wie standfest der Demokrat auch sein mag, hätte er es nicht lieber, man möge ihm intelligentere Herren ausgesucht haben?

Auf einer internationalen Expertenkonferenz, die im Dezember 1989 in Genf stattfand, ging es schlicht und einfach um ein weltweites Verbot von Fluorchlorkohlenwasserstoffen, jenem Gas, das sehr rasch die dünne Ozonschicht zerstört, die diesen Planeten -man wird sich seiner noch erinnern – gegen die schädlichen Auswirkungen kosmischer Strahlungen schützt. Daniel Veriihe, Vertreter der Filiale für Chemieprodukte von Elf-Aquitaine und als solcher Mitglied einer französischen Delegation, die entschieden gegen das Verbot eintrat, machte die folgende, sinnige Bemerkung: »Die Entwicklung eventueller Ersatzprodukte mag gut drei Jahre in Anspruch nehmen, und die Kosten können sich vervierfachen.« Diese, flüchtige Ozonschicht gehört, in einer solchen Höhe, bekanntlich niemandem und besitzt keinerlei Tauschwert. Der Industriestratege hat damit seinen Widersachern durch diesen Rückruf in die Wirklichkeit das ganze Ausmaß ihrer unerklärlichen wirtschaftlichen Sorglosigkeit vor Augen halten können: »Es ist äußerst gewagt, eine Industriestrategie auf umweltpolitischen Sachzwängen aufzubauen.«

Diejenigen, die vor langer Zeit schon damit begonnen haben, die politische Ökonomie als die »vollkommenste Verneinung des Menschen « zu definieren, haben sich nicht geirrt. An diesem Charakterzug erkennt man sie.

XIV

Die Wissenschaft, heißt es, sei heute den Zwängen der wirtschaftlichen Rentabilität unterworfen. Dies ist jedoch schon immer so gewesen. Neu ist, daß die Ökonomie an einem Punkt angelangt ist, an dem sie den Menschen offen bekriegt – nicht bloß seine Lebens-, sondern auch seine Überlebensmöglichkeiten. Das wissenschaftliche Denken hat es vorgezogen, der spektakulären Herrschaft zu dienen und zwar wider eines Großteils ihrer eigenen, gegen die Sklaverei gerichteten Vergangenheit. Bevor es so weit mit ihr kam, besaß die Wissenschaft eine relative Autonomie. Sie wußte ihr Stückchen Wirklichkeit zu denken und hat so einen unermeßlichen Beitrag zur Erhöhung der ökonomischen Mittel zu leisten vermocht. Toll geworden hat die allmächtige Ökonomie, und etwas anderes sind die spektakulären Zeiten nicht, die letzten Überbleibsel der wissenschaftlichen Autonomie beseitigt, sowohl auf methodologischer Ebene, als auch, untrennbar davon, was die praktischen Bedingungen der »Forscher-Aktivität anbetrifft. Niemand verlangt mehr von der Wissenschaft, die Welt zu verstehen oder etwas darin zu verbessern. Verlangt wird von ihr, augenblicklich alles Geschehende zu rechtfertigen. Auf diesem Gebiet ebenso dumm wie auf allen übrigen, die sie mit der verheerendsten Unbedachtheit ausbeutet, hat die spektakuläre Herrschaft den riesigen Baum der Wissenschaft zu dem einzigen Zweck gefällt, sich einen Knüppel daraus zu schnitzen. Um dieser letzten gesellschaftlichen Nachfrage einer offensichtlich unmöglichen Rechtfertigung nachzukommen, ist zuviel Denkvermögen nicht angeraten. Dagegen gilt es aber, über eine gute Übung in den Kommoditäten des spektakulären Diskurses zu verfügen. Und in dieser Laufbahn hat, behende und mit viel gutem Willen, die prostituierte Wissenschaft dieser verachtenswerten Tage ihre jüngste Spezialisierung gefunden.

Das Auftreten der Wissenschaft der lügnerischen Rechtfertigung geht natürlich einher mit den ersten Dekadenzsymptomen der bürgerlichen Gesellschaft, mit dem krebsartigen Wuchern von »human« genannten Pseudowissenschaften. Die moderne Medizin aber hatte beispielsweise eine Zeitlang vermocht, sich für nützlich auszugeben, und die, die Pocken und Lepra bezwungen hatten, waren von anderem Schlag als die, die jämmerlich vor radioaktiven Bestrahlungen und der Nahrungs- und Genußmittelchemie kapituliert haben. Es wird einem rasch klar, daß die heutige Medizin selbstverständlich jedes Recht verwirkt hat, die Gesundheit der Bevölkerung vor einer pathogenen Umwelt zu verteidigen, denn dies hieße ja dem Staat oder auch nur der Pharmaindustrie die Stirn zu bieten.

Doch nicht allein durch das, was zu verschweigen sie verpflichtet ist, gesteht die wissenschaftliche Tätigkeit ein, was aus ihr geworden ist, sondern sehr oft auch durch das, was sie einfältig verlautbaren läßt. Als die Professoren Even und Andrieu vom Pariser Laennec-Krankenhaus im November 1985 nach achttägigen Experimenten an vier Kranken verkündeten, sie hätten ein wirksames Mittel gegen Aids entdeckt, zog dies zwei Tage später – die Kranken waren inzwischen gestorben – Vorbehalte seitens einiger Mediziner, die weniger weit fortgeschritten oder möglicherweise neidisch waren, nach sich, ob der reichlich überstürzten Art und Weise, mit der jene flugs hatten registrieren lassen, was lediglich wie ein Sieg aussah, wenige Stunden vor dem Zusammenbruch. Even und Andrieu verteidigten sich, ohne die Fassung zu verlieren, indem sie behaupteten, daß »falsche Hoffnungen schließlich besser als überhaupt keine Hoffnung« seien. Daß dieses Argument allein eine völlige Negierung des wissenschaftlichen Geistes darstellt und in der Geschichte stets dazu gedient hat, die einträglichen Hirngespinste von Scharlatanen und Hexern zu decken, zu Zeiten, als man ihnen noch nicht die Leitung von Krankenhäusern anvertraute, entging ihnen in ihrer großen Ignoranz.

Wenn die offizielle Wissenschaft derart gelenkt wird, so wie der Rest des Spektakels, das unter materiell modernisierter und angereicherter Fassung lediglich die uralten Techniken der Jahrmarktbuden wiederaufgenommen hat – Gaukler, Marktschreier und Bauernfänger-, dann nimmt es nicht wunder, wenn parallel dazu überall Magier und Sekten, vakuumverpackter Zenbuddhismus oder Mormonentheologie wieder großen Einfluß gewinnen. Die Ignoranz, die den etablierten Mächten von guten Diensten war, ist zu alledem stets von findigen, am Rande des Gesetzes stehenden Unternehmungen ausgebeutet worden. Und welcher Augenblick wäre da günstiger als der, in dem das Analphabetentum so große Fortschritte gemacht hat? Diese Tatsache wird ihrerseits aber durch einen weiteren Zauberstreich geleugnet. Anläßlich ihrer Gründung hatte die U.N.E.S.C.O. eine wissenschaftlich genaue Definition des Analphabetentums verabschiedet, das in den unterentwickelten Ländern zu bekämpfen sie sich zur Aufgabe machte. Als man dasselbe Phänomen unversehens von neuem auftauchen sah, diesmal aber in den sogenannten Industrienationen, so wie der, der Grouchy erwartend, plötzlich Blücher in seiner Schlacht auftauchen sah, da genügte es, die Garde der Experten in den Kampf zu werfen, und die haben denn auch geschwind die Formel mit einem unwiderstehlichen Angriff aus dem Weg geräumt, indem sie den Begriff Analphabetismus durch den der Lese- und Schreibschwäche ersetzten, so wie eine »patriotische Fälschung« gelegen kommen kann, um eine gute nationale Sache zu unterstützen. Um dann, unter Pädagogen, die Pertinenz der Wortschöpfung felsenfest zu begründen, wird hurtig eine neue Definition verabschiedet, als sei diese seit eh und je gültig. Während bekanntlich der Analphabet jemand war, der nie das Lesen gelernt hat, so ist, dieser neuen Definition zufolge, ein Lese- und Schreibschwacher im modernen Sinn jemand, der Lesen gelernt hat – und zwar besseres zuvor, wie sogleich die Begabtesten unter den offiziellen Theoretikern und Historikern der Pädagogik kaltschnäuzig behaupten werden -, es aber zufällig, sofort wieder vergessen hat. Eine solch verblüffende Erklärung würde eher beängstigend als beschwichtigend wirken, besäße sie nicht die Kunst – dadurch, daß sie vorbeiredet und so tut als sähe sie sie nicht -, die Schlußfolgerung zu vermeiden, die in wissenschaftlicheren Zeiten jedem zuerst in den Sinn gekommen wäre: daß nämlich letzteres Phänomen verdient, erklärt und bekämpft zu werden, war es doch nie und nirgends vor den jüngsten Fortschritten des verdorbenen Denkens beobachtet oder bloß geahnt worden, daß der Zerfall der Erklärung Gleichschritt hält mit dem Zerfall der Praxis.

XV

Vor mehr als hundert Jahren definierte A.-L. Sardous Nouveau Dictionnaire des Synonymes francais die Sinnunterschiede, die es zu verstehen gilt zwischen: fallacieux, trompeur, imposteur, seducteur, insidieux, captieux und die zusammengenommen heute eine Art Farbpalette bilden, die sich für ein Portrait der Gesellschaft des Spektakels eignet. Weder seiner Zeit noch seiner Erfahrung als Spezialist oblag es so deutlich, die verwandten, aber sehr verschiedenen Bedeutungen der Gefahren darzulegen, mit denen zu kämpfen jede der Subversion frönende Gruppe zu rechnen hat, entsprechend etwa der folgenden Abstufung: verleitet, provoziert, unterwandert, manipuliert, usurpiert, umgedreht. Den Doktrinären des »bewaffneten Kampfes« sind diese beachtlichen Sinnunterschiede jedenfalls nie aufgegangen.

Fallacieux- betrügerisch – vom lateinischen fallaciosus, fähig oder gewohnt zu täuschen, voller Arglist: die Endung des Adjektivs hat den gleichen Wert wie der Superlativ von trompeur- trügerisch. Trompeur- trügerisch – ist, was trügt oder auf irgendeine Art und Weise zum Irrtum verleitet: fallacieux ist, was vorsätzlich täuschen, hinters Licht führen und in die Irre leiten soll, und zwar mit Arglist und dem dazu geeignetsten imposanten Aufzug. Trompeur ist ein allgemeines und unbestimmtes Wort. Alle möglichen Arten von Zeichen und Ungewissen Äußerlichkeiten sind trompeurs – trügerisch: fallacieux schließt Falschheit, Arglist und Verstellung ein. Reden, Beteuerungen und Sophismen sind fallacieux – betrügerisch. Dieses Wort ist verwandt mit imposteur – lügnerisch -, seducteur – verführerisch , insidieux – hinterlistig -und captienx- verfänglich -, ohne jedoch synonym zu sein. Imposteur bezeichnet jede Art von falschem Schein oder Absprachen, die betrügen oder Schaden zufügen wollen; Heuchelei beispielsweise oder Verleumdung, usw. Seducteur drückt die Handlung aus, mittels derer man sich einer Person bemächtigt, sie geschickt und hinterlistig in die Irre führt. Insidieux bezeichnet lediglich das geschickte Aufstellen und Zuschnappenlassen von Fallen. Captieux beschränkt sich auf die subtile Handlung, jemanden zu überraschen und ihn zum Irrtum zu verleiten. Fallacieux umfaßt die meisten dieser Merkmale.

XVI

Das noch junge Konzept der Desinformation ist unlängst zusammen mit vielen anderen nützlichen Erfindungen zur Verwaltung moderner Staaten aus Rußland eingeführt worden. Es wird stets unverhohlen von einem Machtapparat verwendet oder mithin von Leuten, die über ein Stück wirtschaftlicher oder politischer Macht verfügen, um die etablierte Ordnung aufrechtzuerhalten, wobei seiner Verwendung stets eine Gegenoffensiv-Funktion zukommt. Was immer eine offizielle Wahrheit anfechten mag, kann nichts anderes sein als von feindlichen Mächten, zumindest aber von Rivalen ausgehende, absichtlich verfälschte Desinformation. Auch ist die Desinformation nicht die schlichte Leugnung einer Tatsache, die den Autoritäten zupaß kommt, oder die schlichte Affirmation von etwas, was gegen den Strich geht: das nennt man Psychose. Im Gegensatz zur einfachen Lüge muß die Desinformation, und hierin wird sie für die Verteidiger der herrschenden Gesellschaft interessant, zwangsläufig einen gewissen Wahrheitsgehalt besitzen. Dieser wird jedoch bewußt von einem geschickten Feind manipuliert. Die Macht, die von Desinformation spricht, wähnt sich nicht absolut fehlerfrei. Sie weiß aber, daß sie jeder präzisen Kritik jene außerordentliche Unbedeutsamkeit zuschreiben kann, die in der Natur der Desinformation liegt, und daß sie so nie einen besonderen Fehler wird einzugestehen haben.

So wäre die Desinformation – mit einem Wort – der schlechte Gebrauch der Wahrheit. Wer sie lanciert, ist schuldig, wer sie glaubt, ein Dummkopf. Aber um welchen geschickten Feind handelt es sich denn nun? Um den Terrorismus kann es sich hier nicht handeln. Der wird niemanden »desinformieren«, liegt seine Aufgabe doch darin, ontologisch den tölpelhaftesten und am wenigsten annehmbaren Irrtum darzustellen. Dank seiner Etymologie und den Erinnerungen aus der Zeit der begrenzten Zusammenstöße, die um die Mitte des Jahrhunderts Ost und West – das konzentrierte und das diffuse Spektakuläre – für kurze Zeit einander gegenüberstellten, tut der Kapitalismus des integrierten Spektakulären auch heute noch so, als glaube er, der Kapitalismus der totalitären Bürokratie – zuweilen als Ausgangsbasis und Inspirationsquelle der Terroristen präsentiert – bleibe sein Hauptfeind, so wie jener dasselbe von diesem behaupten wird, den zahllosen Beweisen, die von ihrer tiefgehenden Allianz und Solidarität zeugen, zum Trotz. Tatsächlich denken alle etablierten Machtapparate, ungeachtet einiger wirklicher lokalen Rivalitäten und ohne es zugeben zu wollen, fortwährend, was einmal auf Seiten der Subversion und zu diesem Zeitpunkt ohne großen Erfolg einer der wenigen deutschen Internationalisten nach Ausbruch des ersten Weltkriegs ins Gedächtnis zu rufen wußte: »Der Hauptfeind steht im eigenen Land.« Letztendlich ist die Desinformation gleichbedeutend mit dem, was die »bösen Leidenschaften« in der Sprache des sozialen Krieges des XIX. Jahrhunderts waren. Sie ist alles, was obskur ist und sich eventuell erfrechen könnte, das außergewöhnliche Glück anzufechten, das diese Gesellschaft bekanntlich denen zuteil werden läßt, die ihr Vertrauen schenken, ein Glück für das die diversen Risiken und kleinen Verdrießlichkeiten keinen zu hohen Preis darstellen. Und all die, die dieses Glück im Spektakel sehen, nehmen in Kauf, daß nichts für es zu teuer ist, während die anderen hingegen Desinformation betreiben.

Eine ganz bestimmte Desinformation auf diese Weise zu brandmarken, bietet einen weiteren Vorteil: der globale Diskurs des Spektakels kann mithin nicht bezichtigt werden, er enthalte Desinformation, ist er es doch, der mit wissenschaftlichster Gewißheit das Terrain zu bestimmen vermag, auf welchem die Desinformation kenntlich wird: alles was gesagt werden mag und ihm nicht gefällt.

Sicher irrtümlich – es sei denn aber, es handelt sich um einen bewußt ausgelegten Köder – ist unlängst viel Wirbel um ein Projekt gemacht worden, Medienprodukten eine Art offizielles Gütesiegel »Garantiert ohne Desinformation« zu verleihen. Gewisse Medienleute, die noch glauben, oder bescheidener, glauben machen möchten, sie seien nicht bereits jetzt schon effektiv zensiert, fühlten sich gekränkt. Vor allem aber hat das Konzept »Desinformation« selbstverständlich nicht defensiv verwendet zu werden und noch weniger in einer statischen Verteidigung, als Bestückung einer Chinesischen Mauer, einer Maginotlinie, die vollständig einen Raum zu decken hätte, zu dem der Desinformation der Zutritt gewissermaßen verwehrt ist. Desinformation muß sein. Sie hat fließend zu bleiben, sie muß überall durchkommen können. Wo der Diskurs des Spektakels nicht angefochten wird, wäre eine Verteidigung Unsinn; und dieses Konzept der Desinformation würde sich sehr schnell abnutzen, verteidigte es ihn wider aller Evidenz in Punkten, die ganz im Gegenteil es vermeiden müssen, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Darüber hinaus ist den Autoritäten nicht wirklich daran gelegen zu garantieren, daß eine bestimmte Nachricht keine Desinformation enthält. Im übrigen fehlen ihnen dazu die Mittel: so groß ist der Respekt nicht, der ihnen entgegengebracht wird, und so würde nur der Verdacht auf die betreffende Information gelenkt werden. Das Konzept der Desinformation ist nur im Gegenangriff von Nutzen. Es muß in zweiter Linie gehalten werden, um im Falle einer hervorbrechenden Wahrheit augenblicklich nach vorne geworfen zu werden, um sie zurückzudrängen.

Sollte eine Art außerplanmäßiger Desinformation auftreten, im Dienst irgendwelcher, vorübergehend in Konflikt stehenden Sonderinteressen Glauben finden und dadurch vorübergehend außer Kontrolle geraten und sich so der umfassenden Arbeit einer verantwortungsbewußteren Desinformation in den Weg stellen, dann besteht kein Grund zur Befürchtung, hier könnten sachverständigere oder feinfühligere Manipulateure am Werk sein: es ist einfach so, daß sich die Desinformation nunmehr in einer Welt entfaltet, in der für Verifizierung jedweder Art kein Platz mehr ist.

Das begriffsverwirrende Konzept der Desinformation wird in den Vordergrund gestellt, um durch bloße Nennung seines Namens auf der Stelle jede Kritik zu widerlegen, die auszuschalten die diversen Agenturen der Organisation des Schweigens nicht ausgereicht hätten. So könnte man denn auch eines Tages, sollte dies opportun erscheinen, behaupten, dieses Buch sei ein Unternehmen zur Desinformation über das Spektakel oder zur Desinformation zum Schaden der Demokratie, was dasselbe ist.

Im Gegensatz zu dem, was sein umgekehrtes spektakuläres Konzept beteuert, kann nur der Staat desinformieren, hier und jetzt, unter seiner direkten Leitung oder auf Betreiben derer, die dieselben Werte verteidigen. Die Desinformation wohnt denn der gesamten existierenden Information inne, und zwar als ihr wesentlicher Charakter. Sie wird nur da beim Namen genannt, wo es durch Einschüchterung die Passivität beizubehalten gilt. Wo die Desinformation beim Namen genannt wird, existiert sie nicht; Wo sie existiert, wird sie nicht beim Namen genannt.

Als es noch einander befehdende Ideologien gab, die sich für oder gegen diesen oder jenen Aspekt der Wirklichkeit stark machten, gab es Fanatiker und Lügner, aber keine »Desinformateure«.

Wenn Respekt vor dem spektakulären Konsens oder zumindest Verlangen nach einem spektakulären Nimbus nicht mehr erlauben, unmißverständlich zu sagen, wogegen man ist oder desgleichen, was man mit allen seinen Konsequenzen gutheißt, und sich dabei oft gezwungen sieht, einen Aspekt zu verschweigen, den man aus irgendeinem Grund für gefährlich erachtet in dem. was man angeblich befürwortet, dann betreibt man Desinformation aus Leichtsinn, Vergeßlichkeit oder aus einem vermeintlichen Trugschluß heraus. Auf dem Gebiet der Kontestation in den Jahren nach 1968 waren die unfähigen »Pro-situs« genannten Rekuperateure die ersten Desinformateure, verheimlichten sie doch so gut es ging die praktischen Manifestationen, durch welche die Kritik sich bekräftigt hatte, auf deren Übernahme sie sich soviel zugute hielten. Mitnichten darum verlegen, deren Ausdruck abzuschwächen, unterließen sie es tunlichst, etwas oder jemanden zu zitieren, um den Eindruck zu erwecken, sie selber hätten etwas gefunden.

XVII

Einen berühmten Ausspruch Hegels umkehrend schrieb ich bereits 1967, daß »in der wirklich umgekehrten Welt das Wahre ein Moment des Falschen ist«. Die Jahre, die seitdem verflossen sind, haben die Fortschritte gezeigt, die dieses Prinzip auf allen Gebieten, ohne Ausnahme, gemacht hat.

So wird es in einer Epoche, in der die Existenz zeitgenössischer Kunst ein Unding ist, schwierig, ein Urteil über die klassischen Künste abzugeben. Hier wie anderswo wird Ignoranz einzig zum Zweck ihrer Exploitation hervorgebracht. Zur gleichen Zeit wie sowohl Geschichtssinn als auch Geschmack verlorengehen, werden Fälscherringe organisiert. Es genügt, die Experten und Auktionatoren in die Hände zu bekommen – und dies ist recht einfach -, um alles durchzubringen, denn bei Geschäften dieser Art, wie letztlich bei allem übrigen, ist es der Verkauf, der den Wert bestätigt. Danach sind es die Sammler oder die Museen – in erster Linie die vor Fälschungen nur so strotzenden Museen Amerikas -, denen an der Wahrung ihres guten Rufs gelegen ist, so wie der Weltwährungsfonds die Fiktion des positiven Wertes der riesigen Schulden von hundert Nationen aufrechterhält.

Das Falsche bildet den Geschmack und stützt das Falsche, indem es vorsätzlich die Möglichkeit der Bezugnahme auf das Authentische beseitigt. Selbst das Echte wird, sobald dies möglich ist, imitiert, damit es dem Falschen besser ähnelt. Die ersten, die sich in diesem Handel mit Kunstfälschungen foppen lassen, sind, weil am reichsten und modernsten, die Amerikaner. Und gerade sie sind es, die die Restaurierungsarbeiten in Versailles und der Sixtinischen Kapelle finanzieren. Deshalb müssen Michelangelos Fresken die aufgefrischten Farben von Comic-Heften bekommen und die Übergoldung der echten Möbel von Versailles jenen hellen Glanz, der sie stark den falschen Louis XIV-Möbeln ähneln läßt, die unter großem Kostenaufwand nach Texas exportiert werden.

Feuerbachs Urteil, daß seine Zeit »das Bild der Sache, die Kopie dem Original und die Vorstellung der Wirklichkeit« vorziehe, ist durch das Jahrhundert des Spektakels voll und ganz bestätigt worden, und dies auf mehreren Gebieten, auf denen das XIX. Jahrhundert abseits hatte bleiben wollen zu dem, was bereits zutiefst seine Natur war: der kapitalistischen Industrieproduktion. So hatte die Bourgeoisie in hohem Maße dazu beigetragen, den strengen Museumsgeist, den des Originalgegenstands, der exakten historischen Kritik und des echten Dokuments zu verbreiten. Heute aber strebt allenthalben die Fälschung danach, an die Stelle des Echten zu treten. In diesem Zusammenhang kommt es sehr gelegen, daß die durch den Automobilverkehr verursachte Umweltverschmutzung es notwendig macht, Marlys Pferde oder die romanischen Statuen des Saint Trophime-Tors durch Plastikrepliken zu ersetzen. So wird denn alles schöner sein als zuvor, damit die Touristen es fotografieren können.

Den Höhepunkt erreichen wir zweifelsohne in China mit der lächerlichen bürokratischen Fälschung der lebensgroßen Statuen der riesigen Industriearmee des ersten Kaisers, die in situ zu bewundern soviele reisende Staatsmänner eingeladen worden sind. Daß man sich so fürchterlich über sie hat lustig machen können, beweist denn auch, daß keiner von ihnen unter der Masse ihrer Berater über einen einzigen verfügte, der die Geschichte der Kunst in China und außerhalb Chinas kannte. Deren Instruktion ist bekanntlich eine ganz andere gewesen: »Dem Computer, Euer Exzellenz, ist darüber nichts bekannt.« Allein die Feststellung, daß man zum ersten Mal ohne jede Kunstkenntnis zu regieren vermag, ohne jeden Sinn für das, was echt, oder das, was unmöglich ist, dürfte hinreichen, um zu argwöhnen, daß alle diese naiven Schwätzer von Wirtschaft und Verwaltung die Welt aller Wahrscheinlichkeit nach irgendeiner großen Katastrophe entgegenführen, hätte ihre wirkliche Praxis dies nicht bereits schon bewiesen.

XVIII

Unsere Gesellschaft basiert auf dem Geheimnis. Von den »Scheinfirmen«, die verhindern, daß Licht auf die konzentrierten Güter der Besitzenden fällt, bis hin zur »Geheimen Verteidigungssache«, die heute ein immenses Gebiet abdeckt, in dem der Staat eine unumschränkte, über die Justiz erhabene Freiheit genießt, von den oft erschreckenden Geheimnissen der Schundfabrikation, die sich hinter der Werbung verbirgt, bis hin zu den Projizierungen der Varianten der extrapolierten Zukunft, an denen alleine die Macht abliest, welchen Lauf wahrscheinlich das nehmen wird, was, wie sie beteuert, schlichtweg nicht existiert, wobei sie die Antworten kalkuliert, die es heimlich darauf geben wird. Diesbezüglich lassen sich einige Bemerkungen anstellen.

Sowohl in den Großstädten als auch in bestimmten Schutzgebieten auf dem Lande wächst die Zahl der Orte, zu denen der Zugang verwehrt ist, das heißt solche, die bewacht, gegen jeglichen Einblick abgeschirmt, der harmlosen Neugier entzogen und bestens gegen Spionage geschützt sind. Obwohl nicht alle im strengen Sinne militärisch, sind sie, entsprechend diesem Modell, vor jeder möglichen Kontrolle durch Passanten oder Einwohner sicher und sogar vor der der Polizei, deren Funktion schon seit langem nur noch in der bloßen Überwachung und Bekämpfung der gewöhnlichen Kriminalität besteht. Als zum Beispiel in Italien Aldo Moro Gefangener von Potere Due war, da hielt man ihn nicht in einem mehr oder minder unauffindbaren Gebäude fest, sondern schlicht und einfach in einem, in das es kein Hineinkommen gab.

Auch die Zahl derer wächst, die für geheime Aktivitäten ausgebildet werden, deren Unterweisung und Training einzig dazu dient. Hierbei handelt es sich um Spezialabteilungen von Männern, die über Sonderarchive verfügen, das heißt über Geheimbeobachtungen und -analysen. Andere verfügen über die verschiedenen Techniken zur Auswertung und Manipulation dieser Geheimangelegenheiten. Was schließlich die »Aktionseinheiten« anbetrifft, so können diese ebenfalls mit anderen Mitteln zur Vereinfachung der studierten Probleme ausgestattet werden.

Die Spezialisten der Überwachung und Beeinflussung finden mit dem Anwachsen der ihnen zu Gebote stehenden Mittel auch Bedingungen vor, die mit jedem Jahr günstiger werden. Seit zum Beispiel die neuen Bedingungen der Gesellschaft des integrierten Spektakulären ihre Kritik dazu zwangen, effektiv klandestin zu bleiben, nicht etwa, weil sie sich versteckt, sondern weil sie durch die schwerfällige Inszenierung des Zerstreuungsdenkens versteckt wird, können diejenigen, die doch die nämliche Kritik überwachen und gegebenenfalls dementieren sollen, letztendlich all das gegen sie verwenden, worauf für gewöhnlich im klandestinen Milieu zurückgegriffen wird: Provokation, Infiltrierungen, sowie diverse Formen der Eliminierung authentischer Kritik zugunsten einer falschen, die eigens zu diesem Zweck erstellt werden mochte. Die Unsicherheit wächst in jeder Hinsicht, wenn der allgemeine Schwindel des Spektakels sich um die Möglichkeit bereichert, zu zahllosen besonderen Schwindeleien zu greifen. Ein ungeklärtes Verbrechen kann auch als Selbstmord hingestellt werden, im Gefängnis oder anderswo, und die Auflösung der Logik ermöglicht Untersuchungen und Prozesse, die senkrecht ins Vernunftwidrige emporschießen und die oft von Anfang an verfälscht sind durch ausgefallene, von einzigartigen Experten vorgenommenen Autopsien.

Seit langem schon hat man sich allenthalben daran gewöhnt, daß mit allen möglichen Leuten kurzer Prozeß gemacht wird. Namentliche oder mutmaßliche Terroristen werden offen mit terroristischen Mitteln bekämpft. Der Mossad zieht in die Ferne, um Abu Djihad zu töten, die englische S.A.S Iren und die Parallelpolizei der G.A.L Basken. Die, die durch angebliche Terroristen getötet werden, sind nicht ohne Grund dafür ausgesucht worden. Im großen und ganzen ist es jedoch unmöglich, diese Gründe mit Sicherheit zu kennen. So mag man wissen, daß der Bahnhof von Bologna in die Luft flog, damit Italien weiterhin gut regiert wird, was die »Todesschwadronen« in Brasilien sind und daß die Mafia in den USA ein Hotel in Brand steckt, um einer Schutzgeldforderung Nachdruck zu verleihen. Wie aber kann man wissen, wozu eigentlich die »Tueurs fous du Brabant« gedient haben mögen? In einer Welt, in der so viele agierende Interessen so gut verborgen sind, fällt es schwer, das Prinzip Cui prodest? anzuwenden. So kommt es, daß man unter dem integrierten Spektakulären am Konfluenzpunkt einer überaus großen Anzahl von Geheimnissen lebt und stirbt.

Polizei- und Mediengerüchte nehmen augenblicklich, schlimmstenfalls nach drei- oder viermaliger Wiederholung, das unbestrittene Gewicht jahrhundertealter historischer Beweise an. Auf Geheiß der legendären Autorität des Spektakels vom Tage tauchen merkwürdige, in aller Heimlichkeit eliminierte Persönlichkeiten wieder als fiktive Überlebende auf, deren Rückkehr stets erwähnt oder vermutet und durch das bloße Geschwätz der Spezialisten bewiesen werden kann. Jene Toten, die das Spektakel nicht standesgemäß beerdigt hat, wandeln irgendwo zwischen Acheron und Lethe herum. Schlafen sollen sie, bis daß man sie wieder wecken mag, sie alle, der Terrorist, der wieder von den Hügeln hinabgestiegen, der Pirat, der von der See zurück ist und der Dieb, der nicht mehr zu stehlen braucht.

So wird überall Unsicherheit organisiert. Der Schutz der Herrschaft geht sehr oft durch Scheinangriffe vor, deren Behandlung in den Medien die wirkliche Operation aus den Augen verlieren läßt. So zum Beispiel der seltsame Handstreich Tejeros und seiner Zivilgardisten 1981 in den Cortes, dessen Scheitern ein anderes, moderneres Pronunziamiento kaschieren sollte, eines, das maskiert und dem Erfolg beschieden war. Das ebenso auffällige Scheitern eines Sabotageversuchs durch französische Spezialeinheiten 1985 in Neuseeland ist von manchen als eine List angesehen worden, deren Zweck es möglicherweise war, die Aufmerksamkeit von den zahlreichen neuen Verwendungsmöglichkeiten dieser Dienste abzulenken, dadurch, daß man den Glauben an ihre groteske Ungeschicktheit bei der Wahl der Ziele wie auch bei den Bedingungen der Durchführung erweckte. Mit größerer Sicherheit ist fast überall die Ansicht vertreten worden, daß die geologischen Nachforschungen nach Ölvorkommen im Boden unter der Stadt Paris,die mit viel Lärm im Herbst 1986 durchgeführt wurden, keine ernstere Absicht hatten, als zu messen, welchen Grad an Stumpfsinn und Unterwerfung die Einwohner wohl erreicht hatten und zwar dadurch, daß man ihnen angebliche Bohrungen zeigt, die wirtschaftlich gesehen hirnrissig sind.

So mysteriös ist die Macht geworden, daß man sich nach der Affäre der illegalen Waffenverkäufe an den Iran durch die Präsidentschaft der USA hat fragen können, wer wirklich in den Vereinigten Staaten, der stärksten Macht der sogenannten freien Welt, das Sagen hat? Und wer, zum Teufel, in der freien Welt dann das Sagen hat?

Gehen wir den Dingen tiefer nach, so weiß in dieser Welt, die offiziell so voller Respekt ist für wirtschaftliche Notwendigkeiten aller Art, niemand, was ein beliebiges Produkt wirklich kostet: tatsächlich wird der Hauptanteil der wirklichen Kosten nie berechnet und der Rest wird geheimgehalten.

XIX

General Noriega hat Anfang 1988 einen Augenblick lang Weltberühmtheit erlangt. Er war der titellose Diktator Panamas, eines Landes ohne Armee, in dem er die Nationalgarde befehligte. Denn Panama ist nicht wirklich ein souveräner Staat. Das Land ist seines Kanals wegen gegraben worden und nicht umgekehrt. Seine Währung ist der Dollar, und die wirkliche Armee, die dort stationiert ist, ist ebenfalls ausländischer Herkunft. Noriega hatte somit, hierin eins mit Jaruzelski in Polen, seine ganze Karriere als Polizei-General im Dienste des Besatzers gemacht. Er importierte Rauschgift in die USA, denn Panama bringt nicht genug ein, und exportierte seine »panamesischen« Kapitalien in die Schweiz. Er hatte mit dem C.I.A. gegen Kuba gearbeitet und zudem, um seinen wirtschaftlichen Aktivitäten einen adäquaten Deckmantel zu geben, den amerikanischen Behörden, die dermaßen besessen von diesem Problem waren, eine gewisse Anzahl seiner Importrivalen ans Messer geliefert. Sein erster Sicherheitsberater war der beste, der auf dem Markt zu finden war, und erweckte sogar Washingtons Neid: Michael Harari, ein ehemaliger Offizier des israelischen Geheimdiensts Mossad. Als sich die Amerikaner -mehrere ihrer Gerichtshöfe hatten ihn unvorsichtigerweise verurteilt – dieses Individuums haben entledigen wollen, ließ Noriega verlauten, er sei aus Vaterlandsliebe zu Panama bereit, sich tausend Jahre lang sowohl gegen sein meuterndes Volk als auch gegen das Ausland zu verteidigen; und auf der Stelle spendeten die biederen bürokratischen Diktaturen Kubas und Nicaraguas im Namen des Anti-Imperialismus öffentlich Beifall.

Weit entfernt davon, ein streng auf Panama beschränktes Kuriosum zu sein, war der General Noriega – der alles verkauft und simulierte einer Welt, die es ihm überall, durch und durch, gleichtut und zwar i als eine Art Staatsmann einer Art von Staat, als eine Art General, wie auch als Kapitalist – ein perfektes Beispiel des integrierten Spektakulären und der Erfolge, die es in den verschiedensten Richtungen seiner S Innen- und Außenpolitik möglich macht. Er ist ein Modell des Fürsten unserer Zeit; und die Fähigsten unter denen, die sich anschicken, die Macht zu ergreifen oder an der Macht zu bleiben, weisen große Ähnlichkeit mit ihm auf. Nicht Panama bringt dergleichen Wunder hervor, sondern diese Epoche.

XX

Für jeden Nachrichtendienst, hierin mit der richtigen clausewitzschen Theorie vom Kriege übereinstimmend, hat Wissen Macht zu werden. Daraus bezieht dieser Dienst gegenwärtig sein Prestige, diese ihm so eigene Poesie. Nun da die Intelligenz bis auf den letzten Rest aus dem Spektakel, das kein Handeln gestattet und über die Handlungen der Anderen nicht viel Wahres verlauten läßt, verjagt worden ist, scheint sie geradezu Zuflucht unter denen gesucht zu haben, die Tatbestände analysieren und auf diese geheim einzuwirken versuchen. Unlängst haben Enthüllungen, die Margaret Thatcher verzweifelt zu unterdrücken versucht hat – vergeblich jedoch und sie sogar noch bekräftigend- , gezeigt, daß in England diese Dienste bereits imstande waren, den Fall einer Regierung herbeizuführen, deren Politik sie als gefährlich erachteten. Die allgemeine Verachtung, die das Spektakel hervorruft, verleiht so dem neue Anziehungskraft, was aus anderen Gründen zu Kiplings Zeiten das »große Spiel« genannt wurde.

Im neunzehnten Jahrhundert, zu einer Zeit, da so viele gewaltige Sozialbewegungen die Massen erschütterten, war die »polizistische Geschichtsauffassung« eine reaktionäre und lächerliche Erklärung. Die Pseudo-Kontestatäre von heute wissen dies nur zu gut, vom Hörensagen und aus ein paar Büchern. Sie glauben, diese Schlußfolgerung bleibe für alle Zeiten wahr. Die wirkliche Praxis ihrer Zeit wollen sie nicht sehen, ist sie doch zu trist für ihre kalten Hoffnungen. Der Staat weiß das sehr gut und profitiert davon.

Zu einem Zeitpunkt, da fast alle Aspekte des internationalen politischen Lebens und eine wachsende Anzahl derer, die innenpolitisch von Bedeutung sind, im Stil von Geheimdienstoperationen gerührt und gezeigt werden, mit Ködern, Desinformation und doppelter Erklärung – die, die eine andere hinter sich verbergen mag oder bloß den Anschein davon hat -, gibt das Spektakel sich damit zufrieden, die ermüdende Welt des obligatorisch Unverständlichen vor Augen zu führen, eine langweilige Serie lebloser Kriminalromane, denen fast immer der Schluß fehlt. Hier hat die realistische Inszenierung eines nächtlichen Kampfes zwischen Negern in einem Tunnel für die hinreichende dramatische Spannung zu sorgen.

Die Dummheit glaubt, alles sei klar, wenn das Fernsehen ein schönes Bild gezeigt und mit einer dreisten Lüge kommentiert hat. Die Halb-Elite begnügt sich mit dem Wissen darum, daß fast alles obskur, doppelbödig und nach unbekannten Codes »abgekartet« ist. Eine geschlossenere Elite möchte gerne die Wahrheit kennen, die trotz aller Sonderinformationen und vertraulichen Mitteilungen, über die sie verfügt, in jedem Fall nur äußerst schwer auszumachen ist. Deshalb hätte sie liebend gerne gewußt, welche die Methode zum Erkennen der Wahrheit ist, wenngleich bei ihr diese Liebe im allgemeinen unglücklich bleibt.

XXI

Das Geheimnis beherrscht diese Welt zunächst als Geheimnis der Herrschaft. Dem Spektakel zufolge ist das Geheimnis weiter nichts als die notwendige Ausnahme zur Regel der auf der gesamten Oberfläche der Gesellschaft im Überfluß angebotenen Information, so wie die Herrschaft in dieser »freien Welt« des integrierten Spektakulären lediglich eine Exekutivabteilung im Dienste der Demokratie ist. Doch niemand glaubt dem Spektakel so recht. Wie kommt es, daß die Zuschauer die Existenz des Geheimnisses akzeptieren, welches an sich schon garantiert, daß eine Welt, deren wesentliche Realitäten sie ignorieren, auch nicht von ihnen verwaltet werden könnte, fragte man sie ausnahmsweise einmal nach ihrer Meinung darüber, wie dies zu bewerkstelligen sei? Tatsache ist, daß das Geheimnis so gut wie niemandem in seiner unzugänglichen Reinheit, seiner funktionellen Allgemeinheit vor Augen tritt. Ein jeder räumt ein, daß es ohne eine kleine, Spezialisten vorbehaltene Geheimzone gar nicht anders geht, und was die Dinge im allgemeinen betrifft, so meinen viele, ins Geheimnis eingeweiht zu sein.

La Boetie hat in seiner Rede über die freiwillige Knechtschaft aufgezeigt, wie die Macht des Tyrannen allenthalben Beistand finden muß in den konzentrisch um sie angelegten Kreisen von Individuen, die in ihr Nutzen finden oder zu finden glauben. Und so wissen denn viele unter den Politikern und Medienleuten, die sich etwas darauf einbilden, daß niemand sie der Verantwortungslosigkeit bezichtigen kann, so manches durch Beziehungen und vertrauliche Informationen. Wer damit zufrieden ist, ins Geheimnis eingeweiht zu sein, der wird sich schwerlich zur Kritik daran verleiten lassen, noch wird ihm klar werden, daß der hauptsächliche Wirklichkeitsgehalt dieser Nachrichten ihm stets vorenthalten bleibt. Durch die wohlwollende Protektion der Falschspieler kennt er ein paar Karten mehr, die allerdings gezinkt sein mögen. Die Methode, die das Spiel regelt und erklärt, bleibt ihm aber stets unbekannt. So identifiziert er sich denn unverzüglich mit den Manipulateuren und blickt verächtlich auf die Unwissenheit herab, die er im Grunde doch teilt. Denn die Brocken Information, die den Vertrauten der verlogenen Tyrannei vorgeworfen werden, sind gewöhnlich mit Lüge infiziert, unüberprüfbar und manipuliert. Denen, die zu ihnen Zugang haben, bereiten sie jedoch große Freude, denn sie fühlen sich denjenigen, die nichts wissen, überlegen. Im übrigen taugen diese Informationen einzig zum besseren Gutheißen der Herrschaft, nie aber, um sie wirklich zu verstehen. Sie bilden das Privilegium der l. Klasse-Zuschauer: jener, die so dumm sind und glauben, sie könnten etwas verstehen, nicht etwa dadurch, daß sie sich dessen bedienen, was man l ihnen verheimlicht, sondern indem sie glauben, was man ihnen enthüllt!

Die Herrschaft ist zumindest darin hellsichtig, daß sie nämlich von ihrer eigenen freien und ungehinderten Verwaltung für die allernächste Zukunft eine recht stattliche Anzahl von Katastrophen erster Ordnung erwartet und dies sowohl auf ökologischem – in der Chemie zum Beispiel – als auch auf wirtschaftlichem Gebiet – im Bankwesen zum Beispiel. Seit geraumer Zeit bereits hat sie sich mit den Mitteln versehen, diesen außergewöhnlichen Malheuren anders zu begegnen, als durch die gewohnte Handhabung der sanften Desinformation.

XXII

Was die seit mehr als zwei Jahrzehnten im Anstieg begriffene Zahl gänzlich unaufgeklärter Morde anbetrifft – wurde mitunter auch ein Komparse geopfert, kam es nie in Frage, zu den Auftraggebern zurückzugehen -, so wird ihr Serienproduktionscharakter in den flagranten und wechselnden Lügen der offiziellen Verlautbarungen deutlich; Kennedy, Aldo Moro, Olof Palme, Minister oder Bankiers, ein oder zwei Päpste und andere, die besser waren als sie. Dieses Syndrom einer erst seit kurzem erworbenen Gesellschaftskrankheit hat sich allerorts schnell verbreitet, so als stiege es, seit den ersten konstatierten Fällen, hinab von den Spitzen des Staates, der herkömmlichen Sphäre solcher Attentate und gleichzeitig aus den Niederungen der Gesellschaft empor, der anderen gewohnten Stätte illegaler Schieberei und Protektionen, wo diese Art Krieg, unter Profis, von jeher gang und gäbe ist. Diese Praktiken neigen dazu, einander in der Mitte, im Geschäftsmilieu der Gesellschaft, zu begegnen, so als ob der Staat eine Einmischung wirklich nicht als unter seiner Würde erachtete und es der Mafia gelänge, sich dorthin emporzuschwingen, wodurch eine Art Vereinigung zustande kommt.

Was ist nicht alles angerührt worden, um diese neue Art von Geheimnis aus dem Zufall zu erklären: Unfähigkeit der Polizeiapparate, Dummheit der Untersuchungsrichter, inopportune Presseenthüllungen, Wachstumskrise der Geheimdienste, Böswilligkeit der Zeugen und Streik der Denunziantenkorporation. Und doch hatte bereits Edgar Allan Poe durch seinen berühmten Gedankenschluß im Doppelmord in der RueMorgue herausgefunden, in welcher Richtung die Wahrheit mit Sicherheit zu suchen ist:

»Mir scheint, als ob das für unlösbar gehaltene Geheimnis durchaus nicht unergründlich ist. Ich will damit sagen, daß gerade der outrierte Charakter aller Einzelheiten nur ein kleines und deutlich begrenztes Feld von Vermutungen zuläßt… Bei Untersuchungen dieser Art sollte man nicht so rasch fragen: was ist hier geschehen, als: was ist hier geschehen, was noch nicht vorher geschehen ist.«

XXIII

Im Januar 1988 veröffentlichte die kolumbianische Rauschgiftmafia ein Kommuniqué, mit dem sie die öffentliche Meinung über ihre vermeintliche Existenz ins Bild setzen wollte. Von Natur aus ist es das erste Bedürfnis einer Mafia, wo immer sie sich auch gebildet haben mag, zu etablieren, daß es sie nicht gibt oder daß sie das Opfer unwissenschaftlicher Verleumdungen ist. Hierin liegt ihre erste Ähnlichkeit mit dem Kapitalismus. Im vorliegenden Fall ist die Mafia, verärgert darüber, daß man sie allein ins Rampenlicht gestellt hat, soweit gegangen, all die Gruppierungen zu erwähnen, die sich am liebsten vergessen machen ließen, indem sie die Mafia ungerechterweise zum einzigen Sündenbock erklärten. »Wir gehören weder der bürokratischen noch der politischen Mafia an, weder der Mafia der Bankiers und Finanziers, noch der der Millionäre, weder der Mafia der großen Schwindelverträge, noch der der Monopole, des Erdöls oder der großen Kommunikationsmittel«, erklärt sie.

Sicher geht man nicht fehl in der Annahme, daß den Verfassern dieser Erklärung daran gelegen ist, ganz so wie die anderen, ihre eigenen Praktiken in den breiten Strom der trüben Wasser der Kriminalität auszuschütten, der die heutige Gesellschaft in ihrer ganzen Existenz bespült. Doch genauso muß man eingestehen, daß es sich hier um Leute handelt, die berufsmäßig besser wissen, wovon sie reden. Auf dem Boden der modernen Gesellschaft gedeiht die Mafia allenthalben prächtig. Sie wächst ebenso rasch wie die übrigen Arbeitserzeugnisse, mit der die Gesellschaft des integrierten Spektakulären ihrer Welt Gestalt verleiht. Die Mafia wächst mit den enormen Fortschritten der Computer und der Nahrungsmittelindustrie, den Fortschritten der radikalen Umstrukturierung der Städte und denen der Slums, der Spezialabteilungen und des Analphabetentums.

XXIV

Als die Mafia mit der Einwanderung sizilianischer Arbeiter zu Beginn des Jahrhunderts in den USA von sich reden machte, war sie lediglich ein verpflanzter Archaismus, so wie zur selben Zeit an der Westküste Bandenkriege zwischen chinesischen Geheimgesellschaften entbrannten. Fußend auf Obskurantismus und Elend, vermochte die Mafia nicht einmal in Norditalien Wurzel zu fassen. Sie schien dazu verurteilt, überall vor dem modernen Staat zurückzutreten, und stellte eine Form des organisierten Verbrechens dar, die sich nur durch den »Schutz« rückständiger Minderheiten außerhalb der städtischen Lebenszone entwickeln konnte, dort wo der Kontrolle durch eine mit rationellen Mitteln arbeitende Polizei und den Gesetzen der Bourgeoisie der Zutritt versagt war. Die Defensivtaktik der Mafia konnte nie in etwas anderem als der Beseitigung von Zeugen bestehen, um Polizei und Justiz zu neutralisieren und das Schweigen, dessen sie in ihrem Tätigkeitsbereich bedarf, durchzusetzen. In der Folge hat sie ein neues Betätigungsfeld im neuen Obskurantismus der Gesellschaft des diffusen, dann des integrierten Spektakulären gefunden: mit dem totalen Sieg des Geheimnisses, der allgemeinen Demission der Bürger, dem völligen Verlust an Logik und den Fortschritten der universellen Verkäuflichkeit und Feigheit waren die günstigen Bedingungen vereint, sie zu einer modernen und offensiven Macht werden zu lassen.

Die amerikanische Prohibition – Musterbeispiel für die Ansprüche der Staaten dieses Jahrhunderts auf die autoritäre Kontrolle über alles und jedes und die daraus erwachsenden Ergebnisse – hat dem organisierten Verbrechen mehr als ein Jahrzehnt lang die Leitung des Alkoholhandels überlassen. Die Mafia, seitdem über Reichtum und Übung verfügend, hat sich in Wahlpolitik, Geschäfte, die Entwicklung des Markts für bezahlte Killer und gewisse Einzelheiten der Weltpolitik eingemischt. So wurde sie während des Zweiten Weltkriegs durch die Regierung in Washington begünstigt, um bei der Invasion Siziliens behilflich zu sein. An die Stelle des erneut legalisierten Alkohols traten die Rauschmittel, die dann zur führenden Ware unter den illegalen Konsumgütern wurden. In der Folge hat sie eine beachtliche Bedeutung im Immobiliensektor, den Banken, der hohen Politik und den bedeutenden Staatsgeschäften und schließlich in der Unterhaltungsindustrie – Fernsehen, Film und Verlagswesen – erlangt. Auch gilt dies bereits, in den Vereinigten Staaten jedenfalls, für die Schallplattenindustrie, wie überall da, wo das Bekanntwerden eines Produkts von einer recht eng begrenzten Anzahl von Leuten abhängt. Druck auf diese auszuüben ist ein Leichtes, entweder indem man sie kauft oder einschüchtert, denn an hinreichend Kapital oder Handlangern, die weder identifiziert noch bestraft werden können, fehlt es gewiß nicht. Durch Bestechung der Discjockeys wird darüber entschieden, welcher unter gleich miserablen Waren Erfolg beschieden sein soll.

Ohne Zweifel hat die Mafia, im Anschluß an ihre amerikanischen Erfahrungen und Eroberungen, ihre größte Macht in Italien erlangt: seit ihrem historischen Kompromiß mit der Parallelregierung ist sie in der Lage, Untersuchungsrichter oder Polizeichefs töten zu lassen – eine Praktik, die sie durch ihre Beteiligung an den Inszenierungen des politischen »Terrorismus« hat einweihen können. Die Entwicklung des japanischen Gegenstücks zur Mafia unter relativ unabhängigen Umständen ist ein guter Beweis für die Einheit der Epoche.

Man geht jedesmal fehl, will man etwas beweisen, indem man die Mafia dem Staat gegenüberstellt: diese sind nie Widersacher. Leicht verifiziert die Theorie, was alle Gerüchte des praktischen Lebens mit allzu großer Leichtigkeit aufgezeigt haben. Die Mafia ist nicht fremd in dieser Welt, sondern völlig in ihr zuhause. Im Augenblick des integrierten Spektakulären herrscht sie tatsächlich als das Modell aller fortgeschrittenen Geschäftsunternehmungen.

XXV

Mit den neuen Bedingungen, die nun in der unter der eisernen Ferse des Spektakels erdrückten Gesellschaft vorherrschen, erscheint beispielsweise ein politisches Attentat bekanntlich in einem neuen, gewissermaßen gedämpften Licht. Überall gibt es viel mehr Verrückte als früher. Unvergleichlich bequemer aber ist, daß man darüber auf verrückte Art und Weise reden kann. Und nicht etwa irgendeine Schreckensherrschaft gebietet solche Medienerklärungen. Im Gegenteil, die friedliche Existenz dieser Erklärungen ist es, die den Schrecken hervorrufen soll.

Als 1914, unmittelbar vor Kriegsausbruch, Villain Jaures ermordete, da zweifelte niemand daran, daß Villain, ein sicher nicht sehr ausgeglichenes Individuum, geglaubt hatte, Jaures töten zu müssen, weil die Extremisten der patriotischen Rechten, die Villain tief beeinflußt hatten, in Jaures jemanden sahen, der eine Gefahr für die Verteidigung des Landes darstellte. Was diese Extremisten aber unterschätzt hatten, war die unerhörte Kraft der patriotischen Zustimmung in der sozialistischen Partei, die diese im Nu zur »Heiligen Allianz« treiben sollte, gleich ob Jaures nun ermordet oder man ihm dagegen die Gelegenheit gelassen hätte, auf seiner internationalistischen, kriegsgegnerischen Position zu beharren. Heutzutage würden angesichts eines solchen Ereignisses die Polizisten-Journalisten, offenkundige Experten in Sachen »Gesellschaft« und »Terrorismus«, sofort anführen,Villain sei dafür bekannt gewesen, wiederholt Anstalten zu Mordversuchen gemacht zu haben, wobei dieser Trieb sich jedesmal gegen Männer gerichtet habe, die verschiedenste politische Anschauungen gehabt, alle aber zufällig Jaures in Aussehen oder Kleidung ähnlich gesehen hätten. Psychiater würden dies bezeugen, und die Medien – indem sie bescheinigen, daß jene es bezeugt haben – würden durch diese bloße Tatsache ihre Kompetenz und Neutralität als unvergleichbar befähigte Experten beweisen. Die offiziellen Polizeiermittlungen ergäben bereits am nächsten Tag schon, daß man gerade mehrere respektable Persönlichkeiten gefunden habe, die bereit seien zu bezeugen, daß eben jener Villain – sich eines Tages im Café »Chope du Croissant« schlecht bedient wähnend – in ihrer Gegenwart lautstark gedroht habe, sich demnächst am Wirt zu rächen, indem er vor aller Augen auf der Stelle einen seiner besten Kunden niederschießen würde.

Dies will nicht heißen, daß in der Vergangenheit die Wahrheit oft und sofort an den Tag kam, ist Villain doch von der französischen Justiz schließlich freigesprochen worden. Erst 1936 wurde er bei Ausbruch der spanischen Revolution erschossen, da er die Unvorsichtigkeit besessen hatte, die Balearen zu seinem Wohnsitz zu erwählen.

XXVI

Allenthalben wohnen wir der Bildung von Einflußkreisen oder Geheimgesellschaften bei. So wollen es die neuen Bedingungen für eine gewinnbringende Lenkung der wirtschaftlichen Angelegenheiten zu einem Zeitpunkt, da der Staat einen hegemonischen Anteil bei der Ausrichtung der Produktion innehat und bei allen Waren die Nachfrage eng auf die Zentralisation angewiesen ist, die auf dem Gebiet der spektakulären Anreiz-Information erzielt wurde und der sich auch die Distributionsformen werden anzupassen haben. Hierbei handelt es sich also lediglich um ein natürliches Produkt der Konzentration von Kapital, Produktion und Distribution. Was auf diesem Gebiet nicht expandiert, hat zu verschwinden, und ein Unternehmen vermag nur dann zu expandieren, wenn es sich der Werte, Techniken und Mittel dessen bedient, was heute Industrie, Spektakel und Staat sind. Letztendlich ist es die besondere Entwicklung, welche die Ökonomie unserer Zeit gewählt hat, die allenthalben die Bildung neuer Bande der Abhängigkeit und der Protektion durchsetzt.

Eben in diesem Punkt liegt die tiefe Wahrheit des von der sizilianischen Mafia gebrauchten Ausspruchs, der in ganz Italien so gut verstanden wird und der da lautet: »Wenn du Geld und Freunde hast, dann kann die Justiz dir gestohlen bleiben.« Im integrierten Spektakulären schlafen die Gesetze, denn sie sind nicht für die neuen Produktionstechniken geschaffen worden und werden in der Distribution durch Übereinkünfte neuen Typs umgangen. Was das Publikum denkt oder vorzieht, spielt keine Rolle mehr. Das ist es, was das Spektakel mit all den Meinungsumfragen, Wahlen und modernisierenden Umstrukturierungen kaschiert. Wer immer der Gewinner auch sein mag, die werte Kundschaft nimmt das Schlechteste wonach Hause: denn genau das ist es, was für sie produziert wurde.

Vom »Rechtsstaat« ist erst seit dem Augenblick ständig die Rede, da der moderne, sogenannte demokratische Staat generell aufgehört hat, ein solcher zu sein, und es ist kein Zufall, wenn der Ausdruck sich erst kurz nach 1970 verbreitet hat und zuerst just in Italien. Auf mehreren Gebieten macht man gar Gesetze eben in der Absicht, daß diese von denen umgangen werden, die dazu über alle Mittel verfügen. Unter bestimmten Umständen, beispielsweise beim Welthandel mit Waffen aller Art und öfter noch beim Handel mit Erzeugnissen der Spitzentechnologie, ist die Illegalität lediglich eine Art Hilfskraft der wirtschaftlichen Operation, die durch sie umso rentabler wird. Heutzutage sind viele Geschäfte zwangsweise so unlauter wie das Jahrhundert und nicht mehr wie einst, als sie in scharf voneinander abgegrenzten Folgen von Leuten praktiziert wurden, die den Weg der Unlauterkeit gewählt hatten.

Mit dem Wachsen der Promotions- und Kontrollnetze zum Abstecken und Behaupten exploitierbarer Marktsektoren wächst auch die Zahl der persönlichen Gefälligkeiten, welche denen nicht abgeschlagen werden können, die Bescheid wissen und die ebensowenig ihre Hilfe verweigert haben. Nicht immer handelt es sich hierbei um Polizisten oder um Hüter von Staatssicherheit und Staatsinteressen. Diese funktionellen Komplizenschaften wirken weit nach und auf lange lange Zeit, verfügen ihre Netze doch über alle Mittel, die Gefühle der Erkenntlichkeit und Treue aufzuzwingen, die in den Zeiten der freien Tätigkeit der Bourgeoisie leider stets so selten waren.

Es gibt immer etwas von seinem Gegner zu lernen. So möchte man glauben, daß auch die vom Staat dazu bewogen worden sind, die Bemerkungen des jungen Lukács über die Konzepte Illegalität und Legalität zu lesen, und zwar in dem Augenblick, da sie den ephemeren Durchgang einer neuen Generation des Negativen zu bewältigen hatten – »ganz wie der Blätter Geschlecht so sind die Geschlechter der Menschen«, heißt es bei Homer. Von da an haben die vom Staat, so wie wir, sich in dieser Frage jeglicher Ideologie entledigen können, und in der Tat waren die Praktiken der spektakulären Gesellschaft Illusionen dieser Art ganz und gar nicht zuträglich. Was uns alle betrifft, so ließe sich schließlich sagen, daß das, was uns oft daran hinderte, uns in einer einzigen illegalen Aktivität einzuschließen, die Tatsache war, daß wir derer mehrere gehabt haben.

XXVII

Über die Operationen einer anderen Oligarchie sagt Thukydides im Buch VIII, Kapitel 66 des Peloponnesischen Krieges etwas, das große Ähnlichkeit mit der Situation aufweist, in welcher wir uns befinden:

»… Vielmehr kamen die Sprecher aus ihren Reihen, und das Gesprochene war unter ihnen verabredet worden. Keiner der anderen widersprach; man hatte Angst und sah die große Zahl der Verschworenen. Wenn trotzdem jemand opponierte, war er durch ein geeignetes Verfahren schnell aus dem Weg geräumt. Nach dem Täter wurde nicht gefahndet, auch gegen Verdächtige nicht gerichtlich vorgegangen. Das Volk blieb stumm und war derart eingeschüchtert, daß jeder, der keine Gewalt zu spüren bekam, allein dies schon als einen Gewinn betrachtete, selbst wenn er geschwiegen hätte. Und da man den Kreis der Verschworenen für noch viel größer hielt, als er wirklich war, unterlag der persönliche Mut. Bei der Größe der Stadt, und da einer den anderen nicht kannte, war ein eigenes Urteil nicht möglich. Aus demselben Grunde war es auch unmöglich, in der Erbitterung jemandem sein Leid zu klagen, um gemeinsam etwas zu planen und sich zur Wehr zu setzen, denn entweder kam man mit seiner Klage an einen Unbekannten oder an einen unzuverlässigen Bekannten. Im Volk herrschte ein allgemeines Mißtrauen im Verkehr, da jeder den anderen für beteiligt hielt. Nun befanden sich wirklich Leute darunter, denen man die Neigung zur Oligarchie nicht zugetraut hätte.«

Sollten wir nach dieser Eklipse eine Rückkehr der Geschichte erleben, was von noch im Kampf begriffenen Faktoren abhängt und mithin von einem Ergebnis, das niemand mit Sicherheit auszuschließen vermag, so werden diese Kommentare einmal dazu dienen, die Geschichte des Spektakels zu schreiben; zweifelsohne das wichtigste Ereignis dieses Jahrhunderts und zugleich dasjenige, welches zu erklären man sich am wenigsten erkühnt hat. Unter anderen Umständen hätte ich mich, glaube ich, mit meinem ersten Werk zu diesem Thema höchst zufrieden schätzen und anderen die Sorge überlassen können, die Folgen in Augenschein zu nehmen. Im gegenwärtigen Augenblick aber, so schien es mir, würde es niemand anderer getan haben.

XXVIII

Von den Promotion- und Kontrollnetzen gleiten wir unmerklich zu solchen der Überwachung und Desinformation über. Früher wurde stets nur gegen eine etablierte Ordnung konspiriert. In unseren Tagen ist die Konspiration zu ihren Gunsten ein neuer Beruf, der in starker Entwicklung begriffen ist. Unter der spektakulären Herrschaft wird konspiriert, um diese aufrecht zu erhalten und um zu garantieren, was allein sie ihren guten Gang nennen darf. Diese Konspiration ist Teil ihrer Funktionsweise selbst.

So hat man bereits damit begonnen, gewisse Mittel einer Art präventiven Bürgerkrieges zu installieren, angepaßt an verschiedene Projizierungen der berechneten Zukunft. Hierbei handelt es sich um »spezifische Organisationen«, deren Auftrag darin besteht, in verschiedenen Punkten, entsprechend den Bedürfnissen des integrierten Spektakulären zu intervenieren. Für die schlimmste aller Eventualitäten hat man eine Taktik vorgesehen, die spaßeshalber »Taktik der drei Kulturen« genannt wird – in Erinnerung an einen Platz in Mexico im Sommer 1968. Eine Taktik, bei der diesmal keine Samthandschuhe mehr angezogen und die im übrigen bereits vor dem Tag der Revolte angewandt werden würde. Sieht man einmal von solchen extremen Fällen ab, so brauchen ungeklärte Morde, um als Regierungsmittel geeignet zu sein, keineswegs viele treffen und oft Anwendung finden: die bloße Tatsache, daß man um ihre Möglichkeit weiß, läßt die Berechnungen auf einer äußerst großen Anzahl von Gebieten augenblicklich komplizierter geraten. Auch braucht sie nicht auf intelligente Weise selektiv, ad hominem, zu sein. Eine rein zufallsbedingte Anwendung des Verfahrens ist am Ende gar wesentlich produktiver.

Desgleichen ist man jetzt in der Lage, Fragmente einer gezüchteten Sozialkritik zu bilden, mit der nicht mehr Akademiker oder Medienleute betraut werden, die es in dieser Diskussion von den allzu konventionellen Flunkereien besser fernzuhalten gilt. Es handelt sich um eine bessere Kritik, auf neue Art lanciert und ausgenutzt, gehandhabt von einer neuen, besser ausgebildeten Art von Fachleuten. Hier und da erscheinen, recht konfidentiell, scharfsinnige Texte, anonym oder gezeichnet von Unbekannten -eine Taktik, die durch die Konzentration des Wissens erleichtert wird, daß ein jeder über die Hofnarren des Spektakels besitzt und die bewirkt hat, daß gerade Unbekannte als am schätzenswertesten erscheinen -, und zwar nicht nur zu Themen, die nie im Spektakel angeschnitten werden, sondern dazu noch mit Argumenten, deren Richtigkeit frappierender wird durch eine Art berechenbarer Originalität, die davon herrührt, daß sie letzten Endes nie verwendet werden, obgleich sie ziemlich klar auf der Hand liegen. Diese Taktik kann zumindest als erste Initiationsstufe bei der Rekrutierung von einigermaßen aufgeweckten Geistern dienen, denen man, wenn sie konvenabel erscheinen, später mehr von dem sagen wird, was folgen mag. Und was für die einen der erste Schritt zu einer Karriere bedeutet, wird für andere, die schlechter im Rennen liegen, die erste Stufe der Falle sein, mit der man sie schnappen wird.

In bestimmten Fällen geht es darum, zu Fragen, die brisant werden könnten, eine andere kritische Pseudo-Meinung zu schaffen, und zwischen den so auftretenden zwei Meinungen, von denen die eine wie die andere den erbärmlichen spektakulären Konventionen fremd sind, mag das unbefangene Urteil dann unaufhörlich hin und her oszillieren, und die Diskussion, mit der sie gegeneinander abgewägt werden soll, wird jedes Mal, wenn dies genehm erscheint, neu angefacht. Öfter handelt es sich um allgemeine Äußerungen zu dem, was durch die Medien verhehlt wird. Dieser Diskurs kann sehr kritisch sein und in manchen Punkten ganz offensichtlich intelligent, er bleibt aber merkwürdig dezentriert. Themen und Vokabular sind künstlich ausgewählt worden, von mit kritischem Denken gespeicherten Computern. In diesen Texten gibt es Lücken, die zwar recht unauffällig, aber dennoch bedeutend sind: es fehlt darin stets anormalerweise der Fluchtpunkt der Perspektive. Sie ähneln dem Faksimile einer berühmten Waffe, der lediglich der Schlagbolzen fehlt. Es handelt sich zwangsläufig um eine Lateralkritik, die manches mit großer Offenheit und Aufrichtigkeit sieht, sich dabei aber immer seitwärts hält. Und dies nicht etwa, weil es ihr irgendwie um Neutralität zu tun wäre. Im Gegenteil, sie muß aussehen, als tadele sie viel, ohne daß es dabei aber so aussieht, als verspüre sie das Bedürfnis, durchscheinen zu lassen, welches ihre Sache ist und somit, sei es auch nur implizit zu sagen, von wo sie kommt und worauf sie abzielt.

Zu dieser Art von falscher contra-journalistischer Kritik gesellt sich eventuell die organisierte Praktik des Gerüchts, das ursprünglich, wie jeder weiß, eine Art ungewolltes Nebenprodukt der spektakulären Information ist, spüren doch alle, zumindest unbestimmt, das Trügerische an ihr und somit das geringe Vertrauen, das sie verdient. Anfangs war das Gerücht abergläubisch, naiv und selbstbeeinflußt. In jüngster Zeit aber hat die Überwachung damit begonnen, unter die Bevölkerung Leute zu bringen, die beim ersten Signal Gerüchte verbreiten, die sie für gut befunden haben mag. Man hat hier beschlossen, die Beobachtungen einer Theorie praktisch anzuwenden, die vor ungefähr dreißig Jahren formuliert wurde und aus der amerikanischen Werbesoziologie stammt: die Theorie der Individuen, die man »Zugpferde« nannte, d. h. Individuen, denen andere folgten und sie imitierten, wobei diesmal eingeübt, was vormals spontan gewesen ist. Auch hat man jetzt etatmäßig oder außeretatmäßig die Mittel zum Unterhalt einer großen Anzahl von Hilfskräften freigemacht, die den vormaligen Spezialisten, Universitätslehrern und Medienleuten, Soziologen oder Polizisten der jüngsten Vergangenheit zur Seite stehen. Der Glaube, es würden mechanisch noch irgendwelche aus der Vergangenheit bekannte Modelle Anwendung finden, ist ebenso irreführend wie die allgemeine Unkenntnis der Vergangenheit. »Nicht mehr in Rom ist Rom« und die Mafia nicht mehr in der Unterwelt. Und die Überwachungs- und Desinformationsdienste haben mit der Arbeit der Polizisten und Spitzel von früher – der »Roussins« und »Mouchards«des zweiten Kaiserreichs zum Beispiel – ebensowenig zu tun wie die heutigen Spezialabteilungen aller Länder mit den Aktivitäten der Offiziere des »Deuxieme Bureau« im Generalstab der Armee von 1914.

Seitdem die Kunst tot ist, ist es bekanntlich kinderleicht geworden, Polizisten als Künstler zu verkleiden.

Wenn die letzten Imitationen eines umgedrehten Neo-Dadaismus sich stolz und weihevoll in den Medien aufplustern und somit dann und wann auch einmal am Dekor der Staatspaläste herumbasteln dürfen, so wie die Narren am Hof der Könige des Tinneffs, sieht man, wie mit einem Streich allen Agenten oder Hilfskräften der staatlichen Einflußkreise ein kultureller Deckmantel sicher ist. Man eröffnet leere Pseudo-Museen oder dem Lebenswerk einer inexistenten Persönlichkeit gewidmete Pseudo-Forschungszentren ebenso rasch, wie man den Ruf von Polizei-Journalisten, Polizei-Historikern oder Polizei-Romanschreibern schafft. Sicher hat Arthur Cravan diese Welt kommen sehen, als er in Maintenant schrieb: »Auf der Straße wird man bald nur noch Künstler sehen, und es wird mordsschwer sein, einen Menschen zu entdecken.« Denselben Sinn hat die folgende verjüngte Form eines alten Scherzes der Pariser Ganoven: »Tag’chen Künstler! Egal, wenn ich mich irre.« So wie die Dinge jetzt liegen, können wir sehen, wie die modernsten aller Verlage, also die, die sich mit dem besten kommerziellen Vertrieb versehen haben, bestimmte Autorenkollektive verwenden. Da die Authentizität ihrer Pseudonyme einzig durch die Zeitungen garantiert wird, leihen sie sich jene gegenseitig aus, kollaborieren, ersetzen einander und stellen neue künstliche Gehirne ein. Ihr Auftrag ist, den Lebensstil und das Denken der Epoche auszudrücken, nicht etwa auf Grund ihrer Persönlichkeit, sondern auf Befehl. So können die, die sich selber als echte, individuelle literarische Unternehmer wähnen, gelehrten Tones beteuern, daß nunmehr Ducasse sich mit dem Comte de Lautreamont überwerfen hat, daß Dumas nicht Macquet ist, daß man bloß nicht Erckmann mit Chatrian verwechseln darf und daß Censier und Daubenton nicht mehr miteinander reden. Besser würde man sagen, daß diese Art moderner Autor Rimbaud zumindest darin hat folgen wollen, daß »Ich ein Anderer« ist.

Die Geheimdienste waren durch die ganze Geschichte der spektakulären Gesellschaft dazu berufen, darin die Rolle der Hauptdrehscheibe zu spielen; konzentrieren sich in ihnen doch die Merkmale und die Exekutivmittel einer solchen Gesellschaft. Ihnen obliegt es auch in zunehmendem Maß, die allgemeinen Interessen dieser Gesellschaft zu schlichten, wenngleich unter dem bescheidenen Titel »Dienste«. Nicht um Übergriffe handelt es sich, denn sie drücken getreu die gemeinen Sitten des Jahrhunderts des Spektakels aus. Und so fliehen Uberwacher und Überwachte auf einem uferlosen Ozean. Das Spektakel hat dem Geheimnis zum Triumph verholfen und muß in stets zunehmendem Maße in den Händen der Spezialisten des Geheimnisses sein, die dem Staat gegenüber, in unterschiedlichen Graden ihre Autonomie erlangend, selbstverständlich nicht alle Beamte sind; nicht alle Beamte

XXIX

Ein Grundgesetz der Funktionsweise des integrierten Spektakulären, zumindest für die, denen seine Leitung obliegt, ist, daß in diesem Rahmen, alles was getan werden kann auch getan werden muß. Daß heißt, daß jedes neue Instrument auch benutzt werden muß, koste es was es wolle. Das neue Werkzeug wird allenthalben zum Ziel und Motor des Systems und ist allein imstande, jedesmal seinen Lauf nennenswert zu modifizieren, wenn sich seine Benutzung ohne weiteres Nachdenken durchgesetzt hat. Zwar wollen die Eigentümer der Gesellschaft vor allem ein »bestimmtes Verhältnis zwischen Personen« aufrechterhalten, doch müssen sie ebenfalls die unaufhörliche technische Erneuerung weitertreiben, denn dies war eine der Verpflichtungen, die sie mit ihrem Erbe akzeptiert haben. Dieses Gesetz gilt denn auch für die Dienste, die den Herrschaftsapparat schützen. Das einmal entwickelte Instrument muß verwendet werden, und seine Verwendung stärkt eben die Bedingungen, die ihr Vorschub geleistet haben. Notmaßnahmen werden so zu Dauerverfahren.

In gewissem Sinne hat die Kohärenz der Gesellschaft des Spektakels den Revolutionären Recht gegeben, ist doch klar geworden, daß man darin nicht das ärmlichste kleine Detail reformieren kann, ohne das Ganze zu zerstören. Gleichzeitig aber hat diese Kohärenz jede organisierte revolutionäre Tendenz dadurch liquidiert, daß sie die gesellschaftlichen Begegnungsstätten beseitigte, auf denen sie sich mehr oder minder gut auszudrücken vermochte: von der Gewerkschaftsbewegung bis hin zu den Zeitungen, von der Stadt bis hin zu den Büchern. Mit einem Schlag hat man die Inkompetenz und die Gedankenlosigkeit ins Licht rücken können, die diese Tendenz ganz natürlich in sich barg. Und was die Individuen betrifft, so ist die herrschende Kohärenz durchaus in der Lage, bestimmte eventuelle Ausnahmen zu eliminieren oder zu kaufen.

XXX

Die Überwachung könnte weitaus gefährlicher sein, triebe man sie nicht auf dem Wege der absoluten Kontrolle aller zu einem Punkt, an dem sie auf Schwierigkeiten trifft, die ihr aus ihren eigenen Fortschritten erwachsen. Es besteht ein Widerspruch zwischen der Masse der eingeholten Informationen und der zu ihrer Analyse zur Verfügung stehenden Zeit und Intelligenz oder schlichtweg ihrem möglichen Interesse. Der Überfluß an Stoff zwingt dazu, diesen auf jeder Stufe zu resümieren: viel verschwindet, und was übrigbleibt ist noch viel zu lang, um gelesen zu werden. Überwachung und Manipulation unterstehen keiner einheitlichen Führung. Überall nämlich wird um die Aufteilung der Profite gekämpft und somit auch für die vorrangige Entwicklung dieser oder jener Virtualität zum Nachteil aller anderen, die indes, wenn sie nur vom gleichen Schlage sind, für ebenso respektierlich erachtet werden.

Kampf kann auch Spiel sein. Jeder Führungsoffizier neigt dazu, seine Agenten sowie die Gegner, um die er sich kümmert, zu überschätzen. Jedes Land, ganz zu schweigen von den zahlreichen supra-nationalen Allianzen, verfügt gegenwärtig über eine unbestimmte Anzahl von Polizei- oder Spionageabwehrdiensten, sowie über staatliche und parastaatliche Geheimdienste. Auch gibt es zahlreiche Privatunternehmen, deren Aufgabenbereich auf dem Gebiet der Überwachung, des Personen- und Objektschutzes und der Beschaffung von Informationen liegt. Die großen multinationalen Unternehmen verfügen selbstverständlich über ihre eigenen Dienste. Doch gilt dies auch für verstaatlichte Betriebe, selbst solche bescheidenen Ausmaßes, die auf nationaler und manchmal auch auf internationaler Ebene ebenfalls eine unabhängige Politik verfolgen. So kann man erleben, wie eine Gruppe der Atomenergie sich einem Ölkonzern in den Weg stellt, obwohl beide doch Besitz ein- und desselben Staates sind und noch dazu, durch ihre Sorge um die Aufrechterhaltung eines hohen Erdölpreises miteinander dialektisch verbunden sind. Jeder Sicherheitsdienst einer besonderen Industrie bekämpft die Sabotage bei sich und organisiert sie im Bedarfsfall bei seinem Widersacher: wer viel in einem Unterseetunnel anlegt, der ist für die Unsicherheit der Fährschiffe und kann in Schwierigkeiten steckende Zeitungen kaufen, um sie es bei der erstbesten Gelegenheit und ohne viel Federlesen spüren zu lassen. Und wer mit Sandoz im Konkurrenzkampf steht, dem kann das Grundwasser des Rheintals gleich sein. Es wird geheim überwacht, was geheim ist. Dergestalt, daß jeder dieser Organismen, die mit großer Flexibilität um die konföderiert sind, denen die Staatsräson unterliegt, auf eigene Rechnung eine Art sinnentleerte Hegemonie im Auge hat. Denn der Sinn ist mit dem erkennbaren Zentrum verlorengegangen.

Die moderne Gesellschaft, die bis 1968 von Erfolg zu Erfolg eilte und steif und fest glaubte, geliebt zu werden, hat seitdem auf diese Träume verzichten müssen; sie zieht es vor, gefürchtet zu werden. Nur zu gut weiß sie, daß ihre »Unschuldsmiene ein für alle Male dahin ist«.

So verstricken sich denn unzählige Komplotte zugunsten der etablierten Ordnung und bekämpfen einander überall, während sich Geheimnetze sowie geheime Fragen und Aktionen immer weiter verschachteln und sich der Prozeß ihrer Integration in alle Zweige von Wirtschaft, Politik und Kultur beschleunigt. Der Gehalt der Mischung von Beobachtern, Desinformateuren und Sonderangelegenheiten wächst beständig in allen Zonen des gesellschaftlichen Lebens. So dicht ist das allgemeine Komplott geworden, daß es sich schier vor aller Augen ausbreitet und jede seiner Branchen die andere bald behindern oder beunruhigen wird; denn all diese Berufsverschwörer gelangen mit einem Male dazu, daß sie sich gegenseitig observieren, ohne recht zu wissen warum, oder aber zufällig aufeinanderzutreffen, ohne daß sie sich mit Gewißheit wiederzuerkennen vermögen. Wer will wen observieren? Auf wessen Rechnung allem Anschein nach? In Wirklichkeit aber? Die wahren Einnüsse bleiben verborgen, und die eigentlichen Absichten können nur schwerlich geahnt, so gut wie nie verstanden werden. Niemand kann so behaupten, daß er den Köder verschmäht habe oder nicht manipuliert sei. Ganz selten kommt es aber vor, daß der Manipulator selber in der Lage ist zu wissen, ob er gewonnen hat. Und sich auf der Gewinnerseite der Manipulation zu befinden, heißt noch lange nicht, daß man sich für die richtige strategische Perspektive entschieden hat. Taktische Erfolge können so starke Kräfte auf schlechten Wegen versacken lassen.

Die, die in ein und demselben Netz anscheinend ein und dasselbe Ziel verfolgen und nur einen Teil dieses Netzes bilden, sind zwangsläufig außerstande, die Hypothesen und Schlußfolgerungen der anderen Teile zu kennen, insbesondere die ihres Führungskerns. Die weithin bekannte Tatsache, daß alle Informationen zu gleich welchem observierten Gegenstand ebensogut aus der Luft gegriffen, stark verfälscht oder völlig inadäquat ausgelegt sein können, erschwert die Berechnungen der Inquisitoren und läßt sie in hohem Maße unsicher geraten, denn was ausreicht, jemanden verurteilen zu lassen, ist vielleicht nicht so sicher, wenn es darum geht, sich ein Bild von ihm zu machen oder sich seiner zu bedienen. Da alle Informationsquellen miteinander im Widerstreit liegen, tun dies auch die Fälschungen.

Wird Kontrolle unter derartigen Bedingungen ausgeübt, so läßt sich von einem tendenziellen Fall ihrer Rentabilität reden in dem Maße, wie sie die Gesamtheit des sozialen Raums erfaßt und folglich ihr Personal und ihre Mittel erhöht. Jedes Mittel nämlich trachtet danach und arbeitet daraufhin, zum Zweck zu werden. Die Überwachung überwacht und intrigiert gegen sich selbst.

Kurzum, gegenwärtig liegt ihr Hauptwiderspruch darin, daß sie eine Partei überwacht, infiltriert und beeinflußt, die es nicht gibt: die, die es auf die Unterwanderung der gesellschaftlichen Ordnung abgesehen haben soll. Wo aber sieht man diese am Werk? Zwar waren die Bedingungen überall noch nie so gravierend revolutionär, doch sind dieser Ansicht nur die Regierungen. So gänzlich ist die Negation ihres Denkens beraubt worden, daß sie seit langem versprengt ist. Daher stellt sie nur noch eine unbestimmte, aber dennoch äußerst beunruhigende Bedrohung dar, und die Überwachung ihrerseits sieht sich ihres besten Betätigungsfeldes verlustig gegangen. Und so treiben die gegenwärtigen Erfordernisse, welche die Bedingungen des Einsatzes jener Überwachungs- und Interventionskraft bestimmen, sie dazu, sich auf das Terrain der Bedrohung zu begeben, um sie im voraus zu bekämpfen. Darum ist der Überwachung daran gelegen, selber die Negationspole zu schaffen, die sie dann, außerhalb der diskreditierten Mittel des Spektakels mit Informationen versehen wird, um diesmal nicht Terroristen, sondern Theorien zu beeinflussen.

XXXI

Baltasar Graciän, ein feiner Kenner der historischen Zeit, sagt in seinem Handorakel: »Unser Handeln, unser Denken, alles muß sich nach den Umständen richten. Man wolle, wenn man kann, denn Zeit und Gelegenheit warten auf niemanden.«

Weniger optimistisch ist Omar Khäyyäm: »Steine des Spiels sind wir, das der Himmel spielt; – Kurzweil treibt man mit uns auf dem Schachbrett des Seins; -und dann kehren wir, einer nach dem anderen, zurück in die Schachtel des Nichts.«

XXXII

Die französische Revolution zeitigte große Änderungen in der Kriegskunst. Im Anschluß an diese Erfahrung konnte Clausewitz den Unterschied bestimmen, demzufolge die Taktik die Verwendung der Kräfte im Gefecht zur Erlangung des Sieges und die Strategie die Verwendung der Siege zur Erreichung der Kriegsziele bedeutet. Die Ergebnisse brachten Europa sofort und auf lange Dauer unters Joch, die Theorie davon wurde aber erst später etabliert und ungleich entwickelt. Zuerst begriff man die positiven Aspekte, die eine tiefgreifende gesellschaftliche Umwandlung direkt mit sich brachte: Begeisterung, Mobilität durch Beschaffung aus dem Land und folglich relative Unabhängigkeit von Magazinen und Versorgungskonvois sowie Vervielfältigung der Truppenstärke. Diese praktischen Elemente sahen sich eines Tages ausgeglichen dadurch, daß auf gegnerischer Seite ähnliche auf den Plan traten: in Spanien trafen die französischen Truppen auf eine andere Volksbegeisterung; die Weite Rußlands machte das Nehmen vom Lande unmöglich, und nach der Erhebung Deutschlands hatten sie es mit weitaus größeren Truppenstärken zu tun. Indes ging die einschneidende Wirkung in der neuen französischen Taktik, die schlichte Grundlage, auf die Bonaparte seine Strategie baute – sie bestand darin, die Siege vorweg zu benutzen, als seien sie auf Kredit erstanden: darin, daß von Anfang an das Manöver und seine diversen Varianten als Konsequenzen eines noch ausstehenden Sieges betrachtet wurden, den man aber beim ersten Zusammenstoß sicher erringen werde – , auch darauf zurück, daß man gezwungen war, sich Irrmeinungen zu entledigen. Diese Taktik sah sich unversehens genötigt, diese Irrmeinungen über Bord zu werfen, zur selben Zeit wie sie durch das Zusammenspiel der erwähnten Neuerungen die Mittel dazu fand. Die frisch ausgehobenen französischen Soldaten waren unfähig, in Reih und Glied zu kämpfen, das heißt im Rang zu bleiben und auf Befehl zu feuern. So schwärmen sie denn in Schützenlinie aus und gehen mit freiem Feuer gegen den Feind vor. Und just das freie Feuer erwies sich als das einzig Wirksame, dasjenige, welches reell die Zerstörung durch das Gewehr bewerkstelligte, der zu dieser Zeit im Zusammenstoß von Armeen entscheidensten. Das militärische Denken jedoch hatte sich im ausgehenden Jahrhundert allenthalben dieser Folgerung verschlossen, und die Diskussion um diese Frage hat sich noch fast ein weiteres Jahrhundert lang dahinziehen können, trotz der laufend durch die Kampfpraxis gelieferten Beispiele und der unaufhörlichen Fortschritte, die bei der Schußweite und Geschwindigkeit des Gewehrs erzielt wurden.

Gleichermaßen ist die Installierung der spektakulären Herrschaft eine so tiefgreifende gesellschaftliche Umwandlung, daß sie radikal die Kunst des Regierens verändert hat. Diese Vereinfachung, die in der Praxis so rasch solche Früchte hervorbrachte, ist theoretisch noch nicht voll begriffen worden. Alte, überall Lügen gestrafte Vorurteile, unnütz gewordene Vorsichtsmaßnahmen und gar anderen Zeiten entstammende Reste von Skrupeln hemmen noch ein wenig im Denken einer recht großen Anzahl von Herrschenden das Verständnis, das die ganze Praxis etabliert und jeden Tag bestätigt. So macht man den Untertanen nicht nur weis, sie befänden sich noch, was das Wesentliche angeht, in einer Welt, die beseitigt wurde, sondern auch die Herrschenden selber leiden bisweilen unter der Konsequenzlosigkeit, sich in mancher Hinsicht selber darin zu wähnen. Manchmal denken sie etwas, was von ihnen beseitigt wurde, so als ob dies immer noch Realität sei und auch weiterhin in ihren Berechnungen präsent sein müsse. Diese Verspätung wird nicht von Dauer sein. Wer so viel so mühelos vollbracht hat, der muß weiterschreiten. Man glaube nicht, daß – einem Archaismus gleich – diejenigen sich dauerhaft im Umfeld der reellen Macht werden halten können, die die ganze Plastizität der neuen Regeln ihres Spiels und dessen barbarische Größe nicht schnell genug begriffen haben. Das Schicksal des Spektakels ist ganz sicher nicht, als aufgeklärter Despotismus zu enden.

Der Schluß liegt nahe, daß innerhalb der kooptierten Klasse, welcher die Verwaltung der Herrschaft unterliegt und die vor allem den Schutz dieser Herrschaft leitet, eine Ablösung unmittelbar bevorsteht und unvermeidlich ist. Neues wird diesbezüglich nie auf der Szene des Spektakels zur Schau gestellt werden. Nur wie der Blitz, den man an seinen Einschlägen erkennt, erscheint es. Diese Ablösung, die die spektakulären Zeiten entscheidend vollenden wird, geht diskret vor sich und auf konspirative Weise, auch wenn sie Leute betrifft, die bereits in der Machtsphäre zuhause sind. Diejenigen, die daran teilnehmen, werden nach der folgenden Anforderung ausgewählt werden: daß sie sich klar bewußt sind, welcher Hindernisse sie entledigt und wozu sie imstande sind.

XXXIII

Weiter heißt es bei dem oben zitierten Sardou: »vai-nement (vergebens) bezieht sich auf das Subjekt; en vain (vergeblich) auf das Objekt; inutile (unnütz) bedeutet ohne Nutzen für jemanden. Man hat vergebens gearbeitet, wenn man es ohne Erfolg getan, so Zeit und Müh vertuend. Man hat vergeblich gearbeitet, wenn das Ziel, nach dem man trachtete, wegen eines Mangels am Werke nicht erreicht ward. Wenn ich mit meinem Werke nicht zu Rande komme, so arbeite ich vergebens, ich verliere unnütz Zeit und Müh.

Zeitigt mein Werk nicht die Wirkung, die ich von ihm erwartete, erreichte ich mein Ziel nicht, so habe ich vergeblich gearbeitet, das heißt, ich habe ein unnützes Werk vollbracht.

Desgleichen sagt man, jemand habe vergebens gearbeitet, wenn der Lohn für seine Arbeit ausblieb oder diese nicht gutgeheißen ward; denn in diesem Fall hat der Arbeiter Zeit und Mühe verloren, womit keineswegs ein Urteil über seine Arbeit abgegeben wird, die im übrigen hervorragend sein mag.«

Paris, Februar-April 1988

]]> Um noch einmal auf die Situationistische Internationale zurückzukommen … – Gilles Dauvé https://panopticon.blackblogs.org/2024/07/24/um-noch-einmal-auf-die-situationistische-internationale-zurueckzukommen-gilles-dauve/ Wed, 24 Jul 2024 16:27:37 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5951 Continue reading ]]> Um noch einmal auf die Situationistische Internationale zurückzukommen …

von Gilles Dauvé, Juni 20001

Im Jahr 2000 ist »die Gesellschaft des Spektakels« zu einem schicken Schlagwort geworden. Nicht ganz so berühmt wie »Klassenkampf«, aber gesellschaftlich akzeptabler. Überdies wird die SI nun durch ihre Hauptfigur, Guy Debord, verdeckt, der gegenwärtig als der letzte romantische Revolutionär dargestellt wird. In Berlin wie in Athen muß man sich jenseits der situationistischen Mode begeben, um den Beitrag der SI zur Revolution beurteilen zu können. In gleicher Weise, wie man den marxistischen Schleier herunterreißen muß, um zu verstehen, was Marx eigentlich gesagt hat – und was er immer noch für uns bedeutet.

Die SI zeigte auf, daß es keine Revolution ohne sofortige generelle Vergemeinschaftung des gesamten Lebens gibt, und daß diese Transformation eine der Bedingungen für die Zerstörung der Staatsgewalt ist. Revolution bedeutet, allen Trennungen ein Ende zu setzen und zu allererst der Trennung, die alle anderen reproduziert: der Arbeit als dem Abgeschnittensein vom Rest des Lebens. Abschaffung der Lohnarbeit impliziert die Aufhebung der Warenbeziehungen in der Art, wie wir essen, schlafen, lernen und vergessen, uns von Ort zu Ort bewegen, unser Schlafzimmer beleuchten, uns auf die Eiche unten an der Straße beziehen usw..

Sind dies Banalitäten? Schon, aber das waren sie nicht immer und sind es noch nicht für jeden.

Wir brauchen nur die Grundlagen der kommunistischen Produktion und Distribution zu lesen, die 1935 von der Deutsch-holländischen Linken verfaßt wurden, um zu verstehen, was für ein großer Schritt nach vorne das war. Bordiga und seine Nachfolger betrachteten den Kommunismus immer als ein Programm, welches nach der Machtübernahme in die Praxis umgesetzt werden würde. Erinnern wir uns mal daran, was 1960 besprochen wurde, wenn Radikale über Arbeitermacht debattierten und soziale Veränderungen als einen essentiell politischen Prozeß definierten.

Revolution ist Vergemeinschaftung. Dies ist gleichermaßen wichtig wie beispielsweise die Ablehnung der Gewerkschaften 1918. Wir sagen nicht, daß sich revolutionäre Theorie alle 30 Jahre verändern sollte, sondern daß eine ansehnliche proletarische Minderheit die Gewerkschaften nach 1914 ablehnte, und eine andere aktive Minderheit in den 60ern und 70ern auf eine Kritik des Alltagslebens zielte. Die SI überwand die Grenzen von Ökonomie, Produktion, Arbeitsplatz und Arbeiterismus, zu einer Zeit, als die Proleten von Watts bis Turin2 das Arbeitssystem und ihr Leben außerhalb der Arbeit in Frage stellten. Aber diese beiden Bereiche wurden selten von denselben Gruppen attackiert. Schwarze erhoben sich gegen die Kommerzialisierung des Lebens im Ghetto, während Schwarze und Weiße dagegen rebellierten, daß sie auf ein Rädchen in der Maschine reduziert werden. Nur kamen beide Bewegungen nicht zusammen. In den Produktionsstätten verweigerten die Arbeiter einerseits die Arbeit, andererseits forderten sie höhere Löhne: die Lohnarbeit als solche wurde dadurch nie beseitigt. Es gab jedoch in Italien zum Beispiel Versuche, das System als ganzes in Frage zu stellen, und die SI war einer der Wege, in dem diese Bemühungen ihren Ausdruck fanden.

Genau hier klären uns die Situationisten noch immer auf. Aber auch genau hier sind sie zu kritisieren.

Die Grenze der SI liegt gerade innerhalb ihres stärksten Punktes: einer Kritik der Ware, die grundlegend sein will, aber die Grundlagen nicht erreicht.

Die SI lehnte die Räte-Linke ab und umarmte sie gleichzeitig. Ebenso wie Socialisme ou Barbarie betrachtete sie das Kapital als eine Art Verwaltung, welche den Proletariern jegliche Kontrolle über ihr Leben entzieht, und kam zu dem Schluß, es sei notwendig, einen gesellschaftlichen Mechanismus zu finden, der es jedem ermöglichen würde, an der Verwaltung seines Lebens teilzuhaben. Die Theorie des »bürokratischen Kapitalismus« von Socialisme ou Barbarie legte mehr Gewicht auf die Bürokratie als auf das Kapital. Ebenso wie die Theorie der »Gesellschaft des Spektakels« der SI das Spektakel für wichtiger hielt für den Kapitalismus als das Kapital selbst. In Debords letzten Schriften wird der Kapitalismus neu definiert als völlig integriertes Spektakel, aber dieses Mißverständnis bestand schon, seit Die Gesellschaft des Spektakels 1967 den Teil mit dem Ganzen verwechselte.

Das Spektakel ist nicht seine eigene Ursache. Es wurzelt in den Produktionsverhältnissen und kann nur verstanden werden, wenn man das Kapital versteht, und nicht umgekehrt. Es ist die Teilung der Arbeit, welche den Arbeiter zum Zuschauer seiner Arbeit, seines Produktes und letztlich seines Lebens verwandelt. Das Spektakel ist unsere Existenz, die zu Bildern verfremdet ist, welche sich von ihr ernähren, das verselbständigte Ergebnis unserer gesellschaftlichen Tätigkeiten. Es beginnt bei uns und trennt sich von uns über die universelle Repräsentation der Waren. Es wird zur Entäußerung unseres Lebens, weil unser Leben ständig seine Entäußerung reproduziert.

Die Betonung des Spektakels führte zu einem Kampf für eine nicht-spektakelhafte Gesellschaft: Im situationistischen Denken funktioniert die Arbeiterdemokratie als Gegenmittel zur Kontemplation, als die bestmögliche Form, Situationen zu schaffen. Die SI war auf der Suche nach einer authentischen Demokratie, einer Struktur, in der die Proleten nicht länger Zuschauer sein würden. Sie suchten nach einem Mittel (Demokratie), einem Ort (dem Rat) und einer Art zu leben (generalisierte Selbstverwaltung), die die Leute befähigen sollte, die Fesseln der Passivität zu sprengen.

Es gibt keinen Widerspruch zwischen der Debord- und der Vaneigem-Variante der SI. Rätegedanken und radikale Subjektivität betonen beide die Selbsttätigkeit, ob sie nun von einem Arbeiterkollektiv oder von einem Individuum kommt.

»Ich denke, alle meine Freunde und ich wären völlig zufrieden damit, anonym im Ministerium des Vergnügens zu arbeiten, für eine Regierung, die schließlich und endlich für die Veränderung des Lebens sorgen würde (…)« (Debord, Potlatch, Nr. 29, 1957).

Anfangs glaubten die Situationisten, es wäre möglich, aufs Geratewohl mit neuen Lebensweisen zu experimentieren. Doch bald wurde ihnen klar, daß solche Experimente eine vollständige kollektive Wiederaneignung der Lebensbedingungen erforderten. Sie begannen mit einem Angriff auf das Spektakel als Passivität und kamen zu der Aussage des Kommunismus als Aktivität. Dies ist ein grundsätzlicher Punkt, hinter den wir nicht zurückgehen können. Aber den ganzen Prozeß dieser (Neu)entdeckung hindurch war es ein Fehler, anzunehmen, er müsse auch für das Leben taugen, was logischerweise zur Suche nach einem völlig anderen Ziel führte.

Dieses Streben nach einem anderen Gebrauch des eigenen Lebens trieb die Kritik der SI am Militantismus3 an und lähmte sie gleichermaßen. Es war notwendig, die politische Aktion als getrennte Aktivität zu entlarven, in der das Individuum für eine Sache kämpft, die von seinem eigenen Leben abstrahiert, seine Wünsche unterdrückt und es selbst für ein Ziel opfert, das seinen Gefühlen und Bedürfnissen fremd ist. Wir alle haben Beispiele der Hingabe an eine Gruppe und/oder eine Weltvision erlebt, was dazu führt, daß die Person unaufmerksam für aktuelle Ereignisse wird und unfähig, subversive Handlungen auszuüben, wenn sie möglich sind.

Doch nur das Zusammenspiel wirklicher Beziehungen kann die Entwicklung persönlicher Schwäche und entfremdeter Selbstverleugnung verhindern. Im Gegensatz dazu rief die SI zu einer überall und 24 Stunden am Tag geltenden Radikalität und Beständigkeit auf, indem sie militante Moral durch radikale Moral ersetzte, was einfach nicht machbar ist. Der Eigenanteil der SI an ihrem Ende nach ’68 ist sehr betrüblich zu lesen: Warum war kaum ein Mitglied dieser Situation gewachsen? War Guy Debord der einzige? Vielleicht war es Debords Hauptfehler, so zu tun (und zu schreiben), als könnte er nie Fehler machen.

Es war subversiv gewesen, sich über die falsche Bescheidenheit von Militanten lustig zu machen, indem man sich selbst als Internationale bezeichnete und das Spektakel gegen sich selbst kehrte, wie im Straßburger Skandal 19674. Aber dieses Geschoß schlug zurück, als Situationisten versuchten, Techniken aus der Werbung gegen das Werbesystem zu verwenden. Ihr »Beendet die Show!« entartete, indem sie aus sich selbst eine Show machten und schließlich von der Bühne abtraten. Es war kein Versehen, daß es die Situationisten genossen, Macchiavelli und Clausewitz zu zitieren. In der Tat glaubten Situationisten, eine gewisse Strategie würde es einer Gruppe von smarten jungen Männern ermöglichen, die Medien mit ihren eigenen Regeln zu schlagen und die öffentliche Meinung auf revolutionäre Weise zu beeinflussen, vorausgesetzt, es würde mit Einblick und Stil inszeniert. Dies allein beweist das Mißverständnis von der spektakulären Gesellschaft.

Vor und während ’68 hatte die SI gewöhnlich die richtige Haltung gefunden angesichts der Realitäten, die zuerst lächerlich gemacht werden müssen, bevor wir sie revolutionieren können: Politik, Arbeitsethik, Respekt vor der Kultur, der gute Wille der Linken und so weiter. Später, als die situationistischen Aktivitäten verblaßten, blieb nicht mehr übrig als eine Attitüde, und bald nicht einmal die richtige Haltung, als sie in Selbstverwertung, Rätefetischismus und einer Faszination für die verborgenen Seiten der Weltpolitik schwelgte und falsche Analysen über Italien und Portugal ablieferte.

Die SI kündigte das Kommen der Revolution an. Was kam, trug viele Züge dessen, was die SI aufgezeigt hatte. Die Straßenparolen 1968 in Paris und 1977 in Bologna waren Echos auf Artikel, die kurz zuvor in einer Revue mit glänzendem Cover veröffentlicht worden waren. Trotzdem war es keine Revolution. Die SI hielt jedoch daran fest, daß es eine gewesen sei. Generalisierte Demokratie (und vor allen Dingen Arbeiterdemokratie) war ein subversiver Traum der späten 60er und frühen 70er Jahre gewesen: Anstatt dies als Begrenztheit dieser Periode zu begreifen, interpretierten es die Situationisten als eine Rechtfertigung für den Aufruf zu Räten. Sie begriffen nicht, daß autonome Selbstverwaltung von Fabrikkämpfen nur ein Mittel, niemals ein Ziel an sich, noch ein Prinzip sein kann. Autonomie faßt den Geist der Zeit zusammen: sich vom System befreien, statt es in Stücke zu schlagen.

Eine zukünftige Revolution wird weniger die Zusammenführung des Proletariats zu einem Block sein, als eine Desintegration dessen, was die Proletarier Tag für Tag als Proletarier reproduziert. Dieser Prozeß bedeutet sowohl, zusammen zu kommen und sich am Arbeitsplatz zu organisieren, aber auch den Arbeitsplatz zu verändern und davon loszukommen, als auch Arbeiter-Versammlung. Die Vergemeinschaftung wird weder San Francisco 19665 ähneln, noch frühere Fabrikbesetzungen in größerem Maßstab neu inszenieren.

Am Ende fügte die SI dem Rätegedanken die Illusion einer revolutionären »Lebenskunst« hinzu, d.h. einen revolutionären Lebensstil. Sie begehrte eine Welt, in der menschliche Aktivität zu beständigem Vergnügen führen würde, und beschrieb das Ende der Arbeit als den Beginn von Spaß und Freude ohne Grenzen. Sie kam nie weg von der progressistisch-technizistischen Sichtweise einer Automation, die zu Überfluß führen würde.

Von den ganz wenigen Gruppierungen, die einen gesellschaftlichen Beitrag zur subversiven Welle Mitte der 60er Jahre leisteten, kam die Situationistische Internationale dem Kommunismus, wie man ihn sich zu dieser Zeit vorstellte, am nächsten.

Es gab eine historisch nicht zu überwindende Unvereinbarkeit zwischen »Nieder mit der Arbeit!« und »Alle Macht den Arbeitern!«

Die SI befand sich im Zentrum dieses Widerspruchs.


1aus: The Bad Days will End Nr. 3.

2Watts, Schwarzenghetto in Los Angeles: mehrtägige Revolte im Sommer 1965. Turin: militante Kämpfe von FIAT-Arbeitern (Anm.d.Ü.).

3(Engl. militantism, Anm.d.Ü.) Militant hat im Englischen und Französischen verschiedene Bedeutungen. Ursprung ist das Wort military (militärisch), und in beiden Sprachen enthält es die Vorstellung, für eine Sache zu kämpfen. Im Englischen bedeutet es combative (kämpferisch), ‚aggressively active‘ (Webster’s 1993). Im Französischen war der Begriff positiv besetzt (militants als Parteisoldaten der Arbeiterbewegung), bis die SI ihn mit Selbstaufopferung und negativer Ergebenheit gegenüber einer Sache assoziierte: in diesem Sinne benutzen wir den Begriff.

4Pro-situationistische Militante hatten Gelder der Nationalen Union der französischen Studenten für die Veröffentlichung der Broschüre Über das Elend im Studentenmilieu verwandt. Diese Broschüre wurde bei einer feierlichen Universitätseröffnung an die Prominenz verteilt und sorgte für einen international beachteten Skandal. (Anm.d.Ü.)

5Systemkritische Bewegung von Hippies und Yippies mit neuen Aktions- und Lebensformen (Sit-Ins, Love-Ins, Kommunen, LSD …) (Anm.d.Ü.)

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Kritik der Situationistischen Internationale – Gilles Dauvé https://panopticon.blackblogs.org/2024/07/24/kritik-der-situationistischen-internationale-gilles-dauve/ Wed, 24 Jul 2024 16:23:44 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5949 Continue reading ]]>

Kritik der Situationistischen Internationale

Gilles Dauvé1

Ideologie und Lohnsystem

Kapitalismus verwandelt das Leben in das zum Lebensunterhalt notwendige Geld. Man neigt dazu, jede einzelne Sache zu einem anderen Zweck zu tun, als zu dem, der vom Inhalt der Tätigkeit vorgegeben wird. Die Logik der Entfremdung: man ist jemand anderes; das Lohnsystem macht fremd gegenüber dem, was man tut, was man ist, gegenüber anderen Menschen.

Nun produziert die menschliche Tätigkeit nicht nur Waren und Beziehungen, sondern auch Vorstellungen. Der Mensch ist nicht homo faber; die Reduzierung des menschlichen Lebens auf die Ökonomie (inzwischen vom offiziellen Marxismus übernommen) existiert seit der Inthronisierung des Kapitals. Jede Tätigkeit ist symbolisch: sie schafft gleichzeitig Produkte und eine Vorstellung von der Welt. Die Anordnung eines ursprünglichen Dorfes:

faßt zusammen und sichert die Beziehungen zwischen Mensch und Universum, zwischen der Gesellschaft und der übernatürlichen Welt, zwischen den Lebenden und den Toten. (Levi-Strauss)

Der Warenfetischismus ist nur die Form, die dieser Symbolismus in vom Tausch beherrschten Gesellschaften annimmt.

Da das Kapital dazu tendiert, alles als Kapital zu produzieren, alles zu parzellieren, um es mit Hilfe der Marktbeziehungen neu zusammenzusetzen, so macht es auch aus der Vorstellung einen besonderen Produktionsbereich. Nachdem die Lohnarbeiter der Mittel ihrer materiellen Existenz beraubt sind, werden sie auch der Mittel beraubt, ihre Gedanken zu produzieren, die vom einem spezialisierten Bereich produziert werden (daher die Rolle der Intellektuellen, ein Begriff, der in Frankreich vom Manifest der Intellektuellen 1898 eingeführt wurde). Der Proletarier erhält diese Vorstellungen (Gedanken, Bilder, implizite Assoziationen, Mythen), so wie er die anderen Aspekte seines Lebens vom Kapital erhält. Schematisch gesagt, gewann der Arbeiter des 19. Jahrhunderts seine Ideen (auch die reaktionären) im Café, im Wirtshaus oder im Verein, während der heutige Arbeiter sie im Fernsehen sieht – eine Tendenz, bei der es sicher absurd wäre, sie soweit zu extrapolieren, daß man die gesamte Wirklichkeit auf sie reduziert.

Marx definierte Ideologie als Ersatz für eine wirkliche Veränderung: die Veränderung wird auf der imaginären Ebene gelebt. Der moderne Mensch ist unter diesen Umständen auf jeden Bereich ausgedehnt. Er verändert nichts mehr, außer in Bilder. Er reist, um die Stereotypen des fremden Landes wieder zu entdecken; er liebt, um die Rolle des potenten Liebhabers oder der zärtlichen Geliebten zu spielen. Von der Lohnarbeit seiner Arbeit (der Veränderung der Umgebung und seiner selbst) beraubt, erlebt der Proletarier das »Spektakel« der Veränderung.

Der heutige Lohnarbeiter lebt nicht im »Überfluß« im Verhältnis zum Arbeiter des 19. Jahrhunderts, der in »Armut« lebte. Der Lohnarbeiter konsumiert nicht einfach Gegenstände, sondern reproduziert die ökonomischen und geistigen Strukturen, die auf ihm lasten. Das ist der Grund, warum, im Gegensatz zur Meinung von Invariance2, er sich nur von diesen Vorstellungen befreien kann, wenn er ihre materielle Basis abschafft. Er lebt in einer semiotischen Gemeinschaft, die ihn dazu zwingt, weiterzumachen: materiell (Kredit), ideologisch und psychologisch (diese Gemeinschaft ist eine der wenigen, die ihm zur Verfügung stehen). Man konsumiert nicht nur Zeichen: es gibt viele Zwänge, und vor allen Dingen ökonomische (Rechnungen, die bezahlt werden müssen usw.). Das Kapital beruht auf der Produktion und dem Verkauf von Gegenständen. Daß diese Gegenstände auch als Zeichen funktionieren (und manchmal vor allem als solche), ist eine Tatsache, doch dies hebt niemals ihre Materialität auf. Nur Intellektuelle glauben, daß sie in einer Welt leben, die nur aus Zeichen besteht.3

Wahr und falsch

Welches sind für die revolutionäre Bewegung die Konsequenzen der Funktion gesellschaftlichen Scheins im modernen Kapitalismus (I.S. Nr. 10)? Wie Marx und Dejacque4 sagten, war Kommunismus immer der Traum von der Welt. Heute dient der Traum auch dazu, die Wirklichkeit nicht zu verändern. Man kann sich nicht damit begnügen, die Wahrheit zu »erzählen»: dies kann nur als Praxis geschehen, als ein Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Sagen und Tun, Äußerung und Veränderung, und manifestiert sich als Spannung. Das »Falsche« ist keine Wand, die die Sicht blockiert. Das »Wahre« existiert im Falschen, in Le Monde oder im Fernsehen, und das Falsche existiert im Wahren, in Texten, die revolutionär sind oder beanspruchen dies zu sein. Das Falsche setzt sich durch die Praxis durch, durch den Gebrauch, den es von der Wahrheit macht: das Wahre ist nur in der Veränderung wahr. Revolutionäre Tätigkeit, die sich in dem, was sie sagt, auf dieser Seite von dem verortet, was das Radios sagt, ist halb belanglos. Laßt uns die Kluft zwischen den Worten und der Realität messen. Die SI verlangte, daß Revolutionäre nicht mit Worten blenden. Revolutionäre Theorie ist nicht von sich aus revolutionär, sondern durch die Fähigkeit derjenigen, die sie subversiv gebrauchen, nicht durch eine plötzliche Erleuchtung, sondern durch eine Art der Darstellung und Verbreitung, die Spuren hinterläßt, auch wenn diese manchmal kaum sichtbar sind. Die Anprangerung der Linken z.B. ist sekundär. Daraus den Angelpunkt der Aktivität zu machen, führt dazu, wegen der Polemik gegen diese oder jene Gruppe die grundlegenden Fragen nicht zu behandeln. Eine solche Vorgehensweise verändert den Inhalt der Ideen und Aktionen. Man verbreitet das Wesentliche nur über Anprangerungen, und die Anprangerung wird schnell zum Wesentlichen.

Gegenüber der Vervielfachung von Individuen und Texten mit radikalen Ansprüchen zwingt einen die SI zur folgenden Frage: ist diese Theorie das Produkt eines subversiven sozialen Verhältnisses, das sich zu äußern sucht, oder eine Produktion von Gedanken, die verbreitet werden, ohne zu einer praktischen Vereinheitlichung beizutragen? Jeder hört Radio, doch die Rundfunkgeräte vereinigen die Proletarier im Dienst des Kapitals – bis zu dem Tag, an dem diese technischen Mittel von revolutionären Proletariern in Besitz genommen werden, und eine Stunde Radioübertragung Jahre vorhergehender ‚Propaganda‘ wert sind.

Doch bedeutet das ‚Ende der Ideologie‘ nicht, daß es eine Gesellschaft ohne Ideen geben könne, die automatisch wie eine Maschine funktioniert: dies würde eine ‚robotisierte‘ und folglich eine nicht-‚menschliche‘ Gesellschaft voraussetzen, soweit sie der notwendigen Reaktion ihrer Mitglieder beraubt sein würde. Da es zu einer Ideologie im Sinne der Deutschen Ideologie geworden ist, entwickelt sich das Imaginäre genau entlang dieser Linien. Es gibt keine Diktatur der sozialen Verhältnisse, die uns fernsteuert, ohne Reaktion und Reflex von unserer Seite. Dies ist eine sehr partielle Vorstellung von der ‚Barbarei‘. Der Fehler in der Beschreibung von vollkommen totalitären Gesellschaften (Orwells 1984 oder der Film THX 138) ist der, daß sie nicht sehen, daß alle Gesellschaften, sogar die unterdrückerischsten, das Eingreifen und das Handeln der Menschen zu ihrer Entwicklung voraussetzen. Jede Gesellschaft, einschließlich und besonders die kapitalistische Gesellschaft, lebt von diesen Spannungen, auch wenn sie dabei Gefahr läuft, von ihnen zerstört zu werden. Die Kritik der Ideologie leugnet weder die Rolle der Ideen noch die der kollektiven Aktion bei ihrer Propagierung.

Die theoretische Sackgasse des Begriffs ‚Spektakel‘

Der Begriff des Spektakels vereint eine große Zahl von gegebenen grundlegenden Fakten, indem er die Gesellschaft – und folglich ihre revolutionäre Veränderung – als Tätigkeit zeigt. Kapitalismus ‚mystifiziert‘ die Arbeiter nicht. Die Aktivität von Revolutionären ‚entmystifiziert‘ nicht; sie ist der Ausdruck einer wirklichen sozialen Bewegung. Die Revolution bringt eine andere Aktivität hervor, deren Schaffung eine Bedingung dessen ist, was klassische revolutionäre Theorie ‚politische‘ Ziele nannte (Zerstörung des Staats). Doch die SI war nicht in der Lage, den Begriff, den sie geschaffen hat, in diesem Sinne aufzufassen. Sie legte so viel in diesen Begriff hinein, daß sie die gesamte revolutionäre Theorie um das Spektakel herum neu aufbaute.

In ihrer Theorie des ‚bürokratischen Kapitalismus‘ betonte Socialisme ou Barbarie hauptsächlich die Bürokratie. In ihrer Theorie der ’spektakulären Warengesellschaft‘ erklärte die SI alles vom Spektakel her. Man kann eine revolutionäre Theorie nur als Ganzes schaffen, und indem man sie auf das gründet, was für das gesellschaftliche Leben grundlegend ist. Nein, die Frage des ‚gesellschaftlichen Scheins‘ ist nicht der Schlüssel zu einer neuen revolutionären Anstrengung (I.S., Nr. 10)

Die traditionellen revolutionären Gruppen sahen nur neue Mittel der Konditionierung. Doch für die SI entspricht die Ausdrucksweise der ‚Medien‘ einer Lebensweise, die vor hundert Jahren nicht existierte. Das Fernsehen indoktriniert nicht, sondern steht selbst mit einer Daseinsweise in Zusammenhang. Die SI zeigte das Verhältnis zwischen Form und Grundlage auf, wo der traditionelle Marxismus lediglich neue Instrumente im Dienste der alten Sache sah.

Unterdessen fällt der von der SI ausgearbeitete Begriff des Spektakels hinter das zurück, was Marx und Engels unter dem Begriff ‚Ideologie‘ verstanden. Debords Buch Die Gesellschaft des Spektakels stellt sich als ein Versuch dar, die kapitalistische Gesellschaft und die Revolution zu erklären, wo sie eigentlich nur deren Formen in Betracht zieht, die zwar ein wichtiges, aber nicht entscheidendes Phänomen sind. Es kleidet deren Beschreibung in eine Theoretisierung, die den Eindruck einer grundlegenden Analyse vermittelt, wo in Wirklichkeit die Methode und das Subjekt, die untersucht werden, stets auf der Ebene des gesellschaftlichen Scheins bleiben. Auf dieser Ebene ist das Buch hervorragend. Das Problem ist, daß es geschrieben (und gelesen) wurde, als ob man etwas darin finden würde, was nicht darin enthalten ist. Während Socialisme ou Barbarie das revolutionäre Problem mit den Mitteln der Industriesoziologie analysierte, untersucht es die SI ausgehend von einer Betrachtung auf der Oberfläche der Gesellschaft. Damit will ich nicht sagen, daß Die Gesellschaft des Spektakels oberflächlich ist. Sein Widerspruch und, letztlich, seine theoretische und praktische Sackgasse besteht darin, eine Untersuchung des Tiefgründigen durch und mittels des oberflächlichen Scheins gemacht zu haben. Die SI hatte keine Analyse des Kapitals: sie hat es verstanden, aber durch seine Auswirkungen. Sie hat die Ware kritisiert, nicht das Kapital – oder genauer gesagt, sie hat das Kapital als Ware kritisiert und nicht als Verwertungssystem, das die Produktion wie auch den Tausch beinhaltet.

Das gesamte Buch hindurch bleibt Debord auf der Ebene der Zirkulation, und es fehlt das notwendige Moment der Produktion, der produktiven Arbeit. Was das Kapital nährt, ist nicht der Konsum, wie er uns zu verstehen gibt, sondern die Wertbildung durch die Arbeit. Debord hat recht, wenn er im Verhältnis zwischen Schein und Wirklichkeit mehr sieht als in dem zwischen Illusion und Wirklichkeit, als ob der Schein nicht existierte. Doch man kann das Wirkliche nie auf der Grundlage des Scheinbaren verstehen. So vollendet Debord sein Projekt nicht. Er zeigt nicht, wie der Kapitalismus das, was nur das Ergebnis ist, zur Ursache oder sogar zur Bewegung macht. Die Kritik der politischen Ökonomie (die Debord, wie vor ihm die utopischen Sozialisten, nicht unternimmt) zeigt, wie der Proletarier nicht nur sein Produkt, sondern seine Tätigkeit über sich und gegen sich stehen sieht. Im Warenfetischismus erscheint die Ware als ihre eigene Bewegung. Durch den Kapitalfetischismus nimmt das Kapital eine Autonomie an, die es nicht besitzt, und stellt sich als lebendiges Wesen dar (Invariance ist ein Opfer dieser Illusion): man weiß nicht, wo es herkommt, wer es produziert, durch welchen Prozeß der Proletarier es hervorbringt und durch welchen Widerspruch es lebt und möglicherweise untergeht. Debord macht das Spektakel zum Subjekt des Kapitalismus, anstatt zu zeigen, wie es vom Kapitalismus produziert wird. Er reduziert den Kapitalismus allein auf seine spektakuläre Dimension. Die Bewegung des Kapitals wird zur Bewegung des Spektakels. Auf dieselbe Weise schreibt Vaneighem in den Basisbanalitäten5 eine Geschichte des Spektakels durch Religion, Mythos, Politik, Philosophie usw. Diese Theorie bleibt auf einen Teil der wirklichen Verhältnisse beschränkt, und geht so weit, sie gänzlich auf diesem Teil beruhen zu lassen.

Das Spektakel ist passiv gewordene Tätigkeit. Die SI entdeckte neu, was Marx in den Grundrissen über die Erhebung des menschlichen Daseins (seiner Selbstveränderung, seiner Arbeit) als einer fremden Macht geschrieben hat, die ihn niederdrückt: ihr gegenüber lebt er nicht mehr, sondern schaut nur noch zu. Die SI verlieh diesem Thema neuen Nachdruck. Doch das Kapital ist mehr als Befriedung. Es braucht die Intervention des Proletariers, wie Socialisme ou Barbarie6 gesagt hat. Die Überschätzung des Spektakels durch die SI ist ein Anzeichen dafür, daß sie auf der Grundlage einer gesellschaftlichen Vorstellung theoretisiert, die an der Peripherie der Gesellschaft entstanden ist, und die sie für zentral hielt.

Das Spektakel und die Kunsttheorie

Die Theorie des Spektakels bringt die Krise des Zeitraums außerhalb der Arbeit zum Ausdruck. Das Kapital schafft zunehmend einen Bereich außerhalb der Arbeit, gemäß der Logik seiner Ökonomie: es entwickelt nicht die Freizeit, um die Massen zu kontrollieren, doch da es der lebendigen Arbeit eine geringere Rolle in der Produktion zuweist, verringert es die Arbeitszeit, und diese kommt zur inaktiven Zeit des Lohnarbeiters hinzu. Das Kapital schafft für den Lohnarbeiter eine Raum-Zeit, die ausgeschlossen, leer ist, weil der Konsum sie nie ganz ausfüllen kann. Von Raum-Zeit zu sprechen bedeutet, die Tatsache zu betonen, daß eine Verringerung des Arbeitstags stattfindet, und daß diese befreite Zeit ebenso einen geographischen und gesellschaftlichen Raum einnimmt, insbesondere die Straße (vgl. die Bedeutung der Stadt und des Umherschweifens für die SI).

Diese Situation trifft mit einer doppelten Krise der ‚Kunst‘ zusammen. Erstens hat Kunst keine Bedeutung mehr, weil die westliche Gesellschaft nicht weiß, wohin sie geht. Mit dem Jahr 1914 verlor der Westen Sinn und Ausrichtung der Zivilisation. Wissenschaftsgläubigkeit, Liberalismus und Apologetik der ‚befreienden‘ Wirkung der Produktivkräfte gingen ebenso bankrott wie ihre Gegner (Romantik usw.). Von da an mußte Kunst tragisch, narzißtisch oder die Negation ihrer selbst sein. In früheren Krisenzeiten suchte man nach dem Sinn der Welt: heute zweifelt man daran, ob sie einen hat. Zweitens stellt die Kolonisierung des Marktes und die vergebliche Suche nach einer ‚Richtung‘ die Künstler in den Dienst des Konsums außerhalb der Arbeit.

Die SI ist sich ihrer gesellschaftlichen Herkunft bewußt. Über den Durchgang einiger Personen … (1959), einer von Debords Filmen, spricht von Menschen am Rande der Ökonomie. Auf dieser Ebene verstand die SI, wie Socialisme ou Barbarie auf der Ebene des Betriebs, daß der moderne Kapitalismus dazu tendiert, Menschen von jeder Tätigkeit auszuschließen und sie gleichzeitig in eine Pseudo-Beteiligung einzubinden. Doch, wie Socialisme ou Barbarie, macht sie den Widerspruch zwischen aktiv und passiv zu einem entscheidenden Kriterium. Revolutionäre Praxis besteht darin, genau die Prinzipien des Spektakels zu durchbrechen: Nicht-Intervention (I.S. Nr.1). Am Ende des Prozesses werden die Arbeiterräte das Mittel darstellen, aktiv zu sein, die Trennung aufzuheben. Das Kapital existiert durch den Ausschluß der Menschen, durch ihre Passivität. Alles, was in Richtung Verweigerung der Passivität geht, ist revolutionär. Daher ist der Revolutionär definiert durch ‚einen neuen Lebensstil‘, der ein ‚Beispiel‘ sein wird (I.S. Nr. 7, S.I., Bd. 1, S. 267).

Der Bereich außerhalb der Arbeit beruht auf Fesseln, die ungewisser (vgl. das Umherschweifen) und subjektiver als die Lohnarbeit sind, welche eher zum Notwendigen und Objektiven gehört. Der traditionellen Ökonomie stellt die SI eine Ökonomie der Begierde entgegen (I.S. Nr. 7, S.I. Bd. 1, S. 268); der Notwendigkeit stellt sie die Freiheit entgegen; der Mühsal das Vergnügen; der Arbeit die Automation, die sie überflüssig macht, dem Opfer die Freude. Die SI dreht die Gegensätze um, die jedoch überwunden werden müssen. Der Kommunismus befreit uns nicht von der Notwendigkeit der Arbeit, er beseitigt die ‚Arbeit‘ selbst. Die SI identifiziert Revolution mit einer Befreiung von Zwängen, die auf der Begierde und vor allem auf der Begierde nach anderen Menschen, dem Bedürfnis nach Beziehungen beruht. Sie stellt eine schlechte Verbindung zwischen ‚Situation‘ und ‚Arbeit‘ her, was ihre Vorstellung von der Situation beschränkt. Sie stellt sich die Gesellschaft und deren Umsturz aus dem Zusammenhang nicht-lohnabhängiger Gesellschaftsschichten heraus vor. Daher überträgt sie auf das Produktionsproletariat das, was sie über die gesagt hat, die außerhalb des Lohnsystems stehen (Straßengangs, Schwarze im Ghetto). Da sie das Gravitätszentrum der Bewegung nicht kannte, wandte sich die SI dem Rätegedanken zu: die Räte erlauben eine ‚direkte und aktive Kommunikation‘ (Die Gesellschaft des Spektakels). Die Revolution erschien als die Ausweitung der Konstruktion intersubjektiver Situationen auf die gesamte Gesellschaft.

Die Kritik der SI verläuft über die Anerkennung ihres ‚avantgarde-künstlerischen‘ Aspekts. Ihre soziologische Herkunft ruft oft mißbräuchliche und absurde Interpretationen im Stile von ‚das waren Kleinbürger‘ hervor. Die Frage liegt eindeutig woanders. Die SI bildete ihre Theorie von ihrer eigenen gesellschaftlichen Erfahrung heraus. Der künstlerische Ursprung der SI ist nicht per se ein Stigma; doch er hinterläßt seine Spuren in der Theorie und in der Entwicklung, wenn die Gruppe die Welt vom Standpunkt ihrer eigenen Gesellschaftsschicht aus betrachtet. Der Übergang zu einer revolutionären Theorie und Aktion, die allgemein ist (nicht mehr nur auf Kunst, Urbanismus usw. abgezielt), entspricht auf Seiten der SI einer präzisen Logik. Die SI sagt, daß jede neue Nummer ihrer Zeitschrift es jemandem erlauben kann und muß, alle vorhergehenden Ausgaben auf eine neue Weise zu lesen. Dies ist tatsächlich die Charakteristik einer Theorie, die reicher wird, reicher gemacht wird. Es geht nicht auf der einen Seite um den allgemeinen Aspekt der SI, und auf der anderen um ihr mehr oder weniger kritisches Verhältnis zur Kunst. Die Kritik der Trennung war ihr Leitfaden. In der Kunst wie in den Räten, in der Selbstverwaltung, in der Arbeiterdemokratie und in der Organisation (vgl. ihre Minimale Definition der revolutionären Organisationen7) wollte die SI die Trennung aufheben, um eine wirkliche Gemeinschaft zu schaffen. Während die SI es ablehnte, à la Cardan zu ‚zweifeln‘, endete sie damit, daß sie die Problematik der Beteiligung à la Chaulieu übernahm.8

Die SI und Socialisme ou Barbarie

Um ‚die Transparenz der intersubjektiven Beziehungen‘ zu erreichen, landete die SI bei dem von Socialisme ou Barbarie unterstützten Rätegedanken. Die Räte sind das Mittel, um die Einheit neu zu entdecken. Debord traf über Canjuers auf und schloß sich der Gruppe für einige Monate an. Seine Mitgliedschaft wurde in der Zeitung der SI nicht erwähnt. Im Gegenteil: In Die wirkliche Spaltung9 wird am Beispiel von Khayati, ‚eine doppelte Mitgliedschaft (in der SI und einer anderen Gruppe)‘ prinzipiell ausgeschlossen, ‚da sie unmittelbar an Manipulation grenzen würde‘ (S. 105). Wie immer dem auch sei, Debord beteiligte sich an den Aktivitäten von Socialisme ou Barbarie, solange er Mitglied war, und war Teil der Delegation, die während des großen Streiks von 1960 nach Belgien geschickt wurde. Nach einem von Socialisme ou Barbarie organisierten internationalen Treffen, das zugleich enttäuschend war und die fehlenden Perspektiven enthüllte, und das mit einer prätentiösen Rede Chaulieus über die Aufgaben von Socialisme ou Barbarie endete, verkündete Debord seinen Austritt. Nicht ohne Ironie erklärte er, daß er mit den von Chaulieu dargestellten großen Perspektiven übereinstimme, sich aber einer solch ungeheuren Aufgabe nicht gewachsen fühle.

I.S. Nr. 6 (1961) übernahm den Rätegedanken, wenn nicht gar die Räteideologie; auf jeden Fall übernahm sie die These von der Teilung in ‚Leitende‘ und ‚Ausführende‘. Das Projekt, das die SI sich in I.S. Nr. 6 vornahm, und das unter anderem ‚das illusionslose Studium der klassischen Arbeiterbewegung‘ und von Marx beinhaltete, wurde nicht verwirklicht. Die SI sollte auch weiterhin die Realität der kommunistischen Linken, besonders Bordiga, nicht kennen. Die radikalste der revolutionären Bewegungen sollte stets eine verbesserte Socialisme ou Barbarie sein. Sie sah die Theorie durch diesen Filter.

Vaneigems Basisbanalitäten übergehen in fröhlicher Weise Marx und schreiben die Geschichte im Lichte von Socialisme ou Barbarie neu, während sie ihr die Warenkritik hinzufügen. Die SI kritisierte Socialisme ou Barbarie, jedoch nur in gradueller Weise: für die SI beschränkte Socialisme ou Barbarie den Sozialismus auf Arbeiterselbstverwaltung, während er tatsächlich von allem die Selbstverwaltung bedeutete. Chaulieu beschränkte sich auf die Fabrik, Debord wollte das Leben selbstverwalten. Vaneigems Vorgehen ist sehr eng mit dem von Cardan verwandt. Er schaut nach einem Zeichen (Beweis): nicht mehr die schamlose Ausbeutung des Arbeiters auf Betriebsebene, sondern das Elend der sozialen Beziehungen, dort liegt der revolutionäre Zünder:

Die schwache Qualität des Spektakels und des Alltagslebens wird zum einzigen Zeichen.

Die wirkliche Spaltung… sprach auch von einem Zeichen dessen, was unerträglich war. Vaneigem ist gegen den Vulgärmarxismus, doch er integriert den Marxismus nicht in die Kritik. Er nimmt das nicht auf, was bei Marx revolutionär war und das der etablierte Marxismus ausgelöscht hat.

Wie Die Gesellschaft des Spektakels begibt sich Basisbanalitäten auf die Ebene der Ideologie und ihrer Widersprüche. Vaneigem zeigt, wie Religion zum Spektakel geworden ist, was die revolutionäre Theorie dazu zwingt, das Spektakel zu kritisieren, so wie sie früher von einer Kritik der Religion und der Philosophie ausgehen mußte. Doch auf diese Weise erhält man nur die Vor-Bedingung revolutionärer Theorie: die Arbeit bleibt noch zu erledigen. Die SI erhoffte sich zunächst viel von Lefebvre10 und Cardan, wies diese später aber heftig zurück. Doch sie bewahrte mit ihnen die Gemeinsamkeit, weder eine Kapitalismustheorie noch eine Gesellschaftstheorie zu besitzen. Um das Jahr 1960 herum öffnete sie neue Horizonte, unternahm jedoch nicht den Schritt nach vorn. Die SI packte den Wert an (vgl. Jorns Text über die politische Ökonomie und den Gebrauchswert), erkannte ihn jedoch nicht als das, was er ist. Ihre Theorie besaß weder eine Zentralität noch eine umfassende Sichtweise. Dies führte dazu, daß sie sehr unterschiedliche soziale Bewegungen überbewertete, ohne den Kern des Problems zu sehen.

Es ist z.B. unbestreitbar, daß der Artikel über Watts (Nr. 10, 1966)11 ein brillanter theoretischer Durchbruch ist. Indem sie auf ihre eigene Weise das aufgriff, was über den Austausch zwischen Mauss und Bataille hätte gesagt werden können, stellte die SI die Frage nach der Veränderung des eigentlichen Wesens der kapitalistischen Gesellschaft. Die Schlußfolgerung des Artikels wendet sich sogar einmal gegen Marx‘ Formulierung über das Bindeglied zwischen dem Menschen und seinem Gattungswesen, gegen die sich zur gleichen Zeit auch Camatte in der P.C.I.12 wandte (vgl. die Nr. 1 von Invariance). Doch, um auf der Ebene der Ware zu bleiben, die SI war unfähig zwischen den Ebenen der Gesellschaft zu differenzieren, und zu bestimmen, was eine Revolution ausmacht. Wenn sie schreibt, daß eine Revolte gegen das Spektakel sich auf die Ebene der Totalität begibt…, so beweist dies, daß sie aus dem Spektakel eine Totalität macht. Genauso führen ihre ‚Selbstverwaltungs‘-Illusionen sie dazu, in Bezug auf das Algerien nach dem Putsch von Boumedienne die Tatsachen zu verdrehen: Das einzige Programm der algerischen sozialistischen Elemente ist die Verteidigung des selbstverwalteten Sektors, nicht nur wie er ist, sondern wie er werden soll (Nr. 10, 1966, in: Situationistische Internationale, Band 2, S. 164).

Mit anderen Worten, die SI glaubte, daß es ohne Revolution, das heißt, ohne die Zerstörung des Staats und ohne wesentliche Veränderungen in der Gesellschaft, Arbeiterselbstverwaltung geben könnte, und daß Revolutionäre für ihre Ausbreitung arbeiten sollten.

Positive Utopie

Die SI erlaubt es, auf der Ebene der revolutionären Aktivität die Implikationen der Kapitalentwicklung seit 1914 zu erkennen, die bereits von der kommunistischen Linken insofern erkannt wurden, als diese Entwicklung Reformismus, Nationen, Kriege, die Entwicklung des Staats usw. zur Folge hatte. Die SI hatte den Weg der kommunistischen Linken gekreuzt.

Die SI verstand die kommunistische Bewegung und die Revolution als Produktion von neuen Beziehungen untereinander und zu den ‚Dingen‘ durch die Proletarier. Sie entdeckte den Marx’schen Gedanken des Kommunismus als den der Bewegung wieder, in der die Menschen ihre eigenen Verhältnisse selbst schaffen. Neben Bordiga war sie die erste, die wieder an die utopische Tradition anknüpfte. Dies war gleichzeitig ihre Stärke und ihre Zweideutigkeit.

Die SI war ursprünglich eine Revolte, die versuchte, sich die kulturellen Mittel zurückzuholen, die durch Geld und Macht monopolisiert waren. Früher wollten die klar denkendsten Künstler die Trennung zwischen Kunst und Leben aufheben: die SI stellte diese Forderung auf eine höhere Ebene und wollte die Distanz zwischen Leben und Revolution abschaffen. ‚Experimentieren‘ war für die Surrealisten ein illusorisches Mittel gewesen, die Kunst ihrer Isolation von der Wirklichkeit zu entreißen: die SI wandte es an, um eine positive Utopie zu finden. Die Zweideutigkeit rührt daher, daß die SI nicht genau wußte, ob es darum ging, von nun an anders zu leben, oder nur darauf zuzusteuern.

Wir wissen wohl, daß die umzustürzende Kultur nur mit der gesamten ökonomisch-sozialen Formation fallen wird, die sie aufrecht erhält. Die SI hat unverzüglich vor, solange gegen sie in ihrem ganzen Umfang anzukämpfen, bis sie eine autonome situationistische Kontrolle und ein Instrumentarium gegen diejenigen erzwungen hat, die in den Händen der bestehenden kulturellen Autoritäten sind – d.h. also bis zu einem Zustand der doppelten Macht in der Kultur … Die Stätte einer solchen Entwicklung kann zunächst die UNESCO sein, sobald die SI dort die Führung übernommen hat: Volksuniversitäten neuen Typs, die vom passiven Konsum der alten Kultur losgelöst sind; schließlich noch zu errichtende utopische Zentren, die gegenüber bestimmten heutigen Einrichtungen des sozialen Freizeitraums vom herrschenden Alltagsleben vollkommen befreit werden und gleichzeitig als Brückenköpfe zur Invasion in dieses Alltagsleben fungieren sollen. (Nr. 5, 1960, Situationistische Internationale, Bd. 1, S. 159 u. 184)

Der Gedanke einer schrittweisen Befreiung hängt zusammen mit dem einer sich nach und nach überall hin ausbreitenden Selbstverwaltung: die SI mißversteht die Gesellschaft als eine Totalität. Außerdem privilegiert sie die ‚Kultur‘, der bedeutsame Mittelpunkt einer Gesellschaft ohne Bedeutung (Nr. 5, S. 159).

Diese Überschätzung der Rolle der Kultur wurde später auf die Arbeiterautonomie übertragen: die ‚Macht der Räte‘ sollte sich ausweiten, bis sie die gesamte Gesellschaft einnahm. Diese beiden Merkmale wurzeln tief in den Ursprüngen der SI. Das Problem ist daher nicht, daß die SI zu ‚künstlerisch‘, im Sinne der Bohème, blieb, und es an ‚Strenge‘ fehlen ließ (als ob die ‚Marxisten‘ streng wären), sondern daß sie durchgehend denselben Ansatz anwandte.

Die Projekte für ein ‚anderes‘ Leben waren Legion in der SI. In der I.S. Nr. 6 (1961) ging es um eine experimentelle Stadt. Bei der Göteborger Konferenz sprach Vaneigem davon, situationistische Basen zu schaffen, um den unitären Urbanismus und ein befreites Leben vorzubereiten. Diese Rede (behauptet das Protokoll) ruft keinen Widerspruch hervor (Nr. 7, 1962, Situationistische Internationale, Bd. 1, S. 279).

Man macht eine Organisation; revolutionäre Gruppen können nur dann einen Anspruch auf eine Existenz als permanente Avantgarde erheben, wenn sie selbst das Beispiel eines neuen Lebensstils geben (Nr. 7, S. 267) Die Überschätzung der Organisation und der Verpflichtung, jetzt anders zu leben, führte nun offenbar zu einer Selbstüberschätzung der SI. Trocchi erklärt in der Nr. 8:

Wir streben eine Situation an, in der das Leben ständig durch die Kunst erneuert wird, eine Situation, konstruiert durch Phantasie und Leidenschaft … wir haben in den letzten zehn Jahren schon genügend Experimente vorbereitender Art gemacht: wir sind bereit zu handeln (Situationistische Internationale, Bd. 2, S. 62 u. 65).

Eine bezeichnende Tatsache: die Kritik dieses Artikels in der darauffolgenden Ausgabe bezog sich nicht auf diesen Aspekt. Trocchi sollte dieses Programm auf seine eigene Weise im Project Sigma verwirklichen: die SI distanzierte sich nicht davon, sondern stellte lediglich fest, daß Trocchi dieses Projekt nicht in seiner Eigenschaft als Mitglied der SI unternahm.

Die Zweideutigkeit wurde von Vaneigem auf die Spitze getrieben, der tatsächlich ein Handbuch der Lebenskunst in der gegenwärtigen Welt schrieb, während er beiseite ließ, welche sozialen Verhältnisse möglich sein könnten. Es ist ein Handbuch zur Verletzung der Logik des Markts und des Lohnsystems, wo immer man sie trifft. Die wirkliche Spaltung findet einige harte Worte für Vaneigem und sein Buch. Debord und Sanguinetti hatten recht, wenn sie von Exorzismus sprachen: Er hat gesprochen, um nicht zu sein.

Kein Zweifel. Doch die Kritik kommt verspätet. Vaneigems Buch ist ein schwer zu bewerkstelligendes Programm, weil es nicht gelebt werden kann, und drohte, einerseits in einen marginalen Possibilismus zu verfallen und andererseits in einen unrealisierbaren und daher moralischen Imperativ. Entweder man drängt sich in den Nischen der bürgerlichen Gesellschaft, oder man stellt ihr unaufhörlich ein anderes Leben entgegen, das ohnmächtig ist, weil nur die Revolution ihm zu einer Wirklichkeit verhelfen kann. Die SI steckte ihre sclechteste Seite in ihren schlechtesten Text. Vaneigem war die schwächste Seite der SI, die all ihre Schwächen enthüllte. Die positive Utopie ist revolutionär als Forderung, als Spannung, denn sie kann innerhalb der Gesellschaft nicht verwirklicht werden: sie wird lächerlich, wenn man versucht, sie heute zu leben. Anstatt auf Vaneigem als Individuum einzuhämmern, hätte Die wirkliche Spaltung eine Bilanz der Praxis erstellen können, die Vaneigem hervorgebracht hat – doch eine solche Bilanz gab es nicht.

Der Reformismus des Alltags wurde später auf die Ebene der Arbeit übertragen; zu spät zur Arbeit zu kommen, schreibt Ratgeb13, ist der Beginn einer Kritik der Lohnarbeit. Wir versuchen nicht, uns über Vaneigem lustig zu machen, den unglücklichen Theoretiker einer Lebenskunst, der ‚Radikalität‘. Sein Brio kann gerade mal dem Handbuch einen leeren Anspruch geben, der einen zum Lachen bringt. Die wirkliche Spaltung ist schlecht beraten, wenn sie Vaneigems Haltung im Mai 68 verspottet, als er wie geplant in den Urlaub fuhr, obwohl die ‚Ereignisse‘ begonnen hatten (von dem er im übrigen schnell zurückkehrte). Dieser persönliche Widerspruch spiegelte den theoretischen und praktischen Widerspruch, den die SI von Beginn an in sich trug. Wie jede Moralität, war Vaneigems Position unhaltbar und mußte beim Kontakt mit der Wirklichkeit zerschellen. Die SI gab sich ebenfalls einer moralistischen Praxis hin, als sie seine Haltung anprangerte: sie verurteilte Handlungen, ohne ihre Ursachen zu untersuchen. Diese Enthüllung von Vaneigems Vergangenheit, ob sie nun die Radikalisten stört oder amüsiert, hat außerdem etwas Unangenehmes an sich. Wenn Vaneigems Inkonsequenz im Jahre 1968 wichtig war, so hätte die SI daraus Konsequenzen ziehen müssen, wie sie es in einer Unmenge von anderen Fällen nicht versäumt hat, und hätte nicht vier Jahre warten dürfen, bis sie darüber redete. Wenn Vaneigems Verfehlung nicht wichtig war, so war es nutzlos darüber zu reden, selbst wenn er mit der SI gebrochen hatte. Tatsächlich trieb die SI, um ihren eigenen Begriff zu verwenden, die Ohnmacht ihrer Moralität aus, indem sie die Individuen anprangerte, die bei der Aufrechterhaltung dieser Moralität versagten, und rettete so auf einen Streich sowohl die Moralität als auch die SI selbst. Vaneigem war der Sündenbock für einen unmöglichen Utopismus.

Materialismus und Idealismus in der SI

Gegen den militanten Moralismus pries die SI eine andere Moralität: die der Autonomie der Individuen in der sozialen Gruppe und in der revolutionären Gruppe. Nun erlaubt nur eine Aktivität, die in eine soziale Bewegung integriert ist, durch eine erfolgreiche Praxis Autonomie. Sonst endet die Forderung nach Autonomie in der Schaffung einer Elite derer, die wissen, wie sie autonom werden.14 Wer Elitismus sagt, sagt auch Jünger. Die SI zeigte einen großen organisatorischen Idealismus, genau wie Bordiga (der Revolutionär als ‚entgiftet‘), wenn die SI das Problem auch auf andere Weise löste. Die SI griff auf eine unmittelbar praktische Moralität zurück, die ihren Widerspruch erklärt. Jede Moralität stellt über die gegebenen sozialen Verhältnisse die Verpflichtung, sich auf eine Art und Weise zu verhalten, die diesen Verhältnissen entgegengesetzt ist. In diesem Fall erfordert die Moralität der SI, die Spontaneität zu respektieren.

Der Materialismus der SI beschränkt sich auf das Bewußtsein von der Gesellschaft als Austausch von Subjekten, als Interaktion von menschlichen Beziehungen auf unmittelbarer Ebene, während sie die Totalität vernachlässigt: doch die Gesellschaft ist auch die Produktion ihrer eigenen materiellen Bedingungen, und die unmittelbaren Verhältnisse kristallisieren sich in Institutionen, mit dem Staat an ihrer Spitze. Die ‚Konstruktion konkreter Situationen‘ ist nur ein Aspekt der revolutionären Bewegung. In ihrer Theorie geht die SI zwar von den realen Existenzbedingungen aus, reduziert sie jedoch auf Beziehungen zwischen Subjekten. Dies ist der Standpunkt des Subjekts, das versucht, sich selbst neu zu entdecken, und keine Vorstellung, die sowohl Subjekt als auch Objekt umfaßt. Es ist das Subjekt, das seiner ‚Repräsentation‘ beraubt ist. Die Systematisierung dieses Gegensatzes in Die Gesellschaft des Spektakels richtet sich gegen den idealistischen Gegensatz, der charakterisiert ist durch das Vergessen der Objektivierungen des Menschen (Arbeit, Aneignung der Welt, Verschmelzung von Mensch und Natur). Der Subjekt-Objekt-Gegensatz ist der Leitfaden der westlichen Philosophie, der sich in einer Welt gebildet hat, deren Bedeutung dem Menschen nach und nach entgleitet. Schon Descartes stellte den Fortschritt der Mathematik und die Stagnation der Metaphysik Seite an Seite. Der merkantile Mensch ist auf der Suche nach seiner Rolle.

Die SI interessierte sich nicht für die Produktion. Sie warf Marx vor, zu ökonomistisch zu sein, unternahm aber selbst keine Kritik der politischen Ökonomie. Die Gesellschaft ist ein Ensemble von Verhältnissen, die sich durchsetzen, indem sie sich objektivieren und materielle oder gesellschaftliche Objekte (Institutionen) schaffen; die Revolution zerstört den Kapitalismus durch eine menschliche Aktion auf der Ebene ihrer Objektivierungen (Produktionssystem, Klassen, Staat), die genau von denjenigen durchgeführt wird, die im Mittelpunkt dieser Verhältnisse stehen.

Debord ist für Freud das, was Marx für Hegel ist: er fand, was eine materialistische Theorie persönlicher Beziehungen nur ist, ein begrifflicher Widerspruch. Anstatt vom Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse auszugehen, isoliert der Begriff der ‚Konstruktion von Situationen‘ die Beziehung zwischen den Subjekten von der Totalität der Verhältnisse. Auf dieselbe Weise wie, laut Debord, das Spektakel alles sagt, was über den Kapitalismus gesagt werden muß, erscheint die Revolution als die Konstruktion von Situationen, die auf die ganze Gesellschaft ausgeweitet wird. Die SI erfaßte nicht die Vermittlungen, auf denen die Gesellschaft beruht; und unter diesen zuerst die Arbeit, das ‚grundlegende Bedürfnis‘ (William Morris) des Menschen. Als Folge davon nahm sie nicht deutlich die Vermittlungen wahr, auf deren Grundlage eine Revolution gemacht werden kann. Um dieser Schwierigkeit zu entgehen, übertrieb sie die Vermittlung der Organisation. Ihre Räte-, Demokratie- und Selbstverwaltungspositionen erklären sich durch ihre Unkenntnis der gesellschaftlichen Dynamik.

Die SI betonte die Organisationsformen, um der Unzulänglichkeit des Inhalts abzuhelfen, den sie nicht verstand. Sie praktizierte die ‚Umkehrung des Genitivs‘ wie Marx in seinen frühen Werken, sie stellte die Dinge wieder auf die Füße: sie kehrte die Begriffe der Ideologie um, damit sie die Welt in ihrer Wirklichkeit verstand. Doch ein wirkliches Verständnis wäre mehr als eine Umkehrung: Marx gab sich nicht damit zufrieden, Hegel und die Junghegelianer auf den Kopf zu stellen.

Die SI sah das Kapital in der Form der Ware und ignorierte den Zyklus als Ganzes. Vom Kapital behält Debord nur den ersten Satz bei, ohne ihn zu verstehen: das Kapital erscheint als eine Warensammlung, aber es ist mehr als das. Die SI sah die Revolution mehr als eine Infragestellung der Distributionsverhältnisse (vgl. die Aufstände in Watts) als der Produktionsverhältnisse. Sie war mit der Ware vertraut, aber nicht mit dem Mehrwert.

Die SI zeigte, daß die kommunistische Revolution nicht nur ein unmittelbarer Angriff auf die Ware sein konnte. Dieser Beitrag ist entscheidend. Obwohl die italienische Linke den Kommunismus als die Zerstörung des Markts beschrieben und bereits mit der Ideologie der Produktivkräfte gebrochen hatte, verstand sie die gewaltige subversive Kraft konkreter kommunistischer Maßnahmen nicht.15 Bordiga stellte tatsächlich die Sozialisierung hinter die Eroberung der ‚politischen Macht‘ zurück. Die SI betrachtete den revolutionären Prozeß auf der Ebene der menschlichen Beziehungen. Selbst der Staat kann nicht auf rein militärischer Ebene zerstört werden. Die Vermittlung der Gesellschaft wird auch nur (doch nicht ausschließlich) durch den Umsturz der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse zerstört, die sie aufrechterhalten.

Die SI machte schließlich den entgegengesetzten Fehler von Bordiga. Letzterer reduzierte die Revolution auf die Anwendung eines Programms: erstere beschränkte sie auf den Umsturz der unmittelbaren Verhältnisse. Weder Bordiga noch die SI erfaßten das ganze Problem. Der eine stellte sich eine Totalität vor, die von ihren realen Mitteln und Verhältnissen abstrahiert war, die andere eine Totalität ohne Einheit oder Bestimmung, folglich eine Addition einzelner Punkte, die sich nach und nach ausweiten. Unfähig, den ganzen Prozeß theoretisch zu beherrschen, griffen beide auf eine organisatorische Bemäntelung zurück, um die Einheit des Prozesses zu sichern – für Bordiga die Partei, für die SI die Räte. Während Bordiga die revolutionären Bewegungen bis zum Exzeß entpersonalisierte, war die SI in der Praxis eine Bejahung der Individuen bis hin zum Elitismus. Obwohl sie Bordiga überhaupt nicht kannte, erlaubt einem die SI, Bordigas Thesen über die Revolution durch eine Synthese mit ihren eigenen weiterzuentwickeln.

Die SI selbst war nicht in der Lage, diese Synthese durchzuführen, die eine umfassende Vorstellung von dem voraussetzt, was Gesellschaft ist. Sie praktizierte positiven Utopismus nur um des Zweckes der Enthüllung willen, und dies ist zweifellos ihr theoretischer Stolperstein.

Was … in den Zentren ungleich geteilter aber vitaler Erfahrung geschehen muß, ist eine Entmystifizierung. (Nr. 7)

Da gab es eine Gesellschaft ‚des Spektakels‘, eine Gesellschaft des ‚falschen Bewußtseins‘, die dem angeblich klassischen Kapitalismus des 19. Jahrhunderts entgegengestellt wurde: es ging darum, dem zugleich ein Bewußtsein von sich selbst zu geben. Die SI trennte sich nie vom Lukács’schen Idealismus, wie es in der einzigen Kritik an der SI gezeigt wird, die bis heute erschienen ist: Supplement au no. 301 de la Nouvelle Gazette Rhénane.16 Lukács wußte (mit Hilfe von Hegel und Marx), daß der Kapitalismus Verlust der Einheit ist, die Auflösung des Bewußtseins. Doch anstatt daraus zu schließen, daß die Proletarier mit den Mitteln ihrer subversiven Praxis (die in die Revolution mündet) eine einheitliche Auffassung von der Welt wiederherstellen werden, dachte er, daß zuerst das Bewußtsein wiedervereinigt und neu entdeckt werden müsse, um diese Subversion möglich zu machen. Als dies unmöglich wurde, flüchtete er sich in die Magie und theoretisierte das Bedürfnis nach einer Konkretisierung des Bewußtseins, das in einer Organisation verkörpert sein müsse, bevor die Revolution möglich sei. Dieses organisierte Bewußtsein ist die ‚Partei‘. Man sieht sofort, daß für Lukács die Rechtfertigung der Partei sekundär ist: primär ist der Idealismus des Bewußtseins, der Vorrang, den er dem Bewußtsein zukommen läßt, dessen Äußerung die Partei ist. Was in seiner Theorie wesentlich ist, ist daß das Bewußtsein in einer Organisation verkörpert sein muß. Die SI greift auf unkritische Weise Lukács Theorie des Bewußtseins auf, ersetzt jedoch die ‚Partei‘ einerseits durch die SI, andererseits durch die Räte. Für die SI wie für Lukács besteht der Unterschied zwischen der ‚Klasse an sich‘ und der ‚Klasse für sich‘ darin, daß letztere Bewußtsein besitzt. Daß ihr dieses Bewußtsein nicht durch eine Partei gebracht wird, sondern spontan aus der Organisierung der Arbeiter in Räten entstehen wird, ist vollkommen sekundär. Die SI faßte sich selbst als eine Organisation auf, die das Ziel hat, der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen: sie machte die Enthüllung zum Prinzip ihrer Aktion. Dies erklärt die übermäßige Bedeutung, welche die SI 1968 in der Tendenz zu einer ‚totalen Demokratie‘ sah. Die Demokratie ist der ideale Ort, an dem sich Bewußtsein aufklären kann. Alles ist zusammengefaßt in der Definition, wie die SI einen Proletarier beschreibt: als jemand, der ‚keine Kontrolle über den Gebrauch seines Lebens hat, und der dies weiß‚.

Die Kunst ist heute freiwillige Entfremdung; in ihr macht die systematische Praxis des Artefakts die Faktizität des Lebens sichtbarer. Da die SI sich selbst in ihre Vorstellung des ‚Spektakels‘ einschloß, blieb sie Gefangene ihrer Herkunft. Die Gesellschaft des Spektakels ist bereits ein abgeschlossenes Buch. Die Theorie des Scheins wendet sich gegen sich selbst. Hier kann man sogar die Anfänge gängiger modischer Vorstellungen über das Kapital als Vorstellung herauslesen. Das Kapital wird zum Bild … das konzentrierte Ergebnis gesellschaftlicher Arbeit … wird offenkundig und unterwirft die ganze Wirklichkeit dem Schein.

Die SI entstand zum selben Zeitpunkt wie all diese Thesen über ‚Kommunikation‘ und Sprache und als Reaktion auf sie, doch sie tendierte dazu, dasselbe Problem in anderen Begriffen aufzuwerfen. Die SI wurde als Kritik der Kommunikation gegründet und kam nie von diesem Ursprungspunkt los: die Räte verwirklichen eine ‚wahre‘ Kommunikation. Dennoch weigerte sich die SI, im Gegensatz zu Barthes und seinesgleichen, das Zeichen auf sich selbst beziehen zu lassen. Sie wollte offenbar nicht die Wirklichkeit untersuchen (das Studium der ‚Mythologien‘ oder des ‚Überbaus‘, das Gramsci so lieb war), sondern lieber die Wirklichkeit als Schein. Marx schrieb 1847:

Menschliche Tätigkeit = Ware. Die Äußerung des Lebens, des aktiven Leben, erscheint als reines Mittel: Schein, getrennt von dieser Tätigkeit, wird als Selbstzweck begriffen.

Die SI unterlag selbst dem Fetischismus, indem sie sich auf Formen fixierte: Ware, Subjekt, Organisation, Bewußtsein. Doch anders als diejenigen, die heute ihre Ideen wiederholen, indem sie nur die knalligen Teile und die Fehler (Utopie usw.) beibehalten, machte es die SI nicht zur Regel, Sprache mit Gesellschaft zu verwechseln. Was für die SI ein Widerspruch war, wurde zur Existenzberechtigung des Modernismus.

Kein theoretisches Resümee

Nichts ist leichter als ein falsches Resümee. Man kann es sogar nochmals tun, wie die berühmte Selbstkritik, man wechselt jedes Mal seine Ideen. Man verzichtet auf das alte Gedankensystem, um in ein neues einzutreten, doch man verändert seine Lebensweise nicht. Das ‚theoretische Resümee‘ kann tatsächlich die hinterlistigste Praxis sein, während es so scheint, als sei es die ehrlichste. Die wirkliche Spaltung … schafft es, nicht über die SI und ihr Ende zu sprechen, jedenfalls geht sie nicht ihren Auffassungen zu Leibe – in einem Wort, sie spricht auf nicht-theoretische Weise über sie. Sie prangert (zweifellos ehrlich) den Triumphalismus und die Selbstgenügsamkeit in Bezug auf die SI und in der SI an, doch ohne eine theoretische Kritik, und das Buch stellt die SI am Ende als Modell dar. Debord und Sanguinetti kommen nicht zur Sache, außer bei den Pro-Situs, die sie zu einigen guten Überlegungen anregen, jedoch immer nur auf der Ebene der subjektiven Beziehungen, der Haltungen. Theorie wird stets vom Standpunkt der Haltungen betrachtet, die sie verkörpern; gewiß eine wichtige Dimension, jedoch keine ausschließliche.

Es gibt keine Selbstanalyse der SI. Die SI kam, 1968 kündigt die Rückkehr der Revolution an, und nun ist die SI dabei zu verschwinden, um überall neu geboren zu werden. Diese lichte Bescheidenheit verdeckt zwei wesentliche Punkte: die Autoren argumentieren, als sei die Perspektive der SI vollkommen richtig gewesen; sie fragen sich nicht, ob nicht ein Zusammenhang bestehen könnte zwischen der Sterilität der SI nach 1968 (vgl. die Korrespondenz der Orientierungsdebatte) und der Unzulänglichkeit jener Perspektive. Sogar bezüglich der Pro-Situs schaffen es Debord und Sanguinetti nicht, irgendeine logische Beziehung zwischen der SI und ihren Jüngern herzustellen. Die SI war revolutionär mit Hilfe einer Theorie, die auf Haltungen beruhte (die sich später als Bremse ihrer Entwicklung erweisen sollten). Nach der Phase der revolutionären Aktion bewahrten die Pro-Situs nur noch die Pose. Man kann zwar einen Meister nicht nur nach seinen Jüngern beurteilen: doch er hat auch Jünger, die er selbst hervorgerufen hat. Die SI akzeptierte durch ihre eigenen Auffassungen unfreiwillig die Rolle als Meister. Sie schlug zwar nicht direkt ein savoir-vivre vor, doch indem sie ihre Ideen als ’savoir-vivre‘ darstellte, drängte sie ihren Lesern eine Lebenskunst auf. Die wirkliche Spaltung … registriert den ideologischen Gebrauch, der von der I.S. gemacht wurde, ihre Umkehrung in ein Spektakel, wie es im Buch heißt, durch die Hälfte der Leser der Zeitschrift. Dies war teilweise unvermeidlich (siehe unten über die Rekuperation), aber teilweise auch ihrem eigenen Wesen geschuldet. Jede radikale Theorie oder Bewegung wird von ihren Schwächen rekuperiert: Marx durch sein Studium der Ökonomie an sich und seine radikal-reformistischen Tendenzen, die deutsche Linke durch ihre Räteideologie usw. Revolutionäre bleiben Revolutionäre, wenn sie sich diese Rekuperationen zunutze machen, um ihre Beschränkungen zu beseitigen und zu einer entwickelteren Totalisierung vorzudringen. Die wirkliche Spaltung … ist auch eine Spaltung im Denken ihrer Autoren. Ihre Kritik an Vaneigem wird vorgebracht, als wären seine Ideen der SI fremd gewesen. Wenn man Debord und Sanguinetti liest, könnte man denken, daß die SI keine Verantwortung für das Handbuch hätte: Vaneigems Schwäche, so könnte man denken, wäre nur seine eigene. Entweder das eine oder das andere: entweder nahm die SI seine Fehler auf ihre Kappe – und warum sagt sie in diesem Fall nichts darüber? – oder sie ignorierte sie. Die SI beginnt hier eine organisatorische Praxis (die Socialisme ou Barbarie mit dem Wort ‚bürokratisch‘ bezeichnet hätte): man lernt nicht aus den Abweichungen der Mitglieder nach deren Ausschluß. Die Organisation behält ihre Reinheit, die Fehler ihrer Mitglieder betreffen sie nicht. Das Problem liegt in den Unzulänglichkeiten der Mitglieder, niemals oben, und nicht bei der Organisation. Da der zunehmende Größenwahn der Anführer nicht alles erklärt, ist man gezwungen, in diesem Verhalten das Anzeichen eines mystifizierten Bewußtwerdens der Sackgasse der Gruppe zu sehen, und einer magischen Art, dies zu lösen. Debord war die SI. Er löste sie auf: dies wäre der Beweis einer klaren und ehrlichen Haltung, wenn er sie nicht gleichzeitig verewigt hätte. Er löste die SI auf, um sie vollkommen zu machen; so wenig offen er für Kritik war, so wenig war er in der Lage, sich selbst zu kritisieren.

Genauso ist sein Film Die Gesellschaft des Spektakels ein vorzügliches Mittel, sein Buch zu verewigen. Unbeweglichkeit geht mit dem Fehlen eines Resümees einher. Debord hat nichts gelernt. Das Buch war eine partielle Theoretisierung: der Film totalisiert diese. Diese Sklerose ist sogar noch bemerkenswerter durch das, was für die Wiederaufführung des Films im Jahre 1976 hinzugefügt wurde. Debord antwortet auf eine Reihe von Kritiken am Film, doch er sagt kein Wort über verschiedene Leute (von denen einige sehr weit von unseren Auffassungen entfernt sind), die den Film von einem revolutionären Standpunkt aus streng beurteilt hatten. Er zieht es vor, es mit dem Nouvel Observateur aufzunehmen.17 Sein Problem besteht immer mehr darin, seine Vergangenheit zu verteidigen. Er scheitert an der Notwendigkeit, denn alles was er tun kann, ist sie neu zu interpretieren. Die SI gehört ihm nicht mehr. Die revolutionäre Bewegung wird sie sich trotz der Situationisten aneignen.

Eine stilistische Übung

Obwohl ansonsten ernsthaft, ist Sanguinettis Buch Wahrhafter Bericht18 dennoch ein Zeichen seines Scheiterns. Wir wollen das Buch nicht nach seinem Publikum beurteilen, das es als guten Streich zu schätzen wußte, der der Bourgeoisie gespielt wurde. Diese Leser begnügen sich damit zu wiederholen, daß die Bourgeoisie aus Idioten besteht, sogar, daß sie verächtlich mit ‚wirklich‘ herrschenden Klassen der Vergangenheit verglichen wird; wenn wir wollten, so sagen sie, so könnten wir weitaus größere und bessere Bourgeois sein. Elitismus und Spott über den Kapitalismus sind als Reaktionen lächerlich genug, jedoch beruhigend, wenn die Revolution nicht mehr eine absolute Gewißheit zu sein scheint. Doch Selbstgefälligkeit in der Anprangerung der bürgerlichen Dekadenz ist alles andere als subversiv. Sie wird von denjenigen geteilt (wie Sorel), die über die Bourgeoisie spotten, während sie den Kapitalismus retten wollen. Die Kultivierung dieser Haltung ist daher für jemanden, der noch die geringsten revolutionären Ansprüche hat, absurd. Laßt uns immerhin feststellen, daß Sanguinetti ins Schwarze getroffen hat.

Das Problem, das sich die meisten Kommentatoren zu stellen versäumen (und aus gutem Grund), ist zu wissen, ob er eine revolutionäre Perspektive unterbreitet. Wenn nicht, so ist es ihm lediglich gelungen, in der bürgerlichen Politik und dem Spiel der Parteien einen Knallkörper explodieren zu lassen. Probieren geht über Studieren. Seine Analyse der vergangene Ereignisse ist falsch, und falsch ist auch die revolutionäre Perspektive, die er vorschlägt.

Zuallererst gab es 1969 keinen ’sozialen Krieg‘ in Italien und 1976 keinen in Portugal. Der Mai 1968 in Frankreich war das Aufwallen einer breiten und spontanen Organisierung der Arbeiter: auf der Ebene eines ganzen Landes und in hunderten von Betrieben hatten Proletarier zum gleichen Zeitpunkt an der ‚proletarischen Erfahrung‘, an der Konfrontation mit dem Staat und den Gewerkschaften teil, und verstanden praktisch, daß der Reformismus der Arbeiterklasse nur dem Kapital dient. Diese Erfahrung bleibt. Es war ein unvermeidlicher Bruch, der andauert, auch wenn es scheint, daß nun die Wunde wieder geschlossen ist.

Doch die SI hielt diesen Bruch für die Revolution selbst. 1968 verwirklichte für sie, was 1966 für Socialisme ou Barbarie verwirklichte: die praktische Überprüfung ihrer Theorie. Doch in Wirklichkeit war es die Bestätigung ihrer Grenzen und der Beginn ihres Durcheinandergeratens. Die wirkliche Spaltung … behauptet, daß die Bewegung der Besetzungen19 situationistische Ideen besaß: wenn man weiß, daß fast alle Streikenden die Kontrolle des Streiks den Gewerkschaften überließen, so zeigt dies nur die Grenzen der situationistischen Ideen. Dieses Ignorieren des Staates von Seiten der Bewegung war keine Aufhebung des Jakobinertums, sondern dessen Folge, wie in der Pariser Kommune: die Nicht-Zerstörung des Staats, seine schlichte Demokratisierung, ging 1871 mit dem Versuch einiger Leute einher, eine Diktatur nach dem Modell von 1793 zu schaffen. Es ist wahr – wenn man 1871 oder 1968 betrachtet -, daß man die Stärke und nicht die Schwäche der kommunistischen Bewegung, ihre Existenz statt ihre Abwesenheit aufzeigen sollte. Sonst entwickelt der Revolutionär nur größeren Pessimismus und eine abstrakte Negation von allem, was nicht ‚die Revolution‘ ist. Doch die revolutionäre Bewegung ist nur eine solche, wenn sie sich selbst kritisiert und auf der umfassenden Perspektive beharrt, auf dem, was in vergangenen proletarischen Bewegungen gefehlt hatte. Sie bewertet nicht die Vergangenheit. Es sind der Staat und die Konterrevolution, welche die Grenzen vergangener Bewegungen aufgreifen und daraus ihr Programm machen. Der theoretische Kommunismus kritisiert die vorangegangenen Erfahrungen, doch er unterscheidet zwischen proletarischen Angriffen wie 1918-1921 in Deutschland, und Angriffen, die vom Kapital unmittelbar zum Stocken gebracht wurden, wie 1871 in Paris und 1936 in Spanien. Er gibt sich nicht damit zufrieden, positive Bewegungen zu beschreiben, sondern zeigt auch die Brüche auf, die diese vollziehen müssen, um die Revolution zu machen. Die SI tat das Gegenteil. Außerdem theoretisierte sie ab 1968 eine kommende Revolution. Doch vor allem leugnete sie die Frage des Staates.

Wenn die Arbeiter in der Lage sind, sich frei und ohne Vermittlung zu versammeln, um über ihre wirklichen Probleme zu diskutieren, beginnt der Staat sich aufzulösen. (Die wirkliche Spaltung)

Hier findet sich der ganze Anarchismus. Anstatt den Staat umstürzen zu wollen, wie man erwarten könnte, ist der Anarchismus vielmehr durch seine Gleichgültigkeit ihm gegenüber gekennzeichnet. Im Gegensatz zu jenem ‚Marxismus‘, der die Notwendigkeit der ‚Machtergreifung‘ zuerst und vor alles andere setzt, besteht der Anarchismus tatsächlich aus einer Vernachlässigung der Frage der Staatsmacht. Die Revolution entwickelt sich, Komitees und Versammlungen bilden sich parallel zum Staat, der, seiner Macht beraubt, aus eigenem Antrieb zusammenbricht. Der revolutionäre Marxismus, der sich auf eine materialistische Auffassung der Gesellschaft gründet, behauptet, daß das Kapital nicht nur eine gesellschaftliche Kraft ist, die sich überallhin ausgebreitet hat, sondern daß es auch in Institutionen (und zuallererst in den Streitkräften) konzentriert ist, die eine gewisse Autonomie besitzen und niemals von alleine absterben. Die Revolution wird nur dann siegen, wenn sie gegen diese Institutionen eine zugleich verallgemeinerte und konzentrierte Aktion zustande bringt. Der militärische Kampf beruht auf der Umgestaltung der Gesellschaft, doch er nimmt seine eigene spezifische Rolle ein. Die SI ihrerseits gab sich dem Anarchismus hin und überschätzte die Bedeutung der Arbeiterversammlungen (1968 waren Pouvoir Ouvrier und die Groupe de Liaison pour l’Action des Travailleurs ebenso damit beschäftigt, zu demokratischen Arbeiterversammlungen aufzurufen).

Daß in Portugal der Druck der Arbeiter den Aufbau eines modernen kapitalistischen Staates behindert habe, gibt nur den Standpunkt des Staates, des Kapitals wieder. Ist es das Problem des Kapitals, sich in Portugal zu entwickeln, dort einen neuen machtvollen Akkumulationspol zu bilden? War es nicht das Ziel der ‚Nelkenrevolution‘, die unklaren Ziele des Volkes und des Proletariats in illusorische Reformen zu kanalisieren, damit das Proletariat ruhig blieb? Der Auftrag ist erfüllt. Es handelt sich nicht um einen halben Sieg für das Proletariat, sondern um eine fast vollständige Niederlage, in der die ‚proletarische Erfahrung‘ fast nicht existent war, denn es gab sozusagen keine direkte Konfrontation, keine Sammlung der Proletarier um eine dem Kapitalismus entgegengesetzte Position herum. Sie hatten nie aufgehört, den demokratisierten Staat zu unterstützen, nicht einmal die Parteien, die sie des ‚Verrats‘ beschuldigt hatten.

Weder 1969 in Italien noch 1974/75 in Portugal gab es einen ’sozialen Krieg‘. Was ist denn ein sozialer Krieg, wenn nicht ein frontaler Kampf zwischen den Klassen, der die Grundlagen der Gesellschaft – Lohnarbeit, Tausch, Staat – in Frage stellt? In Italien und Portugal gab es nicht einmal den Beginn einer Konfrontation zwischen den Klassen und zwischen Proletariat und Staat. 1969 gingen die Streikbewegungen manchmal in Aufruhr über, doch nicht jeder Aufruhr ist der Beginn einer Revolution. Die aus Forderungen entstandenen Konflikte können gewalttätig werden und sogar den Beginn eines Kampf gegen die Ordnungskräfte hervorrufen. Doch der Grad der Gewalt sagt nichts über den Inhalt des Kampfes. Wenn sie gegen die Polizei kämpften, glaubten die Arbeiter dennoch weiterhin an eine Linksregierung. Sie forderten einen ‚wirklich demokratischen Staat‘ gegen die konservativen Kräfte, die ihn angeblich beherrschten.

Das Scheitern des sozialen Krieges mit der Gegenwart der KP zu erklären, ist genauso ernsthaft wie alles dem Fehlen der Partei zuzuschreiben. Sollte man sich fragen, ob die deutsche Revolution 1919 wegen der SPD und der Gewerkschaften scheiterte? Oder sollte man nicht eher fragen, warum die SPD und die Gewerkschaften existierten, warum die Arbeiter sie weiterhin unterstützten? Wir müssen innerhalb des Proletariats anfangen.

Es ist gewiß tröstlich zu sehen, daß ein Buch, das die KP als einen der Pfeiler des Kapitalismus darstellt, weite Verbreitung findet. Doch dieser Erfolg ist zweideutig. Wenn das Kapital keinen allumfassenden Gedanken mehr hat, oder sogar keine Denker mehr (was auf keinen Fall stimmt), dann denkt die SI gut genug an deren Stelle, aber schlecht für das Proletariat, wie wir sehen werden. Sanguinetti denkt letztendlich in kapitalistischen Begriffen. In der Tat hat er eine Analyse erstellt, wie dies ein Kapitalist tun würde, der sich den Vulgärmarxismus angeeignet hat. Es ist die Bourgeoisie, die von Revolution spricht, wo keine ist. Für sie sind besetzte Fabriken und Barrikaden auf der Straße der Beginn einer Revolution. Der revolutionäre Marxismus hält den Schein nicht für die Wirklichkeit und den Moment nicht für das Ganze. Die ‚Schwere‘ des Marxismus ist der Leichtigkeit ohne Inhalt vorzuziehen. Doch wir wollen den Lesern die Wahl überlassen, je nach dem, was sie zu ihrer Lektüre motiviert.

Der SI gelang eine stilistische Übung: das abschließende Urteil einer Gruppe, die den Kult des Stils in einer stillosen Welt nachahmte. Sie kam am Ende dazu, Kapitalisten zu spielen, in jedem Sinne des Wortes. Ihre Brillanz ist ungeschmälert, doch sie hat nur noch Brillanz zurückgelassen. Die SI gibt den Kapitalisten gute Ratschläge und den Proletariern schlechte, denen sie nichts anderes vorschlägt als die Räte-Ideologie.

Der wahrhafte Bericht beinhaltet zwei Gedanken: 1. Die Regierungsbeteiligung der Kommunisten ist für den italienischen Kapitalismus unabdingbar; 2. Die Revolution sind die Arbeiterräte. Der zweite Gedanke ist falsch, der erste richtig; Kapitalisten wie Agnelli haben ihn ebenfalls geäußert. In einem Wort, Sanguinetti bringt es zustande, die Totalität als Bourgeois zu erfassen und nichts weiter. Er wollte sich als aufgeklärter Bourgeois ausgeben: dies ist ihm nur allzu gut gelungen. Er hat sich in seinem eigenen Spiel selbst geschlagen.

Rekuperation

Zur selben Zeit veröffentlichte Jaime Semprun, der Autor von Der soziale Krieg in Portugal20 einen Precis de recuperation. Folgendes sagte die SI einst über die ‚Rekuperation‘:

Es ist ganz normal, daß es unseren Feinden gelingt, aus uns teilweise Nutzen zu ziehen … Genau wie das Proletariat können wir nicht behaupten, unter den gegebenen Umständen nicht ausbeutbar zu sein. (I.S. Nr. 9, in: Der Beginn einer Epoche, S. 168)

Die lebendigen Konzepte erleben in ein und derselben Zeit den wahrsten und den verlogensten Gebrauch … da der Kampf der kritischen Wirklichkeit gegen das apologetische Spektakel zu einem Kampf um Worte führt, ein Kampf, der um so erbitterter ausgefochten wird, je wichtiger die Worte sind. Nicht durch eine autoritäre Säuberung, sondern durch den kohärenten Gebrauch in der Theorie und im praktischen Leben haben wir die Wahrheit ans Licht gebracht. (I.S. Nr. 10, S.I., Bd. 2, S. 240)

Die Konterrevolution nimmt revolutionäre Ideen nicht deshalb auf, weil sie böswillig und manipulativ, geschweige denn knapp an Ideen ist, sondern weil revolutionäre Ideen reale Probleme behandeln, mit denen die Konterrevolution konfrontiert ist. Es ist absurd, sich in eine Verurteilung des gegnerischen Gebrauchs von revolutionären Themen oder Begriffen zu stürzen. Heutzutage werden alle Begriffe, alle Konzepte verdreht. Die subversive Bewegung wird sie sich nur durch ihre eigene praktische und theoretische Entwicklung wieder aneignen.

Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts haben der Kapitalismus und die Arbeiterbewegung eine Schicht von Denkern hervorgebracht, die revolutionäre Ideen nur aufgriffen, um sie ihres subversiven Inhalts zu berauben und sie an das Kapital anzupassen. Die Bourgeoisie hat ihrem Wesen nach eine begrenzte Auffassung von der Welt. Sie muß sich auf die Auffassung der Klasse, des Proletariats, als Geburtshelfer eines anderen Projekts berufen. Dieses Phänomen hat sich verbreitet, seit dem Marxismus offiziell ein öffentlicher Nutzen zugestanden wurde. In der ersten Zeit zog das Kapital daraus einen Sinn für die Einheit aller Beziehungen und für die Bedeutung der Ökonomie (in dem Sinne wie Lukács richtig sagte, daß der Kapitalismus eine fragmentierte Vorstellung von der Wirklichkeit produziert). Doch daß der Kapitalismus sich dazu entwickelt, das ganze Leben zu beherrschen – grob gesagt die Vorstellung des altmodischen ökonomistischen Vulgärmarxismus – ist diesem Grad an Komplexität und Ausweitung der Konflikte auf alle Ebenen unangemessen. In der zweiten Periode, in der wir heute leben, wurde der deterministische orthodoxe Marxismus von der Bourgeoisie selbst zurückgewiesen. An den Universitäten machte es vor fünfzig Jahren Spaß, beim Kapital mit den Schultern zu zucken: um 1960 herum wurde es zulässig, darin ‚interessante Sachen‘ zu finden, und zwar um so mehr diese in der UdSSR ‚angewandt‘ worden waren … Um heute in Mode zu sein, genügt es zu sagen, daß das Kapital in der rationalistischen und reduktionistischen Tradition der westlichen Philosophie seit Descartes, oder vielleicht gar seit Aristoteles steht. Der neue offizielle Marxismus ist keine Achse; stattdessen gibt man überall ein bißchen von ihm bei. Es hilft, uns an den ‚gesellschaftlichen‘ Charakter jeder Praxis zu erinnern: die Rekuperation der SI ist nur ein besonderer Fall.

Einer der natürlichen Kanäle dieser Entwicklung ist die Universität, seit der Apparat, dessen Teil sie ist, einen beträchtlichen Teil der Forschung über die Modernisierung des Kapitals finanziert. Das offizielle ‚revolutionäre‘ Denken ist der Spähtrupp des Kapitals. Tausende angestellter Funktionäre kritisieren den Kapitalismus aus jeder Richtung.

Der Modernismus bringt die soziale Krise zum Ausdruck, von der die Krise des Proletariats nur ein Aspekt ist. Aus den Grenzen, auf welche die subversive Bewegung bei jedem Schritt stößt, macht der Modernismus seine Ziele. Dies dient besonders dazu, den unmittelbaren Reformismus auf gesellschaftlicher Ebene zu rechtfertigen. In der Tat braucht der traditionelle Arbeiterklassenreformismus keine Rechtfertigung mehr, da er ja zur Regel geworden ist. Der Reformismus der Gewohnheiten und des Alltags bedarf noch der Theoretisierung, sowohl gegen die revolutionäre Bewegung, aus welcher er stammt, als auch gegen die rückständige kapitalistischen Fraktion, die Freiheiten ablehnt, die doch für das Kapital harmlos sind. Der Modernismus wird also entwickelt, weil er dem Kapital hilft, sich von den Fesseln der kapitalistischen Freiheit (sic) zu befreien. Der Alltagsreformismus befindet sich immer noch in seiner aufsteigenden Phase, so wie es der ökonomische und Arbeiterklassenreformismus vor siebzig Jahren war.

Der gemeinsame Zug jedes Modernismus ist die nur halbe Übernahme revolutionärer Theorie; sein Ansatz ist im Grunde der des ‚Marxismus‘ gegen Marx. Sein Axiom ist es, nicht die Revolution, sondern die Befreiung von bestimmten Zwängen zu verlangen. Er will das Maximum an Freiheit innerhalb der bestehenden Gesellschaft. Seine Kritik wird stets die Kritik der Ware und nicht des Kapitals sein, die Kritik der Politik und nicht des Staats, die Kritik des Totalitarismus und nicht der Demokratie. Ist es ein Zufall, daß sein historischer Vertreter Marcuse aus dem Deutschland kam, das gezwungen war, sich von den in den Jahren 1917-21 offenbarten radikalen Bestrebungen abzuwenden?

Es ist denkbar, Verzerrungen in der revolutionären Theorie anzuprangern, um die Dinge vollkommen klar zu machen – jedoch unter der Bedingung, daß es sich um mehr als eine Anprangerung handelt. In Sempruns Buch kann man nicht eine Unze Theorie finden. Laßt uns zwei Beispiele nehmen. In seiner Kritik an G. Guegan21 zeigt Semprun, was er als wichtig betrachtet. Warum diffamiert er diese Person? Sich abzugrenzen, gar mit heftigen Worten, bedeutet nichts, außer man stellt sich selbst auf eine höhere Ebene. Semprun breitet Guegans Leben über mehrere Seiten aus. Doch wenn es wirklich notwendig ist, über Guegan zu sprechen, dann muß dies direkt die Cahiers du futur betreffen, die Zeitung, die er herausgab. Wenn die erste Nummer nutzlos prätentiös war, so ist die zweite, die der Konterrevolution gewidmet war, teilweise abscheulich. Sie präsentiert die Tatsache, daß die Konterrevolution sich von der Revolution als Paradox nährt, findet Gefallen daran, den Wirrwarr aufzuzeigen, ohne irgend etwas zu erklären, wie etwas, bei dem man vor lauter Selbstgefälligkeit in morbiden Skizzen schwelgen kann, und schickt jeden ins Trudeln. Diese (beabsichtigte?) Verspottung jeglicher revolutionären Aktivität nimmt ein wenig überhand und nährt ein Gefühl der Überlegenheit unter denjenigen, die es verstanden haben, weil sie dabei waren: ‚Soweit führt die Revolution…‘ (lies: ‚So war ich, als ich ein Aktivist war …‘). Man kann nur davon träumen, was die SI in ihrer Blütezeit darüber geschrieben haben könnte.

Semprun zeigt auch, wie Castoriadis22 sich erneuert hat, indem er es selbst auf sich genommen hat, seine eigenen revolutionären Texte aus der Vergangenheit zu ‚rekuperieren‘: er bemühte sich, sie unlesbar zu machen, indem er sie mit Vorworten und Fußnoten überhäufte. Dies ist auf den ersten Blick amüsant, doch spätestens dann nicht mehr, wenn man weiß, was die SI Socialisme ou Barbarie schuldet. Semprum zeigt sich sogar herablassend gegenüber Chaulieus ‚marxistischer‘ Periode. Die Ultralinke war tatsächlich staubtrocken, doch nicht genug, um Debord davon abzuhalten, sich ihr anzuschließen. Ob einem dies gefällt oder nicht, das ist eine Verfälschung: man belustigt den Leser, während man ihn vergessen läßt, was der Bankrott der SI Chaulieu schuldet, bevor er selbst bankrott ging.

In diesen beiden Fällen, wie auch in anderen, werden Individuen durch ihre Haltung und nicht durch ihre theoretische Entwicklung beurteilt, aus der man Nutzen ziehen könnte. Semprun präsentiert sich uns mit einer Galerie moralischer Porträts. Er analysiert nicht, er urteilt. Er stellt eine Reihe von Arschlöchern an den Pranger, die von der SI geklaut haben. Indem er diese Haltungen kritisiert, ist er selbst nichts weiter als eine Pose.

Wie jede moralistische Praxis führt diese zu einigen Ungeheuerlichkeiten. Die bemerkenswerteste ist die Verschärfung der bereits in Bezug auf Die wirkliche Spaltung … erwähnten Organisationspraxis. Als Debords neuer Leibwächter rechnet Semprun mit früheren Mitgliedern der SI ab. Wenn man diese Werke liest, würde der Nichteingeweihte niemals denken, daß die SI jemals irgend etwas besonderes war. Mit seiner Selbstzerstörung beschäftigt, entfesselt Debord nun ein Sektierertum, das seine Angst vor der Welt enthüllt. Semprun kann daher nur alles beleidigen, was in seine Reichweite gerät und nicht Debord ist. Er ist eine einzige Abgrenzung. Er weiß auch nicht, wie er gutheißen oder verachten soll. Von radikaler Kritik bleibt bei ihm nicht einmal mehr der Versuch übrig.

Spektakel

Die SI legte stets Wert auf ihr Markenzeichen und betrieb ihre eigene Werbung. Eine ihrer großen Schwächen war es, ohne Schwächen, ohne Fehler erscheinen zu wollen, als ob sie in sich den Übermenschen entwickelt hätte. Als eine Kritik traditioneller Gruppen und des Militantismus spielte die SI damit, eine Internationale zu sein, und zog die Politik ins Lächerliche. Die Ablehnung des pseudo-ernsthaften Aktivisten, der nur den Geist des Klosters vollendet, dient heute dazu, ernsthaften Problemen auszuweichen. Voyer23 praktizierte den Spott, und wurde dadurch selbst lächerlich. Der Beweis, daß die SI am Ende ist, liegt darin, daß sie in dieser Form weitermacht. Als Kritikerin des Spektakels protzt die SI mit ihrem Bankrott, indem sie aus sich selbst ein Spektakel macht, und endet als das Gegenteil von dem, wofür sie entstanden war.

Aus diesem Grund wird die SI weiterhin von einer Öffentlichkeit geschätzt, die ein verzweifeltes Bedürfnis nach Radikalität hat, von der sie nur die Buchstaben und die Ticks bewahrt. Aus einer Kritik der Kunst entstanden, wird die SI am Ende (trotz und wegen ihr) als reine Literatur benutzt. Man findet Gefallen daran, die SI oder ihre Nachfolger zu lesen, oder die Klassiker, die sie zu schätzen wußte, so wie es anderen gefällt, die Doors zu hören. In der Zeit, als die SI wirklich auf der Suche und der Selbstsuche war, als die Praxis des Spotts einen wirklichen theoretischen und menschlichen Fortschritt in Worte faßte, als der Humor nicht nur als Maske diente, war der Stil der SI weniger leicht und flüssig als der ihrer aktuellen Schriften. Der inhaltsreiche Text widersteht seinem Autor wie seinen Lesern. Der Text, der nichts als Stil ist, gleitet sanft dahin.

Die SI trug zum revolutionären Gemeinwohl bei und ihre Schwäche wurde zum Futter für ein Publikum von Scheusalen, die weder Arbeiter noch Intellektuelle sind, und die nichts tun. Arm an Praxis, Leidenschaft und oft an Bedürfnissen haben sie nichts gemeinsam außer psychologischen Problemen. Wenn Leute zusammenkommen, ohne irgend etwas zu tun, haben sie nichts gemeinsam außer ihrer Subjektivität. Sie brauchen die SI; in ihrem Werk lesen sie die fertige theoretische Rechtfertigung für ihr Interesse an diesen Verhältnissen. Die SI vermittelt ihnen den Eindruck, daß die wesentliche Realität in den unmittelbaren Beziehungen zwischen den Subjekten liegt, und daß die revolutionäre Aktion darin besteht, auf dieser Ebene eine Radikalität zu entwickeln, insbesondere durch die Flucht aus der Lohnarbeit, was mit ihrem Leben als Deklassierte übereinstimmt. Das Geheimnis dieser Radikalität besteht darin, daß sie alles Bestehende ablehnt (einschließlich der revolutionären Bewegung), um ihr das gegenüberzustellen, was ihr weitest möglich entfernt erscheint (auch wenn dies nichts Revolutionäres an sich hat). Diese reine Opposition hat nichts Revolutionäres an sich außer den Worten. Der Life-Style hat seine Regeln, die ebenso streng sind wie die der ‚bürgerlichen‘ Welt. Sehr oft werden bürgerliche Werte umgedreht in Propaganda für die Nicht-Arbeit, für ein Leben am Rande der Gesellschaft, für alles, was als Übertretung erscheint. Die Linke propagiert das Proletariat als etwas Positives in dieser Gesellschaft: die Pro-Situs verherrlichen sich selbst (als Proletarier) als reine Negation. Für diejenigen, die noch etwas theoretische Substanz besitzen, lautet die Losung immer ‚Kritik der SI‘, eine Kritik, die für sie unmöglich ist, denn es wäre auch eine Kritik ihres Milieus.

Die Stärke der SI lag nicht in ihrer Theorie, sondern in einer theoretischen und praktischen Erfordernis, welche ihre Theorie nur teilweise abdeckte, die sie aber mit half zu lokalisieren. Die SI war die Bejahung der Revolution. Ihr Aufstieg fiel mit einer Zeit zusammen, in der es möglich war zu denken, daß eine Revolution bald stattfinden würde. Sie war nicht dazu ausgerüstet, nach dieser Zeit zu überleben. Sie war erfolgreich als Selbstkritik einer gesellschaftlichen Schicht, die unfähig war, die Revolution alleine zu machen, und die die eigenen Ansprüche dieser Schicht anprangerte (wie sie zum Beispiel durch die Linke vertreten werden, die will, daß die Arbeiter von ‚bewußten‘ Aussteigern aus der Mittelschicht angeführt werden).

Radikale Subjektivität

Die SI hatte im Verhältnis zum klassischen revolutionären Marxismus (für den Chaulieu ein gutes Beispiel war) die gleiche Funktion und die gleichen Grenzen wie Feuerbach im Verhältnis zum Hegelianismus. Um der bedrückenden Dialektik von Entfremdung/Vergegenständlichung zu entgehen, schuf Feuerbach eine anthropologische Vorstellung, die den Menschen, und insbesondere die Liebe und die Sinne, in den Mittelpunkt der Welt stellte. Um dem Ökonomismus und Fabrikismus der Ultra-Linken zu entgehen, entwickelte die SI eine Vorstellung, deren Mittelpunkt die menschlichen Beziehungen waren und die mit der ‚Wirklichkeit‘ vereinbar ist, materialistisch ist, wenn diese Beziehungen ihr volles Gewicht bekommen, so daß sie die Produktion, die Arbeit einschließen. Die Feuerbach’sche Anthropologie bahnte den Weg für den theoretischen Kommunismus, wie ihn z.B. Marx durch die 1844er Manuskripte als Synthese zu erstellen vermochte. Genauso wurde die Theorie der ‚Situationen‘ in eine Vorstellung von Kommunismus integriert, zu dem die SI unfähig war, wie es z.B. in Un monde sans argent24 gezeigt wird.

Aus demselben Grund las Debord Marx im Lichte von Cardan und war der Meinung, der ‚reife‘ Marx sei in die politische Ökonomie abgetaucht, was nicht stimmt. Debords Auffassung vom Kommunismus ist zu eng im Verhältnis zum gesamten Problem. Die SI sah nicht das menschliche Wesen und seine Versöhnung mit der Natur. Sie war auf eine sehr westliche, industrielle und städtische Welt beschränkt. Sie gewichtete die Automation falsch. Sie sprach davon, die ‚Natur zu beherrschen‘, was ebenfalls etwas über den Einfluß von Socialisme ou Barbarie aussagt. Wenn sie sich bezüglich der Organisation des Raums mit den materiellen Bedingungen beschäftigte, so war dies immer eine Frage von ‚Beziehungen zwischen Menschen‘. Socialisme ou Barbarie war durch den Betrieb beschränkt, die SI durch die Subjektivität. Sie ging so weit sie konnte, doch auf ihrem einmal eingeschlagenen Weg. Theoretischer Kommunismus ist mehr als revolutionäre Anthropologie. Die 1844er Manuskripte greifen Feuerbachs Vorstellung auf, indem sie den Menschen wieder in die Totalität seiner Beziehungen zurückstellen.

Die SI schuldete den Texten des jungen Marx sehr viel, doch sie versäumte es, eine ihrer wichtigen Dimensionen zu sehen. Während andere Kommunisten die politische Ökonomie als Rechtfertigung des Kapitalismus ablehnten, überwand sie Marx. Das Verständnis des Proletariats setzte eine Kritik der politischen Ökonomie voraus. Die SI hatte viel mehr gemeinsam mit Moses Heß und Wilhelm Weitling, mit Feuerbach und Stirner, Äußerungen eines bestimmten Moments in der Entstehung des Proletariats. Der Zeitraum, der sie hervorbrachte (1830-1848) ähnelte sehr dem, in dem wir heute leben. Indem die SI eine radikale Subjektivität gegen eine Welt von Warenobjekten und verdinglichter Verhältnisse aufstellte, formulierte sie eine Forderung, die zwar grundlegend war, die aber überwunden werden mußte. August Becker, ein Freund von Weitling, schrieb 1844:

Wir wollen leben, genießen, alles verstehen … der Kommunismus beschäftigt sich nur mit der Materie, um sie zu beherrschen und sie dem Geist und dem Verstand unterzuordnen.

Ein großer Teil der heutigen Diskussionen reproduziert diese Vor-1848er-Debatten. Wie heute Invariance, machte Feuerbach aus der Menschheit ein Wesen, das es erlaubt, die Isolation zu durchbrechen:

Isolation bedeutet ein enges und zwanghaftes Leben, während die Gemeinschaft ein unbegrenztes und freies bedeutet.

Obwohl Feuerbach das Verhältnis zwischen Mensch und Natur in Begriffe faßte (und Hegel vorwarf, es vernachlässigt zu haben), machte er die menschliche Gattung zu einem Wesen, das über dem gesellschaftlichen Leben steht. Die Einheit von Ich und Du ist Gott. Die 1844er Manuskripte gaben den Gefühlen ihren Platz in der menschlichen Aktivität. Dagegen machte Feuerbach die Sinnlichkeit (sic) zum Hauptproblem:

Die neue Philosophie stützt sich auf die Wahrheit der Liebe, die Wahrheit der Empfindung. In der Liebe, in der Empfindung überhaupt gesteht jeder Mensch die Wahrheit der neuen Philosophie ein.

Die theoretische Renaissance um 1968 erneuerte das alte Konzept in den gleichen Grenzen. Stirner stellte den ‚Willen‘ des Individuums dem Moralismus von Heß und Weitlings Verurteilung des ‚Egoismus‘ gegenüber, so wie die SI der militanten Selbstaufopferung die revolutionäre Freude gegenüberstellte. Die Betonung der Subjektivität bestätigt, daß es den Proletariern noch nicht gelungen ist, eine revolutionäre Praxis zu objektivieren. Wenn die Revolution auf der Ebene der Begierde stehenbleibt, dann versucht sie, die Begierde zum Angelpunkt der Revolution zu machen.


1Der Text wurde 1979 unter dem Autorennamen Jean Barrot in der Zeitschrift Red Eye in Berkeley veröffentlicht. Der Autor publiziert seit mehreren Jahren unter seinem richtigen Namen Gilles Dauvé. Die deutsche Übersetzung wurde auf Grundlage der amerikanischen Version angefertigt. Das französische Original wurde nicht im größeren Rahmen veröffentlicht und ist verschollen; der Autor besitzt selbst kein Exemplar mehr davon (A.d.Ü.).

2Invariance: eine Zeitung, die von einer Gruppe veröffentlicht wurde, die sich von der Internationalen Kommunistischen Partei abgespalten hat und das dogmatischste und voluntaristischste Nebenprodukt der italienischen bordigistischen Linken ist. Nach einigen Jahren obskurer, wenn auch gelegentlich brillanter theoretischer Verwicklungen kam der Herausgeber Jacques Camatte zur Position, daß sich das Kapital ‚dem Wertgesetz entzogen‘ habe und daß deshalb das Proletariat verschwunden sei (A.d.am.Ü).

3Der Begriff ‚Zeichen‘ wird in strukturalistischen Schriften benutzt und bedeutet ein Signifikat (Repräsentation), das von dem getrennt wurde, was es ursprünglich bedeutete (ein Phänomen auf der Welt). Ein ‚Zeichen‘ bedeutet folglich eine Repräsentation, die sich nur auf sich selbst bezieht, d.h. tautologisch ist. Ein Beispiel für ein ‚Zeichen‘ wäre der Kredit, der in immer größeren Quantitäten ausgedehnt wird, so daß Großbanken Nationen in den Bankrott treiben können; ein Kredit, der nicht zurückgezahlt werden kann: er ist eine Repräsentation von Waren, die niemals produziert werden (A.d.am.Ü).

4Joseph Dejacque: französischer kommunistischer Handwerker, der in den 1848er Aufständen aktiv war. Eine Sammlung seiner Schriften ist unter dem Titel A Bas les chefs (Champ Libre, Paris) 1974 erhältlich.

5Basisbanalitäten in: Der Beginn einer Epoche, S.122 ff, (A.d.Ü.)

6In einer Reihe von Artikeln in Socialisme ou Barbarie wurde gezeigt, wie die kapitalistische Industrie die aktive und kreative Kooperation der Arbeiter benötigt, um zu funktionieren. Das aufschlußreichste Beispiel dafür ist die Taktik der britischen Arbeiter, ‚Dienst nach Vorschrift‘ zu praktizieren; alle Arbeiten werden genau gemäß Tarifvertrag und Betriebsvorschriften ausgeführt. Dies hat gewöhnlich eine Verringerung der Produktion von bis zu 50 Prozent zur Folge (A.d.am.Ü.).

7In: Der Beginn einer Epoche, S. 251 ff (A.d.Ü.). Oder hier.

8Cardan und Chaulieu sind beides Pseudonyme von Cornelius Castoriadis, einem der Begründer der Zeitschrift Socialisme ou Barbarie (A.d.Ü).

9Die Wirkliche Spaltung in der Internationale, Öffentliches Zirkular der Situationistischen Internationale, Düsseldorf, 1973 (A.d.Ü.).

10Henri Lefebvre: einst der raffinierteste philosophische Apologet der französischen KP. Lefebvre brach mit der Partei und begann Ende der Fünfziger, Anfang der Sechziger Jahre, eine ‚kritische Theorie des Alltagslebens‘ zu entwerfen. Sein Werk war für die SI wichtig, obwohl er niemals einen akademischen und scholastischen Standpunkt überschritt. Die SI verurteilte ihn, nachdem er einen Text über die Pariser Kommune veröffentlicht hatte, der zu weiten Teilen aus frühen Thesen der SI über dasselbe Thema plagiiert war (A.d.am.Ü.).

11Niedergang und Fall der spektakulären Warenökonomie, in: Der Beginn einer Epoche, S. 174 ff (A.d.Ü.).

12Internationale Kommunistische Partei, siehe Anm. 2.

13Ratgeb: Pseudonym, das Vaneigem für sein Buch Vom wilden Streik zur generalisierten Selbstverwaltung benutzte.

14Dieser ‚Autonomie‘-Fetischismus entwickelte sich bei den ‚Pro-Situ‘-Gruppen zu einem niederträchtigen kleinen Spiel. Sie erbaten von Leuten einen ‚Dialog‘, die sich in einem ihrer Texte ‚erkannten‘. Wenn naive Sympathisanten antworteten, wurden sie dazu angespornt, sich in einer ‚autonomen Praxis‘ zu engagieren, um zu beweisen, daß sie keine ‚reinen Zuschauer‘ sind. Die Ergebensten unter ihnen nahmen dies in Angriff. Das Ergebnis wurde von den ‚Pro-Situ‘-Gruppen ausnahmslos und auf wüste Art als ‚inkohärent‘, ‚verworren‘ usw. verurteilt und die Beziehungen wurden abgebrochen (A.d.am.Ü.).

15Wie z.B. die subversive Wirkung der massenhaften Weigerung zu zahlen und der kostenlosen Verteilung von Waren und Dienstleistungen in der italienischen Bewegung der ‚auto-riduzione‘. Natürlich wäre dies in einer revolutionären Situation viel weitgehender und würde die unmittelbare Sozialisierung der wichtigsten Produktionsmittel nach sich ziehen, sowohl um das Überleben der proletarischen Bewegung zu sichern, also auch um die Nachschubbasis der restlichen kapitalistischen Kräfte zu zerstören (A.d.am.Ü.).

161975 veröffentlicht und von der Editions de l’Oubli, Paris, vertrieben.

17Eine linke intellektuelle Wochenzeitung Frankreichs.

18Wahrhafter Bericht über die letzten Chancen, den Kapitalismus in Italien zu retten, Hamburg 1977 (A.d.Ü.).

19Das ist die Bewegung der Besetzung von Fabriken und Universitäten im Mai 68 in Frankreich (A.d.Ü.).

20Jaime Semprun, Der soziale Krieg in Portugal, Hamburg 1975 (A.d.Ü.).

21Guegan war der Geschäftsführer und Gründer der Editions Champ Libre, bis er 1975 entlassen wurde. Er ist heute eine Modefigur in der Literatur und in Avantgarde-Kreisen.

22Siehe Anm. 7.

23Jean-Pierre Voyer, Autor von »Reich, Gebrauchsanleitung« und anderen Texten, die von Champ Libre veröffentlicht wurden. (deutsche Fassung: Düsseldorf 1974).

24Le comunisme: un monde sans argent (3 Bände), Organisation des Jeunes Travailleurs Révolutionnaires, Paris 1975.

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Wie wir angekündigt hatten, hier der Text von Jaime Semprun der in der Kritik an ihn bei – Vom Situationismus zum Abgrund – erwähnt wird. Viel Spaß.


SITUATIONISTISCHE INTERNATIONALE – Die wirkliche Spaltung der Internationalen

»Eine Partei beweist sich erst dadurch als die siegende, daß sie in zwei Parteien zerfällt; denn darin zeigt sie das Prinzip, das sie bekämpfte, an ihr selbst zu besitzen und hiermit die Einseitigkeit aufgehoben zu haben, in der sie vorher auftrat. Das Interesse, das sich zwischen ihr und der anderen teilte, fällt nun ganz in sie und vergißt der anderen, weil es in ihr selbst den Gegensatz fi ndet, der es beschäftigt. Zugleich aber ist er in das höhere siegende Element erhoben worden, worin er geläutert sich darstellt. So daß also die in einer Partei entstehende Zwietracht, welche ein Unglück scheint, vielmehr ihr Glück beweist. « Hegel, Phänomenologie des Geistes.

Thesen über die Situationistische Internationale und ihre Zeit

1

Die Situationistische Internationale hat sich in einem Moment der Weltgeschichte als das Denken des Zusammenbruchs einer Welt durchgesetzt; ein Zusammenbruch, der jetzt unter unseren Augen begonnen hat.

2

Der Innenminister Frankreichs und die Anarchistische Födertion Italiens sind darüber gleichermaßen aufgebracht: nie hat ein So extremistisches Projekt, das sich in einer Epoche ankündigte, die ihm so feindlich zu sein schien, in so kurzer Zeit seine Hegemonie im Kampf der Ideen demonstriert, als Produkt der Geschichte der Klassenkämpfe. Die Theorie, den Stil, das Beispiel der S.I. haben heute Tausende von Revolutionären in allen bedeutenden entwickelten Ländern angenommen, aber viel wesentlicher noch: die gesamte moderne Gesellschaft ist es, die sich von der Wahrheit der situationistischen Perspektiven überzeugt zu haben scheint, sei es, um sie zu verwirklichen oder sei es, um sie zu bekämpfen. Bücher und Texte der S.I. werden überall übersetzt und kommentiert. Ihre Forderungen werden in den Fabriken von Mailand wie in der Universität von Coimbra angeschlagen.

Ihre Grundthesen sickern, von Kalifornien bis Kalabrien, von Schottland bis Spanien, von Belfast bis Leningrad, im Untergrund ein oder werden in offenen Kämpfen proklamiert. Die unterwürfigen Intellektuellen, die heute am Anfang ihrer Karriere stehen, sehen sich ihrerseits gezwungen, sich als gemäßigte oder halhe Situationisten zu verkleiden, nur um zu zeigen, daß sie befähigt sind, den letzten Moment des Systems zu begreifen, das sie beschäftigt. Wenn überall der diffuse Einfluß der S.I. aufgezeigt werden kann, dann deshalb, weil die S.I selbst nichts anderes ist als der konzentrierte Ausdruck einer geschichtlichen Subversion, die überall ist.

3

Was die „situationistischen ldeen“ genannt wird, ist nichts anderes als die ersten Ideen der Periode, in der die moderne revolutionäre Bewegung wieder in Erscheinung tritt. Was an ihnen radikal neu ist, entspricht genau dem neuen Charakter der Klassengesellschaft, der wirklichen Entwicklung ihrer vorübergehenden Erfolge, ihrer Widersprüche, ihrer Unterdrückung. Was den ganzen Rest betrifft, so ist es offensichtlich das in den letzten zwei Jahrhunderten entstandene revolutionäre Denken, das in die gegenwärtigen Verhältnisse zurückgekehrt ist wie zu sich nach Hause; nicht auf der Grundlage seiner eigenen früheren, den Ideologen als Problem vermachten Positionen „revidiert“, sondern von der heutigen Geschichte verwandelt. Die S.I. war lediglich darin erfolgreich, daß sie „die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt“ ausgedrückt hat, und daß sie sie auszudrücken verstanden hat: das heißt, daß sie es verstanden hat, damit zu beginnen, bei dem subjektiv negativen Teil des Prozesses, seiner „Schattenseite“, seiner eigenen unbekannten1 Theorie Gehör zu verschaffen, der Theorie, die diese Seite der sozialen Praxis hervorbringt, und die sie zunächst nicht kennt. Die S.I. gehörte selbst zu dieser „Schattenseite“. Letztlich handelt es sich daher nicht um eine Theorie der S.I, sondern um die Theorie des Proletariats.

4

Jeder Moment dieses geschichtlichen Prozesses der modernen Gesellschaft, der die Welt der Ware vollendet und abschafft, und der auch den antigeschichtlichen Moment der als Spektakel konstituierten Gesellschaft enthält, hat die S.I. dazu gebracht, alles zu sein, was sie sein konnte. In dem, was die soziale Praxis wird, in dem Moment, der sich jetzt als eine neue Epoche manifestiert, muß die S.I. immer mehr ihre Wahrheit erkennen; muß sie wissen, was sie gewollt hat und was sie getan hat, und wie sie es getan hat.

5

Die S.I. hat nicht nur die moderne proletarische Subversion kommen sehen; sie ist mit ihr gekommen. Sie hat sie nicht als ein äußeres Phänomen angekündigt, durch die starre Extrapolation der wissenschaftlichen Berechnung: sie ist ihr entgegengegangen. Wir haben durch keine fremde Beeinflussung „in alle Köpfe“ unsere Ideen gesetzt, wie es allein, aber ohne dauerhaften Erfolg, das bürgerliche oder bürokratisch-totalitäre Spektakel fertigbringt.

Wir haben die Ideen ausgesprochen, die gezwungenermaßen bereits in diesen proletarischen Köpfen vorhanden waren, und dadurch, daß wir sie ausgesprochen haben, haben wir dazu beigetragen, solche Ideen zu aktivieren und so die aktive Kritik mehr zu Theoretikern zu machen und entschlossener, die Zeit zu ihrer Zeit zu machen. Das, was zunächst in dem Geist der Leute zensiert wird, wird natürlich auch von dem Spektakel zensiert, sobald das gesellschaftlich zum Ausdruck kommen konnte. Diese Zensur findet sicher auch heute noch nahezu über die Totalität des revolutionären Projekts und des revolutionären Wunsches in den Massen statt. Doch schon haben die aktive Kritik und Theorie eine unvergeßliche Bresche in die spektakuläre Zensur geschlagen. Das Verdrängte der proletarischen Kritik ist an den Tag gekommen; es hat ein Gedächtnis und eine Sprache erworben. Es hat damit begonnen, die Welt zu richten, und da die herrschenden Bedingungen über nichts verfügen, was für seine Sache plädieren könnte, stellt das Urteil nur das Problem, das es lösen kann: das seines Vollzugs.

6

Wie es sich allgemein in den vorrevolutionären Momenten ereignet hat, hat die S.I. offen ihre Ziele erklärt, und fast alle wollten glauben, daß es sich um einen Scherz handelte. Das in dieser Beziehung von den Spezialisten auf Beobachtungsposten der Gesellschaft und den Ideologen der Arbeiterentfremdung zehn Jahre lang bewahrte Schweigen – eine sehr kleine Zeitspanne, an der Größe solcher Ereignisse gemessen-‚ das allerdings zum Ende hin durch den Widerhall einiger Skandale gestört wurde, die zu Unrecht als peripher und folgenlos betrachtet wurden, hat das falsche Bewußtsein der unterwürfigen Intelligentsia nicht darauf vorbereitet, das, was in Frankreich im Mai 1968 hervorbrach, und was sich seitdem nur noch vertieft und verbreitet hat, vorauszusehen oder zu begreifen. Damals hat die Demonstration der Geschichte, und gewiß nicht die situationistische Redekunst, in diesem Punkt und in vielen anderen die Bedingungen der Unwissenheit und der künstlichen Sicherheit umgestoßen, die von der spektakulären Organisation des Scheins aufrechterhalten wurden.

Man kann auf keine andere Weise dialektisch beweisen, daß man Recht hat, als daß man sich in dem Moment der dialektische Vernunft manifestiert. Die Bewegung der Besetzungen ist, so wie sie sogleich ihre Anhänger in den Betrieben aller Länder rekrutiert hat, den Herrn der Gesellschaft und ihren ausführenden Intellektuellen im Augenblick als ebenso unbegreiflich wie erschreckend erschienen. Die Eigentümer zittern immer noch vor ihr, aber begreifen sie schon besser. Dem obskuren Bewußtsein der Spezialisten der Macht hat sich diese revolutionäre Krise auf Anhieb allein in der Gestalt der rein Negation ohne Denken präsentiert. Das Projekt, das sie zum Ausdruck brachte, die Sprache, die sie führte, waren unübersetzbar für sie, die Geschäftsführer des Denkens ohne Negation, das durch mehrere Jahrzehnte mechanischen Monologs bis zum äußersten verarmt ist; wo sich die Unzulänglichkeit von sich selbst imponieren läßt als das „non plus ultra“ wo die Lüge schließlich nur noch an sich selbst glaubt. Dem, der durch das und in dem Spektakel herrscht, das heißt mit der praktischen Macht der Produktionsweise, die „sich von sich selbst abgehoben und sich ein selbständiges Reich im Spektakel fixiert hat“, präsentiert sich die wirkliche Bewegung, die außerhalb des Spektakels geblieben ist, und die es zum erster Mal unterbricht, als die realisierte Irrealität selbst. Aber was in diesem Moment so laut in Frankreich gesprochen hat, war nichts anderes als die gleiche revolutionäre Bewegung, die sich überall anders im Stillen zu manifestieren begonnen hatte. Der französische Zweig der Heiligen Allianz der Besitzer der Gesellschaft hat in diesem Alptraum zunächst sein drohendes Ende gesehen; danach hat er sich endgültig gerettet geglaubt; dann hat er diese beiden Irrtümer eingesehen2. Für sie wie für ihre Teilhaber hat eine andere Zeit begonnen. Man entdeckt jetzt, daß die Bewegung der Besetzungen unglücklicherweise einige Ideen hatte, und daß es situationistische Ideen waren: gerade die, die sie nicht kennen, scheinen ihre Positionen auf ihrer Grundlage zu bestimmen. Die Ausbeuter rechnen noch damit, sie zurückhalten zu können, aber sie geben bereits die Hoffnung auf, sie vergessen zu können. Die Bewegung der Besetzungen war der Entwurf einer „situationistischen“ Revolution, aber sie war nur ihr Entwurf, sowohl als Praxis einer Revolution als auch als situationistisches Geschichtsbewußtsein. In diesem Moment hat eine Generation international begonnen, situationistisch zu sein.

7

Die neue Epoche ist zutiefst revolutionär, und sie weiß, daß sie das ist. Auf allen Ebenen der Gesellschaft der ganzen Welt kann und will man nicht mehr so weitermachen wie bisher. Oben kann man nicht mehr friedlich den Lauf der Dinge lenken, weil man dabei entdeckt, daß die ersten Früchte der Aufhebung der Ökonomie nicht nur reif sind: sie haben zu faulen begonnen. An der Basis will man nicht mehr hinnehmen, was geschieht, und die Forderung des Lebens ist gegenwärtig ein revolutionäres Programm geworden. Die Entschlossenheit, seine Geschichte selbst zu machen, das ist das Geheimnis aller „wilden“ und „unverständlichen“ Negationen, die die alte Ordnung verhöhnen.

8

Die Welt der Ware, die wesentlich unbewohnbar war, ist es sichtbar geworden. Diese Erkenntnis wurde durch zwei aufeinander einwirkende Bewegungen erzeugt. Einerseits will das Proletariat sein ganzes Leben besitzen, und es als Leben besitzen, als Totalität seiner möglichen Verwirklichung. Andererseits berechnet die herrschende Wissenschaft, die Wissenschaft der Herrschaft, künftig exakt das ständig beschleunigte Wachstum der inneren Widersprüche, die die allgemeinen Überlebensbedingungen in der Gesellschaft des Besitzentzuges aufheben.

9

Die Symptome der revolutionären Krise häufen sich zu Tausenden und sie sind so schwerwiegend, daß das Spektakel jetzt gezwungen ist, von seinem eigenen Ruin zu sprechen. Seine falsche Sprache zeigt seine wirklichen Feinde und sein wirkliches Desaster3.

10

Die Sprache der Macht ist jetzt mit aller Gewalt reformistisch. Sie zeigte bisher nur das Glück, das überall zur Schau gestellt und überall preisgünstig zu haben ist; sie erklärt jetzt die allgegenwärtigen Mängel ihres Systems. Die Besitzer der Gesellschaft haben plötzlich entdeckt, daß alles an ihr unverzüglich zu ändern ist, die Ausbildung wie der Städtebau, die Art, die Arbeit zu erleben genauso wie die Zielsetzungen der Technologie. Kurz, diese Welt hat das Vertrauen all ihrer Regierungen verloren; sie nehmen sich deshalb vor, sie aufzulösen und eine andere zu bilden. Sie machen lediglich darauf aufmerksam, daß sie eher als die Revolutionäre qualifiziert sind, eine solche Umwälzung zu unternehmen, die so große Erfahrung und so große Mittel verlangt; die eben sie besitzen und die sie gewohnt sind. Da haben wir also die Computer, die sich mit der Hand auf dem Herzen für die Programmierung des Qualitativen engagieren, und die Manager der Umweltverschmutzung, die sich als erste Aufgabe der Säuberung in ihren eigenen Reihen stellen. Aber schon vorher, gegenüber den früheren Fehlschlägen der Revolution, hat sich der moderne Kapitalismus als ein Reformismus präsentiert, der Erfolg gehabt hat. Er rühmte sich, die Freiheit und das Glück der Ware hergestellt zu haben. Eines Tages müßte es ihm gelingen, seine Lohnsklaven, wenn auch nicht von der Lohnarbeit, so doch von den von seiner Bildungsperiode hinterlassenen reichlichen Überresten von Entbehrungen und übermäßigen Ungleichheiten zu erlösen – oder genauer noch von den Entbehrungen, die er selbst als solche anerkennen zu müssen glaubte. Heute verspricht er, sie dazu noch von all den neuen Gefahren und Unannehmlichkeiten zu erlösen, die er gerade dabei ist, als wesentliches Merkmal der modernsten in ihrer Gesamtheit genommenen Ware massiv zu produzieren; und dieselbe, bisher so häufig als das von allem letzte Korrektiv gepriesene expandierende Produktion soll sich selbst korrigieren, stets unter der ausschließlichen Kontrolle derselben Bosse. Die Pleite der alten Welt erscheint voll in dieser lächerlichen Sprache der aufgelösten Herrschaft4.

11

Die Sitten verbessern sich. Die Bedeutung der Worte nimmt daran teil. Überall ist der Respekt vor der Entfremdung verlorengegangen. Die Jugend, die Arbeiter, die Farbigen, die Homosexuellen, die Frauen und die Kinder kommen darauf, alles zu wollen, was ihnen verboten war; gleichzeitig mit der Ablehnung des Hauptteils der erbärmlichen Resultate, die ihnen die alte Organisation der Klassengesellschaft zu erreichen und zu ertragen gestattete. Sie wollen keine Chefs mehr, keine Familie, keinen Staat. Sie kritisieren die Architektur und lernen, miteinander zu sprechen. Indem sie sich gegen hundert einzelne Unterdrückungen wenden, rebellieren sie tatsächlich gegen die entfremdete Arbeit. Was jetzt auf die Tagesordnung kommt, das ist die Abschaffung der Lohnarbeit. Jeder Ort eines sozialen Raums, der immer direkter von der entfremdeten Produktion und ihren Planern gestaltet wird, wird daher ein neuer Kampfplatz, von der Grundschule über die Beförderung durch öffentliche Verkehrsmittel bis hin zu den psychiatrischen Anstalten und Gefängnissen. Alle Kirchen lösen sich auf. Auf die alte Tragödie der Enteignung der Arbeiterrevolutionen durch die bürokratische Klasse, die sich in den vergangenen zwanzig Jahren noch einmal als bloße exotische Komödie abgespielt hat, fällt der Vorhang inmitten allgemeinen Gelächters. Die Hanswürste geben ihre Abschiedsvorstellungen auf ihre Weise. Castro ist Reformist in Chile geworden, während er bei sich die Parodie der Moskauer Prozesse inszenierte, nachdem er 1968 die Bewegung der Besetzungen und die mexikanische Revolte verurteilt, aber nachdrücklich die Aktion der russischen Panzer in Prag gebilligt hatte; die burleske doppelköpfige Gang Mao und Lin Piao fällt gerade in dem Moment, wo ihre letzten treuen westlichen bourgeoisen oder Linksradikalen Zuschauer endlich die Vollendung ihres Triumphs in dem langen Kampf meldeten, der die Ausbeuter Chinas teilt5, wieder in die terroristische Unordnung dieser in Stücke gebrochenen Bürokratie zurück (es ging keineswegs darum, ob mit den Vereinigten Staaten verhandelt werden sollte oder nicht, sondern allein um die Frage, wer in Peking Nixon und seinen Beistand in Empfang nehmen sollte). Wenn sich so die Menschheit freudig von ihrer Vergangenheit trennen kann, dann deshalb, weil der Ernst wieder in die Welt gekommen ist mit der Geschichte selbst, die sie wieder in ihrer Wahrheit vereinigt.

Zweifellos besitzt die Krise der totalitären Bürokratie, als Teil der allgemeinen Krise des Kapitalismus, Merkmale, die ihr eigentümlich sind, infolge der besonderen sozial-rechtlichen Aneignungsweisen der Gesellschaft durch die als Klasse konstituierte Bürokratie, wie aufgrund ihres offensichtlichen Rückstandes in der Entwicklung der Warenproduktion. Die Bürokratie erhält ihren Platz in der Krise der modernen Gesellschaft hauptsächlich aufgrund der Tatsache, daß sie ebenfalls vom Proletariat zerschlagen werden wird. Die Drohung der proletarischen Revolution, die in Italien seit drei Jahren die gesamte Politik der Bourgeoisie und des Stalinismus beherrscht und zu einer offenen Verbindung ihrer gemeinsamen Interessen führt, hängt in demselben Moment auch über der als sowjetisch bezeichneten Bürokratie; die Stunde der Erhebung der Arbeiter Rußlands hinauszuzögern, ist die einzige wirkliche Sorge ihrer weltweiten Strategie – die von dem tschechoslowakischen Prozeß alles und von der Selbständigkeit der rumänischen Bürokratie nichts befürchtete wie die ihrer Polizisten und Psychiater. Entlang den baltischen Küsten haben die Matrosen und die Hafenarbeiter bereits begonnen, sich ihre Erfahrungen und ihr Projekt mitzuteilen. In Polen ist es den Arbeitern durch den aufständischen Streik vom Dezember 1970 gelungen, die Bürokratie ins Wanken zu bringen und den Handlungsspielraum der Ökonomen noch weiter einzuschränken: die Preiserhöhungen wurden rückgängig gemacht, die Löhne wurden erhöht, die Regierung ist gefallen, die Agitation ist geblieben6. Aber ebenso gut löst sich die amerikanische Gesellschaft auf, bis hin zu ihrer Armee in Vietnam, die zur „Drogenarmee“ geworden ist und die abgezogen werden muß, weil ihre Soldaten nicht mehr kämpfen wollen; sie werden dafür in den Staaten kämpfen. Die wilden Streiks gehen durch Europa, von Schweden bis Spanien, und jetzt sind es die Industriebosse und ihre Zeitungen, die den Arbeitern eine Lektion erteilen, um zu versuchen, sie von der Nützlichkeit der Gewerkschaften zu überzeugen. In diesem „bacchantischen Taumel des Wahren, in dem kein Glied nicht trunken ist“, ist die britische proletarische Revolution diesmal mit dabei; sie kann an der Quelle des Bürgerkriegs trinken, der von jetzt an die Rückkehr der irischen Frage kennzeichnet.

12

Die Ausbeuter und viele ihrer Opfer, die endgültig auf ihr eigenes Leben verzichtet haben, indem sie der herrschenden Ordnung ein neurotisches Einverständnis erteilten, empfinden den Niedergang und den Fall dieser Ordnung mit Angst und Wut. Bei diesen Emotionen stehen im Vordergrund eine Furcht vor der und ein Haß auf die Jugend, die in diesem Ausmaß beispiellos sind. Aber im Grunde haben sie nur Angst vor der Revolution. Nicht die Jugend als vorübergehender Zustand ist es, die die gesellschaftliche Ordnung bedroht; es ist die, tätige und theoretische, moderne revolutionäre Kritik, die sich Jahr für Jahr erweitert, von einem geschichtlichen Ausgangspunkt aus, den wir eben erlebt haben. Sie beginnt in der Jugend eines Moments, aber sie altert nicht. Dieses Phänomen ist in keiner Weise zyklisch, es ist kumulativ. Noch vor kurzem hat die Jugend niemanden in Schrecken versetzt, als sich ihre Agitation auf das Studentenmilieu zu beschränken schien; und daraus rekrutiert sich in der Tat der neobürokratische Linksradikalismus, der lediglich die „nursery“ der alten Welt ist, wo man sich unter dem Waffenrock einiger Heldenväter versteckt, die tatsächlich zu den Begründern der bestehenden Gesellschaft zählen. Die Jugend ist furchterregend geworden, als man feststellte, daß die Subversion auf die Masse junger Arbeiter übergegriffen hatte; und daß sie sich von der hierarchischen Ideologie des Linksradikalismus nicht integrieren lassen würde. Diese Jugend ist es, die ins Gefängnis kommt; und die in den Gefängnissen rebelliert.

Es ist eine Tatsache, daß die Jugend, obwohl ihr noch viel zu begreifen und zu erfinden bleibt, und sie, vor allem unter den verschiedenen Arten von Lehrlingen einer Berufsrevolution, noch an zahlreichen Rückständigkeiten festhält, nie so intelligent, nie so entschlossen war, die etablierte Gesellschaft zu zerstören (die Poesie, die in der S.I. vorhanden ist, kann jetzt von einem jungen Mädchen von 14 Jahren herausgelesen werden, in diesem Punkt ist der Wunsch Lautreamonts voll erfüllt). Diejenigen, die die Jugend unterdrücken, wollen sich in Wirklichkeit gegen die proletarische Subversion verteidigen, mit der sie sich weitgehend identifiziert, und mit der sie sie noch weitgehender identifizieren, und gerade die, die diese Verbindung herstellen, fühlen, wie sehr sie sie verurteilt. Die Panik vor der Jugend, die man sich unter so vielen ungereimten Analysen und pompösen Beschwörungen zu verbergen bemüht, gründet sich auf dieses einfache Kalkül: in nur 12 bis 15 Jahren werden die jungen erwachsen, die Erwachsenen alt, die Alten tot sein. Die Verantwortlichen der Klasse an der Macht stehen daher vor der absoluten Notwendigkeit, in wenigen Jahren den tendenziellen Fall des Prozentsatzes ihrer Kontrolle über die Gesellschaft umzukehren, und sie haben allen Grund zu der Annahme, daß ihnen diese Umkehrung nicht gelingen wird.

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Während die Welt der Ware von den Proletariern in einem Grad von Gründlichkei angefochten wurde, den ihre Kritik niemals erreicht hatte, und der allein ihren Zwecken – einer Kritik der Totalität – gerecht wurde, hat das Funktionieren des ökonomischen Systems selbst, aus seiner eigenen Bewegung heraus, den Weg zur Selbstzerstörung eingeschlagen. Die Krise der Ökonomie, das heißt des gesamten ökonomischen Phänomens, eine Krise, die in den letzten Jahrzehnten immer handfester geworden ist, hat eine qualitative Schwelle überschritten Selbst die frühere Form der bloßen ökonomischen Krise, die es dem System in derselben Periode zu überwinden gelang – bekannt ist, wie -‚ erscheint von neuem als eine Möglichkeit der nahen Zukunft. Das ist die Auswirkung eines doppelten Prozesses. Einerseits setzen die Proletarier nicht nur in Polen, sondern auch in England7 oder in Italien, in der Gestalt von Arbeitern, die sich der Gewerkschaftskontrolle entziehen, Forderungen nach höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen durch, die an sich schon die Prognosen und Entscheidungen der Staatsökonomen, die für den störungsfreien Lauf des konzentrierten Kapitalismus sorgen, schwer beeinträchtigen. Die Ablehnung der heutigen Organisation der Arbeit in den Betrieben ist bereits eine direkte Ablehnung der Gesellschaft, die sich auf diese Organisation gründet, und mit dieser Bedeutung sind einige italienische Streiks gerade einen Tag, nach dem die Unternehmer sämtliche Forderungen akzeptiert hatten, ausgebrochen.

Doch die bloße Lohnforderung zeigt, wenn sie mit ziemlicher Häufigkeit erneut vorgebracht wird, und jedesmal, wenn sie für die Erhöhung einen ausreichenden Prozentsatz festsetzt, klar, daß sich die Arbeiter des Elends und der Entfremdung bewußt werden, die sich auf die Gesamtheit ihrer sozialen Existenz erstrecken, und die kein Lohn jemals kompensieren kann Da zum Beispiel der Kapitalismus ganz nach seinem Belieben das Wohnen der Arbeiter außerhalb der Stadt angeordnet hat, werden sich diese bald dazu veranlaßt sehen, die Bezahlung der beschwerlichen Fahrzeiten als das zu verlangen, was sie tatsächlich sind: wirkliche Arbeitszeit. In all diesen Kämpfen, die die Lohnarbeit noch anerkennen, muß die Gewerkschaft selbst in ihrem Prinzip noch akzeptiert werden; sie wird jedoch lediglich als eine Instanz akzeptiert, die augenscheinlich überfordert ist und immer wieder übergangen wird. In einer solchen, sozialpolitischen Konjunktur kann die Existenz der Gewerkschaften jedoch nicht von unendlicher Dauer sein; und sie fühlen, daß sie sich abnutzen. In den Reden der bourgeoisen Minister und der stalinistischen Bürokraten findet dieselbe Angst dieselben Worte: „Ich stelle die Frage: Wird das wieder anfangen wie in 1968? Ich antworte: Nein, das darf nicht wieder anfangen“ (Erklärung des Generalsekretärs der kommunistischen Partei Frankreichs Georges Marchais in Straßburg am 25.2.1972). Andererseits verursachen die Proletarier der Gesellschaft des Warenüberflusses in der Gestalt von Konsumenten, die der armseligen beschränkt haltbaren Güter, die sie lange satt bekommen haben, überdrüssig werden, bedrohliche Schwierigkeiten für den Absatz der Produktion. So daß sich das einzige eingestandene Ziel der heutigen Wirtschaftsentwicklung, das tatsächlich für alle die einzige Überlebensbedingung im Rahmen des Systems bildet, das auf der Arbeit als Ware beruht, die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen, auf das Unternehmen hinausläuft, Arbeitsplätze zu schaffen, die die Arbeiter nicht mehr einnehmen wollen; um diesen wachsenden Teil von Gütern zu produzieren, die sie nicht mehr kaufen wollen. Doch es gilt zu begreifen, dass die Warenwirtschaft mit ihrer präzisen Technologie, deren Entwicklung untrennbar von der ihrigen ist, aus sehr viel tieferen Gründen jetzt im Todeskampf liegt. Daß jüngst im Spektakel eine Flut von moralisierenden Reden und von Versprechen auf Abhilfe im Detail zu einem Thema erscheint, das die Regierungen und ihre „mass media“ Umweltverschmutzung nennen, soll diese eindeutige Tatsache verschleiern und muß sie Zugleich enthüllen: der Kapitalismus hat schließlich den Beweis erbracht, daß er die Produktivkräfte nicht mehr entwickeln kann.

Nicht quantitativ, wie ihn viele begreifen zu müssen geglaubt haben, sondern qualitativ wird er sich unfähig erweisen, diese Entwicklung fortzusetzen. Jedoch ist die Qualität hier keineswegs eine ästhetische oder philosophische Forderung: sie ist eine geschichtliche Frage „par excellence“, die Frage nach den Möglichkeiten selbst des Weiterlebens der Art. Das Wort von Marx: „Das Proletariat ist revolutionär oder nichts“ findet in diesem Moment seine letztliche Bedeutung; und das Proletariat, das vor dieser konkreten Alternative anlangt, ist wirklich die Klasse, die die Auflösung aller Klassen verwirklicht. „Es ist also jetzt so weit gekommen, daß die Individuen sich die vorhandene Totalität von Produktivkräften aneignen müssen, nicht nur, um zu ihrer Selbstbestätigung zu kommen, sondern schon überhaupt, um ihre Existenz sicherzustellen.“ (Deutsche Ideologie)

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Die Gesellschaft, die alle technischen Mittel besitzt, um die biologischen Grundlagen auf der ganzen Erde anzugreifen, ist ebenso die Gesellschaft, die durch dieselbe getrennte technischwissenschaftliche Entwicklung über alle Mittel der Kontrolle und mathematisch unzweifelhafter Vorausberechnung verfügt, um exakt zu bestimmen mit welchem Vorsprung vor welcher Aufl ösung des menschlichen Milieus – und zu welchem Zeitpunkt je nachdem, ob eine optimale Fortführung möglich ist oder nicht – das Wachstum der entäußerten Produktivkräfte der Klassengesellschaft ihr Ziel erreichen kann. Ob es sich um die chemische Verseuchung der Atemluft oder um die Verfälschung von Lebensmitteln handelt, um die nicht rückgängig zu machende Akkumulierung der Radioaktivität durch die industrielle Nutzung nuklearer Energie oder um die Verschlechterung der Regenerationsfähigkeit des Wasserkreislaufs vom Grundwasser zu den Ozeanen, um die urbanistische Lepra, die sich immer weiter an der Stelle dessen ausbreitet, was einst Stadt und Land waren, oder um die „Bevölkerungsexplosion“, die Zunahme der Selbstmorde und der Geisteskrankheiten8 oder die Schwelle, der sich die Gesundheitsgefährdung durch den Lärm nähert, überall zeigen die partiellen Kenntnisse der entsprechend den Umständen mehr oder weniger drängenden und mehr oder weniger tödlichen Unmöglichkeit, noch weiterzugehen, als spezialisierte wissenschaftliche Schlußfolgerungen, die einfach nur nebeneinandergestellt bleiben, ein Bild des allgemeinen Verfalls und der allgemeinen Ohnmacht. Diese klägliche Aufnahme der Karte des Territoriums der Entfremdung kurz vor seinem Untergang wird natürlich in derselben Weise vorgenommen, in der das Territorium selbst errichtet wurde: nach getrennten Sektoren. Ohne Zweifel müssen diese Kenntnisse des Stückweisen aufgrund des unglücklichen Zusammentreffens all ihrer Beobachtungen künftig notgedrungen wissen, daß jede wirksame und kurzfristig rentable Modifi zierung in einem bestimmten Punkt Rückwirkungen auf die Totalität der Kräfte hat, die im Spiel sind, und in der Folge zu einem entscheidenderen Verlust führen kann. Eine solche Wissenschaft, wie sie der Produktionsweise und den von ihr produzierten Aporien des Denkens dient, kann sich jedoch keine wirkliche Umkehrung des Laufs der Dinge vorstellen. Sie kann nicht strategisch denken, was im übrigen niemand von ihr verlangt; und sie besitzt auch nicht die praktischen Mittel zur Intervention. Sie kann daher lediglich den Fristablauf diskutieren, und die besten Linderungsmittel, die, würden sie streng angewandt, diesen Fristablauf verzögern würden. Diese Wissenschaft zeigt so auf höchst karikaturale Weise die Nutzlosigkeit des unbrauchbaren Denkens und die Nichtigkeit des nicht dialektischen Denkens in einer Epoche, die von der Bewegung der geschichtlichen Zeit davongetragen wird. Das alte Schlagwort „die Revolution oder der Tod“ ist daher nicht mehr der lyrische Ausdruck des revoltierenden Bewußtseins, sondern das letzte Wort des wissenschaftlichen Denkens unseres Jahrhunderts. Aber dieses Wort kann nur von anderen gesagt werden; und nicht von diesem alten wissenschaftlichen Denken der Ware, das die ungenügend rationalen Grundlagen seiner Entwicklung in dem Moment enthüllt, wo sich alle Anwendungsweisen in der Macht der sozialen Praxis entfalten, die vollständig irrational ist. Das Denken der Trennung ist es, das unsere materielle Beherrschung nur auf den methodologischen Wegen der Trennung vergrößern konnte, und das am Ende diese vollendete Trennung in der Gesellschaft des Spektakels und in ihrer Selbstzerstörung findet.

15

Da die Klasse, die den wirtschaftlichen Profit hamstert, kein anderes Ziel hat, als die Diktatur der unabhängigen Wirtschaft über die Gesellschaft aufrechtzuerhalten, mußte sie bisher die unaufhörliche Vervielfachung der Produktivität der industriellen Arbeit so betrachten und steuern, als handele es sich immer noch um die agrarische Produktionsweise. Sie hat ständig das rein quantitative Produktionsmaximum in der Art der früheren Gesellschaften verfolgt, die, tatsächlich unfähig, jemals die Grenzen der wirklichen Knappheit hinauszuschieben, in jeder Saison alles ernten mußten, was geerntet werden konnte. Diese Identifizierung mit dem Agrarmodell kommt in dem pseudo-zyklischen Modell der Überflußproduktion der Waren zum Ausdruck, bei dem absichtlich in die produzierten Gegenstände und in ihre spektakulären Bilder der Verschleiß eingebaut wurde, um künstlich den saisonalen Charakter des Konsums aufrechtzuerhalten, der die unaufhörliche Wiederaufnahme der produktiven Anstrengung rechtfertigt und die Nähe zur Knappheit aufrechterhält. Doch die kumulative Wirklichkeit dieser Produktion, die der Nützlichkeit und der Schädlichkeit gegenüber gleichgültig ist, die tatsächlich ihrer eigenen Macht gegenüber gleichgültig ist, die sie ignorieren will9, hat sich nicht vergessen lassen und kehrt in der Form der Umweltverschmutzung zurück. Die Umweltverschmutzung ist daher ein Unglück des bürgerlichen Denkens; das die totalitäre Bürokratie lediglich bescheiden imitieren kann. Sie ist die höchste Stufe der materialisierten Ideologie, der tatsächlich verseuchte Überfluß der Ware und der elende wirkliche Niederschlag des illusorischen Glanzes der spektakulären Gesellschaft.

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Die Umweltverschmutzung und das Proletariat sind heute die beiden konkreten Seiten der Kritik der politischen Ökonomie. Die universelle Entwicklung der Ware hat sich ganz und gar als Vollendung der politischen Ökonomie erwiesen, d. h. als „Verzicht auf das Leben“! In dem Moment, wo alles in die Sphäre der Wirtschaftsgüter geraten ist, sogar das Quellwasser und die städtische Luft, ist alles das ökonomische Übel geworden. Bereits die bloße unmittelbare Empfi ndung der „Beeinträchtigungen“ und der Gefahren, die jedes Trimester bedrückender werden, und die zunächst und hauptsächlich die große Mehrheit, das heißt die Armen attackieren, bildet einen ungeheuren Faktor der Revolte, eine vitale Forderung der Ausgebeuteten, die ebenso materialistisch ist, wie es der Kampf der Arbeiter des 19. Jahrhunderts für die Möglichkeit zu essen war. Schon sind die Heilmittel für die Gesamtheit der Krankheiten, die die Produktion auf dieser Stufe ihres Warenreichtums erzeugt, zu teuer für sie. Die Produktionsbeziehungen und die Produktivkräfte haben schließlich einen Punkt radikaler Unvereinbarkeit erreicht, denn das bestehende Gesellschaftssystem hat sein Schicksal mit der Fortsetzung einer buchstäblich unerträglichen Verschlechterung aller Lebensbedingungen verknüpft.

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Mit der neuen Epoche erscheint dieses bewundernswerte Zusammentreffen: die Revolution wird in einer totalen Form gewollt, gerade in dem Moment, wo sie nur in einer totalen Form durchgeführt werden kann, und wo die Totalität des Funktionierens der Gesellschaft absurd und außerhalb dieser Durchführung unmöglich wird. Die grundlegende Tatsache besteht nicht mehr so sehr darin, daß alle materiellen Kräfte für die Konstruktion des freien Lebens einer klassenlosen Gesellschaft zur Verfügung stehen; sie besteht viel eher darin, daß die blinde Unterbeschäftigung dieser Kräfte durch die Klassengesellschaft weder aussetzen noch weitergehen kann. Nie hat es in der Geschichte der Welt eine solche Verbindung gegeben.

18

Die größte Produktivkraft ist die revolutionäre Klasse selbst. Die zurzeit größtmögliche Entwicklung der Produktivkräfte ist ganz einfach der Gebrauch, den die Klasse des geschichtlichen Bewußtseins in der Produktion der Geschichte als Raum der menschlichen Entwicklung von ihnen machen kann, indem sie sich die praktischen Mittel dieses Bewußtseins gibt: die künftigen revolutionären Räte, in denen die Totalität der Proletarier über alles zu entscheiden hat. Die notwendige und ausreichende Definition des modernen Rats – um ihn von seinen schwachen primitiven Ansätzen zu unterscheiden, die stets vernichtet wurden, bevor sie der Logik ihrer eigenen Macht folgen und sie dadurch kennenlernen konnten – ist die Erfüllung des Minimums seiner Aufgaben; dieses Minimum ist nichts weniger als die definitive praktische Regelung aller Probleme, die die Klassengesellschaft gegenwärtig nicht zu lösen fähig ist. Der brutale Sturz der vorgeschichtlichen Produktion, wie ihn allein die soziale Resolution erreichen kann, von der wir sprechen, ist die notwendige und ausreichende Bedingung für den Beginn einer Ära der großen geschichtlichen Produktion; die unentbehrliche und dringende Produktion des Menschen durch ihn selbst. Das Ausmaß der gegenwärtigen Aufgaben der proletarischen Revolution kommt gerade in der Schwierigkeit zum Ausdruck, auf die sie stößt, die ersten Mittel der Formulierung und der Kommunikation ihres Projekts zu erobern: sich auf autonome Weise zu organisieren und durch diese bestimmte Organisation die Totalität ihres Projekts zu begreifen und ausdrücklich in den Kämpfen zu formulieren , die sie bereits führt10. Denn in diesem zentralen Punkt des spektakulären Monopols des sozialen Dialogs und der sozialen Aufklärung, der als letzter fallen wird, gleicht die ganze Welt Polen: wenn sich die Arbeiter frei und ohne Vermittler versammeln können, um ihre wirklichen Probleme zu erörtern, beginnt der Staat sich aufzulösen. Die Kraft der proletarischen Subversion, die seit vier Jahren überall wächst, läßt sich auch an dieser negativen Tatsache ablesen: sie bleibt weit unterhalb der ausdrücklichen Forderungen, die einst proletarische Bewegungen aufstellten, die weniger weit gingen, und die ihre Programm zu kennen glaubten, sie jedoch als geringere Programme kannten. Nicht irgendein intellektuelles Talent oder irgendeine ethische Berufung oder die Lust an der Verwirklichung der Philosophie bringt das Proletariat dazu, die „Klasse des Bewusstseins“ zu sein, sondern ganz einfach die Tatsache, daß es keine andere Lösung hat, als sich der Geschichte in der Epoche zu ermächtigen, in der sich die Menschen „gezwungen sehen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen“ (Kommunistisches Manifest).Was die Arbeiter zu Dialektikern macht, ist nichts anderes als die Revolution die sie diesmal selbst führen müssen.

19

Richard Gombin stellt in „Les Origines du gauchisme“ (Die Ursprünge des Linksradikalismus) fest, „das sich die marginalen Sekten der jüngsten Zeit zu einer sozialen Bewegung auswachsen“ die jedenfalls bereits demonstriert hat, dass der „organisierte Marxismus-Leninismus“ nicht mehr die revolutionäre Bewegung ist. Gombin lehnt es folglich legitimer weise ab, zu dem, was er mit dem sehr unangemessenen Begriff des „gauchisme“ bezeichnet, die neubürokratischen Wiederauflagen, von den zahlreichen Trotzkismen bis hin zu den verschiedenen Maoismen, zu zählen. Obwohl er sich so wohlwollend wie möglich gegenüber den paar halben Kritiken zeigt, die einen Augenblick lang in der unterwürfigen lntelligentsia der letzten dreißig Jahre hervorgestottert wurden, findet Gombin im Ursprung der neuen revolutionären Bewegung, mit Ausnahme der Rückkehr der pannekoekistischen Tradition des Rätekommunismus, lediglich die Situationistische Internationale.11 Obwohl es schon „ihre ungeheuren Ambitionen verdienen, daß man von ihr spricht“‚ ist es doch, nach Gombin, offenbar keineswegs sicher, daß die gegenwärtige Subversion zur Beherrschung der Gesellschaft der ganzen Welt gelangen wird. Er erwägt die Möglichkeit, dass auch das Gegenteil eintreten könnte, nämlich die absolute Perfektionierung der „Ära des Managements, so daß diese Subversion lediglich als letztes Aufflammen einer vergeblichen Revolte gegen „ein Universum, das zur rationellen Organisation aller Aspekte des Lebens tendiert“, geschichtlich in Erscheinung treten würde. Da sich jedoch, überall anders als in dem Buch von Gombin, leicht feststellen läßt, daß dieses Universum, trotz seiner edlen Absichten und seiner trügerischen Rechtfertigungen, unaufhörlich den Weg zu einer galoppierenden Irrationalisierung verfolgt, die in der gegenwärtigen Erstickung kulminiert, besitzt die Endalternative, die dieser Soziologe formuliert, kein einziges bißchen Wirklichkeit. Man kann kaum, wenn man solche Themen behandelt, gemäßigter sein als Gombin; und nur das Unglück der Zeit konnte die Soziologie dazu zwingen, darüber Untersuchungen anzustellen. Und dennoch gelingt es Gombin, aufgrund seiner Ungeschicklichkeit, seinen Lesern keine andere mögliche Schlußfolgerung zu lassen, als eine kühne Versicherung der Unvermeidbarkeit des Sieges der Revolution.

20

Wenn sich alle Bedingungen des sozialen Lebens verändern, sieht die S.I., im Zentrum dieser Veränderung, die Bedingungen, unter denen sie gehandelt hat, schneller verwandelt als alles übrige. Keines ihrer Mitglieder konnte das übersehen oder dachte daran, das zu leugnen, aber tatsächlich wollten viele von ihnen „nicht an der S.I. rühren“. Es war nicht einmal die vergangene situationistische Aktivität, die sie bewahren wollten, sondern ihr Bild.

21

Ein unvermeidlicher Teil ihres geschichtlichen Erfolgs hat die S.I. dahin gebracht, ihrerseits angeschaut zu werden, und in dieser Anschauung ist die konzessionslose Kritik alles Bestehenden dahin gekommen, von einem stets ausgedehnteren Sektor der prorevolutionär gewordenen Ohnmacht selbst positiv bewertet zu werden. Auch die gegen das Spektakel ins Feld geführte Kraft des Negativen fand sich von Zuschauern knechtisch bewundert. Das vergangene Verhalten der S.I. war ganz und gar von der Notwendigkeit beherrscht gewesen, in einer Epoche zu handeln, die zunächst nichts von ihr hören mochte. Von Schweigen umgeben hatte die S.I. keinerlei Stütze, und zahlreiche Elemente ihrer Arbeit wurden nach und nach ständig gegen sie integriert. Sie mußte den Moment erreichen, wo sie beurteilt werden konnte, nicht „auf den Grundlage der oberflächlich skandalösen Aspekte einiger Demonstrationen, sondern aufgrund ihren wesentlich skandalösen zentralen Wahrheit“ („I.S.“ Nr. 11, Oktober 1967). Die ruhige Behauptung des allgemeinsten Extremismus, wie die zahlreichen Ausschlüsse unwirksamer oder nachsichtigen Situationisten, waren die Waffen der S.I. für diese Schlacht; und nicht, um eine Autorität oder eine Macht zu werden. So war der stolze schneidende Ton legitim, der in einigen Formen der situationistischen Ausdrucksweise hinreichend verwandt wurde, sowohl aufgrund den Tatsache der Ungeheuerlichkeit der Aufgaben als auch insbesondere deswegen, weil er seine Funktion erfüllt hat, indem er ihre Weiterentwicklung und ihren Erfolg gestattete. Er wurde jedoch unangemessen, seit sich die S.I. einer Epoche zu erkennen geben konnte, die ihr Projekt keineswegs mehr als eine Unwahrscheinlichkeit betrachtet12; und gerade deshalb, weil der S.I. das gelungen war, ist dieser Ton für uns, wenn auch nicht für die Zuschauer, unmodern geworden. Zweifellos ist der Sieg der S.I. dem Anschein nach genauso diskutabel, wie es derjenige sein kann, den die proletarische Bewegung schon einzig aufgrund der Tatsache errungen hat, daß es den Klassenkrieg wieder aufgenommen hat – der sichtbare Teil der Krise, die im Spektakel zum Vorschein kommt, ist unvergleichbar mit seiner Tiefe -‚ und er wird, wie auch dieser Sieg, solange unentschieden bleiben, bis die vorgeschichtlichen Zeiten ihr Ende gefunden haben; aber für den, der „das Gras wachsen hören kann, ist er auch indiskutabel. Die Theorie der S.I. hat Eingang in die Massen gefunden. Sie läßt sich nicht mehr in ihrer ursprünglichen Einsamkeit liquidieren. Gewiss kann sie noch verfälscht werden, aber unter sehr veränderten Bedingungen. Kein geschichtliches Denken kann sich von vornherein gegen jedes Unverständnis und jede Verfälschung absichern. Sie beansprucht schon nicht, ein für alle Zeiten zusammenhängendes und vollendetes System hervorzubringen; um so weniger kann sie hoffen, sich als das, was sie ist, auf so vollkommen rigorose Weise zu präsentieren, dass sich die Dummheit und die Hinterhältigkeit bei jedem von denen ausgeschlossen fände, die mit ihr zu tun haben werden, derart, daß eine wahrhaftige Lektüre universell geboten sei. Ein solcher idealistischer Anspruch hält sich nur durch einen Dogmatismus, der stets zum Scheitern verurteilt ist. Der Dogmatismus ist bereits die beginnende Niederlage eines solchen Denkens. Die geschichtlichen Kämpfe, die jede Theorie dieser Art berichtigen und verbessern, sind ebenfalls der Boden herabsetzender Interpretationsfehler wie – häufig eigennütziger – Weigerungen, den eindeutigsten Sinn zuzugeben. Hier kann sich die Wahrheit nur durchsetzen indem sie zur praktischen Kraft wird. Sie manifestiert, daß sie Wahrheit ist, erst dadurch, daß sie nur ganz geringe praktische Kräfte braucht, um sehr viel größere zur Auflösung zu bringen. So daß die Theorie der S,I., auch wenn sie künftig noch oft mißverstanden oder verfälschend übersetzt werden kann wie es bisweilen mit den Theorien von Marx und Hegel geschehen ist, ohne weiteres in aller ihrer Echtheit jedesmal dann wiederkehren wird, wenn geschichtlich ihre Stunde gekommen ist, von heute angefangen. Wir haben die Epoche verlassen, wo wir ohne Berufung verfälscht oder ausgestrichen werden konnten, denn unserer Theorie ist künftig, auf Gedeih und Verderb, die Mitarbeit der Massen gewiß.

22

Jetzt wo die revolutionäre Bewegung überall allein dabei ist, ernsthaft von der Gesellschaft zu sprechen, muß sie in sich selbst den Krieg finden, den sie vorher – einseitig – an der enfernten Peripherie des sozialen Lebens führte, wobei sie auf den ersten Blick allen Ideen vollständig fremd gegenüberzustehen schien, die diese Gesellschaft damals über das vorbringen konnte, was sie zu Sein glaubte. Wenn die Subversion auf die Gesellschaft übergreift und ihren Schatten im Spektakel größer werden läßt, manifestieren sich die spektakulären Kräfte der Gegenwart auch im inneren unserer Partei – „die Partei im großen historischen Sinn“ -‚ weil sie effektiv die Totalität der bestehenden Welt auf sich nehmen mußte, und damit auch ihre Unzulänglichkeiten, ihre Unwissenheit und ihre Entfremdungen. Sie erbt das ganze Elend, das intellektuelle Elend mit eingeschlossen, das die alte Welt erzeugt hat; denn letztlich ist das Elend ihr wahres Anliegen, obwohl sie für ein solches Anliegen mit Größe eintreten mußte.

23

Unsere Partei betritt das Spektakel als Feind, aber als Feind, der jetzt bekannt ist. Der frühere Gegensatz zwischen der kritischen Theorie und dem apologetischen Spektakel „ist in das höhere siegende Element erhoben worden, worin er geläutert sich darstellt.“ Diejenigen, die die revolutionären Ideen und Aufgaben, und ganz besonders die S.I., nur anschauen, in dem Fanatismus einer puren wehrlosen Billigung, bringen hauptsächlich diese Tatsache zum Ausdruck, daß in einem Moment, wo die Gesamtheit der Gesellschaft gezwungen ist, revolutionär zu werden, ein großer Sektor es noch nicht zu sein Versteht.

24

Begeisterte Zuschauer der S.I. hat es von 1960 an gegeben, aber zunächst in sehr kleiner Zahl. In den letzten fünf Jahren sind sie eine Menge geworden. Dieser Prozeß hat in Frankreich begonnen, wo sie sich volkstümlich als Prosituationisten bezeichnet sehen, aber diese neue „französische Krankheit“ hat auf sehr viele andere Länder übergegriffen. Ihre Zahl vervielfacht nicht ihre Leere: alle lassen wissen, daß sie vollständig der S.I. beipflichten, und daß sie nichts anderes zu tun wissen. Obwohl sie zahlreich werden, bleiben sie identisch: wer einen von ihnen gelesen oder gesehen hat, hat sie alle gelesen und hat sie alle gesehen. Sie sind ein bezeichnendes Produkt der gegenwärtigen Geschichte, aber sie produzieren sie in keiner Weise ihrerseits. Das prosituationistische Milieu stellt anscheinend die zur Ideologie gewordene Theorie der S.I. dar – und die passive Welle einer solchen absoluten und absolut unbrauchbaren Ideologie bestätigt durch das Absurde die offensichtliche Tatsache, daß die Rolle der revolutionären Ideologie mit den bürgerlichen Revolutionen zu Ende ist -‚ in Wirklichkeit aber drückt dieses Milieu den Teil der wirklichen modernen Revolution aus, der noch ideologisch bleiben mußte, Gefangener der spektakulären Entfremdung und nur in ihren Begriffen unterrichtet. Der Druck der Geschichte ist heute so stark geworden, daß die Träger einer Ideologie der geschichtlichen Gegenwart gezwungen sind, vollkommen abwesend zu bleiben.

25

Das prosituationistische Milieus besitzt nichts als seine guten Absichten, rind möchte sofort illusorisch von deren Zinsen leben, in der alleinigen Form der Stellung seiner gehaltlosen Ansprüche. Dieses prosituationistische Phänomen wurde in der S.I. von allen mißbilligt, insofern als in ihm eine subalterne äußere Imitation gesehen wurde, aber es wurde nicht von allen begriffen. Es kann nicht als ein oberflächlicher und paradoxer Vorfall erkannt werden, sondern nur als die Manifestation einer tiefen Entfremdung des unaktivsten Teils der modernen Gesellschaft, die undeutlich revolutionär wird13. Wir mußten diese Entfremdung als eine wirkliche Kinderkrankheit des Erscheinens der neuen revolutionären Bewegung kennen lernen; zunächst deswegen, weil die S.I., die in keiner Weise außerhalb oder überhalb dieser Bewegung stehen kann, von dieser Art von Mangel nicht unbetroffen sein konnte und nicht beanspruchen konnte, der Kritik zu entgehen, die sie erfordert. Hätte andererseits die S.I., unter anderen Umständen, ihr Spiel weiterhin so getrieben wie zuvor, hätte sie zu der letzten spektakulären Ideologie der Revolution werden, und eine solche Ideologie garantieren können. Die S.I. hätte dann riskiert, die wirkliche situationistische Bewegung zu behindern: die Revolution.

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Das Anschauen der S.I. ist nur eine zusätzliche Entfremdung der entfremdeten Gesellschaft; aber allein die Tatsache, daß es möglich ist, bringt umgekehrt die Tatsache zum Ausdruck, daß sich gegenwärtig eine wirkliche Partei im Kampf gegen die Entfremdung bildet. Die Prosituationisten zu begreifen, d. h. sie zu bekämpfen, anstatt sich darauf zu beschränken, sie abstrakt zu verachten, wegen ihrer Nichtigkeit und weil sie keinen Zugang zur situationistischen Aristokratie hatten, war für die S.I. eine Notwendigkeit von größter Wichtigkeit. Wir mußten gleichzeitig begreifen, wie das Bild dieser situationistischen Aristokratie entstehen konnte, und welche untere Schicht der S.I. sich damit begnügen konnte, sich nach außen hin diesen Anschein hierarchischer Aufwertung zu geben, der ihnen lediglich aufgrund eines Titels zukam: diese Schicht sollte selbst die allein durch das Diplom der Zugehörigkeit zur S.I. angereicherte Nichtigkeit sein. Und solche Situationisten gab es nicht nur offenkundig; sie erwiesen sich auch in der Erfahrung als diejenigen, die nichts anderes wollten, als an ihrer diplomierten Unzulänglichkeit festhalten. Sie kommunizierten mit den Prosituationisten, obwohl sie sich als hierarchisch stark unterschieden definierten, in dem egalitären Glauben, nach dem die S.I. ein idealer Monolith sein könnte, wo jeder auf Anhieb über alles denkt wie alle anderen und ebenso meisterhaft handelt: diejenigen, die in der S.I. weder dachten noch handelten, forderten so ein mystisches Statut, und an dieses Statut waren die prosituationistischen Zuschauer bestrebt heranzukommen. Alle, die die Prosituationisten verachten, ohne sie zu begreifen – angefangen bei den Prosituationisten selbst, unter denen sich jeder den anderen gegenüber als gewaltig überlegen hinstellen möchte -‚wollen einfach sich und anderen vormachen, daß sie durch irgendeine revolutionäre Vorherbestimmung erlöst worden sind, die es ihnen erläßt, ihre eigene geschichtliche Wirksamkeit unter Beweis zu stellen. Die Teilnahme an der S.I. war ihr Jansenismus, wie die Revolution ihr „heimlicher Gott“ ist. Solchermaßen vor der geschichtlichen Praxis geschützt und im Glauben, durch wer weiß was für eine weltliche Gnade dem Elend der Prosituationisten enthoben zu sein, sahen sie in diesem Elend nur das Elend, anstatt in ihm auch den winzigen Teil einer tiefen Bewegung zu sehen, die die alte Gesellschaft über den Haufen werfen wird.

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Die Prosituationisten haben in der S.I. nicht eine bestimmte kritisch-praktische Aktivität gesehen, die die sozialen Kämpfe einer Epoche erklärten oder ihnen vorausgingen, sondern bloß extremistische Ideen; und nicht so sehr extremistische Ideen als die Idee des Extremismus; und letztlich weniger die Idee des Extremismus als das Bild extremistischer Helden, die in einer triumphierenden Gemeinschaft versammelt sind. Bei „der Arbeit des Negativen“ fürchten die Prosituationisten das Negative, und auch die Arbeit. Nach ihrem Plebiszit für das Geschichtsdenken bleiben sie trocken, weil sie nicht die Geschichte begreifen, und das Denken auch nicht. Um zur Behauptung, die sie sehr reizt, einer autonomen Persönlichkeit zu gelangen, fehlt ihnen nur die Autonomie, die Persönlichkeit, und das Talent, auch nur irgendetwas zu behaupten.

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Die Prosituationisten haben, in ihrer Masse, gelernt, daß es keine revolutionären Studenten mehr geben kann, und bleiben Studenten der Revolutionen. Die Ehrgeizigsten verspüren die Notwendigkeit zu schreiben und ihre Schriften sogar zu veröffentlichen, um abstrakt ihre abstrakte Existenz bekannt zu geben, wobei sie glauben, ihr dadurch einigen Bestand zu verleihen. Aber auf diesem Gebiet muß man, um schreiben zu können, gelesen haben, und um lesen zu können, muß man zu leben verstehen: das ist es, was das Proletariat in einer einzigen Operation lernen muß, im revolutionären Kampf. Der Prosituationist kann jedoch das wirkliche Leben nicht kritisch betrachten, weil seine ganze Haltung gerade bezweckt, illusorisch seinem trübsinnigen Leben zu entgehen, indem er es sich zu verheimlichen versucht, und besonders indem er vergeblich versucht, die anderen diesbezüglich irrezuführen. Er muß postulieren, daß sein Verhalten wesentlich gut ist, weil „radikal“, ontologisch revolutionär. Mit dem Blick auf diese eingebildete zentrale Garantie hält er seine tausend gelegentlichen Irrtümer und belustigenden Unzulänglichkeiten für unwesentlich. Er erkennt sie bestenfalls aufgrund des Ergebnisses an, zu dem sie zu seinem Nachteil geführt haben. Darüber tröstet er sich hinweg und entschuldigt sich, indem er versichert, daß er diese Irrtümer nicht wiedermachen wird, und daß er sich prinzipiell unaufhörlich verbesserte. Aber mit der gleichen Blöße steht er den folgenden Irrtümern gegenüber, d.h. der praktischen Notwendigkeit, das, was er tut, in dem Moment zu begreifen, wo er es tut: die Lage einzuschätzen, zu wissen, was man will und wofür man sich entscheidet, welche Konsequenzen sich daraus ergeben können und wie sie sich am besten meistern lassen. Der Prosituationist sagt, daß er alles will, weil er in Wirklichkeit, ohne jede Hoffnung, das geringste wirkliche Ziel zu erreichen, nicht mehr will als wissen zu lassen, daß er alles will, in der Hoffnung, daß jemand auf Anhieb seine Versicherung bewundert und seine schöne Seele. Er braucht eine Totalität, die, wie er, ohne jeden Inhalt ist. Er ignoriert die Dialektik, weil er indem er sich weigert, sein eigenes Leben zu sehen, sich weigert, die Zeit zu begreifen. Die Zeit macht ihm Angst, denn die Zeit machen qualitative Sprünge aus, Entscheidungen, die sich nicht rückgängig machen lassen, Gelegenheiten, die nie wiederkehren. Der Prosituationist tut so als sei die Zeit bloßer gleichförmiger Raum, durch den er von Irrtum zu Irrtum, von Unzulänglichkeit zu Unzulänglichkeit geht und sich dabei ständig bereicherte. Da der Prosituationist stets die Anwendung der kritischen Theorie auf seinen eigenen Fall befürchtet, ist sie ihm jedesmal verhaßt, wenn sie sich in konkrete Tatsachen einmischt, d. h. jedesmal, wenn sie tatsächlich existiert: alle Beispiele erschrecken ihn, denn gut kennt er nur sein eigenes, und das will er verstecken. Der Prosituationist möchte originell sein, indem er wiederholt bestätigt, was er, zugleich mit zahlreichen anderen, als künftig offenkundig erkannt hat; nie hat er daran gedacht, was er in verschiedenen konkreten Situationen tun könnte, die ihrerseits jedes mal originell sind. Der Prosituationist der sich an die Wiederholung einiger Allgemeinplätze hält und damit rechnet, daß seine Irrtümer dadurch weniger genau sind und seine sofortigen Selbstkritiken leichter fallen, behandelt mit Vorliebe das Organisationsproblem, weil er den Stein des Weisen sucht, der die Verwandlung seiner verdienten Einsamkeit in „revolutionäre Organisation“ bewerkstelligt, die für ihn brauchbar ist. Da er überhaupt nicht weiß, worum es geht, sieht der Prosituationist die Fortschritte der Revolution nur in dem Maße, wie sie sich mit ihm beschäftigt. So daß er allgemein glaubt sagen zu müssen, daß die Mai-Bewegung von 1968 seitdem „zurückgegangen“ ist. Aber dennoch will er gerne wiederholen, daß die Epoche von mal zu mal revolutionärer ist, damit man glaubt, er sei wie sie. Die Prosituationisten erheben ihre Ungeduld und ihre Ohnmacht zu Kriterien der Geschichte und der Revolution; so sehen sie fast nichts vorankommen außerhalb ihres fest geschlossenen Gewächshauses, wo sich wirklich nichts ändert. Letzten Endes sind alle Prosituationisten von dem Erfolg der S.I. berauscht, der für sie wahrlich eine spektakuläre Sache ist, und um den sie sie bitter beneiden. Natürlich wurden alle Prosituationisten, die sich uns anzunähern versuchten, so schlecht behandelt, daß sie sich darauf selbst Subjektiv gezwungen sehen, ihre wahre Natur als Feinde der S.I. zu enthüllen; doch das kommt aufs gleiche heraus, denn sie bleiben in dieser neuen Position ebenso wenig. Diese zahnlosen Kläffer möchten gerne herausfinden, wie es der S.I. gelungen ist, und sogar, ob die S.I. nicht in irgendeiner Weise schuldig ist, eine solche Leidenschaft hervorgerufen zu haben; und dann würden sie das Rezept für sich benutzen. Der Prosituationist, ein Karrieremacher, der sich mittellos weiß, sieht sich veranlaßt, auf Anhieb den totalen Erfolg seiner Ambitionen kundzutun, die durch Postulat an dem Tag erreicht sind, wo er sich der Radikalität gewidmet hat: der schwachsinnigste Scheißer wird versichern, daß er, seit einigen Wochen, bestens das Fest kennt, die Theorie, die Kommunikation, die Ausschweifung, die Dialektik; ihm fehlt nur noch eine Revolution, um sein Glück vollständig zu machen. Daraufhin beginnt er, auf einen Bewunderer zu warten, der nicht kommt. Man kann hier auf eine besondere Form der Arglist aufmerksam machen, die sich in der Beredsamkeit offenbart, mit der sich diese Plattheit brüstet. Zunächst spricht sie dort, wo sie am wenigsten praktisch ist, am meisten von Revolution; dort, wo ihre Sprache am Leblosesten und am Zähflüssigsten ist, benutzt sie am häufigsten die Worte „erlebt“ und „leidenschaftlich“; dort, wo sie die größte Selbstgefälligkeit und eitelstes Erfolgsstreben manifestiert, führt sie die ganze Zeit das Wort „Proletariat“ im Mund. Das heißt mit anderen Worten, daß die revolutionäre Theorie, die eine Kritik des gesamten Lebens vornehmen mußte, unter den Händen derjenigen, die sie aufnehmen wollen, ohne zu wissen, wie man sie praktiziert, nur zu einer totalen Ideologie geraten kann, die an keinem einzigen Aspekt ihres armen Lebens auch nur irgendetwas Wahres läßt.

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Während es die S.I. stets verstanden hat, unbarmherzig die Unschlüssigkeit, die Schwäche und das Elend ihrer ersten Versuche zu verspotten, indem sie in jedem Moment die Hypothesen die Gegensätze und die Brüche aufzeigte, die ihre Geschichte selbst bildeten – insbesondere indem sie 1971 der Öffentlichkeit die ungekürzte Neuherausgabe der Revue Internationale Situationniste vorlegte, in der dieser ganze Prozeß festgehalten ist -, haben dagegen die absolut untereinander gespaltenen Prosituationisten alle ständig wie ein Block beansprucht, die S.I. bewundern zu dürfen. Sie hüten sich, in die überall lesbaren Details der Auseinandersetzungen und der Entscheidungen zu gehen, um sich darauf zu beschränken, vollständig dem zuzustimmen, was geschehen ist. Und gegenwärtig gehen alle Prosituationisten, obwohl sie alle etwas zutiefst Vaneigemistisches haben, dem am Boden liegenden Vaneigem den Eselsfußtritt, wobei sie vergessen, daß sie niemals auch nur den hundertsten Teil seines früheren Talents bewiesen haben; und sie Sabbern auch noch angesichts der Kraft, die sie nicht besser verstehen. Doch die geringste wirkliche Kritik dessen, was sie sind, löst die Prosituationisten auf indem sie die Natur ihrer Abwesenheit erklärt, denn sie selbst haben bereits unablässig ihre Abwesenheit offensichtlich gemacht, indem sie versucht haben, gesehen zu werden: sie haben niemanden interessiert. Was die Situationisten betrifft, die selbst nur beschaulich – oder, bei einigen, hauptsächlich beschaulich – waren, und die sich als Mitglieder der S.I. eines gewissen Interesses erfreuen konnten, so haben sie in der Stunde, wo sie die S.I. verlassen mußten, die Härte einer Welt entdeckt, in der sie künftig gezwungen sind, persönlich zu handeln; und fast alle erreichen, indem sie auf identische Bedingungen stoßen, die Bedeutungslosigkeit der Prosituationisten.

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Wenn sich die S.I. anfänglich dafür entschieden hat, den Akzent auf den kollektiven Aspekt ihrer Aktivität zu legen und den größten Teil ihrer Texte relativ anonym zu präsentieren, dann deswegen, weil wirklich ohne diese kollektive Aktivität nichts von unserem Projekt hätte formuliert und ausgeführt werden können, und weil es die Herausstellung einiger persönlicher Berühmtheiten unter uns zu verhindern galt, die das Spektakel dann gegen unser gemeinsames Ziel hätte manipulieren können: das ist gelungen, weil keiner unter denen, die die Mittel besaßen, eine persönliche Berühmtheit zu erwerben, sie gewollt hat, zumindest solange er in der S.I. war; und weil die, die sie wollen konnten, nicht die Mittel dazu besaßen. Doch dadurch wurde zweifellos die Grundlage dafür geschaffen, dass später in der Mystik der Situphilen, die Gesamtheit der S.I. zum kollektiven Star erhoben wurde. Diese Taktik war indessen richtig, denn das, was sie uns zu erreichen gestattete, war unendlich viel wichtiger als die Unannehmlichkeiten, denen sie in dem folgenden Stadium Vorschub leistete. Als die revolutionäre Perspektive der S.I. anscheinend nur in unserem gemeinsamen Projekt bestand, galt es zunächst, die Möglichkeiten selbst ihrer Existenz und ihrer Entwicklung zu verteidigen. Heute, wo sie das gemeinsame Projekt so vieler Leute geworden ist, werden die Bedürfnisse der neuen Epoche von selbst, über die Wand irrealer Konzeptionen hinweg, die sich nicht in Kräften – und nicht einmal in Sätzen – niederschlagen können, die präzisen Werke und Taten wiederfinden, die der heutige revolutionäre Kampf sich aneignen und überprüfen muß; und die er aufheben wird14.

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Der wahre Grund für das Unglück der Zuschauer der S.I. liegt nicht in dem, was die S.I. getan oder nicht getan hat; und selbst der Einfluß einiger stilistischer oder theoretischer Vereinfachungen des situationistischen Primitivismus spielt dabei nur eine ganz geringe Rolle. Die Prosituationisten und Vaneigemisten sind vielmehr das Produkt der allgemeinen Schwäche und Unerfahrenheit der neuen revolutionären Bewegung, der unvermeidlichen Periode scharfen Kontrastes zwischen der Größe ihrer Aufgabe und der Beschränkung ihrer Mittel. Die Aufgabe, die man sich stellt, sobald man begonnen hat, der S.I. wirklich zuzustimmen, ist an sich erdrückend. Für den einfachen Prosituationisten aber ist sie es absolut. Daher ihr sofortiges Auseinanderlaufen. Die Länge und die Härte dieses geschichtlichen Wegs sind es, die bei dem schwächsten und dem anspruchsvollsten Teil der heutigen prärevolutionären Generation, diejenige, die, mit anderen Worten, immer noch nur den Grundmodellen der herrschenden Gesellschaft gemäß zu denken und zu leben vermag, das Trugbild einer Art touristischer Abkürzung zu ihren unendlichen Zielen erzeugt. Als Kompensation für seine wirkliche Unbeweglichkeit und sein wirkliches Leiden konsumiert der Prosituationist die unendliche Illusion, nicht nur auf dem Weg zum, sondern buchstäblich stets kurz vor dem Betreten des gelobten Landes der glücklichen Versöhnung mit der Welt und ihm selbst zu sein, wo seine unerträgliche Mittelmäßigkeit in Leben, in Poesie, in Bedeutung verwandelt wird. Was heißt, daß der spektakuläre Konsum der ideologischen Radikalität, in seiner Hoffnung, sich hierarchisch von seinen Nachbarn abzuheben und in seiner fortwährenden Enttäuschung, mit dem effektiven Konsum aller spektakulären Waren identisch ist15, und wie er verurteilt ist.

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Diejenigen, die das echt soziologische Phänomen der Prosituationisten als etwas Unerhörtes beschreiben, das vor der verblüffenden Existenz der S.I. sogar unvorstellbar war, sind recht naiv. Jedesmal, wenn extreme revolutionäre Ideen von einer Epoche anerkannt und aufgenommen worden sind, hat sich ihnen ein Teil einer bestimmten Jugend in einer in allen Punkten vergleichbaren Weise angeschlossen, namentlich unter deklassierten Intellektuellen oder Halbintellektuellen, die eine privilegierte gesellschaftliche Hölle anstreben, eine Kategorie, deren Zahl der moderne Unterricht vervielfacht wie er ihre Qualität noch vermindert hat. Zweifellos sind die Prosituationisten sichtbarer unzulänglich und unglücklich, weil die Forderungen der Revolution heute komplexer sind und die Krankheit der Gesellschaft schwerer zu ertragen ist. Doch der einzige grundlegende Unterschied zu den Perioden, in denen sich die Blanquisten, die Marxisten genannten Sozialdemokraten oder die Bolschewisten rekrutiert haben, liegt in der Tatsache, daß diese Art von Leuten zuvor von einer hierarchischen Organisation angeworben und eingesetzt wurden, während die S.I. die Prosituationisten massenhaft draußen gelassen hat.

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Um die Prosituationisten zu begreifen, muß man ihre soziale Basis und ihre sozialen Absichten begreifen. Die ersten Arbeiter, die sich den situationistischen Ideen anschlossen – die im allgemeinen von der alten Ultralinken kamen und somit von der Skepsis gezeichnet waren, die aus ihrer langen Unwirksamkeit folgte, die anfänglich in ihren Fabriken sehr isoliert waren und sich infolge ihrer ohne Gebrauch gebliebenen, wenn auch manchmal recht subtilen Kenntnis unserer Theorien verhältnismäßig gekünstelt gaben -‚ haben in dem infra-intellektuellen Milieu der Prosituationisten verkehren können, nicht ohne es zu verachten, und dabei einige seiner Mängel übernehmen können; doch insgesamt werden die Arbeiter, die seitdem in wilden Streiks oder in jeder anderen Form der Kritik ihrer Existenzbedingungen kollektiv die Perspektiven der S.I. entdecken, in keiner Weise Prosituationisten. Und im übrigen sind, außerhalb der Arbeiter, alle diejenigen, die eine konkrete revolutionäre Aufgabe übernommen haben oder effektiv mit der herrschenden Lebensart gebrochen haben, ebensowenig Prosituationisten: der Prosituationist definiert sich zunächst durch seine Flucht vor solchen Aufgaben und vor einem solchen Bruch. Die Prosituationisten sind nicht alle Studenten, die in Wirklichkeit irgendeine beliebige Qualifizierung durch die Examina an der gegenwärtigen Subuniversität erstreben; und sie sind „a fortiori“ nicht alle Bürgersöhne. Aber alle sind sie mit einer bestimmten Gesellschaftsschicht verknüpft, ob sie sich nun vornehmen, wirklich deren Status zu erwerben, oder sich darauf beschränken, die ihr eigentümlichen Illusionen im voraus zu konsumieren. Diese Schicht ist die der Kader oder der Führungskräfte. Obwohl sie im sozialen Spektakel gewiß die Schicht ist, die am stärksten in Erscheinung tritt, scheint sie für die Denker der linksradikalen Routine unbekannt zu bleiben, die ein unmittelbares Interesse daran haben, sich an die verarmte Zusammenfassung der Klassendefinition des 19. Jahrhunderts zu halten: sie wollen entweder die Existenz der bürokratischen Klasse, die herrscht oder die totale Herrschaft ansteuert, verschleiern, oder sie wollen, oft gleichzeitig, ihre eigenen Existenzbedingungen verschleiern, und ihre eigenen Bestrebungen als geringfügig privilegierte Führungskräfte in den von der heutigen Bourgeoisie beherrschten Produktionsbeziehungen.

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Mit der Umwandlung der globalen gesellschaftlichen Arbeit hat der Kapitalismus fortlaufend die Klassenzusammensetzung modifiziert. Er hat Klassen geschwächt oder neu zusammengesetzt, abgeschafft oder gar geschaffen, die in der Produktion der Welt der Ware lediglich eine sekundäre Funktion haben. Allein die Bourgeoisie und das Proletariat, die ursprünglichen geschichtlichen Klassen dieser Welt, machen weiter ihr Geschick unter sich aus, in einer Auseinandersetzung, die im wesentlichen die gleiche bleibt. Doch die Umstände, der Dekor, die Komparsen und selbst der Geist der Hauptakteure haben sich mit der Zeit geändert, die uns zum letzten Akt geführt hat. Das Proletariat war nach Lenin, dessen Definition in der Tat diejenige von Marx korrigierte, die Masse der Arbeiter der Großindustrie; die fachlich Qualifiziertesten unter ihnen fanden sich sogar unter dem Begriff der „Arbeiteraristokratie“ in eine suspekte Grenzsituation verwiesen. Zwei Generationen von Stalinisten und Dummköpfen haben auf dieses Dogma gestützt den Arbeitern, die an der Pariser Kommune teilgenommen hatten, und die sich noch in großer Nähe zum Handwerk und zur Kleinindustrie befanden, die Anerkennung als vollwertige Proletarier verweigert. Die gleichen Leute fragen sich auch nach dem Sein des heutigen Proletariats, das in vielfältig abgestuften Schichten verloren ist, vom „spezialisierten“ Arbeiter der Montagebänder und dem „Gastarbeiter“ am Bau bis hin zum Facharbeiter und zum Techniker oder zur technischen Hilfskraft; das geht so weit, daß spitzfindig untersucht wird, ob der Lokomotivführer persönlich Mehrwert produziert. Lenin hatte indessen darin recht, daß sich das Proletariat Rußlands zwischen 1890 und 1917 wesentlich auf die Arbeiter einer modernen Großindustrie reduzierte, die in der gleichen Periode mit der in dieses Land importierten jüngsten kapitalistischen Entwicklung auftrat. Außerhalb dieses Proletariats war in Rußland als städtische revolutionäre Kraft nur noch der radikale Teil der Intelligentsia vorhanden, während in den Ländern, wo der Kapitalismus mit der Bourgeoisie der Städte auf natürliche Weise gereift und auf ursprüngliche Weise aufgetreten war, alles sehr viel anders verlaufen war. Diese russische Intelligentsia, wie die ihr entsprechenden gemäßigteren Schichten überall anderswo, versuchte politische Kader für die Arbeiter zu bilden. Die russischen Verhältnisse begünstigten die Bildung von Kadern unmittelbar politischer Natur in den Betrieben: die Berufsvereinigungen wurden von einer Art „Arbeiteraristokratie“ beherrscht, die der sozialdemokratischen Partei angehörte, und zwar häufiger der menschewistischen als der bolschewistischen Fraktion, während beispielsweise in England die gleichbedeutende Schicht der TradeUnionisten apolitisch oder reformistisch bleiben konnte. Daß es die Ausplünderung des Planeten dem Kapitalismus in seinem imperialistischen Stadium gestattet, eine große Zahl von besser bezahlten Facharbeitern zu unterhalten, ist eine Feststellung, die, unter einem moralischen Deckmantel, ohne jegliche Tragweite für die Bewertung der revolutionären Politik des Proletariats ist. Auch der letzte „spezialisierte Arbeiter“ der heutigen französischen oder deutschen Industrie kommt, selbst wenn er ein besonders schlecht behandelter und bedürftiger „Gastarbeiter“ ist, in den Vorteil der planetarischen Ausbeutung des Jute- oder Kupferproduzenten in den unterentwickelten Ländern, und ist nichtsdestoweniger ein Proletarier. Die Facharbeiter, die über mehr Zeit, Geld und Ausbildung verfügen, haben in der Geschichte der Klassenkämpfe mit ihrem Los zufriedene Wähler abgegeben, aber häufi g auch extremistische Revolutionäre, im Spartakus wie in der iberischen Anarchistenföderation. Indem allein die Anhänger und Beschäftigten der reformistischen Gewerkschaftsführer als „Arbeiteraristokratie“ betrachtet wurden, wurde durch eine pseudo-

wirtschaftswissenschaftliche Polemik die wirkliche wirtschaftspolitische Frage nach der äußeren Kaderbildung für die Arbeiter verdeckt. Die Arbeiter haben für ihren unerlässlichen ökonomischen Kampf ein unmittelbares Bedürfnis nach Zusammenhalt. Die Erfahrung, wie sie diesen Zusammenhalt selbst herstellen können, beginnen sie in den großen Klassenkämpfen zu machen, die für alle im Konflikt befindlichen Klassen immer zugleich auch politische Kämpfe sind. In den täglichen Kämpfen jedoch – dem „primum vivere“ der Klasse -‚ die lediglich Kämpfe wirtschaftlicher oder ökonomischer Natur zu sein scheinen, haben die Arbeiter diesen Zusammenhalt zunächst durch eine bürokratische Führung erhalten, die sich in diesem Stadium in der Klasse selbst rekrutiert hat. Die Bürokratie ist eine alte Erfindung des Staates. Die Bourgeoisie hat, als sie sich des Staates bemächtigte, zunächst die staatliche Bürokratie in ihren Dienst gestellt und erst später die Bürokratisierung der Industrieproduktion durch Manager entwickelt, diese beiden Formen der Bürokratie gehörten zu dem ihr eigenen Bereich, dienten ihr direkt. Erst in einem späteren Stadium ihrer Herrschaft benutzte die Bourgeoisie auch die untergeordnete, rivalisierende Bürokratie, die sich auf der Grundlage der Arbeiterorganisationen gebildet hatte, und sogar, auf der Ebene der Weltpolitik und der Aufrechterhaltung des Gleichgewichts in der heutigen Aufgabenteilung des Kapitalismus, die totalitäre Bürokratie, die in mehreren Ländern die Wirtschaft und den Staat zu eigen besitzt. Von einem bestimmten Punkt der allgemeinen Entwicklung eines fortgeschrittenen kapitalistischen Landes und seines Vorhersehungs-Staates an, betrauen selbst die in der Auflösung befindlichen Klassen, die sich mit keiner Bürokratie ausstatten konnten, weil sie sich aus isolierten unabhängigen Produzenten zusammensetzten und lediglich die begabtesten ihrer Söhne in die niederen Grade der Staatsbürokratie entsandten – Bauern, handeltreibende Kleinbourgeoisie -‚ mit ihrer Verteidigung, angesichts der allgemeinen Bürokratisierung und Verstaatlichung der konzentrierten modernen Wirtschaft, einige besondere Bürokratien: Gewerkschaften „junger Landwirte“, landwirtschaftliche Kooperativen, Verteidigungsbündnisse der Händler. Indessen bleiben die Arbeiter der Großindustrie – diejenigen, die, wie Lenin sich freute, die Disziplin der Fabrik auf mechanistische Weise auf militärischen Gehorsam, auf die Disziplin der Kaserne präpariert hätte, ein Weg, auf dem er selbst den Sozialismus in seiner Partei und in seinem Land zum Triumph verhelfen wollte, die Arbeiter, die dialektisch auch das ganze Gegenteil kennen gelernt haben -‚ sicherlich, auch ohne das ganze Proletariat zu sein, sein Zentrum selbst: weil in ihren Händen der wesentliche Teil der sozialen Produktion liegt, und weil sie sie am ehesten auf dem reinen Tisch der aufgehobenen ökonomischen Entfremdung neu aufbauen können. Jede lediglich soziologische Definition des Proletariats, ob sie nun konservativ oder linksradikal ist, verbirgt eine politische Entscheidung. Das Proletariat kann nur geschichtlich definiert werden, durch das, was es tun kann, und durch das, was es wollen kann und muß. Ebenso ist auch die marxistische Definition des Kleinbürgertums, die seitdem so häufig als blöder Witz gebraucht wurde, zunächst eine Definition, die auf der Stellung des Kleinbürgertums in den geschichtlichen Kämpfen seiner Zeit beruht, im Gegensatz zu derjenigen des Proletariats beruht sie jedoch auf dem Verständnis des Kleinbürgertums als schillernde und zerrissene Klasse, die nur nacheinander einander widersprechende Ziele wollen kann und die ständig nur den Umständen folgend von einem Lager in das andere wechselt. Das in seinen geschichtlichen Absichten zerrissene Kleinbürgertum war auch soziologisch die von allen am wenigsten definierbare und am wenigsten homogene Klasse: zu ihr konnte man einen Handwerker und einen Universitätsprofessor zählen, einen kleinen wohlhabenden Händler und einen armen Arzt, einen glücklosen Offizier und einen Briefträger, den niederen Klerus und den Schiffsführer. Heute aber ist das Kleinbürgertum, auch ohne daß all diese Berufe „en bloc“ im Industrieproletariat verschmolzen sind, von der geschichtlichen Bühne abgetreten, um sich in den Kulissen aufzuhalten, wo sich die letzten Verteidiger des vertriebenen Kleinhandels Schlagen. Es fristet nur noch ein museums-wissenschaftliches Dasein, als ritualer Fluch, den jeder Arbeiterbürokrat gewichtig all den Bürokraten entgegenschleuderte, die nicht in seiner Sekte arbeiten.

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Die Führungskräfte sind heute die Metamorphose des städtischen Kleinbürgertums unabhängiger Produzenten, das lohnabhängig geworden ist. Auch diese Führungskräfte sind untereinander sehr verschiedenartig, die wirkliche Schicht der oberen Führungskräfte jedoch, die für die anderen das illusorische Modell und das illusorische Ziel bildet, ist auf tausendfache Weise mit der Bourgeoisie verknüpft, in der sie häufiger noch aufgeht als dass sie von ihr herkommt. Die große Masse der Führungskräfte besteht aus mittleren und unteren Führungskräften, deren reale Interessen noch weniger von denen des Proletariats entfernt sind als es die des Kleinbürgertums waren – denn die Führungskraft ist nie im Besitz des Werkzeugs ihrer Arbeit-, deren gesellschaftliche Konzeptionen und deren Aufstiegsträume sich jedoch eng an die Werte und Perspektiven der modernen Bourgeoisie anlehnen. Ihre ökonomische Funktion ist wesentlich mit dem tertiären Sektor verknüpft, mit den Dienstleistungen, und ganz besonders mit dem eigentlich spektakulären Bereich des Verkaufs, der Instandhaltung und der Lobpreisung der Waren, zu denen auch die Arbeitsware selbst zählt. Das Bild der Lebensart und der Geschmacksrichtungen, die die Gesellschaft ausdrücklich für sie, ihre Mustersöhne, fabriziert, beeinflußt weitgehend die Schichten kleiner Angestellter oder Kleinbürger, die nach ihrer Umwandlung in Führungskräfte streben; und ist nicht ohne Wirkung auf einen Teil der heutigen mittleren Bourgeoisie. Die Führungskraft sagt stets „einerseits; andererseits“, denn sie weiß, daß sie als Arbeiter unglücklich ist, aber sie möchte sich vormachen, daß sie als Konsument glücklich ist. Mit Inbrunst glaubt sie an den Konsum, eben weil sie gut genug bezahlt wird, um etwas mehr zu konsumieren als die anderen, wenn auch die gleiche serienmäßige Ware: selten sind die Architekten, die die rückständigen Hochhäuser bewohnen, die sie gebaut haben, aber zahlreich sind die Verbkäuferinnen von Boutiquen des nachgemachten Luxus, die die Kleidung kaufen, für deren Vertrieb sie zu sorgen haben. Die repräsentative Führungskraft steht zwischen diesen beiden Extremen; sie bewundert den Architekten, und sie wird von der Verkäuferin imitiert. Die Führungskraft ist der Konsument „par excellence“, das heißt der Zuschauer „par excellence“. Die Führungskraft steht daher, immer unsicher und immer enttäuscht, im Zentrum des modernen falschen Bewußtseins und der gesellschaftlichen Entfremdung. Im Gegensatz zum Bourgeois, zum Arbeiter, zum leibeigenen, zum Feudalherrn fühlt sich die Führungskraft nie an ihrem Platz. Immer strebt sie danach, mehr zu sein als sie ist, und als sie sein kann. Sie ist zielstrebig und zugleich voller Zweifel. Sie ist der Mensch des Unbehagens, nie ihrer selbst sicher, was sie jedoch vortäuscht. Sie ist der absolut abhängige Mensch, der meint, er müsse die Freiheit selbst fordern, die in ihrem in mäßigem Überfluß vorhandenen Konsum idealisiert wird. Sie ist der Ehrgeizige, der ständig seiner im übrigen erbärmlichen Zukunft zugewendet ist, während sie bereits bezweifelt, ob sie ihren gegenwärtigen Platz gut genug ausfüllt. Es ist kein Zufall (vgl. „De da misre en milieu etudiant, in deutsch in „Das Elend der Studenten und der Beginn einer Epoche“), daß die Führungskraft immer ehemaliger Student ist. Die Führungskraft ist der Mensch des Mangels: ihre Droge ist die Ideologie des reinen Spektakels, des Spektakels des Nichts. Ihretwegen wird heute der Dekor der Städte geändert, für ihre Arbeit und ihre Freizeit, von den Bürohochhäusern bis zu der faden Küche der Restaurants, in denen sie laut spricht, um ihren Nachbarn zu verstehen zu geben, daß sie ihre Stimme an den Lautsprechern der Flughäfen ausgebildet hat. Sie kommt zu allem zu spät, und massenweise, und möchte doch einzig und erster sein. Diese Führungskraft ist, genau wie der Mann, und sogar häufiger noch, die Frau, die die gleiche Funktion in der Wirtschaft hat, und den dementsprechenden Lebensstil annimmt. Die alte Entfremdung der Frau, bei der von Befreiung mit der Logik und der Betonung der Sklaverei die Rede ist, wird dadurch noch von der ganzen extremen Entfremdung des Endes des Spektakels verstärkt. Die Führungskräfte tun immer so, als ob sie gewollt haben, was sie gehabt haben, ob es sich dabei um ihren Beruf oder um ihre Verbindungen handelt, und ihre versteckte angstvolle Unzufriedenheit bringt sie dahin, nicht mehr zu wollen, sondern mehr zu haben, von dem gleichen „reicher gewordenen Entzug“. Da die Führungskräfte Leute sind, die zutiefst getrennt sind, findet der Mythos vom glücklichen Paar in diesem Milieu einen fruchtbaren Boden, obwohl er, wie alles andere auch, von der drückendsten unmittelbaren Wirklichkeit widerlegt wird. Die Führungskraft beginnt im wesentlichen von neuem die traurige Geschichte des Kleinbürgers, denn sie ist arm, und möchte anderen vormachen, daß sie bei den Reichen zu Gast ist. Die Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse unterscheidet sie jedoch diametral in mehreren Punkten, die in ihrer Existenz von erstrangiger Bedeutung sind: der Kleinbürger wollte genügsam sein, die Führungskraft muß zeigen, daß sie alles konsumierte. Der Kleinbürger fühlte sich eng den traditionellen Werten verbunden, die Führungskraft muß laufend mit den wöchentlichen Pseudo-Neuheiten des Spektakels Schritt halten. Der platte Unverstand des Kleinbürgers gründete sich auf die Religion und die Familie; derjenige der Führungskraft ist in der Strömung der spektakulären Ideologie verwässert, die ihr keine Ruhe läßt. Sie kann so weit mit der Mode gehen, daß sie das Bild der Revolution beklatscht – viele waren einem Teil der Atmosphäre der Bewegung der Besetzungen zugetan -‚ und manche unter ihnen meinen sogar heute, mit den Situationisten einverstanden zu sein.

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Das Verhalten der Prosituationisten entspricht vollständig den Strukturen dieser Existenz der Führungskräfte, und wie jenen gehört ihnen diese Existenz zunächst viel eher als ein anerkanntes Ideal anstatt als wirkliche Lebensart. Die moderne Revolution befindet sich, da sie die Partei des geschichtlichen Bewußtseins ist, im direktesten Konflikt mit diesen Anhängern und Sklaven des falschen Bewußtseins. Sie muß sie zunächst zur Verzweiflung bringen, indem sie die Schmach noch schmachvoller macht! Die Prosituationisten sind in einem Moment in Mode, wo jeder X-beliebige dafür ist, Situationen zu schaffen, die jede Umkehr unmöglich machen, und wo das Programm einer lächerlichen „sozialistischen“ westlichen Partei keck behauptet, „das leben ändern“ zu wollen. Der Prosituationist wird sich niemals scheuen zu sagen, daß er Leidenschaften erlebt, transparente Dialoge, daß er das Fest und die Liebe radikal erneuert, genauso wie die Führungskraft direkt beim Winzer ihren Wein kaufte den sie selbst auf Flaschen zieht, oder Station in Katmandu macht. Für den Prosituationisten wie für die Führungskraft sind Gegenwart und Zukunft allein vom Konsum ausgefüllt, der revolutionär geworden ist; hier handelt es sich vor allein um die Revolution der Waren, um die Anerkennung einer unaufhörlichen Reihe von Putschs, durch die die herrlichen Waren und ihre Forderungen ersetzt werden, dort handelt es sich hauptsächlich um die herrliche Ware der Revolution selbst. Überall dieselbe Einbildung der Echtheit in einem Spiels dessen von der ohnmächtigen Betrügerei noch erschwerten Bedingungen selbst von vornherein auch das geringste bisschen Echtheit absolut ausschließen. Dieselbe Künstlichkeit des Dialogs, dieselbe Pseudo-Kultur, die man sich schnell und von weitem anschaut. Dieselbe Pseudo-Befreiung der Sitten, die mit demselben Kneifen vor der Lust zusammentrifft: auf der Grundlage derselben radikalen kindischen, aber verschleierten Unwissenheit etabliert und institutionalisiert sich zum Beispiel die ständige tragikkomische Wechselwirkung von männlicher Einfältigkeit und weiblicher Verstellung. Aber über alle besonderen Fälle hinausgehend ist die allgemeine Vortäuschung ihr gemeinsames Element. Die Besonderheit des Prosituationisten liegt in der Hauptsache darin, daß er durch reine Ideen den Ramsch ersetzt, den die vollendete Führungskraft effektiv konsumiert. Den bloßen Klang der spektakulären Münze glaubt der Prosituationist leichter nachmachen zu können als diese Münze selbst; doch er wird in dieser Illusion durch die wirkliche Tatsache bestärkt, dass auch diese Waren, die der heutige Konsum zu bewundern vorgibt, mehr Lärm als Freude machen. Der Prosituationist möchte alle Eigenschaften des Horoskops besitzen: Intelligenz und Mut, Verführung und Erfahrung, etc., und wundert sich, er, der nie daran gedacht hat, diese Eigenschaften zu erlangen oder zu benutzen, daß die geringste Praxis immer noch seine märchenhafte Erzählung durch den traurigen Zufall über den Haufen wirft, daß er es nicht einmal verstanden hat, sie vorzutäuschen. Ebensowenig hat die Führungskraft jemals irgend einem Bourgeois oder irgendeiner Führungskraft weismachen können, daß sie mehr ist als eine Führungskraft.

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Der Prosituationist kann natürlich die Wirtschaftsgüter nicht verschmähen, über die die Führungskraft verfügt, da sich sein gesamtes Alltagsleben nach demselben Geschmack richtet. Er ist darin revolutionär, daß er sie ohne zu arbeiten haben möchte; oder sie eher noch sofort haben möchte, indem er in der antihierarchischen Revolution „arbeitet“, die die Klassen abschaffen wird. Von der leichten Entwendbarkeit der mageren Zuschüsse zum Studium getäuscht, mit deren Hilfe die heutige Bourgeoisie gerade ihre unteren Führungskräfte in den verschiedenen Klassen rekrutiert – wobei sie den Teil dieser Subsidien, der dem zeitweiligen Unterhalt von Leuten dient, die einmal aufhören, den vorgeschriebenen Weg zu gehen, ohne Schwierigkeitcn in die Gewinn- und Verlustrechnung einsetzt -‚ denkt der Prosituationist schließlich insgeheim, daß die gegenwärtige Gesellschaft ihn ganz gut ernähren müßte, obwohl er ohne Arbeit, Geld und Talent ist, allein aufgrund der Tatsache, daß er erklärt hat, ein reiner Revolutionär zu sein. Und er glaubt ferner, Anerkennung als Revolutionär zu finden, – weil er erklärt hat, Revolutionär im Reinzustand zu sein. Diese Illusionen vergehen schnell: sie dauern nur die zwei oder drei Jahre, in denen die Prosituationisten glauben können, daß sie, obwohl sie nicht wissen wie, irgendein wirtschaftliches Wunder als Privilegierte am Leben erhalten wird. Sehr wenige werden die Energie und die Fähigkeiten aufbringen, um so auf die Vollendung der Revolution zu warten, die sie unweigerlich zu einem Teil enttäuschen würde. Sie werden arbeiten gehen. Manche werden Führungskräfte sein, die meisten schlecht bezahlte Arbeiter. Von denen werden viele resignieren. Andere werden revolutionäre Arbeiter.

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In dem Moment, wo die S.I. einige Aspekte ihres eigenen Erfolgs zu kritisieren hatte, der ihr zugleich gestattete und sie verpflichtete, weiter voranzugehen, war sie besonders schlecht zusammengesetzt und kaum zur Selbstkritik in der Lage. Viele ihrer Mitglieder enthüllten sich als unfähig, wenigstens an der einfachen Fortsetzung ihrer vorangegangenen Aktivitäten persönlich teilzunehmen: für sie war es daher näherliegend, die vergangenen Verwirklichungen schon recht beachtlich zu finden, die für sie bereits unerreichbar waren, anstatt sich in der Aufhebung noch schwierigere Aufgaben zu stellen. Von 1967 an war unsere Präsenz in verschiedenen Ländern vorrangig, in denen die praktische Subversion begann, die unsere Theorie suchte, und insbesondere waren wir vom Herbst 1968 an tätig, um die Erfahrung der Bewegung der Besetzungen16 und die wichtigsten Folgerungen aus ihr im Ausland ebenso bekannt zu machen wie sie es in Frankreich waren. Diese Periode hat die Zahl der Mitglieder der S.I. erhöht, aber keineswegs ihre Qualität. Von 1970 an wurde der wesentliche Teil dieser Aufgabe glücklicherweise von autonomen revolutionären Elementen aufgenommen und stark erweitert. Die Anhänger der S. I. befanden sich – fast überall – dort, wo die autonomen und extremistischen Arbeiterkämpfe begannen, eben in den Ländern, wo die Unruhe am größten ist. Den Mitgliedern der S. I. blieb jedoch die Aufgabe, die Verantwortung für die Position der S.I. selbst zu übernehmen; und aus der neuen Epoche die notwendigen Folgerungen zu ziehen.

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Viele Mitglieder der S.I. kannten in keiner Weise die Zeit, in der wir sagten, daß „seltsame Boten durch Europa reisen und weiter; sich treffen, unglaubliche Instruktionen überbringen“ – („I. S.“, Nr. 5, Dezember 1960). Jetzt, wo solche Instruktionen nicht mehr unglaublich sind, sondern komplexer und präziser werden, scheiterten diese Genossen fast überall dort, wo sie sie zu formulieren und zu verteidigen hatten; und mehrere zogen es sogar vor, es darauf erst gar nicht ankommen zu lassen. Neben denjenigen, die in der Tat niemals wirklich in die S.I. eingetreten waren, gab es zwei oder drei andere, die sich in ärmeren, aber ruhigeren Jahren verdient gemacht hatten, die, von dem Erscheinen selbst der von ihnen gewünschten Epoche völlig verbraucht, in der Tat aus der S.I. ausgetreten waren, aber ohne es eingestehen zu wollen. Somit mußten wir feststellen, daß mehrere Situationisten sich nicht einmal vorstellen konnten, was es hieß, neue Ideen in die Praxis einzuführen, und umgekehrt die Theorien an Hand der Tatsachen neu zu schreiben; das war es jedoch, was die S.I. fertiggebracht hatte.

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Daß einige der ersten Situationisten es verstanden haben, zu denken, Risiken auf sich zu nehmen und zu leben, oder daß unter den vielen, die verschwunden sind, mehrere durch Selbstmord oder in den Heilanstalten geendet sind, konnte sicher nicht durch Erbfolge auf jeden derjenigen, die zuletzt gekommen waren, den Mut, die Originalität und den Sinn für das Abenteuer übertragen. Die mehr oder weniger vaneigemistische Idylle – „Et in Arcadia situ ego“ – deckte durch eine Art juristischen Formalismus der abstrakten Gleichheit das Leben derjenigen, die ihre Qualität weder in der Teilnahme an der S.I. noch in irgendetwas ihrer persönlichen Existenz bewiesen haben. Indem sie diese noch bourgeoise Konzeption der Revolution aufnahmen, waren sie nichts als die Bürger der S.I. Sie waren in Wirklichkeit in allen Lagen ihres Lebens die Männer der Zustimmung; in der S.I. glaubten sie ihr Heil dadurch zu finden, daß sie alles in das schöne Zeichen der geschichtlichen Negation stellten; doch sie hatten sich damit begnügt, diese Negation selbst stillschweigend gutzuheißen. Die, die nie „ich“ und „du“ sagten, sondern immer „wir“ und „man“, befanden sich häufig noch unterhalb des politischen Aktivismus, während die S.I. von Anfang an ein sehr viel weitergestecktes und tiefergehendes Projekt war als eine bloß politische revolutionäre Bewegung. Zwei Wunder trafen zusammen die ihnen der Ordnung der Welt gemäß in ihrer diskreten, aber stolzen Ausdruckslosigkeit begründet erschienen: die S.I. sprach, und wurde von der Geschichte bestätigt. Die S.I. mußte alles für diejenigen sein, die in ihr tatenlos waren; und die selbst anderswo nicht viel erreichten. So stützten einander sehr verschiedene und sogar gegensätzliche Formen des Nichtvorhandenseins in der beschaulichen Einheit, die auf der Exzellenz der S.I. basierte; und die auch die Exzellenz dessen garantieren sollte, was an ihrer übrigen Existenz am deutlichsten mittelmäßig war17. Die Trübsinnigsten sprachen von Spiel, die Resigniertesten sprachen von Leidenschaft. Dies wenn auch kontemplative, Zugehörigkeit zur S.I. sollte als Beweis genügen, denn anders wäre niemand auf die Idee gekommen, ihnen Glauben zu schenken. Obgleich viele Beobachter, Polizisten oder anderes die die unmittelbare Präsenz der S.I. bei Hunderten von Störaktionen meldeten, die sich überall in der Welt sehr gut ganz allein entwickeln, den Eindruck erwecken konnten, als hätten die Mitglieder der S.I. zwanzig Stunden am Tag gearbeitet, um den Planeten zu revolutionieren, müssen wir die Falschheit dieses Bildes unterstreichen. Die Geschichte wird im Gegenteil die bedeutsame Ökonomie der Kräfte verzeichnen, durch die es die S.I. verstanden hat, zu tun, was sie tut. Wenn wir also sagen, daß manche Situationisten wirklich zu wenig taten, so ist darunter zu verstehen, daß diese Leute buchstäblich fast nichts taten. Fügen wir noch eine Tatsache hinzu, die gut die dialektische Existenz der S.I. bestätigt: in ihr gab es keinerlei Gegensatz zwischen Theoretikern und Praktikern, der Revolution oder irgendetwas anderem. Die besten Theoretiker unter uns waren stets die besten in der Praxis, und die, die als Theoretiker die traurigste Figur abgaben, standen auch am hilflosesten vor jeder praktischen Frage.

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Die Kontemplativen in der S.I. waren die vollendeten Prosituationisten, denn sie sahen ihre eingebildete Aktivität von der S.I. und von der Geschichte bestätigt. Die Analyse, die wir von dem Prosituationisten, und von seiner sozialen Stellung gemacht haben, trifft voll auf sie zu, und aus denselben Gründen: Träger der Ideologie der S.I. sind alle die, die es nicht verstanden haben, selbst die Theorie und die Praxis der S.I. zu leiten. Die 1967 ausgeschlossenen „Garnautins“ stellten den ersten Fall des prosituationistischen Phänomens in der S.I. selbst dar; aber dieses Phänomen hat sich in der Folge noch verbreitet. Die neidvolle Unruhe des vulgären Prosituationisten ersetzten unsere Kontemplativen anscheinend durch den ungestörten Genuß. Doch die Erfahrung ihres eigenen Njchtvorhandenseins, die in Widerspruch zu den Forderungen nach geschichtlicher Aktivität tritt, die in der S.I. vorhanden sind – nicht allein in ihrer Vergangenheit, sondern auch vervielfacht durch die Ausweitung der gegenwärtigen Kämpfe führte zu ihrer ängstlichen Verstellung; bewirkte, daß sie noch übler dran waren als die Prosituationisten draußen. Die Rangordnung, die in der S.I. existierte, war von einem neuen Typ, war verkehrt: die, die sich ihr fügten, verschleierten sie. Sie hofften, in Angst und Sorge vor ihrem drohenden Ende, sie solange wie möglich dauern zu lassen, in fälschlicher Leichtfertigkeit und scheinbarer Unschuld, denn mehrere glaubten auch zu spüren, daß die Zeit für einige geschichtliche Belohnungen kommt; und sie haben sie nicht gehabt.

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Wir waren da, um das Spektakel zu bekämpfen, nicht um es zu regieren. Die Verschlagensten unter den Kontemplativen glaubten, daß die Verbundenheit aller mit der Soiree verlangte, daß ihre Zahl oder, in ein oder zwei Fällen, ihr Ansehen geschont würde. Da, wie überall anders, haben sie sich getäuscht. Dieser „Parteipatriotismus“ hat in der wirklichen revolutionären Aktion der S.I. keine Grundlage. – „Die Situationisten sind keine besondere Partei. (…) Sie haben keine von den Interessen des ganzen Proletariats getrennten Interessen.“ („Avviso al proletariato italiano sulle possibilita presenti della rivolutione Soziale“, 19. November 1969) -‚und nie ist die S.I. etwas gewesen, das der Schonung bedarf18; um so weniger in der gegenwärtigen Epoche. Die Situationisten haben sich in einem sehr rauhen Jahrhundert frei eine sehr harte Spielregel gegeben; und sie haben sich ihr normalerweise gefügt. Es galt daher die unnützen Schwätzer hinauszuwerfen, die nur zu sprechen wußten, um über das zu lügen, was sie waren, und um gloriose Versprechen über das zu wiederholen, was sie niemals sein konnten.

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Wenn es der S.I. passiert ist, daß sie als revolutionäre Organisation an sich angeschaut wurde, die die geisterhafte Existenz der reinen Idee der Organisation besitzt, und die für viele ihrer Mitglieder eine äußere Einheit bildete, gesondert von dem, was die S.I. tatsächlich erreicht hat, und zugleich gesondert von dem, was sie persönlich nicht erreicht haben, aber von hoch oben diese widersprüchlichen Wirklichkeiten überdeckte, dann offensichtlich deswegen, weil solche Schauleute weder begriffen haben noch wissen wollten, was eine revolutionäre Organisation sein kann, und nicht einmal, was die ihrige hätte sein können. Dieses Unverständnis wurde seinerseits durch die Unfähigkeit erzeugt, in der Geschichte zu denken und zu handeln, und durch den individuellen Defätismus, der eine solche Unfähigkeit beschämt anerkennt und sie nicht überwinden, sondern verschleiern möchten Diejenigen, die anstatt ihre wirklichen Persönlichkeiten in der Kritik und der Entscheidung über das, was die Organisation in jedem Moment tut und tun könnte, zu behaupten und zu entwickeln, faul die systematische Zustimmung wählten, haben nichts anderes gewollt, als diese Äußerlichkeit durch ihre eingebildete Identifizierung mit dem Ergebnis zu verbergen.

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Die Unwissenheit über die Organisation ist die zentrale Unwissenheit über die Praxis; und wenn sie gewollte Unwissenheit ist, drückt sie lediglich die ängstliche Absicht aus, sich aus dem geschichtlichen Kampf herauszuhalten und dabei trotzdem mit Vorliebe an den Sonn- und Urlaubstagen als unterrichtete und anspruchsvolle Zuschauer abseits spazieren zu gehen. Der Irrtum über die Organisation ist der zentrale praktische Irrtum. Wenn er beabsichtigt ist, zielt er darauf ab, die Massen zu benutzen Wenn nicht, ist er zumindest vollständiger Irrtum über die Bedingungen der geschichtlichen Praxis. Er ist folglich grundlegender Irrtum in der Theorie selbst der Revolution.

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Die Theorie der Revolution ist sicher nicht die alleinige Domäne wissenschaftlicher Kenntnisse im eigentlichen Sinn, und noch weniger hat sie es mit der Herstellung eines spekulativen Werks oder der Ästhetik der Brandrede zu tun, die sich in dem Schein ihrer Lyrik selbst beschaut und findet, daß es bereits wärmer ist. Diese Theorie hat effektive Existenz nur durch ihren praktischen Sieg: hier „müssen die großen Gedanken große Wirkungen haben; sie müssen wie das Licht der Sonne sein, das erzeugt, was es bescheint“. Die revolutionäre Theorie ist die Domäne der Gefahr die Domäne der Ungewißheit; sie ist denen verwehrt, die die beruhigenden Gewißheiten der Ideologie wollen, einschließlich der offiziellen Gewißheit, standhafte Feinde jeder Ideologie zu sein. Die Revolution, um die es geht, ist eine Form menschlicher Beziehungen. Sie nimmt teil an der sozialen Existenz. Sie ist ein Konflikt von universellen Interessen, die die Totalität der sozialen Praxis betreffen, und darin allein unterscheidet sie sich von den anderen Konflikten. Die Gesetze des Konflikts sind ihre Gesetze, der Krieg ist ihr Weg, und ihre Operationen lassen sich eher mit einer Kunst als mit einer wissenschaftlichen Untersuchung oder einer Bestandsaufnahme guter Absichten vergleichen. Die Theorie der Revolution wird nach diesem einzigen Kriterium beurteilt, daß ihr Wissen eine Macht werden muß.

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Die revolutionäre Organisation der proletarischen Epoche wird von den verschiedenen Momenten des Kampfs definiert, in dem sie, jedesmal, erfolgreich sein muß; und sie muß auch, in jedem dieser Momente, darin erfolgreich sein, daß sie keine getrennte Macht wird. Man kann von ihr nicht sprechen, wenn man von den Kräften abstrahiert, die sie hier und jetzt einsetzt, oder von der umgekehrten Aktion ihrer Feinde. Jedesmal, wenn sie zu handeln versteht, vereint sie die Praxis und die Theorie, die ständig auseinander hervorgehen, aber nie glaubt sie, das durch einfache voluntaristische Proklamation der Notwendigkeit ihrer totalen Fusion bewerkstelligen zu können. Wenn die Revolution noch sehr weit entfernt ist, ist die schwierige Aufgabe der revolutionären Organisation vor allem die Praxis der Theorie. Wenn die Revolution beginnt, ist ihre schwierige Aufgabe, mehr und mehr, die Theorie der Praxis; dann aber hat die revolutionäre Organisation ein ganz anderes Gesicht. Dort sind nur wenige Individuen Avantgarde, und das müssen sie durch den Zusammenhang ihres allgemeinen Projekts beweisen und durch die Praxis, die es ihnen gestattet, es zu kennen und mitzuteilen; hier gehen die Arbeitermassen mit ihrer Zeit, und sie müssen sich in ihr als ihre alleinigen Besitzer behaupten, indem sie den Gebrauch der Totalität ihrer theoretischen und praktischen Waffen beherrschen, insbesondere dadurch, daß sie es ablehnen, irgendeine Macht an eine getrennte Avantgarde zu delegieren. Dort können zehn wirksame Leute für den Beginn der Selbst-Erklärung einer Epoche genügen, die in sich eine Revolution enthält, die sie noch nicht kennt, und die ihr nirgends gegenwärtig und möglich erscheint; hier muß die große Mehrheit der proletarischen Klasse alle Macht innehaben und ausüben, indem sie sich in Form von beschließenden und ausführenden permanenten Versammlungen organisiert, die nirgends auch nur irgendetwas von der Form der alten Welt und den Kräften, die sie verteidigen, fortbestehen lassen.

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Dort, wo sie sich als die Form selbst der sich revolutionierenden Gesellschaft organisieren, sind die proletarischen Versammlungen egalitär, nicht weil sich in ihnen alle Individuen mit dem gleichen Grad geschichtlicher Intelligenz befänden, sondern weil sie gemeinsam wirklich alles zu tun haben, und weil sie gemeinsam alle Mittel dazu besitzen. Die totale Strategie eines jeden Moments ist ihre unmittelbare Erfahrung: dabei haben sie alle ihre Kräfte einzusetzen und sofort auch alle Risiken auf sich zu nehmen. In den Erfolgen und Mißerfolgen des konkreten gemeinschaftlichen Unternehmens, indem sie gezwungen waren, ihr ganzes Leben aufs Spiel zu setzen, zeigt sich die geschichtliche Intelligenz ihnen allen.

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Die S.I. hat sich nie als ein Modell der revolutionären Organisation präsentiert, sondern als eine bestimmte Organisation, die sich in einer genau umrissenen Epoche mit genau umrissenen Aufgaben beschäftigt hat; aber selbst insoweit hat sie nicht alles zu sagen gewußt, was sie warm und wußte sie nicht alles zu Seine was sie sagte. Die organisatorischen Irrtümer der S.I. in ihren eigenen konkreten Aufgaben hatten ihre Ursache in den objektiven Unzulänglichkeiten der vorangegangenen Epoche, und auch in den Subjektiven Unzulänglichkeiten bei unserem Begreifen der Aufgaben einer derartigen Epoche, der Grenzen, auf die wir stießen, und der Kompensationen, die sich viele Individuen auf halbem Weg zu dem geschaffen haben, was sie tun möchten und was sie tun können. Die S.I., die die Geschichte besser als irgendwer sonst in einer anti-geschichtlichen Epoche begriffen hat, hat dennoch die Geschichte zu wenig begriffen.

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Die S.I. war immer anti-hierarchisch gewesen, hat es jedoch fast nie verstanden, egalitär zu sein. Sie hat insofern recht gehabt, als sie ein anti-hierarchisches Organisationsprogramm vertrat und beständig selbst formell egalitäre Regeln befolgte, durch die allen Mitgliedern ein gleiches Entscheidungsrecht zuerkannt wurde und durch die sogar ein heftiger Druck auf sie ausgeübt wurde, von diesem Recht in der Praxis Gebrauch zu machen; aber sie hat insofern sehr unrecht gehabt, als sie die in diesem Bereich angetroffenen, teilweise unvermeidlichen und teilweise auf die Umstände zurückzuführenden Hindernisse nicht besser gesehen und nicht besser zum Ausdruck gebracht hat.

50

Die Gefahr der Hierarchie, die in jeder wirklicher Avantgarde zwangsläufig präsent ist, läßt sich geschichtlich am ehesten an den Beziehungen einer Organisation nach außen ermessen, zu den Individuen oder den Massen, die diese Organisation dirigieren oder manipulieren kann. In diesem Punkt gelang es der S.I. in keiner Weise eine Macht zu werden: indem sie Hunderte ihrer erklärten oder möglichen Anhänger draußen ließ, sie oft genug zur Autonomie zwang. Wie bekannt ist, wollte die S.I. stets nur eine sehr kleine Anzahl von Individuen zulassen. Die Geschichte hat gezeigt, daß das nicht genug war, um bei allen ihren Mitgliedern im Stadium einer so weitgehenden Aktion „die Beteiligung an ihrer totalen Demokratie (…)‚ die Erkenntnis und die Selbstaneignung des Zusammenhangs ihrer Kritik (…) in der kritischen Theorie im eigentlichen Sinn und in der Verbindung dieser Theorie mit der praktischen Aktivität“ („ Minimumdefinition revolutionärer Organisationen“, angenommen von der 7. Konferenz der S.I., Juli 1966) zu garantieren. Diese Beschränkung sollte jedoch vielmehr dazu dienen, die S.I. gegen die verschiedenen Möglichkeiten der Kommandogewalt zu garantieren, die eine revolutionäre Organisation, wenn sie Erfolg hat, außerhalb ausüben kann. Die S.I. mußte sich also weniger deswegen auf eine sehr kleine Zahl von Individuen, deren Gleichheit vermutet wurde, beschränken, weil sie anti-hierarchisch ist; vielmehr war die S.I. gerade deswegen, weil sie nicht mehr als diese sehr kleine Anzahl unmittelbar in ihrer Aktion zum Einsatz bringen wollte, im wesentlichen ihrer Strategie tatsächlich anti-hierarchisch.

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Was die Ungleichheit betrifft, die sich so häufig in der S.I. manifestiert hat, und mehr als je zuvor, als sie ihre jüngste Säuberung nach sich zog. So gerät sie einerseits zur Anekdote, da es sich traf, daß eben die Situationisten, die faktisch eine hierarchische Position akzeptierten, die schwächsten waren: dadurch, daß wir in der Praxis ihr Nichts aufdeckten, haben wir noch einmal den triumphalistischen Mythos der S.I. bekämpft und ihre Wahrheit bestätigt. Andererseits muß daraus eine Lektion gezogen werden, die allgemein für die Perioden avantgardistischer Aktivitäten gilt – die wir gerade erst verlassen -, Perioden, wo die Revolutionäre sich, selbst wenn sie es ignorieren wollen, gezwungen sehen, mit dem Feuer der Hierarchie zu spielen, und nicht alle wie die S.I. die Kraft haben, sich dabei nicht zu verbrennen: die geschichtliche Theorie ist nicht der Boden der Gleichheit, die Perioden der Gleichheit sind leere Blätter in ihr.

52

Künftig sind die Situationisten überall, und ihre Aufgabe ist überall. Alle diejenigen, die es zu sein denken, brauchen lediglich den Beweis für „die Wahrheit, i. e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit“ ihres Denkens anzutreten, vor der Gesamtheit der proletarischen revolutionären Bewegung, überall dort, wo sie ihre Internationale zu schaffen beginnt; und nicht mehr allein vor der S.I.. Was uns betrifft, so brauchen wir in keiner Weise mehr zu garantieren, daß solche Individuen Situationisten sind oder daß sie keine sind; denn das haben wir nicht mehr nötig‚ und das war niemals nach unserem Geschmack. Doch die Geschichte ist ein noch strengerer Richter als die S.I. Dagegen können wir garantieren, dass diejenigen keine Situationisten mehr sind, die gezwungen waren, die S.I. zu verlassen, ohne in ihr das gefunden zu haben, was sie in ihr zu finden lang und breit versichert haben – die revolutionäre Verwirklichung ihrer selbst -, und die in ihr folglich ganz normal lediglich den Knüppel gefunden haben, um von ihm geschlagen zu werden. Der Begriff selbst des „Situationisten“ wurde von uns lediglich deshalb verwandt, um bei der Wiederaufnahme des sozialen Kriegs eine gewisse Anzahl von Perspektiven und Thesen durchzubringen. Jetzt, wo das geschehen ist, mag dieses situationistische Etikett in einer Zeit, die noch Etiketten braucht, gut für die Revolution einer Epoche bleiben, aber auf ganz andere Weise. Wie im übrigen eine gewisse Anzahl von Situationisten Veranlassung finden mag, sich unmittelbar untereinander zu assoziieren – und zwar zunächst für die aktuelle Aufgabe des Übergangs aus der ersten Periode der von den Massen aufgenommenen revolutionären Parolen zu dem geschichtlichen Begreifen der Gesamtheit der Theorie, und zu ihrer notwendigen Entwicklung -, das werden die Modalitäten des praktischen Kampfes bestimmen, und kein organisatorischer Apriorismus.

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Die ersten Revolutionäre, die zu der jüngsten Krise in der S.I. intelligent geschrieben und sich dem Begreifen ihrer geschichtlichen Bedeutung am besten angenähert haben, haben bisher eine grundlegende Dimension des praktischen Aspekts der Frage vernachlässigt: die S.I. besitzt tatsächlich, aufgrund dessen, was sie getan hat, eine gewisse praktische Stärke, die sie immer nur für ihre Selbstverteidigung benutzt hat, die jedoch, falls andere sie für sich ausnutzen, unser Projekt verderben könnte. Die Anwendung der Kritik, die die S.I. so treffend auf die alte Welt angewandt hat, auf sie selbst ist ebensowenig allein eine Sache der Theorie auf einem Boden, wo unsere Theorie zudem keine Gegner fand: sie ist eine präzise kritisch-praktische Aktivität, die wir unternommen haben, indem wir die S.I. zerschlagen haben. Eine sehr kleine Anzahl von Erfolgsjägern konnte sich beispielsweise, indem sie sich die routinemäßige Unterstützung einiger redlicher Genossen sicherte, die sich allerdings von ihrer Schwäche selbst geleitet wenig scharfsichtig und wenig anspruchsvoll zeigten, daran versuchen, eine Zeitlang die Kontrolle über die S. I. zu behalten, zumindest als Gegenstand eines Prestige, mit dem sich handeln läßt. Diejenigen, die überall anderswo so wehrlos und unbedarft waren, fanden da ihre einzige Waffe und ihre einzige Bedeutung. Nur das Bewußtsein des Übermaßes ihrer Unfähigkeit hielt sie davon ab, sich ihrer zu bedienen; doch sie konnten sich dazu letzten Endes gezwungen fühlen.

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Die Orientierungsdebatte des Jahres 1970, ebenso wie die praktischen Fragen, die gleichzeitig zu lösen waren, hatten gezeigt, daß die Kritik der S.I., die bei allen eine sofortige prinzipielle Zustimmung fand, nur dadurch wirkliche Kritik werden konnte, daß sie bis zum praktischen Bruch ging, denn der absolute Widerspruch zwischen dem wiederholt bekräftigten Einverständnis und der Paralyse vieler in der Praxis -einschließlich der minimalsten Praxis der Theorie – war das Zentrum selbst dieser Kritik. Nie war in der S.I. ein Bruch so sehr vorauszusehen. Und deshalb war dieser Bruch dringend geworden. Im Verlauf der Entwicklung dieser Debatte sahen sich diejenigen, die die damals vorhandene Mehrheit der Mitglieder der S.I. bildeten eine Mehrheit, die im übrigen formlos, uneinig, untätig und ohne nennenswerte Perspektive war, von einer extremen Minderheit sehr schlecht behandelt. Auf diese Leute konnte man keine große Rücksicht mehr nehmen, ohne Lügen zu müssen. Und bekanntlich muß man „die Menschen sehr rücksichtsvoll behandeln oder beseitigen, denn sie rächen sich für leichte Beleidigungen und für schwere können sie es nicht mehr.“

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Es genügte danach zu erklären, daß eine Spaltung notwendig geworden war. Jeder hatte sich für seine Partei zu entscheiden; und jeder hatte übrigens seine Chance, denn das zu lösende Problem lag unendlich tiefer als die ins Auge springende Unzulänglichkeit des einen oder anderen Genossen. Die Tatsache, daß diese erzwungene Spaltung auf der anderen Seite keinen einzigen Spalter erzeugt hat, der sich halten konnte, ändert nichts an ihrem Charakter einer wirklichen Spaltung; sondern bestätigt ihren Inhalt selbst. In der S.I. nahm in dem Maße, wie die Zahl schrumpfte, die Handlungsfähigkeit derjenigen ab, die gerne etwas vom Status quo beibehalten hätten. Die Tatsache selbst, daß das Programm dieser Spaltung darin bestand, nicht mehr die Bequemlichkeit der Situationisten zuzulassen, die nichts von dem durchführten, was sie vorbrachten oder gegenzeichneten, machte es den anderen immer unmöglicher, in derselben Art des Bluffs weiterzumachen, ohne daß sogleich daraus die Schlüsse gezogen wurden. Diejenigen, die nicht die Mittel haben, um für das zu kämpfen, was sie wollen, oder gegen das, was sie nicht wollen, können nur kurze Zeit zahlreich sein.

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Im Gegensatz zu den vorangegangenen Säuberungen, die, unter weniger günstigen geschichtlichen Umständen, bezwecken sollten, die S.I. zu stärken, und die sie jedesmal stärker gemacht haben, bezweckte diese, sie zu schwächen. Es gibt keinen Erlöser: noch einmal war es an uns, das zu zeigen. Die Methode und die Ziele dieser Säuberung wurden natürlich von den revolutionären Elementen Außerhalb gebilligt, und zwar ohne jede Ausnahme. Man wird schnell verstehen, daß das was die S.I. in der jüngsten Zeit getan hat, während der sie ein relatives Schweigen bewahrt hat, und was in den vorliegenden Thesen erklärt wird, einen ihrer wichtigsten Beiträge zur revolutionären Bewegung bildet. Nie hat man uns in die Angelegenheiten, die Rivalitäten und den Umgang der linksradikalsten Politiker und der progressivsten Intelligentsia verwickelt gesehen. Und jetzt, wo wir uns schmeicheln können, unter diesem Gesindel die empörendste Berühmtheit erlangt zu haben, werden wir noch unzugänglicher werden, noch untergründiger. Je bekannter unsere Thesen werden, um so obskurer werden wir selbst sein.

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Die wirkliche Spaltung in der S.I. war eben die, die sich jetzt in der weiten und formlosen Bewegung der heutigen Rebellion vollziehen muß: die Spaltung zwischen einerseits der ganzen revolutionären Wirklichkeit der Epoche und andererseits allen Illusionen über sie.

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Weit davon entfernt, auf andere die ganze Verantwortung für die Fehler der S.I. zu schieben, oder sie mit Hilfe der psychologischen Besonderheiten einiger unglücklicher Situationisten erklären zu wollen, akzeptieren wir diese Fehler als einen Teil des geschichtlichen Unternehmens, das die S.I. geführt hat. Wer die S.I. schafft, wer Situationisten schafft, hat auch ihre Fehler erzeugen müssen. Wer der Epoche zu entdecken hilft, was sie vermag, ist nicht vor den Mängeln der Gegenwart sicherer und an dem unschuldig, was an Verhängnisvollem noch kommen kann. Die ganze Wirklichkeit der S.I. erkennen wir an, und insgesamt freuen wir uns, daß sie das ist.

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Man möge aufhören, uns zu bewundern, als könnten wir über unserer Zeit stehen und möge die Epoche vor sich selbst erschrecken, indem sie sich für das bewundert, was sie ist.

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Wer das Leben der S.I. betrachtet, findet darin die Geschichte der Revolution. Nichts hat sie schlecht machen können.

Guy Debord, Gianfranco Sanguinetti


1„Chotard! Begreifst Du jetzt, daß Du ein Scheißer und ein politisches Würstchen bist? (…). Wirst Du begreifen, daß es nur eine Theorie und eine Praxis des Proletariats selbst gibt; daß eine Theorie in dem Maße situationistisch ist, wie Situationisten ihre Momente und ihre Grundgedanken darlegen? (…) Die, die denken, daß die Theorie eine Zusammenstellung von Konzepten, ihren Kon zepten ist, können lediglich gegen die ‚Konzepte’ der anderen opponieren. Würde ihre Propaganda und ihre Lüge bei den Massen Erfolg haben, würden sie sich stets fragen, wie sich ein solches Phänomen ereignen konnte. Niemals wüßten sie, wem sie diesen Erfolg zuzuschreiben hätten oder gar worin dieser Erfolg besteht. (…) Niemand wird darüber erstaunt sein, daß das Proletariat die situationistische Theorie verwirklicht, wenn das für das Proletariat heißt, die Welt zu verwandeln, und das Wissen. Auch Chotard wird darüber im äußersten Fall nichterstaunt sein. Aber, was ihn erschreckt, ist, das Proletariat die situationistische Theorie verwirklicht, und nicht die seinige.”

2„Das Bewußtsein, das sich bildete (und das Wort, das ergriffen wurde), hat seinen Ursprung in den intellektuellen (und auch praktischen) Aktivitäten einer Minderheit anmaßender, aber weitblickender Rebellen: der Situationistischen Internationalen. Durch ein scheinbares Paradox, dessen Geheimnis nur die Geschichte kennt, ist, die S.I. zehn Jahre und einiges lang in unserem Land praktisch unbekannt geblieben. Das könnte die folgende Reflexion Hegels rechtfertigen: ‘Allen bedeutenden Revolutionen, die ins Auge springen, geht notwendig im Geist der Epoche eine verborgene Revolution voraus, die nicht für alle sichtbar ist und die noch weniger von den Zeitgenossen wahrgenommen werden kann und die ebenso schwer durch Worte auszudrücken wie zu begreifen ist’.” Pierre Hahn, ‚Les situationnistes‘ (Le Nouveau Planète, Nr. 22, Mai 1971).

3„’Die Gesellschaft des Spektakels’ (…) hat seit der Publizierung im Jahr 1967 bei der gesamten Ultralinken zu anhaltenden Diskussionen geführt. Dieses Werk, das den Mai 1968 voraussagte, wird von einigen als ‘Das Kapital’ der neuen Generation betrachtet.» Le Nouvel Observateur, 8. November 1971.

4„An der Werbung von heute überrascht mich, wi e sehr die Sprache, die sie benutzt, überholt ist. Sie stammt noch aus der Zeit vor dem großen Sprung der seit 1968, mehr oder weniger unter dem Gestrüpp verborgen, im Zick-Zack durch die Gesellschaft geht.(…) Die Werbung muß die Probleme der Zivilisation einbeziehen, wenn sie wirklich rentabel sein will, das heißt sie darf ,ich nicht damit zufrieden geben, kurzfristig zu verkaufen sie muß die Verbraucher mittel- und langfristig unterstützen.(…) Die Motivationsstudien – die ich als erster in Frankreich eingeführt habe – haben uns die Mittel zu einer soliden Kenntnis des Verbrauchers gegeben; sie werden jedoch im allgemeinen nur dazu benutzt, um zu dem Verbraucher in einer Weise zu sprechen, die immer noch einseitig ist. Die Werbung von morgen wird gezwungen sein, den Weg zu einer wirklichen Kommunikation zu beschreiten, wo jeder der beiden Gesprächspartner den Einfluß des anderen zuläßt und auf ihn Wert legt, in einem Dialog mit soweit wie möglich gleichen Waffen.“ Marcel Bleustein-Blanchet (Le Monde, 9.12.1971).

5Unter der Uniform unabhängiger ‚kommunistischer’ Generäle tauchten bereits wieder die Seigneurs des Krieges auf, die direkt mit der Zentralgewalt verhandeln und ihre eigene Politik machen, besonders in den Randgebieten.(…) In der Aufsplitterung der Macht in unabhängige Provinzen reproduziert sich in diesem Moment auf chinesischer Ebene der weltweite Zerfall der bürokratischen Internationalen.(…) Das Mandat des proletarischen Himmels ist ausgelaufen. ‚Internationale Situationniste‘, Nr.11 (Oktober 1967)

6„Genossen! Nur eine Bemerkung. Ich hoffe, daß uns der Genosse Gierek wirklich eine Neuerung ankündigt. In dem Fall muß er unterstützt werden. Wie? Dadurch, daß wir reden. Denn unsere einzige Waffe ist, die Wahrheit zu sagen. Von den Lügen haben wir gar nichts. Wir müssen die Diskussion weiter in diese Richtung lenken. Die Arbeiter wissen sehr gut, daß sich in unseren Führungsklassen zwei Strömungen gebildet haben. Die beiden können sich nicht ausstehen. Wenn die Strömung, die die alte Politik betrieb, wieder an Boden gewinnt, dann landen wir alle, die wir gestreikt haben, im Kittchen.“ „Wenn uns der Genosse Gierek sagt, wir sollen das Geld sparen, dann möchte ich ihm sagen, daß bei uns das Geld kostbar ist. Wir sind uns dessen bewußt. Es ist unser Blut, das an ihm klebt. Aber wir können uns von denen Geld nehmen, die zu gut leben. Genossen! Ich werde ganz klar sagen: unsere Gesellschaft teilt sich in Klassen.“ Intervention zweier Bezirksdelegierter der Schiffswerften ‚A,Warski‘ in Stettin am 24.1.71 (veröffentlicht in ‚Gierek face aux grévistes de Szczecin‘, Editions S.E.L.I.O., Paris 1971).

7„Die Bergarbeiter haben eindeutig einen fast totalen Sieg errungen.(…) Den Streikenden, die gerade noch innerhalb der Grenzen der Legalität operierten, gelang es, die Auslieferung der bereits geförderten Kohle sowie der zum Ersatz für die Kraftwerke bestimmten Heizmaterialien zu verhindern.(…) Die gewährten Lohnerhöhungen variieren zwischen 15 und 31 % und gehen daher weit über die 8 % hinaus, die die Regierung erfolgreich als Plafond gegenüber den Lohnforderungen des öffentlichen und privaten Bereichs durchgesetzt hatte.(…) Kurz, die Vereinbarung darf nicht die Bedeutung eines Präzedenzfalles haben, auf den sich andere Arbeitnehmerkategorien berufen könnten. Die Regierung hofft daher, trotzdem noch ihre Lohnpolitik retten zu können, aber qualifizierte Beobachter der ökonomischen Szene vermögen kaum zu sehen, wie Heath sich jetzt den Eisenbahnern, den Autobusfahrern, den Lehrern, den Krankenschwestern widersetzen kann, deren Forderungen zwischen 15 und 20 % und manchmal darüber liegen.“ Le Monde, 20-21. 2. 1972.

8 „In zwanzig Jahren (1950 – 1970) haben sich in Frankreich die Arbeitsunfähigkeitserklärungen wegen Geistesstörungen vervierfacht; gegenwärtig beruhen im Gebiet von Paris ein Viertel (24 %) aller Fälle von Invalidität auf solchen Leiden. (…) Eine derartige Zunahme, die in ähnlichem Ausmaß in allen sogenannten industrialisierten Ländern festgestellt wird, kann offensichtlich nicht das Resultat irgendeiner rapiden Degenerierung der Erbanlagen ihrer Bürger sein. Sie ist auch nicht, wie das in anderen Bereichen der Pathologie der Fall ist, auf einen merklichen Fortschritt in den Mitteln zur Aufdeckung von Geistesstörungen zurückzuführen. (…) Die Rolle der Psychiater besteht darin, geistigen Störungen vorzubeugen und sie zu behandeln. Sie besteht nicht darin, schlecht und recht Abhilfe in solchen kollektiven Notlagen zu schaffen, seitdem die Zahl der Fälle nicht die individuelle Störung zum Ausdruck bringt, sondern die Tatsache, daß die sozialen Strukturen dem Temperament der Mehrheit der Menschen nicht angemessen sind.“ Dr. Escoffier-Lambiotte (Le Monde, 9.2.1972).

9„Der Sieg der autonomen Wirtschaft muß zugleich ihr Verlust sein. Die Kräfte, die sie entfesselt hat, beseitigen die wirtschaftliche Notwendigkeit, die die feststehende Grundlage der früheren Gesellschaften war. (…) Doch die autonome Wirtschaft trennt sich für immer von dem Grundbedürfnis in dem Maße selbst, wie sie aus dem gesellschaftlich Unbewußten heraustritt, das von ihr abhing, ohne es zu wissen. (…) In dem Moment, wo die Gesellschaft entdeckt, daß sie von der Wirtschaft abhängt, hängt die Wirtschaft tatsächlich von ihr ab. Diese unterirdische Macht, die wuchs, bis sie souverän in Erscheinung trat, hat auch ihre Macht verloren.» ‘Die Gesellschaft des Spektakels’.

10„Diese Theorie erwartet keine Wunder von der Arbeiterklasse. Sie betrachtet die neue Formulierung und die Verwirklichung der proletarischen Forderungen als langwierige Aufgabe.“ ‚Die Gesellschaft des Spektakels‘.

11„Doch sie erheben keinen Anspruch darauf, die einzige gute Exegese von Marx zu machen: in Wirklichkeit ‚heben’ sie Marx ‚auf’ und sind, in der geläufigen Bedeutung des Wortes, keine Marxisten.(…) Es ist klar, wie sehr diese Konzeption radikal ist; der scharfe Bruch, den sie mit der gesamten linken Bewegung dieses halben Jahrhunderts vornimmt, gibt ihr einen millenaristischen, einen ketzerischen Anstrich. Von der Mitte der sechziger Jahre an, wenn nicht schon früher, wird ’der zweite proletarische Sturm gegen die Klassengesellschaft’ von den Situationisten vorausgesehen und angekündigt. ( …) In dem von ihnen erarbeiteten Stil finden sich einige Verfahren wieder, die von Hegel und dem jungen Marx benutzt wurden, wie die Umkehrung des Genitivs (Waffen der Kritik, Kritik der Waffen), sowie von dem Dadaismus (Sprechweise mit schnell aufeinanderfolgenden Verben, Worte, die in einem von der klassischen Bedeutung abweichenden Sinn gebraucht werden, etc.). Aber vor allem ist es ein Stil, der voller Ironie ist. (…) Am Vorabend des Monats Mai 1968 glauben die Situationisten, daß der entscheidende geschichtliche Moment kommt. (…) Im Verlauf der ‚Ereignisse’ der Monate Mai und Juni 1968 hatten die Situationisten die Gelegenheit, ihre Ideen bezüglich des Inhalts wie auch der Organisation anzuwenden, zunächst in dem ersten Besetzungskomitee der Sorbonne und danach in dem Komitee für die Aufrechterhaltung der Besetzungen (C.M.D.O.).“ Richard Gombin, ‚Les Origines du gauchisme‘ (Editions du Seuil, Paris, 1971).

12„Jedesmal, wenn man die Nummern der Revue ‘Internationale Situationniste’ durchliest stellt man erstaunt von neuem fest, inwieweit und wie häufig diese Besessenen Urteile gefällt und Gesichtspunkte dargelegt haben, die sich in der Folge konkret bestätigt haben.» Claude Roy ‚Les Desesperados de l‘espoir’ (Nouvel Observateur. 8. Februar 1971).

13„Die prosituationistische Rückentwicklung wurde als eine Verirrung, als der Abfall einer Bewegung, als mondän betrachtet, und nie als das, was sie wirklich war: die qualitative Schwäche der Gesamtheit, ein für der globalen Fortschritt des revolutionären Projekts notwendiger Moment, Der Situationismus ist die Jugendkrise der situationistischen Praxis, die den entscheidenden Moment einer ersten bedeutsamen extensiven Entwicklung erreicht hat, der Moment, wo sie praktisch das Spektakel beherrschen muß, das sich ihrer bemächtigt. Diese komfortable Einrichtung im Positiven ist es, die die situationistische Rolle charakterisiert; je effektiver in der Tat der objektive Platz der S.I. in der gegenwärtigen Geschichte wurde (und das gleiche gilt für alle zukünftigen revolutionären Organisationen), desto gefährlicher wurde es für jedes ihrer Mitglieder, ihre Erbschaft zu übernehmen, (…)Mai1968 war die Verwirklichung der modernen revolutionären Theorie, ihre gewichtige Bestätigung, wie er teilweise die Verwirklichung der Individuen war, die an der S.I. teilnahmen, insbesondere aufgrund des revolutionären Weitblicks, den sie in der Bewegung selbst bewiesen, Die Bewegung der Besetzungen ist jedoch für die S.I. die Folgerung aus ihrer langen praktischen Suche geblieben, ohne ihre Aufhebung zu sein, ( . ..) Während die Situationisten, die der Strömung, die sie hervorgebracht hatten, lediglich als Modell dienten, sich selbst erneut in Frage stellten, mit einer ‚Orientierungsdebatte’ begannen, die zu der Bestimmung der höheren Bedingungen ihrer Existenz führen sollte, bildeten sich die weit hinterher hinkenden Satellitengruppen allein auf der unangemessenen Basis der beschränkten Umsetzung einiger der vorangegangenen Erfahrung der S.I. entnommenen Gewißheiten in die Praxis,“ ‚Pour l‘tintelligence de quelques aspects du moment’ (anonyme Broschüre, Paris, Januar 1972).

14„Die wirkliche Kraft der situationistischen Theorie liegt darin, daß sie einsickert, wie Schweres Wasser. Machen wir weiter, aber bleiben wir dabei nicht stehen. Von neuem stellt sich die Frage der nicht dialektischen Aufhebung. Die Politik gibt keine Antwort. Das Gelände ist vermint. Sie schiebt die Frage nur hinaus. Deshalb muß alles neu begonnen werden, und insofern bin ich 1971 Situationist. Was heißt es denn, in der Internationalen zu sein! Die Arbeit der Unterwanderung der Situationisten von 1957 wiederaufnehmen. Darin besteht die Aufgabe. Das ist das, was von der S.I. bleibt. (…) Die S.I. hat recht, eine Epoche ist vorbei, vielleicht bereits das 20. Jahrhundert, und in der Tat ‚ist ihr Vorgehen das Beste, was bisher unternommen wurde, um aus dem 20. Jahrhundert herauszukommen’ ‚I.S.‘, Nr. 9). Ich bin der Überzeugung, daß die praktische und theoretische Distanz, die zwischen der Ersten Internationalen und der Situationistischen Internationalen herge stellt wurde, die gleiche ist, die es zwischen der Situationistischen Internationalen und dem herzustellen gilt, was zu tun ist. Hat sie nicht auch das Gefühl?“ Bartholomé Béhouir ‚De la conciergerie inter nationale des situationnistes‘ (Paris, August 1972)

15In dem Bild der glücklichen Vereinigung ist die wirkliche Teilung lediglich bis zur-nächsten Nicht-

Erfüllung im Konsumierbaren zurückge stellt.“ ‚Die Gesellschaft des Spektakels‘.

16„Der Beobachter kann nur über die Geschwindigkeit staunen, mit der der Funke auf die gesamte Universität und außerhalb der Universität auf die Jugend im allgemeinen übergesprungen ist. Es scheint, daß die von der kleinen Minorität echter Revolutionäre formulierten Parolen was weiß ich für undefi nierbare Wirkungen in der Seele der neuen Generation ausgelöst haben.(…) Eine Tatsache verdient besondere Beachtung: wir erleben wieder, wie schon vor fünfzig Jahren, Gruppen junger Leute, die sich ganz und gar der Revolution widmen, die mit Hilfe einer erprobten Technik die günstigen Momente abwarten können, um von ihnen beherrschte Unruhen auszulösen oder zu radikalisieren, um danach in den Untergrund zurückzukehren, die Arbeit der Unterwanderung fortzusetzen und weitere vereinzelte oder anhaltende Erschütterungen vorzubereiten, um das soziale Gebäude allmählich zum Einsturz zu bringen.“ Julien Freud, ‚Guerres et paixs‘, Nr. 4 (1968).

17„Die bewundernden oder in der Folge feindseligen Exzesse derer, die von uns als unzeitgemäß begeisterte Zuschauer sprechen, dürfen nicht durch situationistische Prahlerei verbürgt werden, die dazu beitragen würde, uns einzureden, daß die Situationisten wahre Wunder sind, die tatsächlich alles in ihrem Leben besitzen, was sie als Theorie und revolutionäres Programm angegeben oder einfach nur angenommen haben, (…) die Situationisten haben kein Monopol zu verteidigen und keine Belohnung zu erwarten. Wir haben uns an eine Aufgabe gemacht, die uns gemäß war, sie über die Jahre mal besser mal schlechter und im ganzen korrekt mit dem, was da war, fortgeführt,» Guy Debord, Nachsatz zu ‚La question de l‘organisation pour l’I.S.’ (‚Internationale Situationniste‘, Nr. 12, September 1969).

18„Die Theorie wird das fortwährende Kennen des geheimen Elends, des Geheimnisses des Elends. Sie ist deshalb auch für sich allein schon das Aufhören der Wirkung des Spektakels. (…) Die Theorie ist , wenn sie existiert, folglich sicher, daß sie sich nicht irrt. Die Theorie ist ein Subjekt, das frei von Irrtum ist. Sie läßt sich von nichts täuschen. Ihr einziger Gegenstand ist die Totalität. Die Theorie kennt das Elend als insgeheim publik. Sie kennt die geheime Publizität des Elends. Alle ihre Hoffnungen sind berechtigt. Der Klassenkampf existiert.“

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(SI) Über das Elend im Studentenmilieu https://panopticon.blackblogs.org/2020/09/14/si-ueber-das-elend-im-studentenmilieu/ Mon, 14 Sep 2020 08:05:06 +0000 http://panopticon.blackblogs.org/?p=1771 Continue reading ]]> Einleitung von uns, wir haben diesen Text wieder ausgegraben, nicht nur weil wir ihn interessant und wichtig finden, sondern auch weil vieles was darin steht noch sehr aktuell ist. Wir haben ein paar Fußnoten, zwecks Verständnis, hinzugefügt und sie auch als solche beschriftet.

Situationistische Internationale

Über das Elend im Studentenmilieu

betrachtet unter seinen ökonomischen, politischen, sexuellen und besonders intellektuellen Aspekten und über einige Mittel, diesem abzuhelfen, von Mitgliedern der Situationistischen Internationale und Straßburger Studenten.

Die Schmach noch schmachvoller machen, indem man sie publiziert

Ohne große Gefahr, uns zu irren, können wir behaupten, daß der Student in Frankreich nach dem Polizisten und dem Priester das am weitesten verachtete Wesen ist. Wenn auch die Gründe fur seine Verachtung oft falsche sind, die aus der herrschenden Ideologie stammen, sind die Gründe dafür, daß er vom Standpunkt der revolutionären Kritik aus wirklich verachtungswürdig ist und verachtet wird, verdrängt und uneingestanden. Die Befürworter der falschen Kritik können diese dennoch erkennen, und sich in ihnen. Sie kehren diese wirkliche Verachtung in eine nachsichtige Bewunderung um. So betet die ohnmächtige linke Intelligenz (von den „Temps Modernes“ bis zum „Express“) das angebliche „Kommen der Studenten“ an und die wirklich untergehenden bürokratischen Organisationen (von der sog. kommunistischen Partei zur UNEF) streiten sich eifersüchtig um ihre „moralische und materielle“ Unterstützung. Wir werden die Gründe für dieses Interesse an den Studenten zeigen, und wie sie positiv an der herrschenden Wirklichkeit des überentwickelten Kapitalismus teilhaben, und wir werden diese Broschüre dazu benutzen, sie eine nach dem anderen zu entlarven: die Auflösung der Entfremdung geht keinen anderen Weg als den der Entfremdung.

Alle Analysen und Studien über das Studentenmilieu haben bisher das Wesentliche vernachlässigt. Sie gehen nie über den Standpunkt der universitären Spezialisierung hinaus (Psychologie, Soziologie, Ökonomie) und bleiben so grundsätzlich falsch. Alle begehen das, was Fourier schon eine methodische Gedankenlosigkeit nannte, „da sie sich regelmäßig auf die Kernfragen bezieht“, indem sie den totalen Standpunkt der modernen Gesellschaft ignoriert. Der Faktenfetischismus verhüllt die wesentliche Kategorie und die Details lassen die Totalität vergessen. Über diese Gesellschaft wird alles gesagt, nur nicht das was sie wirklich ist: eine Gesellschaft der Ware und des Spektakels. In ihrer Untersuchung „Die Erben – Die Studenten und die Kultur“ stehen die Soziologen Bourderon und Passedieu entwaffnet vor den wenigen partiellen Wahrheiten, die sie letzten Endes bewiesen haben. Und trotz ihres ganzen guten Willens fallen sie in die Moral der Professoren zurück, die unvermeidliche kantische Ethik einer „wirklichen Demokratisierung durch eine wirkliche Rationalisierung des Lehrsystems“, d.h.: der Lehre des Systems. Während ihre Schüler wie Kravetz1 und Konsorten zu Tausenden zu erwachen glauben, indem sie ihre kleinbürokratische Verbitterung durch den Trödel einer hinfälligen revolutionären Phraseologie ausgleichen.

Die Inszenierung der Verdinglichung zum Spektakel2 innerhalb des modernen Kapitalismus zwingt jedem eine Rolle in der generalisierten Passivität auf. Der Student entgeht diesem Gesetz nicht. Es ist eine provisorische Rolle, die ihn auf die endgültige vorbereitet, die er als positives und bewahrendes Element im Warensystem erfüllen wird. Nichts anderes als ein Einführungsritus.

Diese Einführung hat auf magische Weise zu allen Kennzeichen der mythischen Einführung zurückgefunden. Sie bleibt völlig von der historischen, individuellen und gesellschaftlichen Wirklichkeit abgeschnitten. Der Student ist ein Wesen, das zwischen einem gegenwärtigen und einem zukünftigen Status steht, die säuberlich voneinander getrennt sind, und deren Grenze mechanisch überschritten wird. Sein schizophrenes Bewußtsein erlaubt es ihm, sich innerhalb einer „Einführungsgesellschaft“ zu isolieren, seine Zukunft zu verkennen und sich am Erlebnis der mystischen Einheit zu berauschen, die ihm von einer vor der Geschichte geschützten Gegenwart angeboten wird. Der Hebel für die Umkehrung der offiziellen Wahrheit, d.h. der ökonomischen, kann so einfach entlarvt werden: es ist hart, der studentischen Realität ins Gesicht zu sehen.

Innerhalb einer „Überflußgesellschaft“ hat der Student den gegenwärtigen Status einer äußersten Armut. Obwohl mehr als 80% von ihnen aus Bevölkerungsschichten stammen, deren Einkommen das eines Arbeiters übersteigt, verfügen 90% von ihnen über weniger Mittel als der einfachste Lohnempfänger. Das studentische Elend bleibt hinter dem der Gesellschaft des Spektakels zurück, hinter dem neuen Elend des neuen Proletariats. In einer Zeit, wo ein wachsender Teil der Jugend sich immer mehr von den moralischen Vorurteilen und der familiären Autorität befreit, um so früh wie möglich in die Beziehungen einer offenen Ausbeutung einzutreten, bleibt der Student auf jeder Ebene auf einer verantwortungslosen, folgsamen und „verlängerten Unmündigkeit“. Während seine verspätete jugendliche Krise ihn etwas in Opposition zu seiner Familie bringt, so akzeptiert er ohne weiteres, in den verschiedenen Institutionen, die sein alltägliches Leben regeln, wie ein Kind behandelt zu werden3.

Die Kolonisierung der verschiedenen Sektoren der gesellschaftlichen Praxis findet nur in der Studentenwelt ihren grellsten Ausdruck. Die Übertragung des gesamten schlechten Gewissens der Gesellschaft auf die Studenten verschleiert das Elend und die Knechtschaft aller.

Aber die Gründe fuir unsere Verachtung des Studenten sind ganz anderer Art. Sie betreffen nicht nur sein wirkliches Elend, sondern seine Gefälligkeit gegenüber jedem Elend, seine ungesunde Neigung, glückselig Entfremdung in der Hoffnung zu konsumieren, angesichts allgemeiner Interessenlosigkeit das Interesse auf seinen eigenen Mangel zu lenken. Der moderne Kapitalismus bewirkt zwangsläufig, daß der größte Teil der Studenten ganz einfach zu kleinen Kadern wird (d.h. das Äquivalent für den Facharbeiter im 19. Jahrhundert)4. Gegenüber dem elenden, leicht vorauszuahnenden Charakter dieser mehr oder weniger nahen Zukunft, die ihn für das schmachvolle „Elend der Gegenwart“ entschädigen soll, zieht der Student es vor, sich seiner Gegenwart zuzuwenden, und sie mit illusorischem Prestige auszuschmücken. Die Kompensierung selbst ist allzu kläglich; der Morgen wird kein roter Morgen sein und zwangsläufig in der Mittelmäßigkeit schwimmen. Deshalb flieht er in eine unwirklich gelebte Gegenwart.

Wie ein stoischer Sklave glaubt der Student sich umso freier, je mehr alle Ketten der Autorität ihn fesseln. Genau wie seine neue Familie, die Universität, hält er sich für das gesellschaftliche Wesen mit der größten „Autonomie“, während er doch gleichzeitig und unmittelbar von den zwei mächtigsten Systemen der sozialen Autorität abhängt: der Familie und dem Staat. Er ist ihr ordentliches und dankbares Kind. Nach derselben Logik eines untergeordneten Kindes hat er an allen Werten und Mystifikationen des Systems teil und konzentriert sie in sich. Was einst den Lohnabhängigen aufgezwungene Illusionen waren, wird heute zu einer von der Masse der zukünftigen kleinen Kader verinnerlichten und getragenen Ideologie.

Während das alte soziale Elend die grandiosesten Kompensierungssysteme der Geschichte (die Religion) erzeugt hat, so hat das studentische marginale Elend seinen Trost nur in den abgenutztesten Bildern der herrschenden Gesellschaft gefunden, in der grotesken Wiederholung all ihrer entfremdeten Produkte.

Der französische Student kommt in seiner Eigenschaft als ideologisches Wesen zu allem zu spät. Alle Werte und Illusionen, auf die seine abgeschlossene Welt stolz ist, sind schon als unhaltbare und seit langem durch die Geschichte lächerlich gemachte Illusionen verurteilt.

Da für ihn noch einige Krümel vom Prestige der Universität abfallen, freut sich der Student immer noch, Student zu sein. Zu spät. Der mechanisierte und spezialisierte Unterricht, den er empfängt, ist ebenso heruntergekommen (im Verhältnis zum früheren Niveau bürgerlicher Allgemeinbildung)5 wie sein eigenes intellektuelles Niveau im Augenblick seines Studienantritts, aus der einzigen Tatsache heraus, daß das alles beherrschende ökonomische System die Massenherstellung ungebildeter und zum Denken unfähiger Studenten verlangt. Der Student ignoriert, daß die Universität zu einer – institutionalisierten – Organisation des Unwissens geworden ist, daß die „hohe Kultur“ selbst sich im selben Tempo wie die Serienproduktion von Professoren auflöst, daß alle Professoren Kretins sind, von denen die meisten sich vor jedweder Gymnasialklasse blamieren würden. Er hört seine Lehrer auch weiterhin mit Respekt, mit dem bewußten Willen, jeden kritischen Geist aufzugeben, um sich besser mit den anderen in der mystischen Illusion einig zu fühlen, „Student“ geworden zu sein, jemand, der sich ernsthaft damit beschäftigt, sich ein ernsthaftes Wesen in der Hoffnung anzueignen, man werde ihm auch die letzten Wahrheiten anvertrauen. Das sind die Wechseljahre des Geistes. Alles, was sich heute in den Amphitheatern der Schulen und Fakultäten abspielt, wird in der zukünftigen revolutionären Gesellschaft als gesellschaftlich schädlicher Lärm verurteilt. Schon jetzt bringt der Student alle zum Lachen.

Dem Studenten wird nicht einmal bewußt, daß die Geschichte auch seine lächerliche „abgeschlossene“ Welt verändert. Die berühmte „Universitätskrise“, Detail einer allgemeineren Krise des modernen Kapitalismus, bleibt Gegenstand eines tauben Dialogs zwischen verschiedenen Spezialisten. In ihr kommen ganz einfach die Schwierigkeiten einer verspäteten Anpassung dieses besonderen Produktionssektors an die Umwandlung des gesamten Produktionsapparates zum Ausdruck. Die Überreste der alten Ideologie einer liberal-bürgerlichen Universität werden in dem Augenblick nichtssagend, wo ihre gesellschaftliche Basis verschwindet. Die Universität konnte sich in der Epoche des Freihandelskapitalismus und seines liberalen Staates als autonome Macht verstehen, da er ihr eine gewisse marginale Freiheit gewährte. Sie hing in Wirklichkeit eng von den Bedürfnissen dieser Art von Gesellschaft ab: der privilegierten studierenden Minderheit eine angemessene Allgemeinbildung zu vermitteln, bevor sie sich wieder in die herrschende Klasse einreiht, die sie kaum verlassen hatte. Daher das Lächerliche an diesen nostalgischen Professoren6, die darüber verbittert sind, ihre alten Funktionen als Hofhunde der zukünftigen Herren für die viel weniger edle von Schäferhunden eingetauscht zu haben, die die „Weiße-Kragen“-Herren in ihre jeweiligen Fabriken und Büros treiben. Gerade sie setzen ihre Altertümlichkeit der Technokratisierung der Universität entgegen und fahren unbeirrt fort, mit den übriggebliebenen Brocken einer sog. Allgemeinbildung künftige Spezialisten zu füttern, die damit nichts anzufangen wissen.

Ernster und damit gefährlicher sind die Modernisten der Linken und der UNEF, die von den „Ultras“ der FGEL geführt eine „Reform der Universitätsstruktur“, eine „Reintegrierung der Universität in das Gesellschafts- und Wirtschaftsleben“ fordern, d.h. ihre Anpassung an die Bedürfnisse des modernen Kapitalismus. Die verschiedenen Fakultäten und Schulen, die noch mit anachronistischem Prestige dekoriert sind, werden von Verteilungsstätten der „Allgemeinbildung“ zum Gebrauch für die herrschenden Klassen zu Fabriken der hastigen Aufzucht von kleinen und mittleren Kadern umgewandelt. Weit davon entfernt, diesen geschichtlichen Prozess zu kritisieren, der einen der letzten relativ autonomen Sektoren des gesellschaftlichen Lebens den Forderungen des Warensystems unterwirft, protestieren unsere Fortschrittsjünger gegen Verspätungen und Stockungen auf dem Weg zu seiner Verwirklichung. Sie sind die Befürworter der zukünftigen kybernetisierten Universität, die sich schon hier und dort ankündigt7. Das Warensystem und seine modernen Diener, das ist sein Feind.

Diese ganze Debatte geht aber, wie nicht anders zu erwarten, über die Köpfe der Studenten hinweg, in den Himmel ihrer Lehrer, und entgeht ihnen völlig: die Gesamtheit ihres Lebens, und erst recht des Lebens überhaupt entgeht ihnen.

Seine äußerst ärmliche ökonomische Lage verurteilt den Studenten zu einer sehr wenig beneidenswerten Form des Überlebens. Aber immer mit sich zufrieden erhebt er sein triviales Elend zu einem originellen „Lebensstil“: kultivierte Armut und Boheme. Die „Boheme“, die bereits weit davon entfernt ist, eine originelle Lösung zu sein, wird nur nach einem endgültigen und unabänderlichen Bruch mit dem Universitätsmilieu echt gelebt werden. Ihre Anhänger unter den Studenten (und alle kokettieren damit, es ein wenig zu sein) klammern sich also lediglich an eine künstliche und heruntergekommene Version dessen, was bestenfalls nur eine mittelmäßige individuelle Lösung ist. Damit verdienen sie sogar die Verachtung von alten Damen auf dem Lande. Dreißig Jahre nach Wilhelm Reich8, diesem hervorragenden Erzieher der Jugend, haben diese „Originale“ immer noch die traditionellsten Erotik- und Liebseverhaltensweisen und reproduzieren in ihren sexuellen Beziehungen die allgemeinen Beziehungen der Klassengesellschaft. Die Fähigkeit des Studenten, einen Militanten jeden Kalibers abzugeben, sagt viel über seine Impotenz. Innerhalb des Spielraums individueller Freiheit, der durch das totalitäre Spektakel erlaubt wird, und trotz seines mehr oder weniger flexiblen Stundenplanes ignoriert der Student immer noch das Abenteuer und zieht die ihm knapp bemessene alltägliche Raumzeit vor, die für ihn von den Wächtern desselben Spektakels eingerichtet worden ist.

Ohne dazu gezwungen zu sein, trennt er von sich aus Arbeit und Freizeit, wobei er eine scheinheilige Verachtung für die „Büffler“ und diejenigen an den Tag legt, die „den Scheinen nachjagen“. Er billigt alle Trennungen und beklagt sich dann in verschiedenen religiösen, sportlichen, politischen oder gewerkschaftlichen „Zirkeln“ über die Nichtkommunikation. Er ist so dumm und so unglücklich, daß er sich sogar spontan und massenweise der parapolizeilichen Kontrolle von Psychiatern und Psychologen anvertraut, die ihm die Avantgarde der modernen Unterdrückung zur Verfügung stellt, und die folglich von seinen „Vertretern“ begrüßt wird, die diese ,,Universitätsbüros für psychologische Hilfe“ (BAPU) für eine unerläßliche und verdiente Errungenschaft halten9.

Aber das wirkliche Elend des studentischen Alltags findet seinen unmittelbaren und fantastischen Ausgleich in seinem hauptsächlichen Opium: der kulturellen Ware. Im kulturellen Spektakel findet der Student ganz natürlich seinen Platz als respektvoller Schüler wieder. Nahe am Ort der Produktion, aber ohne ihn jemals zu betreten – das Heiligtum bleibt ihm untersagt – entdeckt der Student die „moderne Kultur“ als bewundernder Zuschauer. In einer Epoche, wo die Kunst tot ist, bleibt er nahezu allein den Theatern und Filmklubs treu und der gierigste Konsument ihres Leichnams, der tiefgekühlt und in Zellophan umhüllt in den Supermärkten an die Hausfrauen des Überflusses verteilt wird. Er nimmt ohne Vorbehalt, ohne Hintergedanken und ohne Distanz daran teil. Da ist er in seinem natürlichen Element. Wären die „Häuser der Kultur“ nicht vorhanden, der Student hätte sie erfunden. Er bestätigt vollkommen die banalsten Marktanalysen amerikanischer Soziologen: ostentativer Konsum, Differenzierung in der Werbung zwischen Produkten gleicher Nichtigkeit (Perec oder Robbe-Grillet, Godard oder Lelouch).

Sobald die „Götter“, die sein kulturelles Spektakel produzieren und organisieren, auf der Bühne leibhaftig werden, ist er ihnen ein treues Publikum, wie sie es sich erträumt haben. So nimmt er massenhaft an ihren obszönsten Darstellungen teil; wer, wenn nicht er, würde die Säle füllen, wenn z.B.: die Pfaffen der verschiedenen Kirchen ihre uferlosen Dialoge öffentlich vortragen (Wochen des sog. marxistischen Denkens, Tagungen katholischer Intellektueller) oder wenn die Überreste der Literatur ihre Unfähigkeit feststellen (fünftausend Studenten bei der Veranstaltung „Was kann die Literatur?“).

Echter Leidenschaft unfähig fmdet er seine höchste Lust in leidenschaftslosen Polemiken zwischen den Stars der Nicht-lntelligenz über falsche Probleme, deren Funktion es ist, die wirklichen zu verschleiern: Althusser – Garaudy – Sartre – Barthes – Picard – Lefebvre – Levi Strauss – Halliday – Chatelet – Antoine. Humanismus – Existenzialismus – Strukturalismus – Szientismus – Neuer Kritizismus -Kybernetismus – Planetismus – Metaphilosophismus.

In seiner Beflissenheit wähnt er sich zur Avantgarde gehörig, weil er den letzten Film Godards gesehen, das letzte argumentistische10 Buch gekauft, beim letzten Happening Lapassads, dieses Arschlochs, mitgemacht hat. Dieser Ignorant hält den blassesten Ersatz alter Experimente, die in ihrer Epoche wirklich wichtig waren und für den Markt versüßt worden sind, für „revolutionäre“, durch Markenzeichen garantierte Neuheiten. Die Hauptsache ist immer, seinen kulturellen Standard zu wahren. Der Student ist wie jedermann stolz darauf, die Taschenbuchausgaben einer Reihe wichtiger und schwieriger Texte zu kaufen, die die „Massenkultur“ in beschleunigtem Rhythmus auf den Markt wirft11. Nur kann er nicht lesen. Er begnügt sich damit, sie mit den Augen zu konsumieren.

Seine bevorzugte Lektüre bleiben die Fachzeitschriften, die den wahnsinnigen Konsum an Kulturgadgets orchestrieren; willig akzeptiert er ihre Werbebefehle und macht daraus das Standardmuster seines Geschmacks. Er fmdet seine größte Freude immer noch beim Lesen von „Express“ und „Le Nouvel Observateur“ oder glaubt, „Le Monde“, deren Stil ihn bereits überfordert, sei eine wahrhaft „objektive“ Zeitung, die die Aktualität widerspiegelt. Um seine Allgemeinbildung zu vertiefen, verschlingt er „Planete“, die magische Zeitschrift, die alle Falten und Pickel der alten Gedanken abschafft. Mithilfe solcher Führer glaubt er, an der modernen Welt teilzuhaben und sich mit der Politik vertraut zu machen.

Denn der Student freut sich mehr als alle anderen, politisiert zu sein. Er ignoriert bloß, daß er hieran durch dasselbe Spektakel teilhat. So eignet er sich all die lächerlichen zerfetzten Überbleibsel einer Linken wieder an, die schon vor mehr als vierzig Jahren durch den „sozialistischen“ Reformismus und die stalinistische Konterrevolution vernichtet wurde. Während die Macht das klar und die Arbeiter es auf konfuse Weise sehen, ignoriert der Student es immer noch. Mit schwachsinnigem Stolz nimmt er an den lächerlichsten Manifestationen teil, die nur ihn reizen. Bei ihm findet man das falsche politische Bewußtsein im Reinzustand und er bildet die ideale Basis für die Manipulationen der gespensterhaften Bürokraten der sterbenden Organisationen (von der sog. KP bis zur UNEF). Diese programmieren totalitär seine politische Linie; jede Abweichung oder Anwandlung von „Unabhängigkeit“ fügt sich nach einer Parodie des Widerstands wieder in eine Ordnung ein, die niemals einen Augenblick lang in Frage gestellt wurde12. Wenn er glaubt, sich darüber hinwegzusetzen, wie diese Leute, die sich durch eine wirkliche Krankheit der werbungsartigen Umkehrung, JCR (Jeunesse Communiste Revolutionnaire, Revolutionäre Kommunistische Jugend) nennen, während sie weder jung, kommunistisch noch revolutionär sind, dann nur, um sich freudig an die päpstliche Parole anzuschließen: „Friede in Vietnam“.

Der Student ist stolz darauf, sich den „Archaismen“ eines De Gaulle zu widersetzen, versteht aber nicht, daß er es im Namen vergangener Irrtümer tut, erkalteter Verbrechen (wie z.B. der Stalinismus in der Zeit von Togliatti – Garaudy – Chruschtschow – Mao), und daß damit seine Jugend noch viel archaischer ist als die Macht, die effektiv über alles verfügt, was nötig ist, um eine moderne Gesellschaft zu verwalten.

Aber beim Studenten kommt es auf einen Archaismus mehr oder weniger nicht an. So glaubt er, daß er allgemeine Ideen über alles haben muß, geschlossene Weltanschauungen, die seinem Bedarf an Unruhe und asexueller Promiskuität einen Sinn geben. Hintergangen durch die letzten Fieberanfälle der Kirche stürzt er sich deshalb auf das Gerümpel der Gerümpel, um den verwesten Kadaver Gottes anzubeten und sich an die zerfallenen Überbleibsel der vorgeschichtlichen Religion zu klammem, die er seiner und seiner Zeit würdig glaubt. Man wagt kaum zu betonen, daß das studentische Milieu zusammen mit dem der alten Landweiber, der Sektor mit dem größten Prozentsatz an praktizierter Religion und immer noch das beste „Missionsgebiet“ ist (während in allen anderen die Pfaffen entweder aufgefressen oder verjagt worden sind), wo Studentenpriester unverhohlen tausende von Studenten in ihrem geistlichen Scheißhaus weiter sodomisieren.

Sicherlich gibt es trotz allem unter den Studenten einige von genügendem intellektuellem Niveau. Diese meistern ohne Mühe die elenden Leistungskontrollen, die auf die Mittelmäßigen zugeschnitten sind und sie meistem sie gerade deswegen, weil sie das System durchschaut haben, es verachten und wissen, daß sie seine Feinde sind. Sie nehmen sich das Beste, was das Studiensystem zu bieten hat: die Stipendien. Indem sie die Lücken der Kontrolle ausnutzen, deren eigene Logik sie hier und heute dazu zwingt, einen kleinen rein intellektuellen Bereich der „Forschung“ aufrechtzuerhalten, treiben sie ruhig die Unruhe bis auf die Spitze: ihre offene Verachtung für das System paart sich mit der Hellsichtigkeit, die es ihnen gerade ermöglicht, stärker als die Diener des Systems zu sein – und zwar zuerst auf intellektuellem Gebiet. Diejenigen, von denen wir sprechen, gehören bereits zu den Theoretikern der kommenden revolutionären Bewegung und sind sich dessen bewußt, daß sie mit ihr zugleich an die Öffentlichkeit treten werden. Sie verheimlichen niemandem, daß sie das, was sie so leicht dem „Studiensystem“ entnehmen, zu dessen Zerstörung benutzen. Denn der Student kann gegen nichts rebellieren, ohne gegen seine Studien zu rebellieren und er spürt die Notwendigkeit dieser Rebellion weniger natürlich als der Arbeiter, der spontan gegen seine Lage rebelliert. Aber der Student ist ein Produkt der modernen Gesellschaft, genau wie Godard und Coca-Cola. Seine extreme Entfremdung kann nur durch die Kritik der ganzen Gesellschaft kritisiert werden. Keinesfalls kann diese Kritik auf dem studentischen Gebiet vollzogen werden: der Student als solcher maßt sich einen Pseudowert an, der ihm verbietet, sich seiner wirklichen Enteignung bewußt zu werden und er bleibt damit auf dem Gipfel des falschen Bewußtseins. Aber überall dort, wo die moderne Gesellschaft kritisiert zu werden beginnt, bricht eine Revolte der Jugend los, die unmittelbar einer totalen Kritik des studentischen Verhaltens entspricht.

Es genügt nicht, daß der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muß sich selbst zum Gedanken drängen.

Nach einer langen Periode lethargischen Schlafs und permanenter Konterrevolution zeichnet sich seit einigen Jahren eine neue Periode der Kritik ab, deren Träger die Jugend zu sein scheint. Doch die Gesellschaft des Spektakels zwingt durch die Vorstellung, die sie von sich selbst und von ihren Feinden hat, ihre ideologischen Kategorien zum Verständnis der Welt und der Geschichte auf. Sie führt alles, was dort geschieht, auf den natürlichen Lauf der Dinge zurück, und schließt alles wirklich neue, das ihre Aufhebung ankündigt, in dem beschränkten Rahmen ihrer illusorischen Neuheiten ein. Die Revolte der Jugend gegen die Lebensweise, die ihr aufgezwungen wird, ist in Wirklichkeit nur das Vorzeichen einer umfassenderen Subversion, bei der alle mitwirken werden, die immer mehr die Unmöglichkeit zum Leben fühlen, das Vorspiel der nächsten revolutionären Epoche. Allein die herrschende Ideologie und ihre täglichen Organe können nur nach erprobten Mechanismen der Umkehrung der Wirklichkeit diese wirkliche historische Bewegung auf eine sozio-natürliche Pseudo-Kategorie reduzieren: die Idee der Jugend (in deren Wesen die Rebellion liegen sollte). So führt man eine neue Jugend der Revolte auf die ewige Revolte der Jugend zurück, die in jeder Generation aufs neue hervorbricht, um sich dann zu verflüchtigen, wenn „der junge Mensch durch den Ernst der Produktion und die auf wirkliche und konkrete Ziele gerichtete Tätigkeit erfaßt wird“. Die „Revolte der Jugend“ war und ist immer noch Gegenstand einer regelrechten journalistischen Inflation, die sie zum Spektakel einer möglichen zur Betrachtung dargebotenen „Revolte“ macht, um zu verhindern, daß sie gelebt wird, die abweichende – und schon integrierte – Sphäre, die zum Funktionieren des gesellschaftlichen Systems notwendig ist. Diese Revolte gegen die Gesellschaft beruhigt die Gesellschaft, da sie nach ihrer Meinung partiell bleibt, innerhalb der Apartheid der „Probleme“ der Jugend – so wie es Probleme der Frau oder der Schwarzen geben soll – und nur einen Teil des Lebens dauern wird. In Wirklichkeit gibt es ein Problem der „Jugend“ in der modernen Gesellschaft, weil die tiefe Krise dieser Gesellschaft am schärfsten von der Jugend gespürt wird13. Die Jugend ist als typisches Produkt der modernen Gesellschaft selbst modern, wenn sie sich bedenkenlos integriert oder sie radikal ablehnt. Das wirklich Erstaunliche ist nicht so sehr die Revolte der Jugend, als die Resignation der „Erwachsenen“. Dafür gibt es keine mythologische, sondern eine historische Erklärung: die vorige Generation hat alle Niederlagen kennengelernt und alle Lügen kompensiert, die die Periode des schmachvollen Zerfalls der revolutionären Bewegung begleitet haben.

Für sich genommen ist die „Jugend“ ein Werbemythos, der bereits mit der kapitalistischen Produktionsweise als Ausdruck ihrer Dynamik tief verbunden ist. Dieser illusorische Vorrang der Jugend wurde mit dem Wiederaufschwung der Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg möglich, als eine ganze Schicht von beeinflußbareren Konsumenten den Markt überschwemmte, eine Rolle, die ein Integrierungspatent für die Gesellschaft des Spektakels garantiert. Aber die herrschende Erklärung der Welt findet sich von neuem im Widerspruch mit der sozio-ökonomischen Wirklichkeit (denn sie hat ihr gegenüber Verspätung) und gerade die Jugend behauptet als erste eine unwiderstehliche Lebensgier, und lehnt sich spontan gegen die alltägliche Langeweile und die tote Zeit auf, die die alte Welt weiterhin durch ihre verschiedenen Modernisierungen absondert. Der rebellierende Teil der Jugend drückt die reine Verweigerung ohne das Bewußtsein einer Perspektive der Aufhebung aus, ihre nihilistische Verweigerung. Diese Perspektive wird überall auf der Welt gesucht und gebildet. Sie muß zur Kohärenz der theoretischen Kritik und zur praktischen Organisation dieser Kohärenz gelangen.

Auf der elementarsten Ebene drücken in allen Ländern die „Rocker14“ mit der größten offensichtlichen Gewalt die Verweigerung ihrer Integration aus. Aber der abstrakte Charakter ihrer Verweigerung läßt ihnen keine Chance, den Widersprüchen eines Systems zu entkommen, dessen spontanes negatives Produkt sie sind. Die „Rocker“ werden durch alle gegenwärtigen Aspekte der gegenwärtigen Ordnung erzeugt: den Urbanismus der Trabantensiedlungen, die Auflösung der Werte, die Ausdehnung der immer länger werdenden Konsumfreizeit, die das gesamte tägliche Leben immer weiter umfassende humanistisch-polizeiliche Kontrolle, das ökonomische Fortleben der jeder Bedeutung beraubten Familienzelle. Sie verachten zwar die Arbeit, aber sie akzeptieren die Waren. Sie möchten sofort alles haben, was die Werbung ihnen zeigt, und ohne es bezahlen zu können. Dieser Grundwiderspruch beherrscht ihre ganze Existenz und bildet den Rahmen, in dem ihr Behauptungsversuch zur Suche nach einem wirklich freien Gebrauch der Zeit, die individuelle Behauptung sowie die Bildung einer Art Gemeinschaft eingeschlossen werden. (Allein, solche Mikrogemeinschaften stellen am Rand der entwickelten Gesellschaft einen Primitivismus wieder her, in dem das Elend zwangsläufig die Hierarchie innerhalb der Bande wieder erzeugt. Diese Hierarchie kann sich nur im Kampf gegen andere Banden behaupten und isoliert jede Bande und in jeder Bande das Individuum). Um diesen Widerspruch zu verlassen, muß der „Rocker“ schließlich arbeiten, um Waren zu kaufen – und dann steht ein Produktionssektor eigens für seine Rekuperierung als Konsument bereit (Motorräder, elektrische Gitarren, Kleidung, Schallplatten usw.) – oder er muß die Warengesetze angreifen, entweder auf primäre Weise, indem er die Waren stiehlt, oder auf bewußte Weise, indem er sich zur revolutionären Kritik der Warenwelt entwickelt. Der Konsum besänftigt die Sitten dieser jungen Rebellen und ihre Revolte fällt in den schlimmsten Konformismus zurück. Aus der Welt der Rocker gibt es nur zwei Ausgangsmöglichkeiten: das revolutionäre Bewußtsein oder der blinde Gehorsam in den Fabriken.

Die Provos15 stellen die erste Form der Aufhebung des „Rocker“-Experiments dar, die Organisation ihres ersten politischen Ausdrucks: Sie sind aus dem Zusammenkommen einiger Überreste der aufgelösten Kunst auf der Suche nach Erfolg und einer Masse junger Rebellen auf der Suche nach Selbstbehauptung entstanden. Durch ihre Organisation sind die einen und die anderen weitergekommen und zu einer neuen Art von Kritik gelangt. Die „Künstler“ haben einige Tendenzen zum Spiel mitgebracht, die immer noch sehr mystifiziert und mit ideologischem Ballast beladen waren; die jungen Rebellen hatten ihrerseits nur die Gewalt ihrer Revolte. Von Anfang an blieben beide Tendenzen in der Organisation getrennt; die Masse ohne Theorie geriet gleich unter die Vormundschaft einer kleinen Schicht verdächtiger Führer, die versuchten, ihre „Macht“ durch Absonderung einer provotarischen Ideologie aufrechtzuerhalten. Statt daß die Gewalt der „Rocker“ bei einem Versuch zur Aufhebung der Kunst auf die Ebene der Ideen übertragen wird, gewann der neokünstlerische Reformismus die Oberhand. Die Provos sind der Ausdruck des letzten vom modernen Kapitalismus erzeugten Reformismus: des Reformismus des alltäglichen Lebens. Während nicht weniger als eine ununterbrochene Revolution nötig ist, um das Leben zu verändern, glaubte die Provo-Hierarchie – wie Bernstein den Kapitalismus durch Reformen in den Sozialismus zu überführen meinte – einige Verbesserungen würden genügen, um das alltägliche Leben zu verändern. Indem die Provos das Fragmentarische wählen, akzeptieren sie schließlich die Totalität. Um sich eine Basis zu geben, haben ihre Führer die lächerliche Ideologie des Provotariats erfunden (einen Salat aus Kunst und Politik, naiv gemischt aus den vermoderten Resten einer Fete, die sie nicht gekannt haben), die nach ihrer Meinung dazu bestimmt ist, der angeblichen Passivität und Verbürgerlichung des Proletariats, dieser allgemeinen Binsenweisheit aller Kretins des Jahrhunderts, entgegenzuwirken. Da sie daran verzweifeln, die Totalität umzuwandeln, verzweifeln sie an den einzigen Kräften, die die Hoffnung auf eine mögliche Aufhebung tragen. Das Proletariat ist der Motor der kapitalistischen Gesellschaft und deshalb ihre Lebensgefahr: es wird alles getan, um es zu unterdrücken (Parteien, Gewerkschaftsbürokratien, häufigere Polizeieinsätze als gegen die Provos, Kolonisierung seines gesamten Lebens), denn es ist die einzige wirklich bedrohende Kraft. Die Provos haben davon nichts verstanden; sie bleiben also unfähig, das Produktionssystem zu kritisieren und folglich Gefangene des gesamten Systems. Als ihre Basis sich bei einem Arbeiteraufstand gegen die Gewerkschaften der direkten Gewalt angeschlossen hatte, wurden die Führer durch die Bewegung völlig überrannt und in ihrer Bestürzung wußten sie nichts besseres, als die „Exzesse“ zu denunzieren und an den Pazifismus zu appellieren; damit gaben sie auf jämmerliche Weise ihr Programm auf: die Autoritäten zu provozieren, um ihren repressiven Charakter zu zeigen (und sie haben laut proklamiert, die Polizei habe provoziert). Und als Höhepunkt haben sie die jungen Aufrührer über Radio dazu aufgefordert, sich von den Provos belehren zu lassen, d.h. von ihren Führern, die hinreichend gezeigt hatten, daß ihr vager „Anarchismus“ nur eine zusätzliche Lüge war. Die rebellierende Provo-Basis kann erst dann zur revolutionären Kritik gelangen, wenn sie damit anfängt, sich gegen ihre Chefs aufzulehnen, d.h. sich an die objektiven revolutionären Kräfte des Proletariats anschließt, und sich des königlich-niederländischen Hofkünstles Constant oder des mißglückten Parlamentariers und Bewunderers der englischen Polizei De Vries entledigt. Nur so können sich die Provos an die authentische moderne Kritik anschließen, die schon eine wirkliche Basis bei ihnen hat. Wenn sie die Welt wirklich verändern wollen, brauchen sie diejenigen nicht, die sich damit begnügen, sie weiß anzustreichen.

Die amerikanischen Studenten haben mit ihrer Revolte gegen ihre Studien unmittelbar eine Gesellschaft in Frage gestellt, die solche Studien braucht. Genauso wie ihre Revolte (in Berkeley und anderswo) gegen die Universitätshierarchie sich von Anfang an als eine Revolte behauptet hat, die gegen das ganze, auf der Hierarchie und der Diktatur der Ökonomie und des Staates basierende gesellschaftliche System gerichtet war. Indem sie sich weigern, in die Unternehmen integriert zu werden, für die sie ganz natürlich ihre spezialisierten Studien prädestiniert haben, stellen sie ein Produktionssystem tiefgreifend in Frage, in dem alle Tätigkeiten und ihr Produkt dem Produzenten völlig entgehen. So gelangt die rebellierende amerikanische Jugend durch tastende Versuche und eine immer noch sehr große Konfusion dahin, innerhalb der „Überflußgesellschaft“ nach einer kohärenten revolutionären Alternative zu suchen. Noch hält sie sich bei zwei relativ zufälligen Aspekten der amerikanischen Krise auf: den Schwarzen und Vietnam; und die kleinen Organisationen der „Neuen Linken“ haben darunter schwer zu leiden. Wenn auch in ihrer Form eine authentische Forderung nach Demokratie spürbar ist, so läßt sie doch die Schwäche ihres subversiven Inhalts in gefährliche Widersprüche zurückfallen. Ihre Feindseligkeit gegenüber der traditionellen Politik der alten Organisationen wird leicht durch Unkenntnis der politischen Welt absorbiert, die in einem großen Informationsmangel und Illusionen über das, was tatsächlich in der Welt passiert, ihren Ausdruck findet. Die abstrakte Feindseligkeit gegenüber ihrer Gesellschaft führt sie dazu, ihre eigenen offensichtlichsten Feinde – die sog. sozialistischen Bürokratien, China oder Kuba – zu bewundern und zu unterstützen. So findet man in einer Gruppe wie „RYM“ das Todesurteil für den Staat und das Lob der „Kulturrevolution“, die von der gigantischsten Bürokratie der Neuzeit, Maos China, geführt wird. Ihre halblibertäre und führungslose Organisation läuft jeden Augenblick Gefahr, in die Ideologie der „Gruppendynamik“ oder die abgeschlossene Welt einer Sekte zurückzufallen. Der Massenkonsum von Drogen ist Ausdruck für ein wirkliches Elend und einen Protest gegen dieses wirkliche Elend: er ist die trügerische Suche nach Freiheit in einer Welt ohne Freiheit, die religiöse Kritik einer Welt, die selbst über die Religion hinausgegangen ist. Nicht zufällig findet man die Drogen vor allem bei den beatniks (diesem rechten Flügel der rebellierenden Jugend), als Herd der ideologischen Verweigerung und der Aufnahme des fantastischen Aberglaubens (Zen, Spiritismus, Mystizismus der „New Church“ und sonstige verfaulte Waren wie Ghandiismus oder Humanismus …). Auf der Suche nach einem revolutionären Programm verfallen die amerikanischen Studenten in denselben Irrtum wie die Provos und proklamieren sich als „die am meisten ausgebeutete Klasse der Gesellschaft“; sie müssen von jetzt an begreifen, daß ihre Interessen mit den Interessen aller identisch sind, die der generalisierten Unterdrückung und der Warensklaverei unterworfen sind.

Aber auch im Osten beginnt der bürokratische Totalitarismus mit der Erzeugung seiner negativen Kräfte. Dort ist die Revolte der Jugendlichen besonders heftig und sie wird nur durch die Denunziation der verschiedenen Organe des Apparats bekannt oder durch polizeiliche Maßnahmen, die dieser ergreift, um sie in Schach zu halten. So erfahren wir, daß ein Teil der Jugend die Ordnung von Moral und Familie (so wie sie dort in ihrer spießigsten und hassenswertesten Form existiert) nicht mehr „respektiert“, „ausschweifend“ lebt, die Arbeit verachtet und sich nicht länger der Parteipolizei fügt. In der UdSSR hat man einen speziellen Minister für die Bekämpfung des Hooliganismus ernannt. Aber parallel zu dieser diffusen Revolte versucht eine reflektierte Kritik sich zu behaupten und kleine untergründige Gruppen oder Zeitschriften erscheinen und verschwinden im Rhythmus der polizeilichen Repression. Das bedeutendste Ereignis war die Veröffentlichung des „Offenen Briefes an die polnische Arbeiterpartei16“ der jungen Polen Kuron und Modzelewski. In diesem Text fordern sie ausdrücklich „die Abschaffung der Produktionsverhältnisse und der gegenwärtigen gesellschaftlichen Beziehungen“ und sehen ein, daß zu diesem Zweck „die Revolution unvermeidlich ist“. Die Intelligenz der Ostblockländer bemüht sich gegenwärtig darum, die Gründe dieser Kritik bewußt zu machen und klar zu formulieren, die proletarische Kritik an der bürokratischen Klassenmacht, die von den Arbeitern in Ost-Berlin, Warschau und Budapest konkretisiert worden ist. Diese Kritik leidet schwer unter dem Nachteil, sofort die wirklichen Probleme und ihre Lösungen offenzulegen. Während in den anderen Ländern die Bewegung möglich ist, aber das Ziel mystifiziert bleibt, ist in den östlichen Bürokratien die Kritik frei von Illusionen und ihre Ziele sind bekannt. Sie muß die Formen ihrer Verwirklichung erfinden und sich den Weg dorthin bahnen.

In England hat die Revolte der Jugend ihren ersten organisierten Ausdruck in der Anti-Atom-Kampagne gefunden. Dieser partielle Kampf – den das „Komitee der 100“ mit seinem vagen Programm und immerhin 300 000 Demonstranten aufnahm – verwirklichte seine schönste Geste im Frühling 1963 im RSG 6-Skandal17. Er konnte aus Mangel an Perspektive nur zurückfallen und wurde von den Überresten der traditionellen Politik und den pazifistischen Schöngeistern rekuperiert. Die für England charakteristische archaische Form der Kontrolle über das alltägliche Leben konnte dem Ansturm der modernen Welt nicht widerstehen und die beschleunigte Auflösung jahrhundertealter Werte löst grundlegend revolutionäre Tendenzen in der Kritik aller Aspekte der Lebensweise aus18. Die Forderungen dieser Jugend müssen sich an den Widerstand einer Arbeiterklasse anschließen, die mit ihren shopstewards und wilden Streiks zu den kampflustigsten der Welt gehört; nur in einer gemeinsamen Perspektive kann ihr Kampf erfolgreich sein. Durch den Zusammenbruch der Sozialdemokratie an der Macht wird dieser Begegnung nur eine zusätzliche Chance gegeben. Eine solche Begegnung wird zu einer Explosion führen, die viel schreckenerregender sein wird als alles, was man in Amsterdam schon gesehen hat. Ihr gegenüber wird der provotarische Aufstand nur ein Kinderspiel gewesen sein. Nur daraus kann eine echte revolutionäre Bewegung entstehen, in der die praktischen Bedürfnisse ihre Antwort finden werden.

Das einzige industriell entwickelte Land, in dem sich eine Fusion von studentischer Jugend und Avantgarde der Arbeiter bereits vollzogen hat, ist Japan.

Zengakuren“, die berühmte Organisation der revolutionären Studenten und die „Liga junger marxistischer Arbeiter“ sind die beiden wichtigen Organisationen, die sich auf der gemeinsamen Perspektive der „Revolutionär kommunistischen Liga“ gebildet haben. Diese Gruppen haben bereits das Problem der revolutionären Organisation in Angriff genommen. Ohne Illusionen bekämpfen sie gleichzeitig den Kapitalismus des Westens und die Bürokratie der sog. sozialistischen Länder. Auf der Basis demokratischer und anti-hierarchischer Teilnahme aller Mitglieder an allen Aktivitäten haben sie bereits einige tausend Studenten und Arbeiter versammelt. So führen die japanischen Revolutionäre als erste auf der Welt schon groß angelegte Kampagnen mit weit entwickeltem Programm und breiter Massenbeteiligung. Ständig gehen Tausende von Arbeitern und Studenten auf die Straße und stoßen heftig mit der japanischen Polizei zusammen. Aber obwohl die RKL die beiden Systeme stark bekämpft, analysiert sie diese weder vollständig noch konkret. Sie bemüht sich noch um eine präzise Definition der bürokratischen Ausbeutung, so wie es ihr auch noch nicht gelungen ist, die Merkmale des modernen Kapitalismus, die Kritik des alltäglichen Lebens und des Spektakels ausdrücklich zu formulieren. Dennoch bleibt die RKL grundsätzlich eine politische Organisation der Avantgarde und Erbin der besten klassischen proletarischen Organisationsform. Gegenwärtig ist sie die wichtigste revolutionäre Gruppierung und von nun an muß sie einer der Diskussions- und Kristallisationspole für die neue revolutionäre proletarische Kritik auf der Welt sein.

Endlich die Situation schaffen, die jede Rückkehr unmöglich macht.

„Avantgarde sein heißt, mit der Wirklichkeit Schritt halten“19. Die radikale Kritik an der modernen Welt muß jetzt die Totalität zum Gegenstand und zum Ziel haben. Sie muß untrennbar ihre wirkliche Vergangenheit, das, was sie wirklich ist und die Perspektiven ihrer Veränderung betreffen. Um die ganze Wahrheit der gegenwärtigen Welt sagen und mehr noch das Projekt ihrer totalen Subversion formulieren zu können, muß man imstande sein, ihre ganze verborgene Geschichte zu enthüllen, d.h. völlig entmystifiziert und grundsätzlich kritisch die Geschichte der gesamten internationalen revolutionären Bewegung mit ihren Niederlagen und Siegen zu betrachten, die das Proletariat der westlichen Länder vor mehr als einem Jahrhundert ausgelöst hat. „Diese Bewegung gegen die gesamte Organisation der alten Welt ist längst zu Ende“20 und gescheitert. Mit der Niederlage der proletarischen Revolution in Spanien (Barcelona im Mai 1937) ist sie zum letztenmal geschichtlich in Erscheinung getreten. Ihre offiziellen „Niederlagen“ oder „Siege“ müssen jedoch im Licht ihrer Verlängerungen beurteilt und ihre Wahrheit wiederhergestellt werden. So können wir behaupten, daß „es Niederlagen gibt, die Siege sind und Siege, die beschämender sind als Niederlagen“ (Karl Liebknecht am Vortage seiner Ermordung). Die erste große „Niederlage“ der proletarischen Macht, die Pariser Kommune, stellt in Wirklichkeit ihren ersten großen Sieg dar, denn zum ersten Mal hat das „primitive“ Proletariat seine geschichtliche Fähigkeit behauptet, frei alle Aspekte des öffentlichen Lebens zu gestalten. Entsprechend war ihr erster großer „Sieg“, die bolschewistische Revolution, letzten Endes nur ihre folgenschwerste Niederlage. Der Triumph der bolschewistischen Ordnung fällt mit der Bewegung der internationalen Konterrevolution zusammen, die mit der Zerschlagung der Spartakisten durch die deutsche „Sozialdemokratie“ ihren Anfang nahm. Ihr gemeinsamer Triumph war tiefer als ihr scheinbarer Gegensatz und diese bolschewistische Ordnung stellte schließlich nur eine neue Verkleidung und eine besondere Gestalt der alten Ordnung dar. Die Ergebnisse der russischen Konterrevolution waren im Innern die Einführung und Entwicklung einer neuen Ausbeutungsweise, des bürokratischen Staatskapitalismus, und im Äußeren die Vervielfachung der Sektionen der sog. Kommunistischen Internationale als Zweigstellen für die Verteidigung und Ausweitung seines Modells. Damit blühte der Kapitalismus in seinen bürokratischen und bürgerlichen Varianten von neuem auf den Gräbern der Kronstädter Matrosen und der ukrainischen Bauern, der Arbeiter aus Berlin, Kiel, Turin, Shanghai und später Barcelona.

Die Bolschewiken hatten die III. Internationale offenbar mit dem Ziel gegründet, die Überreste der reformistischen Sozialdemokratie der II. Internationale zu bekämpfen und die proletarische Avantgarde innerhalb der „revolutionären kommunistischen Parteien“ zu sammeln. Aber sie war mit ihren Gründern und deren Interessen zu sehr verbunden, um die wirkliche sozialistische Revolution, wo es auch sein mochte, verwirklichen zu können. Tatsächlich war die II. Internationale die Wahrheit der III. Sehr bald drängte sich das russische Modell der Arbeiterorganisationen im Westen auf und sie entwickelten sich in ein und dieselbe Richtung. Der totalitären Diktatur der Bürokratie als neuer herrschender Klasse über das russische Proletariat entsprach innerhalb dieser Organisationen die Herrschaft einer Schicht von politischen und gewerkschaftlichen Bürokraten über die breite Arbeitermasse, deren Interessen eindeutig mit den ihren in Widerspruch stehen. Das stalinistische Ungeheuer geisterte im Bewußtsein der Arbeiter umher, während der Kapitalismus auf dem Weg zur Bürokratisierung und Überentwicklung seine inneren Krisen bewältigte und sich stolz dieses angeblich dauerhaften Siegs rühmte. Eine und dieselbe Gesellschaftsform, nur zum Schein widerstreitend und verschiedenartig, bemächtigt sich der Welt und die Prinzipien der alten Welt herrschen auch weiterhin über die moderne Welt. Die Toten lasten immer noch wie ein Alp auf dem Gehirn der Lebenden.

Innerhalb dieser Welt bekämpfen angeblich revolutionäre Organisationen sie auf ihrem eigenen Gebiet nur scheinbar und durch die größten Mystifikationen. Alle berufen sich auf mehr oder weniger versteinerte Ideologien und nehmen letzten Endes nur an der Konsolidierung der herrschenden Ordnung teil. Aus den von der Arbeiterklasse als Mittel zu ihrer eigenen Emanzipation geschmiedeten Gewerkschaften und politischen Parteien sind bloße Regulierungsorgane des Systems geworden, Privateigentum von Führern, die für ihre besondere Emanzipation arbeiten und ihren Status in der Führungsschicht einer Gesellschaft finden, die sie niemals in Frage zu stellen gedenken. Das tatsächliche Programm dieser Gewerkschaften und Parteien übernimmt nur auf platte Weise die „revolutionäre“ Phraseologie und wendet praktisch die Parolen des versüßten Reformismus an, da der Kapitalismus selbst offiziell reformistisch wird. Da, wo sie die Macht ergreifen konnten, – in Ländern, die rückständiger waren als Rußland – geschah dies nur, um das stalinistische Modell des konterrevolutionären Totalitarismus zu reproduzieren21. Anderswo sind sie die statische und notwendige Ergänzung22 zur Selbstregulierung des bürokratisierten Kapitalismus, der zur Aufrechterhaltung seines polizeilichen Humanismus unerläßliche Widerspruch. Andererseits bleiben sie gegenüber den Arbeitermassen die zuverlässigen Garanten und bedingungslosen Verteidiger der bürokratischen Konterrevolution, die fügsamen Werkzeuge ihrer Außenpolitik. In einer von Grund auf verlogenen Welt sind sie die Träger der gründlichsten Lüge und arbeiten an der Verewigung der weltweiten Diktatur von Ökonomie und Staat. Wie die Situationisten behaupten, „wird ein weltweit herrschendes, zur totalitären Selbstregulierung hin tendierendes Gesellschaftsmodell durch falsche Kritiken nur scheinbar bekämpft, die ständig auf seinem eigenen Gebiet getätigt werden – sie sind Illusionen, die dieses Modell im Gegenteil verstärken. Der bürokratische Pseudosozialismus ist nur die großangelegte Verkleidung der alten hierarchischen Welt der entfremdeten Arbeit23.“ Die Idee einer Studentengewerkschaft ist hierbei nur die Karikatur einer Karikatur, die groteske und unnütze Wiederholung eines entarteten Syndikalismus.

Die theoretische und praktische Abrechnung mit dem Stalinismus in allen seinen Formen muß die Basisbanalität aller zukünftigen revolutionären Organisationen sein. Es ist klar, daß z.B. in Frankreich, wo die ökonomische Verspätung das Bewußtsein von der Krise noch mehr verzögert, die revolutionäre Bewegung nur auf den Trümmern des vernichteten Stalinismus wieder entstehen kann. Die Zerstörung des Stalinismus muß zur delenda est Carthago (lat. Karthago muß zerstört werden; Formel für: unabdingbare Notwendigkeit.) der letzten Revolution der Vorgeschichte werden.

Diese muß selbst endgültig mit ihrer eigenen Vorgeschichte brechen und ihre ganze Poesie aus der Zukunft schöpfen. Die „wiederauferstandenen Bolschewisten“, welche die Posse der „Militanz24“ in den verschiedenen linksradikalen Grüppchen spielen, sind Relikte der Vergangenheit, und kündigen keineswegs die Zukunft an. Als Strandgut des großen Schiffsbruchs der „verratenen Revolution“ stellen sie sich selbst als die treuen Anhänger der bolschewistischen Orthodoxie vor: Die Verteidigung der Sowjetunion ist ihre unerschütterliche Treue und ihr skandalöser Verzicht.

Nur noch in den berühmten unterentwickelten Ländern können sie Illusionen über sich aufrechterhalten25, wodurch sie selbst deren theoretische Unterentwicklung bestätigen. Von „Partisans“ (dem Organ der stalino-trotzkistischen Versöhnung) bis zu allen Tendenzen oder Halbtendenzen, die sich innerhalb und außerhalb der IV. Internationale um „Trotzki“ streiten, herrscht dieselbe revolutionaristische Ideologie und dieselbe praktische Unfähigkeit, die Probleme der modernen Welt zu begreifen. 40 Jahre konterrevolutionäre Geschichte trennen sie von der Revolution. Sie haben Unrecht, denn sie sind nicht mehr im Jahr 1920, und schon 1920 hatten sie Unrecht. Die Auflösung der „ultra-linken“ Gruppe „Socialisme ou Barbarie“ nach ihrer Spaltung in zwei Fraktionen – des „modernistischen Cardan26-“ und des „alt-marxistischen“ (Pouvoir Ouvrier-) Flügels – beweist, falls es noch notwendig ist, daß es keine Revolution außerhalb des Modernen und kein modernes Denken außerhalb der neu zu erfindenden revolutionären Kritik gibt27. Sie ist insoweit bedeutungsvoll, als jede Trennung zwischen diesen beiden Aspekten unvermeidlich entweder ins Museum der beendeten revolutionären Vorgeschichte zurückfällt oder in die Modernität der Macht, d.h. in die herrschende Konterrevolution: „Voix Ouvriere“ oder „Arguments“.

Was die verschiedenen „anarchistischen“ Grüppchen betrifft, die in dieser Benennung zusammen gefangen bleiben, besitzen sie nichts anderes als diese auf ein blosses Etikett reduzierte Ideologie. Die unglaubliche „Monde Libertaire“, offensichtlich von Studenten verfaßt, erreicht den fantastischsten Grad an Konfusion und Dummheit. Diese Leute dulden tatsächlich alles, da sie sich untereinander dulden.

Die herrschende Gesellschaft, die sich ihrer permanenten Modernisierung rühmt, muß jetzt ein Gegenüber finden, d.h. die modernisierte Negation, die sie selbst erzeugt28. „Lassen wir die Toten ihre Toten begraben und sie beweinen“. Die praktische Entmystifizierung befreit das revolutionäre Bewußtsein von den Gespenstern, die in ihm herumgeisterten; die Revolution des alltäglichen Lebens findet sich den riesigen Aufgaben gegenüber, die sie erfüllen muß. Die Revolution muß zusammen mit dem Leben, das sie ankündigt, neu erfunden werden. Wenn das revolutionäre Projekt, nämlich die Abschaffung der Klassengesellschaft, grundsätzlich gleich geblieben ist, so liegt das daran, daß die Bedingungen, unter denen es sich formt, nirgends radikal verändert worden sind. Es geht darum, dieses Projekt mit einem Radikalismus und einer Kohärenz wieder aufzunehmen, die durch die Erfahrung des Bankrotts seiner alten Träger verstärkt werden, um zu vermeiden, daß seine fragmentarische Verwirklichung eine neue Teilung der Gesellschaft mit sich bringt.

Da es in dem Kampf zwischen der Macht und dem neuen Proletariat nur um die Totalität gehen kann, muß die zukünftige revolutionäre Bewegung in sich selbst alles abschaffen, was die entfremdeten Produkte des Warensystems29 zu reproduzieren droht. Sie muß zugleich die lebendige Kritik und die Negation sein, die in sich alle Elemente der möglichen Aufhebung trägt. Wie Lukacs30 richtig gesehen hat (der es aber auf ein unwürdiges Objekt anwandte: die bolschewistische Partei), ist die revolutionäre Organisation die notwendige Vermittlung zwischen Theorie und Praxis, Mensch und Geschichte, Arbeitermasse und Proletariat als Klasse konstituiert. Die „theoretischen“ Tendenzen und Divergenzen müssen sofort in die Frage der Organisation umgewandelt werden, wenn sie den Weg ihrer Verwirklichung aufzeigen wollen. Die Frage der Organisation wird das jüngste Gericht der neuen revolutionären Bewegung sein, das Gericht, vor dem die Kohärenz ihres wesentlichen Projekts beurteilt wird: die internationale Verwirklichung der absoluten Macht der Arbeiterräte, wie sie sich in den proletarischen Revolutionen dieses Jahrhunderts als Erfahrung abzeichnete. Eine solche Organisation muß die radikale Kritik all dessen in den Vordergrund stellen, worauf sich die Gesellschaft gründet, die sie bekämpft; und zwar die Warenproduktion, die Ideologie in allen Verkleidungen, den Staat und die von ihm erzwungenen Trennungen.

Die Trennung zwischen Theorie und Praxis war der Felsen, der der alten revolutionären Bewegung den Weg versperrte. Nur die höchsten Momente der proletarischen Kämpfe konnten diese Trennung aufheben, um ihre Wahrheit wiederzufinden. Keine Organisation ist bisher über dieses Rhodos hinübergesprungen31. Jede Ideologie, so „revolutionär“ sie auch sein mag, steht immer im Dienst der Herrschenden, ein Alarmsignal, das vor dem verkleideten Feind warnt. Deshalb muß die Kritik der Ideologie in letzter Konsequenz das zentrale Problem der revolutionären Organisation sein. Nur die entfremdete Welt erzeugt die Lüge und diese kann unmöglich innerhalb einer Organisation wiedererscheinen, die die Trägerin der gesellschaftlichen Wahrheit zu sein behauptet, ohne daß sie selbst zu einer Lüge mehr in einer grundsätzlich verlogenen Welt wird.

Die revolutionäre Organisation, deren Projekt es ist, die absolute Macht der Arbeiterräte zu verwirklichen, muß der Ort sein, in dem sich bereits alle positiven Aspekte dieser Macht abzeichnen. Deshalb muß sie einen Kampf auf Leben und Tod gegen die leninistische Organisationstheorie führen. Die Revolution von 1905 und die spontane Organisation der russischen Arbeiter in Räten war bereits eine handelnde Kritik32 dieser unheilvollen Theorie. Aber die bolschewistische Bewegung bestand auf ihrem Glauben, daß die Arbeiterspontaneität nicht über das „trade-unionistische“ Bewußtsein hinausgehen könne und unfähig sei, „die Totalität“ zu begreifen. Das lief darauf hinaus, das Proletariat zu enthaupten, damit die Partei zum „Kopf“ der Revolution werden konnte. Man kann dem Proletariat nicht so unerbittlich wie Lenin die geschichtliche Fähigkeit zur Emanzipation abstreiten, ohne ihm zugleich die Fähigkeit abzustreiten, die zukünftige Gesellschaft total zu verwalten. In einer solchen Perspektive bedeutete die Parole „Alle Macht den Räten“ nichts anderes als die Eroberung der Räte durch die Partei, die Einführung des Staates der Partei anstelle des absterbenden „Staates“ des bewaffneten Proletariats.

Gerade diese Parole muß jedoch radikal wieder aufgenommen werden, indem sie von den bolschewistischen Hintergedanken gereinigt wird. Das Proletariat kann sich dem Spiel der Revolution nur hingeben, um eine ganze Welt zu gewinnen, andernfalls ist es nichts. Es kann die einzige Form seiner Macht – die generalisierte Selbstverwaltung – mit keiner anderen Macht teilen. Weil es die wirkliche Auflösung jeder Macht ist, kann es unmöglich irgendwelche Begrenzung (geographischer oder sonstiger Art) dulden; die Kompromisse, die es akzeptiert, verwandeln sich sofort in Kompromittierungen, in Verzicht. „Die Selbstverwaltung muß zugleich Mittel und Zweck des gegenwärtigen Kampfes sein. Sie ist nicht nur der Einsatz des Kampfes, sondern auch seine angemessene Form … Sie ist ihre eigene Materie, die sie bearbeitet und ihre eigene Voraussetzung33.“

Die einheitliche Kritik der Welt ist die Garantie für Kohärenz und Wahrheit der revolutionären Organisation. Die Existenz von Unterdrückungssystemen an einem einzigen Punkt der Welt zu dulden (weil sie z.B. „revolutionäre“ Klamotten tragen) heißt, die Legitimität der Unterdrückung anzuerkennen. Ebenso wie die Entfremdung auf einem einzigen Gebiet des gesellschaftlichen Lebens zu dulden heißt, die Zwangsläufigkeit aller Verdinglichung anzuerkennen. Es genügt nicht, für die abstrakte Macht der Arbeiterräte zu sein, sondern es gilt ihre konkrete Bedeutung aufzuzeigen: die Abschaffung der Warenproduktion und folglich des Proletariats. Die Logik der Ware ist die erste und letzte Rationalität der gegenwärtigen Gesellschaften, die mit Puzzles vergleichbar sind, deren Teile scheinbar so verschieden, in Wirklichkeit aber äquivalent sind. Die Warenverdinglichung ist das wesentliche Hemmnis zu einer totalen Emanzipation, zur freien Konstruktion des Lebens. In der Welt der Warenproduktion entwickelt sich die Praxis nicht gemäß einem autonom bestimmten Ziel, sondern gemäß den Anweisungen äußerer Mächte. Und wenn die ökonomischen Gesetze scheinbar zu Naturgesetzen einer besonderen Art werden, dann deshalb, weil ihre Macht allein auf dem „Mangel an Bewußtsein derer, die daran teilnehmen“, beruht.

Das Prinzip der Warenproduktion ist der Verlust des Ichs in der chaotischen und unbewußten Schaffung einer Welt, die ihren Schöpfern völlig entgleitet. Im Gegensatz dazu ist der radikal revolutionäre Kern der generalisierten Selbstverwaltung die bewußte Bestimmung des gesamten Lebens durch alle. Die Selbstverwaltung der Warenentfremdung würde aus allen Menschen bloße Programmierer ihres eigenen Überlebens machen: die Quadratur des Kreises. Folglich wird die Aufgabe der Arbeiterräte nicht die Selbstverwaltung der bestehenden Welt, sondern ihre ununterbrochene, qualitative Umwandlung sein: die konkrete Aufhebung der Ware (als gigantische Umlenkung der Produktion des Menschen durch sich selbst).

Diese Aufhebung impliziert selbstverständlich die Abschaffung der Arbeit und ihre Ersetzung durch einen neuen Typ freier Tätigkeit, also die Abschaffung einer der grundsätzlichen Trennungen der modernen Gesellschaft zwischen einer zunehmend verdinglichten Arbeit und passiv konsumierter Freizeit. Heute im Zerfließen begriffene Grüppchen wie „Socialisme ou Barbarie“ oder „Pouvoir Ouvriere“34 , die sich doch der modernen Parole der Arbeitermacht angeschlossen hatten, folgten in diesem zentralen Punkt weiter der alten Arbeiterbewegung auf dem Weg des Reformismus der Arbeit und ihrer „Humanisierung“. Die Arbeit selbst muß jetzt angegriffen werden. Weit davon entfernt, eine „Utopie“ zu sein, ist ihre Abschaffung die Vorbedingung der wirklichen Aufhebung der Warengesellschaft, der Beseitigung der Trennung – im alltäglichen Leben jedes Einzelnen – zwischen „Freizeit“ und „Arbeitszeit“ als komplementäre Sektoren eines entfremdeten Lebens, in das der innere Widerspruch der Ware zwischen Gebrauchs- und Tauschwert unendlich projiziert wird. Nur jenseits dieses Widerspruchs kann der Mensch aus einer vitalen Aktivität einen Gegenstand seines Willens und seines Bewußtseins machen und sich selbst in einer Welt betrachten, die er selbst geschaffen hat. Die Demokratie der Arbeiterräte ist die Lösung des Rätsels aller gegenwärtigen Trennungen. Sie macht alles „unmöglich, was außerhalb der Individuen existiert“.

Die bewußte Beherrschung der Geschichte durch die Menschen, die sie machen, das ist das revolutionäre Projekt. Die Geschichte ist heute wie in der Vergangenheit das Produkt der gesellschaftlichen Praxis, das – unbewußte – Ergebnis aller menschlichen Tätigkeiten. Der Kapitalismus hat in der Epoche seiner totalitären Herrschaft seine neue Religion erzeugt: das Spektakel. Das Spektakel ist die irdische Verwirklichung der Ideologie. Noch nie ist die Welt so gut auf dem Kopf gegangen. „Und so wie die ,Kritik der Religion‘ ist heute die Kritik des Spektakels Vorbedingung jeder Kritik“35.

Denn das Problem der Revolution stellt sich der Menschheit historisch. Mit der immer großartigeren Akkumulation materieller und technischer Mittel hält nur noch die immer tiefere Unzufriedenheit aller Schritt. Die Bourgeoisie und ihre Erbin im Osten, die Bürokratie, können die Gebrauchsanweisung für diese Überentwicklung nicht besitzen, von der die Poesie der Zukunft ausgehen wird, gerade weil sie beide an der Aufrechterhaltung einer alten Ordnung arbeiten. Sie können höchstens das Geheimnis ihres polizeilichen Gebrauchs besitzen. Sie tun nichts anderes als das Kapital und folglich das Proletariat zu akkumulieren; Proletarier ist der, der keine Macht über den Gebrauch seines Lebens hat und der das weiß. Die geschichtliche Chance des neuen Proletariats besteht darin, der einzige konsequente Erbe des wertlosen Reichtums der bürgerlichen Welt zu sein, die es umzuwandeln und in Richtung auf den totalen Menschen aufzuheben gilt, der die totale Aneignung der Natur und seiner eigenen Natur verfolgt. Diese Verwirklichung der Natur des Menschen kann nur durch die grenzenlose Befriedigung und unendliche Vervielfältigung der wirklichen Begierden einen Sinn haben, die das Spektakel in die entfernten Zonen des revolutionären Unbewußtseins zurückdrängt und die es nur fantastisch im Traumwahn seiner Werbung verwirklichen kann. Die tatsächliche Verwirklichung der tatsächlichen Begierden, d.h. die Abschaffung aller Pseudobedürfnisse und Begierden, die das System zur Verewigung seiner Macht alltäglich erzeugt, kann nicht ohne die Abschaffung des Warenspektakels und seine positive Aufhebung geschehen.

Die moderne Geschichte kann nur durch die Kräfte, die sie verdrängt – die Arbeiter ohne Macht über die Bedingungen, den Sinn und das Produkt ihrer Tätigkeit – befreit und ihre unzähligen Errungenschaften frei benutzt werden. Das Proletariat, das bereits im 19. Jahrhundert zum Erben der Philosophie wurde, ist heute auch noch zum Erben der modernen Kunst und der ersten bewußten Kritik des alltäglichen Lebens geworden. Es kann sich nicht abschaffen, ohne zugleich die Kunst und die Philosophie zu verwirklichen. Die Welt umwandeln und das Leben verändern ist für das Proletariat ein und dasselbe, die untrennbaren Parolen auf dem Weg zu seiner Abschaffung als Klasse, zur Auflösung der gegenwärtigen Gesellschaft als Reich der Notwendigkeit und zum endlich möglich gewordenen Eintritt in das Reich der Freiheit. Die radikale Kritik und die freie Neukonstruktion aller von der entfremdeten Wirklichkeit aufgezwungenen Werte und Verhaltensweisen sind sein Maximalprogramm und die befreite Kreativität bei der Konstruktion aller Augenblicke und Ereignisse des Lebens ist die einzige Poesie, die es anerkennen kann; die Poesie, die von allen gemacht wird, der Beginn der großen revolutionären Fete. Die proletarischen Revolutionen werden Feten sein oder sie werden nicht sein, denn das von ihnen angekündigte Leben wird selbst unter dem Zeichen der Fete geschaffen werden. Das Spiel ist die letzte Rationalität dieser Fete, Leben ohne tote Zeit und Genuß ohne Hemmnisse sind seine einzig anerkannten Regeln.

 

1Kravetz, Marc, genoß einen gewissen Ruf in den herrschenden UNEF-Kreisen, als ein eleganter Parlamentarier beging er den Fehler, sich in die „theoretische Forschung“ zu wagen: 1964 veröffentlichte er in den „Temps Modernes“ eine Apologie des studentischen Syndikalismus, die er ein Jahr später in derselben Zeitschrift widerruft.

2Selbstverständlich gebrauchen wir die Begriffe Spektakel, Rolle usw. im situationistischen Sinn.

3Wo ihn keiner anscheißt, tritt man ihm in den Arsch.

4Aber ohne das revolutionäre Bewußtsein; der Arbeiter hatte nicht die Illusion des Aufstiegs.

5Wir sprechen hier nicht von der Ecole NS. oder den Sorbonneärschen, sondern von den Enzyklopädisten oder der Hegels.

6Da sie nicht wagen, sich auf den philisterhaften Liberalismus zu berufen, erfinden sie den Bezug zu Universitätsfreiheiten des Mittelalters, der Epoche der „Demokratie der Unfreiheit“.

7vgl. Sit. Int. No. 9, Korrespondenz mit einem Kybernetiker und das situationistische Flugblatt „Die Schildkröte im Schaufenster“ gegen den Neo-Professor A. Moles.

8vgl. „Der sexuelle Kampf der Jugend“ und „Die Funktion des Orgasmus“.

9Für die übrige Bevölkerung ist die Zwangsjacke nötig, damit sie sich vor dem Psychiater in seiner Asylfestung vorstellt. Für den Studenten genügt die Bekanntmachung, daß vorgeschobene Kontrollposten innerhalb des Gettos eröffnet worden sind: er stürzt sich dorthin; sodaß die Ausgabe von Laufnummern nötig ist.

10Über die argumentistische Gang und das Eingehen ihres Organs siehe das 1963 von der S.I. verteilte Flugblatt „In die Mülleimer der Geschichte“.

11Hier kann man nur die Lösung empfehlen, die von den Intelligentesten schon praktiziert wird: die Bücher zu stehlen.

12vgl. die letzten Abenteuer der UEC (Union des Etudiants Communistes, Vereinigung der kommunistischen Studenten) und ihrer christlichen Brüder; sie zeigen, daß die einzige Gemeinsamkeit all dieser Leute ihre bedingungslose Unterwerfung unter ihre Herren ist.

13Und zwar in dem Sinn, daß die Jugend es nicht nur spürt, sondern auch ausdrücken will.

14A.d.Ü., damals Rocker, oder Halbstarke, heute wäre die Rede von Prolos

15Anmerkung von uns, die Provos war eine proletarische Jugendbewegung in den Niederlande. Mehr Infos findet ihr auf folgenden Links. I; II

16A.d.Ü., hier handelt es sich um eine Schrift die von einer Gruppe junger Kommunisten in Polen 1964 verfasst wurde, welches die stalinistische Regierung kritisierte. Die Mitglieder dieser Gruppe wurden alle aufgrund der Verteilung des Textes verhaftet und aus der Partei rausgeworfen.

17Bei dem die Anhänger der Anti-Atom-Kampagne Top-Secret-Antiatombunker, die den Mitgliedern der Regierung zugedacht waren, entdeckt, öffentlich bekannt gemacht und dann besetzt haben.

18Hier denken wir an die ausgezeichnete Zeitschrift „Heatwave“, die sich anscheinend zu einem immer strengeren Radikalismus entwickelt.

19vgl. Sit. Int. No. 8.

20vgl. Sit. Int. No. 7.

21Was sie effektiv verwirklicht haben, ist die Tendenz, das Land durch die klassische, durch bürokratischen Terror beschleunigte primitive Akkumulation zum Nachteil der Bauernschaft zu industrialisieren.

22Seit 45 Jahren hat die Kommunistische Partei in Frankreich keinen einzigen Schritt zur Machtergreifung getan; das gleiche gilt für alle entwickelten Länder, in die die Rote Armee nicht vorgedrungen ist.

23„Klassenkampf in Algerien“, ein in der Sit. Int. No. 10 nachgedrucktes Flugblatt.

24Anmerkung von uns, damit wird die allgemeine Kritik in den lateinisch sprechenden Ländern gemeint, die der Figur des Militanten und deren Ideologie, die Militanz, als eine ideologisierte und entfremdete Form die Welt zu verstehen und aus dieser Verzerrung nur falsch handeln zu können, gelten.

25Über ihre Rolle in Algerien vgl. „Klassenkampf in Algerien“, Sit. Int. No. 10.

26A.d.Ü., Paul Cardan war einer der Pseudonyme von Cornelius Castoriadis.

27vgl. Sit. Int. No. 9.

28vgl. „Adresse an die Revolutionäre…“ S.I. No.10

29das durch die Vorherrschaft der Ware Arbeit definiert wird.

30A.d.Ü., Georg Lukács war einer der bedeutendsten marxistischen Theoretiker des früheren 20. Jahrhunderts.

31lat. „hic rhodos, hic salta“: bedeutet wörtlich hier ist Rhodos, hier springe. Inhaltlich bedeutet es: Zeig hier, beweise, was du kannst.

32nach der theoretischen Kritik von Rosa Luxemburg.

33aus: „Der Klassenkampf in Algerien“, Sit. Int. No.10.

34SOB, PO usw. Im Gegensatz dazu ist eine Gruppe wie ICO, die sich jede Organisation und eine kohärente Theorie untersagt, zur Nicht-Existenz verurteilt.

35aus Sit. Int. No. 9.

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Niedergang und Fall der spektakulären Warenökonomie https://panopticon.blackblogs.org/2020/07/24/niedergang-und-fall-der-spektakulaeren-warenoekonomie/ Fri, 24 Jul 2020 20:00:00 +0000 http://panopticon.blogsport.eu/?p=1325 Continue reading ]]> Einleitung von uns:

Angesichts der Revolten in den USA, aber nicht nur, haben wir diesen Text ausgegraben. Dieser Text erschien in der Nummer Zehn, Jahr 1966, der Publikation der Situationistischen Internationale.

Die Revolte hatte noch nie viele Freunde und Freundinnen, so unschön und rau wenn sie stattfindet, so nah an der Realität und so fern jeglicher universitären Logik, zu problematisch als historischer Beispiel, es sei man kann sie komplett ihrer Inhalte entleeren, usw.

Immer zu viele Feinde und zu viele Verleumder. Dies hat sich nicht bis zu dem heutigen geändert, wenn vor allem die Debatte der Plünderungen/Gewalt stattfindet, aber nicht nur, als sei die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ein Art sozialer Kannibalismus, von denen ausgeübt, die täglich um ihr Brot bestohlen werden und nur die Freiheit haben ihre Arbeitskraft zu verkaufen, oder wie Hunde zu verrecken und verhungern, dies ist die einzige Freiheit des Kapitals. Hier reden wir von jenen (alles Euphemismen) Habenichtse, Marginalisierte, Ausgebeutete, Freaks… sprich wir reden von Proleten, von Proletariern. Eben Euphemismen weil dieses Word in Ungnade gefallen ist und damit jegliche stalinistische Rhetorik in die Hände gespielt werden soll. Nun wir sind nicht damit einverstanden, aber weil wir eben jene ausgebeutete Klasse nicht soziologisch betrachten, sondern als eben jene die nichts haben, außer den Verkauf ihrer Arbeitskraft.Nun die SI wusste zu seiner Zeit dazu Stellung zu nehmen, weil das Monopol der Revolution in Händen aller Satelliten der UdSSR waren, sprich deren wirklichen Botschaften, nämlich alle KP´s.

Nun die Zeiten haben sich geändert und es gibt keinen kapitalistischen Staat der die Revolution nur noch für sich beansprucht, sondern es gibt nur die Verleumder der sozialen Revolution.

Wir werden weiterhin Revolten, Aufstände und vor allem die Notwendigkeit der sozialen Revolution verteidigen, sowie den Kampf gegen Staat und Kapitalismus durch die Idee des Anarchismus.

Denn gegen den Strich zeitgenössischer Meinungen, kann die Ursache der Ausbeutung und die Unterdrückung der Menschheit als eine Totalität erfasst und angegriffen werden. Nämlich den Kampf gegen den Kapitalismus und seiner politischen Organisation, nämlich den Staat.

Daher ganz im Sinne der SI:
Wer verteidigte also die Aufständischen von Los Angeles so, wie sie es verdienen? Wir wollen es tun.“

Hier zum Lesen Nr.10 (1966)

Niedergang und Fall der spektakulären Warenökonomie

Vom 13. bis zum 16. August 1965 gab es einen Aufstand der schwarzen Bevölkerung von Los Angeles. Ein Zwischenfall, der Verkehrspolizisten und Fußgänger gegenüberstellte, entwickelte sich zu zwei Tagen spontaner Aufstände. Die ständig verstärkten Ordnungskräfte waren nicht in der Lage, die Straßen wieder unter Kontrolle zu bekommen. Ungefähr am dritten Tag griffen die Schwarzen zu den Waffen, indem sie die zugänglichen Waffenläden plünderten, so dass sie sogar auf die Polizeihubschrauber schießen konnten. Tausende von Soldaten und Polizisten – ungefähr so viele wie eine Infanteriedivision, unterstützt durch Panzer – mussten im Kampf eingesetzt werden, um den Aufstand im Viertel von Watts einzuschließen und es dann unter tagelangen, zahlreichen Straßenkämpfen zurückzuerobern. Die Aufständischen haben die Läden systematisch geplündert und in Brand gesteckt. Nach den offiziellen Zahlen hat es 32 Tote gegeben – davon 27 Schwarze -, mehr als 800 Verwundete und 3000 Festnahmen.

Es wurde von allen Seiten mit dieser Deutlichkeit reagiert, welche nur das revolutionäre Ereignis – da es selbst eine Klärung der vorhandenen Probleme durch die Tat ist – den verschiedenen geistigen Nuancen seiner Gegner verleihen kann. Der Polizeichef William Parker lehnte jede, von den großen schwarzen Organisationen angebotene Vermittlung ab, mit der richtigen Begründung, “diese Meuterer hätten keine Führer”. Und sicherlich, da die Schwarzen keine Führer mehr hatten, hatte in beiden Lagern die Stunde der Wahrheit geschlagen. Worauf wartete übrigens einer dieser arbeitslos gewordenen Führer, Roy Wilkins, der Generalsekretär der ‘National Association for the Advancement of Coloured People’? Er erklärte nämlich, dass die Meuterer “durch Anwendung jeder notwendigen Kraft im Zaum gehalten werden sollten”. Der Kardinal von Los Angeles seinerseits, Mc Intyre, protestierte zwar sehr laut, aber nicht gegen die gewalttätige Repression, wie man es in der Zeit des ‘aggiornamento’ des römischen Einflusses für berechtigt halten konnte, sondern gegenüber “einer mit Vorbedacht angezettelten Revolte gegen die Achtung vor den Gesetzen und die Aufrechterhaltung der Ordnung” und rief die Katholiken auf, der Plünderung und “diesen Gewalttätigkeiten ohne ersichtliche Rechtfertigung” Widerstand zu leisten. Und alle diejenigen, die so weit gingen, dass sie zwar die ‘ersichtlichen Rechtfertigungen’ aber nicht die wirkliche Rechtfertigung sahen, alle die Denker und ‘Verantwortlichen’ der Weltlinken und ihrer totalen Nichtigkeit, haben die Unverantwortlichkeit und die Unordnung, die Plünderung und besonders die Tatsache beklagt, dass mit den Läden begonnen wurde, in denen Alkohol und Waffen vorhanden waren; sowie die 2000 zitierten Brandherde, mit denen die Brandstifter von Watts ihren Kampf und ihre Fete beleuchtet haben. Wer verteidigte also die Aufständischen von Los Angeles so, wie sie es verdienen? Wir wollen es tun. Die Ökonomen dürfen ruhig über die 27 Mio. Dollar, die dabei verloren gegangen sind, die Städteplaner über einen ihrer schönsten Supermärkte, der in Rauchwolken aufging, und Mc. Intyre über seinen erschossenen Vize-Sheriff weiterjammern; lassen wir gleichfalls die Soziologen über die Unsinnigkeit und den Rausch einer solchen Revolte wehklagen. Die Rolle einer revolutionären Zeitschrift besteht eben darin, nicht nur den Los Angeles-Aufständischen Recht zu geben, sondern auch dazu beizutragen, ihnen Gründe zu geben und die Wahrheit theoretisch zu erhellen, deren Suche hier von der Praxis ausgedrückt wird.

In der im Juli 1965 nach Boumediennes Putsch veröffentlichten ‘Adresse’ legten die Situationisten den Algeriern und den Revolutionären auf der ganzen Welt die Verhältnisse in Algerien und in der übrigen Welt als ein Ganzes dar. Sie führten u.a. als Beispiel die Schwarzen in Amerika und ihre Bewegung an, die, “wenn sie sich konsequent behaupten kann”, die Widersprüche des fortgeschrittensten Kapitalismus enthüllen wird. Fünf Wochen später kam diese Konsequenz auf der Straße zur Erscheinung. Die theoretische Kritik der modernen Gesellschaft in ihrer neusten Form und die handelnde Kritik derselben Gesellschaft sind beide schon vorhanden; sie sind zwar immer noch getrennt, sie sind aber bis zur selben Wirklichkeit vorgedrungen und sprechen von derselben Sache. Beide lassen sich gegenseitig erklären; ohne die andere ist keine von beiden zu erklären. Die Theorie des Überlebens und des Spektakels wird durch diese Handlungen erhellt und bestätigt, die dem falschen amerikanischen Bewusstsein unverständlich bleiben. Eines Tages wird sie umgekehrt diese Handlungen selbst erhellen.

Bisher waren die Kundgebungen der Schwarzen für die ‘Bürgerrechte’ in Amerika von ihren Führern in einer Legalität zusammengehalten, welche die schlimmsten Gewalttätigkeiten der Ordnungskräfte und der Rassisten duldete, wie z.B. im vergangenen März während des Marsches nach Montgommery; sogar nach dem Skandal hatte noch ein diskretes Einverständnis zwischen der Bundesregierung, dem Gouverneur Wallace und Pastor King die am 10.März auf Selma Marschierenden dazu gebracht, bei der ersten Aufforderung mit Würde und Gebet zurückzuweichen. Der damals von der Menge der Demonstranten erwartete Zusammenstoß blieb bloß beim Spektakel eines möglichen Zusammenstoßes. Gleichzeitig hatte die Gewaltlosigkeit die lächerliche Grenze ihres Mutes erreicht: sich den Schlägen des Feindes auszusetzen und die moralische Größe dann so weit zu treiben, dass es diesem erspart bleibt, noch einmal seine Macht auszuüben. Grundlegend bleibt aber, dass die ‘Bürgerrechtsbewegung’ nur legale Probleme durch legale Mittel aufstellte. Es ist logisch, sich legal auf das Gesetz zu berufen. Irrational ist es aber, vor der offenen Illegalität legal zu betteln, als ob sie einen Unsinn darstellen würde, der sich auflöst, wenn mit dem Finger darauf gezeigt wird. Es liegt auf der Hand, dass die oberflächliche, unverschämt sichtbare Illegalität, die in vielen amerikanischen Ländern immer noch gegen die Schwarzen angewandt wird, ihre Wurzeln in einem sozio-ökonomischen Widerspruch hat, der mit den vorhandenen Gesetzen nichts zu tun hat. Dieser Widerspruch kann nicht einmal von einem zukünftigen rechtmäßigen Gesetz gegen die grundsätzlichen Gesetze der Gesellschaft, in der die Schwarzen es endlich wagen, ihr Recht auf das Leben zu verlangen, rückgängig gemacht werden. Die Schwarzen in Amerika wollen die totale Subversion dieser Gesellschaft, oder sie wollen nichts. Und das Problem dieser notwendigen Subversion taucht von selbst auf, sobald sie nach subversiven Mitteln greifen; nun tritt der Übergang zu solchen Mitteln in ihrem alltäglichen Leben als das Zufälligste und zugleich am objektivsten Gerechtfertigte hervor. Es handelt sich nicht mehr um die Krise der gesellschaftlichen Lage der Schwarzen in Amerika, sondern um die Krise der amerikanischen Gesellschaft, die zunächst unter den Schwarzen auftritt. Es hat hier keinen Rassenkonflikt gegeben: die Schwarzen haben nicht die Weißen angegriffen, die sie zufällig getroffen haben, sondern nur die weißen Polizisten; ebenso ging die schwarze Gemeinschaft diesmal nicht bis zu den schwarzen Läden – nicht einmal bis zu den Wagenbesitzern. Luther King selbst musste zugeben, dass seine Fachgrenzen überschritten worden waren, als er im Oktober in Paris erklärte, “es seien nicht Rassen-, sondern Klassenmeutereien gewesen”.

Die Revolte von Los Angeles ist eine Revolte gegen die Ware, gegen die Welt der Waren und die Welt des den Maßnahmen der Ware hierarchisch unterworfenen Arbeiter-Konsumenten. Ähnlich den Banden von jugendlichen Erstverbrechern aller industrialisierten Länder, nehmen die Schwarzen von Los Angeles die Propaganda des modernen Kapitalismus, seine Werbung des Überflusses beim Wort – nur auf eine radikalere Weise, nach dem Maßstab einer global zukunftslosen Klasse, eines Teils des Proletariats, der an bedeutenden Beförderungs- bzw. Integrierungschancen nicht glauben kann. Sie wollen sofort alle gezeigten und abstrakt zur Verfügung stehenden Gegenstände, weil sie sie gebrauchen wollen. Dadurch lehnen sie ihren Tauschwert und die Warenwirklichkeit ab, welche ihre Form, ihre Rechtfertigung und ihr letzter Zweck ist und durch welche alles gewertet worden ist. Durch Diebstahl und Geschenk finden die Schwarzen wieder zu einem Gebrauch, der die unterdrückende Rationalität der Ware sofort Lügen straft, ihre Verflechtungen und selbst ihre Herstellung als willkürlich und nicht notwendig erscheinen lässt. Die Ausplünderung des Wattsviertels macht die kürzeste Verwirklichung des abartigen Prinzips “Jedem nach seinen falschen Bedürfnissen”, den vom ökonomischen System, welches die Plünderung gerade verwirft, bestimmten und fabrizierten Bedürfnissen, deutlich. Aber durch die Tatsache, dass dieser Überfluss beim Wort genommen, unmittelbar eingeholt und nicht mehr durch das Nachrennen hinter entfremdeter Arbeit und der Erhöhung der verschobenen sozialen Bedürfnisse unbestimmt lange Zeit fortgesetzt wird, drücken sich schon die echten Bedürfnisse aus: in der ‘Fete’, der spielerischen Behauptung und dem Potlatch der Zerstörung. Derjenige, der die Waren zerstört, zeigt dadurch seine menschliche Überlegenheit gegenüber den Waren. Er wird nicht in den willkürlichen Formen, welche das Bild seines Bedürfnisses angenommen hat, gefangen bleiben. Der Übergang von der Konsumtion zur Vernichtung ist in den Feuerflammen von Watts realisiert worden. Die großen Kühlschränke, die von Leuten gestohlen worden sind, welche keine Elektrizität zuhause hatten oder bei denen der Strom abgeschaltet war, sind das beste Beispiel dafür, wie die Lüge innerhalb des Überflusses zur Wahrheit im Spiel geworden ist. Sobald die Ware nicht mehr gekauft wird, wird sie kritisierbar und kann in allen ihren besonderen Erscheinungsformen verändert werden. Nur dann, wenn sie mit Geld als einem Zeichen der Hierarchiestufe im Überleben bezahlt wird, wird sie wie ein bewundernswerter Fetisch geachtet.

Die Gesellschaft des Überflusses findet in der Plünderung ihre natürliche Antwort, obwohl sie keineswegs eine Gesellschaft des natürlichen und menschlichen Überflusses, sondern bloß des ‘Warenüberflusses’ ist. Die Plünderung aber, die die Ware als solche augenblicklich zusammenbrechen lässt, zeigt auch ihre ultima ratio – und zwar: die Gewalt, die Polizei und die anderen spezialisierten Einheiten, die das Monopol der bewaffneten Gewalt im Staat besitzen. Was ist also ein Polizist? Der tätige Diener der Ware, ein der Ware total unterworfener Mensch, durch dessen Tätigkeit jedes beliebige Produkt menschlicher Arbeit eine Ware bleibt, deren magischer Wille es ist, gekauft zu werden, und nicht bloß ein Kühlschrank oder ein Gewehr, d.h. ein blindes, passives und gefühlloses Ding, das dem ersten Besten zur Verfügung steht, der es gebrauchen will. Noch hinter die Unwürde, von einem Polizisten abhängig zu sein, weisen die Schwarzen diejenige zurück, von Waren abhängig zu sein. Die Jugend von Watts, für die die Warenwelt keine Zukunft bietet, hat eine andere Qualität der Gegenwart gewählt, und die Wahrheit dieser Gegenwart war so unwiderleglich, dass sie die ganze Bevölkerung, Frauen und Kinder, selbst die dort anwesenden Soziologen mitriss. Eine junge schwarze Soziologin dieses Viertels, Bobbi Hollon, erklärte im Oktober in ‘Herold Tribune’: “Früher haben sich die Leute geschämt zu sagen, dass sie aus Watts kommen. Es bereitete ihnen Unbehagen. Jetzt aber sagen sie es sogar mit Stolz. Junge Leute, die immer ein bis zum Gürtel offenes Hemd trugen und einen in einer halben Sekunde zerlegt hätten, sind jeden Morgen um 7 hier angetreten und haben die Lebensmittelverteilung organisiert. Natürlich hatten sie, mache man sich keine Illusionen, alles gestohlen… Dieses ganze christliche Bla-Bla ist viel zu lange gegen die Schwarzen angewandt worden. Diese Leute könnten wohl 10 Jahre lang plündern, dann hätten sie noch nicht einmal die Hälfte des Geldes zurück, das ihnen in diesen Läden während all dieser Jahre gestohlen worden ist …” Bobbi Hollon, die beschlossen hat, das Blut, das ihre Schuhe während der Meuterei befleckt hat, nie auszuwaschen, sagt weiter, dass “die ganze Welt jetzt auf das Wattsviertel sieht”.

Wie machen Menschen Geschichte, ausgehend von den Bedingungen, die vorherbestimmt worden sind, um ihnen abzuraten, in sie einzugreifen? Die Schwarzen in Los Angeles werden besser bezahlt als sonstwo in den USA, sie sind aber dafür dort noch besser als sonst vom maximalen Reichtum getrennt, der sich gerade in Kalifornien zur Schau stellt. Hollywood, der Angelpunkt des Weltspektakels, liegt in ihrer unmittelbaren Nähe. Ihnen wird versprochen, dass sie einmal – nur Geduld! – am amerikanischen Wohlstand teilnehmen werden, sie sehen aber wohl ein, dass dieser Wohlstand kein fester Bereich, sondern eine endlose Stufenleiter ist: je höher sie hinaufsteigen, desto entfernter sind sie vom Ende, weil sie weniger qualifiziert und folglich unter den Arbeitslosen zahlreicher sind. Zu guter letzt ist die Hierarchie, die sie zermalmt, nicht nur diejenige der Kaufkraft als eine rein ökonomische Tatsache; sondern sie ist von solch wesentlicher Niedrigkeit, dass sie ihnen in allen Aspekten des alltäglichen Lebens durch die Sitten und Vorurteile einer Gesellschaft, in der sich jede menschliche Macht nach der Kaufkraft richtet, aufgezwungen wird. Solange der menschliche Reichtum der amerikanischen Schwarzen hassenswert und als ein Verbrechen betrachtet wird, kann der materielle Reichtum sie für die amerikanische Gesellschaft nicht annehmbar machen: der individuelle Reichtum wird nur einen reichen Neger1 ausmachen, weil die Schwarzen in ihrer Gesamtheit die Armut einer Gesellschaft des hierarchischen Reichtums darstellen müssen. Alle Beobachter haben diesen Ruf gehört, der nach der allgemeinen Anerkennung des Sinnes des Aufstandes verlangte: “Es ist die Revolution der Schwarzen und wir wollen, dass die Welt es erfährt”. ‘Freedom now’ heißt die Parole aller Revolutionen der Geschichte; aber zum ersten Mal ist nicht mehr die Armut, sondern der materielle Überfluss nach neuen Gesetzen zu bewältigen. Des Überflusses Herr zu werden, heißt also nicht nur, seine Verteilung zu ändern, sondern alle seine oberflächlichen und tiefen Orientierungen neu zu bestimmen. Es ist der erste Schritt eines ungeheuren, unermesslich tiefgreifenden Kampfes.

Die Schwarzen sind in ihrem Kampf nicht isoliert, weil ein neues proletarisches Bewusstsein – das Bewusstsein, in keinem Bereich Herr über seine eigene Tätigkeit, sein eigenes Leben zu sein, in den amerikanischen Schichten entsteht, die den modernen Kapitalismus ablehnen und folglich ihnen ähnlich sind. Die erste Phase des Kampfes der Schwarzen wurde zum Signal eines sich jetzt ausbreitenden Protestes. Im Dezember 1964 gingen die Berkeley-Studenten wegen der Verhinderung ihrer Teilnahme an der Bürgerrechtsbewegung so weit, dass sie einen Streik begannen, der das Funktionieren dieser ‘Multiversität’ Kaliforniens und darüber hinaus die gesamte Organisation der amerikanischen Gesellschaft sowie die passive Rolle, die ihnen darin vorbehalten ist – in Frage stellte. Man kann in der studentischen Jugend sofort die gleichen Sauf- oder Drogenorgien und die Auflösung der sexuellen Moral, die den Schwarzen vorgeworfen wurden, entdecken. Seitdem hat diese Studentengeneration eine erste Kampfform gegen das herrschende Spektakel – das teach-in – erfunden und diese Form wurde am 20.Oktober in Großbritannien an der Universität von Edinborough, wo es um die Krise in Rhodesien ging, wiederaufgenommen. Diese selbstverständlich primitive und unreine Form ist das Moment der Diskussion von Problemen, das sich weigert, sich selbst zeitlich (akademisch) zu begrenzen, und das dadurch versucht, bis zum Ende gebracht zu werden, wobei dieses Ende natürlich die praktische Tätigkeit sein soll. Im Oktober erscheinen Zehntausende von Demonstrierenden gegen den Vietnamkrieg in New York und Berkeley auf den Straßen und rufen, wie die Watts-Aufständischen: “Raus aus unserem Viertel und aus Vietnam!” Bei den sich radikalisierenden Weißen ist die berühmte Legalitätsgrenze schon überschritten: z.B. werden Kurse abgehalten, in denen man lernt, wie bei der Musterung geschummelt werden kann (’Le Monde’, 19.10.1965). Einberufungsbefehle werden vor der Fernsehkamera verbrannt. In der Gesellschaft des Überflusses drückt sich der Ekel vor diesem Überfluss und vor seinem Preis aus. Das Spektakel wird von der selbständigen Aktivität einer fortgeschrittenen Schicht beschmutzt, die seine Wertmaßstäbe leugnet. Das klassische Proletariat, insofern es dem kapitalistischen System provisorisch integriert werden konnte, hatte selbst die Schwarzen nicht integriert (mehrere Gewerkschaften in Los Angeles haben sie bis 1959 nicht aufgenommen); jetzt sind die Schwarzen aber das Einigungsziel für alle, die die Logik dieser Integration im Kapitalismus als non plus ultra jeder versprochenen Integration ablehnen. Und die Bequemlichkeit wird nie bequem genug sein, um diejenigen zufrieden zu stellen, die das suchen, was auf dem Markt nicht vorhanden ist, da der Markt es gerade eleminiert. Der Grad, den die Technologie der Privilegiertesten erreicht hat, wird zu einer Beleidigung, die leichter als die wesentliche Beleidigung der Verdinglichung auszudrücken ist. Die Los-Angeles-Revolte, ist die erste Revolte der Geschichte die sich selbst dadurch rechtfertigen konnte, dass sie oftmals den Mangel an Belüftungsanlagen während einer Hitzewelle als Ausgangspunkt angab.

Die amerikanischen Schwarzen haben ihr eigenes Spektakel, ihre Presse, ihre Shows und ihre farbigen Stars. Sie erkennen es und ekeln sich davor wie vor einem trügerischen Spektakel, als dem Ausdruck ihrer Unwürde, weil sie wohl einsehen, dass es das minderwertige, bloße Anhängsel eines allgemeinen Spektakels ist. Sie sehen ein, dass dieses Spektakel ihres erwünschten Konsums nur eine Kolonie desjenigen der Weißen ist und sie sehen folglich die Lüge des gesamten ökonomisch-kulturellen Spektakels. Indem sie am Überfluss, der den offiziellen Wert jedes Amerikaners darstellt, sofort und tatsächlich teilnehmen wollen, verlangen sie die gleichmäßige Verwirklichung des Spektakels des alltäglichen Lebens, die Zur-Probe-Stellung der halb-himmlischen und halb-irdischen Werte diese Spektakels. Im Wesen des Spektakels liegt es aber, weder unmittelbar noch gleichmäßig realisierbar zu sein – nicht einmal für die Weißen -, während die Schwarzen eben als vollkommene spektakuläre Bürgschaft dieser stimulierenden Ungleichheit im Rennen nach dem Überfluss fungieren. Wenn die Schwarzen verlangen, das kapitalistische Spektakel wörtlich zu nehmen, dann lehnen sie schon deshalb das Spektakel selbst ab. Es ist nämlich eine Droge für Sklaven. Es will nicht wörtlich genommen, sondern mit einer winzigen Verzögerung befolgt werden: gibt es keine Verzögerung, daran wird die Mystifizierung deutlich. Im Grunde genommen sind heute die Weißen in den USA die Sklaven der Waren, die Schwarzen ihre Verneiner. Die Schwarzen wollen mehr als die Weißen: dies ist der Kern eines unlösbaren Problems, das erst mit der Auflösung dieser weißen Gesellschaft lösbar wird. Deshalb müssen die Weißen, die aus ihrer eigenen Sklaverei herauskommen wollen, sich zunächst der Revolte der Schwarzen anschließen und zwar selbstverständlich nicht als der einer Rassenbehauptung, sondern als der der allumfassenden Ablehnung der Ware und schließlich des Staates. Der ökonomische und psychologische Graben zwischen Schwarzen und Weißen erlaubt jenen zu sehen, was der weiße Konsument ist, und ihre gerechte Verachtung der Weißen wird zur Verachtung jedes passiven Konsumenten überhaupt. Auch den Weißen, welche diese Rolle verwerfen, bleibt nur die Chance, ihren Kampf immer enger mit demjenigen der Schwarzen zu verknüpfen und ihre kohärenten Gründe selbst herauszufinden und bis zum Ende zu unterstützen. Würde ihr Zusammenfließen vor der Radikalisierung des Kampfes zurückweichen, dann würde sich ein schwarzer Nationalismus entwickeln, der beide zur Konfrontation nach den üblichen Modellen der herrschenden Gesellschaft verurteilte. Eine Reihe gegenseitiger Ausrottungen bildet die andere Möglichkeit der heutigen Alternative, wenn die Resignation nicht weiter bestehen kann.

Die Versuche eines schwarzen, separatistischen bzw. pro-afrikanischen Nationalismus sind Träume, die keine Antwort auf die wirkliche Unterdrückung darstellen. Die schwarzen Amerikaner haben kein Vaterland. In Amerika sind sie zu hause und entfremdet, genau wie alle anderen Amerikaner, sie wissen aber, dass sie es sind. Sie sind also nicht der rückständige Teil der amerikanischen Gesellschaft, sondern im Gegenteil ihr fortgeschrittenster. Sie sind die handelnde und wirkende Verneinung, “die schlechte Seite, welche die Bewegung erzeugt, die die Geschichte macht, indem sie den Kampf konstituiert” (K .Marx, ‘Das Elend der Philosophie’). Für so etwas gibt es kein Afrika.

Die schwarzen Amerikaner sind das Ergebnis der modernen Industrie genauso wie die Elektronik, die Werbung und das Zyklotron. Sie sind mit deren Widersprüchen behaftet. Sie sind nämlich die Menschen, die das spektakuläre Paradies zugleich integrieren und zurückweisen muss, so dass sich der Antagonismus zwischen dem Spektakel und der Tätigkeit der Menschen bei ihnen vollständig erkennen lässt. Das Spektakel ist allumfassend, wie die Ware aber auf einem Klassengegensatz beruht, ist die Ware selbst hierarchisch. Die Verpflichtung für die Ware – und folglich für das Spektakel, das der Welt der Ware ihre Form gibt -, zugleich hierarchisch und allumfassend zu sein, läuft auf eine allumfassende Hierarchisierung hinaus. Da diese Hierarchisierung aber nicht zugegeben werden darf, drückt sie sich durch hierarchische Wertungen aus, die man nicht eingestehen kann, weil sie irrational sind in einer Welt der Rationalisierung ohne Grund. Durch diese Hierarchisierung entstehen überall die verschiedenen Arten des Rassismus: Großbritannien und seine Labour-Party gehen so weit, dass sie die Einwanderung von Farbigen beschränken; die industrialisierten Länder Europas treiben wieder eine rassistische Politik, indem sie ihr Subproletariat aus dem Mittelmeergebiet ‘einführen’ und ihre Kolonisierten im Innern ausbeuten. Was Russland betrifft, hört es nicht auf, sich antisemitisch zu verhalten, da es gleichfalls nie aufgehört hat, eine hierarchische Gesellschaft zu sein, in der die Arbeit wie eine Ware verkauft werden muss. Gleichzeitig mit der Ware setzt sich die Hierarchie immer wieder in neuen Formen zusammen und verbreitet sich, sei es zwischen dem Führer der Arbeiterbewegung und den Arbeitern selbst oder zwischen den Besitzern zweier künstlich sich unterscheidender Automodelle. Das ist genau der Urmakel der Warenrationalität – die Krankheit der bürgerlichen Vernunft, die von der Bürokratie geerbt wurde. Die empörende Absurdität gewisser Hierarchien aber und die Tatsache, dass die ganze geballte Kraft der Warenwelt ihnen blind und automatisch Schutz gewährt, führt zur Erkenntnis der Absurdität aller Hierarchien, sobald die negative Praxis ansetzt.

Die rationale Welt der Industrierevolution hat die Individuen von ihren lokalen und nationalen Begrenzungen befreit und sie in weltweitem Maße verbunden. Ihre Irrationalität besteht aber darin, sie gemäß einer versteckten Logik, die sich durch wahnsinnige Gedanken und unsinnige Wertungen ausdrückt, von neuem zu trennen. Überall umgibt das Fremde den seiner Welt fremd gewordenen Menschen. Die Barbaren sind nicht mehr am anderen Ende der Welt, sondern hier, zu Barbaren gemacht durch ihre Zwangsteilnahme an dem gleichen hierarchischen Konsum. Der Humanismus, der das deckt, ist das Gegenteil des Menschen, die Negierung seiner Tätigkeit und seines Verlangens: es ist der Humanismus der Ware, das Wohlwollen der Ware für den von ihr ausgenutzten Menschen. Für diejenigen, die Menschen zu Objekten herabsetzen, scheinen diese alle menschlichen Eigenschaften zu besitzen, während die wirklichen menschlichen Ausdrucksformen zum tierischen Bewusstseinsmangel werden. “Da fingen sie an, sich wie eine Affenbande in einem Zoo zu benehmen”, kann also z.B. William Parker sagen, der ‘Humanistenführer’ von Los Angeles.

Als der ‘Aufruhrzustand’ von den kalifornischen Behörden verkündet wurde, machten die Versicherungsgesellschaften noch einmal darauf aufmerksam, dass sie für daraus entstandenes Risiko – also jenseits des Überlebens – keine Deckung geben. Das Überleben der schwarzen Amerikaner wird nicht global bedroht, solange sie sich ruhig verhalten; der Kapitalismus ist heute konzentriert genug und im Staat verwoben, um den Ärmsten ‘Hilfsmittel’ zu verteilen. Aber aus der alleinigen Tatsache heraus, dass sie bei der Zunahme des sozial organisierten Überlebens am Ende stehen, stellen die Schwarzen die Probleme des Lebens auf, sie verlangen einfach das Leben. Sie haben nichts zu versichern, das ihnen gehören könnte, sondern im Gegenteil alle bisher bekannten Formen der privaten Sicherheit bzw. Versicherung zu zerstören. Sie erscheinen als das, was sie tatsächlich sind: die unversöhnlichen Feinde, sicher nicht der großen Mehrheit der Amerikaner, sondern der entfremdeten Lebensweise der ganzen modernen Gesellschaft. Das am weitesten entwickelte Industrieland zeigt uns nur den Weg, der überall gegangen wird, wenn das System nicht gestürzt wird.

Um zu beweisen, dass sie nicht weniger als einen getrennten Staat annehmen können, haben einige Extremisten des schwarzen Nationalismus das Argument vorgebracht, dass die amerikanische Gesellschaft, auch wenn sie ihnen einmal die vollständige bürgerliche und ökonomische Gleichheit zuerkennen würde, niemals so weit kommen würde, dass die Individuen die Mischehe akzeptieren.

Es muss also diese amerikanische Gesellschaft verschwinden – und zwar in Amerika selbst und überall auf der Welt. Das Ende jedes Rassenvorurteils sowie das Ende so vieler anderer mit psychologischen Zwangsverboten verbundenen Vorurteile im sexuellen Bereich wird selbstverständlich jenseits der Ehe stattfinden. Es wird jenseits der unter den amerikanischen Schwarzen schon stark erschütterten bürgerlichen Familie stattfinden, die als Muster einer hierarchischen Beziehung und der Stabilität einer ererbten Macht – sei es Geld oder ein sozio-staatlicher Rang – sowohl in Russland wie in den USA herrscht. Es wird von der amerikanischen Jugend, die nach 30 Jahren des Stillschweigens wieder als kritisierende Kraft auftaucht, seit einiger Zeit landläufig gesagt, sie habe in der schwarzen Revolte ihren spanischen Bürgerkrieg gefunden. Ihre ‘Lincoln-Bataillone’ müssen diesmal den ganzen Sinn des Kampfes, in dem sie sich engagieren, verstehen und ihn voll in seiner Universalität unterstützen. Die Ausschweifungen von Los Angeles sind genauso wenig ein politischer Irrtum der Schwarzen wie der bewaffnete Widerstand des POUM in Barcelona im Mai 1937 ein Verrat des Kriegs gegen Franco war. Eine Revolte gegen das Spektakel findet auf der Ebene der Totalität statt, weil sie – und würde sie allein im Viertel von Watts ausbrechen – ein Protest des Menschen gegen das unmenschliche Leben ist. Weil sie auf der Ebene des einzigen wirklichen Individuums ansetzt und weil die Gemeinschaft, von der das rebellierende Individuum getrennt ist, die wirkliche gesellschaftliche Natur des Menschen, das menschliche Wesen ist: die positive Überwindung des Spektakels.

1A.d.Ü., so im Originaltext und ist im Kontext nicht rassistisch zu verstehen, sondern als Kritik an die damaligen Zuständen, die sich nicht viel von den heutigen differenzieren, vor allem wenn wir sehen wie sehr sich die Situation der afroamerikanischen Gemeinde seit der Bürgerrechtsbewegung nicht verbessert hat, sondern nur durch den Schleier der Menschenrechte und der Demokratie nur verschlimmert haben. Siehe die Repression gegen Afroamerikaner*innen, wieviele von ihnen nach wie vor prozentual im Knast sitzen, ihre Lage als proletarische-ausgebeutete Klasse und vieles mehr.

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(S.I.) Minimale Definition der revolutionären Organisationen https://panopticon.blackblogs.org/2020/05/21/s-i-minimale-definition-der-revolutionaeren-organisationen/ Thu, 21 May 2020 13:22:21 +0000 http://panopticon.blogsport.eu/?p=1108 Continue reading ]]> Einleitung von uns, mit den beiden Texten die wir heute auf unseren Blog veröffentlichen, sprich diesen und Weder Intellektualismus noch Dummheit,  sowie die Artikeln und Nachrichten über Repression, revolutionärer Geschichte und jede kritische Anaylse der Situation um den Coronavirus, die wir sowieso weiterhin veröffentlichen werden, fangen wir auch eine Reihe von historischen und gegenwärtigen Texten an, die sich kritisch mit der Frage der Organisation auseinandersetzten. Genauso wie deren entfremdeten Figur, den Militanten und deren Ideologie, die Militanz.

Sie dienen als ein Leitfaden zum nachdenken, denn obwohl wir diese Texte wichtig finden, sind wir nicht mit allem einverstanden. Denn wie immer ist es wichtig das Anarchist*innen selber nicht irgendwelche Ideen kanonisieren, sie zu einem Mantra verkommen lassen oder diese als eine Ideologie hochstilisieren.

Alle diese Texte dienten vielen anarchistischen Kreisen, vor allem den radikalen und aufständischen, um eine Grundlage für ihre Theorien und Praxen auszuarbeiten. Wir werden sehen wohin dass führen wird.

Soligruppe für Gefangene und ein paar andere Anarchist*innen

Minimale Definition der revolutionären Organisationen

(Diese Definition wurde von der 7.Konferenz der Situationistischen Internationale angenommen.)

In Erwägung, dass das einzige Ziel einer revolutionären Organisation die Abschaffung der vorhandenen Klassen durch einen Weg ist, der keine neue Teilung der Gesellschaft mit sich bringt, nennen wir jede Organisation revolutionär, die konsequent zur internationalen Verwirklichung der absoluten Macht der Arbeiterräte hinarbeitet, so wie sie durch die Erfahrung der proletarischen Revolutionen dieses Jahrhunderts entworfen worden ist.
Eine solche Organisation bietet eine einheitliche Kritik der Welt, oder sie ist nichts. Mit einheitlicher Kritik meinen wir eine Kritik, die sowohl gegen alle geographischen Zonen, in denen sich verschiedene Formen der sozio-ökonomischen Macht eingerichtet haben, als auch global gegen alle Aspekte des Lebens ausgesprochen wird.

Eine solche Organisation sieht Anfang und Ende ihres Programms in der totalen Entkolonialisierung des alltäglichen Lebens; sie trachtet also nicht nach der Selbstverwaltung der vorhandenen Welt durch die Massen, sondern nach ihrer ununterbrochenen Veränderung. Sie beinhaltet die radikale Kritik an der politischen Ökonomie und die Überwindung der Ware und des Lohnwesens.
Eine solche Organisation lehnt jede Reproduzierung der hierarchischen Verhältnisse der herrschenden Welt in ihrem Inneren ab. Die einzige Grenze der Beteiligung an ihrer totalen Demokratie ist die Anerkennung und die Selbstaneignung der Kohärenz ihrer Kritik durch alle ihre Mitglieder: diese Kohärenz muss einerseits in der eigentlichen kritischen Theorie und andererseits im Zusammenhang zwischen dieser Theorie und der Praxis liegen. Sie kritisiert radikal jede Ideologie als eine von den Ideen getrennte Macht und als Ideen der getrennten Macht. Sie verneint also zur gleichen Zeit jedes Fortleben der Religion sowie das heutige soziale Spektakel, welches von der Masseninformation zur Massenkultur jede Kommunikation zwischen den Menschen um den einseitigen Empfang ihrer entfremdeten Tätigkeit herum monopolisiert. Sie löst jede ‘revolutionäre Ideologie’ auf, indem sie sie als die Unterschrift des Scheiterns des revolutionären Projekts, als das Privateigentum der neuen Spezialisten der Macht und als den Betrug einer neuen Vertretung entlarvt, die sich über das wirkliche proletarische Leben erhebt.

Da die Kategorie der Totalität für die moderne revolutionäre Organisation das jüngste Gericht ist, bedeutet diese schließlich eine Kritik der Politik. Sie muss bei ihrem Sieg ihr eigenes Ende als getrennte Organisation ausdrücklich anstreben.

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Ohne Stillstand https://panopticon.blackblogs.org/2018/06/28/ohne-stillstand/ Thu, 28 Jun 2018 01:16:09 +0000 http://panopticon.blogsport.eu/?p=245 Continue reading ]]> Kann die Dialektik Ketten brechen?

Seit langem wünschen wir uns diesen Klassiker des revolutionären Kinos vom Jahre 1972 zu präsentieren. Da an diesem Wochenende viele sogenannte Anarchist*innen und Revolutionäre sich einen anderen Kino des Lebens, nämlich dem kapitalitischen Spektakel, namens Fusion, widmen werden, wäre es unangebracht die Waffen der Kritik im Elend des Alltags schweigen zu lassen. Es ist noch ein langer Weg bis zur allgemeinen Selbstverwaltung und zur Realisierung der menschlichen Gemeinschaft ohne Ausbeutung und Herrschaft des Menschen durch den Menschen.

Dieser Film, auf französisch La dialectique peut-elle casser des briques?, ist ein Film aus dem Umfeld und der Bewegung der SituationistInnen. Hauptfigur für dessen Realisierung war René Viénet, der auch das Buch Enragés et situationnistes dans le mouvement des occupations (Wütende und Situationisten in der Bewegung der Besetzungen), herausbrachte.

Dieser Film folgt das Konzept des „Detournemont“, welches aus den politischen und künstlerrischen Möglichkeiten enstand, um Dinge (Waren) die durch den Kapitalismus oder das herrschende hegemonische politische System erschaffen wurde, um diese aus ihren ursprünglichen Sinn und Gebrauch zu verzerren und daraus eine kritische Wirkung zu verursachen. In diesem Falle ging es darum einen Film, der als Ware sich konsolidiert hatte, in eine radikale Kritik der herrschenden Kultur und einer Waffe revolutionärer Subversion umzuwandeln.

Im ursprünglichen Film kämpfen KoreanerInnen mit ihren Kampfkünste gegen japanische UnterdrückerInnen. Durch das modifizierte Drehbruch (détourné), gibt die Geschichte eine Gruppe von Proleten wieder, die mit einer Gruppe von korrupten und gewaltätigen BürokratInnen, mit Hilfe der Dialektik und der radikalen Subjektivität, ein Ende setzen wollen. Dieser historische Konflikt, der fälschlischerweise von der radikalen Linken des Kapitalismus als ein Phänomen welches nur in industriellen und westlichen Ländern getragen wurde, verteidigt, bezieht sich auf jenen der innerhalb des sogenannten Staatskapitalismus stattfand. Damit sind ebene jene Länder gemeint, die das Paradies der ArbeiterInnenklasse werden sollten und sich logischerweise nur als ein weiterer Joch gegen diese sich beziehen. Eben dieser Staatskapitalismus, wo jede Kritik heutzutage, immer noch als Antikommunistisch bezeichnet wird und damit jede Kritik an den Leninismus und Stalinismus torpediert und verhindert wird. Dies lassen wir nicht zu.

Der Film sollte im damaligen Zeitgeist gesehen und verstanden werden. Auch wenn es immer noch viele Parallelen für das Jetzt gibt. Das heißt, das alle Dialoge, die ständig sich auf verschiedene Revolutionäre beziehen – wie Marx, Bakunin, Wilhelm Reich – eine unheimliche Kritik gegen die Kommunistische Partei in Frankreich waren. Sowie den Gewerkschaften und dem Maoismus die damals, und wieder heutzutage, En Vogue waren. So werden historische, und damals gegenwärtige Ereignisse dargestellt und thematisiert, wie z.B., die Pariser Kommune, die Mai Tage in Barcelona 1937, die französische Linke und die eigenen SitutionistInnen. In der Nebenhandlung, nicht aber als Nebenwiderspruch zu verstehen, tauchen genauso wichtige Fragen auf, wie die der Geschlechter, der Entfremdung und weiteren.

Fast so imposant wie die maoistischen Balletaufführungen, aber durchaus nicht so langweilig und pathetisch, wird dieser Film all denjenen empfohlen die sich den Ritualen, Traditionen und Dogmen einer radikalen Linken nicht untwerfen wollen und sich lieber auf die Seite jener AntagonistInnen und DissidentInnen schlagen, die die Kritik in eine Totalität/Gesamtheit stellen und nicht nur als eine verstümmelte Phrase. Die Kritik an die herrschenden Verhältnisse, in denen wir gezwungen sind zu leben, kann nur als eine Gesamheit aller Verhältnisse stattfinden. Dies nicht zu tun, bedeutet unwiederuflich diese weiterhin zu erneuern und am Leben zu erhalten. Der soziale Frieden des Kapitalismus wird nur durch den sozialen Krieg aller Ausgebeuteten und Ausgeschlossenen auf den Scheiterhaufen der Geschichte landen.

Damit die radikale Subjektivität eine praktische Kraft wird!

Kein Gott, weder Cäsar, noch Tribun!

Für die Anarchie!

Soligruppe für Gefangene

 

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Die Gesellschaft des Spektakels https://panopticon.blackblogs.org/2017/06/13/52/ https://panopticon.blackblogs.org/2017/06/13/52/#respond Tue, 13 Jun 2017 20:22:24 +0000 http://panopticon.blogsport.eu/?p=52 Continue reading ]]>
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Das ganze Leben der Gesellschaften, in welchen die modernen Produktionsbedingungen herrschen, erscheint als eine ungeheure Sammlung von Spektakeln. Alles was unmittelbar erlebt wurde, ist in eine Vorstellung entwichen. „Die Gesellschaft des Spektakels, Guy Debord“

 

Als Debord 1967 dieses Buch veröffentlichte konnte er nicht ahnen was dieser auslösen würde. 50 Jahre danach beziehen sich immer noch viele darauf und verstümmeln, rekuperieren, ideologisieren diesen und vor allem verstehen diese nicht. Entweder war dieses Buch die Synthese der Situationistischen Internationale, eine der widersprüchlichsten revolutionären Gruppen des 20ten Jahrhunderts, oder das Zenit eines Narzisten. Wie dem auch sei, dieses Werk spricht Bände über sich selbst und sollte nach wie vor gelesen werden um die Waffen der Kritik zu schärfen. Denn die Entfermdung durch die Bilder (Werbung, Internet, Filme, technologisierte Kommunikation) vorgetäuschte Erlebenisse die als Ware verstanden werden, haben seit den spät 60er nicht abgenommen, sondern nehmen jeden Tag mehr und mehr zu.

Beim Lesen dieses Buches muss man berücksichtigen, dass es wissentlich geschrieben wurde in der Absicht, der Gesellschaft des Spektakels zu schaden. „Guy Debord“

Zum lesen

 

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