Kritik an der Staatsbürgerschaft (Ideologie) – Soligruppe für Gefangene https://panopticon.blackblogs.org Für die Anarchie! Knäste, Staat, Patriarchat und Kapital abschaffen! Thu, 20 Mar 2025 12:22:47 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.1 https://panopticon.blackblogs.org/wp-content/uploads/sites/1233/2020/02/cropped-discharge-degenerik-blog-1-32x32.jpg Kritik an der Staatsbürgerschaft (Ideologie) – Soligruppe für Gefangene https://panopticon.blackblogs.org 32 32 Die staatsbürgeristische Sackgasse des. Beitrag zu einer Kritik des Staatsbürgerismus– Alain C. https://panopticon.blackblogs.org/2025/03/15/die-staatsbuergeristische-sackgasse-des-beitrag-zu-einer-kritik-des-staatsbuergerismus-alain-c/ Sat, 15 Mar 2025 22:00:38 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=6225 Continue reading ]]>

Gefunden auf infokiosques, mit der spanischen Übersetzung verglichen, die Übersetzung ist von uns. Weitere solche geile Texte werden folgen.


Die staatsbürgeristische Sackgasse des. Beitrag zu einer Kritik des Staatsbürgerismus– Alain C.

Ein paar einleitende Wörter:

Wir haben vor fast drei Jahren zu der Einleitung eines Textes der sich mit derselben Thematik beschäftigt, folgendes geschrieben: „Bei den folgenden Artikeln liegt, unter anderem, der Schwerpunkt auf die Debatte/Kritik der modernen Figur des sogenannten Staatsbürgers, bzw. der Ideologie dahinter, als Ersatz zu der Klassenkonfrontation, zu der wir auf Deutsch noch keinen passenden Begriff gefunden haben – man könnte den der Staatsbürgerschaft verwenden – zumindest im Gegensatz zu anderen Sprachen (Citizen und Citizenship (Englisch), Ciudadano und Ciudadanismo (Spanisch) und Citoyen und Citoyenneté (Französisch). Weitere Texte zu der Thematik finden sich hier, Textreihe Kritik an der Linken des Kapitalismus und hier Staatsbürgerschaft. Hiermit fahren wir mit der Kritik an den Staatsbürgertum/Staatsbürgerschaft fort und der unumgänglichen Notwendigkeit die Konfrontation im Kapitalismus als eine zwischen Klassen zu verstehen.“

Wir selbst haben seit dem uns mehrmals den Kopf zerbrochen und überlegt wie wir die oben erwähnten Begriffe einheitlich verwenden könnten, denn es ergibt auch gar keinen Sinn jedes Mal andere Begriffe zu verwenden. Denn wir sind selbst in die Falle getappt über die Jahre verschiedene Begriffe zu verwenden von denen wir dachten sie würden am verständlichen wirken, ohne dabei auf dass wichtigste zu achten, nämlich den Inhalt des Begriffes selbst, auch wenn wie gleich gesehen wird, furchterregende Neologismen kreiert haben. Während wir in den jüngsten Vergangenheit von Staatsbürgerschaft (siehe oben z.B.) als ein Begriff verwendeten der eine Ideologie benennen und beschreiben sollte, haben wir uns für Staatsbürgerismus letzten Endes entschieden.

Aus dem Französischen über´s Spanische finden wir folgende Begriffe die wir auch daher so in Deutsche übersetzt haben, weil es für uns am präzisesten ist:

Citoyen – Ciudadano – Staatsbürger

Citoyennisme – Ciudadanismo – Staatsbürgerismus

Citoyenniste – ciudadanista – staatsbürgeristisch

In den verschiedenen Texten die wir zu der Thematik veröffentlicht haben haben wir als Übersetzung den Begriff Staatsbürgerschaft verwendet, aber dieser erweißt sich als unzureichend.

Der hier vorliegende Text, wurde im Jahr 2001 veröffentlicht, sagt dass die alte Arbeiterbewegung versagt hat und besiegt. Sie hat im Grunde versagt weil sie im Grunde nicht die Zerstörung des Staates-Kapitals in Visier genommen hat, sondern nur deren Verwaltung. Da die Organisationen der alten Arbeiterbewegung (Kommunistische Parteien, Gewerkschaften) entweder verschwunden sind oder kurz davor sind, ein Schatten ihrer selbst sind, oder irrelevant geworden sind, musste für den sozialen Frieden, für die Integration des Proletariats im Kapitalismus eine neue Ideologie-Bewegung entstehen, die den falschen Antagonismus der alten Arbeiterbewegung nicht mehr zu täuschen brauchte.

Nämlich den sogenannten citoyennisme. Die zentrale Figur, oder Subjekt, essentiell in der Demokratie ist der Staatsbürger, eine politische Figur die nur durch und mit dem modernen Staat existiert. Es wäre nicht richtig hier an die Bürger der Griechischen Polis zu denken, genauso wenig an jene der Römischen Republik bis der Rubikon überquert wurde, nein hier spielt alleine der Staatsbürger als Produkt der Französischen Revolution eine zentrale Rolle, genauso wie die Demokratie, die wie bekannt sein sollte, ein System ist der eine Gesellschaft die in Klassen gespalten ist und unversöhnlich ist, eben diesen Antagonismus durch die Demokratie aufhebt (was natürlich unmöglich ist) und die Klassen „verschwinden lässt“.

Das Konzept des Staatsbürgers stammt aus der Aufklärung und der Französischen Revolution und wird in der Regel hauptsächlich in der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz umgesetzt. Dafür ist aber nicht nur ein starker und funktionierender Staat die Voraussetzung, sondern dient diese Gleichheit vor dem Gesetz, welches auch nur durch das Gewaltmonopol garantiert werden kann, durch das Gesetz selbst, was nur das Abbild der Interessen der herrschenden Klasse ist.

Dieser Text befasst sich mit der Ideologie die als radikal präsentiert wird und sogar hier eine sehr große Rolle spielt, wie wir in vielen Kämpfen und bei Wahlen spielt.Dieser Text geht eine Debatte/Kritik ein die so im deutschsprachigen Raum kaum bis gar nicht bekannt ist. Eine Debatte/Kritik die sich für die deutsche Sprache (wahrscheinlich) unmöglicher und unverständlicher Begriffe bedient, eine Mischung zwischen Neologismen und syntaktischen Spagats. Wir denken auch gerade wie der Eindruck bei den ersten Texte der SI (Situationistischen Internationale) gewesen sein muss, wenn immer wieder die Begriffe Rekuperation, Racket, oder aufgrund des herrschenden Pauperismus in sogenannten anarchistischen Kreisen (in Wahrheit sozialdemokratischen) eine Unmöglichkeit eintrifft anarchistische Idee zu verstehen, wie es so oft der Fall beim aufständischen Anarchismus und der anarchistischen Geschichte selbst der Fall ist, apropos jene Geschichte die die des Proletariats ist.

Zentrale Aspekte der Kritik sind folgende:

– Das Aufgeben revolutionärer Positionen/Programm, jegliche Aktion finden und (kann nur) innerhalb der Legalität des demokratischen Staates, ergo des kapitalistischen ökonomischen System entwickelt werden.

– Kämpfe zielen nicht mehr die Risse der Gesellschaft aufzureißen, sondern die Demokratie selbst als Vehikel der Verbesserung (Reformen) zu verstehen. Wir sehen dies im Bereich vieler Kämpfe wie für Menschenrechte, um die Wohnung, Umwelt, usw., da die Zeit der sozialen Revolution abgelaufen ist, kann nur noch ein Arrangement mit dem Kapitalismus existieren. Wir haben dies die letzten Jahre in den Illusionen gesehen die (auch bei Anarchistinnen und Anarchisten) in Parteien/Politiker wie Syriza, Podemos, die Linke, Obama aufgingen.

Da die alte Arbeiterklasse Geschichte ist (gemeint sind aber seine Organisationen die sich nicht als effektiv bewiesen haben) hat der Staatsbürgerismus diesen Platz eingenommen, nur mit dem Unterschied dass dieser nicht so tut als ob er gegen Staaten-Nationen-Kapital kämpft, sondern nur eine reaktionäre Funktion erfüllt, „nämlich die Stärkung eines Staates im Dienste des Kapitals.“

Eine andere Debatte die hier aufgehen würde, ist ob und überhaupt die Demokratie das beste System ist, das als die Voraussetzung für die soziale Revolution (davor den allgemeinen bewaffneten Aufstand des Proletariats), ergo die klassenlose Gesellschaft (frei von Nationen, Staaten, Waren, Geld, Grenzen, Patriarchat, etc.), gilt. Wir sind entschieden gegen diese Auffassung. Zumindest was eine positive und naive Vorstellung der Demokratie angeht.

Genauso wie die historische Rolle der Linken (radikalen auch) des Kapitals, aber dies wäre ein komplett anderes Kapitel.

Weitere interessante Frage treten im Verlauf des Textes auf, aber wir wollen ja nicht alles vorwegnehmen.

Salud


Die staatsbürgeristische Sackgasse des. Beitrag zu einer Kritik des Staatsbürgerismus– Alain C.

Wenn die Logik des falschen Bewußtseins sich nicht selbst wahrheitsgemäß erkennen kann, so muß die Suche nach der kritischen Wahrheit über das Spektakel auch eine wahre Kritik sein. Sie muß praktisch unter den unversöhnlichen Feinden des Spektakels kämpfen und zugeben, dort abwesend zu sein, wo sie abwesend ist. Der abstrakte Wille zur unmittelbaren Wirksamkeit erkennt die Gesetze des herrschenden Denkens, den ausschließlichen Gesichtspunkt der Aktualität an, wenn er sich den Kompromittierungen des Reformismus oder der gemeinsamen Aktion pseudorevolutionärer Trümmerhaufen ergibt. Dadurch hat sich der Wahn in derselben Position wiederhergestellt, die ihn zu bekämpfen beansprucht. Die über das Spektakel hinausgehende Kritik muß viel mehr zu warten wissen.“

Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels

Die im Folgenden vorgestellten Thesen erheben nicht den Anspruch, das letzte Wort zu dem behandelten Thema zu haben. Sie sind vielmehr eine Reihe von Anhaltspunkten, die in einigen Fällen weiterverfolgt und vertieft werden können, in anderen einfach aufgegeben werden können. Wenn es uns gelingt, einer Kritik, die noch auf der Suche nach sich selbst ist, einige Referenzpunkte (u. a. historische) zu geben, werden wir unser Ziel voll und ganz erreichen.

Wir sind auch der Meinung, dass weder dieser Text noch irgendein anderer allein durch die Kraft der Theorie den Staatsbürgerismus zu Fall bringen kann. Die wahre Kritik am Staatsbürgerismus wird nicht auf dem Papier erfolgen, sondern das Ergebnis einer sozialen Bewegung sein, die diese Kritik zwangsläufig enthalten muss, was bei Weitem nicht ihr einziger Vorzug sein wird. Es ist die gesamte Gesellschaftsordnung, die durch den Staatsbürgerismus in Frage gestellt wird, eben weil diese Ordnung ihn enthält.

Der Zeitpunkt scheint uns geeignet, um mit dieser Kritik zu beginnen. Wenn der Staatsbürgerismus anfangs eine gewisse Verwirrung darüber aufkommen lassen konnte, was er wirklich war, so ist er heute aufgrund seines eigenen Erfolgs gezwungen, immer mehr sein wahres Gesicht zu zeigen. Mehr oder weniger kurzfristig wird er sein wahres Gesicht zeigen müssen. Dieser Text versucht, diese Enthüllung vorwegzunehmen, damit wir zumindest nicht unvorbereitet sind und angemessen reagieren können.

I. Vorläufige Definition

Wir beschränken uns auf eine einleitende Definition des Staatsbürgerismus, d. h. wir konzentrieren uns nur auf das Offensichtliche. Ziel dieses Textes ist es, mit einer genaueren Definition zu beginnen.

Unter Staatsbürgerismus verstehen wir zunächst eine Ideologie, deren Hauptmerkmale sind:

1) der Glaube, dass die Demokratie in der Lage ist, sich dem Kapitalismus entgegenzustellen;

2) das Projekt, den Staat (oder die Staaten) zu stärken, um diese Politik umzusetzen;

3) die Staatsbürger als aktive Grundlage dieser Politik.

Das ausdrückliche Ziel des Staatsbürgerismus ist es, den Kapitalismus zu vermenschlichen, ihn gerechter zu machen, ihm in gewisser Weise eine zusätzliche Seele zu verleihen. Der Klassenkampf wird hier durch die politische Beteiligung der Staatsbürger ersetzt, die nicht nur ihre Vertreter wählen, sondern auch ständig Druck auf sie ausüben müssen, damit sie das umsetzen, wofür sie gewählt wurden. Natürlich dürfen die Staatsbürger die staatlichen Behörden in keinem Fall ersetzen. Sie können von Zeit zu Zeit das praktizieren, was Ignacio Ramonet „zivilen Ungehorsam“ genannt hat (nicht mehr „zivil“, ein Begriff, der zu sehr an den „Bürgerkrieg“1 erinnert), um die Behörden zu einem Politikwechsel zu zwingen.

Der Rechtsstatus des „Staatsbürgers“, einfach verstanden als Staatsangehöriger eines Staates, erhält einen positiven, ja sogar anstößigen Inhalt. Als Adjektiv beschreibt der Begriff „Staatsbürger“ im Allgemeinen alles, was gut und großzügig, engagiert und verantwortungsbewusst ist, und allgemeiner, wie man früher sagte, „sozial“. In diesem Sinne können wir von „Staatsbürgerunternehmen“, „Staatsbürgerdebatten“, „Staatsbürgerkino“ usw. sprechen.

Diese Ideologie manifestiert sich in einer Vielzahl von Assoziationen, Gewerkschaften/Syndikate, Presseorganen und politischen Parteien. In Frankreich gibt es Assoziationen wie ATTAC, die Freunde von „Monde Diplomatique“, AC! [Gemeinsam gegen Arbeitslosigkeit], Droit au Logement [Recht auf Wohnung], APOC [Kriegsdienstverweigerer], die Ligue des Droits de l’Homme [Menschenrechtsliga], das Netzwerk Sortir du nucléaire [Atomausstieg], usw. Es ist erwähnenswert, dass die meisten Personen, die in dieser Bewegung militieren, oft gleichzeitig mehreren Assoziationen angehören. Auf gewerkschaftlicher/syndikalistischer Ebene haben wir die CGT [verbunden mit der Kommunistischen Partei Frankreichs], SUD [gegründet von Trotzkisten], die Confédération Paysanne, die UNEF [Nationale Studentenvereinigung Frankreichs] usw. Was die politischen Parteien betrifft, so sind die trotzkistischen Parteien und die Grünen vertreten. Allerdings haben die politischen Parteien einen anderen Status, aber wir werden diese Frage später behandeln. Am äußersten linken Rand des Staatsbürgerismus können wir die Fédération Anarchiste, die CNT und die antifaschistischen Anarchisten einordnen, die in den meisten Fällen den staatsbürgerlichen Bewegungen folgen, um ihren libertären Beitrag zu leisten, sich aber in Wirklichkeit auf demselben Terrain befinden.

Auf weltweiter Ebene haben wir Bewegungen wie Greenpeace usw. und all die Gewerkschaften/Syndikate, Assoziationen, Lobbys, Dritte-Welt-Bewegungen (A.d.Ü., Dritterweltismus) usw., die sich in Seattle getroffen haben. Eine vollständige Liste zu erstellen, wäre zu lang. Wichtig ist, dass all diese Gruppierungen ideologisch, mit lokalen Varianten, auf demselben Terrain stehen. Der Staatsbürgerismus ist heute eine weltweite Bewegung, die auf einer gemeinsamen Ideologie beruht. Von Seattle bis Belgrad, von Ecuador bis Chiapas erleben wir den Aufschwung dieser Bewegung, und jetzt geht es sowohl für sie als auch für uns darum, zu wissen, welchen Weg sie einschlagen und wie weit sie gehen kann.

II. – Voraussetzungen und Fundamente

Die Wurzeln des Staatsbürgerismus sind in der Auflösung der alten Arbeiterbewegung zu suchen. Die Ursachen für diese Auflösung liegen sowohl in der Integration der alten Arbeiterbewegung als auch im offensichtlichen Scheitern ihres historischen Projekts, das sich in äußerst unterschiedlichen Formen manifestieren konnte (sagen wir, vom Marxismus-Leninismus bis zu den Rätekommunisten). Dieses Projekt forderte in seinen verschiedenen Ausprägungen, dass das Proletariat die kapitalistische Produktionsweise übernehmen sollte, eine Produktionsweise, deren Kinder und damit Erben sie sind. Das Wachstum der Produktivkräfte war in dieser Weltanschauung auch der Weg zur Revolution, die eigentliche Bewegung, durch die sich das Proletariat als künftige herrschende Klasse (die Diktatur des Proletariats) konstituierte, eine Herrschaft, die später (nach einer problematischen „Übergangsphase“) zum Kommunismus führen sollte. Das tatsächliche Scheitern dieses Projekts erfolgte in den 1920er Jahren und 1936-38 in Spanien. Die internationale Bewegung der 1960er Jahre (1968) wurde oft als „zweiter proletarischer Angriff auf die Klassengesellschaft“ nach dem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts angesehen.

Mit der Krise und der Einleitung der Globalisierung in ihrer modernen Form markieren die 70er und dann die 80er Jahre den Niedergang und das Verschwinden dieses historischen Projekts. Diese Globalisierung ist gekennzeichnet durch zunehmende Automatisierung, d.h. Massenarbeitslosigkeit und Produktionsverlagerung in die ärmeren Länder, wodurch das alte Industrieproletariat der Industrieländer aus den Fabriken verdrängt wird. Hier ist eine Tendenz der Unternehmen zu beobachten, sich zumindest formal von einem Großteil des Produktionssektors zu „entledigen“, um ihn auf die Zulieferung zu verweisen und sich idealerweise nur noch mit Marketing und Spekulation zu befassen. Dies bezeichnen die Staatsbürgeristen als „Finanzialisierung des Kapitals“. Ein Unternehmen wie Coca-Cola besitzt derzeit praktisch keine Produktionseinheiten mehr und begnügt sich damit, „die Marke zu verwalten“, sein Börsenkapital zu vermehren und „neu zu investieren“, indem es kleinere Wettbewerber aufkauft, die es zuvor zur Standortverlagerung gezwungen hatte usw. Es gibt eine doppelte Bewegung der Kapitalkonzentration und der Produktionsfragmentierung. Ein Auto kann aus in Mexiko hergestellten Stoßstangen und aus in Taiwan gefertigten elektronischen Bauteilen bestehen, wobei das Ganze in Deutschland montiert wird, während die Gewinne an der Wall Street umlaufen.

Die Staaten begleiten diese Globalisierung, indem sie sich des aus der Kriegswirtschaft stammenden öffentlichen Sektors entledigen (Entstaatlichung), die Arbeitskosten so weit wie möglich „flexibilisieren“ und senken. In Frankreich führte dies zu dem Gesetz über die 35-Stunden-Woche, das von der staatsbürgeristischen Bewegung (zumindest in ihren offiziellen Erklärungen), der Arbeitslosenbewegung von 1998 und dem PARE (Plan zur Unterstützung der Rückkehr in den Beruf) so vehement gefordert wurde.

Die Machtübernahme der Linken im Jahr 1981 und die Studenten- und Eisenbahnerbewegung im Jahr 1986 sind Bezugspunkte, die es uns ermöglichen, den Fortschritt dieser Auflösung und den Ersatz der alten Arbeiterbewegung durch den Staatsbügerismus im Rahmen der Globalisierung zu verorten. Die Bewegung von 1968 war in Frankreich wie auch im Rest der Welt in der Tat „der letzte Angriff auf die Klassengesellschaft“. Ihr Scheitern markiert die historische Auflösung dessen, was bis dahin der Traum von der historischen Anerkennung des Proletariats als Proletariat, d. h. als Arbeiterklasse, war. Die Selbstverwaltung und die Arbeiterräte waren die äußerste Ausprägung dieser Bewegung. Wir bereuen nichts. Nach diesen Jahren wurde auch eine viel breitere und vielfältigere soziale Protestbewegung liquidiert, während sich die schwere Bleischicht der 1980er Jahre über die Welt legte.

Auch wenn der Slogan „Alles gehört uns, nichts gehört ihnen“ bei Demonstrationen immer noch zu hören ist, entspricht er genau dem Gegenteil der Realität, und das war schon immer so. Er bezieht sich offensichtlich auf eine illusorische „Verteilung des Reichtums“ (und von welchen Reichtümern können wir heute sprechen?), stammt aber direkt von der alten Arbeiterbewegung, die die kapitalistische Welt selbst verwalten wollte. In diesem Satz lässt sich sowohl ein Wiederaufleben, eine Kontinuität als auch eine Verdrehung der Ideale der alten Arbeiterbewegung (offensichtlich in ihrem weniger revolutionären Teil) durch den Staatsbürgerismus erkennen. Das nennt man die Kunst, die Reste zu verwerten. Wir werden später auf diesen Punkt zurückkommen.

Das Verschwinden des Klassenbewusstseins und seines historischen Projekts, erschöpft durch die Zersplitterung der Arbeit, durch das allmähliche Verschwinden der großen „gemeinschaftlichen“ Fabrik sowie durch die Prekarisierung der Arbeit (alles nicht das Ergebnis einer Verschwörung, die versucht, das Proletariat zu knebeln, sondern des Prozesses der Kapitalakkumulation, der zur heutigen Globalisierung geführt hat), hat das Proletariat verstummen lassen. Es zweifelt sogar an seiner eigenen Existenz, ein Zweifel, der von einer großen Zahl von Intellektuellen und von dem, was Debord als „integrierten Spektakel“ bezeichnete, das nichts anderes ist als die Integration in das Spektakel, angefacht wurde.

Angesichts dieser Perspektivlosigkeit konnte sich der Klassenkampf nur in Verteidigungskämpfen erschöpfen, die manchmal sehr gewalttätig waren, wie im Fall Englands. Aber diese Energie war vor allem die Energie der Verzweiflung. Es kann auch hervorgehoben werden, dass dieser Verlust positiver Perspektiven sich bei den Menschen, die die 60er und 70er Jahre erlebt haben, oft in einer sehr realen persönlichen Verzweiflung manifestiert hat, die manchmal bis zu ihren letzten Konsequenzen, Selbstmord oder Terrorismus, geführt hat.

Der Staatsbügerismus fügt sich somit in diesen Rahmen ein: Nachdem die Revolution begraben war, als sich keine Kraft mehr in der Lage fühlte, die radikale Umgestaltung der Welt in Angriff zu nehmen, und angesichts der Tatsache, dass die Ausbeutung ihren Lauf nahm, musste sich eine Form des Protests äußern. Dies war der Staatsbürgerismus. Seine offizielle Geburtsstunde kann im Verlauf der Unruhen im Dezember 1995 [in Frankreich] verortet werden. Diese Bewegung, die auf der realen Grundlage der Opposition gegen die Privatisierung des öffentlichen Sektors und die damit einhergehende Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und den Verlust des eigentlichen Sinns der Arbeit entstand, konnte sich in dieser Situation nur als Verteidigung des öffentlichen Sektors und nicht als Infragestellung der kapitalistischen Logik im Allgemeinen, wie sie sich im öffentlichen Dienst manifestiert, manifestieren. Die Verteidigung dieses Sektors impliziert logischerweise, dass dieser Sektor als außerhalb der kapitalistischen Logik betrachtet wird oder betrachtet werden sollte. Es war keine gute Kritik an dieser Bewegung, als ihr vorgeworfen wurde, eine Bewegung von Privilegierten oder einfach von egoistischen Korporatisten zu sein. Aber es lässt sich feststellen, dass selbst die großzügigsten oder radikalsten Aktionen dieser Bewegung die gleichen Grenzen hatten. Alle Haushalte kostenlos mit Strom zu versorgen ist eine Sache, über die Produktion und Nutzung von Energie nachzudenken eine andere. Man kann an diesen Aktionen erkennen, dass der Staat als eine vom Kapital parasitierte Gemeinschaft verstanden wird, wobei das Kapital zwischen den Staatsbürgern-Nutzern und dem Staat steht. Der Staatsbürgerismus sagt nichts anderes aus.

Wir können sehen, dass der Staatsbürgerismus keine radikalere Bewegung rekuperieren könnte. Im Moment existiert eine solche Bewegung einfach nicht. Der Staatsbürgerismus entwickelt sich als Ideologie, die notwendigerweise von einer Gesellschaft hervorgebracht wird, die keine Aussichten auf Überwindung [des Systems] in Betracht zieht.

Wir können auch hervorheben, dass die Bewegung von 1995, dem Geburtsjahr des Staatsbürgerismus, ein Misserfolg war, selbst in Bezug auf ihre begrenzten grundlegenden Ziele. Die Privatisierung des öffentlichen Sektors schreitet weiter voran, und dieser Sektor kann sogar als Vorreiter der Ideologie des Privaten gelten, was die Beteiligung der Unternehmen, die Einbeziehung in die Verwaltung usw. betrifft. In diesem Sektor gibt es Massenentlassungen, es entstehen immer mehr prekäre Arbeitsverhältnisse, die so genannten „Arbeit-Jugend“, Arbeitsplätze werden abgebaut und die verbleibenden überlastet. Auch der öffentliche Sektor steht bei der Umsetzung der 35-Stunden-Woche, d. h. der Flexibilisierung, an vorderster Front. Auch hier zeigt sich, dass die Logik des Staates und die des Kapitals, wenn nötig, keineswegs im Widerspruch zueinander stehen, was eine der internen Grenzen des Staatsbürgerismus darstellt.

III. – Das Verhältnis zum Staat, Reformismus und Keynesianismus.

Die Beziehung des Staatsbürgerismus zum Staat ist sowohl eine Beziehung der Opposition als auch der Unterstützung, oder besser gesagt der kritischen Unterstützung. Es kann sich dem Staat widersetzen, aber es kann nicht auf die Legitimität verzichten, die er ihm bietet. Die staatsbürgerlichen Bewegungen müssen sich schnell zu Gesprächspartnern entwickeln und dazu manchmal „radikale“, d. h. illegale oder spektakuläre Aktionen durchführen. Es geht darum, sich gleichzeitig in die Opferrolle zu versetzen, den Staat in Verlegenheit zu bringen (d.h. den idealen Staat dem realen Staat gegenüberzustellen) und so schnell wie möglich an den Verhandlungstisch zu gelangen. Das Eintreffen der CRS (Bereitschaftspolizei) bestätigt, dass die Staatsbürgeristen verstanden wurden. Natürlich muss all dies vor den Augen der Kameras geschehen. Hier ist die Repression der Vorläufer der staatsbürgerlichen Bewegungen: Die Konfrontation ist nicht mehr wie in früheren Zeiten der Moment, in dem das Kräfteverhältnis gemessen wird, sondern besteht aus einer symbolischen Legitimation. Daher beispielsweise das Missverständnis zwischen René Riesel [ehemaliges Mitglied der Situationistischen Internationale] und einigen anderen der Confédération Paysanne, die dieses Kräfteverhältnis herstellen wollten, und José Bové (und offensichtlich dem Großteil der Confédération), die durch eine spektakuläre Aktion ihre Bewegung zu einem Gesprächspartner des Staates machen wollten, was tatsächlich teilweise gelungen ist.

Der Staat selbst akzeptiert diese Praktiken großzügig, und jeder kann heute eine kleine Demonstration abhalten, zum Beispiel die Außenbezirke blockieren und anschließend offiziell empfangen werden, um seine Forderungen vorzutragen. Die Staatsbürgeristen sind empört über diesen Zustand, zu dem sie selbst beigetragen haben, und meinen, dass man den Staat trotzdem nicht wegen Kleinigkeiten stören sollte. Die privilegierten Gesprächspartner sehen Parasiten und andere Raubvögel der Demokratie mit Missfallen.

Darüber hinaus werden bestimmte staatsbürgerliche Praktiken direkt vom Staat gefördert, wie die „Staatsbürgerliche Debtten“ oder „Debatten der Staatsbürger“ zeigen, mit denen der Staat sich das „Wort an die Statsbürger“ anmaßt. Es ist interessant zu sehen, wie sehr sich diese Bewegung mit jedem Ersatz für einen Dialog zufrieden gibt und bereit ist, in allem nachzugeben, solange sie nur gehört wird und die Experten „auf ihre Anliegen eingegangen sind“. Der Staat spielt hier die Rolle des Vermittlers zwischen der „Zivilgesellschaft“ und den ökonomischen Instanzen, genauso wie die Staastbürgeristen als Vermittler zwischen dem kritisch überarbeiteten Staatsprogramm (das nichts anderes ist als das Transmissionsriemen der Kapitaldynamik) und der „Zivilgesellschaft“ fungieren. Das hat man beim 35-Stunden-Gesetz gesehen. Die Staatsbürgeristen spielen hier die Rolle, die früher den Gewerkschaften/Syndikaten in der Arbeitswelt zukam, und zwar für alles, was als „Probleme der Gesellschaft“ bezeichnet wird. Das Ausmaß der Mystifizierung zeigt auch das Ausmaß des möglichen Protestbereichs, der sich auf alle Aspekte der Gesellschaft ausgedehnt hat.

In ihrer Beziehung zum Staat beginnen die Staatsbürgeristen – zumindest in Frankreich – an ihrem Sieg zu erkranken. Die Bewegung spaltet sich immer mehr auf und bildet sich neu zwischen denen, die dazu neigen, der Macht zu vertrauen (auf der linken Seite), und den Radikaleren, die den Kampf fortsetzen wollen. Aber das wesentliche Problem ist aufgeworfen worden. Wen könnten die Menschen noch wählen, wenn die Linke erst einmal an der Macht ist? Braucht es mehr Grüne in der Regierung oder sollten diese sich aus der Macht zurückziehen, um ihre Rolle in der Opposition besser ausüben zu können? Aber wozu ist eine politische Partei gut, wenn nicht dazu, sich in die demokratische Arena zu begeben?

Der Staatsbürgerismus ist von seiner Natur her unfähig, sich auf eine Partei zu konzentrieren, zumindest in den demokratischen Gesellschaften, die wir kennen. Es bräuchte eine Diktatur oder eine autoritäre Demokratie, damit die Bestrebungen der Klein- und Mittelbourgeoisie mit einer breiteren Opposition in Resonanz treten und es gelänge, eine demokratische Partei der radikalen Opposition zu organisieren. Wir haben dies in Belgrad oder in Venezuela mit dem Nationalpopulismus von Chávez gesehen. Dagegen gibt es dort, wo es Demokratie gibt, bereits Parteien, die die Bestrebungen dieser Klein- und Mittelbourgeoisie vertreten, und genau diesem Parteiensystem trauen viele Staatsbürgeristen nicht mehr. In den am weitesten entwickelten Ländern konzentriert sich der Staatsbürgerismus im Wesentlichen auf den Wunsch nach einer direkteren, „partizipativen“ Demokratie, einer Demokratie der „Staatsbürger“. Natürlich schlagen sie keine Methode vor, um dies zu erreichen, und dieser Wunsch nach direkter Demokratie endet wie immer an den Wahlurnen oder in der ohnmächtigen Stimmenthaltung.

Unter diesem Gesichtspunkt bieten die Grünen ein interessantes Schauspiel, da sie diese Grenze des Staatsbürgerismus aufzeigen. Aus den Umweltbewegungen der 70er Jahre hervorgegangen, haben sie es in den 80er Jahren geschafft, sich über Wasser zu halten. Aber sie stützen sich immer noch auf das alte Parteimodell, eine hierarchische Form, die der nebulösen Natur der lebendigen Kräfte des Staatsbürgerismus widerspricht. Aufgrund ihrer eigenen Natur liefen sie daher Gefahr, mit der realen Erfahrung der Macht konfrontiert zu werden, was schließlich auch geschah. Tatsächlich ist dies das letzte politische Risiko, dem die „Reformisten“ ausgesetzt sind, nämlich zu regieren. In diesem Szenario politisch aktiv (A.d.Ü., im Sinne der Militanz) zu sein, ist nicht immer ohne Konsequenzen, wie die Grünen auf ihre Kosten feststellen konnten.

Was es ermöglicht, das Risiko zu umgehen, ist das „Lobbying“. Die Lobbys üben niemals Macht direkt aus. Daher können ihnen die „Misserfolge“ des Staates nicht angelastet werden. Der Militantismus des „Lobbying“ kennt in jeder Hinsicht keine Grenzen. Das ist äußerst befriedigend für Menschen, die sich engagieren möchten, ohne allzu große politische Risiken einzugehen. In einer Lobby ist man unter seinesgleichen, man muss keine soziale Basis suchen, wie es bei den klassischen Parteien der Fall ist, indem man mehr oder weniger demagogische Mittel einsetzt. Man kann sich getrost als „radikal“ zeigen. Man kann ungestört den kritischen Ratgeber des Prinzen spielen, ohne sich mit den Schwierigkeiten der Regierung auseinandersetzen zu müssen. Man kann sich ewig über den Mangel an „politischem Willen“ in den Bereichen Kernenergie, Einwanderung oder öffentliche Gesundheit beklagen, ohne auch nur im Geringsten darüber nachdenken zu müssen, was ein Staat im kapitalistischen Kontext tatsächlich tun kann.

Eines der wahnsinnigsten Beispiele dafür ist die unbeschreibliche Vereinigung ATTAC. Es ist allgemein bekannt, dass die bloße Idee einer Besteuerung von Börsentransaktionen selbst den dümmsten Ökonomen vor Lachen in die Knie zwingt. Es ist offensichtlich, dass die Anwendung dieser Besteuerung in einem einzigen Staat diesen in eine tiefe Krise stürzen würde und dass die weltweite Anwendung dieser Maßnahme offensichtlich unmöglich ist. Es ist offensichtlich, dass selbst wenn eine Organisation wie die WTO, die von einem Wahnsinnsausbruch erfasst wurde, diese Maßnahme predigen würde, die Ablehnung weltweit so groß wäre, dass sie keine andere Wahl hätte, als sie wieder in der Schublade zu lassen. Und um es auf die Spitze zu treiben: Wenn eine solche Maßnahme umgesetzt würde, würde automatisch eine weltweite Zunahme der Ausbeutung folgen, um die Verluste auszugleichen.

All dies hindert die Ökonomen von ATTAC nicht daran, angesichts der sarkastischen Gleichgültigkeit der Machthaber mit Kurven und Grafiken über diese Angelegenheit zu schwadronieren. Sie werden bereit sein, sie von Zeit zu Zeit zu empfangen, um sich ein wenig zu amüsieren und vor allem zu zeigen, wie sehr der Staat auf alle Vorschläge achtet, die die Staatsbürger zu machen bereit sind. Auf jeden Fall muss man ATTAC zugute halten, dass es in eine so finstere Disziplin wie die Ökonomie das komische Element eingeführt hat, das ihr fehlte. Wir sehen hier, dass ihre Ohnmacht noch kein Problem für den Staatsbürgerismus ist. Kaum jemand denkt daran, ihn auf der Grundlage ihrer Ergebnisse zu beurteilen, da die Dringlichkeit, Ergebnisse zu erzielen, noch nicht spürbar ist. Wenn dies in großem Maßstab geschieht, wird ihm zweifellos nicht mehr viel Zeit bleiben.

An dieser Stelle müssen wir die Frage des staatsbürgeristischen „Reformismus“ ansprechen. Wir wissen, dass die Staatsbürgeristen diese Bezeichnung gerne annehmen. Es versteht sich, dass sie durch die Verwendung dieses Begriffs suggerieren wollen, dass sie pragmatischer und realistischer sind als die verdammten revolutionären Idealisten. Und tatsächlich können wir an einer Vereinigung wie ATTAC sehen, wie weit ihr Pragmatismus und Realismus geht.

Auf jeden Fall gleichen wir armen Revolutionäre unseren Mangel an Pragmatismus mit der schlechten Angewohnheit aus, die Dinge oft anhand der Geschichte zu beurteilen, also anhand dessen, was bisher wirklich passiert ist. Und wir müssen feststellen, dass der Reformismus immer in Zeiten der Krise des Kapitalismus entsteht. Der Front Populaire (Volksfront) beispielsweise war reformistisch. Zu einer Zeit, als die Arbeiteraufstände weit verbreitet waren und Fabriken besetzt wurden, gewährte der Front Populaire unter anderem den Arbeitern und Arbeiterinnen bezahlten Urlaub, was nie gefordert worden war. Auch Keynes war reformistisch, und die Krise von 1929 hatte etwas damit zu tun. Allerdings gibt es derzeit keine aufständischen Streiks, keine Investitionskrise und keinen signifikanten Rückgang des Konsums. Selbst der jüngste relative Anstieg der Zinssätze nach einem Jahrzehnt kontinuierlicher Senkungen und das sehr vorhersehbare „Debakel“ der „Technologieaktien“ werden eher als Konsolidierung der Märkte denn als Krisenrisiko wahrgenommen. Derzeit gibt es keine wirkliche Kapitalkrise. Es sollte also keine Reformer geben.

Andererseits dienten alle Reformen, die im Kapitalismus durchgeführt wurden, nur dazu, den Kapitalismus selbst zu retten. Es gibt keine antikapitalistischen Reformen. Keynes versteckte sich nicht davor, ein Liberaler zu sein, noch davor, das liberale System retten zu wollen, das durch die Krise von 1929 in Gefahr geraten war.

Wir sollten hier einen Moment bei Keynes verweilen, der von den Staatsbürgerismus als der Ökonom der Wunder dargestellt wird, der alle unsere Übel heilen kann. Zunächst einmal muss gesagt werden, dass Keynes den Kapitalismus seiner Zeit sehr gut kannte, da er ein persönliches Vermögen von 500 000 Dollar angehäuft hatte, indem er nur eineinhalb Stunden pro Tag internationalen Devisen- und Warentransaktionen widmete, während er gleichzeitig für die englische Regierung arbeitete. Es ist verständlich, dass ihn der Börsenkrach von 1929 nicht gleichgültig gelassen hat.

Die Weltwirtschaftskrise von 1929 markiert den Beginn der modernen Epoche des Kapitalismus. Sie ist das Ergebnis der gewaltigen Expansion des 19. Jahrhunderts, die keine Grenzen zu kennen schien, insbesondere in Amerika. Der amerikanische Traum erreichte seinen Höhepunkt und sollte in einem Albtraum enden. Dieser Traum beruhte auf dem Unternehmergeist, auf der unternehmerischen Kühnheit der Erben der Eroberer des Westens, wurde aber von der Realität des Kapitalismus zunichte gemacht, in dem Investitionen nicht aus Freude am Risiko oder Unternehmergeist getätigt wurden, sondern um Gewinne zu erzielen.

Als der Kapitalismus seine Reife erlangt hatte, begann er zu stagnieren, und es wurde allmählich klar, dass unbegrenztes Wachstum nicht für immer garantiert war, als handele es sich um ein Naturgesetz. Die Investitionen gingen zurück oder brachen sogar zusammen. Die klassischen ökonomischen Theorien postulierten, dass es immer ein Angebot geben würde, solange es eine Nachfrage gäbe, und ignorierten dabei die Tatsache, dass Unternehmen nicht produzieren, um Waren zu verwalten, sondern um den Mehrwert aus der Produktion zu ziehen. In diesem Zusammenhang trat Keynes auf den Plan. Das wirklich Notwendige war die Investition, das Wissen, wie man neue Märkte schafft, neue Produkte erfindet und in die Welt des Massenkonsums eintritt. Vor dem Hintergrund der Krise musste der Staat die Anfangsinvestitionen übernehmen, d. h. die Menschen so weit wie möglich wieder in Arbeit bringen, eine inflationäre Geldpolitik betreiben und Infrastrukturen schaffen, auf deren Grundlage das Privatkapital reinvestieren konnte. „Wer wird Autos bauen, wenn es nicht genügend Straßen gibt?“, fragte Keynes. Tatsächlich hatte Präsident Roosevelt bereits begonnen, diese Politik ohne die wertvolle theoretische Unterstützung umzusetzen, die Keynes ihm später geben sollte. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass die Krise von 1929 Millionen von Arbeitslosen auf die Straße gesetzt hatte und dass die „Früchte des Zorns“ gefährlich zu reifen begannen.

Wir sehen jedenfalls, dass der Keynesianismus im Wesentlichen liberal ist. Er geht einfach davon aus, dass der Liberalismus nicht von selbst reguliert werden kann, dass das einfache Spiel von Angebot und Nachfrage nicht der Motor ist, der es dem Kapital ermöglicht, unbegrenzt zu wachsen, und dass es daher Aufgabe des Staates ist, die Wachstumsbedingungen wiederherzustellen, um anschließend den privaten Investoren Platz zu machen. In einem Brief an die New York Times schrieb Keynes 1934: „Ich sehe das Problem der ökonomischen Erholung wie folgt: Wie lange werden die normalen Unternehmen brauchen, um der Ökonomie zu Hilfe zu kommen? In welchem Umfang, mit welchen Mitteln und wie lange müssen die außergewöhnlichen, durch die Regierung verursachten Kosten fortbestehen, bis diese Erholung eintritt?“ Wir haben „außergewöhnlich“ unterstrichen. Es ist klar, dass Keynes keineswegs die Idee einer dauerhaften und kontinuierlichen Kontrolle des Privatkapitals durch den Staat oder verschiedene internationale Instanzen verfolgte. Keynes war kein Sozialist.

Tatsächlich war er so weit vom Sozialismus entfernt, dass er 1931 in Bezug auf den „Kommunismus“ schrieb: „Wie könnte ich eine Doktrin annehmen, die, indem sie Brot dem Kuchen vorzieht, das stinkende Proletariat zum Nachteil der Bourgeoisie und der Intelligenz preist, die trotz all ihrer Fehler die Quintessenz der Menschheit sind und sicherlich hinter jedem menschlichen Werk stehen?“ Es ist wahr, dass die Bourgeoisie damals ganz anders war als das, was sie geworden ist, und dass sie noch nicht das Bedürfnis verspürte, sich zusammen mit Viviane Forrester über das zu beklagen, was man trotz allem „den ökonomischen Schrecken“ genannt hat.

Abschließend muss darauf hingewiesen werden, dass Keynes‘ Theorien ihre Grenzen hatten und dass der Kapitalismus andere Methoden hat, um „Investitionen anzukurbeln“: Zehn Jahre nach der Krise von 1929 begann der Krieg, der die Welt verwüsten, dem technologischen Fortschritt einen unerwarteten Schlag versetzen und die industrialisierte Welt in die glücklichen Jahre des Massenkonsums führen sollte. Keynes selbst trug zu diesem „Investitionsschub“ bei, indem er ein Büchlein mit dem Titel How to Pay for the War (Wie man den Krieg bezahlt) verfasste.

Die Staatsbürgeristen wollen den Liberalismus mit Hilfe von Keynes kritisieren. Da sie nie vorgegeben haben, antikapitalistisch zu sein, folgt daraus, dass sie, wenn sie gegen den Liberalismus sind, gleichzeitig prokapitalistisch sind, also für das stehen, was man früher „Sozialismus“ nannte, d. h. Staatskapitalismus. So lässt sich die Präsenz von Trotzkisten in ihren Reihen besser verstehen. Aber natürlich wehren sie sich auch dagegen. Es ist wirklich kompliziert zu wissen, was sie wollen.

Wir behaupten, dass es derzeit keine kapitalistische Krise gibt, und sie behaupten natürlich das Gegenteil. Tatsächlich muss es eine Krise geben, damit sie gebraucht werden. Die Krise ist das natürliche Element des Reformismus. Sie glaubten, eine in Südostasien gefunden zu haben, aber diese Krise war eher der Beweis dafür, dass der Kapitalismus die Lehren von Keynes gut gelernt hat und nicht mehr glaubt, dass der Liberalismus sich selbst regulieren kann. So wurde die asiatische Krise schnell gelöst, auch mit einigen „sozialen Konsequenzen“. Aber der Kapitalismus kümmert sich nicht um „soziale Konsequenzen“, solange er nicht radikal in Frage gestellt wird. Es wird keinen sozialen Keynesianismus mehr geben, es wird keine glorreichen dreißiger Jahre mehr geben. Auch das ist Vergangenheit.

Wenn die Staatsbürgeristen von Krise sprechen können, dann deshalb, weil der Staat zuerst davon gesprochen hat. Seit 30 Jahren heißt es, Frankreich stecke in der Krise. Diese „Krise“, die zu Beginn real war, wurde dann als Rechtfertigung für Ausbeutung benutzt. Heute spielt die „Rekuperation“ diese Rolle, und die Reformisten sind genervt. Dies zwingt sie, ihren Diskurs, der stets dem des Staates nachempfunden ist, neu auszurichten, und diejenigen, die von einer allgemeinen weltweiten Krise sprachen, sprechen heute von der „Verteilung der Früchte des Wachstums“. Wo bleibt die Kohärenz? Wo sind also diese antiliberalen Keynesianer, diese Reformisten ohne Reform, diese Etatisten, die nicht am Staat teilnehmen können, diese Staatsbürgeristen?

Die Antwort ist einfach: Sie befinden sich in einer Sackgasse, in einer ausweglosen Situation.

Es mag abwegig erscheinen, zu behaupten, dass eine Bewegung, die so offensichtlich alle Bereiche der Protestbewegung besetzt, in einer ausweglosen Situation sein könnte. Einige werden darin eine unbegründete Behauptung sehen, die von einem nicht genau bekannten Ressentiment diktiert wird. Wir haben jedoch oben die Auflösung und das Verschwinden einer viel älteren Bewegung erwähnt, die über eine unendlich breitere und kämpferischere soziale Basis verfügte, ohne dass wir dafür besondere rhetorische Vorsichtsmaßnahmen ergriffen hätten, so offensichtlich erscheint uns dieses Verschwinden heute. Ebenso denken wir, dass eine andere soziale Bewegung auf bisher unbekannten Grundlagen möglich ist.

IV. Staatsbürgerismus und Staatsbürger.

Wenn Ignacio Ramonet von „staatsbürgerlichen“ und nicht von„zivilen“ Ungehorsam spricht, macht er einen klaren Unterschied, der die Beziehung zwischen dem Staatsbürgerismus und seiner eigenen Basis zeigt. Das Wort „zivil“ bezieht sich objektiv und neutral auf den Staatsbürger eines Staates, der nicht in diesem Staat geboren wurde. Der Begriff „staatsbürgerlich“ definiert, was einem guten Staatsbürger entspricht, d. h. einer Person, die aktiv zeigt, dass sie Teil dieses Staates ist. Wie wir sehen können, ist der Unterschied im Wesentlichen moralischer Natur.2

Eine der Stärken des Staatsbürgerismus liegt in diesem im Wesentlichen moralischen, um nicht zu sagen moralisierenden Charakter. Er wechselt leicht von der Anprangerung der „Krise“ zum Vorschlag, „die Früchte des Wachstums zu verteilen“, ohne die Fakten zu berücksichtigen und ohne eine Analyse durchzuführen. Was zählt, ist, die „staatsbürgerlichste“ Position einzunehmen, d. h. die großzügigste, die moralischste. Und natürlich positioniert sich jeder für den Frieden, gegen den Krieg, gegen „schlechte Ernährung“, für „gute Ernährung“, gegen Elend, für Reichtum. Kurz gesagt, es ist besser, in Friedenszeiten reich und gesund zu sein, als in Kriegszeiten arm und krank.

In einer Welt, die sich ein Jahrhundert nach Nietzsche energisch über Gut und Böse hinwegsetzt, ist Moral das, was sich am besten verkauft. Aber dieses Bedürfnis nach Trost kann nicht gestillt werden. Wir können zum Beispiel das Unbehagen sehen, das die leidige Givers-Affäre in den Reihen der Staatsbürgeristen auslöste. Diese Revolte hatte die Besonderheit, dass sie gleichzeitig ein archaisches Wiederaufleben der Arbeiterunruhen und die Manifestation einer Verzweiflung war, die sehr typisch für die heutige Zeit ist. Ein Staatsbürgerist fragte sich während des Aufstands in den Seiten der Zeitung „Le Monde“, ob die Aktion der Arbeiter von CELLATEX als „staatsbürgerliche Aktion“ bezeichnet werden könne. Wir können antworten: Die Lohnarbeiter von Givers, die bis zum Hals in der Patsche saßen und völlig verzweifelt waren, verfügten nicht über den Optimismus und die wohlüberlegte Besorgnis, die den Lesern des „Monde Diplomatique“ eigen sind; sie sind keine Staatsbürger und haben auch nicht als solche gehandelt. Die Ohnmacht, die die Staatsbürgeristen unter diesen Umständen an den Tag legten, zeigt deutlich, welche Art von Reaktion sie unter anderen Umständen in größerem Maßstab zeigen könnten.

Natürlich würden sie nicht zögern, im Namen der Demokratie, des Rechtsstaats und der Moral zur Repression gegen schlechte Staatsbürger aufzurufen. Tatsächlich zielte der Diskurs des Staatsbürgeristen in „Le Monde“ in eine andere Richtung, da er mit seiner hinterhältigen (natürlich völlig objektiven) Infragestellung verhindern wollte, dass jegliche Sympathie, die entstehen könnte, unterbunden wird, und die Staatsbürger zur Vernunft rufen wollte, um eine mögliche Repression vorzubereiten (die natürlich nicht stattfand, da die Arbeiter in der gegenwärtigen Situation keine andere Wahl hatten, als zu verhandeln). Auf jeden Fall ist es interessant zu sehen, wie in dieser Minikrise ein Staatsbürgeristen sich beeilt, dem Staat seine Vermittlungsdienste anzubieten. Der Staatsbürgerismus ist potenziell eine konterrevolutionäre Bewegung.

Unser Beispiel zeigt auch, dass der Staatsbürgerismus nicht in der Lage ist, auf Bewegungen zu reagieren, die nicht von ihm selbst ins Leben gerufen wurden. Andererseits ist es wichtig zu betonen, dass die soziale Basis des Staatsbürgerismus viel breiter und diffuser ist als die der Militanten von Assoziationen und Gewerkschaften/Syndikate. Der Staatsbürgerismus spiegelt die Sorgen einer bestimmten gebildeten Mittelklasse und einer kleinen Bourgeoisie wider, die ihre Privilegien und ihren politischen Einfluss verloren hat, als die alte Arbeiterklasse verschwand. Die weltweite Umstrukturierung des Kapitalismus hat zum Niedergang des alten nationalen Kapitals und damit zum Niedergang der Bourgeoisie, die es besaß, und der Mittelklasse, die sie beschäftigte, geführt. Die alte bourgeoise Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, die noch nach Ancien Régime roch, ist vollständig verschwunden. Die Konsolidierung des Staates und die Kritik an der Globalisierung wirken wie eine Nostalgie nach diesem alten nationalen Kapital und dieser bourgeoisen Gesellschaft, so wie die Kritik an den multinationalen Konzernen nichts anderes ist als Ausdruck der Nostalgie nach dem familiären Geschäft. Wieder einmal wird eine verlorene Welt beklagt.

Eine Welt, die zweimal verloren gegangen ist, da sich der Begriff „Staatsbürger“ auch auf die alte republikanische Bezeichnung bezieht, zweifellos auf die zu Beginn der bourgeoisen Revolution und nicht auf die der Pariser Kommune (obwohl ein neuer endloser und absichtlich anachronistischer Film, der sich mit diesem Thema befasst, darauf hindeutet, dass man auch die Kommune wiederbeleben will). Aber diese Revolution wurde durchgeführt und wir leben in der Welt, die sie geschaffen hat. Die Sans-Culotte wären überrascht, wenn sie die Veränderung der Republik sehen würden, an deren Aufbau sie selbst mitgewirkt haben, aber so wie es unmöglich ist, zweimal in derselben Situation zu leben, kehren die Toten nie zurück. Es kann jedoch sein, dass zukünftige Sans-Culotte, gekleidet in Nike-Kleidung, eines Tages durch irgendeinen Winkel einer modernen Vorstadt schlendern.

Durch den Staatsbürgerismus stellen die enterbten Mittelklassen ihre verlorene Klassenidentität wieder her. So kann sich ein Bioladen als „Schaufenster für Lebensstile und staatsbürgerlichen Denken“ präsentieren. Aber Vorsicht! Die Menschen, die kein Bio essen, sollen wissen, dass sie keine „Staatsbürger“ sind. Ein junger Staatsbürgerist kann dann seine Zweifel am Proletariat schnell vereinfachen: „Was kann man von ihnen erwarten? Sie gehen zu Auchan (einem Supermarkt) einkaufen.“

Die Staatsbürgeristen werden auf der Grundlage, die sie derzeit einnehmen, nicht in der Lage sein, radikalere soziale Bewegungen rekuperieren, da sie sich von diesen radikalen Bewegungen völlig abgetrennt fühlen. Wenn es soweit ist, werden sie dem Staat, den sie verteidigen, nur eine moralische Garantie für seine Repression bieten können. Die Pseudolösungen, die sie angesichts einer realen Krisensituation vorschlagen, werden als das erscheinen, was sie wirklich sind: ein Mittel zur Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung. Wenn große Gruppen von Menschen beginnen, nach Antworten auf ihre konkreten Situationen zu suchen, werden abstrakte und endlose Gegensätze zwischen Staat und Kapital, „echter“ Demokratie und der Demokratie, in der wir leben, oder „Solidarwirtschaft“ und Liberalismus nicht mehr ausreichen. Eine Bewegung, die aus einer großen Krise hervorgeht, d.h. aus der Infragestellung der Existenzbedingungen selbst, wird diesen Spielchen nicht lange standhalten.

Da die Staatsbürgeristen jedoch da sind, werden sie für eine Weile die Revolte in Anspruch nehmen können, die auch die Form eines übersteigerten Nationalismus annehmen könnte, den sie selbst genährt und entwickelt haben (die Voraussetzungen dafür sind bereits vorhanden, zum Beispiel die von José Bové und vielen anderen entwickelte antiamerikanische Haltung). Die Kritik am globalisierten Kapital muss jedoch nicht mit der Möglichkeit eines Rückfalls in das vom Staat verteidigte nationale Kapital konfrontiert werden. Sollte diese sehr unwahrscheinliche Alternative eintreten, würde höchstwahrscheinlich ein Krieg entfacht werden.

Wie wir sehen können, gibt es keine Garantie dafür, dass die nächste soziale Bewegung revolutionär sein wird. Auf jeden Fall wird sie dazu beitragen, den Staatsbürgerismus endgültig zu entlarven, und sie könnte einen neuen Weg eröffnen, um das sehr alte Projekt der Veränderung der Welt jenseits von Staat und Kapital wieder aufzunehmen.

V. – Staatsbürgerismus und Revolution.

Die gesamte alte revolutionäre Bewegung beruhte auf der Tatsache, dass die Arbeiter die Zügel der kapitalistischen Produktionsweise in die Hand nahmen, die sie aufgrund ihrer tatsächlichen Stellung in der Produktion praktisch als ihre eigene betrachteten. Die Automatisierung und Prekarisierung der 1970er Jahre haben diese effektive Stellung, die einer echten Beziehung zwischen dem Proletariat und der Produktion entsprach, zunichte gemacht. Einige Radikale, wie die der Encyclopédie des Nuisances oder Camatte (von Invariance), ahnten oder theoretisierten diese Veränderung. Sie konnten jedoch nicht aus der alten Konzeption der Revolution herauskommen, ohne die Revolution selbst aufzugeben, und genau das ist auch passiert.

Die Situationistische Internationale befürwortete lediglich eine „bessere Nutzung der Produktivkräfte“, um durch Arbeiterräte Situationen zu schaffen. Sie sahen nicht (aber wie hätte man das damals sehen können?), dass die kapitalistische Produktionsweise kapitalistisch war und die von ihnen befürwortete Automatisierung kein Mittel war, um Zeit zu gewinnen und „ohne Zeitverlust zu leben und ohne Hindernisse zu genießen“, sondern nur ein Mittel, um Kapital zu gewinnen. Und nach der „Konterrevolution“ der 70er und 80er Jahre haben sie sich damit abgefunden, diese Produktion, die die Arbeiter nicht zurückgewinnen konnten, als Quelle allen Übels zu identifizieren.

Anstatt das Verschwinden der alten Arbeiterbewegung als neue Bedingung einer aufkommenden revolutionären Bewegung und vor allem als Chance für diese Bewegung zu begreifen, haben sie es als Katastrophe erlebt. Tatsächlich war es eine große Katastrophe für diese alte Arbeiterbewegung, ihr Totenschein. Die große Mehrheit der Generation nach den Bewegungen von 1968 hat sich in dem durch diese Niederlage entstandenen Vakuum verloren. Und wir wollen ihnen das keineswegs vorwerfen, denn man kann eine ein Jahrhundert lang geltende Konzeption weder an einem Tag noch in zwanzig Jahren vergessen.

Heute kann man damit beginnen, Bilanz zu ziehen. Seit 1995 hatten wir das zweifelhafte Privileg, beobachten zu können, wie auf den Trümmern der Revolution eine Ideologie wieder aufgebaut wurde. Wir konnten die neuen Aspekte dieser Ideologie schnell erkennen, aber es dauerte viel länger, bis wir ihren archaischen Charakter erkannten, d.h. wie sehr sie von der Geschichte bestimmt war.

Wir haben bereits erwähnt, dass der Staatsbürgerismus die Überreste der alten revolutionären Bewegung aufnimmt. Der Staatsbürgerismus möchte heute „reformistisch“ sein, weil die alte revolutionäre Bewegung im Grunde keine Überwindung des Kapitalismus darstellte, sondern dessen Verwaltung durch die „aufsteigende Klasse“, die eines Tages das Proletariat werden sollte. Die „Arbeiterverwaltung“ des Kapitals ist einfach zu einer „Verteilung des Reichtums“ oder einer „Besteuerung des Kapitals“ geworden, die Produktion ist zugunsten des Profits, des Finanzkapitals und des Geldes verschwunden. Ein französischer Slogan verkündet: „De l’argent, il y en a, dans les poches du patronat“ [Geld gibt es, in den Taschen der Arbeitgeber]. Und das stimmt auch, aber im Namen von was sollte dieses Geld in die Taschen der Proletarier, pardon, der „Staatsbürger“ gelangen?

Da die alte Arbeiterbewegung nicht in der Lage war, die Verwirklichung der menschlichen Gemeinschaft herbeizuführen, beschränkt sie sich auf obszöne und aufschlussreiche Weise darauf, einen Teil der kapitalistischen Gewinne zu erlangen (obwohl es wichtig ist zu erwähnen, dass, wenn „nur“ Geld vom Kapitalismus verlangt wird, dies daran liegt, dass wir wissen, dass wir nichts anderes erwarten können). Dies ist zweifellos Grund genug, einen alten Revolutionär zu entmutigen, einen von denen, die glaubten, eine bessere Welt aufbauen zu können. Aber wenn die Überzeugung, dass diese Welt durch die Verwaltung des Kapitals durch die Arbeiter aufgebaut werden könnte, bereits eine Illusion war, dann ist es auch eine Illusion zu glauben, dass der Kapitalismus gezwungen werden kann, seine Gewinne zur Freude aller „Staatsbürger“ zu teilen, wenn wir akzeptieren, dass sein Geld uns glücklich machen kann. Der Staatsbürgerismus greift den Kern einer hundert Jahre alten Illusion auf, und diese Illusion, die in Wirklichkeit bereits tot ist, steht kurz vor ihrer Zerstörung.

„Alles gehört uns, nichts gehört ihnen“, verkünden die Demonstranten hartnäckig. Doch das Kapital, diese Geldmasse, die nur durch die Beherrschung menschlicher Tätigkeit und folglich durch die Umgestaltung dieser Tätigkeit nach seinen eigenen Regeln anwachsen will, hat eine Welt geschaffen, in der ‚alles ihm gehört, nichts uns‘. Und dies betrifft nicht nur das Privateigentum an den Produktionsmitteln, sondern auch deren Natur und Ziele. Das Kapital begnügte sich nicht damit, sich alles anzueignen, was die Menschheit zum Überleben braucht, was den ersten Schritt seiner Herrschaft darstellte, sondern hat es dank Industrialisierung und Technologie so verändert, dass heute fast nichts mehr produziert wird, um konsumiert zu werden, sondern einfach nur, um verkauft zu werden. Produktion zur Befriedigung unserer Bedürfnisse kann nicht vom Kapitalismus kommen. Von der vorkapitalistischen menschlichen Tätigkeit ist praktisch nichts übrig geblieben. Die Welt ist tatsächlich zu einer Ware geworden.

Das Kapital ist keine neutrale Kraft, die, wenn sie richtig „ausgerichtet“ wird, das Glück der Menschheit hervorbringen könnte, genauso wie sie ihr Verderben verursacht. Es kann nicht „entsorgen, wie es verschmutzt“, wie ein ökologischer Staatsbürgerist behauptete, da seine eigene Bewegung ihn unweigerlich dazu führt, zu verschmutzen und zu zerstören, d.h. die Bewegung der Akkumulation und der Produktion für diese Akkumulation setzt sich über jede Vorstellung von „Notwendigkeit“ hinweg, ebenso wie über die lebenswichtige Notwendigkeit, die es für die Menschheit bedeutet, ihre Umwelt zu erhalten. Das Kapital dient nur seinen eigenen Zwecken, es kann kein menschliches Projekt sein. Es gibt keine andere „Globalisierung“. Vor ihm stehen nicht die Bedürfnisse der Menschheit, sondern die Notwendigkeit der Akkumulation. Wenn es sich zum Beispiel dem Recycling widmet, wird die dafür geschaffene Branche alles Notwendige tun, um immer wieder Dinge zu recyceln. Das Recycling, das nichts anderes ist als eine andere Form der Rohstoffgewinnung, erzeugt immer mehr „recycelbare“ Abfälle. Außerdem verschmutzt es genauso wie jede andere industrielle Tätigkeit.

Um Missverständnisse zu vermeiden, ist es wichtig klarzustellen, dass wir die etwas paranoide Vorstellung, die von gewissen „Radikalen“ verbreitet wird, nicht teilen, dass nämlich das Kapital verschmutzt, um einen Markt für die Dekontaminierung zu schaffen, oder dass jedenfalls jeder vom Kapitalismus verursachte Schaden Märkte hervorbringt, um diese Schäden zu beheben, wie es „ein brandstiftender Feuerwehrmann“ tun würde. Es gibt nicht wenige Schäden, die niemand reparieren will, einfach weil es dafür keinen Markt gibt. Ein Beweis dafür ist, dass die Staaten die Kosten für die Dekontaminierung meistens allein tragen müssen, was zu Konflikten zwischen Staaten und Unternehmen führen kann, die in der Debatte „wer verschmutzt / wer bezahlt“ sichtbar werden. Die wahre Quadratur des Kreises, die der „ökologische Kapitalismus“ lösen muss, und worum es bei den „ökologischen Vorschriften“ wirklich geht, ist die Vermeidung von Schäden und vor allem von Kosten, ohne dabei Investoren zu vertreiben.

Es geht nie darum, nicht mehr zu verschmutzen, sondern darum, zu wissen, wer zahlen muss, wenn die Verschmutzung zu katastrophal und sichtbar ist. Der angebliche „Dekontaminierungsmarkt“ existiert im Gegensatz zum Recyclingmarkt nicht wirklich, da der einzige Gewinn, der erzielt werden kann, darin besteht, sich an bestimmte Vorschriften zu halten, und nichts weiter als eine Belastung für die Unternehmen darstellt, eine Belastung, die sie so weit wie möglich begrenzen sollten. Niemand will dekontaminieren, wie kürzlich auf der Haager Konferenz festgestellt werden konnte.

Wir könnten dieses Thema noch weiter ausführen, aber dann würden wir den Rahmen dieses Textes sprengen. Auf jeden Fall ist klar, dass man eine „menschliche“ Steuerung der kapitalistischen Produktion nicht in Betracht ziehen kann, geschweige denn, dass man diese Produktion in ihrer jetzigen Form fortsetzen kann. Alles muss neu aufgebaut werden. Die Revolution wird auch der Zeitpunkt des „großen Abbaus“ und der Wiederherstellung der menschlichen Tätigkeit auf einer völlig neuen Grundlage sein, die derzeit fast vollständig vom Kapital beherrscht wird.

Die alte revolutionäre Bewegung zeigte die Verbindung zwischen Kapitalismus und Proletariat auf. Selbst der am stärksten ausgebeutete Arbeiter konnte sich durch seine Arbeit als Verwahrer einer zukünftigen Welt fühlen, in der die Arbeit das Kapital beherrschen würde. Die Partei war gleichzeitig eine Familie und der Keim eines Arbeiterstaats, so dass sich alle syndikalistische Anführer mit der Arbeitergemeinschaft von heute und morgen verbunden fühlen konnten. Die Veränderungen der kapitalistischen Produktionsweise der letzten zwanzig Jahre haben all dies zunichte gemacht und die Trennung der Individuen bewirkt.

Im Zuge seiner Expansion musste der Kapitalismus die alten Gemeinschaften bäuerlicher Herkunft zerstören, um die von ihm benötigte Arbeiterklasse zu schaffen. Und unmittelbar nachdem er sie geschaffen hat, muss er sie wieder zerstören, und er steht vor dem Problem, Millionen von Individuen in seine Welt zu integrieren. Die Staatsbürgeristen schlagen eine lächerliche Lösung vor, wenn sie versuchen, das Bindeglied, das früher die „Arbeiterklasse“ verband, durch ein anderes zu ersetzen, das die „Staatsbürger“, d.h. den Staat, vereint. Der Wunsch, dieses Band durch den Staat wiederherzustellen, zeigt sich im latenten Nationalismus der Staatsbürgeristen. Das abstrakte und gesichtslose Kapital wird durch nationale Figuren ersetzt, wie den Schnurrbart von José Bové oder die Wiederbelebung der zaristischen Hymne in Russland (natürlich handelt es sich in diesem Fall nicht um Staatsbürgerismus, sondern um die Manifestation eines viel allgemeineren Nationalismus, der ebenfalls keine Lösung bietet). Aber der Staat kann nur Symbole und Ersatz für diese Bindungen vorschlagen, da er selbst, wenn man so will, mit Kapital gesättigt ist und seine Symbole nur in dem Sinne schwenken kann, wie es ihm die kapitalistische Logik, der er angehört, vorschreibt.

Den „Staatsbürger“ als Bindeglied vorzuschlagen, offenbart die Existenz eines Vakuums, oder besser gesagt, dass es nun Aufgabe des Kapitalismus ist, und nur ihm, diese Milliarden von Menschen, denen die Gemeinschaft genommen wurde, zu integrieren. Und wir müssen feststellen, dass ihm dies bisher nur mit Mühe gelingt.

Dennoch wird der Kapitalismus weiterhin als eine der Menschheit feindlich gesinnte, äußere Kraft wahrgenommen, sei es, weil er sie des Brotes beraubt oder weil er ihr den „Sinn“ nimmt. In den fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften äußert sich dies in der Flucht der Individuen in das, was die Soziologen „die private Sphäre“ nennen, d.h. in die Freizeit, die Familie oder das, was von ihr übrig geblieben ist, die Clique von Freunden usw. Auf diese Weise entwickelt sich logischerweise ein Markt der Trennung, der sich in den Kommunikations- und Konsuminstrumenten materialisiert. Aber in der Welt der Waren wird dieser Konsum des „Zusammenseins“ schließlich zu einem „Alleinebesitzen“, das wieder in die Trennung zurückfällt, die es ursprünglich beheben sollte.

Die Arbeit selbst, die immer die wichtigste Integrationskraft des Kapitals darstellt, wird zunehmend als äußere Verpflichtung empfunden und dient nur noch in sehr geringem Maße dazu, die Identität von Individuen zu prägen, die immer mehr in der Masse untergehen und immer weniger eine eigene Identität haben. In einer Zeit, in der Berufe verschwinden und durch Funktionen ersetzt werden, die keine besonderen Fähigkeiten erfordern, ist diese Situation nicht überraschend. Die „Arbeitswelt“ ist auch zur Welt der Inkompetenz geworden. Manche empfinden diese Dynamik der Entqualifizierung als dekadent (und die Dynamik der Integration durch das Kapital schafft ihre eigenen internen „Barbaren“), aber sie führt auch zu einer Demoralisierung der Arbeit, die von allen als sinnlos, rein willkürlich, als äußere Verpflichtung, als Ausbeutung empfunden wird. Die Arbeitsmoral, die einst von der Bourgeoisie und dem Proletariat geteilt wurde, löst sich im Zuge der kapitalistischen Integration auf.

Die kapitalistische Integration (ein zentrales Problem, das wir später angehen müssen) wird zunehmend als künstlich empfunden und ist in jedem Fall sehr problematisch und führt zu einer Art Massenneurose, die mit dem Gefühl verbunden ist, die Kontrolle über das eigene Leben verloren zu haben. Die nächste revolutionäre Bewegung wird sich dieser Feststellung nicht entziehen können, da diese Ohnmacht, die dem entspricht, was man früher als Entfremdung bezeichnete, ein wesentlicher Bestandteil unserer Beziehung zur kapitalistischen Welt ist.

VI. „Proletarier aller Länder, ich habe keine Ratschläge für euch!“

Wir werden uns nicht lächerlich machen, indem wir hier den nächsten revolutionären Schritt vorstellen. Niemand kann das mit Sicherheit sagen, ohne in eine Ideologie des (Wieder-)Austausches zu verfallen. Dennoch können wir uns anhand dessen, was bereits existiert, vorstellen, was dieser Schritt sein könnte, d.h. was in der gegenwärtigen Situation der Keim einer zukünftigen Situation ist.

Die Globalisierung des Kapitals und die Auflösung der nationalen Kapitalien implizieren, dass es sich um eine weltweite Bewegung handeln wird, und zwar nicht gerade in der karikaturhaften Form einer Aktion gegen die Welthandelsorganisation oder die UNCTAD. Es wird nicht darum gehen, Frankfurt oder Brüssel in Brand zu setzen, sondern gegen den Kapitalismus in seiner hier und jetzt bestehenden Form vorzugehen, denn hier und jetzt wird die Globalisierung tatsächlich ausgetragen. Die Globalisierung des Kapitals ist auch die Globalisierung des Kampfes, und wenn in New York entschieden wird, was in Mexiko produziert und in Pas-de-Calais [einer Region im Norden Frankreichs] verpackt wird, hat jeder lokale Angriff globale Auswirkungen.

Die Auflösung des Klassenbewusstseins und der alten Arbeiterbewegung hat auch zur Folge, dass jeder in seinem Leben allein ist, angesichts von Ausbeutung und Herrschaft gleichzeitig. Es gibt keinen Zufluchtsort mehr, keine Gemeinschaft, in die man sich zurückziehen kann. Die Identität, die man sich durch die Arbeit aufgebaut hat, neigt dazu, sich aufzulösen und allmählich durch die Privatsphäre, die Clique von Freunden oder Verwandten, die Freizeit ersetzt zu werden.

Doch mit der Massifizierung der Freizeit, der Auflösung der Familie und der Brutalität der sozialen Beziehungen wird das Private ständig wieder in das Allgemeine verdrängt. Der moderne Mensch ist ein Mensch der Öffentlichkeit. Niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit waren die Menschen gezwungen, sich selbst so global zu betrachten, als Menschheit, auf globaler Ebene. Dies beinhaltet sowohl Leiden (was leicht verständlich macht, warum sich manche zu Zerzan [neo-primitivistischer Theoretiker aus den USA] oder Kaczinski [besser bekannt als „Unabomber“] und anderen Rückschritten hingezogen fühlen) als auch die Bedingung der Befreiung selbst. Die Primitivisten wollen sich von der Menschheit befreien und zur ursprünglichen Harmonie der eingeschränkten und isolierten Gemeinschaft zurückkehren. Aber eine solche Rückkehr ist unmöglich. Es gibt kein Leben außerhalb des Kapitalismus.

Im Jahr 1860 konnte Marx in Das Kapital noch schreiben: „Um die gemeinschaftliche Arbeit, das heißt die unmittelbare Assoziation wiederzufinden, ist es nicht notwendig, zu ihrer natürlichen Urform zurückzukehren, wie sie zu Beginn aller zivilisierten Völker erscheint. Wir haben ein Beispiel dafür in der rustikalen und patriarchalischen Industrie einer Bauernfamilie, die für ihren eigenen Bedarf produziert (…).“ Dieses „Beispiel“ ist verschwunden.

Die gesamte oder fast die gesamte menschliche Tätigkeit wird vom Kapitalismus beherrscht, was einige – Zerzan oder Kaczinski und viele andere – dazu veranlasst, sich nach den „guten alten Zeiten“ zu sehnen, seien sie primitiv-funktional oder patriarchal-handwerklich. Aber keine dieser Formen der sozialen Organisation konnte dem Kapitalismus widerstehen, weshalb es uns sehr schwer fällt, sie als seine Zukunft zu betrachten, es sei denn, man postuliert eine Natur der Menschheit, deren Manifestation diese Formen wären, und auch eine Selbstzerstörung des Kapitalismus (d.h. der Welt) in einer Katastrophe, nach der sie bequem ihren vorübergehend usurpierten Platz wieder einnehmen könnten. Aber diese „Selbstzerstörung“ des Kapitalismus wäre auch unsere, weshalb wir die Zukunft ausgehend vom Kapitalismus betrachten müssen, ob es uns gefällt oder nicht.

Wir haben gesehen, dass die Globalisierung der Individuen die Grenzen der Lohnarbeit erheblich überschreitet. Jeder Aspekt des Lebens ist dieser Globalisierung unterworfen, so dass jeder Aspekt des Lebens einheitlich verändert werden muss. Einfacher ausgedrückt: Heute kann nichts verändert werden, ohne alles zu verändern. Dies wird die Hauptbedingung der kommenden Revolution sein.

Konkret kann jedes Problem, das wir vom Kapitalismus erben, nur auf der Ebene einer ganzen Gesellschaft gelöst werden. Atommüll, Verkehr, Landwirtschaft – all dies wird uns zu Entscheidungen und Organisationsformen führen, die global behandelt werden müssen, jenseits von Privateigentum und hierarchischer Arbeitsteilung. Und es wird nicht nur um Arbeit gehen. Die „Welt ohne Grenzen“, die der Kapitalismus für die Waren geschaffen hat, wird tatsächlich eine Welt ohne Grenzen für die Menschheit sein. Es wird kein Zollrecht geben.

Wir werden die Notwendigkeit, all dies zu entwickeln, auf später verschieben. Wir könnten auch analysieren, welche Organisationsformen die Menschen annehmen könnten, aber die enorme Menge an praktischen Problemen, die sich stellen können, wird so groß sein, dass notwendigerweise noch nie dagewesene Lösungen umgesetzt werden müssen, die zweifellos oft von Dringlichkeit geprägt sein werden. Die Eigeninitiative wird dann vielleicht genauso wichtig sein wie der allgemeine Konsens, wohl wissend, dass sie einander unersetzlich sind. Die Debatte ist eröffnet, und auch in Bezug auf all diese Fragen müssen wir „warten können“.

VII. Vorläufige Schlussfolgerung

Wir haben versucht, in diesem Text die wichtigsten Grenzen und Schwächen des Staatsbürgerismus aufzuzeigen. Es ist klar, dass es sich nicht nur um „theoretische“ Grenzen oder Schwächen handelt, sondern um sehr reale, die ihm kurz- oder langfristig zum Verhängnis werden.

Es geht auch nicht darum, untätig zu bleiben und „darauf zu warten“, dass der Staatsbürgerismus zusammenbricht und auf magische Weise der Revolution Platz macht. Zweifellos verfügt diese Bewegung noch über viele Ressourcen und ist in der Lage, sich an neue Bedingungen anzupassen. Aber wir haben hier dargelegt, an welche „Bedingungen“ sie sich nicht anpassen kann. Auf jeden Fall haben wir die Kritik nur skizziert, andere werden sie fortsetzen.

Eine weitere Frage, auf die wir versucht haben, eine Antwort zu finden, betrifft die Art und Weise, wie die Kritik angegangen werden sollte. Allzu oft kritisieren einige Revolutionäre diejenigen, die sie als Reformisten betrachten, unter dem einzigen Vorwand, dass sie keine Revolutionäre sind. Das ist, als würde man die Debatte so darstellen, als handele es sich um eine einfache Debatte von Meinungen, die letztlich gleich oder gleich leer sind: leere Worte gegenüber der allmächtigen objektiven Realität der Welt. Auf diese Weise kann man alles verteidigen: man kann die Indianer von Zerzan den Cowboys von Kaczynski vorziehen, die Renaissance der Industriegesellschaft, die Proletarier mit Mütze den jungen Rappern mit Nike.

Die nächste revolutionäre Bewegung wird auch ihre eigene Sprache finden müssen. Sie wird sich wahrscheinlich nicht in den hier verwendeten Begriffen ausdrücken, die einer bestimmten theoretischen Tradition entsprechen. Die theoretische Sprache, die wir verwenden, ist ein Werkzeug, um die kommende Revolution zu verstehen, aber sie ist nicht diese Revolution. Wir müssen uns von der magisch-affektiven Verwendung der Sprache lösen, die die Sprache der zeitgenössischen Entfremdung ist, die Sprache derer, die keine praktische Macht über die Welt haben und die daher nichts anderes tun können, als davon zu träumen. Nur wer keine Macht über die Welt hat, kann alles sagen, ohne Angst vor Widerlegung zu haben, da er weiß, dass sein Diskurs keine Konsequenzen hat.

In der Welt der kapitalistischen Integration gibt es keine Wahrheit und keine Lüge mehr, sondern nur noch flüchtige Empfindungen. Und wir müssen aufhören, die Wahrheit zu fürchten. Wenn wir den Willen, die Wahrheit zu sagen, oft als Herrschaft empfinden – als „Faschismus“, als Willen zur Hegemonie des Diskurses –, dann deshalb, weil in der kapitalistischen Welt nur die Herrschenden behaupten können, die Wahrheit zu sagen, denn sie sind es, die sie schaffen, die das Monopol des „wahren Wortes“ innehaben. Aber diese Wahrheit ist so offensichtlich falsch und unsere Ohnmacht, ihr zu widersprechen, so überwältigend, dass wir jeden Versuch, die Wahrheit zu suchen, mit Ekel betrachten: Letztendlich zweifeln wir an der Möglichkeit, überhaupt etwas Wahres sagen zu können, d.h. im Rahmen unserer Möglichkeiten die Welt, in der wir leben, verständlich zu machen.

In der Willkür des Spektakels ist alles eine Frage der „Sichtweisen“. Aus „ihrer Sichtweise“ kann jeder gleichzeitig Recht haben oder nicht, und die liberale Gleichgültigkeit gegenüber dem anderen manifestiert sich im Respekt gegenüber allen „Meinungen“.

Der sogenannte „revolutionäre“ Aufruf zur Subjektivität, ein Überbleibsel des Surrealismus und des Situationismus von Guy Debord [Debord war Mitglied der Situationistischen Internationale], ist heute reaktionärer denn je, da der Kapitalismus selbst zur freudigen Trennung aufruft: „Träumt, wir erledigen den Rest.“ Im Gegenteil, wir müssen wieder eine gemeinsame Sprache finden. Wir können unsere Subjektivität nur dann wirklich aufbauen, wenn wir zusammen mit anderen in der Lage sind, die Objektivität der Welt, die wir teilen, zu erfassen. Verstehen heißt beherrschen, dann kann man die Welt verändern. Der Versuch zu verstehen, bedeutet, die Kommunikation mit dem, was uns umgibt, wiederherzustellen, das Eis zu brechen, das uns trennt.

Wir haben die Staatsbürgeristen nicht kritisiert, weil wir nicht die gleichen Vorlieben, Werte oder die gleiche Subjektivität haben. Und wir haben auch nicht die Staatsbürgeristen als Personen kritisiert, sondern den Staatsbürgerismus als falsches Bewusstsein und als reaktionäre Bewegung, wie bereits gesagt wurde, d.h. als Bewegung, die dazu beiträgt, das zu ersticken, was noch in den Kinderschuhen steckt. Wir haben dies historisch kritisiert, oder zumindest war dies unsere Absicht. So sehr, dass wir nicht daran zweifeln, dass sich eines Tages eine große Zahl von Menschen, die von den Widersprüchen des Staatsbürgerismus in seinem lobenswerten Wunsch, auf die Welt einzuwirken, abgestumpft sind, denen anschließen werden, die die Welt wirklich verändern wollen.

Wir sind nicht mehr und nicht weniger „radikal“ als zu dem Zeitpunkt, an dem wir uns befinden.

Ursprünglich veröffentlicht „en attendant“; 5, rue de Four; 54000 Nancy; en_[email protected]. Übersetzung ins Spanische veröffentlicht in Nr. 23 der Broschüren Etcétera.


1A.d.Ü., auf Französisch „désobéissance civique“ (ziviler Ungehorsam) und „guerre civile“ (Bürgerkieg), hier geht die sprachliche Anspielung verloren, weil der Begriff guerre civile auf Deutsch nicht Zivilkrieg bedeutet, wie es aber auf anderen Sprachen der Fall ist (civil war, guerra civil, guerra civile, gerra zibil,

2A.d.Ü., im Originaltext wird zwischen civique und civile unterschieden. Zweiteres beschreibt vor allem einen Zivilisten, also eine Person die nicht dem Militär angehörig ist. Aber dies gilt natürlich nur für Friedenszeiten. Selbst die französische Nationalhymne, die einst als ein Revolutionslied galt, einer Revolution der Bourgeoisie, erinnert daran: „Aux armes, citoyens, Formez vos bataillons, … (Zu den Waffen, Staatsbürger! Formt Eure Schlachtreihen)

]]> Eine Kritik an dem Staatsbürgerismus aus anarchistischer Sicht https://panopticon.blackblogs.org/2025/03/15/eine-kritik-an-dem-staatsbuergerismus-aus-anarchistischer-sicht/ Sat, 15 Mar 2025 21:57:46 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=6223 Continue reading ]]>

Gefunden auf noticias y anarquia, die Übersetzung ist von uns.


Eine Kritik an dem Staatsbürgerismus aus anarchistischer Sicht

Die Staatsbürgerschaft mithilfe eines Hockeyschlägers

Am 19. Oktober 2011, mitten in einer Studentendemonstration, die Verbesserungen im Schulsystem forderte, schlug eine etwa vierzigjährige Frau mit einem Hockeyschläger auf mehrere vermummte Jugendliche ein, die am Rande der Universität von Chile mit der Polizei kämpften. Der Vorfall ereignete sich am Ende einer Massendemonstration, an der sich über hunderttausend Menschen auf einer von der Intendencia Metropolitana genehmigten Strecke beteiligten und die im Laufe ihrer Entwicklung karnevalistische Züge annahm, dank der zahlreichen Tanzgruppen, Musikgruppen, Festwagen und Theateraufführungen, die sich der Aktion anschlossen.

Die Massenmedien machten sich diese Vorfälle schnell zunutze und stellten die mutige Frau als bestes Beispiel für staatsbürgeristische Aktion dar, fast wie eine Heldin, die die edelsten demokratischen Werte verkörpert und darüber hinaus die Belästigung friedlicher Demonstranten darstellt, deren Forderungen durch gewalttätige Handlungen, die sich dem Rechtsstaat entziehen, getrübt werden. Geht man von Max Webers1 Ansätzen aus, könnte die soziale Aktion dieser Frau als eine Verlängerung der Tätigkeit des Staates verstanden werden, einer Institution, die das legitime Gewaltmonopol innehaben will, da sie Gewalt genau in seinem Namen eingesetzt hätte, um die öffentliche Ordnung zu gewährleisten und damit zu versuchen, den „Lumpenproletariat“ zu stoppen und/oder zu bestrafen.

Die Frau wurde schnell identifiziert und ausfindig gemacht, sie gab zahlreiche Interviews in verschiedenen Medien, erklärte, dass sie die Forderungen der Studentenbewegung unterstütze, dass sie die Kritik und die Vorschläge, die verschiedene Mobilisierungsgruppen in dieser Hinsicht vorbrachten, unterstütze, dass sie aber „die Aktionen der Vermummten satt habe“.

Die Rede von der Macht legitimierte die Aktion dieser Frau, obwohl sie gefilmt wurde, als sie mindestens drei junge Menschen angriff, und dies öffentlich zugab, sie wurde nie verhaftet oder angeklagt, der Staat hat kein Problem mit der Gewalt, die in seinem Namen ausgeübt wird.

Obwohl diese Vorfälle große Bekanntheit erlangten, waren sie nicht die einzigen ihrer Art. Bei praktisch allen öffentlichen Demonstrationen der letzten Zeit2 ist die Spannung, manchmal unterschwellig und manchmal explizit, zwischen denjenigen, die die „staatsbürgerliche Demonstration“ (wie die friedlichen Demonstrationen genannt wurden, die von der Polizei „bewacht“ und von der Verwaltung geregelt wurden); und diejenigen, die eine „direkte Konfrontation“ anstreben, d.h. Gewalt gegen die Sicherheitskräfte und die Symbole der Macht (Firmengebäude, öffentliche Einrichtungen, Transantiago-Busse usw.) anwenden.

Der Staat und die Medien (die Macht) sprechen bei Demonstrationen mit direkter Konfrontation von „Eingeschleusten“, „Gewalttätern“, „Vandalen“, „Lumpen“ und natürlich „Anarchisten“. Normalerweise ist es der Unterstaatssekretär des Innern oder der amtierende Bürgermeister, der Pressekonferenzen abhält, um die Vorfälle als „schwerwiegend“ zu bezeichnen und sie als „Kriminalität“ zu brandmarken.

Es wird mit Klagen und der Anwendung „aller Härte des Gesetzes“ gedroht. Es wird sogar ausdrücklich an die Organisatoren von Märschen und Veranstaltungen appelliert, mit der Polizei „zusammenzuarbeiten“, die Aktionen „der Gewalttäter“, die die öffentliche Ordnung stören, anzuzeigen und zu verhindern, und die Organisatoren aufgerufen, „ihre“ Verantwortung für die Leitung und Kontrolle der Demonstration sowie der Teilnehmer zu übernehmen. Kurz gesagt, die institutionelle Aufforderung ist eine Aufforderung, sich wie die Frau am 19. Oktober zu verhalten, d.h. sich in den letzten Arm des Staatsapparats zu verwandeln, eine Aufforderung, sich wie ein Staatsbürger zu verhalten.

In diesem Sinne wurde die Debatte von der Macht aus innerhalb der sozialen Bewegungen eingeführt, insbesondere indem die Notwendigkeit geschaffen wurde, explizit zu definieren, was als politische Aktion gilt und was nicht. Mit anderen Worten, zwischen dem, was der Politik eigen ist, und dem, was der Kriminalität entspricht, zu unterscheiden. Die grundlegende Frage ist jedoch eine andere. Worauf es ankommt, ist nicht die operative Unterscheidung zwischen einer Aktion und einer anderen. Relevant ist vielmehr das, was der Entscheidung vorausgeht, nämlich die politische Definition der Debatte selbst. Welche politischen Auswirkungen hat jede Option? Welche konkrete Politik steckt hinter der Einleitung dieser Debatte? Wie fördert oder verhindert die politische Definition der Debatte, dass die verschiedenen „Arten von Demonstrationen“ die Fähigkeit entwickeln, die Realität in Frage zu stellen und sie in die eine oder andere Richtung neu zu definieren? Die aufgeworfenen Fragen berühren den Status der Politik selbst, d.h. das Kräfteverhältnis, das die Realität definiert. Um diese Fragen zu vertiefen, muss eines der Schlüsselkonzepte moderner Gesellschaften kritisch überprüft werden: die Staatsbürgerschaft.

Der Begriff der Staatsbürgerschaft wurde erstmals von T. H. Marshall verwendet, der die Entwicklung dieses Konzepts als Reaktion auf die Ungleichheiten der kapitalistischen Gesellschaft analysiert. Das wichtigste Element für die Konstruktion der Staatsbürgerschaft ist die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gemeinschaft oder Gesellschaft, die sich in der Anerkennung und Ausübung verschiedener Rechte und Pflichten, Freiheiten und Einschränkungen, Privilegien und Verpflichtungen manifestiert. Marshall betrachtet die Staatsbürgerschaft als die Ansammlung verschiedener Rechte und Pflichten, die die Mitglieder einer Gesellschaft entsprechend ihrem Entwicklungsstand und ihrer geltenden Institutionen besitzen und ausüben.

Diese Rechte sollen einige der Ungleichheiten oder Ungleichgewichte beseitigen, die durch die Verteilung des Reichtums, die Dynamik des freien Marktes und den ökonomischen Wettbewerb, die für den Kapitalismus charakteristisch sind, entstehen, und so die Unterschiede zwischen den sozialen Klassen, aus denen eine Gesellschaft besteht, verringern.

Die Staatsbürgerschaft entsteht als ein Prinzip der Gleichheit und Zugehörigkeit in einer Gesellschaft sowie als eine Reihe von Rechten und Pflichten, die mit dieser Zugehörigkeit einhergehen. Sie besteht aus einem Ordnungskriterium des sozialen Gefüges, das die Gleichheit zwischen Individuen unabhängig von ihren ökonomischen, kulturellen und politischen Unterschieden voraussetzt, also letztlich über ihre jeweiligen Identitäten und Klassenunterschiede hinausgeht. Dies ist der größte Unsinn bei der Konstruktion der Staatsbürgerschaft: Der Versuch, die soziale Struktur ausgehend von einem rechtlich und institutionell erworbenen Status zu verbergen oder aufzuheben, der die Logik der Herrschaft und Ausbeutung der in der kapitalistischen Gesellschaft vorherrschenden sozialen Beziehungen nicht verändert. „Der Arbeiter ist, ob es ihm gefällt oder nicht, in jeder Minute seines Lebens ein Arbeiter; selbst wenn er zum Vergnügen oder zur Vermehrung der Nachkommenschaft vögelt, ist er nichts anderes als Arbeitskraft zur Kapitalverwertung. Als solcher ist er weder gleichgestellt noch frei, noch Staatsbürger, noch Eigentümer. Und das nicht eine einzige Minute seines Lebens! Er ist nichts weiter als ein Lohnsklave. Es ist ihm noch nicht einmal in den Sinn gekommen, sich zu organisieren, um seine Interessen als Arbeitnehmer zu verteidigen, und schon hat er alle Gleichheit, Freiheit, Eigentum … gegen sich“3.

Der Begriff der Staatsbürgerschaft als politisches Projekt impliziert die Annahme des kapitalistischen Gesellschaftsszenarios als des einzig möglichen Szenarios, denn durch die Verleugnung der durch das System selbst hervorgerufenen sozialen Unterschiede und den Versuch, Gleichheit zwischen den Individuen herzustellen, werden die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger von der realen politischen Arbeit ausgeschlossen, d. h. vom Kräftespiel zur Aufrechterhaltung oder Umgestaltung der Gesellschaft. Die Staatsbürgerschaft ermöglicht Meinungsverschiedenheiten und Diskussionen, sie ermöglicht die Entstehung von staatsbürgerlichen und sozialen Forderungen, sie begründet sogar die Existenz verschiedener Parteien und Berufs- oder Sozialverbände, die auf bestimmte Themen oder spezifische Forderungen drängen, aber keine dieser „Alternativen“ bedeutet wirklich, die Realität zu denken und zu konstruieren (oder zu rekonstruieren). Was ist dann politisch an diesen Optionen?

Das Geheimnis von Demokratie und Staatsbürgerschaft besteht gerade darin, Optionen als Alternativen darzustellen, die es in Wirklichkeit nicht sind, und vermeintliche Meinungsverschiedenheiten zuzulassen, die das politische Spiel vortäuschen, aber im Grunde nur das Bestehende festigen, die Ausgrenzung vieler von der Entscheidungsfindung, den Verlust der Kontrolle über das eigene Leben und die Umwelt. Das demokratische Spiel beruht darauf, dass die verschiedenen Forderungen und Ansprüche von derselben bereits bestehenden Institution vorgebracht und übernommen werden, d.h. diese Institution wird nie direkt in Frage gestellt. „Der Begriff des Staates selbst ist zum einzigen Weg geworden, wie die Menschen glauben, dass das kollektive Leben organisiert werden kann“4.

Da die Unterschiede in Bezug auf Klasse, Geschlecht, Generation, Ethnie und andere mögliche Ungleichheiten in der kapitalistischen Gesellschaft nicht anerkannt werden, schränkt die Auffassung von Staatsbürgerschaft die politische Herangehensweise an diese Themen ein, d.h. sie verhindert, dass sie konkret gedacht und angegangen werden. Darüber hinaus ist die Bildung sozialer Subjekte in Abhängigkeit von diesen Bedingungen und kollektiven Identitäten schwierig und steht im Widerspruch zum staatsbürgerlichen Strom. In der heutigen demokratischen Gesellschaft stehen sich nicht Ausbeuter und Ausgebeutete, Unterdrückte und Unterdrücker gegenüber, sondern nur Staatsbürger, die gleiche Rechte haben, aber unterschiedliche Meinungen zu diesem oder jenem Thema vertreten. Die ideologische Konstruktion ist vollständig!

„Solange das Proletariat sich selbst nicht einmal erkennt, verhält sich jedes Mitglied der Arbeiterklasse, jeder Entrechtete, wie ein guter Staatsbürger, mit Freiheiten, Pflichten und Rechten, die sich aus seiner Staatsbürgerschaft ergeben, und akzeptiert die Gesamtheit der Spielregeln, die ihn atomisieren und im Volk auflösen, wo seine spezifischen Klasseninteressen keinen Platz haben. Als Staatsbürger ist er allen gleich; als Wähler ist er allen gleich; als Verkäufer und Käufer ist er frei und allen gleich … er existiert nicht als Klasse. Genau das ist die Voraussetzung für das Funktionieren der Demokratie“5.

Konkret ist die moderne Demokratie ein regelrechter Schein der Beteiligung, bei dem alle Bürgerinnen und Bürger die formalen Voraussetzungen für diese Beteiligung erfüllen, obwohl sie keinen Einfluss auf die Entscheidungsfindung haben. Die Wahlrituale wurden perfektioniert und technisiert, die zu wählenden Ämter festgelegt, die Wähler und Kandidaten verteilt, die Häufigkeit der Wahlen und die Dauer der Kampagnen geregelt, die Ausgaben der Kandidaten werden subventioniert und die Ausübung des Wahlrechts selbst wird sakralisiert, die gesamte „Verpackung“ der Beteiligung funktioniert nach dem Gesetz hervorragend, obwohl ihr „Inhalt“ völlig verloren gegangen ist. „Es handelt sich nicht mehr um Nachahmung oder Wiederholung, nicht einmal um Parodie, sondern um eine Verdrängung des Realen durch die Zeichen des Realen“6.

Zu Beginn der bourgeoisen Revolutionen in Europa war die repräsentative Demokratie wahrscheinlich ein „Spiegelbild“ des radikalen Wandels von der feudalen zur kapitalistischen Gesellschaft. Dieses Phänomen „verhüllt und verzerrt“ jedoch auch eben jenes Phänomen. Die erwähnte gesellschaftliche Transformation impliziert die Konsolidierung der Bourgeoisie als herrschende Klasse, nicht die Öffnung der politischen Macht für alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Darüber hinaus hat diese Öffnung nie stattgefunden, die unteren Klassen genießen keine sozialen Privilegien wie die Verteilung von Wohlstand oder die Fähigkeit, konkret auf ihr Umfeld einzuwirken. Schließlich wurzelte das demokratische Spiel in den bourgeoisen Nationalstaaten als Schein der politischen Partizipation. Die bestehende Demokratie fördert und bezieht die Mehrheit der Einwohner einer Gemeinschaft bei Entscheidungen über das gesellschaftliche Leben nicht mit ein, sondern schließt sie aus und legitimiert die bestehende Struktur. Sie führt sogar dazu, dass das wahre Kräftespiel, also die Politik selbst, unsichtbar wird.

„Die Demokratie ist repräsentativ. Der Demos konstituiert sich nur zum Zeitpunkt der Wahl als politisches Gremium, wenn er regelmäßig per Gesetz einberufen wird.

Die Vertretung beinhaltet eine vollständige Übertragung der Macht für die gesamte Dauer des Mandats. Die Abstimmung ist geheim. Folglich ist die Politik nicht sichtbar. Die politische Bühne ist öffentlich, wie ein Schauspiel, und größtenteils verborgen, wie eine Angelegenheit einer spezialisierten sozialen Gruppe, die aus der Bourgeoisie rekrutiert wird. All dies wird weise aus Staatsräson verteidigt.7

Die von Marshall vorgeschlagenen Rechte umfassen verschiedene Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, bilden aber nur in ihrer Gesamtheit eine staatsbürgerliche Charta, die darauf abzielt, soziale und ökonomische Unterschiede zu begrenzen. Die zivilen Rechte garantieren eine gewisse persönliche Autonomie, die politischen Rechte eine bestimmte Form der Teilhabe an der Gemeinschaft und schließlich die sozialen Rechte ein sozial akzeptables Maß an Lebensqualität. Ihre Entwicklung geht eindeutig mit der Entwicklung des Staatsapparats und der Institutionalisierung verschiedener politischer Praktiken einher, durch Gesetze und Vorschriften, die Freiheiten garantieren, Pflichten festlegen und Straftaten verbieten. „In diesem Raum wird Gleichheit als Gleichheit vor dem Recht verstanden, d.h. als Gleichheit vor dem Gesetz. Eine rein theoretische Gleichheit, die in der Tat mit der sozialen Hierarchie vereinbar ist“8.

Diese rechtliche und politische Artikulation der Staatsbürgerschaft setzt eine rationale und legitime Ordnung des Staates voraus, die als „Rechtsstaat“ bezeichnet wird und mindestens die folgenden vier konstitutiven Elemente umfasst:

  1. Explizite Definition der Befugnisse und Funktionen jedes Teils des Staatsapparats.
  2. Fortschreitende Einführung von Normen in verschiedenen Lebensbereichen, die die Grenze zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten neu definieren.
  3. Schaffung der repräsentativen Demokratie als Mechanismus der politischen Beteiligung.
  4. Technisierung der politischen Verfahren und Entscheidungen.

Diese Konzeption des Staates wird jedoch naiv und neutral dargestellt, als handele es sich nur um eine technische und rationale Einheit, die die Ressourcen nach gemeinsamen Zielen verwaltet. Dies ist eindeutig ein weiterer Irrtum, der den liberalen Theorien eigen ist9. Der „Staat ist im Wesentlichen ein Paradigma der hierarchischen Strukturierung der Gesellschaft […]. Er wird aus der Enteignung aufgebaut, die ein Teil der Gesellschaft an der globalen Fähigkeit vornimmt, die jede menschliche Gruppe hat, um Beziehungsformen, Normen, Bräuche, Kodizes, Institutionen zu definieren, eine Fähigkeit, die wir als symbolisch-instituierend bezeichnet haben und die das Eigentliche ist, das die menschliche Ebene der sozialen Integration definiert und konstituiert. Diese Enteignung ist nicht notwendigerweise oder ausschließlich ein Akt der Gewalt: Sie beinhaltet und erfordert das Postulat der politischen Verpflichtung oder des Gehorsams10. Der Staat ist weit davon entfernt, neutral zu sein, er ist das wichtigste politische Instrument der modernen Gesellschaft und hat seit seinen Anfängen die Rolle des Artikulators der kapitalistischen Gesellschaft ausgeübt, wobei er seine eigene Struktur bei der Ausübung dieser Funktion verändert hat.

Die Staatsbürgerschaft ist ihrerseits nicht nur die Ergänzung des Rechtsstaats, sondern seine Schöpfung, das Ergebnis seiner systematischen Aktion. Sie bildet heute das soziale Gefüge, das der Staat selbst schafft, um sich ständig zu etablieren und zu legitimieren, und stellt eine ideologische und materielle Artikulation der Herrschaftsverhältnisse dar. Die Staatsbürgerschaft artikuliert Subjektivitäten und Weltanschauungen in Bezug auf das gesellschaftliche Leben, schafft Mechanismen der institutionellen Beteiligung, Werte und Themen, auf die man sich ständig beziehen muss. Staatsbürgerschaft und Rechtsstaat sind zwei untrennbare Elemente der modernen Gesellschaft, zwei Seiten derselben Medaille. Erstere erhebt sich als Status der Gleichheit und Zugehörigkeit jedes Individuums zu einer bestimmten Gesellschaft mit der daraus resultierenden staatlichen Zugehörigkeit. Der Rechtsstaat hingegen wird als die einzig vernünftige und legitime Form der politischen Ordnung angesehen. Er ist der Garant aller Rechte und der eigentliche Schauplatz des staatsbürgerlichen Handelns. Er ist der Ort, an dem sich diese besondere Art von politischem Subjekt entfaltet und existiert. Das Auftauchen dieser Frau mit ihrem Hockeyschläger ist das konkrete Ergebnis der Politik der Staatsbildung, die von der Macht gefördert wird.

Wir Unterdrückten haben kein Interesse daran, Staatsbürger zu sein …

Verfasst von Raúl Ortega Mondaca


1Weber, Max, „Economía y Sociedad“ Ed. Fondo de Cultura Económica, Mexiko, 1995, S. 43.

2Während dieser Umstand bereits seit mehreren Jahren (zumindest seit 2005) bei den traditionellen Demonstrationen am 1. Mai und 11. September festgestellt wurde, trat er 2011 bei fast allen Studentendemonstrationen und sogar bei der karnevalistischen Mapuche-Demonstration am 12. Oktober auf. Im Jahr 2012 trat dieses Phänomen bereits bei der Demonstration am 8. März auf, die zum Gedenken an den Tag der arbeitenden Frau stattfand und die zum ersten Mal seit ihrer Durchführung von gewalttätigen Zwischenfällen überschattet wurde.

3Qarmat, Miriam, „Contra la Democracia“, Ed. Rupturas, 2002, S. 13.

4Méndez, N. und Vallota, A., „El Anarquismo: Una Utopía que Renace“, Ed. Prokaos, Santiago, 2011, S. 2.

5Qarmat, Miriam, „Contra la Democracia“, Ed. Rupturas, 2002, S. 10.

6Baudrillard, Jean, „Cultura y Simulacro“, Verlag Kairós, Barcelona, 1978, S. 11.

7Colombo, Eduardo, „De la Polis y el Espacio Social Plebeto“ Ed. Nordam, Montevideo, 1993, S. 51.

8Colombo, Eduardo, „De la Polis y el Espacio Social Plebeto“ Ed. Nordam, Montevideo, 1993, S. 51.

9Die Vertragstheorien von Hobbes, Locke und Rousseau sind ein treffendes Beispiel dafür.

10Colombo, Eduardo: El Espacio Político de la Anarquía, Montevideo, Ed. Nordam, 2000, S. 57.

]]> (Frankreich) Verschiedene Überlegungen zu einem Bruch der unmöglich zu verhandeln ist* https://panopticon.blackblogs.org/2024/05/13/frankreich-verschiedene-ueberlegungen-zu-einem-bruch-der-unmoeglich-zu-verhandeln-ist/ Mon, 13 May 2024 10:25:55 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5819 Continue reading ]]>

(Frankreich) Verschiedene Überlegungen zu einem Bruch der unmöglich zu verhandeln ist*

Manchmal gibt es Analysen, die aus dem Hut gezaubert werden. Es sind fertige. Praktische, die sich für wirksam halten, weil sie mit dem Wort Klasse enden. Die Grenze zwischen einem miserabilistischen Soziologismus, der eine Erklärung für jeden Mist liefert, den wir unter dem Vorwand, aus einer proletarischen Familie zu stammen, von uns geben könnten, und einem mechanistischen Determinismus, der allzu oft neben einer apologetischen Weltanschauung steht, ist dünn.

Die Dummheit geht durch die Klassen. Man vergisst sie allzu oft, um sie zu verbergen und nicht zu viel nachdenken zu müssen. Manchmal kann man sich damit entschuldigen, aber wenn man zu sehr darauf beharrt, wird es verdächtig und sogar gefährlich für die eigene geistige Gesundheit.

Daher ist ein Klassenstandpunkt kein moralischer Standpunkt. Klassenbewusstsein ist auch kein empörtes Bewusstsein, wenn man abends zu Hause den neuesten Film von Ken Loach sieht (wir werden in einer der nächsten Sendungen darauf zurückkommen), der einem politischen Juckreiz ähnelt, der in den letzten Jahren immer mit den gleichen Tränken auf der Basis von stationärer Rebellion in .fr behandelt wurde.

*

Der Aufkleber auf dem Strommast mit dem auf den ersten Blick sympathischen Wortspiel „La lutte c’est classe“ (Der Kampf ist Klasse) scheint durch seine eigene Ästhetik entvitalisiert zu sein. Das Wort Klasse wird durch das Wort Kampf, das selbst keine Bedeutung mehr hat, unsichtbar gemacht….alles scheint durch die Anordnung der Formen und Farben wie leergefegt zu sein. Diese „Angelegenheit“ mit den Aufklebern ist einfach klassenbewusst.

Es gibt immer einen Weg, nicht mehr über die Klasse zu sprechen, insbesondere nicht über die Proletarier: Man kann viel über die Klasse schreiben, ohne grundsätzlich zu sagen, um welche Klasse es sich handelt, was auf dem Spiel steht, oder überhaupt nicht darüber sprechen.

Es ist auch möglich, die Dinge unter einer gewissen phänomenologischen Wissenschaftlichkeit als Form der Unsichtbarmachung zu ertränken, d.h. durch axiologische Neutralität. Dabei sollte man immer so wenig wie möglich über den Ort, von dem aus man spricht (seine soziale Position), preisgeben und manchmal zu viel sagen oder tun, um zu vermeiden, dass man sich mit den Themen beschäftigt, die einen aufregen.

Es gibt in letzter Zeit eindeutig zu viele Themen, die ärgerlich sind, und im Laufe der Jahre häufen sich die politischen Unebenheiten und werden zu rau, um von den berühmten Kämpfen, die nie enden, sich zu konvergieren, geglättet zu werden.

Es scheint nichts wirklich Neues zu geben, und das ist auch möglich, aber der Eindruck der Übersättigung ist in den letzten Jahren (was uns betrifft) auf dem Höhepunkt angelangt. Die neuen Probleme der stalinisierten, drittweltlichen Linken kreuzen sich für unseren Geschmack viel zu sehr mit bestimmten Themen der Konvivalisten und Straight Edge.

Unserer Interpretation nach handelt es sich um eine x-te Verteidigung des „Seins“, das gegen das „Haben“, den Utilitarismus, den „Materialismus“ und das Unauthentische kämpfen soll, und darum, das Paradigma des frontalen Klassenkampfes gegen das Kapital in eine moralische Praxis zu verlagern; die des tugendhaften Individuums, das an der Gestaltung bestimmter vom Geld „befreiter“ Räume mitwirkt. Dabei kultiviert er natürlich seinen Spezialismus in Bezug auf das, was ihn speziell unterdrückt, oder was er für den ersten Agenten oder den mèchanè1 der Welt hält, die für ihn viel zu „modern“ ist.

Diese Ablehnung der „Moderne“ ist viel zu oft eine einfache Negativkarikatur einer „Postmoderne“. Sie bringt dennoch, und das lässt sich auch soziologisch feststellen, eine integrative soziale Antwort für diese „Akteure“.

Aber das Boot der Mono-Maniacs und Politikneurotiker scheint voll zu sein, und das auffälligste Symptom ist die monokausale Erklärung einer Welt im Wandel, die allzu oft unverständlich (?) ist.

Es geht nicht darum, sich in Bezug auf einzelne Positionen zu positionieren, denn erst durch das Zusammenspiel, meist durch Anhäufung oder Offenlegung, entsteht eine echte, ziemlich unglaubliche Weltanschauung.

Wenn man nicht berücksichtigen kann, was die Aufkleber über sich selbst aussagen, dann gilt das auch für die Etiketten von Libertären, Anarchisten oder allen Arten von fleischkritischen2 Marxisten, die sich so leicht an den letzten Laternenpfahl kleben lassen, der von altem spiritualistischem Urin gezeichnet ist.3 Ein Sieg des „Scheins“?

Was sie sagen, was sich bis in die Kämpfe und die politische Reflexion verbreitet, ist die faule Frucht der Zersetzung des Stalinismus und der „moralischen“ Linken oder ihrer Nachfolger. Deren schändlich schuldig gewordene Kinder wurden stark von den Märchen des Demokratismus und dem säkularisierten religiösen Geist geprägt.

Die Aufgabe der Problematik der kämpfenden Klasse (und nicht als soziologisches Konzept) ist nicht fremd, ebenso wie ein bestimmtes Konzept der politischen Politik, das durch Kompromisse und ihre Lügen, Misserfolge, Enttäuschungen kollektiver Kämpfe, Müdigkeit und Repression strukturiert ist, aber natürlich auch durch die Logik der Macht… selbst der symbolischen. Die man durch die weit geöffnete Tür der Heuchelei vertreibt, damit sie schließlich durch das Fenster zurückkehrt.

Man macht nichts anderes mehr, als seine Teilnahme zu pragmatisieren und die Probleme zu intersektionalisieren, um nichts Unmögliches oder Unwahrscheinliches mehr zu wünschen.

Die Überwindung ist nicht mehr die Horizontlinie. Die oftmals hasserfüllten Projekte bestehen darin, die Probleme zu überpersonifizieren oder das Unbehagen zu politisieren.

Und wenn einige anscheinend nach einer Verbindung mit Bestimmungen aller Art suchen (und seltsamerweise nicht nach anderen…), indem sie eine Totalität (falsche Totalität) vortäuschen, führen sie schließlich zu einer Desartikulation4.

Die Intersektionalität zum Beispiel hat bis jetzt keine „intersektionale politische“ Linie oder ein „Herz“ der Begegnung von „Unterdrückungen“ hervorgebracht, außer flacher Gewichtung und konkurrierender Fragmentierung. Man muss nur die Anzahl der Kapellen und die Art der ethologischen Metaphysik feststellen, in der man sich im buscar la quinta pata al gato auszeichnet.5

Wir sind immer zu spät dran, um eine „Unterdrückung“ zu artikulieren oder zu stapeln. Die „Kämpfe“ werden nicht die Orte der Überwindung sein, solange eine globale revolutionäre Perspektive nicht von den alten konzeptuellen Schubladen befreit wird, oder solange die Akteure der sozialen Kämpfe nicht ihre wahren Bedürfnisse durchsetzen; d.h. die, die von den Notwendigkeiten diktiert werden.

Das Herz der Warenwelt: die Ware und ihre Reproduktion, scheint die Possibilisten des politischen Benchmarking nie wirklich zu interessieren.

Wenn diese Frage wirklich ernst genommen wird – das geht nie über ein paar Augenblicke hinaus -, dann geschieht das immer auf Kosten der Klassenfrage, die bei dieser Suche nach entkräftenden radikalen Maßstäben letztlich immer gegenüber anderen relativiert zu werden scheint.

Warum ist das so?

Weil die Klassenfrage natürlich eine wesentliche Rolle in der Debatte spielt und weil sie diejenigen betrifft, die die Debatte durch ihre Position in einer Klassengesellschaft produzieren und monopolisieren.

Denn das Wesen einer aufsteigenden (und aufstrebenden) Klasse, die sich ihrer Interessen und der Reproduktion/Förderung ihrer selbst bewusst ist und deren Optik nur darin besteht, die bestehende Realität zu reproduzieren, neigt immer dazu, ihre eigene Problematik zu metonymisieren6; d.h. ihre Interessen. Strategisch oder unbewusst.

Im Grunde besteht die eigentliche Herausforderung darin, die soziale Frage so weit wie möglich zu lobbyisieren, um die Herausforderungen auf ethnisch-kulturelle7 und ästhetische Themen zu lenken, die für den Wert und umgekehrt am leichtesten verdaulich sind und bleiben. Deren Einsätze bleiben symbolisch sehr stark.

Das spezialisierte militante „Unternehmen“ als Mittel und Zweck ist die Folge der vom Kapital auferlegten Trennung, die auch den Praktiken ihre Ordnung in einem vorgegebenen Rahmen zuweist. Dies geht über die beschleunigte Zersplitterung der Wissensfelder hinaus8.

Wie Paul Mattick schrieb, „wird es eine Antithese zwischen Organisation und Spontaneität geben, solange sowohl die Klassengesellschaft als auch die Versuche, sie zu zerschlagen, fortbestehen“.

Dies stellt zweifellos eine Erkenntnistheorie innerhalb einer revolutionären Perspektive in Frage, insbesondere in Bezug auf die Beziehung zum Objekt (als Verständnis der Realität und der Möglichkeit, sie zu verändern) und natürlich zum Subjekt bzw. zu den Subjekten, d. h. den Akteuren, die in einer Welt der Determinationen handeln.

Es scheint uns, dass das Wesen von Parteistrukturen darin besteht, Formen des Vergessens durch Ritualisierung, Zusammenhalt und in gewisser Weise durch ihre eigene Integration in das soziale Ganze zu organisieren. Daraus ziehen sie ihren Zusammenhalt und ihre Daseinsberechtigung.

Besetzen, die Arme aktivieren und die Wut verwalten. Die Frustrationen des Augenblicks oder die des ewigen Wartens bis zur Betäubung politisch zu dealen, ist zweifellos ihre Hauptfunktion.

Aber können wir nicht nicht gegen die Schläge, die uns täglich zugefügt werden, reagieren?

Um dies zu tun, verlassen wir uns auf die Arbeit des Negativen; das heißt, auf die Überwindung. Nicht nur im hegelianischen Sinne, sondern auch auf der Ebene dessen, was wir nicht und nicht mehr wollen. Aber all das ist nicht möglich ohne eine möglichst klare Perspektive.

Das Problem ist, dass das, was wir nicht und nicht mehr wollen, durch Kapillarität, Mitläufertum, Dummheit, Kumpanei, Twittern, Ad-hominen-Attacken, politische Unkultur, Zwölf-Band-Strategie und verschiedene Ängste wie die, sein Geschäft als anerkannter oder nicht anerkannter spezialisierter Militanter in libertären und antiautoritären Sphären im weitesten Sinne zu verlieren, eingedrungen ist.

So : Der weinerliche Anarcho-Bourdieusianer-Pädagoge, der schuldbewusste Degrowth-Fetischist und freiwillige Moralprediger, der über A. de Benoist und M. Onfray referiert, der Anti-Tech-Bobo, der die Bio-Familie und die Position des fairen Missionars verteidigt, der sich als Rassist entdeckt (es stimmt, dass es „Rassen“ gibt, aber auch „soziale Rassen“….. ) und theo-kompatibel (der nicht mehr Bakunin liest), radikal anti-fa für die NPA im ersten Wahlgang und Juppé im zweiten, anti-islamophob, besessen vom „Zionismus“, ohne Meister (außer den Spezialisten auf diesem Gebiet) oder Gott, über den man trotzdem mit der PIR diskutieren muss. Anti-Sexist, aber befreundet mit Houria B. Kommunistisch-libertärer, selbstgefälliger Leser (auch trice) des Nationalisten Michéa. Ultralinker Antiimperialist, Verteidiger des CNR und ewiger Verfechter des „libertären Liberalismus“, libertärer Queerfeminist, Friotist im CNRS für den gewerkschaftlichen/syndikalistischen Schleier und die Öffnung der virilistischen und geschlossenen Häuser mit dem Geld, das man auf das eine Prozent der Oligarchie besteuern wird, Unterstützer….. von Varoufakis #Nachtschwärmer Autonome für die 32-Stunden-Woche, Appellist, der sich als dekadenter westlicher Vorherrscher mit vielen Ego-Tweets und Like-Freunden die Hörner abstößt, Verteidiger der zapatistischen „Mutter Erde“ und des Rechts der Völker, sich von ihrer eigenen „ethnisch dominanten“ Bourgeoisie ausbeuten zu lassen, in den von „privilegierten Weißen“ selbstverwalteten und von der Bookchin-Doxa der PKK und Drogen sind nicht gut inspirierten Krämergemeinden… außer Chemtrails, die wegen der Verschwörung des Wertes und der Schläger aus den Banlieues, die die Sprache der Revolution nicht im Text lesen (Deutsch!), verschwinden auf den Podien der Hörsäle, die von Doktoren in Luxemburgismus bevölkert sind, die von narzisstischer revolutionärer Erotik für die dekolonialistischen Widerstandskämpfer der Hamas überlaufen sind, und die Fakirs- studies mit einer roten Mütze der IRA wahrer Freund des Aufstands, der die Förderung der Gewerkschaften/Syndikate der Polizei der Verhaltensweisen der Arbeitskräfte der von der Fabrik der Dummheit ausgewählten Stücke vortäuscht Ausbruch aus einem Lieu Dit Lordon, der dem CCIF während des Notstands gehorcht etc. …

Typisches Porträt oder übertriebene Karikatur? Wir haben noch nie so viel Kartoffelbrei in den kalten Töpfen des sogenannten „radikalen -GO“-Milieus gesehen!

Sind wir etwa sektiererisch? Man erspare uns die Rede über : Wahrheit, Reinheit, Revolutionarismus oder Radikalität. Stattdessen sind wir bereit, über Kohärenz zu sprechen.

Während wir einigen wenigen raten, Kartoffeln pflanzen zu gehen, erscheint uns diese Bruchlinie für andere tief genug, um mit denen, die sich betroffen fühlen, einen Bruch zu vollziehen.

Für eine kommunistisch-revolutionäre Perspektive.

* Wir verstecken uns nicht hinter verschiedenen Pseudonymen, falschen Accounts/Profilen und veröffentlichen nichts anonym, sondern stehen öffentlich zu unseren politischen Positionen. Wir haben nichts zu verlieren, weder Ansehen noch einen Laden zu führen.


1Der Mèchanè war ein Kran, der im antiken griechischen Theater, insbesondere im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr., verwendet wurde.

2A.d.Ü., wir wissen uns an dieser Stelle auch nicht zu helfen, dass einzige was wir dazu gefunden haben, ist ein Buch von Barbara Stiegler unter den Namen Nietzsche et la critique de la chair: Dionysos, Ariane, le Christ welches sich anscheinend mit Genealogie beschäftigt.

3Was uns nicht daran hindert, geistreich zu sein oder eine gewisse Spiritualität zu verteidigen, die als Suche nach dem guten Leben verstanden wird.

4A.d.Ü., Zerlegung, Kaputtmachen, Ausrenken, Verrenken, usw.

5Der Katze die fünfte Pfote suchen.

6Neologismus: Eine Partei für das Ganze ergreifen.

7Die Frage des Rassismus ist zu ernst, als dass man sie nur unter dem so genannten ethnisch-kulturellen Begriffsfeld belassen könnte. Sie würde an sich eine Entwicklung verdienen, die nicht Gegenstand des Textes ist. Sie scheint immer wieder von denselben Dritte-Welt-Strömungen und der linksnationalistischen Bourgeoisie instrumentalisiert zu werden. Eine interessante Analyse https://botapol.blogspot.fr/2016/07/racisme-et-alienation-joseph-gabel.html

8Ausgehend von der Renaissance.

]]> Die vernebelte Spur von Os Cangaceiros durch die soziale Pampa https://panopticon.blackblogs.org/2024/05/07/die-vernebelte-spur-von-os-cangaceiros-durch-die-soziale-pampa/ Tue, 07 May 2024 17:11:19 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5679 Continue reading ]]> Die vernebelte Spur von Os Cangaceiros durch die soziale Pampa

Einleitung zur deutschen Übersetzung

Dieses Pamphlet wurde aus dem Englischen übersetzt, aus der Motivation heraus, dass sofern mir bekannt weder Originalliteratur von oder andere Texte zu den Totengräbern in deutscher Sprache bestehen. Vor allem die Texte von Os Cangaceiros selbst können einen wichtigen Beitrag zum Diskurs innerhalb der anarchistischen Milieus geben, da sie sehr bestimmt jeglicher offiziellen Struktur und jeder Organisation absagen und der Politik bzw. Gesellschaft den Kampf ansagen. Os Canagceiros haben sich nicht als Anarchisten bezeichnet und jeglichem politischen Couleur abgeschworen, in ihren Aktionen und Texten können sich aber durchaus viele Anarchisten erkennen. Sie folgten einem Bedürfnis der Aufständigkeit und Delinquenz, basierend auf ihren individuellen Erfahrungen und ließen sich weder durch politische Bildung, moralische Dogmen oder andere Ideologien beeinflussen. Ihr Kampf gegen das Gefängnis, inspiriert durch eben jene Erfahrungen, war vielfältig und angreifend und machte sie so innerhalb von einigen Jahren zum öffentlichen inneren Feind des französischen Staates.

Der erste Teil dieses Pamphlets besteht aus einem kurzen enzyklopädischen Beitrag zur Entstehung und Entwicklung von Os Cangaceiros, sowie einer Chronologie und Exzerpten ihres Kampfes gegen das Gefängnis.1

Der zweite Teil enthält einige kurze einleitende Absätze und einen reflektorischen Kommentar2 aus dem Jahr 1995 von Leopold Roc, einem Protagonisten der Totengräber. Wie Roc selbst anmerkt kann dieser nicht als stellvertretend für die restlichen Protagonisten von Os Canagceiros angesehen werden und auch ich teile seine Analysen nicht vollständig. Dennoch ist dieser Beitrag interessant, vor allem weil er Diskussionen aufwirft, insbesondere wenn man sich mit den Texten die von der Gruppe selbst aus den Jahren ihrer Aktivität stammen auseinandersetzt und aus diesem Grund wird er hier publiziert. Wie bereits erwähnt bestehen diese leider nicht in deutscher Sprache (dies ist ein zukünftiger Ansporn für mich selbst und vielleicht auch für andere), ich will dennoch jedem zwei Publikationen zu den Totengräbern nahe legen: Os Canagceiros – A Crime Called Freedom (Englisch, übersetzt aus dem Italienischen durch Wolfi Landstreicher – Eberhardt Press) und Os Cangaceiros [Janvier 1985 – juin 1987] (Französisch, gesammelte Texte und Artikel von und über O.C. 3)

Ich will abschließend noch zwei kurze Anmerkungen zum „Stil“ der Übersetzung machen, die zum besseren Verständnis der verwendeten Form beitragen und zur Diskussion anregen sollen.

Zum ersten habe ich der Verwendung von geschlechtsneutralen Formen keine Aufmerksamkeit geschenkt. Ich finde es, in erster Instanz, aus eigener Erfahrung heraus mühsam solche Texte zu lesen, das sei eine sehr praktische und einfache Erklärung, wodurch sie aber für mich nicht an Wichtigkeit verliert. Dies war auch der Anstoß zu einer etwas tiefergehenden Überlegung. Diesem, meines Erachtens, oberflächlichen Detail wird auch innerhalb anarchistischer Milieus (ganz zu schweigen von der alles vereinnahmenden linken Intelligenzia) zuviel Aufmerksamkeit geschenkt. Die Illusion, dass durch das Verändern und Adaptieren der Sprache die oft ersehnte Emanzipation vielleicht ein Stückchen realer wird, passt nur zu gut zur scheinbar intellektuellen Fassade, hinter der sich die Politisch-Korrekte versteckt, um die essentiellen Fragen des revolutionären Projekts zu negieren. Eben jene Fassade ist eine filigrane Konstruktion basierend auf den neuen Regeln und Dogmen der Politisch-Korrekten und ihrer Subkultur. Dahinter befindet sich keine Substanz sondern die Realität der Welt, in der wir leben, die sich in Tristesse und Leere widerspiegelt. Dessen müssen wir uns bewusst werden, um mit aller Ernsthaftigkeit die Gesellschaft und jenes Fundament der Macht und Unterdrückung, das ihr Zugrunde liegt, anzugreifen und letztendlich niederzureißen. Wir sollten deshalb danach streben, uns nicht mit partikulären Kämpfen und Zielen bzw. jeglicher pazifizierender Illusion zufrieden zu geben.

Zum zweiten verwende ich in dieser Übersetzung das Wort Kamerade(n) als direkte Übersetzung des englischen Wortes comrade(s). Leider gibt es im Deutschen kein anderes Wort, das der Bedeutung und des Gefühls dieses entspricht. Viele Alternativen wurden ausprobiert, Gefährten, Kumpanen, Genossen, etc., jedoch vermisse ich in diesen Ausdrücken ein gewisses Gefühl, das meine Bedeutung dafür ausdrückt. Mit der braunen Kameraderie hat dies gar nichts zu tun und mit der Deutlichkeit dieser Aussage will ich mich auch nicht auf eine tiefergehende Erklärung diesbetreffend einlassen.

Mokum, Sommer 2010

Die vernebelte Spur von Os Cangaceiros durch die soziale Pampa

„Wenn wir die Banken plündern, dann deshalb weil wir erkannt haben, dass das Geld der Hauptgrund unser aller Elends ist. Wenn wir die Fenster einschlagen, dann nicht weil das Leben teuer ist, sondern weil die Waren uns davon abhalten, um jeden Preis zu leben. Wenn wir die Maschinen zerstören, dann nicht aus dem Wunsch die Arbeit zu beschützen, sondern um die Lohnsklaverei anzugreifen. Wenn wir die Polizei angreifen, dann nicht um sie aus unseren Vierteln zu jagen, sondern um sie aus unseren Leben zu vertreiben. Das Spektakel würde uns gerne fürchterlich aussehen lassen. Wir versuchen viel schlimmer zu sein.“

Die Totengräber, Paris, Mai 1980

Der Mai wird zu Neujahr

Os Cangaceiros war eine Gruppe von proletarischen Revolutionären, die aus den Studenten- bzw. Arbeiterunruhen und Besetzungen im Frankreich des Mai 1968 hervorging. Os Cangaceiros – oder Les Fossoyeurs du vieux monde (Totengräber der alten Welt), wie sie auch genannt wurden – kamen in Nice, Frankreich, zusammen und waren charakteristisch für die neuen antagonistischen Sozialbewegungen des Europas nach dem Mai `68, die nichts weniger als das „Ende der Politik“ forderten. In Lokalzeitungen wurden sie als „Hooligans“ und „jugendliche Delinquenten“ bezeichnet. Sie hatten keine offizielle Struktur, sondern bildeten ein Kollektiv aus individuellen Begierden, fähig sich in gegenseitigem Ausdruck zu finden. Mit „Ne travaillez, jamais!“4 als Programm, machten sie sich daran jene Umstände zu schaffen, die dies sofort möglich machen würden. Zu diesem Zweck kollektivierten sie ihre Ressourcen und kriminellen Begabungen, die ihnen durch ihr Verlangen nach Abenteuer vertraut waren. Sie reisten durch den Süden Frankreichs, gewannen Freunde und initiierten autonom politische Aktionen; meistens gegen die Polizei, die Gewerkschaftsbürokratie, Politiker und soziale Manager aller Art. Sie lebten nomadisch, strebten danach Orte zu finden, wo die Unzufriedenheit ihren Höhepunkt erreichte und bereisten diese, um Situationen dort im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu verschärfen. Insbesondere versuchten sie die Rolle der liberalen, sozialen Demokraten und Linken beim Manipulieren und Befrieden von jenen aufzuzeigen, die zu ihrem eigenen Nutzen revoltierten, indem sie die Bestimmung des Kampfes aus den Händen der generalisierten Radikalität nahmen, die ihre eigene Dynamik hatte.

„Wir wollen ein für allemal klar machen, dass wir, Os Cangaceiros, nicht aus der Linken kommen; es gibt keinen einzigen ehemaligen Linken unter uns. Keiner von uns hatte jemals etwas mit irgendeiner politischen Couleur zu tun. Wir haben nur eine Art der Beziehung zu politischen Gruppen und Organisationen: Krieg. Sie sind alle ausnahmslos unsere Feinde.“

Dies beinhaltete auch den Anarchismus und ihre Kämpfe mit Anarchisten in Paris, welche zumindest zu einem Todesopfer führten.

Jenseits von Frankreich

In den späten 1970er Jahren reisten sie ausführlich in Italien, wo die Autonomia ihren ersten Höhepunkt erreichte und der revolutionäre Moment die Fabriken und die Jugend der Kontrolle der Kommunistischen Partei und der Gewerkschaften entriss. Dort begegneten sie auch Comontismo, der sich für einen „kriminellen Kampf gegen das Kapital“ aussprach und erlebten aus erster Hand den gewalttätigen Angriff der italienischen Unkontrollierbaren auf den Staat. Da ihre Handlungsmethoden sie häufig in die Illegalität und manchmal auch ins Gefängnis brachten, begriffen sie dessen Bedeutung und richteten ihre Aufmerksamkeit später fühlbarer auf das System von Verbrechen und Strafe. In den 80er Jahren folgten O.C. Aufruhren im ganzen Land bzw. auf dem ganzen Kontinent, verbreiteten Subversion und bildeten soziale Netzwerke in Paris, Lyon, Belgien, Polen, Brixton und Toxteth. Der Reiz, der sie zu diesen Orten zog war unterschiedlich; in Lyon war es der Nervenkitzel des Joyriding und das Auflauern und Angreifen von verfolgenden Polizeiautos durch eine mit Steinen wartenden Menge. In Polen waren es die wilden Streiks und Besetzungen gegen die kommunistische Regierung. In Brixton und Toxteth war es die Explosion der Innenstadtjugend gegen die Langeweile und die Polizeirepression. An jedem dieser Orte führten sie ihre eigenen Aktionen als Beitrag zum Kampf durch, ohne die lokalen Teilnehmer in welcher Weise auch immer zu beeinflussen. In ihrem damaligen Journal, welches keine politische Veröffentlichung, sondern eher eine Zusammenfassung ihrer Aktivitäten und Reflektionen darauf war, behandelten sie Fragen wie zum Bedürfnis an Unsichtbarkeit (und der konsequenten Ablehnung des politischen Milieus, welches die Aufmerksamkeit der Polizei wegen seiner eigenen Eitelkeit geradezu herausfordert) sowie Strategien zur Untergrabung der alten Welt des Kapitalismus mit all seinen Neuigkeiten und Lügen. Im Jahr 1984 gingen O.C. nach England, um dort zusammen mit den Grubenarbeitern ihre eigenen Steine zu werfen und hielten sich ein Jahr lang in verschiedensten Städten in Yorkshire auf; dies war der letzte Kampf der traditionellen Arbeiterklassenbewegung in Großbritannien, dem letzten Land, das dem europäischen Model folgte. Danach kehrten sie nach Paris zurück (zusammen mit mehreren befreundeten Grubenarbeitern) und begannen Häuser zu besetzen.

„Lasst unsere Kerkermeister keine Herrschaft walten, lasst uns jeden Tag auf das Herz des Tigers einschlagen, in jeglicher Manier, nach unserem Gegensatz, gegen die Traurigkeit und Einsamkeit der Zellen unserer Gefangenschaft.“

Vorübergehende Ruhe

Während andere Hausbesetzer versuchten umweltschutzbezogene oder architektonische Argumente zu verwenden, um die Besetzung von leerstehenden, zerfallenen Gebäuden zu rechtfertigen, entschieden sich Os Cangaceiros die besten Gebäude die sie fanden zu nehmen – sie sahen das Häuserbesetzen als direkte Enteignung des materiellen Luxus auf den wir alle ein Anrecht haben, da jeder einzelne von uns ein Leben lang durch die Illusion des materiellen Reichtums aufgereizt wurde. O.C. wollten genau diese Lüge erkennen und ausschöpfen, zu diesem Zweck zogen sie in einen neu gebauten Appartementblock ein und warfen die sich beschwerenden Yuppiebewohner hinaus. Das eingenommene Gebäude wurde dann gegen einen Polizeiangriff verbarrikadiert und sie errichteten eine No-Go Zone für die Polizei in ihrem Viertel. Als die Polizei letztendlich kam, um sie zu räumen, dauerte es drei Stunden bis diese durch die Stahlbarrikaden an der Tür kam, währenddessen ein, per Telefon informiertes, Netzwerk an Unterstützern die Polizei in einem Gegenangriff von hinten attackierte. In den späten 1980er Jahren schlugen O.C. einen neuen Weg ein und begannen ihre Bemühungen gegen die Gefängnisindustrie zu richten. In den nächsten drei Jahren führten sie mehrere Sabotageakte gegen in Bau befindliche Gefängnisse durch, stahlen Baupläne für neue Gefängnisse, verprügelten Architekten, die in die Planung dieser neuen Gulags involviert waren und zogen Aufmerksamkeit auf den Widerstand, der auch innerhalb der Mauern stark zunahm. Der Kampf gegen diesen Industriekomplex zwang O.C. ihr Journal aufzulösen und vollständig unterzutauchen, nachdem sie nun massiv von der Polizei verfolgt wurden. Als eine ihrer letzten Aktionen (bevor sie sich vollständig in inoffiziellen, kriminellen Netzwerken auflösten, die sie über die letzten 20 Jahre hin erschaffen hatten) veröffentlichten sie ein Buch über die Bewegung des freien Geistes des 16. Jahrhunderts, eine proto-anarchistische Strömung, mit der sie sich stark identifizierten.

„In der Morgenröte des Industrialismus wurden Fabriken nach dem Muster von Gefängnissen gebaut. In dessen Dämmerung werden nun Gefängnisse nach dem Abbild von Fabriken gebaut.“

Zähne und Klauen

Im Mai 1985 brachen in ganz Frankreich Krawalle in den Gefängnissen aus. In Solidarität griffen Os Cangaceiros verschiedene Ziele an, von Eisenbahnschienen bis Tour de France Autos, basierend auf ihrem eigenen Hass gegen Gefängnisse und nicht als außenstehende Befreier, um den Widerstand der Gefangenen publik zu machen.

5. Mai, 1985 – In Fleury-Mérogis randalieren die Gefangenen des D4 Flügels und zerstören den gesamten Trakt.

6. Mai – Abermals in Fleury weigern sich 300 Inhaftierte des D1 Flügels nach ihrem Hofgang zurückzukehren; 60 von ihnen zünden die Krankenabteilung an.

7. Mai – In Bois d’Arc klettern ca. 15 Jugendhäftlinge (Insassen jünger als 18 Jahre, die normalerweise in separaten Abteilungen gehalten werden) auf das Dach und bleiben dort bis zum 9. Mai unterstützt und versorgt durch die anderen Gefangenen.

8. Mai – In Lille klettern ungefähr zehn Gefangene auf das Dach. In Bastia verweigern Insassen das Gefängnisessen in Solidarität mit den anderen Gefangenen. (Die „Verweigerung von Gefängnisessen“ ist nicht wirklich mit einem Hungerstreik zu vergleichen, dennoch kann es ein Weg sein diesen auszuführen.)

9. Mai – In Fresnes klettern 400 Insassen auf die Dächer und liefern sich Zusammenstöße mit der Polizei, die dabei einen Gefangenen tötet. In Compiegne, klettern ca. zehn Gefangene, denen der „Morgenschicht“ folgend, auf die Dächer. Im Bonne Nouvelle Gefängnis in Rouen, klettern ca. 50 Jugendhäftlinge auf die Dächer, während andere Gefangene ihre Zellen zerstören; nach angeblichen Verhandlungen kletterten ca. 30 zurück auf das Dach in Solidarität mit den Kameraden in Fresnes.

10. Mai – Vom 9. bis zum 10. Mai gehen Gefangene auf die Dächer in Douai. Es gibt einen kurzen Zusammenstoss mit der CRS (Französische Bereitschaftspolizei). In Amiens klettern ungefähr 50 Gefangene auf die Dächer. In Nizza schließen sich 60 Gefangene mit ca. 20 Jugendhäftlingen während eines Zusammenstoßes mit der Polizei auf den Dächern zusammen. In Beziers nehmen 130 Gefangene drei Wächter und einen Krankenpfleger für drei Stunden als Geisel.

11. Mai – In Evreux, Saintes und Coutances, klettern Gefangene auf die Dächer und bekämpfen sich mit der Polizei. Dasselbe passiert am nächsten Tag in St. Brieuc.

19. Mai – Gefangene zerstören das gesamte Gefängnis von Montpellier (Brandstiftung und Verwüstungen) und liefern sich Kämpfe mit der Polizei. Draußen greift die Menge, bestehend aus Freunden und Verwandten der Gefangenen, die Polizei von hinten an.

Darüber hinaus brechen in verschiedensten Gefängnissen Unruhen aus, von der Verwüstung von Zellen und versuchter Brandstiftung (in Rennes, Angers, Metz, etc.) bis zur kollektiven Verweigerung von Gefängnisessen (Lyon, Frauen und Männer in Fleury, Ajaccio, Auxerres, St. Malo, Avignon, Chambery, etc.). In dieser Zeit finden mehrere „Selbstmorde“ statt. Die Rebellen in Douai und Evreux erhalten harte Strafen unter dem Vorwand der verursachten Schäden.

17. Juni – Auf der Eisenbahnstrecke Nantes-Paris nahe Nantes wird eine Barrikade in Solidarität mit den Gefängnisrevolten in Brand gesteckt.

20. Juni Sabotage an den TGV (Schnellzug) Anlagen der Eisenbahngleise im Süden von Paris.

27. Juni Auf der Eisenbahnstrecke Toulouse-Paris nahe Toulouse wird eine Barrikade in Brand gesteckt.

30. Juni – In der Nacht von 30. Juni auf 1. Juli wird der Druck der Pariser Tageszeitung lahm gelegt durch Sabotage der IPLO Druckerei nahe Nantes.

„Wir haben uns dazu entschlossen der nationalen Presse einen halben Tag der Stille aufzuerlegen zu Ehren der rebellierenden Knastbrüder. Diese Aktion ist weiters in Solidarität mit all den toten Gefangenen, die „ge-selbst-mordet“ wurden. Alle diese Zeitungen sind bekannt für ihre Feindseligkeit gegen die jüngste Bewegung der Revolten in den Gefängnissen.“

1. Juli – Sabotage an den Eisenbahnanlagen der Nimes-Tarascon Strecke.

Jedes Mal verursachten diese Aktionen längere Unterbrechungen im Zugverkehr und stundenlange Verspätungen der täglichen Züge. Die Forderungen waren immer die gleichen:

„Eine Reduktion der Strafen für alle verurteilten Gefangenen. Die Freilassung von allen, auf den Prozess wartenden, Inhaftierten. Das endgültige Stoppen von allen Abschiebemaßnahmen gegen Immigranten. Die Aufhebung aller Sanktionen gegen die Rebellierenden.“

2. Juli Der Paris-Brüssel TEE-Zug wird nahe Compiegne gestoppt. Die vier Forderungen werden auf die Wagons gesprayt. Fenster werden eingeschlagen und Exemplare des Pamphlets „Freiheit ist das Verbrechen“ werden durch die zerstörten Fenster geworfen.

5. Juli Sabotage an der Paris-Le Havre Linie. Vier Personen werden zwei Tage später in Rouen in Verbindung mit dieser Aktion verhaftet und für drei Monate eingesperrt.

8. Juli Von 7. bis 8. Juli klettern in Chaumont Gefangene auf die Dächer, um ihre Sorgen angesichts der anstehenden präsidialen Amnestie am 14. Juli (Tag der Stürmung der Bastille) zu demonstrieren, welche verspricht sehr dürftig zu werden. Es kommt zu Konflikten mit der Polizei. Vier der Rebellen erhalten schwere Strafen.

9. Juli Ein anonymer Sabotageakt wird gegen die Paris-Strassburg Linie, die nahe Chaumont entlang läuft, ausgeführt.

12. Juli Am frühen Morgen werden in Paris zwei Metrolinien mehrere Stunden lang durch schwere Objekte blockiert, die in Solidarität mit den Rouen 4 und den Rebellen von Chaumont auf die Gleise geworfen wurden. Wieder wurden die vier Forderungen publik gemacht.

13. Juli In Lyon werden zwei Autos der Behörden in Solidarität mit den Gefangenen in Lyon in Brand gesteckt. Bevor noch ein Bekennerschreiben veröffentlicht wird, entflammen erneut zahlreiche Unruhen in verschiedensten Gefängnissen (Fleury, Loos-les Lille, Toul, etc.).

14. Juli – Im St. Paul Gefängnis von Lyon rebellieren ca. 20 Gefangene der „psychiatrischen“ Abteilung (Verwüstungen und Brandstiftungen). Die lächerliche präsidiale Amnestie wird angekündigt: ein bis zwei Monate Reduzierung der kurzen Haftstrafen. Die JAP (Komitee der Strafvollzugsrichter) wird ihr Arbeitspensum ausweiten: 3000-4000 Gefangene sollen in den nächsten Tagen freigelassen werden. Diese Neuigkeit soll von zahlreichen Unruhen in den Gefängnissen des Landes begleitet werden.

15. Juli – In der Nacht von 14. auf 15. Juli werden die Reifen des Konvois, der die Tour de France begleitet, in Solidarität mit den verurteilten Rebellen aufgeschlitzt (ungefähr 100 Fahrzeuge werden unbrauchbar gemacht).

In Toulouse wird ein Unternehmen, welches Gefangene beschäftigt, durch Brandstiftung zerstört.

18. August – In Lille klettern dutzende Gefangene auf die Dächer. In Lyon wird die ROP Druckerei der Pariser Tageszeitungen verwüstet. Die Publikation und die Distribution werden schwer beeinträchtigt. Erneut war es das Ziel die Zeitungen für ihre Lügen und Feindseligkeit gegen die Rebellen zu züchtigen. Der Text „Die Wahrheit über einige Aktionen“ wurde in den Räumlichkeiten zurückgelassen. Während Unruhen in Guadalupe können ca. 30 Gefangene nach Ausschreitungen im Gefängnis Pointe-à-Pitre ausbrechen.

„Die Forderungen vereinigen die Offensive der Gefangenen gegen ihre Isolation und einen Aufruf an jene außerhalb der Mauern, um diese konkret zu zerstören. Es geht darum Druck zu erzeugen, um sich gegen diese Gesellschaft zu behaupten, auf eine Welt zu scheißen, die lieber taub wäre, wenn es um ihre Gefängnisse geht.“

13.000 Projekt

Im Jahr 1990 begann ein umfangreiches Dossier in Frankreich zu kursieren. Das von Os Cangaceiros in Umlauf gebrachte Dossier enthielt sowohl gestohlene Gefängnispläne und -dokumente als auch eine Chronologie, welche die Sabotagekampagne von O.C. gegen das „13.000 Projekt“ umschrieb. Dieses Projekt beinhaltete den Plan des französischen Staats um neue Hochsicherheits-Gefängnisse mit Platz für 13.000 Gefangene zu schaffen. Weiters beinhaltete die Akte Kopien der Communiques, die an jene von O.C. angegriffenen Institutionen und Personen gesendet wurden. Interessanterweise versuchten die Polizei und die angegriffenen Betriebe sehr diskret mit dieser Kampagne umzugehen, offensichtlich um ihr so wenig wie möglich Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu geben.

Brief an einen Architekten

„Betrifft: Hinterhalt

Sind Deine Wunden gut geheilt, Architekt? Hast Du herausgefunden warum? Unverschämt, ohne jeglichen Skrupel, Zentimeter für Zentimeter hast Du diese Käfige erschaffen, in denen sogar die Behinderten eingesperrt werden sollen. Innerhalb der Mauern, die Du entworfen hast, werden in Zukunft Individuen, die mehr wert sind als Du, regelmäßig verprügelt werden. Die Zeit war reif, dass Du einen Appetitanreger von dem erhalten hast, was tausende Gefangene bis zum xten Grade ertragen werden müssen. Architekt, dies ist nämlich nicht die erste Niederträchtlichkeit für die Dein Betrieb verantwortlich ist. Wenn man betrachtet, was Du baust, um normale Bürger unterzubringen, kann man Deine Kompetenz um Delinquenten wegzusperren erahnen. Man kann leicht von den Hochhausblöcken des 13. Arrondissements auf die Gefängniszellen schließen. Du Schwein, schau Dir Deine Schnauze gut an, wir konnten von Deinem erschöpften Gesicht ablesen, wie tief Du selbst in Deine Projekte verwickelt bist. Zuerst hast Du Mauern gebaut, nun wirst Du diese einreißen.“

Os Cangaceiros, Lyon, 19. März 1990

Os Cangaceiros in der sozialen Pampa

Eine kurze einleitende Erklärung…

In den 1980er und frühen 1990er Jahren waren wir mit einigen der Personen befreundet, welche die französische Gruppe Os Cangaceiros bildeten, die aus Les Fossoyeurs du Vieux Monde (Die Totengräber der alten Welt) entstanden war. Die originalen Cangaceiros waren Robin Hood-artige Banditen – die Reichen berauben um den Armen zu geben – im Brasilien des 19. Jahrhunderts. Die neu gegründete FrogGruppe5 (wie wir sie mit einer Brise übertriebenen Chauvinismus nannten) war nach Großbritannien gekommen, begeistert von der Periode der urbanen Krawalle in den frühen 80er Jahren und den Überschneidungen mit den erbitterten Streiks, besonders die der Grubenarbeiter zwischen 1984 und 1985, zu welchen die Froggies ihre eigenen Zutaten hinzufügten. Sie freundeten sich mit einigen der wildesten, eigensinnigsten und bemerkenswertesten Individuen der Grubenarbeitergemeinschaft in Yorkshire an und versuchten so dauerhaftere internationale Verknüpfungen zu schaffen. In der Hoffnung, dass sich bei der steigenden Verelendung in den 80er Jahren und dem Unglück auch ein Silberstreif am Horizont abzeichnete, vielleicht sogar ein Regenbogen in der Form eines interethnischen Zusammenkommens in Großbritannien in der Dämmerung der 1980er Jahre, ausgedrückt durch offene Revolte. Leider wollte es nicht sein, da der Zuspruch von wenig auf noch weniger umschlug und letztendlich fast gänzlich verschwunden war.

Manche meinten, dass die Kangaroos, wie sie unvermeidlich von uns in Großbritannien genannt wurden – um uns wiederum hinter einem filmreifen Chauvinismus zu verstecken – Gewalt der Gewalt wegen fetischisierten und unkritisch jede Art von individuellem Hooliganismus unterstützen, was keiner von uns einfach so tun konnte. Besonders nicht nach der Tragödie im Heysel Stadion von Brüssel, als 1985 bei einer Massenpanik während eines UEFA-Cup Spiels, hervorgerufen durch Zusammenstöße zwischen der Polizei und englischen (Liverpool) bzw. italienischen (Juventus) Fußballfans, viele Menschen starben. Man könnte meinen – und darauf wurde damals auch von einigen Leuten hingewiesen – dass es um mehr gehen könnte bei den „linken“ Liverpool-Fans in ihren roten Heimdressen gegen die italienischen „Faschisten“, aber das würde wohl zu weit gehen.

Andererseits verbreiteten die Kangaroos das Beispiel der Autonomie, der spanischen Dockarbeiterorganisation Coordinadora entsprungen, bevor auch diese entartete, in dem sie Pamphlets von BM Blob distributierten: „International Dockers struggle in the Eighties“ (Internationaler Kampf der Dockarbeiter in den Achtzigern) wurde in ganz Yorkshire verteilt und durch ihre freundliche Veranlagung ergaben sich andauernde Freundschaften6. Darüber hinaus haben die Kanagaroos einige interessante Texte, vor allem die besten in französischer Sprache, über den Streik der Grubenarbeiter verfasst, welche ein sehr überzeugendes „ich war dabei“ Gefühl vermitteln.7

Zur gleichen Zeit begannen Os Cangaceiros zu Hause in Frankreich in verschiedene Arten der direkten Aktion involviert zu sein, speziell in Zusammenhang mit den Kämpfen der Gefangenen, indem sie eine Reihe von einfallsreichen Aktionen initiierten. Der folgende Text bezieht sich auf eine dieser Interventionen unter vielen und geht sensibel und intelligent mit den Problemen um, die einem sozial ausgeschlossenen Grüppchen innewohnen, welches in die Offensive gegangen ist und dadurch den Hass des Establishments auf die eigene, klandestine Existenz gezogen hat. Insbesondere relevant sind die Fragen des wie, warum und wofür, neben anderen unvorhersehbaren Schwierigkeiten in Bezug auf die Publicity-Maschine der Medien; wie sie einen benützen und vor allem wie man ihren modus operandi umstürzen kann und somit die Medienleute dazu bringt, sein eigenes Spiel zu spielen und nicht ihres. Einiges davon ist scharfsinnig und man kann die aus reiner Erfahrung erzählende Stimme hören. Dies ist sicher ein wertvolles Beispiel für jene, die ähnliche Wege beschreiten oder selbst dort waren.

Die vernebelte Spur von Os Cangaceiros durch die soziale Pampa

Zwischen 1985 und 1990 erlangte die Gruppe „Os Cangaceiros“ durch einige durchschlagende Aktionen in Frankreich einen gewissen Ruf; jetzt, da Os Cangaceiros der Vergangenheit angehören, sind es wahrscheinlich diese Aktionen, die es wert sind daran zu erinnern oder eher noch die Lektionen und Kritiken, welche man daraus ziehen kann. Die folgenden Anmerkungen versuchen dennoch weder Bewunderung noch Verachtung zu erregen: Ich denke, dass sie nützlich sein können für andere, die sich auf einen ähnlichen praktischen Dissens einlassen wollen.8

Die verschiedenen Sabotageakte, die wir ausführten, waren die Erklärung, dass eine handvoll entschlossener Leute sich etwas effizienterem hingeben können als dem gewohnten Flugblatt/Pamphlet-Verteilen, wenn es darum geht Solidarität oder Unzufriedenheit auszudrücken. Im Jahr 1985 war es die Idee, die Forderungen der damals revoltierenden Gefangenen, durch die Störung des Schienenverkehrs im großen Rahmen, weiterzuleiten. Das Blockieren von Autobahnen und Eisenbahnlinien hat eine lange Tradition im französischen Arbeiterkampf und durch das Anwenden dieser Mittel wollten wir verdeutlichen, dass die Revolte eines Gefangenen ein legitimer sozialer Kampf ist wie jeder andere: genauso wie Arbeiter für eine Lohnerhöhung streiken, revoltieren Gefangene für die Reduzierung der Strafen (und bei beiden steht natürlich mehr auf dem Spiel als die ausgedrückten Forderungen). Selbstverständlich erkannten dies die Medien und der Staat nicht an und wetterten gegen die von Kriminellen unterstützten Terroristen (oder umgekehrt). Trotzdem wurde diese Art Solidarität zu zeigen gut von den Menschen innerhalb der Gefängnismauern aufgenommen und auch von jenen draußen. Im Zuge der Berichte über unsere Aktionen musste die Presse auch die Forderungen der Gefangenen erwähnen und erlaubte so die weitere Verbreitung eben jener Forderungen. Es muss auch hinzugefügt werden, dass die vier wegen dieser Aktionen angeklagten Personen, trotz der irren Beschuldigung des Terrorismus, letztendlich sehr milde Strafen bekamen, dank einer lokalen Verteidigungskampagne, die in Bezug auf die „Terroristen“-Frage die entgegengesetzte Richtung einschlug.

Obwohl wir diese bestimmte Art der Aktion nicht endlos reproduzieren und unsere ganze Zeit auf dem Gleisschotter verbringen wollten, griffen wir im Februar 1986 noch einmal darauf zurück. Dieses Mal, um Abdelkarim Khalki zu unterstützen, der seinen großzügigen Sinn für Freundschaft und Humanität gezeigt hatte, indem er versuchte seine Kumpels, Courtois und Thiollet, während ihres Prozesses zu befreien. Er nahm das Gericht, die Jury und die Journalisten als Geisel. Nach 36 Stunden scheiterte sein Versuch dennoch, jedoch nicht bevor sie es schafften die Richter, das Rechtssystem und die Gesellschaft, live in der Hauptsendezeit des Fernsehens, zu „richten“. Jetzt war Khalki im Hungerstreik und forderte, dass der Innenminister das von ihm gegebene Versprechen einhielt, ihn im Austausch für das Aufgeben von Thiollet und Courtois, gehen zu lassen. Eines Morgens fanden tausende Pariser eine gute Ausrede, um zu spät zur Arbeit zu kommen, nachdem wir praktisch das ganze Metro-Netzwerk für mehr als eine Stunde lahm gelegt hatte, indem wir ganz einfach schwere Gegenstände auf die Gleise warfen und die elektrischen Hauptleitungen durchschnitten. Plakatierte Poster in und um die Metrostationen informierten jeden über Khalki’s Situation und seine Forderungen. Wiederum zwang diese Aktion die Presse Khalki’s Hungerstreik zu erwähnen, den sie bis zu diesem Zeitpunkt vertuschte. Selbstverständlich hielt die Regierung nie ihr Versprechen und Khalki bekam eine schwere Strafe. Wie unser Poster damals sagte: „was kann man vom Staat außer Lügen und Schläge erwarten?

Die Reihe von Aktionen, die wir zwischen 1989 und 1990 ausführten, gründeten auf einer anderen Perspektive. Dieses Mal war es keine direkte Antwort auf eine gerade stattfindene Revolte9, sondern eine Entscheidung, um irgendwie gegen den geplanten Bau von neuen Gefängnissen vorzugehen. Das bedeutete, dass wir selbst das Timing und die Mittel wählen konnten, die wir für angebracht hielten, ganz abgesehen von den offensichtlichen Gründen, warum einen die Aussicht auf 13.000 neu gebaute Käfige ankotzt. Wir hatten auch persönliche Gründe für unseren Ärger, da wir in den letzten Jahren permanenten Auseinandersetzungen mit der Polizei ausgesetzt wurden, welche versuchte die Cangaceiros mit so wenig wie möglichem Aufsehen zu besiegen, was uns zur ständigen Flucht zwang. Es war keine Übertreibung anzunehmen, dass diese Gefängnisse auch für uns gebaut wurden und nachdem „Angriff die beste Verteidigung“ ist, dachten wir wenn wir schon gefasst würden, dann auch für etwas sich Lohnendes. Dennoch spielte das Gefühl eines sorgenvollen Notfalls auch eine schädliche Rolle bei der ganzen Sache. Das spielende Element, notwendig für jede Art der subversiven Aktivität, neigte sich in eine neurotische Besessenheit vom erzwungen erfolgreichen Ergebnis zu verwandeln.

Der abschließende Bericht, den wir zu dieser Kampagne veröffentlicht hatten, könnte einen betrügerischen Eindruck von Leichtigkeit und Mühelosigkeit hinterlassen. Genau genommen rannten wir für mehr als ein Jahr mit unseren Köpfen gegen die (gut bewachten) Wände der Regierungsbüros, privaten Unternehmen, Baustellen und geheime Daten beherbergenden Orte, mit dem Eindruck, dass unsere Sabotage nur ein Nadelstich gegen eine monströse Maschinerie war. Damit konfrontiert war unsere erste Reaktion unsere Ziele zu überschätzen, was zu einer gefährlichen (d.h. unkontrollierten) Eskalation führen kann. Zudem neigen Langzeitpläne in Zusammenhang mit Hit-Squad Aktivitäten dazu, ihre eigene „militärische“ Logik zu entwickeln, die uns von distanzierteren und selbstkritischeren Reflektionen entfremdet und die Mittel somit den Zweck erfüllen10. So unhierarchisch die Gruppe auch sein mag, trotzdem hatte jeder das Gefühl die Initiative zu verlieren und es dauerte einige Zeit bis wir realisierten, dass wir eine viel effizientere und einfachere Karte ausspielen konnten, nämlich die weite Verbreitung der geheimen Pläne und Dokumente, die in unsere Hände gelangt waren. Dies war jedoch nicht nur eine Änderung der Taktik; und ich möchte einige allgemeinere Überlegungen zu diesem Thema aufwerfen.

Die erste betrifft unsere Beziehung zu den Medien. Die Art der Sabotageaktionen, die wir 1985 und 1986 ausführten, war sehr abhängig von der Medienberichterstattung. Wie sehr man die Medien auch hasst, man braucht auch ihre Aufmerksamkeit, denn was ist eine solidarische Aktion wert, wenn jene, an die sie adressiert ist, nichts davon mitbekommen? Und deshalb ergibt man sich ihrer Macht – der Macht dich zu verleumden, deine Sache übertrieben aufzublasen, um Repression zu provozieren oder dich ganz einfach nicht zu erwähnen und so unbemerkt lassen. In den Jahren 1989-1990 hatte die Presse offensichtlich die Anweisung bekommen unsere Aktivitäten auszublenden: sogar die lokalen Zeitungen, die es nie verpassen würden über einen überfahrenen Hund zu berichten, schrieben keine einzige Zeile über die Sicherheitsfirma, die wir zu Asche verbrannt hatten oder über den Gefängnisarchitekten, den wir in Paris auf offener Straße verprügelt hatten.

Mit der Verbreitung des „13.000 belles“-Dossiers stellten wir das Problem auf den Kopf. Bevor die Medien auch nur irgendwas erfuhren, waren sich schon zehntausende Menschen bewusst darüber was passierte. Wir hatten das Dossier zum Beispiel an alle Cafes der Orte, an denen neue Gefängnisse gebaut wurden, gesandt und unsere Spione vor Ort meinten, dass es in allen Bars Diskussionen nährte, die den ganzen Tag anhielten. Einer Lokalzeitung zufolge eilte eine entsetzte Pensionistin zum lokalen Gemeindeamt und fragte, ob es wahr sei, dass Gefangene durch sabotierte Gefängnismauern ausbrechen könnten. Die Beamten kopierten das Dossier, das die Frau erhalten hatte („die Kopierer waren an diesem Tag sehr beschäftigt“, schrieb ein Journalist) und es wurde an höhere Institutionen weitergeleitet. Die Journalisten waren dann gezwungen herumzueilen, um eine Kopie des Dossiers zu ergattern und so gingen an diesem Tag die Neuigkeiten ihren Weg von den Lokalzeitungen zur nationalen Presseagentur, bis ein Regierungsvertreter eine Pressekonferenz veranlasste, um die Öffentlichkeit zu den möglichen Gefahren der Enthüllung dieser Dokumente zu „beruhigen“. Und nur weil wir dieses Mal die Presse nicht als notwendiges Übertragungselement gebraucht hatten um die Öffentlichkeit zu erreichen, waren ihre Meldungen weitaus folgerichtiger und genauer als gewöhnlich – manchmal sogar lustig. Le Figaro druckte einen ganzseitigen Artikel mit dem Titel „Ausbrüche – Anleitung zur Anwendung“ in dem sie unseren ganzen Brief rezitierten und eine andere Zeitung kommentierte: „Diese Cangaceiros sind genauso romantisch wie ihre Vorfahren (d.h. die brasilianischen Sozialbanditen), aber besser organisiert.“ Ein TV-Nachrichtensprecher schlussfolgerte: „Man könnte denken das sei ein schlechter Witz, denn waren diese Personen nicht schon der Polizei bekannt?“ Dies ist die Moral zur Geschichte: Die beste Nutzung der Medien (anstatt von ihnen benutzt zu werden) ist, zu versuchen, sie zu übergehen.11 Sie zuerst verzichtbar machen, damit sie vielleicht als gewöhnlicher Verstärker der Geschehnisse fungieren, ohne dass wir ihre Hilfe einsetzen.

Hinter der Medienproblematik liegt jedoch eine viel substanziellere Frage. Desto mehr wir danach strebten dem Gefängnisprogramm beständigen Schaden zuzufügen, desto mehr entwickelte sich das unbehagliche Gefühl, dass wir einen „eins gegen eins“ Kampf gegen den Staat führten – eine Herausforderung, die wir als solche offensichtlich verdammt waren zu verlieren. Wir waren „Die letzten Mohikaner“ in ihrem verzweifelten Angriff gegen die Bleichgesichter. Schlussendlich war es von geringerer Wichtigkeit, ob die Medien über diesen Kampf berichteten bzw. ob es Sympathie oder Verachtung in der Öffentlichkeit erzeugen würde, denn die „Öffentlichkeit“ konnte ohnehin nichts anderes als eine Öffentlichkeit von weit weg betrachtenden Zuschauern bleiben. Wir betrachteten uns nie als sich opfernde Avantgarde, dennoch fanden wir uns in eine Ecke gedrängt wieder, in der unsere „guten Absichten“ wenig Nutzen hatten. Die Option die Gefängnispläne zu verbreiten war so etwas wie ein Durchbruch der Anklang fand, nicht bei den Zuschauern, sondern bei potenziellen Komplizen, die sich in unserer Initiative finden und diese weiterführen konnten. Dies funktionierte ganz gut. Obwohl einige Gefangene sicherlich von dem Dossier wussten und begeistert darüber waren, wissen wir nicht, ob es Insassen wirklich half, um einen Weg aus dem Gefängnis zu finden (obwohl die Presse es seither, sobald es in einem dieser Gefängnisse Unruhen gab, niemals verabsäumte an jene fehlende Dokumente zu erinnern, die sich irgendwo dort draußen auf freiem Fuß befanden). Nichtsdestotrotz trug die spielerische Seite des Stehlens verbotener Dokumente bzw. des heimlichen Weiterreichens an andere sicher zur großräumigen Verbreitung bei. Sogar Leute die uns gewöhnlich nicht mochten schätzten es, dass wir dem Staat gezeigt hatten, was wir von ihm halten. Dieser schlussendliche Erfolg war auf alle Fälle auch eine Ablehnung gegen unsere frühere Perspektive, ganz abgesehen von der Freude, dass wir es durchgeführt hatten, denn letztendlich hinterließ die ganze Sache uns in völliger Erschöpfung.

Um zur entfremdenden Seite von langzeitlicher klandestiner Aktivität zurückzukommen: die Polizeistrategie gegen uns passte bemerkenswert gut auf die oben beschriebene. Wie ich bereits erwähnte, hatte es die Polizei auf ein hartes Durchgreifen ausgelegt, zusammengetragen zu einem spektakulären Schauprozess, komplettiert mit erfundenen Beweisen und es scheint, als ob sie auch versuchten uns zu infiltrieren, um uns dazu zu bringen Bomben zu legen.12 Ihr Hauptinteresse dieser Jahre lag jedoch darin uns durch permanente Schikanen von unseren potenziellen Verbündeten zu isolieren. Im Februar 1991 folgte dem „13.000 belles“ Skandal eine mittels der Medien inszenierte Razzia in mehreren Städten, bei der 25 Menschen einvernommen und ihre Appartements durchsucht wurden. Dem Mordicus Magazin, das Teile unseres Dossiers veröffentlicht hatte, wurde mit gerichtlichen Schritten gedroht. Nachdem der französische Staat sich 1987 Action Directe entledigt hatte, suchte er nach einem neuen öffentlichen, inneren Feind und wir waren definitiv auf ihrer Liste ganz oben, um diese Rolle einzunehmen. Es ist Grundschule der Polizeipsychologie, dass desto mehr ein Individuum oder eine Gruppe vom Rest der Gesellschaft abgeschnitten ist, es/sie mit einem umso erhöhten Level an Gewalt reagiert, was es/sie wiederum weiter isolieren wird. Die Nachrichtensperre der Medien über unsere Aktionen gegen die neuen Gefängnisse hatte zweifellos dies zum Ziel und wir entblößten uns dem zugegebenermaßen. Wir dachten es sei mit einer Kritik am Terrorismus abgetan, da wir nie eine Möglichkeit verabsäumten, um unsere Verachtung für Action Directe, RAF, Brigate Rosse usw. auszudrücken und weil wir uns weigerten auf Bomben und Gewehre zurückzugreifen, „unsere Aktionsmittel sind jene der Proletarier: Sabotage und Vandalismus“. Dies verfehlte jedoch die essentielle Frage: Im Kontext von sozialer Regression kann eine Gruppe von Leuten, die ihre gewaltvolle Revolte durchsetzt und so heraussticht, einfach hervorgehoben, isoliert und auf feindliches Terrain – den Bullen in deinem Kopf – geschleppt werden. Unbewusst findet man sich darin wieder, sein eigenes Verhalten und die eigenen Gedanken nach ihnen zu formen und dies ist ihr erster Sieg.

Dieser Widerspruch präsentierte sich auch im weniger öffentlichen Teil unserer Aktivität, dem organisierten Diebstahl, „la reprise“ (das Wiederaneignen) wie es die anarchistischen Illegalisten im späten 19. Jahrhundert nannten. „Ne travaillez, jamais“: wir erachteten diesen Ausdruck niemals nur als poetischen Slogan, sondern als unmittelbares Programm. Natürlich ist auch Diebstahl in vielen Belangen eine Art der Arbeit, deren Aufteilung, Organisation und Resultate jedoch dir selbst gehören. In einem permanenten Kampf zu leben, lässt dich einige wertvolle Fähigkeiten verfeinern und letzten Endes – nur wenn du erfolgreich warst – hast du die Freude dich dem vorhergesagten Schicksal zu widersetzen. Außerdem, wie Woody Allen es in „Take the Money an Run“ ausdrückt, sind die Arbeitszeiten gut, man trifft interessante Menschen und die Bezahlung ist ordentlich. Natürlich war unser Ziel weder unsere Kohle für Sportautos, Paläste oder Champagner rauszuschmeißen (obwohl nichts falsch ist mit Luxusgütern) noch Kapital für irgendeine Businessinvestition anzuhäufen. Auch wenn wir es kollektiv geschafft hatten einen netten Betrag zu bunkern, die Frage nach der kollektiven Verwendung, die unseren sozialen Ambitionen entsprach, stellte sich noch immer. Auch weil wir mit dieser abstrakten radikalen Sprache brechen wollten, von der wir nie wussten woher sie eigentlich gekommen war, denn wir wollten aus unserer eigenen konkreten Situation als Delinquenten in dieser Welt sprechen. In dieser Hinsicht fühlten wir, wie weit entfernt wir von den alten anarchistischen Illegalisten in Spanien und anderswo waren, die Teil von nachhaltigen Gemeinschaften waren und deren Diebstähle als untrennbare Bestandteile eines anhaltenden Kampfes betrachtet werden konnten. Durruti hatte sich beleidigt gefühlt, wenn die Presse ihn einen Bösewicht nannte; er war ein Arbeiter unter anderen Arbeitern, die ihn auch als solchen erkannten.13 Natürlich sind die Dinge jetzt völlig anders, da nahezu alle kämpfenden Gemeinschaften und soziale Traditionen zerstört wurden. Das Geld das wir uns nahmen erlaubte natürlich ein größeres Maß an Solidarität und Großzügigkeit – ohne die die Erfahrung unserer Freundin Andrea nicht möglich gewesen wäre14. Dennoch, wer waren wir in dieser Hinsicht, wenn nicht eine isolierte Gruppe unter isolierten Individuen? Wir hatten viele Gespräche über eine dadaistische Verwendung des Geldes, über eine Vergesellschaftung und die allgemeine Notwendigkeit des Geldes zum Thema zu machen, was allerdings zu nichts führte. Nicht das die Idee falsch war – ich bin noch immer überzeugt davon, dass jeder Versuch sich dem sozialen Zerfall zu widersetzen, sich der finanziellen Frage, in welcher Weise auch immer, stellen muss – aber ihre Anwendung bedarf einer größeren Basis als einem Dutzend Irregulärer, die sich auf der Flucht befinden.

Tatsächlich bewältigten wir nie wirklich unsere subjektiven Sehnsüchte: neben unserem Willen irgendwie zu einer neuen Welle von sozialem Dissens beizutragen – d.h. ein Ziel auf lange Sicht, gekoppelt mit einem sorgfältigen Bedenken für die angemessene Vermittlungen, gab es auch diesen groben Impuls für unmittelbare Rache, der an uns nagte. Am allerwenigsten möchte ich mich dagegen ausdrücken Rache zu nehmen, als Handlungen von spektakulärem Draufgängertum, das sich keine Gedanken über die Konsequenzen macht – dies ist ein menschliches Handeln, das keine weitere Erklärung braucht, da es im Untergrund große Wiedererkennung bewirkt.15 Was Aktionen gegen das Gefängnis angeht, führte uns der Anblick dieser Architekten, die sorgfältig Käfige für Menschen planen, der kleinen Unternehmer, die sich die Hände reiben in der Vorstellung des Profits den sie damit erzielen werden und der Lakaien des Staates, die alles kaltherzig beaufsichtigen, oft in Versuchung zu weniger symbolischen Reaktionen. Es schien jedoch, dass wir entgegen aller Erwartungen noch nicht genug verzweifelt dafür waren.16

Sicherlich ließ das Leben im Alltag der 1980er Jahre in Frankreich (und Europa) wenig Platz für Optimismus, aber wir nahmen uns der Situation mit einem völligen Fatalismus an, der uns wiederum zu einem verschärften Voluntarismus ermutigte, soweit es unseren eigenen Kampf anging. Deshalb ist es bezeichnend, dass sich, obwohl wir uns niemals als Anti-Gefängnis Aktivisten sahen, alle unsere Aktionen trotzdem gegen das Gefängnis richteten, als ob jede Perspektive mittlerweile genauso starr war wie eine Gefängnismauer. Ich glaube nicht, dass wir die einzigen waren, die sich bloß über die Ebbe nach der revolutionären Flut der Sechziger und Siebziger beklagten, ohne übermäßig zu hinterfragen, ob die „radikalen“ Konzepte und Praktiken, die wir immer noch mittrugen, nicht auch für diese Situation verantwortlich gemacht werden könnten.

Insbesondere, da ich hier an Englisch sprechende Leser schreibe, weiß ich, dass diese Anmerkungen leicht von einigen Leuten als Bestätigung für ihre alte individualistische Haltung interpretiert werden können, welche a priori jede Art von kollektivem Versuch als einen „Brutplatz für hierarchische Macht“, als „Entfremdung des Individuums durch die Gruppe“ usw. abtut. Ich glaube dennoch, dass diese Art von Kritik irrelevant ist. Wohl wahr, sobald Menschen sich für ein langfristiges Ziel zusammentun besteht das Risiko, dass Machtkämpfe ausbrechen, sich spezialisierte Rollen entwickeln oder emotionale Gefühle hinter dem Schleier der „Objektivität“ unterdrückt werden – und Os Cangaceiros war davon überhaupt nicht ausgenommen. Dies ist jedoch kein Grund sich zurück zu lehnen und darauf zu warten, dass „die Revolution“ auf magische Art und Weise all diese Probleme löst: sie existieren ohnehin und sind deshalb Teil eines durch kollektive Aktivität ermöglichten Experiments, von dem man viel Nützliches lernen kann. Die eigentliche Frage ist eher, ein ausreichendes Niveau an Austausch zwischen der Gruppe und ihrem sozialen Umfeld zu erreichen bzw. zu halten; durch Scheitern neigt die Gruppe dazu einer anderen Logik zu folgen und wird so zu ihrer eigenen Bestimmtheit – eine Art von Autismus, der wiederum zwischenmenschliche Konflikte verschärft.

In all diesen Jahren waren wir sehr zwanghaft mit der Idee beschäftigt einen großen Skandal zu verursachen, etwas in der dadaistisch-surrealistisch-situationistischen Tradition; eine punktuelle und spektakuläre Tat, die den latenten Negativisimus ausdrückt, der die Gesellschaft untergräbt – und irgendwie war das Resultat von „13.000 belles“ so etwas. Jedoch erfuhren wir auch die Grenzen dieser Idee. Der hauptsächliche Fehler der meisten radikalen post-68 Agitationen war ihre Unfähigkeit bleibende Brüche in der Kohärenz der Gesellschaft zu verursachen, der geduldige Aufbau von sozialen Bünden durch verschiedenste Vermittlungen und Initiativen. Diese „radikale“ Einstellung reduzierte sich selbst zu oft auf die bloße Brandmarkung der Gesellschaft in all ihren spezifischen und begrenzten Aktivitäten, anstatt zu versuchen in innovativer Weise innerhalb eines festgelegten Terrains zu agieren. Es waren die gewöhnlichen Kommentare von außen zu stattfindenden Kämpfen (oft mit einer „wir wissen eh schon wie’s ausgehen wird“ Haltung), oder etwas weniger passiv, die „Hit-and-Run“ Aktionen, welche unfähig waren einen bleibenden dynamischen Impuls zu haben. Diese wären vielleicht zu Zeiten einer möglichen revolutionären Situation relevant („keine Zeit zu verlieren, Mai `68 oder rein gar nichts“), dies ist jedoch nicht länger der Fall. Und da die Cangaceiros nach den Grenzen solch eines Konzeptes strebten, es als totale Herausforderung lebten, fühlten wir mit einer besonderen Schärfe, dass es uns bloß in eine radikale Sackgasse geführt hatte: Einsame Seefahrer auf der wilden See.

Ich will hier keine Verbitterung aufkommen lassen. Dies war ein Abenteuer in einer Epoche, in der Abenteuer eher selten sind. Glücklicherweise endete es nicht wie das Schicksal der meisten illegalen Gruppen in einer tragischen Niederlage (und was dich nicht umbringt, macht dich stärker). Weil es aber nur ein Abenteuer war ging es nicht über den Willen seiner Protagonisten hinaus. Letztendlich war das einzige in dem die Cangaceiros übereinstimmten, dass eine solche Vereinigung nicht weiter wünschenswert war und jeder ging seinen eigenen Weg und versuchte was auch immer er aus dieser Geschichte gelernt hatte in die Praxis umzusetzen. Deswegen werde ich die Frage offen lassen, ob diese Erfahrung nur eine verspätete Erscheinung des post-68 Radikalismus war oder den Weg für etwas neues ebnete.

Leopold Roc, Mai 1995


1von http://eng.anarchopedia.org/os_cangaceiros

2beides zu finden auf http://www.revoltagainstplenty.com/index.php/archive/6-archive-global/58-os-cangaceiros

3zum Download in Pdf-Format auf: http://basseintensite.internetdown.org

4„Ne travaillez, jamais!“ frei übersetzt als „Arbeitet niemals!“ war ein Leitspruch der Bewegungen um den Pariser Mai 1968. Anm. d. Ü.

5Als Froggies oder Frogs werden Franzosen in Großbritannien etwas abwertend bezeichnet, Anm. d. Ü

6siehe „Jenny Tells her Tale“, Kommentar der Frau eines Grubenarbeiters auf www.revoltagainstplenty.com

7Ein weiterer faszinierender, oft tiefgehender, bewegender autobiographischer Bericht ist „N’Drea“ von einer Kameradin, die in sehr jungen Jahren an Krebs starb. Es ist bis dato eine der besten Kritiken am modernen Krankenhaus, in Bezug auf tödliche Krankheiten (Herausgegeben von Peligan Press, Here & Now Collective Leeds, übersetzt von Don Smith. Das Buch ist auf Grund der limitierten Auflage leider nicht mehr erhältlich, vielleicht aber durch Peligan Press im Internet veröffentlicht).

8Dieser Text gibt meine persönliche Sicht zu diesem Thema wieder und obwohl ein Teil davon aus einer kollektiven Reflexion entsprungen ist, würden wohl einige der früheren Protagonisten meiner Ansicht nicht zustimmen. – L.R.

9Obwohl wir dies natürlich als Teil des anhaltenden Kampfes gegen das Gefängnis betrachteten, hatte sich die Situation seit 1985, dank einer Anzahl von Individuen und Gruppen, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Mauern verändert. Über die sporadisch ausbrechenden Unruhen hinaus, begann sich damals eine Bewegung zu organisieren, die sich z.B. in landesweiten Streiks der Gefangenen, Komitees von kämpfenden Gefangenen und öffentlicher Unterstützung, wenn Insassen wegen Rebellion vor dem Richter erscheinen mussten, manifestierte. Brilliante kritische Texte wurden in Untergrundmagazinen der Gefangenen veröffentlicht. Diese Bewegung scheint heute ausgestorben zu sein.

10Einem der Grubenarbeiter aus Yorkshire zufolge hatten die militantesten von ihnen dieselbe Erfahrung während der Streiks von 1984 bis 1985: sie waren so vertieft in die tägliche Organisation von Streikposten und Blitzaktionen, dass sie keine Zeit mehr hatten um über die allgemeine, auf dem Spiel stehende Perspektive zu diskutieren (in der Armee ist es nur den Generälen erlaubt über Strategien zu sprechen). Jedoch hatten ihre Frauen in den Küchen Zeit und Bereitschaft für tiefgründigere Reflektionen.

11Ein gutes Beispiel dafür sind jene Hacker, die geheime Daten im Internet veröffentlichen, diese dadurch Millionen potenziellen Benutzern zugänglich machen und somit eine Nachrichtensperre unmöglich machen.

12Laut Behauptungen in Le Figaro im November 1990 und wir hatten einige Gründe diesen zu glauben. Schon 1983 schrieb ein gewisser X. Raufer ein Buch „über soziale Gewalt“, in dem er uns als eine Gruppe von verbitterten Halbintellektuellen bezeichnete, die begierig waren Öl in jedes bestehende Feuer zu gießen! Zu jener Zeit, als die Polizeioperationen gegen uns begannen war Raufer persönlicher Berater für Sicherheitsfragen von Pasqua, dem Minister für Inneres, der einmal versprochen hatte, die Subversiven mit Subversion bekämpfen.

13Für „tragische Banditen“ waren die Dinge anders, wie die Bonnot Gang, die sich der Gesellschaft mit einer „live fast die young“ Haltung widersetzte; was nur klar war, in Anbetracht des Gemetzels, das nur kurze Zeit später mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges eintrat.

14Andrea war eine Kameradin der Cangaceiros, deren Kampf gegen Krebs im Endstadium im oben erwähnten Buch „N‘Drea: One Woman‘s Fight to Die Her Own Way“ beschrieben ist. Anm. d. Ü.

15Das beste Beispiel dafür in Frankreich ist immer noch Jacques Mesrine.

16Im Oktober 1994 erwähnte ein französisches Magazin in Zusammenhang mit der Berichterstattung über zwei junge Anarchisten, die angeblich einige Polizisten und einen Taxifahrer in Paris erschossen hatten, Os Cangaceiros als weiters Beispiel für „drohenden anarchistischen Nihilismus“.

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Die Anarchisten und Anarchistinnen und der 15M https://panopticon.blackblogs.org/2023/02/02/die-anarchisten-und-anarchistinnen-und-der-15m/ Thu, 02 Feb 2023 12:57:02 +0000 http://panopticon.blackblogs.org/?p=4756 Continue reading ]]>

Gefunden auf der Seite von Grupo Ruptura aus Madrid, der Text, sowie eine dazu Kritik von ‚Tridni Valka – Klassenkrieg‘ wurden von uns übersetzt.

Wir haben zwei Texte aus dem spanischen Staat ausgegraben und übersetzt die sich mit dem Phänomen des ‚15M‘ im spanischen Staat im Jahr 2011 auseinandersetzen, sowie welche die Herausforderungen von Anarchistinnen und Anarchisten in diesen sind, bzw., waren. Der hier vorliegende, der nicht nur ein, unserer Meinung nach, sehr naiver Text ist, das Übersetzten fühlte sich zum Teil wie ein ewiges Zahnziehen, warf zu seiner Zeit zwar nicht mal unwichtige Fragen auf, immerhin, und versuchte sich in der Beantwortung dieser. Der zweite Text dazu wird eine vernichtende Kritik an die Ereignisse des ‚15M‘ sein.

Die Fragen waren insofern richtig, denn sie stellen die ghettolastige Praxis einer anarchistischen Bewegung in Frage die nicht in der Lage war, und nach wie vor ist, gesellschaftlich zu handeln. Die Antworten sind opportunistischer, reformistischer und naiver Natur. Dennoch ist der Text sehr interessant, weil er aus einem gesellschaftlichen ‚Konflikt‘ entstand. Deswegen auch die Übersetzung und Publikation von diesem. Der von uns übersetzte Texte versucht im Kontext dieser Bewegung eine Analyse und Vorschläge zur Debatte zu machen um die Intervention von Anarchistinnen und Anarchisten vor Ort zu „schärfen“. Eine durchaus wichtige Frage, die, wenn auch viele unserer Gefährtinnen und Gefährten es nicht unter den folgenden Begriffen hören wollen, eine ist, wo das Handeln einer revolutionären Minderheit an der Tagesordnung steht. Es ist eine Tautologie die Frage zu stellen wie eine anarchistische und revolutionäre Bewegung die die Mehrheit der Gesellschaft ausmachen würde, handelt, da dies nicht der Fall ist, kann die Frage nur in Form der Minderheit gestellt werden. Für viele hat dies logischerweise einen leninistisch-stalinistischen und avantgardistischen faden Beigeschmack, doch stellt sich die Frage der Praxis im hier und jetzt nach wie vor. Diese Fragen versuchten die Verfassenden im konkreten Kontext von 2011 zu beantworten, wer sich noch daran erinnern kann, war der 15M hierzulande eine Quelle der Begeisterung, der Erleuchtung und der Faszination, meistens aus der weiten Betrachtung des Zuschauenden, des fernen wohl bemerkt, ohne das Konkrete zu verstehen, wo alles im Exotischen und im Fetisch zerfällt. Ähnlich was es mit der Revolte 2008 in Griechenland, mit dem arabischen Frühling, den Gelben Westen in Frankreich, etc. Solche Phänomene, Ereignisse und Dergleichen faszinieren weil den meisten, Anarchistinnen und Anarchisten leider auch, immer das Quantitative und nicht das Qualitative fasziniert.

Im Falle des spanischen Staates ist die Zusammenfassung kurz und prägend, aus der Bewegung schöpften nur reformistische und konterrevolutionäre Kräfte Kraft und gründeten eine Partei, Podemos, die jetzt Teil der spanischen Regierung ist und das Kapital und deren Interessen auf spanischen Nationalterritorium verwalten. Bravo, die feuchten Träume einiger Anhänger von Negri, Gramsci, Lenin und Schmitt gingen damals in Erfüllung. Sowie auch in Griechenland mit dem Wahlsieg von Syriza einige mit Posten im Innenministerium träumten, der Sozialismus war zum greifen nah. Doch was gedeiht aus dem Reformismus, falls dieser überhaupt noch existiert und in gewisserweiße jemals existiert hat, aus der Konterrevolution? Nur der Tod durch die Hand des Kapitals. Stellt sich die Frage ob de Ausgang ein anderer hätte werden können.

Wir machten diese Übersetzung, weil wir leider wie so oft nicht in der Lage sind dazu selbst was zu schreiben. Und wollen zu diesem konkreten Text sagen, dass er, wenn auch komplett naiv und falsch, zumindest auf grundlegende Fragen zu stellen einige Antworten zu geben versuchte. Der Grund warum wir diesen Text ausgewählt haben ist wie immer keine zufällige, sondern angesichts der gegenwärtigen Situation wo nicht nur weltweit Konflikte ausgetragen werden, der Kapital wieder in einen Moment der Krise sich befindet. Die Kriege, die Pauperisierung des Alltags, die Zerstörung der Umwelt, die Folgen der Pandemie, die Unfähigkeit des Kapitals aus lebendiger Arbeit Mehrwert zu schöpfen, usw., bestimmen die jetzige Situation, und doch ist die Antwort vieler anarchistischer Gruppen hierzulande nur eine sozialdemokratische die mit radikalen Parolen verkleidet ist. Das Vergangene kann uns nach wie vor sehr zum Nachdenken verleiten und dies wäre eine gute theoretische Übung um ins praktische zu kommen.

Für jede holprige Stelle und Ungenauigkeit entschuldigen wir uns an dieser Stelle mal wieder für unsere Unfähigkeit beim Übersetzten, sowie unsere Unfähigkeit beim Schreiben.

Soligruppe für Gefangene


(Tridni Valka – Klassenkrieg) Einleitung und eine kurze Kritik des Textes

Wir bringen hier einen Text „Spanien: Anarchisten und die Bewegung des 15. Mai – Überlegungen und Vorschläge1, der von Anarchistinnen und Anarchisten aus Madrid verfasst und kürzlich von der Gruppe Klassenkrieg/Tridni Valka ins Tschechische übersetzt wurde. Wir halten ihn für einen sehr interessanten Beitrag zur Frage der Aktivitäten revolutionärer Minderheiten in sozialen Bewegungen wie der Bewegung des 15. Mai. Er befasst sich mit der Aktivität innerhalb von Bewegungen, die voller Widersprüche, Verwirrungen, falscher Ideen, Manipulierer und Politiker sind, die aber dennoch einige Forderungen vertreten und Fragen stellen, deren Inhalt hinter dem mehr oder weniger deutlichen Schleier der bourgeoisen Ideologie notwendigerweise einen klassistischen Aspekt hat – Forderungen, die menschliche Bedürfnisse befriedigen oder sie gegen den Angriff der Bourgeoisie verteidigen, Forderungen, deren Streben nach Erfüllung die menschlichen Bedürfnisse notwendigerweise in Gegensatz zur Ökonomie, d.h. zu den Interessen des Kapitals, stellt.

Dieser Text hat eine Diskussion ausgelöst, in der wir natürlich versucht haben, starke und schwache Aspekte dieses Beitrags zu erkennen. Vorab sei gesagt, dass wir hier nicht die falsche Dichotomie zwischen Anarchismus und Marxismus (manche sagen auch Kommunismus) reproduzieren wollen. Dieser Dichotomie zu folgen, führt in der Praxis zu nichts anderem als einer weiteren Spaltung innerhalb unserer Klasse, wobei diese interne Zersplitterung der Bourgeoisie in die Hände spielt, die ein Interesse daran hat, alle Kämpfe des Proletariats gegen das Kapital in Kämpfe innerhalb der proletarischen Klasse selbst zu verwandeln.

Natürlich machen wir uns nichts vor, dass es weder Unterschiede noch verschiedene Ansätze und/oder Schwächen zwischen verschiedenen Strukturen gibt, die den historischen Prozess der Herausbildung der revolutionären Opposition zum Ausdruck bringen – denn „diese beiden Strömungen“ (d.h. Anarchismus und Kommunismus) sind Produkte dieses Prozesses. Wir haben jedoch nicht die Absicht, das Beste aus dem „antiautoritären“ Anarchismus und dem „wissenschaftlichen“ Marxismus herauszupicken und in einer Art Eklektizismus einen neuen „-ismus“ zu konstruieren. Ein solcher Ansatz würde bedeuten, dass man in der Umarmung dieser Dichotomie bleibt.

Die einzig wichtige Praxis und Theorie, egal ob wir sie als anarchistisch oder kommunistisch bezeichnen, ist diejenige, die sich gegen den Staat und das Kapital stellt, die die Emanzipation des Proletariats verteidigt – also diejenige, die auf dem „massenhaften“ Klassenbewusstsein basiert, das die Klasse in ihrem praktischen Kampf und ihrer eigenen theoretischen Entwicklung außerhalb jeglicher Vermittler erlangt, durch die Entwicklung der Selbstorganisation der Klasse (direkte Kampfstrukturen auf der Grundlage des proletarischen Programms), durch Diskussionen, Praxis, Solidarität, Internationalismus (das Proletariat hat keine Heimat!), bewaffneter Kampf…, all dies ist Teil des Prozesses, der das Proletariat zur revolutionären Klasse macht, die die soziale Revolution durchführt. Deshalb kritisieren wir den Text auch nicht von dieser oder jener ideologischen Position aus, sondern aus der Perspektive dessen, was wir als Beitrag zur Entwicklung des proletarischen Kampfes betrachten.

Warum halten wir diesen Text also für interessant? Weil der zentrale Gedanke des Textes die Diskussion darüber ist, wie man zu diesem Prozess der Konstituierung des Proletariats als Klasse beitragen kann. Wie man in Bewegungen wie der 15M-Bewegung den Antagonismus zwischen proletarischen Interessen (ein würdiges Leben, gesunde, d.h. ungiftige, und preislich erschwingliche Lebensmittel, weniger Arbeit ohne Lohnkürzungen, d.h. der Kampf um die Senkung der Ausbeutungsrate und der Widerstand gegen die absolute Degradierung zu einer bloßen Begleiterscheinung des Produktionsprozesses – was in letzter Konsequenz nichts anderes ist als die Zerstörung des Kapitals) gegen die zerstörerischen Interessen der kapitalistischen Produktionsweise, wie man die proletarische Selbstorganisation gegen die demokratische Trennung von unserer Kraft und unserer Kontrolle anstachelt…

Ein weiteres starkes Moment des Textes ist die entscheidende Kritik an einer Propagierung revolutionärer Organisationen per se, also Selbstwerbung, Selbstvermarktung, die nichts mit dem Prozess der Konstituierung des Proletariats zur Klasse zu tun hat. Ganz im Gegenteil, der Text prangert alle möglichen Sekten an, die versuchen, den Proletariern ihre „Wahrheit“ aufzuzwingen und sie zu rekrutieren, damit sie diese „Wahrheit“ passiv nachplappern, ganz so wie es die Herrschaft der bourgeoisen Ideologie anstrebt. Die sozial-proletarisch-kommunistische Revolution wird nicht durch eine Repräsentation ausgeführt, eine solche Bewegung produziert keine Abgrenzungen, Spezialisten und Fetische, und die Revolution ist eine Aktion, eine Aktivität des „massenhaften“ klassenbewussten Proletariats.

Auf der anderen Seite scheint es uns jedoch, dass sich hinter dieser beitragenden (Selbst-)Kritik und der Ablehnung der Selbstvermarktung der pseudorevolutionären Sekten eine Schwäche des Formalismus verbirgt. Wenn die Autoren über ihre Hingabe an Vollversammlungen sprechen, scheint es uns, zumindest lesen wir es so, dass sie in die Fetischisierung einer Form abgleiten. Für uns ist jede Form, z.B. Vollversammlungen, nicht per se „das effektivste Mittel, um zur Revolution zu führen“. Die inhaltliche Qualität solcher Formen hängt vom Kräfteverhältnis zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie, zwischen dem Inhalt des proletarischen Kampfes (dem proletarischen Programm) und der Konterrevolution ab. Die Frage, wie sich der revolutionäre Prozess entwickeln wird, ist also kein Problem einer Organisationsform oder Taktik, sondern eine Frage des Inhalts und der sich daraus ergebenden Formen und Methoden, die diesen Inhalt verwirklichen.

Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken“, heißt es im Manifest der Kommunistischen Partei von 18482, und obwohl „die Tatsache aus, daß sich innerhalb der alten Gesellschaft die Elemente einer neuen gebildet habe (…) der Auflösung der alten Lebensverhältnisse die Auflösung der alten Ideen gleichen Schritt hält.“, sind die von den Proletariern erhobenen Forderungen lediglich ein Ausdruck des Grades dieser Zersetzung in einem bestimmten Moment. Revolutionäre Inhalte entstehen nicht über Nacht. Das Proletariat ist zwar die erste ausgebeutete und zugleich revolutionäre Klasse in der Geschichte, aber eben nur potenziell; erst wenn das Proletariat im historischen Sinne anfängt, politisch zu kämpfen, sich zur Klasse zusammenschließt, seinen Klassenantagonismus (Programm) gegen das Kapital bewusst macht und sich mit einer eigenen Organisation (Partei) bewaffnet, dann kann man vom Proletariat als einer wirklichen revolutionären Macht sprechen. Das ist der Grund, warum revolutionäre Minderheiten innerhalb der proletarischen Strukturen um den revolutionären Inhalt kämpfen müssen, der diesen Strukturen in der Tat nicht aufgezwungen werden kann, sondern im Gegenteil mit anderen Proletariern in diesem Prozess „wieder“ aufgegriffen und vertieft werden muss. Historisch gesehen können weder Vollversammlungen noch verschiedene Räte (egal ob Arbeiter- oder Nachbarschaftsräte) von sich aus völlig revolutionär sein, weil sie von der Gesellschaft, aus der sie hervorgehen, und von den Ideen derer, die an ihnen teilnehmen, bestimmt werden. Und weil „… die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so daß ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind. Die herrschenden Gedanken sind weiter Nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken gefaßten herrschenden materiellen Verhältnisse; also der Verhältnisse, die eben die eine Klasse zur herrschenden machen, also die Gedanken ihrer Herrschaft. …“3 Proletarier reproduzieren also selbst während des Prozesses der Brüche/Kämpfe teilweise den Fortbestand ihres sozialen Status, sowohl durch die bourgeoise Ideologie als auch durch ihre eigene Bestimmung der Position der Proletarier. Die Überwindung dieser Position bedeutet sowohl die Zerstörung des Proletariers selbst als auch die Zerstörung der sozialen Beziehungen, die ihn bestimmen. Die verschiedenen Organisationsformen sind eine unvollständige, begrenzte und kontinuierliche Konkretisierung des Aufbaus des Proletariats zur revolutionären Macht.

Der revolutionäre Ansatz bezieht sich dann notwendigerweise auf gemeinsame proletarische Interessen en masse, auf Proletarier, die an diesen Strukturen als personifizierter Ausdruck des proletarischen Interesses teilnehmen, also auch auf unsere direkten Interessen. Dabei ist klar, dass die Interessen der Proletarier in „ihrem Bauch“ entstehen, dass die Proletarier nicht wegen guter Ideen auf die Straße gehen. Wenn wir über die Propagierung des Programms sprechen, ist es wichtig, dies nicht mit einer vulgären Propaganda durch die Verwendung von „großen“ Mottos zu verwechseln (wie die Autoren richtig bemerken) und von „(politischer) Führung“ oder Richtung zu sprechen. Dieser Kampf beinhaltet notwendigerweise die Stärkung der Rolle der revolutionären Minderheiten und ihre organische Zentralisierung, um diesen Kampf effektiver zu machen.

Der letzte Punkt, den wir im Zusammenhang mit dem Text hervorheben möchten, ist die Frage des Reformismus. Wenn die Autoren sagen: „Durch direkte Aktionen Druck auf die Bankfilialen ausüben, von denen die Hypotheken der in Schwierigkeiten geratenen Familien abhängen, damit sie diese neu verhandeln oder einfach den Konflikt sichtbar machen. “ – dann ruft das zwar nicht zur Revolution auf, aber wir können es trotzdem nicht als Reformismus abtun. Diese Forderung oder dieses Interesse drückt vage ein wirkliches Bedürfnis aus – also eine Forderung nach guten Lebensbedingungen oder deren Erhalt. Dieses Interesse, das für die meisten der Proletarier eine momentane Antwort auf ihre belastende Wohnsituation zu sein scheint, wird hier im Kontext des Kräfteverhältnisses ausgedrückt, in der Bewegung, die widersprüchlich ist, im Verhältnis zwischen dem Proletariat als Klasse und dem Kapital, zwischen der Revolution und der Konterrevolution. Deshalb bleibt bei der Formulierung der eigentlichen Forderung unter den Proletariern „diese Reihe von Parolen, die typisch für das entfremdete Proletariat sind, das heißt, das einer beherrschten Klasse angehört, die die Ideologie ihrer eigenen Beherrschung und Ausbeutung reproduziert.“

Hinter dem Schleier der bourgeoisen Ideologie und der Vermittlungen gilt es, den wahren Inhalt der proletarischen Mottos/Losungen aufzuspüren und zwar wie Proletarier für ihre Interessen kämpfen, wie sie mit ihrer eigenen Position eines isolierten individualistischen Staatsbürgers brechen, wie sie mit Gewerkschaften/Syndikate, politischen Parteien usw. brechen. Revolutionäre müssen alle kurzsichtigen Forderungen in solchen Kämpfen kritisieren und diese Kämpfe in einen historischen Kontext stellen, gegen alle konformistischen Tendenzen (die eine Antwort nur in einer politischen Sphäre oder in einer teilweisen Anpassung eines bestimmten Gesetzes finden…), gegen alle Ideologien, die versuchen, die Bewegung in verschiedene Interessengruppen aufzuteilen (Jugendliche und ihre spezifischen Bedürfnisse, Rentner, Arbeiter, Arbeitslose…) und gegen alle selbsternannten Anführer und Prominenten (Gewerkschafts-, Syndikatenführer, Journalisten, die intellektuelle Elite oder aus dem Exil zurückkehrende Oppositionelle…), die versuchen, die Kämpfe wieder in „realistische“ Bahnen zu lenken und so die proletarische Klasse in ein unterwürfiges Subjekt zu verwandeln, das seiner revolutionären Kraft beraubt ist. Wenn die Kämpfe innerhalb der Grenzen der bourgeoisen Ideologie bleiben und nicht in der Klärung, Vertiefung und Verallgemeinerung der Forderungen vorankommen, ist das nicht nur eine echte Schwäche, sondern auch eine Niederlage des Kampfes.

Reformismus ist für uns purer Konformismus, dessen einziger Zweck es ist, wichtige und entscheidende Kämpfe zwischen Proletariern und der Bourgeoisie zu verhindern – d.h. die Eskalation des Klassenkonflikts zu verhindern. Während eine Forderung, wie verworren oder unvollständig sie auch immer formuliert sein mag, die tatsächlichen Bedürfnisse und Interessen des Proletariats repräsentiert, verändert die Reform die Realität so, dass alles beim Alten bleibt, die Reform verändert Ausbeutung und Herrschaft, um jeden Angriff auf diese Pfeiler der bourgeoisen Gesellschaft auszuschalten. Wir meinen hier verschiedene Verbesserungen des Wahlkretinismus, das Einschmelzen eines Kampfes in der Zivilgesellschaft auf der Grundlage von Non-Profit-Organisationen, Wohltätigkeitsorganisationen oder Mikrofinanzierung (Sozialkapital) usw., also alle Aktivitäten, die die Proletarier auf der Ebene des einzelnen Staatsbürgers-Wählers, des Staatsbürgers-Zivilaktivisten halten, die die politische Macht der Bourgeoisie nicht angreifen und die prinzipielle Position des Proletariers als Klasse nicht verändern. Der Reformismus ist eine bourgeoise Antwort auf die zunehmenden proletarischen Forderungen, die Antwort, die ihnen zeigen soll, dass diese Veränderung das Maximum ist, was sie – als verlässlicher Partner in der Diskussion mit den Vertretern des Kapitals – erreichen können, so dass sich vor allem auch nach der „Veränderung“ nichts Grundlegendes geändert hat.

Die gegenwärtige Form der weltweiten Krise des Verhältnisses zwischen Arbeit und Kapital hat nicht nur dazu geführt, dass immer mehr Proletarier als überflüssig über Bord geworfen werden, dass die Reproduktion der Proletarier in dieser Epoche der kapitalistischen Herrschaft offensichtlich eine Sache ist, um die sich die Bourgeoisie einen Dreck schert, dass die Proletarier sich im Namen der nationalen Ökonomien (d.h. (d.h. die Ökonomie der „eigenen“ Bourgeoisie und damit auch die des Staates) opfern müssen, hat uns diese Krise auch gezeigt, dass die grundlegenden proletarischen Bedürfnisse innerhalb dieses Verhältnisses weder erfüllt noch stabilisiert werden können, dass hinter der Ankündigung der politischen Eliten, dass im nächsten oder übernächsten Jahr alles wieder besser sein wird, nichts anderes steht als eine weitere und noch zerstörerischere Maßnahme, die zu unserer totalen Verarmung führt. Wir leben in einer Epoche, in der das Kapital versucht, mit seinem zweiten Teil fertig zu werden – mit dem Proletariat, seiner ewigen Last. Das weltweite Gespenst der proletarischen Revolution – Demonstrationen, Ausschreitungen, Revolten, von Peru bis China, von Südafrika über den Maghreb nach Griechenland – zeigt, dass das Proletariat noch nicht für immer begraben ist. Die 15M-Bewegung, die sich in Spanien entwickelt hat, ist nur eine Episode in diesem Prozess. Wir befinden uns in einer Situation, in der sich die weitere Entwicklung dieses Kampfes entscheiden wird. Es wird sich zeigen, ob er sich in eine Reform verwandelt, die die barbarische Herrschaft des Kapitals verstärkt, oder ob er sich seinen Weg (oder zumindest einen Schritt nach vorne) zur totalen Zerstörung der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse und zu einer Gesellschaft, die auf menschlichen Bedürfnissen basiert – dem Kommunismus – bahnt.

Gruppe Klassenkrieg/Tridni Valka, Juli 2011

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Die Anarchisten4 und Anarchistinnen und der 15M5

Dieser Text wurde in Madrid verfasst, sodass viele der Beschreibungen und Überlegungen möglicherweise nicht auf die Realität in anderen Orten passen, insbesondere angesichts der Heterogenität der 15M-Bewegung. Dennoch denken wir, dass sie als Ausgangspunkt für Überlegungen für alle Gefährt*innen nützlich sein kann, die sich an den Vollversammlungen beteiligen, unabhängig vom Ort. Der Text wurde in aller Eile geschrieben und korrigiert, damit er noch vor dem Aufruf zu den Stadtteil- und Stadtvollversammlungen am 28. Mai verfügbar ist. Bitte beachtet das beim Lesen und entschuldigt eventuelle Fehler, die der Text haben kann.

0. Ein paar Worte zu Beginn…

Lasst uns die Dinge klarstellen. Diejenigen von uns, die diesen Text unterschreiben, sind Anarchist*innen, antiautoritäre Kommunist*innen, Antikapitalist*innen oder was auch immer für ein Etikett ihr verwenden wollt. Das heißt, wir sind für die Abschaffung von der Lohnarbeit und dem Kapital, die Zerstörung des Staates und seine Ersetzung durch neue horizontale und geschwisterliche Formen des Zusammenlebens. Wir glauben, dass die Mittel, um dies zu erreichen, so kohärent wie möglich mit den Zielen sein müssen, die sie anstreben. Deshalb sind wir gegen die Beteiligung an Institutionen, gegen politische Parteien (parlamentarisch oder nicht) und hierarchische Organisationen und für eine Politik, die auf Vollversammlungen6, Solidarität, gegenseitiger Hilfe, direkten Aktionen usw. basiert. Denn wir sind überzeugt, dass dies die effektivsten Mittel sind, um uns zur Revolution zu führen.

Wenn wir das sagen, dann nur, um jeden Verdacht auszuräumen und um die Linien zu markieren, entlang derer wir diesen Beitrag bewegen wollen. Nur weil wir für eine soziale Revolution sind, die den Kapitalismus und den Staat zerstört und die sozialen Klassen abschafft (und so viele andere Dinge), heißt das nicht, dass wir glauben, dass dies kurzfristig und über Nacht geschehen kann. Was wir hier dargelegt haben, sind Ziele, d.h. Situationen, die wir hoffentlich nach einem langen Weg und einer beachtlichen Entwicklung der revolutionären Bewegung erreichen werden. Das Gegenteil zu denken ist nicht utopisch, sondern eine Übung im Delirium und eine immediatistische Tagträumerei7. Ein revolutionärer Gesichtspunkt muss die Form einer kurzfristigen Strategie annehmen, einer Reihe von Vorschlägen, um in die Realität zu intervenieren, die uns einer Situation näher bringen, in der Fragen wie die Abschaffung der Lohnarbeit, die Errichtung des libertären Kommunismus, eine soziale Revolution… Fragen, die heute offensichtlich nicht einmal im Entferntesten auf dem Tisch liegen. Diese Intervention kann sich nicht darauf beschränken, die dringende Notwendigkeit einer Revolution und der Abschaffung von Staat und Kapital beharrlich zu wiederholen. Anarchist*in zu sein bedeutet nicht, eine Nervensäge zu sein die anderen hinterherläuft und immer wieder wiederholt, wie schlecht der Staat ist und wie gut die Anarchie ist. Und doch haben wir in den letzten Tagen als Folge der 15M-Bewegung im Internet Texte und Kommentare gelesen, die an ein immediatistisches Delirium grenzen, und, was noch schlimmer ist, wir haben von Gefährt*innen und Freund*innen Positionen gehört, die in den Abgrund des Anarco-Chapismo8 abrutschen, die bei all ihren guten Absichten im Maximalismus grandioser Parolen, langfristiger Vorschläge usw. gefangen sind. Wir wissen sehr wohl, wovon wir sprechen, denn wir alle waren schon einmal in solchen Situationen und, was noch schlimmer ist, wir haben oft zu deren Ausweitung beigetragen. Wir wollen auch klarstellen, dass dieser Text sowohl kritisch als auch selbstkritisch ist und dass er vor allem dazu dient, zu versuchen, nicht selbst in diese Fallen zu tappen. Abschließend ist anzumerken, dass dieser Text in Eile geschrieben wurde, mit dem Ziel, ihn vor dem 28. Oktober zu veröffentlichen, wenn die Asambleas Populares9 in verschiedenen Stadtteilen und Städten Madrids einberufen wurden. Wir haben getan was wir konnten.

Kurz gesagt, dieser Text soll eine Reflexion und ein Vorschlag sein, um die Sackgasse zu durchbrechen, in der wir seit langem stecken, um die Lasten loszuwerden, die viele von uns mit sich herumschleppen und die uns lahmlegen. Es ist im Wesentlichen eine Reflexion, um zu klären, wie wir zu dem, was um uns herum geschieht, beitragen und daran teilnehmen können.

1. Die 15M-Bewegung: grundlegende Koordinaten

Und was um uns herum passiert, ist natürlich die sogenannte 15M-Bewegung, die in der letzten Woche in die nationale Politik eingebrochen ist wie ein Elefant im Porzellanladen. Ob es uns gefällt oder nicht, und ob wir es wollen oder nicht, die 15M-Bewegung hat alle Erwartungen gebrochen und alle überrascht: Polizei, Politiker, Journalisten, Versammlungsleiter, normale Menschen, Staatsbürger10, Linke11 und natürlich auch die Anarchisten. Zu Beginn standen alle im Abseits und von da an war alles eine Reihe von mehr oder weniger erfolgreichen Versuchen, Positionen gegen oder innerhalb von 15M einzunehmen. Wir werden nicht die Ursachen analysieren oder die verschiedenen Verschwörungstheorien oder Rauschzustände untersuchen, die in ihrem Gefolge entstanden sind; das ist für das, was wir sagen wollen, nicht wichtig. Wir werden versuchen, die grundlegenden Koordinaten, in denen sich die sogenannte 15M-Bewegung bewegt, oder zumindest die wichtigsten davon, darzustellen, um zu sehen, ob (und wenn ja, wie) eine anarchistische oder antikapitalistische Beteiligung an ihr möglich ist. Es ist logisch, dass es sich dabei um eine bruchstückhafte, partielle und unvollständige Beschreibung handeln wird. Das ist uns egal, die Dinge bewegen sich zu schnell.

Zunächst ist zu sagen, dass die 15M-Bewegung eine echte soziale Bewegung ist und als solche enorm heterogen und widersprüchlich ist. Es gibt alles und alles ist in verschiedenen Dosen vorhanden. Das heißt, alles, was wir hier sagen, sollte nicht als absolute Definitionsmerkmale verstanden werden, sondern eher als Tendenzen, Nuancen, etc. Ausdrücke einer Bewegung im Aufbau, in der es Kämpfe, Spannungen und ständige Veränderungen gibt.

Nach dieser Erklärung, aus ihrer sozialen Zusammensetzung und den Parolen, die in den Vollversammlungen und Arbeitsgruppen am häufigsten zu hören sind, sowie aus den Meinungen der Menschen, die sie ständig im Internet (Twitter) bekannt machen, könnte man sagen, dass sie hauptsächlich eine Staatsbürgerbewegung12 und offen demokratisch ist. Oder besser gesagt, es sind diese Art von Vorschlägen für politische und soziale Reformen (Wahlreform, echte Demokratie, mehr Partizipation, Kritik an den Mehrheitsparteien, aber nicht am repräsentativen System oder den Parteien im Allgemeinen…), die im Allgemeinen die meisten Menschen und die meisten erhobenen Hände13 um sich versammeln.

Dieser Inhalt drückt sich jedoch in Vollersammlungsformen14 aus, die jede klassische Repräsentation ablehnen (wie z.B. eine weitere politische Partei zu werden) und die jede Ideologie, jedes Symbol oder jede vorgefertigte politische Form ablehnen (von Parteien bis hin zu republikanischen Fahnen15, über die A´s im Kreis16). Auf Twitter kursiert eine Parole: „Hier geht es nicht um links oder rechts, sondern um oben und unten“. Die sich im Moment vor allem für Selbstorganisation, direkte (gewaltfreie) Aktionen und zivilen Ungehorsam ausspricht, auch wenn sie diese Zauberworte nicht benutzt. Die Gewaltlosigkeit ist in der Tat eine weitere der grundlegenden Koordinaten vom 15M, etwas, das zweifelsohne kollektiv und ohne Diskussion vorausgesetzt/übernommen wird. Darauf werden wir später eingehen.

All das lenkt nicht von der Tatsache ab, dass im Kern ein „Machtkampf“ zwischen verschiedenen „Fraktionen“, ob organisiert oder nicht, zu erkennen ist. Mitglieder und Militante linker politischer Parteien, Mitglieder der sozialer Bewegungen, Libertäre, ganz normale und gewöhnliche „empörte“ Menschen mit ihrer eigenen Weltanschauung usw. kämpfen innerhalb der Bewegung auf allen Ebenen, von der ideologischen oder praktischen Ausrichtung der Bewegung bis hin zur Kontrolle (und in vielen Fällen Manipulation) der Vollversammlungen, Kommissionen usw. In vielen Kommissionen und Gruppen sehen wir alles: Gelegentlicher Verlust von Protokollen, Personalismus, Leute, die sich an die Sprecher klammern, Delegierte, die in den Vollversammlungen Dinge verschweigen, Kommissionen, die Vereinbarungen überspringen, kleine Gruppen, die den kleinen chringuito den sie sich da aufgebaut haben17 am Laufen halten wollen, usw. Viele davon (A.d.Ü., gemeint sind die Kommissionen) sind sicherlich das Ergebnis von Unerfahrenheit und Egos; andere scheinen direkt aus den alten Handbüchern für die Manipulation von Vollversammlungen zu stammen.

Um diesen Kampf herum gibt es auch all die Menschen, die vorbeikommen. Menschen, die kommen, um mitzumachen, um zuzuhören, um zugehört zu werden, um Essen oder andere Materialien beizutragen, um zu sehen, was vor sich geht, oder einfach, um in ihrer eigenen Stadt Fotos als Touristen zu machen. Unter den Zelten in Sol (A.d.Ü., ein zentraler Platz in Madrid) hat man das Gefühl, auf einem großen Basar zu sein, wo nichts gekauft oder verkauft wird.

Andererseits ist eines der großen Probleme der Zeltlager18 die Schwierigkeit, sich vollständig daran zu beteiligen: nicht jeder kann jeden Tag ins Stadtzentrum gehen, nicht jeder kann über Nacht bleiben, nicht jeder kann regelmäßig in den Kommissionen mitarbeiten, usw. Dies kann zweifellos die Bildung von informellen Führungsgruppen, Cliquen, seltsamen Dingen und seltsamen Verläufen begünstigen, die Menschen, die nicht dumm sind, bemerken, kommentieren und entsprechend handeln werden. Eine mögliche Folge davon, wer im Zeltlager das meiste Gewicht hat (und auch davon, wer es eher gewohnt ist, zu gehen und Aktivitäten vorzuschlagen), ist die fortschreitende Ghettoisierung, die das Zeltlager im Laufe des Wochenendes erfahren hat. Verglichen mit der Versammlungs- und Protestatmosphäre der intensivsten Tage (vor allem am Freitag, angesichts der Erwartung aufgrund des Verbots des Zentralen Wahlvorstands), verlor sich die Stimmung am Wochenende und eine spielerischere und weniger protestierende Atmosphäre machte sich bemerkbar, obwohl die Kommissionen, Unterkommissionen und Arbeitsgruppen weiter arbeiteten. Manchmal scheint #acampadasol das Schlimmste und Banalste der Squats im Ghetto zu reproduzieren: Workshops, Konzerte, Batucadas (A.d.Ü., Getrommel), Voküs, Aufführungen, Clowns usw. auf Kosten der ursprünglichen Aspekte, die viel stärker auf Protest, Politik und „Empörung“19 (wie pro-demokratisch und begrenzt auch immer) ausgerichtet sind. Auf Twitter, das, wie wir nicht vergessen sollten, maßgeblich für den Aufstieg der 15M-Bewegung und des Zeltlagers auf Sol verantwortlich ist, dringt diese Unzufriedenheit zu vielen Menschen durch, die dieser Entwicklung nicht wohlwollend gegenüberstehen. Ein deutliches Beispiel für die Unzufriedenheit, die am Wochenende herrschte, war das Thema „botellón ja – botellón nein“20, am Samstag musste eine der Vollversammlungen auf Sol wegen der vielen besoffenen Menschen verlassen, und das Thema batucadas, das am Sonntag sogar die Verschiebung einiger Vollversammlungen erzwang, wo aufgrund des Lärms, man nichts hören konnte (obwohl man sagen muss, dass die batucadas genau wie der botellón eine große Anziehung hatten).

Es ist offensichtlich, dass die 15M-Bewegung keine Revolution ist, das weiß man aus dem A und O Handbuch der Militanz21 und wer sie aufgrund des Hashtags #spanishrevolution, mit dem sie sich anfangs verbreitete, kritisiert, sollte erkennen, dass es sich um eine Mischung aus Marketing, Scherz und Illusion handelt. Das ist alles.

Der letzte Punkt, den wir ansprechen wollten, ist das, was für uns neben dem ausgeprägten horizontalen und vollversammlungsbasierten Charakter (mit all seinen Mängeln, von denen es viele gibt) vielleicht das Wichtigste ist: der brutale Gesinnungswandel, den wir während dieser Woche in der Umgebung von Sol beobachten konnten. Fassen wir noch einmal zusammen. Nach der ersten Massendemonstration am 15. Mai und vor allem nach der Räumung der ersten Campierenden (A.d.Ü., im Zeltlager der in Sol errichtet wurde) haben die Menschen die Puerta del Sol Nacht für Nacht in einer Weise in Beschlag genommen, die keiner von uns je zuvor gesehen hatte. Die Mobilisierungen gegen den Krieg, auch wenn einige massiver waren, hatten bei weitem nicht die Kontinuität, die Beteiligung, die Einstellung und die Atmosphäre, die wir diese Woche in Sol erlebt haben. Es ist so als ob ganz plötzlich, die Passivität und die Tatsache, dass jeder seinen eigenen Weg geht, um den Kilometer 0 (A.d.Ü., gleich vom Anfang an) herum durchbrochen wurde. Das Verteilen von Flugblättern in Sol und den umliegenden Straßen ist eine Freude, die Leute kommen auf dich zu und bitten dich, ihnen eines zu geben, sie nehmen es mit einem Lächeln, sie stellen dir Fragen, sie danken dir… In den ersten Tagen, wenn du eine Gruppe gebildet hast, um über etwas zu sprechen, haben die Leute zugehört und zugehört. Es war normal, eine Vielzahl von Menschen zu sehen, die in kleinen Gruppen diskutierten; die Arbeitsgruppen und Vollversammlungen sind Massenveranstaltungen mit 500, 600 und 2000 Menschen (sitzend, stehend, versammelt, um etwas zu hören) usw. Und außerdem dieses ständige Gefühl einer guten Atmosphäre, von „das ist etwas Besonderes“. All das erreichte seinen Höhepunkt in der Nacht von Freitag auf Samstag, als der Tag der Besinnung begann. Es war wirklich beeindruckend zu hören, wie mehr als 20.000 Menschen „Wir sind illegal“ brüllten und sich wie Kinder darüber amüsierten, das Gesetz zu brechen. Es stimmt, dass diese intensive Atmosphäre der Beteiligung und echten Politik nach dieser Nacht zu schwinden begann. Zum Teil wegen des Kicks am Freitagabend, zum Teil wegen der Entscheidung, am Samstag und Sonntag keine „Politik“ zu machen, hatte das Wochenende einen viel festlicheren, „zirkusähnlicheren“ Ton als die Tage zuvor. Trotzdem können wir uns an so etwas ähnliches nicht erinnern, um ehrlich zu sein.

2. Was nicht auf dem Spiel steht. Eine strategische Vision.

Nach alldem, stellt sich die Frage, was wir Anarchisten dort machen? Für jeden Libertären, der etwas auf dem Kasten hat – und das ist glücklicherweise die große Mehrheit – ist es offensichtlich, dass man dort sein muss, dass es dort was vor sich hin geht. Was keiner von uns so genau weiß, ist, was wir tun können, was wir beitragen können und was wir von der 15M-Bewegung erwarten können. Und das ist auch logisch, angesichts der Heterogenität und der Widersprüche, die sie mit sich bringt. In diesem Abschnitt werden wir versuchen auszudrücken, wie und in welchem Sinne es unserer Meinung nach interessant sein kann, sich an dieser Bewegung zu beteiligen und einen Beitrag zu leisten. Wir sagen strategische Vision, weil es eine allgemeine Vision ist, die wir später mit konkreten Vorschlägen und einigen taktischen Überlegungen einzugrenzen versuchen werden.

Der größte Teil des Prozesses, der momentan in der 15M-Bewegung sich entwickelt, besteht darin, die politischen Parolen und Forderungen zu finden, die sie definieren werden. Dieser Prozess findet sowohl in den Arbeitsgruppen als auch in den Kommissionen selbst statt. In den ersteren wird mehr debattiert und ideologisch gekämpft, während in einigen der letzteren, wo diese Debatten konkretisiert werden, die Tricks und Kniffe usw. zu sehen sind. Man muss nicht besonders schlau sein, um zu wissen, wo das Chaos herrscht: in Kommissionen wie Kommunikation, Inneres, Vollversammlung und Politik wirst du die meisten Politiker pro Quadratmeter finden. Bei Kommissionen wie Infrastruktur, Lebensmittel oder Respekt sind die Stiche in den Rücken dagegen viel geringer. Natürlich sagen wir nicht, dass dies die einzige Sache ist, die in den Kommissionen gemacht wird, aber einige der Dinge, die wir gesehen haben oder von denen wir gehört haben, sind äußerst problematisch.

Wie wir bereits gesagt haben, sind die Forderungen mit dem größten Widerhall in #acampadasol die der politischen Reformen und in geringerem Maße die der sozialen Reformen, mit einem starken staatsbürgerlichen Inhalt: Reform des Wahlgesetzes, ein Gesetz der politischen Verantwortung, mehr Partizipation, das Gesetz über die Rückzahlung von Hypotheken, etc. Mitglieder und Militante linker Parteien (IU, IA usw.) und sozialer Bewegungen versuchen, das Schiff mehr nach links zu lenken damit mehr klassische linke Forderungen übernommen werden (vom Grundeinkommen oder der Streichung der Auslandsschulden bis hin zur Verstaatlichung der Banken), obwohl sie es mit denen zu tun haben, die es vorziehen, dass die Bewegung so neutral wie möglich bleibt (z.B. http://twitpic.com/51lyqa) und sich auf einen grundlegenden #consensodeminimos22 konzentriert. Unserer Meinung nach ist das wahrscheinlichste Ziel beider Seiten, dass entweder durch eine Art Volksinitiative oder durch eine politische Partei, wahrscheinlich der IU, dem Kongress ein Vorschlag unterbreitet wird, der durch eine Volksabstimmung gebilligt werden soll. In diesem Sinne spielen sich die einen und die anderen den Inhalt eines solchen Vorschlags und sicherlich auch um die Art und Weise, wie er umgesetzt werden soll, aber zu einem bestimmten Zeitpunkt können sie sich auf bestimmte grundlegende Punkte einigen.

Natürlich sind wir Anarchisten davon überzeugt, dass einige dieser Reformen, selbst wenn sie einige der „Defekte“ des Systems ändern, die die Menschen am meisten stören, nichts Wesentliches ändern werden. Das Problem ist nicht die politische Korruption, sondern die Politik als eine vom Leben getrennte Sphäre; das Problem ist nicht die mangelnde Transparenz der Regierungen, sondern die Regierungen selbst; und das Problem sind nicht die Banken und Bänker, sondern die kapitalistische Ausbeutung: die große und die kleine.

Wir sind der Meinung, dass Anarchisten sich nicht an diesem Kampf beteiligen können und sollten, dem Kampf der großspurigen Forderungen und der hochfliegenden Politik. Wir sollten uns nicht auf dieses Spiel einlassen, obwohl wir, wenn wir in den Vollversammlungen sein wollen, davon ausgehen müssen, dass wir es ertragen werden müssen und uns dem entgegenstellen müssen. Wir haben auf diesem Brett nichts verloren. Die 15M-Bewegung ist keine anarchistische oder antikapitalistische Bewegung, also sind maximalistische anarchistische Forderungen fehl am Platz. Es ergibt keinen Sinn, dafür zu kämpfen, dass auf Hauptvollversammlungen Dinge wie die verallgemeinerte Selbstverwaltung, die Abschaffung der Knäste oder auch nur ein unbefristeter Generalstreik beschlossen werden, denn es ist klar, dass die Menschen, die dort sind, und die Menschen, die sie mit Erwartung und Sympathie verfolgen, nicht dafür sind. Angenommen (also sehr viel angenommen), die Hauptvollversammlung oder die Nachbarschaftsvollversammlungen würden aus irgendeinem seltsamen Grund oder einer seltsamen List einen dieser Parolen akzeptieren und sich zu eigen machen, würde die 15M-Bewegung höchstwahrscheinlich schnell die Luft verlieren, einen Großteil ihrer Unterstützung und Sympathie einbüßen und ein seltsamer Volksfront-Cocktail aus linken Militanten, Staatsbürgeraktivisten23, Kommunisten und Anarchisten bleiben. Mit anderen Worten, genau das, was wir immer kritisiert haben und wo wir nie hinwollten. In der Politik gibt es den Begriff „mit den Füßen abstimmen“, was bedeutet, dass man einfach woanders hingeht, wenn einem die Verwaltung eines Ortes nicht gefällt. Etwas Ähnliches passiert in allen Vollversammlungen, es gibt viele Menschen, die, wenn ihnen etwas nicht gefällt oder sie sich unwohl fühlen, schweigen, sich verbeugen und nicht mehr vorbeikommen, ohne ihre Unzufriedenheit zu äußern.

Warum passiert das alles? Denn echte Bewegungen sind meist ziemlich komplex. Sie haben ihre Zusammensetzung, ihre Idiosynkrasien (A.d.Ü., Eigenheiten) und ihre Entwicklungen, und vor allem, weil man nicht erwarten kann, dass Menschen über Nacht zu Anarchisten werden. Keiner von uns ist schnell und schmerzlos zu einem/einer Anarchist*in geworden, sondern durch Irrtümer, Illusionen, Inkohärenzen, Enttäuschungen, Debatten, Frustrationen, Ausraster und oft durch das Aufschlagen auf den Boden (manchmal im wörtlichen Sinne, mit einem Polizisten oben drauf). Es spielt keine Rolle, dass sich bei diesen Gelegenheiten die Menschen und Dinge schwindelerregend verändern. Es tut uns leid, aber wir glauben, dass es einfach nicht funktionieren wird.

Wir müssen uns über die Repräsentativität der Kommissionen gegenüber den Menschen die die Mobilisierung ausmachen im Klaren sein. Das zeigte sich deutlich in der Kommission Politik, die auf ihrem Höhepunkt 350 Menschen zwischen den beiden Unterkommissionen (kurz- und langfristig) zusammenbringen konnte. Es ist klar, dass die Vollversammlungen offen sind und jeder an ihnen teilnehmen konnte, aber die Wahrheit ist, dass sie am Ende zu zwei Unterkommissionen geworden sind, die scheinbar durch Zeitphasen getrennt wurden, die aber in Wirklichkeit zwei sehr unterschiedliche Postulate markieren, das „reformistische“ und das „revolutionäre“, zwischen denjenigen, die die Machtstrukturen mit kleinen (oder großen) Gesetzesreformen fordern und legitimieren, und denjenigen, die einen Weg des Bruchs mit dem vom Kapitalismus aufgezwungenen Modell markieren wollen.

Das ist ein schwerwiegender Fehler, denn es kann kurzfristig „revolutionäre“ oder radikale Maßnahmen geben und langfristig müssen wir uns nur über den aktuellen Kontext und die Schritte, die wir unternehmen wollen, im Klaren sein. Um ein Beispiel zu nennen: In der Kurzzeitkommission werden Änderungen an der spanischen Verfassung vorgeschlagen, und in der Langzeitkommission Konsenslösungen wie ein Generalstreik. Wir glauben nicht, dass eine Änderung der Verfassung (sie benötigt die Zustimmung von ¾ des Abgeordnetenhauses) kurzfristig viel praktikabler ist als die Ausrufung eines Generalstreiks (der eher ein Mittel des Kampfes als ein Selbstzweck ist), auch wenn dies derzeit recht kompliziert ist.

Wir glauben, dass es notwendig ist, über unser Engagement in den Kommissionen nachzudenken und zu versuchen, sicherzustellen, dass sie effizient sind und dass der Verschleiß und die Energieverschwendung gut kanalisiert werden. Es bringt nichts, wenn sich 200 Menschen mit einer „ähnlichen“ Ideologie zusammenfinden und einen Kurs festlegen, der weder von dieser Bewegung (wie heute) übernommen werden kann, noch die kurzfristigen Forderungen einfach nur ein Plädoyer für die Stärkung des Wohlfahrtsstaates sind… Bei dieser Reflexion sollten wir Selbstkritik üben und sofort über kurz- und langfristige Vorschläge nachdenken, die übernommen werden können und die uns vorwärts bringen oder uns Schritte in Richtung einer echten sozialen Revolution machen lassen, denn sonst enden wir in der Erschöpfung einer Gruppe von Menschen, die sich über den Moment hinweg befinden. Wir sollten etwas Intelligenz zeigen und uns der Illusion des Wandels, die in diesen Tagen in der Puerta del Sol geweckt wird, anschließen, um zu sehen, ob wir gemeinsam dafür sorgen können, dass dieser Wandel ein wenig weiter geht als vier Reparaturen an der Fassade der Demokratie.

Welche anderen Möglichkeiten haben wir also?

Sicherlich haben viele von euch schon einmal darüber nachgedacht oder sich sogar dabei ertappt, dass sie, ohne es zu merken, den Diskurs verwässert haben, d.h. dass wir unsere Vorschläge versüßt haben, um zu sehen, ob sie mit ein wenig Zucker besser ankommen. Zum Beispiel spielen wir mit einer eigennützigen semantischen Verwirrung, die von „direkter Demokratie“ statt von „Anarchie“ spricht, wir schlucken alles, was wir schlucken müssen, um die Geschichte am Leben zu erhalten, usw. usw. usw.

Eine andere Möglichkeit ist, den kleinen Laden den sich da einigen aufgebaut haben, aufgrund seines reformistischen Charakters aufzugeben. Aus unserer Sicht ist das einfach absurd. Im Grunde, weil weder heute noch in der Geschichte revolutionäre Bewegungen aus dem Nichts oder von selbst entstanden sind, sondern weil es die Revolutionäre selbst und die Ereignisse sind, die es mit ihren Bemühungen und ihrer Hartnäckigkeit manchmal schaffen, soziale Bewegungen nicht länger zur Domäne von Parteien, Profiteuren usw. zu machen.

Obwohl wir später darüber noch sprechen werden, wollen wir klarstellen, dass unsere Idee nicht darin besteht, die 15M-Bewegung in eine „revolutionäre Massenbewegung“ zu verwandeln, was genauso ein Film ist wie die Vorstellung, dass die Anarchie morgen kommen wird, wenn wir es nur stark genug wünschen. Wir sagen auch nicht, dass wir bis zum Ende dabei sein müssen, nur um dabei zu sein. Uns ist klar, dass wir, wenn wir die Dinge nicht richtig machen, irgendwann gehen müssen oder, was auch sehr wahrscheinlich ist, rausgeschmissen werden. Aber uns scheint klar zu sein, dass dieser Moment noch nicht gekommen ist, dass es noch Möglichkeiten gibt, zu dieser Geschichte beizutragen und daran teilzunehmen, vor allem angesichts der Einberufung von populären Vollversammlungen (Asambleas Populares) in den Stadtvierteln.

Damit soll klargestellt werden, dass wir keine leichtgläubige Menschen sind, dass der 15M unsere Sicht vernebelt hat oder dass sie ihre kleinen Geschäfte „für die Revolution“ (mehr Marketing) geschlossen haben, sondern wir sind einfach Anarchist*innen, die eine klare Chance gesehen haben, die erste seit vielen Jahren, um an einer echten Bewegung von beträchtlicher Größe teilzunehmen.

3. Für praktische und konkrete anarchistische Partizipation.

Unserer Meinung nach geht es in der 15M-Bewegung darum, sie zu einem Ausgangspunkt zu machen, der in der Lage ist, den täglichen Kampf um konkrete und grundlegende Aspekte zu aktivieren, einen Kampf, der von der Horizontalität, der Idee der Vollversammlungen24, der direkten Aktion, der direkten Partizipation, der Solidarität usw. getragen wird, die zu den grundlegenden Koordinaten der 15M-Bewegung gehören. Vollversammlungen sollten nicht nur Orte sein, von denen aus (an wen? Wie?) Gesetze, Reformen und Volksabstimmungen (welche?) gefordert werden, sondern sie sollten auch Orte sein, an denen die Menschen ihre eigenen Probleme debattieren, nach Lösungen suchen und entscheiden, wie sie diese selbst umsetzen. Sie sollten zu Treffpunkten für Kommunikation und reale Partizipation werden. Kleine (oder große) solidarische Kerne des Widerstands.

Es ist klar, dass ein wichtiger Teil dieses Prozesses ist, welche Probleme und welche Lösungen diskutiert werden, welche Inhalte sozusagen in diesen Vollversammlungen zum Ausdruck gebracht werden. Das könnte die andere Aufgabe sein, die wir uns stellen könnten, nämlich dafür zu sorgen, dass die Themen, die in den Vollversammlungen diskutiert werden, Fragen der Klasse, des Genders usw. sind, die in der Praxis die Kritik an Staat, Kapital und Lohnarbeit vertiefen.

Mit anderen Worten: wir schlagen eine praktische und konkrete Partizipation aus einer antiautoritären Perspektive und Arbeitsweise vor, und zwar in Bezug auf grundlegende Fragen der Klasse und anderer ebenso wichtiger Unterdrückungen wie Patriarchat, Rassismus usw.

Um diesen praktischen Beitrag zu ergänzen, müssen wir auch unseren Standpunkt und unseren Diskurs einbringen, wiederum ohne in den Maximalismus der „Revolution jetzt!“ und änhliches zu verfallen.

Unserer Meinung nach besteht der Versuch, Menschen für unseren Diskurs zu gewinnen, nicht darin, mit den üblichen anarchistischen Parolen und Prinzipien zu hämmern. Parolen, die unserer Meinung nach fehl am Platz sind. Nicht, weil sie keinen Sinn ergeben oder nicht wahr sind, sondern weil sie aus dem Zusammenhang gerissen sind und nicht wissen, was gerade passiert. Das ist so, als ob du dich mit einem Kollegen über Fußball unterhältst und ein anderer Kollege kommt und erzählt dir irgendeine Geschichte aus einem iranischen Film. Heißt das, dass wir den Anarchismus aufgeben und uns der Demokratie zuwenden sollten? Logischerweise nicht. Sollten wir uns verstecken? Nein. Sollen wir der Welt zeigen, dass wir Anarchisten sind? Für uns ergibt es keinen Sinn, wenn es nicht über „Anarchist sein“ hinausgeht. Sich als Anarchist zu bezeichnen, bedeutet an sich nichts, es sagt nichts aus: weder gut noch schlecht. Unserer Meinung nach geht es weder darum, sich zu verstecken noch anzugeben, sondern darum, den Anarchismus in einem bestimmten Kontext zu praktizieren. Ein Beispiel: von all den Parolen, die einige von uns und andere Gefährt*innen an einem der ersten Tage in Sol skandierten, verbreiteten sich nur ein paar Parolen minimal über unseren Kreis hinaus: „Das vereinte Volk funktioniert ohne Parteien“ und „A, anti, antikapitalistisch“, warum? Nicht, weil die Parolen eine große Sache waren, was sie nicht sind, und auch nicht, weil sie witzig waren, was sie auch nicht sind. Wir denken, es war, weil es zu dieser Zeit und an diesem Ort Parolen waren, die zumindest einige der Menschen, die dort waren, ansprechen können. Ob es uns gefällt oder nicht, die Menschen dort waren weder gegen die Nationale Polizei (A.d.Ü., Policia Nacional), noch wollten sie den Staat stürzen… die Arbeit ist viel grundlegender… Wenn wir uns darauf beschränken, in den Vollversammlungen kontextlose Parolen zu skandieren oder vorzuschlagen, verfallen wir in reine und einfache Propaganda, im schlimmsten Sinne des Wortes, und nicht in die Partizipation.

Und es ist eine Tatsache, dass uns die Trägheit (A.d.Ü., aus der Gewohnheit) oft übermannt, wahrscheinlich wie jeden anderen auch. Anstatt darüber nachzudenken, was wir sagen können und wollen, entscheiden wir uns für die einfachen Dinge: „Der Kampf ist der einzige Weg“, „von Nord nach Süd, von Ost nach West ….“, „Tod dem Staat ….“, usw. Ein Diskurs, der unserer Meinung nach fehl am Platz und daher unwirksam ist. Im libertären Block auf der Demo des 15M passierte mehr vom selben, nach einer ersten Phase mit Parolen (bessere oder schlechtere, mehr oder weniger nützliche, das ist am wenigsten wichtig), aber über die betreffende Frage (Demokratie, Kapitalismus, Krise) gingen wir zu einem Remix des Ghettos über (von den Gefangenen zu Patricia Heras25 hin zu der mördenden Polizei), wir glitten in die Selbstreferenzialität ab, hin zum zusammenhalten… Leider wusste außer uns vieren niemand, wer Patricia Heras war, wozu also für sie zu rufen, wenn es kein Flugblatt gab, das es erklärte? Wir haben die Leute nur durcheinander gebracht, die uns anschauten, als ob wir von einem außerirdischen Planeten kommen würden… Alles hat seine Zeit und seinen Ort, und wenn wir nicht wissen, wie wir unseren Diskurs an die Zeit und den Ort anpassen können, wird es für uns schlecht laufen. Den Diskurs anzupassen bedeutet nicht, den Diskurs herabzusetzen, es bedeutet, die Botschaft an den Kontext und den Code an den Empfänger anzupassen, es bedeutet, unsere Meinung zu dem zu äußern, worüber die Leute reden, und nicht zu dem, was wir meinen, worüber die Leute reden sollten….. Und zwar in ihrer „Sprache“ und nicht in unserem „Dialekt“, der voller Fachausdrücke und Redewendungen ist, die wir zwar gerne untereinander sprechen, die aber bei denen, die sie nicht sprechen, Barrieren und Verwirrung stiften.

4. Einige Ziele und mögliche Aktionslinien

Dieser Vorschlag zur Beteiligung auf praktischer und konkreter Ebene hat mehrere Ziele. Offensichtlich, um unsere Überlebensbedingungen im Kapitalismus zu verbessern. Manche Leute werden das sicher als Reformismus bezeichnen, aber für uns ist es einfach eine Notwendigkeit. Ein weiteres Ziel ist es, während des Prozesses alle Widersprüche und Missstände des Kapitalismus, der Demokratie, der Gewerkschaften/Syndikate usw. aufzuzeigen und zu auseinander zu nehmen. Nicht durch ausgeklügelte und vorgefertigte Diskurse, sondern durch die Debatte und die Reflexion über das, was uns begegnet, etwas, das viel komplexer und mühsamer ist als die einfache Bearbeitung von Büchern, die zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort geschrieben wurden. Sie will auch eine Kultur des Kampfes in der Bevölkerung schaffen und verbreiten, ein kollektives Gefühl, dass man etwas erreichen kann, wenn man gemeinsam mit anderen kämpft und die Probleme für die Betroffenen löst, basierend auf Solidarität und gegenseitiger Hilfe, ohne sie an einen Profi für Vermittlung oder Repräsentation zu delegieren. Ein Gefühl von „heute für dich, morgen für mich“ durchdringt die Bevölkerung und verdrängt das „jeder für sich“ und das „Gott sei Dank war ich nicht an der Reihe“, das in unserer Gesellschaft weit verbreitet ist.

Wenn uns in der letzten Woche etwas klar geworden ist, dann, dass wir als Anarchist*innen nicht nur viel beizutragen haben, sondern auch viel, sehr viel lernen können, sowohl von den Menschen, die wir auf unserem Weg treffen, als auch von den Situationen, mit denen wir konfrontiert werden. Die Teilnahme an den Vollversammlungen ist die perfekte Gelegenheit, um uns selbst, unsere Positionen und die Art und Weise, wie wir sie Unseresgleichen kommunizieren. Das ist das Normale. Der beste Weg, unsere Fehler und Inkohärenzen zu erkennen (von denen wir viele haben, und es gibt zwangsläufig viele), ist zu versuchen, unsere Position denen zu erklären und mit ihnen zu teilen, die sie nicht kennen.

Wir glauben aufrichtig, dass dies eine gute Art und Weise sein kann, um aus der Falle einer Intervention aus der Ideologie herauszukommen, die vorgibt, spezifisch anarchistische Prinzipien oder langfristige Ziele zu verabschieden, etwas, das, wie wir schon ein paar Mal wiederholt haben, nicht auf der Tagesordnung steht oder stehen kann. Wir glauben auch, dass es eine Möglichkeit sein kann, die Machtkämpfe zu vermeiden, die in den Vollversammlungen über hochrangige Fragen (Gesetze usw.) ausgetragen werden, ohne dass man aufhören muss, sich an einer Bewegung zu beteiligen, die immer noch eine Menge Spielraum bieten kann. Ein Zermürbungskrieg, damit diese Vorschläge nicht herauskommen, oder eine offene und ständige Konfrontation mit allen Linken, Staatsbürgern und normalen Menschen, die nur ein paar Änderungen wollen, wird uns nicht weiterbringen. Wir müssen uns jederzeit bewusst sein, wo wir sind und wie weit wir gehen können. Wenn wir diese Übung der Analyse und Reflexion nicht ständig machen, werden wir einen sehr schweren Schlag und erhebliche Frustration erleiden.

Wenn wir uns an der 15M-Bewegung beteiligen, laufen wir natürlich immer Gefahr, am Ende die Drecksarbeit für die Linken und dem Staatsbürgertum zu machen. Wir glauben, dass dieses Risiko angesichts unserer begrenzten Kraft und Unterstützung bei jeder echten Mobilisierung, an der wir uns beteiligen (Streiks, Konflikte gegen die Entwicklung usw.), immer vorhanden sein wird. Das ist ein Risiko, das man nicht vorhersehen kann, und es ist wahrscheinlich etwas, das sich bis zu einem gewissen Grad nicht vermeiden lässt. Das Einzige, was wir tun können, ist, aufmerksam zu bleiben, uns nicht von Emotionen mitreißen zu lassen und zu versuchen, abzuschätzen, an welchem Punkt sich unsere Beteiligung darauf beschränkt, die Arbeitskraft anderer zu sein, und an welchem Punkt es notwendig wird, den Chiringuito26 zu verlassen.

Zum Abschluss dieses Abschnitts halten wir es für notwendig, einige Aktionslinien zu nennen, die uns als Beispiel für das, was uns vorschwebt, in den Sinn gekommen sind. Sie sind nicht die einzigen und auch nicht die besten, sie sind nur einige Beispiele, die uns eingefallen sind oder die wir in diesen Tagen in den Vollversammlungen gehört haben. Gemeinsam sollten wir sie vervollständigen, klären, kritisieren, etc.

Wohnung: Selbstorganisation im Widerstand gegen Zwangsräumungen und Immobilienmobbing. Die Hausbesetzung als vorübergehende Alternative bei Zwangsräumungen vorschlagen, die nicht gestoppt werden. Druck auf Hausbesitzer ausüben, die ihre Mieterinnen und Mieter übergehen oder ausnutzen. Durch direkte Aktionen Druck auf die Bankfilialen ausüben, von denen die Hypotheken der in Schwierigkeiten geratenen Familien abhängen, damit sie diese neu verhandeln oder einfach den Konflikt sichtbar machen. Den Konflikt durch Transparente o.ä. auf den Balkonen der Häuser, die unter Druck stehen, sichtbar machen.

Arbeit/Arbeitslosigkeit: Das Beispiel der Vollversammlung auf Sol auf die Arbeit übertragen, in den Vollversammlungen über Arbeitskonflikte debattieren und über unsere Probleme als Arbeitslose sprechen, vorschlagen, dass die Vollversammlungen eine Anlaufstelle sind, wenn wir ein Problem am Arbeitsplatz haben. Die Arbeitsplätze zu besuchen und anzuprangern, an denen Arbeitsunfälle passieren….

Migrationen: Versuche, Migranten einzubeziehen, die wahrscheinlich zunächst unterrepräsentiert sind, die Menschen darüber zu informieren, was in den Abschiebeknästen passiert, Handlungsmechanismen gegen Razzien gegen Migranten zu informieren und vorzuschlagen, Selbstorganisation, um rechtliche Informationen anzubieten, durch Beratung, Workshops, etc.

Gesundheit/Gesundheitswesen: Versuche, die Arbeiter und Nutzer-Erleidenden des öffentlichen Gesundheitswesens in den Kampf gegen seine Verschlechterung und Unzugänglichkeit einzubeziehen, zu vermeiden, uns gegeneinander auszuspielen („es ist die Schuld der Arbeiter, die zu wenig arbeiten“ oder „es ist die Schuld der alten Leute, die zu oft hingehen“).

Gender: Wir müssen sehen, wie wir der aktuellen großen Welle des Antifeminismus entgegenwirken können, die auf der gesellschaftlichen Ebene grassiert und die in den Zeltlagern schon mehrfach zum Ausdruck kam. Es könnte interessant sein, das Thema der männlichen Gewalt aufzugreifen oder zu diskutieren…

Organisation: Versuche, die Funktionsweise der Vollversammlung zu verbessern. Für eine echte, nicht nur formale Horizontalität zu kämpfen, um die Bildung von Cliquen von Spezialisten oder ewigen Vertretern zu vermeiden, um nicht zu einer Clique von Spezialisten oder ewigen Vertretern zu werden.

Diese Themen und Vorschläge sind eindeutig begrenzt, das Ergebnis von Eile und unserer eigenen Unerfahrenheit in dieser Art von Bewegung. Sie müssen verbessert, verfeinert und weitergegeben werden. Und vor allem müssen sie gemeinsam mit den Menschen, die an den Vollversammlungen teilnehmen, in einem Prozess aufgebaut werden, der sowohl die Vorschläge als auch diejenigen, die sie aufgreifen und in die Praxis umsetzen, verändern wird, und der sicherlich von Erfolg zu Erfolg führen wird. Wir sollten jetzt nicht denken, dass die Leute sie wie von Geisterhand akzeptieren werden, nur weil wir vier konkrete Vorschläge anstelle des üblichen anarchistischen Leier vorlegen. Nein, wir schlagen keine Beschwörungsformeln vor. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass es ein langer und schwieriger Weg sein wird, selbst wenn wir diesen Prozess in Gang setzen können. Wir glauben, dass wir alle mit der Zeit lernen und klarer werden. In gewisser Weise müssen Anarchisten die 15M-Vollversammlungen als ein Laboratorium betrachten, in dem wir experimentieren, Vorschläge machen, Fehler machen, lernen und neu anfangen können.

5. Nachbarschaftsvollversammlungen: Hoffnungen und Lokalismen

Ein Großteil dieses Textes wurde mit der Absicht geschrieben, vor den für den 28. Mai einberufenen populären Vollversammlungen (A.d.Ü., Asambleas Populares) in den Stadtvierteln zu erscheinen, daher seine Dringlichkeit, seine Eile und viele der Fehler, die er haben wird.

Die Ausdehnung auf die Stadtteile ist eine logische Erweiterung, weil das Lager in Sol auf Dauer nicht haltbar ist und weil es aufgrund seiner Eigenschaften eine viel begrenztere Beteiligung zulässt, wie wir bereits erwähnt haben.

Im Gespräch mit vielen Gefährt*innen haben wir festgestellt, dass einige große Hoffnungen in die Nachbarschaftsvollversammlungen setzen. Die Idee ist: „In Sol gibt es nichts mehr zu tun, lass uns in die Nachbarschaften gehen“. Machen wir uns nichts vor: Wenn die 15M-Bewegung ihren Schwung beibehält, werden die Nachbarschaften zu kleinen Puertas de Sol, mit all ihren guten Seiten, aber auch mit all ihren Fehlern, darunter die Militanten der Parteien, die fischen gehen, die Staatsbürger usw. In einigen Nachbarschaften und Städten im Süden Madrids ist der Anteil der Militanten unter den politischen Parteien sogar höher als in Sol. Das Spielfeld mag kleiner und weniger überwältigend sein, aber die Heterogenität, die Probleme, Widersprüche und Konflikte werden gleich oder sogar noch größer sein.

Wir glauben, dass die militanten Linken sowie alle einfachen Menschen, die für die vier grundlegenden Reformen sind, versuchen werden, die populären Vollversammlungen zu Brennpunkten zu machen, von denen aus sie die Parolen und Forderungen, für die sie in Sol gekämpft haben, verbreiten. Sie werden für die Unterschriftensammlung und die Propaganda für die Mobilisierungen zuständig sein und in den Stadtteilen (Nachbarschaftsvereinigungen, Ladenbesitzervereinigungen …) Unterstützung für ihre mittelfristige Strategie zur Umsetzung der Gesetzesänderungen sammeln. Und kaum etwas mehr. Die Staatsbürger könnten versuchen, sich etwas mehr um bestimmte Probleme in den Nachbarschaften zu kümmern, indem sie Verbindungen zu den Nachbarschaftsverbänden herstellen, wo sie können, für ihre Räumlichkeiten, sozialen Zentren und Büros für soziale Rechte werben, wo immer diese vorhanden sind, usw.

Wir haben bereits im vorherigen Punkt erwähnt, dass wir glauben, dass es eine interessante Art und Weise sein kann, an diesen Vollversammlungen teilzunehmen, also werden wir hier nicht weiter ins Detail gehen. Wir möchten jedoch anmerken, dass in jeder Nachbarschaft und jedem Ort einige Themen und Vorschläge wichtiger sein können als andere (z. B. sind in manchen Gegenden Razzien gegen Migranten häufiger als in anderen, in manchen Orten ist die Gesundheitsversorgung schlechter als in anderen, usw.). Man wird sehen was notwendiger und wichtiger in jedem konkreten Fall ist, hier gibt es keine magischen Lösungen.

6. Taktische Fragen

Der Text wird länger und wir wollen ihn mit einigen Überlegungen abschließen – wir werden versuchen, uns kurz zu fassen – zu bestimmten taktischen Aspekten, die wir gesehen haben und die wir auch in den kommenden Tagen sehen werden.

Gewalt/Gewaltlosigkeit: Wie wir bereits bei der Beschreibung der Bewegung erwähnt haben, ist die Ablehnung von Gewalt ein grundlegender Punkt, auf dem die 15M-Bewegung basiert. Die Initiatoren (Democracia Real Ya) nahmen es auf sich, dies auf die widerlichste Art und Weise zum Ausdruck zu bringen: sie distanzierten sich nach der Demonstration von den Vorfällen und zeigten mit dem Finger auf jeden, der notwendig war. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, wie sehr die Medien in den letzten Jahren mit diesem Thema bombardiert wurden. Medien wie La Razón und Público haben nicht gezögert, über die Polizei vor der Gefahr zu warnen, dass das „400 Chaoten“ versuchten, die Bewegung zu kontrollieren und/oder zu zerschlagen. Eine Woche später: gar nichts davon. Es scheint, dass die große Mehrheit der Anarchisten (mit mehr oder weniger Problemen) davon ausgeht, dass nichts passiert, weil jemand sich für gewaltfrei erklärt. Gewalt oder Selbstverteidigung ist eine Frage, die es immer geben wird, aber sie ist völlig zweitrangig. Wenn wir aufhören, sie als etwas zu betrachten, das je nach den Umständen nützlich oder nicht nützlich, vorteilhaft oder schädlich sein kann, und sie in etwas verwandeln, auf das man nicht verzichten kann, oder wenn wir in einen Wutanfall geraten, weil die 15M ein Loblied auf die Gewalt singt, werden wir uns völlig verirren. Heute ist es Zeit für Gewaltlosigkeit, an einem anderen Tag wird es Zeit für etwas anderes sein.

Vollversammlungen27: wir hören viel Kritik, dass die Vollversammlungen keine echten Vollversammlungen sind, dass es keine wirkliche Horizontalität gibt, dass einige versuchen, sie zu manipulieren, usw. Logisch, denn es handelt sich um echte Vollversammlungen mit normalen Menschen, die sich mitten in einem Kampf zwischen verschiedenen Sektoren um die „Kontrolle“ (bewusst oder unbewusst) der Situation befinden. Die Horizontalität, die Gleichheit, die Effektivität der Vollversammlungen, die Kommunikation der Vollversammlungen, die Tatsache, dass sie gesund sind, ist nicht etwas, das gegeben ist, weil sich Menschen auf einem Platz treffen und miteinander reden. Um nichts in der Welt. Man muss es gegen Manipulatoren, Politiker und toxische Menschen bekämpfen; und man muss es gegen jahrelange Demobilisierung, Herdentrieb und täglichen Delegationismus aufbauen. Wenn wir uns darüber nicht im Klaren sind, sind wir in den Händen derjenigen, die wollen, dass die Vollversammlungen die Transmissionsriemen sind, die sich darauf beschränken, ihre zu Hause ausgeheckten Vorschläge zu billigen oder zu akzeptieren.

Monster bekämpfen: es ist sehr kompliziert und frustrierend, an Vollversammlungen teilzunehmen, in denen es Menschen gibt, die alles tun, was nötig ist (manipulieren, lügen und sich meistens dumm stellen), um ihre Geschichte durchzusetzen. Jeder, der das schon einmal erlebt hat, kann dir sagen, dass es scheiße ist. Erstens wegen all dem, was du schlucken musst, zweitens, weil es in der Regel nicht jeder sieht. Wenn du also jemanden beschuldigst, bist du am Ende derjenige, der Verdacht schöpft, drittens, weil du am Ende einfache Fehler oder Versehen mit unverhohlenen Manipulationsversuchen (die an Paranoia grenzen) verwechselst und schließlich, weil du, sobald du es nicht merkst, am Ende ähnliche Dinge mit ihnen machst oder dazu gezwungen wirst. In den letzten Tagen haben wir Dinge gehört wie „die Kommissionen übernehmen“, „die Machtpositionen in den Vollversammlungen einnehmen“, „sich in den Vollversammlungen zerstreuen“, „so tun, als würden wir uns nicht kennen“ und andere solche Dinge von Gefährt*innen, an denen wir keine Zweifel oder Verdächtigungen haben, und natürlich werden wir sie nicht verurteilen. Diese Art von Situation ist so: Frustration, Wut auf die Manipulatoren und das Gefühl, an die Wand gedrückt zu werden, lassen dich solche Dinge sagen und tun. Dagegen bleibt nichts anderes übrig, als ständig aufmerksam zu sein, selbstkritisch zu sein und zu wissen, wie man Kritik übt und mit Kritik umgeht, ohne hysterische Anschuldigungen oder dummes Opferverhalten. Und davon ausgehen, dass wir uns irgendwann die Hände schmutzig machen werden, ob wir wollen oder nicht. Das passiert in den besten Familien.

„Hab keine Angst, spielt einfach mit“ Ch. Parker: In Verbindung mit dem oben Gesagten müssen wir uns bewusst sein, dass die Teilnahme an der 15M-Bewegung für die meisten von uns unbekanntes Terrain ist. Gehen wir mal davon aus, dass wir es vermasseln werden, und zwar richtig vermasseln. Anarchist*innen sind nicht perfekt und wollen es auch nicht sein, wir haben alles Recht der Welt, uns zu irren. Sich zu weigern zu handeln, aus Angst, ein Reformist zu werden, oder schlimmer noch, aus Angst, dass irgendein Arschloch dich als Reformist oder Avantgardist abstempelt, ist genauso absurd wie sich zu weigern zu denken, aus Angst, falsch zu liegen.

Anarchistischer Avantgardismus: Zwei Wörter, die zusammen einen Widerspruch darstellen, aber bei weitem nicht so sind. Einige marxistische Strömungen halten sich selbst für Avantgarde und rühmen sich damit, auch wenn ihnen niemand Beachtung schenkt. Wir Anarchist*innen weigern uns, zur Avantgarde zu werden, was nicht bedeutet, dass wir, wenn wir uns verirren, in den Avantgardismus abrutschen. Wenn man versucht, viel schneller zu sein als das Tempo der Ereignisse, läuft man Gefahr, sich immer mehr von ihnen zu lösen, bis man allein dasteht, weit weg von der Realität und von dem, was passiert. Außerdem ist damit noch nicht einmal sichergestellt, dass man den anderen „voraus“ ist, sondern man kann auch falsch abgebogen sein. Anarchist*innen wollen den Menschen nicht vorschreiben, was sie zu tun oder zu lassen haben, nur weil sie ein heiliges Buch oder ein revolutionäres Heiligtum besser kennen. Das bedeutet aber nicht, dass wir manchmal denken, wir seien besser als die anderen und dass sie „unserem Beispiel folgen“ sollten, vor allem, wenn wir an solchen Konflikten teilnehmen.

Symbologie und Dialekte: Damit unsere Beteiligung effektiv ist und wir gemeinsam etwas Sinnvolles aufbauen können, müssen wir all die Symbolik, die Codes, die Fetischwörter und das andere Merchandising unseres Bewegungsghettos beiseite lassen. Wie wir schon oben beim Thema Diskurs gesagt haben. Das bedeutet nicht, den Diskurs abzuschwächen oder die Menschen in die Irre zu führen, sondern auf die magischen Worte und starken Ideen zu verzichten, die wir gerne verwenden. Begriffe wie aktive Enthaltung, direkte Aktion, gegenseitige Hilfe, Revolution usw. müssen von Menschen, die mit ihrer Verwendung nicht vertraut sind, nicht auf den ersten Blick verstanden werden. Es ergbit keinen Sinn, sich darin zu verzetteln. Es ist sinnvoller, zu versuchen, sie in einfacher Sprache zu erklären, ohne anarchistischen Intellektualismus und Technizismus. Das Gleiche gilt für die Ästhetik der Propaganda, die für die meisten Menschen oft ebenso einheitlich wie weit entfernt ist. Ein klares Beispiel ist das Problem mit den A’s, die im Zeltlager auf Sol kursieren. Da keine politischen Symbole oder Flaggen erlaubt sind, sahen viele Menschen in der Vollversammlung mehr oder weniger zu Recht ein, dass auch die eingekreisten A’s dort nichts zu suchen hatten. Da die eingekreisten A’s keine politischen Symbole sind, sondern das Gegenteil, haben einige Anarchist*innen es ziemlich übel genommen. Andere, die ein Beispiel dafür sind, dass Horizontalität und Konsens oft nur dann respektiert werden, wenn es in ihrem Interesse ist, verwendeten es weiterhin auf Transparenten und Graffiti. Auf jeden Fall sollten wir darüber nachdenken, ob das alles nicht unsere Schuld ist, weil wir es in all den Jahren nicht geschafft haben, deutlich zu machen, dass wir nicht so sind wie alle anderen, obwohl zu unseren Gunsten gesagt werden muss, dass die Entscheidung, die eingekreisten A’s wegzulassen, auch diskutiert worden zu sein scheint. Der Punkt ist, dass die eingekreisten A’s am unwichtigsten sind. Das Wichtigste ist die Botschaft, die wir vermitteln wollen, und wenn wir sie weglassen müssen, ist das in Ordnung. Schließlich haben wir, wie ein Gefährte neulich zu Recht sagte, nichts zu verkaufen (was stimmt, wenn wir uns in der Praxis so verhalten, was nicht immer der Fall ist). Schlimmer als der Fall der eingekreisten A’s, der, so sehr er uns auch schmerzen mag, bis zu einem gewissen Grad verständlich ist, ist der Fall des Feminismus, der sowohl auf den Zeltlagern als auch auf Twitter auf einigen Widerstand stößt, mit ziemlich hässlichen Gesten und unangebrachten Kommentaren.

7. Das Ende, endlich.

Wir schließen mit einer abschließenden Überlegung. Die 15M-Bewegung hatte einen Anfang und wird ein Ende haben. Realistisch betrachtet und in Anbetracht der Tatsache, wie wenige Anarchist*innen wir sind und unserer Unerfahrenheit, ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass unsere Partizipation an ihr die Komponente sein wird, die ihre Entwicklung und ihr Ende bestimmt. Dennoch glauben wir, dass wir den Spielraum und die Fähigkeit haben, uns daran zu beteiligen und einen Beitrag zu leisten, und dass sie nicht auf eine staatsbürgerliche Reformbewegung oder auf den chiringuito einer Partei28 beschränkt sein sollte. Dieser Vorschlag geht in diese Richtung, indem er versucht, ein wenig weiter zu gehen. Wir haben nicht viel Hoffnung, dass die 15M-Bewegung das Wesen der heutigen Gesellschaft radikal verändern wird; sie könnte es nicht, selbst wenn sie es wollte, und alles scheint darauf hinzudeuten, dass sie es nicht will. Selbst wenn sie ihre Ziele erreicht, wird alles in eine Reform des demokratischen Systems oder sogar in eine vorübergehende Stärkung des Wohlfahrtsstaates umgesetzt werden. Trotzdem ist das keine Entschuldigung dafür, zu Hause zu bleiben. Wir glauben, dass wir dabei sein und mitmachen müssen, denn wenn wir es einigermaßen gut machen, kann es mittel- und langfristig für den Antikapitalismus und Anarchismus von Vorteil sein.

Zunächst einmal glauben wir, dass das demokratische System und das Kapital so sind, wie sie sind, und dass alle Parteien im Grunde gleich sind. Wenn die 15M-Bewegung Erfolg hat und es ihr gelingt, das demokratische System zu reformieren und der „Zweiparteienherrschaft“ und „Partitokratie“ ein Ende zu setzen, werden die Kleinparteien mit der Zeit entlarvt werden, weil das demokratische System und das Kapital so sind, wie sie sind.

Zweitens gibt es bei all dem, was passiert, auch etwas Positives. Vor einem Monat war die allgemeine Meinung: „ Was für eine beschissene Situation, aber was sollen wir tun? Man kann nichts tun, usw.“ Heute gibt es viele Leute, die glauben, dass das Wahlgesetz geändert werden kann, dass es gerecht ist, die Entscheidungen des Wahlvorstands zu ignorieren, wenn sie ungerecht sind, und so weiter. Irgendwo muss man ja anfangen. Wenn die 15M-Bewegung fortbesteht und Dinge durch Mobilisierungen und Vollversammlungen erreicht werden, und diese mehr oder weniger funktionieren, unabhängig vom Ergebnis, ist das ein Vorteil, den es zu nutzen gilt. In diesem Land wurde schon lange nichts mehr gewonnen: der Beitritt zur NATO, nichts, das PRESTIGE, nichts, der Irakkrieg, nichts, die Kämpfe an der Universität, nichts… Tatsächlich war die einzige Veränderung, die viele Menschen als ihre eigene ansahen, als die PSOE nach dem 11-M gegen die PP gewann, und das geschah durch Wahlen, die demokratische Illusionen verstärkten.

Drittens hat es die 15M-Bewegung geschafft, dass Menschen auf die Straße gehen, um gemeinsam und öffentlich über Politik zu sprechen, über einige der sozialen und politischen Probleme, die sie umgeben. Das war etwas, das man schon lange nicht mehr gesehen hatte. Die meisten Gespräche drehen sich um Reformen, um minimale Veränderungen, aber wie wir schon sagten, irgendwo muss man anfangen. In gewisser Weise hat sie eine Bresche geschlagen in das „Halt dich aus der Politik raus“, die „Politikverdrossenheit“ und das „Da kann man nichts machen“, die drei kleinen Geschenke, die uns der Franquismus, die Transición29 und die Demokratie hinterlassen hatten. Was nicht sein kann, ist, dass wir Menschen, die zu Hause bleiben, kritisieren, weil sie nicht auf die Straße gehen, und wenn sie doch auf die Straße gehen, kritisieren wir sie, weil das, was sie fordern, keine soziale Revolution ist. Das ergibt doch keinen Sinn.

Wenn einige Dinge durch den Kampf auf der Straße erreicht werden, glauben wir, dass es nach all dem vielleicht einfacher sein wird, die Menschen davon zu überzeugen, dass eine Vollversammlung am Arbeitsplatz funktionieren kann, dass es sinnvoll ist, auf die Straße zu gehen, um zu protestieren, dass man einen Streik gewinnen oder einen städtischen Plan umstürzen kann: durch Solidarität, direkte Aktionen und so weiter. Wenn das, was erreicht wird, ausschließlich durch politische Manöver, Abstimmungen, Volksabstimmungen usw. erreicht wird (was ziemlich unwahrscheinlich ist, wenn es keinen beträchtlichen Druck von der Straße gibt), wird das einzige, was gestärkt werden wird, das demokratische System sein. Das ist die Frage, und da müssen wir Anarchisten da sein.

Wir werden sehen, wie sich das alles entwickelt, aber die anarchistische Bewegung wird gestärkt, wenn sich ihre Praktiken, ihre Art, sich der Realität zu stellen, und einige ihrer Ansichten verbreiten und in der kollektiven Ideologie verankern. Die anarchistische Bewegung wird auch stärker sein, wenn unsere Beteiligung an der 15M-Bewegung nach Kritik, Selbstkritik und öffentlicher Analyse in neue kollektive Erfahrungen mündet. Es ist unwahrscheinlich, dass unsere langfristigen Ziele dank des 15M auf gesellschaftlicher Ebene deutlich wachsen werden, unabhängig davon, ob wir dabei bestimmte Leute überzeugen können. Dieser Kampf geht andere Wege, durch die ständige Arbeit der Öffnung von Zentren, der Herausgabe von Texten, der Analyse, der Veranstaltung von Tagungen, Veranstaltungen usw., die wir auf keinen Fall aufgeben sollten, nur weil wir in 15M sind.

Gezeichnet: Einige Anarchist*innen aus Madrid

Madrid, Mai 2011


1A.d.Ü., so die Übersetzung vom Titel aus dem Englischen, wir haben uns an das Original auf Spanisch gehalten.

2A.d.Ü., alle hier vorliegenden Zitate von Karl Marx, die zumindest die von uns erkannt wurden, haben wir aus den Originalschriften übernommen.

3A.d.Ü., wir haben an dieser Stelle die ganze Passage von Thesen über Feuerbach übernommen.

4A.d.Ü., der Text ist in der Originalfassung gegendert worden, wenn auch nicht immer und somit der Titel auch nicht, wir übersetzten alle Texte ganz nach dem Original und wenn wie im Fall des Titels nicht gegendert worden ist, kann dies ein Fehler der Verfassenden sein, oder einen Grund dafür haben warum hier eine Ausnahme gemacht wurde, wie es an anderen Stellen genauso der Fall ist. Man müsste sich der Gruppe wenden um dies zu erläutern, da aber diese Seit über zehn Jahren nicht mehr existiert, wird dies schwierig sein. Wir erwähnen dies damit der Aufklärung Weise genüge getan wurde.

5A.d.Ü., man hätte den Titel auf zwei Arten übersetzen können, Die Anarchisten und der 15M was sich auf den Datum beziehen würde, genauso wäre aber Die Anarchisten und die 15M richtig, weil auf die daraus entstandene Bewegung Bezug genommen wird.

6A.d.Ü., im Originaltext ist die Rede von Asamblearismo, was sowohl als eine Ideologie und/oder Theorie der Vollversammlungen verstanden werden, genauso aber die Praxis des Halten derselben.

7A.d.Ü., Immediatismus, was unmittelbar heißt.

8A.d.Ü., diese Stelle kann zwei Bedeutungen haben, deswegen haben wir den Begriff erst gar nicht übersetzt. Chapa hat auf Spanisch zwei Bedeutungen die hier Sinn ergeben könnten, die erste ist Nervensäge und die zweite ist Opportunist. Chapas sind Kronkorken, aber auch Buttons, im Sinne als etwas oberflächliches, der wie ein Chamäleon nur den Button ändern muss, als ein Opportunist, und ist wer anders im politischen Sinne.

9A.d.Ü., hier ist die Rede über eine ‚populäre Vollversammlung‘, welche auch als eine Volksversammlung verstanden werden kann, die eine bindende politische Funktion gegenüber des Staates hat, hier war es aber nicht der Fall, der Name war aufgeblasen um der Vollversammlung mehr Gewicht zu verleihen.

10A.d.Ü., ciudadanista, jene die mittels der Demokratie und der herrschenden Ordnung „Verbesserungen“, ohne aber das kapitalistische System als solches anzugreifen, zu erlangen versuchen.

11A.d.Ü., izquierdistas, alle politischen Strömungen außer die anarchistische, ein Pejorativ.

12A.d.Ü., movimiento ciudadanista, der Staatsbürgertum als Bewegung, siehe Fußnote Nummer 10.

13A.d.Ü., an dieser Stelle wird die Form von Zustimmung durch komische Handbewegungen gemeint die in den letzten Jahren so beliebt geworden sind.

14A.d.Ü., asambleario, sprich durch das Abhalten von Vollversammlungen..

15A.d.Ü., gemeint sind die Fahnen der spanischen Republik, ein Symbol gegen die Monarchie.

16A.d.Ü., gemeint sind die eingekreisten A´s als Symbol für die Anarchie, bzw. Anarchismus.

17A.d.Ü., ein chiringuito, ist eine einfach gebaute Hütte, am Strand, oder sonstwo, wo Getränke, Eis, oder andere Waren für den Verzehr verkauft werden. Was es aber auch bedeutet, was an dieser Stelle zutreffend ist, ist wenn man sich ein kleines Geschäft aufgebaut hat, man muss das politische wie ein Geschäft führen, in dem Sinne eine Kritik.

18A.d.Ü., gemeint sind Camps wie diese und ähnliche im Allgemeinen.

19A.d.Ü., indignación bedeutet Empörung, die Bewegung wurde als los indignados bekannt, sprich die Empörten.

20A.d.Ü., ein botellón ist ein öffentliches Zusammentreffen, können riesig werden, wo man sich zum Saufen trifft.

21A.d.Ü., an dieser Stelle schrieben die Verfassende eso es de primero de militancia, was wortwörtlich als ‚dass ist Militanz für Erstklässler‘ übersetzt werden kann. Mit Militanz meint man nicht die Gewaltfrage, sondern die Haltung und das Engagement zum politischen Leben.

22Während der Korrektur des Textes hat das Zeltlager auf Sol die vier Punkte gebilligt, die den sogenannten #consensodeminimos ausmachen. Wir werden es nicht bewerten, da wir nicht glauben, dass es die Aussagen des Textes wesentlich verändern wird, denn so etwas wurde früher oder später erwartet.

23A.d.Ü., ciudadanistas, siehe Fußnote Zehn.

24A.d.Ü., asamblearismo, die Theorie des Abhaltens von Vollversammlungen.

25A.d.Ü., Patricia Heras war eine der betroffenen im berühmten Fall 4F. Am 04.02.2006 wurde ein besetztes Haus mitten in der Nacht gestürmt, wobei es zu Zwischenfällen kam und mehrere Personen wie Bullen verletzt wurden. Einer dieser war querschnittgelähmt und wie verrückt machten die Behörden mehrere Personen dafür verantwortlich, einer davon Rodrigo Lanza, über den wir schon in mehreren Artikeln berichtet haben und die andere Patricia Heras, die zum Zeitpunkt der Verletzung des Bullen gar nicht vor Ort war. Sie war eine junge Literaturstudentin und wurde in einem Krankenhaus mit einem Freund von ihr verhaftet. Was darauf folgte waren drei Jahre Knast und am Ende nahm sie sich das Leben während einem Ausgang (Knasturlaub) im April 2011. Dazu wurde ein Film gedreht mit dem Namen Ciutat Morta.

26A.d.Ü., siehe Fußnote Nummer 17.

27A.d.Ü., asamblearismo, siehe Fußnote 24.

28A.d.Ü., siehe Fußnote 17.

29A.d.Ü., als Transicíon wird der Übergang im spanischen Staat vom Faschismus zur Demokratie bezeichnet, dieser verlief ab den Tod von Franco 1975 bis zu den ersten Wahlen 1977.



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Klassenkampf – Proletarier ich? https://panopticon.blackblogs.org/2022/10/29/klassenkampf-proletarier-ich/ Sat, 29 Oct 2022 10:56:41 +0000 https://panopticon.noblogs.org/?p=3485 Continue reading ]]> Gefunden auf materiales x la emancipación, die Übersetzung ist von uns. Bei den folgenden Artikeln liegt, unter anderem, der Schwerpunkt auf die Debatte/Kritik der modernen Figur des sogenannten Staatsbürgers, bzw. der Ideologie dahinter, als Ersatz zu der Klassenkonfrontation, zu der wir auf Deutsch noch keinen passenden Begriff gefunden haben – man könnte den der Staatsbürgerschaft verwenden – zumindest im Gegensatz zu anderen Sprachen (Citizen und Citizenship (Englisch), Ciudadano und Ciudadanismo (Spanisch) und Citoyen und Citoyenneté (Französisch). Weitere Texte zu der Thematik finden sich hier, Textreihe Kritik an der Linken des Kapitalismus und hier Staatsbürgerschaft. Hiermit fahren wir mit der Kritik an den Staatsbürgertum/Staatsbürgerschaft fort und der unumgänglichen Notwendigkeit die Konfrontation im Kapitalismus als eine zwischen Klassen zu verstehen.

Klassenkampf

Am 06. Oktober 2018 veröffentlicht

[Entnommen aus der Publikation Contra la Contra N°2].

Proletarier ich?

Die Bourgeoisie hat weithin verbreitet, dass, sobald die Figur des Industriearbeiters in der Produktion nicht mehr vorherrschend ist, automatisch „das Proletariat verschwunden ist“. Aber es stellt sich heraus, dass das Proletariat von seiner Geburt an ein materieller und historischer Zustand ist und immer war und dass diese soziale Klasse daher nicht auf einen bestimmten Beruf oder eine bestimmte Tätigkeit reduziert werden kann. In dem Maße, wie sich das Kapital durchsetzt, setzt sich die Warenproduktion durch, und damit auch die Klasse, die die Ausbeutung der Arbeitskraft und der Arbeitszeit verkörpert, die erforderlich ist, um den Wert dieser Waren zu erzeugen.

Das Proletariat ist durch die ständige Enteignung seiner Lebensgrundlage gekennzeichnet und muss daher für einen Lohn arbeiten; der so genannte „moderne konsumorientierte Lebensstil“, den viele Lohnabhängige anstreben, ist weit davon entfernt, die vermeintliche Stabilität und Selbstverbesserung widerzuspiegeln, die im Kapitalismus erreicht werden kann. Ein Auto zu kaufen oder einen Strandurlaub zu finanzieren, ein Paar Markenturnschuhe zu besitzen, einen Teller Essen auf dem Tisch zu haben, am Wochenende Bier zu trinken oder heißes Wasser in der Dusche zu haben, Miete für ein Haus oder ein Mobiltelefon zu bezahlen – das sind „Bequemlichkeiten“, die sich in jedem Land nur eine sehr kleine Anzahl von Menschen ohne Opfer leisten kann. Wenn heute mehr Waren zirkulieren, die noch vor siebzig Jahren für die Mehrheit der Bevölkerung als unerreichbar galten, so liegt das nicht an den Vorteilen dieses Systems, sondern an der Notwendigkeit, Mobilität für die Anforderungen des Marktes zu schaffen, und zwar durch Kredite, die die Banken gewähren und von unseren Gehaltsschecks (mit hohen Zinsen) abziehen, wodurch wir mit unsichtbarem Geld ausgestattet werden, für das wir im wirklichen Leben mit mehr Arbeit bezahlen. Es spielt keine Rolle, ob wir „unseren Lebensunterhalt“ verdienen, indem wir Schwermetalle unter einer Mine einatmen, Balken auf einer Baustelle verlegen, in einem Büro hinter dem Computer, in einem klinischen Labor, als Arbeiter, die für die Agrarindustrie ernten, als Kellnerin in einem Hotel oder als Kellner in einem Restaurant; wir sind immer noch Sklaven von Löhnen, Schulden und der zusätzlichen Arbeit, die wir leisten müssen, um für einen Wohlstand zu bezahlen, der nie eintritt.

Die Chefs, der Staat und sogar die Priester predigen täglich, dass man durch harte Arbeit, Sparen und Disziplin eine gewisse Stabilität erreichen kann. Viele der Ausgebeuteten machen sich schließlich etwas vor und machen sich auf den Weg, um den Traum des Staatsbürgers von einem Haus, einem Auto und einer Familie zu verwirklichen, während die Kinder im Garten mit dem Hund spielen und die Großeltern auf dem Balkon sitzen, um die Zeitung zu lesen und einen Pullover zu stricken. Natürlich zerbricht all diese Fantasie, wenn ein Unfall, eine tödliche Krankheit oder einfaches Alter uns daran hindert, weiter zu arbeiten, oder wenn wir 30 Jahre lang für ein Unternehmen gearbeitet haben, das uns plötzlich mit einem Tritt in den Hintern und ohne Abfindung entlässt; nur um dann zu sehen, wie alle Ersparnisse, die wir hatten (vorausgesetzt, wir hatten sie), im Handumdrehen verschwinden. Die Verzweiflung, die Traurigkeit, die Depression und die Ängste, die sich aus diesen Umständen ergeben, führen schließlich zu den Lösungen des Kapitals: Prozac, Mittellosigkeit oder Selbstmord (sofort oder schrittweise unter dem Einfluss von Alkohol oder anderen harten Drogen).

Anstatt sich also der Frustration hinzugeben, jeden Tag Lebensläufe zu verschicken und keinen Anruf zu erhalten oder vor einem leeren Kühlschrank zu verhungern, sollten wir uns fragen, warum dieser Zustand so weitergehen soll. Unsere alltäglichen Ängste und Sorgen sind keine Ereignisse, „die nur uns selbst betreffen“. Uns als einzigartig und anders zu betrachten, ist ein ideologischer Schleier, der das ungehinderte Funktionieren dieser vorherrschenden Produktionsweise nährt, die darauf abzielt, uns um jeden Preis atomisiert und isoliert zu halten, um uns gegenseitig zu töten und nicht die Wurzel des wirklichen Problems zu bekämpfen. Die konkrete Realität ist, dass wir Proletarier sind, die als Anhängsel dieser Megamaschine dienen, und nur wenn wir uns als solche erkennen, können wir die Grundlagen dafür schaffen, das zu untergraben, was uns im Leben umbringt.

Das Kapital bietet nur Katastrophe

Heute wird noch deutlicher, wie riesige Menschenmassen für die Verwertung des Kapitals und für die Pläne der Diktatur der Ökonomie unbrauchbar gemacht werden. Millionen von Arbeitsplätzen werden in immer schnellerem Tempo durch die Arbeit technologischer Automaten ersetzt, um die Produktionskosten der verschiedenen Unternehmen zu senken (die Entwicklung der künstlichen Intelligenz ist der beispielhafteste Fall). Selbst die wissenschaftlichen Institute (die immer für das Kapital arbeiten) haben durch ihre wissenschaftlichen Sprecher keine Vorbehalte, wenn sie behaupten, dass die Arbeitslosigkeit in den nächsten 20 Jahren weltweit bei 80 % liegen wird. Offensichtlich sind die Großkonzerne, die die oberen Etagen der Ökonomie leiten, sowie die überzeugten Verfechter dieser Gesellschaft und ihre Ideologen [noch] nicht wirklich besorgt über dieses Problem, weil es ihnen genügt, die ganze Situation auf einen Kollateralschaden zu reduzieren, und deren kurzfristige „Lösung“ darin besteht, dass die Regierungen die Tätigkeit all dieser überflüssigen Masse regulieren, indem sie sie in prekäreren Arbeitsverhältnissen unter der Form des Outsourcings oder der Selbstausbeutung im so genannten informellen Handel beschäftigt halten. Aber diese „Lösung“, die die ständige Inflation der Rohstoffpreise nicht eindämmt, wird über kurz oder lang zum Zusammenbruch dieser prekären Arbeitsplätze sowie vieler Zweige des informellen Handels führen, was die ewige Rückkehr von Arbeitslosigkeit und Verarmung zur Folge hat1.

Die Illusionen in das Kapital zerfallen

Stimmt es, dass der Kapitalismus mit seinem Fortschritt und seiner industriellen Entwicklung in all seinen biologischen, chemischen und technologischen Bereichen zu einem besseren Leben für die Menschheit geführt hat als zuvor? Im Gegensatz zu dem, was die verschiedenen Apologeten dieser ökonomischen Ordnung verkünden, ist es unmöglich, einen Vorhang zu finden, der das katastrophale Szenario, das wir erleben, verdeckt. In der besten aller möglichen Welten2 ändert nichts von dem, was dieses System als Lösung vorschlägt, etwas an der Tatsache, dass wir tagtäglich stundenlangem Pendeln zur Arbeit ausgesetzt sind, verschmutzte Luft einatmen, unterernährt mit makaberen Lebensmitteln, die industriell chemisch verarbeitet wurden, hohe Mieten für überfüllte „Wohnungen“ zahlen – eingepfercht in Löchern (oder sogar nirgendwo wohnen können), krank bei der Arbeit sein und schließlich der Modernisierung und dem Ausbau der Repressions- und Überwachungsbehörden ausgesetzt sein. Der Platz reicht nicht aus, um alle widrigen Lebensbedingungen aufzuzählen, denen Millionen von Lohnsklaven auf der ganzen Welt täglich ausgesetzt sind.

Es gibt keinen Teil des Planeten, der den Plänen dieser Zivilisation des Geldes entgeht, ja, nicht einmal diese angebliche Trennung zwischen einer „dritten“ und einer „ersten Welt“ ist real, denn der Kapitalismus ist ein System, das sich von der globalen und ständigen Mobilität des Wertes ernährt, sich selbst aufwertet, das Elend materialisiert und verallgemeinert. Kein ökonomischer Prozess ist unverbunden oder isoliert, auch wenn die Kapitalisten immer mit ökonomischen Fortschritten und Vorteilen prahlen, wird dies immer aus einer rein lokalistischen Perspektive geschehen, in der nur ihre Sphäre profitiert: sie sagen uns, dass „wir auf dieser Seite wettbewerbsfähiger sind“, aber sie erwähnen nicht, dass diese Wettbewerbsfähigkeit auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass unsere Ausbeutung größer ist und dass dies die Produktionskosten senkt und daher die Konkurrenten in anderen Ländern in den Bankrott getrieben werden und Tausende in die Reihen der Arbeitslosen geworfen werden. Von der Innenstadt von Los Angeles, wo die Immobilienspekulation Tausende von Menschen auf die Straße getrieben hat, bis zum Elend des Dorfes La Rinconada in Peru, wo die Menschen ohne Bezahlung auf der Suche nach Gold für die Minengesellschaften arbeiten, die dieses Metall in der Schweiz verkaufen, sind das Ergebnis einer Produktionsweise, deren Dynamik nicht auf die lokale oder regionale Ebene beschränkt ist, sondern deren Wurzeln [sowie deren Auswirkungen] unmittelbar global und historisch sind, und folglich kann das, was in einem Land geschieht, nicht als „sein eigenes“, „besonderes“ oder losgelöst von dem, was in anderen Breitengraden geschieht, verstanden werden.

Ist das Kapital unschlagbar?

Aber die Widersprüche des Kapitalismus verlaufen niemals harmonisch; die Welle der weltweiten Kämpfe des letzten Jahrzehnts, von Griechenland bis Nicaragua, von Ägypten bis Argentinien, machen deutlich, dass im Kapitalismus jede „Verbesserung“ eine abscheuliche Schimäre ist; dass Entwicklung die Entwicklung der Ausbeutung ist; dass die Freiheit darin besteht, zu verhungern oder sich zu Tode zu arbeiten; dass die Gleichheit den Gesetzen unterliegt, die zum Schutz der Bourgeoisie geschaffen wurden; dass Wohlstand und Wohlergehen die Bestrebungen sind, die nur die Bourgeoisie erreichen kann; und dass Demokratie nichts anderes als die Diktatur des Kapitals ist.

Es ist offensichtlich, dass die gegenwärtige Periode der Kämpfe aus nicht sehr langen Ausbrüchen besteht, aus Schlägen und Gegenschlägen, aus Aufstieg und Fall, wo sich der soziale Frieden schließlich durchsetzt, entweder durch die Verhärtung des Staatsterrorismus oder durch die Hinwendung zum Reformismus. Es ist nicht verwunderlich, dass wir noch weit davon entfernt sind, auch nur in eine vorrevolutionäre Phase auf weltweiter Ebene einzutreten. Die Abwesenheit von Ausbrüchen, Revolten oder allgemeinen Kämpfen darf jedoch nicht mit einer Periode verwechselt werden, die ewig andauert, denn es gibt immer Widersprüche, und diese sind immer so angespannt, dass sie am Ende alles sprengen, was man für fest und unveränderlich hielt. Wenn der Großteil des Proletariats heute schwach, zersplittert und reformistisch ist, so liegt das nicht an einer „natürlichen Ursache“ oder an einer unumkehrbaren Niederlage, bei der der Klassenkampf in der kapitalistischen Produktionsweise subsumiert worden ist3. Die Ursachen für diese Situation sind in der Entwicklung der ständigen Niederlagen zu suchen, die nach Jahrzehnten der kapitalistischen Konterrevolution (Vernichtung, Repression und Knast) eingetreten sind, und in der Tatsache, dass ein großer Teil der Kämpfe der letzten Jahrzehnte praktisch bei Null anfängt, herumstreifend, ohne Bilanzen und Positionen mit brüchigen Brüchen mit dem Veralteten. Andererseits, betrachten die Unmittelbarkeit und die falschen Konzeptionen die Revolution als eine heroische Geste, sie ignorieren vehement dass die proletarischen Anstürme gegen die kapitalistische Gesellschaft in den Jahren 1917, 1968 und 1977 nicht spontan oder wie ein Wunder geschahen, sondern das Ergebnis einer jahrzehntelangen Konfrontation mit der bestehenden Realität waren. Schließlich ist es wichtig, die Tatsache nicht aus den Augen zu verlieren, dass die soziale Realität sich in einer Weise aufdrängt, die über die Erwartungen oder Annahmen einer Gruppe oder eines Einzelnen hinausgeht. Der Prozess der Klassen- und revolutionären Konfrontation ist nicht nur langwierig, sondern auch nicht frei von zahlreichen Misserfolgen, und er wird niemals dem Voluntarismus oder dem vorgetäuschten Mechanismus von Aktionen unterliegen, die uns das erwartete Ergebnis bringen werden.

Abneigung gegen die vermeintlichen Totengräber

Als soziale Alternative vorzuschlagen, in den Garten4 zu gehen, um in Gemeinschaften zu kultivieren, und dabei die Unmöglichkeit zu betonen, den Kapitalismus zu besiegen, ist nicht weit davon entfernt, sich die Möglichkeit apokalyptischer Zukünfte vorzustellen oder die sofortige Auslöschung der menschlichen Rasse zu befürworten, um den Zusammenbruch des Planeten aufzuhalten5; es ist eine Art, sich den Plänen des Kapitals zu fügen, das stets versucht, die Mythen seiner angeblichen Unverwundbarkeit zu verstärken und so jede Möglichkeit zu unterdrücken, seine materiellen Grundlagen zu hinterfragen und zu überschreiten. Zu glauben, dass die Kämpfe aufhören oder für immer in der Verwirrung und im Reformismus versinken werden, entspricht wiederum jener kapitalistischen Logik, die Realität antidialektisch, d.h. von negativen Widersprüchen gereinigt zu sehen, als ob die Prozesse immer linear und ohne Konflikt zwischen denen, die diese Realität zu überwinden suchen, und denen, die sie ihrerseits mit all ihren Strukturen zu bewahren suchen, verlaufen würden.

Der Klassenkampf ist eine Konstante des Kapitals, er ist seine immanente Bedingung, und seine Existenz hängt nicht nur vom Grad der sozialen Explosion ab, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt manifestiert6; der Klassenkampf wird nicht auf einen bestimmten Kampf in einem bestimmten Land reduziert, und er wird auch nicht als ein Kampf definiert, der erst in ferner Zukunft stattfinden wird, wenn das Proletariat „bereits über ein spezifisches Programm zur Durchführung der Revolution verfügen wird“7. Der Klassenkampf muss als das Wesen des Kapitals in seiner Gesamtheit verstanden werden, ein Wesen, das die Bourgeoisie gerne reinigen würde, aber dazu nicht in der Lage ist.

Die Mystifikationen, falschen Identitäten und verschiedenen Ideologien des Kapitals können nur vorübergehend die Nichtexistenz von Klassengegensätzen und deren Folgen beeinflussen. Aber der Klassenkampf ist keine Ideologie oder ein zu wählender Weg, sondern eine Realität, die sich in jedem von uns als Proletarier materialisiert und die betont wird, sobald ein Wecker (quasi die Trompete in der Kaserne) uns daran erinnert, dass wir zur Arbeit gehen müssen, um uns selbst zu zerstören. Dieses Unbehagen und das subversive Potenzial, das es mit sich bringt, sind kein individueller Akt, sondern die gesellschaftliche Bedingung, die dazu führt, dass man auf die Straße geht und sich gegen alles und jeden stellt, der diese Ordnung verteidigt.


1Wie wir alle wissen, führen Arbeitslosigkeit und Inflation zu einem Wettbewerb um niedrige Kosten auf der Grundlage der Produktivität, was zu niedrigen Löhnen, verstärkter Ausbeutung und längeren Arbeitszeiten führt. Eine Funktionskette, die keine Regierung unterbrechen kann oder will.

2Die Liberalen werden nicht müde zu verkünden, dass „der Kapitalismus zwar weit davon entfernt ist, ein perfektes System zu sein, dass er aber andererseits das beste System ist, das die Menschheit je gekannt hat, weil es nicht so viele Engpässe und Krankheiten gibt und die Lebenserwartung auf 80 Jahre steigt“ (Sic!).

3Dieser Irrtum ist in Strömungen wie der „Wertkritik“ (Jappe, Kurtz) oder den Kommunisten im Stil der theorie communiste oder den Exegeten von Jacques Camatte weit verbreitet. Wir werden diese Kritik vorerst nicht weiter vertiefen, sondern dies für zukünftige Ausgaben dieser Publikation aufheben.

4A.d.Ü., aufs Land zu ziehen.

5Das ist naiv, denn viele Dystopien wie Hunger, Krieg, Kontrolle und zerstörerischer technischer Fortschritt finden in dieser Gesellschaft bereits statt und koexistieren mit den „Wohlstand des Kapitalismus“. Außerdem ist es der Kapitalismus selbst, der die Menschheit seit langem ausrottet und dies mit großem Erfolg tut.

6So wie der Kapitalismus nicht abgeschafft wird, wenn ein Einzelner in die Berge geht und ohne Geld überlebt, verschwindet der Klassenkampf nicht, wenn der soziale Frieden durch die Unterdrückung der Bourgeoisie und ihres Staates triumphiert.

7Wir dürfen das, was ein revolutionäres Programm ist, nicht mit dem Klassenkampf verwechseln; denn ein revolutionäres und kommunistisches Programm ist das Produkt der Entwicklung des Klassenkampfes und nicht andersherum.

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Wir sind keine Staatsbürger, wir sind Proletarier https://panopticon.blackblogs.org/2022/10/29/wir-sind-keine-staatsburger-wir-sind-proletarier/ Sat, 29 Oct 2022 10:42:03 +0000 https://panopticon.noblogs.org/?p=3483 Continue reading ]]> Auf machorka gefunden, die Übersetzung ist von uns. Bei den folgenden Artikeln liegt, unter anderem, der Schwerpunkt auf die Debatte/Kritik der modernen Figur des sogenannten Staatsbürgers, bzw. der Ideologie dahinter, als Ersatz zu der Klassenkonfrontation, zu der wir auf Deutsch noch keinen passenden Begriff gefunden haben – man könnte den der Staatsbürgerschaft verwenden – zumindest im Gegensatz zu anderen Sprachen (Citizen und Citizenship (Englisch), Ciudadano und Ciudadanismo (Spanisch) und Citoyen und Citoyenneté (Französisch). Weitere Texte zu der Thematik finden sich hier, Textreihe Kritik an der Linken des Kapitalismus und hier Staatsbürgerschaft. Hiermit fahren wir mit der Kritik an den Staatsbürgertum/Staatsbürgerschaft fort und der unumgänglichen Notwendigkeit die Konfrontation im Kapitalismus als eine zwischen Klassen zu verstehen.

Wir sind keine Staatsbürger, wir sind Proletarier

L.H & D.H, 2009

Die zeitgenössische Gesellschaft ist in den besten Fällen demoralisierend; es ist nur allzu normal, Verzweiflung zu empfinden und sich in ihr außer Kontrolle zu befinden. Es ist auch schwer zu wissen, was wir glauben sollen, wenn wir von Illusionen umgeben sind: die Lügen der Politiker, die Lügen der Medien und die Lügen des Marktes, die uns erzählen, dass ein neuer Fernseher oder ein neues Auto unsere Gefühle der Einsamkeit beenden und unsere persönlichen Probleme lösen kann.

Das Unbehagen und die Resignation in unserer Gesellschaft von Vorne bis Hinten zu durchbrechen, ist keine leichte Aufgabe. Sie erfordert eine Untersuchung der Institutionen und sozialen Prozesse, die diese Illusion schaffen und aufrechterhalten. Auf diese Weise schaffen wir Möglichkeiten für eines Bruchs, eine Bresche in das System der Ausbeutung und einen Raum, in dem wir einen Blick auf verschiedene Lebensweisen werfen können. Wir müssen begreifen, dass die vorherrschende Klassenstruktur und ihr Entfremdungsprozess, die Warenproduktion und der Warenaustausch, der wichtigste „Motor“ unserer zerstörerischen Welt sind. Diese Notizen sind ein Beitrag zur Zerstörung des globalen kapitalistischen Systems, eine Aufgabe, mit der wir sofort beginnen müssen.

Spezialisten und Experten haben der Bevölkerung eine oberflächliche Meinung aufgezwungen, so wie unsere Lehrer uns in der Schule alles beigebracht haben, nur nicht, wie man kritisch denkt. Das kritische Denken ist untrennbar mit der Herausforderung dieser Gesellschaft verbunden um sie herauszufordern. Um das System herauszufordern, ist ein klares Verständnis des Kapitalismus erforderlich. Durch Hinterfragen beginnen wir, die Schwachstellen zu erkennen, die Stellen, an denen die kapitalistische Ordnung versagt. Wo es Möglichkeiten zum Bruch gibt, greifen wir an. Das ist genau das, was die Spezialisten und Experten fürchten: Menschen, die die Notwendigkeit von Veränderungen erkennen und handeln und die Gesellschaft der Entfremdung in den Ruin führen.

Der Begriff Entfremdung wird allgemein verwendet, um das Gefühl zu beschreiben, isoliert oder abgedriftet zu sein. Wenn Soziologen oder andere Spezialisten darauf hinweisen, dass ein großer Prozentsatz der Bevölkerung „entfremdet“ ist, verstehen wir sie so, dass sie sich auf eine Art allgemeinen Zustand beziehen, der die Menschen plagt, auch wenn er weitgehend abstrakt ist. Auch die Beschreibung der sozialen Klassen ist unklar und umfasst viele Faktoren, vom Einkommen in der Nachbarschaft bis zur Kultur. Diese Beschreibungen sind schwierig und verwirrend, weil sie so viel bedeuten. Je mehr Menschen diese auferlegten Definitionen akzeptieren, desto einfacher ist es, Verwirrung zu stiften.

Soziale Klassen sind eine offensichtliche Tatsache. Es gibt eine Klasse, die herrscht, und eine andere, die beherrscht wird, eine Klasse, die besitzt, und eine andere, die enteignet wird. Das Proletariat oder die Enteigneten sind Menschen, denen die Möglichkeit genommen wurde, ihre materiellen Bedingungen selbst zu bestimmen. Diese materiellen Bedingungen sind die Organisation ihres Lebens und das, was im Laufe ihres Lebens geschaffen wird. In dieser Gesellschaft zu überleben bedeutet, seine Zeit gegen Bezahlung an einen Arbeitgeber zu verkaufen, oder der häusliche Lebensgefährte eines „ernährenden“ Arbeiters zu sein. Die Rolle des einheimischen Partners wurde jedoch durch die kapitalistischen Umstrukturierungen und die jüngsten Forderungen nach billigen Arbeitskräften teilweise untergraben. Das Überleben an sich wird schwieriger, wenn man Familienangehörige zu unterstützen hat, wenn man keine Arbeit findet oder wenn man aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit, des Geschlechts oder anderer Faktoren abgelehnt wird.

Die proletarische Klasse als Ganzes zeichnet sich nicht durch die Verrohung, Ungleichheit oder Unterdrückung aus, der ihre Mitglieder ausgesetzt sind. Diese Klasse kann auch nicht durch ein höheres oder niedrigeres Lohnniveau oder ein bestimmtes Maß an Verarmung definiert werden. Der wesentliche Charakterzug des Proletariats ist ein zweifacher: Ihm wird die Kontrolle über seine eigenen Bedingungen negiert, weshalb es im Durchschnitt, wenn nicht sogar vollständig zur Lohnarbeit gezwungen ist. Dieses sumpfige Terrain vereint die relativ gut bezahlten Computerprogrammierer der US-Städte mit den Slumbewohnern von São Paulo. Keiner von beiden hat die Kontrolle über das soziale System, das ihr Leben bestimmt; ein Marktzusammenbruch könnte schnell dazu führen, dass das Wohlergehen des einen der Verzweiflung des anderen gleicht. Beide Seiten haben also Grund, das soziale System zu zerstören, das die Existenz ihrer Funktionen ermöglicht, und auf dieser Grundlage zusammenzuarbeiten.

Die Lohnarbeit produziert Entfremdung, nicht als „Gefühl“, sondern auf der Grundlage von Beziehungen. Arbeiten heißt, tote Arbeit – die von früheren Arbeitern geschaffene Technologie und soziale Maschinerie – zu ernähren, damit potenziell neue Werte geschaffen werden können. Wenn man arbeitet, existiert man als Artikel, der einzige Artikel, der einen Wert schaffen kann. Die Angestellten, die der Dynamik des Kapitals ausgeliefert sind, streben danach, einen Teil des Mehrwerts aus den Waren für sich selbst herauszuholen – Arbeiter für sich selbst (dieser individualistische Kapitalismus kann bei dieser Aufgabe scheitern, ohne seine Hauptrolle oder seine Identität als Klasse zu ändern). Die Arbeiter, entfremdet von ihrer eigenen materiellen Schöpfung, kaufen dann mit ihrem Lohn ein paar Produkte ihrer Arbeit – „sie geben ihre Macht aus“ als kranke Karikatur des kreativen Lebens.

Die Aussage „Arbeit schafft allen Reichtum“ ist ein radikales Missverständnis von Produktion, Konsum, Tausch und Entfremdung. Die Lohnarbeit ist das Ergebnis eines allgemeinen Prozesses der Produktion von „Wert“. Das Geld, das unserer Gesellschaft als Tauschmittel auferlegt wurde, stellt die Arbeitszeit dar, die den Wert schafft; die Verbindung des Geldes mit dem Reichtum ist nicht der bestimmende Aspekt (auch wenn jeder Verkaufsgegenstand als etwas Nützliches oder als Teil des Reichtums dargestellt werden muss). Die Lohnarbeit konstruiert ein Weltprojekt, das auf dem Kapital basiert, oft im Gegensatz zu konkreten Formen des Reichtums wie der sozialen, ökologischen und sogar der toten Arbeit1, die bestimmte Akkumulations- und Effizienzniveaus nicht erfüllen. Die Lohnarbeit ist eine Folge, Fortsetzung und Erweiterung der entfremdenden Tätigkeit. Die Welt des Wertes lässt sich jedoch nicht in einer Weise messen, kontrollieren oder organisieren, die die Selbsttätigkeit und Selbstbeherrschung des Menschen ergänzt. Die Technologie, die das „Fleisch“ der Wertschöpfung ist (die sowohl als Maschinen als auch als auf eine soziale Rolle reduzierte Menschen existiert), muss zugunsten anderer Organisationsmethoden aufgegeben werden. Es ist ausschließlich das Proletariat und vielleicht die schwindende Zahl von Menschen, die von der kapitalistischen Zivilisation nicht erobert wurden, die ein wesentliches Interesse daran haben, die Welt des Wertes zu zerstören und damit ihren eigenen Wert als soziale Klasse zu untergraben. Dieses Ziel wird durch Subversion und gleichgesinnte Kommunikation erreicht, wahrscheinlich begleitet von gewalttätigen Auseinandersetzungen; dieser Prozess kann nicht treffend als „Arme gegen Reiche“ oder „Arme gegen die „Mittelklasse““ beschrieben werden (A.d.Ü., die Anführungszeichen sind von uns).

Vom Kapital entfremdet zu sein, bedeutet, an unserer eigenen Unterwerfung teilzuhaben: Es bedeutet, in einer Welt außer Kontrolle zu sein, die ebenfalls außer Kontrolle ist. Die zunehmende Demenz des gesamten sozialen Systems, die sich in einer immer schizophreneren Qualität des Alltagslebens äußert, hängt mit den jüngsten Veränderungen im Kapitalismus zusammen. Das Projekt des Postindustrialismus hat das Proletariat zunehmend aus dem Gerüst der materiellen Produktion des Systems entfernt. Was wir stattdessen produzieren, sind die Voraussetzungen für eine immer größere und schnellere fieberhafte Zirkulation von Waren.

Die scheinbar endlose Herstellung von Konsumgütern (Vertrieb und Marketing, die Schaffung einer „Aura“ um Konsumgüter herum, die erzwungene Freude und das Lächeln der Kassierer, die Kultur- und Dienstleistungsindustrie, um die ganze Scharade am Laufen zu halten) hat die Bindung von Millionen von Menschen an einen Markt und eine Ökonomie, die sie entfremdet, vertieft und gleichzeitig ihre Prekarität insgesamt erhöht. Unser Leiden an einer solchen Welt wird fälschlicherweise als ein existenzielles Problem angesehen, das wir kaum ändern können. Mit jedem neuen Problem wächst die banale „Entfremdung“, von der die Soziologen und populären Psychologen sprechen! Mehr als je zuvor stellen die Herausforderungen der Produktion die gesamte Gesellschaft in Frage und greifen die Gesamtheit der Eigenschaften und des Unbehagens an, die sich an der Klassenfront abspielen (die herrschenden Klassen können als soziale Klasse nichts gegen ihre eigenen Eigenschaften tun, außer sie zu verschlimmern und sie anderen aufzuzwingen).

In den USA (von wo ich schreibe) haben die Verzerrungen in der Ökonomie zu einer Deformierung des Klassendiskurses geführt. Vielen Proletariern wurde eingeredet, dass sie zur „Mittelklasse“ gehören, einer soziologischen Kategorie, die oft dem Mythos der „Kernfamilie und des weißen Lattenzauns“2 entspricht. Diese Fehleinschätzung stärkt die Bindung an den Kapitalismus. Mit der zunehmenden Herrschaft des Kapitals über alles und der Fähigkeit des Kapitalisten, Produktionsstätten in Gebiete mit niedrigeren Arbeitskosten zu verlagern, die durch Handelsabkommen und globale Verwaltungsorganisationen gestärkt wird, gab es in den postindustriellen Ländern einen Schub in Richtung neuer Formen der Ökonomie.

Die Verschuldung der verarbeitenden Industrie hat sich besonders stark auf die neue Ökonomie ausgewirkt und zu außerordentlich niedrigen durchschnittlichen Ersparnissen und hohen Schulden geführt. Die Fülle an Schnickschnack und Gegenständen, die man auf Kredit erwerben kann, hat jedoch – in Verbindung mit einer durch das Fernsehen verbreiteten Ideologie – einen erheblichen Einfluss darauf, wie viele US-Staatsbürger sich selbst wahrnehmen. Solange zum Sklavenlohn unweigerlich das Verhältnis von Soll- zu Ist-Einkommen hinzukommt, werden sie sich als der oben erwähnte Klassendiskurs wahrnehmen und damit jede Möglichkeit der Solidarität und kollektiver Aktionen verlieren. Die Ideologie der „Mittelschicht“ wird wahrscheinlich durch die realen Ereignisse erschüttert werden, aber sie wird in der Zwischenzeit viele Möglichkeiten für soziales Handeln einschränken.

Die Frage, die wir uns immer stellen, ist, wie wir das System bekämpfen können. Es gibt eine große Anzahl von Möglichkeiten, dies zu erreichen, von den ersten kleinen Schritten der inneren Veränderung, die eine Veränderung unseres Lebens beinhalten, bis hin zu der Art und Weise, wie wir kommunizieren und miteinander umgehen. Dies eröffnet die Möglichkeit, unsere Affinitäten zueinander zu erkunden. Wir können uns zusammentun, um die Dinge in unserer erdrückenden Umgebung zu ändern, die Kontrolle zu übernehmen und eine echte Gemeinschaft der Revolte und des Widerstands aufzubauen. Wenn wir lernen, einander zu vertrauen, erfahren wir, dass wir nicht allein sind, dass es viele Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund gibt, die mit diesem System der Unterdrückung und der Rolle, die wir bei seiner Reproduktion spielen, unzufrieden sind. Unser Ziel ist es, die Komplizenschaft zwischen allen in der Revolte zu erhöhen und die soziale Stärke zu erlangen, die notwendig ist, um dieses Herrschaftssystem zu zerschlagen. Man hat uns gesagt, dass dies niemals geschehen wird, dass die Dinge immer gleich bleiben werden und dass der kapitalistische Fortschritt unvermeidlich ist. Doch jedes Mal, wenn wir uns gegenseitig helfen, indem wir Zeit oder Waren von unseren Arbeitsplätzen stehlen, die Maschinen sabotieren, deren Sklaven wir sein sollen, in den schicken Läden „vergessen“ zu bezahlen oder einen wilden Streik organisieren, demonstrieren wir unsere Fähigkeit zur Entschlossenheit und schaffen damit Möglichkeiten.

Unsere Akte der Revolte zerschmettern gesellschaftliche Illusionen. Während wir von unten aufsteigen, entwickeln wir ein Verständnis dafür, wie die Strukturen der Macht geschaffen wurden, um sich unserer direkten Kontrolle zu entziehen. Es sind diese Strukturen und Institutionen, die wir zerstören wollen. Wir werden unsere Energie, unser Leben und unsere Sehnsüchte zurückgewinnen. Wir werden die apathischen und hoffnungslosen Gefühle ablegen, die alltäglich geworden sind. Wir werden die Zerstörung der Erde und ihrer Bewohner stoppen und Tag für Tag für den Tod (Trauermarsch) des Kapitals arbeiten. Wir können nicht länger in einer Welt leben, in der jeder greifbare Aspekt unseres Lebens auf Marktangelegenheiten reduziert wurde, in der die Wälder, unsere Lebensmittel, unser Leben nichts weiter als Waren sind, die darauf warten, für Geschäfte gehandelt und von den Massen konsumiert zu werden. Die meisten von uns wissen, dass mit der Art und Weise, wie der Kapitalismus funktioniert, etwas nicht stimmt, aber es ist schwierig, ihn zu strukturieren, ohne von dem Gefühl überwältigt zu werden, dass dieses System größer ist als wir und dass wir nichts tun können. Die gleiche Energie, die für die Aufrechterhaltung dieses Systems verwendet wird, kann jedoch auch zu seiner Zerstörung eingesetzt werden.

Dieser Text wurde von LH und DN gemeinsam verfasst. Sie ist als Teil einer laufenden Debatte gedacht. Kommentare, Kritik und Diskussionen sind erwünscht.

Kontakt: info[at]socialwar.net

Übersetzung ins Spanische von Palabras de Guerra


1A.d.Ü. aus der Übersetzung aus dem Spanischen, wir leiten daraus ab, dass der Ausdruck „tote Arbeit“ sich auf die Arbeitsplätze bezieht, die verschwunden sind, weil sie nicht den Anforderungen oder Variationen des Marktes entsprechen. Ein Beispiel dafür sind die so genannten handwerklichen Berufe. (Anmerkung von der Soligruppe für Gefangene, wenn lebendige Arbeit jene ist die Menschen verrichten, ist tote Arbeit das Werkzeug (Hammer, Schrauben, PC, usw.) was ein Mensch dafür benötigt, so zumindest nach der Auffassung von Marx)

2A.d.Ü., gemeint sind die Weißen die in den USA in den Vorstädten leben.

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Über das staatsbürgerliche Elend und den Klassenkampf https://panopticon.blackblogs.org/2022/10/29/uber-das-staatsburgerliche-elend-und-den-klassenkampf/ Sat, 29 Oct 2022 10:37:59 +0000 https://panopticon.noblogs.org/?p=3481 Continue reading ]]> Gefunden auf materiales x la emancipación, die Übersetzung ist von uns. Bei den folgenden Artikeln liegt, unter anderem, der Schwerpunkt auf die Debatte/Kritik der modernen Figur des sogenannten Staatsbürgers, bzw. der Ideologie dahinter, als Ersatz zu der Klassenkonfrontation, zu der wir auf Deutsch noch keinen passenden Begriff gefunden haben – man könnte den der Staatsbürgerschaft verwenden – zumindest im Gegensatz zu anderen Sprachen (Citizen und Citizenship (Englisch), Ciudadano und Ciudadanismo (Spanisch) und Citoyen und Citoyenneté (Französisch). Weitere Texte zu der Thematik finden sich hier, Textreihe Kritik an der Linken des Kapitalismus und hier Staatsbürgerschaft. Hiermit fahren wir mit der Kritik an den Staatsbürgertum/Staatsbürgerschaft fort und der unumgänglichen Notwendigkeit die Konfrontation im Kapitalismus als eine zwischen Klassen zu verstehen.

Über das staatsbürgerliche Elend und den Klassenkampf

Am 4. Februar, 2015 veröffentlicht.

Der folgende Beitrag wurde uns von einem Gefährten zur aufmerksamen Lektüre, Analyse und Verbreitung zugesandt…(Materiales x la emancipación)

„Die soziale Revolution wird das Werk der Unterdrückten sein, von ihnen selbst und für sie selbst, oder sie wird nicht sein.“

Der Kapitalismus ist das zerstörerischste, brutalste und unmenschlichste aller Systeme von Klassengesellschaften, von allen, in denen Beziehungen zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutern bestanden haben. Es ist auch das am weitesten entwickelte und entfremdendste System von allen, dasselbe System, das einigen wenigen Reichtum auf Kosten der Verweigerung des Lebens und des Elends der Mehrheit bietet. Wir halten diese Bestätigung nicht deshalb für wahr, weil sie die Idee eines Denkers ist, sondern weil sie die konkrete Realität ist, und diese spiegelt sich vor allem in der rauen und grausamen Realität der enteigneten und entfremdeten Proletarier wider, derjenigen, die nicht anders können, als sich als Arbeiter frei zu verkaufen, sei es geistig oder körperlich, oder noch drastischer, indem sie bettelnd in der Vagabundiererei überleben, oder sogar das fatale Schicksal des Verhungerns erleiden.

Daraus wird ersichtlich, dass die Hegemonie des kapitalistischen Staates nur mit Gewalt durchgesetzt werden kann, was eine totale Zerstörung bedeutet, die sich einerseits in der Negation des menschlichen Lebens und andererseits in der Zerstörung der Natur und all dessen, was sie bietet, manifestiert: Land, Seen, Flüsse, Berge, Wälder, Tiere werden nur als wertvolle Ressourcen betrachtet, Ressourcen, aus denen man Profit herausziehen kann, Profit machen kann, Geschäfte machen kann. Infolgedessen erhalten die Vertreter dieses Systems der Zerstörung den „Frieden“ (Befriedung der merkantilen Ordnung) um den Preis des Krieges aufrecht. Im gleichen Sinne ist der Fortschritt der Fortschritt des Kapitals, der Welt der Waren, die sich entwickelt, sich vervollkommnet, ihre Absatzwege erweitert, um mehr Profit zu machen.

Wir können also feststellen, dass die Zukunft dieses Systems der modernen Sklaverei nur in dem Maße erhalten bleibt, in dem die merkantile Normalität ihren Lauf nimmt, in dem Maße, in dem der Lohnsklave die Regeln respektiert, die ihn in eben diesem Zustand halten. Solange die Unterdrückten aller Generationen die Wurzel ihrer Probleme nicht erkennen und versuchen, sie in demselben Topf zu lösen, der sie hervorbringt, oder in den formalen, gesetzlichen Rahmen, der gerade von der Bourgeoisie gebildet wird, der antagonistischen Klasse, die sie zu einem einfachen Mittel der Wertproduktion degradiert hat, oder die sie durch die reformistische Ideologie zu der Überzeugung gebracht hat, dass der Kapitalismus verbessert und für alle gleicher werden kann, während im Wesen des Kapitals die Barbarei und die Verurteilung des Proletariers zur Aufrechterhaltung seines Sklavenstatus liegt.

All das gegenwärtige und vergangene Grauen ist nicht von der alltäglichen Normalität isoliert, im gegenwärtigen System haben sich die Formen der Beherrschung verschärft, so wie die Technologie in einem Tempo voranschreitet, das die Intelligenz des Menschen nie geahnt hat, so verallgemeinert sich auch die Barbarei, mit der sich dieses System Tag für Tag behauptet, Die Gewalt, die durch die Routine dieser menschlichen Beziehungen auferlegt wird, wird zur Normalität, gerade weil diese technologische Entwicklung keineswegs im Gegensatz zur Entwicklung des Kapitalismus und damit zu dessen Barbarei steht, sondern weil Wissenschaft und Technologie Produkte derselben Herrschaftsverhältnisse sind.

Die Demokratie ist die nahezu perfekte Regierungsform, die aus dem kapitalistischen System selbst hervorgegangen ist, die Demokratie stellt sich nicht gegen die Herrschaft der einen über die anderen, sondern bestätigt sie, und gerade in der Institutionalisierung des Lebens werden die Regeln für die Reproduktion der Marktgesellschaft aufgestellt und festgelegt. Die demokratische Gewalt ist in den Gesetzen der Ordnung und im Rahmen der Justiz legalisiert. Aber alle diese geregelten und eingerichteten Apparate sind nichts anderes als die Kanäle, durch die sich die Herrschaft der Welt des Geldes ausdrückt, die Demokratie ist nicht das unerfüllte und unerreichte Paradies des Proletariats, sie ist auch nicht das Ideal einer nahezu perfekten Menschheit, sondern sie ist die realisierte und materialisierte Folge der kapitalistischen Diktatur.

Das Proletariat wird scheitern, solange es für Interessen kämpft, die ihm nicht entsprechen, solange es das Gesetz respektiert, das dasselbe Gesetz ist, das sein Elend regelt, solange es weiterhin an die Verfassung glaubt, die dieselbe ist, die die Macht des Status quo verewigt und bekräftigt. Deshalb betonen die Vertreter der Bourgeoisie stets, dass die Sicherung des Vaterlandes und des sozialen Friedens um jeden Preis Vorrang haben. Wie kommt es dann, dass sie selbst am meisten an der Achtung von Recht, Ordnung, Legalität und Demokratie interessiert sind? Denn diese zivilen und staatsbürgerlichen Regelungen beinhalten die gleiche Kontinuität der Beziehungen zwischen den Unterdrückten (Proletariern) und den Unterdrückern (Bourgeoisie).

Der Klassenkampf ist nicht die Laune einiger weniger Rebellen, er ist auch nicht der Kampf der „Ärmsten“ gegen die „Reichsten“, sondern er ist die Folge des gesellschaftlichen Verhältnisses, das durch die Kraft eines deutlich ausgeprägten Antagonismus zwischen den Bourgeois bestimmt wird, die den Proletarier nicht nur am Arbeitsplatz, sondern in der ganzen Welt versklavt halten, entfremdet nach merkantilen und bourgeoisen Vorstellungen. Der Klassenkampf ist daher die logische Folge dieses Systems der Kräftespannung, in dem jeder Moment mit möglichen Rebellionen und direkten Konfrontationen aufgeladen ist, so dass es zu Brüchen und Zusammenstößen kommt, die manchmal flüchtig und „isoliert“ und manchmal verallgemeinert und von langer Dauer sind. Streiks, Streikposten, Sabotage, Enteignung, all das sind Ausdruck dieser Brüche, die periodisch auftreten und unter den Bedingungen der Krise das kapitalistische System in den Niedergang treiben, so dass die Rebellionen stärker werden und sich zu Revolutionen entwickeln, in denen alle Bande, die den Klassenantagonismus vernebelt hielten, zerreißen und Wege zur Emanzipation und zur Wiederaneignung des Lebens über den Wert des Geldes und des Kapitals eröffnen.

Darüber hinaus muss klar sein, dass der Kapitalismus global ist und sich nicht auf eine Nation oder auf bestimmte Teile bestimmter Kontinente beschränkt, sondern dass sich der Kapitalismus von seiner Entstehung an durch den Austausch über die ganze Welt ausgebreitet hat. So können wir sicher sein, dass das, was wir als Terror, Elend, Hunger, Unterdrückung und Tod sehen, nichts anderes ist als die Macht des Kapitalismus, die sich hier in Mexiko, in Palästina, in Haiti, in Griechenland und so weiter durchsetzt. Das bedeutet, dass die Regierungen nur diejenigen sind, die den politischen Teil dieses Systems verwalten, es geht nicht um schlechte Verwaltungen oder die Unfähigkeit dieses oder jenes Politikers (obwohl es diese gibt), es geht nicht um die Korruption der Institutionen, noch um diejenigen, die sie betreiben, denn die Verdorbenheit von allem, was existiert, liegt in seiner Grundlage, von der sie ausgehen, nämlich dem kapitalistischen System und seinem Staat (politisch-militärischer Apparat), der das „gute“ Funktionieren des hegemonialen Systems verwaltet.

Und was ist mit dem Staatsbürger?

Während das Proletariat und die Bourgeoisie das Produkt der kapitalistischen Verhältnisse sind, ist der Staatsbürger ein ideologisches Gebot, das vom bourgeoisen Recht erfunden wurde, um die im kapitalistischen System bestehenden Ausbeutungsverhältnisse zu verschleiern, aber er ist auch eine Folge des Sieges der Demokratie, der Staatsbürger ist weder bourgeois noch proletarisch (nicht weil diese Verhältnisse verschwinden, sondern weil der Staatsbürger eine Person a-klassistishe Persone ist)1, er ist das institutionalisierte Individuum in Übereinstimmung mit den Bedürfnissen des Marktes, denn wie wir wissen, werden die Herrschenden immer leugnen, dass es soziale Klassen gibt, und noch mehr, dass sie sich im Kampf befinden.

Der Staatsbürger ist also derjenige, der von einer ganzen Politik beherrscht wird, die sein Leben verwaltet, der Staatsbürger hat Rechte und Pflichten, der Staatsbürger ist frei, frei, sich an denjenigen zu verkaufen, der ihn am besten bezahlt, frei, seine Herrscher zu wählen, frei, das zu kaufen, was er will, und natürlich für das, was er sich leisten kann, und in dieser gleichen Freiheit, der Staatsbürger ist auch ein freier Eigentümer, ein freier Händler, und angesichts dessen entstehen die Gesetze, die all diese Beziehungen des Zusammenlebens und der merkantilen Atomisierung, des Schutzes des Privateigentums und der Beziehungen zwischen getrennten Individuen, die als getrennte Interessen zusammenkommen, bewahren müssen. Hier erfüllt das bourgeoise Recht seine Funktion perfekt, denn „die Freiheit des einen endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt“.

Der Staatsbürger hat das Recht zu demonstrieren, wenn ihm etwas nicht gefällt oder wenn er sich entrüstet fühlt, der Staatsbürger hat die Freiheit, seinen Ärger auszudrücken und denjenigen zu verklagen, der seiner Meinung nach sein Unbehagen provoziert hat. Aber genau in dieser Bedingung der Staatsbürgerschaft liegt ihr ganzes Elend, denn die Freiheiten, die Rechte, die ihnen zugestanden wurden, können nur durch die Institutionen, im Rahmen des Gesetzes, der Legalität und der Verfassung erfüllt werden. Aber die Institutionen und das Recht reagieren, wie wir gesehen haben, auf den Schutz der Herrschaftsverhältnisse; die Institutionen werden in erster Linie das Privateigentum, den Reichtum, das Geschäft, den Profit, die Ausbeutungsverhältnisse usw. schützen. Das Gesetz ist natürlich nichts anderes als das Gesetz des Kapitalismus, dasselbe Gesetz, das die Vertreibung ganzer Bevölkerungen zulässt und sie ihrer Wohnstätten und Lebensgrundlagen beraubt, weil es rechtmäßig Konzessionen an Bergbauunternehmen, an Geschäftsleute, die mehr Profit machen werden als die Proletarier, die nichts wert sind, vergeben hat.

Der Fortschritt ist eine weitere Grundlage des Kapitalismus: Fortschritt, ökonomisches Wachstum, Öffnung der Märkte, das ist alles, was der verdammten Bourgeoisie wichtig ist, egal, ob es das Leben „einiger Proletarier“ kostet, wenn sie für diesen Fortschritt mehr Infrastruktur bauen muss, wird sie es legal oder nicht tun, indem sie Millionen investiert, um mega-moderne Flughäfen, Autobahnen zu bauen, Häfen zu öffnen, alles, um mehr Tourismus, mehr Wohlstand, mehr Kapital anzuziehen.

Der Staatsbürger, der Recht und Ordnung respektiert, der friedliche Staatsbürger, der seine Rechte einfordert, wenn sie verletzt werden, und dies im Rahmen des Gesetzes und der Meinungsfreiheit tut, bestätigt nichts anderes als diese Herrschaft, er preist nur das Elend und den Tod, die das herrschende System verbreitet. Der Staatsbürger, der mit allen „Rechten“ auf die Straße geht, ist derselbe, der Massaker wie Acteal oder Ayotzinapa gutheißt, der es zulässt, dass soziale Kämpfer inhaftiert werden, und der jeden unterdrückt, der die Befriedung der merkantilen Welt nicht respektiert und befolgt. Der Staatsbürger ist der perfekte Sklave der Demokratie, die die Diktatur des Kapitalismus ist. Und das Proletariat, d.h. die ausgebeutete Klasse, kann ihre Rolle als Staatsbürger weder folgen noch sie respektieren, denn wie wir bereits gesehen haben, ist der Staatsbürger ein Produkt der Bourgeoisie, eine Marionette, die von den Unterdrückern gut akzeptiert wird, um ihr Herrschaftssystem zu jeder Zeit aufrechtzuerhalten, sowohl materiell als auch ideologisch. Das Proletariat muss außerhalb und gegen die Legalität kämpfen, außerhalb der bourgeoisen Justiz, außerhalb und gegen die Institutionen, die die „Justiz“ des Kapitalismus verwalten und regeln.

Deshalb behaupten wir, dass es für die Emanzipation unserer Klasse und den Aufbau des Kommunismus nicht notwendig ist, irgendetwas von denen zu verlangen, die das System des Todes verwalten, ihre Gesetze, ihre Länder und ihre Verfassungen verdienen keinen Respekt, wir Proletarier haben kein Vaterland, wir sind überall auf der Welt und so müssen wir kämpfen, international, organisiert als Klasse.

-Während der Staatsbürger mit Blumen marschiert und Gerechtigkeit, Gerechtigkeit schreit! Lächelt der Bourgeois und beglückwünscht die braven Demonstranten, aber auf der anderen Seite steht der revolutionäre Proletarier, der „Tod dem Staat und dem Kapital“ schreit, und dann befiehlt der Bourgeois die Repression der Revoltierenden, die sich nicht an Recht und Ordnung halten.

Für den proletarischen Kampf, außerhalb und gegen die bourgeoise Legalität!

Für die Abschaffung von Staat und Kapital!

Für Kommunismus und Anarchie!

Anonimx (Anonym)


1A.d.Ü., was mit a-klassistisch gemeint ist, ist dass der Staatsbürger außerhalb der Klassen steht.

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Die libertäre Kritik an der Linken des Kapitalismus https://panopticon.blackblogs.org/2022/06/06/die-libertare-kritik-an-der-linken-des-kapitalismus/ Mon, 06 Jun 2022 08:28:01 +0000 https://panopticon.noblogs.org/?p=2660 Continue reading ]]> Zu der Textreihe und Auseinandersetzung zum Thema der Linken des Kapitals und warum jegliche revolutionäre Bewegung nicht in den Links/Rechts Schemata passt, warum wir als Anarchisten und Anarchistinnen gegen alle Fraktionen des Kapitals kämpfen, ganz voran jene die sich als radikal und revolutionär bezeichnen, hier ein weiterer Text dazu, wenn auch nicht der beste, geben wir gerne zu, der aber einige wichtige Punkte hervorhebt, vor allem in Dato der Debatte der Figur des Staatsbürgers (Citizenship, Ciudadanismo, etc.).

Miquel Amorós

Die libertäre Kritik an der Linken des Kapitalismus

Vortrag in der Cimade, Béziers (Frankreich), 29. Januar 2016.

Das Kapital hat die Welt proletarisiert und gleichzeitig die Klassen sichtbar unterdrückt. Wenn die Antagonismen integriert sind, wenn es keinen Klassenkampf gibt, dann gibt es auch keine Klassen. Und es gibt keine Gewerkschaften/Syndikate im eigentlichen Sinne des Begriffes. Wenn nämlich der Skandal der sozialen Trennung zwischen Habenden und Habenichtsen, zwischen Herrschenden und Beherrschten, zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten nicht mehr die Hauptquelle des Konflikts ist und die Kämpfe innerhalb des Systems stattfinden, ohne es in Frage zu stellen, gibt es keine Klassen im Kampf, sondern treibende Massen. Die Gewerkschaften/Syndikate, das Skelett einer aufgelösten Klasse, verfolgen ein anderes Ziel: die Aufrechterhaltung der Fiktion eines Arbeitsmarktes. Der Arbeiter ist die Grundlage des Kapitals, nicht seine Negation. Dieser übernimmt jede Tätigkeit und sein Prinzip strukturiert die gesamte Gesellschaft: Er verwirklicht die Arbeit, er verwandelt die Welt in eine Welt der Arbeiter. Das Ende einer separaten Arbeiterklasse, die außerhalb des Kapitals steht und sich diesem entgegenstellt, sowie die Verallgemeinerung der Lohnarbeit. Im Inneren gibt es nur eine lohnabhängige Masse, die allerdings nicht einheitlich, sondern fragmentiert ist: Jedes Fragment nimmt eine Stufe in der sozialen Hierarchie im Verhältnis zu seinem Kaufkraftniveau ein. Draußen: eine ausgegrenzte und vertriebene Masse, die um ihre Wiedereingliederung kämpft. Jede Schicht wird durch ihre Konsumkapazität definiert. Die Mittelschichten (middle class), das quantitative Ergebnis der Verschleierung sozialer Antagonismen, werden unter Umgehung der ehemaligen petite Bourgeoisie durch die mit unproduktiver Arbeit verbundenen Schichten qualifizierter Lohnempfänger verstärkt. Sie wurden mit der Rationalisierung und Bürokratisierung des kapitalistischen Systems geboren, um sich dank der fortschreitenden Tertiarisierung der Ökonomie (und der Technologie, die dies ermöglichte) zu entwickeln. Sie existieren als eine Ansammlung von Führungskräften, Angestellten und Beamten inmitten einer Marktgesellschaft. Wenn die Ökonomie funktioniert, sind sie alle Pragmatiker, dann Anhänger en bloc der etablierten Ordnung, d.h. der Parteitokratie. Als Parteitokratie bezeichnen wir das politische Regime, das in der Regel vom Kapitalismus übernommen wird. Es ist die autoritäre Herrschaft der Parteiführungen (ohne Gewaltenteilung), die moderne Form einer Oligarchie, die die Bildung einer autonomen Bürokratie mit eigenen Interessen und Klientel mit sich bringt, die die Politik zu ihrem Modus vivendi gemacht hat. Mehr noch als die Bourgeoisie sehen die Mittelschichten den Staat als Vermittler zwischen der Marktvernunft und der Zivilgesellschaft, oder besser gesagt, zwischen privaten Interessen und ihren privaten Interessen, die als öffentlich dargestellt werden. Und gerade die Trennung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten führte zur Entstehung der administrativ-politischen Bürokratie, die ein wesentlicher Bestandteil des Mittelstandes ist. Der parteikratische Staat bestimmt in gewisser Weise seine private Existenz. Unter günstigen Bedingungen, die eine konsumorientierte Lebensweise ermöglichen, sind diese Klassen nicht politisiert; es ist die Krise des so genannten Wohlfahrtsstaates, die ihre Politisierung bestimmt. Die aus der Krise hervorgegangenen Parteien sprechen dann im Namen der gesamten Gesellschaft und werden als deren authentischste Vertretung angesehen.

Wir befinden uns in einer Krise, die nicht nur ökonomischer, sondern umfassender Natur ist: Es ist die Krise des Kapitalismus. Sie manifestiert sich sowohl auf struktureller Ebene in der Unmöglichkeit eines ausreichenden Wachstums als auch auf territorialer Ebene in den zerstörerischen Auswirkungen einer generalisierten Industrialisierung. Die Folgen sind die Vervielfachung von Ungleichheiten, Ausgrenzung, Umweltverschmutzung, Klimawandel, Austeritätspolitik und verstärkte soziale Kontrolle. In der Phase der Globalisierung (in der es keine Arbeiterklasse mehr gibt) kommt es zu einer sehr sichtbaren Trennung zwischen den Profis der Politik und den Massen, die darunter leiden. Der Abstand wiegt schwerer, wenn die Krise die Mittelschichten, die unterwürfige Basis der Parteitokratie, erreicht und verarmt. Die Krise, die nur unter ihrem politischen Aspekt betrachtet wird, ist eine Krise des traditionellen Parteiensystems und natürlich auch des Zweiparteiensystems. Korruption, Vetternwirtschaft, Amtspflichtverletzungen/Rechtsbeugungen, Verschwendung und Veruntreuung öffentlicher Gelder werden erst dann zum Skandal, wenn Arbeitslosigkeit, Sparmaßnahmen, Lohnkürzungen und Steuererhöhungen diese Schichten erreichen. Dann reichen die alten Parteien nicht mehr aus, um die Stabilität der Parteiokratie zu gewährleisten. In den südeuropäischen Ländern spiegelt die Ideologie der Staatsbürgerschaft1 perfekt ihre abweisende Reaktion wider. Im Gegensatz zum alten Proletariat, das die Frage in sozialer Weise stellte, stellt die Staatsbürgerschaft die Frage ausschließlich in politischer Weise. Daher müssen sie auf die herrschende Sprache, dass der Herrschaft, zurückgreifen, wobei sie vorzugsweise das fortschrittliche und demokratische Vokabular verwenden, das ihrem geistigen Universum am besten entspricht. Die staatsbürgerlichen Parteien sprechen im Namen einer universellen Klasse, die nicht das Proletariat, sondern die Staatsbürgerschaft ist und deren Aufgabe nur darin besteht, eine Demokratie zu korrigieren die von schlechter Qualität ist. Sie betrachten die Demokratie, d.h. das parlamentarische Parteiensystem, als ein kategorisches Imperativ. Die Staatsbürgerschaft ist ein legitimierender Demokratismus, der den bourgeoisen Liberalismus von gestern Klischee für Klischee reproduziert und mit viel verbaler Prahlerei versucht, ihn nach links zu schieben. Vergessen wir nicht, dass ein großer Teil der Gründungsmitglieder der neuen Parteien aus dem Stalinismus und der Linken stammt, für die die neuen demokratischen Werte nichts anderes sind als die Umwandlung alter Avantgarde-Lieder, die wirklich den Geist aufgegeben haben. Formal gesehen befindet sie sich also auf der linken Seite des Systems. Sie ist die Linke des Kapitalismus.

Die meisten der neuen Parteien und Bündnisse, die hauptsächlich von Lehrern und Anwälten angeführt werden, die sich von der Umkehrung der konventionellen lateinamerikanischen Linken inspirieren lassen oder, anders gesagt, die Institutionen als Schlüsselarena für einen befreienden Wandel identifizieren, versuchen in Wirklichkeit, eine schlechte bürokratische Kaste durch eine gute zu ersetzen, indem sie gemäßigte Wähler auf der linken oder rechten Seite zurückgewinnen, was dem europäischen Neostalinismus und der Linken immer misslungen ist. Sie streben die Rolle einer neuen Sozialdemokratie an, die entweder konstitutionalistisch oder separatistisch ist2. Die staatsbürgerliche Revolution beginnt und endet an der Wahlurne, so dass Wahl-, Rechts- oder Verfassungsreformen (die Transformation des Regimes von 1978) von den Ergebnissen und den parlamentarischen Kombinationen abhängen. Es gilt, neue politische Mehrheiten zu finden oder, wie man sagt, die Regierbarkeit zu sichern, denn niemand will einen sozialen Bruch, selbst um den Preis, ihn durch einen nationalen Bruch abzuwenden. Die Demobilisierung, der Opportunismus und die rasche Bürokratisierung, die auf die verschiedenen Kampagnen folgten, zeigen dies: Aus den Agitatoren von einst werden schnell verantwortliche Verwalter. Die Linke des Kapitals hat erkannt, dass der Staat für den Kapitalismus unverzichtbar ist und dass diese Abhängigkeit in Zeiten ökonomischer Expansion eine Sozialpolitik ermöglicht: vom Neo-Keynesianismus bis hin zu neoliberalen Praktiken, die staatliche Unterstützung erfordern. Wir stehen vor der Renaissance des Nationalstaates: ein Sozialstaat, der im Rahmen eines Europas der Märkte vorgibt, souverän zu sein. Die Verteidigung des Staates ist die oberste Priorität der Staatsbürgerschaft, daher ihre Strategie der Erstürmung der Institutionen, ein lächerlicher Ersatz für die leninistische Machtergreifung, die sich vor allem auf konformistische, von den üblichen Parteien enttäuschte Wähler und subsidiär auf manipulierte soziale Bewegungen stützt. Auch wenn die Krise nicht überwunden werden kann, da es sich nach Ansicht der Experten um eine „Depression von langer Dauer und globaler Tragweite“ handelt, will der Wiederaufbau des Staates als Helfer und Vermittler zeigen, dass es möglich ist, von links für die Märkte zu arbeiten.

Kurz gesagt, es geht nicht darum, die Gesellschaft zu verändern, sondern darum, den Kapitalismus – innerhalb oder außerhalb der Eurozone – mit den geringstmöglichen Kosten und Repressionen für die Mittelschichten zu verwalten. Aufzeigen, dass ein alternativer Weg der kapitalistischen Akkumulation möglich ist und dass die Rettung der Menschen genauso wichtig ist wie die Rettung der Banken, d.h. dass die Opferung dieser Klassen nicht nur notwendig ist, sondern dass es ohne sie keine Entwicklung und Globalisierung geben wird. Das Ziel ist die Steigerung des Konsums der Bevölkerung, nicht die Umgestaltung der Produktions- und Finanzstruktur. Daher wird an Effizienz und Realismus appelliert, nicht an abrupte Veränderungen und Revolutionen. Dialog, Abstimmung und Pakte sind die Waffen der Staatsbürger, nicht Mobilisierungen oder Generalstreiks. Direkter Dialog mit der Macht, virtueller Dialog mit den bereits erwähnten „Menschen“. Die Mittelschicht ist vor allem eine gewaltlose und informatisierte Klasse: Ihre Identität wird durch Angst und das Netz bestimmt. In ihrem reinen Zustand, d.h. unbeeinflusst von Schichten, die für Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit durchlässiger sind, wie verschuldete Bauern, deklassierte Arbeiter und der Lumpenpöbel, wollen sie nichts anderes als eine ruhige und langsame Veränderung in dieselbe Richtung von innen heraus. Andererseits müssen sich die Staatsbürgerparteien in diesen Zeiten der ökonomischen Umstellung/Umstrukturierung, des Extraktivismus und der Austerität mit symbolischen institutionellen Handlungen begnügen, da ihre Fähigkeit, soziale Probleme zu lösen, sehr begrenzt ist. Sie sind abhängig von der globalen Situation, vom Markt, und dieser ist nicht vorteilhaft für sie und wird es wahrscheinlich auch in Zukunft nicht sein. Kurz gesagt, ihre Position vor den Kameras muss ihre Erfolglosigkeit verbergen, je länger desto besser, in der Erwartung oder besser gesagt in der Angst, dass sich andere Kräfte bilden, die mehr in die eine Richtung (ein viel härterer Totalitarismus) oder in eine andere Richtung (Revolution) gehen.

Der Kapitalismus ist im Niedergang begriffen, aber sein Niedergang wird nicht überall in gleicher Weise wahrgenommen. Es wurde nicht berücksichtigt, dass die Krise vielfältig ist: finanziell, demografisch, urban, ökologisch und sozial. Es wird auch nicht berücksichtigt, dass die Kriege in den Peripherien durch die kapitalistische Globalisierung verursacht werden. In Südeuropa wird die Krise als eine ökonomische Bedrohung und als ein politisches Problem interpretiert. Im Norden wird sie eher als muslimische Invasion und terroristische Bedrohung, d.h. als Grenz- und Sicherheitsproblem gesehen. Es hängt alles von der Hautfarbe, der Nationalität und der Religion der armen Arbeiter ab. Die internationale Arbeitsteilung führt dazu, dass sich die Finanzaktivitäten auf den Norden konzentrieren und der Süden zu einem großen Wohn- und Tourismusgebiet degradiert wird. Deshalb ist der Süden mehrheitlich pro-europäisch und gegen Austerität, während der Norden das Gegenteil ist. Die mesokratische Reaktion ist widersprüchlich, da einerseits die Illusion von Reformen und Offenheit vorherrscht, andererseits aber die blasenindustrielle Lebensweise und die Notwendigkeit einer absoluten Kontrolle der Bevölkerung durchgesetzt wird, was einen Ausnahmezustand „zur Verteidigung der Demokratie“ bedeutet. Dieselben Klassen wählen an einem Ort die Staatsbürgerschaft und an einem anderen die extreme Rechte. Die Libertären müssen diesen Zustand anprangern, indem sie versuchen, autonome Protestbewegungen auf dem zu verteidigenden sozialen und alltäglichen Terrain aufzubauen. Die Stimmenthaltung ist ein erster Schritt zur Abspaltung vom System. Die politische Perspektive kann durch einen radikalen Wandel – oder vielmehr eine Rückkehr zu den Anfängen – in der Art zu handeln und zu leben überwunden werden, indem man sich auf die außermarktlichen Beziehungen stützt, die der Kapitalismus nicht zerstören konnte oder deren Erinnerung er nicht ausgelöscht hat. Die Kritik des postmodernen bourgeoisen Weltbildes ist dringender denn je, denn es ist undenkbar, dem Kapitalismus mit einem Bewusstsein zu entkommen, das von den Werten seiner Herrschaft kolonisiert ist. Die notwendige Dekulturation (Deentfremdung), die alle Schrank-Identitäten zerstört, die uns das System anbietet, muss den Parlamentarismus, den Staat, die Idee des Fortschritts, den Entwicklungsprozess3, das Spektakel ernsthaft in Frage stellen… aber nicht, um „antifaschistische“ Versionen von all dem anzubieten. Es geht auch nicht darum, eine einzige Theorie mit Antworten und Formeln für alles zu entwickeln, eine Art modernen Professorensozialismus, oder eine Entelechie (starkes Volk, proletarische Klasse, Nation) zu schmieden, die ein erzmilitantes und avantgardistisches Organisationsmodell rechtfertigt, oder buchstäblich in die Vergangenheit zurückzukehren, sondern, so betonen wir, es geht darum, aus dem geistigen und materiellen Universum des Kapitalismus herauszutreten, indem man sich vom historischen Beispiel nicht-kapitalistischer geselliger Erfahrungen inspirieren lässt. Revolutionäre Arbeit hat viel mit Restaurierung zu tun.

Es stimmt, dass die antikapitalistischen Kämpfe noch schwach sind und oft rekuperiert werden, aber wenn sie standhaft bleiben und über die lokale Ebene hinausgehen, können sie sich weit genug ausbreiten, um die institutionelle Art und Weise zusammen mit der sklavischen Lebensweise, die sie stützt, zu stürzen. Die Krise ist immer noch nur eine halbe Krise. Das System ist an seine internen Grenzen gestoßen ( ökonomische Stagnation, Kreditbeschränkungen, unzureichende Akkumulation, sinkende Profitrate), aber nicht genug an seine externen Grenzen (Energie, Ökologie, Kultur, Soziales). Was wir brauchen, ist eine tiefere Krise, die die Dynamik des Zerfalls beschleunigt, das System unrentabel macht und neue Kräfte antreibt, die in der Lage sind, das soziale Gefüge auf geschwisterliche Weise nach nicht-marktökonomischen Regeln neu zu gestalten (wie in Griechenland) und eine wirksame Verteidigung zu artikulieren (wie in Rojava). Die Krise selbst führt jedoch zum Ruin und nicht zur Befreiung, es sei denn, die Ausgrenzung erfolgt in Würde und die Kräfte konzentrieren sich ausreichend außerhalb der Institutionen. Die gegenwärtige Strategie der Revolution (die Nutzung von Ausgrenzung und Kämpfen für ein höheres Ziel) muss – sowohl im täglichen Aufbau von Alternativen als auch im täglichen Kampf – auf die Aushöhlung jeglicher institutioneller Autorität, die Verschärfung der Gegensätze und die Bildung einer verwurzelten, autonomen, bewussten und kämpferischen Gemeinschaft abzielen, die ihre Verteidigungsmittel bereithält.

Libertäre wollen nicht in einem unmenschlichen Kapitalismus mit demokratischem Anstrich überleben und noch weniger in einer Diktatur im Namen der Freiheit. Sie verfolgen keine anderen Ziele als die der rebellischen Massen, daher sollten sie sich weder in noch außerhalb von Kämpfen organisieren. Sie erkennen als Grundprinzip der Gesellschaft weder einen Gesellschaftsvertrag noch den Kampf aller gegen alle an, noch gründen sie sie auf Tradition, Fortschritt, Religion, Nation oder Natur. Der libertäre Kommunismus ist ein soziales System, das sich durch gemeinschaftliches Eigentum auszeichnet und durch Solidarität oder gegenseitige Hilfe als wesentlichen Zusammenhang strukturiert ist. Hier verliert die Arbeit – kollektiv oder individuell – niemals ihre natürliche Form zugunsten einer abstrakten und phantomhaften Form. Technologien werden so lange akzeptiert, wie sie das egalitäre und solidarische Funktionieren der Gesellschaft nicht beeinträchtigen. Stabilität kommt vor Wachstum und territoriales Gleichgewicht vor Produktion. Die Beziehungen zwischen den Individuen sind immer direkt und nicht durch Waren vermittelt, so dass alle Institutionen, die sich aus ihnen ableiten, gleichermaßen direkt sind, sowohl in Bezug auf die Form als auch den Inhalt. Institutionen gehen von der Gesellschaft aus und sind nicht von ihr getrennt. Es ist Zeit für eine neue historische Gesellschaft, frei von entfremdenden Vermittlungen und Fesseln, ohne darüber schwebende Institutionen, ohne Arbeitsmarkt, ohne Markt und ohne Lohnabhängige. Das Proletariat gibt es im Kapitalismus nur aufgrund der Trennung zwischen manueller und intellektueller Arbeit. Das Gleiche gilt für die Ballungsräume, die das Ergebnis der absurden Trennung zwischen Stadt und Land sind. Eine selbstverwaltete Gesellschaft braucht keine Angestellten und Beamten, weil das Öffentliche nicht vom Privaten getrennt ist. Sie muss die Komplikationen beiseite lassen und sich selbst vereinfachen. Eine freie Gesellschaft ist eine geschwisterliche, horizontale und ausgewogene Gesellschaft, die entstaatlicht, entindustrialisiert, enturbanisiert und antipatriarchalisch ist. In ihr gewinnt das Territorium seine verlorene Bedeutung zurück, denn im Gegensatz zur heutigen Gesellschaft wird es eine Gesellschaft mit Wurzeln sein.


1A.d.Ü., es ist die Rede über ciudadanismo, eine Ideologie die denGlaube, dass die Demokratie in der Lage ist, dem Kapitalismus etwas entgegenzusetzen“ verbreitet, mehr dazu „Staatsbürgerschaft“ Ad-hoc-Ideologie der verallgemeinerten Bourgeoisie.

2A.d.Ü., was der Autor hier meint sind jene politischen Kräfte im spanischen Staat die entweder an diesen halten, oder die Unabhängigkeit einer Region, Land vom spanischen Staat anstreben, wie der Fall der Baskischen Länder (Euskal Herria), der Katalanischen Ländern (Països Catalans), Galizien und weitere.

3A.d.Ü., hier ist die Rede über desarrollismo, einer Ideologie die die ewige ökonomische Entwicklung/Aufschwung verfolgt, was in einer Welt mit endlichen Ressourcen unmöglich ist. Die Kritik gewisser reformistischer Strömungen nennt man daher anti-desarrollismo, die eine ökonomische Entwicklung verfolgt, die nicht stetig wächst, aber nicht das Problem der Ökonomie als solche angreift, oder diese in Frage stellt.

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„Staatsbürgerschaft“ Ad-hoc-Ideologie der verallgemeinerten Bourgeoisie. https://panopticon.blackblogs.org/2021/02/18/staatsbuergerschaft-ad-hoc-ideologie-der-verallgemeinerten-bourgeoisie/ Thu, 18 Feb 2021 11:57:15 +0000 http://panopticon.blackblogs.org/?p=2045 Continue reading ]]> Gefunden auf Cultura y Anarquismo, die Übersetzung ist von uns.

In verschiedenen Ländern und auf diversen Sprachen findet seit Jahren eine Debatte und Auseinandersetzung statt, die sich mit dem Konzept und der Ideologie des Staatsbürgers und der Staatsbürgerschaft kritisch auseinandersetzt. Von Anfang an haben wir uns schwer getan dieser Debatte einen angemessenen richtigen Namen zu geben. Wie wir sehen können, sind auf anderen Sprachen Ähnlichkeiten – Citizen und Citizenship (Englisch), Ciudadano und Ciudadanismo (Spanisch) und Citoyen und Citoyenneté (Französisch) – zu finden, was auf dem etymologischen Ursprung des Wortes (civitas, aus dem Latein, was Stadt im weitesten Sinne bedeutet) zurück zu führen ist.

Wir haben uns entschieden nicht den Begriff des Bürgers zu verwenden, wie bei dem Titel der Menschenrechtserklärung zu sehen ist (Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte – Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen), weil dieser im deutschsprachigen Raum auch als eine Klassendefinition missverstanden werden kann und dies ist bei anderen Sprachen nicht der Fall, siehe die Auflistung als Beispiel oben. Denn Bürger wird auch gerne als Synonyme für Bourgeoise verwendet, sowie Bürgerlich, Bürgertum, usw. als Bourgeoisie. Deswegen, um auch keine weiteren Missverständnisse zu erzeugen, haben wir uns für den Begriff des Staatsbürgers und Staatsbürgertums entschieden.

Das sprachliche wäre nun geklärt, also wollen wir diese Debatte auch im weitesten Sinne in den deutschsprachigen Raum werfen, falls dies noch nicht stattgefunden hat. Wir wüssten davon noch nichts, obwohl die Debatte in anderen Ländern uns seit langem bekannt sind. Mit dem Text fangen wir auch eine neue Reihe an, die sich mit dieser Thematik beschäftigt.

Der erste Text, der sich kritisch mit diesem Thema beschäftigte, erschien in der Broschüre von Alain C. „Die Sackgasse der Staatsbürgerschaft. Beitrag zu einer Kritik der Staatsbürgerschaft.“ Darin ist folgende minimale Zusammenfassung der Ideologie der Staatsbürgerschaft zu finden:

Unter Staatsbürgerschaft verstehen wir im Prinzip eine Ideologie, deren Hauptmerkmale folgende sind:

1) der Glaube, dass die Demokratie in der Lage ist, dem Kapitalismus etwas entgegenzusetzen.

2) das Projekt der Stärkung des Staates (oder der Staaten), um diese Politik umzusetzen.

3) die Staatsbürger als aktive Basis dieser Politik.“

Viele Fragezeichen werden sich in kommenden Texte klären, wir wollen und können all dies nicht in der Einleitung einer Übersetzung synthetisieren.

 

Staatsbürgerschaft“ Ad-hoc-Ideologie der verallgemeinerten Bourgeoisie.

Zunächst müssen wir klären, was wir mit „Staatsbürgerschaft“ meinen, da sich die revolutionäre Theorie und die Kritik im Allgemeinen im letzten Jahrzehnt mit dieser Aktualität beschäftigt haben.

Wir verstehen Staatsbürgerschaft als eine Ideologie, die im Wesentlichen in diesen demokratisierten Zeiten konfiguriert ist, in denen kapitalistische Nationalstaaten dominieren, mit liberalen Ökonomien, regiert von Parteien der Linken und der Rechten, die dazu neigen, sich gegenseitig zu imitieren, mit einem sozialen Bruch, in dem Politik das exklusive Geschäft der herrschenden Minderheit ist und in dem der Rest in einer unvollkommenen, aber immer verbesserungsfähigen zivilen Ordnung subsumiert ist.

Staatsbürgerschaft muss vom politischen Standpunkt aus verstanden werden; eingerahmt in eine Diskussion über Regierungsführung einerseits und ziviles Verhalten andererseits; immer innerhalb eines demokratischen Staates mit gut etablierten Institutionen und einer Verfassung. Wo die Staatsbürgerschaft ihre Rolle als passiver Teil der Gesellschaft einnimmt, wo die Führer die Gesetze genehmigen, anwenden und durchsetzen, mit einem Apparat legitimer Gewalt, um die Integrität der Individuen, ihre Menschenrechte, ihr Privateigentum usw. zu verteidigen.

In diesem Sinne ist die Staatsbürgerschaft eine Antwort auf die Krise des demokratischen und liberalen Kapitalismus, nicht um sie wirklich zu bekämpfen, sondern um sie zu mildern und zu verbessern. Es ist die Antwort auf die Klimakatastrophe, das Energieproblem, die Nahrungsmittel „Knappheit“, das Finanzdebakel, die Wirtschaftskrise und alle ihre Folgen.

Diese Antwort wird nicht mehr von „politisierten“ Teilen der Gesellschaft gegeben, sondern von denen, die sich als „unpolitisch“ präsentieren, als einfache Staatsbürger, ohne mehr oder weniger, die keine Präferenzen von „links oder rechts“ haben.

Die Ideologie der Staatsbürgerschaft wird von sozialen Schichten hergestellt, die sich Sorgen um ihre Zukunft in einem System machen, das ihnen offensichtlich nicht viel Sicherheit gibt (mit seinem wirtschaftlichen Auf und Ab und den Brüchen in der Führung der Gesellschaft). Diese sozialen Schichten befinden sich in der Mitte zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat, daher beziehen wir uns auf das, was Soziologen gerne als Mittelschicht bezeichnen, und auf das, was die revolutionäre kritische Theorie mit der „Aristokratie des Proletariats“ als petite Bourgeoisie bezeichnet.

Dieser Teil der Gesellschaft ist sich darüber im Klaren, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt und trotz des demokratischen Staates die Schwierigkeiten ihres wirtschaftlichen Fortschritts offensichtlich sind, dass sie von einem Moment auf den anderen das wenige Vermögen verlieren könnten, das sie angesammelt haben, dass ihre kleinen Unternehmen von einem Tag auf den anderen in Konkurs gehen, dass sie keine Gewissheit haben, dass sie in ihren Jobs weiterhin die saftigen Prämien erhalten, an die sie gewöhnt sind, usw. Sie erkennen, dass das politische System in ihren jeweiligen Ländern die unmittelbaren Probleme, wie Armut, Kriminalität, Gewalt, Gerechtigkeit und andere, nicht löst. Sie sind sich auch bewusst, dass sie in der liberalen Wirtschaft zu einem blutigen Wettbewerb mit den kapitalistischen Konzernen bestimmt sind, die immer die großen Gewinner sein werden.

Aus diesem Grund geht es bei den staatsbürgerlichen Forderungen um die Einmischung in die Regierungspolitik, um die Verteidigung einer „echten Demokratie“, um die Kritik und Missbilligung schlechter Beamter und Institutionen, um die aktive Beteiligung des einfachen Staatsbürgers an der Verwaltung der Regierung, um die Ethik und Moral des Staatsbürgerseins und alles, was dies mit sich bringt, usw.

 

Über die Ideologie der Staatsbürgerschaft

Nach dem Scheitern der sozialistischen Revolutionen, dem Aufstieg der Diktatur des demokratisierten Kapitals und dem Niedergang der Vorteile, die das Wirtschaftswachstum des Wohlfahrtskapitalismus der petite Bourgeoise im letzten Jahrhundert verschaffte, hat sich in der Gesellschaft eine Perspektivlosigkeit vieler Gesellschaftsschichten etabliert, vor allem der unteren Schichten der Proletarier, die von Tag zu Tag ohne jede Sicherheit über ihre Zukunft leben; Aber nicht nur diese Sektoren bekommen die Auswirkungen der Krisen und der Umstrukturierung der Wirtschaft zu spüren, auch ein anderer Teil der Gesellschaft, nämlich die petite Bourgeoisie, sieht ihre Interessen beeinträchtigt, indem sie der Unnachgiebigkeit der Sozial- und Wirtschaftspolitik ausgesetzt ist und ihre Illusionen von Wachstum und Wohlstand in der gegenwärtigen Situation untergraben sieht.

Seit Beginn dieses Jahrzehnts sind wir Zeuge, wie in verschiedenen Teilen oder aus verschiedenen Gründen eine Legion verzweifelter Individuen, sei es durch Gewalt, fehlende Möglichkeiten, politische Misswirtschaft, Umweltverschmutzung und andere Ursachen, demonstriert und ihre Zugehörigkeit zur allgemeinen Bevölkerung, wie sie selber sagen, zum Volk, zu allen Staatsbürgern, einfordert.

Sie zeichnen sich dadurch aus, dass diejenigen, die diese Bewegungen anführen, Menschen sind, die wir noch nie auf der Straße gesehen haben, also Fachleute, kleine Geschäftsleute, Demokraten ohne Partei, kleine bürokratische Kader, Facharbeiter.

Neben einer Reihe von Forderungen, deren Besonderheit in der Grammatik ihres entkoffeinierten und pazifistischen Diskurses schlechthin liegt: „Verbesserung der Demokratie“, „dass die Regierung ihre Arbeit gut macht“, „dass das kapitalistische System flexibler wird“, „dass der Reichtum besser verteilt wird“ und eine endlose Liste von Forderungen, mit der Besonderheit, dass sie eine Analyse im Rahmen des Zivilrechts zum Nachteil jeglicher Klassenanalyse aufgreifen.

Aus all dem können wir sie auf diese Weise charakterisieren:

Im Politischen: Sie sind besorgt über das demokratische System, sie sagen, dass die Demokratie nicht so funktioniert, wie sie sollte, deshalb ist es die Pflicht des Staatsbürgers, zu fordern, dass die notwendigen Maßnahmen ergriffen werden, wie z.B. die Änderung von Gesetzen, um das demokratische System inklusiver zu machen, wo Beamte und Institutionen für ihre schlechte Leistung bestraft werden, genauso wie, wenn nötig, nicht bei Wahlen zu wählen, als Zeichen der Nicht-Konformität mit der negativen Einstellung, die von den Politikern, die sie regieren, propagiert wird.

Ökonomisch: Für sie ist das kapitalistische System die einzige Möglichkeit, über die Realität nachzudenken, aber sie glauben, dass Konzerne, Monopole und der Mangel an staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft, Störungen wie Krisen verursachen, in diesem Sinne suchen sie auch eine „gutartigere“ Wirtschaft, dass Reichtum besser verteilt wird, dass Armut bekämpft wird, neben anderen Maßnahmen.

Im sozialen Bereich: Angesichts des Panoramas der Gewalt und der Zersetzung der Beziehungen im Rahmen der bourgeoisen Gesellschaft appellieren sie an das ethische und moralische Gewissen des „guten Staatsbürgers“ (im Gegensatz zum „schlechten Staatsbürger“), sie fordern auch, dass die Behörden Probleme wie die Unsicherheit, den Drogenhandel, die schreckliche Erziehung in den Schulen lösen, sowie dass der gängige Staatsbürger die Kontrolle über sein Privatleben übernimmt, um „eine bessere Zukunft“ zu ermöglichen.

 

Die staatsbürgerliche Pest

In letzter Zeit sehen wir in den Nachrichten und anderen Massenmedien immer häufiger staatsbürgerliche Demonstrationen, Werbespots der Wirtschaftsverbände, um Mexiko zu einem besseren Land zu machen, Koalitionen von Medienunternehmen in Reality-Shows, in denen der „unternehmungslustigste“ und der „engagierteste“ Mexikaner ausgezeichnet wird, und mehr von dieser Art von Müll. Auch aus Spanien kommen die Indignados von Democracia Real Ya!, ATTAC und andere; es wimmelt von NGOs der großen Konzerne und von anderen, die von ihnen finanziert werden, die den Armen, den Indigenen, den Behinderten, den kleinen Schildkröten, dem mexikanischen Wolf, usw., usw. helfen. Auch Staatsbürgervereine für verschiedene Anliegen, wie Menschenrechte, alleinerziehende Mütter, Homosexuelle. … sowie linke und rechte Organisationen, die das Spiel und die Witze der Medien, NGO’s und Staatsbürgervereine, die sieaufdem Weg finden, mitspielen.

Die Pest des Staatsbürgertums ist seit den Protesten des letzten Jahrzehnts gegen die Globalisierung, den alternativen Gipfeln und anderen solchen Festen, wo immer die Positionen der Sozialdemokratie, der parteilosen Demokraten und alternativen Hippies aller Art vorherrschten, wo immer versucht wurde, den Protest zu spalten, zwischen den „guten Staatsbürgern“ auf der einen Seite und den „Vandalen“, die im friedlichen Protest keine Stimme haben oder beschwichtigt werden, eingefallen.

Ein weiteres Beispiel ist die massive Entlarvung von staatsbürgerlichen Ideologen par excellence, die ihre Bestseller nach Belieben verkaufen, wie die linken Staatsbürger Noami Klein, Antonio Negri, Noam Chomsky und viele andere, sowie die rechten Staatsbürger, die sich gegen ihre fehlgeleiteten Mitbürger stellen (wie die Indignados), wie es Fernando Savater, der widerspenstigste Exponent des rechten Staatsbürgertums (einst ein Träumer und Philosoph der Anarchie), kürzlich tat.

Das oben Gesagte stellt nur eine kurze Skizze der Staatsbürgerschaft als einer lähmenden Ideologie der Bourgeoisie dar, die sich wie die Cholera auf dem Terrain des politischen Angebots des Augenblicks ausbreitet, einem Terrain, auf dem das Kapital nicht aufhört, über eine krude Realität zu stolpern, die keine Lösung zu haben scheint.

Grupo Anarco Comunista

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