Vamos Hacia La Vida – Soligruppe für Gefangene https://panopticon.blackblogs.org Für die Anarchie! Knäste, Staat, Patriarchat und Kapital abschaffen! Mon, 10 Feb 2025 22:03:59 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.1 https://panopticon.blackblogs.org/wp-content/uploads/sites/1233/2020/02/cropped-discharge-degenerik-blog-1-32x32.jpg Vamos Hacia La Vida – Soligruppe für Gefangene https://panopticon.blackblogs.org 32 32 [Vamos hacia la vida] 50 Jahre nach dem Putsch: „Nie wieder“ Staat und Kapital https://panopticon.blackblogs.org/2025/02/03/vamos-hacia-la-vida-50-jahre-nach-dem-putsch-nie-wieder-staat-und-kapital/ Mon, 03 Feb 2025 11:36:08 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=6165 Continue reading ]]>

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[Vamos hacia la vida] 50 Jahre nach dem Putsch: „Nie wieder“ Staat und Kapital

(…) Die Erfahrung zeigt, dass die Arbeiter, indem sie diese Bewegung [der Besetzungen von Fabriken] aufrechterhalten, das reaktionäre Wesen des bourgeoisen Staates verstehen, da sie die Haltung der Regierung ihnen gegenüber in der Praxis sehen. Weit davon entfernt, an einen friedlichen Übergang zu glauben, erkennen sie, dass der einzige Weg, die Dinge in Ordnung zu bringen, darin besteht, diesen bedeutenden Staat der Bourgeoisie, der die Regierung ist, loszuwerden“1.

Mehr als 3.000 Menschen wurden ermordet und mehr als 1.000 verschwanden. Zehntausende wurden in Haftanstalten und Konzentrationslagern inhaftiert und Opfer von Folter, während ein ganzes Territorium von uniformiertem Terror heimgesucht wurde. Zu diesen schrecklichen Zahlen gehören Frauen, Männer, Mädchen und Jungen. Warum ein solches Maß an Brutalität und Grausamkeit? Wer war das Ziel all dieser genozidalen Gewalt? Was wollten sie nach dem blutigen Putsch vom 11. September 1973 begraben? War dieser Staatsterrorismus wirklich etwas Neues?

Heute stimmen die Erzählungen von links bis rechts darin überein, dass die Demokratie verteidigt werden muss, und sie schreiben sich gegenseitig die Verantwortung für den Zusammenbruch der verfassungsmäßigen Ordnung in jenen Jahren zu. Unter dieser Prämisse konstruieren sie ihre Diskurse des „Nie wieder“: Wenn sie den Horror nicht zurückhaben wollen, gibt es Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen. Welche? Die Legalität, die die kontinuierliche und ständig wachsende Produktion und Akkumulation von Kapital erlaubt und anordnet. Die Notwendigkeit, die demokratische Ordnung um jeden Preis zu verteidigen, ergibt sich aus der Notwendigkeit der Kapitalreproduktion.

Daher war das nach dem Putsch ausgelöste Blutbad kein bloßes machiavellistisches Manöver des „Yankee-Imperialismus“ (obwohl die Einmischung der US-Regierung in die Putschstrategie und die anschließende Repression vollständig bewiesen ist) und auch nicht nur die Reaktion einer verängstigten lokalen Bourgeoisie gegen eine antiimperialistische Linksregierung, die versucht hätte, „soziale Gerechtigkeit“ durch einen friedlichen Weg. Nicht die Reformen des von Allende angeführten Blocks waren der Grund für die blutige militärische Reaktion, sondern die von der Basis ausgehende Aktivität einer Bewegung, die seit dem vorangegangenen Jahrzehnt zu einer massiven Radikalisierung tendierte und autonome Erfahrungen in Gang setzte, die den gesetzlichen Rahmen sprengten und versuchten, selbst auf die Forderungen und Bedürfnisse ihrer Protagonisten zu reagieren, in dem Bewusstsein, dass die soziale Revolution der Weg in die Zukunft war. Angesichts dieser Kämpfe reagierte die lokale und globale Kapitalistenklasse brutal und ertränkte einen Prozess, der das Interesse des Antikapitalismus auf der ganzen Welt weckte, in Blut.

Während die Erinnerungen an die anhaltende Repression durch Polizei und Militär nicht aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht werden konnten, vom „Massaker an der Schule Santa María de Iquique“ im Jahr 1907 bis zum Massaker von Pampa Irigoin in Puerto Montt im Jahr 1969, schloss die Reformkoalition nach ihrem Wahlerfolg Regierungsabkommen genau mit der Partei, die im Jahr zuvor für die Morde in der Stadt im Süden verantwortlich war2 und versuchte, die Streitkräfte zu umwerben, indem er den Mythos ihrer demokratischen Tradition förderte, ein Mythos, der ihm am Morgen des 11. September um die Ohren flog, nachdem derselbe „Genosse Präsident“ 1972 das Militär in sein Kabinett aufgenommen hatte, trotz der ausdrücklichen Warnungen der Arbeiter- und Bauernbasis, und die autonome Tätigkeit der Cordones Industriales und anderer Erfahrungen mit direkten Aktionen unterdrückte (in Punta Arenas führte das Militär am 4. September 1973 eine Razzia im Unternehmen „Lanera Austral“ durch, um nach angeblichen Waffen zu suchen, die durch das von der Regierung selbst geförderte Waffenkontrollgesetz geschützt waren, was mit der Ermordung des Arbeiters Manuel González endete).

Das Programm der UP war eine Fortsetzung der Politik der vorherigen Regierung unter Frei, die den Kapitalismus in der Region modernisieren wollte, was zu vorhersehbaren Brüchen und Konfrontationen zwischen verschiedenen Sektoren der Bourgeoisie führte. Die Regierung musste sich aber auch mit der Eindämmung der proletarischen Bewegung befassen, die in Chile wie in der ganzen Welt die herrschende Ordnung bedrohte und sich weigerte, sich mit der Rolle des Zuschauers abzufinden, zu der das gesamte politische Spektrum sie verurteilen wollte. Dieser Widerstand gegen die Passivität, der Impuls, das eigene Leben selbst in die Hand zu nehmen, der sich auf einen großen Teil der Bevölkerung ausbreitete, war es, was der Kapitalistenklasse insgesamt wirklich Angst einflößte. Der Weltkapitalismus musste sich neu strukturieren, um auf die Krise zu reagieren, in der er sich in diesen Jahren befand, und diese Reorganisation musste mit Blut und Feuer durchgesetzt werden, insbesondere als die Gefahr bestand, dass die Krise in eine revolutionäre Lösung unter der Führung des Proletariats selbst mündete, das seine Energie und Kreativität einsetzte, um auf die reaktionären Aktivitäten der traditionellen Bourgeoisie zu reagieren, und seine eigenen Koordinations- und Organisationsinstanzen schuf, die die die Bürokratie der in den Gewerkschaften/Syndikate und anderen Organisationen installierten Regierungsparteien überwand und sich ihr entgegenstellte.

Wir sind absolut davon überzeugt, dass der Reformismus, der durch den Dialog mit denen angestrebt wird, die immer wieder Verrat begangen haben, historisch gesehen der schnellste Weg zum Faschismus ist. Und wir Arbeiter wissen bereits, was Faschismus ist … Wir glauben, dass wir nicht nur auf einen Weg geführt werden, der uns mit schwindelerregender Geschwindigkeit in den Faschismus führt, sondern dass uns auch die Mittel genommen wurden, uns zu verteidigen.“3.

Wir haben uns organisiert, Genosse, an den Fronten der Poblaciones. Wir haben uns organisiert an der Arbeiterfront, in den Gewerkschaften/Syndikate. Wir haben uns auch in den Cordones organisiert, und uns wird immer noch dieselbe alte Geschichte erzählt, Genosse, dass „jetzt nicht die Zeit ist“ und dass es eine gesetzgebende Gewalt und eine richterliche Gewalt gibt. Wir wurden gebeten, uns zu organisieren, von Anfang an, von den Bevölkerung bis hin zur höchsten Ebene, und bisher haben wir uns organisiert, Genosse, und wir sagen immer noch, „Genosse Präsident“ bittet uns immer noch, ruhig zu bleiben, so weiterzumachen und uns weiter zu organisieren. Aber wofür? … Die Wahrheit ist, Genosse, dass die Menschen, die Arbeiter, bereits müde werden, weil es nur noch um Papierkram geht und wir gegen die Bürokratie und in uns selbst, in unserer eigenen Verteidigung, in unseren eigenen Gewerkschaften/Syndikate, in unserer eigenen Macht kämpfen, Genosse, da die CUT immer noch bürokratisch ist, Genosse. Wie lange noch? … und die Genossen bitten uns immer wieder, ruhig zu bleiben. Wie lange noch, Genosse? … wenn es schon jetzt immer schlimmer wird“4.

Mit anderen Worten: Die bourgeoise Repression triumphiert inmitten des Prozesses der Vereinigung und Autonomie der Arbeiterklasse. Wir verstehen jetzt bis zu einem gewissen Grad, was der Putsch erreicht hat. Die ständige Repression der UP-Bürokratie gegen den unabhängigen Klassenkampf und ihre Auflösung nach dem Putsch ermöglichen es den Streitkräften und der Bourgeoisie, diese Aufgabe fortzusetzen, aber nun unter den Bedingungen der Konterrevolution: auf massive Weise, mit Blut und Feuer. Nicht einmal die doppelte Menge an vorhandenen Waffen hätte die Haltung der UP geändert. Dies war kein Ausdruck von Tapferkeit oder Feigheit, sondern von ihren politischen und ökonomischen Zielen. Einer der wenigen Märtyrer der UP-Führung, der im Kampf starb, Salvador Allende, hat durch seine Worte und Taten das Verhalten eines Mannes deutlich gemacht, der die Umsetzung des reformistischen Programms konsequent vorangetrieben hat: Er starb bei der Verteidigung der Prinzipien der Ehre, der bourgeoisen Demokratie, einer Verfassung, kurz gesagt, die die jahrhundertealte Ausbeutung der Arbeiterklasse rechtlich besiegelte. Er starb bei der Verteidigung des Präsidentenhauses. Aber wer hätte verlangen können, dass er an der Seite der Arbeiter in den Streikpostenketten der Cordones Industriales kämpft, wenn diese die Negation dessen waren, was er vertrat? Niemand. Nicht einmal die Arbeiter verlangten das von ihm (…) Aber diejenigen, die die UP drei Jahre lang aufforderten, ihr Programm umzusetzen, ohne die Tiefe der politischen Aktivität der Arbeiterklasse zu verstehen, waren auch während des Putsches konsequent. Zuerst forderten sie, dass die UP kämpft, und als sie dies offensichtlich nicht tat, zogen sie sich zurück, um ihre Partei zu schützen. Sie verstanden weiterhin nicht, dass der Bewusstseins- und Organisationsgrad der Arbeiterklasse die einzig mögliche Antwort auf den Militärputsch war“5.

Die wichtigste historische Lehre aus dieser Zeit ist jedoch bis heute schwer zu ziehen: Das Vertrauen in die Institutionen und die Beteiligung am Staat standen vor fünfzig Jahren im Mittelpunkt der Niederlage unserer Klasse und standen auch vor vier Jahren im Mittelpunkt der Niederlage, als es, anstatt die Netzwerke zu stärken, die sich nach dem 18. und 19. Oktober in allen Stadtvierteln ausbreiteten, einen massiven Marsch zu den Wahlurnen gab und die Kampfbereitschaft in jeder Stadt und jedem Gebiet in der chilenischen Region erneut gekapert und durch die Kanäle der demokratischen Domestizierung befriedet, was den Weg für die Konterrevolution ebnete und bei Hunderttausenden von Menschen, die sich mehr als drei Monate lang auf Straßen und Plätzen versammelten, Unruhe säte.

Wir haben nicht aufgehört, den Schmerz zu spüren, der durch die staatliche Brutalität ausgelöst wurde. Die Erinnerung an diejenigen, die vor uns kamen, aufrechtzuerhalten, bedeutet, weiter für eine Welt zu kämpfen, die sich radikal vom Elend des Kapitals unterscheidet. Aber um die Niederlagen zu beenden, müssen wir unsere Vergangenheit und unsere Gegenwart kritisch untersuchen. Ein Blick frei von Mythen und Götzendienst. Wir können nicht danach streben, eine Bewegung zu imitieren, die in einem bestimmten historischen Kontext entstanden ist, aber wir können verstehen, welche Dynamiken, die von dieser Bewegung entwickelt wurden, sich als unüberwindbares Hindernis herausgestellt haben, und versuchen, sie in den heutigen Kämpfen nicht zu reproduzieren.

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1Interview mit Arbeitern der besetzten Fabrik COOTRALACO, Zeitschrift „Punto Final“ Nr. 90, Oktober 1969, ein Jahr vor der Wahl Allendes.

2Das berühmte „Statut der Verfassungsgarantien“, das mit den Christdemokraten (DC) unterzeichnet wurde.

3„Brief der Cordones Industriales an Salvador Allende“, 5. September 1973.

4Rede eines Genossen auf einer CUT-Versammlung nach dem UP. Aus dem Dokumentarfilm „The Battle of Chile, Part II (The Coup)“.

5Artikel „Quienes somos“, in der Zeitung „Correo Proletario“ Nr. 2, November 1975.

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[Vamos hacia la vida] Fast ein halbes Jahrhundert nach dem Militärputsch: Wir vergessen nicht und vergeben nicht

WIR VERGESSEN NICHT den Kampf unserer Klasse, ihr Leben zurückzugewinnen, Fabriken und Felder zu übernehmen und neue Formen der Existenz frei von Ausbeutung zu debattieren.

WIR VERGESSEN NICHT die enorme und heterogene Darstellung proletarischer Aktivitäten, die seit den 60er Jahren auf dem Vormarsch waren und deren Hauptziel entgegen der parteiischen Mythologie nicht in Wahlkämpfen bestand.

WIR VERGESSEN NICHT die reaktionäre Arbeit der in der UP vertretenen Sozialdemokratie, die alles in ihrer Macht Stehende tat, um das Proletariat zu deaktivieren und zu kontrollieren, um mit den traditionellen Parteien der Bourgeoisie verhandeln und ihr kapitalistisches Projekt mit dem Namen Sozialismus entwickeln zu können.

WIR VERGESSEN NICHT, dass die Regierung der UP dem revolutionären Prozess nie vertraute, wobei Allende selbst das Waffenkontrollgesetz erließ und das kämpferischste Proletariat entwaffnete, wodurch es unfähig wurde, den Bruch zu vertiefen und der Konterrevolution zu widerstehen.

WIR VERGESSEN NICHT die Parteien, die sich heute ihre Kleider für die Demokratie zerreißen, aber nicht zögerten, die militärische Brutalität gegen unsere Klasse zu unterstützen.

WIR VERGESSEN AUCH NICHT, dass Demokratie und Diktatur nicht gegensätzlich sind, sondern dass es sich um unterschiedliche und sich ergänzende Formen handelt, in denen der Staat die soziale Herrschaft ausübt.

WIR VERGESSEN AUCH NICHT die Tausenden von Gefährtinnen und Gefährten, die Verfolgung, Folter, Mord und Verschwinden erlitten haben.

WIR VERGESSEN NICHT, dass die elenden Bedingungen, gegen die sich unsere Klasse erhob, durch dieselbe soziale Dynamik hervorgerufen wurden, die auch das Elend von heute verursacht: kapitalistische Gesellschaftsverhältnisse, die physische und psychische Entfremdung erzeugen und nähren, die die große Mehrheit der proletarisierten Menschheit zu Hunger, Krankheit, Isolation und Tod verdammt, die eine sexuelle Hierarchie und die damit verbundene Gewalt erforderlich machen und aufrechterhalten.

WIR VERGESSEN NICHT, weil es unsere Geschichte ist. Aber vor allem VERGESSEN WIR NICHT, weil wir sehen, dass sich viele dieser Elemente in unseren turbulenten Zeiten wiederholen.

Die Mythologie des linken Flügels des Kapitals sieht in der Zeit von 1970 bis 1973 die Übernahme einer Regierung, die, unterstützt von einer Welle der Bevölkerung, vorgab, den Sozialismus friedlich zu erreichen (ein Pazifismus, der keine Skrupel hatte, Arbeiter zu unterdrücken, besetzte Fabriken zu stürmen oder Revolutionäre zu inhaftieren, zu foltern und zu ermorden), mit großen Helden, an die sie sich heute mit krankhafter Nostalgie erinnert, insbesondere die Figur Allendes.

Aber die Kämpfe des Proletariats in unserer Region standen im Einklang mit der revolutionären Welle, die in jenen Jahren den gesamten Planeten erschütterte, und die Kapitalistenklasse setzte ihnen eine Vielzahl von Antworten entgegen. Zwischen der Zerschlagung des Reformismus (der gewalttätige Repression nicht ausschloss) und dem blutigen Militärmassaker gibt es keinen Bruch, sondern Kontinuität in der repressiven Arbeit des Staates.

Heute, nach einer beeindruckenden Revolte, hat die Partei der Ordnung als Ganzes einem „Friedensabkommen“ zugestimmt, dessen ausdrückliches Ziel es ist, das Feuer zu löschen, das durch die Wut und Kreativität der Unterdrückten entfacht wurde.

Ein großer Teil der Linken spielt trotzdem mit und gibt vor, einen Prozess „zu überwältigen“, der genau zu dem Zweck der Eindämmung und der Repression erschaffen wurde.

Lasst uns nicht noch mehr Niederlagen fördern, lasst uns nicht noch mehr Wahnvorstellungen schüren. Lasst uns weitergehen. Lasst uns dem Leben entgegengehen.

UNSER GEDÄCHTNIS IST EINE WAFFE, GELADEN MIT ZUKUNFT

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Zuckerrohrstalinismus: Staatskapitalismus und Entwicklung in Kuba https://panopticon.blackblogs.org/2024/03/24/zuckerrohrstalinismus-staatskapitalismus-und-entwicklung-in-kuba/ Sun, 24 Mar 2024 09:27:48 +0000 https://panopticon.blackblogs.org/?p=5612 Continue reading ]]>

Gefunden auf vamos hacia la vida, die Übersetzung ist von uns. Hier ein weiterer Text, der im Kontext der Revolte in Kuba stattfand.


Zuckerrohrstalinismus: Staatskapitalismus und Entwicklung in Kuba

Ursprünglich am 17.07.2021 veröffentlicht.

Am Sonntag, den 11. dieses Monats, begann eine Protestwelle in verschiedenen kubanischen Städten. Die allgemeine Verarmung, der Mangel an Impfstoffen, die ständigen Stromausfälle, die Gesundheitssituation und der Umgang der Regierung mit der Coronavirus-Pandemie gehören zu den sichtbarsten Faktoren dieser Demonstrationstage. Rechte Kreise, vor allem außerhalb der Karibikinsel, versuchen, die Unzufriedenheit zu schüren. Ein großer Teil der Linken wiederum verurteilt entweder die Massen, die auf die Straße gegangen sind, und macht sich damit die Version der Rechten zu eigen, oder sie fordert mehr oder weniger zaghaft „mehr Demokratie“ und eine stärkere Liberalisierung der Ökonomie. Aber was in Kuba passiert, ist der Welt nicht fremd. Überall entstehen soziale Revolten, denn es sind die von der kapitalistischen Gesellschaft auferlegten Lebensbedingungen, die von diesen Bewegungen angefochten werden. Und natürlich ist Kuba genauso kapitalistisch wie jede andere Region der Welt.

Der folgende Text, der ursprünglich in englischer Sprache auf der „Ritual“-Website (nicht mehr verfügbar) veröffentlicht wurde und später auch in anderen Medien nachgedruckt wurde (siehe: https://mcmxix.org/2018/07/09/sugarcane-stalinism/), befasst sich mit dem kapitalistischen Charakter des in Kuba herrschenden Regimes und demontiert die linke Mythologie, die in der Geschichte des Landes die Entwicklung einer Form des Sozialismus sehen will.

Sein Autor, der in Havanna geborene Kubaner Emanuel Santos, hat uns diese spanische Version zur Verfügung gestellt, die wir in einigen kleinen Details leicht verändert haben. Emanuels politischer Werdegang führt von einer ersten Annäherung an den Anarchismus zu einem wachsenden Interesse an Marx‘ Werk, das gerade durch die Debatte in sozialen Initiativen und anarchistischen Gruppen motiviert wurde. Später näherte er sich Positionen und Gruppen der kommunistischen Linken mit „bordiguistischer“ und „rätekommunistischeer“ Ausrichtung an. Es gibt auch eine portugiesische Version dieses Materials auf der Website „Critica Desapiedada“ (https://criticadesapiedada.com.br/2020/08/19/estalinismo-canavieiro-capitalismo-de-estado-e-desenvolvimento-em-cuba-intransigence/), der wir genau diese biografischen Elemente des Autors entnommen haben, die auf dieser Website ausführlicher dargestellt werden.

Vamos Hacia la Vida


Zuckerrohrstalinismus: Staatskapitalismus und Entwicklung in Kuba

Nationen können sich ebenso wenig wie Individuen den Imperativen der Kapitalakkumulation entziehen, ohne das Kapital zu unterdrücken.“ Grandizo Munis, Pro Zweites Kommunistisches Manifest1.

Das offizielle Narrativ über die Art der Veränderungen in der Ökonomie und der Gesellschaft im Allgemeinen, die von der kubanischen Regierung nach der sogenannten „Revolution“ von 1959 eingeführt wurden, lautet, dass die Agrarreform und die anschließende Verstaatlichung der Ökonomie – d.h. die Übertragung des Eigentums an den Produktionsmitteln von privaten Kapitalisten auf den Staat – Kuba auf den Weg zum Sozialismus gebracht haben. Diese Ansicht vertrat der französische Agrarwissenschaftler Rene Dumont, der als Berater der neu gebildeten „sozialistischen“ Regierung in Fragen der ökonomischen Entwicklung fungierte. Seitdem haben sich auch andere linke Akademiker ernsthaft mit der kubanischen Ökonomie beschäftigt. Samuel Farber sticht unter denjenigen, die sich kritisch mit der kubanischen Ökonomie auseinandergesetzt haben, als der intellektuell rigoroseste und konsequenteste heraus. Sein Buch über die kubanische Gesellschaft nach dem Triumph der Barbudos über die Batista-Diktatur ist zwar nicht unproblematisch, bietet aber einen wertvollen Einblick in das Innenleben des stalinistischen Systems in seiner kubanischen Ausprägung. Farber verteidigt die Theorie des „bürokratischen Kollektivismus“ und argumentiert, dass Kuba zwar nicht sozialistisch ist, weil die arbeitenden Massen keine wirkliche Kontrolle über die Ökonomie haben, dass es aber auch nicht als kapitalistisch bezeichnet werden kann, weil die Verstaatlichung der Produktionsmittel den Wettbewerb zwischen den Unternehmen angeblich unmöglich macht. Stattdessen argumentiert er, dass es sich in Kuba um eine qualitativ neue Klassengesellschaft handelt, die auf der autokratischen Herrschaft einer parasitären, in den Staatsapparat eingebetteten Bürokratie beruht, deren Beherrschung von Ökonomie und Gesellschaft generell jeden Versuch der Unternehmen vereitelt, ihre eigenen ökonomischen Interessen zu verfolgen2.

Obwohl seine Schlussfolgerungen grundverschieden sind, sind sich die Verfechter „sozialistischer“ und „nicht-sozialistischer, nicht-kapitalistischer“ (im Folgenden NS-NK) Theorien über Kuba und andere verstaatlichte Gesellschaften darin einig, dass die Verstaatlichung privater Unternehmen eine teilweise oder sogar absolute Negation des Kapitalismus und seiner Antriebsgesetze darstellt. Diese Auffassung, deren unglückliche Genealogie auf die „sozialistisch-staatlichen“ Ideen von Ferdinand Lassalle und seinen Anhängern in der Ersten Internationale zurückgeht, hat keine Grundlage in der von Marx und Engels ausgearbeiteten Theorie des Sozialismus. Für letztere bedeuteten Staatsmonopole nicht die Negation der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, sondern deren Verschärfung3. Sie bestanden sogar darauf, dass der Übergang zum Sozialismus zwangsläufig eine fortschreitende Schwächung oder „Auslöschung“ des Staatsapparats mit sich bringen würde. Im Folgenden wird eine kritische Analyse der oben genannten Theorien versucht, die sich auf einen methodisch marxistischen Ansatz stützt und sich offen für die Selbstemanzipation der Arbeiterinnen und Arbeiter einsetzt. Außerdem wird dargelegt, dass das „sozialistische“ Kuba in Wirklichkeit eine Gesellschaft ist, die auf Lohnarbeit und Kapitalakkumulation basiert. Die charakteristischen Merkmale dieser Gesellschaft, die wir als „Staatskapitalismus“ bezeichnen werden, sind die übermäßige Konzentration des Kapitals im Staat und die kollektive Ausübung der Kontrolle über die Produktionsmittel durch eine Staatsbourgeoisie.

Wie bei so vielen Intellektuellen der Neuen Linken ist auch bei Dumont nicht ganz klar, was er mit „Sozialismus“ meint. Wenn das Gesindel der Monthly Review, mit dem er verkehrte, ein Anhaltspunkt ist, dann können wir sicher davon ausgehen, dass der Staat in seiner Vorstellung eine zentrale Rolle spielt. Da er uns jedoch nicht einmal einen kurzen Abriss oder eine Arbeitsdefinition liefert, müssen wir seine Sichtweise anhand einiger Beobachtungen entschlüsseln, die in seinem Bericht über die Umgestaltung der kubanischen Ökonomie in Richtung des sowjetischen Modells verstreut sind. So stellt er beispielsweise die „sozialistische Planung“ der „unsichtbaren Hand des Profits“ gegenüber, die das Kapital dort verteilt, wo die Profitrate am höchsten ist. Im Gegensatz dazu sagt er, dass eine sozialistische Ökonomie das anarchische „Gesetz des Marktes“ durch den Willen des zentralen Planers ersetzen wird, obwohl er nirgends spezifiziert, was das Wirken eines solchen Gesetzes bedeutet oder wie es sich konkret in der gesellschaftlichen Produktion manifestiert4. Stattdessen langweilt Dumont seine Leser mit unaufhörlichen und ermüdenden Anekdoten, in denen er Unternehmensmanagern und staatlichen Buchhaltern vorwirft, dass sie ihre Pläne improvisiert und Produktionsziele auf der Grundlage falscher oder sogar erfundener Zahlen festgelegt haben. All das, so erklärt er, verhindert, dass eine Planwirtschaft richtig funktioniert5. Leider endete seine Untersuchung über das Scheitern der Wirtschaftsplanung in Kuba genau hier. Farber beweist ein hervorragendes Verständnis für die wahre Tiefe des Problems, indem er Ineffizienz, mechanische Pannen und Verschwendung im System als logische Folge der hierarchischen Organisation der Produktion identifiziert. So argumentiert er, dass das Fehlen einer echten Rückkopplung, die für die ökonomische Planung in jedem System unabdingbar ist, und die mittelmäßige Produktivität trotz chronischer Überbesetzung auf unzureichende oder nicht vorhandene materielle Anreize und die transparente Trennung von Produzenten und Arbeitsinstrumenten zurückzuführen sind6.

Diese Erklärung mag auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen. Schließlich sind die Arbeiterinnen und Arbeiter in den traditionellen kapitalistischen Ländern auch über die Produktionsmittel enteignet. Dennoch stehen den Unternehmensmanagern in beiden Systemen unterschiedliche Instrumente zur Verfügung, um ihre Untergebenen zu disziplinieren. Während Arbeiterinnen und Arbeiter in traditionellen kapitalistischen Ländern unter Androhung von Arbeitslosigkeit gezwungen werden können, ein bestimmtes Produktivitätsniveau aufrechtzuerhalten, sind ihre Kolleginnen und Kollegen in Kuba durch eine Bestimmung in der kubanischen Verfassung vor Langzeitarbeitslosigkeit geschützt, die Beschäftigung als ein Grundrecht der Staatsbürgerschaft festschreibt7. Infolgedessen sind die Unternehmensmanager oft gezwungen, ein gewisses Maß an Faulheit und sogar Fehlzeiten bei ihren Beschäftigten zu tolerieren, um die Produktionsquoten zu erfüllen, die ihnen von ihren Vorgesetzten in der bürokratischen Befehlskette auferlegt werden. Soweit es in Kuba eine ökonomische Planung gibt, hat sie also immer schlecht und uneinheitlich funktioniert. Tatsächlich werden die endgültigen Produktionsziele in den verschiedenen Industriezweigen und Unternehmen so häufig revidiert, dass es so etwas wie einen „Plan“ eigentlich gar nicht gibt. Diejenigen, die eine „sozialistische“ oder „NS-NK“-Perspektive vertreten, verweisen häufig auf die Beschäftigungsgarantie als unwiderlegbaren Beweis für die Nichtexistenz eines Arbeitsmarktes in Kuba. Manche argumentieren sogar, dass es in Kuba und ähnlichen Ländern keine Arbeiterklasse gibt, da die Arbeiterinnen und Arbeiter angeblich nicht die von Marx beschriebene doppelte Freiheit genießen – d.h. die „Freiheit“, ihre Arbeitskraft an einen Arbeitgeber zu verkaufen, und die „Freiheit“ aller Produktionsmittel -. Es ist unmöglich, diese Interpretation mit den Tatsachen in Einklang zu bringen. Erstens kann ein Arbeiter oder eine Arbeiterin in Kuba entlassen werden, wenn er oder sie wiederholt geringfügige Vergehen begeht oder sich an Aktivitäten beteiligt, die als subversiv gelten8. Dies ist jedoch unüblich, da ein Verstoß dieser Größenordnung in der Personalakte erscheint und zukünftige Beschäftigungsmöglichkeiten einschränkt9. Es ist auch bekannt, dass die Fluktuationsrate in staatskapitalistischen Ländern wie Kuba höher ist als in traditionellen kapitalistischen Ländern, was zeigt, dass Arbeit in Kuba gekauft und verkauft werden kann10.

Die konventionelle Weisheit der Linken behauptet, dass staatliche Planung in die unbewussten Marktkräfte eingreift, die die Produktion im Kapitalismus steuern. Der intellektuelle Erstgeborene dieser Idee ist der heterodoxe Stalinist Paul Sweezy. Obwohl sein Konzept alles andere als originell war, war Sweezy sicherlich einer der ersten, der dieses Sakrileg gegen den Marxismus systematisierte und es einem Publikum von selbsternannten „Radikalen“ und Intellektuellen in der englischsprachigen Welt präsentierte. Seine Theorie bildet einen Großteil des konzeptionellen Rahmens, der die „sozialistischen“ und „NS-NK“-Interpretationen untermauert, daher müssen wir seine Grundannahmen untersuchen. Laut Sweezy ist alles, was nötig ist, um das „Wertgesetz“ zu beseitigen – d. h. den sozialen Mechanismus, der den Austausch von Waren im Kapitalismus entsprechend der durchschnittlich für ihre Produktion benötigten Zeit regelt -, dass die staatliche Planung die Marktkräfte als wichtigstes Mittel zur Mobilisierung der Produktionsfaktoren ablöst11. Die Funktionsweise der heutigen kapitalistischen Gesellschaft reicht aus, um die Falschheit dieser These zu beweisen. Das Wertgesetz koexistiert heute mit staatlicher Planung in Form von importsubstituierender Industrialisierung, Investitionsanreizen und Subventionen für private Unternehmen, staatlicher Verwaltung von öffentlichen Versorgungsbetrieben und Großindustrien, Managementplanung (vgl. französischer Dirigismus) und Kontrolle des Geld-Kapitalflusses durch zentralisierte Banken. Die „entwicklungsorientierten“ Regierungen der Dritten Welt haben mehrere dieser Strategien angewandt, um sich Vorteile gegenüber ihren Konkurrenten auf dem Weltmarkt zu verschaffen und so die einheimischen Industrien zu stärken, bis sie in der Lage sind, international zu konkurrieren12. Der Zweck staatlicher Planung ist überall derselbe: Es geht darum, ein gewisses Maß an Regelmäßigkeit und Einheitlichkeit in die Ökonomie einzubringen, wo dies sonst nicht der Fall wäre, um das Erreichen bestimmter Ziele zu erleichtern und die Auswirkungen konjunktureller Krisen abzumildern. Die Notwendigkeit, die anämische Profitrate in den traditionellen kapitalistischen Ländern wiederherzustellen, führte zum Beispiel zu einem institutionellen Arrangement, das als „gemischte Ökonomie“ bekannt ist und bei dem der Staat mit einer Kombination aus „Zuckerbrot und Peitsche“, fiskalischen Anreizen und sogar direkten ökonomischen Interventionen die Kapitalinvestitionen und die Produktion auf die gewünschten Ziele ausrichtet. In den Vereinigten Staaten, dem Land des marktwirtschaftlichen Kapitalismus schlechthin, sind die Staatsausgaben als Prozentsatz des BIP seit 1970 auf 43 % gestiegen, während dieser Wert im gleichen Zeitraum nie unter 34 % gefallen ist, was darauf hindeutet, dass der Staat zu jeder Zeit zwischen einem Drittel und zwei Fünfteln der Ökonomie kontrolliert13. Auch wenn die US-Regierung den Unternehmen nicht vorschreibt, wie viel oder was sie produzieren sollen, so betreibt sie doch eine Form der Planung, bei der bestimmte Produktionsformen gegenüber anderen bevorzugt werden, indem sie die Gewinne aus den profitableren Wirtschaftssektoren durch Besteuerung und Defizitfinanzierung (d. h. Steuerstundungen) an die Bedürftigen umverteilt. Wir sehen also, dass die staatliche Planung die Märkte nicht zerstört, sondern zu ihrem Erhalt unerlässlich geworden ist.

Als soziales Gebilde hat das Kapital eine doppelte Existenz: eine phänomenale Existenz als eine Vielzahl unabhängiger ökonomischer Einheiten und eine essentielle Existenz als soziales Gesamtkapital, d. h. die Summe der Kapitalien in ihren dynamischen Wechselbeziehungen. Das gesamte Sozialkapital manifestiert sich ausschließlich durch seine einzelnen Fragmente. Diese Fragmente sind jedoch nur in einem relativen Sinne unabhängig voneinander und vom Gesamtsozialkapital, denn ihre Existenz setzt die Existenz beider voraus14. Stellen wir uns vor, dass das Kapital ein elektronischer Schaltkreis ist, während die einzelnen Fragmente die Knotenpunkte sind. Die Knotenpunkte sind ein integraler Bestandteil des Schaltkreises: Ohne sie gibt es keinen Schaltkreis und umgekehrt. Jeder Knotenpunkt ist Teil des gesamten Stromkreises und damit abhängig von ihm. Die einzelnen Knoten können näher oder weiter voneinander entfernt sein – oder, im Falle des Kapitals, mehr oder weniger konzentriert – aber sie können nicht außerhalb des Kreislaufs, außerhalb des Ganzen, existieren. Wendet man das gleiche Konzept auf die Lohnarbeit an, erhält man wichtige Erkenntnisse. Arbeiterinnen und Arbeiter in einer kapitalistischen Gesellschaft sind „frei“ in Bezug auf die einzelnen Kapitale, an die sie ihre Arbeitskraft verkaufen, während sie an das gesamte gesellschaftliche Kapital als dessen Zubehör gebunden sind. Tatsächlich bedeutet allein das Vorhandensein von Lohnarbeit, dass es einen Wettbewerb zwischen Unternehmen gibt, denn dies setzt ökonomische Einheiten voraus, die über genügend Autonomie verfügen, um unabhängige Entscheidungen über die Beschäftigung zu treffen15. Die Übertragung der Produktionsmittel auf eine einzige Einheit – was wir oben als „Hyper-Konzentration“ des Kapitals bezeichnet haben – hat den Wettbewerb in Kuba nicht ausgelöscht. Sie hat lediglich die juristisch-rechtliche Form des Privateigentums vom individuellen (privaten) Eigentum zum Staatseigentum verändert. Die Produktionsmittel bleiben das Klasseneigentum der Staatsbourgeoisie und das Nichteigentum der Arbeiterinnen und Arbeiter. Erklären wir es mit unserer Metapher des elektronischen Schaltkreises: Die Verstaatlichung der Unternehmen in Kuba hat die einzelnen Knotenpunkte des Schaltkreises, d. h. die Fragmente des gesamten gesellschaftlichen Kapitals, näher zusammengebracht, aber der Schaltkreis als solcher bleibt intakt. Die Gegner der Staatskapitalismustheorie und auch einige Befürworter, wie die Cliffites, behandeln Kuba und die anderen verstaatlichten Länder als eine einzige Produktionseinheit16. Die These von der „Riesenfabrik“ ist vor allem deshalb attraktiv, weil sie die Analyse dieser Gesellschaften überschaubarer macht, indem sie mehrere komplexe Phänomene zu einem einzigen Untersuchungsgegenstand verdichtet. Dabei wird von einem funktionalen Monolithismus ausgegangen, bei dem sich die einzelnen Elemente der gesellschaftlichen Gesamtheit wie Teile eines harmonischen und undifferenzierten Ganzen verhalten. Eine genauere Betrachtung unsererseits wird zeigen, dass diese Annahme völlig ungerechtfertigt ist.

Solange die gesamte gesellschaftliche Produktion funktional in eine Vielzahl von wechselseitig autonomen und konkurrierenden Unternehmen aufgespalten ist, besteht Wettbewerb. Zwei Kriterien sind nötig, um die relative organisatorische Trennung der Unternehmen nachzuweisen, und sie kann nur relativ sein. Das erste ist das Vorhandensein eines Arbeitsmarktes. Das zweite ist der Austausch von Produkten zwischen diesen Unternehmen in Form von Geld- und Handelswaren17. Es wurde bereits festgestellt, dass die Unternehmen in Kuba unabhängige Arbeitgeber von Arbeitskräften sind. Aber sie konkurrieren auch im marxistischen Sinne miteinander, d. h. sie konkurrieren als Käufer und Verkäufer von Waren miteinander. Wir wissen, dass dies der Fall ist, weil ihre Produkte gegen Geld getauscht werden, anstatt direkt angeeignet und physisch verteilt zu werden. In einem Bericht der CEPAL (Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik – eine regionale Unterabteilung der UN) über den Zustand der kubanischen Ökonomie während der Sonderperiode vor den Marktreformen Ende der 1990er Jahre heißt es: „Die Unternehmen des traditionellen Sektors verkaufen zu regulierten Preisen, werden häufig steuerlich und zolltechnisch bevorzugt behandelt und kaufen einen Großteil ihrer Vorleistungen mit Subventionen ein, um die Defizite zu decken, die durch den Verkauf zu subventionierten Preisen entstehen“. Weiter heißt es in dem Bericht: „Der Hersteller handelbarer Güter agiert auf internationalen oder nationalen Märkten und ist nicht verpflichtet, Vorleistungen auf dem heimischen Markt zu kaufen.“18 Mit anderen Worten, kubanische Unternehmen produzieren Waren, die sie dann auf inländischen und/oder ausländischen Märkten verkaufen; sie kaufen Rohstoffe sowie Zwischen- oder Halbfertigwaren untereinander und von ausländischen Unternehmen; und schließlich sind ihre Transaktionen, ob schriftlich oder in bar, Tauschgeschäfte, bei denen Geld als Wertmaßstab und Zirkulationsmittel fungiert. Man könnte argumentieren, dass diese Transaktionen reine Formalitäten sind, weil der Staat die Produktionsmittel besitzt. Eine andere Möglichkeit, diese These zu bekräftigen, wäre, dass der Prozess, den wir gerade beschrieben haben, zwar die Form eines Warentauschs hat, aber inhaltlich anders ist, weil der rechtliche Rahmen des Staatseigentums die Unternehmen in Kuba daran hindert, sich autonom zu verhalten. Das wirft jedoch die Frage auf, warum die Produkte menschlicher Arbeit überhaupt gegen Geld getauscht werden müssen bzw. den Anschein erwecken, dass sie getauscht werden. Die Antwort ist natürlich, dass der Staat von der Rentabilität der gesamten Ökonomie abhängt und damit die Unternehmen dazu zwingt, für ihre eigenen Finanzen verantwortlich zu sein, was sie zu unabhängigen Einheiten mit konkurrierenden ökonomischen Interessen macht. Die Befürworter der „sozialistischen“ und „NS-NK“-Theorien bestreiten auch, dass es in Kuba Wettbewerb gibt, weil der Staat unrentable Unternehmen zulässt. Es ist zwar üblich, dass Staaten einheimische Unternehmen – sogar ganze Branchen – unterstützen, indem sie deren Verluste übernehmen, aber nichts an dieser Regelung ist unvereinbar mit der Existenz von Wettbewerb und Warenaustausch. Die idealisierte Version des Kapitalismus als rein freier Markt mit nur den geringsten Eingriffen des Staates, die diese Menschen als Vergleichsmaßstab heranziehen, gibt es nur in Büchern. Sie widerspricht auch den Erfahrungen, die der Kapitalismus in den letzten anderthalb Jahrhunderten gemacht hat und die voll von Beispielen für staatliche Eingriffe in das „normale“ Funktionieren der Märkte sind. Das Ungewöhnlichste an der Art von Kapitalismus, die sich in Kuba etabliert hat, ist, dass alle Gewinne und Verluste an den Staat zurückfließen, der den Restbetrag unter den verschiedenen Branchen umverteilt. Auf diese Weise werden viele nicht lebensfähige Sektoren und Unternehmen künstlich am Leben erhalten. Allerdings können die zentralen Planer die Insolvenz nur bis zu einem gewissen Punkt tolerieren. Sie haben keinen Freibrief, Geld nach Belieben umzuverteilen, zumindest nicht unbegrenzt, da dies die Gesamtmenge des für die Kapitalbildung verfügbaren Geldes verringern und Kubas Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt untergraben würde. Das Gleiche könnte man über die Rohstoffpreise in Kuba sagen, denn sie müssen die Weltmarktpreise für Rohstoffe widerspiegeln, sonst kosten sie den kubanischen Staat Geld, wenn sie sich zu weit oder zu lange entfernen. Kurz gesagt, dieselben Mechanismen, die in den traditionellen kapitalistischen Ländern Arbeit und Kapital entsprechend den Erfordernissen der Verwertung mobilisieren, treten auch im Staatskapitalismus in Erscheinung, wenn auch in einer sehr verzerrten Form. Anstatt diese Mechanismen ganz abzuschaffen, zwingt der globale Wettbewerb den Staat dazu, eigene Mechanismen einzuführen, um bewusst (und weniger effizient) zu versuchen, das zu tun, was der Markt unbewusst tut19.

Die Kapitalakkumulation bzw. die erweiterte Reproduktion der Produktionsmittel ist das einzige Ziel der Produktion im Kapitalismus. Das liegt daran, dass, wie Marx erklärte, „die Entwicklung der kapitalistischen Produktion die ständige Vermehrung des in einem Industrieunternehmen angelegten Kapitals zu einem Gesetz der Notwendigkeit macht … sie zwingt [den Kapitalisten], sein Kapital ständig zu vermehren, um es zu erhalten, und er hat kein anderes Mittel, es zu vermehren, als die fortschreitende Akkumulation“20. Im Kapital gab Marx die Formel für die kapitalistische Reproduktion an: c + v + m, wobei c für das konstante Kapital oder Sachkapital, v für das variable Kapital oder den Lohn und m für den Mehrwert oder den Profit steht21. Die Masse des Mehrwerts lässt sich in zwei Teile aufteilen, von denen einer für den kapitalistischen Konsum und der andere für die Akkumulation bestimmt ist. Bezeichnen wir sie als k (kapitalistischer Konsumfonds) und a (Akkumulationsfonds), so dass die Masse des Mehrwerts M = k + a ist. Im Kapitalismus hängt das Wachstum von c direkt von der Menge von a ab, während v nicht zunimmt, außer in dem Maße, in dem es notwendig wird, zusätzliche Arbeitskräfte zu beschäftigen, um die erweiterte Kapitalmasse c in Betrieb zu nehmen. Im Gegensatz dazu würde in einer sozialistischen Gesellschaft das Wachstum von c ausschließlich von den Bedürfnissen von v, dem Reproduktionsbedarf der Bevölkerung, abhängen, während M und seine Bestandteile k und a denjenigen, die sie benötigen, in Form zusätzlicher konsumfähiger Produkte zur Verfügung stehen würden22. In Kuba, wie auch in allen anderen staatskapitalistischen Ländern, hängt jede Erhöhung des Arbeitsfonds, der die gesamte Arbeiterklasse unterstützt, v, direkt von der Vergrößerung von c, der Masse der Produktionsmittel, und des Akkumulationsfonds, a, ab, der sein Wachstum speist23. Die Nationalisierung von Industrien beseitigt nicht das Kapital und seine Akkumulation. Vielmehr beschleunigt sie die dem Prozess der Kapitalakkumulation bereits innewohnenden Tendenzen: 1) die Konzentration des Kapitals, die Marx als „Enteignung einiger Kapitalisten durch andere“ bezeichnete, und 2) die „Vergesellschaftung“ der Produktion, d. h. die Tendenz, dass die verschiedenen Industriezweige voneinander abhängig werden24. Beide dienen dazu, die Produktivität der Arbeit – also die Rate, mit der der Mehrwert aus der Arbeiterklasse herausgezogen wird – zu erhöhen, indem die organische Zusammensetzung des Kapitals (Verhältnis von c zu v) gesteigert wird. Die Nationalisierung von Industrien erreicht dies durch die Konzentration von Kapital in größeren und effizienteren Unternehmen aufgrund von Skaleneffekten, eine Dynamik, die die Produktionskosten pro Einheit senkt, wenn die industrielle Produktion expandiert. Andererseits harmonisiert die Vergesellschaftung der Produktion die verschiedenen Industriezweige und minimiert „Engpässe“, d.h. Ungleichgewichte in der Produktion entlang der einzelnen „Glieder“ der Produktionskette. Kurz gesagt, das Ziel der Produktion in Kuba bleibt die Kapitalakkumulation durch Profit. Das gesetzliche Monopol, das der kubanische Staat über die Arbeitsinstrumente ausübt, hat die gesellschaftliche Organisation der Produktion in keiner Weise verändert, denn „das Recht kann niemals über der ökonomischen Struktur der Gesellschaft stehen“25.

Die Anführer der Regierung, die 1959 an die Macht kam, waren zumindest anfangs optimistisch, dass Kuba in der Lage sein würde, sich von seiner Abhängigkeit vom Zucker zu befreien und seine Ökonomie zu diversifizieren. Sie stellten Marx auf den Kopf und argumentierten, dass es für den Aufbau des Sozialismus notwendig sei, die ökonomische Basis Kubas zu entwickeln, d.h. das Kapital schneller zu akkumulieren, indem man die Arbeiterinnen und Arbeiter einer verstärkten Ausbeutung aussetzt. Die US-Wirtschaftsblockade gegen Kuba führte zu einem Mangel an grundlegenden Konsumgütern und Ersatzteilen für bestehende Maschinen, die größtenteils aus den Vereinigten Staaten kamen. Da es keine alternative Quelle für Ersatzteile gab, wandte sich die neue Regierung an die andere imperialistische Großmacht, die Sowjetunion, und bat um ökonomische Unterstützung, die auch sofort gewährt wurde. Die Russen schickten Maschinen nach Kuba, aber die Industrialisierung stieß bald auf einige technische Probleme: Die „Zwischentechnologie“, die in der UdSSR und ihren Satellitestaaten produziert wurde, war schwerfällig und ineffizient und mit einem Großteil der bereits auf der Insel vorhandenen Ausrüstung nicht kompatibel. Kuba musste modernere Maschinen aus Westeuropa oder Japan importieren. Diese konnten jedoch nur mit Dollar gekauft werden, und der schnellste und zuverlässigste Weg, an Dollar zu kommen, war der Export von Zucker. Außerdem musste Kuba, obwohl es von den Russen viel Hilfe erhalten hatte, immer noch die enormen Importrechnungen bezahlen, die sich angehäuft hatten. Auch das konnte es nur durch den Verkauf von Zucker tun26. Der gleiche Prozess, der den kubanischen Staat in den Jahren zuvor dazu brachte, sich sozusagen auf die Zuckerproduktion als Haupteinnahmequelle festzulegen, gipfelte Ende der 1960er Jahre in dem Bestreben, zehn Millionen Tonnen Zucker zu ernten. Die Russen boten Kuba einen garantierten Markt für seine gesamte Zuckerproduktion, so wie es die Vereinigten Staaten bis 1960 (dem Jahr, in dem die Wirtschaftsblockade in Kraft trat) im Rahmen des Gegenseitigkeitsvertrags von 1902 getan hatten27. Da Kuba eine Einzelexportwirtschaft ist, war es schon immer auf einen imperialistischen Sponsor mit einem viel größeren Inlandsmarkt angewiesen, um seine Produktion aufzunehmen. Vor 1960 hatten die Amerikaner diese Rolle übernommen, und nun war die Sowjetunion an der Reihe. In beiden Fällen war der politische Preis, den Kuba zu zahlen hatte, sehr hoch. Die Amerikaner verlangten einen Marinestützpunkt auf souveränem kubanischem Territorium und das Recht, militärisch einzugreifen, um ihre ökonomischen Interessen zu verteidigen, während die Russen verlangten, dass Kuba in verschiedenen bewaffneten Konflikten auf der ganzen Welt als ihr Spielball dient. 1966 handelte Kuba ein lukratives Handelsabkommen mit der Sowjetunion aus, um ihr in den Jahren 1968-69 fünf Millionen Tonnen Zucker zu überhöhten Preisen zu verkaufen, aber die Gesamtproduktion blieb hinter der Quote zurück und betrug im Durchschnitt nur 3,7 Millionen Tonnen in jedem Jahr. Trotz dieses Misserfolgs waren die neuen Machthaber entschlossen, Kuba in eine Industriemacht zu verwandeln, und setzten sich ein noch ehrgeizigeres Ziel, das als Allheilmittel für die ökonomischen Probleme des Landes gedacht war: Kuba sollte den Gesetzen der Natur und der Ökonomie trotzen, indem es seine Produktion innerhalb eines einzigen Jahres verdreifachte und eine Zuckerernte von zehn Millionen Tonnen erzielte. Die Russen würden die 5 Millionen Tonnen zu dem Preis kaufen, der in ihrem Handelsabkommen mit Kuba festgelegt ist, und weitere 2 Millionen Tonnen würden auf dem Weltmarkt zum Durchschnittspreis verkauft, während die restlichen 3 Millionen Tonnen auf dem heimischen Markt an Verbraucher und Unternehmen verkauft würden. Der kubanische Staat, der zum großen Teil von der Partei und ihren gewerkschaftlichen/syndikalistischen Anhängseln unterstützt wurde, startete eine militärisch anmutende Kampagne, um das ganze Land zu mobilisieren, damit das Produktionsziel erreicht wird. Die Bemühungen waren letztlich erfolglos, und die Desorganisation, die die Kampagne in den anderen Wirtschaftszweigen verursachte, hatte dauerhafte Auswirkungen, von denen sich Kuba, so kann man behaupten, noch immer nicht erholt hat. Letztendlich wurden alle Pläne, Kuba im Eiltempo zu industrialisieren, wie es Stalin mit Russland in den ersten beiden Fünfjahresplänen getan hatte, durch die ökonomischen Realitäten der Zeit nach dem Putsch von 1959 sabotiert. Kuba hörte damit auf, die Zuckerkolonnie der Nordamerikaner zu sein, um zum Vasall der Sowjetunion zu werden28.

Die Agrarreformen wurden als das Herzstück des „sozialistischen“ Projekts in Kuba angepriesen. In Wirklichkeit dienten sie jedoch als eine Form der primitiven kapitalistischen Akkumulation und verwandelten die Bauernschaft in eine Klasse von landwirtschaftlichen Lohnarbeitern. Die Parallelen zwischen diesem Prozess und der angeblichen „primitiven sozialistischen Akkumulation“ in Stalins Russland, die zu dem Unsinn der „sozialistischen Marktproduktion“ führen sollte, sind bemerkenswert. Die staatlichen Farmen, die in Kuba durch die Zusammenlegung von Bauernland oder durch die Aufteilung von Großgrundbesitz entstanden sind, arbeiten heute als kommerzielle Farmen. Die Arbeiterinnen und Arbeiter dieser verherrlichten kapitalistischen Unternehmen, die zynisch als „Volksfarmen“ (Granjas del pueblo) bezeichnet werden, erhalten einen winzigen Bruchteil des Gesamtertrags der Ernte, v, der kaum zum Überleben reicht, während der kapitalistische Staat die überschüssigen Produkte, pl, auf den nationalen Märkten verkauft und so seinen Gewinn macht29. Die von oben nach unten verlaufende Verwaltungsstruktur dieser Unternehmen, die auf verstaatlichten Eigentumsverhältnissen beruht, und die fehlende Kontrolle über die Verteilung des entstehenden Produkts werden vom Staat als großer Hemmschuh für die Produktivität angesehen, obwohl es gar nicht anders sein könnte30. Jedes Maß an echter Kontrolle über die Ökonomie, das von den Direktproduzenten ausgeübt wird, bedroht nicht nur das Tempo der Kapitalakkumulation, sondern auch die funktionale Integrität des kubanischen politischen Systems, das auf einem überwältigenden Militarismus beruht und daher nicht toleriert werden kann. Private Bauern und Bäuerinnen sind als Kleinproduzenten und -produzentinnen mit Nießbrauchsrechten (aber nicht Eigentumsrechten) an den Böden in den Nexus der Mehrwertproduktion eingebunden. In der Praxis können sie jedoch nicht frei über das Produkt ihrer Arbeit verfügen, sondern müssen es über die staatlichen Sammelstellen zu festen Preisen an den Staat verkaufen, was einer Akkordarbeit gleichkommt31. So ungewöhnlich es auch erscheinen mag, ihre Situation ist typisch für die der kubanischen Arbeiterinnen und Arbeiter: Sie sind einer rücksichtslosen Ausbeutung ausgesetzt, die keine Grenzen kennt, nicht einmal die der menschlichen Physiologie; sie werden von einer allgegenwärtigen Staatsmaschinerie völlig ruhiggestellt und jeglicher Autonomie beraubt; sie werden ständig von der Polizei, den CDRs (Komitees zur Verteidigung der Revolution – Comités de Defensa de la Revolución) und am Arbeitsplatz von den Gewerkschaften/Syndikate überwacht, die auch eine organisatorische Rolle im kubanischen Staatskapitalismus spielen; sie haben kein Recht, sich zu organisieren oder zu sprechen; sie sind den Launen der Staatsbourgeoisie ausgeliefert usw. In keinem anderen Land wird die Arbeiterklasse so dominiert wie in Kuba, was die kubanische Regierung unmissverständlich als Hauptattraktion für ihre potenziellen Joint-Venture-Partner bewirbt. In einer Studie des Brookings-Instituts, einer kapitalistischen Denkfabrik, wurde festgestellt, dass „die kubanische Konföderation der Kubanischen Arbeiter (Confederación de Trabajadores Cubanos) und die Kommunistische Partei zwar in den Unternehmen verankert sind, diese Organisationen aber in der Regel mit den Produktionszielen des Unternehmens und der angeschlossenen staatlichen Stellen übereinstimmen“, so dass „die Unternehmensleitung keine Angst vor militanten Streiks oder Arbeitsniederlegungen haben muss“32. Der zutiefst reaktionäre Charakter der Gewerkschaften/Syndikate ergibt sich aus der Rolle, die sie im Kapitalismus als Regulierungsinstanz für den Kauf und Verkauf von Arbeitskraft spielen. Sie haben ein Interesse an der Aufrechterhaltung des Lohnarbeitssystems, weil ihre Existenz davon abhängt. Das hat dazu geführt, dass sie als Hilfsorgane in den kapitalistischen Staat integriert wurden, ein Prozess, der in staatskapitalistischen Ländern wie Kuba seinen höchsten Ausdruck findet33. Aber anders als in anderen kapitalistischen Ländern geben die kubanischen Gewerkschaften/Syndikate nicht einmal vor, Arbeiterinnen und Arbeiter zu vertreten oder in ihrem Namen mit den Arbeitgebern zu verhandeln. Sie sind ganz offensichtlich staatliche Organe, die die Aufgabe haben, Arbeitsdisziplin durchzusetzen und die Produktion zu steigern34.

Alle Maßnahmen, die die kubanische Regierung seit 1959 ergriffen hat und die von der Staatsbourgeoisie und ihren internen und externen Unterstützern als konkrete Beweise für ihren „revolutionären“ und „arbeiterfreundlichen“ Charakter angeführt werden, hatten Hintergedanken und wurden mit dem Ziel durchgeführt, den Kapitalismus auf der Insel zu stärken. Das vielleicht beste Beispiel, das diesen Punkt am besten veranschaulicht, ist die erfolgreiche Kampagne der kubanischen Regierung zur Ausrottung des Analphabetismus. Dies ist eines der bleibenden Vermächtnisse des kubanischen Staatskapitalismus und etwas, auf das die Regierung immer wieder zurückgegriffen hat, um ihre Existenz aus moralischer Sicht zu rechtfertigen. Kuba, so heißt es, war ein rückständiges Land mit einer unterentwickelten Ökonomie, das in einer parasitären Beziehung zu seinem nördlichen Nachbarn gefangen war, aber die Revolution hat ihm seine Unabhängigkeit gegeben und es zum Neid von ganz Lateinamerika gemacht. Was diese Leute nicht sehen oder nicht sehen wollen, ist, dass alle Errungenschaften der sogenannten „Revolution“ kategorisch kapitalistische Maßnahmen waren. Ihr Ziel war es nie, den Lebensstandard der kubanischen Arbeiterinnen und Arbeiter zu verbessern, sondern das kubanische Nationalkapital zu vermehren und so eine höhere Ausbeutungsrate (pl zu v-Verhältnis) durch bessere Nutzung der bereits vorhandenen Technologie zu erreichen. Als sich die Beziehungen zu den USA verschlechterten, beschloss Kuba, sich mit der Sowjetunion zu verbünden, und dem Land gingen in der Folge die qualifizierten Arbeitskräfte aus, die es für die Entwicklung seiner Ökonomie benötigt hätte. Die großzügigen Maschinen- und Rohstofflieferungen aus der Sowjetunion stapelten sich auf den Docks, da Kuba weder über das Personal verfügte, um sie zu bedienen, noch über Gebäude, in denen sie gelagert werden konnten35. Um sich zu industrialisieren und damit im globalen Wettbewerb zu bestehen, musste Kuba seine ungebildete Landbevölkerung in Arbeitskräfte verwandeln, die in der Lage waren, einen Mehrwert für den Staat zu erschaffen. Kuba stieß bei seinem Versuch, sich zu industrialisieren, auf unüberwindbare Hindernisse, aber als Restprodukt dieses gescheiterten Prozesses blieben hochqualifizierte Arbeitskräfte übrig. In den letzten Jahren ist der Export von Humankapital zur Haupteinnahmequelle geworden – anstelle der Zuckerproduktion, die nach dem Fall der Sowjetunion wegen des Verlusts eines garantierten Marktes zusammenbrach -, während Tourismus und Überweisungen aus dem Ausland an zweiter bzw. dritter Stelle stehen. Brasilien zahlt dem kubanischen Staat zum Beispiel 4.000 US-Dollar pro Monat für jeden Arzt, der auf eine „internationalistische Mission“ geschickt wird. Diese Ärzte verdienen im Durchschnitt 400 USD pro Monat36. Die Differenz wird von der Regierung als Mehrwert angeeignet, um Militärausgaben und den Luxuskonsum der Staatsbourgeoisie zu finanzieren, oder sie wird in lukrative kommerzielle Projekte reinvestiert, viele davon in Zusammenarbeit mit ausländischen Kapitalisten. Selbst das „sozialistische“ Gesundheitssystem, das von vielen als seine größte Errungenschaft angesehen wird, dient den Akkumulationsbedürfnissen des kubanischen Kapitals. Für das Kapital ist ein staatliches Gesundheitssystem einem privaten oder Mehrzahlersystem, wie es in den USA existiert, vorzuziehen, weil es der gesamten Kapitalistenklasse ermöglicht, das Geld zur Deckung der Kosten für die Reproduktion der Arbeitskräfte, zu denen auch die Gesundheitsfürsorge gehört, zusammenzulegen, anstatt sie einzeln tragen zu müssen. Da die Arbeiterinnen und Arbeiter dadurch häufiger zum Arzt gehen können und außerdem Zugang zu Präventivmaßnahmen haben, werden auch diese Kosten langfristig gesenkt, ganz zu schweigen von den Arbeitsstunden, die durch Krankheit verloren gehen37. Kurz gesagt, es geht darum, den Arbeiter oder die Arbeiterin nach den Anforderungen der erweiterten Reproduktion zu formen und die Kosten für seine oder ihre Bedürfnisse zu minimieren, um noch mehr Mehrwert zu erzeugen.

Die kapitalistische Ökonomie, ob privat oder staatlich, verlangt ein endloses ökonomisches Wachstum, das jedoch nur durch eine Erhöhung der Ausbeutungsrate oder eine Verringerung des Konsums der Arbeiterklasse erreicht werden kann. Die Staatsbourgeoisie in Kuba hat mit beiden Strategien experimentiert, mit katastrophalen Ergebnissen für die Arbeiterinnen und Arbeiter, deren Lebensstandard in den letzten sechs Jahrzehnten absolut dezimiert wurde. Rechte Dissidenten und linke Aktivisten, sowohl auf der Insel als auch im Ausland, haben ihre Lösungen vorgeschlagen, von denen einige diskussionswürdiger sind als andere, aber alle unter demselben Makel leiden: Sie stellen die Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft in keiner Weise in Frage. Der allgemeine Konsens auf der Rechten ist, dass der Befehlsapparat zugunsten eines Freihandelssystems abgebaut und staatliches Eigentum an private Unternehmen oder Einzelpersonen versteigert werden sollte. Weit weniger Einigkeit herrscht jedoch darüber, wie schnell die Entstaatlichung vorangetrieben werden soll (die Erfahrungen Russlands und der ehemaligen Sowjetblockländer sollen als Warnung vor den Gefahren einer „rücksichtslosen Privatisierung“ dienen) und welche Sozialprogramme von der Guillotine verschont bleiben sollen. Die Vorschläge der Linken reichen von der „Selbstverwaltung“ nach jugoslawischem Vorbild, bei der von Arbeiterinnen und Arbeitern geführte Unternehmen in einer Marktwirtschaft konkurrieren, bis hin zum „demokratisierten“ Staatskapitalismus38. Tatsächlich ist einer der häufigsten Kritikpunkte der Linken am Castro-Stalinismus, dass er ungerechterweise alle außer einer Handvoll Menschen von der Entscheidungsfindung ausschließt. Mit anderen Worten: Er ist autoritär und undemokratisch. Diese Kritik verwechselt jedoch die Symptome mit der Krankheit. Der starre und hierarchische Charakter der kubanischen Ökonomie ist eine Nebenwirkung des verstaatlichten Eigentums. Die Umwandlung in individuelles Privateigentum oder die Dezentralisierung mit legalistischen Mitteln würde nichts an ihrem Inhalt ändern. Das Einzige, was sich in diesem Fall ändern würde, wäre die spezifische institutionelle Form des Kapitalismus. In Wirklichkeit laufen alle vorgeschlagenen Lösungen auf kaum mehr als oberflächliche Modifikationen des derzeitigen Systems hinaus, während seine wesentlichen Säulen – Lohnarbeit und Kapitalakkumulation – fest an ihrem Platz bleiben. Es ist bezeichnend, dass alle Faktoren, die als Gründe für solche Veränderungen angeführt werden – z. B. die Verbesserung der Qualität der Rückkopplung, die Beseitigung von Verschwendung, die Steigerung der Produktivität, die Rationalisierung von Unternehmen usw. – auf den strukturellen Zwang zur Vermehrung des nationalen Kapitals zurückzuführen sind. Letztendlich stellt der Links-Rechts-Dualismus nichts anderes als verschiedene Alternativen für die Verwaltung des Kapitalismus dar. Die Arbeiterklasse muss dieses Paradigma in seiner Gesamtheit ablehnen und die sofortige Abschaffung der Lohnarbeit und des Warenaustauschs auf die Tagesordnung setzen, zunächst auf nationaler, dann auf internationaler Ebene. Dazu müssen sich die Ausgebeuteten in Kuba und in allen anderen Ländern als Klasse organisieren, um den kapitalistischen Staat zu stürzen und dieser Repressionsmaschine ein für alle Mal ein Ende zu setzen. Gleichzeitig müssen sie ihre eigene Machtstruktur aufbauen, die auf Arbeiterräten basiert: Gremien aus demokratisch gewählten und jederzeit widerrufbaren Delegierten. Diese Gremien werden für die Enteignung des Kapitals, die ökonomische Planung und die Überwachung der Ausdehnung des „vergesellschafteten“ Wirtschaftssektors – d. h. des Sektors, der ausschließlich für den Gebrauch produziert – auf alle produktiven Tätigkeiten zuständig sein. Das sind die Aufgaben, die vor uns liegen, und in Kuba, wie auch anderswo, kann nur die Arbeiterklasse sie erfüllen. Die Abschaffung des kapitalistischen Systems, in welcher Form auch immer, ist die unabdingbare Voraussetzung für die vollständige Emanzipation der Menschheit und ihre Wiedergeburt als echte Gemeinschaft.

Emanuel Santos


1Grandizo Munis, “Pro Segundo Manifiesto Comunista”, en Teoría y Práctica de la Lucha de Clases, P. 13.

2Samuel Farber (2011) Cuba Since the Revolution of 1959. Chicago: Haymarket. P. 18-19.

3Federico Engels (2009) Socialism: Scientific and Utopian. New York City: Cosimo Inc. P. 67.

4Rene Dumont (1970) Cuba: Socialism and Development. New York City: Grove Press. P. 110.

5Ibid., P. 111-113.

6Farber, op. cit., P. 55-56.

7Constitución de la República de Cuba. Capítulo VII – Derechos, Deberes y Garantías Fundamentales, artículo 45.

8Código de Trabajo de Cuba, Capítulo VI – Disciplina Laboral, sección III, artículos 158-159.

9Ibid., Capítulo II – Contrato de Trabajo, sección XII, artículo 61.

10Nancy A. Quiñones Chang, “Cuba’s Insertion in the International Economy Since 1990”, en (2013) Cuban Economists on the Cuban Economy. Gainesville: University Press of Florida. P. 91.

11Paul Sweezy (1942) The Theory of Capitalist Development. New York City: Monthly Review Press, 1942. P. 52-54.

12Ha-Joon Chang (2008) Bad Samaritans: The Myth of Free Trade and the Secret History of Capitalism. New York City: Bloomsbury Press. P. 14-15.

13OECD, General Government Spending: Total, % of GDP, 1970-2014.

14Karl Marx (1990) Capital, vol. 2. London: Penguin Classics. P. 427.

15Paresh Chattopadhyay (1994) The Marxian Concept of Capital and the Soviet Experience. Westport: Praeger Publishers. P. 18-20.

16Peter Binns & Mike Gonzales, “Cuba, Castro and Socialism”, en “International Socialism” 2:8 (Spring 1980).

17Chattopadhyay, op. cit., P. 54-55.

18CEPAL (2000) La Economía Cubana: Reformas Estructurales y Desempeño en los Noventa, 2nd ed. Mexico City: Economic Culture Fund. P. 205-206.

19Adam Buick and John Crump (1986) State Capitalism: The Wages System under New Management. New York City: St. Martin’s Press. P. 80-93.

20Karl Marx (1990) Capital, vol. 1. London: Penguin Classics. P. 739.

21Zur Klarstellung: Mehrwert und Profit sind nicht dasselbe. Letzterer leitet sich jedoch vom Mehrwert ab, und für den Zweck unserer Untersuchung haben sie dieselbe Funktion. Daher können wir von ihnen sprechen, als wären sie austauschbar.

22Grandizo Munis, “Partido-Estado, Stalinismo, Revolución” en Revolución y Contrarrevolución en Rusia, P. 78-80.

23Dies soll nur zur Veranschaulichung dienen, denn das Wertgesetz wird im Sozialismus nicht funktionieren und der Tauschwert wird überhaupt nicht existieren.

24Karl Marx, ibid., P. 929-30.

25Karl Marx (2008) Critique of the Gotha Program. Rockville: Wildside Press. P. 26.

26Richard Gott (2005) Cuba: A New History. New Haven: Yale University Press. P. 186-188.

27United States Tariff Commission (1929) The Effects of the Cuban Reciprocity Treaty of 1902. Washington: US Govt. Printing Office. P. 66-67.

28Gott, op. cit., P. 240-243.

29Diese wurden nach der Umstrukturierung des Produktivkapitals im Agrarsektor 1993 in Unidades Básicas de Producción Cooperativa -Basiseinheiten der genossenschaftlichen Produktion umbenannt. Ihre interne Organisation und grundlegende Arbeitsweise sind jedoch dieselben.

30Dumont, op. cit., P. 51-52.

31Ibid., P. 80-85.

32Richard E. Feinberg (2012) The New Cuban Economy: What Roles for Foreign Investment? Washington DC: Brookings Institution. P. 58.

33Grandizo Munis, “Los Sindicatos Contra la Revolución”, en Internacionalismo, Sindicatos, Organización de Clase, P. 85-86., hier und hier auch auf deutsch.

34Farber, op. cit., P. 138-139.

35Dumont, op. cit., P. 77.

36Martin Carnoy, “Cuba’s Biggest Export is Teachers, Doctors – Not Revolution”, “Reuters”, Diciembre 24, 2014.

37Für eine tiefergehende Anaylse des Gesundheitssystems in den Vereinigten Staaten, siehe den Artike von Red Hughs, “Capital’s Health Dilemma”, in der ersten Nummer der Zeitschrift “Intransigence”.

38Pedro Campos Santos, “Cuba Necesita un Socialismo Participativo y Democrático. Propuestas Programáticas”, “Cubaencuentro”, August 24, 2008.

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Der Antifaschismus als Waffe der Aufstandsbekämpfung

Am 05.05.2022 veröffentlicht.

Der folgende Text wurde von einem antistaatlichen kommunistischen Gefährten veröffentlicht, der vor einigen Wochen die chilenische Region besuchte und an verschiedenen Foren und Debatten über den antifaschistischen Kampf und die antikapitalistische Kritik teilnahm.


DER ANTIFASCHISMUS ALS WAFFE DER AUFSTANDSBEKÄMPFUNG

Argumente gegen die Zusammenarbeit mit dem Feind

Im Aufruf zu diesem Vortrag heißt es, ich sei ein staatsfeindlicher Kommunist aus der Region Schweiz. Die Schweiz ist ein perfektes Beispiel für einen gebirgigen Staat in der Mitte Europas. Sie ist auch ein wichtiges imperialistisches Zentrum. Die Schweiz ist ein dämonisches Ungeheuer, das als wichtiges Zentrum für den internationalen Rohstoffhandel fungiert. Außerdem beutet es eine beträchtliche Zahl von Migranten in seinem Territorium aus. Viele Chilenen leben in der Schweiz. Das Hauptexportgut der Schweiz ist raffiniertes Gold und raffiniertes Blut. Man kann es an der Flagge erkennen, wenn man sie anschaut.

Es ist leicht zu erklären, warum die Ideologie des Antifaschismus den Zielen der Aufstandsbekämpfung in der Schweiz dient. Der Antifaschismus in der Schweiz ist seit dem Zweiten Weltkrieg in diesem Land eine Staatsdoktrin. Angesichts der drohenden Invasion durch Nazi-Deutschland bildeten die rechten und liberalen Parteien der Schweiz eine Einheitsregierung mit den Sozialdemokraten. Diese Einheit in der Regierung verabschiedete eine Doktrin zur welche sie als die geistige Verteidigung der Nation bezeichnete. Und obwohl diese Einheit aus rechten und linken Parteien in ihrer Zusammensetzung ständig wechselt, regiert sie das Land bis heute unangefochten weiter. Die Schweiz ist ein imperialistischer, korporatistischer und protektionistischer, postfaschistischer Staat. Es handelt sich um ein Land, in dem die einheimische Bevölkerung zu Arbeitern des Kapitals auf Befehl der Arbeitsmigranten befördert wurde. Diese Vorarbeiter, überwiegend Schweizer, leben in relativ sicheren und gut bezahlten Verhältnissen. Die materielle Grundlage für diesen Lebensstil wird von den unterdrückten Massen der Welt bezahlt.

Ich bin Mitglied der Industrial Workers of the World-IWW. Unsere Arbeitskollegen erlitten schwere Arbeitsunfälle in der Werkstatt einer praktisch neuen biochemischen Anlage, die von dem amerikanischen multinationalen Unternehmen Biogen in der Schweiz gebaut wurde. Die Kollegen erlitten Verbrennungen durch die Chemikalien und Maschinen, die sie während des Einsatzes reinigen mussten. Ich sah Bilder von Kollegen, die blutend aus Ohren und Nase aus der Schicht kamen. Sie durften den anwesenden Arzt nicht aufsuchen. Es war ihnen nicht gestattet, Wasser aus den Firmenbrunnen zu trinken. Sie mussten ohne ein garantiertes freies Wochenende arbeiten, in, ich glaube, 13-Stunden-Schichten, mit schwerem Gerät. Wenn die Kollegen einen Schweizer bei der Arbeit sehen, sprechen sie von einem Chef. So sind die Arbeitsbedingungen im Traumland der liberalen Rechten in der Welt.

In dieser Situation schüttet die Schweizer Linke ihr schlechtes Gewissen aus und bemitleidet uns, die Migranten. Sie argumentieren, dass wir als Klasse diese oder jene Stiefelleckerpartei wählen sollten, damit wir das vermeiden, was sie als Faschismus oder extreme Rechte bezeichnen. Und das alles, während unsere Kollegen gerade in einem Gerichtsverfahren in der alten Schweizer Stadt Basel stecken. Die Stadt, in der sich die Hauptsitze von Unternehmen wie Nestlé und Novartis befinden. Weil ein Mitarbeiter die Presse über die Arbeitsbedingungen im Werk informierte, während er sich auf dem Firmengelände aufhielt, wurde er entlassen. In der Schweiz ist es gesetzlich verboten, am Arbeitsplatz mit der Öffentlichkeit zu sprechen. Ein Zusammenschluss von Basisgewerkschaften, darunter die IWW, hat gegen die Entlassung geklagt. Die Anwälte, die von dem multinationalen Unternehmen Biogen und seinen Subunternehmern (mit Büros hier in Chile – gleich um die Ecke) die gegen die IWW angeheuert wurden, sind Nachkommen einer alten, weißen, patriotischen Herrscherfamilie (die Burckhardts) aus Basel. Die Herrschaft dieser feinen bourgeoisen Familie reicht bis in die Zeit der europäischen Renaissance im Jahr 1490 zurück. Ich möchte darauf hinweisen, dass die fremdenfeindlichen und klassenfeindlichen Kampagnen der Rechten nicht gegen die Einwanderung an sich gerichtet sind, sondern dazu dienen, uns zu benachteiligen, nicht nur vor dem Gesetz, sondern auch im täglichen Leben. Schließlich wollen sie, dass wir Migranten hier sind, diszipliniert sind und arbeiten.

Dieses antisoziale Verhalten in den Reihen unserer Klasse, diese narzisstische Selbstgefälligkeit, während wir als menschliche Spezies in diesem Moment immer mehr vor der Katastrophe der gesamten Gesellschaft stehen, ist nicht nur das Privileg der Rechten. Das gleiche Gerede ist in den Reihen der politischen und parlamentarischen Linken zu hören, wenn ihre Funktionäre uns auffordern, wählen zu gehen, und dabei den Finger erheben wie die Pädagogen und guten Polizisten, die sie sind, und uns Arbeiter vor der Gefahr des Faschismus und der Diktatur warnen, wenn wir es vorziehen, nicht zu wählen. Sie wollen, dass wir für ein System stimmen, das uns versklavt und das letztlich eine reine Form ohne Inhalt ist. Bitte entschuldigt mich, aber bevor ich die Frage nach dem Antifaschismus beantworte, muss ich etwas Licht ins Dunkel bringen und einige Konzepte über unsere postfaschistischen Demokratien entwickeln, damit uns klar wird, was mit dem Begriff Antifaschismus heute gemeint ist. Bleibt bitte bei mir. Und entschuldigt, wenn ich das sage, aber angesichts der Intensivierung der Arbeit in den Metropolen seit den 1970er Jahren sollten die Menschen Besseres zu tun haben, als ihre Gedanken an die Funktionsweise der Demokratie zu verschwenden. Aber hier sind wir nun. Sie tun es. Was sollten wir also nach Ansicht unserer Herren unterstützen?

Auf den ersten Blick ergibt die Demokratie sehr viel Sinn. Das scheint gut für uns und unsere Interessen zu sein. In der Demokratie gibt es eine ideale Verpflichtung, die Macht der Bevölkerung zu übertragen. Gleichzeitig besteht jedoch ein echter Anspruch der Oligarchie auf die Herrschaft über die Bevölkerung. Dies führt zu einem allgemeinen Widerspruch. Der Widerspruch besteht zwischen dem individuellen Herrschaftsanspruch und dem Inhalt der modernen Gesellschaften, die arbeitsteilige Massengesellschaften sind. Daher muss in modernen Gesellschaften jeder Staat für die Massen auf seinem Territorium aufkommen. Ihnen einen Ausdruck geben. Eine Verfassung tut genau das. Für eine bourgeoise demokratische Verfassung kritisiert Karl Marx, den ich hier zitiere, einen Widerspruch, der sie einschließt. Er schreibt:

„Der umfassende Widerspruch aber dieser Konstitution besteht darin: Die Klassen, deren gesellschaftliche Sklaverei sie verewigen soll, Proletariat, Bauern, Kleinbürger, setzte sie durch das allgemeine Stimmrecht in den Besitz der politischen Macht. Und der Klasse, deren alte gesellschaftliche Macht sie sanktionierte, der Bourgeoisie, entzieht sie die politischen Garantien dieser Macht. Sie zwängt ihre politische Herrschaft in demokratische Bedingungen, die jeden Augenblick den feindlichen Klassen zum Sieg verhelfen und die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft selbst in Frage stellen. Von den einen verlangt sie, daß sie von der politischen Emanzipation nicht zur sozialen fort-, von den anderen, daß sie von der sozialen Restauration nicht zur politischen zurückgehen.“1

Marx sagt, dass es mit einer demokratischen Verfassung und dem allgemeinen Wahlrecht für die Bourgeoisie keine politische Garantie mehr gibt, dass ihr die gesellschaftliche Macht nicht plötzlich entzogen wird. Aber gerade dieser Rückzug aus der politischen Herrschaft – der Verlust ihrer politischen Herrschaftsgarantie – ist der bisher größte Triumph der Bourgeoisie. Denn soziale Konflikte richten sich nun als politische Konflikte gegen den Staat.

Mit einer Verfassung gibt es zwar eine formale Ausweitung der zivilen Freiheiten, aber der Inhalt dieser Freiheiten ist eingeschränkt. Denn für die Massen kann es auch die Möglichkeit geben, politische Macht zu beanspruchen, aber die politische Macht ist von der sozialen Macht getrennt. Die Ausweitung der sozialen Macht der Klasse würde die Politisierung der Produktionsverhältnisse bedeuten. Aber auf diesen Produktionsverhältnissen beruht die gesellschaftliche Macht der Bourgeoisie. Daher kann der bourgeoise Staat den Massen einfach keine Macht geben, er ist an den Zweck der Sicherung des Privateigentums gebunden.

Im Alltagsbewusstsein verschwindet also genau diese funktionale Abhängigkeit – der Zweck des Staates, das Privateigentum zu sichern -, verschwindet hinter der Erscheinung des Staates als Verkörperung des gemeinsamen und allgemeinen Prinzips der Volkssouveränität. Auf diese Weise verkörpert der Staat das Gemeinwohl, und indem er den Besitzlosen Zugang zur politischen Regierung gewährt, vermittelt er erfolgreich das Bewusstsein der Staatsbürgerschaft bis in die untersten Schichten der Klasse. Kurz gesagt, eine demokratische Verfassung ist eine Integrationsleistung – oder Domestizierung – par excellence.

Indem die Realität unversöhnlicher Klasseninteressen in einem demokratischen Staat geleugnet wird, wird der Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit als bloßes Konsumgefühl mediatisiert, das als diese oder jene Identität anerkannt werden will, vermischt in einem Pluralismus von Interessen, die alle in ihrem sozialen Bewusstsein auf die Sphäre der Verteilung oder die Verteilungspolitik des Staates ausgerichtet sind. Genau dieser Interklassismus (A.d.Ü., Klassenüberfreigung) ist ein historisches Ergebnis des Faschismus – die einheitliche und pluralistische Version der demokratischen Volksparteien und ihrer linken und rechten Gewerkschaften/Syndikate finden sich als fortschrittlicher Ausdruck seines historischen Vorgängers – der faschistischen Einheitspartei und der faschistischen Einheitsgewerkschaften, -syndikate. Es ist auffällig, dass soziale Einrichtungen wie der Kindergarten in Italien oder die Sozialversicherung in Deutschland als sehr moderne soziale Errungenschaften der demokratischen Nation geschätzt werden, während sie in Wirklichkeit als faschistische Politik umgesetzt wurden.

Für die lebenslange konstitutionelle Volkspartei gibt es keine Konflikte mehr, alle Identitäten werden richtig, alle sind vereint gegen den Feind der Bevölkerung, usw. Die erste historische Aufgabe des Faschismus bestand darin, das Proletariat aufzulösen, ohne den Kapitalismus anzutasten. Das Ergebnis des Faschismus ist der autoritäre Staat in seiner postfaschistischen, neoliberalen Form, wie wir ihn heute haben. Dieser autoritäre Staat beruht auf der Bereitschaft der Privilegierten, Opfer zu bringen, solange Freiheit und Wohlstand geschützt werden können.

Ich bestehe darauf, dass das, was die postfaschistische Demokratie auszeichnet, oder das, was der Faschismus historisch erreicht hat, das Neue, vor allem die Gestaltung der Gesellschaft im Sinne eines klassenübergreifenden Kompromisses ist. Und trotz der zunehmenden Zahl von Revolten auf der ganzen Welt ist keine der bisherigen Bewegungen auch nur annähernd in der Lage, die soziale Macht der Bourgeoisie in Frage zu stellen. Alle Aufstände sind durch politische Formen aufgefangen worden.

Aber die politische Form ist die Grenze der Emanzipation.

Um ein aktuelles Beispiel zu nennen. Im Jahr 2004 verkaufte ein linksradikaler Minister in der Regierung der Hauptstadt und des Landes Berlin den größten Teil des sozialen Wohnungsbestands an den Markt. Auf diese Weise – so wurde behauptet – wurde der Staat vor dem Bankrott bewahrt. Ein im Jahr 2004 verkauftes Objekt hatte einen Buchwert von 405 Millionen, heute ist es 7 Milliarden wert.

Heute nehmen der Wohnungsmarkt und damit auch die sozialen Konflikte zu. Ich zitiere die autonome Gruppe „Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft“ zur Wohnsituation in Berlin mit ihrem Text „Kommt kein Schiff wird kommen, um uns zu retten“:

„Viele Jahre lang waren die Mieten in der Stadt niedriger als an den meisten Orten in Deutschland, ganz zu schweigen von anderen europäischen Hauptstädten wie London oder Paris. In den letzten zehn Jahren ist die Bevölkerung Berlins jedoch um 400.000 Menschen – mehr als zehn Prozent – gewachsen, und die Stadtverwaltung hat den Bau bezahlbarer Wohnungen praktisch eingestellt. Dies hat zu einem starken Anstieg der Mieten geführt: zweiundvierzig Prozent (bei Neuvermietungen) seit 2016, mehr als irgendwo sonst im Land. Und bei einer Wohneigentumsquote von nur fünfzehn Prozent betrifft dieses Problem einen großen Teil der Bevölkerung.

In diesem Zusammenhang initiierten einige linke Aktivisten ein Referendum über die Enteignung der Wohnungsbestände in der Stadt. Unter dem Namen einer dieser Immobiliengesellschaften hat die Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ hat zunächst mit einer großen Zahl von Freiwilligen die erforderlichen 170.000 Unterschriften gesammelt und dann im September 2021 an der Wahlurne mit 56,4 % der Stimmen gewonnen.

[Aber!]

Selbst wenn es sich bei der geplanten Enteignung lediglich um einen Zwangsverkauf handeln würde, wäre dies ein Eingriff in die heilige Freiheit des Eigentums. Deshalb hat der Senat wiederholt darauf hingewiesen, dass ein solcher Schritt „ein falsches Signal“ wäre.

Hier liegt das Problem für jede linke Regierung: Auch sie muss um das Kapital werben, denn ohne Investitionen gibt es keine Arbeitsplätze und keine Steuereinnahmen. Und genau hier liegt der Knackpunkt der Kampagne: So pragmatisch der Ton auch sein mag und so pragmatisch die Haushaltsexpertise auch sein mag, der Schritt, den sie fordert, ist einer, den selbst ein linker Senat wahrscheinlich nicht gehen wird. Einige Vertreter der Kampagne sind sich der absehbaren Folgen einer Enteignung bewusst, sehen aber kein Problem darin: „Wenn die Rating-Agentur Moody’s Berlin mit einer Herabstufung der Kreditwürdigkeit droht, sagen wir mit unserer Kampagne: Ja, bleibt weg. Wir wollen sie nicht hier haben“. Keine Regierung, auch wenn sie nominell links ist, kann eine solche Haltung einnehmen, wenn sie noch ein halbwegs rechtes Gehirn hat. Aber die Kampagne hat beschlossen, alle Hoffnungen auf die Regierung zu setzen. [Die Freundinnen und Freunde argumentieren] Was die real existierende Arbeiterklasse zweifellos erschrecken würde, wäre ein Erdrutschsieg beim Referendum. „Siege hingegen inspirieren und schaffen Vertrauen“, schreiben zwei Verteidiger der Kampagne. Aber diese Art von Misserfolg ist unvermeidlich. Am Ende wird es wahrscheinlich eine enorme Demoralisierung geben: die unermüdlichen Bemühungen von mehreren tausend Aktivisten werden höchstwahrscheinlich vergeblich gewesen sein. Entweder verwässert der Senat das Thema und es kommt zu einem Kompromiss, der niemandem hilft, oder er bringt wider Erwarten ein Gesetz zum billigen Ankauf von 240.000 Wohnungen auf den Weg, in welchem Fall die Gerichte einschreiten werden. Oder, und das wäre ein politisch noch fataleres Ergebnis, die „Enteignung“ wird durchgehen, aber der „Mietenwahnsinn“ wird weiter um sich greifen“2.

Die einzige vernünftige Option, die uns bleibt, ist, diesen politischen Kampf als revolutionären sozialen Kampf gegen den Staat wieder aufzunehmen. Denn am Ende – so argumentieren die Freundinnen und Freunde – wird kein Schiff kommen, um uns zu retten. Aber wenn dies geschieht, wenn das Proletariat die politische Verbreitung seines unmittelbaren sozialen Interesses ablehnt, wenn die Berliner Kommune schließlich aufkeimt, dann ist die Gefahr des Faschismus und eines blutigen Krieges gewiss. Was die herrschende Klasse betrifft, so muss der Staat stark und die Ökonomie frei sein. Denn was die Bourgeoisie fürchtet, ist die Politisierung ihrer sozialen Basis, nachdem sie ihre politische Herrschaftsgarantie verloren hat. Der Faschismus verspricht, dass dieses Ziel durch organisierten Terror gegen die Massen erreicht werden kann, wenn die Entpolitisierung der Gesellschaft und der technokratische Stil der politischen Führung vom Proletariat in Frage gestellt werden. Aber dank der gegenwärtigen Passivität der Massen, dank der Wirksamkeit der Wahl- und Verfassungspropaganda besteht für die herrschende Klasse heute einfach noch keine Notwendigkeit, sich zu organisieren und die unproduktiven Kosten eines umfassenden Staatsterrors gegen sie auf sich zu nehmen.

Eine Dimension dieser pro-kapitalistischen und etatistischen Propaganda ist die Ideologie des Antifaschismus als Waffe der Aufstandsbekämpfung. Nun, es gibt eine Dimension des Antifaschismus, die in den Herzen und Köpfen derjenigen Pro-Revolutionäre Angst einflößt, die beschlossen haben, dass es für sie selbst und für die Menschheit besser wäre, diese höllische Landschaft zu verlassen, um ein besseres Leben zu führen. Niemand weiß, ob die herrschende Klasse nicht lieber den Planeten verdampfen lassen würde, als ihre Macht aufzugeben. In diesem Sinne hat die „Antifaschistische Aktion“ eine sehr direkte Verbindung zur Aufstandsbekämpfung für diejenigen, die argumentieren, dass die Aufgabe der menschlichen Emanzipation ohnehin unmöglich zu erreichen ist. Aber für die Feinde einer kommunistischen Weltrevolution ist das Leben die Hölle und das Leiden und vielleicht die Hölle in der Zukunft. Sind diejenigen, die wirklich glauben, dass der Kapitalismus in der Lage ist, die Welt zu reformieren und sie zu einem besseren Ort zu machen, masochistisch? Nein. Auffallend ist, dass das Evangelium des Antifaschismus gerade von denjenigen gepredigt wird, die sich nicht dahinter verstecken, die selbst und als Organisationen jegliches rigorose Denken über die reale Welt aufgegeben haben zugunsten der Sicherung ihrer eigenen Privilegien in ihren Gated Communities, in den Metropolen, in ihren kleinen formellen oder pensionierten Jobs in den Regierungssitzen. Möge die Welt zur Hölle fahren.

Gleichzeitig scheinen fortschrittliche Regierungen machtlos zu sein, wenn es darum geht, den Eingriff des autoritären Staates in das, was von unseren zivilen Freiheiten noch übrig ist, zu stoppen. Überall auf der Welt werden unter dem Deckmantel des Verfassungsschutzes zunehmend repressive Maßnahmen ergriffen. So stimmten die Schweizer Staatsbürger im vergangenen Jahr für ein Gesetz, das die Polizei ermächtigt, Kinder einzusperren und zur Arbeit zu zwingen, wenn sie es wagen, öffentlich über den Umsturz des Staates zu sprechen.

Ich sehe zwei historische Trends im Spiel. Erstens hat die Bourgeoisie, wie ich dargelegt habe, auf eine politische Herrschaft verzichtet. Der Trend zu einem autoritären Staat wird nicht nur durch die Manipulation der Geldgeber und Kapitalisten vorangetrieben. Die Widersprüche des Kapitalismus verschärfen sich im Laufe der Zeit, und damit wird die Verfassung zunehmend als Kontrollinstrument interpretiert. Dies ist ein historischer Rückschritt bzw. eine Abkehr vom Ideal der Demokratie hin zur Diktatur des Kapitals auf dem Terrain der Verfassung.

Zweitens hielt es die Sozialdemokratie in dem Maße, in dem sich die Widersprüche des Weltkapitalismus verschärfen, für zweckmäßig, der Arbeiterklasse die Rolle des Erlösers künftiger Generationen zuzuweisen und ihr damit die größte Kraft zu entziehen, um Walter Benjamin zu zitieren. Diese Formation ließ die Arbeiterklasse sowohl ihren Hass als auch ihren Opfergeist vergessen. Der Antifaschismus ist eine Ideologie, die eine Zeitverschwendung ist und die Revolution auf einen vergessenen Feiertag verschiebt.

Vielen Dank, Johannes Agnoli3.

Ein staatsfeindlicher Kommunist aus der Region Schweiz.


1A.d.Ü., Karl Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850

2A.d.Ü., die hier zitierten Stellen wurde von der Englischen Version des Textes, Kommt kein Schiff, von den Freundinnen und Freunden der klassenlosen Gesellschaft, übernommen, die sich aber von der Deutschen zum Teil sehr unterscheidet.

3Anmerkung von VHLV, Johannes Agnoli war ein deutsch-italienischer „marxistischer“ Politikwissenschaftler. Er wies darauf hin, dass der Staat eine Agentur des Kapitalismus ist, eine Organisation, die die engen Interessen der einzelnen Kapitalisten in das Interesse eines ideellen Gesamtkapitalisten umwandelt, was die Existenz der Ausbeutung erklärt.

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(Chile) Erster Mai: Krise des Kapitals und Krise der Arbeit https://panopticon.blackblogs.org/2022/06/08/chile-erster-mai-krise-des-kapitals-und-krise-der-arbeit/ Wed, 08 Jun 2022 08:05:13 +0000 https://panopticon.noblogs.org/?p=2665 Continue reading ]]> Gefunden auf der chilenischen Seite Vamos Hacia La Vida, die Übersetzung ist von uns.

Erster Mai: Krise des Kapitals und Krise der Arbeit

Am 05.05.2022 veröffentlicht

Wir haben in mehreren Analysen auf den strukturellen Charakter der Krise der Verwertung des Kapitals als hegemoniales Verhältnis, das die gesamte Menschheit und Natur beherrscht, hingewiesen. Heute befinden wir uns in einem Strudel von Konflikten, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, die aber alle aus der Erschöpfung des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit und der auf der Ware und der abstrakten Arbeit beruhenden gesellschaftlichen Synthese resultieren1.

Diese Erschöpfung ist das Produkt der gesellschaftlichen Produktions- und Verteilungsbeziehungen – unseres Metabolismus als sozialer Organismus -, die sich getrennt zwischen verschiedenen Einheiten realisieren, die in ständiger Konkurrenz zueinander stehen, mit dem Verhältnis Kapital/Arbeit2, das sich in einer Umstrukturierung befindet, die einerseits ihre Gültigkeit als Grundlage der Wertakkumulation für die kapitalistische Klasse verliert und die Quelle des Werts untergräbt, indem sie die Arbeiter*innen aus dem Produktionsprozess verdrängt (Industrie 4. 03 und zuvor die Automatisierung der Produktionsprozesse), während sie andererseits mit einer Überakkumulation von Produktions- und Finanzkapital einhergeht, die eine Folge der Ausbeutung des gesellschaftlichen Mehrwerts ist, die historisch die Entfaltung des Kapitals als hegemoniales gesellschaftliches Verhältnis ermöglicht hat und die heute an ihre Grenzen stößt, indem sie die kapitalistischen Gewinne schmälert und verschiedene Phänomene hervorruft, deren Auswirkungen ausschließlich die proletarisierte Menschheit und die natürliche Umwelt betreffen.

Wir können die folgenden auflisten4:

1 – Zyklus von Aufständen in verschiedenen Ländern seit mehr als einem Jahrzehnt (mit der Krise von 2008 als erstem Meilenstein), die meisten von ihnen mit aufständischem Charakter. In dem Maße, in dem die materiellen Lebensbedingungen unserer Klasse in eine Spirale der Prekarisierung geraten, entstehen weitere Ausdrucksformen des proletarischen Widerstands mit ihren Widersprüchen und Grenzen.

2 – Verschärfung der globalen Erwärmung und dramatische Störung der klimatischen und ökologischen Zyklen, auf denen das Leben auf der Erde beruht. Das Kapital in seiner Verwertungskrise intensiviert die Produktion von Waren, um dem Rückgang des individuellen Werts jeder Ware entgegenzuwirken.

3-Beschleunigung des technologischen Wandels, der die Krise der Verwertung nur noch verschärft und die Ausbeutung der „natürlichen Ressourcen“ verstärkt, was unsere Lebensbedingungen noch lebensfeindlicher macht.

4-Finanzialisierung der Ökonomie, die nicht unabhängig von der „realen Ökonomie“ ist und die sich heute als eine Überakkumulation von Geldkapital im Finanzsektor darstellt, die große Störungen in der „realen Ökonomie“ hervorruft, indem sie nur die produktiven Sektoren finanziert, in denen sie eine größere Rentabilität erzielen kann, zum Beispiel die GAFAMs5.

5-Psychischer Zusammenbruch der Menschen, psychische Gesundheitsprobleme, die einen großen Teil der Weltbevölkerung betreffen, verursacht durch die Tatsache, dass unser menschliches Handeln durch Marktbeziehungen vermittelt wird, die eine narzisstische Individualisierung und eine immer stärkere Fragmentierung begünstigen.

6-Wiederaufleben der patriarchalischen Gewalt gegen Frauen und Dissidenz, ein Produkt der Unterordnung der reproduktiven Sphäre unter die irrationale kapitalistische Logik. Dieses Phänomen der Zunahme der Gewalt in all ihren Aspekten, das sich in seiner brutalsten Form in der Zunahme der Femizide ausdrückt, hängt mit dem selbstzerstörerischen Charakter zusammen, den unsere Spezies in der Krise des Kapitals durchläuft, und ist in der notwendigen sexuellen Hierarchisierung der Klassengesellschaften, insbesondere der kapitalistischen Gesellschaften, verankert.

7-Dauerhafter und globaler Ausnahmezustand. In dem Maße, in dem die materiellen Bedingungen, die den letzten Zyklus der Kapitalakkumulation – den „Neoliberalismus“ von den 1970er Jahren bis zu seinem aktuellen Zusammenbruch (ab 2008) – ermöglicht haben, in eine Krise geraten, ordnen die kapitalistischen Staaten ihre Karten neu, um den immer häufigeren Prozessen der Revolte zu begegnen. Insbesondere in der chilenischen Region wurde der Ausnahmezustand während der Revolte, der Pandemie, in der Wallmapu (aufgrund des seit Jahren andauernden sozialen Krieges) und wegen der Migrationskrise im Norden verhängt oder nicht; die derzeitige fortschrittliche Staatsregierung hat ihn nicht aufgehoben, sondern sogar geprüft, wie er aufrechterhalten werden kann.

8 – Kapitalistischer Krieg und „geopolitische Neuordnung“. Dieser letzte Punkt ist als Versuch zu verstehen, den Tendenzen der Verwertungskrise entgegenzuwirken, indem die Vorherrschaft der kapitalistischen Fraktionen über die Territorien und ihre Energieressourcen, Rohstoffe, Märkte usw.6 gesichert wird.

9-Anstieg der Staatsverschuldung verschiedener Länder. Dies hat sich in den letzten Jahren7 noch verschärft, da Länder wie Spanien, Portugal, Irland und Griechenland infolge des Abbaus der Wohlfahrtsstaaten in der Eurozone gezwungen waren, Haushaltskürzungen in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Wohnen usw. vorzunehmen. – Dies hat den „Eroberungen“ der alten Arbeiter*innenbewegung ein Ende gesetzt und ein günstiges Szenario für die Entwicklung neo- und postfaschistischer Bewegungen in vielen Ländern Europas und der Vereinigten Staaten geschaffen, indem das Problem nicht in der Erschöpfung des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit, sondern in der Trennung zwischen einem einheimischen Proletariat und einem ausländischen Proletariat gesehen wurde, das um Arbeit und Sozialleistungen konkurrieren würde.

Die Krise der Verwertung des Kapitals ist zugleich die Krise der Arbeit, denn die Einheit Kapital/Arbeit ist ein Verhältnis, das im Rahmen der kapitalistischen Verhältnisse keine Lösung findet. Nur ihre Überwindung und eine neue Dynamik des sozialen Metabolismus, in der die menschliche Aktivität vom Zwang des Kapitals befreit wird, gibt uns die Möglichkeit, die sozial-ökologische Krise zu überleben, mit der wir konfrontiert sind. Das heißt, die Überwindung der Herrschaftsverhältnisse in unserer Spezies und auf der Erde, oder mit anderen Worten, eine globale menschliche Gemeinschaft, die in die ökologischen Kreisläufe der natürlichen Umwelt integriert ist.

Inflation als Symptom der Krise

In den letzten Wochen haben wir einen noch nie dagewesenen Anstieg der Preise für unsere Lebenshaltungskosten erlebt. Kraftstoff und Lebensmittel sind in den letzten 12 Monaten8 in die Höhe geschossen und gefährden die Wachstumsprognosen. Während die einen den Abzug der AFP und die anderen den Krieg in der Ukraine dafür verantwortlich machen, folgen die Preise ihrem eigenen widersprüchlichen Charakter innerhalb der Krise der Kapitalverwertung. Eine der Möglichkeiten für die kapitalistische Klasse, den Trend sinkender Profitraten zu verlangsamen, besteht darin, die durch steigende Energie- und Rohstoffressourcen verursachten erhöhten Produktionskosten auf ihre Abnehmer – seien es andere Unternehmen oder normale Verbraucher*innen – abzuwälzen.

Sowohl der Krieg als auch die vorangegangene COVID-19-Krise beschleunigen nur tiefere Prozesse der Krise, die die Welt9 überrollt (und sind gleichzeitig extreme Erscheinungsformen davon), und die schreckliche Auswirkungen auf unsere Reproduktion als proletarisierte Menschheit hat. Die sich entfaltende Krise führt sowohl zu einem innerkapitalistischen Kampf, bei dem die kleinen und mittleren Kapitalist*innen am meisten zu verlieren haben, indem sie eine weitere Zentralisierung des Großkapitals bewirken, als auch zu einem erneuten Klassenkampf. Die Revolten der letzten Jahre sind der Ausdruck der Erschöpfung der Welt des Kapitals. Bei allen Widersprüchen zeigt unsere Klasse deutlich, dass wir um unser Leben kämpfen werden.

In diesem Rahmen der Auseinandersetzungen zwischen den Kapitalist*innen sind die steigenden Warenpreise nichts anderes als ein Ausdruck des – widersprüchlichen – Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit; einerseits verringert die Verdrängung der Arbeiter*innen aus dem Produktionsprozess10 die Masse des gesellschaftlichen Mehrwerts, die in die Welt als Ganzes gepumpt wird, und andererseits tun die Kapitalist*innen nichts anderes, als diese Masse des gesellschaftlichen Mehrwerts anzufechten, indem sie die Ausweitung ihrer Unternehmen aufgrund ihrer sinkenden Rentabilität immer schwieriger machen und zunehmend Zugang zu Krediten benötigen. Die Ausweitung des Finanzsystems entspricht dieser Dynamik, bei der die Banken Liquidität für die Ausweitung der realen Ökonomie bereitstellen, aber dadurch, dass sie dies auf der Grundlage einer zukünftigen – unsicheren – Rentabilität tun, werden unerwünschte Phänomene wie die Geldentwertung – eine der Quellen der Inflation – erzeugt. Andererseits erhöht der Rückgang der Profitrate der Kapitalist*innen den Druck auf sie, die Preise zu erhöhen und dem Proletariat einen größeren Anteil seines Reallohns abzunehmen, wodurch diese Tendenz zu geringer Rentabilität gebremst wird, aber die Preise für Waren mit stagnierenden oder steigenden Löhnen steigen, Der Konsum wird sich auf die produktiven Zweige der Subsistenzmittel konzentrieren, während der Verbrauch anderer nicht lebensnotwendiger Güter zurückgehen wird, was ein großes Problem für andere Kapitalist*innen darstellt, die den „Gürtel enger schnallen“ müssen – Entlassungen, Verschuldung und Umstrukturierung – oder in Konkurs gehen werden. Wie man sieht, haben diese Preissteigerungen eine strukturelle Komponente – den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit -, die keine Geldpolitik isoliert lösen kann, denn die gegenwärtige Krise ist die Krise der globalisierten Wirtschaft, und unsere zunehmende Prekarität kann nur durch den Sturz der Welt des Kapitals und die Errichtung der globalen menschlichen Gemeinschaft überwunden werden.

Lokale Auswirkungen der Krise in einigen Zahlen

In der staatlich dominierten Region Chiles wird uns die Krise des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit unter dem Begriff der informellen Arbeit präsentiert. Laut der letzten nationalen Beschäftigungserhebung des INE11 für die Quartale November 2021 und Januar 2022 macht diese Art von Arbeit 27,8 % der Gesamtbeschäftigung aus, während die Arbeitslosigkeit bei 7,5 % liegt, wobei sich hinter diesem Begriff die Krise der Arbeitswelt verbirgt, die 35,3 % ausmacht und die in gewisser Weise die Unmöglichkeit des Eintritts in den formellen Arbeitsmarkt definiert12. Die Tendenz der informellen Arbeit ist jedoch steigend. Da das Kapital daran gehindert wird, die Arbeitskraft aufzusaugen, werden unsere Lebensbedingungen immer prekärer, was die Trennung zwischen uns fördert, da wir durch den Wettbewerb versuchen, einen Arbeitsplatz zu bekommen oder Waren im formellen/informellen Handel zu verkaufen. Seltsamerweise beklagen sich einige Kapitalist*innen – und Menschen, die aufgrund ihres geringen Verständnisses des Phänomens, was Kapital als soziales Verhältnis bedeutet, oder aufgrund faschistischer Überideologisierung – über den Zuzug von Geschwistern13 aus anderen Regionen des Kontinents als Faktor der Arbeitslosigkeit; doch trotz ihrer Klagen beuten sie diese Menschen sowohl formell als auch informell aus, da sie, wie das INE14 angibt, etwa 11 % der Erwerbsbevölkerung ausmachen, mit einem hohen Anteil an informeller Beschäftigung – wo sich die exzessivsten Missbräuche der proletarisierten Menschheit materialisieren.

In der Zwischenzeit steuert das Kapital auf eine tiefe Rezession zu, die, wie bereits erwähnt, strukturell bedingt ist und durch die COVID-19-Pandemie sowie in letzter Zeit durch den Krieg zwischen Russland und der Ukraine noch verschärft wurde. Die Wachstumsprojektionen der heutigen Technokraten erklären lediglich das Phänomen des Rückgangs dieses Wachstums, ohne zu verstehen, dass dahinter die Erschöpfung des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit, die Ausbeutung des gesellschaftlichen Mehrwerts steht. So zeigen zum Beispiel die Projektionen des letzten IPOM-Berichts15 der Zentralbank für Chile: „Die jährliche Veränderung des BIP wird über mehrere Quartale hinweg negativ sein, mit einem prognostizierten Wachstum zwischen 1,0 und 2,0 im Jahr 2022 und zwischen -0,25 und +0,75% im Jahr 2023“. Geringes und negatives Wachstum bedeutet weniger Investitionen in Kapital, das die verfügbaren Arbeitskräfte absorbiert, wodurch die überschüssige Bevölkerung, die keine formelle Arbeit aufnehmen kann, zunimmt, und mehr Investitionen, die eine höhere Rentabilität erzeugen – Ersatz von lebendiger Arbeit durch tote Arbeit, wie Maschinen, Automatisierung usw. -. Auf der anderen Seite werden unsere Bedürfnisse, die von Waren-Tauschbeziehungen dominiert werden, zunehmend auf größere Hindernisse stoßen, und hier betrifft das Problem der Inflation und der wachsenden Arbeitslosigkeit uns als Klasse auf eine transversale Weise.

In diesem Kontext der allgemeinen Krise macht der reformistische Kampf für die Arbeitsrechte weniger Sinn denn je, denn einerseits ist er auf diesem Terrain unmöglich zu lösen und verurteilt uns daher zu erschöpfenden und ohnmächtigen Erfahrungen, während er andererseits nur vorgibt, einen der zentralen Aspekte der kapitalistischen Dynamik zu verewigen, die uns auf schmerzhafte Weise zu den aktuellen Anzeichen des sozialen Zusammenbruchs geführt hat. In diesem Sinne haben uns die massiven und langwierigen Revolten der letzten Jahre einen Einblick in die Formen und Inhalte der revolutionären Prozesse gegeben, die wir fördern müssen, um das gegenwärtige Elend zu überwinden. Es ist notwendig, die Sehnsüchte einer traditionellen Arbeiter*innenbewegung zu kritisieren und zu verwerfen, sowie die arbeiteristischen Perspektiven16, die diese Vergangenheit (bereits in ihrem eigenen unzureichenden Kontext) als Form für zukünftige Kämpfe projizieren. Keine selbstbefreiende proletarische Bewegung wird Früchte tragen, indem sie die eigentliche Bedingung der Arbeiter*innen oder der Arbeit selbst bejaht, sondern ganz im Gegenteil.

In der notwendigen Ablehnung unserer Unterordnung unter die Imperative der Ökonomie, der Arbeit, in die uns die Realität selbst hineinzieht, indem sie unsere Existenz immer prekärer und erdrückender macht, kann der Aufbau einer solidarischen Welt beginnen, die uns ein erfülltes Leben sichern kann. Aber eine solche menschliche Gemeinschaft ist kein automatisches Ergebnis der Krise, aus der die kapitalistische Klasse auch auf unsere Kosten einen Ausweg sucht, sondern wird aus den Kämpfen hervorgehen, die wir heute zu führen beginnen. Passivität wird niemals unsere Option sein.

Vamos Hacia la Vida, Mai 2022


1„Abstrakte Arbeit“ ist ein von Marx im Kapital entwickelter Begriff, der sich auf die Substanz des Werts bezieht. Sie besteht in der Reduktion aller konkreten, sinnlich wahrnehmbaren Arbeit durch den Austausch der Produkte dieser Arbeit, die als Waren definiert werden. Es ist die Zerstörung aller Qualitäten der menschlichen Tätigkeit im Prozess des Warentauschs. Für weitere Einzelheiten siehe Das Kapital, Erster Band, S. 51-57 (spanischsprachige Ausgabe, A.d.Ü.).

2Das Kapital, personifiziert in der Figur der Kapitalist*innen, und die Arbeit, personifiziert in der Figur der Arbeiter*innen, ein Verhältnis, das sich als soziale Klassen mit antagonistischen Interessen manifestiert.

3A.d.Ü., auch bekannt als die vierte industrielle Revolution, sieht die Digitalisierung der Produktion vor, um diese zu verbessern und den technologischen Fortschritten anzupassen.

4Wir entlehnen diese Punkte aus der Bilanz der Revolte in Chile, die ein Gefährte im folgenden Blog gezogen hat, und empfehlen die Lektüre, um den strukturellen Charakter der Erschöpfung des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit zu vertiefen: https://necplusultra.noblogs.org/post/2022/04/19/revuelta-en-la-region-chilena-un-balance-historico-critico/

5Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft, die Milliardär*innen des 21. Jahrhunderts sind mit dieser Art von Unternehmen verbunden, und obwohl viele von ihnen unproduktives Kapital sind, konzentrieren sie die Masse des gesellschaftlichen Mehrwerts, der vom Rest der proletarisierten Menschheit herausgepumpt wird.

7Der folgende Link zeigt, dass die meisten großen Ökonomien eine hohe Verschuldung im Verhältnis zum BIP haben, in vielen Fällen über 100%: https://datosmacro.expansion.com/deuda

8Einen besseren Überblick über die Preissteigerungen bietet die Infografik unter https://www.instagram.com/p/CcGG_wPrFFT.

9Siehe https://datosmacro.expansion.com/ipc-paises

10Sowohl die Massenmigrationen, die insbesondere das vom chilenischen Staat beherrschte Gebiet betreffen, als auch Formen der Unterbeschäftigung wie digitale Plattformen, Teilzeitarbeit usw. sind Ausdruck dieser Vertreibung.

11Siehe (auf Spanisch): https://www.ine.cl/estadisticas/sociales/mercado-labora

12Im Jahr 2021 stieg die informelle Beschäftigungsquote laut INE um 13,3 %, mit deutlichen Unterschieden zwischen Männern und Frauen, siehe: https://www.ine.cl/prensa/detalle-prensa/2022/02/03/tasa-de-ocupaci%C3%B3n-informal-aument%C3%B3-interanualmente-y-lleg%-C3%B3-a-28-3-en-el-trimestre-octubre-diciembre-de-2021

13A.d.Ü., gemeint als Gleichgesinnte im Sinne der Klasse.

14Siehe das Bulletin zur Beschäftigung von Arbeitsmigrant*innen hier: https://www.ine.cl/prensa/2021/12/10/servicio-nacional-de-migraciones-junto-al-ine-publican-el-primer-bolet%C3%ADn-de-empleo-migrante

15Die Zusammenfassung dieses Berichts ist hier zu finden: https://www.bcentral.cl/resumen-ipom/-/detalle/resumen-ipom-marzo-2022

16A.d.Ü., hier ist die Rede von obrerismo was wortwörtlich Arbeiterismus oder Arbeitertum bedeuten würde. Arbeitertum ist eine Form der kapitalistischen Ideologie, die unter selbsternannten Revolutionär*innen weit verbreitet ist. Es handelt sich um eine Ideologie, die die Akzeptanz des Verhältnisses zwischen Arbeit und Lohn (Kapital) bei Personen fördert, die sich der damit verbundenen Ausbeutung bewusst sind. Es handelt sich also um eine der höchsten Formen der Entfremdung.
Die Verehrung der Arbeiter*innen findet sich in verschiedenen staatsorientierten Ideologien, wie dem Stalinismus und dem Nationalsozialismus. Die Arbeiter*innen werden für ihre Rolle als Baumeister*innen von Nation, Staat und Kapital geehrt. Der Arbeitertum verehrt die manuelle Arbeit, die „Arbeit mit dem Hammer“. Ihre Vision des Proletariats ist der „muskulöse Man“. Durch ihre Ablehnung von Handels- und Büroarbeit lehnt sie einen großen Teil der weiblichen Lohnempfängerinnen ab und erweist sich damit als sexistisch.
Der Arbeitertum war in der Arbeiter*innenbewegung von Anfang an präsent. Die ersten christlich inspirierten Arbeiter*innenvereinigungen verehrten Ehrlichkeit und Arbeit. Dieser Moralismus grenzt an Arbeitertum, die letzte Bastion der christlichen Ideologie in der Arbeiter*innenbewegung.
Die stärksten Befürworter des Arbeitertums sind nicht die Arbeiter*innen (die im Allgemeinen keine andere Chance zum Überleben haben), sondern die ehemaligen Randgruppenarbeiter*innen, die eine moralische Entscheidung getroffen haben, „revolutionäre“ Arbeiter*innen zu werden. Ihr Bekenntnis zum Arbeitertum ist eine Kompensation für ihre Unsicherheit über ihren Klassenstatus und eine Verurteilung von Proletarier*innen, die sich anders entscheiden.
Auf der theoretischen Ebene sieht der Arbeitertum die Revolution als Ergebnis einer Eskalation des täglichen Arbeiterkampfes im Kapitalismus. Die revolutionäre Geschichte widerspricht dieser Theorie immer wieder. Die französische und die russische Revolution wurden durch Krieg und Widerstand gegen die Monarchie geprägt, die portugiesische und die deutsche Revolution durch Unruhen, die französische Mai-Revolution durch einen Student*innenkampf.
Der Arbeitertums begegnet dem historischen Scheitern seiner Theorie nicht mit einer Korrektur seiner Theorie, sondern mit einer historischen Fälschung, wobei in jedem Fall die Rolle der Nicht-Arbeiter*innen geleugnet oder heruntergespielt wird. Die revolutionäre Theorie hingegen analysiert die tatsächlichen Ereignisse, um die Schwachpunkte des Kapitalismus zu verstehen.
Die produktiven Arbeiter*innen haben nach Ansicht der Arbeiterristen eine entscheidende Position inne, weil sie den Kapitalismus zerstören können, wenn sie aufhören zu arbeiten. In Wirklichkeit wird ihre Bedeutung überschätzt, denn die Produktion ist nur ein Teil des akkumulativen Wertkreislaufs. Auch die Beschäftigten in den Bereichen Kommunikation und Vertrieb sind eine starke Kraft. Ein Streik der Bankangestellten kann größere Auswirkungen auf das Kapital haben als ein Streik der Autoarbeiter*in, während eine Welle von Unruhen in den Städten mehr Auswirkungen haben kann als beide zusammen.
Die Suche nach den entscheidenden Fraktionen innerhalb des Proletariats, deren Kampf privilegiert ist, offenbart die hierarchische Sichtweise der Arbeiter*innenbewegung. Sie entspringt der Auffassung, dass der Kommunismus/Anarchismus ein fertiges Programm ist, das nur noch von Truppen umgesetzt werden muss. Darin spiegelt sich das Überbleibsel des alten Sozialismus der II. und III. Internationale in seinen sozialdemokratischen, leninistischen oder syndikalistischen Ausprägungen wider.
Diese Theorie sieht den Klassenkampf als einen (bourgeoisen) Krieg mit Soldat*innen und Generäl*innen. Der Berufsrevolutionär*in legt das Programm fest, und die Arbeiter*in setzen es in die Praxis um.
Arbeitertum und Intellektualismus sind gegensätzlich, aber keine Gegensätze, sie ergänzen sich, Denken und Handeln sind getrennt, die Arbeiter*innen müssen die Ideen der Theoretiker*innen in die Praxis umsetzen. Die Arbeiteristen haben oft ihre eigene Kritik an den Intellektuellen und nicht an den Arbeiteristen selbst. Die Arbeiter*innen müssen die Intellektuellen überwinden, aber nicht den Arbeiteristen, der vorgibt, anders zu sein als ein spezialisierter Denker. Die Arbeiter*innenbewegung hält an der Trennung von Handeln und Denken und der faktischen Privilegierung des Denkens fest, die dem Kapitalismus eigen ist.
Das revolutionäre Subjekt sind nicht die produktiven Arbeiter*innen, nicht einmal die Arbeiter*innen, es ist das Proletariat, diejenigen ohne soziale Macht oder ökonomisches Kapital, die nichts außer ihren Ketten zu verlieren haben. Darüber hinaus können die nichtproletarischen Schichten in einem revolutionären Kontext eine voll aktive Rolle spielen, wenn das Proletariat selbst aktiv ist.
Das Ziel der kommunistischen/anarchistischen Bewegung ist also nicht die Verwirklichung des Arbeiter*innenstaates, sondern die Abschaffung aller sozialen Klassen, um die menschliche Gemeinschaft zu erreichen, die durch den antikapitalistischen Kampf geschaffen wird.

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(Chile) Die Verteidigung der Nation ist die Verteidigung des Staates und der Ausbeutung https://panopticon.blackblogs.org/2022/04/25/die-verteidigung-der-nation-ist-die-verteidigung-des-staates-und-der-ausbeutung/ Mon, 25 Apr 2022 08:13:02 +0000 https://panopticon.noblogs.org/?p=2588 Continue reading ]]> Vor etwas längerer Zeit auf Vamos hacia la vida gefunden, die Übersetzung ist von uns

Die Verteidigung der Nation ist die Verteidigung des Staates und der Ausbeutung

Veröffentlicht am 27.09.2021

Die folgenden Zeilen sind einige kurze Überlegungen zu den Ereignissen vom Samstag, den 25. Oktober in Iquique, die eine neue Phase der lokalen Migrationskrise widerspiegeln, die wiederum Teil der globalen Migrationskrise ist.

Die Verteidigung der Nation ist die Verteidigung des Staates und der Ausbeutung

Nach den beklagenswerten Bildern, die am vergangenen Samstag, den 25. September in der Stadt Iquique von einem wütenden und irrationalen Mob gezeigt wurden, der die Zelte und das wenige Hab und Gut von Familien, die zumeist aus Venezuela stammen und vor dem Zusammenbruch des kapitalistischen „bolivarischen Projekts“ des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ fliehen, verbrannt hat, halten wir es für notwendig, einige allgemeine Überlegungen zu dem „faschistischen Moment“ anzustellen, den wir alle gerade erlebt haben.

Rassismus und Fremdenfeindlichkeit haben nichts mit einer natürlichen und primitiven „Angst vor dem Unbekannten“ zu tun. Ihre Wurzeln liegen vielmehr in der Entstehung von Gesellschaften die in Klassen aufgeteilt sind (die nur etwa 10 % der Menschheitsgeschichte ausmachen) und insbesondere in der Entwicklung des Kapitalismus. Die Tatsache, dass die Hautfarbe oder der Geburtsort zu Elementen der Diskriminierung, des Missbrauchs und der Unterdrückung werden, erklärt sich aus der Notwendigkeit, eine bestimmte Gruppe von Menschen zu benachteiligen, um ihre Ausbeutung durch eine andere zu ermöglichen.

Dies wird deutlich, wenn man sich die jüngste Geschichte des europäischen Kolonialismus in der übrigen Welt vergegenwärtigt, der nichts anderes war als ein blutiges Unternehmen zur Versorgung der Staaten der Alten Welt mit Rohstoffen und Arbeitskräften, ein Prozess, der am Anfang des Kapitalismus als Herrschaftssystem im globalen Maßstab steht. Sklaverei und brutalste Ausbeutung waren der Ursprung und die Frucht des Fortschritts der Zivilisation des Kapitals.

Um diesen Prozess zu rechtfertigen, verfügte die herrschende Klasse über ein ideologisches Arsenal, das sich zunächst auf die Religion und dann auf die Wissenschaft stützte. Im 18. und 19. Jahrhundert entstanden aus der vermeintlichen Neutralität der wissenschaftlichen Forschung verschiedene „Theorien“, die eine natürliche Determination predigten, um die Existenz einer Hierarchie der „Rassen“ zu erklären, die auch auf der Annahme einer transversalen Minderwertigkeit der Frauen beruhte.

Die heutige Ablehnung von „Ausländern“, die von einem Teil der Gesellschaft geäußert wird, ist eine direkte Folge des Nationalismus. Der Begriff der Nation selbst ist ein Begriff der herrschenden Kultur. Durch Grenzen abgegrenzte Territorien, in denen die Staaten ihre eigene Bevölkerung unter der Prämisse ausbeuten, dass diese zum Wachstum des Vaterlandes beiträgt (kann es einen Zweifel am patriarchalischen Ursprung dieses Begriffs geben?)

Andererseits sind die Migrationsströme entweder das Produkt von Kapitalbewegungen und den damit verbundenen Krisen (Vertriebene und Flüchtlinge aufgrund von Kriegen, Hungersnöten, der miserablen materiellen Bedingungen einiger „armer Nationen“, des Zusammenbruchs von Staaten und in jüngster Zeit der dramatischen klimatischen Umwälzungen des Weltklimas), oder sie sind das Produkt der ökonomischen und sozialen Krise der ärmsten Länder der Welt, oder direkt von den Interessen der herrschenden Gruppen gesteuert werden, um sich mit billigen Arbeitskräften für Arbeiten zu versorgen, die „ihre“ Staatsbürger entweder aufgrund des ökonomischen Drucks oder aufgrund von Veränderungen in der demografischen Struktur ihrer Bevölkerung nicht in der erforderlichen Menge übernehmen. Darüber hinaus ermöglicht dieser Zustrom von Menschen aus anderen Nationen falsche Konflikte innerhalb des Proletariats, weil die Einwanderung effektiv dazu beiträgt, den Preis des variablen Kapitals (das wir, das Proletariat, sind) zu senken, d.h. die Löhne zu senken, und auf diese Weise würden die Pfeile der einfachsten Gemüter, die mehr nach den Werten des Kapitals erzogen wurden, gegen ihre eingewanderten Brüder und Schwestern gerichtet, die als Konkurrenz angesehen werden, wodurch die Konfrontation mit der kapitalistischen Klasse selbst geschwächt würde (diese Maßnahmen werden in der Regel von progressiven Sektoren verteidigt und gefördert, manchmal unter einem angeblich antirassistischen und integrierenden Diskurs).

Indem wir Fremdenfeindlichkeit kontextualisieren und versuchen, die sozialen Beziehungen aufzudecken, die sie hervorbringen, wollen wir den Unglücklichen, die ihre eigene Menschlichkeit durch das Nachgeben gegenüber rassistischen Vorurteilen und Nationalismus besiegt sehen, keine ethische Rechtfertigung geben.

Die Verteidigung der Nation ist die Verteidigung des Staates und des Privateigentums. Das Nationalgefühl ist ein verachtenswerter Deckmantel, um den unversöhnlichen Konflikt zwischen Ausbeutern und Ausbeutern innerhalb der Grenzen eines Landes zu verschleiern, ein Prozess, der von der herrschenden Klasse in allen Nationen wiederholt wird. Das Gefühl der nationalen Einheit ist ein Triumph unserer Klassenfeinde.

Ein Gemeinwesen, das auf der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und nicht auf der unaufhörlichen Akkumulation von Kapital beruht, wird jede Vorstellung von politischen Grenzen und sozialen Hierarchien und damit auch den Rassismus und alle Formen der Diskriminierung aufgrund von körperlichen Merkmalen oder des Geburtsortes, die eindeutig lächerlich sind und heute bekämpft werden müssen, von ihren Fundamenten fegen.

NIEDER MIT DEN GRENZEN, DIE DIE MENSCHHEIT EINSCHLIESSEN UND VERSTÜMMELN!

NIEDER MIT RASSISMUS UND FREMDENFEINDLICHKEIT!

FÜR DIE MENSCHLICHE GEMEINSCHAFT-GEMEINWESEN!

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(Chile) Reflexionen über das anhaltende kapitalistische Gemetzel, Russland-Ukraine https://panopticon.blackblogs.org/2022/03/22/chile-reflexionen-ueber-das-anhaltende-kapitalistische-gemetzel-russland-ukraine/ Tue, 22 Mar 2022 21:58:17 +0000 http://panopticon.blackblogs.org/?p=2555 Continue reading ]]> Gefunden auf vamos hacia la vida, die Übersetzung von uns

Reflexionen über das anhaltende kapitalistische Gemetzel (Russland-Ukraine)

Veröffentlicht am 09.03.2022

„Die Absurdität eines antifaschistischen Kampfes, der den Krieg als Aktionsmittel wählt, wird damit klar aufgezeigt. Es würde nicht nur bedeuten, eine grausame Unterdrückung zu bekämpfen, indem die Völker unter der Last eines noch grausameren Massakers erdrückt werden, sondern auch, das Regime, das es zu unterdrücken galt, unter einer anderen Formel auszuweiten. Es ist naiv zu glauben, dass ein Staatsapparat, der durch einen siegreichen Krieg mächtig geworden ist, die Unterdrückung des eigenen Volkes durch den feindlichen Staatsapparat mildern würde; es wäre noch naiver zu glauben, dass er es zulassen würde, dass sich eine proletarische Revolution unter dem Volk erhebt, indem die Niederlage ausgenutzt wird, ohne sie im gleichen Moment in Blut zu ertränken (…) besonders im Kriegsfall muss man sich entscheiden, ob man das Funktionieren der Militärmaschinerie, deren Rädchen man ist, behindert oder mit dieser Maschine kollaboriert, um blindlings Menschenleben zu vernichten“. Simone Weil, Überlegungen zum Krieg, 1933.

Die gegenwärtige Entwicklungsphase der kapitalistischen Produktivkräfte – die nichts anderes als ihre zerstörerischen Kräfte sind – bringt Ereignisse mit sich, die aufeinander folgen, wie eine immer stärker werdende Spirale ihrer allgemeinen Krise, in der die Krise der Arbeit – die sich in der Verdrängung der Menschen aus dem Produktionsprozess selbst manifestiert -, Umweltzerstörungen – von denen die Covid-19-Pandemie und der Klimawandel unmittelbare Folgen sind -, große Migrationsströme und andere Katastrophen, die zum Alltag geworden sind, zusammenkommen. Der Krieg und der Militarismus sind untrennbar mit dieser irrationalen Dynamik des Kapitalismus verbunden: heute stehen wir vor der angeblich größten militärischen Mobilisierung seit dem Zweiten Weltkrieg, dem Einmarsch der Russischen Föderation in die Ukraine, unter dem angeblichen Vorwand, der „Nazifizierung“ entgegenzutreten und das Separatistengebiet im Donbass zu verteidigen.

Als ob die kapitalistische Katastrophe und die von ihr mobilisierten Kräfte der Konterrevolution nicht schon genug wären, erleben wir, wie Gruppen, die sich selbst als antikapitalistisch bezeichnen, den Vormarsch und das Bombardement der russischen Truppen auf ukrainische Städte offen oder heimtückisch/arglistig verteidigen. Einige aufgrund einer Art von Russlandliebe, die mit einer gewissen Nostalgie für die UdSSR zusammenhängt, andere, weil sie die politischen und militärischen Kräfte des Westens, mit denen Russland konfrontiert ist, als Verkörperung des absolut Bösen betrachten, und wieder andere, weil sie der Ansicht sind, dass die russische Offensive in Wirklichkeit auf die Verteidigung der Volksrepublik Donezk und der Volksrepublik Lugansk im Donbass abzielt und daher eine Art Kampf oder Unterstützung gegen den „Faschismus“ in der Ukraine darstellt. So haben sich Bereiche vom Leninismus-Stalinismus bis zum Anarchismus schnell für eine militärische Invasion des Staates einer Weltsupermacht und ihrer herrschenden Klasse eingerahmt, den Internationalismus und jede revolutionäre Perspektive verworfen und die Beweggründe und blutigen Folgen dieses imperialistischen Krieges relativiert. Die antikapitalistische historische Erfahrung zeigt, dass imperialistische Kriege nichts anderes sind als die Art und Weise, in der das Kapital auf der Grundlage einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Fraktionen der internationalen Bourgeoisie umstrukturiert wird, wobei das Proletariat als Kanonenfutter benutzt wird, und das Bewusstsein, dass kein Staat jemals seine Truppen für andere Motive und Interessen als die seiner herrschenden Klasse mobilisieren wird, werden durch die Versuchung verwässert, ein Projekt territorialer Autonomie – übrigens in Form einer Republik – angesichts der „faschistischen“ Offensive zu verteidigen, die der ukrainische Staat und die irregulären Neonazi-Milizen gegen die Donbass-Region führen. Die Sinnlosigkeit dieser Positionen hält nicht der geringsten kritischen Analyse stand, weder in ihrer eigenen Logik – der antifaschistischen Motivation – wenn sie mit der Realität konfrontiert werden, noch angesichts einer kohärenten antikapitalistischen und revolutionären Praxis: Die Entwicklung und der Ausgang des Krieges werden dies bestätigen.

Seit ihrem Aufstieg/Höhepunkt bis zum heutigen Tag hat die kapitalistische Zivilisation ihre Macht unter anderem durch den Krieg begründet, der nichts anderes ist als die Fortsetzung der Ökonomie mit anderen Mitteln. Das heißt, eine Fortsetzung des ständigen Wettbewerbs zwischen den verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie, sich so viel wie möglich von der Masse des sozialen Mehrwerts anzueignen, der im Übrigen aufgrund der internen Akkumulationsgrenze, mit der das Kapital kollidiert, ständig abnimmt. Der Kriegskonflikt hat in hohem Maße die industrielle Entwicklung und Innovation gefördert, was wiederum die Entwicklung der Produktivkräfte ermöglichte, die für den technischen, wissenschaftlichen und industriellen „Fortschritt“ der Militärmaschinerie eingesetzt werden, um natürliche Ressourcen, Rohstoffe, Regionen, Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen Staaten und Märkten zu erobern, die die immer weitergehende Reproduktion des Kapitals und der Macht der kapitalistischen Klasse ermöglichen. Wenn das Kapital in erster Linie eine soziale Organisationsform ist, die die Menschheit und alles auf der Erde einer ungezügelten Ausbeutung ausliefert, die einzig und allein dem Zweck dient, die Ökonomie anzutreiben und die herrschende Klasse, deren Macht davon abhängt, zu verewigen, dann folgt daraus, dass Kriege keinen anderen Zweck haben, als diese spezifische Form der Reproduktion und die daraus resultierende soziale Herrschaft zu verewigen. Die Fraktionen des Kapitals, die sich um diese materielle Basis streiten, um ihre mehr oder weniger hegemoniale Position in der kapitalistischen Herrschaft zu sichern, müssen diese Macht also auf militärischer Ebene sichern.

Im Falle dieses Konflikts ist diese Dynamik besonders anschaulich: Der Einmarsch in die Ukraine ist ein strategischer Schachzug des russischen Imperialismus angesichts des Vormarschs des westlichen Blocks NATO-USA. In den letzten Jahrzehnten hat die technologische und wissenschaftliche Entwicklung der Rüstungsindustrie die Entwicklung von Hyperschallwaffen ermöglicht, die u.a. die Reichweite von Atomwaffen haben könnten. Das bedeutet, dass der Staat, der in diesem Bereich der technologischen Entwicklung die Vorherrschaft erlangt, auch die Vorherrschaft im militärischen Bereich erlangt, da er in der Lage ist, die kritische Infrastruktur der gegnerischen Macht auszuschalten und deren Reaktionsfähigkeit in kurzer Zeit lahm zu legen, Damit wird das militärische Schema der „Mutually Assured Destruction“ (MAD) überwunden, das während des Kalten Krieges vorherrschte und einen relativen Frieden zwischen den imperialistischen Mächten garantierte, der auf der ausgewogenen Macht der atomaren Zerstörung zu jener Zeit beruhte. Der mögliche Beitritt der Ukraine zum NATO-Militärblock und die anschließende Stationierung von Waffen auf dem ukrainischen Territorium gefährdet also die „Sicherheit“ der russischen Einflusssphäre: das ist der eigentliche, unmittelbare Grund für den Konflikt.

Ebenso beabsichtigt Russland nicht, die territoriale und militärische Besetzung der Ukraine zu verlängern, sondern durch die Invasion die „Neutralität“ des ukrainischen Staates gegenüber der NATO gewaltsam durchzusetzen und ihn am Beitritt zur Koalition zu hindern. Und um dieses Ziel zu erreichen, wird Russland einen Kompromiss mit der Ukraine aushandeln und, wenn nötig, die derzeitige Regierung stürzen und eine Marionettenregierung einsetzen, die dem Diktat des Kremls folgt.

Während Putin und der russische Staat den angeblich humanitären Charakter ihrer Invasion beteuern und versichern, dass sie das Leben der Separatisten im Donbass schützen, weinen die Staats- und Regierungschefs der EU Krokodilstränen für die Zivilisten, die bei den Kämpfen abgeschlachtet werden und bereits zu Hunderttausenden aus ihren Häusern fliehen, doch in Wirklichkeit fürchten sie sich vor der Vorstellung eines Krieges, der einen Punkt ohne Wiederkehr schaffen und ihre ökonomische und energetische Abhängigkeit schädigen wird. Die Wahrheit liegt nicht in den öffentlichen Erklärungen einer der beteiligten Mächte, sondern in der Bewegung ihrer materiellen Kräfte – ökonomisch, politisch, militärisch -, die die wahre Grundlage dieses Konflikts bilden.

Antifaschistische Verteidigung des imperialistischen Krieges

Wie bereits bekannt, werden die beiden selbsternannten Republiken der Donbass-Region, Donezk und Lugansk, seit dem Sturz der prorussischen Regierung im Anschluss an den Euromaidan seit acht Jahren von der ukrainischen Armee und Milizen belagert. Der pro-NATO-Charakter der ukrainischen Regierung seit 2014 und insbesondere die Präsenz von Faschisten in ihren Streitkräften und die Existenz irregulärer bewaffneter Gruppen von Neonazis, die bei den Euromaidan-Protesten und dann im Krieg im Donbass sichtbar wurden, sowie der „autonome“ und „populäre“ Charakter der separatistischen Regionen mobilisierten die Unterstützung bestimmter Teile der internationalen Linken. Zahlreiche Milizen setzen sich aus antifaschistischen, marxistisch-leninistischen und anarchistischen Freiwilligen zusammen. Aber es ist vor allem das, was von vielen als Kampf gegen den Faschismus angesehen wird, das die meisten dieser Sympathien mobilisiert. Die Geschehnisse in dem von den Separatisten kontrollierten Gebiet sind jedoch weitaus komplexer und uneinheitlicher, als viele glauben.

In Wahrheit sind es nicht nur Antifaschisten und Linke, die zur Verteidigung des Donbass gegen die Ukraine kämpfen. Die Milizen, die zur Verteidigung der Autonomie dieser Region kämpfen und gekämpft haben, decken das gesamte politische Spektrum ab, darunter auch Freiwillige mit Ideologien, die denen der antifaschistischen Milizionär*innen antagonistisch sind, wie einige Gruppen der russischen extremen Rechten, z. B. die Russische Kaiserliche Bewegung und die Neonazis der Russischen Nationalen Einheit – neben vielen anderen -, die seit Beginn des Konflikts Kampftruppen entsandt haben1. Es liegt auf der Hand, dass die Gruppen, die für die Autonomie des Donbass kämpfen, heterogen sind, da ihre Beweggründe von der Verteidigung des Experiments der autonomen Republik über den Schutz der Bewohner der Region, die unter ständigen Aggressionen aus Kiew leiden, bis hin zu bestimmten Formen des prorussischen Nationalismus reichen, aber auch ohne eine erschöpfende Analyse der politischen Zusammensetzung der Donbass-Verteidigungsfront ist klar, dass sie weit davon entfernt ist, eine einheitliche und im Wesentlichen antifaschistische Front zu sein – mit all den Grenzen, die diese Perspektive aufweist: Verteidigung der Demokratie und des Staates, Unterstützung einer liberalen Bourgeoisie, Interklassismus (Klassenübergreifend) usw. -. Letzteres bedeutet natürlich keineswegs, dass die Region Donbass aufgrund der ständigen Angriffe der ukrainischen Armee und anderer irregulärer Kräfte keine humanitäre Krise erlebt.

Andererseits: Stellt die „Form“ Republik eine Möglichkeit der sozialen Emanzipation von den kapitalistischen sozialen Verhältnissen dar?2 Kann ein Staat, wie der russische Staat, die territoriale Autonomie in einer Region garantieren, die er jetzt als Rechtfertigung für einen imperialistischen Krieg benutzt? Wenn es darum geht, das Leben der im Donbass lebenden Menschen gegen die Verbrechen des ukrainischen Staates und seiner Verbündeten zu verteidigen, wie kommt es dann, dass der Angriff einer Supermacht auf Städte, in denen Zivilisten leben, und die Krise, die dies für Millionen von Menschen auf ukrainischem Gebiet bedeutet, für diejenigen, die diese Perspektive vertreten, nicht eine ähnliche Barbarei, eine erhebliche Verschärfung des menschlichen Elends inmitten des Krieges zwischen ökonomischen Mächten, zwischen den verschiedenen Fraktionen des Kapitals darstellt?

Außerdem werden die Verbrechen eines Staates und grausamer Neonazi-Milizen nicht automatisch die gesamte in der Ukraine lebende Bevölkerung zu Kriminellen und auch nicht automatisch zu Neonazis machen. Nur jemand, der von einer Ideologie verblendet ist, könnte behaupten, dass die Menschen, die unter der Herrschaft einer herrschenden Klasse und ihres Staates leben, nur die Verlängerung dieser herrschenden Klasse und dieses Staates sind. Die Relativierung oder schlichte Auslassung einiger Teile der Linken und des Antifaschismus in Bezug auf letzteren ist erschreckend. Die Unvernunft und die Verachtung für das menschliche Leben, die die kapitalistische Logik hervorbringt, durchdringt selbst diejenigen, die behaupten, sich den Auswirkungen dieser krankhaften Vergesellschaftung zu widersetzen. Selbst wenn wir glauben möchten, dass die herrschende Klasse in der Ukraine ein Spiegelbild ihrer Einwohner ist, oder wenn wir glauben möchten, dass „in der Ukraine alle Nazis sind“, wie die pro-russische Propaganda dummerweise behauptet, fällt diese Mystifizierung auseinander, sobald wir versuchen, ihren Ursprung zu verstehen: die rechtsextremen und neonazistischen Bewegungen, die es in der Ukraine tatsächlich gibt, und insbesondere das Asow-Bataillon, eine Gruppierung, die sich 2014 im Kampf gegen die Milizen der Donezker Volksrepublik einen Namen gemacht hat, später Teil der ukrainischen Zivilgarde3 wurde und heute Hunderte von aktiven Mitgliedern hat. Letzteres hat dazu beigetragen, dass die Post-Euromaidan-Regierungen als „neonazistisch“ bezeichnet werden, wozu die russische Propaganda einen großen Beitrag geleistet hat. Es stimmt zwar, dass in der Demokratie verschiedene politische Fraktionen der Bourgeoisie um die Verwaltung des Kapitals durch den Staat streiten, aber es stimmt auch, dass bei den letzten Präsidentschaftswahlen in der Ukraine im Jahr 2019 die Partei Svoboda4 – „Freiheit“ -, die die Unterstützung der rechtsextremen Wählerschaft bündelt, nur 1,62 % der Stimmen erhielt. Dies sollte ausreichen, um die ansonsten eher ungenaue Charakterisierung der Ukraine als „Nazi“ oder „rechtsextremer“ Staat in Frage zu stellen, insbesondere was die Zivilbevölkerung betrifft.

Seit Beginn des Krieges hört und liest man Äußerungen nach dem Motto „alles ist nützlich im Kampf gegen den Faschismus“, die den Einmarsch in Russland rechtfertigen oder relativieren. Wenn der Kampf gegen den Faschismus darauf abzielt, das Aufkommen der Barbarei zu verhindern und Raum für die soziale Emanzipation zu schaffen, wie kann dann die politische, ökonomische und militärische Stärkung einer kapitalistischen Macht – zum Nachteil einer anderen – uns etwas anderes bringen als das, was sie verhindern soll? Wie kommt man darauf, dass eine Fraktion der Bourgeoisie in einer Krisenzeit einen geringeren Grad an Barbarei garantiert als ihre ideologischen Gegner? Der Faschismus setzte unter Hitler, Franco oder Mussolini die Maßnahmen um, die das Kapital zu ihrer Zeit von ihnen verlangte und die sich nicht grundlegend von denen unterschieden, die Stalin dem Proletariat in verschiedenen Gebieten auferlegte5. Wenn die These vom Antifaschismus einmal mehr abstrakt unhaltbar ist, erweist es sich als völlig anachronistisch, sie 100 Jahre später wiederbeleben zu wollen. Für Revolutionäre und insbesondere für Anarchisten sollte die tragische Erfahrung in Spanien 1936 ausreichen, um sich keine Illusionen über den Antifaschismus zu machen, der nichts anderes ist als die Verteidigung der demokratischen Formen der kapitalistischen Verwaltung, die Versöhnung zwischen den Klassen, die Entscheidung für das „kleinere Übel“ und die Lossagung vom revolutionären Horizont6.

Nach allem, was über die kapitalistische Dynamik und die Kriege, die sie hervorbringt, gesagt wurde, und auch nach den Beobachtungen vor Ort, wo sich dieser besondere Konflikt abspielt, ist es schwierig zu erkennen, wie die Möglichkeit irgendeiner Art von sozialer Emanzipation inmitten eines Gemetzels entstehen kann, das gerade dazu dient, die Vorherrschaft eines der streitenden Blöcke aufrechtzuerhalten, was nichts anderes bedeutet als die Intensivierung der kapitalistischen Herrschaft, der Diktatur der Ökonomie über alles Lebendige. Und das ist kaum zu widerlegen: Zwei Weltkriege, der Genozid und das Verschwinden ganzer Bevölkerungen, die psychische Zerstörung der von ihr beherrschten Individuen und die Zerstörung der Biosphäre haben bereits gezeigt, dass die internationale Bourgeoisie ihre Wahl schon vor langer Zeit getroffen hat und dass sie nicht zögern wird, ihre Zerstörungskräfte weiterhin bis ins Unvorstellbare auszudehnen, um ihre Produktionsmaschine am Laufen zu halten, wohl wissend, dass der „Kuchen“ immer kleiner wird und in immer weniger Teile aufgeteilt wird. Dieser imperialistische Krieg wird nichts anderes bringen als eine globale kapitalistische Umstrukturierung inmitten einer sich immer weiter verschärfenden Krise. Daraus folgt, dass diejenigen, die in diesem Krieg eine Seite verteidigen, sich trotz ihrer Absichten nur auf die Seite der Verteidigung der bestehenden Ordnung stellen.

Krise des Bewusstseins und Bewusstsein der Krise

Die verschiedenen Phasen der kapitalistischen Entwicklung bringen ihre eigenen Formen der Vergesellschaftung und damit die entsprechenden Grenzen ihres Bewusstseins hervor. In der Entstehungsphase der Arbeiterbewegung stießen die imperialistischen Kriege bei einigen mobilisierten Teilen des Proletariats auf bewussten Widerstand. Der rudimentäre Zustand der kapitalistischen Gesellschaft zu dieser Zeit, im Gegensatz zu den Aktivitäten, die das Proletariat mindestens ein halbes Jahrhundert zuvor entwickelt hatte, ermöglichte die Entstehung eines frühen Internationalismus im Kampf gegen Krieg und Kapital. Das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer internationalen Perspektive und die Schlussfolgerung, dass diese nur durch den Widerstand gegen die Gesamtheit der am Krieg beteiligten bourgeoisen Kräfte bestätigt werden kann, ist die logische Voraussetzung für eine globale emanzipatorische Bewegung. Vor diesem Hintergrund stellten sich die konsequentesten Teile des Proletariats 1914 dem imperialistischen Krieg – trotz der chauvinistischen und patriotischen Tendenzen der Mehrheit – mit der Losung des revolutionären Defätismus entgegen: alle Fraktionen der eigenen Bourgeoisie auf ihrem eigenen Territorium zu besiegen. Diese Position wurde jedoch nur von Tausenden von Proletariern vertreten, die an den Fronten mobilisiert wurden, als der Krieg zu einer unerträglichen Belastung für die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse im Allgemeinen wurde. Im aktuellen Kriegskonflikt zwischen Russland und der Ukraine mag es zwar keine unmittelbaren Ergebnisse haben, zu revolutionärem Defätismus aufzurufen7, aber es ist wichtig, die internationalistische Perspektive zu beachten, vor allem wegen der Verwirklichung von Zyklen der Revolte weltweit, die in den letzten Jahren erlebt wurden: Die Krise des Bewusstseins offenbart sich tragischerweise als das Bewusstsein der Krise.

Heute haben sich jedoch die materiellen Bedingungen geändert und es kommt eine Vielzahl von Elementen hinzu, die berücksichtigt werden müssen. In diesem Zusammenhang erleben wir die Verbreitung und Verschärfung alter nationalistischer und reaktionärer Tendenzen: die fremdenfeindlichen Übergriffe im Norden der chilenischen Region, das Aufkommen neuer Nationalismen und sogar der Konservatismus des radikalen Islamismus sind Symptome dafür. Diese Entwicklung hat eine paradoxe Dynamik, denn je mehr das Kapital, die empirische Grundlage des Nationalstaates, in die Krise gerät, desto mehr verschärfen sich die konservativen Tendenzen als Antwort auf diese Krise, als Mittel zur gewaltsamen Aufrechterhaltung einer von allen Seiten bröckelnden Normalität. Die Verschärfung reaktionärer Tendenzen, die „Sündenböcke“ für die Verschlechterung unserer Existenz verantwortlich machen, sind Ausdruck einer oberflächlichen, partiellen und verkürzten Systemkritik, die den Nährboden für die Manöver eines Neopopulismus bildet, der sich mit unterschiedlichen Motiven als „rebellisch“ und „widerspenstig“ erweist. Leider trifft diese fragmentierte Sichtweise auch die Revolutionäre. Dennoch haben die Entwicklung des Kapitals, die Umstrukturierung des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit und die Vertiefung der Waren-basierten Beziehungen als globales und interdependentes soziales System eine neue Grundlage für das Bedürfnis nach einer menschlichen Gemeinschaft geschaffen, die von den Vermittlern befreit ist, die ihre Herrschaft aufrechterhalten: dem Staat und dem Kapital.

Was sie als „geopolitische“ Neuordnung bezeichnen, ist nichts anderes als der alte innerbourgeoise Streit, verschärft durch die tiefe Krise der Verwertung, von der wir seit 2008 betroffen sind. Die kapitalistische Barbarei ist seit ihren Anfängen präsent und hat in ihrer Entwicklung mehrere Grenzen auf Kosten des Blutes und des Elends des Proletariats überschritten: Heute sehen wir, wie sie weiterhin versucht, ihren grundlegenden Widerspruch zu überwinden, indem sie die Umwandlungen der kapitalistischen Produktionsweise beschleunigt und die herrschenden Kapitale mit Waffengewalt reorganisiert, was die Krise nur noch vertiefen kann – indem sie die überschüssige Bevölkerung buchstäblich vernichtet, die menschliche Arbeit aus dem Produktionsprozess verdrängt und die Erde zerstört, um zu versuchen sich selbst zu verwerten. Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine ist eine unmittelbare Folge dieser Krise, die das Kapital und seine Staaten in die inzwischen klassischen Auseinandersetzungen um Ressourcen, Märkte und Territorien zwingt, allerdings mit einer Zerstörungskraft von nie gekanntem Ausmaß: das Wettrüsten zeugt davon. Die Verwirrung, die er bei den radikalen Sektoren hervorruft, kann nicht ignoriert werden, weshalb es notwendig ist, die revolutionären Prinzipien zu verteidigen, indem man auf das Wesen des Krieges im gegenwärtigen Kontext und den sozialen Zerfall in diesem geografischen Gebiet seit dem Fall der UdSSR hinweist. Das Proletariat erhebt gerade wieder sein Haupt nach der letzten Niederlage, die es nach dem Zyklus der Kämpfe 60-70 erlitten hat, und bringt zum Ausdruck, dass die materiellen Bedürfnisse unserer Existenz nicht nur nicht mehr durch die kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse gelöst werden können, sondern dass letztere die Gefahr der Auslöschung errichtet haben8. Wir befinden uns also in einer qualitativ anderen historischen Situation, in der es so etwas wie die alte Arbeiterklasse und ihre organisierte internationale Bewegung nicht mehr gibt: wir müssen ein für alle Mal davon ausgehen, dass diese Bedingungen nicht wiederkehren werden. Die Versprechungen von Sicherheit und Wohlstand, mit denen der Kapitalismus jahrzehntelang geworben hat, sind überall in Verfall geraten, und an ihre Stelle sind der permanente Ausnahmezustand und eine beispiellose, zunehmende Verschlechterung unserer Lebensbedingungen getreten. Doch gerade die Bedingungen, die durch die Auflösung dieser alten Formen der Vergesellschaftung und die Krise des Kapitals entstanden sind, haben die Grundlage für eine neue Art von Internationalismus geschaffen: die strukturelle Krise, unter der wir leiden, bringt die ganze Welt in die gleiche katastrophale Situation und zwingt uns zum Bündnis zwischen den Ausgebeuteten der Welt als notwendige Antwort auf die Krise, auf die Verwüstung des Planeten und die ständige Kriegsgefahr, die einzige realistische Lösung gegen die Zerstörung, die von der kapitalistischen Irrationalität und ihren Auswirkungen auf die Menschen, die unter ihrer Vergesellschaftung leiden, aufgezwungen wird. Es wird immer deutlicher, dass es nur zwei Optionen gibt: internationale menschliche Gemeinschaft oder kapitalistische Apokalypse.

Vamos Hacia la Vida, März 2022

 

1Siehe: „Antifascismo y extrema derecha: compañeros de armas en el Donbáss“: https://politikon.es/2014/11/14/antifascismo-y-extrema-derecha-companeros-de-armas-en-el-donbass/

2Nicht einmal die Anwendung der leninistischen Strategie des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“ hält einer Analyse stand; zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als die Regime einiger Kolonien die kommunalen Beziehungen noch nicht vollständig aufgelöst hatten, wurde sie bereits von GefährtInnen wie Rosa Luxemburg und den verschiedenen Links-KommunistInnen als konterrevolutionär angeprangert: „haben die Bolschewiki durch die dröhnende nationalistische Phraseologie von dem „Selbstbestimmungsrecht bis zur staatlichen Lostrennung“ gerade umgekehrt der Bourgeoisie in allen Randländern den erwünschtesten, glänzendsten Vorwand, geradezu das Banner für ihre konterrevolutionären Bestrebungen geliefert“. Heute, ein Jahrhundert später, erweist sich dieser Vorschlag als Vorwand und Aushängeschild für den Imperialismus der Russischen Föderation. Andererseits ist der Begriff des Volkes, der sich auf die Bevölkerung eines Landes bezieht, bedeutungslos angesichts einer Gesellschaft, die im Weltmaßstab in Klassen unterteilt ist.

3A.d.Ü., gemeint als paramilitärische Einheit.

4Die den Antisemitismus verteidigt, die Durchsetzung einer einheitlichen Landessprache, den Militarismus, den Ethnozentrismus, den Krypto-Rassismus, die Homophobie, die Abtreibungsfeindlichkeit und die Verstaatlichung von Unternehmen.

5Hyperzentralisierter Staat, allgegenwärtiger Repressionsapparat, Wertkonservatismus, Chauvinismus, Militarisierung der Arbeit, Konzentrationslager, Verfolgung von Dissidenten, usw.

6In diesem Sinne empfählen wir: „Fascismo / Antifascismo“ von Gilles Dauvé; „Resumen de las Tesis de Amadeo Bordiga sobre el fascismo en 1921-1922“ von Agustín Guillamón.

7Trotzdem ist es notwendig, dass die revolutionären Minderheiten den imperialistischen Krieg offen anprangern, angesichts von so viel Orientierungslosigkeit und bourgeoiser Programmatik, in die die Linke, aber auch Teile des Anarchismus, angesichts solcher kriegerischen Konflikte verfallen. Agitation und Propaganda für revolutionären Defätismus, Sabotage und Desertion sind, auch wenn sie nicht unmittelbar wirksam sind, als revolutionäre Perspektive notwendig. In diesem Sinne empfehlen wir die Lektüre der folgenden Texte – neben vielen anderen: (Auf Deutsch) (Grupo Barbaria) Einige grundlegende Positionen des proletarischen Internationalismus (https://barbaria.net/2022/02/26/algunas-posiciones-fundamentales-del-internacionalismo-proletario/); (Auf Deutsch) „Proletarier in Russland und in der Ukraine! An der Produktionsfront und an der militärischen Front… Gefährten und Gefährtinnen!“ von Třídní Válka (https://www.autistici.org/tridnivalka/proletarios-en-rusia-y-en-ucrania-en-el-frente-de-produccion-y-en-el-frente-militar-camaradas/); (Auf Deutsch) „(Russland) Der Krieg hat begonnen“ von der KRAS-AIT (https://www.iwa-ait.org/es/content/kras-ait-contra-la-guerra).

8 Siehe: Camatte, Jacques (2021) Instauración del riesgo de extinción. Santiago: Vamos hacia la vida

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Virus, die Welt von heute (Gilles Dauvé, September 2020) https://panopticon.blackblogs.org/2021/01/03/virus-die-welt-von-heute-gilles-dauve-september-2020/ Sun, 03 Jan 2021 09:58:25 +0000 http://panopticon.blackblogs.org/?p=2008 Continue reading ]]> Virus, die Welt von heute (Gilles Dauvé, September 2020)

Gefunden auf vamos hacia la vida, die Übersetzung ist von uns

Einleitende Anmerkung von Vamos Hacia la Vida: Was folgt, ist die Übersetzung eines Textes von Gilles Dauvé, der am 22. September 2020 auf dem DDT21-Blog (ddt21.noblogs.org) veröffentlicht wurde. Der Autor hat in den 1960er Jahren in Frankreich an Projekten wie der Buchhandlung La Vieille Taupe mitgewirkt, in den 1970er Jahren an Publikationen wie La Guerre Sociale (mit der er allerdings schließlich brach), in den 1980er Jahren bei La Banquise und Le Brise-glace, seit Ende der 1990er Jahre an Troploin und in jüngerer Zeit hat er an dem oben erwähnten Blog mitgeschrieben. Die Gruppen, in denen er mitgewirkt hat, sind Teil der Strömung der Kommunisierung, die Mitte der 1970er Jahre als Antwort auf die proletarischen Niederlagen jener Zeit und die Notwendigkeit, revolutionäre Prozesse neu zu denken, entstanden ist und als zentrale Fragen der radikalen Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse die Überwindung der Lohnarbeit, des Staates, des Produktivismus sowie aller alltäglichen Lebensformen, die die Reproduktion der Kapitalgesellschaft impliziert, definiert.Der vorliegende Text untersucht daher aus dieser Perspektive die Ausbreitung des Coronavirus auf globaler Ebene seit Beginn des Jahres 2020. Aber die Wurzeln des Covid-19-Phänomens und seine Auswirkungen auf die kapitalistische Herrschaft und/oder proletarische Kämpfe oder Revolten können nicht von ihrem quantitativen oder reformistischen Aspekt her angegangen werden (indem man entweder für einen grünen Kapitalismus oder einen größeren „Sozialstaat“ eintritt). Die Ursachen sind sozialer und ökologischer Natur und stehen in direktem Zusammenhang mit der materiellen Verwirklichung der kapitalistischen Utopie des „Fortschritts“, weshalb ihre Vertiefung und Ausdehnung, ihre normale Entwicklung in der Zukunft, die Zerstörungskraft auf die Erdbiosphäre und damit auch auf den menschlichen Lebensraum nur unaufhörlich verstärken kann. Das Coronavirus und seine staatliche Behandlung ist ein Ausdruck dieses unauflösbaren inneren Widerspruchs, auf den die herrschenden Klassen nur mit der gleichen Warenlogik antworten können, indem sie die Wirtschaft über unser Leben stellen und einen generalisierten Polizei- und Militärstaat einsetzen. Das Problem ist die Lebensweise selbst, die von der Forderung nach unendlichem Wachstum des Marktwertes angetrieben wird, um ihre Existenz zu reproduzieren, und als Korrelat ist unser Leben in diese selbstzerstörerische Bewegung integriert. Weder Digitalisierung und Tele-Existenz, noch ein nachhaltiger Kapitalismus, noch die demokratische Illusion einer neuen Verfassung sind gangbare Wege aus dieser aktuellen Zivilisationskrankheit. Die kommenden Katastrophen der ökologischen Krise werden von Wissenschaftlern selbst schon Jahrzehnte im Voraus vorhergesagt und berechnet. Und obwohl die aktuelle oder kommende Pandemie die Widersprüche noch mehr offenlegt und akzentuiert, ist es besser, jeden fetischistischen Traum von Katastrophen zu verwerfen, wie es die „Wirtschaftskrise“ früher war, im Sinne der Öffnung für eine revolutionäre Möglichkeit. Die kommenden Katastrophen werden nicht von selbst dazu führen, dass sich die Kämpfe radikalisieren und auf das Herz der Warenherrschaft zeigen: die Lohnarbeit sowie trotz der Aussicht auf eine zukünftige Verschlechterung unserer Lebensbedingungen (bei fortschreitender kapitalistischer Entwicklung) und so sehr dies auch zu Aufständen in verschiedenen Teilen der Welt führen mag, wie es seit 2019 der Fall ist, „die Simultanität ist nicht gleich die Synchronisation, das Nebeneinander ist nicht gleich das Zusammentreffen, noch ist die Vereinigung gleichbedeutend mit der Überwindung“, solange die Bewegung der proletarisierten Menschheit im Kampf gegen das Kapital auf Forderungen nach Reformen beschränkt ist, und die Aufrechterhaltung der Trennung der Kämpfe in Bezug auf die verschiedenen Aspekte und Dimensionen sozialer Herrschaft (Klasse/Staat, Konflikte am Arbeitsplatz, Geschlechterverhältnisse, Rassen- und Identitätsunterdrückung, ökologische Zerstörung), die heute durch das kapitalistische Gesellschaftsverhältnis strukturiert ist, scheint die Zukunft vor allem die eines Staates zu sein, der in Bezug auf die soziale, politische und polizeiliche/militärische Kontrolle der „Bevölkerung“, die durch neue Technologien geschützt wird, immer stärker wird. Gerade in diesem Sinne finden wir es wichtig, die Frage nach den Inhalten der aktuellen Kämpfe gegen die bestehende kapitalistische Ordnung zu diskutieren, um unsere eigene Praxis der proletarischen Selbst-Negation und kommunistischen Bejahung selbstkritisch zu schärfen.

 

Virus, die Welt von heute (Gilles Dauvé, September 2020)

Bis in die frühen Tage des Jahres 2020 dachte der westliche Mensch, wenn er von einem „Virus“ hörte, zuerst an seinen Computer (der Asiate war zweifellos besser informiert). Natürlich war niemandem die medizinische Bedeutung des Wortes unbekannt, aber diese Viren wurden ferngehalten (Ebola), relativ geräuschlos trotz der 3 Millionen Todesfälle pro Jahr durch AIDS, sogar triviale (die Wintergrippe, die in Frankreich jedes Jahr „nur“ 10.000 Todesfälle verursacht, die meisten davon ältere Menschen und solche mit chronischen Krankheiten). Und wenn die Krankheit zuschlug, wirkte die Medizin Wunder. Es hatte sogar den Raum abgeschafft: Von New York aus operierte ein Chirurg einen Patienten in Straßburg. Damals waren es eher die Maschinen, die krank wurden.

Bis in die frühen Tage des Jahres 2020.

1 / ZIVILISATIONSKRANKHEIT

1.1 / Wir sterben, wie wir gelebt haben

Als ansteckende Krankheit mit einer viel höheren Ausbreitungsrate als die Influenza verursacht Covid-19 nur wenige schwere Fälle, aber die Schwere der Erkrankung ist extrem, besonders bei Risikopersonen (vor allem nach dem 65. Lebensjahr), und erfordert eine „intensive“ Hospitalisierung von Patienten in Lebensgefahr. Daher auch die (in Frankreich sehr späte) Notwendigkeit von massenhaften Untersuchungen.

Epidemien und Pandemien haben nicht auf die heutige Zeit gewartet.

Im Römischen Reich hätte die Pest zwischen 166 und 189 fast 10 Millionen Opfer gefordert. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden zwischen 20 und 100 Millionen Tote auf die „Spanische“ Grippe zurückgeführt (darunter zwischen 150.000 und 250.000 in Frankreich). Gleichzeitig tötete der Typhus, verursacht durch ein Bakterium, 3 Millionen Russen während des Bürgerkriegs. In den Jahren 1957-1958 verursachte die „asiatische“ Grippe den Tod von etwa 3 bis 4 Millionen Menschen weltweit (15.000 bis 20.000 in Frankreich). Es wird geschätzt, dass die „Hongkong“-Grippe zwischen Sommer 1968 und Frühjahr 1970 weltweit 1 Million Todesfälle verursachte, davon 31.000 in Frankreich.

Viele Zahlen also, manchmal sehr unpräzise (zwischen 20 und 100 Millionen, der Unterschied ist enorm), immer beeindruckend, und oft auf Episoden verweisend, die im kollektiven Gedächtnis vergessen sind: Wer in Frankreich erinnerte sich vor dem Februar 2020 an die Toten von 1968-1970? Zu dieser Zeit hatte der Staat noch keine allgemeinen Gesundheitsmaßnahmen ergriffen, und die Presse ignorierte oder verharmloste die Epidemie.

Das Covid-19 wird von einer Flut von Statistiken begleitet, die umso schwerer zu verstehen sind, als ihre Kriterien variieren. Alles ändert sich in Abhängigkeit von der Gesamtzahl der Todesfälle seit Beginn der Epidemie oder dem Tag, der Anzahl der Infektionen, der Zunahme der Infektionen im Vergleich zu einem bestimmten Datum, der Übertragungsrate, den Krankenhausaufenthalten oder den belegten Betten auf der Intensivstation. In Frankreich steigt mit der Zunahme der Untersuchungen (wenige in den ersten Monaten) die Zahl der Infektionen, während die Zahl der Todesfälle pro Tag sinkt. Je weniger Tests ein Land durchführt, desto weniger Fälle werden gezählt, was nicht bedeutet, dass es weniger kranke oder tote Menschen gibt.

Nun sollte jeder den Unterschied zwischen Morbidität, Mortalität und Letalität kennen. Es ist jedoch notwendig, zwischen scheinbaren und tatsächlichen Todesfallraten zu unterscheiden. Nur letztere gibt das Verhältnis zwischen der Anzahl der Todesfälle und der Anzahl der tatsächlich positiv getesteten Fälle an; erstere basiert ausschließlich auf der Schätzung derjenigen, die sich infiziert haben.

Interessanterweise offenbart diese zwangsläufig unvollständige Bilanzierung nur einen Aspekt der Pandemie: ihr Ausmaß (wahrscheinlich eine Million Todesfälle weltweit bis 2020). Sie sagt so gut wie nichts über ihre sozialen Ursachen und Auswirkungen aus.

Wie jede schwere Krankheit kann Covid-19 Menschen töten, die durch das Alter, durch eine andere Krankheit und/oder durch eine schwächende Lebensweise geschwächt sind: schlechte Ernährung, Luft- und chemische Verschmutzung – die in der Luft, würde zwischen 7 und 9 Millionen Menschen in der Welt töten, 48.000 bis 67.000 in Frankreich – Sesshaftigkeit, Isolation, im Alter ohne Arbeit und damit außerhalb der Gesellschaft stehend – alles Faktoren, die zu Diabetes und Krebs beitragen… ein günstiges Terrain für Covid. Von den 31.000 Todesfällen, die Ende August 2020 in Frankreich verzeichnet wurden, sind vermutlich mindestens 7.500 auf Begleiterkrankungen zurückzuführen (die in einem Viertel der Fälle mit Bluthochdruck und in einem Drittel mit Herzerkrankungen zusammenhängen).

Verschiedene und nicht quantifizierbare Faktoren führen zu einer Übersterblichkeit, die auch eine Klassendimension hat: Arme Menschen essen zum Beispiel mehr Junkfood, und Fettleibigkeit ist unter ihnen häufiger. Und die Tuberkulose (1,5 Milliarden Todesfälle weltweit im Jahr 2014) ist mit der Verarmung und Überbevölkerung der Städte wieder aufgetaucht. Wenn man krank ist, ist es besser, reich zu sein… und meistens weiß. „Wenn ein Weißer eine Erkältung hat, bekommt ein Schwarzer eine Lungenentzündung“, sagt man in den Vereinigten Staaten. Nicht zu vergessen, in diesem Fall, die menschlichen Kosten der Einschließung: Arbeitslosigkeit, Angst, Depression, Isolation für den Bewohner einer EHPAD (Établissement d’hébergement pour personnes âgées dépendants / Wohneinrichtung für abhängige ältere Menschen)…

Die kapitalistische Zivilisation hat das Covid-19 nicht erschaffen, aber sie begünstigt seine Verbreitung durch die immer umfangreichere Zirkulation von Menschen und Waren, eine beschleunigte und oft ungesunde weltweite Verstädterung und den Abbau von sozialen Sicherungsmechanismen in den sogenannten entwickelten Ländern. (Wir werden in §2 darauf zurückkommen.)

„Herrschen heißt voraussehen“: eine Regel, die die kapitalistische Gesellschaft nicht ignoriert, sondern nach ihrer eigenen Logik anwendet. Wenn Prävention ein Hindernis für den Wettbewerb zwischen Unternehmen, für die Suche nach minimalen Produktionskosten, für den Profit und für die kurzfristigen Interessen der herrschenden Klasse ist, tritt die Prävention in den Hintergrund. Das Vorsorgeprinzip wird in einer Gesellschaft, die allenfalls in der Lage ist, eine Gesundheitskrise zu managen, nicht aber zu verhindern, niemals Priorität haben.

In unserer Welt wäre nur das Messbare „wissenschaftlich“: Die sozialen und umweltbedingten Faktoren, die eine große Rolle bei der Ausbreitung von Krankheiten spielen, sind schwer zu quantifizieren und entziehen sich daher einer statistischen Analyse.

In jedem Fall scheint die westliche Lebensweise kein Vorteil zu sein.

 

1.2 / Chronologie einer Verwaltung nach Dossiers

Auf die Gefahr hin, dass wir heute schockiert sind, müssen wir zunächst wiederholen, dass die Covid-19-Pandemie das hätte bleiben sollen, was sie ist: eine etwas stärker virale und tödliche Pandemie als die saisonale Grippe, deren Auswirkungen bei einer großen Mehrheit der Bevölkerung milde, aber bei einem kleinen Bruchteil sehr ernst sind. Im Gegensatz dazu hat die Zersetzung des europäischen und amerikanischen Gesundheitssystems, die vor mehr als einem Jahrzehnt begann, dieses Virus in eine Katastrophe ohne Beispiel in der Geschichte der Menschheit verwandelt und bedroht unsere gesamten Wirtschaftssysteme. […] Es wäre relativ einfach gewesen, die Pandemie einzudämmen, indem man infizierte Menschen systematisch aufgespürt hätte, sobald die ersten Fälle auftraten, ihre Bewegungen verfolgt und die (sehr wenigen) Betroffenen gezielt in Quarantäne gestellt hätte. […] Die Technik der Erkennungstest ist überhaupt nicht kompliziert, sie erfordert nur die Organisation und die Ausrüstung, die wir zu produzieren wissen. […] Gleichzeitig werden die Masken massenhaft an die gesamte Bevölkerung verteilt, die wahrscheinlich kontaminiert ist, um das Risiko einer Verbreitung weiter zu verringern. (Gaël Giraud, 24. März 2020)

Offensichtlich ist das nicht das, was wir erleben.

Wie kommt es, dass jeder dritte Erdbewohner seit Wochen eingesperrt ist und Gefahr läuft, erneut eingesperrt zu werden, wenn die Staaten es für nötig halten?

Wenn es stimmt, dass die Internationalisierung des Kapitalismus ihn angreifbar macht, reicht dies nicht aus, um die teilweise Lähmung der Weltwirtschaft zu erklären: Warum wurden Produktion und Zirkulation gestoppt? Warum hat der Kampf gegen die Ansteckung die Form einer Eingrenzung der Bevölkerung angenommen, mit der erzwungenen Schließung einiger Unternehmen?

Erster Moment: Warnung

Anfang 2018 hat eine Expertengruppe der Weltgesundheitsorganisation […] bei einem Treffen den Begriff ‚Krankheit x‘ geprägt. Sie sagten voraus, dass die nächste Pandemie durch einen neuen, unbekannten Erreger verursacht werden würde, der noch nicht mit der menschlichen Bevölkerung in Kontakt gekommen war. Die Krankheit x würde wahrscheinlich von einem Virus tierischen Ursprungs stammen und irgendwo auf dem Planeten entstehen, wo die wirtschaftliche Entwicklung die Interaktion zwischen Mensch und Tier begünstigt. Es ist wahrscheinlich, dass die Krankheit x zu Beginn der Epidemie mit anderen Krankheiten verwechselt würde und sich schnell und unauffällig ausbreiten würde […] unter Ausnutzung von Reise- und Handelsnetzen […] Die Krankheit x hätte eine höhere Sterblichkeitsrate als die saisonale Grippe“. (Michael Roberts, 15. März 2020)

Zweiter Moment: Verweigerung

Weniger als zwei Jahre später, als das, was alle Merkmale dieser Krankheit x hatte, auftauchte, begannen die Staaten, das Problem zu minimieren oder zu leugnen.

Als die taiwanesischen Behörden am 31. Dezember 2019 die WHO vor den Gefahren des leicht übertragbaren Virus warnten, stellte die WHO-Leitung den Ernst der Lage in Frage und wurde zum Sprachrohr Chinas. Am 14. Januar […] bestreitet die WHO, dass das Virus unter Menschen ansteckend ist. Folglich blieb die daraus resultierende Pandemie in den verschiedenen betroffenen Ländern lange Zeit unsichtbar, sowohl in Asien als auch in Europa, wo sie in der Regel erst einige Wochen später entdeckt wurde. Am 30. Januar reiste der WHO-Direktor […] nach China, wo er sagte, die Situation sei unter Kontrolle und gratulierte den chinesischen Behörden … riet auch von jeglichen Bewegungs- und Reisebeschränkungen ab, während Taiwan bereits seit einem Monat unter Kontrolle geschlossen ist“. (Jean-Paul Sardon, 28. April 2020)

Zugunsten wirtschaftlicher Interessen haben die Staaten keine Schutzmaßnahmen ergriffen, z. B. durch die Einführung von Gesundheitskontrollen an den Einreisepunkten in ihr Hoheitsgebiet.

In Frankreich war der brave Bürger am Sonntag, den 14. März 2020, aufgerufen, sich auf den Weg zu machen, um an den Kommunalwahlen teilzunehmen.

Dritter Moment: Die Verwaltung der Gesundheit hat vor der Wirtschaft Vorrang

Angesichts des Ausmaßes der Epidemie konnten die Regierungen nicht darauf verzichten, zu reagieren, aber nur nach ihrer eigenen Logik und mit ihren eigenen Mitteln. In einem Land wie Frankreich offenbarte das Ereignis, wie sehr der Pseudoüberfluss einen realen Mangel verdeckt: Der „siebten Weltwirtschaftsmacht“ fehlt es an Krankenschwestern, Krankenhausbetten, Untersuchungen, Schutzmitteln… Im März 2020 erwies sich die weitgehende Einschließung – die zu einem teilweisen Produktions- und Handelsstopp führte – als das einzige verfügbare Mittel, um eine Krankheit, deren Gefährlichkeit wenig bekannt war, vorübergehend einzudämmen.

In Frankreich wurde am Dienstag, dem 16. März, der brave Bürger unter Androhung von Strafe gezwungen, zu Hause zu bleiben.

Vierter Moment: Zurück zur Arbeit – fast – wie gewohnt

Nach etwa zwei Monaten schien die Pandemie, die noch lange nicht vorbei war und in einigen Ländern sogar tödlich verlief, handhabbar zu sein, ohne die Gesellschaften zu destabilisieren. Außerdem stellte man fest, dass die überwiegende Mehrheit der Toten das Alter zum Arbeiten überschritten hatte (in Frankreich waren zwischen dem 1. März und dem 28. August 90 % der Toten über 65 Jahre alt), und dass für die Arbeiter die Wahrscheinlichkeit, an dem Covid zu sterben, gering war: Es war daher dringend notwendig, sie wieder in die Werkstatt oder ins Büro zu schicken – natürlich mit dem Versprechen eines angemessenen Schutzes. Gleichzeitig wurden Einschränkungen und Verbote im täglichen Leben gelockert (auch wenn sie in anderen Ländern teilweise verschärft wurden).

 

1.3 / „Nun! Der Krieg“ (Die Marquise von Merteuil, Choderlos de Laclos, Gefährliche Freundschaften, 1782)

Regierungen und Institutionen rufen sich selbst im Krieg mit einem „unsichtbaren Feind“ aus. Nehmen wir sie beim Wort.

Unabhängig davon, ob ein Land einen Krieg gewinnt oder verliert, sind die Kosten für die herrschenden Klassen nicht unerheblich und fallen oft exorbitant aus: Sie können ihren ganzen Reichtum oder einen Teil ihrer Macht zurücklassen. Aber die Rationalität eines Konflikts kann nicht in Pfund oder Dollar verstanden oder gemessen werden. Ein Staat zieht nicht in den Krieg, um Geld zu verdienen, und was ihn bestimmt, ist keine betriebswirtschaftliche Logik: Es ist das Ergebnis sozialer und politischer Kräfte und (Un-)Gleichgewichte, im In- und Ausland. Die getroffene Entscheidung wird letztlich im Interesse der herrschenden Klassen sein, sowie sie es sehen/auffassen. Die herrschenden Eliten der vier Reiche (deutsch, österreichisch, russisch und osmanisch), die nach 1918 untergingen, hatten sich 1914 in einen Krieg gestürzt, aus dem sie gestärkt hervorzugehen hofften. In viel geringerem Maße hatten die Invasoren des Irak im Jahr 2003 den islamischen Staat nicht im Blick.

Die Regierungen kennen seit Jahrzehnten die Ursachen und Auswirkungen der globalen Erwärmung, gegen die sie nur Linderungsmaßnahmen ergriffen haben. Warum sollten sie im Angesicht einer Pandemie anders handeln? Unfähig, Vorkehrungen für ältere Menschen zu treffen, die bereits an schweren Krankheiten leiden, massiv zu testen, jede infizierte Person unter Quarantäne zu stellen und extreme Fälle unter guten Bedingungen zu hospitalisieren, blieb ihnen die am wenigsten schlechte und einfachste Lösung: eine Art „soziale Blockade“ zu errichten.

Konfrontiert mit einer Krise, deren Ursachen sie nicht beseitigen konnten und wollten (sie waren ein Teil davon), verwalteten die herrschenden Klassen diese, während sie alles taten, um ihre Macht zu erhalten. Die Reaktionen waren sehr unterschiedlich, von Deutschland bis Brasilien, mit Strafen von sechs Monaten Gefängnis in Frankreich bis zu sieben Jahren in Russland. Aber in allen Fällen sind die Bewältigung der Epidemie und die Bevölkerungskontrolle ein und dasselbe: In Frankreich waren Ausflüge in den Wald während der Einsperrung verboten, weil seine weiten Räume zwar eine „physische Distanzierung“ begünstigen, aber die Überwachung erschweren. Der von den herrschenden Klassen zu zahlende Preis (Risiko der politischen Diskreditierung, Verlust der Produktion und damit der Profite) ist nicht gering, aber sekundär im Vergleich zum Gebot der Aufrechterhaltung der Ordnung, der sozialen, politischen und gesundheitlichen gleichzeitig.

Selbst Südkorea und Taiwan mussten trotz massiver Tests und der Verteilung von Masken und damit der Beschränkung auf nachgewiesene Fälle ihre stark exportorientierten Volkswirtschaften einschränken, da der Rest der Welt gesperrt war. In ähnlicher Weise war Deutschland, trotz einer ganz anderen Einsperrung als z.B. Frankreich, gezwungen, seine kommerziellen Aktivitäten einzuschränken.

Das Ergebnis, eine letztlich sehr rationale Flucht nach vorn: Eine große Anzahl von Ländern injizierte sich eine (starke, aber vorübergehende, wie man hofft) Dosis Zwangsruhe, um dann gesund und schöner zurückzukehren.

Doch in Laclos‘ Roman endet die kriegerische Marquise eher schlecht.

 

2 / JEDER NACH SEINEM KAPITALISMUS

Wenn es stimmt, dass die französische Regierung ihre Bürger wie Kinder und die deutsche Regierung wie Erwachsene behandelt, dann ist man überrascht über den Gegensatz zwischen dem sehr präventiven Charakter des Gesundheitssystems in Deutschland im Vergleich zu einem Frankreich, das nur reaktiv agiert hat.

Sowohl unter linken als auch rechten Regierungen hat Frankreich zwischen 1993 und 2018 100.000 Krankenhausbetten abgebaut und konnte zu Beginn der Krise nur 3.000 Menschen pro Tag untersuchen.

Deutschland hingegen konnte 50.000 testen. Dieses Land ist weit davon entfernt, Wohlfahrtsparadies zu sein: Prekäre Arbeit ist institutionalisiert, die Armutsquote liegt nahe an der des Vereinigten Königreichs, und auch dort unterliegt das Krankenhaus dem Rentabilitätszwang. Aber Deutschland profitiert vom stärksten Kapitalismus der Europäischen Union, der auf seiner Exportkraft beruht, die eine bessere Reproduktion der Gesellschaft – und der Arbeitskräfte – sicherstellt und es ermöglicht, zu starke Kürzungen der Sozialhaushalte, insbesondere der Gesundheitsausgaben, zu vermeiden.

Da Frankreich diese Vorteile nicht hat (die Industrie macht 15 % des BIP aus, verglichen mit 25 % in Deutschland), verfügte es zu Beginn der Krise über 7.000 Intensivbetten (die später auf 10.000 erhöht wurden), verglichen mit 25.000 in Deutschland. Die „Verwaltung“ des Unternehmens lässt das Krankenhaus nach dem „gerade rechtzeitig“ Prinzip arbeiten: wie in einer Textilfabrik oder einem Supermarkt, immer nur das Nötigste vorhalten (ein Bett, das 24 Stunden am Tag unbesetzt ist, ist Geldverschwendung), es ist besser eine Reserve an Arbeitslosen bereithalten und, wenn nötig, Aushilfskräfte einstellen, mit Vertrag und ohne „Status“. Im September 2019, ein paar Monate vor der Krise, wurden Bettenverwalter eingerichtet, um „den Fluss der Patienten in und aus den verschiedenen Diensten zu glätten“. Das Ergebnis ist eine hochmoderne Medizin, die manchmal weniger in der Lage ist, eine Epidemie zu bekämpfen als ein armes Land in Afrika.

Da die Aufdeckung übersehen wurde und es an personellen und materiellen Ressourcen mangelt, treten Einsperrung und Ausgangssperren an die Stelle des Schutzes. Es ist daher nicht abwegig, dass der Staat eine Kriegsrhetorik anwendet und versucht, eine heilige Vereinigung herbeizuführen, nachdem er im Jahr zuvor durch die schwere soziale Krise der Gelbwesten lange Zeit erschüttert wurde. Neben dem „Verteidigungsrat“ gegen den Terrorismus gibt es den „Rat zur Verteidigung des Lebens“, den „ökologischen Rat“… Die Art und Weise, wie die vom Staat organisierte Zivilverteidigung nach einem Bombenangriff Leben rettet, weil der Krieg vom Staat selbst entfesselt wurde.

Wenn Südkorea und Taiwan ganz anders gehandelt haben, so liegt das zweifellos daran, dass sie in letzter Zeit unter schweren Epidemien gelitten haben, aber auch daran, dass sie nicht systematisch den „kleinstmöglichen Staat“ angestrebt haben: Es gibt keine stabile kapitalistische Gesellschaft ohne einen angemessenen öffentlichen Dienst. Im Jahr 2017 lag die Zahl der Krankenhausbetten pro 1.000 Einwohner in Südkorea bei 12,27 (3,18 in Italien). Die Ausgaben für Bildung und Gesundheit sind nicht nur Kosten, sondern eine notwendige Investition für das Kapital als Ganzes, da es sonst die Reproduktion der gesamten Gesellschaft, von der es abhängt, nicht gewährleistet.

So reicht „durch Einsparungen im Gesundheitswesen ein Virus, der etwas aggressiver und tödlicher ist als die übliche Grippe, um einen Verlust von zehn Punkten des BIP zu verursachen. […] Die Verflechtung zwischen Staat und Privatwirtschaft […] ist selbst unter dem rein kapitalistischen Gesichtspunkt ihres optimalen Funktionierens zu stark geworden [und] schränkt die Effektivität und Reaktionsfähigkeit des staatlichen Handelns erheblich ein“. (Il Lato Cattivo)

Unfähig, die Ursachen einer Krise anzugehen, die sie mitverursacht haben, sind die Machthaber gezwungen, sowohl zu verängstigen als auch zu beruhigen, und der alarmistische Diskurs festigt die Kontrolle über die Bevölkerung, die von verschiedenen Kräften vermittelt wird: der Zentralregierung, der „wissenschaftlichen Gemeinschaft“ (deren Angelegenheit von Raoult zumindest das Verdienst hat, die Fragen der Macht und der Ungereimtheiten aufzudecken) sowie den Medien, dem Resonanzboden der Gesellschaft.

 

3 / „ICH SEHE MICH GEZWUNGEN, ZUZUGEBEN, DASS ALLES WEITERGEHT“…

…schrieb Hegel vor zweihundert Jahren.

3.1 / Bewahrung des Status Quo

Der Kapitalismus besteht nicht aus Gegenständen, Menschen, Maschinen, Shopping Malls und Kreditkarten. Es ist die soziale Beziehung, die den Hafenarbeiter, die Verkäuferin, den Frachter, die Boutique, den Kran, die Werkzeugmaschine und den Geldautomaten mit einer Dynamik belebt, die von früheren sozialen Systemen nie erreicht wurde. Allein die vorübergehende Stilllegung eines Teils der produktiven Tätigkeiten unterbricht diese, ohne das zu zerstören, was sie einst in Gang setzte – und wird sie bald wieder in Gang setzen.

Selbst wenn das kapitalistische Produktionsverhältnis teilweise außer Kraft gesetzt wird, hört es nicht auf zu arbeiten. Der Warenaustausch bleibt bestehen, obwohl an der Basis eine Solidarität besteht, in der das Geld und seine Zeiten nicht „zählen“. Für manche Branchen muss und kann der Gewinn teilweise in den Hintergrund treten, aber er verschwindet nicht. Manche Unternehmen verschulden sich oder gehen in Konkurs, andere werden geboren (Online-Dienste) oder florieren (Amazon…). Die meisten verlieren Geld und passen sich an.

Während die Banken- und Finanzkrise 2008 einen Teil der Produktion zum Erliegen brachte und Gruppen von Frachtschiffen in den Mündungen der großen Flüsse zum Stillstand brachte, ist diesmal direkt die sogenannte Realwirtschaft betroffen.

Aber zu sagen, dass die Krise die Realität enthüllen würde, weil sie zeigen würde, wie die Gesellschaft nur dank der Krankenschwester, der Müllabfuhr, des Zustellers, des Mechanikers… funktioniert, ist die Behauptung einer Halbwahrheit.

Entgegen dem Mythos einer wissensbasierten Wirtschaft sind es in der Tat die einfachen produktiven Arbeiter, die die Gesellschaft in der Einsperrung am Laufen gehalten haben: Die Krise bestätigt die Zentralität der Arbeit… aber der Lohnarbeit. In der heutigen Gesellschaft sind der Müllmann und die Krankenschwester auf Geld angewiesen wie der Händler. Weit davon entfernt, ihren Bankrott zu offenbaren, offenbart die aktuelle Krise die Widerstandsfähigkeit eines sozialen Systems, das es immer noch versteht, sich unentbehrlich zu machen. Geld bleibt die notwendige Vermittlung für unser Leben: Wer seine Arbeit verloren hat, dem bleiben nur noch seine Ersparnisse, die Unterstützung der Familie oder die öffentliche Hilfe – alles ausgedrückt in Geld. Selbst die gegenseitige Hilfe ist davon nicht ausgenommen: Wer für den Nachbarn eine Maske anfertigte, musste manchmal Stoff oder, häufiger, die sehr kostbaren Gummibänder kaufen. Und über Kredite an Unternehmen, und in geringerem Maße an Privatpersonen, greifen die Staaten ein.

Aber: „Was an diesen riesigen Rettungsprogrammen auffällt, ist, dass sie nie dagewesene Summen ausgeben […], im Wesentlichen um den Status quo zu erhalten – zumindest vorerst“. („Schwierige Geburt – Chronik einer drohenden Krise“)

Was sich ausbreitet und weiter ausbreiten wird, ist ein freier Handel, der durch eine bescheidene Gegenleistung des Staates abgemildert wird: weniger öffentliche Gelder werden ohne Gegenleistung an den privaten Sektor gegeben; und für einige als strategisch erachtete Produktionen werden sehr begrenzte Standortwechsel vorgenommen, ohne dass die internationalen und „gerade rechtzeitig“ Wertschöpfungsketten gestoppt werden.

 

3.2 / Drei Wochen für den Planeten gewonnen

Anfang 2020 bereiten wir einen Text über Ökologie vor, der bald auf diesem Blog erscheinen wird. In jedem Fall sagen wir, dass keine der Ursachen der globalen Erwärmung minimiert wird, indem eine Gesundheitskrise angegangen wird, die ein Element der Umweltkrise ist. Anders als die tödlichere „Spanische Grippe“ drückt die aktuelle Pandemie übrigens den Widerspruch zwischen der kapitalistischen Produktionsweise und ihren unverzichtbaren natürlichen Grundlagen aus. Die Umweltverschmutzung, die Verschlechterung der Artenvielfalt, die Abholzung der Wälder … werden weitergehen, und zum Beispiel wird die industrielle Viehzucht weiterhin das Auftreten neuer Viren und Krankheiten fördern, für die wir anfällig sein werden.

Ohne Zweifel, hat das Jahr 2020 aufgrund der durch die Pandemie verursachten wirtschaftlichen Verlangsamung den „Tag des Exzesses“, an dem die Menschheit alle Ressourcen verbraucht, die die Ökosysteme in einem Jahr produzieren können, um drei Wochen verschoben. Es wäre jedoch ein Fehler zu erwarten, dass diese Verlangsamung der Produktion länger andauern und zu einer ökologischen „Planung“ oder „Verzweigung“ in der Zukunft führen wird. Kinder werden einfach mehr Bio-Essen in der Schulkantine essen, und ihre Eltern werden mehr lokales Gemüse im Carrefour kaufen, in einer Öko-Nachbarschaft leben, ein Elektroauto in einer „Null-Kohlenstoff“-Stadt in einem „Grünes-Wachstum-positive-Energie“-Gebiet fahren.

Wir werden die Urbanisierung der Welt nicht aufhalten, wir werden sie grün machen. London, eine typische „globalisierte“ Metropole, die zwischen 2008 und 2019 ein Drittel der Arbeitsplätze in England geschaffen hat, wird seine Gebäude begrünen, Benzinfahrzeuge verbieten, elektrische Busse und Straßenbahnen einführen, seinen „grünen Gürtel“ vergrößern und die Zahl der Gemüsegärten für die Stadtbewohner vervielfachen. In der Zwischenzeit wird die Nahrung für die Londoner nicht aus der Region oder gar dem Land kommen, sondern aus der ganzen Welt: Wenn heute in Großbritannien ein Hektar Land hundertmal profitabler ist, wenn es für den Bau genutzt wird als für die Landwirtschaft, könnte nur ein tiefgreifender gesellschaftlicher Umbruch dem Gesetz des Ertrags ein Ende setzen.

Man muss schon naiv sein, um sich darüber zu wundern, dass die Regierungen vor allem (weitgehend) Unternehmen (insbesondere die Luftfahrt- und Automobilindustrie) finanzieren und (aber nur für kurze Zeit) Teilzeitbeschäftigten helfen wollen. Wettbewerb und Profit bedeuten, dass es normal ist, die Produktion zu subventionieren, obwohl sie negative Auswirkungen auf die Umwelt hat. Mit einem Wort, die Folgen reduzieren, während man die Ursachen nährt. Wir sparen hier Energie, um dort mehr Energie zu verbrauchen. Bereits in Frankreich wurde die Kernenergie vollständig elektrisch betrieben: Das ist in der Tat der Weg, der eingeschlagen wurde, und zwar durch einen „Mix“, der zunehmende Dosen fossiler Brennstoffe mit einem wachsenden Anteil erneuerbarer Energien mischt… ohne die Kernenergie aufzugeben. Wir werden weniger Plastikverpackungen verwenden, was das Wachstum der weltweiten Plastikproduktion nicht verhindern wird. Usw.

Und das in der Illusion eines leichteren, also weniger umweltbelastenden Kapitalismus, da er digital ist. Doch in der Realität wiegt das Virtuelle schwer: Rohstoffe, Treibstoff, Fertigung, Transport, Wartung…

Der Weltenergieverbrauch wächst weiter (+2,3 % im Jahr 2018), wobei immer noch mehr als 80 % aus fossilen Brennstoffen stammen. Auch der Energiebedarf für die Energieerzeugung steigt, da Felder mit geringerer Qualität oder so genannte „unkonventionelle“ Kohlenwasserstoffe wie Ölsande ausgebeutet werden. … die „Energierückzahlungsrate“ sinkt weiter. […] Allein das Anschauen von Videos im Internet, die in riesigen physischen Infrastrukturen gespeichert sind, hätte bis 2018 so viele Treibhausgasemissionen verursacht wie ein Land wie Spanien. […] Ein Standardprojekt für automatisches Lernen stößt heute über seinen gesamten Entwicklungszyklus etwa 284 Tonnen CO2-Äquivalent aus, das Fünffache der Emissionen eines Autos von seiner Herstellung bis zum Schrottplatz. […] Die Technologieriesen haben wenig Interesse, effizientere Methoden einzusetzen. Sie sind auch nicht daran interessiert, dass ihre Benutzer ein ökologisches Verhalten an den Tag legen. Ihr zukünftiger Wohlstand hängt davon ab, dass sich jeder daran gewöhnt, das Licht einzuschalten, indem er in einen angeschlossenen Lautsprecher spricht, anstatt einen dummen Schalter zu drücken. Die ökologischen Kosten dieser beiden Operationen sind alles andere als ähnlich. Das erste erfordert ein ausgeklügeltes elektronisches Gerät mit einem Sprachassistenten, dessen Entwicklung viele Rohstoffe, Energie und Arbeitskraft verbraucht hat. Es macht keinen Sinn, gleichzeitig für das „Internet der Dinge“ und den Kampf gegen die Klimakrise einzutreten: Die Zunahme der vernetzten Objekte beschleunigt nur die Zerstörung der Umwelt. Und es wird erwartet, dass 5G-Netzwerke den Energieverbrauch von Mobilfunkbetreibern in den nächsten fünf Jahren verdoppeln oder verdreifachen werden“. (Sébastien Broca, „Das digitale Karbid aus Kohle“).

Milliarden von „kommunizierenden“ Objekten sind dabei, in unser Leben zu platzen. Der „Zug des Fortschritts“ nimmt seinen Kurs für einen Moment unterbrochen wieder auf. Die globale Erwärmung bereitet neue tropische Pandemien vor. Es wird andere Coronaviren geben.

Aber beruhigen wir uns: Google berichtet, dass „Forscher setzen künstliche Intelligenz in Uganda ein, um die Luftverschmutzung zu reduzieren“.

3.3 / Beschleunigung

Obwohl sich die Welt vorübergehend verlangsamt hat, werden die zugrundeliegenden Trends durch die Krise verstärkt, wie unter anderen Umständen durch den Krieg.

Zu den täglichen Statistiken der Infizierten und Toten fügen die Medien die der Produktionsausfälle hinzu und sagen einen finanziellen Zusammenbruch voraus. Es ist möglich. Aber in den Vereinigten Staaten verloren die Aktien an der Börse zwischen 1929 und 1932 90 % ihres Wertes, und die Industrieproduktion ging zwischen 1929 und 1933 um 52 % zurück: In diesem Jahr gab es in diesem Land 25 % Arbeitslosigkeit und 2 Millionen Obdachlose. Doch der Kapitalismus ging weiter.

Keine einzelne gigantische und verheerende Epidemie wird von alleine, es sei denn, sie löscht fast die gesamte Weltbevölkerung aus, dem Kapitalismus ein Ende setzen. Sie wird die Gleichgewichte durcheinander bringen, die politischen, geopolitischen und sozialen Karten in den unerwartetsten und entgegengesetzten Richtungen neu ordnen. Die Krise von 1929 hatte zum New Deal, zum Nationalsozialismus und zu Volksfronten geführt, die UdSSR wurde stärker und in Schweden brachte eine reformierende Sozialdemokratie für Jahrzehnte an die Macht.

Die Reproduktion der kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse erfordert manchmal enorme Opfer bei ihren materiellen Trägern (Dinge und Personen) […] aus demselben Grund können diese Verhältnisse nicht absichtlich verändert oder durch einen Automatismus der Geschichte (einen ‚Zusammenbruch‘ zum Beispiel) rückgängig gemacht werden“. (Il Lato Cattivo)

Mit einigen Korrekturen geht die Herrschaft von „gerade rechtzeitig“ und „Null auf Lager“ weiter. Die Apotheke wird einige Medikamente verkaufen, die in Lyon oder Madrid hergestellt wurden, aber die Europäer werden trotzdem ein Smartphone kaufen, das auf einem Schiff mit 2.000 Containern aus Asien geschickt und dann in einem UPS-LKW oder Transporter transportiert wird. Der Computer, der am Standort Mers-les-Bains eingesetzt wird, wird nicht aus deutschen oder holländischen Fabriken kommen, wie es früher bei den FMCG-Radios und -Fernsehern von Grundig oder Philips der Fall war.

Wir können uns eine sehr partielle Rückkehr zum sogenannten Sozialstaat vorstellen. Die Bourgeoisie ist mit den Haushaltskürzungen, der Privatisierung, der Rationalisierung der öffentlichen Dienste, die wie Unternehmen funktionieren sollen, dem gesamten Markt und dem kleinstmöglichen Staat zu weit gegangen. Der Kapitalismus setzt einen nicht-kapitalistischen Raum voraus, und einen Staat, der mit anderen Logiken arbeitet, die nicht rein mit Waren verbunden sind.

Das schmälert nicht die bourgeoise Vorherrschaft, insbesondere im Finanz- und Bankensektor. Der Coronavirus wird den Marsch in Richtung niedrigere Renten, Prekarität, Individualisierung des Arbeitsmarktes und Rückschritt der sozialen Absicherungen nicht aufhalten.

3.4 / Wird es ein Leben ohne Internet geben?

Was das Coronavirus eingeleitet hat, ist das groß angelegte Erlernen der Tele-Existenz. Das freiwillige und erzwungene Zuhausebleiben hat gezeigt, dass ein „normales“ Leben ohne digitale Technik heute nicht mehr möglich ist. Das Internet war sowohl ein Mittel für Staaten, um Einschränkungen zu erzwingen, als auch für die Bevölkerung, um sie zu unterstützen.

Zugang zu öffentlichen Diensten, Bildung, Familien- und Freundschaftsbeziehungen, Sexualität (Dating-Seiten und Pornografie), Freizeit, Einkaufen, Arbeit (wenn auch in geringerem Maße als behauptet), sogar politische Aktivität – dank der Einsperring hat die Entwicklung hin zum völlig Digitalen einen Sprung nach vorne gemacht. Kommunikation über Smartphones und die allgegenwärtige Präsenz von Bildschirmen: Die Gesellschaft der Individuen sozialisiert sie auf Distanz.

In den letzten rund 30 Jahren sind Computer für die Zirkulation von Kapital und Waren unentbehrlich geworden – angefangen bei der Arbeitskraft. In dem Maße, wie der Kapitalismus den Alltag kolonisiert hat, installiert er das Digitale auch im Schlafzimmer, im Auto, im Kühlschrank und bereitet sich darauf vor, es in Körper zu implantieren. Was als einfach „praktischer und schneller“ dargestellt wurde, wird nun als notwendig aufgezwungen, bevor es verpflichtend wird. Der Mensch lebt nun „Online“. Vielleicht hat er bald einen virtuellen Assistenten, der in der Lage ist, alle seine persönlichen Daten zu verknüpfen, seine Einkäufe für ihn zu erledigen, seine Gesundheit zu überwachen, indem er ihn an die Einnahme seiner Medikamente erinnert, seinen Terminkalender zu verwalten, eine Person zu kontaktieren, mit der er schon lange nicht mehr gesprochen hat, und so seine Bedürfnisse besser zu kennen als er selbst.

Die digitale Entgiftung wird die Mode des Slow-Foods nicht erleben.

In weniger als 15 Jahren ist das Ordiphone (tragbarer Computer), wie die Quebecker sagen, zu einer lebenswichtigen Prothese für mindestens drei Milliarden Menschen geworden, von denen im Jahr 2019 1,5 Milliarden Exemplare verkauft wurden. Zum ersten Mal ist ein Werkzeug für die Arbeit auch ein unentbehrlicher Gegenstand für das emotionale, familiäre, intellektuelle Leben usw., aber auch ein privilegiertes Instrument der sozialen und politischen – und damit polizeilichen – Kontrolle. Und immer im Namen des kollektiven Wohlergehens: Ein Ort, der von Kameras bewacht wird, soll „unter Videoschutz“ stehen. Das Zauberwort „Sicherheit“ wird im Angesicht des Kriminellen ebenso aufgezwungen wie im Angesicht des Terroristen und des Virus, und die Gesundheitskrise zeigt, in welchem Ausmaß der Staat unsere Unterwerfung im Namen der Gesundheit erlangt. Neben der Gesichtserkennung (in diesem Bereich ist China die Zukunft der Welt) hat die Funkidentifikation eine große Zukunft vor sich. Heute eher Haustieren vorbehalten, wird der subkutane Mikrochip in Menschen implantiert werden, die ihre medizinischen Daten, ihr Strafregister usw. bei sich tragen werden, und, abgesehen von einigen Widerspenstigen, werden die modernen Bürger dieses System annehmen, wie sie es mit dem biometrischen Pass oder der dematerialisierten Steuererklärung getan haben.

Ohne sich zu freuen, sollte dies nicht überraschend sein. Damit der Internetnutzer „mit ein paar Klicks“ die Wettervorhersage in Vilnius oder den richtigen Namen der Person, die mit „Baron Corvo“ unterschrieben hat, erfahren kann, war es notwendig, ständig Millionen von Informationen zu sammeln und zu aktualisieren, zu denen auch diese Suche ihre Spuren hinzufügen wird. Man kann nicht alles über alles wissen, ohne Teil des Ganzen zu sein, und in jedem Moment „verfolgt“ werden.

4 / BALANCE UND PERSPEKTIVEN

4.1 / Abstand

In der im Frühjahr 2019 ausgestrahlten Serie Years and Years wird England im Jahr 2029 von einer autoritären (und sogar kriminellen) Regierung regiert, die angesichts einer von Affen verbreiteten Epidemie „sensible“ Stadtteile hinter polizeilich kontrollierten Schranken abriegelt und den Zugang bei Nacht verbietet.

Ein Jahr nach der Premiere der Serie wurde diese politische Fiktion für drei Milliarden Menschen zur Realität: Reisebeschränkungen, Ausgangssperren, eine allgegenwärtige Polizei. Aber dieser weltweite (und global erfolgreiche) „biopolitische“ Experiment hat sichtbar das manifestiert, was im Wesentlichen schon vorhanden war: Außer der EHPAD hat uns die Einsperrung nicht mehr „sozialer“ voneinander getrennt als vorher. Auch nicht weniger. Unter Hausarrest haben wir die Kontrolle über unser Leben verloren: aber welche hatten wir im Februar 2020? Die Freiheit, zur Arbeit zu gehen, solange wir angestellt sind, und die Freiheit, Buddhist oder Marxist zu sein, solange diese Überzeugungen Meinungen bleiben, die keine Auswirkungen auf die Grundlagen der Gesellschaft haben. Ein Kommunist aus den 1840er Jahren sagte, dass die Proletarier von äußeren Ursachen abhängig seien. Im Jahr 2020 manifestierte die massenhafte Akzeptanz der erzwungenen Atomisierung die Uneinigkeit, die das tägliche Los der Proletarier ist, umso mehr in einer Ära der geteilten Kämpfe und getrennten Identitäten.

Eine Epidemie und ihre staatliche Behandlung sind nicht niederschmetternder als z. B. die Kriegserklärung vom 14. August, die damals fast die gesamte Arbeiter- und sozialistische Bewegung lahmlegte.

Im 21. Jahrhundert, anders als in den 1840er Jahren, hat die große Mehrheit der Menschheit keine andere Möglichkeit zu leben, als Krieg zu führen – wenn möglich und unter den auferlegten Bedingungen.

Aber dieses gemeinsame Schicksal reicht nicht aus, um sich zu vereinen und zu vereinigen: Es ist notwendig, dass die sozialen Kämpfe zuvor begonnen haben, auf ein gemeinsames Ziel hinzuweisen. Nun gibt es zwar viele Kämpfe, wahrscheinlich mehr als man sich vorstellt, und von größerer Vielfalt als in der Vergangenheit – Arbeits-, „Gender“-, ökologische Konflikte… – und obwohl diese Kämpfe manchmal siegreich sind, bleiben sie fragmentiert, unfähig, den Kern des Problems zu erreichen. Die Pandemie, die Arbeitslosigkeit in einem Teil der Wirtschaft und die Einsperrung haben einige Kämpfe unterbrochen, aber auch andere provoziert. Aber Gleichzeitigkeit ist nicht Gleichschaltung, Nebeneinander ist nicht Zusammenfließen, und Vereinigung ist auch nicht gleichbedeutend mit Überwindung. Bislang fallen Widerstand und Ablehnung bei der Forderung nach Reformen bestenfalls zusammen.

Der Kampf um Löhne und Arbeitsbedingungen wirkt sich auf das Lohn-/Gewinnverhältnis aus, greift aber nicht automatisch (und in der Tat selten) die Löhne selbst an. Auch die Weigerung, seine eigene Gesundheit für einen Arbeitgeber zu riskieren, die Forderung nach Schutzmaßnahmen oder sogar die Forderung, bezahlt zu werden, ohne zur Arbeit zu kommen, solange die Gefahr besteht, reicht nicht aus, um die Koexistenz von Bourgeoisie und Proletariat in Frage zu stellen. Es gibt sehr wenig Kritik an der Arbeit und noch weniger Kritik am Staat als Staat, schreiben die Autoren von „Koste was es wolle. Der Staat, das Virus und wir“1, im April 2020: Die Beobachtung ist immer noch gültig.

Wir können uns eine Umkehrung gegen Ende der Pandemie vorstellen, bei der alle separaten Kritiken zusammenlaufen, um die grundlegende Struktur anzugreifen, diejenige, die die anderen Unterdrückungen nicht hervorbringt, sondern sie aufrechterhält und reproduziert: das Verhältnis Kapital/Arbeit, Bourgeoisie/Proletariat. Die verschiedenen Kämpfe würden „ausfällen“, wie man in der Chemie sagt, wenn die heterogenen Elemente, die bis dahin verstreut waren, zu einem Block kristallisieren. Der Widerstand würde in die Phase eines Angriffs auf die Grundlagen dieser Gesellschaft übergehen. Die herrschenden Eliten würden umso mehr abgelehnt werden, als ihre Verwaltung der Krise sie diskreditiert und große Teile der Bevölkerung gegen sie aufgebracht hat. Unter Ausnutzung der Lahmlegung eines Teils der Produktion würden die Proletarier versuchen, die Gesellschaft umzugestalten, indem sie sich gegen die Kräfte des Staates auflehnen, die bourgeoise Herrschaft angreifen, mit der Produktivität und dem Warenaustausch brechen, das Schädliche vom Nützlichen trennen, eine Disakkumulation (Verminderung2) einleiten usw.

Das ist nicht unmöglich, aber derzeit deutet nichts darauf hin, dass sich die vielgestaltigen Kämpfe in diese Richtung bewegen. Vielmehr zeigen sichtbare Zeichen das Überleben kategorischer, identitätsbezogener, lokaler, nationaler, religiöser Trennungen und manchmal auch das Entstehen neuer Trennungen.

Und es gibt kein Rezept, um dass zu vermeiden.

 

4.2 / Hypothese

Das Virus und seine Behandlung ändern nichts Grundlegendes: Sie offenbaren und akzentuieren die Entwicklungen. Ein historisches Ereignis, selbst in der Größenordnung der aktuellen Pandemie, kehrt nicht per se den Lauf der Geschichte um. Der Covid setzt vieles aus, er unterbricht nicht den Kapitalismus oder seine Herrschaft, es ist nicht einmal sicher, dass er seine gegenwärtigen Formen ändern wird, wie es mit dem Krieg von 1914-18 oder der Krise von 1929 geschah.

Wir erleben nicht das Ende der Welt oder das Ende einer Welt. Die Pandemie stärkt die bestehende Ordnung: Die Bourgeoisie als Klasse zeigt wie üblich recht gute immunologische Abwehrkräfte.

Der Kapitalismus hat eine (reale) Brüchigkeit nur in dem, was ihn begründet: dem Proletariat. Mehr als jedes andere System nährt sich diese Produktionsweise von den überwundenen Krisen, auch den schweren, weil sie erstaunlich unpersönlich und plastisch ist und sich an das Wesentliche hält: das Verhältnis von Kapital und Arbeit, das Unternehmen, die Konkurrenz… Das kapitalistische Gesellschaftsverhältnis ist zugleich „Träger seiner eigenen Überwindung oder Reproduktion auf einer höheren Ebene“: Von allen „Ausbeutungsverhältnissen zwischen antagonistischen Klassen“, die historisch existiert haben, ist es „das widersprüchlichste und daher das dynamischste“. (Il Lato Cattivo, „Covid-19 und darüber hinaus“3, März 2020).

Wir werden ein „historisches Gesetz“ vorschlagen (das wie jedes Gesetz seine Ausnahmen zulassen würde):

In Ermangelung einer bereits existierenden sozialen Bewegung, die bereits radikalisiert ist (d.h. dazu neigt, die Grundlagen der Gesellschaft anzugreifen), kann eine Katastrophe nur die Auslösung von Teilkonflikten unterschiedlicher Intensität begünstigen und die etablierte Ordnung zwingen, sich weiterzuentwickeln und somit zu stärken.

Aus dem Coronavirus gehen alle gestärkt hervor. Die Linke Frau kommt zu dem Schluss, dass wir echte öffentliche Dienstleistungen brauchen, der Neoliberale, dass der Staat sich als unfähig erweist, der Rechtsextreme, dass die Grenzen geschlossen werden müssen, der Ökologe, dass die kleinen Schritte vervielfacht werden müssen, der Regierungsökologe, dass wir jede politische Kraft zusammenbringen müssen, die für das Klima arbeiten kann, der Transhumanist, für den es an der Zeit ist, sich in Richtung einer größeren Menschlichkeit zu bewegen, der Forscher, für den die Forschung Anerkennung braucht, der Aktivist, für den es dringend notwendig ist, die Kämpfe anzukurbeln, der Resignierte, dem alles entgeht, der Kollapsist4, für den wir uns an das Schlimmste gewöhnen müssen… Und der Proletarier? Was hat er bestätigt? Auf jeden Fall denkt er und wird er denken, was seine Handlungen und Kämpfe ihm zu verstehen geben werden.

Wir stellen uns nur die (theoretischen) Fragen, auf die wir bereits begonnen haben, (praktische) Antworten zu geben.

 

Gilles Dauvé, 22. September 2020.

Lektüren:

– Michael Roberts, «It was the virus that did it», The Next Recession, 15 mars 2020.

– Et «Lockdown!», The Next Recession, 24 mars 2020.

– Jean-Paul Sardon. «De la longue histoire des épidémies au Covid-19», Les Analyses de Population & Avenir, 2020.

– Jean-François Toussaint & Andy Marc, «Sortir d’un confinement aveugle», larecherche.fr, 22 avril 2020.

– Gaël Giraud, «Dépister et fabriquer des masques, sinon le confinement n’aura servi à rien», reporterre.net, 24 mars 2020.

  1. Giraud s’illusionne sur la possibilité de créer aujourd’hui «un système de santé publique digne de ce nom», non dominé par « une industrie médicale en voie de privatisation».

– Jean-Dominique Michel, Covid: Anatomie d’une crise, HumenSciences, 2020, 224 p.

– Comme Gaël Giraud, J.-D. Michel croit possible dans le monde actuel un système de santé qui serait autre chose qu’une industrie de la maladie.

– Il Lato Cattivo, „Covid-19 und darüber hinaus“, siehe Fußnote Nr. 3. 

– B.A. et R.F., «Accouchement difficile – Chronique d’une crise en devenir», hicsalta-communisation.com

– Raffaele Sciortino, «Géopolitique du virus», acta.zone, 29 avril 2020.

– Sébastien Broca, «Le numérique carbure au charbon», Le Monde diplomatique, mars 2020.

– Tristan Leoni & Céline Alkamar, „Koste es was es wolle; das Virus, der Staat und wir“, siehe Fußnote Nr. 1.

– Sur les luttes actuelles et les nouvelles formes de réformisme : Tristan Leoni, «Abolir la police?», septembre 2020.

– Site de Pièces & Main d’œuvre, notamment «Le virus à venir et le retour à l’anormal», et «Le virus de la contrainte».

– Zitat von Hegel: „Ich bin gleich 50 Jahre alt, habe 30 davon in diesen ewig unruhevollen Zeiten des Fürchtens und Hoffens zugebracht und hoffte, es sei einmal mit dem Fürchten und Hoffen vorbei. Nun muß ich sehen, daß es immer fortfährt, ja, meint man, in trüben Stunden, immer arger wird.“ (Brief an Friedrich Creuzer, 30. Oktober 1819)

https://www.worldometers.info/coronavirus/

https://feverstruggle.net/category/reports/

 

1A.d.Ü., auf Deutsch, hier oder hier zu lesen

2A.d.Ü., was hier auch als Disakkumulation bezeichnet wird, wird im englischsprachigen Raum als Degrowth Theorie bezeichnet und m deutschsprachigem Raum bezeichnet man diese Theorie als Wachstumskritik. Diese Theorie besagt dass der Wachstum des Kapitalismus nicht ins unendliche Wachsen kann, weil auch die dafür benötigten Ressourcen endlich sind. Das heißt man setzt sich für eine umweltfreundliche Ökonomie ein die mehr auf erneuerbaren Energien setzt und den Menschen anstatt den Profit in Zentrum setzt. Dies wäre natürlich eine fürchterliche Verkürzung zu dieser Thematik. Wir sind dennoch der Meinung dass dieser reformistische Trend nur ein weiterer Schwachsinn ist um das Kapital zu reformieren, anstatt diesen zu vernichten. Ein Text der sich mit dieser Thematik beschäftigt findet ihr auf unseren Blogs hier und hier. Weitere Texte zu diesem Thema werden folgen.

3A.d.Ü., auf Deutsch, hier oder hier zu lesen

4A.d.Ü., ein Kollapsist ist ein Befürworter der sogenannten Kollapstheorie, siehe Fußnoten Nr. 2.

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(Chile) Freiheit für alle Gefangenen der Revolte, der Mapuche und der Revolutionäre https://panopticon.blackblogs.org/2020/10/20/chile-freiheit-fuer-alle-gefangenen-der-revolte-der-mapuche-und-der-revolutionaere/ Tue, 20 Oct 2020 17:32:04 +0000 http://panopticon.blackblogs.org/?p=1852 Continue reading ]]> Gefunden auf dem Blog von Vamos Hacia la Vida, die Übersetzung ist von uns

Freiheit für alle Gefangenen der Revolte, der Mapuche und der Revolutionäre

Im aktuellen Szenario sehen wir erneut, wie sich die herrschende Klasse von links nach rechts zusammenschließt, um sich an dem viel gepriesenen „Konstituierenden Prozess“ zu beteiligen, die Demokratie zu sichern, immer im Dienste des Kapitals, alte, an die neuen Zeiten angepasste Formeln zu verwenden, an der Wahlurne das Potenzial für eine soziale Umwandlung des Proletariats zuzuwenden und die Illusion aufrechtzuerhalten, dass es durch eine Verfassungsänderung mittels eines klassenübergreifenden Paktes möglich sein wird, den Kapitalismus mit einem „humaneren“ Charakter zu verwalten. Gleichzeitig wird eine Reihe von repressiven Maßnahmen und Gesetzen angewandt, um jene Dissidenten in Schach zu halten, die ihre Lügen nicht schlucken: Der Aufstand in der chilenischen Region erreichte 2.500 inhaftierte Gefährt*innen, und obwohl viele von ihnen auf die Straße zurückgekehrt sind, warten einige noch immer auf ihren Prozess, andere wurden bereits zu harten Strafen verurteilt. Und das ist das wahre Gesicht der Demokratie, das sie verbergen wollen.

Es reicht nicht aus, die unmenschliche Realität des Gefängnisses anzuerkennen, wie es die fortschrittliche und intellektuelle Bourgeoisie tut, man muss sich ohne Halbherzigkeiten positionieren. Die Bewegung, die gegen die Ordnung des kapitalistischen Staates kämpft, muss eine offene Anti-Gefängnis-Perspektive säen, denn Gefängnisse sind mehr als Gitter und Mauern: sie sind die soziale Folge der Herrschaftsverhältnisse der Gesetze der Wirtschaft, die angesichts der menschlichen Bedürfnisse auferlegt werden.

Eine der Lehren, die wir aus dem Frühjahr 2019 gezogen haben, war gerade, dass der Kampf für die Freiheit der Gefangenen nicht losgelöst von den sozialen Kämpfen, die wir als Klasse führen, ist und diesen nicht fremd ist.

FÜR DIE ZERSTÖRUNG DER GEFÄNGNISSE, DES STAATES UND DES KAPITALS!

¡VAMOS HACIA LA VIDA!

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(Chile) Erinnerung und Solidarität gegen Straflosigkeit https://panopticon.blackblogs.org/2020/10/20/chile-erinnerung-und-solidaritaet-gegen-straflosigkeit/ Tue, 20 Oct 2020 17:31:07 +0000 http://panopticon.blackblogs.org/?p=1849 Continue reading ]]> Gefunden auf dem Blog von Vamos Hacia la Vida, die Übersetzung ist von uns

Erinnerung und Solidarität gegen Straflosigkeit

Am Freitag, dem 2. Oktober, warfen die Carabineros de Control de Orden Público – die politische Polizei des derzeitigen Regimes – einen Teenager von der Pio-Nono-Brücke und verursachten schwere Verletzungen an verschiedenen Körperteilen. Dies war Teil einer Reihe von repressiven Aktionen krimineller Natur, die die gesamte Bevölkerung seit Ausbruch des Aufstandes miterlebt hat. Dabei handelt es sich nicht um die kriminellen Handlungen einzelner Beamter, sondern der Institution als Ganzes. Die chilenischen Carabineros sind wie die Armee Institutionen, deren Zweck die bewaffnete Verteidigung der kapitalistischen Ordnung ist. Es handelt sich um Institutionen, die nicht reformiert werden können, da ihr Wesen die gewaltsame Verteidigung der Interessen der herrschenden Klasse ist. Daher reicht es nicht aus, den Rücktritt ihrer sichtbarsten Führungspersönlichkeiten zu fordern: Es ist notwendig, die Institution als solche abzuschaffen.

Einen 16-Jährigen von einer Brücke zu werfen, hat KEINE andere Rechtfertigung, als die gegenwärtige Ordnung durch Terror aufrechtzuerhalten. Zwei Wochen vor dem Plebiszit, auf das sich die politisch-wirtschaftliche Kaste geeinigt hatte, um die Regierung Piñera zu retten, zeigt sich diese Ordnung – als gäbe es keine Beweise mehr – einmal mehr als das, was sie wirklich ist: die demokratische Diktatur des Kapitalismus. Ungeachtet des absehbaren Sieges der Option „Ich stimme zu“1 wird es eine ebenso kriminelle oder sogar noch kriminellere Regierung geben, die sich dafür einsetzen wird, die repressive Arbeit des gegenwärtigen Regimes zu beenden und die Grundlagen für den Fortbestand des Systems mit einem terroristischen Staat zu schaffen, der durch Aktionen wie die von gestern gestärkt wird, und darüber hinaus mit der Verfolgung und Inhaftierung der Gegner und Gegnerinnen dieses kriminellen Systems.

Gerechtigkeit, sowohl für diesen Fall als auch für all jene, die seit Oktober getötet oder verstümmelt wurden, bedeutet die praktische Abschaffung der materiellen und historischen Bedingungen, die einem Menschen die Macht über das Leben aller anderen geben.

Die Polizei ist ein bewaffneter Mörder des Kapitalismus!
Abschaffung der Polizei!
Freiheit für alle politischen Gefangenen!
Keine Pakte, keine Volksabstimmungen mit unseren Mördern*innen und Ausbeuter*innen!
Soziale Revolution!

Vamos hacia la vida

 

1A.d.Ü., dies bezieht sich auf die vorstehende Wahl für eine Erneuerung der Verfassung.

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