Knast – prisonsociety https://prisonsociety.blackblogs.org Fri, 31 May 2019 14:59:10 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.1 Operation „Renata“ – Ein Text von Stecco aus dem Gefängnis von Tolmezzo https://prisonsociety.blackblogs.org/2019/05/16/operation-renata-ein-text-von-stecco-aus-dem-gefaengnis-von-tolmezzo/ Thu, 16 May 2019 11:25:57 +0000 http://prisonsociety.blackblogs.org/?p=379 (von einem Gefährten aus dem italienischen übersetzt)

Liebe Gefährt*Innen,

es ist an der Zeit, etwas über das zu sagen, was im Februar passiert ist.

Etwas mehr als zwei Monate sind seit unserer Verhaftung mit der Operation „Renata“ vergangen, und ich kann sagen, dass ich mich ruhig und stark fühle und sicher wie nie zuvor, dass der Kampf trotz der Schläge des Staates, weitergeht.

Meine Verhaftung in Turin, in der Nähe des Corso Giulio, fand gegen 17.00 Uhr in aller Stille statt. Als ich meinen Gefährten verließ, bemerkte ich den typischen Polizisten in Zivil vor mir an der Straßenbahnhaltestelle, einige Sekunden später war ich umzingelt. Dass alles, muss ich sagen, hat mit viel Ruhe und mit einer ärgerlichen „Freundlichkeit“ stattgefunden, im Gegensatz dazu, wie meine Gefährten im Trentino behandelt wurden.

Bevor ich nach Trient abreiste, dachte ich noch, dass meine Inhaftierung an einige endgültige Urteile gebunden sei, auf die ich lange gewartet hatte. Ich fühlte mich etwas seltsam: zu viele Menschen mit hohen Dienstgradabzeichen in den Gängen der Kasernen in Turin. Erst beim Besuch des Anwalts stellte ich fest, dass mir am Tag meiner Verhaftung die alternativen Maßnahmen zum Gefängnis bestätigt wurden. Ein Zufall? Tatsache ist, dass sie mir gegen 20 Uhr einige Papiere über eine Durchsuchung von mir und dem Haus, in dem ich wohne, geben. Offensichtlich bemerkte ich „unsere“ schicksalhaften Artikel 270 bis, 280 bis und eine Reihe anderer vermeidlichen Verbrechen. Damals waren die aufgeführten Daten und Orte nicht verständlich, aber verständlich war meine Reaktion. Während ich las, war ich nicht überrascht von dem was um mich geschah; keine Aufregung oder Herzrasen, sondern die einfache Gewissheit meiner Ideen und Überzeugungen, die Gewissheit, immer für die Ideale der Gerechtigkeit, der Freiheit, der Gleichheit aller Männer und Frauen gekämpft zu haben.

Und so, mit dieser seltsamen inneren Ruhe, begann meine 70 km lange Reise nach Trient zusammen mit vier SEKalern. Als ich gegen 2.00 Uhr nachts in der Kaserne von Trient ankam, verstand ich sofort das Ausmaß der Operation. Die Polizeiwache war ein Ameisenhaufen von Männern und Frauen mit oder ohne Uniform, mit Koffern voll mit Akten und sonstigen unnützen Papieren.

Es ist das dritte Mal in 8 Jahren, dass der Staat mich zusammen mit vielen meiner Gefährten des „Terrorismus“ beschuldigt, und ich kenne ein wenig den Ablauf, auch wenn ich diesmal selber zu denen gehöre, die im Knast gelandet sind. Als sie uns aus der Kaserne entlassen haben, war alles gut vorbereitet: Sirenen und Blaulichter waren eingeschalten für die Fotos der miserablen Journalisten, die entlang der Straße stationiert waren. Ich verstand, dass die Jagd auf Anarchisten bis ins kleinste Detail studiert haben, um als Endverstärker für diejenigen an der Spitze zu fungieren, deren Reden gegen die Freiheit – die leider von den meisten Ausgebeuteten unterstützt werden – im Scheinwerferlicht verstärkt und verbreitet werden.

Eine weitere Überzeugung, die mich Ruhig gehalten hat und weiterhin hält, ist, dass das, was mit mir passiert ist oder passieren wird, meine Gefährten nicht nur da sind, sondern auch die Kraft haben, auf diesen neuen Angriff zu reagieren. Turin, wenn auch nur für kurze Zeit, gab mir die Luft zum Aufatmen. Die Kraft und die Solidarität, die von den Gefährten dieser Stadt ausgeht, wurden an vielen Orten weitergegeben. Das Gefühl, ein zusammenhängendes, entschlossenes Klima zu haben, kann nur gut für alle sein, trotz der Schwierigkeiten der letzten Zeit. Die Kaskade von Telegrammen und Briefen, die uns geschickt wurden, bestätigte meine Gefühle.

Seit vielen Jahren denke ich darüber nach, was mein Gefährte Roberto geschrieben hat: „Ich wusste es schon immer, für die Freiheit zu kämpfen bedeutet auch, sie verlieren zu können“. Einfache und klare Worte, und vor allem, sie sind wahr. Jetzt, da ich im Gefängnis bin, sehe und höre ich Dinge, die mir manchmal entgangen sind (meine ersten beiden kurzen Erfahrungen im Gefängnis waren eine Kostprobe dessen, was ich jetzt erlebe). Jetzt berühre ich mit meinen Händen viele meiner Gedanken, die ich mir in diesen Jahren des Kampfes gemacht haben. Hier in Tolmezzo zu bleiben bedeutet, zu erkennen, wie der Staat und sein repressiver Apparat ständig an alte und neue Wege der Isolierung zu arbeiten und erneuern, gegen diejenigen die weiterhin gegen sie kämpfen. Und noch härter sind die Bedingungen, unter denen sich unsere Gefährtinnen in L’Aquila befinden, in diesem Hybrid zwischen AS2 und 41bis (Hochsicherheitsverwahrung).

Sie wollen diesem Gefängnis den Ruf eines Ortes der Folter und Schläge nehmen, den er sich zur Zeit der ehemaligen Direktorin Silvia Dalla Barca verdient wurde, auch wenn diese Zustände unverändert sind. Nur das jetzt die Gefangenen in den Hochsicherheitstrakten meist aus Süditalien kommen, keine isolierten Ausländer mehr, mit denen man alles tun kann, was man will, ohne dass es jemand erfährt. Die Taktiken sind jetzt anders. Das Gefängnis ist in verschiedene Kategorien unterteilt: Mafia hier, Mafia dort, 41 bis da, „normale“ Gefangene, Muslime, Anarchisten etc. Eine Taktik, die zu funktionieren scheint, wenn man bedenkt, dass unter den wenigen „Normalen“, einige der rassistischen Beleidigungen und verschiedene Vorurteile verfallen sind, mit großer Genugtuung für die Knastleitung. Ich denke, dass das Verständnis der Entwicklung der Gefängnisse, ihrer Geschichte, der Änderungen im Strafrecht, der Art und Weise, wie Ermittlungen durchgeführt werden, nicht nur gegen uns Anarchisten, sehr nützlich ist, um zu verstehen, was man heute sagen und tun soll, ob draußen oder drinnen.

Heute ist der 25. April (Tag der Befreiung in Italien – Anm. d. Übers. ). Einige Gefangene fragten mich, ob ich feiere, und es war interessant, wie in wenigen Minuten entschieden wurde, dass es keine Befreiung gab. Die Geschichte der Partisanenbewegung ist sehr komplex. Ich kann diesem Kampf Respekt entgegenbringen, aber auch ich ergreife Partei. Wenn ich an diesen Kampf denke, denke ich an Gefährten wie Pedrini, Tommasini, Mariga, Mariani und viele andere, die den Faschismus und den Staat lange vor dem 8. September 1943 (Waffenstillstand gegenüber den Allierten – Anm. d. Übers.) und weit nach dem 25. April 1945 bekämpft haben. Vor allem kämpften sie nicht für politische Ziele und Macht, sie verrieten nicht die Ziele, die sich so viele junge Männer und Frauen mit ihren Opfern gesetzt hatten. Es ist auch diesen Gefährten, ihren Erfahrungen, ihren Geschichten zu verdanken, dass ich jetzt das Wissen habe, dem Gefängnis mit Kraft und Würde zu begegnen. Für mich gibt es einen unterirdischen Faden, der mich mit diesen Gefährten verbindet, nicht weil ich den gleichen Mut habe – so viele Dinge, die sie erlebt haben, habe ich nicht an eigener Haut erfahren -, sondern weil ich demütig versuche, die gleichen Kämpfe und Ideen fortzusetzen. Ich finde es scheinheilig, dass wie jedes Jahr in Zeitungen wie dem „Corriere della Sera“ z.b. an einen großer Fotograf wie Robert Doisneau erinnert wird, der während des Krieges Ausweise für die französische Widerstandsbewegung gefälscht hat, und gleichzeitig diejenigen verurteilt und kriminalisiert werden, die heute vor den vom Westen finanzierten Lagern fliehen, in denen sie eingesperrt sind, weil sie keine Ausweispapiere haben und die nur durch die Flucht und die Fälschung von Ausweisen versuchen können, vor den Behörden zu entrinnen um frei zu bleiben. Dieser Tag spiegelt die Heuchelei der Gesellschaft wider, in der wir leben, in der alles das Gegenteil von allem sein kann.

Es sind traurige Zeiten. Berichte über willkürliche Massaker folgen auf beängstigende Weise aufeinander. Die Ereignisse in Libyen, Sri Lanka, Neuseeland, Venezuela und all jene, die verborgen bleiben, sind Teil derselben Seite der Medaille wie andere Massaker, die von verschiedenen Armeen auf der ganzen Welt verübt werden.

Alle diese Ereignisse sprechen von willkürlichen, zusammenfassenden, barbarischen Ermordungen, die nicht zu Emanzipationszwecken begangen werden, sondern darauf abzielen, das Leben durch Unterdrückung und Macht zu brutalisieren.

In diesem Zusammenhang von Kriegen und sozialen Veränderungen verschiedener Art wird der anarchistischen Bewegung in ihrer Geschichte zum x-ten Mal der Vorwurf des „Terrorismus“ gemacht. Diese Anschuldigung ist eine schwere Straftat, deren Zweck es ist, unsere Ideen und Methoden zu verunglimpfen. Der Staat, der die schmutzigsten und berüchtigtsten Methoden anwendet, wenn er Angst hat oder die Notwendigkeit sieht, schlägt gegen die bewusstesten Ausgebeuteten ein, die kämpfen. In vielerlei Hinsicht haben sich Anarchisten gegen diese Angriffe verteidigt, indem sie die Richtigkeit ihrer Ideen und Praktiken im Laufe der Zeit bekräftigt haben.
Jetzt möchte auch ich meinen Teil dazu sagen. Die Isolation und diese Zelle können mich nicht ruhig halten. Ich werde nie den Wunsch verlieren, Klarheit darüber zu schaffen, wo die größte Verwirrung herrscht. Dazu werde ich die Fakten und Worte einiger Anarchisten zitieren.

Seit vielen Jahren werden in Russland Anarchist*innen getötet, gefoltert, Propaganda geknebelt, Familienmitglieder verhaftet. Im Jahr 2001 wurde der junge Anarchist und Gewerkschafter Nikita Kalin wegen seiner Tätigkeit in der Fabrik, in der er arbeitete, mit einem Kopfschuss getötet. Viele andere sind von einer heftigen Unterdrückung des Staates und seiner faschistischen Diener betroffen, die in den letzten Jahren nur noch zugenommen hat. Am 31. Oktober 2018, um 8:52 Uhr, stirbt der junge Anarchist Michail Chlobitzky in Archangelsk durch seine Bombe innerhalb der Regionaldirektion des FSB (Russischer Geheimdienst). Drei Agenten werden verletzt und das Gebäude wird beschädigt. Diese dramatische Tatsache macht uns verständlich, dass wir auf der einen Seite einen mutigen Gefährten verloren haben und auf der anderen Seite die Schuld für das Geschehene beim Staat liegt. Wenn man Ideen und Freiheit in die Enge treibt, werden diese mit den mutigsten und entschlossensten ihrer Männer und Frauen darauf reagieren. Es sind die sozialen Bedingungen, die sowas ermöglichen. Und das ist kein „Terrorismus“. Wir können jetzt um den verstobenen Gefährten trauern, aber wir sollten noch mehr verstehen, dass der Kampf weitergehen muss, bis solche Gegebenheiten nicht mehr notwendig sind.

Am 20. September 1953 erschien in der anarchistischen Zeitung „Umanità Nova“ ein Artikel von Mario Barbani, in dem er Giuseppe Marianis Buch über die Ereignisse von Diana 1921 (Am 23. März 1921 legten Anarchisten aus Protest gegen die Verhaftung von Errico Malatesta eine Sprengstoffladung Im Mailänder Kursaal Diana. Damaliger beliebter Treffpunkt der Bourgeoisie. In der Explosion verloren 21 Menschen ihr Leben. 80 wurden verletzt – Anm. d. Über. ) kommentierte:

„Und ist der Tyrann nicht ein gefräßiger Löwe – immer auf der Suche nach siegreichen Sehnsüchten – wenn er in seiner despotischen Brutalität keine Mittel gegen diejenigen ausschließt, die versuchen, sich von der Tyrannei selbst zu befreien, aus Angst, dass andere auf die Realität aufmerksam gemacht werden, die sie erdrückt? Der Tyrann ist somit der wahre Ausdruck von Gewalt, und diejenigen, die sie bekämpfen, kämpfen gegen Gewalt.“

Wir Anarchisten müssen einen Kompass im Auge behalten, der uns immer von denen unterscheidet, die Gewalt für ihre bösen Zwecke einsetzen. Malatesta nannte es „moralische Gymnastik“, dank derer sich die revolutionäre Gewalt von dem der Gewalt unterscheidet, die der Staat mit seinen Mitteln und Dienern anwendet. Eine unserer Aufgaben ist es, Klarheit in diese Gewalt basierte Gesellschaft zu bringen, zu kämpfen, damit die Brutalität endlich durch Brüderlichkeit und Solidarität für die gesamte Menschheit ersetzt wird. Vielleicht ist heute der Kampf für die Menschlichkeit der schwierigste. Dem Hass zu entkommen, der uns umgibt, ist noch schwieriger. Wenn wir erfolgreich sind, können unsere Ziele mit Kraft und Klarheit herausragen.
Mit ihren Anschuldigungen wollen sie uns in einen Korb werfen, dessen Inhalt mehr als verfault ist; wir müssen aber angesichts der Barbarei unbestechlich bleiben.

fuhr Barbani fort:

„Es geht also nicht mehr um Gewalt oder Gewaltlosigkeit; um Liebe oder Hass; um Verständnis oder Mitleid; sondern darum, mit all unseren Energien als bewusste Menschen energisch zu kämpfen, um die Tyrannei zu beseitigen und das Joch der materiellen und geistigen Sklaverei zu beseitigen; und aus diesem Grund ermutigen wir jeden, sich selbst zu verstehen, um gleichzeitig andere zu verstehen.

Wenn eine morgige Dämmerung uns in der Realität einer Revolte von Unterdrückten und menschlichen Wracks versetzen würde, würden wir es nicht verachten, im Getöse der Barrikaden präsent zu sein, und selbst dann werden wir sicher sein, keine Gewalt anzuwenden, sondern die Gewalt zu bekämpfen!“

Das Buch Memoiren eines Anarchisten von Giuseppe Mariani hat mich immer wieder zu tiefen Reflexionen veranlasst, die mir geholfen haben, Klarheit über Praktiken und Methoden zu schaffen. Ich schließe diesen Diskurs mit den Worten von Gigi Damiani in der Einleitung zu Marianis Buch:

„Aber die Geschichte lehrt uns, dass es Zeiten gibt, in denen Gewalt zu einer sozialen Notwendigkeit wird. Nur ist es erforderlich, so weit wie möglich, dass sie nicht blindlings um sich schlägt und dass die Gedemütigten nicht für die Fehler der Großen bezahlen müssen“.

Ich denke, dass wir in diesem Moment, leider auch dank der Angriffe des Staates auf unsere Bewegung, die Möglichkeit haben, noch stärker zurückzukehren, um über unsere Ideen, Praktiken und Träume zu sprechen. Es eröffnen sich kleine Räume, und wir müssen die reformistischen Bewegungen mit ihrer Böswilligkeit kritisieren. In den letzten Monaten haben sich viele Menschen verschiedene Fragen über die Richtung gestellt, die diese Gesellschaft einschlägt, insbesondere bei Demonstrationen, die leider meist einen defensiven, reformistischen und nicht teilbaren Charakter haben. Es liegt an uns, mit denen, die bei uns sind, Brüche zu schaffen und die Realität so zu stimulieren, dass diese schwache Wiederherstellung des Bewusstseins die Wurzel der sozialen Probleme trifft und nicht von Worten wie Demokratie-Rechte-Fortschritt eingelullt werden. Die Klarheit und unsere Praktiken sind jetzt von grundlegender Bedeutung, um ein Kräfteverhältnis zu schaffen, das notwendig ist, um den Staat und die Herrschaft von ihren Absichten abzubringen. Auch hier brauchen wir eine gesunde Gymnastik.

Und wenn Staatsanwälte befreit von jeglichem Verdacht wie Raimondi und die Inquistoren von Turin und Trient überrascht sind von der Solidarität, die uns Anarchisten entgegengebracht wird, indem sie die so genannte Zivilgesellschaft einladen, sich von uns fernzuhalten, bedeutet das, dass der Weg richtig ist und mich nur glücklich machen kann. Unsere Kämpfe, unsere Propaganda, unsere Praktiken, wenn auch in geringer Weise, erschrecken in gewisser Weise diejenigen die es treffen sollte.

Ich danke allen Genossen und Gefährten, die sich in den letzten Monaten so sehr bemüht haben, die Kämpfe und die Solidarität mit uns allen im Gefängnis fortzusetzen. Ich danke all denen, die durch Versammlungen, Zeitschriften, eingehende Studien die Debatte und das Wachstum unserer Ideen weiterführen.

Meine aufrichtige Nähe gilt den Gefährten, die für die Prozesse „Scripta Manent“, „Panico“, „Scintilla“ und alle die Gefährten die in Gefängnissen überall festgehalten werden.

Meine größte Sorge gilt meiner anarchistischen Gefährtin Anahi Salcedo, die in Argentinien unter prekären körperlichen Bedingungen und ohne angemessene Pflege eingesperrt ist.

Ein brüderlicher Gruß geht an alle flüchtigen Gefährten, die auf den Straßen der Welt herumtreiben.

Noch einmal:

Für die soziale Revolution, für die Anarchie!

Gefängnis Tolmezzo, 25. April 2019

Luca Dolce, bekannt als „Stecco“

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Ungehaltener Beitrag anlässlich der Veranstaltung „Was wollen die Anarchisten“ vom 9.2.19 https://prisonsociety.blackblogs.org/2019/04/02/ungehaltener-beitrag-anlaesslich-der-veranstaltung-was-wollen-die-anarchisten-vom-9-2-19/ Tue, 02 Apr 2019 19:22:25 +0000 http://prisonsociety.blackblogs.org/?p=227 Continue reading Ungehaltener Beitrag anlässlich der Veranstaltung „Was wollen die Anarchisten“ vom 9.2.19 ]]> Brief von dem in U-Haft sitzenden Gefährten vom 1. März 2019 aus dem Bezirksgefängnis Zürich.

Liebe Gefährten
Angesichts der heutigen Diskussion zur Frage „Was wollen die Anarchisten?“ will auch ich mich hinsetzen und einige Überlegungen niederschreiben, die euch wahrscheinlich mit einiger Verspätung erreichen werden, da hier alles erst durch die Zensur muss.

Nicht im Gefängnis sein. Das ist irgendwie das erste, was mir gerade in den Sinn kommt. Aber es macht auch deutlich, wie die Panzertüre vor mir, dass es nicht ausreicht etwas zu wollen. Ohne Bedingungen, die es ermöglichen, den Gegenstand des Willens in der Realität zu erfassen und in der Handlung zu überwinden, bleibt es der blosse Ausdruck eines Wunsches, Ähnlich dem jener, die noch an den Weihnachtsmann glauben, oder jener etwas erwachseneren, die an eine objektive Kraft Glauben, die in der Welt wirkt und uns eines Tages befreien wird. Ob man sie nun Gott, Vernunft, Dialektik oder Fortschritt nenne. Nichts dergleichen.

Für die Anarchisten sind diese abstrakten Prinzipien alle derselbe Betrug. Und vielleicht haben wir noch zu wenig darüber nachgedacht, dass archê, bei den alten Griechen, noch bevor es Synonym für Herrschaft wurde, für das erste Prinzip stand, das allem zugrunde liegt. Es ist dieses ursprüngliche religiöse Element, woraus die Rechtfertigung der Autorität und schliesslich des Monsters des Staates erwächst.

Also, in Ermangelung eines Weltgeistes, wie Hegel es nannte, oder dialektischen Materialismus, wie Marx in direkter Abwandlung, müssen wir uns selber befreien. Und dazu, offensichtlich, müssen wir es wollen. Aber auch der Wille kann uns ein Gefängnis sein. Ich zum Beispiel habe manchmal, draussen, angesichts der Schandtaten, die um uns geschehen, Momente gehabt, in denen ich mich gefangener fühlte als jetzt hier drinnen. Hier sieht sich der Wille zwangsläufig veranlasst, seinen Perimeter zu reduzieren. Draussen aber stösst er gegen Mauern, die weniger deutlich, und eben deshalb perfider sind. Diese letzteren sind es an erster Stelle, die wir erkennen und Stein für Stein abtragen müssen, nur dann können eines Tages die konkreten Mauern der Gefängnisse fallen.

Ich will deshalb hier nicht von der Schönheit der Anarchie sprechen, von der Reinheit der anarchistischen Prinzipien. Das sind eitle Dinge, für die wir auf ein ganzes Jahrhundert der anarchistischen Propaganda verweisen können. Ich will meine Aufmerksamkeit weniger auf des Problem des „Was“ denn auf jenes des „Wollen“ legen.

Wir können nur wollen, was wir in irgendeiner Weise verstehen, also uns als Gegenstand vorstellen können, und sei es auch die sonderbarste aller Utopien. Das heisst unser Wollen ist durchaus nicht so frei, wie sich eine volutaristische Tradition auch vieler Anarchisten lange darauf stützte. Es ist abhängig von unserem Vorstellungshaushalt, von unserer Kultur im weiten Sinne. Wobei unter letzterer nicht nur die literarische Überlieferung und allgemeine Bildung zu vestehen ist, sondern auch was und wie wir essen, uns kleiden, miteinander umgehen, kommunizieren, wertschätzen, kurz, alle Aspekte des alltäglichen Lebens. In einer Gesellschaft, die dabei ist, alle diese Aspekte in einen geschlossenen Kreis hineinzuziehen, der von der Technologie verwaltet wird, bietet sich der Macht die Möglichkeit, die Kultur immer mehr von der Realität zu lösen. Das betrifft nicht nur jene überwiegende Masse der Ausgeschlossenen, die passiv verwaltet werden, sondern auch jene selbst, die Verwaltungspositionen besetzen. In diesem Sinne kann man davon sprechen, dass die Technologie sich den Staat, die alten politischen und wirtschaftlichen Herrschaftsstrukturen allmählich einverleibt.

Einige haben den Begriff der Derealisierung verwendet, um einem noch unsicheren Versuch, diesen allumfassenden Wandel zu vestehen, der unser aller Anstrengung bedarf. Wir müssen die Technologie nicht bloss als die Gesamtheit ihrer Apparate, sondern vor allem auch als einen Schleier von substanzlosen Formen und Inhalten vestehen, der sich immer mehr über die Realtität legt, dahin strebend, sie als Referenz zu ersetzen. Ist dieser Kreis einmal dicht geschlossen, werden die kutlurellen Inhalte, unser Vorstellungshaushalt, dem Willen gar keine befreienden Handlungsmündungen mehr eröffnen, die doch zumindest eines Kontakts mit der realen Substanz des Machtübergriffs und der Ausbeutung bedürfen. Der Wille, sich zu befreien, verwandelt sich nur noch in symbolische und Ersatzhandlungen, die im eigenen kulturellen Universum von gesonderten Denkmuster eingeschlossen bleiben. Es grassieren aufgeladene Schlagworte und Symbole, Geschwätz und Rituale. Unnötig zu bemerken, dass auch die Anarchisten von dieser Entwicklung nicht unbeeinflusst sind. Und das hat vielleicht auch damit zu tun, dass wir zu sehr glaubten, die Wahrheit, oder den Rosenkranz der Prinzipien, in der Tasche zu haben, ohne es nötig zu haben, uns einer weiteren Vertiefung der Probleme anzunehmen, die letztlich stets Probleme in Hinsicht auf das Handeln in der Realität sind.

Die Anarchisten haben eine Idee von Freiheit, die sich weder in Abstufungen noch in Sektoren unterteilen, und auch nicht in Worten einschliessen lässt. Da sie nicht bloss die bestehende Herrschaft zu einer Anpassung anregen oder eine neue, veränderte Herrschaft hervorbringen wollen, müssen sie, von einer globalen Sicht ausgehen. Unser Denken ist gezwungen, die Welt in getrennten Begriffen und Situationen zu fassen, als Behelfsmittel, um dem Verstand Orientierung zu geben. Die Welt als Ganzes aber, und somit auch die Idee von Freiheit, ist eins und ununterteilbar, und hat nur in unserem Herzen Platz. Anders wäre die Aussage Bakunins nicht verständlich, dass wir nicht wirklich frei sein können, solange noch ein Mensch auf der Welt in Ketten liegt. Heute mehr denn je, denke ich, müssen wir lernen, nicht nur auf die Worte zu achten, die oft trügerisch sind, und mehr auf das Herz, auf das, was zwischen den Worten mitschwingt. Die Suche nach Affinität, wenn nur die Worte kommunizieren bleibt letztlich unergiebig. Wer den Kopf eines Esels hat, sagte einmal jemand, kann nicht plötzlich das Herz eines Löwens in sich entdecken.

Die Rebellion, scheint mir, hat heute nur noch den Ausweg, direkt auf den obengenannten Kreis abzuzielen. Und dazu gehört auch, uns die kulturellen Mittel anzugeignen, die uns die Macht auf allen Ebenen entziehen will. Ein Element davon ist sicher die Kenntnis über den Gegenstand des Willens, die aber auch ein Hindernis werden und den Kontakt mit der Realität verlieren kann, wenn sie abschliessenden Anspruch hat. Ein anderes Element, noch viel wichtiger, sind gewissen Eigenschaften, die nicht sehr modern scheinen mögen, aber Grundlage sind für die Überwindung vom Willen zur Handlung: der Mut, an erster Stelle, die Entschlossenheit, aber auch, und in keinerlei Gegensatz dazu, die Liebe, in ihrem allgemeinen Fundament, die Offenheit für Andere, die Sensibilität, die Kreativität.

Das Buch, das bis heute im Zentrum der kulturellen Entwicklung zu stehen schien, ist sicher ein Gegenstand, der aus der Mode gekommen ist, und zu Recht, in seiner Anmassung die Welt zwischen zwei Deckeln einzufassen. Und sicher wir können der Ansicht sein, es dahin zu schicken, wo der Pfeffer wächst. Als provisorische Reflexionsgelegenheit könnte uns jedoch ein quasi unerschöpflicher Schatz an heute selten gewordenen Anregungen entgehen, die obengenannten Elemente zu vertiefen und zu verwurzeln.

Um abzuschliesssen, denke ich, die Anarchisten wollen die revolutionäre Umgestaltung der etatistischen Gewaltordnung, welche durch ihre ganze Geschichte hindurch, um einer herrschenden Gruppe Privilegien zu verschaffen, auf Kriegen, Ausbeutung und Massenarmut besiert. Eine Umgestaltung in Richtung eines staatenlosen, dezentralisierten, selbstorganisierten Zusammenschlusses, von Individuen, Gruppen, Gemeinden, etc. Nicht alle, aber die meisten sind der Ansicht, dass die technologischen Produktionsbedingungen von heute mit der Perspektive einer freiheitlichen Selbstverwaltung unvereinbar ist. Die Anarchisten wollen sich spezifisch als revolutionäre Minderheit organisieren, um in erster Person zu kämpfen, sowie die Selbstorganisation der Menschen in ihren Kämpfen fördern. Letztere alleine kann Grundlage einer revolutionären Umgestaltung sein, die nicht eine neue politische Gruppe an die Macht bringen soll. Nicht alle, aber die meisten sind der Ansicht, dass eine solche Umgestaltung nicht Resultat eines Grossen Abends oder einer bloss eduktionistischen Arbeit sein kann, sondern einer langen, manchmal auch schmerzhaften Reihe von Zwischenkämpfen und Aufstandsversuchen der Unterdrückten. Deshalb wollen sie den Wandel der sozialen Realitäten und Konflikte, in ihrem globalen Sinne, ausreichend verstehen, um vorschlagend und vorantreibend, und nicht wie ein Fremdelement, sich dort einbringen, wo sie ein Entwicklungspotential in diese Richtung sehen.

Natürlich mag ich falsch liegen, aber es ist das was ich in der Erfahrung der anarchistischen Bewegung auszumachen glaube, und auch persönlich denke. Ich denke ausserdem, dass allumfassende Umgestaltungen der Macht im Gange sind, die unseren Untergang bedeuten könnten, ohne dass wir es merken, wenn wir uns nicht einer Erneuerung öffnen. Und das Neue kommt stets durch die Handlung heran.

Ich hoffe, der heutige Abend bot Anlass zu einer lebhaften Diskussion, in der niemand zu widersprechen und konfrontieren scheut, aber nicht weil angetrieben vom Willen, Recht zu haben, sondern von dem, besser zu verstehen, um besser zu handeln. Schliesslich, und das seien wir uns stets bewusst, sind es nichts geringeres als unsere Leben, die auf dem Spiel stehen.

„Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.“ (F. Nietzsche, „Also sprach Zarathustra“)

8. Februar, 2019, Gefängnis Zürich

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Zur Repression in Turin und Trento https://prisonsociety.blackblogs.org/2019/03/23/zur-repression-in-turin-und-trento/ Sat, 23 Mar 2019 22:24:58 +0000 http://prisonsociety.blackblogs.org/?p=120 Continue reading Zur Repression in Turin und Trento ]]> Dies ist ein Update zur repressiven Operation „Scintilla“ in Turin sowie News zur Operation „Renata“ in Trento/Rovereto.

 

Turin – Operazione Scintilla

Giada und Larry wurden aus der Haft entlassen.
Der Vorwurf der subversiven Vereinigung (Artikel 270) wurde fallengelassen. Die anderen Vorwürfe verbleiben für alle Angeklagten, ausser:
Über Niccolò wurde eine „doppelte Inhaftierung“ verhängt, eine für Art. 270, die andere für einen anscheinend in seinem Haus gefundenen Feuerwerkskörper.

Hintergrundinformationen zu Turin, siehe Barrikade-Artikel:
https://barrikade.info/Turin-Solidaritat-mit-den-Betroffenen-der-Operazione-Scintilla-1883
https://barrikade.info/Solidaritat-mit-den-inhaftierten-Gefahrt-innen-in-Turin-Zurich-1894
Ihr könnt den verbliebenen Gefangenen von Turin weiterhin Briefe schreiben und sie unterstützen:

Niccolò Blasi
Corso Vercelli 165
10015 Ivrea (To)
Italy

Silvia Ruggeri
C. C. di Rebibbia femminile
via Bartolo Longo 92
00156 Roma
Italy

Antonio Rizzo, Giuseppe de Salvatore
C. C. di Ferrara
via Arginone 327
44122 Ferrara
Italy

FREIHEIT FÜR SILVIA, NICO, BEPPE, ANTONIO

Solidemo in Genua {PNG}
Solidaritätsdemo in Genua vom 1.3.19 für die Verhafteten der Operazionen „Scintilla“ in Turin und „Renata“ in Trento/Rovereto. Banner: „Gegen die Herrschaft der Angst und gegen den Rassismus des Staates zahlt sich nur der Kampf aus. Freiheit für die Verhafteten aus Turin und Trentino“.

Trento/Rovereto – Operazione Renata

Statement gefunden auf: https://www.autistici.org/macerie/7 Gefährt*innen wurden am 19. Februar 2019 im Trentino verhaftet. Vorgeworfen werden ihnen die subversive Vereinigung mit dem Zweck des Terrorismus (Artikel 270 bis) und ein Angriff zu terroristischen Zwecken oder Subversionen (Artikel 280).Die Kurzfristigkeit und der grosse Umfang der repressiven Operation „Renata“ – neben den Verhaftungen wurden mehr als 30 Durchsuchungen durchgeführt – erlauben es uns noch nicht, ein genaues Bild von den Vorwürfen und der Untersuchungshypothese zu bekommen, ebenso wenig wie wir noch nicht wissen, in welchen Gefängnissen die Gefährt*innen eingesperrt sind.
Wir brauchen jedoch nicht mehr Zeit oder genauere Informationen, um zu sagen, wer die verhafteten Gefährten und die anderen Personen sind, die auf unterschiedliche Art in die Operation „Renata“ involviert wurden.Es sind Gefährt*innen, die seit Jahren engagiert sind, nicht nur in den Städten, in denen sie wohnen; in den Kämpfen gegen Krieg und Militarismus, gegen die Grenzen, die Überfälle und den reaktionären Wind, der uns die Luft immer mehr abschneidet. Gegen Gefängnisse und Polizeigewalt. Die Gefährt*innen waren entschlossen, den Faschist*innen keinerlei Raum und Handlungsfähigkeit zu überlassen, sie waren entschlossen, gegen die vielen Projekte der Umweltzerstörung zu kämpfen, von der Hochgeschwindigkeitsstrecke Verona-Brenner bis zum Wall von Mori. Gefährt*innen, die bei vielen Gelegenheiten an der Seite derer standen, die gegen die ständige Verschlechterung der Arbeitsbedingungen kämpfen.
Gefährt*innen, die wir über viele Jahre hinweg kennen und schätzen durften, für ihren Mut und ihre Ernsthaftigkeit. Kostbare Gefährt*innen.

Agnese Trentin
C. C. di Rebibbia femminile
via Bartolo Longo 92
00156 Roma
Italia (Italy)

Roberto Bottamedi, Luca Dolce (“Stecco”), Giulio Berdusco
Casa Circondariale
via Paluzza 77
33028 Tolmezzo (Ud)
Italy

Nicola Briganti, Andrea Parolari
C. C. di Ferrara
via Arginone 327
44122 Ferrara
Italy

***Dies ist die Bankverbindung für Solispenden für die Verhafteten von Trento
IBAN: IT04H3608105135138216260316268 (Name: bezerra kamilla)
BIC/SWIFT-Code: PPAYITR1XXX

FREIHEIT FÜR STECCO, RUPERT, AGNESE, SASHA, POZA, NICO, GIULIO

 

Frei übersetzt und zusammengefasst von Macerie und Roundrobin

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Brief aus dem BGZ https://prisonsociety.blackblogs.org/2019/03/22/brief-aus-dem-bgz/ Fri, 22 Mar 2019 20:44:59 +0000 http://prisonsociety.blackblogs.org/?p=68 Continue reading Brief aus dem BGZ ]]> Brief von dem in U-Haft sitzenden Gefährten vom 1. März 2019 aus dem Bezirksgefängnis Zürich.

Liebe Gefährten, liebe Freunde

Einen Monat ist es nun her, seit ich am 29. Januar, auf dem Weg zur Arbeit, nachdem ich gerade mit dem Fahrrad von der Langstrasse in die Josefstrasse einbog,von einem Ziviauto zum Anhalten gedrängt und von zwei weiteren Zivilpolizsten auf Fahrrädern hinten überfallen wurde. Darunter eine Frau, von der ich mich erinnere, dass sie mir schon seit kurz nach meinem Haus gefolgt sein muss. Danach ging es , in Begleitung von etwa 15 ungeladenen Gästen, zu einem letzten Besuch in meiner Wohnung, meinem Auto und der anarchistischen Bibliothek, wo jeweils elektronische Datenträger, Unterlagen und anderes beschlagnahmt wurden.

Nun bin ich also in jener anderen Dimension gelandet, bestehend aus engen Räumen, grobklotzigen Möbeln, langen Korridoren, Gittern, immer wieder Gittern und Stahltüren, deren Auf und zuschliessen den Rhytmus des Alltags diktiert. Nur wenige hundert Meter entfernt von den vertrauten Orten und Personen, aber getrennt von der Gewalt einer ganzen Gesellschaft, die das Regime von Mauern und Gesetzen dem Walten von Freiheit und Gewissen vorzieht. Draussen mögen wir träumen, experimentieren, rebelllieren aus verletzter Würde im Angesicht der Schändlichkeiten auf welch diese Welt sich stützt, allmählich verweben sich unsere Erfahrungen und Erkenntnisse zu einer Gesamtsicht und erschliessen wir im Denken und im Handeln die Bedingungen der Herrschaft, um uns davon zu befreien, und den Katalog der vorgefertigten Modelle zurückweisend, auch der anarchistischen, entwickelt sich in uns, wie von selbst, ein revolutionäres Projekt heraus, worin sich Theorie und Handlung unablässig herausfordern, verschlingen, wir können uns wachsen spüren und glauben fast, wir könnten die Welt umarmen, und doch, zack!, kann sich alles in einem Moment auf wenige Quadratmeter reduzieren. Jeder Anarchist weiss das und hat es immer irgendwo im Hinterkopf, mehr oder weniger präsent. Eben die Existenz dieser Möglichkeit, sinnblildlichst für den wesentlichen Kern dieser Gesellschaftsordnung, ist erst recht Grund um unser Leben nicht schon draussen zu einem Gefängnis zu machen: der Konventionen und Vorurteile, der fortschreitenden Kompromisse und flüchtigen Befriedigungen, die uns über den nächsten Tag bringen, des gewzungenen Tuns und der Angst, die uns klein glauben will.

Dieses revolutionäre Projekt, das jeder Anarchist in sich entwickelt, entwickelt sich weiter, auch wenn jemand im Gefängnis sitzt. Dazu beizutragen und unsere Initiative nicht dem Diktat der Repression zu opfern, darin besteht eine revolutionäre, und nicht lediglich anti-repressive, selbstverständlich menschliche Solidarität, die auch ich für jeden empfinde, der in den Kerkern des Staates schmort. Wir könnten verleitet sein, zu sehr nur auf den Bullenknüppel und auf den Knast zu schauen. Aber im Grunde, Repression, das ist auch, das Unterbreiten von symbolischen Ritualen und Inhalten, die uns in einem kulturellen Ghetto einschliessen und der Realität des sozialen Kampfes entziehen, die Offerierung von partizipativen Lösungen für kleine Zugeständnisse, das allseitige Bedrängen mit Anreizen und Informationen, die immer weniger reale Bedeutung haben, die Entleerung der Sprache, womit wir unsere Ideen uns selber und anderen verständlich machen. Dies alles trägt vielleicht viel massgeblicher dazu bei, eine Auflehnung gegen die bestehenden Verhältnisse zu reprimieren. Zumindest, denke ich, müssten auch diese Probleme in einem Zusammenhang gesehen werden.

Was meine persönliche Situation betrifft, so bin ich den Umständen entsprechend wohlauf. Ich bin traurig, den geliebten Personen und den gehegten Träumen so plötzlich entrissen zu sein. Aber es gelingt mir gut, wenn schon nicht ausserhalb, so innerhalb von mir das Weite zu suchen. Ich nutze die Zeit und Musse zum Lesen und Schreiben, Lernen und Studieren. Es gibt einige Leute hier, mit denen ich mich gut unterhalten kann. Ich freue mich über Zusendungen von Nachrichten und Analysen über das Weltgeschehen, von anarchistischen Publikationen (Briefumschlag tauglich), sowie natürlich von Briefen von Gefährten und befreundeten Bekannten. Ich verstehe Deutsch, Französisch, Italienisch. Englisch und etwas Spanisch und Türkisch. Selbstverständlich beteiligt sich auch die Staatsanwaltschaft beim lesen. Zuletzt möchte ich mich noch bei all jenen herzlich bedanken, die mich mit den möglichen Mitteln unterstützen.

Ich wünsche euch Mut und Kraft da draussen, wo es dessen mehr noch bedarf als hier drinnen. Zumindest kann mehr daraus werden. Das Heil liegt in euch, wie man einmal sagte. Ich umarme euch von ganzem Herzen!

1. März 2019, Gefängnis Zürich

Weitere Infos bei barrikade.info

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