Meinungsartikel – Ramba Zamba https://rambazamba.blackblogs.org Blog.Links.Gut Mon, 10 Aug 2020 18:12:22 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.1 Rechte Memetemplates und wie Incelideologie den Zeitgeist kapert https://rambazamba.blackblogs.org/2020/08/10/rechte-memetemplates-und-wie-incelideologie-den-zeitgeist-kapert/ Mon, 10 Aug 2020 18:12:22 +0000 http://rambazamba.blackblogs.org/?p=878 Continue reading Rechte Memetemplates und wie Incelideologie den Zeitgeist kapert ]]> Vor Memes kann man sich heutzutage in den sozialen Netzwerken nicht retten, sie sind ein fester Bestandteil. Teilweise greifen sie auf bestimmte Modeerscheinungen zurück, wie zum Beispiel Sozialcharaktere der Marke „Boomer“, „Karen“ oder auch „alte weiße Männer“. So schnell wie sich einige im kollektiven Gedächtnis verankern, genauso schnell können sie auch wieder verschwinden. Gerade wegen der Vereinfachung und Zuspitzung bestimmter Situationen und Ansichten, die durch die Templates ermöglicht wird, sind Memes so erfolgreich. Sie können keine fundierte Analyse der Verhältnisse ersetzen, sind aber auch ein nicht zu unterschätzender Teil im agitatorischen Werkzeugkoffer geworden.

Seit etlichen Monaten fällt dabei auf, wie sich durch Templates Teile der Incelideologie bis tief in linksradikale Kreise vordringen und dort munter reproduziert werden. Als aktuelles Beispiel dient das Meme mit dem alles sagenden Titel „Soyjak Fans vs. Chad Fans“. Auf was spielt dieses Template also an? „Soyjak Fans“ greift das aus rechtsradikalen Kreisen stammende Zerrbild der sogenannten „Soyboys“ auf. Damit ist nicht nur das als linksgrünversifft gesehene Sojaessen als Symbol für vegane Ernährung gemeint. Eigentlich geht es darum, dass im Soja Östrogene enthalten sind. Wer Soja esse verweibliche dadurch – für Rechte mit ihrem Hang zu Patriarchat und Maskulinismus ein klares Hassobjekt des Spotts. Bier enthält übrigens auch Östrogene, aber an Tatsachen ist man dort ja eher selten interessiert.

„Chad Fans“ spielt auf die „Chads“ an, eine der beiden zentralen Figuren der Incelideologie. „Chads“ werden bestimmte körperliche Eigenschaften zugeschrieben, die sie von Natur aus befähigen würden quasi endloss Frauen abzubekommen und wer diese körperlichen Eigenschaften nicht hat, wird Jungfrau bleiben. Denn wir alle wissen ja, Frauen sehen ein markantes Kinn und schwupps sind sie verliebt und schwanger. It’s magic! Bei Incels dient diese strenge Aufteilung dazu, sich in Foren gegenseitig schlecht und bis hin zum Selbstmord zu reden – oder zum Terroranschlag gegen Frauen, weil diese angeblich nur auf Chads stehen und nicht gewillt sind, die bescheidenen Anforderungen der Incels ohne jegliches Klagen zu erfüllen. Man diskutiert auch darüber, dass der Staat Männern die Frauen zur freien sexuellen Verfügung zuteilen solle, damit nicht nur Chads in Genuss von Sex und schönen Frauen (am besten Jungfrau und mit 30 Jahren Erfahrung im Bett ausgestattet) kämen.

Im Kern dreht sich Incelideologie um eine Form der gesellschaftlichen Hierachie und Ausgrenzung, welche anhand von maskulinistischen Idealen und der Zuschreibung körperlicher Eigenschaften eine Art Coolnessfaktor als alles bestimmendes Ordnungs- und Verteilungsprinzip der Ressourcen Ansehen und Frauen/Sex annimmt. Wer dabei keine Rolle spielt sind Frauen, sie dienen nur als Fick- und Hassobjekt in Personalunion.

Und genau diese Form der Coolness als alles entscheidender Faktor wird in den Memes weitertransportiert. Jedes „Virgin xyz vs Chad xyz“-Meme trägt die Ideologie weiter, es gehe nur um die Coolness. Man müsse bestimmte Eigenschaften erfüllen, um zu den coolen Kids zu gehören, die dann wie in diesen ganzen schlimmen Filmen die Kings der Highschool sind und sich auch genauso verhalten dürfen gegenüber den nicht coolen Kids. Dieses Denken ist die Grundlage dieser Memes und man bekommt es auch nicht dadurch weg, dass man es mit linken Inhalten versucht zu konterkarieren. Die Templates selber funktionieren nur, wenn man Coolness als erstrebenswerten Faktor annimmt. Denn es geht den Memes nicht darum den Inhalt ins Zentrum zu stellen, es geht um eine hierarchische Ordnung der Gesellschaft, bei der die nicht-coolen Leute am unteren Ende der Hackordnung stehen und Ausgrenzung sowie Benachteiligung deren quasi natürliches Schicksal sei. Warum man dies als Linke in jedem Fall ablehnen sollte muss nicht erklärt werden – zusätzlich zur eklatanten Frauenfeindlichkeit.

Geht daran gerade in Zeiten der Coronawirtschaftskrise die Welt zugrunde? Sicher nicht. Gibt es wichtigere Themen? Sicherlich. Diese Seite dient aber auch dazu, persönliche Beobachtungen und Ansichten zu teilen, selbst wenn sie nur eine subjektive Relevanz besitzen. Und bei den hier verhandelten Memes und Templates stößt inzwischen täglich sauer auf, wie sorglos man in linken Kreisen mit Memes umgeht, welche auf den Schwachen und Ausgegrenzten herumhacken und die Pointe auf die Kosten derer machen, die eh im sozialen Gefüge unten stehen. Und es ist schreckend, wie weit sich der Kern der Incelideologie im Zeitgeist verankern konnte.

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Gegen den Tag der Arbeit https://rambazamba.blackblogs.org/2020/05/01/gegen-den-tag-der-arbeit/ Fri, 01 May 2020 15:31:24 +0000 http://rambazamba.blackblogs.org/?p=822 Continue reading Gegen den Tag der Arbeit ]]> Der 1. Mai steht wieder an. Im Gegensatz zu den vorherigen Jahren läuft er 2020 anders ab, die übliche Folklore zwischen Riotselbstbespaßung und dem Schwur auf die Produktivkraft des Proletariats fällt coronabedingt weitestgehend aus. Gut so. Allein schon der Name sollte einem nur mit Graus über die Lippen gehen: „Tag der Arbeit“. Was soll das überhaupt sein? Warum braucht man einen Tag, der die Arbeit feiert? Wer einer Lohnarbeit nachgeht, hat in der Regel vier, fünf oder sechs Mal in der Woche „Tag der Arbeit“. Und zu feiern gibt es daran wenig. Wer hat denn Spaß daran, acht Stunden auf einen Bildschirm zu gucken, Gäste zu bedienen, Wohnungen zu putzen oder Bedienungsanleitungen und Programm-Dokumentationen zu übersetzen? Vielmehr ist es doch die Arbeit, die uns von dem abhält, was wir wirklich machen wollen. Es ist die Arbeit, die unsere Selbstentfaltung behindert, die uns am Leben hindert.

Die Arbeit taktet unser Leben, alles ist auf sie zugeschnitten. Die großen Entscheidungen im Leben sind oft eine zwischen diesem und jenem auf der einen und der Arbeit auf der anderen Seite. Alles muss mit der Arbeit abgestimmt werden: Familie, Freundeskreis, kulturelles Leben, Sport, Hobbys, Reisen, Entspannung und so weiter. Alles muss sich dem Diktat der Arbeit unterwerfen. Und sei es dadurch, dass ein sich Teilzeit schimpfendes Arbeitspensum die finanziellen Möglichkeiten stark einschränkt und somit weniger Optionen zur Gestaltung der restlichen Zeit offen stehen. Diesem Zwangskorsett können nur Wenige entfliehen, der Großteil verweilt in einem Gefängnis abstrakter Herrschaft, quält sich einem ständig wiederholendem und reproduzierendem Trott. Das Leben richtet sich nach den Bedürfnissen der Arbeit, nicht die Arbeit nach den Bedürfnissen des Lebens. Im Kapitalismus brauchen wir Geld für unsere Lebensqualität. Gleichzeitig ist der Gelderwerb oftmals das genaue Gegenteil eines schönen Lebens. Ein Unding eigentlich.

Trotzdem ziehen jedes Jahr Zehntausende auf die Straßen und feiern dieses Mühsal. Es ist eine Absurdität sondergleichen. Diejenigen, die unter der Knechtschaft des Kapitals in Abhängigkeit gehalten und deren Mehrwert zur Profitmaximierung geraubt wird, feiern eben dieses Verhältnis. Jahrein, jahraus, Gefangene der Lohnarbeit mit Stockholmsyndrom, die ihrem Ausbeutungsverhältnis gar noch einen Tag widmen. Allen voran die Gewerkschaften sind Zeugnis der vollständigen Verelendung der Werktätigen und abhängig Beschäftigten. Seit Gründung der ersten sozialistischen Parteien befinden sie sich in einer steten Abwärtsbewegung aus Integration ins System und damit einhergehender Entradikalisierung. Ging man früher gegen den Kapitalismus auf die Straße, besetzte Fabriken, organisierte Generalstreiks und legte notfalls das Land lahm, ist man heute zum Bittsteller verkommen, den man mit ein paar Prozenten hier und da abspeisen kann. Ein Ende der Arbeit steht gar nicht erst zur Debatte, vom Sozialismus will man in den oberen Funktionärsebenen nichts wissen. Ganz folgsam reiht man sich in die bürgerliche Gesellschaft ein und will gute Arbeit für gutes Geld. Das Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft ist seit Jahrzehnten oberste Maxime, man ist staatstragend und fügt sich bereitwillig in die Rolle ein.

In diesem Sinne sind die Gewerkschaften gar zu Feindinnen der Selbstentfaltung geworden. Mit großen Worten gewichtig daher salbadernd wird der Wert der Arbeit an sich beschworen. Es soll ein guter Lohn daher für gute, ehrliche Arbeit. Den der Lohnarbeit zugrunde liegenden Abscheulichkeiten und Ausbeutungen will man nicht entfliehen. Vielmehr fordert man Arbeit für alle, um folgerichtig mit der fast täglichen Lohnschufterei Menschen von der Selbstentfaltung fernzuhalten. Verwunderlich ist dies nicht, vertreten die Gewerkschaften heutzutage doch vorrangig die Interessen der Ausgebeuteten im Kapitalismus, nicht gegen den Kapitalismus. Man will das Mühsal und die Plackerei gar nicht so weit es geht reduzieren. Statt auf Gegnerschaft zu den Verhältnissen zu setzen, kumpeln dich die Gewerkschaften als Good Cop an, während die Arbeitgeber*innen den Bad Cop spielen. Aber im Endeffekt wollen sie beide das Gleiche: Reihe auch du dich in kapitalistische Verwertungslogik ein! Tritt dein Hamsterrad und freue dich dabei!

Aber warum? Warum soll man sich im 2020 noch so lange schinden, um sich für ein wenig Lohn die Illusion zu kaufen, man lebe im besten aller möglichen Systeme? Und warum sollte man der Lüge anheim fallen, die Arbeit, die man mache, sei tatsächlich notwendig und man könne die Welt nicht anders einrichten als jetzt. Und warum verdammt noch mal soll man der Hackelei noch einen eigenen Tag widmen?

Historisch korrekter wäre es, wenn man statt vom „Tag der Arbeit“ vom „Arbeitskampftag“ oder vom „Tag des Arbeitskampfes“ sprechen würde. Allein schon der Verzicht auf diese Distinktion zeugt vom Kniefall der Gewerkschaften vor den Verhältnissen. Man will ja nicht einmal mehr den Arbeitskampf würdigen. Die Ursprünge des 1. Mai liegen im Jahr 1856: In Australien wurden für diesen Tag Massenproteste organisiert, auf denen unter anderem der 8-Stunden-Tag gefordert wurde. In Anlehnung daran wurde im Jahr 1886 in den USA für den 1. Mai zum Generalstreik aufgerufen. Die Proteste wurden teilweise von der Polizei niedergeschossen, wegen eines Bombenwurfs in Chicago wurden acht Anarchisten verurteilt, sieben davon zum Tode. Beweise für eine Tatbeteiligung gab es keine, drei von ihnen wurden später begnadigt. Um die 20 Personen wurden direkt nach dem Bombenwurf von der Polizei erschossen, über 200 verletzt. Diese Proteste wurden als Haymarket Riot weltbekannt und letztendlich proklamierte die 2. Internationale bei ihrer Gründung im Jahr 1869 den 1. Mai 1890 als Kampftag zur Erinnerung an die verurteilten und gefallenen Genossen. Seither ist der 1. Mai ein international fest verankerter Tag. Und es ist eben kein Tag, der die Arbeit feiern soll, sondern ein Tag des Kampfes gegen die Ausbeutung. Heutzutage die Arbeit zu feiern pisst förmlich auf die Gräber derer, die damals gestorben sind.

Ein Arbeitskampf im Sinne einer tatsächlichen historischen Kontinuität muss drei Dinge begreifen und umsetzen:

1. Es gibt keinen Kompromiss zwischen Kapital und Angestellten, der das System stürzen kann. Es kann immer nur gegen die Wirtschaft und gegen den Staat gehen.

2. Die Wahl der Mittel muss radikal sein. Die Stärke der organisierten Lohnabhängigen besteht in der Anzahl der organisierten Personen und dem Willen diese Anzahl konsequent einzusetzen.

3. Als letztendliches Ziel des Arbeitskampfes muss die Überwindung der Lohnarbeit und des Kapitalismus stehen. Ist dies nicht der Fall, gliedert man sich in die bestehenden Ausbeutungsverhältnisse ein und nimmt dem Mittel des Arbeitskampfes ein äußerst gewichtiges Moment: Man will gar nicht mehr radikal sein, also sinkt auch die Furcht vor einem Arbeitskampf auf gegnerischen Seite.

In einem zweiten, ausführlicherem Text wird näher darauf eingegangen werden, was denn der Arbeitskampf jetzt genau beinhalten solle und was es mit dieser Arbeit eigentlich so auf sich hat. Welche Zielsetzung ist sinnvoll und welche Gefahren bestehen aktuell? Und wie kann sich das Krisenmoment in den nächsten Jahren auf die gesellschaftliche Ausprägung der Arbeit insgesamt und der Lohnarbeit im Speziellen auswirken? Denn es darf nicht nur gegen den „Tag der Arbeit“ gehen, es muss auch gegen die Arbeit an sich gehen.

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Mad Marx Teil 3: Befreite Gesellschaft oder Donnerkuppel – Handlungsperspektiven der Linken https://rambazamba.blackblogs.org/2020/04/09/mad-marx-teil-3-befreite-gesellschaft-oder-donnerkuppel-handlungsperspektiven-der-linken/ Thu, 09 Apr 2020 18:49:32 +0000 http://rambazamba.blackblogs.org/?p=810 Continue reading Mad Marx Teil 3: Befreite Gesellschaft oder Donnerkuppel – Handlungsperspektiven der Linken ]]> Der Anfang vom Ende

 

Um die aktuelle Krisensituation in ihrer Tragweite adäquat zu begleiten, haben wir uns dazu entschieden, unsere Einordnungen und Analysen in einer ausführlichen Artikelreihe zu sammeln. Vorerst auf drei Teile angelegt, kann die Reihe „Mad Marx – Corona und der Vorschein der Donnerkuppel“ in Zukunft noch erweitert. Mit diesem hier vorliegenden dritten Teil kommt sie aber zu einem zwischenzeitlichen Ende. In Teil 1 haben wir uns damit auseinandergesetzt, wie allgemein, aber auch im linken Spektrum, auf die bisher einmalige Situation reagiert wird. Fokus war hierbei vor allem das Begreiflichmachen und das Verarbeiten der Vorgänge, was in mehr und oftmals weniger guten Rationalisierungsversuchen mündet. Eine Linke mit einem gesellschaftsverändernden Anspruch darf dabei aber nicht stehenbleiben. Des Weiteren wurde ein Überriss über den Kapitalismus als Wirtschaftssystem gegeben, wo es sich anbot mit Veranschaulichung an der aktuellen Krisensituation. Der zweite Teil konzentrierte sich dann auf die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte. Durch eine immer weiter vorangetriebene Blasenökonomie, finanziert durch immer neue Schulden, steht die Weltwirtschaft unmittelbar vor dem Kollaps. Die Krise der Jahre 2008/09 ist im Vergleich nicht so systemgefährdend wie das, was jetzt auf uns zukommt. In Verbindung mit sozialdarwinistischen Forderungen, die Wirtschaft schnellstmöglich wieder anzukurbeln und dabei Millionen Menschen wissentlich dem Tod zu überlassen, wurde dann das drohende Szenario der titelgebenden Donnerkuppel skizziert. Das Recht der Stärkeren soll es richten und den Kapitalismus retten, an eine postkapitalistische Option wird gar nicht erst gedacht.

Was noch fehlt, ist eine Bestandsaufnahme der Krisenmaßnahmen (in Teil 2 bereits als „Krisensozialismus“ definiert) und des linken Spektrums. Außerdem werden Maßnahmen und Betätigungen vorgeschlagen, mit denen die Linke die Krisensituation beantworten sollte. Dabei wird in Akutmaßnahmen und in perspektivisches Agieren unterschieden. Ein Patentrezept ist es nicht und es wäre vermessen zu behaupten, hier würde der Masterplan ausbuchstabiert, der in 30 Jahren die befreite Gesellschaft herbeiführen wird. Dennoch hoffen wir (und sind auch zuversichtlich), einen sinnvollen Debattenbeitrag zu liefern und hoffentlich weitere Diskussionen anzuregen. Es wurde ganz bewusst auch das linke Spektrum jenseits der radikalen und autonomen Linken in die Betrachtungen miteinbezogen, die Gründe dafür werden später ersichtlich. Auch ein Grund ist, dass viele Personen aus Verbänden, Gewerkschaften und Parteien zum Pool unserer Leserschaft gehören und die Probleme in der Linken das gesamte Spektrum betreffen.

Mad Marx oder die befreite Gesellschaft

 

Während die Welt im Chaos der Ersten Weltkriegs versank und einen Zivilisationsbruch von bis dahin nicht gekannten Ausmaßes erlebte, schrieb Rosa Luxemburg folgende Zeilen: „Die bürgerliche Gesellschaft steht vor einem Dilemma: Entweder Übergang zum Sozialismus, oder Barbarei!“ Angesichts der sich entwickelnden Krise stellt sich diese Frage tatsächlich mit erneuter Dringlichkeit. Eigentlich stand die Gesellschaft schon seit den Tagen der Ehrengenossin Luxemburg vor dieser Wahl. Die aktuelle Krise, bei der das Virus tatsächlich nur der Auslöser, nicht aber die Ursache ist, lässt die Widersprüche des Kapitalismus offen zu Tage treten und konfrontiert die Weltgemeinschaft damit: Ist ein System, in dem ein Gesundheitswesen auf die abstrakten Zwänge des Marktes und nicht auf die Rettung von Menschen ausgelegt ist, wirklich das „beste System“? Ist ein System, in dem Krankenhäuser aus Kostengründen sogar noch im Angesicht einer heraufziehenden Pandemie geschlossen werden wirklich „das beste System“? Ist es gerechtfertigt, Menschenleben gegen ein abstraktes System der Wertverwertung aufzuwiegen? Wäre es nicht an der Zeit, sich gesamtgesellschaftlich mit der ganz Grundlegenden Frage zu beschäftigen, ob das so richtig ist? Oder ob nicht eine andere Gesellschaft möglich wäre, die auf Solidarität statt auf Konkurrenz und Vereinzelung der Subjekte setzt.

Die Antwort, die von der Politik momentan gegeben wird, ist allerdings in diesem Zusammenhang ebenso erschreckend wie vorhersehbar und altbekannt. Die von uns bereits als „Krisensozialismus“ beschriebenen Automatismen greifen. Die Vergesellschaftung privater Verluste durch den Staat hat bereits begonnen. Bis zu 760 Milliarden Euro will alleine der Deutsche Staat an Steuermitteln aufwenden, um vom mittelständischen bis zum Großunternehmen die deutsche Wirtschaft zu stützen. Das geradezu wahnhaft-religiös anmutende Festhalten an der „Schwarzen Null“ ist mit dem lakonischen Hinweis des Finanzministers, dass man ja nur durch diese Austeritätspolitik „Reserven“ zum Einsatz bringen könne, beiseite gewischt worden. Jene, die diese Austeritätspolitik in erster Linie bis zum heutigen Tage getragen haben, waren die lohnabhängig Beschäftigten. Genau diese Gruppe wird aber vom Maßnahmenpaket der Regierung hart getroffen.

Eine der ersten umgesetzten Maßnahmen, das Kurzarbeitergeld, soll es Unternehmen erlauben, ihre Lohnkosten drastisch zu reduzieren, in dem sie ihren Angestellten nur noch 60 Prozent ihres üblichen Lohns auszahlen. Für eine nicht unerhebliche Gruppe von Lohnabhängigen bedeutet das unmittelbar ein Fall auf Harz IV-Niveau, bei dem die nächste fällige Miete bereits existenzbedrohend ist. Eine Erkenntnis aus dieser Tatsache ist, dass in einem eigentlich reichen und entwickelten Land wie Deutschland, ein substantieller Teil der abhängig Lohnbeschäftigten permanent nur einen Gehaltscheck von der Privatinsolvenz. Studierende dürfen nicht einmal Hartz IV beantragen. Sofern sie kein volles Bafög bekommen, sind sie aktuell fast ohne Verdienstmöglichkeit. Die einzige Option wäre die Exmatrikulation, womit aber sehr wahrscheinlich langfristige Konsequenzen für das Studium verbunden sind.

Für das Heer der nun durch Kurzarbeit, Arbeitsplatzverlust oder Studiumsplatz existentiell Bedrohten sind das schlechte Aussichten. Da zur gleichen Zeit, bedingt durch die Maßnahemn der Corona-Bekämpfung, die Einreise von vor allem osteuropäischen Erntehelfern verboten wurde und viele Bauern öffentlichkeitswirksam beklagt haben, dass ihnen beträchtliche Ernteausfälle drohen, sollte man keinen Ersatz für die Erntehelfer besorgen, ist nun eine gesellschaftliche Debatte um das utilitaristische Ausnutzen der Notlage von ganz allgemein von Armut bedrohten und marginalisierten Gruppen entbrannt.

Flankiert von dem, was hierzulande als „bürgerliche Presse“ bezeichnet wird, dreht sich diese Debatte nun darum, welche Gruppen von armen Schluckern man zur Spargelernte schicken solle – mal sind es SchülerInnen oder StudentenInnen, dann Asylsuchende, wie von Julia Klöckner vorgeschlagen, oder Arbeitslose. Die AfD will dann gleich Fridays for Future zwangsverpflichten und somit Minderjährige zur Arbeit zwingen. In Bayern ist Klöckner’s Parteikollege und Wirtschaftsminister auf Landesebene zu einer ganz ähnlichen Lösung gekommen und will die nun derart in finanzielle Notlage geratenen KurzarbeiterInnen auf die Felder schicken[1].

Ebenfalls in Bayern sind derweil weitere ArbeitnehmerInnenrechte abgeräumt worden. Im Zuge der Krisenbekämpfung wurde die Höchstarbeitszeit für Angestellte einkassiert[2]. Kurzerhand wurden in einem Zuge das Arbeitsverbot für Sonn- und Feiertage aufgehoben (ohnehin schon Schauplatz einer permanenten Abwehrschlacht gegen das Kapital seitens der Gewerkschaften) sowie die Pausenzeiten für Angestellte in systemrelevanten Betrieben um eine Viertelstunde gekürzt. Mindestruhezeiten und Höchstarbeitszeiten wurden ebenfalls aufgehoben. Betriebe können ArbeiterInnen somit länger am Stück arbeiten lassen und müssen ihnen nicht mehr so lange Ruhezeiten gewähren. Schlechte Nachrichten also vor allem für Beschäftigte im Schichtbetrieb.

Nur gut also, dass da das Heer der Lohnsklaven so lange brav den Gürtel enger geschnallt und sich in „Lohnzurückhaltung“ geübt hat – Als Belohnung dürfen einige nun in die Kurzarbeit gehen und sich bei Feldarbeit an der frischen Luft bewegen, um nicht unter das Existenzminimum zu fallen. Profitiert hatten die unteren Lohnschichten von der wirtschaftlichen Entwicklung der letzten 15 Jahre nicht. Die Einkommensschere driftet immer weiter auseinander und unten gibt es Reallohneinbußen, während es oben kräftige Zuwächse zu verzeichnen gibt.

Die Devise ist also klar: Der Klassenkampf von oben ist wieder in vollem Gange. Während Unternehmen, mittelständische Betriebe und Selbstständige vom Staat auf finanzielle Hilfe zumindest hoffen dürfen, soll besonders den Lohnabhängigen wieder mittels drastischer Gehaltseinbußen und der de facto weitreichenden Aufhebung von ArbeitnehmerInnenrechten die Kosten der Krise aufgebürdet werden. Ausbaden sollen es also mal wieder diejenigen, die vom mageren Aufschwung seit 2009 wenig bis gar nichts hatten. Der Gipfel des Zynismus ist in diesem Zusammenhang der von der Regierung geradezu staatstragend formulierte Ruf nach „Solidarität untereinander“, mit der man dann bis zur Erschöpfung getriebenes Pflegepersonal in Krankenhäusern mit ein paar Beifall-Klatschern für die geleistete Mehrarbeit abspeisen kann, bevor es für sie wieder zurück in die Verwertungsmühle geht. Auf der anderen Seite werden riesige Summen für Bailouts zur Verfügung gestellt, um verschuldete Unternehmen mit zeitlich begrenzter Staatsbeteiligung vor dem Konkurs zu bewahren. Die Verluste werden dadurch vergesellschaftet, um die Unternehmen dann wieder komplett unter private Führung zu stellen, wenn die finanzielle Situation Richtung Gewinnerzielung geht. Auch wenn für diesen Vorgang der Begriff „Verstaatlichung“ verwendet wird, ist dieser irreführend. Verstaatlichung würde bedeuten, die Unternehmen dauerhaft und unbegrenzt dem Staat zu unterstellen.

Leider ist auch davon auszugehen, dass mit diesen angedrohten oder bereits umgesetzten Boshaftigkeiten seitens der Politik das Ende der Fahnenstange noch lange nicht erreicht ist, sondern dass die Krisendynamik den bereits eingeschlagenen Kurs autoritärer Notverordnungspolitik seitens der Regierenden verschärfen wird. Inwieweit die umfassenden Einschränkung grundlegender Freiheitsrechte im Rahmen der Corona-Pandemie notwendig war, darüber lässt sich diskutieren. Mit welcher Selbstverständlichkeit diese Freiheiten im Vorbeigehen einkassiert und mit der Ausweitung der anlasslosen Überwachung von BürgerInnen über ihre Handy-Daten begonnen wurde (und das zum Teil unter Beifall gewisser linker Kreise), lässt tief blicken.

Unter diesen Umständen sollte man sich keinen Illusionen hingeben, dass seitens der Politik Skrupel herrschen würden, den BürgerInnen weitere schmerzhafte Einschnitte wie etwa eine weitere Schröpfung des Sozialstaates zuzumuten. Weitere Kürzungen des Rentenniveaus, weitere Anhebungen des Renteneintrittalters, das alles wurde auch schon vor der Krise hinter verschlossenen Türen diskutiert. Die hereinbrechende Krise kommt gerade recht, um Unappetitlichkeiten unter dem Vorwand instrumenteller Vernunft offen auf die Agenda zu setzen. Auch ist nicht vorauszusagen, wie die Politik angesichts einer Flut neuer Arbeitssuchenden reagieren wird. Die Studie des IFO zu den wirtschaftlichen Auswirkungen der Krise geht von bis zu 1,8 Millionen Menschen aus, die zusätzlich in die Jobcenter strömen werden [3](zum Vergleich. Arbeitslosenzahl laut Arbeitsagentur im Februar 2020: 2.396.000 [4]). Dass die Überforderung und Gleichgültigkeit gegenüber diesen Menschen in den Jobcentern dieser Republik angesichts dieser anrollenden Flut abnehmen wird, darf bezweifelt werden. Es dürfte eher so sein, dass, da noch mehr Menschen aus dem gleichen Topf versorgt werden müssen, die Leistungen für die/den einzelnen LeistungsbezieherIn drastisch gesenkt werden dürften. Und wie es um den schon vor der Krise bis an die Belastungsgrenze gespannten und durch Privatisierung und Rentabilitätszwänge zugerichteten Gesundheitssektor in unmittelbarer Zukunft bestellt sein wird, wagt niemand zu prognostizieren. Wie angespannt die Situation momentan ist, verdeutlicht ein Aufruf des Vorsitzenden des Verbandes der Krankenhausdirektionen im DLF vom 21. März, in dem er eindringlich, ja geradezu flehend warnt, dass einer ganzen Reihe von Krankenhäusern im Mai die Insolvenz drohe, falls nicht schleunigst mit Notkrediten geholfen wird [5].

Unterm Strich ist das Zukunftsszenario, dass sich unserer Gesellschaft bietet nicht der Vorschein der befreiten Gesellschaft, sondern das krasse Gegenteil. Während substantielle Gesellschaftsschichten vor dem existentiellen Aus stehen und potentiell den Weg ins Prekariat antreten werden müssen, droht den Sozialsystemen eine weiter Schleifung, während der Staat im Sinne der instrumentellen Vernunft immer weiter autoritär durchgreift und sich in den sprichwörtlichen „Leviathan“ von Thomas Hobbes verwandelt – eine staatliche Entität, der jeglicher Sinn für Gemeinwohl abgeht und der seine eigentliche Daseinsberechtigung (Schutz und Garant des Wohlstands für Alle) in sein Gegenteil verkehrt hat und für dessen nun eigentlich überflüssig gewordene Existenz ganze Bevölkerungsschichten geknechtet werden müssen.

Wir stehen also am potentiellen Beginn eines Rückbaus zivilisatorischer Errungenschaften und eines weiteren gesellschaftlichen Zerfalls, der nicht nur die Spaltung in Arm und Reich vorantreiben wird, sondern bei dem eine weitere Verrohung der Gesellschaft vorprogrammiert ist. Die Donnerkuppel aus „Mad Max 3“ als Symbol einer durch die Verhältnisse geknechteten Gesellschaft, die ihre letzten Ansprüche an Menschlichkeit und Aufklärung über Bord geworfen hat und in der die Gemeinschaft der „Vereinzelten Einzelnen“(Karl Marx) zum Synonym für den „Kampf Jeder gegen Jeden“ geworden ist, wirft ihren Schatten voraus.

Im Folgenden wird in drei Abschnitten sukzessive erörtert, was die Linke als gesamtes Spektrum jetzt leisten kann und vor allem leisten sollte. Die Abschnitte sind „Der desolate Zustand der Linken“, „Das Bestehende vor dem Schlimmeren bewahren“ und „Die Systemfrage als Perspektive“. In ihnen werden jeweils die darin abgehandelten Aspekte stichpunktartig vorangestellt, um einen Überblick zu ermöglichen. Wichtig ist auch die Frage, was dafür zur Linken gezählt wird. Die Betrachtungen sind vor allem organisations- und strukturbedingten. Deshalb werden alle Gruppen und Organisationen zur Linken gezählt, die an einer Emanzipation von den aktuellen Verhältnissen arbeiten und im Idealfall postkapitalistisch und postbürgerlich eingestellt sein sollten. Dazu zählen: alle (Struktur-)Gruppen der radikalen Linken, antifaschistische Gruppen und Bündnisse, autonome Gruppen und Strukturen, Gewerkschaften, Sozialverbände, Interessenverbände diskriminierter Gruppen der verschiedenen Bereiche (Rassismus, Antisemitismus, Feminismus, Ableismus, Antiziganismus usw.), Parteien (Linkspartei und mit starken Abstrichen SPD und Grüne), Zeitungen, Verlage, NGOs, Think Tanks, akademische Zusammenschlüsse und ähnlich gelagerte Bereiche. Es geht hier nicht um ein Reinhalten des Begriffes „links“, um damit möglichst die eigenen Ansichten als den heiligen Gral festzulegen, sondern vielmehr um den theoretischen und praktischen Anspruch der Emanzipation im postkapitalistischen und postbürgerlichen Sinne. Im Idealfall könnten alle diese Gruppen auf unterschiedlichen Wegen gemeinsam und koordiniert am Überwinden der Verhältnisse partizipieren. Es ist klar, dass konkrete Weltanschauungen dies in der Praxis stark einschränken oder verhindern, es geht hier aber um eine ganz grundsätzliche Betrachtung. Ebenso gibt es immer positive Gegenbeispiele für Kritik, welche mitunter auch genannt werden. Da es aber der kommende Abschnitt eine grundsätzliche Betrachtung ist, geht es um das Gesamtbild. Konkrete Vorschläge folgen dann in den beiden Schlussabschnitten des Artikels.

Der desolate Zustand der Linken

 

Beleuchtet werden die Problembereiche: radikale Linke, Gewerkschaften, soziale Träger und Interessenverbände, Parteien

Bevor es um konkrete und perspektivische Handlungsoptionen geht, muss eine Bestandsaufnahme des Ist-Zustands erfolgen. Und dieser ist desolat, schaut man einmal gesamtgesellschaftlich und mit Fokus auf postkapitalistische Bewegungen. Dabei sind die Voraussetzungen auf dem Zettel gar nicht mal so schlecht, gibt es doch all die Absatz davor genannten Gruppen und Strukturen. Nur sind diese aus unterschiedlichen Gründen in unterschiedlichen Graden ohne vorhandene Wirkungsmacht. Dafür gab es vor der jetzigen Krise etliche Indikatoren, aber auch jetzt ganz unmittelbar zeigt sich eine relative Handlungsohnmacht.So wurden zum Beispiel die Gewerkschaften erst spät und mit Einschränkungen in die Maßnahmenberatungen in Bayern eingebunden, die ArbeitgeberInnen saßen dagegen von Anfang an am Beratungstisch. Forderungen von Gewerkschaften und Sozialverbänden wurden im Maßnahmenpaket nicht berücksichtigt oder verschwanden vom Verhandlungstisch. Davon betroffen sind unter Anderem die Aufstockung des Kurzarbeitergeldes auf 90 Prozent und finanzielle Verbesserungen im Pflegesektor. Mehr als Forderungen sind dazu auch noch nicht zu vernehmen, Arbeitskampf (in welcher Form auch immer) wurde bisher nicht ins Spiel gebracht. Von der Linkspartei ist ebenfalls wenig mehr zu vernehmen, als Detailkorrekturen der Maßnahmen oder eine Erweiterung in den unteren Einkommensschichten zu fordern. Die radikale Linke ist sicherlich privat mit nachbarschaftlichen Hilfsaktionen beschäftigt, sie tritt aber gar nicht erst als gesellschaftlich relevanter Faktor auf. Mehr als Apelle, Aufrufe und Texte (ja, auch die Mad Marx-Reihe zählt dazu) gibt es kaum. Insgesamt geht von der Linken kaum eine reale Gefahr aus, bestimmte Maßnahmen der Regierung zu ändern oder eigene Forderungen durchzusetzen, geschweige denn gerade eine gesellschaftliche Debatte zum bestehenden System und seinen Widersprüchen anzustoßen. Weder Streiks noch großangelegte Proteste stehen derzeit als Optionen für jeweils mögliche Zeitpunkte öffentlich breit zur Diskussion, sieht man von Phrasen ab.

Problembereich radikale Linke

 

Die Strukturprobleme der Linken zeichnen sich mitunter seit Jahrzehnten ab und haben dafür gesorgt, dass man in einer Krisensituation wie der jetzigen nur reagieren kann und keine offensiv agierende Akteurin auf gesellschaftlicher Ebene und der politischen Bühne darstellt, die weitreichende Forderungen stellen und durchsetzen kann. Die radikale Linke hat dabei vor allem ein organisatorisches und ein inhaltliches Problem. Beide bedingen sich gegenseitig. Im Laufe der Jahrzehnte haben sich grob zwei Richtungen herausgebildet, denen eine organisatorische Vermittlung fehlt. Zum Einen gibt es die Bewegungslinke mit Fokus auf Antifaarbeit und autonome Gruppen. Dies ist insbesondere im Antifabereich nicht wirklich anders zu bewerkstelligen, agiert man hier doch bewusst mit illegalen Mitteln und kann so die Strafverfolgung erschweren. Hier ist man auch noch stärker auf konkrete Aktionen und praktisch umsetzbare Ziele fokussiert. Ein autonomer Hausbesuch ist konkret planbar und durchführbar, die Zerschlagung existierender Nazistrukturen erfordert eine koordiniertes und planvolles Vorgehen. Doch die Erfolgsrate eines solchen Aktivismus ist regional stark unterschiedlich, was auch an den jeweiligen örtlichen Begebenheiten liegt. Leider gibt es keinen flächendeckend erfolgreich und konsequenten Antifaschismus, der wirklich für alle Nazistrukturen eine handfeste Gefahr darstellt. Dem Hannibalnetzwerk hat die radikale Linke nicht viel entgegenzusetzen. Auch ist eine solche sehr eng auf das Thema „Kampf gegen Nazis“ ausgelegte Praxis keine Organisationsform, die auf die anstehenden Aufgaben der Coronakrise übertragbar ist. Es ist eine Erweiterung des Organisationsrepertoires nötig, um auch in Bereichen jenseits des autonomen Kleingruppenantifaschismus Ziele erreichen zu können.

Auf der anderen Seite hat sich die radikale Linke, was die Beschäftigung mit den Verhältnissen im Kapitalismus angeht, vor allem auf Theorie und Analyse der eben genannten Verhältnisse versteift. Daraus ist aber keine irgendwie geartete Praxis erwachsen, die dazu geneigt wäre, eine Verbesserung des Bestehenden auch nur irgendwie perspektivisch realistisch erscheinen zu lassen. Containern mag zwar eine wirksame Praxis zum Durchbrechen kapitalistischer Verhältnisse im ganz Kleinen sein, den Kapitalismus als Wirtschaftsordnung und Organisationsform der Produktion wird man damit nicht besiegen. Das Ganze nimmt sich eher aus, wie die sprichwörtliche Maus, die versucht dem Elefanten auf den Fuß zu treten, wie es Wolfgang Pohrt mal treffend beschrieb. Das sich Zurückziehen auf den makropolitischen Theorie-Elfenbeinturm hat zwar dazu geführt, die aktuelle Krise recht gut erklären zu können. Eine Praxis ist indes aber nicht vorhanden, wie man in dieser Krisensituation landesweit effektiv agieren und gestalten könnte. Und das, obwohl die letzte Systemkrise von 2008/9 das gleiche Problem offenbart hat. So nimmt sich das Ergehen in (pseudo-)intellektuellem Theorie-Geflexe zum Teil selbst nur als Phrasendrescherei aus. Marx hat das Problem in der Deutschen Ideologie gleich zu Beginn in Bezug auf Junghegelianer auf den Punkt gebracht:

„Die junghegelschen Ideologen sind trotz ihrer angeblich „welterschütternden“ Phrasen die größten Konservativen. Die jüngsten von ihnen haben den richtigen Ausdruck für ihre Tätigkeit gefunden, wenn sie behaupten, nur gegen „Phrasen“ zu kämpfen. Sie vergessen nur, daß sie diesen Phrasen selbst nichts als Phrasen entgegensetzen, und daß sie die wirkliche bestehende Welt keineswegs bekämpfen, wenn sie nur die Phrasen dieser Welt bekämpfen.“

Der Anspruch und die Haltung lassen sich exemplarisch mit einer Formulierung darstellen: Es geht ums Ganze. (Der Text vom Bündnis „Ums Ganze“ zur Coronakrise sei hier empfohlen, er arbeitet mit weniger Umfang etliche Punkte ab, die auch in dieser Reihe hier zur Sprache kommen.) Und damit ist dann wirklich der ganz große Wurf gemeint. Mit groß klingenden Kampfansagen und selbstversichernden Phrasen holt man zum verbalen Generalangriff auf alles und jeden, am liebsten aber Staat, Gesellschaft, Patriarchat und Kapitalismus, aus. Da wird dann teilweise mit Worthülsen um sich geschossen, als gäbe es kein Morgen mehr. „Die Kämpfe müssen radikalisiert und zugespitzt werden“, „gegen die Gesamtscheiße“, „deutsche Zustände angreifen“, „den nationalen Konsens brechen“ und noch viele, viele Formulierungen mehr sind fester Bestandteil des Textbaukastens der radikalen Linken. Zum Teil lässt sich das nicht vermeiden, es darf aber nicht dabei bleiben. Wer sich ausschließlich auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene bewegt, wird damit außer einer Selbstbespaßung und dem Signalisieren einer Haltung höchstens noch eine grundlegende Einstellung beim geneigten Publikum erreichen können. Eine auf konkrete Erfolge zielende Praxis ist das aber nicht und sie wird in den meisten Fällen auch gar nicht erst skizziert. Es bleibt beim Appell zur Aktion, zur Verschärfung, zum Widerstand. Wie das aber genau aussehen soll, welche Handlungen man dafür vollziehen kann und welche realistisch erreichbaren Ziele angestrebt werden, bleibt oft das Geheimnis der Autor*innen. Außer wohlformulierter und maximalistischer Phrasen hat man der Realität in den meisten Fällen nichts entgegenzusetzen. Antikapitalistische Phrasen gegen bürgerliche Realität.

Und so verbleiben sehr viele Einzelgruppen und Freiräume organisatorisch mehr oder weniger für sich alleine und können dadurch keinerlei transformatorische Politik über ihren kleinen Bereich hinaus betreiben, während sie mit viel Pathos und Getöse zum Gefecht rufen. Projekte auf der Mikroebene treffen auf makropolitisch (gesamtgesellschaftlich) formulierte Ansprüche, ohne das es einen Mittelbau gäbe, der das Aktionspotential im Kleinen für eine Wirkmacht im Großen bündeln könnte.

Problembereich Gewerkschaften

 

Einen entsprechenden Mittelbau stellen Gewerkschaften für ihre jeweiligen Bereiche dar. Die Gewerkschaften sind ursprünglich als organisierte (Arbeits-)Kampforganisationen gegründet worden, was im 19. Jahrhundert tatsächlich sehr oft physische Kämpfe und Waffengewalt beinhaltete. Die Staatsgewalt und die Industriellen waren nicht gerade zimperlich, wenn es um das Zerschlagen organisierter Gegenwehr ging. Im Laufe der letzten ca. 150 Jahre haben die Gewerkschaften viele Erfolge erkämpft und sind seit Langem staatlicherseits anerkannt und fest verankert. Mit fortschreitendem Erfolg und mit wachsender Anerkennung haben sich die Gewerkschaften im deutschsprachigen Raum immer weiter entradikalsiert. Der Anspruch wurde immer bescheidener, inzwischen sind sie staatstragend und systemstabilisierend geworden. Wer bringt mit dem DGB in Deutschland oder mit dem ÖGB in Österreich den Kampf zur vollständigen Überwindung des Kapitalismus in Verbindung? Die Integration der Gewerkschaften in den akzeptierten Interessenaustausch hat sie Stück für Stück entschärft.

In Österreich hat man dem Ganzen dann auch vor 100 Jahren das passende Unwort gegeben: Sozialpartnerschaft. Hier sollen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite vom offenen Konflikt abrücken und in einem Dialog Konsenslösungen finden. Die Konfliktparteien des Arbeitskampfes und der Klassengesellschaft sollen möglichst so miteinander ausgesöhnt werden, dass sie den Staat nicht gefährden. Ein Überwinden der Verhältnisse ist damit von vornherein ausgeschlossen. Mit der Sozialpartnerschaft sagt man nicht nur einem revolutionärem Umsturz auf Wiedersehen (in Österreich hat es die Sozialdemokratie zum Beispiel auch verpasst, zum bewaffneten Widerstand gegen den faschistischen Coup aufzurufen, obwohl man dafür gerüstet war), man verabschiedet sich auch von einem syndikalistischen Ansatz, durch transformatorische Politik und das Aufbauen eigener Strukturen den Kapitalismus durch praktisches Handeln zu überwinden. Auch bei dieser Taktik wird auf die Wirtschaftsseite nicht eingegangen, man schaut lediglich, wie man unter aktuellen Bedingungen am besten Wirtschaft und Gesellschaft zum Sozialismus bringen kann – der immer und bei jedem erzielten Erfolg das Ziel bleibt und die Wahl der Mittel und Methoden bestimmt.

In Deutschland setzte man ab den 20ern auf die soziale Marktwirtschaft, die SPD-Führung hat mehrere Gelegenheiten zum revolutionären Umsturz konterrevolutionär beantwortet und die Gewerkschaftsarbeit damit nachhaltig entradikalisiert. Sozialpartnerschaft und soziale Marktwirtschaft sind zwei Ausprägungen des selben Grundkonzepts. Wer sich zur sozialen Marktwirtschaft bekennt, will den Kapitalismus nicht überwinden. Der DGB-Vorsitzende Rainer Hoffmann bekennt sich ausdrücklich zur Sozialen Marktwirtschaft und zur Sozialpartnerschaft und bekommt dafür Gratulationen aus der CDU. Eine bessere Veranschaulichung des staatstragenden, systemkonformen Elends der Gewerkschaftsentwicklung gibt es wohl kaum. (https://jungle.world/index.php/artikel/2018/49/hauptsache-stabilitaet ) Man muss der Realität ins Auge sehen und feststellen, dass die Gewerkschaften kein Teil der radikalen Linken sind und inzwischen dermaßen in das System eingehegt wurden, dass sie als Beruhigungstropfen für die fungieren, deren Interessen sie idealerweise radikal vertreten sollten.

Problembereich soziale Träger und Interessenverbände

 

Ein ähnliches System mit der Integration und Einhegung in das bestehende System haben soziale TrägerInnen und Interessenvertretungen wie zum Beispiel Frauenverbände oder antirassistische Gruppen. Der Staat und die Wirtschaft verlassen sich zum Teil bewusst darauf, dass Einrichtungen wie die Volkssolidarität oder die Tafeln Versorgungsaufgaben übernehmen, die eigentlich von der öffentlichen Hand geleistet werden sollten. Der Staat, welcher aktuell eben die öffentliche Hand darstellt, überlässt Teile der Grundversorgung der ärmsten Bevölkerungsteile der Hilfsbereitschaft und Organisation von Privatpersonen, spart sich also die entsprechenden Kosten. Bei Hartz 4 sieht man aktuell, dass die Politik aktiv darauf setzt. Die FDP! forderte eine zeitweise Anhebung der Mindestsicherung, da durch den Wegfall der Tafeln viele nicht mehr über die Runden kämen. Man weiß also, dass die Tafeln überlebensnotwendig sind, tut aber nichts, um die Grundversorgung staatlich abzusichern.

Was soziale TrägerInnen, Interessenverbände und NGOs (z.B. Stiftungen) gemein haben, ist ihre Abhängigkeit vom Staat. Viele Projekte werden staatlich gefördert oder profitieren von Steuerbefreiungen im Vereinsrecht. Auch werden oft Räumlichkeiten gestellt oder zumindest teilfinanziert. Ein großes Programm wäre hier zum Beispiel das Programm „Demokratie fördern“, bei dem zivilgesellschaftliche Projekte gegen Rechts mit Mitteln versorgt werden. Alle Bereiche, die sich gegen Rechts engagieren, soziale Aufgaben übernehmen und diskriminierte Gruppen und Minderheiten vertreten, würden von einer postkapitalistischen, postbürgerlichen Gesellschaft profitieren. (Hier wieder der Hinweis, dass es um eine grundsätzliche Betrachtung geht und es einige Ausnahmen gibt.) Da sie im Gegensatz zu Gewerkschaften aber selten über ausreichend Eigenmittel verfügen, um völlig unabhängig von Staat und Wirtschaft zu bestehen, sind sie auf finanzielle und logistische Unterstützung angewiesen. Das bereits angesprochene Programm „Demokratie fördern“ integriert Projekte dann wieder so in das bestehende System, weil die Mittel an eine Zustimmung zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung gekoppelt sind. Je nach aktueller politischer Lage können ausschließlich auf Rechtsradikalismus spezialisierte Projekte unter Druck geraten, sich zumindest öffentlich gegen die radikale Linke zu positionieren, um die Förderung nicht zu verlieren. Die Gefahr einer linksradikalen Orientierung, welche perspektivisch systemgefährdend werden könnte, wird in der Breite effektiv entschärft.

In der Gesamtbetrachtung fällt auf, dass soziale TrägerInnen und Interessenorgas als eigentlich realpolitischer Mittelbau entweder über Finanzierungsprobleme vom Staat eingehegt werden und von ihm abhängig sind, oder sich durch bestimmte inhaltliche Problemstellen nicht in eine radikal linke Politik der Transformation einfügen können. Zudem wird hier oft eine passive Rolle gesetzt, die sich um das Abmildern der schlimmsten Zustände bemüht, aber nicht den Horizont zur radikalen Gesellschaftstransformation aufweist, um sich im besten Falle selbst überflüssig zu machen. Die Tafeln und andere Wohlfahrtsverbände müssten eigentlich postkapitalistisch eingestellt sein, sollten sie dem Anspruch ihrer Tätigkeit konsequent nachkommen.

Problembereich Parteien

 

Zu den linken Parteien zählt man gemeinhin die Linkspartei, die SPD und die Grünen. Schaut man sich die tatsächlichen Positionen an, ist einzig die Linkspartei als klassisch sozialdemokratisch zu sehen. Ein reformistischer Flügel steht im ständigen Clinch mit einem transformatorischen Flügel und es gibt auch tendenziell revolutionär ausgerichtete Grüppchen, die in Teilen offen davon sprechen, den Kapitalismus zu überwinden. Die SPD hat sich seit der vorletzten Jahrhundertwende immer weiter weg vom Anspruch des eigenen Parteiprogramms (demokratischer Sozialismus) hin zu einer staatstragenden Partei der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt. Eine tatsächliche Transformation des Bestehenden hin zu einem Aussetzen der Marktwirtschaft will niemand dort, unter Gerhard Schröder hat man einen radikalen Sozialabbau durchgezogen, den die CDU niemals hätte durchsetzen können. Dies führte letztlich zum Bruch mit den Gewerkschaften (die sich selbst schon vom Sozialismus verabschiedet hatten), weil man nicht mal mehr sozialdemokratisch agierte. In den letzten Jahren bemüht sich der sozialdemokratische Flügel der SPD zusehends mit Erfolg, den Einfluss des Seeheimer Kreises und der Nachwehen der Schröder-Gang zurückzudrängen und die neue SPD-Spitze ist tatsächlich eine, die man als im weitesten Sinne links bezeichnen könnte. Aber die SPD war über 100 Jahre bereit, sich selbst aufs Schafott zu schleifen und das Fallbeil auszulösen, wenn es nur darum ging, staatstragend Deutschland zu retten. Man sollte also selbst im sozialdemokratischen Sinne nicht zu viele Hoffnungen haben. Die Grünen sind inzwischen von einer sozialliberalen Partei in Teilen schnurstracks ins konservative Lager gewandert. Die antikapitalistischen Kräfte sind bereits um 1990 herum aus der Partei ausgetreten, die nächste GroKo dürfte auch nicht die SPD beinhalten und auf Landesebene versteht man sich teilweise blendend mit der CDU in den Regierungen. Hier ist man Fair Trade-bürgerlich, nicht antikapitalistisch.

Da man unter den gegebenen Umständen nicht umhin kommt, sich auch mit dem Staat als Akteur und möglichen Kampfplatz für transformatorische Politik auseinanderzusetzen, sind Parteien in jedem Fall ein wichtiger Faktor. Selbst anarcho-syndikalische Ansätzen profitierten davon, wenn die Linkspartei die Kanzlerin stellte. Parteien sind allerdings als Organisation an das Parteienrecht gebunden und unterliegen somit der Gefahr, bei realer Wirkmacht zur Systemveränderung vom Verfassungsschutz beobachtet und möglicherweise als verfassungsfeindlich eingestuft zu werden, was dann wiederum ein Parteiverbot nach sich ziehen würde. Dieses Verbot ist nach aktueller Rechtslage in der BRD an die Wirkmacht gebunden, die sogenannte „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ ernsthaft zu stören und zu gefährden. Ab dem Moment, ab dem eine Partei anfangen könnte, die Systemfage zu stellen, wird sie verboten. Damit fällt der alte marxistische Ansatz in Teilen weg, mit der Kaderpartei auf Massenbasis staatsfeindlich zu agitieren, die Revolution herbeizuführen und diese dann zu gewinnen.

Trotz allem gibt es aber Möglichkeiten, sich mit Sozialverbänden, Gewerkschaften, Interessensgruppen und außerparlamentarischer Linker auf erreichbare Ziel, koordiniertes Handeln und Aktionskonzepte zu verständigen. Die Möglichkeiten, in einem offensiven Zusammenspiel von parlamentarischem und außerparlamentarischen Druck Forderungen durchzusetzen, wäre gegeben – man müsste nur aggressiver auftreten und einen aktionsorientierten Anspruch formulieren. Eine ohne Frage schwierige Aufgabe, aber eine machbare und angesichts der aktuellen Machtlosigkeit eine erforderliche. Deshalb wird in den folgenden beiden Parts beleuchtet, was die Linke jetzt trotz ihrer Struktur- und Organisationsprobleme machen kann und vor allem sollte.

Zwischenspiel: Die Interventionistische Linke als Versuch, aus der Wirkungslosigkeit auszubrechen

Die Problemstellen der radikalen Linken im Kontext des linken Spektrums im Speziellen und der Gesellschaft allgemein sind nicht neu. Verschiedene Organisationsmodelle sind im Laufe der Jahrzehnte gescheitert oder aufgegeben worden, der Kampf hat sich zusehends entradikalisiert und der Ruf der Krawalllinken ist weit schlimmer als es die Realität hergibt. Staat und bürgerliche Gesellschaft werden vor allem im Kleinen herausgefordert, ohne sich damit aber jemals dem Ganzen entziehen zu können. Aber ob vor der Rigaer 94 eine Barrikade brennt oder nicht, ändert nichts an den Verhältnissen jenseits des Kleinen. Die Interventionistische Linke verfolgt daher einen klar mesopolitischen Ansatz. Man setzt auf Ortsgruppen im ganzen Bundesgebiet, man kann sich auf der Website nach Möglichkeiten in der (relativen) Nähe umschauen. Die Ortsgruppen agieren dann als Strukturgruppen, während man sich überregional auf einige Schwerpunktereignisse im Jahr konzentriert. G20, Ende Gelände, Pflegestreik, Rojava, Rheinmetall – man wählt die Projekte mit Bedacht und arbeitet dann Aktionsstrategien aus.

Hier geht es jetzt nicht um die inhaltliche Ausrichtung der IL und einzelner Ortsgruppen, im Fokus steht hier der Aufbau und die damit gegebenen Möglichkeiten. Durch die überregionale Struktur kann man sich Aktionen im ganzen Bundesgebiet zur Aufgabe machen. Dabei zerfleddert sich die IL aber nicht in viel zu viele Einzelthemen, sondern fährt teilweise über Jahre hinweg strukturiert und planvoll Kampagnen zu ihren Schwerpunkten. Durch die größere Anzahl an Mitgliedern und die Vernetzung zu anderen Gruppen hat man auch größere finanzielle und logistische Möglichkeiten als die Autonome Antifa Demmin mit fünf Leuten. Man hat presseerfahrene Personen, Kontakte und Erfahrungen, die alle für das Planen und Durchführen zukünftiger Kampagnen und Großaktionen hilfreich sind. Die Problematik vor allem der radikalen Linken, keine Vermittlung zwischen Kleingruppenaktivismus und radikalem Anspruch an die Gesellschaft zu haben, wird hier im Rahmen der Möglichkeiten der IL gelöst.

Ein Knackpunkt wird aber auch die IL vor eine Entscheidung stellen. Wenn sie tatsächlich einen transformatorischen Anspruch umsetzen will, muss sie sowohl zahlenmäßig als auch kampagnenbezogen größer werden. Ende Gelände ist richtig und wichtig, hat seinen Hauptimpact vermutlich aber schon gehabt. Hier ist jetzt eine Art Feedbackschleife notwendig, um die einzelnen Kampagnen auf ihren jeweiligen Status Quo abzuklopfen und zu schauen, wo man Veränderungen vornehmen muss, um dem transformatorischen Anspruch gerecht zu werden. Nicht nur Wachstum, sondern auf Schwerpunktverschiebungen hin zum Sozialismus sind notwendig. Hier wird die IL aber zwangsläufig in einen Bereich kommen, der für den Staat verbotswürdig ist. Eine radikale Linke kann nicht die BRD als bürgerlichen Staat erhalten, sondern steht ihr per Definition feindlich gegenüber. Ob und wie die IL diese Gratwanderung meistern wird, werden die kommenden Jahre zeigen. Denn was ihren bisherigen Aktionsradius angeht, läuft sie Gefahr, es sich in ihrer (im Vergleich mit anderen Gruppen relativ großen) Nische gemütlich zu machen und in eine Stagnation zu verfallen.

 

Das Bestehende vor dem Schlimmen bewahren

 

  • Wir sitzen nicht alle im selben Boot
  • Mindestforderung der Wiederherstellung aller Arbeitsschutzvorschriften auf den Stand vom 1. März
  • Jede Verschlechterung von Arbeitsschutzbestimmungen und -rechten dokumentieren und mit unmissverständlichen Gegenforderungen im Sinne der Angestellten verbinden.
  • Agitation der Beschäftigten in den gerade als „systemrelevant“ bezeichneten Bereichen mit dem Ziel sie für gewerkschaftliche Arbeit und/oder Arbeitskampf zu gewinnen
  • bestehende Stadtteilhilfen der Krisensituation anpassen und miteinander vernetzen, um eine koordinierte Struktur auf regionaler und perspektivisch landesweiter Ebene zu gewinnen
  • die bisherigen Ausnahmen für die Wirtschaft offenlegen und die Schließung aller nicht erforderlichen Betriebe anstreben
  • Wer als Lohnabhängige/r von den Maßnahmen (z.B. Kurzarbeit) betroffen ist, soll sich organisieren.

Wir sitzen nicht alle im selben Boot

 

Es kann nicht bestritten werden, dass wir alle von der Coronakrise betroffen sind. Aber nur weil alle mit dieser Situation umgehen müssen, haben nicht alle die gleichen Interessen. Von Seiten politischer Funktionsträger*innen und der Wirtschaft wird aber genau diese Behauptung dazu genutzt, um Kritik an Maßnahmen abzuwehren. Wer nicht zufrieden mit einzelnen Aspekten ist, wolle Menschen sterben lassen oder sei ein ignorantes Arschloch. Gleichzeitig werden aber den Individuen und dem privaten Bereich Maßnahmen und Einschränkungen aufgebrummt, von denen auch die nicht erforderlichen Wirtschafts- und Dienstleistungsbereiche ausgenommen sind. Nicht erforderliche Betriebe, die jetzt noch aufhaben und kein Homeoffice betreiben können, sind de facto die größten Coronapartys. Die Wertschöpfung und die kapitalistische Verwertung bekommen von Beginn an Extrawürste gebraten, während man im Privaten massiv zurückstecken muss. Und genau das, der aktuell laufende Klassenkampf von oben und die Besserstellung der Wirtschaft bei den Maßnahmen, müssen vermittelt werden. Und zwar auf eine Art, die den feinen Unterschied zwischen blinder Autoritätsgläubigkeit der Marke „Die werden schon immer das Richtige machen“ und einem „Maßnahmen sind sinnvoll, hier wird aber eindeutig mit Partikularinteressen gearbeitet und eben nicht das Beste für alle, sondern für bestimmte Interessengruppen gemacht“ anschaulich vermittelt. Idealerweise sollte tatsächlich Politik für bestimmte Interessensgruppen gemacht werden. Die Banken, Wirtschaft und generell die kapitalistische Arbeitsorganisation zählen nicht dazu. Wir sitzen sinnbildlich gesprochen in unterschiedlichen Booten, die das gleiche Gewässer befahren.

Mindestforderung der Wiederherstellung aller Arbeitsschutzvorschriften auf den Stand vom 1. März

 

Gerade werden unter dem Vorwand der Krisenbewältigung quasi ohne Einwirkungsmöglichkeiten von Arbeitsschutzverbänden und Gewerkschaften Arbeitsschutzvorschriften von der Politik abgeräumt. Diese Vorschriften dienen nicht nur zum Schutz vor zu großer Ausbeutung, sondern auch direkt dem Schutz der Arbeitenden selbst (Ruhezeiten, Höchstarbeitsdauer, etc.). Gesamtgesellschaftlich daraufhin zu wirken, dass gerade jene Lohnabhängigen, die davon betroffen sind, wieder von dieser Zusatzbelastung befreit werden, ist ein Ansatzpunkt für linke Kämpfe und eine klar und deutlich nach außen zu tragende Forderung. Es darf nicht sein, dass diejenigen, die unmittelbar unter der Krise leiden, nachher schlechter gestellt sind als vorher. Dazu ist es notwendig…

…jede Verschlechterung der Arbeitsbedingungen zu dokumentieren und mit Gegenforderungen zu beantworten

 

Die aktuellen Maßnahmen müssen in ihrer Gänze und im Idealfall leicht zugänglich dokumentiert und aufbereitet werden. Möglicherweise würde sich ein eigener Blog dazu lohnen, der zudem die Maßnahmen nach Bundesländern und Bund aufschlüsselt. Die Maßnahmen und Arbeitsschutzverschlechterungen sollten entsprechend mit ihren Konsequenzen ausgeführt und im Idealfall mit Forderungen von Gewerkschaften und Verbänden kombiniert werden, um aufzuzeigen, wie genau die Interessen der Beschäftigten von Linken vertreten werden. Wo es sich anbietet, kann man direkte Ansprechpartner*innen aufführen, die für Arbeitsrecht und dergleichen zuständig sind, um bei Bedarf Hilfe zu vermitteln. Zudem sollte unmittelbar der organisierte Arbeitskampf als Ziel eines entsprechenden Dokumentationsblogs erkenntlich sein.

Agitation der gerade „systemrelevant“ bezeichneten Beschäftigten für Gewerkschaften und Arbeitskampf

 

Vor allem Personal, welches in dieser Krisenzeit besonders belastet und besonders gefährdet ist, sieht sich mit hohlen Phrasen von „Solidarität“ und wirkungslosem Klatschen konfrontiert. Trotz dessen, dass es gerade diese Menschen sind, die ganz offensichtlich unsere Gesellschaft entscheidend mittragen, sind ihre Arbeitsbedingungen und ihre Entlohnung geradezu lächerlich. Sie waren es vor der Krise, jetzt wird ihnen noch mehr abverlangt. In einigen Branchen (z.B. Kassenpersonal in Supermärkten) wurde bereits von Arbeitgeberseite signalisiert, dass man nicht gedenkt, sich an vereinbarte Lohnerhöhungen zu halten. Die Antwort kann nur sein, sich mit diesen Menschen zu solidarisieren, sinnvolle Arbeitskampfmaßnahmen zu erarbeiten und mit ihnen notfalls auf die Straße zu gehen, wenn die Situation es wieder zulässt. Da diese Lohnabhängigen zudem direkt vom Abbau ihrer Rechte im Namen der Krise betroffen sind, sollte man sie für den organisierten Arbeitskampf gewinnen. Dabei braucht man keine Revolutionsromantik verbreiten und von brennenden Barrikaden schwärmen, sondern vor allem praktische Hilfestellungen liefern. Wenn es arbeitsrechtliche Fragen gibt, sollte man auf Gewerkschaften und Arbeitsschutzverbände verweisen – oder auf den Dokumentationsblog aus dem Stichpunkt zuvor. Gerade jetzt kann man zeigen, dass (radikal) Linke konsequent für die Interessen der Beschäftigten eintreten.

Viele Betriebe sind nicht „systemrelevant“ und trotzdem in Betrieb – sie sollten stillgelegt werden

 

Die Wirtschaft ist bestrebt, möglichst weiter den Normalbetrieb aufrecht zu erhalten und mit der Kapitalverwertung fortzufahren. Die Regierung ist inkonsequent und verhängt für das Privatleben Beschränkungen, während in der Wirtschaft Ausnahmen gelten. Die Eindämmung der Pandemie wird also inkonsequent betrieben – zu Lasten der Lohnabhängigen. Es sollte daher gefordert werden, die Wirtschaft mindestens dem Privaten gleichzustellen in Sachen Maßnahmen. Der Idealfall wäre perspektivisch, gar das Private stärker als die Verwertungslogik zu gewichten.

Organisation der betroffenen Lohnabhängigen

 

Millionen Menschen befinden sich im Moment in Kurzarbeit, über 220.000 Betriebe haben diese angemeldet. Darunter fallen auch Betriebe, die schwach gewerkschaftlich organisiert sind, wie zum Beispiel in der Gastronomie. Hier ist unmittelbar anzusetzen und mit praktischer Hilfe bezüglich der Maßnahmen zu agitieren, sofern möglich. Über bestehende Kommunikationswege wie Arbeitschats lässt sich hier eventuell betriebsweise eine Organisation weiter Teile der Belegschaft erreichen, welche weiter reicht als aktuell. Im Idealfall kann man Personen für Gewerkschaften gewinnen. Parallel sollte aber auch für einen möglichen kommenden Arbeitskampf agitiert werden. Maßnahmenpakete der Regierung haben diskreditiert zu werden, während Forderungen im Sinne der Angestellten zu pushen sind. Im Einzelnen mag das mühsam sein, aber ein Bewusstsein für die eigenen Handlungsoptionen durch Koordination und Organisation fällt nicht einfach so vom Himmel. Dieses Bewusstsein muss geschaffen werden. Betriebliche Strukturen sollten sich bei Bestehen überbetrieblich vernetzen. Sei es um gewerkschaftlichen Anschluss zu suchen oder als Art Netzwerk zum Austausch und zur Planung möglicher Aktionen mit anderen Belagschaften. Ziel muss es sein, sich reale Handlungsoptionen zu erarbeiten und bestehende zu erweitern, um effektiv Druck ausüben zu können.

Stadtteilinitiativen ausbauen und mit Blick auf erweiterten Handlngsspielraum vernetzen

 

Eine Stärke der außerparlamentarischen Linken ist selbstständig organisierte Stadtteilpolitik. Hier gibt es bereits etliche Beispiele, wie sich solidarisch organisiert wurde, um beispielsweise Obdachlose mit Nahrung zu versorgen oder Personen der Risikogruppen mit den Gütern des täglichen Bedarfs zu versorgen. Wo wenig bis keine Hilfe vorhanden ist, sind es meistens Linke, die anderen helfen. Wichtig ist es, aus dieser lokalen und oftmals dezentralen Form der lokalen Hilfe eine regionale und letztendlich bundesweite Vernetzung zu schaffen, die koordiniert agieren kann. Aus der lokalen Kleingruppenorganisation muss man eine Struktur schaffen, die sowohl die örtliche Unabhängigkeit garantiert als auch überlokal in der Lage ist, gemeinsam aufzutreten. Das streng hierarchische Prinzip einer Kaderpartei ist hier nicht gefragt, eher sollte man sich im syndikalistischen Sinne mesopolitisch organisieren, also vom gesellschaftlichen Unterbau vor Ort eine Wirkmacht im Mittelbau auf Organisationsebene schaffen.

 

Die Systemfrage als Perspektive

 

  • Arbeitskampf organisieren. Streiks planen und taktisch sinnvoll einsetzen
  • Gewerkschaften, Sozialverbände, Strukturgruppen und Parteien zu einer politisch wirkmächtigen Entität umwandeln
  • Transformatorische Politik und Praxis entwickeln
  • Wo Gewerkschaften nicht mitziehen – Sozialpartnerschaft kündigen!
  • Bei Gewerkschaften, Sozialverbänden, Linkspartei und so weit es geht SPD eine klare postkapitalistische Zielsetzung pushen
  • Eine neue Praxis muss her
  • Sozialdarwinistische Forderungen entlarven
  • Talking Points setzen um die Debatte um die Systemfrage in Gang zu bring

 

Arbeitskampf organisieren. Streiks planen und taktisch sinnvoll einsetzen

 

All das Agitieren und Organisieren macht man nicht aus Spaß an der Freude, sondern will damit eine reale Wirkmacht aufbauen, um wiederum eigene Forderungen zu stellen und in den offenen Konflikt mit Wirtschaft und Staat treten zu können, um die Forderungen schlussendlich durchzusetzen. Der Kapitalismus schafft sich schließlich nicht von alleine ab. Die Krise bietet die Möglichkeit aus der relativen Schwäche in Sachen Handlungsoptionen auszubrechen und sich besser aufzustellen. Gewerkschaften und Sozialverbände verfügen schon jetzt über solche Möglichkeiten, man hat nicht ohne Grund Streikkassen und dergleichen eingerichtet. Da man sich aber, wie im Part zuvor ausgeführt, selber immer staatstragender eingegliedert hat und die radikale Linke sich viel zu stark auf Theorie im Großen und Praxis im (sehr) Kleinen eingeschossen hat, sind die momentan vorhandenen Handlungsoptionen begrenzt. Wie die konkrete Situation innerhalb der einzelne Gewerkschaften, Verbände und Gruppen aussieht, weiß man vor Ort selbst am besten.

Durch die gerade geschaffenen Optionen zur Agitation und Organisation sollte man bestrebt sein, weiter zu denken und zu planen. Gewerkschaften, Verbände und Strukturgruppen sollten sich jetzt miteinander koordinieren und umsetzbare Pläne eines radikalen Arbeitskampfes ausarbeiten und diese dann realisieren. Man muss aus der Defensive kommen und gerade in Bereichen wie der Pflege, dem Gesundheitswesen und im Einzelhandel in Richtung zukünftiger Streiks arbeiten. Wer systemrelevant ist, sollte diese Relevanz dann auch im Sinne der Beschäftigten einsetzen und sich nicht mit Almosen abspeisen lassen. Wenn man das Land noch einmal lahm legt, nachdem der Shutdown (vermutlich stückweise) ausgehoben wird, dann legt man halt noch einmal das Land lahm. Die Linke muss von einem kurzfristigen Reagieren und Fahren auf Sicht hin zu einem strategischen und perspektivischen Denken und Planen kommen. Denn selbst wenn man in dieser Krise nicht so agieren kann, wie es angebracht wäre: Die nächste Systemkrise kommt sicher. Und dann sollte man vorbereitet sein.

Gewerkschaften, Sozialverbände, Strukturgruppen und Parteien zu einer politisch wirkmächtigen Entität umwandeln

 

Die Gewerkschaften, Sozialverbände, Strukturgruppen, Linkspartei und mögliche Teile von SPD und Grünen müssen für eine linke Wirkmacht in Sachen Arbeitskampf verbunden werden. Ziel ist es so viel Druck aufbauen zu können, um die notwendigen, anstehenden Debatten auf eine breite, öffentliche Basis zu stellen. Dazu muss keine linke Einheitsfront gebildet werden, welche aus verschiedenen Gründen weder realistisch noch praktikabel ist. Stattdessen sollte man projektbezogen in bestimmten Bereichen (es bieten sich der Wohnungsmarkt und der Pflegebereich an) ein anspruchsvolles Ziel formulieren, welches aber umsetzbar ist und gleichzeitig ganz klar eine Transformation hin zu einer postkapitalistischen Wirtschaftsordnung beinhaltet. Um dieses Ziel zu erreichen, sollte man sich dann gruppenübergreifend verständigen und die Aktionen koordinieren. Dazu gehört auch das Verwenden von Talking Points, also einer grob abgesprochenen Kommunikationsstrategie, mit der man durch Schlagworte und Argumentationsansätze die Diskussion um das Erreichen der Zielsetzung in den Medien möglichst im eigenen Sinne gestalten kann. Dazu muss man dann auch zu den eigenen Ansprüchen stehen und nicht immer zurückschrecken, wenn die Welt oder die Wirtschaftswoche den Teufel an die Wand malen, was die bösen Stalinlinken schon wieder aushecken. Anhand solch praktischer Transformationspolitik kann man dann auch eine postkapitalistische Komponente in den öffentlichen Diskurs bringen – so wie bei der Debatte um Enteignungen der Immobilienbranche geschehen. Wenn Bernie Sanders es zwei Mal hintereinander schafft, sich in den USA als bekennender Sozialist fast zum Präsidentschaftskandidaten wählen zu lassen, dann sollte man sich das hierzulande in Sachen Kampagnentaktik und Eigenpositionierung sehr genau anschauen.

Mittel- bis längerfristig muss es das Ziel sein, die herrschenden Verhältnisse vor allem an Hand ganz konkreter Widersprüche im System als Talking Point zu nutzen, und eine möglichst breite, öffentliche Debatte anzustoßen, an deren Ende tatsächlich entweder die offene Systemfrage steht, oder zumindest etwas bedeutend Besseres als das Bestehende angestrebt wird. Dazu ist es aber zunächst notwendig, die Menschen zu gewinnen. Für Linke mögen die Systemwidersprüche unübersehbar sein, für Menschen, die unter ihnen leiden, nicht notwendigerweise. Auch wenn dem Einen oder Anderen hier Begriffe wie „Massenbasis“ durch den Kopf gehen, ohne dass möglichst viele Menschen für das, worum es hier geht, sensibilisiert sind, wird es nicht funktionieren. Idealerweise findet diese Sensibilisierung durch greifbare und vermittelbare Vorschläge und wo es geht praktische Umsetzungen statt.

Wo Gewerkschaften noch mitziehen – Sozialpartnerschaft kündigen!

 

Es kann nicht sein, dass, wie zuletzt geschehen, Gewerkschaften sich, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, dem Kapital andienen. Ganz allgemein ist das Konzept der Sozialpartnerschaft von linker Seite in Frage zu stellen, da sie offenkundig langfristig nur den Interessen der Wirtschaft dient. Das Modell der Sozialpartnerschaft stellt ein nützliches Werkzeug dar, um den Arbeitskampf einseitig zu demobilisieren, zu verunmöglichen, und die Belegschaften zu „domestizieren“. Das kann unmöglich Sinn der Übung sein. Gewerkschaften existieren aus einem ganz klaren Grund: Die Interessen ihrer Mitglieder gegenüber der Arbeitgeberseite durchzusetzen und historisch sogar die Arbeitgeberseite aufzulösen. Gewerkschaften, die unter dem Deckmantel der „Sozialpartnerschaft“ faule Deals für ihre Belegschaften abschließen, um Arbeitskampfmaßnahmen aus dem Weg zu gehen und „verantwortlich mit Maß“ Abschlüsse abnicken, hintergehen in diesem Sinne ihren Zweck. In den nun anstehenden Wochen müssen sich Gewerkschaften klar machen, dass sie die Interessen ihrer Mitglieder nicht durch serviles Gemauschel mit der Wirtschaft werden schützen können, sondern sich klar kämpferischer aufstellen müssen. Das Sozialpartnerschaftsmodell muss einseitig aufgekündigt werden – und das besser früher als später.

bei Gewerkschaften, Sozialverbänden, Linkspartei und so weit es geht SPD eine klare postkapitalistische Zielsetzung pushen

 

Die außerparlamentarische Linke hat ihre Baustellen wie die Sozialpartnerschaft oder fehlendes Aktionspotential im gesellschaftlichen Mittelbau, die parlamentarische ist durch eine teils schreckhafte Übersensibilisierung gelähmt, wann immer es um minimal radikalere Forderungen als den Ist-Zustand geht. Man fordert in der Regel nur etwas erträglichere Maßnahmen oder moderatere Ausprägungen der Verhältnisse, ohne tiefgreifende und weitreichende Transformationspolitiken anzubringen und die Verhältnisse von Grund auf ändern zu wollen. Der Mietendeckel in Berlin bildet hier eine löbliche Ausnahme, da er tatsächlich die Verwertungslogik in ihrem Fundament angreift. Die neue SPD-Führung ist zudem spürbar sozialdemokratischer eingestellt als all die Nachwehen der Schröder-Ära. Diesen zaghaften Hoffnungsschimmer solle man in den linken Parteien weiter unterstützen. Die Grünen nähern sich der Union an und sind inzwischen Teil des gutbürgerlichen Milieus geworden. Mit Kretschmann haben sie sogar einen konservativen Ministerpräsidenten. Linkspartei und SPD wären daher gut beraten, sich intensiver um Gewerkschaften, Sozialverbände und andere außerparlamentarische Gruppierungen im linken Spektrum zu bemühen und offensiv und aktiv als deren parlamentarischer Arm zu agieren. Insbesondere die SPD hat hier Nachholbedarf und sollte sich auf ihre sozialistische Vergangenheit besinnen, anstatt mit Sozialpartnerschaft und staatstragendem Selbstmord ein Bild des Jammers abzugeben, welches im Zweifelsfall auch nur die Kapitalinteressen umformuliert durchdrückt. Dazu gehört auch, dass die Rhetorik schärfer wird und man nicht jedes Mal zu Kreuze kriecht, wenn Die Welt den Lenin am Tore wittert. Springer wird eh beschlagnahmt, da muss man doch jetzt nicht vor diesem Verlagshaus einknicken. Mit präventiver Anbiederung an das konservative Bürgertum kann man sich auch gleich auflösen, eine Partei ohne Rückgrat und Haltung braucht niemand. Mehr Mietendeckel, weniger Scholz, Gabriel und Seeheimer Kreis.

Eine neue Praxis muss her – transformatorische Politik entwickeln und umsetzen

 

Berlin macht es mit der verhinderten Google-Zentrale, #besetzen, dem Bürgerbegehren zur Enteignung von Deutsche Wohnen und Co und dem Mietendeckel vor.

Die Analyse der Verhältnisse im Kapitalismus, vor allem in der Krise, präsentiert sich makellos – gerade anitkapitalistische Theorie-Atzen und Marx-Pumperinnen können vom Elfenbeinturm herunter wieder den Kapitalismus nach allen Regeln der Kunst mit Wollust zerlegen. Alleine, die beste Analyse nützt nichts, wenn man daraus keine konkrete Praxis ableitet. Und diese ist notwendiger denn je. Wenn es um das Thema Antifaschismus geht, praktiziert man in der Linken eine Praxis, die sich an den gegebenen Notwendigkeiten orientiert: „Antifaschismus muss erfolgreich sein“, heißt es da. Dementsprechend sollte sich eine antifaschistische Praxis an dem orientieren, was Faschos das Ausleben ihrer Ideologie und weitergedacht den Faschismus an sich verunmöglicht. Der gleiche Grundsatz muss auch für eine linke Praxis im Umgang mit den kapitalistischen Verhältnissen gelten. Die Praxis muss in aller erster Linie erfolgreich sein und keine Selbstbepaßungsveranstaltung für Linke darstellen.

Es ist wichtig, sich als Linke vor Augen zu führen, dass transformatorische Politik funktionieren kann. In Berlin wird dies gerade mit einem anschaulichen Beispiel vorgemacht, welches aber nur einen Startpunkt darstellen kann. Die Mietpreiserhöhungen und die Gentrifizierung haben in der strukturschwachen Stadt voll zugeschlagen und ganze Stadtteile sozial radikal umgeschichtet. Die unteren Einkommensschichten mussten Reallohneinbußen, Verdrängung in Randbezirke oder kleinere Wohnungen, längere Arbeitswege und somit insgesamt eine schlechtere Lebensqualität hinnehmen. Hier haben linke Gruppen angesetzt und in Zusammenarbeit mit Hausbesetzungen und Mietinitiativen verstärkt auf Wohnraumpolitik gesetzt. Aus der Hausbesetzungsszene ist dann unter anderem die Kampagne #besetzen hervorgegangen, welche in mehreren Schwerpunktaktionen mehrere Immobilien gleichzeitig besetzte und versucht, diese leerstehenden Gebäude wieder zu bewohnen. Mit guter Pressearbeit und solidarischer Unterstützung Tausender vor den Besetzungen gegen die anrückende Polizei kam man nicht nur in die regionalen Zeitungen und konnte eine relativ breite Zustimmung gewinnen.

Die Zusammenarbeit der Hausbesetzungsszene, linker Gruppen und Stadtteilinitiativen kam dann bei den Protesten gegen eine Google-Zentrale in Berlin voll zum Tragen. Der als „Campus“ geframte Komplex sollte in Kreuzberg entstehen und Flächen nutzen, die man für alternative Nutzung und Wohnraum nutzen könnte. Außerdem wäre mit einer verschärften Gentrifizierung durch höhere Mieten und Grundstückspreise zu rechnen gewesen. Hier zog man nun eine breit angelegte Kampagne auf, welche mit Aktionen, Interventionen und Druck auf die örtliche Politik mit dazu beigetragen hat, dass die Zentrale von Seiten Googles abgesagt wurde. Der Erfolg der Wohnraumproteste zeigte sich auch bei der jährlichen Mietenstoppdemo, die innerhalb eines Jahres von 2.000 auf 20.000 Teilnehmende anwuchs. Über 200 Initiativen und Gruppen beteiligten sich, alleine der Block „Google Campus verhindern“ hatte mehr Leute als die gesamte Vorjahresdemo. Man hatte es also geschafft, eine gesellschaftliche Spannungslage nicht nur richtig zu erkennen, sondern sie aktiv mitzugestalten und zu nutzen.

Nach dem Erfolg gegen Google blieb man aber nicht untätig. #besetzen agierte weiterhin und einige Wochen nach der Absage Googles ging die Kampagne „Deutsche Wohnen und Co“ an den Start, welche einen doppelten Ansatz fuhr und fährt. Das Momentum der Wohnrauminitiativen und -proteste der letzten Jahre sollte nicht verpuffen und sich stattdessen weiter aktiv gestaltend in den Diskurs einbringen. Also warum nicht die günstige Situation nutzen und mit der Initiative weiter im Gespräch bleiben? Anstatt nur anti zu sein, stellte man hier ein eigenes Konzept vor, wie man Wohnraum vergesellschaften kann und wie man sich perspektivisch eine solidarische Wohnraumpolitik vorstellt. Dazu wählte man dann das Vehikel des Volksentscheids. Eine Initiative muss in Berlin unterschiedliche Hürden in Sachen Unterschriften nehmen, um anschließend als Entscheid auf Landesebene ein in den meisten Fällen für den Senat bindendes Wahlergebnis zu liefern. Erfolg hatte unter anderem die Initiative, die das Tempelhofer Flugfeld vollständig bebauungsfrei halten wollte. Mit dem Ziel eines Volksentscheids ist man automatisch gezwungen, eine PR-Kampagne zu fahren. Man bleibt also konstant im Gespräch, wenn man es richtig anstellt. Parallel kann man weitere Teile der Bevölkerung Berlins mit dem Anliegen des vergesellschafteten Wohnraums erreichen, erzwingt eine längere Debatte mindestens in der Stadt und in den Berliner Medien und kann im besten Fall mit einem juristisch gültigen Entscheid die Stadt zur Enteignung von Wohnraum zwingen. Aus linker Perspektive eine klare Win-Win-Situation.

Neben dem außerparlamentarischen Protest, der sich bei Demos auf der Straße, bei Hausbesetzungen oder großen Kampagnen zeigte, kam auch von parlamentarischer Seite Unterstützung. Die Landesregierung in Berlin hatte – maßgeblich auf Betreiben der Linkspartei mit dem Rückenwind des sichtbaren Unmuts über die Mietpreisentwicklung – einen weitreichenden Entwurf für einen Mietendeckel in die Koalition eingebracht, welcher dann in abgewandelter Form schließlich umgesetzt wurde. Aktuell entscheiden Gerichte darüber, ob dieses Gesetz in all seinen Belangen verfassungskonform ist, dennoch ist es der größte regulierende Eingriff in den Wohnungsmarkt seit Jahrzehnten. Und das im Sinne derjenigen, die in den Wohnungen leben. Ohne den Aktivismus auf der Straße und abseits des Parlaments hätte es dieses Gesetz vermutlich nie gegeben, so ist Berlin aktuell der bundesweite Hotspot um die zukünftige Ausrichtung der Wohnraumpolitik geworden. Die Linke hat in all ihren Facetten nicht nur reagiert, sondern ist aktiv zum Gestalten der Verhältnisse übergegangen. Und sollte damit Schule machen, wie man erfolgreich Politik betreiben kann, die in einem absehbaren Zeitraum reale Verbesserungen für die Menschen mit sich bringt und eine Transformation des real existierenden Kapitalismus hin zu einem möglichen Sozialismus darstellt.

Sozialdarwinistische Forderungen entlarven und die Überschneidungen mit der Logik des Kapitalismus aufzeigen

 

Sozialdarwinistische Forderungen haben gerade Hochkonjunktur. Diese als solche zu entlarven kann als wunderbarer Einstig in die gesellschaftliche Debatte an Hand der Gegenüberstellung „Pandemiebekämpfung vs. Kapitalismus retten/wissentlich Leute draufgehen lassen“ gesehen werden. Die Optionen liegen klar auf der Hand: Postkapitalistische Planwirtschaft vs. Leute für den Kapitalismus opfern. Die Logik des Kapitalismus beinhaltet in dessen Grundfesten das Konzept des Gewinnens. Dazu muss es aber auch Verlierer geben, der Kapitalismus belohnt egoistisches Vorgehen im Sinne des Eigennutzes. Damit ist man nicht sehr weit weg vom Recht der Stärkeren, die sich am Markt durchsetzen. Auch wenn die Formulierung als solche durchaus schwierige Implikationen hat, gibt das Wort „Raubtierkapitalismus“ diese Denkrichtung gut wieder. Kapitalismus und Sozialdarwinismus ergänzen sich ganz wunderbar. Diese ideologische Nähe sollte aufgegriffen und möglichst offensiv angegriffen werden. Die Abwägung bei der Pandemiebekämpfung ist für Stimmen aus der Wirtschaft ganz unmittelbar die Wahl zwischen Wirtschaftsleistung und Menschenleben. Dieser Diskurs muss durchbrochen werden. Stattdessen sollte eine Erweiterung auf die Option einer sozialistischen Planwirtschaft erfolgen: Sozialismus oder Donnerkuppel ist die Devise.

Talking Points setzen, um die Debatte um die Systemfrage in Gang zu bringen

 

Hierbei handelt es sich um einen ganz zentralen Punkt, auf den letztendlich alle Maßnahmen und Strategien hinauszulaufen haben. Wenn das hier mal was mit der befreiten Gesellschaft werden soll, dann muss das vom linken Szenetreff in eine möglichst breite, gesamtgesellschaftliche Debatte überführt werden – und wenn das heißt, dass sich Leute der Linken (auch der radikalen) zu Lanz oder Anne Will in die Sendung setzen, um das zu debattieren, dann soll es so sein (Genosse Kevin, looking in your general direction). Um die Debatte in Gang zu setzen, müssen Talking Points gesetzt werden, anhand welcher die öffentliche Debatte sich entfalten kann. Dazu eignen sicherlich die bereits erwähnten Widersprüche im Kapitalismus hervorragend, da sie gerade jetzt wieder offen zu Tage treten. Man kann den Leuten also ganz klar an Hand dieser Widersprüche aufzeigen, warum der Kapitalismus sich selbst eigentlich überlebt hat. Ja, Talking Points gehen in Richtung Schlagworte und Parolen, sie sind aber eine wichtige diskurstaktische Strategie, um diesen im eigenen Sinne zu beeinflussen und möglichst zu dominieren. Hier ein paar Ideen:

  • Der Kapitalismus hat fertig! Er ist ein System, in dem die Krise der Wertverwertung aufgrund seiner Tendenz zur Kapitalakkumulation, Blasenökonomie und notwendigen, krisenhaften Abstoßung von Überakkumulation, systemisch angelegt ist. Der Kapitalismus trägt die Krise quasi in sich. Ein System dass derart widersprüchlich ist, taugt nicht für die Zukunft.
  • Der Kapitalismus benötigt die Lohnarbeit zur Wertverwertung im Kapitalkreislauf. Gleichzeitig wird Lohnarbeit immer mehr mittels Automatisierung aus diesem Verwertungskreislauf herausrationalisiert. Menschen werden aus der Lohnarbeit herausgedrängt, während jene, die drin bleiben, immer länger arbeiten müssen. Das Kapital sägt quasi am eigenen Ast. Wer das ebenfalls widersprüchlich findet, hat’s verstanden.
  • Der Kapitalismus produziert keinen gesellschaftlichen Reichtum für Menschen, sondern deckt lediglich kapitalgedeckte Bedürfnisse. Ein solches System definiert Menschen, die nicht in der Lage sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, und in der Konsequenz auch nicht in der Lage sind, ihre Bedürfnisse mit Kapital zu decken (also sich nichts kaufen können, weil sie kein Geld haben) als „überflüssig“. Wer hier einen Widerspruch zur Menschenwürde sieht, hat den Kapitalismus verstanden.
  • Ein Gesundheitssystem sollte dazu da sein, Menschen zu retten. Im Kapitalismus muss ein Gesundheitssystem sich aber in erster Linie rechnen. Noch während des Beginns der Corona-Krise wurde von Seiten des Gesundheitsministers darüber geredet, Krankenhäuser zu schließen. Die Corona-Krise zeigt eigentlich glasklar auf, dass ein Wirtschaftssystem, das die Ressourcenallokation (also die Verteilung der Ressourcen) dem Markt überlässt, nicht zukunftsträchtig ist.
  • Eine andere Form der Ökonomie und der Vergesellschaftung ist möglich. Es ist möglich eine Ökonomie aufzubauen, die auf den Prinzipien der Solidarität und der Wohlfahrt führ alle aufbaut.
  • JETZT ist die Stunde, in der Zukunftsforscher ihre Modelle der postkapitalistischen Gesellschaft zur buchstäblichen Rettung der Gesellschaft einbringen müssen.
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Causa Zentrum für politische Schönheit https://rambazamba.blackblogs.org/2019/12/04/causa-zentrum-fuer-politische-schoenheit/ Wed, 04 Dec 2019 15:47:57 +0000 http://rambazamba.blackblogs.org/?p=761 Continue reading Causa Zentrum für politische Schönheit ]]> Die aktuelle Aktion macht wieder einmal Schlagzeilen und wird auch von Linken durchaus gut bewertet. Im Gegensatz zu vorherigen Aktionen ist das negative Echo dieses Mal aber deutlicher. Dies verwundert nicht, handelt es sich hier doch (erneut) um eine Instrumentalisierung des Holocausts ohne Einbindung der Opfer, deren Angehöriger und Interessenvertretungen. Ähnliches wurde bereits in abgeschwächter Form mit der Aktion bei Höcke mit den auf dem Nachbargrundstück platzierten Kopien der Stelen vom Holocaustmahnmal. Auch damals waren keine Opferinteressen in die Planung involviert, der Holocaust in Form seiner bundesdeutschen Gedenkpraxis (die man auch in vielen Punkten kritisch sehen muss) ist wieder nur ein Mittel zum Zweck, genutzt nach Belieben von Deutschen. 
 
Hier wird damit kokettiert, Asche von Holocaustopfern in der Nähe des Reichstags platziert zu haben. Dazu hat man angeblich Bodenproben von diversen Stellen entnommen und testen lassen, um Holocaustüberreste nachzuweisen. Richtig ist, dass der Punkt der Weiterverwendung oder Entsorgung der menschlichen Überreste öffentich nicht bekannt ist und nicht verhandelt wurde. Ginge es dem ZPS aber darum, auf diesen Fehlstand hinzuweisen, hätte es beim Zentralrat der Juden, beim Auschwitzkomitee und in Yad Vashem angefragt, wie man zusammen darauf aufmerksam machen kann. Ohne Störung der Totenruhe, ohne über die Opfer hinweg zu entscheiden und ohne die Nachfahren mit so einer Aktion zu brüskieren. Denn beim Holocaust geht es um die Juden als Opfergruppe, die nichts zu entscheiden hatten. Deshalb sollte man ihnen zumindest heute die Möglichkeit der Mitgestaltung einräumen und nicht gegen ihren Sinn agieren. Wenn man es schafft, bei Götz Aly und Lea Rosch zu fragen, dann sollte man es auch schaffen, den Zentralrat der Juden und das Auschwitzkomitee zu fragen. Dabei hat das ZPS sowohl bei den Stelen für Höcke als auch jetzt kläglich versagt. Das hat das ZPS inzwischen auch selber einsehen müssen und sah sich gezwungen, eine Entschuldigung abzugeben.
 
Wiederaufarbeitung darf gerade bei den Verbrechen der Nazizeit nicht GEGEN die Opfer und ihre Angehörigen passieren. Hier haben die Nachfahren der Täter und Täterinnen schön die Füße stillzuhalten und müssen dann auch mal in den sauren Apfel beißen und hinnehmen, wenn ihre Vorstellungen NICHT als maßgeblich betrachtet werden. Für das ZPS mag das dann bedeuten, dass eine Aktion möglicherweise weniger schlagzeilenträchtig ist. Daher stellt sich nun die Frage, worum es dem ZPS im Kern geht. Ist das Aufsehen das Ziel, die Kunst nach eigenem Willen umzusetzen? Geht es um das Erreichen eines politischen Ziels um jeden Preis? Oder will man sich ernsthaft inhaltlich mit einem Thema auseinandersetzen und dieses möglichst nachhaltig bearbeiten?
 
Das es um das Aufsehen geht, dafür sprechen die behandelten Themen und die gewählten Aktionsformen und -orte. Auch die Darstellung der vergangenen Aktionen auf der Homepage spricht dafür, da sie insbesondere die Reaktionen von Presse, Staat und Gesellschaft ins Zentrum rückt. Um das Erreichen konkreter politischer Ziele jenseits von Aufregern und einer Woche medialer Debatte geht es nicht, denn was genau hat das ZPS erreicht? Dafür, das konkrete Forderungen gestellt werden, hat man keine einzige konkrete Durchsetzung von irgendwas im Kopf, zumindest sind diese nicht ersichtlich bzw. werden in den Handlungen nicht als primäres Ziel kenntlich. Und um in den jeweiligen Aktionsfeldern nachhaltige Aktionen geht es ganz offensichtlich auch nicht. Eigeninszenierung ist das Ziel, Skandalisierung das Mittel.
 
Hier wurde bereits das Brüskieren der Holocaustopfer und ihrer Angehörigen angesprochen. Aber auch andere Aktionen zeugen nicht davon, dass man sich mit anderen AkteurInnen verständigt. Nehmen wir die Aktion Soko Chemnitz. Mit einer Hoax-Seite tat man so, als wolle man jetzt erstmalig die Nazis identifizieren und anprangern. Angeblich sammelte man dann die Suchergebnisse in der Website und kam so an die Daten von Rechten. Was nirgends während und nach dieser Aktion zur Sprache kam, ist, dass es zig Leute gibt, die ihre Aufgabe in der Nazirecherche sehen und daran arbeiten, Personen, Gruppen und Zusammenhänge zu identifizieren. Rechercheteams gibt es in jeder Region und sie sind ein wichtiger Teil antifaschistischen Aktivismus. Das ZPS hat aber nicht nur nicht auf tatsächliche Recherchetätigkeit verwiesen, es hat die Daten auch noch an die Polizei gegeben:
 
„“Soko Chemnitz“ leitete den Datenschatz des rechtsextremen Netzwerks mit allen relevanten Daten (Namen, IP-Adresse, Suchbegriffe, automatische Gewichtung) für die weiteren Ermittlungen an den Staat in Form der Polizei Sachsen, dem Bundesinnenministerium und dem LKA 532 Berlin (Staatsschutz Abteilung rechtsmotivierte Kriminalität) weiter. Als nicht relevant eingestufte Suchanfragen wurden direkt nach der Eingabe gelöscht.“
 
Anstatt mit den Daten tatsächliche Antifaarbeit zu unterstützen, kooperiert man mit den Behörden, die insbesondere in Sachsen mit Rechten durchsetzt sind. Wer ersthaft Vertrauen in Polizei und Verfassungsschutz hat, muss seit Jahrzehnten blind sein. Und man kooperiert mit den Behörden, die konsequente Antifaarbeit behindern und verfolgen. Das ZPS hat, faktisch gesehen, echter Antifaarbeit keinen Millimeter geholfen und stattdessen sich so inszeniert, dass es jetzt mal den Nazis so richtig an den Kragen zu ginge. Auf der Seite wird zudem stolz gezeigt, dass ein Arbeitgeber eine Person gekündigt hätte und es eine Anzeige wegen eines Hitlergrußes gab, die von der Staatsanwaltschaft eingestellt wurde. Beides sind keine Resultate, mit denen man sich sonderlich brüsten müsste. So etwas machen Menschen privat jeden einzelnen Tag. Wenn man seinen Aktionen aber den Anstrich von praktischer Relevanz geben will, muss man das vermutlich derart reißerisch präsentieren.
 
Alles in allem ergibt sich nach einigen Jahren anhand der Aktionen des ZPS das Gesamtbild, dass es hier vor allem um die Lautstärke geht, nicht um den Inhalt. Wie wenig man sich mit politischen Inhalten auseinandersetzt, zeigt die Einordnung der Aktionen gegen Rechts in die Kategorie „Widerstand gegen den Totalitarismus“. Damit bedient man sich eines der Begriffe, die symptomatisch für die deutsche Schuldabwehr nach Ende des Naziregimes stehen und mit dem darin enthaltenen Antikommunismus als weltanschaulichem Element die Wiedereingliderung der Nazis in sämtliche politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftichen Bereiche der BRD ideologisch den Weg bereitete. Wer vom Totalitarismus spricht, hat vom Faschismus offenbar wenig verstanden. Und das ZPS meint, damit dann auch gleich noch Politik machen zu wollen. Wenn man die aktuelle Aktion auch dort einordnen wird, kann man das als glatten Geschichtsrevisionismus bezeichnen. Denn es war der Nationalsozialismus, die die Jüdinnen und Juden umbrachten, kein überkommenes politiktheoretisches Konstrukt.
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Wie den Schoß unfruchtbar machen – über das Versagen im Umgang mit Rechten https://rambazamba.blackblogs.org/2019/11/30/wie-den-schoss-unfruchtbar-machen-ueber-das-versagen-im-umgang-mit-rechten/ Sat, 30 Nov 2019 08:12:26 +0000 http://rambazamba.blackblogs.org/?p=758 Continue reading Wie den Schoß unfruchtbar machen – über das Versagen im Umgang mit Rechten ]]> Die Diskussion um den Umgang mit Rechtsradikalen ist insbesondere seit dem Aufkommen und wachsenden Erfolg der AfD recht prominent im gesellschaftlichen Diskurs. „Mit Rechten reden“ – oder nicht – ist ein allseits bekanntes Schlagwort geworden. Wie man jetzt mit der AfD und Einzelpersonen genau verfährt ist eine nicht immer einfach zu beantwortende Frage. Die Frage stellt sich allerdings schon etwas länger, Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ kann als Türöffner für den heute noch aktuellen Diskurs bezeichnet werden. Hierbei spielt die SPD-Mitgliedschaft Sarrazins die entscheidende Rolle. Wäre sein Buch von einem NPD-Funktionär oder beim Kopp Verlag erschienen, es hätte niemanden außerhalb kleiner rechtsradikaler Kreise interessiert. Wenn ein Rechter ein rechtes Buch schreibt, dann ist der Inhalt erwartbar. Mit dem Parteibuch der SPD und der Vergangenheit als Finanzsenator in Berlin war Sarrazin aber mit dem Gütesiegel der bürgerlichen „Mitte“ versehen und theoretisch ja sogar so was wie ein Linker.

Allein durch diesen Umstand konnte das Buch bei einem renommierten Verlagshaus erscheinen, welches mehr Mittel und Wege für das Marketing zur Verfügung hat. Außerdem konnte man „Deutschland schafft sich ab“ als Skandalbuch eines Politikers verkaufen, der jetzt endlich mal die Wahrheit auftischt, auch wenn das Establishment diese nicht hören will. Gegen diese Kombination aus gefühlten Wahrheiten und Rebellenpose konnte man anschreiben wie man wollte, mit Logik und Argumenten kam man dem nicht bei. Wer liest denn schon ernsthaft ein Buch und prüft dann selbstständig die Argumente und Fakten nach, um sich dann ein fundiertes Urteil über den Inhalt zu erlauben? Eben. Mit „Deutschland schafft sich ab“ wurde eine für die breite Öffentlichkeit neue Sprache in den Mainstream eingeführt. Der Historiker Volker Weiß hat dazu geschrieben und das genau analysiert. Wer mehr dazu wissen möchte, kann dies in seinem Buch „Deutschlands Neue Rechte. Angriff der Eliten – Von Spengler bis Sarrazin“ nachlesen.

Worum geht es, was läuft falsch?

 

In der Wochenzeitung Die Zeit ist vergangene Woche in der Reihe 10 nach 8 ein Text von Verena Weidenbach erschienen, der sich auch mit dem Thema des Umgangs mit der AfD beschäftigt. Vorweg: Der Artikel ist sehr gut und eine unbedingte Leseempfehlung. Er unterscheidet sich wohltuend von anderen Artikeln, da er eine klare Position vertritt und zu erkennen gibt, dass Weidenbach tatsächlich Ahnung von der Materie hat. Sehr oft hat es nämlich den Anschein, dass Personen über Antifaschismus (hier im Sinne des allgemeinen Kampfes gegen Rechtsradikale in allen Betätigungsfeldern zu verstehen) und die politische Rechte schreiben, die keine oder nur sehr rudimentäre Erfahrung und Sachkenntnis in dem Bereich haben. Es ist ja erst einmal nicht verwerflich, wenn Personen sich nicht auskennen. Zum Problem wird es dann, wenn man sich ohne Kenntnis des konkreten Gegenstandes ein Urteil erlaubt und dieses dann auch noch der breiten Öffentlichkeit präsentieren kann.

Viele der Diskussionsbeiträge zum Thema „Mit Rechten reden“ und „Umgang mit Rechten/der AfD“ lesen sich sich so, als ob die für den Beiträge verantwortlichen Person nichts über konkrete antifaschistischer Arbeit und die dazugehörenden Probleme wissen. Auch eine Kenntnis rechter und rechtsradikaler sowie politikwissenschaftlicher Theorien und Begriffe allgemein ist oft schmerzlich zu vermissen. Das trifft nicht nur auf Journalist*innen zu, wiegt hier aber schwerwiegender. Dies soll an drei Beispielen genauer ausgeführt werden. Als erstes dient ein relativ bekanntes Zitat Bernd Höckes aus einer Rede im Jahr 2018:

«Wir werden die Macht bekommen – und dann werden wir das durchsetzen, dann werden wir das durchsetzen, was notwendig ist, damit wir auch in Zukunft noch unser freies Leben leben können. Dann werden wir nämlich die Direktive ausgeben, dass am Bosporus mit den drei großen M – Mohammed, Muezzin und Minarett – Schluss ist.»

Wessen Theorie ich nicht kenn…

 

In Bento, dem Portal des Spiegels für Jüngere, wird daraus dann, dass „er nach einer Machtübernahme der AfD in Deutschland auch vor der Türkei nicht haltmachen will. Den Islam wolle er dem Land dann verbieten.“  In der Welt wird fabuliert, dass „ihn auch Muslime am Bosporus fürchten“ müssen. Was beiden Autoren hier fehlt, ist die Kenntnis von Carl Schmitts Begriff des Politischen. Dieser ist einer der wichtigsten Einflüsse auf das politische Denken der Rechten und bildet die Grundlage für den Ethnopluralismus. Kurz gesagt, es geht um die räumliche Trennung von in sich geschlossenen politischen Einheiten. Höcke will also nicht der Türkei den Islam verbieten, er will den Islam und seine Anhänger*innen bis zum Bosporus räumlich begrenzen. Für ihn stellt der europäische Kontinent eine christliche Einheit dar, die man in dieser Form auch erhalten muss. Die Konsequenzen für den bereits historisch Jahrhunderten inklusive Islam multikonfessionellen Balkan sind interessanterweise niemandem eine Erwähnung wert.

Die fehlende Kenntnis der ideologischen und weltanschaulichen Grundlage führt dann zu einer inhaltlichen Verfälschung und wird an die Lesenden weitergegeben. Die Funktion der Journalistin, das Gesagte möglichst korrekt einzuordnen und kontextuell dem möglicherweise unwissenden Publikum aufzubereiten, ist hier vollständig abhanden gekommen und wird sogar in das Gegenteil verkehrt, da man Ver- statt Aufklärung liefert. Fehler wie diese sind symptomatisch für den deutschen Journalismus und demzufolge auch für den öffentlichen Diskurs.

Es ist erstaunlich, wie unpräzise mit Begriffen aus den Sozialwissenschaften und der politischen Ideengeschichte umgegangen wird. Ein prominentes Beispiel ist Ulf Poschardt, Chefredakteur der Welt-Gruppe. Seit fast 30 Jahren ist er in journalistischen Toppositionen beschäftigt und versagt regelmäßig an simpelsten Themen. Die G20-Proteste waren für ihn „Faschismus von links“ und Hamburg wurde zum „Bürgerkriegsgebiet“. Beides ist so offenkundig hirnrissig, dass man sich gar nicht erst zu einer Erwiderung herablassen möchte. Es gibt nur zwei Erklärungsmöglichkeiten:

1. Poschardt weiß, dass er die Begriffe falsch benutzt und insbesondere den Faschismusbegriff gegen jedwede halbwegs vernünftige Faschismustheorie einsetzt. Er entscheidet sich bewusst dagegen, verfälscht und lügt.

2. Er hat keine Ahnung, was diese Begriffe bedeuten.

Beide Optionen sind für eine Person in seiner Position eigentlich untragbar und zeugen in jedem Fall davon, dass ihm die fachliche Kompetenz fehlt, die sein Posten eigentlich erfordern sollte. Da wir von der Welt-Gruppe reden, ist diese Art von Hufeisenverfälschung hingegen sogar exakt die Art von Qualifikation, die es für den Job braucht.

Handzahme Uninformiertheit – leichtes Spiel für Rechtsradikale

 

Ein Beispiel, bei dem sich sowohl fachliche Inkompetenz und völliges Unvermögen im Umgang mit Rechtsradikalen finden, ist das Interview mit im ZDF Morgenmagazin mit Jörg Meuthen nach dem Terroranschlag von Halle. Mit zahnlosen Fragen über bestimmte Formulierungen Höckes versuchte man Meuthen beizukommen, der diese weitestgehend ignorierte und die bekannte Opferrolle darbot. Scharfe Nachfragen gab es nicht, die fünf Minuten ließen eh keine Zeit um Meuthen ernsthaft in eine Ecke zu drängen. Aus journalistischer Sicht war dieses Interview eine Vollkatastrophe und Blamage. Dabei hätte man, wenn man schon einem rechtsradikalen Spitzenpolitiker Sendezeit einräumt, ihn mit seinen eigenen Aussagen konfrontieren können.

Dem ZDF Morgenmagazin lagen garantiert die Aussagen des Halleattentäters aus dem Video und dem Manifest vor, waren diese doch schon am selben Abend mit ein wenig Recherche zu finden. Wenn wir das schaffen, dann auch ein Großbetrieb wie das ZDF. Es war bekannt, dass der Attentäter an die jüdische Weltverschwörung und den gesteuerten Bevölkerungsaustausch glaubt. Nicht nur gibt es dazu aus den Reihen der AfD unzählige zustimmende Aussagen, Meuthen selber hat sich diesbezüglich mehrfach selber geäußert. In einem Facebookpost führte er aus, wie George Soros die Flüchtlingsströme nach Europa lenken würde und was die SPD damit zu tun hat. Der sonst üblicherweise lautstark von AfD-Mitgliedern verbreitete Verschwörungsmythos des gesteuerten Bevölkerungsaustauschs wurde hier rot angepinselt und somit zur jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung light.

Man konnte also wissen, mit wem man es zu tun hat und das Meuthen selbst ideologischer Wegbereiter der Weltsicht ist, die zwei Menschen in Halle das Leben kostete und fast zu einem Massaker in der Synagoge führte. Und da wir vom ZDF Morgenmagazin reden, kann man dieses Wissen erwarten. Es handelt sich schließlich nicht um einen alleine betriebenen Youtube-Channel, sondern um eine der Flagschiffsendungen eines Senders mit einem Umsatz von über 2 Milliarden Euro jährlich. Für gute Rechercheleute bleibt aber wohl nicht viel übrig. Meuthen konnte sich relativ gefahrenfrei durch ein zahnloses Kurzinterview navigieren. Erkenntnisgewinn: Null

Die journalistischen Versäumnisse im Umgang mit Rechten haben dazu geführt, dass dieses Jahr die ARD-Talkshows „hart aber fair“ mit Frank Plasberg, „Maischberger“ und „Anne Will“ sowie die ZDF-Sendung “ Maybrit Illner“ den Negativpreis „Die goldene Kartoffel“ erhalten haben. Wohl verdient, wie nicht nur das (nicht mit dem Preis bedachte) Morgenmagazin mit dem Meuthen-Interview zeigte. Sandra Maischberger lädt anlässlich des AfD-Parteitags in Braunschweig Meuthen als Gast ein, um über den Kampf von „Moderaten“ und „Radikalen“ in der Partei zu sprechen. Ohne die Sendung gesehen zu haben, lässt schon die Ankündigung Schlimmstes befürchten.

Keinen Plan, aber Hauptsache irgendwas mit Populismus und Extremismus

 

Ein wirklich eklatantes Problem stellt die offenkundige Begriffslosigkeit dar. Man versteckt diese hinter der Nutzung einiger Schlagwörter, mit denen man meint den Gegenstand korrekt erfasst zu haben und muss sich nicht mit lästigen Fragen über die korrekte Begriffsverwendung rumschlagen. Die am häufigsten benutzten Begriffe sind dabei rechtspopulistisch und rechtsextrem. Was genau diese Begriffe jetzt inhaltlich bedeuten, wird dabei selten klar und eigentlich auch nie erklärt. Man geht davon aus, alle wüssten schon, was gemeint ist. Nun handelt es sich dabei aber um Begrifflichkeiten, die man tunlichst unterlassen (rechtsextrem) oder nur sehr begrenzt (rechtspopulistisch) verwenden sollte.

Mit dem Begriff des Rechtsextremismus verwendet man einen Begriff des Verfassungsschutzes, gegründet von Exnazis und Antikommunisten, welcher der Extremismustheorie entstammt. Diese ist in den Sozial- und Politikwissenschaften aus gutem Grund kaum in Verwendung, der ihr Erklärungsgehalt sehr marginal ist und zudem eine ideologische Ordnung der politischen Landschaft vornimmt, welche statt auf Inhalte auf (vermeintliche) Äußerungsformen zurückgreift. Mehr dazu kann man hier nachlesen: https://rambazamba.blackblogs.org/2018/02/15/die-extremismustheorie-urspruenge-inhalt-und-konsequenzen/. Wer das Denken des Verfassungsschutzes nicht reproduzieren will, sollte daher diesen Begriff aus dem Wortschatz streichen. Beim Begriff des Populismus handelt es sich nicht direkt um einen extremismustheoretischen Ausdruck. Er wird in den Sozialwissenschaften häufiger verwendet, konzentriert sich aber ebenso wie der Extremismusbegriff vor allem auf die Form, nicht auf den Inhalt. So kommt es dann zustande, dass Rechts- und Linkspopulismus und -extremismus häufig im selben Atemzug genannt und gedacht werden, ohne das es um konkrete Inhalte ginge. Ein bekanntes Beispiel dafür ist der ständige Vergleich von den Aussagen einer AfD-Person und gleichklingenden Formulierungen Hitlers oder einer anderen Nazigröße, wobei es den Vergleichen in der Regel ausschließlich um die Form, also die Formulierung, geht, und eher selten um das inhaltlich damit Ausgedrückte. Wie man den Populismusbegriff mit Bedacht auf seinen beschränkten Erklärungsgehalt einsetzt, kann man in einem Artikel von Floris Biskamp im Katapult Magazin sehen.

Form vs. Inhaltslosigkeit und Sachunkenntnis

 

Dieses Konzentrieren auf die Form ist dann auch einer der großen Schwachpunkte im Umgang vieler Medien mit Rechten, sowie allgemein im öffentlichen Diskurs. Wenn man vorrangig auf das wie achtet, und nur rudimentäre Kenntnisse über rechte Weltanschauungen und Theoriegebilde hat, kommen solche eklatanten Fehler wie bei der eingangs aufgezeigten Fehlinterpretation Höckes raus. Wie soll man denn argumentativ etwas entgegensetzen, wenn man das Gesagte kaum verstehen und ideengeschichtlich einordnen kann? Selbstverständlich ist es zu viel verlangt, von allen Journalist*innen eine umfangreiches Kenntnis rechter Ideologien zu erwarten. Man darf aber erwarten, dass etablierte Medien mit entsprechender Vernetzung und Budget über Kontakte verfügen, die sich wirklich mit dem Thema auskennen. Warum hat das ZDF kein zentrales Rechercheteam zur radikalen Rechten? Mit nur fünf Personen hätte man ein ausreichend großes Team, um eine Datenbank zu erstellen und aktuelle Entwicklungen im Auge zu behalten, so dass sämtliche Sendungen darauf zurückgreifen könnten. Bei der gesellschaftlichen Relevanz des Themas sind fünf Festanstellungen bei einem Jahresbudget von zwei Milliarden sicherlich drin.

Neben dem Fokus auf das Formale fällt zudem eine oftmals schlechte Kenntnis von Äußerungen jenseits prominenter Reden oder Aussagen auf. Gaulands Vogelschiss und seine Boatengäußerungen sind bekannt, seine Rede in Schnellroda dagegen findet keine Beachtung. Dabei stellt er dort in der Keynote Winterakademie 2019 des IfS ganz klar sein antisemitisches Weltbild unter Beweis und aktualisiert die antisemitische Chiffre des wurzellosen Kosmopoliten in die Jetztzeit. Auch Meuthen und Weidel haben dort geredet und rechtsradikaler als in dieser sich als Kaderschmiede des Rechtsradikalismus verstehenden Institution geht es in Deutschland kaum.

Süßer die Schellen nie klingen

 

Was den Artikel in der Zeit von ganz vielen anderen Artikeln abhebt, ist die Detailkenntnis des rechtsradikalen Spektrums. Hier ist eine Person, namentlich Verena Weidenbach, die sich mit den Originalquellen beschäftigt hat und somit nicht auf die üblichen Diskursmanöver der Rechten hereinfällt. Wie so etwas aussehen kann, hat der bereits erwähnte Volker Weiß vorgemacht. Bei einer Fachtagung in Halle ist auch der Faschist Tillschneider von der AfD anwesend und versucht nach Ende von Weiß‘ Eröffnungsvortrag, diesem ans Bein zu pinkeln. Tillschneider stellt sich in eine angeblich demokratische Tradition der „Konservativen Revolution“ aus Weimarer Zeiten bis heute. Weiß ist Historiker und kennt daher vermutlich die Publikationen der 20er besser als Tillschneider selber und zerlegt diesen dementsprechend mit seiner Replik:

„Die Autoren, auf die man sich in Schnellroda [dort sitzt das Institut für Staatspolitik, Anm. d. V] beruft, haben die Demokratie, die Weimarer Demokratie, verachtet. Und das haben sie immer wieder gesagt, geschrieben und betont. Die können Sie jetzt nicht plötzlich demokratisch vereinnahmen. Dafür hätte Sie Ernst Jünger ausgelacht, Oswald Spengler hätte Sie ausgelacht, Moeller van den Bruck hätte Sie ausgelacht.“

Tillschneider, Faschist und einflussreicher Politiker in der Landes-AfD, kann dem nichts entgegensetzen. Er weiß ja selber, was diese Leute geschrieben haben. Und er weiß auch, dass Volker Weiß ihm das jederzeit nachweisen kann. Dieses mag Störmanöver bei Anne Will oder Frank Plasberg funktionieren, die vermutlich noch nie den Namen Moeller van den Bruck gehört haben und auch inhaltlich wenig zum Thema sagen können. So wie Weiß hier Tillschneider zerlegt hat, so kann man dann auch tatsächlich mit Rechten reden. Man darf ihnen nur nicht die Initiative überlassen und muss sich fachlich gut auskennen. Und vor allem kommt es auf das Setting an.

Mit Rechten kann man nicht reden – Frankfurter Buchmesse 2017

 

Negativbeispiele dafür, wie man es nicht tun sollte, lieferte die Frankfurter Buchmesse. Wer auch immer auf die Idee gekommen ist, 2017 den Antaios Verlag von Kubitschek direkt neben die Amadeu-Antonio-Stiftung und die Bildungsstätte Anne Frank zu platzieren, muss ordentlich am Klebstoff geschnüffelt haben. Der Gedanke war vermutlich, dass man die Rechtsradikalen durch das Fachpersonal direkt nebenan entschärfen könne. Wer sich auch nur ein wenig mit dem Konglomorat von Götz Kubitschek auskennt (Antaios, Sezession, IfS, Ein Prozent) und seinem Umfeld auskennt, weiß, dass das keine gute Idee ist. Dem geistigen Ziehvater der Identitären geht es ja nach eigenem Bekunden nicht um Dialog und Diskurs, sondern um deren Zerstörung. Worauf Weidenbach in ihrem Zeit-Artikel auch verweist. Folgerichtig machten verurteilte rechtsradikale Gewalttäter Stress und es kam zu Tumulten, bei denen sich die Rechten fast nach Belieben selber in Szene setzen konnten. All das wäre vermeidbar gewesen. Man hätte nur mal die Leute fragen müssen, die sich mit Kubitschek auskennen.

Auf ganz grandiose Art und Weise ist dann auch Daniel-Pascal Zorn gescheitert. Dieser ist Autor des programmatischen Buches „Mit Rechten reden“. Genau das hatte er vor und begab sich auf der Buchmesse in eine Diskussion mit Martin „Lichtmesz“ Semlitsch, Autor bei der Sezession und ebenfalls ideologischer Vordenker der Identitären. Man weiß nicht genau, um was es in dem Gespräch ging. Was man aber weiß, ist die publikumswirksame Inszenierung dieses Gesprächs von Seiten Semlitschs. Dieser veröffentlichte schlicht ein Bild in den sozialen Netzwerken, welches ihn im Gespräch mit einem Autor zeigt, der gerade in allen Feuilletons besprochen wird. Was hat dieses Reden mit einem Rechten also gebracht? Eine willkommene Möglichkeit der Selbstinszenierung als akzeptabler Gesprächspartner. Was hat es nicht gebracht? Irgendwas im Kampf gegen rechts. Da kann man schon mal klatschen für das selbsternannte Fachpersonal für reden mit rechts.

Unkenntnis und Professuren schließen sich nicht aus

 

Aktuell macht ein Buch von Cornelia Koppetsch die Runde, populärwissenschaftlich aufbereitete Soziologie liegt im Trend. In ihrem Buch versucht sie zu erklären, warum die AfD gewählt wird. Den großen Aufschrei gibt es jetzt darüber, dass sie fachlich unsauber gearbeitet hat und Quellenangaben nicht oder nur lückenhaft liefert. Eine wirkliche inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Buch findet kaum statt, obwohl oder gerade weil es durch die Feuilletons gejagt wird. Man muss sich nämlich schon mit rechter Theorie und Ideengeschichte auskennen, um so ein Buch inhaltlich bewerten zu können. Eine Fachkenntnis über rechte Akteur*innen und Orgas wäre auch nicht schlecht, ebenso wie eine gewisse Vorbildung in den Sozialwissenschaften. Anderweitig gerät man in die Gefahr, das Buch einfach nur zu paraphrasieren und keiner kritischen Überprüfung zu unterziehen. Wie soll das auch gehen, ohne Fachkenntnis? Nur weil eine Person einen akademischen Titel hat, muss sie noch lange nicht richtig liegen. So ist das auch bei Koppetsch der Fall. Ihr Anspruch einer „theoriegeleiteten Empathie“ kippt vom sozialwissenschaftlichen Erklären und Verstehen ins Verständnis ab. Koppetsch übernimmt die Feindbilder der Rechten und macht die dann für den Aufstieg der Rechten verantwortlich. Dass es sich dabei um eine kaum kaschierte antisemitische Chiffre (kulturkosmopolitische Elite) handelt, merkt sie wohl selbst überhaupt nicht mehr. Koppetsch hat null Ahnung von Rechtsextremismusforschung. Sie rezipiert zwar zum Beispiel Weiß und Julian Bruhns, das war es dann aber auch schon. Keine Rechercheseiten, keine Betroffenen kommen zu Wort, es ist eine bloße Wiedergabe des AfD-Sprechs mit gelegentlich halbherzigen Distanzierungen.

Exemplarisch für völlige Inkompetenz mit großem Titel steht auch Ulrike Guérot, Professorin für europäische Politik und Demokratieforschung. Die behauptete in Bezug auf den AfD-Hardliner Kalbitz, dass nur demokratische Parteien und Personen zu Wahlen in Deutschland zugelassen würden. Diese Professorin! für Demokratieforschung kennt offenbar ihr eigenes Fachgebiet nicht und hat vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Verbotsantrag bezüglich der NPD noch nichts gehört. Das höchste Gericht hat der NPD attestiert, im Wesenszug nationalsozialistisch zu sein. Verboten wird sie nicht, weil sie so marginal ist, dass sie keine ernsthafte Gefahr für die demokratische Grundordnung darstellt.

Gern genommene Entschuldungsmodelle

 

Wenn man den öffentlichen Diskurs verfolgt, dann hat man oft den Eindruck, man ist eher darum bedacht die Probleme und Ursachen woanders zu verorten, als sich und das eigene (auch weltanschauliche) Umfeld kritisch zu betrachten. Vielleicht haben gerade deshalb populär-soziologische Bücher aktuell Konjunktur. Sie liefern Erklärungsmodelle, die oftmals sogenannte Theorien mittlerer Reichweite sind. Dabei wird nicht das gesamte Gesellschaftsmodell untersucht und erklärt, stattdessen nimmt man sich bestimmte Teilaspekte vor. Koppetsch zum Beispiel arbeitet genau in diesem Feld. Sie will nicht die gesamte Gesellschaft und politische Landschaft (v)erklären, sie will den Erfolg der AfD erläutern. Praktischerweise ist eine Theorie mittlerer Reichweite aber immer noch so abstrakt, dass sich Individuen nicht unmittelbar davon angesprochen fühlen müssen. Was kann man als einzelner Mensch denn schon gegen gesellschaftliche Prozesse tun? Und so drängt sich der Eindruck auf, dass solche Theorien vorrangig deshalb prominent aufgegriffen werden, weil sie eine Entschuldungsmöglichkeit liefern.

Außerdem bieten diese Theorien den Vorteil, dass man sich nicht im Bereich der konkreten Bekämpfung von Rechtsradikalen die Hände schmutzig machen muss. Ja, diese Schicht der Kosmopoliten (hallo antisemitische Trope) ist bei Koppetsch halt in seiner Gesamtheit Schuld. Da muss man nicht in Güstrow oder Halle nachfragen, was denn die konkreten Probleme mit Rechtsradikalen vor Ort sind, und welche konkreten Maßnahmen denn helfen, welche nicht und was für Hilfe man leisten sollte. Man kann die Problematiken fein säuberlich von sich wegschieben und in die abstrakte Ebende der gesellschaftllichen Prozesse auslagern. Denn auch das zeichnet den öffentlichen Diskurs sehr oft aus: Diejenigen, die aktiv gegen Faschos, Nazis, Hools und Rechtsradikale aktiv sind, bekommen kaum Gehör. Sie könnten das betrügerische Selbstbild der Mehrheitsgesellschaft zerstören, dass man ja mit Rassismus, Antisemitismus und dergleichen nichts zu tun hat. Antisemit*innen sind immer die anderen, aber nie ein Augstein, ein Blüm, ein Todenhöfer, ein Dehm oder ein Gauland. Es ist nie das eigene Umfeld, welches die Probleme bereitet. Und vor allem sind es nie die eigenen Positionen und das eigene Verhalten, welche mitunter ursächlich für bestimmte Probleme sind. Ein Plasberg oder eine Maischberger werden von sich ganz sicher behaupten, entschieden gegen rechts agiert zu haben und mit dem Aufstieg und der Normalisierung Rechtsradikaler nichts zu tun zu haben.

#dankeantifa und militant – so geht guter Widerstand

Würde man Antifaschist*innen und Initiativen gegen rechts denn mal zuhören, müsste man auch das hohe Ross des Pazifismus verlassen und seine eigene moralische Überlegenheit der Frage der Effektivität unterordnen. (Mehr zur Gewaltfrage hier: https://rambazamba.blackblogs.org/2019/01/17/die-gewaltfrage/) Es urteilen sehr oft Leute über Antifaschismus, die sich mit dem Feld inhaltlich gar nicht auskennen. Konkrete Vorschläge werden nie unterbreitet, Sitzblockaden dagegen sind dann fast schon der neue Faschismus von links. Wer sich in der Antinaziarbeit auskennt weiß, dass man mit Rechten nicht redet. Dabei ist ja auch nicht gemeint, dass man sich nie mit Einzelpersonen unterhält oder Bildungsarbeit mit gefährdeten Person betriebt, man kann durchaus Individuen durch einen längeren Diskussionsprozess in ihren Ansichten entschärfen oder auch ganz aus der rechten Szene rausholen. Nur passiert so was nicht in der Öffentlichkeit und nicht bei Personen und Gruppen, die ein gefestigtes rechtes Weltbild aufweisen. Mit einem Semlitsch braucht man nicht reden, der ist durch und durch Faschist, lebt ganz gut davon und wird sich auch nicht in seinen Ansichten ändern. Sobald es sich um Situationen handelt, in denen Rechte im Diskurs normalisiert werden – egal ob öffentlich, politisch oder privat – wird nicht mit ihnen geredet. Sie sind raumgreifend und wenn man ihnen die Möglichkeit zur Raumnahme bietet, dann werden sie diese ergreifen. Also muss man ihnen so konsequent es geht alle Räume versagen. Und zwar mit allen erforderlichen Mitteln.

Wer sich die Geschichte faschistischer Gruppen und Bewegungen anschaut, wird zu dem Schluss kommen müssen, dass es zwangsläufig zu einer Form der potentiell gewalttätigen Konfrontation kommen muss. Nur massiver Gegendruck und aktive Gegenraumnahme schaffen es, faschistische Bewegungen kleinzubekommen. Und zwar auf allen Ebenen. Wenn man sich das Viersäulenkozept der NPD anschaut, dann findet man dort den Kampf um die Parlamente, die Köpfe, die Straße und den organisierten Willen. Und in allen Bereichen muss der Faschismus bekämpft werden: Als Partei, im Weltanschaulichen und im Diskurs, auf der Straße und organisatorisch. Wenn Staat und das, was man als Zivilgesellschaft bezeichnet, dies nicht oder nur unzureichend leisten, muss der Antifaschismus notwendigerweise eigenständig so gut es geht diese Schwachstellen ausfüllen. Auf den Staat ist dabei nie Verlass, im Zweifelsfall muss man gegen ihn arbeiten. Und insbesondere das konservative Bürgertum hat sich in den letzten 100 Jahren regelmäßig zum Steigbügelhalter rechtsradikaler Bewegungen und Diktaturen gemacht. Die Diskussion in Thüringen zeigt aktuell wieder deutlich, dass diese Gefahr nicht historisiert werden kann, sie ist aktuell wie eh und je.

Was den Artikel von Verena Weidenbach auszeichnet ist, dass sie das weiß. Sie spricht zwar nicht dafür aus, Nazis so lange zu Kantholzen, bis sie keine Lust mehr aufs Nazisein haben. Aber sie weiß, dass man Rechtsradikale politisch und gesellschaftlich niemals in einen Dialog oder in einen Diskurs einbinden darf. Würden Staat und Zivilgesellschaft dies konsequent schaffen, es wäre viel weniger militanter Antifaschismus notwendig.

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Buchrezension „Extrem unbrauchbar – Über Gleichsetzungen von links und rechts“ https://rambazamba.blackblogs.org/2019/11/16/buchrezension-extrem-unbrauchbar-ueber-gleichsetzungen-von-links-und-rechts/ Sat, 16 Nov 2019 20:28:39 +0000 http://rambazamba.blackblogs.org/?p=753 Continue reading Buchrezension „Extrem unbrauchbar – Über Gleichsetzungen von links und rechts“ ]]> Im Verbrecher Verlag ist vor ein paar Wochen ein Sammelband zum Thema Extremismustheorie erschienen. Dieser ist die zweite Veröffentlichung der „Edition Bildungsstätte Anne Frank“, welche von der namensgleichen Bildungseinrichtung aus Hessen verantwortet wird. Der Rahmen des Sammelbandes ist mit einigen Stichworten ganz gut umrissen: Extremismus-, Totalitarismus-, Hufeisentheorie und Zentrismus/Ideologie der Mitte. Die einzelnen Beiträge im Band behandeln einzelne Aspekte aus diesem Spektrum, vorsortiert in fünf Kategorien: 
 
    (1) Eine Theorie, die keine ist
    (2) Im Dickicht der Institutionen
    (3) Das Recht des Stärkeren 
    (4) Mythos Mitte und 
    (5) Nachtritt. 
 
Die Beiträge stammen unter anderem von Politikwissenschaftler*nnen wie Wolfgang Wippermann und Dana Ionescu. Es gibt ein Interview mit den Leitern der Bildungsstätte Anne Frank, Artikel von Mitarbeiter*nnen der Bildungsstätte wie Eva Berendsen und Tom Uhlig, politsch-satirisch Aktiven wie Paula Irmschler und Leo Fischer und ein Interview mit der Facebook-Seite Das goldene Hufeisen.
 
 
Vorweg gibt es gleich das Fazit, unter dessen Berücksichtigung die Detailkritik zu lesen ist: Es ist ein empfehlenswerter Sammelband mit teilweise hervorragenden Beiträgen. Man merkt dem Band an, dass er von einer demokratischen Bildungsstätte herausgegeben wurde – einige Beiträge beziehen sich explizit auf den Bereich der politischen Bildung und der dort aktiven Vereine und Träger*nnen. Wer mit diesem Bereich nicht viel zu hat und sich politisch auch nicht in der „Mitte“, in der Mehrheitsgesellschaft oder im bürgerlichen Bereich verortet, wird nicht alle Artikel hochgradig spannend finden oder sich in ihrer Intention wiederfinden. In der Summe bündelt das Buch aber Artikel mit größtenteils politikwissenschaftlichem Anspruch zum Themenbereich Extremismus und richtet sich klar gegen staatliche, behördliche und rechte Diskursbestimmung durch damit verbundene Konzepte und eine inhaltlichen Entkernung der politischen Debatte. Wer wissen will, was damit nicht stimmt, wird hier mit teils exzellentem Material versorgt. Und auch wer mit dem Thema vertraut ist, wird genügend interessante Details und Denkanstöße bekommen.
 
 
Empfehlenswerte Artikel, chronologisch:
 
Rechts von uns ist das Land – Eva Berendsen, Katharina Rhein, Tom Uhlig
– Politik(wissenschaft) als Mythos; Die Extremismustheorie und das Hufeisen – Daniel Keil
– Eine Totalitarismustheorie, die eigentlich keine ist; Die deutschsprachige Rezeption von Hannah Arendts Theorie der totalen Herrschaft – Dana Ionescu
– Politische Bildung als Verfassungsschutz? Über ein deprimierendes Demokratieverständnis – Katharina Rhein
– Extremismus – Ein Konzept zur Lähmung des Kampfes gegen rechts – Ingolf Seidel
– Im Recht; Der Extremismusbegriff schützt vor allem eins: Die Verfasstheit der bestehenden Wirtschafts- und Sozialordnung gegen emanzipatorische Politik – Maximilian Pichl
– „Wehrhafte Demokratie“ oder wie ein Inlandsgeheimdienst zum Demokratieschützer wird – Sarah Schulz
– Deutschlands Platz an der Arktis; Wie sich die Volksgemeinschaft an Kälte wärmt– Tom Uhlig
– Antisemitsm – Connecting People – Katharina Rhein, David Uhlig
– Interview mit Das goldene Hufeisen – David Uhlig
 

Rein ins Extreme

 
Die drei Herausgeber*innen lassen sich nicht lumpen und eröffnen den Band mit einer standesgemäßen Einleitung, die den politischen Zeitgeist in den Jahren der Chemnitzer Ausschreitungen, des Mordes an Lübcke, des Endes der juristischen Aufarbeitung des NSU-Komplexes und der Etablierung der rechtsradikalen AfD in allen Landes- und Bundesparlamenten themenspezifisch seziert und den Finger auf die offenen Widersprüche und Fehlentwicklungen der letzten Jahre legt. Die größte Enttäuschung folgt direkt auf dem Fuße, liefert Wolfgang Wippermann doch einen sehr schwachen Beitrag ab. Es wird viel angeschnitten, wenig untermauert und noch weniger zum Abschluss gebracht.
 
 
Doch davon sollte man sich nicht entmutigen lassen. Denn die drei folgenden Beträge enthalten Schellen für Verfassungsschutz, Extremismustheorie und die jeweiligen Vertreter*innen, die es in sich haben.  Wer weiß schon, dass die Bundeszentrale für politische Bildung in den ersten Jahren Bundeszentrale für Heimatdienst (ja, Heimatdienst) hieß und maßgeblich von antikommunistischen Altnazis aufgebaut wurde, die stellenweise das seit Jahrzehnten als ungerechtfertigt angesehene KPD-Verbot angestrengt haben? Wer weiß schon, dass die Hufeisentheorie eine Selbstverortung rechtsradikaler Kräfte zu Beginn der 30er war, mit der man sich als wahre Vertreter des Volkes im Sinne der Volksgemeinschaft zu positionieren suchte, während die Linken mit ihrem Klassenkampf dies nicht seien und zu viel Klassenkampf dem Volk nicht gut täte, was von Backes in seiner Übernahme des Modells aber geflissentlich unter den Tisch fallen gelassen wird? Wer weiß schon, dass führende Extremismustheoretiker wie Jesse, Backes, Patzelt, Pfahl-Traughber und andere teils offiziell, teils inoffiziell für den Verfassungsschutz gearbeitet haben und heute trotzdem als unabhängige wissenschaftliche Experten für die Medien gelten und bei der Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlichen? Wer weiß, dass Hannah Arendt mit ihren Arbeiten zur totalen Herrschaft explizit nicht die DDR gemeint hat und auch die Sowjetunion nur unter Stalin als totale Herrschaft ansah, heute aber entgegen ihrer Aussagen als Säulenheilige der Totalitarismustheorien und als Namensgeberin eines solchen Instituts herhalten muss, dessen außerordentlicher Professor Lothar Fritze sogar in Schnellroda beim rechtsradikalen Institut für Staatspolitik referiert hat? 
 

Mehr davon

 
Die große Stärke des Sammelbands liegt genau in solchen Details und Ausführungen, die die politische Ideengeschichte des Extremismusbegriffs nachzeichnen, seine Entstehung erläutern und einordnen und den sehr begrenzten Rahmen dieses Modells anschaulich darlegen. Und so bekommt die Selbstdarstellung der BRD und ihrer Sicherheitsorgane sehr viel Kritik ab. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten Nazis ihren Antikommunismus in den Behörden, die sie oft selber aufgebaut haben, weiter ausleben und Opfer des Nationalsozialismus in der BRD ein zweites Mal staatlich verfolgen, während sie selber unbehelligt von ihren Verbrechen der Nazizeit blieben. Interessant sind auch die Passagen, in denen der Extremismusbegriff staats- und verfassungstheoretisch eingeordnet wird. So ist es ein Zynismus, dass politische Bildung in Form der Bundeszentrale für politische Bildung genauso wie der Verfassungsschutz dem Innenministerium unterstellt ist und somit als staatliche Behörde einen Extremismusbegriff verbreitet, der den staatlichen Bereich explizit ausklammert und keiner Kritik unterzieht. Demokratieförderung dient hier also nicht dem Fördern eines kritischen Denkens auch gegenüber staatlichen Institutionen, sondern allein der Verbreitung der Mär, die „Ränder“ der Gesellschaft seien problematisch. Das man Menschen- und Bürgerrechte in der Regel GEGEN staatliche Institutionen erkämpfen musste, spielt keine Rolle. Der Staat und die Behörden gelten nicht als Instrumente zur Durchsetzung bestimmter Machtinteressen, die sich zudem ändern können. 
 
 
Ebenfalls hervorzuheben ist der Verweis auf die Verengung des Rahmens, den man von behördlicher Seite als nicht-extremistisch ansieht. So wird entgegen der Konzeption des Grundgesetzes, in dem mit voller Absicht keine Wirtschaftsordnung festgelegt ist, der antikapitalistische Kampf sehr oft als extremistisch und somit verfassungsfeindlich eingestuft. Staatliche Behörden sorgen damit aktiv für eine Auslegung des Grundgesetzes, welche die aktuelle Verfasstheit von Staat und Wirtschaft schützt – und nicht was verfassungsrechtlich im Rahmen der Ausgestaltungsmöglichköglichkeiten läge. Das Grundgesetz schützt eben nicht zwangsläufig den Kapitalismus und auch nicht die Behördenstruktur der BRD, ebensowenig ist Demokratie an die aktuelle Verfasstheit der BRD geknüpft. Gerade in Anbetracht der aktuell laufenden Militarisierung der Polizei und der Befugniserweiterungen Richtung Autoritarismus steht man schnell als potentiell extremistisch dar, obwohl man sich eigentlich im Rahmen der Grundgesetzintention befindet und die eigenen Rechte gegen den Staat verteidigen will.
 
 
Weniger spannend sind Teile der Artikel bezüglich der Bildungspolitik und wie man mit dem Extremismusbegriff versucht, Linke oder den Kampf gegen rechts zu be- und verhindern. Dies liegt nicht daran, dass dies nicht wichtig wäre. Man kennt die Leier und die Taktik nur eben seit Jahren und eine Aufarbeitung dieser Mechanismen ist nicht sonderlich anregend, dafür aber bitter nötig, wenn man die aktuellen Debatten um das Programm „Demokratie fördern“ anschaut und die Diskreditierungsversuche von Seiten der AfD und anderen rechtsradikalen Akteuren im Kopf hat. Die Diskursanalyse zum NSU-Komplex und der Beitrag zum Thema Islam und Extremismuskonzeption lesen sich ebenfalls wie Füllwerk und liefern leider keine spannenden Erkenntnisse oder neue Blickwinkel auf diese Bereiche. Etwas deplatziert wirkt der Beitrag über Feminismus, was vor allem daran liegt, dass die Autorinnen es nicht wirklich schaffen, die Verbindung zum Thema des Buches deutlich zu machen. Man fragt sich oft, was das denn jetzt hier soll und wie das mit der Extremismustheorie zu tun hat. 
 

Probleme mit der Mitte

 
Allein wegen der Form fällt der Beitrag „Deutschlands Platz an der Antarktis“ aus dem Rahmen. Kontrastiert durch die Erzählung einer deutschen Antarktisexpidition kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs wird hier mit deutlichem Einschlag der kritischen Sozialpsychologie versucht, dem Mythos der guten Mitte die notwendige Kälte der bürgerlichen Vergesellschaftung in der Moderne gegenüberzustellen, welche sich exemplarisch am Holocaust zeigt. Hier fragt man sich auch die ganze Zeit, wie das alles in den Rahmen des Buches passen soll, wird dann aber kurz vor Schluss vollumfänglich abgeholt und man versteht, was das mit dem Mythos der Mitte zu tun haben soll. Die Entzauberung dieses Mythos fällt leider etwas ungenügend aus. Vollkommen richtig wird auf Antisemitismus als ein alle politischen Spektren durchdringendes Welterklärungskonstrukt verwiesen, allerdings hätten hier konkrete Namensnennungen nicht geschadet. Dabei liefert auch die „Mitte“ genügend Personen, um die Behauptung, Antisemitismus gäbe es nur an den „Rändern“, Lügen zu strafen. Personen wie Möllemann, Blüm oder Kohl gelten nicht als extremistisch, die Außenpolitik der Bundesregierung mit antisemitischen Regimen hat ebenfalls nichts mit einem linksradikalen Antizionismus zu tun und ist in der Mehrheitsgesellschaft zu verorten. 
 
 
Vielleicht krankt die Entzauberung der Mitte auch ein wenig daran, dass wichtige Aspekte schon in den vorangehenden Beiträgen aufgegriffen wurden. Hier hätte ein frischer Blick oder eine ungewohnte Perspektive sicher gut getan. Im Interview mit dem goldenen Hufeisen findet man dazu passende Ansätze: Insbesondere im amerikanischen Raum hat Zentrismus bzw. centrism eine relativ prominente Rolle innerhalb politischer Diskussionen, da hier seit 200 Jahren zwei Parteien das Land regieren. Der internationale Blick kann zudem die „Mitte“ in Perspektive rücken, da jedes Land eine andere politische Mitte hat und konkrete Gesetze und Konzepte anders verortet werden. Auch ist Mitte immer relativ, wenn man sich nur einmal vor Augen führt, was 1950 so als Mitte angesehen wurde und was heute im Kontrast dazu als selbstverständlich gilt. Mit Ansätzen dieser Art hätte man dem Mythos Mitte in ausgearbeiteten Beiträge sicher noch mehr Schaden zufügen können. So bleibt dieser Abschnitt hinter seinen Möglichkeiten zurück.
 
 
Wie bereits zu Beginn deutlich gemacht, ist der Sammelband klar zu empfehlen, die Kritik findet hier auf einem hohen Niveau statt und man bekommt kompakt eine gute Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex und ausreichend Gründe genannt, warum man auf den Extremismusbegriff am Besten vollkommen verzichten sollte.
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Extinction Rebellion – Kritik Teil 2 https://rambazamba.blackblogs.org/2019/11/07/extinction-rebellion-kritik-teil-2/ Thu, 07 Nov 2019 15:24:32 +0000 http://rambazamba.blackblogs.org/?p=747 Continue reading Extinction Rebellion – Kritik Teil 2 ]]> Der folgende Text soll an den ersten von Erich zu Extinction Rebellion anschließen (https://www.facebook.com/antifakampfausbildung/photos/a.937275142984982/2498384816873999/?type=3&theater) und ist als Antwort auf diese beiden zu verstehen:

 

1. Extinction Rebellion – eine Massenbewegung?

 

ExtinctionRebellion ist eine Massenbewegung und als solche offen für Menschen aus der Mitte der Gesellschaft bis weit nach links. Ja, wir sind eine bürgerliche Klimabewegung. Das bestimmt unsere strategischen Entscheidungen, wie z.B. die strikte Gewaltfreiheit.“

Eine Massenbewegung gilt als eine besondere Form der sozialen Bewegung. Ein kollektiver Akteur, in dem sich konstitutive Organisationsstrukturen, Aktionsformen und –strategien subsumieren. Ziel einer solchen ist es, tief greifend die öffentliche Meinung einer Gesellschaft zu prägen, politisch richtungsweisend zu sein und so einen gesellschaftlichen Wandel zu initiieren.

Von Extinction Rebellion gibt es zwar weltweit Ableger und diese erlangen auch mediale Aufmerksamkeit, doch war es nicht XR, die einen oben genannten gesellschaftlichen Wandel im Hinblick auf Nachhaltigkeit und Klimaschutz angestoßen hat.

Linksradikalen Projekten wie z. B. den Protesten um den Hambacher Wald oder den Aktionen von Ende Gelände kommt diesbezüglich in Deutschland eine zentrale Bedeutung zu. Über 50000 Menschen, zu weiten Teilen aus dem bürgerlichen Spektrum, aus dem XR nach eigener Aussage AnhängerInnen rekrutieren möchte, fanden sich im Oktober 2018 im Hambacher Forst ein. Schon zuvor gab es große Demos im Hambi bzw. Räumungsversuche und entsprechende Gegenwehr, die große mediale Aufmerksamkeit erzielt haben. Die Waldspaziergänge waren regelmäßig von vierstelligen, z. T. fünfstelligen TeilnehmerInnenzahlen besucht. Begegnungen zwischen den BesetzerInnen innerhalb und außerhalb der radikalen Linken wurden geschaffen. Begegnungen mit AkteurInnen, die mittels unterschiedlicher Aktionsformen für ihre Interessen eintraten. Und auch Aktionsformen, die man für sich selbst nicht wählte, wurden zumindest bei anderen toleriert anstatt deren Beteiligung abzulehnen und die Solidarität zu verweigern. Der Hambacher Wald ist zwar immer noch gefährdet, doch ein Rodungsstopp wurde erwirkt und mediale Aufmerksamkeit generiert – angestoßen durch ein paar Einzelpersonen, die in den Bäumen wohnen und dies geschafft haben, ohne sich bei den Staatsbütteln anzubiedern. Die AktivistInnen positionieren sich zudem klar antikapitalistisch und antifaschistisch.

Die radikalen Aktionen des Bündnisses Ende Gelände, die regelmäßig an verschiedenen Orten stattfinden, in den letzten Jahren einmal jährlich im rheinischen Braunkohlerevier, haben auch eine mediale Wirkmacht entfaltet, indem diese letztlich dazu beigetragen haben, dass sich eine Kohlekommission endlich mal konkret mit dem Kohleausstieg in Deutschland befasst. Zwar ist das Ergebnis noch ausbaufähig, aber es wurden erste Schritte gegangen – auch ohne Copkuschelei. Das Thema Klimawandel in Verbindung mit dem Kohleausstieg wurde in sämtliche Medien gebracht. Bei der diesjährigen Aktion im Juni hatte die am gleichen Tag wie die Massenaktion stattfindende Fridays For Future – Demo den Vorstoß in die Grube für die AktivistInnen von Ende Gelände unterstützt, indem sie eine Demoroute wählte, die partiell nahe der Abbruchkante lag. Fridays For Future – sicher (noch) nicht in weiten Teilen als linksradikal zu bezeichnen – solidarisierte sich ebenfalls und zeigte sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten kooperativ mit einem linksradikalen Bündnis.

Im März 2019 verfassten diverse linksradikale Gruppierungen, Bündnisse und Initiativen aus Großbritannien und Deutschland einen offenen Brief an Extinction Rebellion, in dem sie eine weitreichendere Positionierung einforderten. (1) XR sollte insbesondere antikapitalistische und soziale Lösungen wie beispielsweise kostenlosen ÖPNV und kostenloses Wohnen einfordern, die wirtschaftliche Instanzen verstärkt für ihre Handlungen haftbar machen, z. B. einen Schuldenerlass für wirtschaftlich schwächere Länder, deren prekäre wirtschaftliche Situation auf die Ausnutzung von Großbritannien zurückzuführen sei. Am 10. Oktober bekräftigen die Gruppen in einem weiteren offenen Brief ihre Forderungen, weil eine Antwort von XR ausblieb. (5)

Extinction Rebellion ist auf maximales Wachstum ausgerichtet (wodurch genau das Wachstum erreicht werden soll, dazu mehr unter Punkt 3 und 4), eben darauf, Massen zu mobilisieren. Die Klimaproblematik ist zum einen jedoch längst in der Gesellschaft angekommen, zum anderen ist XR ziellos und mobilisiert AnhängerInnen für nichts Konkretes. Ist XR also eine Massenbewegung? XR könnte darin erfolgreich sein, Massen zu mobilisieren, doch sie initiiert keinen gesellschaftlichen und politischen Wandel, da dies bereits passiert ist (mag er aus linksradikaler Sicht bisher auch noch nicht konsequent genug vollzogen sein) und kann dies ohne Forderungen und Analyse auch gar nicht leisten. Aus diesem Grund ist XR erst einmal redundant. Selbst die geforderten und zum Teil auch durchgeführten BürgerInnenversammlungen führen nicht dazu, dass von XR-Gruppen weitergehende Forderungen gestellt werden. So sehr sich XR in Teilen auch als Initialzündung verkaufen will, so sehr ist diese Bewegung doch nur ein Symptom der Zeit.

 
 

2. Rechts? Links? Uns doch egal.

 

Wir sind offen für alle. Das Risiko des Einflusses rechter Ideologeme dabei ist gleichzeitig auch die Chance für einen stabilen linken Konsens. Es hängt eben daran, wer mitmacht.  …  Wer nicht da ist, fehlt.“

XR will für alle zugänglich sein „bis weit nach links“ – offensichtlich auch bis weit nach rechts. Perfiderweise wird in der obigen Aussage auch gleich noch Linken die Schuld gegeben, sollten Rechte bei XR das Ruder übernehmen. Ganz so, als könnte man von sich aus gar nichts dagegen machen. Aber XR selber äußert sich im XR-Handbuch ganz offen zum Thema Querfront:

„We need everyone to unite – from the left, the right, and every shade in between, and especially young people, many of whom are too disillusioned to vote or are excluded because they are only 16.“ (3)

„But we can’t get there if we work in silos and factions. We need a ‘movement of movements’ to model the unity and urgency we need right now.“ (3)

„Fourth, as we contemplate endings, our thoughts turn towards reconciliation: with our mistakes, with death and, some would add, with God. We can also seek to be part of reconciliations between peoples with different political persuasions, religions, nations, genders, classes and generations. Without this inner deep adaptation to climate collapse, we risk tearing societies apart.“ (4)

Damit hat man im zentralen Textdokument der Bewegung klargemacht, dass man hier eine spektrenübergreifende Einheitsfront schaffen will, unabhängig der politischen Ausrichtung. Auch an anderen Stellen im Handbuch lassen sich dahingehende Aussagen finden. Man will ganz unmissverständlich keine strikte Abgrenzung gegen Rechte vollziehen und gleichzeitig alle Personen in einen Diskurs über die zukünftige Gestaltung der Gesellschaft einbinden. Richtlinien gegen bestimmte Ansichten gibt es nicht und somit auch keine wirkliche Handhabe gegen Personen, die menschenverachtende Ideologien vertreten. Dies variiert allerdings von Gruppe zu Gruppe, dazu später mehr. Ein Blick in die Tierrechts- und Veganismusszene zeigt, wohin so etwas führen kann. Rassismus, Antisemitismus, Querfront und Menschenverachtung werden dort in weiten Teilen geduldet, geteilt und gefördert. Auch in Berlin zeigten sich während der Protestwoche im Oktober erste Resultate dieser angekündigten Querfront. Am Potsdamer Platz gab es „Heimatschutz“-Rufe aus der Blockade raus, was spätestens seit dem NPD-Slogan „Umweltschutz = Heimatschutz“ rechtsradikal besetzt ist. Auch ein Ex-NPDler und Bärgida-Demonstrant wurde gesichtet, ohne das er entschieden herausgedrängt wurde. (5) Der Teilnahme einer einzigen Person sollte man nicht übermäßige Bedeutung beimessen, allerdings gehören solche Vorfälle dokumentiert und den Verantwortlichen zur Kenntnis gebracht. Reaktionen darauf und mögliche weitere Vorfälle dieser Art liefern dann nach einer gewissen Zeit ein Gesamtbild ab, ob es sich um eine reale Querfront handelt und wie rechtsoffen XR dann tatsächlich ist.

XR hat auch nicht das geringste Interesse daran, sich gegen Nazis zu positionieren, nicht mal dann, wenn unmittelbar neben dem Camp eine rechte Veranstaltung von „Merkel-muss-weg“ stattfindet, die XR-Orga explizit darauf hingewiesen wird und darauf entgegnet, man sie würde zu „keinen anderen Aktionen aufrufen“. Da lässt man die Faschos lieber in Ruhe. Nicht, dass man sich aus Versehen noch zu weit links positioniert und dann nicht mehr „offen für alle“ sein könnte. (6)

 

3. Ideologische Schnittmengen mit rechtsradikalen Ideologien 

 

Die Abgrenzung zu allerlei Kackscheiße ist im Prinzip 6 formuliert. D.h. ganz klar: Rassisten u.ä. sind bei uns nicht willkommen, weil sie andere ausgrenzen und angreifen.“

Für eine gelungene Imagekonstruktion ein paar Sätze als Prinzip zusammenzufassen, reicht nicht, um sich von Rechten abzugrenzen. Eine Distanzierung darf sich nicht nur auf die Ablehnung rechter TeilnehmerInnen bei Veranstaltungen beschränken, sondern sollte das gesamte Selbstverständnis durchdringen. XR ist jedoch eine Struktur, die es geradezu anbietet, sie zu unterwandern, weil sie nur subtil und halbherzig das betreibt, was sie Abgrenzung nennt und stattdessen von namhaften Personen der Organisation, wie z. B. dem Co – Gründer Roger Hallam, in Bezug auf den Aktivismus seiner AnhängerInnen Äußerungen getätigt werden, die offen zur Querfront aufrufen. Wie bereits nachgewiesen, passiert dies auch im Handbuch von XR. Aber nicht nur personell, auch ideologisch gibt es bei XR programmatisch festgelegte Punkte, die die Bewegung für Rechte, insbesondere solche mit faschistischer Ideologie, attraktiv machen. Wichtig ist hierbei, dass es sich bei XR nicht um eine von sich aus rechtsradikale Bewegung handelt. Es geht hierbei um einige ideologische Schnittstellen, die die Bewegung für eine bestimmte Klientel interessant machen und dann mittel- bis langfristig durch die mangelnden Abgrenzungsmechanismen einen spürbaren Rechtsrutsch in einigen Gruppen und letztendlich der ganzen Bewegung verursachen können.

XR ist von Beginn auf einen maximalen Bewegungsfokus hin konzipiert worden. Vor dem Hintergrund, möglichst schnell wachsen zu wollen, wird betont, dass eine umfassende Analyse nicht notwendig sei. Ziel ist die Bewegung um der Bewegung willen. Dies wird mitunter als das Wichtigste bezeichnet. Eine mit wenigen bis gar keinen konkreten Inhalten versehene Bewegung um der Bewegung willen ist nicht neu. Im Gegenteil, dieser auf maximale Massenbewegung ausgelegte Charakter eines politischen Aktivismus, der das Alte hinwegfegen sollte, stellt eines der ideologischen Grundelemente des Faschismus dar. Genauer ausgeführt wird das unter anderem in Zveev Sternhells „Faschistische Ideologie“ (7), die Attraktivität des Faschismus lag aber unter anderem in seinem unbedingten Willen zum Handeln begründet. Aktion und Handeln werden der Analyse vorgezogen. Verdeutlicht wird dies gut durch die Worte Roger Hallems:

„To act and then come back and act again.
Again and again and again
Every day
Nothing is more important now than this
Nothing will be more important from now on“ (8)

Ebenfalls zentral in der von XR vertretenen Ideologie ist der Fatalismus, die apokalyptische Sicht auf die Welt und die Zukunft. XR propagiert Szenarien für die nahe Zukunft, die nicht wissenschaftlich fundiert sind und zum Beispiel den Zusammenbruch vieler Gesellschaften innerhalb der nächsten zehn Jahre vorhersagt. Dazu ein paar Zitate aus dem Handbuch:

„It’s only recently that voices such as that of British broadcaster Sir David Attenborough have talked of the collapse of civilizations and societies, or what food insecurity will mean for us, and for generations to come. In February 2019, Extinction Rebellion’s Roger Hallam put it bluntly: ‘War, mass mental breakdown, mass torture, mass rape.’“ (9)

„It is time to prepare, both emotionally and practically, for a disaster.“ (10)

„We should be preparing for a social collapse. By that I mean an uneven ending of our normal modes of sustenance, security, pleasure, identity, meaning and hope.“ (11)

„My guess is that, within ten years from now, a social collapse of some form will have occurred in the majority of countries around the world.“ (11)

Mehrfach spricht XR zudem davon, dass Milliarden Menschen sterben werden. Weder wird dafür ein konkreter Zeitraum genannt, noch stützen sich diese Zahlen auf seriöse Studien und Prognosen. XR selber argumentiert jedoch selten über das Jahr 2100 hinaus, in der Regel wird das Zeitfenster bis 2050 in den Veröffentlichungen zu verschiedenen Themen genannt. Wie genau man auf Milliarden Tote durch den Klimawandel innerhalb dieses Zeitfensters kommen will, wird nirgends ausgeführt und nachprüfbar aufgeschlüsselt. Stattdessen werden Szenarien aufgemacht, dass wir nur wenige Jahre haben, um den Untergang und die größtmögliche Katastrophe abzuwenden. Hier muss ganz klar unterschieden werden: Durch den Klimawandel gibt es die Möglichkeit, dass in 200 Jahren keine oder nur sehr wenige Menschen leben werden und sehr viele Tier- und Pflanzenarten ausgestorben sind. Darauf wird seit Jahrzehnten hingewiesen und XR liegt richtig damit, dass es bisher effektiv keine allumfassende Anstrengung gegeben hat, diese Möglichkeit zu bekämpfen. In der Art und Weise, wie XR dies allerdings propagiert, entbiert es zum einen bei aller gegebener Dringlichkeit der wissenschaftlichen Basis, zum anderen wird der Fatalismus der schrecklichen Zukunft als Gewissheit ins Zentrum des Denkens gestellt. Insebsondere Letzteres ist wissenschaftlich kein Konsens. Die fehlende Grundlage für diese Aussagen und Annahmen wird exemplarisch in einem Interview der BBC deutlich. Andrew Neil konfrontiert die XR-Aktivistin Zion Lights mit der Diskrepanz von XRs Angaben und der wissenschaftlichen Basis der Grundlagen, worauf Lights keine wirklichen Antworten liefern kann. Nachzusehen ist das Interview hier: https://www.youtube.com/watch?v=H3kJwQBZOkM. Auch im Podcast Aufhebunga Bunga wird der Alarmismus XRs dem wissenschaftlichen Diskurs kritisch gegenüber gestellt, Interessierte können sich den Podcast hier anhören: https://aufhebungabunga.podbean.com/e/91-exhaustion-revealing-ft-leigh-phillips/

Der Fatalismus, der drohende Untergang und der Zerfall des guten Alten sind ebenso wie der Fokus auf den Bewegungscharakter um der Bewegung willen zentral im faschistischen Denken. Hier geht freilich nicht die Erde unter. Es sind Volk, Nation, Kultur, Familie und weitere anachronistische Modelle und Konzepte, die kurz vor dem Untergang stehen. Das deutsche Volk ist schon seit 200 Jahren ganz unmittelbar kurz vor seiner endgültigen Auslöschung und jedes Jahr taucht irgendwo irgendein Rechtsradikaler auf und verkündet den Untergang innerhalb der nächsten Jahre, wenn man nicht jetzt sofort mit radikalsten Mitteln das Ruder rumreiße und das fast schon sichere Ende durch eine nationale Wiedergeburt abwende. Man kennt die Leier, man sollte aber auch die Parallelen zu der Art und Weise erkennen, wie XR die planetare Apokalypse propagiert. Das Abwenden des drohenden Untergangs ist in beiden Ideologien vorhanden und ein zentrales Moment. Hier besteht die Gefahr eines Andockens Rechtsradikaler an XR durch inhaltliche Gemeinsamkeiten, insbesondere wenn Rechte ihre klassischen Thematiken einer Art Greenwashing unterziehen und sprachlich modifizieren.

Hinzu kommt hier ein heutzutage nicht weithin bekannter Umstand, und zwar der der rechtsradikalen Ursprünge ökologischer und ökoesoterischer Bewegungen. Im Zuge der 100 Jahre Waldorfschule kam auch ein wenig das Schlaglicht auf dessen rassistische Lehre. Aber auch die Lebensreformbewegung, FKK und der Naturschutz haben Vorläufer und Anfänge im rechtsradikalen Denken, welche Teilweise bis in die Gegenaufklärung Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreichen. (12) Die ideengeschichtliche Traditionslinie ist nicht sehr stark und die einflussreichsten ökologischen Organisationen in Europa sind nicht dem rechten Spektrum zuzuordnen. Wie aber bereits angedeutet, gibt es über die Tierrechts-, Veganismus- und Antispeziesismusszene eine breit aufgestellte Querfront mit teils stark esoterischen Einflüssen, in der sich auch Rechtsradikale relativ kritikfrei tummeln. (13) Sollte die radikale Rechte das Thema Klimawandel für sich entdecken und nicht wie die prominenten Beispiele AfD und Donald Trump ignorieren, ist eine Orga wie XR schlecht aufgestellt, diesem ideologischen Input etwas entgegenzusetzen bzw. sich effektiv abzugrenzen.

In Großbritannien wurde XR bereits Rassismus vorgeworfen, weil die AktivistInnen bei einer ihrer Protestveranstaltungen im April in London die Polizei aufgefordert haben, sich anstatt um sie als friedliche Protestierende, lieber um die „Messerkriminalität“, ein klar rassistisches Narrativ, zu kümmern. (14) Auch „Farhana Yamin von XR in England sagt zum Beispiel, auch Rechte seien bei XR willkommen. Hallam redet davon, dass auch rassistische und sexistische Menschen mitarbeiten können.“ (15)

 

4. Emotionalisierung und Opferpflicht

 

Starten wir diesen Absatz mit einem Zitat von Roger Hallam: „I think there is some generality in the idea that going to prison is a deeply emotional and spiritual experience because it exposes you to a different side of life and what it means to sacrifice yourself to a greater cause, and that is a powerful experience.“ (16) Knast als tiefe spirituelle Erfahrung? Opfer für eine größere Sache? Wer zuvor noch der Ansicht war, XR in die Nähe einer Sekte zu rücken, sei unverhältnismäßig, falsch oder gar bewusst diskreditierend, sollte jetzt eines Besseren belehrt worden sein. Dass AktivistInnen in den Knast gehen, wird nicht nur billigend in Kauf genommen. Es ist gewollt. Roger Hallam möchte so viele von ihnen wie möglich als MärtyrerInnen dort sehen, denn das ist die Taktik, die XR nutzt, um zu wachsen. Das ist auch der Grund, warum angsteinflößende Inhalte und Hoffnungslosigkeit vermittelt werden, denn die Menschen sollen aus Verzweiflung heraus agieren. So sagt es Hallam: „People go out and act because they’re desperate or outraged, and through the sacrifice of their transgressive action—the visual optics and the emotionality of it—other people are inspired to join in. For instance, after our action in April, and the 1,200 arrests, some 50,000 people joined Extinction Rebellion in the U.K. in three weeks. There’s no mobilization strategy that enables you to double in size in three weeks other than mass sacrificial action though breaking the law and getting dragged off. Social change is basically an emotional process. It’s not a cognitive process.“ (17) Auch das zeigt sich im Handbuch von XR immer wieder, wenn von „Widerstand durch Angst“ oder „Die Hoffnung stirbt“ die Rede ist. So sollen bei einem XR-Protest in GB junge DemonstrantInnen geweint haben, weil sie dachte, die gesamte Menschheit stirbt in den nächsten zehn Jahren. (18)

Auch in der Broschüre nimmt das Erspüren und Erfahren des Untergangs und der hilflosen Verzweiflung großen Raum ein:

Wir brauchen eine neue Sensibilität. Verlangt ist nämlich, dass wir die Katastrophe fühlen. Nur wer die Katastrophe fühlt, vermag sie zu erkennen. Das Problem ist jedoch, dass unser Fühlen mit der tödlichen Bedrohung nicht Schritt halten kann.“ (19)

Diese Sätze entstammen keinem Esoterik-Seminar, sondern der bereits erwähnten Broschüre von XR. Gefühle scheinen eine übergeordnete Funktion einzunehmen. Aus obiger Aussage, im Umkehrschluss betrachtet, ergibt sich die Logik, dass jemand, der nicht „die Katastrophe fühlt“, als TeilnehmerIn der öffentlichen Meinungsbildung exkludiert wird. Angesichts dessen, dass so oft von Gefühlen die Rede ist, diese in öffentlichen Massenmeditationen ausgedrückt und sogar als notwendige Bedingung für den Aktivismus vorausgesetzt werden, wird der Eindruck suggeriert, dass ausschließlich sie die Debatte und den Aktivismus bei XR bestimmen und dies auch so gewollt ist. Der Eindruck wird v. a. dadurch verstärkt, dass Argumente und Analysen wenig vorhanden sind. Gefühl ersetzt Argumentation. Emotionalität ersetzt Rationalität – und das im sogenannten postfaktischen Zeitalter in einer Welt voller gefühlter Wahrheiten. Insgesamt liest sich das Buch eher wie ein esoterischer Ratgeber. So wird auf der Hälfte von S. 30 über das Sterben sinniert, auf S. 36ff gibt es einen kleinen Exkurs zu Gandhi und Identität, in dem „Opferpflicht“ eine zentrale Bedingung ist, um den Kampf gegen den Klimawandel, wie er XR vorschwebt, anzuschließen. Auf S. 40f wird dies konkretisiert: „Gandhi vertrat die Ansicht, es sei immer der Drang nach Leben als Grundform des Eigeninteresses, der zu Gewalt und zum Tod anderer führe. Opferpflicht hingegen schütze Leben, eben weil sie es ignoriert.“ Gandhi  als Vorbild zeigt auch von einem mangelnden Verständnis dieser Person. Einen Rassisten, Antisemiten, Sexisten und jemand, der Hitler einen Freund nannte, als Leitfigur auszuwählen, ist für XR kein Problem. So scheint das sinnvolles Handeln von XR nur „möglich, wenn sie außerhalb der staatlichen Rhetorik von Rechten und Interessen die Rolle der Pflicht und des Opfers im gesellschaftlichen Leben ausweitet.“ (20) Auf Gandhi beruft XR nicht nur in Sachen Opferbereitschaft, er wird auch als Vorbild in Sachen gewaltfreier Widerstand immer wieder genannt. Warum man gerade auf Gandhi bei diesen Themen nicht hören sollte, verdeutlichen folgende Zitate:

„Hitler hat fünf Millionen Juden umgebracht. Er ist der größte Kriminelle unserer Zeit. Aber die Juden hätten sich der Gefahr ausliefern müssen. Sie hätten sich von allein ins Meer stürzen sollen, von einem Felsen runter… Das hätte die ganze Welt gegen das deutsche Volk aufgebracht… So sind – in jedem Fall – Millionen von ihnen zu Tode gekommen.“ (21)

„Ich halte Euch an, den Nazismus ohne Waffen zu bekämpfen. Oder um mich auf die Militärsprache zu beziehen: mit gewaltfreien Waffen. Legt die Waffen, die ihr tragt, nieder und laßt Euch davon überzeugen, daß Ihr selbst auf diese Art und Weise die Menschheit nicht retten könnt. Ladet Hitler und Mussolini ein, alles von Eurer schönen Insel zu nehmen, alles was immer sie wollen, alles Schöne und Großartige, was Eure Insel hergibt. Gebt ihnen das alles. Aber gebt Ihnen nie Eure Herzen und Eure Sinne. Wenn sie Eure Häuser besetzen wollen, verlaßt ihr die Häuser von alleine. Wenn sie Euch nicht rauslassen wollen, laßt Euch lieber zusammen mit Euren Freunden und Kindern umbringen, als Euch ihnen zu unterwerfen.“ (22)

Was will XR jetzt von Gandhi lernen? Sich per Massensuizid ins Meer stürzen, um so den Klimawandel zu stoppen und die ganze Welt aufzurütteln? Sich selbst gegen den schlimmsten Menschenfeind nicht zur Wehr setzen? Im Angesicht der härtesten Verbrechen keinen Finger zu krümmen, um auch ja friedlich zu bleiben? Machen wir es kurz: Wer Gandhi unkritisch als Vorbild in Sachen Protest nimmt, ist schlichtweg verantwortungslos und potentiell gefährlich für AktivistInnen. Auch das offizielle Handbuch liefert aussagekräftiges Material zum Thema Erfühlen des Untergangs:

„To come into knowing is to come into sorrow. A sorrow that arrives as a thud, deadening and fearful.

Sorrow is hard to bear. With sorrow comes grief and loss. Not easy feelings. Nor is guilt, nor fury, nor despair.

Climate sorrow, if I can call it that, opens up into wretched states of mind and heart. We can find it unbearable. Without even meaning to repress or split off our feelings, we do so. I am doing so now as I write. Staying with such feelings can be bruising and can make us feel helpless and despairing. It is hard, very hard, to stay with, and yet there is value in this if we can create contexts for doing so.

The feminist movement taught us that speaking with one another allows truths to enter in and be held together. In creating spaces to talk, we transformed our isolation and, although we have not focused our energy on issues of extinction, we need to do so now. We need to take that practice, to create spaces in which we can share how difficult this hurt is and how to deal with our despair and rage.“ (23)

Opferbereitschaft, gar Opferpflicht nehmen bei XR eine große Bedeutung ein. Der Begriff des Opfers, gar einer bedingungslosen Opferpflicht weckt keine Assoziationen an Klimaaktivimus, sondern eher mit der Selbstaufopferung für einen Gott oder ein Gesellschafts- und Politikkonstrukt, bei dem jenes in seiner Bedeutung priorisiert und dessen Interesse denen des Individuums rücksichtslos übergeordnet ist.

Neben dem offiziellen Handbuch „This is not a drill“, aus dem die meisten hier angeführten englischen Zitate stammen, gibt es ein von Extinction Rebellion Hannover herausgegebenes Buch namens „Hope Dies – Action Begins“. Diese Broschüre beginnt mit den Worten: „Dieses Buch ist ein XR-Buch! – Dieses Buch ist kein XR-Buch! In diesem Buch kommen vorwiegend XR-Aktivist*innen zu Wort, die XR-Forderungen, XR-Prinzipien & Werte und XR-Aktionen aus ihrer je eigenen Sichtweise deuten. Es ist also kein XR-Buch!“ (24) Natürlich ist es ein XR-Buch. Die Prinzipien von XR werden genannt und erläutert. Herausgegeben wurde das Buch von der Aktionsgruppe Hannover und natürlich hat diese als Herausgeberin Einfluss auf die Inhalte. Entsprechend muss sie sich die AutorInnenwahl und Zusammenstellung der Zitate zuschreiben lassen. Es können nicht einerseits Prinzipien und Ziele unter dem Gruppennamen publiziert werden und dann will die Gruppe damit nichts zu tun haben. Die Inhalte dieses Buches muss XR sich entsprechend zuschreiben lassen.

XR sieht sich und die Welt in einem Kriegszustand, „in einem Krieg gegen das Klima“, deshalb bleibe „schlicht keine Zeit mehr, demokratische Prozesse abzuwarten“ so Christina Marchand, XR-Aktivistin aus der Schweiz. (25) Extinction Rebellion propagiert zwar permanent Gewaltfreiheit, dafür werden jedoch in der Broschüre der Gruppe mit dem Titel „Wann wenn nicht wir*“ die Kernprinzipien der Gruppe in einer sehr martialischen Rhetorik ausgedrückt. Die „Ökonomie als Krieg gegen den Planeten“ ist es, die drastische Handlungsmaßnahmen erforderlich macht und der Opferpflicht zu einer der am höchsten priorisierten Handlungsmaximen macht. So soll man nicht vor „der heiligen Pflicht“ zurückschrecken, sich „körperlich in die Schusslinie zu begeben“ (26) Diese Rhetorik suggeriert, sogar den Tod, mindestens aber körperliche Verletzungen in Kauf zu nehmen.

Im XR-Handbuch steht zum Thema Opferbereitschaft: „Standing up for something infinitely bigger and more important than you. This is the self-sacrificial idea of arrest at the core of Extinction Rebellion’s strategy, and it gives you strength from within. Ancient values are overtly resurrected in this Easter rebellion in London: the values of chivalry and honour, faith in life and being in service to Our Lady, Notre Dame, Mother Earth, the mother on whom everything else depends. Everything. As both Notre Dames were burning.“ (27)

Der Pariser Ableger von XR nahm diese Handlungsanweisungen sehr ernst und zeigte sich bereit, diese wörtlich zu nehmen. Bei einer Demo am 12.10.2019 wurde ein Teil der DemonstrantInnen von der Polizei eingekesselt. Um den Kessel aufzulösen, drohten sie mit einem Sprung von der Brücke Pont de la Concorde in die Seine. Vielleicht wäre ein Sprung von der Brücke tödlich, vielleicht auch nicht. Sicher würde er Verletzungen nach sich ziehen, die u. U. irreparabel wären. (28) Ebenso  erklomm am 13.10.2019 ein XR-Aktivist die Spitze vom Louvre, als er ungesichert die Glaspyramide hochkletterte. (29)

Das Heroentum macht XR attraktiv in der postheroischen, pluralistischen Spaßgesellschaft, in der es vielen Menschen schwer fällt, ihrer Existenz einen Sinn zu geben. Man setzt seine Existenz für eine gemeinsame Sache ein, ist Teil einer großen Ganzen, hat ein gemeinsames Ziel, das verbindet. Heroentum und Opferbereitschaft sind reziprok zueinander, denn nur, wer bereit ist, Opfer zu bringen, kann zum/zur HeldIn werden, kann Bilder generieren, Bilder von Massenprotesten, Massenverhaftungen, vielleicht einem Massensuizid beim Sprung in den Fluss oder das ungesicherte Klettern in großen Höhen.

Bei XR und der Polizei als Gegenspieler, der sie zweifellos ist, wenn sie in der direkten Konfrontation bei Veranstaltungen auf der Straße das staatliche Gewaltmonopol durchsetzt, mag XR auch noch so oft beteuern, die Staatsmacht als Verbündeten zu sehen, verfügt eben über Befugnisse, denen den DemonstrantInnen gesetzlich nicht zustehen. Die vorliegende Asymmetrie an Befugnissen und Kompetenzen wird mittels Opferbereitschaft kompensiert. Diese ermöglicht XR „Maßnahmen“, wenn man so will, die die Polizei nicht hat. Die Bindekraft ethischer Normen und rechtlicher Regeln ist an symmetrische Konstellationen gebunden. Schwinden diese, löst sich die Bereitschaft zu Regel- und Normkonformität auf.

Einschub: Europäische Länder des Nordens, besonders Deutschland, haben nach zwei Weltkriegen postheroische Gesellschaften herausgebildet. Terrorismus stellt heute eine der größten Herausforderungen postheroischer Gesellschaften dar. Ein Mittel, mit dem AnhängerInnen terroristischer Gruppierungen arbeiten, ist die Selbstopferung, das Maximum, das jemand in einer heroischen Gemeinschaft von sich geben kann. (30)

Natürlich könnte man jetzt sagen, XR ist noch eine sehr junge Organisation. Welche Entwicklungen sie konkret durchläuft, sei noch nicht vollständig abzusehen. Die genannten Punkte sind jedoch so stark ausgeprägt und bilden die Grundsätze von XR, dass darauf zwangsläufig eine breite Querfront folgen muss.

 

 

5. Tiefenökologie und Ökoesoterik

 

„Wir berufen uns auf die Erkenntnisse der Klimawissenschaft und erkennen an, dass bereits sehr diverse Lösungsideen existieren – technologische, wirtschaftliche und politische.“

Der Fokus auf Fatalismus und Emotionalität kommt nicht von ungefähr. Von Beginn an durchziehen Veröffentlichungen von Extinction Rebellion esoterische Formulierungen und im Laufe der Recherche drängte sich immer weiter der Verdacht auf, dass XR auf tiefenökologischen Prinzipien fußt. Mehrfach wurden Workshops für Tiefenökologie angeboten (31) und es existieren in mehr oder weniger allen lokalen Ablegern Chatgruppen mit ökoesoterischem Fokus. Zur Verdeutlichung hier die Kurzbeschreibung der Seite www.tiefenoekologie.de:

„Den Herausforderungen dieser Zeit, wie Klimaveränderung, Artensterben, weltweite Ungerechtigkeit, Kriege, Hunger etc. fühlen sich zunehmend viele Menschen nicht gewachsen und reagieren mit Ohnmacht oder sich überfordernden Aktivismus. Tiefenökologie bietet einen Raum, diese Gefühle nicht zu verdrängen, sondern sie zu benennen, zu spüren und die Erfahrung zu machen, dass Du daran nicht zerbrichst, sondern Kraft gewinnst. Das Wichtigste an dieser Arbeit ist, dass unser Wissen erfahrbar wird, Herz und Verstand in Verbindung sind und wir so zum Handeln kommen, aus uns selbst heraus, mit einem neuen Bewusstsein, dem Bewusstsein für das Ganze! Das lässt uns die Verantwortung übernehmen, für uns selbst und für das, was in der Welt geschieht. Tiefenökologie kann von der Ohnmacht zum Handeln führen. Durch Übungen und ebenso durch kognitive Inhalte der Zusammenhänge wird dieser Prozess erfahrbar.“

Bei Tiefenökologie handelt es sich entgegen der Namensimplikation nicht um eine wissenschaftlich fundierte Methodik. Tiefenökologie ist dem Bereich der Esoterik zuzordnen, also dem Bereich der spirituellen Religionsideologien. So sehr man sich nach außen hin immer wieder auf die Wissenschaft beruft und auf sie verweist, so wenig hat Tiefenökologie mit Wissenschaftlichkeit zu tun – so wie sämtliche esoterischen Strömungen von Astrologie bis hin zu Anthroposophie. (32) Esoterik ist auch ein sehr querfrontanfälliges Feld, was von Holocaustleugnung über rechtsgerichteten Neopaganismus (prominentes Beispiel wäre hier der Terrordruide Burghard Bangert) bis hin zu Anarchoprimitivismus alles beinhalten kann. XR ist durchsetzt mit Ökoesoterik, also der Anbetung der Natur, des Natürlichen und der Mutter Erde.

Tiefenökologie ist zudem von sich aus schon eine Querfrontideologie, die streckenweise offen fremdenfeindlich und reaktionär daherkommt. Der Begründer Naess bezeichnete Migration als „ökologischen Stress“ und fokussierte sich stark auf Bevölkerungsreduktion als Mittel zur Rettung der Erde. Dabei handelt es sich um einen klassischen rechten Zugang zu Umweltfragen. So findet sich auch im Manifest des Christchurchattentäters ein Verweis auf die notwendige Reduktion der Bevölkerung zur Lösung der Klimafrage. Tiefenökologie wird auch detaillierter in Peter Bierls „Grüne Braune“ beschrieben. in diesem Buch wird auch auf Earth First verwiesen, eine mitunter offen menschenfeindliche Gruppierung im Bereich des Antispeziesismus. (33) Laut Aussage von XR entstammen einige der Gründungsmitglieder dem Earth First-Umfeld und Earth First hat in den 80ern tiefenökologisches Denken übernommen. (32) (34) Auch wird in der Tiefenökologie immer wieder ein Fokus auf angebliche Überbevölkerung und Bevölkerungsreduktion gelegt, wobei es sich um einen vor allem im rechten Spektrum populären Ansatz handelt, möglichen ökologischen Problemen zu begegnen. (35)

 
 

6. XR – eine Firmenstruktur

 

Unsere dezentrale Orgastruktur ist das Gegenteil davon. [..]Sowohl XR UK als auch International haben Maßnahmen ergriffen, um die Herausbildung von Führungspersonen zu hemmen. Wir sind und bleiben dezentral.“

XR war nie dezentral. Auch die Entwicklung als Graswurzelbewegung ist ein Märchen. XR ist vielmehr ähnlich einer Firma aufgebaut und wurde entsprechend einer PR-Kampagne aufgezogen. Auf älteren Webseiten wurde in ähnlichem Wortlaut schon vor Jahren der Versuch gemacht, XR ins Leben zu rufen. Logo und Designs sind mit einem Copyright belegt. (36) „In England wurde im Frühjahr „XR Business“ gegründet, eine enge offizielle Kooperation mit rund zwei Dutzend Firmen und Konzernen wie Unilever oder The Body Shop. Die Kooperation bekam das XR-Logo und hatte eine Website. Nach Protesten wurden Website und Logo zurückgezogen. Aber die führenden Leute betonten im gleichen Atemzug, dass sie mit diesen und weiteren Konzernen auch in Zukunft eng zusammenarbeiten wollen. Da geht es auch um die Modernisierung des Kapitalismus: wie macht man die Klimakatastrophe zur Geschäftsgrundlage? „Extinction Rebellion“ soll die dazu passende manipulierbare Bewegung werden, die die öffentliche Meinung gefühlig beeinflusst.“, so formulierte es Jutta Dittfurth. (37)

Alle Ortsgruppen arbeiten unter Rückkopplung auf die „Mutterorganisation“. Ein Starterkit soll neuen Gruppen helfen, sich so zu strukturieren, damit sie sich in das Gesamtkonstrukt der Organisation eingliedern können. Inzwischen gibt es jedoch merkliche Differenzen um die allgemeine Ausrichtung von XR allgemein und zu bestimmten Aktionen.

 

7. Aufbau und Kritikabwehr

 

XR verweist immer wieder darauf, dass die einzelnen Ortsgruppen relativ autonom voneinander sind und unabhängig voneinander arbeiten. Dies ist unseren Recherchen nach tatsächlich so. Zwei Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit verdeutlichen dies. Zum einen hat XR Scotland sich in einem längeren Statement gegen die Copkuschelei gestellt und offen Kritik an bestimmten Praktiken und Verlautbarungen anderer XR-Gruppen geäußert.(38) Zum anderen hat in London eine kleine Gruppe von Aktivist*innen den Berufsverkehr gestört und den U-Bahnverkehr blockiert Dies geschah entgegen des Ergebnisses einer Abstimmung innerhalb von XR und ohne Unterstützung anderer Gruppen. Die Aktion wurde später dann aber halb verteidigt und weitere Aktionen dieser Art als möglich dargestellt. Verantwortung übernehmen wollte aber niemand, man verwies auf die autonome Struktur. (39) Und dieses Muster ist eines, welches sich durch sämtliche Debatten über XR zieht. Immer wieder wird darauf verwiesen, dass man ja selber nicht dafür verantwortlich sei, es eine Gruppe war und man das bloß nicht auf XR verallgemeinern solle.

Dabei handelt es sich unserer Ansicht nach um eine bewusste Diskurstaktik. Es gibt Videos, in denen Roger Hallam darüber referiert, wie man eine soziale Bewegung vor zu viel Kritik von links bewahrt und das Momentum nicht verlangsamt. (40) Dadurch, dass man die Verantwortlichkeit für XR Einzelpersonen und lokalen Gruppen zuschiebt, ohne als Gesamtheit Verantwortung zu übernehmen, versucht man Kritik ins Leere laufen zu lassen. Die Autonomie der einzelnen Gruppen ist aber nur teilweise gegeben. Mit den drei Forderungen und den zehn Regeln hat XR eine Form der abstrakten Herrschaft installiert. Man beruft sich auf diese Regeln, um unerwünschte Meinungen und Personen auf Linie zu bringen oder auszuschließen. Dabei ist das Kernteam von XR strategisch ziemlich klug vorgegangen, da man mit dem Corporate Design und den Regeln einen Blueprint geschaffen hat, der ziemlich inhaltsgleiche Gruppen an unterschiedlichsten Orten entstehen lässt. Insbesondere der Verweis auf absolute Gewaltfreiheit und gewaltfreie Kommunikation ermöglicht es, innerhalb von Gruppen Diskussionen zu unterbinden. Wie uns berichtet wurde, kann auch das Hinterfragen der Regeln zum Ausschluss führen. Bei der Blockadeaktion in Berlin ist das Orgateam herumgelaufen und hat Personen darauf hingewiesen, dass antikapitalistische Parolen nicht erwünscht wären und gegen den Konsens verstießen. Ebenso soll bei der Räumung einer Blockade ein „Wir sind friedlich, was seid ihr?“ unterbunden worden sein, da man dies als Aggression gegen die Polizei werte und es nicht dem Konsens entspricht. Die Verantwortung dafür übernimmt dann wieder niemand persönlich, da man – große Überraschung – die Regeln verschiebt. So schafft man ein sich selbst aufrechterhaltendes und reproduzierendes System der Kritikabwehr, welches XR als Ganzes nicht in Frage stellt und XR seinerseits als Gesamtes kaum Verantwortung für Einzelgruppen und Personen übernimmt, die im Namen von XR agieren.

 

8. Eine politische Wende, die keine ist

 

Wir müssen und wollen keine Rezepte vorlegen. Wir berufen uns auf die Erkenntnisse der Klimawissenschaft und erkennen an, dass bereits sehr diverse Lösungsideen existieren – technologische, wirtschaftliche und politische. […] D.h. wir setzen in der Tat auf eine Wende innerhalb des bestehenden parlamentarischen Systems. Wir fordern eine Ergänzung dieses Systems und auch, die nötigen Änderungen gemeinwohlorientiert umzusetzen. Das Wie bestimmen aber nicht wir, darüber sollen mehr Menschen entscheiden.“

Weder Rezepte vorzulegen, noch etwas zu fordern, unterstreicht einmal mehr die in Punkt 3 genannte Inhaltsleere, die als faschistisches Merkmal klassifiziert, dem blinden Aktivismus zugrunde liegt.

Anstelle von Forderungen sind bei den Veranstaltungen von XR Schilder zu lesen mit Aufschriften wie „Love the Planet“, „Jetzt handeln“, „This is an Emergency“ oder „Sagt die Wahrheit“. (41) (42) Letzterer Slogan ist auch in der XR-Broschüre wiederzufinden. Wahrheit ist ein normativer Begriff, der auch hier erst einmal mit Inhalt gefüllt werden muss. Hinzu kommt, dass eine Portion Skepsis mehr als angebracht wäre, wenn eine Gruppe nur sich selbst einen absoluten Wahrheitsanspruch zugesteht, was automatisch ein Schwarz-Weiß-Denken impliziert.

Die Forderung, falls man dies so nennen möchte, „eine von ExpertInnen beratene BürgerInnenversammlung, die von der Regierung legitimiert ist“, zu installieren, klingt zunächst ganz nett, klingt nach einer weiteren Partizipationsmöglichkeit in der repräsentativen Demokratie, ist aber bei näherer Betrachtung mit einem schalen Beigeschmack zu genießen:

Diese BürgerInnenversammlung wird nämlich eine Art Parallelparlament. Im parlamentarischen System stehen die Institutionen in einem interdependenten Verhältnis zueinander, kontrollieren und legitimieren sich wechselseitig. Das Parlament, hätte es die BürgerInnenversammlung einmal legitimiert, wäre zwangsläufig an deren Entscheidungen gebunden. Die Mitglieder dieser Instanz sollen repräsentativ sein anhand der Parameter Alter, Geschlecht, Bildungsniveau und sozio-kultureller Zugehörigkeit (wäre auch interessant, zu wissen, nach welchen Kriterien diese „sozio-kulturelle Zugehörigkeit erfasst wird und von wem. Vielleicht könnte man dazu noch was schreiben?) nach einem Zufallsprinzip, einem sogenannten „minipopulus“ festgelegt werden. (43)  Wie genau der Entscheidungsprozess für eine Mitgliedschaft in dieser BürgerInnenversammlung aussieht, bleibt offen. Für wie lange diese neuen politischen EntscheidungsträgerInnen bestimmt werden, bleibt ungewiss. Wenn XR mit ihrer Inhaltsleere konfrontiert wird, findet i. d. R. ein Verweis  darauf statt, dass es ja bereits genug Forschungsergebnisse zum Thema gäbe, woraus sich Handlungsoptionen ableiten ließen, nichtsdestotrotz sollten ihrer Auffassung nach keine WissenschaftlerInnen die Grundlage für politische Entscheidungen zum Klima bieten, sondern Laien. Die Kompetenzen und v. a. damit einhergehende Grenzen einer solchen Instanz sind nicht – wie könnte es auch anders sein – von XR nicht näher definiert. Zudem soll die BürgerInnenversammlung ausdrücklich von Laien gebildet werden. Aber wie sollen Menschen ohne die klima-fachlichen Hintergründe zu sinnvollen Entscheidungen über das Wohl des Planeten kommen?

Auf S. 33ff in der Broschüre von Extinction Rebellion unterstellt die Gruppe politischen EntscheidungsträgerInnen potenziell, einen ausgerufenen Klimanotstand per se zu unterlaufen, was neben den BürgerInnenversammlungen auf nationaler Ebene auch EinwohnerInnenversammlungen auf kommunaler Ebene erfordern würde. Auf diese Weise wird der von der Bevölkerung legitimierten Regierung per se ein Handeln wider den Bevölkerungsinteressen unterstellt. 

Nichtsdestotrotz fordern sie die Ausrufung des Klimanotstands, auch wenn dies ohnehin keine rechtsbindende Wirkung entfaltet.

Des Weiteren steht da: „Politiker*innen sind zudem dem Einfluss von Lobbyist*innen ausgesetzt. Dagegen sind Bürger*innenversammlungen ein kritisches Korrektiv. Sie erinnern die Regierungspolitik daran, dass Ordnungen erstarren und das Gemeinwohl aus dem Blick verlieren können, wenn sie nicht immer wieder verflüssigt werden, und zwar durch Veränderungen, die von Bürger*innen eingefordert werden.“ (44) Hier sollen politischen Institutionen und parlamentarische Strukturen ausgehöhlt werden und sich einer BürgerInnenversammlung unterordnen, die niemandem Rechenschaft schuldig ist. Ihre einzige Leitlinie ist, dass sämtliche ihrer Entscheidungen und ihr Handeln mit den Leitlinien von XR konform gehen müssen. Demokratische Prinzipien wie z. B. die Gewaltenteilung und die Verantwortlichkeit der Regierung würden damit außer Kraft gesetzt. 

Auf S. 34  bestätigt XR dies dann mit den Worten: „XR steht für die Erkenntnis, dass eine neue Klimapolitik nicht ohne neue politische Beteiligungsstrukturen möglich sein wird.“ Dass die Systemfrage nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch gestellt werden kann, steht aus linksradikaler Sicht außer Frage, doch bestimmt nicht durch die Ergänzung einer zusätzlichen Instanz, die nur XR untersteht, in ihrer Struktur und Wirkmacht nicht richtig durchdacht ist und sich jeglicher Wahl und Kontrolle entziehen kann.

 
 

9. Zusanmenfassung

 

XR hat das Potenzial, eine Massenbewegung zu werden, aber sie bleibt in ihren Zielen unkonkret und damit redundant gegenüber anderen Organisationen.
XR hat rechte Tendenzen bzw. ist zumindest rechtsoffen.
XR positioniert sich nicht ausreichend gegen Sexismus und Rassismus in konkreten Situationen.
XR schürt Ängste, emotionalisiert und verweigert bewusst einen rationalen Diskurs.
XR ist eine esoterische Organisation und wird das bleiben.
XR wurde von Beginn einer PR-Kampagne mit firmenähnlicher Struktur konzipiert und ist keine Graswurzelbewegung.
XR ist von Beginn an auf Kritikabwehr hin ausgelegt worden.
XR stellt unzureichende Forderungen und will keine Verantwortung übernehmen

Weitere Punkte wie z. B. der fahrlässige Umgang mit den Daten der AktivistInnen, die Anbiederung an die Polizei, die Entsolidarisierung von anderen KlimaaktivistInnen, die im ersten Text schon thematisiert wurden, kommen hinzu.

XR kann die Klimabewegung spalten, denn anstatt den Kapitalismus abzuschaffen, wird die Gruppe in ihn eingebettet.

 

 
[Sophie Rot; Laura Stern]
 
 
Quellen:
    
Hinweis: In der uns vorliegenden PDF des XR-Handbuchs sind die Seitenzahlen nicht immer korrekt formatiert, weshalb auch das Kapitel mitangegeben ist.
 
    (3)  This Is Not A Drill: An Extinction Rebellion Handbook Kapitel 1 S. 23 
    (4)  ebd. Kapitel 11 S. 81
    (7)  Sternhell, Zeev (2019): Faschistische Ideologie. Eine Einführung; Verbrecher Verlag
    (9)  This Is Not A Drill: An Extinction Rebellion Handbook Kapitel 10 S. 72
    (10)  ebd. Kapitel 11 S. 75
    (11) ebd. Kapitel 11 S. 77
    (12) Bierl, Peter (2014): Grüne Braune Umwelt-, Tier- und Heimatschutz von Rechts; Unrast Verlag
    (13) Mira Landwehr: Vier Beine gut, zwei Beine schlecht Zum Zusammenhang von Tierliebe und Menschenhass in der veganen Tierrechtsbewegung, konkret texte 77 (2019)
    (17) ebd.
    (20) ebd. S 45
    (21) Fischer, Louis (1950): The life of Mahatma Gandhi; Harper Collins Paperbacks; S. 348 (übersetzt) 
    (22) Wolpert, Stanley (2002): Gandhi’s Passion: The Life and Legacy of Mahatma Gandhi; Oxford University Press, S. 197 (übersetzt)
    (23) This Is Not A Drill: An Extinction Rebellion Handbook; Kapitel 9 S. 68
    (26) ebd.
    (27) This Is Not A Drill: An Extinction Rebellion Handbook; Kapitel 13 S.98
    (30) Münkler, Herfried: Kriegssplitter, Kapitel 1, Abschnitt 7: Heroische und postheroische Gesellschaften
    (32) Bierl, Peter (2014): Grüne Braune Umwelt-, Tier- und Heimatschutz von Rechts; Unrast Verlag; S. 67ff
    (35) Bierl, Peter (2014): Grüne Braune Umwelt-, Tier- und Heimatschutz von Rechts; Unrast Verlag; S. 30ff
    (44) ebd.
]]>
Extinction Rebellion – mehr Show als Rebellion? https://rambazamba.blackblogs.org/2019/10/06/extinction-rebellion-mehr-show-als-rebellion/ https://rambazamba.blackblogs.org/2019/10/06/extinction-rebellion-mehr-show-als-rebellion/#comments Sun, 06 Oct 2019 14:57:02 +0000 http://rambazamba.blackblogs.org/?p=743 Continue reading Extinction Rebellion – mehr Show als Rebellion? ]]> Seit Neuestem ist die Bewegung Extinction Rebellion („Rebellion gegen das Aussterben“) in aller Munde. Ursprünglich in Großbritannien gegründet, gibt es inzwischen auf der ganzen Welt dezentrale Ortsgruppen, über 50 allein in Deutschland. Sie führen friedliche Massenaktionen durch, bei denen sie ihre Identität nicht verschleiern.
Beliebte Methode ist dabei das massenhafte Besetzen von Verkehrsknotenpunkten. Auch andere Aktionen wie Die-Ins werden durchgeführt. Die Aktionen sind dabei überwiegend symbolisch zu verstehen. Das Ziel ist es nicht auf Dauer den Verkehr lahmzulegen, sondern durch ihre Blockaden o.ä. soll vor allem mediale Aufmerksamkeit geschaffen werden. Erklärtes Ziel es, damit die EntscheidungsträgerInnen aus Politik und Wirtschaft auf das Problem der Klimakrise aufmerksam zu machen.

Die Gruppe hat 3 Kernforderungen:
1. Ausrufen des Klimanotstands durch die Regierung,
2. Auffordern der Regierung zum Handeln und dem Erreichen eines Treibhausgas-Nettonulls im Jahr 2025
3. Einberufen einer BürgerInnenversammlung durch die Regierung.

Was will XR erreichen?

Tiefer in ihren Forderungen geht XR dabei jedoch aus Prinzip nicht, da „es […] seit Jahrzehnten genügend Lösungen und Ansätze [gibt], wie den allgegenwärtigen Krisen begegnet werden kann“. *1 Auf der deutschen Webseite stehen magere fünf Zeilen zu jedem der drei o.g. Punkte. Auffällig ist dabei, dass alle drei Forderungen einen Appell an die Regierungen darstellen. Eigene Lösungen präsentieren sie dabei nicht, sondern vertrauen darauf, dass der Klimawandel durch staatliche Maßnahmen innerhalb des bestehenden Systems schon noch aufgefangen, kontrolliert und vermindert werden könnte. Aber im bestehenden System wird es keine grundlegenden und v. a. spürbaren Veränderungen geben. Daran hat die Politik nur sehr wenig Interesse, seit Jahrzehnten hat keine parlamentarische Partei radikale Maßnahmen durchgeführt. Wie dieser Betrieb bis 2025 dann eine Nettonullemission hinbekommen soll, steht in den Sternen.

Auch die Forderungen selbst sind inhaltsleer. Das Ausrufen eines Klimanotstands ist rein symbolisch. Rechtsbindende Pflichten erwachsen daraus nicht. Was genau getan werden soll, um die Treibhausgas-Emissionen auf null zu setzen, wird nicht erläutert. *2 Reichen staatliche Maßnahmen wie eine CO²-Steuer aus dem sogenannten Klimapaket aus? Wie genau soll eine „Bürger:innenversammlung“, die aus „zufällig ausgewählten Personen“*1 besteht, dabei helfen? Wie sollen Laien über notwendige Maßnahmen entscheiden, um zur Rettung des Planeten beizutragen, wenn nicht einmal XR selber ein tiefergehendes Verständnis für wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Mechanismen erkennen lässt?
Mit solchen unausgegorenen Ideen wird man keinen radikalen Politikwechsel erzwingen können – der zweifelsfrei notwendig ist. Man wüsste ja auch selbst nicht, was genau man machen müsste, würden die Regierungen auf XR hören. Schuldzuweisungen sind bei ihnen verpönt. *3 Stattdessen wird dem „toxischen System“ als Strohmann die Verantwortung für die Klimakrise gegeben. Analyse sieht anders aus.

Die Inhaltsleere ist gewollt

XR bleibt schwammig. Von (linksradikaler) Theorie hört man bei XR-Veranstaltungen gar nichts. Dass der Staat vor allem ein Interesse am Aufrechterhalten des Status Quo hat, wird geflissentlich übersehen. Die Schwammigkeit der eigenen Forderungen wird zum Dogma erhoben. Denn durch diese schwammigen Forderungen will man die größtmögliche Anschlussfähigkeit erreichen.
Doch diese Anschlussfähigkeit birgt auch Gefahren. Durch diese Offenheit können beispielsweise Querfront-Spinnereien die Tür geöffnet werden. Die Ocuppy-Bewegungen, die auch bewusst keine konkrete Forderungen aufgestellt hat, wurde in Amerika z.B. von einer Nazi-Party unterwandert, die antikapitalistische Forderungen antisemitisch umdeutete. *4 Ein fehlender, konkret formulierter Abgrenzungskonsens ist grundsätzlich anfällig und die Erfahrung zeigt, dass dieses Fehlen in konkreten Situationen den Ausschluss von rechten Gruppen und Personen be- und verhindert hat.
Dies droht auch XR. Man lädt Interessierte ein bzw. nimmt den Anschluss dieser billigend in Kauf, die mit linken Lösungsansätzen nichts anfangen können. Auch Rechte sind im Umweltschutz aktiv, deuten es aber entsprechend ihrer Agenda um. Roger Hallam, einer der Köpfe XR‘s in Großbritannien, möchte „niemanden ausschließen, der nur ein bisschen rassistisch oder sexistisch denkt“. *5 Dies öffnet natürlich die Türen nur weiter für eine Querfront.
Bislang hat sich eine solche zwar noch nicht herausgebildet, für die Zukunft kann es jedoch auch nicht ausgeschlossen werden, gerade weil Extinction Rebellion bewusst nicht als linksradikal eingeordnet werden will, in die der Umweltaktivismus an sich erst einmal automatisch gestellt wird. Sie wollen paradoxerweise ideologiefrei sein. *6 Dies bietet Rechtsradikalen die Möglichkeit, auch diese Bewegung zu unterwandern.

Die DogmatikerInnen wollen undogmatisch sein

Eines der Grundprinzipien von XR ist absolute Gewaltfreiheit. Damit sollen möglichst viele Menschen angesprochen werden. *7 Gewalt wird kategorisch ausgeschlossen. Auf den ersten Blick geht diese Taktik sogar auf. So sagte Laurence Taylor, stellvertretender Chef der Londoner Polizei, dass es ihm fast lieber wäre, die Aktivistis seien gewalttätig, dann könne man auch entsprechend „angemessen“ ihnen gegenüber reagieren. *8
Im Härtefalle ist dies der Polizei aber gleichgültig, wenn sie gewalttätig werden soll/muss. Wird die Bewegung als Gefahr wahrgenommen, hat der Staat im Zweifel keine Skrupel, z.B. Blockaden brutal räumen zu lassen. Statements von XR zeigen erstaunliche Naivität und nur eingeschränkte Solidarität mit jenen, die von solcher staatlichen Gewalt betroffen sind.
Als bei der Räumung einer Blockade in Hamburg die Polizei brutal mit Schmerzgriffen gegen AktivistInnen von #sitzenbleiben vorging, *9 hatte XR Hamburg nichts Besseres zu tun, als von diesen die sich selbst auferlegte Gewaltfreiheit einzufordern und sie für ihre Gewalt (in Form von Beleidigungen gegen die Polizei) zu kritisieren. *10 Aber für die wohlstandsverwahrlosten Elendsgestalten von Extinction Rebellion ist die Polizistin ja auch nur ein Mensch. Auch andere große XR-Gruppen wie Berlin oder Lübeck sind dogmatisch in ihrer Ablehnung der Gewalt. Damit allein sind sie schon unsolidarisch gegenüber Menschen, die für ihren Aktivismus Repressionen ausgesetzt sind.

So naiv, dass es weh tut

Diese Naivität zieht sich durch sämtlichen Aktivismus von XR. Gerade Empfehlungen im Umgang mit der Polizei scheinen dabei jeder Realitätsgrundlage zu entbehren. Selbst bei gewalttätigen Übergriffen durch Polizei solle man sich „nicht provozieren lassen“. *11 Auch solle man andere Teilnehmende, selbst bei Polizeiübergriffen, an den Anti-Gewalt Konsens erinnern. *12
Diese Haltung führt auch die Aussage der XR-Ortsgruppe Berlin (im Nachgang zu dem Polizeiübergriff gegenüber #sitzenbleiben in Hamburg), die von vielen XR-Ortsgruppen geteilt wurde, dass jegliche Taktik im Kampf gegen die Klimakrise willkommen sei *13, ad absurdum. Solidarität muss praktisch sein. Andernfalls ist sie nur ein Lippenbekenntnis.

Wie soll eine Gruppe wie XR, die Gewalt kategorisch ablehnt, das nächste Mal solidarisch sein können, wenn andere AktivistInnen mittels Schmerzgriffe abgeführt werden? Sie sitzen da und wollen mit den Cops nett plaudern. Dabei ist nicht gesagt, dass nicht sie beim nächsten Mal selbst bei völliger Passivität und propagierter Gewaltfreiheit der Schlagstock der Bullen trifft. Was für eine Vorstellung XR von der Arbeitsweise der Polizei hat, zeigen solche Statements: „Während der Vernehmung kannst du zum Beispiel immer mit Fakten über die Klimakrise antworten, ein Lied singen oder Gegenfragen stellen“. *14 Oder auch: „Es ist kein Problem, mit Polizist*innen über die Klimakrise zu sprechen, oder sie auf ihre Verantwortung anzusprechen“. *12 PolizeibeamtInnen haben in der Regel aber gar kein Interesse daran, groß zu diskutieren oder zu hinterfragen. (Eine ausführliche Kritik zur Polizei im Allgemeinen findet sich hier: https://rambazamba.blackblogs.org/…/acab-oder-etwa-doch-ni…/.)

Auch die Maßnahme, sich nicht zu vermummen, passt zu der staatsgläubigen Taktik. Während militante AktivistInnen dadurch einer Strafverfolgung entgehen, vertraut XR darauf, dass der Staat schon kein Interesse daran haben wird die Identität bei ihren Aktionen beteiligten Personen zu ermitteln. Dabei zeigt die Vergangenheit das Gegenteil. Leuten, die aufgrund ihrer Gesinnung dem Staat ein Dorn im Auge sind, brummt der Staat gerne ein Verfahren auf. Ein Grund dafür lässt sich, selbst bei völliger Gewaltlosigkeit, schon finden. Dabei warnt XR selbst vor genau solchen Fällen, in denen die Polizei nicht rechtskonform handelt. *12 Dies zeigt nur noch eindringlicher die Naivität und Widersprüchlichkeit, die gerade junge Menschen mit geringer aktivistischer Erfahrung in unvorhergesehene Schwierigkeiten bringen könnte.

Verhaftungen als Taktik der Rebellion

In der Vergangenheit haben sich Aktivistis in Großbritannien bewusst verhaften lassen, um das System zu überlasten. *8 Eine ähnliche Taktik fährt zum Beispiel auch Ende Gelände. Zwar bemüht sich XR in seiner Rechtshilfebroschüre einige Fragen für Neulinge zu beantworten, bleibt aber auch dort schwammig und naiv. So wird davon ausgegangen, dass grundsätzlich nur niedrigschwellige Strafen mittels Strafbefehl verhängt werden. *15 Man solle sich auch gut überlegen, ob man einen Strafbefehl anfechte, da ein Gerichtsverfahren grundsätzlich teuer sei.

Zudem würde ein solcher Verzicht aufs Gerichtsverfahren einer der grundlegenden Taktiken von XR widersprechen. Sie wollen ja eine möglichst breite Öffentlichkeit über die Gerichtssäle und die entsprechende Medienaufmerksamkeit erreichen und so ihr Anliegen vortragen. Wenn man aber nicht gegen den Strafbefehl vorgehe, kommt die Botschaft erst gar nicht vor Gericht.

Ihr seid nicht radikal

XR vertraut darauf, dass durch ihre Aktionen automatisch ein Umdenken bei Politik und Co einsetzt. Dabei sind sie nicht die ersten, die auf diese Problematiken hinweisen. In Deutschland nehmen beispielsweise „Ende Gelände“ und die Bewegung rund um den Hambacher Wald eine besondere Rolle bei den neueren Klimabewegungen ein. Aber auch die Vorläufer wie die Anti-Atom-Bewegung (Gorleben, Wackersorf, Kalkar) haben dazu geführt, dass das Thema Umweltschutz in Deutschland überhaupt so stark wahrgenommen wird. Diese haben dank jahrelanger Mühe tatsächliche Veränderungen bewirkt, auch wegen ihres radikalen Eigenanspruchs.

„Hambi bleibt“ und Ende Gelände unterscheiden sich vor allem durch ihren antikapitalistischen Anspruch von XR. XR hingegen stellt die Systemfrage nicht. Antikapitalistische Parolen wurden so beispielsweise in Stuttgart vom XR-Orga-Team entfernt, da „nicht alle kapitalismuskritisch seien“. *16 Dies ist kein Einzelfall. Solidarität mit anderen wie den Personen aus dem Hambi wird verweigert, da man sich nicht der gleichen Methoden bedient. *17

Dazu passt auch, dass XR sich selbst von kapitalistischen Großspendern Geld geben lässt. *18 In ihren Augen ist es kein Widerspruch, wenn Geld, das aus Ölgeschäften stammt, jetzt dazu verwendet werden soll, den Planeten zu retten. Da ist es auch keine Lösung, den einzelnen Ortsgruppen zu überlassen, ob sie Gelder annehmen. Die gesamte Organisation macht sich unglaubwürdig, wenn Ortsgruppen wie die in Berlin 75.000 € für ein Protestcamp aus diesem Spendentopf annehmen.

Alles Hallam

Die Rhetorik der Gruppe erinnert oft an apokalyptische Prophezeiungen. *6 Klar ist: Der Klimawandel ist eines der drängendsten Probleme unserer Zeit. Nichtsdestotrotz ist es sinnlos, Panik zu verbreiten. Andere Gruppen kommen auch ohne solche düsteren Visionen aus. Für die Agitation macht es ja sogar eventuell noch Sinn, solch eine Rhetorik zu verwenden, um möglichst viele Personen anzusprechen. Wenn man jedoch damit esoterische SpinnerInnen anzieht, verwässert es den Grundgedanken der Bewegung.

Auch der Personenkult rund um Roger Hallam ist sehr ausgeprägt. Er ist Bio-Landwirt und Doktorand der Soziologie. *7 Seine Worte gelten in der Bewegung. Er verfasste, zusammen mit einigen anderen, die „Bibel“ der Gruppe. *6 Er taucht regelmäßig in den Medien auf und veröffentlicht öfter Videos im Youtube-Channel von XR. Ironisch ist dabei, dass er zwar viel in seinen Videos erzählt, verbindliche Aussagen, wie die Klimaziele erreicht werden sollen, findet man aber auch dort nicht.

Für Gruppen, die den (menschengemachten) Klimawandel leugnen, ist die vordergründige – und sei es nur behauptete – Ähnlichkeit zu Sekten natürlich ein gefundenes Fressen. Dabei ist Extinction Rebellion mitnichten eine Sekte. Dieses Image ist Gift für die Klimabewegung. Zwar ist es verständlich, mit drastischen Worten auf diese Problematik aufmerksam zu wollen, letztlich erweist man sich selbst aber nur einen Bärendienst. Immerhin wollen sie möglichst alle Menschen erreichen, *7 schrecken durch dieses Image aber potenzielle Mitglieder ab.

Bloß keine Verantwortung übernehmen

XR will massenhaft Personen mobilisieren und Druck ausüben, um politische Veränderungen zu erreichen. Mit anderen Worten: XR will ein politischer Einflussfaktor werden. Im Idealfall schafft es diese Bewegung auch. Nur was dann? XR will keine Verantwortung für das eigene Wirkungspotential übernehmen. Das einzige Mittel, welches XR hat, sind ihre Aktionen. Aber ab welchem Punkt sieht man einen Wandel als ausreichend an, wie werden Maßnahmen bewertet und eigeordnet? Und vor allem: Was will XR tun, wenn die Politik nicht das tut, was man will?

Bis 2025 wird es keine Nettonullemissionen geben, so viel steht fest. Einen Beitrag hin zu diesem Ziel könnte XR selber liefern, indem sie konkrete Forderungen aufstellt und als Verhandlungspartnerin auftritt. So nutzt man nämlich politische Macht aus. Man organisiert ein möglichst wirkmächtiges Personenpotential und zwingt dadurch EntscheidungsträgerInnen zu Zugeständnissen. Je größer das Potential, umso größer die Zugeständnisse.

Wie dies mit nicht-staatlichen Organisationen funktioniert, kann man sich in der Geschichte der Gewerkschaften anschauen. Diese haben in den letzten 150 Jahren mit konkreten Forderungen und organisierter Mobilisierung Zugeständnisse erkämpft. Gegen den Willen von Wirtschaft und Politik. Wenn auch mal besser und schlechter, haben die Gewerkschaften insgesamt ihre politische Verantwortung wahrgenommen und sich aktiv um die Durchsetzung ihrer Interessen bemüht und dabei eben nicht darauf vertraut, dass andere diese Interessen für sie umsetzen.

XR – Nein Danke!

Extinction Rebellion hat ein riesiges Mobilisierungspotenzial. Aber dies alleine wird keine Veränderung herbeiführen. Dahinter muss ein entsprechendes Konzept stehen. Dies ist jedoch nicht erkennbar. Konkrete Lösungsansätze gibt es nicht. Staat und Wirtschaft haben den Karren in den Dreck gesetzt. Dennoch wird in grenzenloser Naivität darauf vertraut, dass der Staat den Karren auch wieder raus dem Dreck zieht. Ein bürgerliches Verständnis von Aktivismus wird hier deutlich.

Man kann natürlich einwenden, dass ein Großteil der Gruppe jung und unerfahren ist. Dies ist durchaus richtig. Die Köpfe dahinter sind dies aber nicht. Sie bringen junge Menschen bewusst in Gefahr, mit einer unzureichenden Vorstellung davon, was ihnen passieren kann. Bislang mag alles noch gut gegangen sein. Der Staat ist aber im Zweifelsfall auch nicht zimperlich darin, Blockaden von hauptsächlich jungen Menschen brutal zusammenknüppeln zu lassen.

Aktuell ist dies für uns keine Bewegung, mit der man zusammenarbeiten könnte. Zu wenig Theorie, zu viel Abgrenzung von den bösen Linksradikalen (gerade in Bezug auf die Militanzfrage), die Schwammigkeit ihrer eigenen Forderungen, die Offenheit für rassistische und sexistische Personen, die Anbiederung an kapitalistische Großspenden, etc. All dies stellt unter Beweis, dass es XR monothematisch bedingt einen Tunnelblick fährt und mit dem Klimawandel unweigerlich verbundene Fragen wie die der Wirtschaftsweise oder der Nationalstaaten ignoriert, während man sich von reaktionären Positionen jenseits der Klimafrage nicht entschieden abgrenzt.

Aber die Klimaproblematik lässt sich nicht ohne die Systemfrage stellen. Extinction Rebellion verharrt im gemachten Nest. Anstatt radikal alles zu hinterfragen, was uns erst so tief in die Krise gestürzt hat, wird es bewusst vermieden, konkrete Analysen anzustellen und Probleme klar zu benennen. So richtet man sich in einem Wohlfühlaktivismus ein, der vor allem darauf beruht, spektakuläre Bilder zu erzielen, aber keinen nachhaltigen Effekt hat.

Man darf sich dann auch keine Illusionen darüber machen, was man damit erreichen wird. Im besten Fall liefert man den Medien eine Weile spektakuläre Bilder, bevor das Interesse mangels Inhalte verflacht. Im schlimmsten Fall geht die Polizei mit Tränengas und Wasserwerfern gegen Jugendliche vor, die nicht wissen, was mit ihnen geschieht. In beiden Fällen hat man nichts gewonnen. Die Klimakrise nimmt weiter ihren Lauf. Nur radikale Maßnahmen können da noch entgegensteuern. Diese lehnt Extinction Rebellion aber ab. Wir unterstützen lieber radikale Lösungen, um noch einer Katastrophe zu entgehen.

*1 https://extinctionrebellion.de/wer-wir-…/unsere-forderungen/
*2 https://www.landtag.nrw.de/…/MMD17-6763.pdf;jsessionid=29C6…
*3 https://extinctionrebellion.de/wer-wi…/prinzipien-und-werte/
*4 https://www.derstandard.at/…/occupy-wall-street-die-antisem…
*5 https://www.belltower.news/kommentar-zu-extinction-rebelli…/
*6 https://www.spiegel.de/…/extinction-rebellion-was-die-neuen…
*7 https://www.jetzt.de/…/extinction-rebellion-massenprotest-g…
*8 https://www.klimareporter.de/…/prozesswelle-gegen-extinctio…
*9 https://www.fr.de/…/klimastreik-demo-hamburg-voellig-unnoet…
*10 https://www.facebook.com/story.php?story_fbid=2485155611530253&id=933332503379246
*11 XR Deutschland: Rechtshilfebroschüre, S. 27
*12 XR Deutschland: Rechtshilfebroschüre, S. 7-8
*13 https://twitter.com/XRBerlin/status/1175808508874375168?s=19
*14 * XR Deutschland: Rechtshilfebroschüre, S. 31
*15 XR Deutschland: Rechtshilfebroschüre, S. 36
*16 https://twitter.com/t2a_crew/status/1175523480810528770?s=19
*17 https://hambacherforst.org/…/an-open-answer-to-extinction-…/
*18 https://taz.de/Geld-fuer-Klima-AktivistInnen/!5616000/

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https://rambazamba.blackblogs.org/2019/10/06/extinction-rebellion-mehr-show-als-rebellion/feed/ 1
Die Sache mit der Identitätspolitik https://rambazamba.blackblogs.org/2019/03/26/die-sache-mit-der-identitaetspolitik/ Tue, 26 Mar 2019 19:49:19 +0000 http://rambazamba.blackblogs.org/?p=711 Continue reading Die Sache mit der Identitätspolitik ]]> Im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte hat sich auch im deutschsprachigen Raum zusehends der Einfluss sogenannten Identitätspolitik bemerkbar gemacht. Insbesondere in den letzten zehn Jahren hat der zur Identitätspolitik zählende intersektionelle Ansatz, auch gerne in Form des intersektionellen Queerfeminismus, in der (radikalen) Linken an Popularität gewonnen. In der Zeit ist jetzt ein Artikel erschienen, der eine Kritik der Identitätspolitik von links vornimmt. Der Artikel ist empfehlenswert, bedarf aber einiger zum Teil kritischer Ergängzungen. Für eine ausführlichere Kritik an Identitätspolitik sei zudem dieses Essay von Nancy Fraser empfohlen: https://newleftreview.org/…/nancy-fraser-rethinking-recogni…

Identitätspolitik kommt nicht einfach so aus dem Nichts und die Gründe für ihr Entstehen Erzwingen ihr Entstehen förmlich. Die Geschichte der Bewegungslinken und der antikapitalisitischen Bewegung ist stark von weißen Männern geprägt gewesen. Dies ist nicht überraschend, waren diese doch damals noch viel stärker als heute sozioökonomisch bevorteilt und hatten einfacheren Zugang zu Bildung und Politik. Personen wie Emma Goldman, Rosa Luxemburg oder Clara Zetkin waren die Ausnahme, auch wenn in der Linken bedeutend mehr Frauen aktiv und einflussreich waren als in anderen politischen Strömungen. (Ausnahme hier erstaunlicherweise die rechtsradikale DNVP, die Hitler zur Kanzlerschaft verhalf und einen überraschend hohen Anteil an weiblichen Mitgliedern hatte.)

Die Arbeiter*innenbewegung hat sich auch schon immer als antirassistisch verstanden, Marx und Engels selber formulierten einen proletarischen Universalismus, den sie mit dem Satz „Der Proletarier hat kein Vaterland.“ für alle Ewigkeit in das Stammbuch linker Bewegungen schrieben. Dennoch ist auch die linke Geschichte durch einen starken Eurozentrismus geprägt, teils durch das Fehlen von heute selbstverständlichen Kommunikationsmitteln und im Vergleich sehr viel weniger Migration zu erklären. Mit dem Aufkommen der Bürger*innenrechtsbewegung in den USA in den 50ern und 60ern mit Personen wie Martin Luther King, dem Ende des unmittelbaren Kolonialismus und der Second Wave des Feminismus in den 60ern und 70ern wurde die Dominanz weißer Männer entschieden in Frage gestellt. Frauen wollten nicht mehr auf die Weltrevolution warten, bei der mit dem Fall des Kapitalismus auch das Patriarchat fallen würde. Man wollte nicht mehr nur Nebenwidersrpruch sein und forderte mehr Teilhabe im Hier und Jetzt. Es gibt auch innerhalb der Arbeiter*innenbewegung einige dokumentierte Frauenstreiks, welche unterschiedliche Erfolgsgrade vorzuweisen hatten.

Es gibt viele Schilderungen von PoCs und Frauen, die in Diskussionen untergebuttert wurden oder schlichtweg übergangen, weil es einzig und allein um das Ende des Kapitalismus ging. Mit diesem Ende wären dann auch alle anderen Diskriminierungsformen passe und deshalb muss man jetzt nicht auf solche Kleinigkeiten Rücksicht nehmen oder gar die eigenen Verhaltensweisen hinterfragen. Wenn die Interessen Gruppen, welche nachweislich ökonomisch und sozial benachteiligt sind, konstant ignoriert werden, muss zwangsläufig eine eigenständige Interessensbekundung erfolgen. Diese wurde und wird nicht immer begrüßt, bis heute kann man Aussagen vernehmen, nach denen man das Proletariat nicht mit feministischen Forderungen spalten dürfe. Für entsprechendes Verhalten wurde im Englischen das Wort Brocialist geschaffen. Ab den 70ern ist das Wort Identitätspolitik gebräuchlich und bestimmte Kämpfe wie der Feminismus, der Antirassismus oder auch die LGBT-Interessen haben sich größtenteils unabhängig von der radikalen Linken organisiert – und damit eben auch oftmals mit einem Unverständnis für den Kapitalismus und dessen Einflüsse auf die jeweiligen Unterdrückungsmechanismen.

Wer sich antirassistisch engagiert oder feministischen Aktivismus betreibt muss noch lange kein Ende des Kapitalismus wollen. So gab es schon seit spätestens dem Ende des 19. Jahrhunderts zwei verschiedene feministische Strömungen: den bürgerlichen Feminismus und den sozialistischen/anarchistischen. Der erste zielte auf eine rechtliche Gleichstellung und die Möglichkeit frei zu arbeiten ab, der zweite wollte über die bürgerliche Gesellschaft hinaus, das Geschlechterverhältnis allgemein stürzen und die Lohnarbeit überwinden. Der eine Feminismus stützt die bürgerliche Gesellschaft, der andere steht in Gegnerschaft zu ihr. Der Fehler, der im Laufe der Jahrzehnte auf linker Seite gemacht und in unterschiedlichen Härtegraden gemacht wurde, ist, dass die Interessen jenseits der proletarischen Revolution vernachlässigt hat und somit die bürgerlichen Auslegungen die Oberhand gewonnen haben. An der Wichtigkeit der jeweiligen Kämpfe ändert das aber freilich gar nichts. Ein Aktivismus, welcher sich ausschließlich dem Antikapitalismus als Arbeitskampf verschrieben hat, grenzt automatisch viele Gruppen aus und wird vorhandene Diskriminierungen reproduzieren.

Problematisch wird die ganze Angelegenheit dann, wenn über all die Partikularinteressen, welche sich dann noch weiter auffächern und aufsplitten lassen, die Fähigkeit zur Analyse gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse verloren geht und man im schlimmsten Fall ein atomistisches Weltbild bekommt. Was ist damit gemeint? Ende der 80er wurde das Konzept der Intersektionalität entwickelt. Intersection ist das englische Wort für Kreuzung. Die Grundzüge sind einfach zu verstehen. Nehmen wir vier Eigenschaften: männlich, weiblich, weiß, farbig. Welche Personengruppe wird hier statistisch betrachtet die meisten sozioökonomischen Vorteile haben? Männliche Weiße. Und welche die meisten Nachteile? Farbige Frauen. Baut man das Konzept der zusammen wirkenden Diskriminierungseigenschaften konsequent aus, fächert die Diskriminierungen immer weiter auf und denkt das alles bis zum Ende durch, erhält man lauter individuelle Diskriminierungserfahrungen, welche schwer bis gar nicht in Relation zu setzen sind. Und verliert die Möglichkeit für Theorien und Analysen auf der Makroebene. Alles besteht im schlimmsten Fall nur noch aus Einzelerfahrungen. Und da ist kein Platz für Antikapitalismus oder universalistischen Feminismus, da diese Makrokategorien nicht mehr existieren.

Wenn solche Theorieansätze aus einer nicht linksradikalen Schule dann in linksradikale Zusammenhängen kommen und keine linksradikale Anpassung erfahren, haben wir bürgerliche, systemstützende Ansätze, welche von Linksradikalen vertreten werden. Dabei geht es unweigerlich um eine Abwägungsfrage. Um diese kommt niemand herum, egal wie sehr man Kämpfe miteinander verbinden will und egal wie gesamtheitlich intersektional man zu denken meint. Je kleinteiliger man analysiert und argumentiert, desto weniger ist ein gesamtgesellschaftlicher Ansatz möglich. Es stellt sich die Frage, ob man eine Anerkennung und/oder Gleichstellung wirtschaftlicher und/oder sozialer Art in dem bestehenden System verwirklichen möchte – oder überhaupt kann – ober ob man das gesamte überwinden will – und dabei dann diverse Probleme zu beheben versucht.

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Social Media hat die radikale Linke ruiniert! https://rambazamba.blackblogs.org/2019/02/25/social-media-hat-die-radikale-linke-ruiniert/ Mon, 25 Feb 2019 12:48:02 +0000 http://rambazamba.blackblogs.org/?p=701 Continue reading Social Media hat die radikale Linke ruiniert! ]]>

Seit fast 15 Jahren bewege ich mich in der radikalen Linken. Mal mehr, mal weniger. Auch mit ein paar Unterbrechungen. Seit 2015 bin ich wieder stärker dabei nach einer etwas längeren Pause. Was sich wohl am stärksten verändert hat ist der Einfluss des Internets. Vor allem die sozialen Medien haben die linksradikale Szene verändert.

 

Früher traf man sich noch im Plenum. Natürlich wurde auch mal kontrovers diskutiert und man ging sich verbal gegenseitig an. Aber am Ende des Tages hatte man dann doch das gemeinsame Ziel im Auge. Egal ob das jetzt gemeinsam gegen Nazis zu demonstrieren, Veranstaltungen/Lesungen organisieren, sich an Plena beteiligen oder auch mal was Handfestes.

 

Ich will gar nicht über die gute alte Zeit jammern. Es war auch verdammt anstrengend alles ohne so einfache Kommunikationsmöglichkeiten wie heute zu organisieren. Heutzutage kann man innerhalb von Sekunden über die richtigen Kanäle Tausende von Leuten mobilisieren, informieren, diskutieren und ähnliches. Das ist echt ein Vorteil gegenüber früher.

 

Was heutzutage stark auffällt ist, dass sich große Teile der radikalen Linken nur noch in ihrem Spannungsfeld des Internet-Aktivismus bewegen. Viele kennen sogar Aktivismus gar nicht mehr groß außerhalb des Internets. Es wird nicht mehr als Werkzeug des Aktivismus verstanden, sondern als Selbstzweck. Ewige Diskussionen in FB-Gruppen, Rumhängen in der eigenen Bubble als Circle-Jerk-Selbstzweck, etc. Das ist nicht das, was Social Media mal für den Aktivismus interessant gemacht hat. Kritik an anderen zu üben ist richtig und wichtig. Inzwischen wird aber sich in vielen Teilen nur noch an Empörung und gegenseitigem Hochschaukeln sowie Bestärkung der eigenen Bubble geübt. Eine substanzielle Kritik wird entbehrlich.

 

Es ist häufig das Phänomen anzutreffen, dass bei KonsumentInnen „leichtverdauliche“ Dinge deutlich besser ankommen als thematisch komplexere Dinge. Memes sind schnell gebastelt, bekommen aber deutlich mehr Resonanz als Texte, an denen man deutlich länger sitzt. Es geht nicht darum nicht auch mal ein wenig Abwechslung genießen zu dürfen. Es ist eher ein Symptom dessen was mit den sozialen Netzwerken falsch läuft. Die Verteilung der Resonanz dürfte nicht dauerhaft so sein. Sie müsste andersherum sein.

 

Natürlich sind auch wir nicht von der Kritik auszunehmen. Wir evaluieren uns auch immer wieder selbst. In der Vergangenheit haben auch wir uns immer wieder in unnötigen Diskussionen verstrickt, sind zum Selbstzweck verkommen, haben nicht die Reichweite für Dinge wie Mobi genutzt, etc. Das wollen wir auch besser machen.

 

Vielleicht ist es an der Zeit, dass man sich einfach mal hinterfragt. Soziale Netzwerke haben uns als radikale Linke verändert, nicht immer zum Besten. Aber noch ist die radikale Linke nicht vollständig durch die sozialen Medien ruiniert. Es ist an der Zeit sich auf die Stärken dieses Mediums zu besinnen anstatt es als Werkzeug der Spaltung zu nutzen. Weniger FB-Gruppen, weniger Twitter-Bubble, weniger Drumherum. Mehr Nazis boxen, soziale Netzwerke mehr als Werkzeug nutzen, mehr befreite Gesellschaft. 
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