revolution 1905 – Soziale Befreiung https://sbefreiung.blackblogs.org Für die revolutionäre Selbstaufhebung des Proletariats! Sun, 22 Jan 2023 23:13:23 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.1 Annonce: Kämpfe des vorindustriellen Proletariats https://sbefreiung.blackblogs.org/2021/06/16/annonce-kaempfe-des-vorindustriellen-proletariats/ https://sbefreiung.blackblogs.org/2021/06/16/annonce-kaempfe-des-vorindustriellen-proletariats/#respond Wed, 16 Jun 2021 08:59:29 +0000 http://sbefreiung.blogsport.de/2021/06/16/annonce-kaempfe-des-vorindustriellen-proletariats/ Unsere neue Broschüre „Kämpfe des vorindustriellen Proletariats“ (ca. 129 Seiten) von Soziale Befreiung ist da. Die Broschüre könnt Ihr hier für 5-€ (inkl. Porto) über Onlinemarktplatz für Bücher booklooker.de oder direkt bei uns auch als E-Book bestellen.

Einleitung

Seeleute in der globalen Übergangsperiode zum Industriekapitalismus
1. Die globale Übergangsperiode zum Industriekapitalismus
2. Handelskapital, Gewalt und Schifffahrt
3. Die harten Arbeits- und Lebensbedingungen der Seeleute
4. Meutereien und Streiks
5. Piraterie
6. Seeleute als Teil des klassenkämpferischen Hafenproletariats

Manufaktur- und HeimarbeiterInnen in Preußen
1. Der preußische Absolutismus
2. Kleinbürgerliche Warenproduktion und Manufakturen in Preußen
3. Arbeits- und Lebensbedingungen der Manufaktur- und HeimarbeiterInnen
4. Die Manufaktur- und HeimarbeiterInnen als Teil des klassenkämpferischen vorindustriellen Proletariats
5. Der konspirative Alltagsklassenkampf der Manufaktur- und HeimarbeiterInnen
6. Der offene Klassenkampf des Manufakturproletariats und der HeimarbeiterInnen
7. Die kleinbürgerlich-vorindustrieproletarische Sozialbewegung in Frankreich und Preußen

Einleitung

Im ersten Text beschäftigen wir uns mit den Seeleuten in der globalen Übergangsperiode zum Industriekapitalismus. Dabei analysieren wir zuerst diese globale Übergangsperiode und zeichnen den Zusammenhang zwischen Handelskapital und Schifffahrt nach. Anschließend beschreiben wir das harte Leben der Seeleute. Doch diese waren nicht nur Objekte der kapitalistischen Ausbeutung, sondern auch klassenkämpferische Subjekte des Widerstands. Dieser Widerstand äußerte sich in Form von Schiffsmeutereien und Streiks sowie teilweise in der Piraterie. Seeleute waren auch am Land Teil des klassenkämpferischen Hafenproletariats. Wir werden einige Klassenkämpfe der Seeleute thematisieren. Wir stützen uns in dieser Schrift kritisch auf folgende Hauptquellen: Georg Fülberth, G Strich. Kleine Geschichte des Kapitalismus (PapyRossa Verlag, Köln 2005, zweite, verbesserte und überarbeitete Auflage), Jürgen Kocka, Geschichte des Kapitalismus (Verlag C.H.Beck, München 2013), Ernest Mandel, Marxistische Wirtschaftstheorie. Schriften 1 (Neuer ISP Verlag, Köln/Karlsruhe 2007) Helmut Hanke, Männer Planken Ozeane. Das sechstausendjährige Abenteuer der Seefahrt (Urania-Verlag, Leipzig-Jena-Berlin (DDR) 1982, 8. Auflage), Peter Linebough & Marcus Rediker, Die vielköpfige Hydra. Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks (Assoziation A, Berlin 2008), Marcus Rediker, Gesetzlose des Atlantiks. Piraten und rebellische Seeleute in der frühen Neuzeit (mandelbaum kritik & utopie, Wien 2017) sowie die Internetenzyklopädie Wikipedia und das Wörterbuch der Geschichte (Dietz Verlag, Ostberlin 1984).
In der zweiten Schrift analysieren wir die Arbeit, das Leben und den Klassenkampf der Manufaktur- und HeimarbeiterInnen in Preußen. Wir beschreiben darin den Charakter des preußischen Absolutismus als typische Staatsform der europäischen Übergangsperiode vom Feudalismus zum Industriekapitalismus. Bevor wir einige Klassenkämpfe der Manufaktur- und HeimarbeiterInnen in Preußen beschreiben, werden die preußischen Manufakturen als Keimzellen der kapitalistischen Ausbeutung der Lohnarbeit analysiert. Unsere sehr kritisch betrachtete – marxistisch-leninistische Ideologieproduktion! – Hauptquelle ist dabei Horst Krüger, Zur Geschichte der Manufakturen und der Manufakturarbeiter in Preußen (Rütten & Loening, Berlin (DDR) 1958).

]]>
https://sbefreiung.blackblogs.org/2021/06/16/annonce-kaempfe-des-vorindustriellen-proletariats/feed/ 0
Annonce: Globale Klassenkämpfe (2019/2020) https://sbefreiung.blackblogs.org/2021/01/21/annonce-globale-klassenkaempfe-20192020/ https://sbefreiung.blackblogs.org/2021/01/21/annonce-globale-klassenkaempfe-20192020/#respond Thu, 21 Jan 2021 13:28:34 +0000 http://sbefreiung.blogsport.de/2021/01/21/annonce-globale-klassenkaempfe-20192020/ Unsere neue Broschüre „Globale Klassenkämpfe (2019/2020)“ (ca. 129 Seiten) von Soziale Befreiung ist da. Die Broschüre könnt Ihr hier für 5-€ (inkl. Porto) über Onlinemarktplatz für Bücher booklooker.de oder direkt bei uns auch als E-Book bestellen.

 

Inhalt

Einleitung

1. Das globale Dreiecksverhältnis Warenproduktion – Lohnarbeit – Politik
2. Die Weltwirtschaftskrise
3. Klassenauseinandersetzungen in der Metallindustrie
4. Konflikte im Personen- und Güterverkehr (Logistik)
5. Kämpfe im Gesundheitswesen und in der Pflege
6. Klassenkonflikte in der Agrarproduktion und Lebensmittelbranche
7. Auseinandersetzungen in der Textilproduktion
8. Zusammenstöße in der Bildungs-, Kultur- und Ideologieproduktion
9. Klassenkämpfe der persönlich Dienenden
10. Auseinandersetzungen im Reinigungsgewerbe
11. Konflikte im Finanzsektor
12. Klassenzusammenstöße in Hotels, Cafés und Gaststädten
13. Auseinandersetzungen im Baugewerbe
14. Klassenkonflikte im Groß-, Einzel- und Onlinehandel
15. Zusammenstöße im Rohstoff- und Energiesektor
16. Kämpfe im öffentlichen Dienst
17. Konflikte in „Behindertenwerkstätten“
18. Branchenübergreifende Klassenkämpfe
19. Soziale Protestbewegungen

Einleitung

Wir beschreiben in dieser Broschüre weltweit einige Klassenkonflikte in den Jahren 2019 und 2020. Das Jahr 2020 war stark durch die globale COVID-19-Pandemie geprägt. Mit dieser haben wir uns bereits mit der im Juli vorigen Jahres erschienen Broschüre Coronaviruspandemie und Klassenkampf auseinandergesetzt. Um eine zu starke Überschneidung dieser beiden Broschüren zu vermeiden, wird in Globale Klassenkämpfe (2019/2020) diese Pandemie als solche nicht beschrieben. Auch werden einige Auseinandersetzungen zwischen März und Juni 2020, die bereits in Coronaviruspandemie und Klassenkampf analysiert worden sind, hier nicht noch mal thematisiert.

]]>
https://sbefreiung.blackblogs.org/2021/01/21/annonce-globale-klassenkaempfe-20192020/feed/ 0
Die „K“PD gegen die „Ultralinken“ https://sbefreiung.blackblogs.org/2019/10/27/die-kpd-gegen-die-ultralinkenoe/ https://sbefreiung.blackblogs.org/2019/10/27/die-kpd-gegen-die-ultralinkenoe/#respond Sun, 27 Oct 2019 22:42:26 +0000 http://sbefreiung.blogsport.de/2019/10/27/die-kpd-gegen-die-ultralinkenoe/ Vor hundert Jahren, im Oktober 1919, warf der „kommunistische“ Parteiapparat den revolutionären Flügel der „K“PD raus. Zu diesem Anlass veröffentlichen wir folgendes Kapitel aus unserer Broschüre „Die revolutionäre Nachkriegskrise in Deutschland (1918-1923). Die Broschüre könnt Ihr hier für 5-€ (inkl. Porto) über Onlinemarktplatz für Bücher booklooker.de oder direkt bei uns auch als E-Book bestellen.

 

Die führenden Persönlichkeiten des Linksradikalismus (Gorter, Pannekoek, Rühle, Pfemfert)

Die „K“PD gegen die „Ultralinken“

Die KPD war vom Dezember 1918 bis zum Oktober 1919 vom Widerspruch geprägt, dass sie als mit Moskau verbandelte Partei objektiv reaktionär war – aber dennoch stark von der revolutionären Subjektivität der Mehrheit ihrer Mitglieder geprägt war. Doch der strukturelle konterrevolutionäre Charakter der „kommunistischen“ Parteibürokratie als Anhängsel der Kreml-Herren musste sich früher oder später gegen die revolutionäre Subjektivität vieler BasisaktivistInnen durchsetzen.
Wie wir im Kapitel Die Formierung der revolutionären und konterrevolutionären Kräfte schon schilderten, setzte der radikale Flügel der KPD auf dem Gründungsparteitag gegen den Widerstand des „kommunistischen“ Apparates eine antiparlamentarische Linie durch. Eine weitere Niederlage in der Gewerkschaftsfrage konnten die „kommunistischen“ SozialreformistInnen nur durch die Vertagung dieser Frage durchsetzen. Paul Levi, nach der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg der „kommunistische“ Oberbonze, führte auch in der Gewerkschaftsfrage seinen Kampf gegen den radikalen Flügel der Partei.
Während des Jahres 1919 begannen sich Industrieunionen als klassenkämpferisch-revolutionäre Alternativen zum konterrevolutionären Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) herauszubilden, welche vom radikalen Flügel der KPD klar unterstützt wurden (siehe dazu das Kapitel Die Herausbildung der FAUD (S), des Unionismus und der KAPD). Levi und der gesamte Apparatflügel der „K“PD setzte dagegen auf die Eroberung der ADGB-Bürokratie durch „kommunistische“ Parteibonzen. Doch eine solche „kommunistisch“ eroberte Gewerkschaftsbürokratie hätte natürlich am strukturell sozialreaktionären Charakter der Gewerkschaften gar nichts geändert. Doch es war klar, dass wenn Levi im Verbund mit Moskau gegen den radikalen Flügel die opportunistische Anpassung an den ADGB durchsetzen würde, die Partei eindeutig eine „K“PD werden würde.
Levi hetzte auch total reaktionär gegen den Syndikalismus – eine Hetze, die mit der notwendigen revolutionären Kritik am Syndikalismus nichts zu tun hatte, sondern eine Frontstellung gegen das radikal klassenkämpferische Proletariat bedeutete. So hetzte der „kommunistische“ Parteibürokrat auch gegen die Klassenkampfformen des Langsam arbeiten und der Sabotage als angeblich „syndikalistische“ Kampfmethoden – dabei wendeten diese Methoden weltweit ProletarierInnen an, auch solche, die noch nie etwas vom „Syndikalismus“ gehört haben! Der Syndikalismus ideologisierte nur diese radikale Klassenkampfform. „Kommunistische“ Parteibonzen, die sich von solchen Klassenkampfformen distanzierten und distanzieren, zeigten und zeigen damit nur, dass sie nichts weiter als sich radikal gebärdende sozialdemokratische SpießerInnen waren und sind! Nichts anderes war auch der Moskauhörige Partei-„Kommunismus“!
Um seine konterrevolutionäre Linie durchzusetzen, musste der Apparatflügel die subjektiv ehrlichen RevolutionärInnen aus der Partei rausschmeißen. Dies tat er auch auf dem Heidelberger Parteitag vom 20. bis 24. Oktober 1919. Dieser Parteitag setzte die sozialreformistische Gewerkschaftspolitik der „K“PD-Führung gegen eine Mehrheit der Partei, die ungefähr etwas über 50 Prozent lag, durch. RevolutionärInnen, die diese opportunistische Anpassung an den ADGB ablehnten, wurden aus der Partei gedrängt. Dies kann mensch nicht anders als innerparteiliche Konterrevolution bezeichnen. Während die deutsche Bourgeoisie mit Hilfe der Sozialdemokratie (MSPD und USPD) die letzten Reste des Rätesystems liquidierte, schmissen die „kommunistischen“ Parteibonzen die konsequentesten KämpferInnen für das Rätesystem aus ihrem moskauhörigen Verein raus!
Im Gegensatz zu den Selbsttäuschungen vieler LinkskommunistInnen, die sich subjektiv für die einzig wahren Bolschewiken in Deutschland hielten, wurde der Apparat-Flügel der „K“PD vom Lenin/Trotzki-Regime unterstützt. Der für Deutschland zuständige bolschewistische Bürokrat Radek verteidigte dann auch ideologisch und praktisch die „K“PD-Führung um Levi, während der großartige marxistische Theoretiker Anton Pannekoek für die LinkskommunistInnen seine Lanze brach. Später, im April/Mai 1920 schrieb der Oberbolschewik Lenin gegen die LinkskommunistInnen sein sozialreaktionäres Buch Der „linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit des Kommunismus, in dem er gegen die wirklichen RevolutionärInnen die Parteidiktatur gegen die proletarische Klassendiktatur, den sozialreformistischen Parlamentarismus gegen den revolutionären Antiparlamentarismus und das reaktionäre GewerkschafterInnentum gegen die revolutionäre Selbstorganisation im Klassenkampf verteidigte.
Die LeninistInnen passten sich dem linken Flügel der USPD an, so wie sich dieser opportunistisch an den Moskauer Brotkorb anpasste. Das Ziel Moskaus war eine radikal-sozialdemokratische Massenpartei in Deutschland als verlängerter Arm der sowjetischen Außenpolitik. So war der Rauswurf des radikalmarxistischen Flügels aus der „K“PD auch ein besonderes Geschenk an den linken Flügel der USPD. Der war auch sehr dankbar. Der erbärmliche Rechtszentrist Richard Müller, der durch sein kapitulantenhaftes Verhalten während der Märzkämpfe 1919 in Berlin der Konterrevolution sehr ihren blutigen Job erleichterte, war dann auch sehr zufrieden mit dem Rauswurf der wirklichen RevolutionärInnen aus der „K“PD. Müller schrieb: „Das illegale Leben der Partei machte eine Gesundung schwer. Die Partei hat sich nie von dem Gift ihrer ersten Tage befreien können.“ (Richard Müller, Der Bürgerkrieg in Deutschland, a.a.O., S. 90.) Der Reformist Müller nannte wahrhaft revolutionäre Subjektivität „Gift“ und die innerparteiliche Konterrevolution eine „Gesundung“. So konnte nur ein erbärmlicher Zentrist schreiben, bei dem nur der krankhafte Hass gegen alle wirklich proletarisch-revolutionären Kräfte nicht halbherzig war!

]]>
https://sbefreiung.blackblogs.org/2019/10/27/die-kpd-gegen-die-ultralinkenoe/feed/ 0
Annonce: Antinationale Schriften IV https://sbefreiung.blackblogs.org/2019/10/17/annonce-antinationale-schriften-iv/ https://sbefreiung.blackblogs.org/2019/10/17/annonce-antinationale-schriften-iv/#respond Thu, 17 Oct 2019 04:40:24 +0000 http://sbefreiung.blogsport.de/?p=108 Unsere neue Broschüre „Antinationale Schriften IV“ (ca. 126 Seiten) von Soziale Befreiung ist da. Die Broschüre könnt Ihr hier für 5-€ (inkl. Porto) auch als E-Book über Onlinemarktplatz für Bücher booklooker.de bestellen.

Inhalt

Einleitung

Lateinamerika im Fadenkreuz der Imperialismen

1. Spanischer Kolonialismus
2. Portugiesischer Kolonialismus
3. Französischer Kolonialismus
4. Britischer Imperialismus
5. US-Imperialismus
6. Deutscher/EU-Imperialismus
7. Sowjetischer/Russischer Imperialismus
8. Chinesischer Imperialismus

Der Kapitalismus in Lateinamerika

1. Das allgemeine Wesen des Kapitalismus
2. Der lateinamerikanische Nationalismus
3. Die nationalkapitalistische Entwicklung Lateinamerikas
5. Linker Sozialreformismus als Teil der kapitalistischen Elendsverwaltung
6. Die mögliche soziale Revolution in Lateinamerika

Rechts- und Linksreaktion in Lateinamerika

1. Zur politischen Konkurrenz zwischen lechts und rinks in Lateinamerika
2. Kuba
3. Chile
4. Nikaragua
5. Venezuela
6. Brasilien
7. Argentinien

Einleitung

Der Imperialismus hochentwickelter kapitalistischer Industriestaaten kommt darin zum Ausdruck, dass sie die Peripherie (Afrika, Lateinamerika und im abnehmender Weise Asien) zum Rohstoff-/Agrarproduktlieferanten, Absatzmarkt und zur verlängerten Werkbank herrichtet. Dieser sozialökonomische Imperialismus wurde und wird durch politisch-diplomatische und militärische Interventionen flankiert. Das war und ist auch so in Lateinamerika. Nach der Erlangung der politischen Unabhängigkeit, also der sozialreaktionären Herausbildung bürgerlicher lateinamerikanischer Nationalstaaten, war die führende imperialistische Macht auf dem Kontinent zuerst Großbritannien, dann die USA. Die EU versucht auch mit zu halten. Auch China stellt keine „antiimperialistische“ Alternative dar, wie uns gewisse LinksnationalistInnen einreden wollen. Nein, die Einflussnahme der asiatischen Großmacht auf Lateinamerika ist ebenfalls imperialistisch. Dies zeigen wir in unserer Schrift Lateinamerika im Fadenkreuz der Imperialismen auf.
Der Kapitalismus in Lateinamerika ist als Peripherie der Weltökonomie sowohl durch die Entwicklung von Nationalkapitalen als auch durch die Intervention starker außerkontinentaler Imperialismen geprägt, wie wir in unserer gleichnamigen Schrift analysieren werden.
Die politische Konkurrenz zwischen rechts und links reproduziert nur den Weltkapitalismus und die Nationalstaaten. Rechte und linke BerufspolitikerInnen balgen sich darum, wer den Staat regiert. Doch der Staat lebt im Industriezeitalter von der kapitalistischen Ausbeutung der Lohnarbeit. Auch das angeblich „sozialistische“, in Wirklichkeit staatskapitalistische Kuba. Dieses befindet sich in der Transformation zum Privatkapitalismus, während die lateinamerikanischen Linksregierungen des 21. Jahrhunderts diesen nie verlassen hatten. Das untersuchen wir unter anderem in der Schrift Rechts- und Linksreaktion in Lateinamerika.
ProletarierInnen aller Länder, vereinigt euch!
Hoch die antinationale Solidarität!

]]>
https://sbefreiung.blackblogs.org/2019/10/17/annonce-antinationale-schriften-iv/feed/ 0
Das deutsche Kaiserreich https://sbefreiung.blackblogs.org/2018/10/27/das-deutsche-kaiserreich/ https://sbefreiung.blackblogs.org/2018/10/27/das-deutsche-kaiserreich/#respond Sat, 27 Oct 2018 22:52:23 +0000 http://sbefreiung.blogsport.de/2018/10/27/das-deutsche-kaiserreich/ Wir veröffentlichen hier das Kapitel „Das deutsche Kaiserreich“ aus der Broschüre „Die revolutionäre Nachkriegskrise in Deutschland (1918-1923)“. Die gesamte Broschüre „Die revolutionäre Nachkriegskrise in Deutschland (1918-1923)“ könnt Ihr hier über Onlinemarktplatz für Bücher booklooker.de bestellen.

nachkriegs

Das deutsche Kaiserreich

Das 1871 gegründete deutsche Kaiserreich beruhte auf dem Klassenkompromiss zwischen Bourgeoisie und GroßgrundbesitzerInnen (besonders den ostelbischen JunkerInnen). Durch das von Preußen mit eiserner Faust von oben geeinigte Deutschland bekam das Nationalkapital einen gewaltigen Auftrieb. Gleichzeitig konnten sich das überholte JunkerInnentum und die preußische Monarchie, welche Deutschland beherrschte, noch ein paar Jahrzehnte lang halten. Der preußische König war auch gleichzeitig deutscher Kaiser und das Kaiserreich wurde relativ schwach parlamentarisiert und demokratisiert. Die Armee wurde von dem alten Offiziersadel beherrscht. Auch im zivilen Staatsapparat dominierte der Beamtenadel an der Spitze über die bürgerlichen Elemente an der Basis.
Doch nicht nur der politische und militärische Überbau des deutschen Kapitalismus blieb noch stark von der feudalen Vergangenheit beherrscht. Auch das ostelbische JunkerInnentum modernisierte sich nur geringfügig und integrierte sich nicht vollständig in Kapitalismus und Bourgeoisie. Der junkerliche Großgrundbesitz symbolisierte halbfeudale-halbkapitalistische Produktionsverhältnisse. 1880 bestand die preußische Aristokratie aus 20.000 Adelsfamilien mit rund 85.000 Menschen. Die Herrschaft dieser Landaristokratie beruhte auf der Gutswirtschaft. Der Landjunker organisierte selbst oder auf größeren Gütern über Verwalter und Gutsinspektoren die Ausbeutung des Landproletariats. Dieses bekam durchschnittlich nur 20 bis 50 Prozent des Lohnes in Geld ausgezahlt, der andere Teil bestand aus Naturalien. Außerdem besaßen die LandarbeiterInnen das Wohnrecht in gutseigenen Häusern, dazu bekamen sie noch ein Stück Land sowie Futter für eine Kuh und ein bis zwei Schweine, Getreide, Brennstoff, den Anspruch auf ärztliche Betreuung und die Versorgung im Alter. Ein schriftlicher Arbeitsvertrag war nur sehr selten vorhanden. Statt einer doppelt freien Lohnarbeit – frei von Produktionsmitteln, aber auch eine freie Persönlichkeit – war das Landproletariat auf den Gütern der Junker einer patriarchal-paternalistischen Ausbeutung unterworfen. Für die ostelbischen LandproletarierInnen, welche die Mehrzahl der 1907 existierenden 3 Millionen AgrararbeiterInnen darstellten, galt das preußische Dienstpflichtgesetz für ländliche Arbeitskräfte, wodurch ihr Verhältnis zu den JunkerInnen als „Verhältnis des Familienrechts“ definiert war. So unterschied sich ihre rechtliche Stellung kaum von denen der Gesindeordnung unterworfenen Mägden und Knechten. Die Gesindeordnung schränkte die persönliche Freiheit der Knechte und Mägde stark ein und gab den GutsbesitzerInnen und BäuerInnen sogar das Recht der körperlichen Züchtigung bei Verfehlungen der Gesindeordnung unterworfenen Arbeitskräften. Gesindeordnung und Dienstpflichtgesetz wurden erst durch die Novemberrevolution hinweggefegt.
Außer durch diese Möglichkeit zur patriarchal-kapitalistischen Ausbeutung des Landproletariats besaßen die Junker noch staatliche Machtbefugnisse. So waren die rund 16.000 preußischen Gutsbezirke – meistens aus einem Rittergut und einem oder mehreren Dörfern bestehend – in der Regel zugleich selbständige Amtsbezirke. Ihnen stand meistens der Gutsbesitzer als Vertreter der Staatsmacht vor. Als Gemeindevorsteher hatte er die Aufsicht über die örtliche Volksschule, die Vergabe von Konzessionen an Gastwirte, den Straßen- und Wegebau und über die Polizeigewalt. Bis zur Reform der Kreisordnung von 1872 übte der Gutsbesitzer das Amt des Gemeindevorstehers per Erbrecht aus. Nach dieser Reform musste der Gutsbesitzer formal vom Kreistag in dieses Amt gewählt werden. Das Dreiklassenwahlrecht sorgte jedoch für zuverlässige Mehrheiten für den Gutsbesitzer. So hatten die Junker als Gemeindevorsteher Repressionsgewalt gegen kleinere Delikte, sie konnten Arbeitsniederlegungen des Landproletariats mit Gewalt beenden und LandarbeiterInnen, die ihren Kontrakt vorzeitig beendeten, mit Polizeigewalt zurück an den Arbeitsplatz holen. Politische InteressenvertreterInnen der JunkerInnen waren die PolitikerInnen der zwei konservativen Parteien, der seit 1871 existierenden Deutschen Reichspartei (DRP) und der 1876 gegründeten Deutschen Konservativen Partei (DKP). Die politische Interessevertreterin des nichtpreußisch-katholischen Landadels Süddeutschlands stellte die katholische Zentrumspartei dar, in welcher auch der katholische Klerus eine bedeutende Rolle spielte. Ab 1887 nahm aber der Einfluss bürgerlicher Kräfte auf die Zentrumspartei zu.
Sozial zwischen den JunkerInnen und dem Agrarproletariat stand das ländliche KleinbürgerInnentum, die BäuerInnen. Dieses ländliche KleinbürgerInnentum blieb relativ stabil. Während des Kaiserreiches gab es weder eine größere Landflucht noch ein BäuerInnensterben. Mensch kann insgesamt die Landwirtschaft im deutschen Kaiserreich als einen noch stark von feudalen Relikten geprägten Agrarkapitalismus mit starken kleinbäuerlichen Ausläufern bezeichnen. So prägten die Klein- und MittelbäuerInnen die Landwirtschaft in Baden, Württemberg und Hessen, während in Mitteldeutschland, Rheinland und Bayern die Hofgrößen sehr gemischt waren. Die in weiten Teilen Norddeutschlands (Hannover, Schleswig-Holstein, Oldenburg und Westfalen) vorherrschenden GroßbäuerInnen entwickelten sich zwar zu AgrarkapitalistInnen, doch sie unterschieden sich noch sehr stark von der städtischen Bourgeoisie. Denn auch diese GroßbäuerInnen, welche von der kapitalistischen Ausbeutung „ihrer“ LandarbeiterInnen lebten, gestalteten ihr soziales Verhältnis zu den Ausbeutungsobjekten nach vorkapitalistischen Gesindeordnungen. Auch blieben die GroßbäuerInnen Teil der Dorfgemeinschaft. Doch wurde die Agrarproduktion schon stark durch moderne Technik geprägt. Besonders die Einführung der Dreschmaschine verkürzte die im Winter anfallenden Tätigkeiten erheblich.
Wenn sich auch das industrielle deutsche Nationalkapital während des Kaiserreiches rasant vermehrte, wie wir weiter unten noch ausführlicher darstellen werden, geriet die Getreideproduktion des Landes in der zweiten Hälfte der 1870er Jahre in eine Krise. Diese Krise vertiefte sich noch in den 1880er Jahren. Innerhalb eines Jahrzehntes sanken die Agrarpreise um über ein Drittel. Die Agrarkrise entfaltete sich unter Schwankungen bis zum letzten Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg. Erst ab diesem Zeitpunkt konnte sich die landwirtschaftliche Produktion wieder relativ stabilisieren. Hauptgrund der Absatzkrise der Getreideproduktion war die Überfüllung des Weltagrarmarktes mit US-Weizen. Dessen Transportkosten wurden durch die verkehrstechnische Erschließung der USA mit Eisenbahnen und durch die transozeanischen Dampfschiffe enorm gesenkt. Um der Agrarkrise in Deutschland entgegenzutreten, führte das Kaiserreich 1879 Schutzzölle ein, die nach der Vertiefung der Krise 1885 noch angehoben wurden.
Demgegenüber vermehrte sich das Industriekapital während des Kaiserreiches rasant. Das deutsche Industriekapital entwickelte sich rascher als das der europäischen Konkurrenz, im globalen Maßstab entwickelte sich nur der US-Kapitalismus noch rascher. So wuchs der Anteil von Gewerbe und Industrie am deutschen Sozialprodukt zwischen 1871 und 1913 von 25 auf 41 Prozent, während der Anteil der Landwirtschaft im gleichen Zeitraum von 42 auf 23 Prozent absank. Das deutsche Kaiserreich entwickelte sich also aus einem Agrar-Industrie-Staat zu einem Industrie-Agrar-Staat und ließ dabei um die Jahrhundertwende Großbritannien als führende europäische kapitalistische Industrienation hinter sich. Großbritannien förderte zwar 1913 mehr Kohle als das deutsche Kaiserreich, aber dafür überflügelte die deutsche Eisen- und Stahlproduktion die britische. Sie war fast doppelt so groß, während sie zur Reichsgründung nur ein Fünftel der britischen Produktion von Eisen und Stahl betrug. Ein Grund für die rasche Vermehrung des deutschen Nationalkapitals war der relativ geringe Kapitalexport in das Ausland. Die deutsche Bourgeoisie investierte im Vergleich zur europäischen Konkurrenz mehr Kapital in die einheimische Produktion. So stieg das deutsche Nettosozialprodukt zwischen 1870 und 1893 um 58 Prozent und zwischen 1894 und 1913 um 68 Prozent. Unter anderem konnte von 1872 bis 1913 die deutsche Förderung von Steinkohle von 32 auf 190 Millionen Tonnen versechsfacht werden. Neben der Schwerindustrie entwickelte sich auch der Maschinenbau sowie die Chemie- und Elektroindustrie. So stand die deutsche Chemieindustrie 1913 vor der britischen und der US-amerikanischen Konkurrenz mit der Produktion von Chemikalien, Farben, Pharmaka und Düngemitteln an der Weltspitze.
Mit der Kapitalvermehrung entwickelte sich die ökonomische Macht der deutschen Bourgeoisie. Auf die politische Machteroberung hatte diese ja zugunsten eines Klassenkompromisses mit dem JunkerInnentum verzichtet. Die Montanbourgeoisie, welche aus den KapitalistInnen und ManagerInnen der Kohle- und Stahlunternehmen bestand, war die mächtigste Fraktion innerhalb dieser Klasse. Ihre sozialökonomische und politische Vertretung fand sie im 1876 gegründeten Centralverband der Deutschen Industrie (CV, CVDI oder CDI), den sie gegenüber anderen Kapitalfraktionen eindeutig dominierte. Ihr Zentrum hatte die Montanbourgeoisie in den Großbetrieben des Ruhrgebietes. Die Montanbourgeoisie war sehr an der Schutzzollpolitik des Staates interessiert. Eine andere, später entstandene Fraktion der Bourgeoisie, bildeten die KapitalistInnen und ManagerInnen der Chemie- und Elektroindustrie. Sie gebot über Großfirmen wie Bayer, Hoechst, BASF, Siemens und AEG. Die Bourgeoisie der Chemie und Elektroindustrie führte gegen ihre Klassengeschwister aus der Montanindustrie einen Fraktionskampf gegen Schutzzölle, weil die erstgenannte Kapitalfraktion weltmarktorientiert war. Die Klein- und Mittelbourgeoisie konzentrierte sich besonders in Süddeutschland sowie in Thüringen und Sachsen.
1895 führten die wachsenden Fraktionskämpfe innerhalb der Bourgeoisie zu einer Abspaltung des von der Montanindustrie beherrschten CDI, zu dem neugegründeten Bund der Industriellen (BDI), welcher die Interessen der exportorientierten Fertigungsindustrie zum Ausdruck brachte und infolgedessen am Freihandel orientiert war. Dem BDI gehörten die Bourgeoisien der Textilindustrie, des kleineren bis mittleren Maschinenbaues, der Nahrungs- und Genussmittelherstellung sowie der Holz- und Schnitzstoffindustrie an. Der BDI stand jedoch deutlich im Schatten des CDI. Die Bourgeoisie des großen Maschinenbaues sowie der Chemie- und Elektroindustrie löste sich zwar vom CDI, schloss sich allerdings aber auch nicht dem BDI an.
Die politischen Interessen der Bourgeoisie vertrat die in mehrere Parteien gespaltene liberale Bewegung. Auf dem linken Flügel der Liberalen standen die Fortschrittspartei, die Freisinnigen und die Volkspartei, die für eine weitere Parlamentisierung und Demokratisierung Deutschlands eintraten. Demgegenüber stand der rechte Flügel, die Nationalliberalen, die am Klassenkompromiss mit den JunkerInnen und dessen politischen Ausdruck, der Monarchie, eisern festhielten. Die Nationalliberalen waren die politisch stärkste Kraft der Bourgeoisie.
Sozial zwischen Bourgeoisie und ArbeiterInnenklasse stand das städtische KleinbürgerInnentum. Dieses differenziert sich wiederum in ein klassisches Produktionsmittel besitzendes KleinbürgerInnentum (HandwerkerInnen, KleinhändlerInnen, Freie Berufe) und in kleinbürgerliche Lohnabhängige. Das klassische KleinbürgerInnentum blieb während des Kaiserreiches relativ stabil. So sank die Zahl der handwerklichen Kleinbetriebe mit bis zu fünf Beschäftigten zwischen 1882 und 1907 auf knapp 2 Millionen, während die Zahl der in ihnen Beschäftigten mit 3 Millionen konstant blieb. Doch reduzierte sich der Anteil der im Handwerk Beschäftigten an den gewerblich Tätigen im gleichen Zeitraum von 60% auf 30%. In den Handwerksbetrieben verquickte sich während des Kaiserreiches auf traditionelle Weise die kleinbürgerliche Warenproduktion mit der biosozialen Reproduktion in Form der Familie. So wurden Lehrlinge und Gesellen nicht nur in den Werkstätten der Handwerksmeister ausgebeutet, sondern sie gehörten auch zu dessen Haushalten, wo sie Kost und Logis bekamen. Während die Zahl der HandwerkerInnen während des Kaiserreiches im Großen und Ganzen konstant blieb, dehnte sich die Zahl der KleinhändlerInnen aus. So stieg die Anzahl der Handelsunternehmen, zum größten Teil aus kleinen städtischen Kaufläden – vom Milch- bis zum Kolonialwarengeschäft – bestehend, auf bis zur 1 Million gegen Ende des Kaiserreiches. Durch den Anstieg der Anzahl der KleinhändlerInnen vergrößerte sich das klassische KleinbürgerInnentum bis zum Ersten Weltkrieg.
Das klassische KleinbürgerInnentum stand als produktionsmittelbesitzende Schicht, die auch schon embryonal von der Ausbeutung der Lohnarbeit lebte, zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Es fürchtete sich genauso vor der Konkurrenz des Großkapitals wie vor dem proletarischen Klassenkampf und der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung. Um sich gegen die Konkurrenz des Großkapitals zu schützen, verlangte das produktionsmittelbesitzende KleinbürgerInnentum vom Staat sozialprotektionistische Maßnahmen gegen die Gewerbefreiheit. Das Kaiserreich übersetzte auch einige kleinbürgerliche Wünsche in konkrete Realpolitik. Eine politische Vertreterin des produktionsmittelbesitzenden KleinbürgerInnentums war die 1895 gegründete Mittelstandspartei, die jedoch an den inneren Gegensätzen dieser heterogenen Schicht scheiterte. 1909 entstand als institutionalisierter Ausdruck der Mittelstandsbewegung der Hansa-Bund für Gewerbe, Handel und Industrie. Dieser bildete sich aus Protest gegen die großgrundbesitzerfreundlichen Steuerreformpläne der Konservativen. Doch auch das konservativ-kaisertreue KleinbürgerInnentum begann sich ab 1911 in dem antiliberalen und antisozialistischen Reichsdeutschen Mittelstandsverband zu organisieren.
Das lohnabhängige KleinbürgerInnentum bestand aus den Angestellten aus Industrie, Handel, Banken und Versicherungen und aus den staatlich dienenden Lohnabhängigen, den BeamtInnen. Die Schicht der in der Privatwirtschaft beschäftigten Angestellten bestand 1907 aus knapp 2 Millionen Menschen. Diese Schicht war zwar von den Produktionsmitteln getrennt und war auf die Vermietung ihrer Arbeitskraft angewiesen wie das ebenfalls lohnabhängige Proletariat – aber zwischen beiden lohnabhängigen Klassen herrschte im Kaiserreich eine klare soziale Trennungslinie. So aßen die kleinbürgerlichen Angestellten in den Großbetrieben in von den ArbeiterInnen getrennten eigenen Kantinen und in ihrem Privatleben mieden sie die proletarischen Wohnviertel. Ihre Kinder schickten sie auf mittlere und höhere Schulen. Für diese höhere Schulbildung ihrer Kinder konnten sie das Geld zwar nur mit Mühe aufbringen, aber schließlich galt es zu verhindern, dass der Nachwuchs in das Proletariat hinabglitt. Die Angestellten der Privatwirtschaft hielten sich in der Regel auch vom proletarischen Klassenkampf und der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung, den Gewerkschaften und der SPD, fern. Der mehrheitlich reaktionäre Charakter der privatwirtschaftlich Angestellten kam in der Organisation des Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbandes (DHV) klar zum Ausdruck. Zwar vertrat er auch soziale Interessen und Bedürfnisse des lohnabhängigen KleinbürgerInnentums gegen die Bourgeoisie, aber er schloss Juden als Mitglieder aus und stellte sich auch klar gegen die ArbeiterInnenklasse und die Gewerkschaften. Eine ähnliche Zwitterstellung zwischen Bourgeoisie und Proletariat nahmen auch die StaatsbeamtInnen ein. Dieses StaatsbeamtInnentum bestand 1907 aus ca. 1,5 Millionen Menschen. Bei den kleineren BeamtInnen gab es allerdings auch Sympathien für die SPD.
Bleiben wir jetzt bei der ArbeiterInnenklasse, dem Klassenkampf und der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung. Mit der Entwicklung des Kapitalismus vergrößerte sich auch die ArbeiterInnenklasse als Kern des modernen Proletariats. Gab es im Jahre 1882 in Deutschland nur knapp 5 Millionen LohnarbeiterInnen in Gewerbe, Handel und Verkehr, so verdoppelte sich ihre Anzahl bis 1907 auf 11 Millionen Menschen. 1907 betrug der Anteil der LohnarbeiterInnen 34 Prozent des arbeitenden Teils der Bevölkerung. Mit Familienangehörigen bestand das Proletariat in diesem Jahr aus 20 Millionen Menschen, das entsprach einem Drittel der Bevölkerung. Wenn wir jedoch die LandarbeiterInnen und die Dienstboten noch dazu zählen, dann war das Proletariat noch größer. Aber wir müssen beachten, dass LandarbeiterInnen und Dienstboten, obwohl auch sie formal lohnabhängig waren, sozial noch stark von vorkapitalistischen Verhältnissen geprägt waren, wie wir weiter oben schon am Beispiel des Agrarproletariats beschrieben haben. Auch der Kern des modernen Proletariats, die IndustriearbeiterInnen, war sozial stark differenziert. So gab es Gelernte, die vor dem Ersten Weltkrieg 50 bis 60 Prozent des Industrieproletariats betrugen, und ungelernte bzw. angelernte HilfsarbeiterInnen. Zwischen diesen beiden Schichten bestand eine tiefe soziale Kluft.
Auch nationalistische Spaltungslinien der ArbeiterInnenklasse waren im Kaiserreich wirksam. So war der deutsche Kapitalismus wegen des rasanten Wachstums der Industrieproduktion besonders im Bergwerk dringend auf polnische Arbeitskräfte angewiesen. Auf manchen Kohlenzechen stellten die polnischen ProletarierInnen die Mehrzahl der Bergleute. Die polnischen Bergleute hatten ihre eigenen Straßen und „ihre“ eigene Gewerkschaft. Eine weitere Spaltungslinie des Proletariats in Deutschland war die nach sozialen Geschlechterrollen. Lohnabhängige Frauen waren im Kaiserreich eine besonders hart ausgebeutete Minderheit des damaligen Proletariats. Ihr Anteil am Handwerks- und Industrieproletariat erhöhte sich nur langsam. 1875 betrug dieser nur 9,2 Prozent, er erhöhte sich bis 1907 auch nur auf lediglich 12,9 Prozent. In absoluten Zahlen waren 1882 540.000 lohnabhängige Frauen in Industrie und Handwerk beschäftigt, 1907 waren es 1.540.000 Absolut verdreifachte sich also die Zahl der lohnabhängigen Frauen zwischen 1882 und 1907. Der Lohn dieser Frauen betrug oft nicht einmal die Hälfte oder ein Drittel der Männerlöhne – und das oft bei gleicher Arbeit!
Die Ausbeutung des Proletariats war während des Kaiserreiches sehr hart. Nur allmählich verbesserte sich die soziale Lage der LohnarbeiterInnen durch den reproduktiven Klassenkampf. Letzteren nennen wir so, weil durch ihn, der darauf abzielt die Arbeits- und Lebensbedingungen des Proletariats innerhalb des Kapitalismus zu verbessern, das Kapitalverhältnis auf modernisierter Grundlage reproduziert wird. So zielte der reproduktive Klassenkampf des Proletariats in erster Linie darauf die Löhne zu erhöhen und die Arbeitszeit zu reduzieren. Es gelang der Bourgeoisie nicht immer lediglich mit Repression den Forderungen der ArbeiterInnen entgegenzutreten. So musste sie teilweise diesen sozialen Forderungen des Klassenfeindes nach höheren Löhnen und kürzeren Arbeitszeiten nachgeben. Deshalb stiegen die Reallöhne langsam und unter Schwankungen an und auch die Arbeitszeit sank von durchschnittlich 66 Wochenstunden um 1890 herum auf 55 Wochenstunden 1910/13 bei Differenzen bei den einzelnen Industriezweigen. Damit die Mehrwertrate – das Verhältnis zwischen den Löhnen der ArbeiterInnen und den Gewinnen/dem Mehrwert der KapitalistInnen – nicht fiel, musste die Bourgeoisie bei gestiegenen Reallöhnen und einer geringeren Wochenarbeitszeit zu einer Intensivierung und Verdichtung der Arbeit übergehen. Das war umso wichtiger, da durch die Erhöhung der Arbeitsproduktivität die Kosten für die Produktionsmittel, das sachliche produktive Kapital, tendenziell schneller anstieg als die Gewinne. Diese Tatsache übte einen Druck auf die Profitrate – das Verhältnis zwischen Produktionsmittel- und Lohnkosten auf der einen Seite und den Gewinnen/dem Mehrwert der KapitalistInnen auf der anderen – aus. Diesen tendenziellen Fall der Profitrate ließ sich nur durch wachsende Ausbeutung des Proletariats kompensieren. Die rasante Kapitalvermehrung im deutschen Kaiserreich geriet also von zwei Seiten unter Druck: auf der einen Seite der tendenzielle Fall der Profitrate und auf der anderen Seite der proletarische Klassenkampf.
Wichtige Klassenkämpfe in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg waren die großen BergarbeiterInnenstreiks von 1872 und 1889. An dem letztgenannten Massenstreik beteiligten sich etwa 90 Prozent der damaligen Bergleute. Im Anschluss dieses Massenstreikes entstanden die ersten Gewerkschaften im Bergbau. Allerdings war die zentrumnahe christliche Gewerkschaft erfolgreicher als der SPD-nahe „Alte Verband“. Auch beim BergarbeiterInnenstreik von 1905 wurde ein Vertreter der christlichen Gewerkschaft zum Vorsitzenden der Streikleitung gewählt.
Die Gewerkschaften waren allgemein der bürokratisch entfremdete Ausdruck des reproduktiven Klassenkampfes. Zu Beginn der Gewerkschaftsbewegung überwogen auch in Deutschland berufsständische Organisationen – was auch der Verknöcherung der alten Traditionen der Gesellenbewegung zu verdanken war. Doch ab den 1890er Jahren bildeten sich auch im deutschen Kaiserreich die ersten berufsübergreifenden Zentralverbände heraus, welche die Tätigkeit in einem bestimmten Industriezweig und nicht mehr den erlernten Beruf zum Maßstab der Organisierung machten. Der Verband der Metallarbeiter war Vorreiter dieser modernen Gewerkschaftsbewegung, der sowohl qualifizierte als auch angelernte ArbeiterInnen organisierte. Aber auch dieser Verband konnte sich nur langsam gegen die verknöcherte berufsständische Tradition und gegen den Widerstand des Kapitals durchsetzen. 1890 schlossen sich die Einzelgewerkschaften zur Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands zusammen. Carl Legien wurde ihr oberster Bürokrat.
Die Bourgeoisie ging auch in Deutschland zuerst überwiegend repressiv gegen die Gewerkschaftsbewegung vor. Doch im Verlauf eines sozialen Lernprozesses lernte auch die deutsche Bourgeoisie, dass es für die Eindämmung des proletarischen Klassenkampfes effektiver ist, die Gewerkschaftsbürokratien in die Einzelkapitale und in das Nationalkapital zu integrieren. Das geschah über das Tarifvertragssystem, über das die Kapitalverbände und die Gewerkschaftsbürokratie die wichtigsten Arbeitsbedingungen wie Arbeitszeit und Lohn aushandeln. Durch das Tarifsystem, welches sich in Deutschland um die Jahrhundertwende durchsetzte, wurden die Gewerkschaftsbürokratien zu Co-Managerinnen von Kapital und Staat. Vorreiterinnen des Tarifsystems waren während des Kaiserreiches die Klein- und Mittelbetriebe der Druck- und Bauindustrie. In den Großbetrieben konnte sich das Tarifsystem vor dem Ersten Weltkrieg dagegen nicht durchsetzen.
Die Gewerkschaftsbewegung in Deutschland war besonders staatstragend. So versuchte sie über deren staatliche Anerkennung auch die Anerkennung der KapitalistInnen und ManagerInnen zu erreichen. Das Tarifsystem stellt ja auch immer eine Verrechtlichung des Klassenkampfes dar, bei dem der Staat die Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Staat durch seine Gesetze regelt – und dadurch entschärft. Da die Gewerkschaftsbürokratie nur im Rahmen des bürgerlichen Staates zur Co-Managerin der kapitalistischen Ausbeutung und staatlichen Verwaltung werden konnte, versuchte sie die proletarische Basis zu pflichtbewussten und obrigkeitshörigen StaatsbürgerInnen zu erziehen.
Das deutsche Kaiserreich

Das 1871 gegründete deutsche Kaiserreich beruhte auf dem Klassenkompromiss zwischen Bourgeoisie und GroßgrundbesitzerInnen (besonders den ostelbischen JunkerInnen). Durch das von Preußen mit eiserner Faust von oben geeinigte Deutschland bekam das Nationalkapital einen gewaltigen Auftrieb. Gleichzeitig konnten sich das überholte JunkerInnentum und die preußische Monarchie, welche Deutschland beherrschte, noch ein paar Jahrzehnte lang halten. Der preußische König war auch gleichzeitig deutscher Kaiser und das Kaiserreich wurde relativ schwach parlamentarisiert und demokratisiert. Die Armee wurde von dem alten Offiziersadel beherrscht. Auch im zivilen Staatsapparat dominierte der Beamtenadel an der Spitze über die bürgerlichen Elemente an der Basis.
Doch nicht nur der politische und militärische Überbau des deutschen Kapitalismus blieb noch stark von der feudalen Vergangenheit beherrscht. Auch das ostelbische JunkerInnentum modernisierte sich nur geringfügig und integrierte sich nicht vollständig in Kapitalismus und Bourgeoisie. Der junkerliche Großgrundbesitz symbolisierte halbfeudale-halbkapitalistische Produktionsverhältnisse. 1880 bestand die preußische Aristokratie aus 20.000 Adelsfamilien mit rund 85.000 Menschen. Die Herrschaft dieser Landaristokratie beruhte auf der Gutswirtschaft. Der Landjunker organisierte selbst oder auf größeren Gütern über Verwalter und Gutsinspektoren die Ausbeutung des Landproletariats. Dieses bekam durchschnittlich nur 20 bis 50 Prozent des Lohnes in Geld ausgezahlt, der andere Teil bestand aus Naturalien. Außerdem besaßen die LandarbeiterInnen das Wohnrecht in gutseigenen Häusern, dazu bekamen sie noch ein Stück Land sowie Futter für eine Kuh und ein bis zwei Schweine, Getreide, Brennstoff, den Anspruch auf ärztliche Betreuung und die Versorgung im Alter. Ein schriftlicher Arbeitsvertrag war nur sehr selten vorhanden. Statt einer doppelt freien Lohnarbeit – frei von Produktionsmitteln, aber auch eine freie Persönlichkeit – war das Landproletariat auf den Gütern der Junker einer patriarchal-paternalistischen Ausbeutung unterworfen. Für die ostelbischen LandproletarierInnen, welche die Mehrzahl der 1907 existierenden 3 Millionen AgrararbeiterInnen darstellten, galt das preußische Dienstpflichtgesetz für ländliche Arbeitskräfte, wodurch ihr Verhältnis zu den JunkerInnen als „Verhältnis des Familienrechts“ definiert war. So unterschied sich ihre rechtliche Stellung kaum von denen der Gesindeordnung unterworfenen Mägden und Knechten. Die Gesindeordnung schränkte die persönliche Freiheit der Knechte und Mägde stark ein und gab den GutsbesitzerInnen und BäuerInnen sogar das Recht der körperlichen Züchtigung bei Verfehlungen der Gesindeordnung unterworfenen Arbeitskräften. Gesindeordnung und Dienstpflichtgesetz wurden erst durch die Novemberrevolution hinweggefegt.
Außer durch diese Möglichkeit zur patriarchal-kapitalistischen Ausbeutung des Landproletariats besaßen die Junker noch staatliche Machtbefugnisse. So waren die rund 16.000 preußischen Gutsbezirke – meistens aus einem Rittergut und einem oder mehreren Dörfern bestehend – in der Regel zugleich selbständige Amtsbezirke. Ihnen stand meistens der Gutsbesitzer als Vertreter der Staatsmacht vor. Als Gemeindevorsteher hatte er die Aufsicht über die örtliche Volksschule, die Vergabe von Konzessionen an Gastwirte, den Straßen- und Wegebau und über die Polizeigewalt. Bis zur Reform der Kreisordnung von 1872 übte der Gutsbesitzer das Amt des Gemeindevorstehers per Erbrecht aus. Nach dieser Reform musste der Gutsbesitzer formal vom Kreistag in dieses Amt gewählt werden. Das Dreiklassenwahlrecht sorgte jedoch für zuverlässige Mehrheiten für den Gutsbesitzer. So hatten die Junker als Gemeindevorsteher Repressionsgewalt gegen kleinere Delikte, sie konnten Arbeitsniederlegungen des Landproletariats mit Gewalt beenden und LandarbeiterInnen, die ihren Kontrakt vorzeitig beendeten, mit Polizeigewalt zurück an den Arbeitsplatz holen. Politische InteressenvertreterInnen der JunkerInnen waren die PolitikerInnen der zwei konservativen Parteien, der seit 1871 existierenden Deutschen Reichspartei (DRP) und der 1876 gegründeten Deutschen Konservativen Partei (DKP). Die politische Interessevertreterin des nichtpreußisch-katholischen Landadels Süddeutschlands stellte die katholische Zentrumspartei dar, in welcher auch der katholische Klerus eine bedeutende Rolle spielte. Ab 1887 nahm aber der Einfluss bürgerlicher Kräfte auf die Zentrumspartei zu.
Sozial zwischen den JunkerInnen und dem Agrarproletariat stand das ländliche KleinbürgerInnentum, die BäuerInnen. Dieses ländliche KleinbürgerInnentum blieb relativ stabil. Während des Kaiserreiches gab es weder eine größere Landflucht noch ein BäuerInnensterben. Mensch kann insgesamt die Landwirtschaft im deutschen Kaiserreich als einen noch stark von feudalen Relikten geprägten Agrarkapitalismus mit starken kleinbäuerlichen Ausläufern bezeichnen. So prägten die Klein- und MittelbäuerInnen die Landwirtschaft in Baden, Württemberg und Hessen, während in Mitteldeutschland, Rheinland und Bayern die Hofgrößen sehr gemischt waren. Die in weiten Teilen Norddeutschlands (Hannover, Schleswig-Holstein, Oldenburg und Westfalen) vorherrschenden GroßbäuerInnen entwickelten sich zwar zu AgrarkapitalistInnen, doch sie unterschieden sich noch sehr stark von der städtischen Bourgeoisie. Denn auch diese GroßbäuerInnen, welche von der kapitalistischen Ausbeutung „ihrer“ LandarbeiterInnen lebten, gestalteten ihr soziales Verhältnis zu den Ausbeutungsobjekten nach vorkapitalistischen Gesindeordnungen. Auch blieben die GroßbäuerInnen Teil der Dorfgemeinschaft. Doch wurde die Agrarproduktion schon stark durch moderne Technik geprägt. Besonders die Einführung der Dreschmaschine verkürzte die im Winter anfallenden Tätigkeiten erheblich.
Wenn sich auch das industrielle deutsche Nationalkapital während des Kaiserreiches rasant vermehrte, wie wir weiter unten noch ausführlicher darstellen werden, geriet die Getreideproduktion des Landes in der zweiten Hälfte der 1870er Jahre in eine Krise. Diese Krise vertiefte sich noch in den 1880er Jahren. Innerhalb eines Jahrzehntes sanken die Agrarpreise um über ein Drittel. Die Agrarkrise entfaltete sich unter Schwankungen bis zum letzten Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg. Erst ab diesem Zeitpunkt konnte sich die landwirtschaftliche Produktion wieder relativ stabilisieren. Hauptgrund der Absatzkrise der Getreideproduktion war die Überfüllung des Weltagrarmarktes mit US-Weizen. Dessen Transportkosten wurden durch die verkehrstechnische Erschließung der USA mit Eisenbahnen und durch die transozeanischen Dampfschiffe enorm gesenkt. Um der Agrarkrise in Deutschland entgegenzutreten, führte das Kaiserreich 1879 Schutzzölle ein, die nach der Vertiefung der Krise 1885 noch angehoben wurden.
Demgegenüber vermehrte sich das Industriekapital während des Kaiserreiches rasant. Das deutsche Industriekapital entwickelte sich rascher als das der europäischen Konkurrenz, im globalen Maßstab entwickelte sich nur der US-Kapitalismus noch rascher. So wuchs der Anteil von Gewerbe und Industrie am deutschen Sozialprodukt zwischen 1871 und 1913 von 25 auf 41 Prozent, während der Anteil der Landwirtschaft im gleichen Zeitraum von 42 auf 23 Prozent absank. Das deutsche Kaiserreich entwickelte sich also aus einem Agrar-Industrie-Staat zu einem Industrie-Agrar-Staat und ließ dabei um die Jahrhundertwende Großbritannien als führende europäische kapitalistische Industrienation hinter sich. Großbritannien förderte zwar 1913 mehr Kohle als das deutsche Kaiserreich, aber dafür überflügelte die deutsche Eisen- und Stahlproduktion die britische. Sie war fast doppelt so groß, während sie zur Reichsgründung nur ein Fünftel der britischen Produktion von Eisen und Stahl betrug. Ein Grund für die rasche Vermehrung des deutschen Nationalkapitals war der relativ geringe Kapitalexport in das Ausland. Die deutsche Bourgeoisie investierte im Vergleich zur europäischen Konkurrenz mehr Kapital in die einheimische Produktion. So stieg das deutsche Nettosozialprodukt zwischen 1870 und 1893 um 58 Prozent und zwischen 1894 und 1913 um 68 Prozent. Unter anderem konnte von 1872 bis 1913 die deutsche Förderung von Steinkohle von 32 auf 190 Millionen Tonnen versechsfacht werden. Neben der Schwerindustrie entwickelte sich auch der Maschinenbau sowie die Chemie- und Elektroindustrie. So stand die deutsche Chemieindustrie 1913 vor der britischen und der US-amerikanischen Konkurrenz mit der Produktion von Chemikalien, Farben, Pharmaka und Düngemitteln an der Weltspitze.
Mit der Kapitalvermehrung entwickelte sich die ökonomische Macht der deutschen Bourgeoisie. Auf die politische Machteroberung hatte diese ja zugunsten eines Klassenkompromisses mit dem JunkerInnentum verzichtet. Die Montanbourgeoisie, welche aus den KapitalistInnen und ManagerInnen der Kohle- und Stahlunternehmen bestand, war die mächtigste Fraktion innerhalb dieser Klasse. Ihre sozialökonomische und politische Vertretung fand sie im 1876 gegründeten Centralverband der Deutschen Industrie (CV, CVDI oder CDI), den sie gegenüber anderen Kapitalfraktionen eindeutig dominierte. Ihr Zentrum hatte die Montanbourgeoisie in den Großbetrieben des Ruhrgebietes. Die Montanbourgeoisie war sehr an der Schutzzollpolitik des Staates interessiert. Eine andere, später entstandene Fraktion der Bourgeoisie, bildeten die KapitalistInnen und ManagerInnen der Chemie- und Elektroindustrie. Sie gebot über Großfirmen wie Bayer, Hoechst, BASF, Siemens und AEG. Die Bourgeoisie der Chemie und Elektroindustrie führte gegen ihre Klassengeschwister aus der Montanindustrie einen Fraktionskampf gegen Schutzzölle, weil die erstgenannte Kapitalfraktion weltmarktorientiert war. Die Klein- und Mittelbourgeoisie konzentrierte sich besonders in Süddeutschland sowie in Thüringen und Sachsen.
1895 führten die wachsenden Fraktionskämpfe innerhalb der Bourgeoisie zu einer Abspaltung des von der Montanindustrie beherrschten CDI, zu dem neugegründeten Bund der Industriellen (BDI), welcher die Interessen der exportorientierten Fertigungsindustrie zum Ausdruck brachte und infolgedessen am Freihandel orientiert war. Dem BDI gehörten die Bourgeoisien der Textilindustrie, des kleineren bis mittleren Maschinenbaues, der Nahrungs- und Genussmittelherstellung sowie der Holz- und Schnitzstoffindustrie an. Der BDI stand jedoch deutlich im Schatten des CDI. Die Bourgeoisie des großen Maschinenbaues sowie der Chemie- und Elektroindustrie löste sich zwar vom CDI, schloss sich allerdings aber auch nicht dem BDI an.
Die politischen Interessen der Bourgeoisie vertrat die in mehrere Parteien gespaltene liberale Bewegung. Auf dem linken Flügel der Liberalen standen die Fortschrittspartei, die Freisinnigen und die Volkspartei, die für eine weitere Parlamentisierung und Demokratisierung Deutschlands eintraten. Demgegenüber stand der rechte Flügel, die Nationalliberalen, die am Klassenkompromiss mit den JunkerInnen und dessen politischen Ausdruck, der Monarchie, eisern festhielten. Die Nationalliberalen waren die politisch stärkste Kraft der Bourgeoisie.
Sozial zwischen Bourgeoisie und ArbeiterInnenklasse stand das städtische KleinbürgerInnentum. Dieses differenziert sich wiederum in ein klassisches Produktionsmittel besitzendes KleinbürgerInnentum (HandwerkerInnen, KleinhändlerInnen, Freie Berufe) und in kleinbürgerliche Lohnabhängige. Das klassische KleinbürgerInnentum blieb während des Kaiserreiches relativ stabil. So sank die Zahl der handwerklichen Kleinbetriebe mit bis zu fünf Beschäftigten zwischen 1882 und 1907 auf knapp 2 Millionen, während die Zahl der in ihnen Beschäftigten mit 3 Millionen konstant blieb. Doch reduzierte sich der Anteil der im Handwerk Beschäftigten an den gewerblich Tätigen im gleichen Zeitraum von 60% auf 30%. In den Handwerksbetrieben verquickte sich während des Kaiserreiches auf traditionelle Weise die kleinbürgerliche Warenproduktion mit der biosozialen Reproduktion in Form der Familie. So wurden Lehrlinge und Gesellen nicht nur in den Werkstätten der Handwerksmeister ausgebeutet, sondern sie gehörten auch zu dessen Haushalten, wo sie Kost und Logis bekamen. Während die Zahl der HandwerkerInnen während des Kaiserreiches im Großen und Ganzen konstant blieb, dehnte sich die Zahl der KleinhändlerInnen aus. So stieg die Anzahl der Handelsunternehmen, zum größten Teil aus kleinen städtischen Kaufläden – vom Milch- bis zum Kolonialwarengeschäft – bestehend, auf bis zur 1 Million gegen Ende des Kaiserreiches. Durch den Anstieg der Anzahl der KleinhändlerInnen vergrößerte sich das klassische KleinbürgerInnentum bis zum Ersten Weltkrieg.
Das klassische KleinbürgerInnentum stand als produktionsmittelbesitzende Schicht, die auch schon embryonal von der Ausbeutung der Lohnarbeit lebte, zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Es fürchtete sich genauso vor der Konkurrenz des Großkapitals wie vor dem proletarischen Klassenkampf und der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung. Um sich gegen die Konkurrenz des Großkapitals zu schützen, verlangte das produktionsmittelbesitzende KleinbürgerInnentum vom Staat sozialprotektionistische Maßnahmen gegen die Gewerbefreiheit. Das Kaiserreich übersetzte auch einige kleinbürgerliche Wünsche in konkrete Realpolitik. Eine politische Vertreterin des produktionsmittelbesitzenden KleinbürgerInnentums war die 1895 gegründete Mittelstandspartei, die jedoch an den inneren Gegensätzen dieser heterogenen Schicht scheiterte. 1909 entstand als institutionalisierter Ausdruck der Mittelstandsbewegung der Hansa-Bund für Gewerbe, Handel und Industrie. Dieser bildete sich aus Protest gegen die großgrundbesitzerfreundlichen Steuerreformpläne der Konservativen. Doch auch das konservativ-kaisertreue KleinbürgerInnentum begann sich ab 1911 in dem antiliberalen und antisozialistischen Reichsdeutschen Mittelstandsverband zu organisieren.
Das lohnabhängige KleinbürgerInnentum bestand aus den Angestellten aus Industrie, Handel, Banken und Versicherungen und aus den staatlich dienenden Lohnabhängigen, den BeamtInnen. Die Schicht der in der Privatwirtschaft beschäftigten Angestellten bestand 1907 aus knapp 2 Millionen Menschen. Diese Schicht war zwar von den Produktionsmitteln getrennt und war auf die Vermietung ihrer Arbeitskraft angewiesen wie das ebenfalls lohnabhängige Proletariat – aber zwischen beiden lohnabhängigen Klassen herrschte im Kaiserreich eine klare soziale Trennungslinie. So aßen die kleinbürgerlichen Angestellten in den Großbetrieben in von den ArbeiterInnen getrennten eigenen Kantinen und in ihrem Privatleben mieden sie die proletarischen Wohnviertel. Ihre Kinder schickten sie auf mittlere und höhere Schulen. Für diese höhere Schulbildung ihrer Kinder konnten sie das Geld zwar nur mit Mühe aufbringen, aber schließlich galt es zu verhindern, dass der Nachwuchs in das Proletariat hinabglitt. Die Angestellten der Privatwirtschaft hielten sich in der Regel auch vom proletarischen Klassenkampf und der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung, den Gewerkschaften und der SPD, fern. Der mehrheitlich reaktionäre Charakter der privatwirtschaftlich Angestellten kam in der Organisation des Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbandes (DHV) klar zum Ausdruck. Zwar vertrat er auch soziale Interessen und Bedürfnisse des lohnabhängigen KleinbürgerInnentums gegen die Bourgeoisie, aber er schloss Juden als Mitglieder aus und stellte sich auch klar gegen die ArbeiterInnenklasse und die Gewerkschaften. Eine ähnliche Zwitterstellung zwischen Bourgeoisie und Proletariat nahmen auch die StaatsbeamtInnen ein. Dieses StaatsbeamtInnentum bestand 1907 aus ca. 1,5 Millionen Menschen. Bei den kleineren BeamtInnen gab es allerdings auch Sympathien für die SPD.
Bleiben wir jetzt bei der ArbeiterInnenklasse, dem Klassenkampf und der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung. Mit der Entwicklung des Kapitalismus vergrößerte sich auch die ArbeiterInnenklasse als Kern des modernen Proletariats. Gab es im Jahre 1882 in Deutschland nur knapp 5 Millionen LohnarbeiterInnen in Gewerbe, Handel und Verkehr, so verdoppelte sich ihre Anzahl bis 1907 auf 11 Millionen Menschen. 1907 betrug der Anteil der LohnarbeiterInnen 34 Prozent des arbeitenden Teils der Bevölkerung. Mit Familienangehörigen bestand das Proletariat in diesem Jahr aus 20 Millionen Menschen, das entsprach einem Drittel der Bevölkerung. Wenn wir jedoch die LandarbeiterInnen und die Dienstboten noch dazu zählen, dann war das Proletariat noch größer. Aber wir müssen beachten, dass LandarbeiterInnen und Dienstboten, obwohl auch sie formal lohnabhängig waren, sozial noch stark von vorkapitalistischen Verhältnissen geprägt waren, wie wir weiter oben schon am Beispiel des Agrarproletariats beschrieben haben. Auch der Kern des modernen Proletariats, die IndustriearbeiterInnen, war sozial stark differenziert. So gab es Gelernte, die vor dem Ersten Weltkrieg 50 bis 60 Prozent des Industrieproletariats betrugen, und ungelernte bzw. angelernte HilfsarbeiterInnen. Zwischen diesen beiden Schichten bestand eine tiefe soziale Kluft.
Auch nationalistische Spaltungslinien der ArbeiterInnenklasse waren im Kaiserreich wirksam. So war der deutsche Kapitalismus wegen des rasanten Wachstums der Industrieproduktion besonders im Bergwerk dringend auf polnische Arbeitskräfte angewiesen. Auf manchen Kohlenzechen stellten die polnischen ProletarierInnen die Mehrzahl der Bergleute. Die polnischen Bergleute hatten ihre eigenen Straßen und „ihre“ eigene Gewerkschaft. Eine weitere Spaltungslinie des Proletariats in Deutschland war die nach sozialen Geschlechterrollen. Lohnabhängige Frauen waren im Kaiserreich eine besonders hart ausgebeutete Minderheit des damaligen Proletariats. Ihr Anteil am Handwerks- und Industrieproletariat erhöhte sich nur langsam. 1875 betrug dieser nur 9,2 Prozent, er erhöhte sich bis 1907 auch nur auf lediglich 12,9 Prozent. In absoluten Zahlen waren 1882 540.000 lohnabhängige Frauen in Industrie und Handwerk beschäftigt, 1907 waren es 1.540.000 Absolut verdreifachte sich also die Zahl der lohnabhängigen Frauen zwischen 1882 und 1907. Der Lohn dieser Frauen betrug oft nicht einmal die Hälfte oder ein Drittel der Männerlöhne – und das oft bei gleicher Arbeit!
Die Ausbeutung des Proletariats war während des Kaiserreiches sehr hart. Nur allmählich verbesserte sich die soziale Lage der LohnarbeiterInnen durch den reproduktiven Klassenkampf. Letzteren nennen wir so, weil durch ihn, der darauf abzielt die Arbeits- und Lebensbedingungen des Proletariats innerhalb des Kapitalismus zu verbessern, das Kapitalverhältnis auf modernisierter Grundlage reproduziert wird. So zielte der reproduktive Klassenkampf des Proletariats in erster Linie darauf die Löhne zu erhöhen und die Arbeitszeit zu reduzieren. Es gelang der Bourgeoisie nicht immer lediglich mit Repression den Forderungen der ArbeiterInnen entgegenzutreten. So musste sie teilweise diesen sozialen Forderungen des Klassenfeindes nach höheren Löhnen und kürzeren Arbeitszeiten nachgeben. Deshalb stiegen die Reallöhne langsam und unter Schwankungen an und auch die Arbeitszeit sank von durchschnittlich 66 Wochenstunden um 1890 herum auf 55 Wochenstunden 1910/13 bei Differenzen bei den einzelnen Industriezweigen. Damit die Mehrwertrate – das Verhältnis zwischen den Löhnen der ArbeiterInnen und den Gewinnen/dem Mehrwert der KapitalistInnen – nicht fiel, musste die Bourgeoisie bei gestiegenen Reallöhnen und einer geringeren Wochenarbeitszeit zu einer Intensivierung und Verdichtung der Arbeit übergehen. Das war umso wichtiger, da durch die Erhöhung der Arbeitsproduktivität die Kosten für die Produktionsmittel, das sachliche produktive Kapital, tendenziell schneller anstieg als die Gewinne. Diese Tatsache übte einen Druck auf die Profitrate – das Verhältnis zwischen Produktionsmittel- und Lohnkosten auf der einen Seite und den Gewinnen/dem Mehrwert der KapitalistInnen auf der anderen – aus. Diesen tendenziellen Fall der Profitrate ließ sich nur durch wachsende Ausbeutung des Proletariats kompensieren. Die rasante Kapitalvermehrung im deutschen Kaiserreich geriet also von zwei Seiten unter Druck: auf der einen Seite der tendenzielle Fall der Profitrate und auf der anderen Seite der proletarische Klassenkampf.
Wichtige Klassenkämpfe in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg waren die großen BergarbeiterInnenstreiks von 1872 und 1889. An dem letztgenannten Massenstreik beteiligten sich etwa 90 Prozent der damaligen Bergleute. Im Anschluss dieses Massenstreikes entstanden die ersten Gewerkschaften im Bergbau. Allerdings war die zentrumnahe christliche Gewerkschaft erfolgreicher als der SPD-nahe „Alte Verband“. Auch beim BergarbeiterInnenstreik von 1905 wurde ein Vertreter der christlichen Gewerkschaft zum Vorsitzenden der Streikleitung gewählt.
Die Gewerkschaften waren allgemein der bürokratisch entfremdete Ausdruck des reproduktiven Klassenkampfes. Zu Beginn der Gewerkschaftsbewegung überwogen auch in Deutschland berufsständische Organisationen – was auch der Verknöcherung der alten Traditionen der Gesellenbewegung zu verdanken war. Doch ab den 1890er Jahren bildeten sich auch im deutschen Kaiserreich die ersten berufsübergreifenden Zentralverbände heraus, welche die Tätigkeit in einem bestimmten Industriezweig und nicht mehr den erlernten Beruf zum Maßstab der Organisierung machten. Der Verband der Metallarbeiter war Vorreiter dieser modernen Gewerkschaftsbewegung, der sowohl qualifizierte als auch angelernte ArbeiterInnen organisierte. Aber auch dieser Verband konnte sich nur langsam gegen die verknöcherte berufsständische Tradition und gegen den Widerstand des Kapitals durchsetzen. 1890 schlossen sich die Einzelgewerkschaften zur Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands zusammen. Carl Legien wurde ihr oberster Bürokrat.
Die Bourgeoisie ging auch in Deutschland zuerst überwiegend repressiv gegen die Gewerkschaftsbewegung vor. Doch im Verlauf eines sozialen Lernprozesses lernte auch die deutsche Bourgeoisie, dass es für die Eindämmung des proletarischen Klassenkampfes effektiver ist, die Gewerkschaftsbürokratien in die Einzelkapitale und in das Nationalkapital zu integrieren. Das geschah über das Tarifvertragssystem, über das die Kapitalverbände und die Gewerkschaftsbürokratie die wichtigsten Arbeitsbedingungen wie Arbeitszeit und Lohn aushandeln. Durch das Tarifsystem, welches sich in Deutschland um die Jahrhundertwende durchsetzte, wurden die Gewerkschaftsbürokratien zu Co-Managerinnen von Kapital und Staat. Vorreiterinnen des Tarifsystems waren während des Kaiserreiches die Klein- und Mittelbetriebe der Druck- und Bauindustrie. In den Großbetrieben konnte sich das Tarifsystem vor dem Ersten Weltkrieg dagegen nicht durchsetzen.
Die Gewerkschaftsbewegung in Deutschland war besonders staatstragend. So versuchte sie über deren staatliche Anerkennung auch die Anerkennung der KapitalistInnen und ManagerInnen zu erreichen. Das Tarifsystem stellt ja auch immer eine Verrechtlichung des Klassenkampfes dar, bei dem der Staat die Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Staat durch seine Gesetze regelt – und dadurch entschärft. Da die Gewerkschaftsbürokratie nur im Rahmen des bürgerlichen Staates zur Co-Managerin der kapitalistischen Ausbeutung und staatlichen Verwaltung werden konnte, versuchte sie die proletarische Basis zu pflichtbewussten und obrigkeitshörigen StaatsbürgerInnen zu erziehen.

]]>
https://sbefreiung.blackblogs.org/2018/10/27/das-deutsche-kaiserreich/feed/ 0
Buchvorstellung und Diskussion https://sbefreiung.blackblogs.org/2017/10/31/buchvorstellung-und-diskussion/ https://sbefreiung.blackblogs.org/2017/10/31/buchvorstellung-und-diskussion/#respond Tue, 31 Oct 2017 16:55:20 +0000 http://sbefreiung.blogsport.de/?p=91 Am Samstag, den 18. November 2017 um 16:00 Uhr im Rahmen der Linken Literaturmesse in Nürnberg Künstlerhaus K 4, Königsstraße 93, wollen wir gemeinsam mit Sozialer Widerstand die Broschüre „Schriften zur russischen Revolution (1917-1921)“ vorstellen. Ihr seid herzlich eingeladen zu kommen.

Russische Revolution

]]>
https://sbefreiung.blackblogs.org/2017/10/31/buchvorstellung-und-diskussion/feed/ 0
Klassenkämpfe in Sowjetrussland (1917-1921) https://sbefreiung.blackblogs.org/2017/01/17/klassenkaempfe-in-sowjetrussland-1917-1921/ https://sbefreiung.blackblogs.org/2017/01/17/klassenkaempfe-in-sowjetrussland-1917-1921/#respond Tue, 17 Jan 2017 14:33:06 +0000 http://sbefreiung.blogsport.de/2017/01/17/klassenkaempfe-in-sowjetrussland-1917-1921/ Zum 100. Jahrestag des Beginns der russischen Revolution veröffentlichen wir den ersten einer ganzen Reihe von Texten. Dies geschieht unter der gemeinsamen Überschrift „Klassenkämpfe in Sowjetrussland (1917-1921)“. Im ersten Text werden Klassenkämpfe im zaristischen Russland beschrieben. Die gesamte Broschüre „Schriften zur russischen Revolution (1917-1921)“ könnt Ihr hier für 5-€ (inkl. Porto) über Onlinemarktplatz für Bücher booklooker.de bestellen.

1. Klassenkämpfe im zaristischen Russland

Das vorrevolutionäre Russland war ein Agrarstaat, aber bereits eine Übergangsgesellschaft vom Feudalismus zum Kapitalismus. Es war in der Entwicklung im Vergleich zu Westeuropa und Nordamerika weit zurückgeblieben in seiner technologischen und sozialökonomischen Entwicklung. Doch mit der Entwicklung des kapitalistischen Weltmarktes ist auch die Geschichte von Nationalstaaten eine Teilgeschichte des globalen Kapitalismus. Zurückgebliebene Nationalstaaten wiederholen nicht sklavisch die Geschichte der fortgeschrittenen Nationen. Der globale Konkurrenzkampf der Nationalstaaten zwingt die Regierenden der unterentwickelten Nationen ihre eigene Entwicklung zu beschleunigen – wenn sie nicht im wirtschaftlichen, politisch-diplomatischen und militärischen Gerangel ständig das Nachsehen haben wollen. Außerdem besteht die Möglichkeit rückständiger Nationalstaaten die modernsten technologischen Fortschritte der grundsätzlich sozialreaktionären kapitalistischen Zivilisationsbarbarei fertig zu übernehmen, anstatt sie selbst zu entwickeln. Denn die stärkste Waffe im globalen Konkurrenzkampf der Nationalstaaten war und ist eine hohe Arbeitsproduktivität –also war und ist die Fabrik als proletarische Hölle die Grundlage für nationalstaatliche Himmelstürmerei.
Auch das zaristische Russland versuchte seinen Agrarsektor auf bürgerliche Weise zu modernisieren und die Industrialisierung des Landes in Angriff zu nehmen. Dabei wollten aber die Regierenden eine politische Transformation von der zaristischen Autokratie, welche sich im 18. Jahrhundert herausentwickelt und die im 19. Jahrhundert ausgebaut wurde, zur privatkapitalistischen Demokratie verhindern. Doch das zaristische Russland konnte die bürgerliche Modernisierung nur in Angriff nehmen, die letztendliche Umwandlung von einem Agrar- zu einem Industriestaat vollzogen erst die partei-„kommunistischen“ BerufspolitikerInnen auf Grundlage staatskapitalistischer Produktionsverhältnisse (siehe dazu die Broschüre: Nelke, Der sowjetische Staatskapitalismus und Imperialismus, Soziale Befreiung, Bad Salzungen 2012).
Eine bürgerliche Modernisierung der Landwirtschaft, welche der zaristische Staat bereits in Angriff nahm, bedeutete die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Verwandlung allen Bodens in potenzielles Kapital, auf dem AgrarkapitalistInnen das Landproletariat ausbeuten. Selbstverständlich gibt es auch in einer kapitalisierten Landwirtschaft noch KleinbäuerInnen. Absolut unvereinbar ist eine kapitalistische Landwirtschaft mit den urwüchsigen BäuerInnengemeinden kleiner PrivateigentümerInnen, die selbstgenügsam fast alles produzierten was sie brauchten und nur die Überschüsse in Waren verwandelten. Kapitalistische Landwirtschaft heißt auch Agrarproduktion für den Markt und die Verwandlung von BäuerInnen in Marktsubjekte, welche für den globalen Agrarmarkt produzieren und auf den Lebensmittel- und Agrartechnikmärkten konsumieren. In England entwickelte sich der Agrarkapitalismus im 16. Jahrhundert auf dem Friedhof der urwüchsigen BäuerInnengemeinde kleiner PrivateigentümerInnen, der Allmende. Die ehemals adligen GroßgrundbesitzerInnen verbürgerlichten und verpachteten den Boden an AgrarkapitalistInnen. Beide Klassen lebten von der Ausbeutung des Landproletariats.
Die Kapitalisierung der Landwirtschaft war im zaristischen Russland Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts noch lange nicht soweit gediegen. Eine wichtige Bedingung für die bürgerliche Modernisierung der Landwirtschaft und die Bereitstellung von Lohnarbeitskräften für die beginnende Industrialisierung war die Aufhebung der Leibeigenschaft am 19. Februar 1861. Doch die meist adeligen GroßgrundbesitzerInnen beherrschten den Boden, AgrarkapitalistInnen gab es im zaristischen Russland so gut wie gar nicht, lediglich einige GroßbäuerInnen, welche embryonal die Lohnarbeit von Knechten und Mägden ausbeuteten. Das Landproletariat bestand am Vorabend der russischen Revolution lediglich aus fünf Millionen Menschen. Allerdings besaß auch die russische Bourgeoisie vor der Revolution schon vereinzelt Boden.
Leo Trotzki schrieb über die Bodenverteilung vor der Revolution von 1905, auf die wir weiter unten noch kurz eingehen werden: „Die Gesamtzahl des nutzbaren Bodens in den Grenzen des europäischen Russland wurde am Vorabend der ersten Revolution (von 1905, Anmerkung von Nelke) auf 280 Millionen Deßjatinen geschätzt. Der Boden der Dorfgemeinden umfasste etwa 140 Millionen, die Kronländereien etwa 5 Millionen, Kirchen- und Klosterbesitz etwa 2 ½ Millionen Deßjatinen. Von dem Privatbesitz an Boden entfielen auf 30 000 Großgrundbesitzer, von denen jedem über 500 Deßjatinen gehörte, 70 Millionen Deßjatinen, das heißt die gleiche Zahl, über die annähernd 10 Millionen Bauernfamilien verfügten. Diese Bodenstatistik bildete das fertige Programm des Bauernkrieges.“ (Leo Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, Erster Teil: Februarrevolution, Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1982, S. 48.)
Bevor wir zur Agrarrevolte als Teil der Revolution von 1905 zu sprechen kommen wollen wir uns mit der Entwicklung des russischen Industriekapitalismus und des proletarischen Klassenkampfes beschäftigen. Der eigentliche Beginn der kapitalistischen Industrialisierung Russlands fiel in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zentren der Industrie in Russland wurden die Hauptstadt Petrograd, Moskau, die Bergbaubetriebe im Donezgebiet, die Hüttenwerke am Don und die Schwarzmeer-Küstengebiete. Zwischen 1860 und 1900 steigerte Russland seine Eisen- und Stahlproduktion um das Zehnfache. Auch die Erdölförderung bei Baku konnte zwischen 1870 und 1900 von 1,8 auf 632 Millionen Pud (1 Pud=16Kg) gesteigert werden.
Eine besondere Eigentümlichkeit der sozialökonomischen Entwicklung Russlands im Vergleich mit Westeuropa war, dass sich hier vor dem Beginn der kapitalistischen Industrialisierung das Handwerk noch nicht grundsätzlich vom Ackerbau getrennt hatte. Die Folge dessen war das weitgehende Fehlen der handwerklich-zünftigen Tradition in den russischen Städten. Wie wir bereits oben dargelegt haben, wiederholen die unterentwickelten Nationalstaaten nicht schematisch die Geschichte der hoch entwickelten Nationalstaaten. So entwickelte sich in Russland der Industriekapitalismus sofort als Großproduktion auf dem technologisch modernsten Stande. Die Konzentration und Zentralisation des Kapitals war in Russland weiter fortgeschritten als in den USA. Während in den Vereinigten Staaten 1914 die ProletarierInnen, welche in kleinen Betrieben mit einer Beschäftigtenzahl von unter 100 ArbeiterInnen produzierten, 35 % des gesamten Industrieproletariats darstellten, waren in Russland zur gleichen Zeit nur 17,8 % der industriellen Arbeitskräfte in Kleinbetrieben beschäftigt. Der prozentuale Anteil von IndustriearbeiterInnen in mittleren und größeren Unternehmen mit 100 bis 1000 Arbeitskräften am jeweiligen Gesamtproletariat war in beiden Staaten ungefähr gleich. Doch die IndustrieproletarierInnen, welche in Riesenbetrieben mit über 1000 Arbeitskräften ausgebeutet worden sind, stellten in Russland 41,4 % der gesamten industriellen ArbeiterInnenklasse dar, während in den USA der Prozentsatz der ArbeiterInnen von Riesenbetrieben am gesamten Industrieproletariat bei 17,8% lag. In den wichtigsten russischen Industriestädten Petrograd (44,4%) und Moskau (57,3%) stellten die industriellen Beschäftigten in Riesenunternehmen sogar noch einen größeren Teil am Gesamtproletariat.
Diese hohe Konzentration und Zentralisation des quantitativ noch sehr schwach ausgeprägten Industriekapitals hatte sehr hohen Einfluss auf die soziale Zusammensetzung des russischen Industrieproletariats. Die Konzentration in Riesenfabriken begünstigte den kollektiven Klassenkampf und die Entstehung von Massenorganen des selbstorganisierten Klassenkampfes. Dieser Fakt erklärt die große Klassenkampfsubjektivität des russischen Industrieproletariats, zu dem am Vorabend der Februarrevolution von 1917 nicht viel mehr als 3,5 Millionen Menschen gehörten.
Die hohe Konzentration des zahlenmäßig kleinen russischen Proletariats in Riesenbetrieben war auch Ausdruck vom weitgehenden Fehlen einer handwerklich-zünftigen Tradition des russischen Proletariats. Während zum Beispiel das Proletariat in westlichen Industriestaaten mit Gesellen und TagelöhnerInnen im Kleinhandwerk einen relativ starken kleinbürgerlich-handwerklichen Schwanz besaß, war die kleinbürgerlich-handwerkliche Tradition des russischen Proletariats verhältnismäßig schwach. Auch das wirkte sich positiv auf die Kampfkraft des russischen Proletariats aus, da bei den russischen ArbeiterInnen berufsständischer Kastengeist als eine Folge der handwerklich-zünftigen Tradition wesentlich geringer zu finden war als bei ihren westeuropäischen KollegInnen. Dafür war die bäuerliche Tradition des russischen Proletariats wesentlich größer als in den westeuropäischen Industriestaaten. Auch ein nicht geringer Teil des industriellen Proletariats wurde von bäuerlichen Saisonarbeitskräften gestellt, also von frisch proletarisierten Menschen, welche die Fabrikdisziplin noch relativ schwach verinnerlicht hatten. Dies ist eine Erklärung für die große Kampfkraft des quantitativ schwachen russischen Proletariats.
Auch waren die russischen IndustriearbeiterInnen dem despotischen zaristischen Regime unterworfen und noch keine doppelt freien LohnarbeiterInnen wie in den hoch entwickelten kapitalistischen Industriestaaten. Diese waren einerseits frei von Produktionsmitteln und andererseits verfügten sie frei über ihre Persönlichkeit. Diese doppelte Freiheit führte und führt in kapitalistischen Industriestaaten bei den proletarisierten Menschen zu dem stummen Zwang der Verhältnisse, ihre Arbeitskraft an die verschiedenen kapitalistischen ProduktionsmittelbesitzerInnen zu vermieten. Ihre sozialökonomische Ausbeutung besteht darin, dass die LohnarbeiterInnen für das Kapital viel mehr Wert produzieren, als den, den sie in Form des Lohnes als Mietpreises der Arbeitskraft ausgezahlt bekommen. Der vom Proletariat produzierte Teil des Wertes, den sich die KapitalistInnen aneignen, ist der Mehrwert.
Die freie Verfügung über ihre Persönlichkeit durch die LohnarbeiterInnen in demokratischen Industriestaaten ist also nichts anderes als die Marktsubjektivität von proletarisierten Menschen, die ihre eigene Haut zu Markte tragen müssen, welche dann auch im kapitalistischen Produktionsprozess in der Regel kräftig gegerbt wird. Obwohl aber die freie Marktsubjektivität der LohnarbeiterInnen zur Ausbeutungsobjektivität führt, dazu, dass sie zu einem Anhängsel der kapitalistischen Maschinerie werden, die entfremdet von den Produktionsmitteln für eine andere Klasse, die Bourgeoisie, fremdbestimmt Warenkapital produzieren, ist diese elende Marktsubjektivität auch Quelle von Freiheitsillusionen und kleinbürgerlicher Tendenzen beim Lohnproletariat. Die freie Marktsubjektivität kultiviert im proletarisierten Menschen nicht gerade selten den Kleinkrämer, der sich selbst auf dem Arbeitsmarkt völlig ausverkauft, die eigenen Bedürfnisse dabei oft so sehr verleugnend, dass er sie selbst kaum noch wahrnimmt, damit er nach außen immer schön „selbstbewusst“ und „aktiv“ auftreten kann. Gewerkschaften, diese Co-Managerinnen der kapitalistischen Ausbeutung, verstärken diese kleinbürgerlichen Tendenzen im Proletariat noch. Der Gewerkschaftskleinbürger verlangt dann gutes Geld für gute Arbeit, die Ware-Geld-Beziehung und die darauf beruhende produktive Tätigkeit als Lohnarbeit wird total verinnerlicht. Natürlich muss das Proletariat einen reproduktiven Klassenkampf führen, damit es nicht vom Kapital überausgebeutet wird und dieser Klassenkampf hat auch seine revolutionären Tendenzen, die von SozialrevolutionärInnen nicht gering geschätzt werden sollten. Aber genau so wenig darf die kleinbürgerliche Marktsubjektivität von doppelt freien LohnarbeiterInnen, welche auch noch im Klassenkampf mehr oder weniger reproduziert wird und nur durch die soziale Revolution überwunden werden kann, übersehen werden.
Nun, getrennt von den industriellen Produktionsmitteln waren die russischen LohnarbeiterInnen auch, allerdings war die freie Verfügung über ihre Persönlichkeit, also ihre Marktsubjektivität, stark eingeschränkt. Es gab im zaristischen Russland so etwas wie industrielle Leibeigenschaft – eine Tradition, welche der „sozialistische“ Staatskapitalismus verstärkt bei der ursprünglichen Industrialisierung der UdSSR fortsetzte. Ausdrücke von Anzeichen einer industriellen Leibeigenschaft waren im zaristischen Russland ein besonderes Lohnzahlungssystem, die teilweise Kasernierung der ArbeiterInnen und ein ultrarepressives Sozialgesetz. Diese Einschränkung der freien Marktsubjektivität der russischen LohnarbeiterInnen führte aber auch dazu, dass ihre kleinbürgerlichen Tendenzen relativ gering blieben, die despotische politische Unterdrückung durch das zaristische Regime aber den Kampfwillen des russischen Proletariats stärkte.
Für die russische Bourgeoisie bedeutete die hohe Konzentration und Zentralisation des Kapitals bei einem weitgehenden Fehlen einer handwerklich-zünftigen Tradition der russischen Städte, dass es zwischen ihr und dem Proletariat eine verhältnismäßig dünne Schicht von ökonomisch selbständigen KleinbürgerInnen gab. Allerdings gab es auch in Russland jenes von Bourgeoisie und/oder Staat lohnabhängige KleinbürgerInnentum, welches erst der Kapitalismus hervorbrachte und bis heute ständig erneuert reproduziert, bestehend aus den technischen und den unteren bis mittleren verwaltenden Angestellten der Bourgeoisie und den kleineren Staatsbeamten und -angestellten.
Außerdem waren die BesitzerInnen des hoch konzentrierten und zentralisierten russischen Kapitals häufig AusländerInnen, die sich durch ihre nationale Diplomatie beim russischen Staat vertreten ließen. Das erklärt auch das geringe Interesse der ausländischen Bourgeoisie an der Weiterentwicklung des kläglichen bürgerlichen Parlamentarismus (Duma), welcher am Rande des zaristischen Selbstherrschertums dahinvegetierte. In dieser Karikatur eines funktionierenden bürgerlichen Parlamentarismus war der politische Einfluss der liberalen Industriebourgeoisie geringer als der der vorwiegend adligen GroßgrundbesitzerInnen. Das Wahlgesetz von 1907 begünstigte eindeutig die GroßgrundbesitzerInnen, welche zur herrschenden, praktisch alles entscheidenden Gruppe wurden. Die liberale Bourgeoisie passte sich politisch immer stärker dem Zarismus und den GroßgrundbesitzerInnen an. Selbst die großbürgerlichen politischen Parteien (Kadetten und Oktobristen) waren organisatorische Bündnisse von russischer Großbourgeoisie, kleinbürgerlicher Intelligenz und GroßgrundbesitzerInnen.
Ein Teil des Großkapitals, besonders jener, welcher für die Bedürfnisse der russischen Armee produzierte, befand sich entweder in direkter staatlicher Hand oder produzierte im Staatsauftrag. War schon das angehäufte Industriekapital im zaristischen Russland absolut bescheiden, war der Teil über den die russische Bourgeoisie wirklich selbständig als soziale Kraft verfügte, noch schwächer. Das russische Kapital war also ein sozialökonomisches Verhältnis, was zwar noch nicht Russland beherrschte, aber schon durch starke Klassenkämpfe zwischen einer sozial schwachen und politisch unselbständigen Bourgeoisie und einem zwar zahlenmäßig schwachen aber dafür kampfstarken Proletariat geprägt war. Dieses russische Industriekapital als Verhältnis zwischen Bourgeoisie und Proletariat war aber vor 1917 nur eine Insel im noch vorwiegend feudal geprägten zaristischen Agrarstaat.

…..

Schon im Jahre 1905 wollte und konnte weder das Proletariat noch die Mehrheit der BäuerInnen so weiter leben wie bisher. Es entwickelte sich eine revolutionäre Situation, die schließlich in einem Revolutionsversuch mündete, der jedoch noch einmal von der zaristischen Sozialreaktion niedergeschlagen werden konnte.
Beschreiben wir die Revolution von 1905 als Generalprobe zur russischen Revolution von 1917 bis 1921 etwas genauer. Der erfolglose Krieg des zaristischen Russlands gegen Japan verschärfte alle sozialen Gegensätze im Inneren des Landes. Anfang Januar 1905 (alle Zeitangaben bis zur Oktoberrevolution erfolgen nach dem alten russischen Kalender) legte die Belegschaft des Petrograder Putilow-Werkes – des größten russischen Rüstungsunternehmens – die Arbeit nieder. Die zaristische Repression schlug sofort zu. Es wurden vier ArbeiterInnen wegen subversiver Tätigkeit eingesperrt. Doch damit steigerte das zaristische Regime nur die soziale Gärung unter den ArbeiterInnen.
In dieser Situation der sozialen Spannung organisierte der Pope Gapon am 22. Januar 1905, an einem Sonntag, ein Bittgang aus 100 000 ArbeiterInnen zum Zarenpalais. Obwohl der Organisator dieses devoten Aufmarsches, Gapon, Vorsitzender der von der zaristischen Polizei gesteuerten „Gesellschaft russischer Industrie- und Mühlenarbeiter“ war, ging die Reaktion zur blutigen Repression über. Der Polizeipräsident ließ auf den Bittgang schießen. Dieser Tag ging als „Blutsonntag“ in die russische Geschichte ein und wurde zum Fanal der Revolution von 1905.
Eine gewaltige proletarische Streikwelle überflutete Russland. Zuerst wurden von den ArbeiterInnen vorwiegend sozialökonomische Forderungen aufgestellt, doch in den Randgebieten des Zarenreiches – in Polen, im Baltikum und im Kaukasus – hatte das Proletariat Illusionen in die „nationale Befreiung“. Doch das Aufstellen von nationalistischen Losungen machte die ArbeiterInnen objektiv zum proletarischen Schwanz des bürgerlichen Nationalismus.
Im Sommer 1905 verebbte diese Streikwelle etwas, entfaltete aber im Herbst verstärkt ihre Kraft. Der neue Aufschwung des proletarischen Klassenkampfes ging diesmal von den Industriebezirken Moskaus aus und griff dann auch auf Petrograd über. Durch die Arbeitsniederlegung des Eisenbahnproletariats nahm der Klassenkampf die Form eines Generalstreikes an. Mit dem reproduktiven Klassenkampf des russischen Proletariats entwickelten sich auch die institutionalisierte ArbeiterInnenbewegung, die Gewerkschaften. Im demokratischen Kapitalismus wurde die Gewerkschaftsbürokratie zur Co-Managerin der kapitalistischen Ausbetung, doch selbst in den USA und in Westeuropa war diese Entwicklung im Jahre 1905 noch in den Anfangsstadien. Das zaristische Russland dachte nicht im Geringsten daran, den Gewerkschaften diese Rolle zuzugestehen. Doch die Gewerkschaften blieben im Schatten der ArbeiterInnenräte, die sich auf dem Höhepunkt der Streikwelle entwickelt hatten. Der Klassenkampf blieb objektiv reproduktiv, weil er nicht in einer sozialen Revolution mündete, doch nicht wenige russische ArbeiterInnen waren damals subjektiv revolutionär eingestellt.
Auf dem Lande entwickelte sich die Agrarrevolte der russischen BäuerInnen. Es überwogen auch hier sozialökonomische Forderungen, wobei diese in den Randgebieten mit den ideologischen Reproduktionen des Nationalismus „unterdrückter Nationen“ verschmolzen. Doch diese Nationalismen „unterdrückter Nationen“ waren genau so sozialreaktionär wie der russische Nationalismus. Insgesamt gesehen war die Agrarrevolte kleinbürgerlich, da sie auf die Enteignung des Großgrundbesitzes zu Gunsten kleinbäuerlichen Privateigentums zielte. Sie entwickelte sich zuerst im Zentrum Russlands, griff dann auf das ganze russische Schwarzerdgebiet über und erreichte schließlich im Sommer 1905 den Westen des Landes bis hinauf zum Baltikum. Auch jenseits des Kaukasus, in Georgien, rebellierten die BäuerInnen. Im Herbst beruhigte sich der Sturm der Agrarrevolte etwas, doch er holte nur Atem zum neuen Brausen. Das Zentrum des mit neuer Kraft entflammten bäuerlichen Protestes wurde das mittlere Wolgagebiet. Der BäuerInnenkrieg dehnte sich rasch auf das ganze Land aus. Die Agrarrevolte nahm die Formen von Zahlungsverweigerungen der Steuern und Abgaben, der Inbesitznahme der adligen Felder und Wälder und des Abbrennens von Gutshöfen an.
Doch die zaristische Sozialreaktion hatte im Jahre 1905 noch die Kraft, den Kampf des Proletariats und der BäuerInnen in Blut zu ersticken. Im Dezember 1905 wurden die Mitglieder des Petrograder ArbeiterInnenrates verhaftet, dass sich daraufhin erhebende Moskauer Proletariat konnte bis Ende des Jahres von der Konterrevolution niedergeschlagen werden. Mit der Erstickung der Agrarrevolte war die zaristische Reaktion bis 1907 beschäftigt.
Die sozialökonomischen Verbesserungen, die sich das russische Proletariat im Jahre 1905 erkämpft hatte, wurden ihm durch die siegreiche Sozialreaktion nach und nach wieder genommen. Streiks blieben weiterhin verboten. Doch das hielt die russischen ArbeiterInnen nicht davon ab, trotzdem massenhaft die Arbeit niederzulegen. Besonders die seit 1910 einsetzende Belebung der russischen Industrie gab auch dem proletarischen Klassenkampf neuen Auftrieb. Dieser Klassenkampf trieb zwischen 1912 und 1914 wieder einem neuen Höhepunkt entgegen. Besonders im ersten Halbjahr 1914 nahmen die (anti-)politischen Streiks gegen die zaristische Reaktion enorm zu.
Bis 1914 erholte sich also das russische Proletariat weitgehend von der Niederlage von 1905. Deshalb beteiligte sich auch das zaristische Russland unter anderem an der Seite von England und Frankreich am imperialistischen Ersten Weltkrieg. Der imperialistische Krieg und die in ihm sprießenden chauvinistischen und nationalistischen Ideologien stärken häufig zumindest am Anfang die Bourgeoisie und schwächen das klassenkämpferisch-progressive Proletariat. So war es auch im zaristischen Russland.
Doch dieses war den Anforderungen des imperialistischen Kriegsgemetzels als dem konzentriertesten Ausdruck der globalen Konkurrenz der Nationalstaaten und der kapitalistischen Zivilisationsbarbarei nicht gewachsen. Die militärische Offensive des zaristischen Russland in Richtung Westen kam schon im Herbst 1914 zum Stehen, ab 1915 waren die Fronten festgefahren. Bis zu Beginn dieses Jahres verlor die vorwiegend bäuerliche Armee bereits 1,8 Millionen Soldaten durch Tod, Verwundung und Kriegsgefangenschaft. Der russische Imperialismus rekrutierte vorwiegend aus den Dörfern zwei Millionen Männer, neues Kanonenfutter. Doch die Ausbildung und die Bewaffnung der neu rekrutierten Soldaten waren äußerst mangelhaft, da die die Armeeführung nur mit einem kurzen Krieg gerechnet hatte. Auch die industrielle Basis des russischen Militarismus erwies sich für die moderne Kriegsbarbarei als zu schwach –trotz der Umstellung vieler ziviler Unternehmen auf Kriegsproduktion. Während auch die russische Bourgeoisie prächtig am globalen Gemetzel verdiente, fraß er die finanziellen Ressourcen des russischen Staates auf. Der Erste Weltkrieg kostete dem zaristischen Russland im Jahre 1915 zehn Milliarden Rubel und 1916 bereits neunzehn Milliarden Rubel.
Das Imperialistische Kriegsgemetzel brachte auch für das russische Proletariat eine verschärfte Überausbeutung und eine weitgehende soziale Neuzusammensetzung. Die Rekrutierung für den imperialistischen Krieg innerhalb des russischen Proletariats nahm der Zarismus am Anfang nicht nur nach militärischen Maßstäben, sondern auch nach polizeilichen Gesichtspunkten vor. Die zaristische Sozialreaktion nutzte das globale Gemetzel, um die klassenkämpferischsten Arbeiter loszuwerden und an die Front zu schicken. In den ersten Kriegsmonaten wurden bis zu 40% des Industrieproletariats für die russische Armee rekrutiert. Die russische Bourgeoisie protestierte schließlich erfolgreich gegen den gewaltigen Aderlass an „ihren“ Profitproduzenten. Die massenhafte Rekrutierung von Industriearbeitern für das militärische Schlachtfeld wurde gestoppt, aber als Drohung für den Fall des Klassenkampfes leistete sie der Sozialreaktion noch wichtige Dienste. Das an die Front Schicken von klassenkämpferischen Arbeitern lähmte zuerst den proletarischen Klassenkampf. Die zweite Seite der Medaille war allerdings, dass dadurch klassenbewusste Proletarier den bereits existierenden sozialen Unmut ihrer zumeist bäuerlichen Kameraden innerhalb der Armee weiter entfachen und eine klarere Richtung geben konnten. Das war für den weiteren Verlauf des revolutionären Prozesses in Russland nicht unwichtig.
Doch die für den imperialistischen Krieg rekrutierten Industriearbeiter mussten ersetzt werden. Die Bourgeoisie rekrutierte neue SoldatInnen für den sozialökonomischen Krieg um Maximalprofite aus BäuerInnen, dem städtischen KleinbürgerInnentum, weniger qualifizierten ArbeiterInnen, Halbwüchsigen und den Frauen. Der Frauenanteil am Industrieproletariat stieg durch den imperialistischen Krieg von 32% auf 40%. Auch die Konzentration der russischen IndustriearbeiterInnen in Riesenunternehmen wurde durch das globale Gemetzel beschleunigt. Zwischen 1914 und 1917 stieg die Anzahl der Großbetriebe mit über 500 ArbeiterInnen fast um das Doppelte. Wegen der Liquidierung der polnischen und baltischen Industriebetriebe und der allgemeinen Zunahme der Kriegsproduktion wuchs das Petrograder Proletariat bis 1917 auf etwa 400 000 ArbeiterInnen, davon wurden 350 000 in 140 Großbetrieben ausgebeutet. Bis zu 50% des Ausstoßes der russischen Industrie war für das Kriegsgemetzel bestimmt, darunter 75 Prozent der Textilprodukte.
Die soziale Neuzusammensetzung des russischen Proletariats schwächte zuerst dessen Kampfkraft. Die ideologische Kriegsoffensive der Sozialreaktion mit ihrem großrussischen Nationalismus und Chauvinismus lähmte das Proletariat geistig. Die subjektiv sozialrevolutionären ArbeiterInnen – der proletarische Flügel des Anarchismus und des Parteimarxismus, über beide Strömungen mehr weiter unten – hatten zu Beginn des Krieges einen sehr schweren Stand in den Betrieben. Allein dass in der Industriestadt Moskau der städtische Mob unter Aufsicht der zaristischen Polizei im Mai 1915 ein Pogrom gegen die deutsche Bevölkerung organisieren konnte, ohne dass dieses reaktionäre Pack auf proletarischen Widerstand stieß, zeigte dass der imperialistische Krieg am Anfang auch ein erfolgreiches Mittel des Zarismus und der Bourgeoisie war, um den proletarischen Klassenkampf einzudämmen.
Doch die Überausbeutung und die soziale Verelendung konnten auch von den frisch proletarisierten Menschen nicht kampflos hingenommen werden. Die Teuerungen bei den Lebensmitteln übten einen gewaltigen Druck auf die Reallöhne aus, während die Jagt nach dem Kriegsprofit zu einer Extensivierung (Verlängerung der Arbeitszeit) und/oder Intensivierung (Erhöhung der Arbeitsintensität/Arbeitsverdichtung) der Ausbeutung führte. Im Juni 1915 trat als erstes das Textilproletariat in den Kampf. Die Bullen reagieren mit Gewalt, am 5. Juni schossen sie in Kostroma auf TextilarbeiterInnen. Die WeberInnen hatten 4 Tode und 9 Verwundete zu beklagen. Am 10. August wurden in Iwanowo-Wosnessenk von den Repressivorganen 16 ProletarierInnen erschossen und 30 verwundet. Als Antwort auf den zaristischen Bullenterror entwickelten sich einige Proteststreiks. Doch verglichen mit dem ersten Halbjahr von 1914 wies dieses neue Aufflackern des Klassenkampfes im Jahre 1915 ein wesentlich geringeres Niveau auf.
Am 9. Januar 1916, dem elften Jahrestag des „Blutsonntages“ von 1905, entwickelt sich eine umfangreiche Streikbewegung. Blutige Zusammenstöße zwischen ArbeiterInnen und zaristischen Repressionsorganen begleiteten die Arbeitsniederlegungen. Während die ProletarierInnen versuchten die Soldaten auf ihre Seite zu ziehen, kämpften sie kompromisslos und voller Hass gegen die zaristische Polizei.
Ende 1916 kam es zu gewaltigen Preissteigerungen. Zur Inflation und der wachsenden Zerstörung der Transportwege kam ein akuter Warenmangel dazu. Der Konsum der russischen Bevölkerung nahm um die Hälfte ab. Auf Grund der Verelendung nahm der proletarische Klassenkampf stark zu. Oktober 1916 erreichte der Kampf des Petrograder Proletariats seinen Höhepunkt. Eine Welle von Betriebsversammlungen überschwemmte die russische Hauptstadt. Themen der Betriebsversammlungen waren die Teuerungen, die Ernährung, der Krieg und das zaristische Regime. (Anti-)politische Streiks entwickelten sich. Diese wurden durch kämpferische Straßendemonstrationen gekrönt. Es kam zu Verbrüderungen zwischen IndustriearbeiterInnen und Soldaten. Als die revolutionären Matrosen der baltischen Flotte, die gegen den imperialistischen Krieg gemeutert hatten, vor Gericht gestellt wurden, brachen Solidaritätsstreiks aus.
Mit der Verschärfung des proletarischen Klassenkampfes verschob sich auch sein sozialer Schwerpunkt von den Textil- zu den MetallarbeiterInnen. Am 9. Januar 1917 streikten in Petrograd 150 000 ArbeiterInnen. Die MetallarbeiterInnen standen an der Spitze dieser Arbeitsniederlegung. Die Atmosphäre war stark erhitzt, das kollektive Empfinden der Klasse erspürte, dass es kein Zurück geben konnte. In den ersten zwei Februarwochen entwickelten sich permanent Streiks und Versammlungen. Die russische Hauptstadt ging der Februarrevolution entgegen.
Das Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse radikalisierte sich im Verlauf des imperialistischen Gemetzels und des neu entfachten proletarischen Klassenkampfes. Der Gedanke an einen Generalstreik erfasst immer mehr Gehirne des klassenkämpferischen Proletariats, da die einzelnen Bourgeois kaum an Konzessionen an die jeweiligen Belegschaften dachten. Auch die feindliche Haltung gegenüber dem zaristischen Staat nahm zu. Während sich im Jahre 1915 zweieinhalb Mal weniger ArbeiterInnen an (anti-)politischen Streiks als an sozialökonomischen Streiks beteiligen, waren es 1916 zwei Mal weniger. In den ersten beiden Monaten von 1917 streikten sechs Mal mehr ArbeiterInnen für (anti-) politische Forderungen als für sozialökonomische. Das klassenkämpferische russische Proletariat konnte also weder durch die vorübergehend siegreiche Konterrevolution von 1905 noch durch das imperialistische Kriegsgemetzel für lange zum Schweigen gebracht werden!
Doch wie sah es auf dem Lande, wo die bäuerliche Bevölkerungsmehrheit Russlands lebte, aus? Nachdem der Zarismus die Revolution von 1905 niedergeschlagen hatte, setzte er die kapitalistische Modernisierung der Landwirtschaft fort. Sein sozialreaktionäres Ziel bestand darin, durch die soziale Differenzierung der BäuerInnen die Agrarrevolte gegen die GroßgrundbesitzerInnen im Keim zu ersticken. Dieses Ziel sollte durch die Zersetzung und Zerstörung der urwüchsigen russischen Bauerngemeinschaft kleiner PrivatbodenbestellerInnen, der Mir, erreicht werden. Diese Zerstörung der alten Dorfgemeinschaft war neben der Aufhebung der Leibeigenschaft die zweite wichtige Voraussetzung der Kapitalisierung der Landwirtschaft.
Doch vor der dritten Vorraussetzung, einer Bodenreform, welche den gutsbesitzenden Adel enteignet hätte, schreckte der Zarismus zurück. Auf Grund der Kräftegruppierung von zaristischer Staatsbürokratie, GroßgrundbesitzerInnen und Bourgeoisie war keine obere Klasse eine Fürsprecherin der Bodenreform. Die GroßgrundbesitzerInnen waren aus sozialökonomischen Gründen gegen eine solche, die zaristische Bürokratie stützte sich politisch auf die GroßgrundbesitzerInnen und die russische Bourgeoisie klammerte sich in ihrer sozialen Schwäche im Klassenkampf gegen das Proletariat lieber an die zaristische Bürokratie und die GroßgrundbesitzerInnen als die Agrarrevolte gegen den Großgrundbesitz zu unterstützen. Eine Bodenreform von oben war aber nicht nur absolut notwendig um die russische Landwirtschaft endgültig zu entfeudalisieren, sondern auch um einer Agrarbewegung gegen den Großgrundbesitz wirklich die soziale Wurzel zu entziehen. Die beginnende Zerstörung der Mir führte zu einer Durchdringung des Feudalismus mit kapitalistischen Elementen, aber nicht zu einer sozialen Austrocknung des BäuerInnenkrieges gegen den Großgrundbesitz. So entwickelte sich die gewaltige kleinbürgerliche Agrarrevolte als Teil der russischen Revolution und als ein klarer Ausdruck der Tatsache, dass das Kalkül der zaristischen Sozialreaktion nicht aufging.
Doch kehren wir zurück zur vorrevolutionären russischen Landwirtschaft. Der Prozess der Zersetzung der Mir begann mit der Aussonderung kapitalistischer FarmerInnen aus der BäuerInnengemeinde. Das Gesetz vom 9. November 1906 bildete dazu die rechtliche Grundlage. Es sicherte einer Minderheit der Mir das Recht zu, sich aus der BäuerInnengemeinschaft auszusiedeln. Die Oberschicht der BäuerInnen konnte sich Gemeindeland aneignen und zu kapitalistischen FarmerInnen werden. Die Mir wurde durch die zaristische Sozialreaktion auch relativ erfolgreich zersetzt und die Kapitalisierung der Landwirtschaft begann ebenfalls, aber beides eben noch nicht so stark, um einer kleinbäuerlichen Agrarbewegung gegen den Großgrundbesitz dem Boden zu entziehen. Bis zum 1. Januar 1916 sonderten sich zweieinhalb Millionen PrivatbäuerInnen aus der Mir aus. Sie besaßen 17 Millionen Deßjatinen. Weitere zwei Millionen HofbesitzerInnen forderten die Ausgliederung von 14 Millionen Deßjatinen Gemeindeland. Doch das neu geschaffene Privateigentum erwies sich nicht als genügend lebensfähig. Die kleinen BäuerInnen und die GroßgrundbesitzerInnen versuchten gleichermaßen ihr Privateigentum loszuwerden – die GroßbäuerInnen (Kulaken) traten in beiden Fällen als KäuferInnen auf. Die GroßgrundbesitzerInnen verkauften, weil sie Angst vor der Agrarrevolte hatten, die KleinbäuerInnen weil der Boden sie nicht mehr ernähren konnte.
Mit der sozialreaktionären Zersetzung der Mir begannen sich auch Genossenschaften als kleinbürgerlich-kollektive Formen der agrarischen Warenproduktion zu entwickeln. Diese Agrargenossenschaften wurden vollständig von den GroßbäuerInnen beherrscht. Auch die kleinbürgerliche Intelligenz der „sozialrevolutionären“ Partei, welche sich politisch und ideologisch auf die BäuerInnen stützte, konzentrierte ihre Hauptkraft auf diese Landwirtschaftskooperativen. Dadurch verlor die „sozialrevolutionäre“ Intelligenz ihre Radikalität und passte sich immer stärker den sich entwickelnden Agrarkapitalismus an. Die spätere konterrevolutionäre Rolle der „sozialrevolutionären“ Partei wurde durch diese Anbindung an die sich kapitalisierende Landwirtschaft vorbereitet.
Ein ökonomischer Ausdruck der begonnen Kapitalisierung der russischen Landwirtschaft war der Anstieg des Exportes russischer Agrarprodukte. Exportierte Russland 1908 Agrarprodukte im wert von 1 Milliarde Rubel, betrug dieser Wert im Jahre 1912 bereits 1,5 Milliarden. Dieser Anstieg war ein Ausdruck dafür, dass auch die russischen BäuerInnen im zunehmenden Maße für den kapitalistischen Weltmarkt produzierten.
Doch wie bereits weiter oben schon erwähnt, konnte auch die fortschreitende Kapitalisierung der Landwirtschaft – weil sie nicht mit einer Bodenreform, also der Enteignung der GroßgrundbesitzerInnen verbunden war – die Agrarrevolte nicht ersticken. Sie erhob bereits 1908 wieder ihr Haupt und verstärkte sich in den folgenden Jahren. Im Kampf gegen den gutsbesitzenden Adel setzten die BäuerInnen häufig dessen Gehöfte, Ernte und Heu in Flammen. Auch die sich aus der Mir ausgesonderten FarmerInnen wurden nicht selten Opfer der bäuerlichen Agrarrevolte. Doch als Folge der beginnenden kapitalistischen Zersetzung der alten russischen Dorfgemeinschaft gab es zwischen 1906 und 1914 auch schon bewaffnete Konflikte bei der Aufteilung des Gemeindelandes zwischen den BäuerInnen. Doch auch dieser innerbäuerliche Konkurrenzkampf konnte die gesamtbäuerliche Agrarbewegung gegen den Großgrundbesitz nicht aufhalten.
Durch die Mobilisierung für den imperialistischen Krieg ab 1914 wurden der Agrarrevolte die aktivsten, gesündesten und kämpferischsten Kräfte entzogen. Sie wurden millionenfach in Uniform gesteckt und sollten für Zar, gutsbesitzenden Adel und Bourgeoisie töten und sterben. So wurde der BäuerInnenkrieg durch den imperialistischen Krieg bis 1917 unterbrochen. Doch auch innerhalb der Armee radikalisierten sich die bäuerlichen Soldaten unter dem Einfluss proletarisch-revolutionärer Kameraden weiter. Massenhafter Tod, die totalitäre Herrschaft der adligen und bürgerlichen Offiziere, welche sich auch in körperlicher Züchtigung der Soldaten äußerte, ließen die sozialen Gegensätze innerhalb der Armee, welche im Wesentlichen eine Bauernarmee war, ziemlich krass spürbar werden.
So ergab sich vor der Februarrevolution von 1917 folgende Situation: Die Krise des zaristischen Staates hatte sich im Verlauf des imperialistischen Krieges enorm zugespitzt. Das alte Russland war dem globalen Konkurrenzkampf der Nationalstaaten nicht gewachsen, weil die kapitalistische Modernisierung in den Jahren vor dem imperialistischen Gemetzel zu schwach war. Diese Krise ließ sich durch den Zarismus nicht mehr lösen, er musste hinweggefegt werden! Aber von wem? Von der russischen Bourgeoisie? Oder vom russischen Proletariat und/oder den russischen BäuerInnen?
Die sich aus der Krise des russischen Staates objektiv ergebende Zuspitzung der proletarischen Klassenkampfsubjektivität am Vorabend der Februarrevolution wurde vom damaligen sozialdemokratischen russischen Parteimarxismus nur ideologisch verzerrt widergespiegelt. Das war auch alles andere als ein Zufall.
Die internationale Sozialdemokratie war trotz ihrer teilweisen rrrevolutionären Phrasen eine kleinbürgerliche, aber keine proletarisch-revolutionäre Strömung. Ihre parteiförmigen Organisationen reproduzierten die bürgerliche Politik als Gestalterin der staatlichen und zivilgesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Kapitalvermehrung. Mit politischen Parteien wird der Kapitalismus verwaltet, aber nicht revolutionär aufgehoben. Die hauptamtlichen ParteipolitikerInnen eignen sich in Form von Steuern, Mitgliedsbeiträgen und Parteispenden einen Teil des proletarisch produzierten Mehrwertes an. Dieser Mehrwert wird in kapitalistischen Unternehmen (sowohl Familienunternehmen als auch Aktiengesellschaften, bei Privateigentum an industriellen Produktionsmitteln genauso wie in Staatskonzernen) produziert. Indem BerufspolitikerInnen von KapitalistInnen und KapitalmanagerInnen Steuern einziehen, eignen sie sich indirekt den für das Privatkapital produzierten Mehrwert an. Wenn die bürgerlichen BerufspolitikerInnen als ManagerInnen des Staates den proletarisierten Menschen Lohnsteuern abknöpfen, lassen sie die letztgenannten direkt Mehrwert für sich produzieren. Indem die BerufspolitikerInnen als Charaktermasken des Staates auch den Konsum von KapitalistInnen und LohnarbeiterInnen besteuern, verwandeln sie einen Teil des Konsumtionsfonds der Bourgeoisie und des Proletariats in staatlich angeeigneten Mehrwert. Wobei natürlich zu beachten ist, dass der Konsumtionsfonds der Bourgeoisie nichts anderes als proletarisch produzierter und kapitalistisch angeeigneter Mehrwert darstellt. Einen Teil des politisch angeeigneten Mehrwertes geht für Staatszwecke drauf (Infrastruktur, Krieg führen und ein wenig Wirtschafts-, Kultur- und Sozialpolitik), während der andere Teil als Gehalt in den persönlichen Konsum der BerufspolitikerInnen geht
Auch die BerufspolitikerInnen von Oppositionsparteien – unter ihnen auch die sozialdemokratischen Parteien – eignen sich als deren ManagerInnen den kapitalistisch produzierten Mehrwert an. Zum Teil bekommen sie Steuergelder in Form von Parlamentsdiäten, teilweise eigen sie sich den Mehrwert in Form von Parteispenden und Mitgliedsbeiträgen an. Mitgliedsbeiträge und Parteispenden stellen wie im Falle der staatlichen Besteuerung des Konsums die politische Aneignung eines Teiles des Konsumtionsfonds der bürgerlichen und proletarischen Mitglieder/Sympathisanten der Partei und deren Verwandlung in Mehrwert dar. Heute sind sozialdemokratische Parteien fast überall auf der Welt als Interessenvertreterinnen der Bourgeoisie von dieser auch anerkannt. Damals, also vor der Februarrevolution von 1917 waren sie das weder vollständig in Deutschland noch im zaristischen Russland. Die sozialdemokratischen BerufspolitikerInnen sowohl in Deutschland wie in Russland waren ManagerInnen von Oppositionsparteien und eigneten sich auf solche Weise einen Teil des Mehrwertes an. Diese sozialdemokratischen BerufspolitikerInnen waren entweder kleinbürgerliche Intellektuelle oder ehemalige LohnarbeiterInnen. Bevor sie von der Bourgeoisie voll anerkannt wurden, also von ParteimanagerInnen zu StaatsmanagerInnen aufsteigen konnten, waren sozialdemokratische BerufspolitikerInnen kleinbürgerliche PolitikerInnen beziehungsweise kleinbürgerliche DemokratInnen.
Indem sie den kapitalistischen Inhalt der bürgerlichen Politik reproduzierten, übernahmen sie auch deren bürgerlich-bürokratische Form, der totalitären Herrschaft des BerufspolitikerInnentums über die lohnabhängige Partei- und Wählerbasis. In der Praxis waren die proletarisierten Menschen für die sozialdemokratischen BerufspolitikerInnen nichts anderes als Stimmvieh, was brav sozialdemokratisch zu wählen, sie also zu ermächtigen hatte.
Sozialdemokratische PolitikerInnen waren sozial gesehen bürgerliche PolitikerInnen – und ihre Realpolitik konnte auch gar nicht anders sein als bürgerlich. Die Sozialdemokratie leistete in der Praxis wichtige Arbeit an der Reform des Kapitalismus, sowohl in der Sozialpolitik, als auch bei der Integration des Proletariats in eine reformierte Demokratie. In den frühen Demokratien wurden teilweise proletarisierte Menschen als WählerInnen benachteiligt. Das dies heute nicht mehr der Fall ist, verdanken wir auch der internationalen Sozialdemokratie. Doch dieses Wirken war grundsätzlich sozialreaktionär. Die Sozialdemokratie reformierte den kapitalistischen Feind des Proletariats mit Hilfe einer marxistisch-sozialistischen Ideologie.
Diese marxistische Ideologie war Selbstbetrug der Sozialdemokratie und sozialdemokratischer Betrug am Proletariat. Dies wurde mit Beginn des Ersten Weltkrieges deutlich, wo die meisten nationalen Sektionen der Sozialistischen Internationale, sich an die Seite des jeweiligen Nationalstaates und ihrer herrschenden kapitalistischen Klasse stellte. Auf diese Weise organisierte die internationale Sozialdemokratie das Massaker der Weltbourgeoisie am globalen Proletariat mit.
Sozialdemokratische IdeologInnen wurden entweder direkt von den Parteien der Zweiten Internationale bezahlt und/oder sie verkauften als freie AutorInnen ihre Ideologie auf den Zeitungs- und Büchermarkt. Auch einige sozialdemokratische IdeologInnen passten sich der bürgerlichen Praxis dieser politischen Strömung an und revidierten die marxistische Theorie. Das waren die so genannten „RevisonistInnen“ (in Deutschland Bernstein). Das sozialdemokratische Zentrum (in Deutschland Kautzky) verteidigte die marxistische Ideologie – auf dem Boden bürgerlicher Politik.
Der linke Flügel der Sozialdemokratie (Pannekoek, Luxemburg, Liebknecht, Lenin und Trotzki) hatte die ganze Zeit vor dem Ersten Weltkrieg versucht die Ideologie des sozialdemokratisierten Marxismus gegen die sozialdemokratische Wirklichkeit zu verteidigen. Er versuchte sein Ideal von der „proletarischen Partei“ in die Wirklichkeit umzusetzen, aber in der Praxis kann es nur bürgerliche Parteien geben – wie die Geschichte des Parteimarxismus in aller Deutlichkeit offenbarte. In den westeuropäischen Ländern wurde die Sozialdemokratie dann auch folgerichtig während des imperialistischen Krieges und der konterrevolutionären Niederschlagung der proletarischen Klassenkämpfe während und im Anschluss des Ersten Weltkrieges großbürgerlich. Der linke Flügel trennte sich von der Sozialdemokratie und ein großer Teil von ihm nahm als Partei-„Kommunismus“ an der kapitalistischen Sozialreaktion gegen das Proletariat teil – nur ein ganz kleiner Teil wirkte wirklich sozialrevolutionär. Die zuerst linkssozialdemokratischen und später partei-„kommunistischen“ PolitikerInnen, welche noch nicht die Staatsmacht durch eine politische Machteroberung übernommen hatten, bezeichnen wir als kleinbürgerliche Radikale im Gegensatz zu den kleinbürgerlichen ReformistInnen, die danach strebten von der Bourgeoisie voll anerkannt zu werden.
Im zaristischen Russland konnte sich wegen des ultrarepressiven Staates das sozialdemokratische BerufspolitikerInnentum nicht auf parlamentarische Weise schleichend in den Staat integrieren wie in Westeuropa. Statt Parlamentssitze gab es für russische sozialdemokratische BerufspolitikerInnen Gefängnis, Verbannung und Emigration. Damit sich die russische Sozialdemokratie in den Parlamentarismus integrieren konnte, musste in Russland erst mal ein parlamentarisches Herrschaftssystem geschaffen werden. Das war aber mit der Herrschaft der zaristischen Monarchie, die eine Mischung aus europäischem Absolutismus und asiatischer Despotie darstellte, unvereinbar. Also trat der Großteil der russischen Sozialdemokratie erst mal für eine „bürgerliche Revolution“ ein – natürlich nur als Zwischenetappe auf dem Weg zum „Sozialismus“.
Der rechte Flügel der russischen Sozialdemokratie, die Menschewiki, ging davon aus, dass die Führung in der „bürgerlichen Revolution“ selbstverständlich die liberale Bourgeoisie haben müsse, während der linke Flügel, die Bolschewiki, die Meinung vertrat, dass die liberale russische Bourgeoisie zu einer radikalen antifeudalen Revolution schon nicht mehr fähig sei. Diese bolschewistische Ansicht entsprach der Realität. Die mächtige Weltbourgeoisie – zu deren ohnmächtigen Teilen die russische gehörte – befand sich schon längst im Klassenkampf mit dem internationalen Proletariat. Als die radikalsten Fraktionen der englischen und französischen Bourgeoisie im 17. und 18. Jahrhundert die politische Macht eroberten um den Feudalismus mit Stumpf und Stiel auszurotten gab es noch kein Industrieproletariat. Aber sowohl der Brite Cromwell als auch die französischen Jakobiner mussten als radikale Bourgeois auch repressiv gegen die damalige kleinbürgerlich-vorindustrieproletarische Massenbewegung vorgehen. In England waren das die Levellers und die Diggers und in Frankreich die Sansculotten. Die politischen Machteroberungen von Cromwell und den Jakobinern stellten also sowohl die Höhepunkte der antifeudalen Revolutionen als auch die Umschlagmomente in die bürgerlichen Konterrevolutionen dar. Diesen absolut konterrevolutionären Aspekt der politischen Machteroberung auch der radikalsten Fraktionen der Bourgeoisie ignorierte der Marxismus weitgehend in seinem Dogmengebäude von der „bürgerlichen Revolution“.
Bei einer erfolgreichen politischen Machteroberung der russischen Bourgeoisie, müsste sie es sowohl mit der zaristischen Reaktion als auch mit den BäuerInnen und dem jungen russischen Industrieproletariat aufnehmen. Der ganze Verlauf der russischen Revolution zeigte eindeutig, dass die russische Bourgeoise viel zu schwach dazu war. Und selbst wenn die russische Bourgeoisie ohne bolschewistische Machtübernahme mit den BäuerInnen und dem Proletariat fertig geworden wäre, eine demokratisch-parlamentarische Republik, in die die russische Sozialdemokratie sich hätte integrieren können, war menschewistische Tagträumerei. Wenn die russische Bourgeoisie die Macht erobert hätte, dann nur in Form einer Militärdiktatur. Auch dies bewies der gesamte Verlauf der russischen Revolution eindeutig.
Die Bolschewiki hatten also absolut Recht, als sie daran zweifelten, dass die liberale russische Bourgeoisie fähig dazu wäre, die politische Macht zu erobern. Doch hielten auch sie am Dogma der „bürgerlichen Revolution“ fest. Nur sollte die russische Revolution nicht von der liberalen Bourgeoisie sondern von den ArbeiterInnen und BäuerInnen geführt werden. Diese siegreiche Revolution sollte dann in der „demokratischen Diktatur der ArbeiterInnen und BäuerInnen“ münden, die den Feudalismus mit Stumpf und Stiel ausrotten sollte, aber noch keine „sozialistischen“ Maßnahmen ergreifen sollte.
Unter „sozialistischen“ Maßnahmen verstand der sozialdemokratisierte Parteimarxismus die Verstaatlichung der Produktionsmittel, die Errichtung eines „ArbeiterInnenstaates“. Doch ein Staat ist ein bürokratischer Machapparat, der von BerufspolitikerInnen gemanagt und geführt wird – und sich mindestens ein Teil des proletarisch produzierten Mehrwertes aneignen muss. Einen von ArbeiterInnen geführten Staat kann es in der Praxis nicht gegen. Nur BerufspolitikerInnen können einen Staat führen. Dieser Tatsache trugen natürlich auch die parteimarxistischen IdeologInnen Rechnung, indem in ihrem „ArbeiterInnenstaat“ nicht die ArbeiterInnen, sondern ihre Avantgarde, also die parteimarxistischen BerufspolitikerInnen regieren sollten. Diese BerufspolitkerInnen verfügen in einem solchen „ArbeiterInnenstaat“ auch praktisch über die verstaatlichten Produktionsmittel. Die ArbeiterInnen vermieten nicht mehr ihre Arbeitskraft den PrivatkapitalistInnen, sondern dem Staat, der jetzt das Proletariat ausbeutet und den gesamten Mehrwert aneignet. Der ideologische „ArbeiterInnenstaat“ ist also in der Praxis ein staatskapitalistisches Regime. Das wissen wir ganz genau, weil ein solches staatskapitalistisches Regime nach der politischen Machtübernahme der Bolschewiki in Sowjetrussland errichtet wurde.
Doch vor der Februarrevolution steuerten die Bolschewiki noch nicht ideologisch auf einen „ArbeiterInnenstaat“ und praktisch auf ein staatskapitalistisches Regime zu. Sie stellten sich vor der Februarrevolution ein Regime vor, das von „proletarischen“ und „bäuerlichen“ Parteien regiert würde und im Rahmen des Privatkapitalismus blieb. In der Praxis wären die regierenden „proletarischen“ und „bäuerlichen“ Parteien also das politische Personal der Bourgeoisie gewesen. So unterschied sich der Bolschewismus in Bezug auf Russland vor der Februarrevolution von 1917 ideologisch nur in Nuancen vom Menschewismus. Im Gegensatz zu Leo Trotzki, der damals weder den Menschewiki noch den Bolschewiki angehörte, sondern seine Theorie von der permanenten Revolution entwickelt hatte und direkt ideologisch auf den „ArbeiterInnenstaat“ und praktisch auf ein staatskapitalistisches Regime hinzielte. Trotzki entwickelte die Ideologie des sowjetischen Staatskapitalismus.
Trotzkis Ideologie von der permanenten Revolution ging davon aus, dass das russische Proletariat auf Grund der Schwäche der russischen Bourgeoisie und der Tiefe der sozialen Krise des Zarismus schon eher als das westliche Proletariat an die Macht gelangen könne. Nun, wenn wir „Proletariat“ mit kleinbürgerlich-radikale PolitikerInnen übersetzen, hatte Trotzki absolut Recht. Ja, in hoch entwickelten Industriestaaten ist die selbständige Machtübernahme des kleinbürgerlichen Radikalismus ausgeschlossen, denn ein staatskapitalistisches Regime welches dieser Machtübernahme folgen würde, wäre sofort mit dem konterrevolutionären Widerstand der Bourgeoisie und mit dem Klassenkampf des Proletariats konfrontiert worden. Auch der Bolschewismus wurde nach seiner politischen Machtübernahme – wie wir noch ausführlicher beschreiben werden – sofort sowohl mit der privatkapitalistischen Konterrevolution als auch mit dem proletarischen Klassenkampf konfrontiert. Der bolschewistische Staat konnte nur auf Grund der sozialen Schwäche sowohl der Bourgeoisie als auch des Proletariats in Sowjetrussland alle diese Kämpfe bis 1921 siegreich überstehen. In einem Industriestaat, wo Bourgeoisie und Proletariat die sozialen Hauptklassen sind, ist für die politische Machteroberung gegen Bourgeoisie und Proletariat kein sozialer Spielraum vorhanden. Der ostdeutsche Staatskapitalismus nach 1945 war nur durch den sowjetischen Imperialismus möglich.
Weiterhin ging Trotzkis Ideologie von der permanenten Revolution davon aus, dass das „Proletariat“ (also parteimarxistische BerufspolitikerInnen) nach der politischen Machtübernahme „sozialistische“ (also staatskapitalistische) Maßnahmen ergreifen müsse und das „russische Proletariat“ (also der russische Parteimarxismus) zur Avantgarde der Weltrevolution werden müsse. Nun ja, dass die russischen radikalmarxistischen BerufspolitikerInnen zum staatskapitalistischen Regime übergehen würden, dass hatte Trotzki richtig voraus gesehen, aber der russische Parteimarxismus konnte objektiv gar nicht zur Avantgarde der Weltrevolution werden. Aus zwei Gründen. Erstens sind die politische Machtübernahme des kleinbürgerlichen Radikalismus und die Errichtung eines staatskapitalistischen Regimes in Industriestaaten unmöglich und zweites ist die wirkliche soziale Revolution des Proletariats mit dem Parteimarxismus als kleinbürgerlich-radikaler Ideologieproduktion unvereinbar.
Trotzki schuf also nach 1905 die Ideologie des zukünftigen sowjetischen Staatskapitalismus. Doch das Werkzeug zur Verwirklichung dieser Ideologie schuf Lenin als führender bolschewistischer Berufspolitiker. Seine Auffassungen von strenger Parteidisziplin und der Herrschaft von „BerufsrevolutionärInnen“ (also BerufspolitikerInnen) waren so bürgerlich-ultrabürokratisch, dass Lenin von anderen kleinbürgerlich-radikalen IdeologInnen dafür stark kritisiert wurde – unter anderem auch von Rosa Luxemburg und Leo Trotzki, bevor der letztere selbst zum Bolschewik wurde. Doch diese Kritik war von seinem Wesen her mehr kleinbürgerlich-demokratisch als proletarisch-revolutionär, weil sowohl Rosa Luxemburg wie auch der junge Trotzki weder die Partei als grundsätzlich bürgerlicher Organisationsform noch die Existenz des sozialdemokratischen BerufspolitikerInnentums in Frage stellten.
Aber der kleinbürgerliche Radikalismus konnte nur ultrabürokratisch politisch siegen. Damit der sowjetische Staatskapitalismus Wirklichkeit werden konnte, musste die bolschewistische Partei von der Ideologie her trotzkistisch und Trotzki praktisch zum Bolschewik werden. Der Bolschewismus war das praktische Werkzeug, durch den der sowjetische Staatskapitalismus Wirklichkeit wurde. Doch die zaristische Reaktion fügte diesem praktischen Werkzeug des kleinbürgerlichen Radikalismus schweren Schaden zu, indem sie die hauptamtliche Petrograder Parteiführung während des Ersten Weltkrieges repressiv zerschlug.
Aber die sozialdemokratischen Parteien (Menschewiki und Bolschewiki) und Zwischengruppen bestanden nicht nur aus kleinbürgerlichen BerufspolitikerInnen und IdeologInnen, sondern auch aus proletarischen Basen, in der nicht wenige subjektiv sozialrevolutionäre ArbeiterInnen wirkten. Sozialrevolutionäre ArbeiterInnen, die subjektiv zur sozialen Revolution strebten, aber objektiv mehr oder weniger stark von einem objektiv sozialreaktionären BerufspolitikerInnentum beherrscht wurden.
Diese subjektiv sozialrevolutionären marxistischen ArbeiterInnen wirkten auch sonst unter objektiven Voraussetzungen, welche eine wirkliche soziale Revolution in Russland unmöglich machten. Denn die wirkliche soziale Revolution konnte und kann nur in der Aufhebung von Politik und Warenproduktion durch das Proletariat – was sich dadurch auch selbst aufhebt – bestehen. Doch das Proletariat verkörperte in Russland eine soziale Minderheit. Die Bevölkerungsmehrheit bestand aus BäuerInnen, die nach der Enteignung des Großgrundbesitzes und zum privaten Kleineigentum am Boden strebten. Dieses private Kleineigentum war jedoch die soziale Basis für kleinbürgerliche/kapitalistische Warenproduktion – und damit auch für einen bürgerlichen Staat. Der russische und internationale radikale Parteimarxismus hat im Wesentlichen den kleinbürgerlichen Charakter der Agrarbewegung in Russland klar erkannt. Während der Parteimarxismus den letztendlich sozialreaktionären Charakter des ökonomischen KleinbürgerInnentums mehr oder weniger klar erkannte, reproduzierte es das politische KleinbürgerInnentum in Form einer marxistischen Parteibürokratie.
Die soziale Revolution war also in Russland wegen der Stärke des ökonomischen (BäuerInnen) und politischen (BerufspolitikerInnen) KleinbürgerInnentums objektiv nicht möglich – trotz der Schwäche von Bourgeoisie, Adel und der zaristischen Bürokratie. Doch wahre sozialrevolutionäre Subjektivität entfaltet sich auch unter den schlechtesten objektiven Bedingungen! Sie kämpft und verliert heroisch! Und diese Niederlagen sind nicht umsonst, denn aus ihnen können spätere Generationen von proletarischen RevolutionärInnen viel lernen, um unter besseren objektiven Bedingungen vielleicht irgendwann zu siegen!
Diese sozialrevolutionäre Subjektivität, welche objektiv nur heroisch verlieren kann, verkörperte in der russischen Revolution keine andere Strömung so stark wie der Anarchismus. Denn um heroisch verlieren zu können, musste an den Sieg geglaubt werden. Aber an den Sieg glauben, ging im damaligen Russland nur bei einem stark sozialromantisch ausgeprägten Subjektivismus, der sich um die objektiven Bedingungen seiner Verwirklichung nicht viel kümmert. Genau das machte und macht den Anarchismus ideologisch aus, stellte und stellt seine theoretische Schwäche dar. Aber gerade diese ideologische Schwächte machte den russischen Anarchismus zur ideologisch vollkommensten Verkörperung einer sozialrevolutionären Subjektivität, welche nicht siegen, sondern nur heroisch verlieren konnte.
Aber auch der russische Anarchismus hatte seine progressiven und reaktionären Tendenzen. Seine progressivste Tendenz war sein antipolitischer Instinkt. Doch der anarchistischen Antipolitik fehlte es oft an theoretischer Schärfe und an Konsequenz. Außerdem war der russische Anarchismus recht unkritisch gegenüber den kleinbürgerlichen Tendenzen der russischen BäuerInnenschaft, welche nach kleinem Privateigentum strebte und einer wirklichen klassenlosen Gesellschaft fremd gegenüber stand, wenn sie sich auch teilweise ideologisch vom Anarchismus inspirieren ließ. Doch die ideologische Aufnahme des Anarchismus durch einen Teil der kleinbäuerlich-landproletarischen Agrarbewegung machte nicht die BäuerInnen sozialrevolutionär, sondern den Anarchismus kleinbürgerlich (siehe dazu das Kapitel Sowjetrussischer Imperialismus in der Ukraine in unserem Text Der BürgerInnen- und imperialistische Interventionskrieg (1918-1921)).
Seine rückständigste Tendenz war die ideologische Verklärung des kleinbürgerlichen Individualismus, welcher mit dem kollektiven Befreiungskampf des Proletariats unvereinbar ist. Die kleinbürgerlichen anarchistischen Intellektuellen verklärten sowohl ihren eigenen Individualismus hinter unaufhörlichem Geschwätz von der Freiheit der Persönlichkeit –ihrer eigenen natürlich –als auch den Individualismus der BäuerInnen. Doch dieser typische anarchistische Individualismus prägte auch das Bewusstsein von sozialrevolutionären ArbeiterInnen, die – wenn sie meinten, es müsse sein – auch allein den Kampf gegen diese ganze verdammte Welt aufnahmen.
Die subjektiv bewussten sozialrevolutionären ArbeiterInnen im zaristischen Russland waren also objektiv der proletarische Schwanz des marxistischen und anarchistischen kleinbürgerlichen Radikalismus. Es müssen über vier Jahre der Russischen Revolution vergehen, bis die fortgeschrittensten und bewusstesten ArbeiterInnen in Form des Kronstädter Aufstandes die Vormundschaft des Bolschewismus – der sich zu dieser Zeit schon zu einer staatskapitalistisch-sozialreaktionären Kraft entwickelt hatte – innerlich abschütteln konnten (siehe dazu das Kapitel Kronstadt und die Dekadenz des Parteimarxismus). Doch der Kronstädter Aufstand musste scheitern, weil die revolutionäre Selbstaufhebung des russischen Proletariats isoliert vom Weltproletariat in dem damaligen rückständigen Agrarland objektiv nicht möglich war. Doch subjektiv war das russische Proletariat verdammt reif. Es machte eine außerordentlich gute Schulung des praktischen Klassenkampfes durch.
Einer der subjektiv sozialrevolutionären ArbeiterInnen, der im zaristischen Russland die praktische Schule des Klassenkampfes durchmachte, war der spätere Aktivist und noch spätere Historiker der Machno-Bewegung (siehe zu dieser das Kapitel Sowjetrussischer Imperialismus in der Ukraine im Text Der BürgerInnen- und imperialistische Interventionskrieg [1918-1921]), Peter Andrejewitsch Arschinoff. Lassen wir uns in seine klassenkämpferische Biographie von den russischen Anarchisten Volin einführen:
„Peter Andrejewitsch Arschinoff, (…), ist der Sohn eines Fabrikarbeiters aus Jekaterinoslaw und ist selber Arbeiter, Schlosser von Beruf, der sich durch eisernen Fleiß eine gewisse Bildung angeeignet hat. Er war 17 Jahre alt, als er sich 1904 der Revolutionsbewegung anschloss. 1905 arbeitet er als Schlosser der Eisenbahnwerkstätten in Kisil-Arwat (Mittel-Asien) und schließt sich der Ortsorganisation der Bolschewiki-Partei an. Bald tritt er aktiv in ihr hervor und zwar als einer der Führer und Redakteure des illegalen revolutionären Arbeiterorgans ,Molot‘ (Hammer). Dieses Blatt versorgte die ganze mittel-asiatische Bahnlinie und war für die revolutionäre Bewegung der Bahnarbeiter von großer Bedeutung. Da Arschinoff von der Ortspolizei verfolgt wird, verlässt er im Jahre 1906 Mittel-Asien und begibt sich in die Ukraine nach Jekaterinoslaw. Hier wird er Anarchist und setzt nunmehr als solcher seine revolutionäre Tätigkeit unter den jekaterinoslawschen Arbeitern fort (vorwiegend in den Schodouar-Werken). Der Grund für den Übergang zum Anarchismus war der Minimalismus der Bolschewiki (Anmerkung von Nelke: die „demokratische Diktatur der ArbeiterInnen und BäuerInnen“, die nichts mit dem „Sozialismus“ zu tun haben sollte), der nach Arschinoffs Überzeugung den tatsächlichen Bestrebungen der Arbeiter nicht entsprach und samt dem Minimalismus der übrigen politischen Parteien die Niederlage der Revolution 1905/6 verursacht hatte. Im Anarchismus fand Arschinoff, nach seinen eigenen Worten, das sammelnde Moment, die Prägung gleicher, freiheitlicher Bestrebungen und Hoffnungen der Werktätigen.
Als die zaristische Regierung in den Jahren 1906 bis 1907 ein Netz von Feldgerichten über ganz Russland gebreitet hatte, war eine groß angelegte Arbeit innerhalb der Massen völlig unmöglich geworden. Arschinoff entrichtet den außergewöhnlichen Umständen und seinem Kämpfertemperament den Tribut: Mal um Mal begeht er einige terroristische Akte. (Anmerkung von Nelke: Der individuelle Terror erzeugt logischerweise bei den Terroristen – und seien es auch proletarische AktivistInnen wie Arschinoff – starke avantgardistische Tendenzen, denn die TerroristInnen handeln im Namen des Proletariats, während das Proletariat selbst nicht aktiv in den Kampf tritt. Das gilt besonders nach der Niederlage der Revolution von 1905. Dieser Avantgardismus war Teil der Sozialpsychologie auch von nicht wenigen AnarchistInnen –einschließlich von Arschinoff. Wobei natürlich auch der Fakt berücksichtigt werden muss, dass durch den Gegenterror des proletarischen Aktivisten Arschinoff der kapitalistischen und zaristischen Reaktion keine Ruhepause gelassen wurde. Auch möchten wir hier ganz klar betonen, dass die terroristischen Aktionen des militanten Klassenkämpfers Arschinoff mit denen der kleinbürgerlichen Intellektuellen der RAF nicht viele Gemeinsamkeiten hatten.)
Am 23. Dezember 1906 sprengt er zusammen mit einigen Genossen das Polizeirevier in der Arbeitersiedlung Amur bei Jekaterinoslaw. (Bei der Explosion kamen drei Kosakenoffiziere, Polizeioffiziere und Wachmannschaften der Strafexpeditionsabteilung ums Leben.) Dank der sorgfältigen Vorbereitung dieses Aktes wurden weder Arschinoff noch seine Genossen von der Polizei gefasst. Am 7. März erschießt Arschinoff den Chef der Haupteisenbahnwerkstätten in Alexandrowsk, Wassilenko mit Namen. Des letzteren Schuld vor der Arbeiterklasse hatte darin bestanden, dass er für den bewaffneten Aufstand in Alexandrowsk im Dezember 1905 an die hundert Arbeiter vor das Kriegsgericht stellen ließ, von denen viele, auf Grund der Angaben Wassilenkos zu langfristigen Zwangsarbeiten oder zum Tod verurteilt worden waren. Außerdem hatte sich Wassilenko vor und nach diesem Fall als rühriger und erbarmungsloser Unterdrücker der Arbeiter gezeigt. Aus eigenem Antrieb, doch entsprechend der allgemeinen Stimmung der Arbeitermassen hatte Arschinoff mit diesem Feind der Werktätigen abgerechnet, als er ihn in der Nähe der Werkstätten vor den Augen von zahlreichen Arbeitern niederschoss. (Anmerkung von Nelke: Diesen letzten Satz Volins sollte mensch ganz genau lesen. Weil in ihm die avantgardistische Tendenz des individuellen Terrors auch proletarischer AktivistInnen zum Ausdruck kommt. Arschinoff handelte in „Übereinstimmung mit der allgemeinen Stimmung der Arbeitermassen“, aber nicht als bewaffnetes Individuum innerhalb eines bewaffneten Kollektivs. Genau diese feine Nuance macht den Unterschied zwischen individuellen Terror und dem bewaffneten kollektiven Klassenkampf des Proletariats aus. Wir lehnen die proletarisch-individuelle bewaffnete Tat als Teil des Klassenkampfes nicht grundsätzlich ab, betonen aber die latente Gefahr einer avantgardistischen Tendenz bei den individuell tätigen proletarischen AktivistInnen, die bei der konkreten Person Arschinoff klar zum Ausdruck kam. Auch kann bei einigen passiven ArbeiterInnen das Bewusstsein entstehen, dass sie selbst nicht aktiv werden müssen, da einige andere bewaffnete AktivistInnen den Kampf schon irgendwie gewinnen könnten.) Bei der Ausführung dieses Aktes wurde Arschinoff von der Polizei ergriffen, grausam geschlagen und nach zwei Tagen vom Feldgericht zum Tode durch den Strang verurteilt. Doch gerade in dem Augenblick, da das Urteil vollstreckt werden sollte, wurde es hinausgeschoben, da man der Meinung war, Arschinoffs Angelegenheit gehöre laut Gesetz nicht vor das Feldgericht, sondern vor das Militärbezirksgericht. Dieser Aufschub der Hinrichtung verschaffte Arschinoff die Möglichkeit zu fliehen. Die Flucht aus dem Alexandrowsker Gefängnis gelang in der Nacht zum 22. April 1907, während der Osterfrühmesse, als man die Gefangenen in die Gefängniskirche führte. Einige in Freiheit befindliche Genossen veranstalteten einen kühnen Überfall: Die Gefängniswächter, die die Gefangenen in der Kirche zu überwachen hatten, wurden über den Haufen gerannt und zusammengehauen. Allen Gefangenen wurde die Möglichkeit gegeben zu fliehen. Zusammen mit Arschinoff flüchteten damals über 15 Mann. Hierauf verbringt Arschinoff etwa zwei Jahre im Ausland, vorwiegend in Frankreich, kehrt aber 1909 wieder nach Russland zurück, wo er unter illegalen Verhältnissen anderthalb Jahre hindurch anarchistische Propaganda unter den Arbeitern treibt und auch organisatorisch tätig ist.
(Anmerkung von Nelke: Der letzte Satz zeigt, dass auch der Anarchismus nicht frei von Avantgardismus war und ist. Nach unserer Ansicht sollten sich jedoch die proletarischen und kleinbürgerlichen Mitglieder sozialrevolutionärer Gruppen vom ganzen Sprachgebrauch des kleinbürgerlichen Radikalismus trennen. Mitglieder sozialrevolutionärer Gruppen tauschen sich mit proletarisierten Menschen aus, reden mit ihnen und versuchen in der Kommunikation Impulse zu geben und welche zu empfangen. Sozialrevolutionäre AktivistInnen sollten also unserer Meinung nach in eine interaktive Kommunikation von Subjekt zu Subjekt mit den proletarisierten Menschen treten –aber nicht „agitieren“ und „Propaganda betreiben“. Denn der Agitierende ist das Subjekt während die ProletarierInnen als agitierte Masse die Objekte der Ideologieproduktion sind. Das ist keine übertriebene Sprachkritik. Als MaterialistInnen gehen wir davon aus, dass in der Sprache gesellschaftliche Verhältnisse zum Ausdruck kommen. In den Worthülsen marxistischer und anarchistischer Polit/Ideologiegruppen, wie „anarchistische (marxistische) Propaganda unter den Arbeitern treiben“ kommt sowohl der anarchistische als auch der marxistische Avantgardismus zum Ausdruck. Der nachmarxistische und nachanarchistische Kommunismus sollte sowohl diese alten Worthülsen als auch die dahinter stehende Praxis des kleinbürgerlichen Radikalismus überwinden.)
Im Jahre 1910 wird er von der österreichischen Regierung dabei ertappt, wie er einen Waffentransport und anarchistische Literatur aus Österreich nach Russland schaffen will, er wird verhaftet und im Gefängnis Tarnopol untergebracht. Hier verbringt er ein Jahr, wird dann auf Forderung der russischen Regierung hin für begangene terroristische Akte den russischen Behörden in Moskau ausgeliefert und vom Moskauer Obersten Gerichtstribunal zu 20 Jahren Zwangsarbeit verurteilt.
Seine Strafe verbüßte Arschinoff im Butyrki-Gefängnis in Moskau. Hier traf er erstmalig (1911) mit dem jugendlichen Nestor Machno zusammen, der ebenfalls für terroristische Akte im Jahr 1910 zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt worden war, und der von Arschinoffs Arbeit im Süden bereits früher gehört hatte, als er ihn noch gar nicht kannte. Ihre Beziehungen im Verlauf des gemeinsamen Aufenthaltes im Gefängnis waren kameradschaftlicher Natur; beide kamen nach Ausbruch der Revolution in den ersten Märztagen 1917 frei.“ (Vorwort von Volin zu: Peter A. Arschinoff, Geschichte der Machno-Bewegung, UNRAST-Verlag, Münster 1998, S. 15-17.)
Kommen wir nun zur Februarrevolution 1917, welche auch die Kerkertüren des militanten Klassenkämpfers Arschinoff sprengte.

]]>
https://sbefreiung.blackblogs.org/2017/01/17/klassenkaempfe-in-sowjetrussland-1917-1921/feed/ 0