anarchie – Sozialer Widerstand https://swiderstand.blackblogs.org Für die soziale, antipolitische und antinationale Selbstorganisation des Proletariats! Mon, 23 Sep 2024 20:02:47 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.1 https://swiderstand.blackblogs.org/wp-content/uploads/sites/1128/2022/05/cropped-28385945-32x32.png anarchie – Sozialer Widerstand https://swiderstand.blackblogs.org 32 32 Neue Broschüre: Das Elend der Kapitalvermehrung I https://swiderstand.blackblogs.org/2024/02/07/neue-broschuere-das-elend-der-kapitalvermehrung-i/ Wed, 07 Feb 2024 23:05:25 +0000 https://swiderstand.blackblogs.org/?p=732 Unsere neue Broschüre „Das Elend der Kapitalvermehrung I“ (ca. 138 Seiten) von Soziale Befreiung ist da. Die Broschüre könnt Ihr hier für 5-€ (inkl. Porto) über Onlinemarktplatz für Bücher booklooker.de oder direkt bei uns auch als E-Book bestellen.

Inhalt

Einleitung

Die sozialstaatlich-karitative Verwaltung des kapitalistisch produzierten Elends

I. Die kapitalistisch-politische Produktion des Elends

1. Die kapitalistisch-politische Ausbeutung der Lohnabhängigen

2. Die „Freisetzung“ auf den Arbeitsmärkten

3. Die Ruinierung von produktions- und handelsmittelbesitzenden KleinbürgerInnen

4. Elend und „Armut“

II. Die sozialpolitische Verwaltung des Elends

1. Der Soziallohn

2. Sozialstaatliche Transferzahlungen an Langzeitarbeitslose

3. Der Sozialstaat als Gewaltapparat

4. Die Integration der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung in den Sozialstaat

5. Die UNO als globales Sozialamt

III. Die menschlichen Objekte der sozialstaatlichen Elendsverwaltung

1. Erkrankte Menschen

2. Menschen mit Behinderung

3. Kinder und Jugendliche

4. RentnerInnen

5. Erwerbslose Menschen

6. Fliehende und geflohene Menschen

7. Inhaftierte Menschen

Immobilieneigentum, Mietverhältnisse und Obdachlosigkeit

1. Das Eigentum an Wohnungen

2. Mietverhältnisse

3. Obdachlosigkeit

4. Staatliche Bau- und Mietenpolitik sowie Obdachlosenverwaltung

5. Wohn- und mietenpolitischer Sozialreformismus

6. Die sozialrevolutionäre Lösung der Wohnungsfrage

Die Digitalisierung der Kapitalvermehrung

I. Gesellschaftliche Aspekte der Digitalisierung

1. Wissenschaftlich-technische Aspekte der Digitalisierung

2. Sozialökonomische Aspekte der Digitalisierung

3. Sozialpsychologische Aspekte der Digitalisierung

II. Der kapitalistische Staat und die Digitalisierung

1. Die Digitalisierung der staatlichen Infrastruktur

2. Die Optimierung der staatlichen Überwachung

3. Die staatliche Subventionierung und Regulierung des digitalen Privatkapitals

4. Die zwischenstaatliche Konkurrenz um die Digitalisierung

III. Klassenkampf und Digitalisierung

1. Die Digitalisierung als Instrument im Klassenkampf von oben

2. Die Digitalisierung und der Klassenkampf der Lohnabhängigen und prekären Selbständigen

3. Obdachlosigkeit

Das Elend für große Teile des Weltproletariats, die sich den Bau eines eigenen Hauses entweder nicht leisten können oder wollen, besteht also im Mangel an bezahlbaren Mietwohnungen. Ein Mangel, der sich grundsätzlich nur sozialrevolutionär durch die Aufhebung des Wohnungsmietverhältnisses als Teil der Ware-Geld-Beziehungen lösen lässt (siehe Kapitel 6 dieser Schrift).

Zum sozialen Elend des Weltproletariats gehört auch die Obdachlosigkeit. Dies ist eine globale Lebenslage, in der Menschen keinen festen Wohnsitz haben und im öffentlichen Raum, im Freien oder in Notunterkünften übernachten. In den Industriestaaten ist die Mehrzahl der obdachlosen Menschen männlich. Unter den alleinstehenden Obdachlosen sind etwa 80 Prozent Männer. In der BRD hatten 2022 607.000 Menschen nach Angaben der regierenden Charaktermasken dieses Staates keine eigene Wohnung. Ganz ohne Unterkunft auf der Straße lebten in diesem Land rund 50.000 Menschen.

Dieter Rheinisch schrieb im Dezember 2023 über die Zunahme der Obdachlosigkeit in Großbritannien und Irland: „Die Zahl der Wohnungs- und Obdachlosen in England nimmt dramatisch zu. Dieses Jahr (2023) werden laut einer neuen Studie 309.550 Menschen Weihnachten auf der Straße, in Notunterkünften oder im Auto verbringen müssen. Auch in Irland spitzt sich die Lage zu. (…)

So ist in England die Zahl der Obdachlosen innerhalb eines Jahres um 14 Prozent gestiegen, teilte die Hilfsorganisation Shelter am Donnerstag (14. Dezember 2023) mit. Einer von 182 Menschen ist betroffen. Bei Kindern ist das Verhältnis noch dramatischer: Eines von 85 Kindern in England ist wohnungs- oder obdachlos. Offizielle Regierungsdaten zeigen, dass derzeit eine Rekordzahl von 139.000 Kindern in provisorischen Unterkünften lebt.

Die Zahlen von Shelter zeigen, dass vor allem die Obdachlosigkeit in den vergangenen zwölf Monaten stark zugenommen hat: Mehr als 3.000 Menschen schlafen jede Nacht auf der Straße. Das ist ein Anstieg von 26 Prozent in nur einem Jahr. Fast 280.000 Menschen leben darüber hinaus derzeit in unsicheren und gesundheitsschädlichen Notunterkünften. Außerdem zeigen Zahlen der Regierung, dass fast die Hälfte der Familien in provisorischen Unterkünften seit mehr als zwei Jahren dort leben, schreibt Shelter. Hinzu kommen 20.000 Menschen in Heimen oder betreuten Unterkünften.

,Obwohl unsere Analyse die umfassendste Übersicht über die in England registrierte Obdachlosigkeit ist, ist die tatsächliche Zahl wahrscheinlich höher, da einige Formen der Obdachlosigkeit, wie z. B. ,Sofasurfenʻ, nicht dokumentiert sindʻ, betonte Shelter-Direktorin Polly Neate bei der Vorstellung des Berichts. ,Chronisch unzureichende Investitionen in den sozialen Wohnungsbau haben dazu geführt, dass sich die Menschen die explodierenden privaten Mieten nicht mehr leisten können und die Obdachlosigkeit auf ein Rekordniveau gestiegen istʻ, so Neate weiter. (…)

Ähnlich problematisch ist die Situation in Irland, wo die Zahl der Wohnungs- und Obdachlosen ebenfalls rapide ansteigt. (…) Die Zahl der Obdach- und Wohnungslosen dort liegt derzeit bei fast 15.000 Menschen. Die Dunkelziffer dürfte auch hier um ein Vielfaches höher liegen.“ (Dieter Rheinisch, Weihnachten auf der Straße, in: junge Welt vom 18. Dezember 2023, S. 9.)

Formularbeginn

Damit hinter den Zahlen die wirklichen Menschen deutlich werden, wollen wir hier die Schilderung der ehemaligen Obdachlosen Rachel Moran aus Irland wiedergeben. Rachel Moran wuchs in einer Familie mit psychisch kranken Eltern auf. Als der Vater Selbstmord beging, wurde für sie die Situation mit der Mutter unerträglich. Sie befreite sich 1989/90 mit 14 aus der Familie und geriet in die gefühlskalte Verwaltung des Sozialstaates und schließlich in die Obdachlosigkeit.

Sie schrieb später darüber: „Nur wenige Monate nach dem Selbstmord meines Vaters verließ ich mein Elternhaus. Die Paranoia meiner Mutter und ihr Hang, nach Sündenböcken zu suchen, hatten innerhalb weniger Wochen den Siedepunkt erreicht und konzentrierten sich voll auf mich. Sie bombardierte mich jeden einzelnen Tag mit Verbalattacken. Wenn wir uns heftig stritten, was andauernd der Fall war, spuckte sie regelmäßig den Hinweis aus, ich solle zu einem Sozialarbeiter gehen und mir ein Heim suchen. Je mehr ich über ihren Hinweis nachdachte, desto mehr leuchtete er mir ein. Mir graute davor, in die Welt hinauszugehen und mich allein durchzuschlagen, aber mein Leben zuhause war schlichtweg unerträglich, und ich wusste, dass ich nicht bleiben konnte, also tat ich genau das, was sie mir nahelegte. Ich ging zum Gesundheitszentrum unseres Viertels und bat um ein Gespräch mit einem Sozialarbeiter. Ich kam mir dabei sehr zielstrebig vor, so als würde ich mein Leben selbst in die Hand nehmen, sackte aber zusammen, als ich der Sozialarbeiterin unter Tränen erklärte, weshalb ich da war. Ich sagte immer wieder: ,Ich muss da raus, ich muss da endlich raus.ʻ Innerhalb einer Woche hatte sie mich tatsächlich da rausgeholt. Damit begann die schwindelerregende Erfahrung, unter staatlicher Vormundschaft zu leben.

Die erste Unterbringung, an die ich vermittelt wurde, war ein von der Heilsarmee betriebenes Heim im Stadtzentrum, das Lefroy House hieß. Im Laufe der darauffolgenden achtzehn Monate war ich immer wieder obdachlos, im Alter von vierzehn bis fünfzehneinhalb Jahren. Fast jedes Mal, wenn mein Aufenthalt in einem Heim oder in einer Pension endete, war ich wieder obdachlos. Zu Beginn meiner Phasen im äußersten Elend führte ich ein sehr einsames Leben, gab mich mit niemandem ab, ging auf niemanden zu, bat nicht um Hilfe und erhielt folglich auch keine.

Mal riss ich von Heimen aus, mal wurde ich rausgeworfen. Ich war nie gewalttätig, jedoch absolut unnachgiebig, wenn es um Regeln ging, denen ich mich nicht unterwerfen wollte. Ich war sehr willensstark und keineswegs auf den Mund gefallen. Trotz alledem kann ich einige Gründe nicht akzeptieren, die vorgebracht wurden, um mich vor die Tür zu setzen. Zu diesen Gründen gehörte, dass ich einmal mit nur einen Schuh an den Füßen ankam, weil ich kurz zuvor verprügelt worden war, oder dass man mich ein anderes Mal erwischte, in meinem Zimmer Tabletten in einem Glas gehortet zu haben, für den Fall, dass ich eventuell einmal Selbstmord begehen wollte. Ich hatte schon in meiner Kindheit Selbstmordgedanken gehabt. (…)

Der erste Schock, als ich obdachlos wurde, war die kontinuierliche, unablässige Notwendigkeit, ständig unterwegs zu sein. Die Suche nach Orten, an denen man einfach nur sein konnte, stellte ein weitaus größeres Problem dar, als ich es mir zuvor hätte träumen lassen. Nirgendwo, wo man hingeht, wird man in Ruhe gelassen. Diesen Luxus kann man nirgendwo erwarten, schließlich sind einem alle privaten Orte der Welt verschlossen, und alle öffentlichen Orte bieten keinerlei Privatsphäre. Viele der letzteren gewähren einem nicht einmal Zutritt.

Was das Problem betrifft, einen Platz zum Schlafen zu finden, so deckt buchstäblich nichts die Bedürfnisse ab, die selbst die mickrigste und schäbigste Bruchbude erfüllt. Kein einziger Platz bietet Trockenheit, Sicherheit, Sauberkeit, Wärme und einen Minimalkomfort. Eine Parkbank mag trocken sein, wenn es nicht regnet, sie mag sogar sauber sein, wenn man Glück hat, aber sie ist weder sicher noch warm, noch bequem. Eine Stelle unter einem Busch ist vielleicht trocken, falls man das Wetter auf seiner Seite hat, aber sie ist weder sicher noch sauber, noch warm, noch bequem.

Ich habe an vielen Plätzen dieser Art geschlafen und einer war so erbärmlich wie der andere. Einmal schlief ich in einem Bus, der in einem Depot mit offenen Türen abgestellt worden war. Als ich aufwachte, fuhr ich in den frühen Morgenstunden über die damals noch grünen Felder von Westdublin. Ich hatte keinen Schimmer, wo ich war, und es war ein unsanftes Erwachen, aber ich fand, dass es sich gelohnt hatte. Es war die bequemste Nacht seit Langem.

Einmal fiel ich für etwa eine halbe Stunde auf dem kalten Fliesenboden einer Toilette bei McDonaldʻs auf der OʻConnell Street in einen unruhigen Schlaf. Die Nacht zuvor hatte ich keinen Schlafplatz finden können und war zutiefst erschöpft, also ging ich zu McDonaldʻs, kaum, dass sie geöffnet hatten, um Egg McMuffins zum Frühstück zu verkaufen. Ich dachte, wenigstens auf der Toilette hätte ich einen sicheren Raum für mich. Ich wurde von einer Mitarbeiterin, die hereingekommen war, um die Toiletten zu reinigen, aus dem Schlaf gerissen und rausgeworfen. Das führt mich zur wahren und schlimmsten Verheerung, die die Obdachlosigkeit mit sich bringt: die Einsamkeit. Es ist die Erfahrung, dass man absolut unerwünscht ist, dass die eigene, bloße Anwesenheit an allen Orten und in allen Situationen ein unerquicklicher Umstand ist. Egal, wo man sich als obdachlose Person befindet, man ist immer unwillkommen. Wenn ein Mensch obdachlos ist, so sinkt sein gefühlter Wert für die Gesellschaft auf null. Er existiert nicht. Ihrem Selbstgefühl nach sind solche Menschen wertlos und missliebig, soziale Parias, Verstoßene, Außenseiter, deren bloßer Körper ein unerwünschter Störfaktor ist, den sie mit sich herumtragen müssen, wohin sie auch gehen. Sie sind im wortwörtlichsten Sinne unerwünscht. Sie sind die verkörperte Überflüssigkeit. Ich habe all diese Gefühle zu spüren bekommen, als ich obdachlos war. Das tun alle obdachlosen Menschen. Es ist unumgänglich.“ (Rachel Moran, Was vom Menschen übrig bleibt. Die Wahrheit über Prostitution, Tectum Verlag, Marburg 2015, S. 63-68.)

Rachel Moran entkam der Obdachlosigkeit, indem sie mit 15 Jahren in die Prostitution geriet, aus der sie sich dann nach sieben Jahren ebenfalls befreite…

Aber Obdachlose sind nicht nur leidende Menschen, sie sind auch Teil des globalen proletarischen Klassenkampfes. Johannes Schulten schrieb 2009 über den Wohnungsnotstand, staatliche Repression und den sozialen Widerstand in Sao Paulo/Brasilien: „In der brasilianischen 20-Millionen-Metropole Sao Paulo herrscht akuter Wohnraumnotstand. Allein in Stadtkern mangelt es nach offiziellen Angaben an 600 000 Wohnungen. Städtische ,Aufwertungsprogrammeʻ trieben die Mieten in den letzten Jahren in die Höhe. Die Immobilienspekulation boomt. Während inzwischen sogar Mittelstandsfamilien ihre Stadtwohnungen nicht mehr bezahlen können und an die Peripherie übersiedeln, bleibt für die stetig wachsende Zahl der Menschen, die ihren Lebensunterhalt in der Schattenwirtschaft verdienen, häufig nur die Favela. Aber auch in den brasilianischen Slums wird der Platz knapp. Innerhalb der letzten 20 Jahre sind die städtischen Elendsviertel fünfmal schneller gewachsen als die gesamte Metropolenregion. In den etwa 1600 Favelas im Großraum Sao Paulo leben bis zu 1,2 Millionen Menschen.

Wo staatlicherseits wenig Abhilfe zu erwarten ist, gehen Obdachlosenorganisationen seit einigen Jahren dazu über, sich den benötigten Wohnraum einfach anzueignen. Gruppen wie die 1997 gegründete Bewegung obdachloser Arbeiter (MSTS), ein Ableger der Landlosenorganisation MST, verlassen die Favelas und besetzen nicht genutztes Land in den Vorstädten.

Eine dieser Siedlungen befindet sich im Viertel Capao Redondo im Süden von Sao Paulo. Vor zwei Jahren (2007) besetzten etwa 600 Familien hier nicht genutztes Privatgelände, dass sich im Besitz eines nationalen Busunternehmens befindet. Inzwischen ist die Zahl der Familien, die dort leben, auf über 800 angewachsen. Für die Stadtverwaltung gilt die Siedlung jedoch immer noch als illegal. Am vergangenen Montag (24. August 2009) war es dann soweit. Unter dem Einsatz von Tränengas und Blendgranaten stürmten etwa 250 Polizisten der brasilianischen Militärpolizei das Gelände. Die Bewohner verteidigten sich mit dem, was sie hatten: Es flogen Steine und Molotow-Cocktails; Autos, Reifen und Schrott dienten als Barrikaden. Nach sechs Stunden war das Spektakel vorbei, der Widerstand der rund 500 Verteidiger gebrochen. Die Bulldozer rollten ein. Einen Tag später, am Dienstag (25. August 2009) stand kein Haus mehr.

Wie sehr solche Aktionen zum Alltag in Brasilien gehören, zeigt die Reaktion eines Polizeikommandeurs. Auf die Journalistenfrage, ob die Räumung angesichts der Ausschreitungen nicht abgebrochen werden müsse, antwortete er lapidar: ,Ein wenig Widerstand ist für uns normalʻ. Einen Grund, die Aktion abzubrechen, sehe er nicht. Was bleibt, waren Dutzende verhaftete Favela-Bewohner, einige Verletzte. Am Mittwoch (26. August 2009) befanden sich nach Aussagen verschiedener Obdachlosenorganisationen immer noch 500 Familien auf dem Gelände. Einen Ort, wohin sie gehen könnten, haben sie nicht.“ (Johannes Schulten, Bulldozer statt Recht auf Wohnen, in der junge-Welt-Beilage faulheit & arbeit vom 29./30. August 2009, S. 5.)

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Neue Broschüre: Kritik des Linksnationalismus https://swiderstand.blackblogs.org/2019/07/31/neue-broschuere-kritik-des-linksnationalismus/ https://swiderstand.blackblogs.org/2019/07/31/neue-broschuere-kritik-des-linksnationalismus/#respond Wed, 31 Jul 2019 08:17:16 +0000 http://swiderstand.blogsport.de/?p=162 Unsere neue Broschüre „Kritik des Linksnationalismus“ (ca. 126 Seiten) von Soziale Befreiung ist da. Die Broschüre könnt Ihr hier für 5-€ (inkl. Porto) auch als E-Book über Onlinemarktplatz für Bücher booklooker.de oder direkt bei uns auch als E-Book bestellen.

Inhalt

Einleitung

1. Nationalkapitalistische Demokratien als politische Diktaturen

2. Nationalkapitalistischer „Sozialismus“

3. Globale Kooperation und Konkurrenz zwischen privat- und
staatskapitalistischen Nationen

4. Die mühsame Herausbildung des antinationalen Kommunismus

5. LinksdemokratInnen sind strukturelle NationalistInnen

6. Nationaldemokratischer Antifaschismus

7. Nationalkapitalistischer „Antiimperialismus“

8. Linksnationale Hetze gegen unsere migrantischen Klassengeschwister

9. „Weltoffenheit“ als politisch korrekter Nationalismus

10. EU-Patriotismus und nationale Austrittsbewegungen

Nationalkapitalistischer „Antiimperialismus“

Imperialismus ist die sozialökonomische, politisch-diplomatische, ideologisch-propagandistische und militärisch-kriegerische Expansion der Nationalkapitale und -staaten. Sozialrevolutionärer Antiimperialismus ist der konsequente Kampf gegen alle Nationalismen und für die globale klassen- und staatenlose Gesellschaft. Linksnationaler „Antiimperialismus“ ist dagegen die Unterstützung von Nationalismen, die noch keinen eigenen Staat hervorgebracht haben, wie der katalanische und der palästinensische, oder „progressiver Regierungen“ gegen den westlichen Imperialismus. Immer seitenverkehrt zum westlichen Imperialismus lehnen linksnationale „AntiimperialistInnen“ manchmal allerdings auch nationale „Befreiung“ ab. So verteidigten viele von ihnen in den 1990er Jahren Serbien/Jugoslawien gegen separatistische Nationalismen und den NATO-Krieg, während SozialrevolutionärInnen alle kriegführenden Seiten bekämpften.
Dieser linke „Antiimperialismus“ ist nicht „nur“ nationalkapitalistisch, sondern auch proimperialistisch. Er unterstützt Imperialismen gegen andere. So unterstützte der linksnationale Proimperialismus in der Vergangenheit die staatskapitalistische Sowjetunion und/oder das maoistische China. Der moskautreue Partei-„Kommunismus“ (D„K“P) verteidigte den sowjetischen Imperialismus von Anfang bis zum Ende. Die MaoistInnen der MLPD stehen hinter Moskau bis 1956, der „Entstalinisierung“ der UdSSR durch Chruschtschow, und hinter Peking bis zum Tod Maos. Die „K“PD/ML stellte sich hinter das staatskapitalistische Albanien, das 1960 mit Moskau und 1978 mit Peking brach und sich in Jugoslawien imperialistisch einmischte, indem es den kosovoalbanischen Nationalismus unterstützte. Gemeinsames Band der verfeindeten MarxistInnen-LeninistInnen ist es jedoch, die imperialistische Eroberung Osteuropas als Vorgarten des sowjetischen Imperialismus während des Zweiten Weltkrieges als antifaschistische Befreiung hochzujubeln. Und auch der Trotzkismus verteidigte „kritisch“ die „bürokratisch entarteten ArbeiterInnenstaaten“ gegen den privatkapitalistischen Imperialismus.
Doch während „radikalere“ MarxistInnen-LeninistInnen und TrotzkistInnen wenigstens den heutigen privatkapitalistischen russischen und chinesischen Imperialismus bekämpfen, sitzen D„K“P und junge Welt tief in den Arschlöchern der Moskauer und Pekinger Machthaber. Die widerliche junge Welt verteidigt sogar die blutige Niederschlagung der Studierendenbewegung – an deren Rande auch einige ArbeiterInnenaktivistInnen agierten – durch China im Juni 1989, die 421 Menschen das Leben kostete. Damals war die Transformation vom Staats- zum Privatkapitalismus schon im vollen Gange, aber noch lange nicht beendet. Die Studierenden verlangten von den regierenden Partei-„KommunistInnen“ nicht nur „Marktwirtschaft“, sondern auch Demokratie als Staatsform. Die Auseinandersetzung war also eine innerhalb der proprivatkapitalistischen Sozialreaktion. SozialrevolutionärInnen hätten am Rande der Studierendenbewegung antikapitalistische Positionen vertreten müssen. (Siehe zu den damaligen Ereignissen: Nelke, Der chinesische Kapitalismus. 2. Teil. Von 1979 bis heute, Soziale Befreiung 2016, S. 77-82.)
Der Linksreaktionär Gerhard Feldbauer verteidigte in der jungen Welt vom 4. Juni 2019 das partei-„kommunistische“ Massaker an der prodemokratischen Studierendenbewegung. Seine „antiimperialistische“ Rechtfertigung der Blutorgie des chinesischen Imperialismus: „Hätte die chinesische Führung vor 30 Jahren der Konterrevolution nachgegeben, hätte das zu einem verheerenden Bürgerkrieg mit Millionen Toten führen können, der die Welt in unvorhersehbarer Weise destabilisiert hätte. Mit der Verteidigung ihrer Unabhängigkeit und ihres eigenständigen Weges zu einer sozialistischen Gesellschaft hat die Volksrepublik auf dem Tiananmen-Platz (der Ort des Massakers, Anmerkung von Nelke) dieser brandgefährlichen Entwicklung auf internationaler Ebene Einhalt geboten. Auf dieser Grundlage ist sie heute ein Sicherheitsfaktor für Nordkorea, Verbündete bei der Verteidigung der Unabhängigkeit Kubas und Venezuelas sowie anderer Staaten in Lateinamerika, Afrika und Asien. Damit ist die Volksrepublik heute ein Hoffnungsträger, der den USA in ihren Weltherrschaftsstreben einen Riegel vorschiebt.“ (Gerhard Feldbauer, Es drohte ein Bürgerkrieg, in: junge Welt vom 4. Juni 2019, S. 6.) China, Kuba, Venezuela und deren „antiimperialistischer“ Schwanz sind Teil des nationalkapitalistischen Alptraums, Herr Feldbauer!
Diese linksnationalen ProimperialistInnen verteidigen oder verharmlosen auch die Annexion der Krim durch das Putin-Regime 2014 oder dessen militärische Unterstützung Syriens ab 2015. Besonders widerliche „AntiimperialistInnen“ nennen die Annexion der Krim durch Russland eine Befreiung. So gaben Ralf Rudolph und Uwe Markus im Jahre 2017 ein Buch heraus, was sie „Die Rettung der Krim“ nannten. Mit „Rettung“ war die imperialistische Annexion der Halbinsel durch Russland gemeint. Der jungen Welt gefiel das so gut, dass sie dieses proimperialistische Machwerk am 7. August 2017 mit einem Vorabdruck von Teilen daraus würdigten.
„Kritische“ FreundInnen des russischen Imperialismus raunen stattdessen, dass die Annexion der Krim „völkerrechtlich fragwürdig“ gewesen sei. Nun, das Völkerrecht als Sammelsurium zwischenstaatlicher Benimm-Regeln interessiert uns nicht die Bohne. Mit dem „Völkerrecht“ unter dem Arm den Imperialismus zu kritisieren überlassen wir kleinbürgerlichen IdealistInnen. Wir bekämpfen den kapitalistischen Imperialismus, weil er im Interesse der Bourgeoisie die ProletarierInnen im Frieden und Krieg gegeneinander aufhetzt. Große Teile des linksnationalen „Antiimperialismus“ bekämpfen dagegen nur den westlichen Imperialismus. Diese unterstützen den russischen und chinesischen Imperialismus als Feinde ihrer Feinde. Für diese Schwachmaten ist ein Imperialismus, der sich gegen den Westen richtet, ein „Antiimperialismus“. So schrieb der junge-Welt-Autor Reinhard Lauterbach mit Bezug auf Russland von einem „erzwungenen Antiimperialismus“. (Reinhard Lauterbach, Erzwungener Antiimperialismus, in: junge-Welt-Beilage XXIV. Internationale Rosa Luxemburg Konferenz vom 12./13. Januar 2019, S. 8/9.) Gemeint ist damit, dass die Offensive des westlichen Imperialismus gegen Russland, die besonders in der Ostausdehnung von EU und NATO zum Ausdruck kam, Russland zur Gegenoffensive veranlasste. Doch diese Gegenoffensive Russlands ist imperialistisch und eben kein „erzwungener Antiimperialismus“, Herr Lauterbach!
Sozialrevolutionärer Antiimperialismus kämpft auch nicht für Frieden zwischen den Nationalstaaten, sondern bereitet den möglichen proletarischen Klassenkrieg gegen diese vor. Der bürgerliche Frieden ist lediglich der nichtmilitärische Konkurrenzkampf zwischen den Nationen und absolut asozial-gewalttätig. Er ist eine besondere Form des kapitalistischen Klassenkrieges gegen das Proletariat. Das kapitalistische Pack schlägt und verträgt sich – immer auf Kosten des Proletariats. Und zu diesem Pack, zur linken Fraktion des Kapitals, gehört auch die D„K“P. Diese forderte im Wahlkampf zum Europaparlament 2019 „Frieden mit Russland!“ Doch der Frieden unserer Ausbeuter ist der gemeinsame Klassenkrieg gegen uns! Der reaktionäre Nationalpazifismus der D„K“P ist nur die andere Seite der Medaille des linksnationalen Militarismus, mit dem Kriege angeblich „fortschrittlicher“ Staaten unterstützt werden.

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Von der Februar- zur Oktoberrevolution Teil 2 https://swiderstand.blackblogs.org/2017/08/31/von-der-februar-zur-oktoberrevolution-teil-2/ https://swiderstand.blackblogs.org/2017/08/31/von-der-februar-zur-oktoberrevolution-teil-2/#respond Thu, 31 Aug 2017 19:34:15 +0000 http://swiderstand.blogsport.de/2017/08/31/von-der-februar-zur-oktoberrevolution-teil-2/ Wir veröffentlichen hier den zweiten Teil des Kapitels „Von der Februar- zur Oktoberrevolution“. Die gesamte Broschüre „Schriften zur russischen Revolution (1917-1921)“ könnt Ihr hier für 5-€ (inkl. Porto) über Onlinemarktplatz für Bücher booklooker.de bestellen.

Russische Revolution

Doch kehren wir zum Kampf des Proletariats und der kleinbürgerlichen Parteien gegen Kornilow zurück. Eine große Rolle im Kampf gegen den Militärputsch spielten die EisenbahnarbeiterInnen und die Angestellten der Telegrafie. Die russische Generalität ging bei ihren Putschplänen einfach von einer funktionierenden Infrastruktur aus, ohne in Betracht zu ziehen, dass diese Infrastruktur von Lohnabhängigen getragen wurde und diese Lohnabhängigen nicht mehr einfach funktionierten, sondern durch und mit der russischen Revolution zu selbständigen Subjekten geworden waren. Und diese lohnabhängig-revolutionären Subjekte sabotierten objektiv die Infrastruktur der Konterrevolution. Die Angestellten des Telegrafenamtes informierten die Sowjets über die Pläne der Putschisten.
Die EisenbahnarbeiterInnen verhinderten die Ankunft des 3. Korps unter seinem Befehlshaber Krymow in Petrograd. Diese konterrevolutionäre Einheit hätte nach den Plänen der Putschisten schon am Abend des 27. August in der Hauptstadt der russischen Revolution sein sollen. Am Morgen des 28. August trafen die 8 Züge des 3. Korps in Luga ein. Doch dann konnten sie nicht weiterfahren, da die EisenbahnarbeiterInnen zuvor die Gleise beschädigt hatten. Der erzwungene Aufenthalt der konterrevolutionären Truppe wurde von den AgitatorInnen der Sowjets dazu genutzt, um die Soldaten von den Offizieren zu trennen. Dazu brauchten die ersteren den völlig desinformierten Soldaten nur die Wahrheit zu sagen: dass sie die Drecksarbeit eines Militärputsches verrichten sollten. Die Offiziere hatten ihren Soldaten gesagt, dass in Petrograd deutsche AgentInnen die Macht ergriffen hätten. Als die letzteren jetzt die Wahrheit erfuhren, waren sie nicht mehr bereit die Fußtruppen der Konterrevolution zu sein. Am Abend des 28. August waren Kornilows Truppen durch die Sabotage der EisenbahnarbeiterInnen und den Schutz Petrograds durch Armeetruppen und den Roten Garden besiegt.
Kornilow hatte sein Spiel verloren. Große Teile der russischen Bourgeoisie hatten die Alternative gestellt: Kornilow oder Lenin. Doch das russische Militär war schon zu dekadent, um eine stabile Diktatur gegen BäuerInnen, Proletariat und den kleinbürgerlichen Radikalismus zu errichten. Als dies im August deutlich wurde – blieb nur noch der staatskapitalistische Bolschewismus als Löser der Krise des russischen Staates übrig. Ja, die damaligen russischen Verhältnisse begünstigten den Bolschewismus. Bevor wir dessen Machteroberung im September/Oktober 1917 etwas genauer unter die Lupe nehmen, müssen wir uns mit der Agrarrevolte, der kleinbäuerlich-landproletarischen Bewegung der russischen Bevölkerungsmehrheit beschäftigen.
Die Bourgeoisie und die Provisorische Regierung waren unfähig und unwillig zu einer sofortigen und radikalen Agrarreform von oben, um einer kleinbäuerlich-landproletarischen Agrarrevolte von unten das Wasser abzugraben. Die Unfähigkeit und der Unwille der russischen Bourgeoisie zur radikalen Bodenreform, welche den feudalen Großgrundbesitz mit der Wurzel für immer vernichtet hätte, ergaben sich aus der engen politischen und sozialökonomischen Verschmelzung zwischen Privatkapital und landwirtschaftlichen Grundbesitz. Zum Teil besaßen auch städtische bürgerliche Schichten Landbesitz. Außerdem waren die GrundbesitzerInnen beim russischen Bankkapital verschuldet. Bei einer entschädigungslosen Enteignung des landwirtschaftlichen Großgrundbesitzes wäre das russische Bankkapital auf einen Haufen fauler Kredite sitzen geblieben. Die Verschleppung der Bodenreform wurde von der Bourgeoisie, der Provisorischen Regierung und den kleinbürgerlich-demokratischen Menschewiki und „SozialrevolutionärInnen“ durch die Delegation dieser Aufgabe auf die noch zu wählende Konstituierende Versammlung und der immer wieder verschobenen Durchführung von Wahlen zu dieser parlamentarischen Institution erreicht. Außerdem schuf die Provisorische Regierung bürokratisch-hierarchisch organisierte Landkomitees, welche offiziell eine Bodenreform vorbereiten sollten, diese aber in Wirklichkeit verschleppte. Die oberste Spitze dieser Institution war ein williges Werkzeug in den Händen des russischen Privatkapitals und des Grundbesitzes zur Verhinderung einer radikalen Agrarreform.
Doch die russischen KleinbäuerInnen und LandproletarierInnen ließen sich immer weniger vom politischen Personal der Bourgeoisie und des Großgrundbesitzes hinhalten. Wie wir bereits weiter oben schon dargelegt haben, gelang es dem Zarismus durch die Beteiligung am imperialistischen Weltkrieg und die massenhafte Verwandlung von BäuerInnen in Kanonenfutter die Agrarbewegung für eine gewisse Zeit zu ersticken. Doch nach der Februarrevolution begann sie wieder Ende März 1917 zaghaft ihr Haupt zu erheben. Bei dem halblegalen Erwachen der Agrarrevolte spielten die Sowjets kaum eine Rolle, da sie sich auf dem Lande nur sehr schwach entwickelten. Dafür wurden die unteren örtlichen Organe der Landkomitees von den KleinbäuerInnen in der sich langsam entwickelnden Agrarbewegung als legale Deckungsschilde benutzt. Unter dem Druck der kleinbäuerlichen Basis mussten die örtlichen unteren Landkomitees oft in die Verfügungsgewalt der GroßgrundbesitzerInnen über ihr Privateigentum an Grund und Boden eingreifen. So beschlagnahmten sie oft Ernten und Holzvorräte von großen Gütern um die sozialökonomische Reproduktion der KleinbäuerInnen zu gewährleisten. Auch gingen die örtlichen Landkomitees nicht selten durch Waffenbeschlagnahmungen bei GroßgrundbesitzerInnen gegen die feudal-bürgerliche Konterrevolution vor.
Doch die halblegale Deckung der bäuerlichen Agrarbewegung durch die Landkomitees währte nicht lange. Die Bewegung radikalisierte sich und ging im Sommer/Herbst 1917 zum offenen BäuerInnenkrieg gegen den Großgrundbesitz und die letzten Überreste der Leibeigenschaft über. Güter wurden verbrannt, vernichtet und geplündert, ihre BesitzerInnen verjagt und teilweise ermordet. Die großbäuerlichen Kulaken begannen eine bremsende Stellung im BäuerInnenkrieg gegen die Reste des Feudalismus einzunehmen, doch sie konnten von den KleinbäuerInnen und den lohnabhängigen LandproletarierInnen noch einmal in die Aktionen gegen den Großgrundbesitz mit hineingezogen werden, zumal sie in den Plünderungen den Löwenanteil für sich monopolisieren konnten. Noch einmal kämpfte das gesamte russische Dorf gegen den Großgrundbesitz, die soziale Differenzierung innerhalb der Dorfgemeinschaft zwischen GroßbäuerInnen einerseits und den von ihnen ausgebeuteten Landproletariat war zu schwach, um einen gesamtbäuerlichen Kampf gegen die Reste des Feudalismus zu verhindern. Die Agrarbewegung strebte die Aufteilung des Großgrundbesitzes in massenhaftes kleines Privateigentum an. Sie war also im Wesentlichen kleinbürgerlich und noch in der Lage den Klassengegensatz in sich zwischen GroßbäuerInnen und LandproletarierInnen durch den gemeinsamen Kampf weitgehend zu kaschieren und zu entspannen. Das russische Dorf kämpfe noch einmal geschlossen gegen die gemeinsamen Feinde: GroßgrundbesitzerInnen, Bourgeoisie und Provisorische Regierung, welche alle drei durch diese Agrarbewegung erheblich geschwächt wurden. Die kleinbürgerliche Agrarbewegung fand in der Periode des offenen BäuerInnenkrieges ihr organisatorisches Zentrum in der traditionellen Dorfversammlung. Denn auch die lokalen unteren Landkomitees waren durch ihren offiziellen und staatlichen Charakter für die Organisation des offenen BäuerInnenkrieges ungeeignet, während die Sowjets zu städtisch und die LandarbeiterInnengewerkschaften zu proletarisch für eine kleinbäuerliche Bewegung für Privateigentum waren.
Fazit: Die in ihrem Wesen nach antifeudale und kleinbürgerliche Agrarbewegung schwächte und destabilisierte die zur Bodenreform unwillige und unfähige Bourgeoisie und deren Provisorische Regierung. Die kleinbürgerlich-demokratischen Parteien der Menschewiki und der „SozialrevolutionärInnen“ klammerten sich an die Rockschöße der Bourgeoisie und verbündeten sich mit ihr gegen die kleinbäuerlich-landproletarische Agrarbewegung. Die rechten „SozialrevolutionärInnen“ widerriefen dadurch in der Praxis ihren kleinbürgerlichen Narodniki-Sozialismus. Dieser bestand darin, das kleinbürgerliche Intellektuelle dem bäuerlichen Kleineigentum irgendwelche „sozialistischen“ Tendenzen andichteten und die vorkapitalistische Mir, die traditionelle dörfliche Gemeinschaft der bäuerlichen KleineigentümerInnen zur Basis eines nichtkapitalistischen Entwicklungsweges für Russland herbeizuphantasieren. Wenn auch der Großteil der kleinbürgerlichen PolitikerInnen der „sozialrevolutionären“ Partei die Narodniki-Tradition in der Praxis widerrief, spalteten sich doch die „linken SozialrevolutionärInnen“ ab, welche die ideologische Schwärmerei für die BäuerInnen reproduzierten. Auch der russische Anarchismus idealisierte stark die russische BäuerInnenschaft. In ihm verschmolzen sich die progressive Tendenz seiner prinzipiellen Staatsfeindlichkeit untrennbar mit der sozialreaktionären Tendenz der Ideologisierung des bürgerlichen Individualismus – wozu auch der kleinbäuerliche gehörte –untrennbar zu einer im Großen und Ganzen nichtrevolutionären Ideologieproduktion.
Menschewiki und Bolschewiki standen in der Tradition der marxistischen Kritik am bäuerlichen Kleineigentum, der darauf basierenden kleinbürgerlichen Warenproduktion als Embryo von Kapital und Lohnarbeit. Auch wir stehen in dieser Tradition und haben diese Kritik schon weiter oben ausführlich dargelegt. Doch da die führenden Menschewiki und Bolschewiki selbst kleinbürgerliche BerufspolitikerInnen waren, verkörperten sie die reaktionäre Tendenz des Marxismus. Die Menschewiki klammerten sich an die Ideologie „der führenden Rolle der Bourgeoisie in der bürgerlichen Revolution“ – und halfen in der Praxis der privatkapitalistischen Sozialreaktion dabei eine antifeudale BäuerInnenbewegung zu ersticken.
Die Bolschewiki versprachen politisch eine kleinbürgerliche Bodenreform, um die Agrarbewegung gegen ihre groß- und kleinbürgerlichen GegnerInnen auszunutzen – ohne jegliche theoretische Illusionen in die Agrarbewegung zu hegen. Sie waren gezwungen sich dem bäuerlichen Kleineigentum eine gewisse Zeit anzupassen, wenn sie die politische Macht erobern und erhalten wollten. Und das wollten sie wie alle politischen Strömungen. So gedachten die bolschewistischen PolitikerInnen eine Bewegung kleinbäuerlicher PrivateigentümerInnen, welche die Aufteilung des Großgrundbesitz in noch mehr Kleineigentum anstrebte, und der sie im Prinzip feindlich gegenüberstanden, für das sozialreaktionäre Ziel der Eroberung der Staatsmacht auszunutzen. Für sozialrevolutionäre Ziele – die Zerschlagung des Staates und der Aufhebung der Warenproduktion – ließ sich die kleinbäuerlich-landproletarische Bewegung auch nicht nutzen. Das Landproletariat kämpfte zwar innerhalb der Agrarbewegung für seine Aufhebung –aber auf kleinbürgerlich-individualistischer Weise als zukünftige BodenbesitzerInnen oder auf kleinbürgerlich-kollektive Art mit der objektiven Tendenz genossenschaftliche Formen der Warenproduktion zu schaffen.
Die machtopportunistische Anpassung der Bolschewiki an die kleinbürgerliche Agrarbewegung kommt auch in Leo Trotzkis Geschichte der russischen Revolution recht gut zum Ausdruck. Wir zitieren:
„Das Programm der Sozialrevolutionäre hatte stets viel Utopisches enthalten: sie wollten den Sozialismus auf der Basis der kleinen Warenwirtschaft errichten. Doch die Grundlage ihres Programms war demokratisch-revolutionär: Enteignung der Gutsbesitzer. Vor die Notwendigkeit gestellt, das Programm zu erfüllen, verstrickte sich die Partei in Koalitionen (mit der Bourgeoisie, Anmerkung von Nelke). Gegen eine Bodenkonfiskation erhoben sich unversöhnlich nicht nur die Gutsbesitzer, sondern auch die kadettischen Bankiers: im Bodenbesitz waren nicht weniger als vier Milliarden Rubel der Banken investiert. Da sie planten, in der Konstituierenden Versammlung mit den Gutsbesitzern um den Preis zwar zu handeln, aber friedlich abzuschließen, waren die Sozialrevolutionäre eifrigst bemüht, den Muschik (den Bauern, Anmerkung von Nelke) nicht an den Boden heran zu lassen. Sie scheiterten somit nicht an dem utopischen Charakter ihres Sozialismus, sondern an ihrer demokratischen Unzulänglichkeit. Die Nachprüfung ihres Utopismus hätte Jahre erfordert. Ihr Verrat am Agrardemokratismus offenbarte sich im Laufe weniger Monate: unter einer Regierung der Sozialrevolutionäre mussten die Bauern den Weg des Aufstandes beschreiten, um das Programm der Sozialrevolutionäre zu verwirklichen.“ (Leo Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, Zweiter Teil: Oktoberrevolution (1), a.a.O., S. 705/706.)
Dieses Zitat belegt eindeutig, dass der 1917 zweitwichtigste Bolschewik nach Lenin nicht die geringsten Illusionen in die antifeudal-kleinbürgerliche Agrarbewegung hatte. Doch war diese Illusionslosigkeit in Bezug auf die kleinbäuerliche Agrarbewegung bei Trotzki mit der Idealisierung der bolschewistischen PolitikerInnen verbunden, welche nach ihrer politischen Machteroberung eine kleinbürgerliche Bodenreform durchführten: „Damit der Bauer den Boden säubern und von Zäunen befreien konnte, musste an die Spitze des Staates der Arbeiter treten: dies ist die einfachste Formel der Oktoberrevolution.“ (Ebenda, S. 720.) Ja, was Trotzki auch als „antistalinistischer“ Oppositioneller lieferte, war die ideologische Grundlüge über die Oktoberrevolution, mit der er sich selbst und das Weltproletariat betrog. Nein, an die Spitze des Staates traten bolschewistische BerufspolitikerInnen und nicht der/die Arbeiter/in. So diente der Kampf der KleinbäuerInnen und LandarbeiterInnen gegen den Großgrundbesitz dem kleinbürgerlichen Radikalismus, weil er die Kerenski-Regierung erheblich schwächte.

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Nach dem gescheiterten Kornilow-Putsch, einigten sich die Bourgeoisie und die kleinbürgerlich-demokratische Sowjetführung darauf, den unfähigen Kerenski weiterwirtschaften zu lassen. Doch das konnte nur noch eine kurze Zeit sein, da sich dieses Regime und mit ihm die ganze politische Herrschaft der Bourgeoisie hoffnungslos überlebt hatte. Die kleinbürgerlich-demokratischen Menschewiki und „SozialrevolutionärInnen“ verloren immer mehr Einfluss auf das Proletariat – und damit auch jegliche Bedeutung für die russische Bourgeoisie. Diese kleinbürgerlichen DemokratInnen wollten an der Seite der russischen Bourgeoisie großbürgerliche Strömungen werden, doch wegen der Schwäche des russischen Privatkapitals wurden sie gemeinsam mit diesem vom staatskapitalistischen Bolschewismus hinweggefegt.
Die proletarische Basis der Menschewiki und „SozialrevolutionärInnen“ begann nach dem gescheiterten Kornilow-Putsch sich immer stärker den Bolschewiki zuzuwenden. Die Bolschewiki beherrschten politisch und ideologisch große Teile des subjektiv revolutionären Proletariats. Menschewiki und „SozialrevolutionärInnen“ beherrschten zwar noch die gesamtrussische Führung der Sowjets, aber immer mehr lokale Sowjets konnten von den Bolschewiki politisch erobert werden. Anfang September gelang es den bolschewistischen PolitikerInnen auch die lokalen Sowjets von Petrograd und Moskau unter ihre Kontrolle zu bekommen. Führer des Petrograder Sowjets wurde der bolschewistische Politiker Trotzki, welcher von der Provisorischen Regierung gegen Kaution aus der Haft entlassen wurde. Die kleinbürgerlich-demokratischen Menschewiki und „SozialrevolutionärInnen“ versuchten gegen die Opposition des kleinbürgerlich-radikalen Bolschewismus die Einberufung eines gesamtrussischen Sowjetkongresses zu verhindern, weil ihnen auf diesem die völlige Entmachtung drohte. „Alle Macht den Sowjets!“ hieß nun objektiv: alle Macht den bolschewistischen Sowjets beziehungsweise den bolschewistischen PolitikerInnen innerhalb der Sowjets. Nach einigen Hin und Her wurde der Termin für den kommenden Sowjetkongress von der alten menschewistisch-„sozialrevolutionären“ gesamtrussischen Führung der Sowjets auf den 25. Oktober 1917 gelegt.
Die kleinbürgerlichen DemokratInnen von der menschewistischen und „sozialrevolutionären“ Partei schufen allerdings auch im September 1917 eine „Demokratische Versammlung“, auf der sich groß- und kleinbürgerliche Organisationen tummelten und aus der ein Vorparlament hervorging. Diese Demokratische Versammlung und das Vorparlament waren von Anfang an parlamentarische Gegenorganisationen zu den sich bolschewisierenden Sowjets. Lenin und Trotzki kämpften für den Boykott des Vorparlaments durch die bolschewistische Partei, konnten sich am Anfang aber damit nicht innerhalb des kleinbürgerlich-radikalen BerufspolitikerInnentums durchsetzen. Doch schließlich gelang es den zwei führenden Bolschewiki sich im internen Machtkampf durchzusetzen. Dabei konnten sie sich auch auf die subjektiv proletarisch-revolutionäre Massenbasis des Bolschewismus stützen. Am 7. Oktober 1917 verließ die bolschewistische Partei das Vorparlament.
Lenin und Trotzki hielten nun die Zeit für die politische Machtübernahme der bolschewistischen Partei im Gewand der Sowjets für gekommen. Doch innerhalb der bolschewistischen Parteibürokratie gab es eine starke Opposition, welche aktiv oder passiv gegen den Kurs der politischen Machtübernahme in Form eines Staatsstreiches im Namen der Sowjets und des Proletariats opponierten. Diese Opposition, welche von Sinowjew und Kamenjew geführt wurde, war im Wesentlichen kleinbürgerlich-demokratisch und wollte weiterhin die legalen Spielregeln innerhalb der groß- und kleinbürgerlichen Demokratie einhalten. Sie zeigte deutlich, dass der Bolschewismus nur eine inkonsequente kleinbürgerlich-radikale Abspaltung von der Demokratie war, aber nicht deren konsequente sozialrevolutionäre Kritik. Doch der kleinbürgerlich-radikale Charakter der bolschewistischen Partei konnte sich im Oktober 1917 gegen die kleinbürgerlich-demokratische Tradition und Opposition durchsetzen. Am 10. Oktober 1917 beschloss das bolschewistische Zentralkomitee gegen die Opposition von Sinowjew und Kamenjew den Kurs auf den bewaffneten Staatsstreich.
Organisatorische Basis dieses Staatsstreiches wurde das Militärische Revolutionskomitee des Petrograder Sowjets. Im Hintergrund zog die Militärische Organisation der bolschewistischen Partei die Fäden des Staatsstreiches. Allerdings hatte der bolschewistische Staatsstreich eine solide proletarische und soldatische Massenbasis und es beteiligten sich auch einige „linke SozialrevolutionärInnen“ und AnarchistInnen aktiv an der Oktoberrevolution. Ausgangspunkt der Oktoberrevolution wurde der Versuch der Provisorischen Regierung die Armeeeinheiten Petrograds an die Front zu verlegen. Das Militärische Revolutionskomitee des Petrograder Sowjets ernannte KommissarInnen für die Truppenteile und gab an die Soldaten die Anweisung künftig nur Befehle zu befolgen, die auch von den KommissarInnen der Sowjets akzeptiert würden. Damit verhinderte das Militärische Revolutionskomitee nicht nur die Verlegung der Petrograder Soldaten an die Front, sondern es streckte auch die Hand zur politischen Eroberung der größten Teile der Petrograder Truppenteile aus. Bereits vor der Oktoberrevolution wurde die Armee in der Hauptstadt der Revolution politisch in drei Teile gespalten: probolschewistische, regierungstreue und neutrale Einheiten.
Neben bestimmten militärischen Einheiten verfügte das Militärische Revolutionskomitee des bolschewistisch beherrschten Petrograder Sowjets auch über das bewaffnete Proletariat, die Roten Garden, welche auch aktiv an der Oktoberrevolution teilnahmen. Weiter oben haben wir die Roten Garden als Keimform einer Diktatur des Proletariats bezeichnet. Nach unseren heutigen Erfahrungen kann die Diktatur des Proletariats keine Staatsform, sondern nur die gewaltsame Zerschlagung des Staates durch das Proletariat sein. Die Diktatur des Proletariats kann also objektiv nur antipolitisch wirksam werden. Indem die Roten Garden während der Oktoberrevolution sich bolschewistischen BerufspolitikerInnen unterordneten, welche durch einen Staatsstreich sich die politische Macht eroberten, handelten sie objektiv nicht als Diktatur des Proletariats, wenn auch ihre Basis subjektiv ehrlich und sozialrevolutionär war. Durch ihre eigenen politischen Illusionen gegen die bolschewistischen BerufspolitikerInnen entwaffnet wurden die bewaffneten ProletarierInnen zur Manövriermasse des kleinbürgerlichen Radikalismus als Keimform der kommenden staatskapitalistischen Sozialreaktion. Als diese sich weiter entwickelte, brauchte sie natürlich eine „richtige“, das heißt eine bürgerlich-bürokratische, Armee, welche natürlich rot gestrichen wurde. Die Integration der Roten Garde in der „Rote Armee“ war die Entwaffnung des Proletariats zu Gunsten eines staatskapitalistischen Militarismus (siehe dazu auch das Kapitel Staatskapitalistische Reaktion gegen privatkapitalistische Reaktion im Text Der BürgerInnen- und imperialistische Interventionskrieg (1918-1921)).
Doch kehren wir in den Oktober 1917 zurück. Das Militärische Revolutionskomitee des Petrograder Sowjets tarnte auch noch während der Oktoberrevolution, welche am 24. Oktober 1917 begann, seinen offensiven Kampf um die politische Macht mit defensiven öffentlichen Erklärungen. Die hilflosen Reflexe zur Selbstverteidigung, welche von dem sterbenden privatkapitalistischen Regime ausging, stellte der Führer des Petrograder Sowjets, Trotzki, als Beginn der Konterrevolution dar, gegen die sich der Sowjet nur verteidige. Am Morgen des 24 Oktober 1917 verfügte die Provisorische Regierung in der Tat die Entmachtung der sowjetischen KommissarInnen in der Armee, das Verbot der bolschewistischen Presse und die Verhaftung des Militärischen Revolutionskomitees. Doch an der Offensive des Petrograder Sowjets, des bewaffneten Proletariats und der offen den Gehorsam verweigernden Armeeeinheiten zerbrach der schwächliche Widerstand der privatkapitalistischen Sozialreaktion.
In der Nacht vom 24. zum 25. Oktober ging das Militärische Revolutionskomitee zur offensiven Machteroberung über. Es ließ durch probolschewistische Soldaten, Matrosen und Roten Garden die Bahnhöfe Petrograds, die Elektrizitätszentrale, das Militär- und das Proviantlager, die Wasserleitung, die Schlossbrücke, die Telefonzentrale und die großen Druckereien besetzen. Dies geschah im Wesentlichen ohne Gegenwehr des alten Regimes und ohne Blutvergießen. Die einzige Schwierigkeit war die Einnahme des Winterpalais, dem Sitz der Provisorischen Regierung, welches durch die letzten regierungstreuen bewaffneten Einheiten des Kerenski-Regimes gegen den bolschewistischen Staatsstreich gehalten wurde. Dieser letzte militärische Widerstand des sterbenden Regimes konnte erst durch den Sturm der ArbeiterInnen, Soldaten und Matrosen in der Nacht zum 26. Oktober 1917 erfolgreich gebrochen werden.
Als am 25. Oktober 1917 der gesamtrussische Sowjetkongress zu tagen begann, war der bolschewistische Staatsstreich noch nicht beendet, das Winterpalais noch nicht eingenommen. Der bewaffnete Aufstand hatte sich verspätet, der Sowjetkongress sollte nach den ursprünglichen bolschewistischen Plänen mit dem vollendeten Sturz der Provisorischen Regierung konfrontiert werden, um die alte gesamtrussische Sowjetführung aus Menschewiki und „SozialrevolutionärInnen“ von Anfang an geschwächt zu entmachten. Die Bolschewiki konnten aber trotz der verspäteten Beendigung ihrer Oktoberrevolution Dank ihrer Mehrheit ihr Ziel erreichen: die Sanktion ihres Staatsstreiches durch den Sowjetkongress.
Die rechten Menschewiki und „SozialrevolutionärInnen“ verließen nach einigen antibolschewistischen Erklärungen den Sowjetkongress. Die linken Menschewiki versuchten die Bolschewiki von der Idee zu überzeugen, eine Koalitionsregierung zusammen mit Menschewiki und „SozialrevolutionärInnen“ zu bilden. Mal abgesehen davon, dass auch diese Regierung so wie jede andere Staatsführung objektiv nur sozialreaktionär sein konnte, war diese Idee vollkommen hilflos und utopisch. Für eine Koalition zwischen der kleinbürgerlichen Demokratie als linker Flanke der bereits vollkommen überlebten privatkapitalistischen Sozialreaktion und dem kleinbürgerlich-radikalen Bolschewismus als Keimform der beginnenden erfolgreichen staatskapitalistischen Sozialreaktion gab es keine materielle Basis. Als die linken Menschewiki von den Bolschewiki die Abfuhr erhielten, verließen auch sie nach und nach den Sowjetkongress. Die linken „SozialrevolutionärInnen“ hegten zu diesem Zeitpunkt ähnliche Illusionen über eine objektiv unmögliche Koalition zwischen kleinbürgerlicher Demokratie und kleinbürgerlichem Radikalismus. Doch sie verließen den Sowjetkongress nicht, allerdings beteiligten sie sich auch nicht am 26. Oktober an der Regierungsbildung der Bolschewiki. Sie wollten weiterhin zwischen der künftigen bolschewistischen Regierung und den kleinbürgerlichen DemokratInnen vermitteln. Das war nicht gerade sehr sozialrevolutionär. Auch die kurze Beteiligung der „linken SozialrevolutionärInnen“ an der bolschewistischen Regierung vom Dezember 1917 bis in den März 1918 war es nicht, weil objektiv jede Staatsführung nur sozialreaktionär sein kann, unabhängig davon ob eine klassen- und staatenlosen Gesellschaft in einer geschichtlich konkreten Situation objektiv möglich ist oder nicht. Das bolschewistische Lenin/Trotzki-Regime, was am 26. Oktober 1917 auf dem Sowjetkongress gebildet wurde, war also von Anfang an sozialreaktionär, auch wenn im damaligen Russland objektiv nicht „mehr“, also eine klassen- und staatenlose Gesellschaft, möglich war.
Außerdem wurden am 26. Oktober 1917 zwei wichtige Dekrete beschlossen, nämlich das „Dekret über Grund und Boden“, über dessen Bedeutung wir noch weiter unten schreiben werden, und das „Dekret über den Frieden“. Dieses richtete sich sowohl an die Staaten wie an die „Völker“ der privatkapitalistischen Nationen mit dem Aufruf den imperialistischen Krieg ohne Annexionen und Kontributionen zu beenden. Dieses Dekret war objektiv nicht sozialrevolutionär, weil ein Frieden zwischen bürgerlichen Nationalstaaten nur ein Frieden gegen das Weltproletariat sein konnte, der ein neues globales Gemetzel vorbereitete. Objektiv war das „Dekret über den Frieden“ nur ein Ausfluss des sozialreaktionären Nationalpazifismus. Genau wie der Krieg, den das junge bolschewistische Regime zwischen 1918 und 1921 gegen die russische und internationale privatkapitalistische Sozialreaktion führte, als der Krieg eines Staates objektiv nicht revolutionär und auch nur ein Krieg gegen das Proletariat sein konnte. Dass sich das „Dekret über den Frieden“, auch an die „Völker“ der privatkapitalistischen Nationen wandte – nicht an die ProletarierInnen! – machte diese Erklärung nicht sozialrevolutionär. Denn was die Bolschewiki damals verschwommen unter Weltrevolution verstanden, war ganz bestimmt nicht das, was wir heute unter einer globalen revolutionären Selbstaufhebung des Proletariats verstehen. Die von ihnen 1919 gegründete „Kommunistische“ Internationale richtete sich damals schon gegen die fortgeschrittensten sozialrevolutionären ArbeiterInnen und Intellektuellen, war also auch von Anfang an objektiv sozialreaktionär.
Natürlich war noch sehr viel praktische Erfahrung nötig, bis die oben genannten Objektivitäten auch subjektiv so klar erkannt werden konnten. 1917 war diese subjektive Reife des sozialrevolutionären Bewusstseins objektiv noch nicht möglich. Aber heute ist sie möglich und auch notwendig! Diese subjektive Klarheit stellen wir gegen alle partei-„kommunistischen“ Märchenbücher über den angeblich „proletarischen“ Bolschewismus und den von ihn beherrschten Staat!
Die Oktoberrevolution war ein Staatsstreich der kleinbürgerlich-radikalen bolschewistischen Partei. Allerdings konnte dieser sich am Anfang auf eine gewaltige proletarische und kleinbäuerliche Massensympathie stützen, die aber wiederum nur aus Illusionen bestand. Die Oktoberrevolution war ein höchst widersprüchlicher sozialer Prozess. Ja, es ist wahr, dass im Oktober 1917 kleinbürgerlich-radikale BerufspolitikerInnen die Staatsmacht eroberten, um kurze Zeit später ein staatskapitalistisches Regime zu errichten. Aber es ist genau so wahr, dass im Oktober 1917 nicht wenige ehrliche und subjektiv sozialrevolutionäre ProletarierInnen – wenn auch mit bolschewistischen Illusionen im Kopf – die Gelegenheit nutzten, um mit dem verhassten demokratischen Regime Schluss zu machen, welches sich innerhalb von acht Monaten im damaligen Russland schon völlig überlebt hatte. Nicht wenige subjektiv ehrliche proletarische RevolutionärInnen überwanden nach Erfahrungen mit dem sozialreaktionären bolschewistischen Regime ihre Illusionen in die Partei und den Staat von Lenin/Trotzki und begannen auch gegen den Staatskapitalismus zu kämpfen – am klarsten und bewusstesten im Kronstädter Aufstand von März 1921.
Noch einmal in aller Deutlichkeit: die sozialrevolutionäre Kritik am Bolschewismus hat nicht das Geringste mit dem Gewimmer kleinbürgerlicher DemokratInnen, welches mit der bolschewistischen Machtübernahme einsetzte, gemeinsam. Ja, unsere theoretische und praktische Kritik an der Demokratie ist wesentlich radikaler und konsequenter als die des Bolschewismus in seiner radikalsten Entwicklungsphase. Wir möchten daran erinnern, dass die bolschewistische Partei während der gesamten Zeit vor der Oktoberrevolution durch ihre Beteiligung an den Stadtdumas an den Hokuspokus des demokratischen Regimes teilnahm und ebenfalls die Einberufung der parlamentarischen Konstituierenden Versammlung von der Provisorischen Regierung verlangte. Ja, die Bolschewiki ließen sogar nach ihrem Sturz der Provisorischen Regierung Wahlen zu diesem Parlament durchführen. Allein diese Tatsache bewies schon hinlänglich, dass weder die bolschewistische Partei noch ihr Staatsstreich im Oktober 1917 wirklich sozialrevolutionär war.
Doch bei den Wahlen zur Konstituierenden Versammlung gewann am 5. Januar 1918 (nach alten russischen Kalender) nicht die bolschewistische Partei, sondern die bäuerliche Bevölkerungsmehrheit wählte massenhaft rechte „SozialrevolutionärInnen“, gegen deren Politik sie doch im Herbst 1917 eine Agrarrevolte durchgeführt hatte. Vielleicht hatte sich bei den BäuerInnen der Unterschied zwischen rechten und linken „SozialrevolutionärInnen“ noch nicht herumgesprochen… Nun ja, die Gründe, warum ProletarierInnen und KleinbürgerInnen bestimmte PolitikerInnen durch demokratische Wahlen legitimieren in ihrem Namen und gegen ihre Interessen zu regieren, sind eigentlich immer irrational. Rational kann nur die Zerschlagung des demokratischen Parlamentarismus durch die Diktatur des Proletariats sein. Allerdings war die Sprengung der Konstituierenden Versammlung durch das bolschewistische Regime nach nur einer Sitzung objektiv nicht sozialrevolutionär, weil sie der Herausbildung eines staatskapitalistischen Regimes diente.

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Die Oktoberrevolution war aus proletarischer Sicht nicht sozialrevolutionär. Sie war die politische Machtübernahme des bolschewistischen kleinbürgerlichen Radikalismus gegen die Bourgeoisie und die GroßgrundbesitzerInnen – aber auch gegen die BäuerInnen und das Proletariat. Die ideologischen Verrenkungen des Partei-„Kommunismus“ in all seinen Schattierungen, um die Oktoberrevolution als „proletarisch“ oder „sozialistisch“ erscheinen zu lassen, halten der historischen Wirklichkeit nicht stand. Die politische Eroberung des bürgerlichen Machtapparates, des Staates, kann objektiv niemals sozialrevolutionär sein. Auch die bolschewistische Partei war nicht die „Avantgarde des Proletariats“, sondern das Machtzentrum kleinbürgerlich-radikaler PolitikerInnen, welche durch die Eroberung der Staatsmacht großbürokratisch wurden.
Denn der „ArbeiterInnenstaat“, welcher in der Wirklichkeit nichts anderes sein kann als der rot gefärbte bürgerliche Staat, kann nur in der marxistischen Ideologieproduktion absterben. In der sozialen Realität versucht jeder Staat seine Machtbasis auszuweiten. Die Organisationsweise des Staates ist bürokratisch, er ordnet sich auch das Proletariat unter. Das Proletariat kann den Staat nur möglicherweise zerschlagen, aber unmöglich ihn politisch erobern. In dieser grundlegenden Frage hat der Anarchismus gegenüber dem Marxismus Recht, doch stellte der erstere kaum ein tragfähiges theoretisches Fundament zur sozialrevolutionären Zerschlagung des Staates dar, sondern oft nur eine ideologische Verzierung des kleinbürgerlichen Individualismus. Die bürgerliche Gesellschaft besteht auf der einen Seite aus Marktsubjekten – einschließlich der LohnarbeiterInnen, welche ihre Arbeitskraft an Kapital und Staat vermieten und Konsumgüter kaufen –, die gegeneinander einen gnadenlosen Konkurrenzkampf führen und einem bürokratischen Machtapparat mit Namen Staat, der als scheinbar neutraler Schiedsrichter dafür sorgt, dass dieser Konkurrenzkampf nach gewissen Regeln geführt wird. Staat und vereinzelte Individuen als konkurrierende Marktsubjekte reproduzieren sich gegenseitig. Indem ein Großteil der AnarchistInnen die „Freiheit der Persönlichkeit“ gegen den Staat verteidigt, verteidigt er in Wirklichkeit den bürgerlichen Individualismus gegen den Staat, aber nicht die Perspektive der proletarischen Staatszerschlagung. Am stärksten sind diese sozialreaktionären Tendenzen im Individualanarchismus und Anarchokapitalismus sichtbar. Aber auch in scheinbar linkeren Varianten des Anarchismus gibt es starke kleinbürgerlich-individualistische Tendenzen, welche zum Beispiel in der Verklärung der KleinbäuerInnen zum Ausdruck kommen.
Schon allein wegen der KleinbäuerInnen, welche nach Kleineigentum strebten – also nach kleinbürgerlicher Warenproduktion und damit Individualismus und den Staat als Schiedsrichter reproduzierend –, war eine Zerschlagung des russischen Staates objektiv nicht möglich. Die bolschewistischen PolitikerInnen schufen mit ihrer Bodenreform sofort nach der Oktoberrevolution die soziale Basis zur Entfaltung der kleinbäuerlichen Warenproduktion. Per Dekret wurde der Grundbesitz des Adels, der Krone und der Klöster entschädigungslos enteignet. Mit dieser Maßnahme war die politische Machtübernahme durch den Bolschewismus zugleich der Höhepunkt der antifeudalen Revolution. Dieser Höhepunkt der antifeudalen Revolution durch die bolschewistische Bodenreform konnte nur durch die vorherige politische Entmachtung der liberalen Bourgeoisie durchgesetzt werden, während die Machtübergabe an die Liberalen durch die kleinbürgerlich-demokratischen Menschewiki und „SozialrevolutionärInnen“ im März 1917 die endgültige Beseitigung des Feudalismus in Russland nur verzögerte. Entgegen dem menschewistischen Dogmengebäude von der „logischen Führung der Bourgeoisie in der bürgerlichen Revolution“, wurde der kleinbürgerlich-radikale Bolschewismus zum politischen Subjekt der antifeudalen Revolution – gegen die Bourgeoisie.
Doch zugleich bekämpfte das bolschewistische Regime schon unter Lenin und Trotzki unerbittlich die selbständige kleinbäuerlich-landproletarische Machno-Bewegung in der Ukraine (siehe dazu das Kapitel Sowjetrussischer Imperialismus in der Ukraine im Text Der BürgerInnen- und imperialistische Interventionskrieg (1918-1921)) und das Stalin-Regime liquidierte dann später die kleinbäuerlich-individuelle Warenproduktion auf dem Land und verwandelte alle BäuerInnen in Staatsknechte und -mägde. Die kapitalistische Stadt –hier ein staatskapitalistisches Regime – ordnete sich das bäuerliche Dorf unter. Dies war eine unerbittliche Folge der sozialen Schwerkraft des Industriekapitals, gegen die keine kleinbäuerliche Bewegung ankommen kann. Während in der privatkapitalistischen Ökonomie die kleinbäuerlichen Wirtschaften durch die „unsichtbare Hand des Marktes“ schleichend untergehen, sorgte in der Sowjetunion die nur allzu sichtbare Faust des Staates für die Beseitigung der kleinbürgerlichen Warenproduktion auf dem Lande. So ging der Höhepunkt der antifeudalen Revolution folgerichtig in die staatskapitalistische Sozialreaktion gegen die KleinbäuerInnen über.
Nur die revolutionäre Selbstaufhebung des Landproletariats als Teil des globalen Gesamtproletariats kann die kapitalistische Landwirtschaft aufheben, während die kleinbäuerlich-landproletarische Bewegung während der russischen Revolution objektiv nur die Landwirtschaft vom alten Plunder des Feudalismus reinigen konnte – aber niemals die soziale Basis für eine nachkapitalistische klassenlose Gesellschaft schaffen konnte. Dass ein Teil der kleinbäuerlich-landproletarischen Bewegung – AnarchistInnen und „linke SozialrevolutionärInnen“ – ihren grundsätzlich kleinbürgerlichen Charakter ideologisch mit viel Sozialromantik etwas schmückten und noch heute verklären, ändert ebenfalls nichts an den historischen Tatsachen.
Außerdem war die Oktoberrevolution der Höhepunkt der antiprivatkapitalistischen Revolution und zugleich der Umschlagmoment in die siegreiche staatskapitalistische Sozialreaktion gegen das Proletariat. Der sowjetische Staat wurde schon unter Lenin und Trotzki objektiv zum sozialökonomischen Ausbeuter und zum politischen Unterdrücker des Proletariats. Die Umwandlung der Sowjets in Staatsorgane konnte objektiv nur deren Transformation von Mischformen aus embryonalen Keimformen der proletarischen Selbstorganisation und Organen der kleinbürgerlichen „ArbeiterInnendemokratie“ in Werkzeuge der bolschewistischen Parteidiktatur gegen das Proletariat bedeuten.
In der Industrie experimentierte der Bolschewismus eine Weile mit der „ArbeiterInnenkontrolle“. Die industrielle Bourgeoisie behielt ein paar Monate ihr Eigentum an industriellen Produktionsmitteln, doch die Bourgeoisie sollte vom Industrieproletariat kontrolliert werden. Es wurden dazu ArbeiterInnenkontollorgane geschaffen, dessen Entscheidungen für das Betriebsmanagement verbindlich waren. Das Geschäftsgeheimnis wurde aufgehoben. Die „ArbeiterInnenkontrolle“ institutionalisierte also die Doppelherrschaft zwischen Bourgeoisie und Organen der proletarischen Selbstorganisation beziehungsweise der kleinbürgerlichen „ArbeiterInnendemokratie“. Ja, auch diese ArbeiterInnenkontrollorgane stellten wieder eine typische Mischform zwischen Klassenkampforganen und Instanzen einer kleinbürgerlichen Demokratie dar. Durch diese Institutionalisierung der Doppelherrschaft im privatkapitalistischen Betrieb war die Kraft, welche den Rahmen vorgab, nämlich das bolschewistische Regime, die sozial stärkste Kraft im Dreiecksverhältnis zwischen Bourgeoisie, Proletariat und Staat. Die letztgenannte Kraft intervenierte von Anfang an stark in die – noch! –privatkapitalistische Wirtschaft. Bereits im Dezember 1917 wurde das Organ der zentralbürokratischen Planwirtschaft, der „Oberste Volkswirtschaftsrat“ errichtet. Er sollte die Volkswirtschaft organisieren und die Staatsfinanzen beaufsichtigen.
Der bürgerliche Historiker Helmut Altrichter beschrieb das Regime der „ArbeiterInnenkontrolle“ in der russischen Wirtschaft: „Bei der Einführung der Arbeiterkontrolle war offen geblieben, welche Rechte künftig noch dem Unternehmer zustehen sollten, und die politische Führung hatte dazu auch keine einheitliche Meinung. Die Arbeiterkontrollorgane legten ihre neuen Befugnisse extensiv aus, zeigte sich Widerstand, so griff man sehr schnell zum Mittel der Enteignung. Die Zahl der ,sozialisierten‘, ,kommunalisierten‘ Betriebe ging schon im Winter 1917/18 in die Hunderte. Nicht nur Großunternehmen waren davon betroffen, nein, auch und vor allem Klein- und Kleinstbetriebe.
Wie sollten diese Betriebe künftig geführt werden? Dazu gab es keine einheitlichen Richtlinien. Was durften die Wirtschaftsorgane vor Ort, was mussten sie den übergeordneten Stellen überlassen? Nirgends waren die Kompetenzen abgegrenzt, und der Oberste Volkswirtschaftsrat befand sich erst im Aufbau. Sollte, musste die ,Attacke auf das Kapital‘ fortgesetzt werden? Es gab viele in der Partei, allen voran die ,linken Kommunisten‘, die das forderten. Oder war bereits mehr ,nationalisiert, konfisziert, zerschlagen und zerbrochen‘ als man erfassen und verwalten konnte. Lenin war im Frühjahr 1918 dieser Meinung, und er forderte die Rückkehr zu Disziplin und Ordnung, wenn man nicht in Anarchie und Chaos versinken wolle. (Helmut Altrichter, Kleine Geschichte der Sowjetunion 1917-1991, Verlag C.H.Beck, München 2007, S. 34.)
Wir sehen hier deutlich: Das ungeklärte Dreiecksverhältnis zwischen Bourgeoisie, „ArbeiterInnenkontrollorganen“ und dem bolschewistischem Staat führte zu ökonomischem Chaos. Außerdem war zu befürchten, dass die ArbeiterInnenklasse ohne Eingreifen des Staates genossenschaftliche Eigentumsformen, also kleinbürgerlich-kollektive Formen der Warenproduktion, in der Industrie durchsetzen würde. Doch das war nicht im Interesse des bolschewistischen Regimes.
Die „ArbeiterInnenkontrolle“ war also unhaltbar. Die sozial stärkste Kraft im Dreiecksverhältnis, der bolschewistische Staat, holte im Frühsommer 1918 mit der Verstaatlichung der wichtigsten industriellen Produktionsmittel zum entscheidenden Schlag aus – sowohl gegen die Bourgeoisie als auch gegen das Proletariat. Die Verstaatlichung der industriellen Produktionsmittel war der Höhepunkt der antiprivatkapitalistischen Revolution des kleinbürgerlichen Radikalismus gegen die Bourgeoisie – und zugleich der Umschlagmoment in die staatskapitalistische Sozialreaktion gegen das Proletariat. Denn die Verstaatlichung der industriellen Produktionsmittel war nicht die Aufhebung des Kapitals, sondern dessen Verstaatlichung. Die Partei/Staatsbürokratie verfügte praktisch über das staatliche Eigentum an Produktionsmitteln, dies hieß, sie bestimmte was und wie produziert wurde, während die ArbeiterInnenklasse ihre kollektive Arbeitskraft an den Staat – also an dessen Bürokratie – vermieten musste. Die Partei/Staatsbürokratie verfügte über den proletarisch produzierten Mehrwert. Einen Teil davon eignete sie sich legal und illegal als Konsumtionsfonds an, den anderen Teil investierte sie in die ursprüngliche staatskapitalistische Industrialisierung.
Der Bolschewismus war keine abenteuerlich-sozialromantische oder gar anarchistische Kraft, wie der Menschewismus es darstellte. Er war die einzige Kraft zur kapitalistischen Lösung der Krise des russischen Staates. Die russische Bourgeoisie war schon vor der Revolution von 1917 zu schwach dazu, um die politische Macht zu erobern. Sie verbündete sich vor der Februarrevolution mit GroßgrundbesitzerInnen und Zarismus für den imperialistischen Krieg und gegen Proletariat, KleinbäuerInnen und den kleinbürgerlich-radikalen Bolschewismus. Nach der Februarrevolution reproduzierte sie die gleiche Sozialreaktion – ohne den Zaren. Die gewaltige soziale Sprengkraft der russischen Revolution fegte die schwache Bourgeoisie hinweg, doch das subjektiv revolutionäre Proletariat war sozial (es war noch eine Minderheit in der russischen Gesellschaft) und geistig (keine bewusste Kritik der Warenproduktion und der Politik) zu schwach um sich selbst aufzuheben. Also löste der kleinbürgerlich-radikale Bolschewismus die Krise des russischen Staates in dem er das Kapital verstaatlichte und sich dadurch objektiv selbst zu einer staatskapitalistisch-sozialreaktionären Kraft transformierte, der sich selbst und das Proletariat mit einer antikapitalistisch-„kommunistischen“ Ideologieproduktion betrog.

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Klassenkämpfe in der BRD 2. Teil: 1990-2017 https://swiderstand.blackblogs.org/2017/07/27/klassenkaempfe-in-der-brd-2-teil-1990-2017/ https://swiderstand.blackblogs.org/2017/07/27/klassenkaempfe-in-der-brd-2-teil-1990-2017/#respond Thu, 27 Jul 2017 21:33:50 +0000 http://swiderstand.blogsport.de/?p=144 Unsere neue Broschüre: „Klassenkämpfe in der BRD 2. Teil: 1990-2017“ (ca. 128 Seiten) von Soziale Befreiung ist da. Die Broschüre könnt Ihr hier für 5-€ (inkl. Porto) über Onlinemarktplatz für Bücher booklooker.de bestellen.

Einleitung

I. Der Klassenkampf von oben
1. Die Vermehrung des bundesdeutschen Nationalkapitals
2. Produktives und „unproduktives“ proletarisches Elend
3. Privatisierung und Vernichtung des ostdeutschen Kapitals
4. Privatisierung in der Alt-BRD
5. Die bundesdeutsche Politik gegen das Proletariat
6. Kapitalistische und politische Repression

II. Einige Klassenkämpfe von unten
1. Klassenkämpfe in der proprivatkapitalistischen DDR
2. Klassenauseinandersetzungen in der ostdeutschen Kaliindustrie
3. Der Streik für die 35-Stunden-Woche in der ostdeutschen Metallindustrie
4. Opel Bochum
5. Die Schließung von AEG Nürnberg
6. Der Streik bei Gate Gourmet Düsseldorf
7. Gewerkschaftlich geführter Klassenkampf und Tarifschacher der GDL
8. BSH Berlin
9. Klassenkampf und „selbstverwaltete“ Warenproduktion bei Bike Systems (Nordhausen)
10. Klassenkampf und „Anarcho“-Reformismus beim Kino Babylon
11. Streiks bei den Sozial- und Erziehungsdiensten
12. Der Streik bei Neupack
13. Klassenkämpfe bei der Charité
14. Klassenkämpfe im Einzel- und Versandhandel
15. Der Streik bei der Deutschen Post
16. Klassenkämpfe im Flugverkehr 2016
17. Klassenkämpfe der LehrerInnen
18. Klassenkämpfe hinter Gittern

III. Sozialrevolutionäre Perspektiven
1. Notwendigkeiten und Möglichkeiten der sozialen Revolution
2. Objektive und subjektive Bedingungen einer siegreichen Weltrevolution
3. Die Herausbildung sozialrevolutionärer Strömungen

4. Opel Bochum

Die Verschiebung des Einflusses zwischen den verschiedenen Branchen der kapitalistischen Ökonomie kommt auch in der Verschiebung der Klassenkampfaktivität der unterschiedlichen Teile des Proletariats zum Ausdruck. Das klassische Industrieproletariat stagniert oder geht zahlenmäßig sogar zurück, während das moderne Dienstleistungsproletariat anwächst. Diese Verschiebung macht sich auch in unserer Broschüre bemerkbar. Während im 1. Teil: 1945-1989 noch der Klassenkampf des Metallproletariats inhaltlich die Broschüre dominiert, kommt im 2. Teil: 1990-2017 die wachsende Bedeutung des Dienstleistungsproletariats zum Ausdruck. Der Strukturwandel der kapitalistischen Wirtschaft brachte auch die Zerstörung vieler traditioneller Ausbeutungsplätze und ganze Betriebsschließungen in der metallverarbeitenden Industrie mit sich. Die IG-Metall-Bonzokratie und die Betriebsratsfürsten waren natürlich dazu bereit, die Angriffe der kriselnden Einzelkapitale auf die Belegschaften grundsätzlich mitzutragen, aber ein wenig „sozialverträglich“ abzufedern.
Besonders krisenanfällig erwies sich im Verlauf der strukturellen Profitproduktionskrise und zyklischen Profitrealisationskrisen die Autoindustrie. Im Verhältnis zur zahlungsfähigen Nachfrage warf die einfach zu viele Autos auf den Markt. Von dieser Krise war auch Opel, die deutsche Tochter von General Motors betroffen. Der Konzern Opel ging am 24. August 2004 im Klassenkampf von oben in die Offensive, indem er folgendes forderte: Keine Weitergabe von Tariferhöhungen der Metallbranche bis 2009, die Ausdehnung der Arbeitszeit auf bis zu 40 Stunden pro Woche bei einer Bezahlung auf der Grundlage einer 35-Stundenwoche, die Streichung der Erschwerniszulage, die Reduzierung des Weihnachtsgeldes auf Tarifniveau (55 Prozent), die Reduzierung des Urlaubsgeldes, die Verringerung der Verteil-/Erholzeiten am Standort Rüsselsheim um 1,5 Prozent, in Bochum um 1,7 Prozent, die Streichung der Schichtzuschläge für Spät- und Nachtschichtarbeit, die Streichung der Sonntagszuschläge für die am Sonntag beginnende Nachtschicht, die Abgruppierung von Mitarbeitern mit zu hoher Eingruppierung im Rahmen der Einführung von ERA, die Einführung von Leistungsanreizen im Rahmen der Einführung von ERA, Vertrauensarbeit für Angestellte und keine Bezahlung von Mehrarbeit, keine Bezahlung von Mehrarbeitszuschlägen und Antrittsprämien in der Produktion, die Streichung der Pausen für den Pausendurchlauf, die pauschale Reduzierung der Vorgabezeiten / Erhöhung der Bandgeschwindigkeit, die Anrechnung der Produktionsstörungen auf die Pausen, die Abschaffung der Hitzepausen, das kollektive Abfeiern von Gleitzeitguthaben, die Umsetzung des vollständigen TPM-Konzepts, Reduzierung des Instandhaltungspersonals und der Austausch von Schlossern gegen Elektroniker in der Instandhaltung, die Umsetzung von Mitarbeitern aus indirekten Bereichen in die Produktion (temporär oder dauerhaft), die Reduzierung der Anzahl freigestellter Betriebsräte und die Verlegung von Vertrauensleutesitzungen auf Samstage. Kurz vor dem wilden Streik bei Opel Bochum im Oktober 2004 verkündete General Motors die Vernichtung von 12.000 Arbeitsplätzen in Europa, davon 10.000 in der BRD.
Das waren harte Angriffe auf die Opel-Belegschaft. Darauf reagierten die IG-Metall-Bonzen und der Gesamtbetriebsrat mit einem großen Entgegenkommen und Standortpatriotismus. So hieß es in der offiziellen Antwort der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung des Ruhrpottstandortes auf die Offensive des Opel-Managements, einem offenen Brief des Betriebsratsausschusses und des 1. Bevollmächtigten der IG Metall Bochum an den Vorstandsvorsitzenden der Adam Opel AG C.-P. Foster, der am 24. September 2004 auch an die Belegschaft verteilt wurde: „Alle Beschäftigten sind bereit, mit Ihnen gemeinsam neue ungewöhnliche und risikoreiche Wege zu gehen. Wir wollen – genau wie Sie – den Erfolg der Marke Opel weiter voranbringen.“ (Zitiert nach Jochen Gester, Der Kotau vor der Wettbewerbsfähigkeit, in: Jochen Gester/Willi Hajek (Hg.), Sechs Tage der Selbstermächtigung. Der Streik bei Opel in Bochum Oktober 2004, Die Buchmacherei, Berlin 2005, S. 191.) Hier beschworen die Bonzen die Sozialpartnerschaft zwischen Fuchs und Hühnern. Doch die Belegschaft von Opel Bochum bestand nicht aus Hühnern, sondern aus klassenkämpferischen ProletarierInnen. Die Kehrseite der Sozialpartnerschaftsideologie der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung war antiamerikanischer Chauvinismus gegen die US-amerikanische Opel-Mutter General Motors. So ergoss sich aus dem Mund von Klaus Hemmerling, europäischer Betriebsrat bei General Motors: „In Bochum herrscht nicht der Wilde Westen wie in Amerika. Bochum ist nicht die Bronx von New York.“ (Zitiert nach Jochen Gester, Der Kotau vor der Wettbewerbsfähigkeit, a.a.O., S. 198.)
Während die IG-Metall und Betriebsräte Standortnationalismus, Sozialpartnerschaftsideologie und antiamerikanischen Chauvinismus produzierten, legte das klassenkämpferische Proletariat von Opel Bochum vom 14. bis zum 20. Oktober 2004 die Arbeit nieder – wild, ohne die zentrale IG-Metall-Bonzokratie um Erlaubnis zu fragen. Der Oberbürokrat der IG Metall von NRW, Detlef Wetzel, brachte zum Ausdruck, dass seine Bonzenzucht- Anstalt zu Beginn des selbstorganisierten Streikes überhaupt nichts mehr unter Kontrolle hatte: „Wir haben als IG Metall nicht zu irgendetwas aufgerufen, aber wir werden auch nicht von irgendetwas abhalten.“ (Zitiert nach Willi Hajek, „…ein köstliches Gefühl, wild tätig zu sein – Gedanken zur verlängerten ,Info-Veranstaltung´ bei Opel in Bochum, in: Jochen Gester/Willi Hajek (Hg.), Sechs Tage der Selbstermächtigung, a.a.O., S. 207.) Die Initiative zum selbstorganisiertem Klassenkampf ging jedoch von den IG-Metall-Vertrauensleuten, ehrenamtlichen GewerkschaftsfunktionärInnen aus. Wichtige Impulse kamen auch von der linksgewerkschaftlichen Gruppe Gegenwehr ohne Grenze (GoG). Doch die Vertrauensleute standen zwischen Proletariat und IG-Metall-Bürokratie und die GoG wirkte trotz Kritik in den gewerkschaftlichen Strukturen und im Betriebsrat mit. Diese linksgewerkschaftliche Praxis und Ideologieproduktion war unfähig dazu, der IG Metall eine organisatorische Alternative entgegenzustellen, die direkt aus dem selbstorganisierten Klassenkampf herauswuchs: ein gewerkschaftsunabhängiges Streikkomitee. Ein solches Gremium wurde nicht geschaffen und der Streik wurde auch nicht so genannt, sondern „Info-Veranstaltung“. Auch konnte der Streik nicht auf alle Opelstandorte in der BRD geschweige denn auf ganz General Motors ausgedehnt werden.
Diese praktisch-geistige Schwäche der klassenkämpferischen Selbstorganisation beim wilden Streik bei Opel Bochum im Oktober 2004 wurden von der IG Metall und der offen sozialpartnerschaftlichen Betriebsratsmehrheit genutzt, um die Kontrolle über die Belegschaft wieder zu gewinnen und die Arbeitsniederlegung zu beenden. Durch den europäischen Aktionstag am 19. Oktober 2004 in Bochum, der öffentlichkeitswirksam ganz von den Bonzen der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung beherrscht wurde, gelang es diesen die Initiative wieder zurück zu gewinnen. Der Betriebsrat befragte dann die Belegschaft, ob der Streik beendet werden sollte und der Betriebsrat weiter mit dem Management verhandeln sollte. Die konkrete Fragestellung auf dem Stimmzettel lautete: „Soll der Betriebsrat die Verhandlung mit der Geschäftsleitung weiterführen und die Arbeit wieder aufgenommen werden?“ Das war eine geschickte Manipulation. Nach dem mehrheitlich sozialreformistischen Bewusstsein der Lohnabhängigen von Opel Bochum, dass auch durch den reproduktiven Klassenkampf reproduziert wurde, war der Betriebsrat dazu da, um als angeblicher „Interessenvertreter“ der Belegschaft mit dem Management zu verhandeln, also waren die meisten dafür. Doch diese Ermächtigung des Betriebsrates per Stimmzettel war mit der Beendigung des Streikes verbunden. Hätte es ein gewerkschaftsunabhängiges Streikkomitee gegeben, dann wäre dem Betriebsrat eine solche Manipulation nicht möglich gewesen. So stimmte dann die Mehrheit der Belegschaft für das Ende der Arbeitsniederlegung. Nach dem Streik schloss die Betriebsratsmehrheit mit dem Management des Kapitals einen so genannten „Zukunftsvertrag“, der die konkrete Absenkung des Lohnes bei Opel Bochum und das „freiwillige“ Ausscheiden von 2.900 Beschäftigten aus dem Betrieb bei einer relativ hohen Abfindung gegen unkonkrete Absichtserklärungen des Opel-Managements und noch nicht einmal den Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen beinhaltete. Das Angebot des Opel-Managements für die relativ hohen Abfindungen bei einem „freiwilligen“ Verlassen des Betriebes verwandelte das kollektive Klassenkampfsubjekt vom Oktober 2004 in eine atomisierte Masse von Marktsubjekten, die das Angebot durchrechneten. Die alles überragende Marktsubjektivität hatte mal wieder die zarten Ansätze der Klassenkampfsubjektivität aufgefressen. Die Bonzen der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung organisierten nicht nur bei Opel Bochum den Lohnverzicht für den Erhalt der kapitalistischen Ausbeutungsplätze. Bei Opel Bochum war es so: Zuerst Lohnsenkungen und das immer stärkere Ausdünnen der Belegschaft, bevor dann der Standort 2014 ganz dichtgemacht wurde. Diese Niederlage des Proletariats hatte auch die institutionalisierte ArbeiterInnenbewegung mit organisiert. Und die klassenkämpferische Selbstorganisation des Proletariats bei Opel Bochum und woanders war noch viel zu schwach ausgeprägt, um daran etwas zu ändern.
Das klassenkämpferische Bochumer Opel-Proletariat erregte im Oktober 2004 weltweite Sympathie und Solidarität. Der wilde Streik der Belegschaft von Opel Bochum brachte aber auch die ganze Beschränktheit des reproduktiven Klassenkampfes zum Ausdruck. Die übergroße Mehrheit der Belegschaft hatte die Warenproduktion und die Lohnarbeit geistig-praktisch verinnerlicht und verteidigte den Status Quo der kapitalistischen Ausbeutung gegen die Angriffe des Kapitals, das dabei war immer mehr Ausbeutungsplätze abzubauen, da diese nicht mehr rentabel genug waren. Lohnarbeit ist dazu da, das Kapital zu vermehren. Tut sie das nicht mehr oder nicht mehr im ausreichendem Maße, werden die Ausbeutungsplätze abgebaut. Im Privatkapitalismus kann keine ökonomische und politische Kraft (und will es auch kaum eine ernsthaft) ein Einzelkapital dazu zwingen, Arbeitsplätze aufrecht zu erhalten, die die Kalkulation des Managements als unrentabel eingestuft hat. Einzelbetriebliche Kämpfe zum Erhalt des produktiven Elends der Lohnarbeit zur Verhinderung des noch größeren „unproduktiven“ Elends sind meist zum Scheitern verurteilt (siehe Kapitel II.1, II.2, II,5, II.8 und II.9) Nur wenn sich der gesamtgesellschaftliche Klassenkampf nicht nur in Deutschland extrem verbreitert und inhaltlich über den reproduktiven Rahmen des Kapitalismus hinaustreibt und bewusst für eine gesamtgesellschaftliche Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel in einer klassen- und staatenlosen Gesellschaft geführt wird, können das produktive und „unproduktive“ proletarische Elend aufgehoben werden (siehe Abschnitt III).
Doch selbst isoliert von anderen Belegschaften und praktisch-geistig eingeengt in den reproduktiven Rahmen des Kapitalismus war die Belegschaft von Opel Bochum nicht nur 2004 – siehe über deren Beteiligung an der wilden Streikwelle von 1973 Kapitel II.6 im 1. Teil: 1945-1989 – eine Avantgarde des klassenkämpferischen Proletariats. Das war wahrscheinlich auch ein Grund, dass das Konzern-Management den Standort Bochum Ende 2014 schloss. Die Betriebsratsfürsten der übrigen deutschen Opelstandorte und die zentrale IG-Metall-Bürokratie führten keinen Kampf zur Erhaltung von Opel Bochum, sondern zogen es vor, die restlichen Standorte zu retten, indem sie den Ruhrpott-Standort den Abschuss freigaben. Im März 2013 sollten die Bochumer Opel-Lohnabhängigen in einer Belegschaftsversammlung einem Tarifvertrag zur Schließung des Werkes zustimmen. Die Opel-Bourgeoisie machte ihrem menschlichen produktiven Kapital in Bochum das großzügige Angebot einer Resteproduktion bis 2016 ohne eine verbindliche Zusage von Ersatzarbeitsplätzen oder Abfindungen. Dafür konnte das Opel-Management jederzeit aus diesem Vertrag aussteigen. Doch die Bochumer Belegschaft trank nicht auch noch den Kakao, durch den sie durch die Bourgeoisie gezogen werden sollte. Aber die IG Metall Nordrhein-Westfalen forderte genau das von den Bochumer Opel-ArbeiterInnen. Zuerst gab sie zu dem Abstimmungsverhalten überhaupt keine Empfehlung, später sagte sie eindeutig: „Die Bochumer Belegschaft sollte der Werkschließung zustimmen!“ (Zitiert nach: Daniel Behruzi, Chronik. Tradition von Kämpfen und Konflikten, in: junge Welt vom 4. Dezember 2014, S. 3.) Doch die Belegschaft stimmte diesem Tarifvertrag nicht zu. Das Opel-Management revanchierte sich und schloss das Werk zwei Jahre früher, am 5. Dezember 2014. Bereits ein Jahr früher, im Dezember 2013 wurden im Rüsselsheimer Werk die Produktionsanlagen für den Opel Zafira installiert, eine Bedingung dafür, dass das Bochumer Werk dichtgemacht werden konnte. Selbstverständlich handelte der Betriebsrat von Opel Rüsselsheim nicht solidarisch, sondern standortegoistisch und legalistisch. Er erklärte, dass er nichts tun könne: „Sonst werden die Rüsselsheimer gekündigt.“ Zitiert nach: Daniel Behruzi, a.a.O.)
Isoliert von den übrigen Belegschaften der anderen Opel-Standorte und auch ganz offensichtlich von der IG Metall zum Abschuss freigegeben, fehlte dem Bochumer Opel-Proletariat der Wille und die Kraft zu einem reproduktiven Klassenkampf zur Erhaltung des Werkes, der nur in Form eines wilden Streikes auch gegen die IG Metall und möglicherweise einer illegalen Betriebsbesetzung hätte geführt werden können. Neben der mangelnden Solidarität der übrigen Opel-Belegschaften und dem bewussten Co-Management der IG Metall bei der Schließung des Bochumer Werks war die bereits lange vorher erfolgte „Ausdünnung“ und Reduzierung der Belegschaft in diesem einer der Hauptgründe, warum sich am Ende kaum proletarischer Widerstand geregt hat. Während die Belegschaft bei Opel Bochum früher aus 20.000 Menschen bestand, war sie zum Ende auf 3.000 geschrumpft. (Siehe zur Schließung von Opel Bochum: Nelke, Globale Klassenkämpfe (2013-2015), Soziale Befreiung 2015, S. 46-49.)

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Februarrevolution https://swiderstand.blackblogs.org/2017/02/28/die-februarrevolution/ https://swiderstand.blackblogs.org/2017/02/28/die-februarrevolution/#respond Tue, 28 Feb 2017 20:50:05 +0000 http://swiderstand.blogsport.de/?p=140 Wir veröffentlichen hier den zweiten Teil des Textes „Klassenkämpfe in Sowjetrussland (1917-1921)“ über die Februarrevolution 1917 im Russland. Die gesamte Broschüre „Schriften zur russischen Revolution (1917-1921)“ könnt Ihr hier für 5-€ (inkl. Porto) über Onlinemarktplatz für Bücher booklooker.de bestellen.

Russische Revolution

2. Die Februarrevolution

Bei der Beschreibung der Februarrevolution haben wir uns stark von Leo Trotzkis Geschichte der Russischen Revolution inspirieren lassen, natürlich haben wir dabei seinen kleinbürgerlichen Radikalismus einer proletarisch-revolutionären Kritik unterzogen.
Wie wir bereits im vorigen Kapitel beschrieben haben, spitzte sich in der damaligen russischen Hauptstadt von Oktober 1916 bis Februar 1917 der proletarische Klassenkampf permanent zu. Der 23. Februar in Russland war der globale 8. März, der internationale Frauentag, der damals noch kein totes Ritual, sondern in vielen Teilen der Welt ein Kampftag der proletarischen Frauen für ihre sozialen Bedürfnisse war – wenn auch unter Kontrolle der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung (Sozialdemokratie und Gewerkschaften). So war es auch im zaristischen Russland. Der Kampf der proletarischen Frauen wurde zum letzten Funken, der nötig war, um die russische Revolution zu entflammen. In sozialdemokratischen Kreisen –sowohl in menschewistischen wie in bolschewistischen – waren für den 23. Februar 1917, welcher nach dem globalen Kalender der 8. März 1917 war, Flugblätter, Reden und Versammlungen zu Ehren der proletarischen Frauen, aber keine Streiks und schon gar nicht der Beginn der Revolution geplant. Doch wie so oft in der Geschichte des globalen Klassenkampfes war die so genannte „politische Avantgarde des Proletariats“ nur dessen Nachhut und Bremse.
Den Petrograder Textilarbeiterinnen fehlte es am Morgen des 23. Februar 1917 an Parteidisziplin. Sie traten in den Streik. Die proletarischen Frauen entsandten Delegierte zu den MetallarbeiterInnen, um sie erfolgreich ebenfalls in den Kampf zu ziehen. Die Bolschewiki, die zuvor eine Arbeitsniederlegung abgelehnt hatten, gaben ihre bremsende Haltung auf und versuchten sich an die Spitze des Kampes zu stellen, um nicht ihre politische Kontrolle über den sozialen Kampf des Proletariats zu verlieren. So mündete der Streik der Textilarbeiterinnen in den nächsten Tagen in einem hauptstadtweiten Generalstreik.
Schon am 23. Februar legten ungefähr 90 000 ArbeiterInnen die Arbeit nieder. Der internationale Frauentag wurde in Petrograd klassenkämpferisch in Form von Demonstrationen, Versammlungen und blutigen Zusammenstößen mit der Polizei begangen. Das Zentrum der Bewegung war der proletarische Wyborger Bezirk mit seinen Großbetrieben. In den anderen Stadtteilen gab es nach Auskunft der zaristischen Geheimpolizei Ochrana an diesem Tag noch keine Streiks und noch keine Demonstrationen. Die Monarchie zog bereits vereinzelt Armeeabteilungen zur Unterstützung der Polizei heran, welche aber an diesem Tag noch nicht in die Klassenauseinandersetzungen eingriffen. Ein Höhepunkt der Bewegung an diesem Tag war eine Frauendemonstration zur Stadtduma, auf der lautstark nach „Brot!“ verlangt wurde. Doch das Regime konnte noch nicht mal mehr die elementarsten sozialen Bedürfnisse des Proletariats und großen Teilen der KleinbürgerInnen stillen, was der Bewegung diese gewaltige Wut und Entschlossenheit gab. Der Frauentag endete ohne Tote.
Am nächsten Tag, den 24. Februar 1917, entwickelte sich die revolutionäre Bewegung weiter. Etwa 50 Prozent des Petrograder Industrieproletariats legte an diesem Tag die Arbeit nieder. Die ArbeiterInnen erschienen zwar in „ihren“ Betrieben, begannen jedoch nicht mit der Arbeit, sondern veranstalteten Versammlungen und gingen auf die Straße, um ihre soziale Wut in einer machtvollen proletarischen Straßenbewegung zu demonstrieren. Hauptparolen waren „Brot!“, „Nieder mit dem Krieg!“ und „Nieder mit dem Selbstherrschertum!“ Gewaltige Menschenmassen strömten von einem Stadtteil in den anderen, zwar von den Bullen und einzelnen Armeeeinheiten auseinander getrieben, aber sich dennoch immer wieder neu sammelnd und ganze Plätze (Snamenski-Platz und Newski-Prospekt) ausfüllend. Durch diese Straßenbewegung wurden immer neue Stadtbezirke und neue soziale Gruppen in den Widerstand gegen die zaristische Reaktion hineingezogen.
An diesem Tag wurden auch die ersten zaghaften Kontakte zwischen dem streikenden und demonstrierenden Petrograder Proletariat und den in der Hauptstadt stationierten Armeetruppenteilen hergestellt. Kranke Soldaten winkten aus den Lazarettfenstern den Demonstrierenden freundlich zu. Doch letztere wurden von den Kosaken ununterbrochen attackiert. Aber diesen Attacken fehlte bereits die Konsequenz. Das für Russland erfolglose Kriegsgemetzel und die sich daraus ergebende allgemeine soziale Unzufriedenheit hatte auch bei den Kosaken Spuren hinterlassen. Es ergaben sich erste Gespräche zwischen ArbeiterInnen und Kosaken, welche für den weiteren Verlauf des revolutionären Prozesses so wichtig waren. Doch später bot die zaristische Reaktion halbbetrunkene Dragoner auf, welche in die Menge hineinritten und mit ihren Lanzen auf die Köpfe der ArbeiterInnen schlugen. Das kämpfende Proletariat verhielt sich taktisch sehr klug gegenüber den verschiedenen Repressionsorganen. Während es den Bullen unnachgiebigen Hass, Steine und Eisenstücke entgegenschleuderte, versuchte es die Soldaten als Verbündete zu gewinnen. Gerüchte tauchten auf, dass ein brutal auf eine Frau einschlagender Bulle von einer Gruppe Kosaken einen körperlichen Verweis bekam. Ob dieses Gerücht den Tatsachen entsprach, konnte auch nachträglich nicht von der Geschichtsschreibung festgestellt werden. Es diente aber der kollektiven Taktik des Proletariats, nämlich gegen die Polizei einen gnadenlosen Kampf zu führen, jedoch die Soldaten auf seine Seite zu ziehen.
Unter den Streikenden und Demonstrierenden des 24. Februar befand sich die gesamte Belegschaft von Erikson, einer der größten Betriebe des proletarischen Wyborger Bezirkes. Nach einer morgendlichen Versammlung zogen die 2500 ArbeiterInnen zum Sampsonjewski-Prospekt. Unterwegs stieß die Belegschaft auf eine Kosakenabteilung. Zuerst ritten die Offiziere in die Menschenmenge hinein, hinter ihnen die „einfachen“ Kosaken. Aber einige von ihnen lächelten den ArbeiterInnen freundlich zu und einer zwinkerte sogar. Die Kosaken verletzten nicht offen die Disziplin, aber sie trieben auch nicht wirklich die ArbeiterInnen auseinander. Nach einer Weile entspannte sich sogar eine Diskussion zwischen einzelnen Kosaken und ArbeiterInnen. Die Offiziere reagierten darauf, indem sie rasch ihre Einheit vom klassenkämpferischen Proletariat trennte, den Gedanken des Auseinandertreibens der ArbeiterInnen fallen lassend. Sie ließen die Kosaken quer auf die Straße aufstellen, um der Belegschaft von Erikson den Weg abzuschneiden. Doch die Kosaken verrichteten ihren Dienst nach Vorschrift, während die ArbeiterInnen unter den Bäuchen der Pferde ihren Weg fortsetzten. Das Proletariat erreichte am 24. Februar die ersten Risse in der soldatischen Disziplin.
Am 23. und 24. Februar bekamen auch achtundzwanzig Bullen vom Petrograder Proletariat handgreiflich das, was sie schon lange verdient hatten: eine ordentliche Abreibung. Der militante Kampf gegen die Bullen war eine unmittelbare Keimform einer Diktatur des Proletariats, deren Höhepunkt die Zerschlagung des bürgerlichen Staates ist. Wenn der Staat zertrümmert ist, kann und muss die proletarische Diktatur in die klassenlose Gesellschaft übergehen. Doch die Februarrevolution konnte nicht zum Höhepunkt der proletarischen Diktatur führen, aber deren Keimform erreichte in ihren ersten zwei Tagen schon einen großen Erfolg: die zaristische Reaktion wagte es nicht den Schießbefehl zu geben.
Am 25. Februar wurde der Streik noch mehr ausgeweitet. Nach Regierungsangaben legten an diesem Tag 240.000 ProletarierInnen die Arbeit nieder. Auch die rückständigeren LohnarbeiterInnen wurden jetzt von ihren kämpferischeren und bewussteren KollegInnen in die direkten Aktionen des Klassenkonfliktes hineingezogen. Die Belegschaften großer Betriebe bekamen Verstärkung durch die ArbeiterInnen, die sonst in Kleinbetrieben schufteten, aber diese Schufterei jetzt unterbrachen. Auch die SchülerInnen der höheren Lehranstalten schlossen sich dem Streik des Petrograder Proletariats an. Es wurden Versuche unternommen, Versammlungen im Freien abzuhalten. Konflikte zwischen den zaristischen Bullen und dem streikenden und demonstrierenden Proletariat wurden von beiden Seiten bewaffnet ausgetragen. Als am Denkmal von Alexander III. Redner auftraten, schoss die berittene Polizei auf die Demonstrierenden. Ein Redner wurde von den zaristischen Schergen verwundet. Doch das Petrograder Proletariat war nicht wehrlos. Im Kampf wurden ein Polizeimeister und einige „einfachen“ Bullen getötet. Als Waffen dienen den ArbeiterInnen Flaschen, Petarden und Handgranaten. In diesem Konflikt zwischen Proletariat und Bullen verhielten sich die Soldaten weitgehend passiv, Kosaken sollen nach den mündlichen Berichten Petrograder ArbeiterInnen sogar in den Konflikt auf Seiten der Revolution eingegriffen haben. Doch die Bullen verschwanden bald von der Bildfläche und operierten aus dem Hintergrund. In den Vordergrund traten Soldaten mit umgehängten Gewehren. Die ArbeiterInnen versuchten die Soldaten auf ihre Seite zu ziehen. Die gewaltsame Entwaffnung der zaristischen Bullen wird von immer mehr ArbeiterInnen als unausweichlicher Notwendigkeit des Klassenkampfes erkannt.
Im Wyborger Bezirk wurde die zaristische Macht bereits an diesem 25. Februar 1917 gebrochen. Die Polizeireviere wurden vom revolutionären Proletariat zerstört, einzelne Bullen niedergemacht, die Mehrzahl musste sich verstecken. Die Stadthauptmannschaft verlor die Verbindung mit einem großen Teil der Hauptstadt. Nach Wyborg wurde noch vor dem Morgen des 26. Februar der Stadtteil Peski weitgehend vom Proletariat eingenommen. Jedenfalls begannen die Bullen aus Peski zu flüchten. Doch den ArbeiterInnen dieses Stadtteiles war ihr großer Sieg wohl selbst noch nicht bewusst.
Der Zar Nikolaus, der sich nicht in Petrograd befand, gab am 25. Februar den Befehl das klassenkämpferische Proletariat am nächsten Tage blutig niederzuschlagen. Die zaristische Reaktion bereitete sich auf den entschiedenen Zusammenstoß am 26. Februar vor. Falls es dem Proletariat nicht gelingen würde, ein Großteil der Soldaten dazu zu bringen, die Gewehre umzudrehen und auf jene zu richten, die ihnen befahlen auf die ArbeiterInnen zu schießen, würde es schlecht um die begonnene Revolution stehen.
Das Regime ging zum konzentrierten Gegenangriff über. In der Nacht vom 25. zum 26. Februar verhafteten die Repressionsorgane in mehreren Stadtteilen von Petrograd etwa hundert Menschen, welche der menschewistischen, „sozialrevolutionären“ und bolschewistischen Partei angehörten. Durch diese Repression wird unter anderem die Petrograder Parteileitung der Bolschewiki enthauptet. Die politische Leitung des kleinbürgerlich-radikalen Bolschewismus ging auf den Wyborger Bezirk über, wo sie unter starkem proletarisch-revolutionärem Druck stand und weiter getrieben wurde, als sie ursprünglich stand. Denn auch die radikalste Kraft der kleinbürgerlichen Politik, die bolschewistische Partei, war hinter dem tatsächlichen Verlauf des Klassenkampfes stark zurück geblieben. So hatte das bolschewistische Zentralkomitee erst am Morgen des 25. Februar in einem Flugblatt zu einem allrussischen Generalstreik aufgerufen. Aber inzwischen entwickelte sich in Petrograd eine Revolution.
Der 26. Februar 1917 fiel auf einen Sonntag. Die ArbeiterInnen konnten sich also nicht wie in den vorangegangenen Tagen in den Betrieben treffen und für die Straßendemonstrationen sammeln, was die letzteren erschwerte. Denn der bisherige Weg der proletarischen Straßenbewegung –aus den Betrieben auf die Straße –gab ihr auch die gewaltige soziale Sprengkraft. So dauerte die Sammlung des Proletariats an diesem Tage etwas länger. Die Sozialreaktion gab sich schon teilweise dem Tagtraum hin, dass der proletarische Klassenkampf an Kraft verloren hätte. So telegrafierte die Zarin aus Petrograd ihren abwesenden Ehegatten: „In der Stadt herrscht Ruhe.“ Doch das Proletariat ließ der Reaktion nicht lange Zeit zum träumen. Die ArbeiterInnen begannen sich langsam zu sammeln und bewegten sich aus den Vorstädten in das Zentrum von Petrograd. Die zaristische Reaktion wollte das Proletariat nicht über die Brücken lassen. Doch die ArbeiterInnen gingen über das Eis, dass zu dieser Zeit noch die Newa bedeckte. Die polizeilichen Repressionsorgane schossen auf die ArbeiterInnen aus Fenstern, Balkontüren, von Dachböden und hinter Säulen versteckt. Immer mehr ProletarierInnen wurden erschossen oder verwundet. Auch die Armee schoss vereinzelt an diesem Tage. Nach offiziellen Meldungen starben am 26. Februar 40 Menschen, ebenso viele wurden verwundet, wobei jene nicht gezählt wurden, welche von der proletarischen Straßenbewegung weggeführt oder weggetragen wurden.
Doch das kampfbereite Proletariat ließ sich von der blutigen Repression des Zarismus nicht mehr aufhalten. Damit versetzte es auch das liberale Petrograd in Angst und Schrecken. Rodsjanko, der Vorsitzende der Reichsduma, forderte am 26. Februar die Sendung zuverlässiger Truppen von der Front, um die begonnene Revolution niederzuschlagen. Auch machte der Liberale den zaristischen Repressionsorganen den Vorschlag, die Massen nicht durch Blei sondern durch kaltes Wasser aus Feuerwehrschläuchen zurückzutreiben. Doch die Repressionsorgane sind der Meinung, dass kalte Duschen das Proletariat nur noch wütender machen würde. Auch andere liberale PolitikerInnen und Bourgeois biederten sich während der Februarrevolution der zaristischen Konterrevolution an. Doch diese nahm nicht viel Rücksicht auf den Liberalismus.
Und das Proletariat Petrograds wurde immer kühner. Es ließ sich auch von der Armee nicht mehr auseinander treiben. Auf die handgreifliche Aufforderung der Armee auseinander zu gehen, kam von den proletarisierten Menschen ein Hagel von Steinen und Eistücken als Antwort. Warnschüsse machten keinen Eindruck mehr, nur scharfe Schüsse in die Menge konnte sie für kurze Zeit zerstreuen – aber nur für kurze Zeit, dann sammelte sie sich wieder an einem anderen Ort. Doch gegen die Armee wendete das revolutionäre Proletariat nur Notwehrmaßnahmen an, da es Teil seines kollektiven Bewusstseins war, dass der Kampf gegen den Zarismus nur gewonnen werden konnte, wenn die vorwiegend bäuerlichen Soldaten die Fronten wechseln würden. So forderten die ArbeiterInnen die Soldaten mehrmals auf nicht auf sie zu schießen, sondern mit ihnen zusammen gegen Krieg, Armut und Monarchie zu kämpfen. Die Soldaten mussten sich entscheiden. In den Tagen vom 23. bis zum 25. Februar hatte noch passive Sympathie mit dem aufständischen Proletariat und ein nicht sehr aktiver Dienst nach Vorschrift gereicht, um nicht offen und direkt zum Werkzeug der zaristischen Konterrevolution zu werden. Doch am 26. Februar ging die zaristische Reaktion mit ihrem Schießbefehl gegen das revolutionäre Proletariat zur Gegenoffensive über. Jetzt gab es für die Soldaten kein Lavieren mehr. Entweder sie würden sich offen für das Proletariat oder für den Zarismus entscheiden.
Und die Soldaten entschieden sich am 27. Februar 1917 mehrheitlich für das Proletariat. Schon am Abend des 26. Februars meuterte die 4. Kompanie der Leibgarde des Pawlowski-Regiments und zwar aus Empörung darüber, dass das Lehrkommando des gleichen Regiments während seines Wachdienstes auf dem Newski auf ArbeiterInnen geschossen hatte. Über diese blutige Repression von Teilen des gleichen Regiments wurde den Soldaten der 4. Kompanie gegen 14 Uhr von einer Delegation von ArbeiterInnen berichtet. Diese Information ließ sie handeln. Gegen 18 Uhr verließ die 4. Kompanie eigenmächtig unter Führung eines Unteroffiziers die Kaserne und begab sich zum Newski, um das auf ArbeiterInnen schießende Lehrkommando von dort wegzuholen. Auf den Weg dorthin stießen die rebellierenden Soldaten auf eine berittene Polizeistreife. Die Soldaten schossen auf die Bullen. Ein Schutzmann und ein Pferd wurden von ihnen tödlich getroffen, während ein Bulle und ein Pferd verwundet wurden.
Nach einer Weile kehrte die 4. Kompanie in die Kaserne zurück und zog das ganze Pawlowski-Regiment auf die Seite der Revolution. Doch die zaristische Konterrevolution hatte inzwischen die Waffen beiseite geschafft. Die rebellierenden Soldaten gelangten schließlich in den Besitz von dreißig Gewehren. Doch das war für den Beginn der Soldatenrevolte noch zu wenig. Sie wurden schließlich von den Soldaten des Preobraschenski-Regiments umzingelt. Neunzehn rebellierende Soldaten wurden von den noch regierungstreuen Soldaten verhaftet und in eine Festung verschleppt, während sich der Rest des Pawlowski-Regiments ergab. Nach gewissen Quellen sollen am Abend beim Appell jedoch einundzwanzig Mann mit Gewehren gefehlt haben.
Am 27. Februar vertiefte sich die am Tag davor begonnene Soldatenrebellion und sicherte der vom klassenkämpferischen Proletariat ausgegangenen Februarrevolution den Sieg. Voraussetzung der Vertiefung der Soldatenrevolte war die Tatsache, dass sich das Proletariat auch von der schießenden Armee am 26. Februar nicht einschüchtern ließ und weiterkämpfte. Hätte das Proletariat am 27. Februar Schwäche gezeigt, wäre der entscheidende Impuls zur Soldatenrevolte ausgeblieben. Doch die ArbeiterInnen sammelten sich am Montagmorgen wieder in den Fabriken – aber nicht um wieder fleißig für das Kapital Mehrwert zu produzieren, sondern um den Klassenkampf fortzusetzen. Nachdem in den Vortagen der Generalstreik in eine gewaltige proletarische Straßenbewegung übergegangen war, welche auch der bewaffneten zaristischen Repression tollkühn die Stirn bot, konnte nach der sozialen Eigendynamik des Klassenkampfes dessen Fortsetzung nur der bewaffnete Aufstand sein. Hatte vorher keine politische Kraft zum Generalstreik in Petrograd aufgerufen, so erst recht keine zum bewaffneten Aufstand. Das Petrograder Proletariat ging auch den Weg des bewaffneten Aufstandes ohne politische Bevormundung, aber natürlich hatten subjektiv bewusst revolutionäre ArbeiterInnen, die bereits vor der Februarrevolution den objektiv kleinbürgerlichen parteimarxistischen, „sozialrevolutionären“ und anarchistischen Strömungen angehörten, einen großen Anteil an der Februarrevolution. Doch die Schicht sozialrevolutionärer ArbeiterInnen handelte selbständig ohne die politische Leitung der kleinbürgerlichen DemokratInnen und Radikalen, zog auch konservativere Kräfte des Proletariats in den Kampf hinein und organisierte gemeinsam mit ihnen den kommenden halben Sieg – den Sturz des Zarismus, bei Aufrechterhaltung der Klassenherrschaft der Bourgeoisie, der GroßgrundbesitzerInnen und der BerufspolitikerInnen.
Das klassenkämpferische Proletariat erhöhte am 27. Februar den Druck auf die Soldaten, sich ihm gegen die zaristische Konterrevolution anzuschließen. Die Wyborger ArbeiterInnen veranstalten vor dem Moskauer Regiment ein Massenmeeting. Doch einige konterrevolutionären Offizieren und Unteroffizieren gelang es auf die ArbeiterInnen ein Maschinengewehr zu richten und sie durch tödliches Blei auseinanderzujagen. Das Proletariat strebte danach sich zu bewaffnen, um der Konterrevolution den Garaus zu machen. Die ArbeiterInnen verlangten auch von den Bolschewiki Waffen. Doch der politische kleinbürgerliche Radikalismus verfügte damals selbst noch nicht über solche. Nur die Soldatenrebellion konnte die Februarrevolution bewaffnen.
Am Morgen des 27. Februar meuterten die Reservegardebataillone. Als erstes erhoben sich die Soldaten des Wolynski-Regiments. Das Lehrkommando weigerte sich zur blutigen Repression gegen das Proletariat aus der Kaserne auszurücken und tötete ihren Kommandanten. Das Wolynski-Regiment war von Anfang an bestrebt die soziale Basis der Soldatenrebellion zu erweitern. Es zog von Kaserne zu Kaserne um die Soldaten des Litowski- und des Preobraschenski-Regiments raus auf die Straße zu holen. Diese schlossen sich auch massenhaft der Rebellion an. Das Moskauer Regiment schloss sich erst nach inneren Kämpfen der Februarrevolution an. Doch schließlich wurde die monarchistische Oberschicht auch dieses Regiments von der Soldatenmasse bezwungen. Nachdem sich das Moskauer Regiment dem Kampf gegen den Zaren angeschlossen hatte, begannen sich die ArbeiterInnen der Fabrik „Arsenal“ zu bewaffnen und gemeinsam mit den meuternden Soldaten revolutionäre Kampforgane zu bilden. Immer mehr Soldaten traten auf die Seite der Revolution über. Gegen Abend schloss sich den kämpfenden ArbeiterInnen und Soldaten auch das Semjonowski-Regiment an. Dieses hatte in der Revolution von 1905 den proletarischen Aufstand in Moskau niedergeschlagen. Nun, 11 ereignisreiche Jahre später, half dieses Regiment dabei den Zaren zu stürzen.
Das klassenkämpferische Proletariat und die meuternden – vorwiegend bäuerlichen – Soldaten zwangen im Verlauf des 27. Februars 1917 schließlich den Zaren in die Knie. Nikolaus II. dankte ab. Das proletarische und soldatische Petrograd hatte ganz Russland vom Zarismus befreit, das riesige Land schloss sich in den übrigen Tagen der Hauptstadt an. So undemokratisch pflegen Revolutionen zu sein!
Der armselige demokratische Parlamentarismus der liberalen Bourgeoisie, die Reichsduma, hing in diesem Kampf zwischen dem Petrograder Proletariat und den rebellierenden Soldaten auf der einen Seite und dem sterbenden zaristischen Regime auf der anderen ohnmächtig in der Luft. Der Zarismus war schon nicht mehr fähig das revolutionäre Proletariat auch durch scharfe Schüsse zum Schweigen zu bringen, aber er konnte immerhin noch vor seinem endgültigen Tod mit Ohrfeigen die liberale Bourgeoisie schrecken. So löste die zaristische Reaktion während der Februarrevolution die Reichsduma auf, was den Parlamentshelden aber erst am Morgen des 27. Februar bekannt wurde. Und selbst jetzt noch, wagte es die Duma nicht offen den Befehl des sterbenden Regimes zu missachten. Formal erkannte sie den Beschluss an. Die Abgeordneten der aufgelösten Duma trafen sich lediglich zu einer „Privatberatung“. Erst als sicher war, dass der Zar Nikolaus II. nicht mehr zu retten war, am 3. März 1917, gab sich die Privatberatung den Namen „Provisorisches Dumakomitee“. Und diese liberalen Helden sollten als Folge der Februarevolution, die sie nicht gewollt hatten, sondern leidenschaftlich hassten, das nachzaristische Russland für acht Monate „regieren“!

…..

Die Februarrevolution von 1917 war ein klassisches Beispiel von selbst organisiertem proletarischem Klassenkampf in höchster Potenz. Das Proletariat Petrograds trat selbständig in den Kampf und zertrümmerte das morsche zaristische Regime. Keine Partei und keine Gewerkschaft hatten zu diesem gewaltigen Massenkampf aufgerufen. Die proletarisierten Menschen der damaligen russischen Hauptstadt gaben ein Musterbeispiel von unmittelbarer sozialer Selbstorganisation, wo die direkte Tat und die Organisation dieser Tat zusammenfallen. Es wurden keine demokratischen Abstimmungen vor der Tat organisiert, die Tat war die praktische Abstimmung. Alle groß- und kleinbürgerlichen SpießerInnen – einschließlich der meisten ParteimarxistInnen – können hier nur „Spontaneität“, aber eben keine unmittelbare soziale Selbstorganisation des kämpfenden Proletariats sehen.
In dieser direkten Aktion des Petrograder Proletariats hat die zur Gesamtklasse relativ dünne Schicht der bewusst sozialrevolutionären ArbeiterInnen, welche zugleich die proletarischen Flügel von Marxismus und Anarchismus darstellten, eine sehr wichtige Rolle gespielt. Sie hat die Mehrheit der Klasse zur Tat inspiriert und dieser Tat Richtung und Orientierung geboten.
Selbstverständlich reicht die unmittelbare soziale Selbstorganisation als direkte Massenorganisation des Proletariats nicht zum Sieg der sozialen Revolution – der Aufhebung von Politik und Warenproduktion und damit der Selbstaufhebung des Proletariats – aus. Aufhebung der Warenproduktion heißt die Überführung der Produktionsmittel in gesamtgesellschaftliche Verfügungsgewalt und produktive Tätigkeit für den unmittelbaren individuellen und kollektiven Bedarf – und nicht für einen anonymen Markt, wo die Menschen die in voneinander getrennten Produktionsstätten geschaffenen Produkte gegen Geld und das Geld gegen Produktionsmittel und Konsumgüter tauschen. Gesamtgesellschaftliche Produktion heißt nicht staatliche Produktion, weil der Staat ein hierarchisch-bürokratischer Gewaltapparat ist und Staatseigentum an industriellen Produktionsmitteln nur die Verfügungsgewalt der Staatsbürokratie über diese bedeuten kann. Das Proletariat ist durch Verstaatlichungen als von den Produktionsmitteln getrennte Menschenmasse reproduziert, welches dessen kollektive Arbeitskraft – allerdings jeder individuell für sich – an den Staat vermieten muss.
Der Parteimarxismus mit seiner Verstaatlichung der Produktionsmittel reproduzierte als politische Strömung die Politik als staatliche Organisation der Gesellschaft und die Warenproduktion als staatskapitalistische. Aber auch nicht wenige sozialrevolutionäre ArbeiterInnen im damaligen Russland hatten staatskapitalistische Illusionen und folgte kleinbürgerlich-radikalen PolitikerInnen, zumal es damals noch keine praktischen proletarischen Erfahrungen mit einem totalen Staatskapitalismus gab, obwohl der Anarchismus teilweise recht hellsichtig diese sozialreaktionären Tendenzen des Marxismus herausgearbeitet hatte.
Gesamtgesellschaftliche Produktion kann aber auch niemals aus einer Assoziation von kleinen PrivateigentümerInnen bestehen. Die nachkapitalistische klassen- und staatenlose Gesellschaft kann sich also nicht auf der Basis von alten urwüchsigen vorkapitalistischen Dorfgemeinschaften, wie zum Beispiel der Allmende oder der Mir entwickeln – selbst wenn mensch vorübergehend das Geld „abschaffen“ und die Lohnarbeit „verbieten“ würde. Kleineigentum heißt immer kleinbürgerlicher Individualismus, Konkurrenz und soziale Differenzierung in Kapital auf der einen Seite, also in unserem Fall GroßbäuerInnen, und Lohnarbeit, Knechte und Mägde, auf der anderen. Die soziale Differenzierung der sowjetischen BäuerInnen während der NEP (1921-1928) und die Entwicklung einer bäuerlichen Warenproduktion und embryonaler Lohnarbeit belegten dies eindeutig.
Vergesellschaftung der landwirtschaftlichen Produktion heißt Kollektivierung des Bodens. Doch nur eine Minderheit der KleinbäuerInnen und des Landproletariats war während der russischen Revolution dazu bereit. Also war in Russland eine siegreiche soziale Revolution wegen den bäuerlichen PrivatproduzentInnen unmöglich. Die wenigen freiwilligen Genossenschaften waren vor der Verstaatlichung der Landwirtschaft ab 1929 ein deutliches Zeichen dafür. Genossenschaften können in diesem Falle nur eine kleinbürgerlich-kollektive Form der Warenproduktion bedeuten. Anarchistische und teilweise auch marxistische SozialromantikerInnen wollen einfach nicht begreifen, dass vorkapitalistische kleinbürgerliche Produktionsverhältnisse niemals zum Aufbau des nachkapitalistischen Kommunismus taugen! Der Marxismus hatte und hat hier in seiner Kritik an dieser kleinbürgerlichen Tendenz des Anarchismus Recht. Heute ist die anarchistische Selbstverwaltungsideologie auch als Verklärung von kleinbürgerlich-kollektiven Formen der Industrieproduktion eine gefährliche geistige Waffe gegen das Proletariat. Was interessiert die anarchistischen KleinbürgerInnen bei der „selbstverwalteten“ Produktion schon die Tatsache, dass weiterhin Waren für den Markt produziert werden und die Ware-Geld-Beziehung das menschliche Denken und Handeln bestimmen?!
Neben der bäuerlichen Agrarrevolte, welche die Verwandlung des Großgrundbesitzes in Kleineigentum anstrebte, konnte auch das instinktive Streben der ArbeiterInnenklasse nach Kollektivierung der Industrieproduktion nur zu einer kleinbürgerlich-kollektiven Warenproduktion führen. Denn kleinbürgerliche Produktionsverhältnisse in der Landwirtschaft heißt das Agrarprodukte nur Tauschobjekte sein können, die gegen Industriegüter ausgetauscht werden können – auch wenn mensch das Geld „abschaffen“ würde. Dann hätte es eben einen vorkapitalistischen Naturaltausch gegeben – für eine kurze Zeit, denn der Tausch der Produkte reproduziert notwendig das Geld als verselbständigten Ausdruck des Tauschwertes. Im Austausch mit dem Dorf wären also auch bei einer kleinbürgerlichen Kollektivierung der Industrieproduktion deren Produkte notwendigerweise Waren.
Das Proletariat konnte also objektiv nicht die kleinbürgerliche Warenproduktion – selbst bei Enteignung des Großkapitals – aufheben, weil die bäuerliche Bevölkerungsmehrheit die Schaffung vom privaten Kleineigentum während ihrer Agrarrevolte als Teil der russischen Revolution anstrebte. Außerdem führt das instinktive Streben der ArbeiterInnen nach der kollektiven Übernahme der industriellen Produktionsmittel, wenn sie nicht durch die bewusste Initiative von in dieser Frage klaren proletarischen RevolutionärInnen in die theoretische und praktische Kritik der sozialökonomischen Kategorien von Tausch, Ware und Geld umschlägt, zwangsläufig in eine kleinbürgerlich-kollektive Form der Warenproduktion. Doch auch bei den damaligen russischen und internationalen proletarischen RevolutionärInnen war das theoretische Wissen über die Warenproduktion noch geringer ausgeprägt als heute. Aber ohne die theoretische Kritik der Warenproduktion schlägt das instinktive proletarische Streben nach Kollektivierung der Industrieproduktion zwangsläufig praktisch in eine mögliche kleinbürgerlich-kollektive Industrieproduktion und geistig in die Selbstverwaltungsideologie um. Während der russischen Revolution vermochte die privatkapitalistische und staatskapitalistische Konterrevolution eine kleinbürgerlich-kollektive Industrieproduktion weitgehend verhindern, aber die Selbstverwaltungsideologie als Folge der Februarrevolution wurde instinktiv von großen Teilen des Proletariats reproduziert, während die verschiedensten anarchistischen und linksbolschewistischen Strömungen ganze Theoriegebäude auf diesem kleinbürgerlichen Fundament errichteten.
Nur unverbesserliche kleinbürgerlich-anarchistische SozialromantikerInnen können heute nach all den praktischen Erfahrungen noch immer glauben, mensch könne auf der Basis von KleineigentümerInnen – seien es nun individuelle oder genossenschaftliche – und den notwendigen Gütertausch zwischen diesen das Geld „abschaffen“ und die Lohnarbeit „verbieten“. Gütertausch heißt kleinbürgerliche Warenproduktion und kleinbürgerliche Warenproduktion heißt keimhaft Kapital und Lohnarbeit. Naturaltausch konnte aber in der Praxis nur eine primitive Form der Warenproduktion und der Lohnarbeit sein (siehe dazu das Kapitel „Kriegskommunismus“ in der Schrift Der BürgerInnen- und imperialistische Interventionskrieg (1918-1921)). Stellen wir uns aber für einen kleinen Moment eine Gesellschaft mit individuellen und genossenschaftlichen KleineigentümerInnen vor, die das Geld „abgeschafft“ und die „Lohnarbeit“ verboten hat, ganz nach den sozialromantischen Vorstellungen unserer kleinbürgerlicher AnarchistInnen. Es wird dann irgendwann folgendes eintreten: Ein etwas erfolgreicherer Bauer schafft durch seine eigene individuelle Arbeit und die „seiner“ Familie nicht mehr sein Land zu bestellen. Was also tun? Doch halt, da gibt es ja zwei BäuerInnen in seiner Nachbarschaft, denen ihr Boden nicht wirklich ernährt. Also könnten sie doch bei ihm arbeiten, natürlich nicht für Geld, denn das ist ja „abgeschafft“. Also arbeiten die erfolglosen BäuerInnen ganz freiwillig bei den erfolgreicheren BäuerInnen für Naturalien. Doch das soll ja verboten werden! Verbote gegen die sozialökonomische Erscheinung der Lohnarbeit, die mit Elementargewalt aus der kleinbürgerlichen Warenproduktion emporwächst!
Genauso ist es mit dem Geld, als verselbständigter Form des Tauschwertes. Der Tausch von Gütern erzeugt auch das Bedürfnis nach dem verselbständigten Tauschwert. Der Tauschwert ist die durchschnittliche gesellschaftliche Herstellungszeit eines Produktes und der Preis ist der Geldausdruck des Tauschwertes. Stellen wir uns nun in der Stadt das kleinbürgerlich-anarchistische Paradies von individuellen und genossenschaftlichen KleinbürgerInnen vor, in denen das Geld „abgeschafft“ wurde. Es würde dann zu solchen Entwicklungen kommen: Der individuelle Wirt einer Gaststädte möchte sich mal wieder seine Haare frisieren lassen. Er begibt sich also zur Frisörkooperative. Er hat den FrisörInnen einen Kasten Bier mitgebracht. Für diesen soll ihn ein Mitglied der Frisörkooperative die Haare frisieren. Die Kooperative berät. Erst vor einer Stunde hatte ein anderer Kneipenwirt einen Kasten Bier gebracht. So viel Bier brauchen sie nicht… Das kann und muss auf der Basis von kleinbürgerlichem Eigentum und Naturaltausch passieren. Deshalb bezahlt in der Wirklichkeit der kleinbürgerlichen Warenproduktion als Nische der kapitalistischen Warenproduktion ja auch der individuelle Wirt seine Haarfrisur auch in einer Frisörkooperative mit Geld, mit denen dann die FrisörInnen alles eintauschen können, was sie brauchen. Die „Abschaffung“ des Geldes auf der Basis von Kleineigentum und Gütertausch ist also reinste Phantasterei!
Die Februarrevolution konnte aus objektiven und subjektiven Gründen eindeutig nicht zur Aufhebung der Warenproduktion führen. Doch Warenproduktion heißt Klassen- und Konkurrenzkämpfe. Damit eine solche Gesellschaft nicht in einen permanenten offenen BürgerInnenkrieg hinab gleitet, braucht sie einen scheinbar neutralen Schiedsrichter mit Regeln für die Konkurrenz- und Klassenkämpfe und ein Apparat, der diese Regeln auch durchsetzt. Dieser scheinbar neutrale Schiedsrichter – der in Wirklichkeit nur das Machtorgan der erfolgreichen kapitalistischen WarenproduzentInnen sein kann – ist der bürgerliche Staat. Warenproduktion heißt also immer auch bürgerliche Politik als soziale Organisation. Die Februarrevolution konnte also aus objektiven Gründen nicht zur Zerschlagung des Staates durch das Proletariat führen. Doch da eine siegreiche soziale Revolution ohne die Aufhebung der Politik unmöglich ist, konnte das damalige russische Proletariat objektiv im Februar 1917 nicht siegen, es musste notwendigerweise von der politischen Konterrevolution besiegt werden. Aber die Konterrevolution musste auch die politische Form wechseln, denn mit dem Zar ließ sich keine Politik mehr gegen das subjektiv revolutionäre Proletariat machen.
Doch die liberale Bourgeoisie brauchte eine Weile um zu begreifen, dass es mit der Monarchie in Russland vorbei war. Das ist verständlich, fürchtete sie sich doch so ganz ohne gekröntes Haupt vom Proletariat. Die großbürgerlichen PolitikerInnen waren durch die Februarrevolution in eine ganz schwierige Lage geraten. Weder die zaristische Reaktion noch das subjektiv revolutionäre Proletariat kümmerte sich groß um die Bedürfnisse der Bourgeoisie und ihr politisches Personal. Doch zum Glück für das russische Privatkapital und seine großbürgerlichen BerufspolitikerInnen, kümmerten sich die menschewistischen und „sozialrevolutionären“ BerufspolitikerInnen rührend um die sozialen und politischen Bedürfnisse der ersteren. Die Menschewiki konnten als scheinbare politische InteressenvertreterInnen der ArbeiterInnenklasse am Anfang auch noch auf die proletarischen Illusionen in sie stützen, während die „SozialrevolutionärInnen“ als scheinbare PolitikerInnen der Agrarreform die Illusionen der BäuerInnen und der überwiegend bäuerlichen Soldaten ausbeuten konnten. In ihrem eigenem Interesse und im Interesse der Bourgeoisie und ihres großbürgerlichen politischen Personals.
Die menschewistischen und „sozialrevolutionären“ PolitikerInnen gingen dann auch am 27. Februar 1917 objektiv zur offensiven Konterrevolution über. Dabei konnten sie den Glanz der ArbeiterInnenräte (Sowjets) der Revolution von 1905 nutzen. Wie wir bereits oben genauer beschrieben haben, war die Organisationsform des Petrograder Proletariats während der Februarrevolution die unmittelbare soziale Organisation, in der die Tat und die Organisation der Tat unvermittelt zusammen fielen. Die Februarrevolution bewies die soziale Sprengkraft der unmittelbaren proletarischen Selbstorganisation und ihrer militanten Form, der Diktatur des Proletariats. Doch die Februarrevolution stürzte „nur“ den Zaren, den Kapitalismus vermag die unmittelbare proletarische Selbstorganisation nicht aufzuheben. Dazu braucht das Proletariat ein Höchstmaß an Organisation und Bewusstsein. Der proletarische Klassenkampf beginnt sehr oft in der Form der unmittelbaren sozialen Selbstorganisation, aber ein länger andauernde Klassenkampf und erst recht der klassenüberwindende Kampf braucht offizielle Organe der proletarischen Selbstorganisation und Diktatur. Im Jahre 1905 waren das die ArbeiterInnenräte (Sowjets).
Während das subjektiv revolutionäre Proletariat in den Straßen Petrograds noch seinen Sieg über den Zarismus festigte, wurde am 27. Februar vorwiegend von kleinbürgerlichen Intellektuellen und von menschewistischen und „sozialrevolutionären“ PolitikerInnen im Taurischen Palais von Petrograd das Exekutivkomitee des Sowjets geschaffen – eine reine politische Kopfgeburt im Unterschied zu den Sowjets von 1905, die wirkliche Klassenkampforgane des Proletariats waren, wenn sie auch unter dem Einfluss des parteimarxistischen kleinbürgerlichen Radikalismus standen. Nach dieser Kopfgeburt wurden dann auch noch lokale Sowjets gebildet, welche stärker unter dem Einfluss des klassenkämpferischen Proletariats standen.
Allerdings war das gesamte Sowjetsystem von 1917 stark von kleinbürgerlich-demokratischen und kleinbürgerlich-radikalen BerufspolitikerInnen deformiert. Mit dieser Feststellung wollen wir ganz klar dem Rätefetischismus, welcher bei den damaligen SozialrevolutionärInnen teilweise doch recht stark auftrat und vom späteren radikalmarxistischen Rätekommunismus ideologisiert wurde, entgegentreten. Die damaligen russischen Sowjets von 1917 kamen den kleinbürgerlichen Vorstellungen von „ArbeiterInnendemokratie“ wesentlich näher als unseren Vorstellungen von Klassenkampforganen der proletarisch-revolutionären Selbstorganisation. Demokratie ist für uns kein schönes Ideal, sondern die real existierende Diktatur des Kapitals. „ArbeiterInnendemokratie“ ist schon ein begrifflicher Widerspruch. „ArbeiterInnenvolksherrschaft“! Bei der Volksherrschaft ohne Vorsilbe ist das Volk eine klassenmäßig unbestimmte Menschenmasse, die Demokratie also eine ideologische Volksherrschaft, hinter der sich die reale soziale Klassenherrschaft der Bourgeoise und ihres politischen Personals verbirgt. Bei dem begrifflichen Ungetüm „ArbeiterInnendemokratie“ wird also das klassenmäßig nicht weiter bestimmte Volk mit dem Begriff der ArbeiterInnenklasse verschmolzen und zum Subjekt einer Herrschaft bestimmt. Doch das Proletariat kann durch eine soziale Revolution keine neue Herrschaft begründen, sondern durch seine revolutionäre Diktatur „nur“ den bürgerlichen Staat zerschlagen um dann einer Assoziation freier ProduzentInnen Platz zu machen. Nach einer siegreichen Weltrevolution als einer permanenten Kette von Zerschlagungen kapitalistischer Nationalstaaten gibt es weder eine ArbeiterInnenklasse noch deren Herrschaft. Die soziale Weltrevolution verwirklicht also nicht kleinbürgerliche Demokratievorstellungen, sondern schaufelt ihnen endgültig die ewige Ruhestätte.
Denn die „ArbeiterInnendemokratie“ kann in der Wirklichkeit nur eine kleinbürgerliche Demokratie sein, in welcher die proletarische Basis das Stimmvieh von kleinbürgerlichen BerufspolitikerInnen ist. Nichts anderes stellten auch im Wesentlichen die russischen Sowjets von 1917 dar. In ihnen tummelten sich sozialdemokratische – sowohl Menschewiki als auch Bolschewiki – und „sozialrevolutionäre“ ParteipolitikerInnen als von ArbeiterInnen und bäuerlichen SoldatInnen gewählte Abgeordnete. Die Sowjets waren also die Verkörperung eines kleinbürgerlichen Parlamentarismus. Nun ja, die Sowjetdemokratie stand allerdings unter einem gewaltigen Druck, nämlich unter dem eines sehr klassenkämpferischen und subjektiv sozialrevolutionären Proletariats. So dass die Sowjets einen widersprüchlichen Mischmasch aus kleinbürgerlicher Demokratie und Keimformen der proletarischen Selbstorganisationen darstellten. Die kleinbürgerlich-demokratischen Tendenzen der Sowjets verkörperten die geistigen Schwächen des subjektiv revolutionären russischen Proletariats, während deren Stärken in der Sowjetdemokratie nur einen politisch und ideologisch entfremdeten Ausdruck annehmen konnten.
Noch mal in aller Deutlichkeit: Die Sowjets von 1917 waren praktisch keine sozialrevolutionären Organe des proletarischen Klassenkampfes. Heute treten SozialrevolutionärInnen dafür ein, dass in den klassenkämpferischen Organen der proletarischen Selbstorganisation BerufspolitikerInnen nichts zu suchen haben. Denn die soziale Revolution kann nur die Zerschlagung des bürgerlichen Staates bedeuten, während alle BerufspolitikerInnen nur den Staat reproduzieren können. Die Sowjetdemokratie von 1917 war nichts anderes als die Herrschaft kleinbürgerlicher DemokratInnen über das klassenkämpferische Proletariat. Aber diese Herrschaft der BerufspolitikerInnen in den Sowjets war nur möglich, weil das Proletariat in seiner Mehrheit damals noch nicht bewusst antipolitisch war. Heute sind sozialrevolutionäre Intellektuelle und ProletarierInnen entweder bewusst antipolitisch oder sie sind eindeutig objektiv nicht sozialrevolutionär. Das hat uns unter anderem die russische Revolution gelehrt.
Die kleinbürgerlichen DemokratInnen – Menschewiki und „SozialrevolutionärInnen“ – hatten nach dem Sieg des proletarischen Klassenkampfes und der Soldatenrebellion nur eine Sorge, nämlich ganz schnell die politische Herrschaft der liberalen Bourgeoisie auszuhändigen. Diese liberale Bourgeoisie stand der Februarrevolution von Anfang an feindlich gegenüber. Die liberale Kadettenpartei war eine bewusste Klassenfeindin des subjektiv revolutionären Proletariats und strebte vor der Februarrevolution eine konstitutionelle Monarchie, also einen Zaren der unter parlamentarischer Kontrolle stand, an. Von den Sowjets und ihren FührerInnen erwartete die liberale Bourgeoisie und ihr politisches Personal alles mögliche Unheil –aber ganz bestimmt nicht die realsatirische Wirklichkeit, nämlich, dass sie von der kleinbürgerlich-demokratischen Sowjetführung aufgefordert wurden, die politische Macht zu übernehmen. Denn nach der marxistischen Ideologie der Menschewiki war ja die Russische Revolution eine bürgerliche, in welcher „logischerweise“ die liberale Bourgeoisie die politische Macht übernehmen musste. In Wirklichkeit konnte diese politische Machtergreifung der russischen liberalen Bourgeoisie nur die soziale Konterrevolution verkörpern, unabhängig davon, dass im damaligen Russland eine siegreiche soziale Revolution unmöglich war.
Die liberale Bourgeoisie und ihr politisches Personal erholten sich rasch von der Überraschung, als sie von der kleinbürgerlich-demokratischen Sowjetführung zur Machtübernahme aufgefordert wurden. Doch die Kadettenpartei unter Führung von Miljukow versuchte, wenn schon der alte Zar nicht mehr zu halten war, dann wenigstens den Zarismus mit einem neuen Zaren zu retten. Ein sehr schönes Schauspiel bürgerlicher Realpolitik! Während die russischen KleinbürgerInnen der liberalen Bourgeoisie in den Arsch krochen, hatte diese für die sozialdemokratischen und „sozialrevolutionären“ Arschkriecher nichts als Verachtung übrig und kroch lieber vor der feudalen Aristokratie in den Staub, die ihrerseits nur Geringschätzung gegenüber den liberalen Bourgeois zeigte. Doch mit der Reproduktion des Zarismus durch einen neuen Zaren ließ sich keine erfolgreiche konterrevolutionäre Politik mehr gegen das Proletariat machen. So legte die Kadettenpartei ihren Monarchismus erst mal auf Eis und es konnte dann während des Märzes 1917 aus dem Provisorischen Dumakomitee eine Provisorische Regierung, als Machtorgan der liberalen Bourgeoisie und der GroßgrundbesitzerInnen gebildet werden, die garniert wurde durch den „Sozialrevolutionär“ Kerenski als Justizminister. Doch die anderen menschewistischen und „sozialrevolutionären“ BerufspolitikerInnen zogen es vor, die Sowjets zu beherrschen und durch diese sowohl die Provisorische Regierung zu unterstützen als auch einen sanften Druck auf sie auszuüben.
Das Ergebnis der Februarrevolution war also eine Doppelherrschaft mit der Provisorischen Regierung auf der einen Seite und den politisch deformierten Organen der proletarischen Selbstorganisation auf der anderen. Die provisorische Regierung war eindeutig sozialreaktionär – sie führte den imperialistischen Krieg weiter und verschleppte eine Bodenreform –, während die Sowjets in den Händen kleinbürgerlicher BerufspolitikerInnen waren, aber auch unter Druck ihrer proletarischen und soldatischen (also bäuerlichen) Basis standen und so auch teilweise zu Organen des proletarischen Klassenkampfes wurden. In den Fabriken schufen sich die ArbeiterInnen ihre eigenen Organe in Form der Fabrikkomitees. Diese gerieten am schärfsten mit Bourgeoisie und Menschewiki/„SozialrevolutionärInnen“ in Konflikt, drückten sie doch am unmittelbarsten die Selbstorganisation der ArbeiterInnenklasse aus. Die Fabrikkomitees schufen auch die Roten Garden, eine bewaffnete ArbeiterInnenmiliz, welche ein militanter Ausdruck der proletarischen Selbstorganisation, also ein Organ einer keimhaften Diktatur des Proletariats, war.
Doch auch die Fabrikkomitees und Roten Garden standen leider unter dem Einfluss kleinbürgerlich-demokratischer (Menschewiki und rechte „SozialrevolutionärInnen) und später kleinbürgerlich-radikaler PolitikerInnen (Bolschewiki und „linke SozialrevolutionärInnen“). Weil diese Organe der keimhaften Diktatur des Proletariats nicht bewusst antipolitisch waren, konnten sie schließlich von bolschewistischen BerufspolitikerInnen bei der Schaffung einer staatskapitalistischen Parteidiktatur liquidiert werden. Wenn auch die revolutionäre Selbstaufhebung des Proletariats, also der Übergang von der proletarischen in die klassenlose Selbstorganisation, wegen der sozialen Schwäche der russischen ArbeiterInnenklasse objektiv unmöglich war, hätte das russische Proletariat bei noch größerer sozialrevolutionärer Klarheit noch heroischer gegen die kapitalistische Konterrevolution verlieren können. Und der mögliche Sieg des revolutionären Weltproletariats wird auch dort durch heroische Niederlagen vorbereitet, wo ein Sieg objektiv noch unmöglich ist. Das ist die Dialektik der objektiven und subjektiven Bedingungen des weltrevolutionären Prozesses, der eindeutig über den Verstand der marxistischen und anarchistischen Kleingeister geht.
Doch das globale Proletariat hatte bis 1917 noch keine Erfahrung mit einer offen konterrevolutionär auftretenden internationalen Sozialdemokratie – einschließlich großer Teile seines linken Flügels – sammeln können. Die zahlreichen praktischen Erfahrungen, die das globale Proletariat seitdem inzwischen mit sozialdemokratischen und „kommunistischen“ BerufspolitikerInnen machen konnte, hat der nachmarxistische und nachanarchistische Kommunismus theoretisch zu einem klaren antipolitischen Bewusstsein verallgemeinert und verdichtet. Wenn dieses antipolitische Bewusstsein in einer sozialen Weltrevolution zur materiellen Gewalt wird, dann wehe den PolitikerInnen des Kapitals!

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Inhalt

Einleitung

Klassenkampf und Straßenbewegungen

1. Soziale Straßenbewegungen als Teil des proletarischen Klassenkampfes
2. Soziale und politische Straßenbewegungen
3. LehrerInnen und SchülerInnenbewegung
4. Proletarischer Klassenkampf und soziale Straßenbewegungen in der Weltrevolution

Die Instrumentalisierung des Proletariats in Machtkämpfen der Herrschenden

1. Polen
2. Iran

Konkurrenz, Straßenrassismus, Antifa und Klassenkampf

1. Der permanente Konkurrenzkampf
2. Elitärer Nationalismus und Straßenrassismus in der BRD
3. Staatsantifaschismus
4. Antirassismus/Antifaschismus als kleinbürgerliche Straßenbewegung
5. Proletarischer Klassenkampf und sozialrevolutionärer Universalismus

Die Bewegung gegen Bullenterror in den USA

1. Der Bullenterror
2. Der Bullenterror als Teil des Klassenkrieges von Oben
3. Die Bewegung gegen den Bullenterror

Der Bullenterror als Teil des Klassenkrieges von Oben

„Mit der sogenannten Wirtschaftskrise und der ständig wachsenden Arbeitslosigkeit der jungen Schwarzen, die in manchen Gegenden 50 Prozent erreicht, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit von Gegenwehr. Es gab also eine Eskalation. In vielen Vierteln, auch in Latinovierteln, ist die Polizei eine Besatzungsarmee, die dieselben Waffen benutzt wie im Irak und Afghanistan. Mit den war on terror wurde die Polizei seit 2001 immer stärker militarisiert. Sie wird seit vielen Jahren von der Armee ausgebildet und ist mit denselben Waffen ausgerüstet, deshalb herrscht in vielen Vierteln praktisch dasselbe Level an Polizeibrutalität wie vielleicht in den Vierteln von Kabul oder im Irak.
Die USA sind um den Krieg herum organisiert. Krieg im Irak, in Afghanistan, Militärbasen in der ganzen Welt, und dann der Jemen und indirekt Syrien usw. (…) All dies wirkt sich auf das Verhalten der Polizei aus. Wenn du Immigrant bist oder in einem armen Viertel lebst, können sie dir Sonntagmorgens die Wohnungstür aufbrechen und mit gezogener Waffe reinkommen unter dem Vorwand, nach Waffen oder Drogen zu suchen. Die Polizei behandelt die jungen Schwarzen wie feindliche Kämpfer: shoot first and ask later (erst schießen, dann fragen), genauso, wie sie es in den Vierteln im Irak lernen. Und sie genießen dabei dieselbe Straflosigkeit, sie können hier wie dort tun, was sie wollen. Die Linie zwischen Polizei und Armee verschwimmt immer mehr: dieselben Taktiken, dieselbe Ausbildung, dieselbe Bewaffnung.“ (Silvia Federici, Zitiert nach Ferguson zeigt das Ende der politischen Vertretung. Interview mit Silvia Federici und George Caffentzis, 1.12.2014, in: Wildcat 97, Winter 2014/2015, S. 11.)
Der oben beschriebene Bullenterror ist Teil des Klassenkrieges der Bourgeoisie gegen das besonders hart ausgebeutete und unterdrückte schwarze Proletariat in den USA. Schwarze Lohnabhängige bekommen in den USA noch immer durchschnittlich bei der Vermietung ihrer Arbeitskraft weniger Geld als ihre weißen KollegInnen. Zum Beispiel war der Lohn schwarzer ArbeiterInnen 2012 durchschnittlich um 13,7 Prozent niedriger als der ihrer weißen KollegInnen. Auch die Arbeitslosigkeit ist höher. So betrug nach offiziellen Angaben des US-Arbeitsamtes Ende 2014 die Arbeitslosigkeit unter AfroamerikanerInnen 10,7 Prozent, während sie unter Weißen 4,6 Prozent ausmachte. In den Schwarzen-Ghettos sind die Grenzen zwischen den untersten Schichten der ArbeiterInnenklasse und den nichtlohnarbeitenden Schichten des Proletariats sehr fließend. Afroamerikanische ArbeiterInnen haben oft zwei oder drei Billigjobs, um sich über Wasser zu halten. Kleinkriminalität wie Drogenhandel und blutige Bandenrivalität in den Schwarzen-Ghettos sind Folge der rassistischen Extraausbeutung und -unterdrückung des afroamerikanischen Proletariats. Was in den USA offiziell unter dem Namen „Kriminalitätsbekämpfung“ läuft, ist in Wirklichkeit ein brutaler Klassenkrieg von oben gegen das nichtlohnarbeitende schwarze Proletariat, der geradezu mörderisch ist. Das zu erkennen, heißt nicht vor den asozialen und destruktiven Tendenzen der Kriminalität die Augen zu verschließen, aber diese müssen immer mit dem strukturellen Rassismus im Zusammenhang gesehen werden. Der mörderische Bullenterror gegen die afroamerikanische Bevölkerung ist eine Mischung aus Sozialdarwinismus und Staatsrassismus. Und es darf auch nicht vergessen werden, dass große Teile des erwerbslosen schwarzen Proletariats sich durchschlagen, ohne in die Kriminalität zu geraten. Doch im strukturellen Raster der Bullen ist jeder schwarze Proletarier ein potenzieller Krimineller.
Dass einige Schwarze zum politischen Personal der US-Bourgeoisie gehören, ändert nichts daran. Die formale Aufhebung der „Rassentrennung“ in den USA hat die rassistische Extraausbeutung und -unterdrückung des afroamerikanischen Proletariats ebenfalls nur modernisiert, aber eben nicht aufgehoben. Die faktische „Rassentrennung“, also das Weiße und Schwarze in unterschiedlichen Wohnvierteln leben, nahm in den letzten Jahrzehnten eher noch zu. Auch in Chicago war das so. So stieg der Anteil der Schwarzen, die in Stadtteilen mit mehr als 90% afroamerikanischer Bevölkerung lebten, von 40,7 Prozent im Jahre 1960 auf 53,7 1970, 60,7 1980 und auf 62,9 Prozent im Jahre 1990. Wir sehen also, dass die 1980er Jahre in Chicago vollkommen in der rassistischen Kontinuität lagen. Und doch wurde die Stadt in den 1980er Jahren (1983-1987) von einem schwarzen Bürgermeister, von Harold Washington, regiert. Dass die rassistische Kontinuität nicht durch schwarze PolitikerInnen durchbrochen werden kann, liegt nicht in erster Linie daran, dass ihre Regierungszeiten nur relativ kurze Perioden bleiben können, sondern dass sie zum politischen Personal des US-Nationalkapitals gehören, welches auch von der Extraausbeutung des schwarzen Proletariats lebt. „Schwarze“ Politik kann wie „weiße“ nur kapitalistisch sein, nur die revolutionäre Aufhebung der Politik, also die Zerschlagung der USA durch das Proletariat kann auch den strukturellen Rassismus aufheben. Wenn die schwarzen ProletarierInnen sich nicht mehr verarschen lassen wollen, müssen sie mit der „schwarzen“ Politik brechen, so wie die weißen ProletarierInnen mit der „weißen“ Politik brechen müssen, wenn sie sie sich sozial befreien wollen.

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Die institutionalisierte ArbeiterInnenbewegung verteidigt(e) den demokratischen Kapitalismus https://swiderstand.blackblogs.org/2016/08/30/die-institutionalisierte-arbeiterinnenbewegung-verteidigte-den-demokratischen-kapitalismus/ https://swiderstand.blackblogs.org/2016/08/30/die-institutionalisierte-arbeiterinnenbewegung-verteidigte-den-demokratischen-kapitalismus/#respond Tue, 30 Aug 2016 16:56:14 +0000 http://swiderstand.blogsport.de/?p=129 Wir veröffentlichen hier den vierten abschließenden Teil des Textes „Der spanische BürgerInnenkrieg als innerkapitalistischer Konflikt“ aus der Broschüre „Der spanische BürgerInnenkrieg (1936-1939)“. Die Broschüre könnt Ihr hier für 5-€ (inkl. Porto) über Onlinemarktplatz für Bücher booklooker.de bestellen.

CNT Barrikade am La Rambla Promenade. Barcelona Mai 1937

Die institutionalisierte ArbeiterInnenbewegung verteidigt(e) den demokratischen Kapitalismus

Nachdem wir im vorigen Kapitel die Niederlage des republikanisch-stalinistischen Blockes im BürgerInnenkrieg schilderten, wollen wir jetzt die erfolgreiche Konterrevolution dieses Blockes gegen das klassenkämpferische Proletariat beschreiben. Diese Konterrevolution entsprach sowohl den allgemeinen Entwicklungstendenzen des Antifaschismus als auch der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung. Der Antifaschismus ist die Ideologie und Praxis der Verteidigung der Demokratie gegen den Faschismus und artverwandter Regierungsformen wie zum Beispiel den Franquismus. Doch die Demokratie ist ebenfalls eine politische Ausdrucksform der sozialreaktionären Diktatur des Kapitals. Die institutionalisierte ArbeiterInnenbewegung reproduzierte und reproduziert die kapitalistische Klassengesellschaft in Form von bürgerlich-bürokratischen Apparaten und einer proletarischen Basis. Diese bürgerlich-bürokratischen Apparate sind strukturell unfähig und unwillig dazu die soziale Revolution zu organisieren, aber sie müssen aus Eigeninteresse die sozialreaktionäre Demokratie gegen den Faschismus bzw. artverwandte Regimes, welche die institutionalisierte ArbeiterInnenbewegung zerschlagen wollen, verteidigen. Doch ein Kampf gegen faschistische und artverwandte Strömungen, der von demokratischen Positionen aus erfolgt, kann nur inkonsequent sein – dafür muss er sich aber mit konterrevolutionärer Konsequenz gegen das Proletariat richten.
Besonders Moskau wollte während des spanischen BürgerInnenkrieges der demokratischen Bourgeoisie in und außerhalb Spaniens seine konterrevolutionäre Verlässlichkeit demonstrieren – und die durch den Militärputsch enorm geschwächten RepublikanerInnen brauchten Stalin als erfahrenen Henker gegen das Proletariat. So verlangte Stalin in einem Brief an dem damaligen spanischen Ministerpräsidenten Caballero von diesem das Privateigentum an Produktionsmitteln unbedingt zu schützen. Der Stalinismus brachte die konterrevolutionäre Konsequenz des Antifaschismus nur am stärksten zum Ausdruck, so wurde er zur Avantgarde der republikanisch-demokratischen Konterrevolution. Aber auch die sozialdemokratische PSOE, die „anarcho“-demokratischen CNT und FAI sowie die POUM waren Teil dieser demokratisch-antifaschistischen Konterrevolution. Letztere bildeten den libertären und marxistischen Schwanz der sozialreaktionären Volksfront. Doch die erfolgreiche Konterrevolution richtete sich auch gegen ihre schwächlichen VertreterInnen. Der kleinbürgerlich-anarchistische Moralismus kann dieses Verhalten seines einstigen antifaschistischen Bündnispartners nur mit „Intoleranz“ erklären. Ja, blutige Intoleranz gegen das Proletariat war und ist das Markenzeichen der Konterrevolution, so wie „Toleranz“ gegenüber dieser Konterrevolution das Markenzeichen sozial- und „anarcho“-demokratischer Schleimer ist!
Da es keine im Proletariat verankerte sozialrevolutionäre Strömung in Spanien im Juli 1936 gab, die wichtige Impulse für den Sturz des Volksfront-Regimes und den revolutionären Klassenkrieg gegen die putschenden Generäle geben konnte, war die Antwort des republikanisch-stalinistischen Blockes auf den reproduktiv-defensiven Klassenkampf des Proletariats die Zerschlagung aller Keime von dessen Selbstorganisation. Als erstes musste das Proletariat im republikanischen Hinterland entwaffnet werden. Wenn auch vorerst die antifaschistische Ideologie in den Köpfen der bewaffneten ProletarierInnen die Bourgeoisie und ihre politischen Handlanger schützte – sehr verlässlich war dieser Schutz nicht. So wurde im Oktober 1936 die Abgabe aller Gewehre und Maschinengewehre im Hinterland an das Volksfront-Regime dekretiert. Dieses Dekret wurde allerdings in der Praxis so ausgelegt, dass die institutionalisierte ArbeiterInnenbewegung, die ja fast vollständig in das Volksfront-Regime integriert war, weiterhin Lizenzen für Gewehre und Maschinengewehre für Betriebswachposten und Bauernkomitees vergeben konnte. Doch auch damit war am 15. Februar 1937 Schluss. Der bürgerlich-stalinistische Block war jetzt so stark, dass er die Abgabe aller Gewehre und Maschinengewehre an die Regierung verlangte. Am 17. März 1937 verlangte das Volksfront-Regime von allen Parteien und Gewerkschaften der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung ihre Mitglieder im Hinterland absolut zu entwaffnen und die Waffen innerhalb von 48 Stunden zu übergeben. Am 17. April 1937 wurde diese Anordnung auch auf Katalonien übertragen. So entwaffneten die Nationalen Republikanischen Garden – die umgetaufte Guardia Civil – die ProletarierInnen Barcelonas. Während der letzten Aprilwoche 1937 wurden dreihundert ArbeiterInnen, alle Mitglieder der CNT und im Besitz von Waffenlizenzen ihrer Organisation, entwaffnet. Die konsequente Entwaffnung des Proletariats durch den republikanisch-stalinistischen Block führte also auch zu Angriffe auf den linken Flügel der Volksfront, der darauf mit opportunistischer Anpassung an die antifaschistische Konterrevolution reagierte.
Mit der Entwaffnung des Proletariats im Hinterland waren auch die waffentechnische Unterversorgung der POUM- und CNT-Milizen und eine Aufrüstung der Polizei verbunden. Der konterrevolutionäre Kampf gegen den linken Flügel der Volksfront war dem republikanisch-stalinistischen Block eben wichtiger als der militärische Sieg gegen Franco. Denn das letztere war nur ein innerkapitalistischer Konflikt, während das Überleben des Kapitalismus in schweren Krisenzeiten eine totale Konsequenz im Klassenkampf von oben erfordert – einschließlich seiner ultrarepressiven Übertreibungen. Der republikanisch-stalinistische Block festigte das bürgerliche Regime nach dem Beginn des Militärputsches im Juli 1936 durch eine massive Aufrüstung der Polizei gegen das Proletariat. Jene Bullen, die zu den putschenden Generälen übergelaufen waren, wurden mehr als ersetzt. Die Nationale Republikanische Garde und die Asalto-Garden wurden bald vollständig von der Front abgezogen, um den demokratischen Kapitalismus gegen den proletarischen Feind zu schützen. Auch die ehemals kleine Zollgruppe wurde massiv zu einer 40.000 Mann zählende Gruppe aufgerüstet. Neben der Polizei wirkte der sowjetische NKWD im Verborgenen mit Geheimgefängnissen, Folterungen und Morden gegen das klassenkämpferische Proletariat und den linken Flügel der Volksfront. Auch baute der NKWD maßgeblich den republikanischen Geheimdienst Servico de Investigación Militar (SIM) auf. Außerdem rekrutierte der stalinistische Antifaschismus bei seinen schmutzigen Machenschaften gegen das Proletariat auch noch jenes kleinbürgerliche sowie kriminell-lumpenproletarische Milieu, das sonst als klassische soziale Basis des Faschismus gilt. Gegen die Presse des linken Flügels der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung ging der republikanisch-stalinistische Block mit einer strengen Zensur vor.
Diese aufgerüstete Konterrevolution stand in einer dialektischen Entsprechung zu der schlechten Bewaffnung der CNT- und POUM-Milizen. So schrieb George Orwell in Mein Katalonien: „Eine Regierung, die Jungen von 15 Jahren mit 40 Jahre alten Gewehren an die Front schickt und die stärksten Männer und die neuesten Waffen in der Nachhut behält, fürchtet die Revolution offenkundig mehr als die Faschisten. Daher die kraftlose Kriegspolitik der vergangenen sechs Monate und daher der Kompromiss, mit dem der Krieg ganz sicher enden wird.“ Orwell beschrieb auch die schlechte Bewaffnung an der Aragon-Front. Nach seiner Meinung war die Infanterie „weit schlechter ausgerüstet als das Ausbildungskorps einer englischen Public-school“, mit „abgenutzten Mausergewehren, die meist nach fünf Schüssen Ladehemmungen hatten; in etwa ein Maschinengewehr für fünfzig Männer; und eine Pistole oder ein Revolver für etwa dreißig Männer. Diese im Stellungskrieg so notwendigen Waffen wurden nicht von der Regierung ausgegeben und konnten nur illegal und unter großen Schwierigkeiten gekauft werden“. (Zitiert nach Felix Morrow, Revolution und Konterrevolution in Spanien, a.a.O., S. 210/211.)
Die bewusste Unterversorgung der CNT- und POUM-Milizen im BürgerInnenkrieg war Teil der republikanisch-stalinistischen Konterrevolution. Während sie diese Milizen bewusst mit Waffen unterversorgten, verleumdeten die StalinistInnen gleichzeitig CNT und POUM, sie seien unfähig, ja schlimmer noch, sie würden insgeheim mit den FaschistInnen im Bunde stehen… Noch heute behauptet die nachstalinistische Sozialreaktion solche bewussten Lügen, wie wir im Kapitel Stalinistische Mordbuben und Folterknechte unseres Textes Die antifaschistische Volksfront gegen das Proletariat ausführlich darstellen werden. Doch CNT und POUM waren als Organisationen der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung dazu unfähig für eine wirkliche ArbeiterInnenmiliz als Organ eines revolutionären Klassenkrieges zu kämpfen, deshalb mussten sie ihre eigene proletarische Basis in einem reaktionären innerkapitalistischen Krieg verheizen, der auch noch bewusst ineffektiv geführt wurde. CNT und POUM kämpften nicht gegen die republikanisch-stalinistische Konterrevolution, sondern sie machten nur schwächliche „Gegenvorschläge“, wie jenen von einer Armee eines bürgerlichen Regimes, das aber unter „Arbeiterkontrolle“ stehen sollte.
Ja, die Ideologie von der „Arbeiterkontrolle“, die in Wirklichkeit die Kontrolle des Kapitals über das Proletariat verschleierte, war die besondere Spezialität der CNT-Konterrevolution. Dass diese „Arbeiterkontrolle“ nichts anderes als CNT-Gewerkschaftskapitalismus und Staatssyndikalismus war, werden wir noch ausführlich im entsprechenden Kapitel unserer Schrift Die antifaschistische Volksfront gegen das Proletariat unter die Lupe nehmen. Die CNT organisierte auf diese „kollektivistische“ Weise den Kapitalismus, als viele PrivatkapitalistInnen ins Lager der putschenden Generäle geflohen waren und das klassenkämpferische Proletariat in größte Wallung geraten war. Die CNT war also zu Beginn des Militärputsches eine verdammt wichtige Konterrevolutionärin, die das reaktionäre Volksfront-Regime durch „Kollektivierungen“ im Rahmen von Staat und kapitalistischer Warenproduktion am Laufen hielt. Wir SozialrevolutionärInnen kritisieren diese „Kollektivierungen“ ganz klar als Anarchokapitalismus, während die republikanisch-stalinistische Konterrevolution in ihrem Verlauf bestrebt war diese anarchokapitalistischen Experimente zu beenden und das Privateigentum an den Produktionsmitteln wieder herzustellen. So erforderte der konsequente Schutz des Privateigentums an Produktionsmitteln die konterrevolutionäre Frontstellung gegen den CNT-Anarchokapitalismus.
Besonders in der Landwirtschaft ging ja die CNT gegen den Großgrundbesitz vor – um dann die Landbevölkerung in Form von „Kollektiven“ im Interesse des kapitalistisch-antifaschistischen Krieges auszubeuten. Die StalinistInnen, die selbst in der UdSSR eine brutale Zwangskollektivierung durchgezogen hatten, waren während des spanischen BürgerInnenkrieges die Avantgarde einer nicht weniger brutalen Zwangsentkollektivierung. Sie organisierten privatbesitzende BäuerInnen in der Gewerkschaft UGT – die sie auch sonst immer erfolgreicher unterwanderten – gegen die kleinbürgerlich-kollektive Warenproduktion. Besonders in Aragon, wo die CNT sehr stark war, ging die stalinistische Konterrevolution im August 1937 massiv gegen die kleinbürgerlichen Kollektive vor. Landwirtschaftliche Kollektive, Unternehmen unter gewerkschaftskapitalistischer UGT/CNT-Kontrolle und Genossenschaften in den Städten wurden vom republikanisch-stalinistischen Block massiv zerstört. So wurden die anarchokapitalistischen Experimente in der Fleisch- und Molkereiwirtschaft in Katalonien im Juni 1937 beendet und die Betriebe den früheren PrivateigentümerInnen zurückgegeben.
Teil der republikanisch-stalinistischen Konterrevolution war auch die polizeiliche Besetzung der Telefonzentrale von Barcelona, das unter CNT-Kontrolle stand, Anfang Mai 1937. Doch das Proletariat organisierte die Gegenwehr und schlug zurück. CNT und POUM taten alles, um das kämpfende Proletariat Barcelonas wieder von den Barrikaden und an die Arbeit zu bringen. Nur die spanischen TrotzkistInnen, die im Frühjahr 1937 aus der POUM herausgeworfen wurden, und der linke Flügel der CNT, die sich im Frühjahr 1937 herausgebildeten Freunde Durrutis, traten für den revolutionären Sturz des Volksfront-Regimes ein. Allerdings unterstützten beide Gruppierungen auch „kritisch“ den kapitalistisch-antifaschistischen Krieg des Volksfront-Regimes. Auch waren sie zu schwach, um den revolutionären Kampf in Barcelona entscheidende Impulse zu geben. So endeten die Maikämpfe 1937, die wir ausführlich im Text Die antifaschistische Volksfront gegen das Proletariat beschreiben werden, mit einer Niederlage.
Die trotzkistische Ideologie-Produktion behauptet mit felsenfester Sicherheit, dass während der Maikämpfe in Barcelona 1937 ein revolutionärer Sturz des Volksfront-Regimes möglich gewesen wäre. Doch es hätte an der „revolutionären Partei“ gefehlt. Die spanischen TrotzkistInnen wären noch zu schwach gewesen, um das Proletariat zum Sieg zu führen. Mal abgesehen davon, dass der siegreiche Trotzkismus Spanien nur ein staatskapitalistisches Regime hätte bescheren können, traten die spanischen TrotzkistInnen auch während der Maikämpfe in Barcelona sehr inkonsequent auf. Sie kämpften zwar für einen revolutionären Sturz des Volksfront-Regimes, aber sie hörten dennoch keine Sekunde auf, dessen kapitalistisch-antifaschistischen Krieg zu unterstützen. Außerdem schürte der Trotzkismus während der Barrikaden-Kämpfe Illusionen in den linken Flügel der Konterrevolution, in CNT und POUM (siehe dazu ausführlicher das Kapitel Der trotzkistische Einheitsfront-Antifaschismus im Text Die antifaschistische Volksfront gegen das Proletariat). Wir müssen also feststellen – bei allem Respekt gegenüber dem Mut der spanischen TrotzkistInnen –, dass auch der Trotzkismus keine sozialrevolutionäre Strömung, sondern eine kleinbürgerlich-radikale mit starken sozialreaktionären Tendenzen gewesen ist. Die Freunde Durrutis söhnten sich nach den Maikämpfen von 1937 mit der CNT-Führung wieder aus.
Im Gegensatz zu den TrotzkistInnen, die völlig undialektisch davon reden, dass ein Sieg möglich gewesen wäre – wenn, ja wenn es nur eine „revolutionäre Partei“ gegeben hätte – betrachten wir die Existenz bzw. Nichtexistenz sozialrevolutionärer Strömungen im engen Zusammenhang mit dem allgemeinen Klassenbewusstsein des Proletariats. Während der revolutionären Nachkriegskrise in Deutschland bildeten sich der parteiförmige Linkskommunismus (KAPD) und der Rätekommunismus als relativ starke Strömungen heraus – doch das Proletariat erwies sich dennoch als geistig und praktisch zu schwach, um sich revolutionär aufzuheben. Das hatte den Sieg der demokratischen Konterrevolution zur Folge, die schließlich in die nationalsozialistische Sozialreaktion überging, während die siegreiche bolschewistische Konterrevolution gegen den Kronstädter Aufstand von 1921 folgerichtig ab 1923 im Sieg des Stalinismus als dessen konsequentester Ausdruck gipfelte. Die Siege der privatkapitalistischen und staatskapitalistischen Konterrevolution in den beiden ehemaligen Hauptherden des revolutionären Aufschwunges in Europa nach dem Ersten Weltkrieg verschlechterten die Klassenkampfbedingungen auf dem ganzen Kontinent. In Spanien gab es weder eine links-, noch eine rätekommunistische Strömung, was als ein allgemeiner Ausdruck des relativ schwachen Klassenbewusstseins des Proletariats in Spanien gewertet werden muss. Selbst der kleinbürgerliche Radikalismus, die Freunde Durrutis und die spanischen TrotzkistInnen, waren zu schwach, um Impulse für einen republikweiten Klassenkampf gegen das Volksfront-Regime zu geben. Auch war ihre anarchosyndikalistische bzw. parteimarxistische Ideologie-Produktion ganz bestimmt nicht die geistige Garantie für eine siegreiche soziale Revolution.
Nein, wir gehen nicht davon aus, dass bei einer Existenz einer wirklichen sozialrevolutionären Strömung im Mai 1937 der Sieg über die antifaschistische und franquistische Konterrevolution wie gegen die zu erwartende ausländische Intervention möglich gewesen wäre. Denn dessen Existenz hat selbst in Deutschland zwischen 1918 und 1923 unter wesentlich besseren Bedingungen nicht zur revolutionären Selbstaufhebung des Proletariats geführt. Die Nichtexistenz einer bewussten sozialrevolutionären Strömung und die Schwäche selbst des kleinbürgerlichen Radikalismus während des spanischen BürgerInnenkrieges sind ein eindeutiges Indiz dafür, dass eine siegreiche Revolution in Spanien nicht möglich war. Benutzt das ja nicht als Alibi für euer konterrevolutionäres Verhalten, ihr erbärmlichen Sozial- und „Anarcho“-DemokratInnen! Ein/e Revolutionär/in muss immer konsequent gegen die Konterrevolution kämpfen. Auch die schlechtesten Bedingungen können nicht als Ausrede dazu dienen, sich der Konterrevolution anzupassen oder gar ein Teil von dieser zu werden.
Gehen wir von der Existenz einer bewussten sozialrevolutionären Strömung aus, die in den Maitagen 1937 wichtige Impulse für eine Verschärfung des Klassenkampfes gegeben hätte. Nach unserer Meinung wäre dann ein heroischer und bewusster Kampf gegen die antifaschistische und franquistische Konterrevolution herausgekommen, der höchstwahrscheinlich nicht siegreich geendet hätte. Aber bevor die mögliche Weltrevolution vielleicht irgendwann einmal siegt, zeigen die heroischen Niederlagen dem globalen Proletariat den Weg!
Fazit: Das klassenkämpferische Proletariat Spaniens wurde zwischen dem faschistisch-franquistischen Hammer und dem demokratisch-antifaschistischen Amboss zerschlagen. Weil es der antifaschistischen Ideologie und Praxis erlag, die unwillig und/oder unfähig dazu ist den demokratischen Kapitalismus zu bekämpfen und selbst den Faschismus nicht wirkungsvoll bekämpfen kann, dafür aber ein Krebsgeschwür für den proletarischen Klassenkampf darstellt. Parteimarxismus und Anarchosyndikalismus verteidigten in Spanien den demokratischen Kapitalismus – gegen das klassenkämpferische Proletariat und Franco. Weil sie den ersten Kampf siegreich beendeten, wurden sie von Franco besiegt. Das ist die Dialektik der Konterrevolution in Spanien.
Noch heute werden in unzähligen kapitalistisch-reaktionären BürgerInnenkriegen (Syrien, Ukraine, Libyen…) und zwischenstaatlichen Konflikten die ProletarierInnen verheizt, verstümmelt und ermordet. Dies ist jedoch „nur“ die militärische Form des kapitalistischen Krieges gegen das Proletariat, der allerdings auch in seiner ökonomischen Form absolut mörderisch ist. Wer zählt die Verhungerten, erfrorenen Obdachlosen, durch „Arbeitsunfälle“ Ermordeten, „Berufskranken“, von Bullen misshandelten und ermordeten klassenkämpferischen LohnarbeiterInnen?! Dieser Krieg wird noch immer viel zu einseitig vom Kapital geführt. Noch immer entwaffnen die Sozial- und „Anarcho“-DemokratInnen aller Schattierungen mit ihren Phrasen über Menschenrechte und Demokratisierung nicht etwa die Bourgeoisie, sondern das Proletariat. Denn es gibt nur zwei Menschenrechte die absolut gelten: Das Menschenrecht auf Eigentum (einschließlich staatliches und genossenschaftliches) an Produktionsmitteln und das Menschenrecht auf Ausbeutung des faktisch eigentumslosen Proletariats. Alle anderen Menschenrechte gelten dagegen – darunter auch das auf körperliche Unversehrtheit und das auf Leben – nur relativ, also so gut wie gar nicht im reaktionären Krieg des Kapitals gegen das Proletariat. Wenn die Sozial- und „Anarcho“-DemokratInnen Menschenrechte für die Proletarisierten einfordern und für „mehr Demokratie“ eintreten, helfen sie dabei diese geistig zu entwaffnen. Revolutionärer Klassenkampf als einzig wirksamer Widerstand heißt dagegen die Menschenrechte der Bourgeoisie anzugreifen und die Demokratie als Diktatur des Kapitals durch die proletarische Klassendiktatur zu zerschlagen!
Die kleinbürgerliche politische Linke – einschließlich des „Anarcho“-Syndikalismus – ist strukturell dazu unfähig, aus der Vergangenheit irgendetwas zu lernen. So ist sie heute immer noch das, als dass sie sich schon im spanischen BürgerInnenkrieg zeigte: strukturell sozialreaktionär. Diese reaktionären Linken zu verachten und zu bekämpfen ist kein Ausdruck von SektiererInnentum – sondern eine Notwendigkeit des Klassenkampfes. SozialrevolutionärInnen müssen sich kollektiv und individuell in einem Geist der absoluten Intoleranz gegen alle Charaktermasken und Lakaien des Kapitals erziehen! Egal ob gegen große oder kleine, bewusste oder unbewusste, linke oder rechte, faschistische oder antifaschistische, „marxistische“ oder „anarchistische“!

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Kronstadt und die Dekadenz des Parteimarxismus https://swiderstand.blackblogs.org/2016/03/04/kronstadt-und-die-dekadenz-des-parteimarxismus/ https://swiderstand.blackblogs.org/2016/03/04/kronstadt-und-die-dekadenz-des-parteimarxismus/#respond Fri, 04 Mar 2016 13:11:50 +0000 http://swiderstand.blogsport.de/?p=116 Zum 95. Jahrestag des Kronstädter Aufstandes veröffentlichen wir das Kapitel „Kronstadt und die Dekadenz des Parteimarxismus“ aus der Broschüre „Schriften zur russischen Revolution“. Der Aufstand der Kronstädter Matrosen bleibt immer noch für viele SozialrevolutionärInnen ein Leuchtturm des revolutionäres Kampfes.

Russische Revolution

Kronstadt und die Dekadenz des Parteimarxismus

Der Aufstand der Kronstädter Matrosen im März 1921 war der tragische Höhepunkt der russischen Revolution, der notwendigerweise in einer Niederlage enden musste, weil für einen revolutionären Sieg jede Voraussetzung fehlte. In ihm kämpfte die soziale Avantgarde der russischen Revolution, die Matrosen von Kronstadt, gegen die bolschewistisch-staatskapitalistische Konterrevolution. Es war das letzte Aufbäumen der proletarisch-revolutionären Selbstorganisation im Klassenkampf, bevor sie im Blut erstickt worden ist. „Kronstadt!“ ist und bleibt der Stachel im Arsch des Parteimarxismus.
Red Devil schrieb über die Entwicklung des Kronstädter Aufstandes: „Kronstadt selbst war eine befestigte Insel, die – vor Petrograd gelegen – zum Schutz der Hauptstadt gedacht war und deren Befestigungsanlagen dementsprechend zur Land abgewandten Seite ausgerichtet waren. Die Bevölkerung Kronstadts umfasste ungefähr 50.000 Menschen, darunter befanden sich die Mannschaften der baltischen Flotte, Soldaten der Garnisonen und einige Tausend Angestellte, Beamte, Handwerker, Offiziere, Werftarbeiter und deren Angehörige.
Die Kronstädter waren stets an der Spitze der revolutionären Bewegung gewesen. Das beweisen Meutereien und Revolten der Kronstädter gegen den Zaren (z.B. im Juli 1906 und im Jahr 1910) und später dann gegen die Regierung unter Kerenski als sie die Kommune von Kronstadt ausriefen. Es war der Kronstädter Panzerkreuzer ,Aurora‘, der das Signal zum Anfang der Oktoberrevolution gab und es waren ebenfalls die Kronstädter Matrosen, die das Telegrafenamt, die Staatsbank und weitere strategische Punkte der Hauptstadt besetzten. All dies hatte Trotzki dazu veranlasst zu schreiben: ,Die Matrosen von Kronstadt sind der Stolz und Ruhm der russischen Revolution.‘ Und Matrosen galten schlechthin als die fortgeschrittensten Elemente der Gesellschaft, da sie sich zumeist aus der Arbeiterklasse rekrutierten und meist auch schon vor 1917 Kontakt zu revolutionären Gruppen unterhielten. (…)
In ganz Russland brodelte es und der Unmut über die soziale Lage und Willkürherrschaft der Bolschewiki wuchs. Viele hatten erwartet, dass nach der Beendigung des Bürgerkrieges (…) die Einschränkungen (z.B. die politischen Rechte betreffend) aus der Kriegszeit abgeschafft und die wirtschaftliche Versorgung verbessert würden. Aber die alte Politik wurde fortgesetzt. Die Rechtlosigkeit der Arbeiter verdeutlicht der Bericht des enttäuschten Anarchisten Augustin Souchy, der 1920 auf Einladung Lenins nach Russland gefahren war: ,Die Putilow-Werke waren ähnlich wie in Deutschland die Krupp-Werke, die größte Waffenfabrik in Russland. Als ich da hinging und mir das angesehen habe – die Arbeiterräte in den Putilow-Werken hatten überhaupt keine Rechte. Ihre Rechte bestanden darin, Lebensmittel zu verteilen, nach hygienischen Bedingungen zu sehen, dass das in Ordnung ist.‘ Jeder Arbeiter konnte beim Versuch, seine Rechte zu verteidigen von jedem beliebigen Parteimitglied als ,konterrevolutionär‘ diskriminiert werden. Und die Macht geriet immer mehr in die Hände von Karrieristen, so dass ein Proletarier ohne Parteibuch bald schon geringer geschätzt wurde als ein Angehöriger des alten Adels mit ebensolchem. Die kommunistische Partei schien ein größeres Interesse an der politischen Macht als an der Rettung der Revolution und der Umsetzung ihrer Forderungen zu haben. (…)
Auslöser der Kronstädter Rebellion waren Streiks in Petrograd. Da sehr viele Angehörige der Kronstädter in Petrograd wohnten und aufgrund der Nähe hatten die Kronstädter enge Beziehungen zu Petrograd. Für die Petrograder Arbeiter wurde die Versorgungslage immer schlechter, so dass ihre Rationen um die Hälfte gekürzt wurden. Viele Fabriken und Werke waren geschlossen worden und viele Familien hungerten. Versammlungen in den Betrieben (die ersten gab es am 22. Februar 1921) wurden von der Regierung unterdrückt. Zur gleichen Zeit wurde allerdings bekannt, dass Parteimitglieder in den Betrieben mit frischem Nachschub an Kleidern und Schuhen versorgt worden waren. Ebenso wurden ausländischen Kapitalisten Zugeständnisse gemacht, dem Proletariat hingegen nicht.
So wuchs der Unmut und es gab am 24. Februar 1921 erste Streiks in den Patronny-Munitionswerken, den Trubotschny- und Baltiyskiwerken und der Fabrik Laferne. Die ,Arbeiter- und Bauernregierung‘ setzte ein Verteidigungskomitee ein und beantworte die Demonstrationen der Arbeiter mit einem großen Militäraufgebot, das die Arbeiter zerstreute, in der Art wie der Zar die Forderungen der Arbeiter oft genug beantwortet hatte. Allerdings weigerte sich ein beträchtlicher Teil der Petrograder Garnison auf ihre Klassenbrüder zu schießen und wurde deswegen entwaffnet. Aus Empörung über ihre Behandlung nahmen die Arbeiter am nächsten Tag Kontakt zu den Arbeitern anderer Betriebe auf. Die erneuten Versuche Demonstrationen durch die Straßen Petrograds durchzuführen, wurden erneut durch bewaffnete Soldaten unterdrückt. Am 26. Februar wurde die Streikbewegung während der Sitzung des Petrograder Sowjet von Rednern angegriffen und die Arbeiter der Trubotschny-Werke ,selbstsüchtige Arbeitsschinder‘ und ,Gegenrevolutionäre‘ genannt, die andere zur Unzufriedenheit aufhetzen würden. Die Arbeiter der Trubotschny-Werke wurden ausgesperrt, die Fabrik geschlossen und somit war die Belegschaft ihrer Lebensmittelrationen beraubt, was dem Hungertod gleichkam. Und das von einer Regierung, die im Namen der Arbeiterklasse herrschte.
Dies führte zu noch mehr Verbitterung und Feindschaft der Arbeiter gegen die Partei der Bolschewiki und es tauchten erste Proklamationen in den Straßen Petrograds auf. Dort hieß es u.a. in einer am 27. Februar verklebten: ,Eine vollständige Änderung der Regierungspolitik ist notwendig. Zu allererst brauchen die Arbeiter und Bauern Freiheit. Sie wollen nicht nach den Dekreten der Bolschewiki leben, sie wollen selbst über sich verfügen. Genossen, bewahrt revolutionäre Ordnung! Verlangt entschieden und auf organisierte Weise: Freilassung aller verhafteten Sozialisten und parteilosen Arbeiter. Abschaffung des Kriegsrechts; Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit für alle Arbeitenden. Freie Wahl von Werkstatt- und Fabrikkomitees und von Arbeitergesellschafts- und Sowjetvertretern.‘
Die Regierung antwortete auf diese Forderungen der Petrograder Arbeiter mit Verhaftungen und Repression gegen mehrere Arbeiterorganisationen. Petrograd wurde am 28. Februar unter ,außerordentliches Kriegsrecht‘ gestellt und der ,Ausnahmezustand‘ verhängt. Große Mengen an Militär, vor allem regierungstreue und zuverlässige Truppen, wurden von der Front nach Petrograd abkommandiert und wurden zur Einschüchterung der Arbeiter eingesetzt.
Nach Bekanntwerden der Streiks in Kronstadt hatten die Matrosen von Kronstadt eine Delegation nach Petrograd geschickt, um sich aus erster Hand über die dortige Lage zu informieren. Aufgrund der Schilderung der Delegation verfassten und verabschiedeten die Besatzungen der Panzerschiffe ,Petropawlowsk‘ und ,Sewastopol‘ eine Protestresolution, in der sie sich mit den Forderungen der streikenden Petrograder Arbeiter solidarisierten. Von der bolschewistischen Parteipresse wurde behauptet, die Resolution atme den Geist der reaktionären Schwarzhunderter (Wie reaktionär bitte sind Forderungen nach Freiheit aller politischen Gefangenen der sozialistischen Parteien und Arbeiter, Rede- und Pressefreiheit für Arbeiter, Bauern, Anarchisten und andere Linke, Abschaffung der Bevormundung durch die Partei, Neuwahlen zu freien Sowjets ohne Vorherrschaft irgendwelcher Parteien, etc.? ). Am 1. März wurde eine öffentliche Versammlung einberufen, um über den Bericht der Delegation zu beraten. An dieser Versammlung nahmen über 16.000 Kronstädter teil und ebenfalls der Präsident der Russischen Sozialistischen Föderativrepublik, Kalinin, und der Kommissar der Ostseeflotte, Kusmin, welche auch zur versammelten Menge sprachen. Kusmin drohte den versammelten Arbeitern und Matrosen: ,Ich bin eurer Gnade ausgeliefert, ihr könnt mich erschießen, wenn ihr wollt. Aber wenn ihr es wagt, die Hand gegen die Regierung zu erheben, werden die Bolschewiki euch bis zum Äußersten bekämpfen.‘
Die Delegation erstattete Bericht über die Ereignisse und Lage in Petrograd. Die Reden der Parteioffiziellen machten keinen Eindruck auf die Versammelten und die Petropawlowsk-Resolution wurde einstimmig angenommen. Es wurde auch beschlossen, erneut Delegierte nach Petrograd zu schicken und die Petrograder aufzufordern, parteilose Delegierte nach Kronstadt zu entsenden. Die Delegation, die nach Petrograd abreiste, wurde verhaftet und über ihr weiteres Schicksal ist bis heute nichts bekannt.“ (Red Devil, Die Kronstadt-Rebellion. Alle Macht den Sowjets, nicht den Parteien!, Bibliothek des Widerstandes, Lübeck Januar 2001, S. 4-7.)
Von einigen Formulierungen, die Red Devil heute auch nicht mehr verwenden würde, wie zum Beispiel der positive Verweis auf „politische Rechte“, welche nur von einem Staat garantiert werden können, mal abgesehen, war das eine gute Analyse.
Analysieren wir die von den KronstädterInnen beschlossene Resolution auf der Versammlung der Mannschaften der ersten und zweiten Brigade der Schlachtschiffe vom 1. März 1921 etwas genauer. Deshalb hier ihr vollständiger Wortlaut:
„Nachdem wir den Bericht der Vertreter der Mannschaften gehört haben, die von der Vollversammlung der Schiffsmannschaften nach Petrograd entsandt worden waren, um sich über die Lage in Petrograd Klarheit zu verschaffen, haben wir beschlossen:
1. Angesichts der Tatsache, dass die bestehenden Sowjets nicht den Willen der Arbeiter und Bauern zum Ausdruck bringen, unverzüglich Neuwahlen zu den Sowjets unter den Bedingungen geheimer Stimmabgabe und freier vorhergehender Wahlagitation für alle Arbeiter und Bauern durchzuführen.
2. Rede- und Pressefreiheit für Arbeiter und Bauern, Anarchisten und linkssozialistische Parteien.
3. Versammlungsfreiheit, Freiheit der Gewerkschaften und Bauernvereinigungen.
4. Spätestens bis zum 10. März 1921 eine nichtparteigebundene Konferenz von Arbeitern, Rotarmisten und Matrosen aus den Städten Petrograd und Kronstadt sowie aus dem Petrograder Gouvernement einzuberufen.
5. Alle politischen Gefangenen, die sozialistische Parteien angehören, zu befreien ebenso wie alle Arbeiter und Bauern, Rotarmisten und Matrosen, die in Verbindung mit Arbeiter- und Bauernbewegungen eingesperrt wurden.
6. Eine Kommission zur Überprüfung der Prozessakten aller in Gefängnissen und Konzentrationslagern Eingeschlossenen zu wählen.
7. Jegliche Politischen Abteilungen abzuschaffen, da nicht eine einzige Partei Privilegien für die Propagierung ihrer Ideen beanspruchen und vom Staat zu diesem Zweck Geld erhalten darf. An ihre Stelle sollen von den örtlichen Organisationen gewählte Kultur- und Bildungskommissionen treten, für die Mittel vom Staat bewilligt werden müssen.
8. Unverzüglich alle Kontrollabteilungen [gegen den Schleichhandel] abzuschaffen.
9. Gleiche Lebensmittelrationen für alle Werktätigen mit Ausnahme derjenigen in gesundheitsschädlichen Berufen.
10. Die kommunistischen Kampfgruppen in allen Truppeneinheiten sowie auch die verschiedenen kommunistischen Aufsichtsdienste in den Fabriken und Betrieben aufzulösen. Sollten aber solche Aufsichtsdienste und Kampfgruppen benötigt werden, können sie beim Militär aus den Kompanien bestimmt und in den Fabriken und Betrieben nach Gutdünken der Arbeiter eingesetzt werden.
11. Den Bauern das volle Recht zu geben, über ihr eigenes Land so zu verfügen, wie sie es wünschen, und auch Vieh zu besitzen, sofern sie es mit eigenen Kräften halten, d.h. sich keiner Lohnarbeit bedienen.
12. Wir ersuchen alle Militäreinheiten ebenso wie unsere Kameraden, die Kadetten, sich mit unserer Resolution solidarisch zu erklären.
13. Wir fordern, dass alle Resolutionen durch die Presse weitesgehend bekanntgemacht werden.
14. Ein mobiles Kontrollbüro einzusetzen.
15. Freie handwerkliche Produktion auf der Basis eigener Hände Arbeit zu gestatten [d.h. ohne Lohnarbeit].
Die Resolution wurde von der Brigadenversammlung einstimmig bei zwei Enthaltungen angenommen Der Vorsitzende der Brigadenversammlung: Petritschenkow, Sekretär: Perepelkin. Die Resolution wurde von der überwältigenden Mehrheit der ganzen Kronstädter Garnison angenommen. Der Vorsitzende: Vasil’ev. Zusammen mit dem Genossen Kusmin stimmt Vasil’ev gegen die Resolution.“ (Mitteilungen des Provisorischen Revolutionskomitees der Matrosen, Rotarmisten und Arbeiter der Stadt Kronstadt, Nr. 1 , vom 3. März 1921, in Anhang von Freies Russland, Die Wahrheit über Kronstadt, in: Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur, Band 2: Kronstadt, Herausgegeben von Fritz Kool und Erwin Oberländer, Juni 1972, Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München, S. 343/344. )
Diese Resolution richtete sich also gegen die bolschewistische Parteidiktatur und gegen ihre Repression gegen ArbeiterInnen, BäuerInnen und linkssozialistische Parteien. Sie war ein Bekenntnis zur proletarischen Selbstorganisation, ohne sich grundsätzlich gegen den Staat zu wenden. Das letztere war eine Inkonsequenz. Gleichzeitig richtete sich die Resolution gegen den bolschewistischen „Kriegskommunismus“ (siehe zu diesem das gleichnamige Kapitel im Text Der BürgerInnen- und imperialistische Interventionskrieg (1918-1921)), der auf Zwangswegnahme von Nahrungsmitteln bei den BäuerInnen beruhte. Indem die Kronstädter Matrosen für die kleinbäuerliche Agrarwirtschaft ohne Lohnarbeit eintraten, brachten sie auch bäuerlichen Protest gegen den bolschewistischen Staatskapitalismus zum Ausdruck. „Viele von ihnen, die selbst in den Dörfern gewesen waren, hatten sich an Ort und Stelle davon überzeugt, wie grausam die bolschewistische Regierung mit den Bauern umgeht, wie feindlich sie dem Dorf gegenüber eingestellt ist. Zu Hause in den Heimatorten und Dörfern sahen die Matrosen, dass die Bolschewiki den Bauern mit Gewalt das letzte Stück Brot und Vieh wegnahmen und mitleidlos mit allen umsprangen, die sich ihnen nicht widerspruchslos folgen. Abgerechnet wird mit Hilfe von Erschießungen, Verhaftungen und Sondermaßnahmen… Auf Grund ihrer eigenen Erfahrung und auf Grund der Erfahrung ihrer Verwandten überzeugten sich die Kronstadter Matrosen, dass die Bolschewiki, die sich selbst als Bauernmacht bezeichnen, in Wirklichkeit die allerschlimmsten Feinde der Bauern sind. Feinde der Bauern und der Arbeiter.“ (Freies Russland, Die Wahrheit über Kronstadt, in: Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur, Band 2: Kronstadt, a.a.O., S. 303.)
Doch das Programm einer kleinbäuerlichen Agrarproduktion ohne Lohnarbeit war utopisch. Denn die kleine Warenproduktion beruht auf Konkurrenz, welche schließlich zur sozialökonomischen Ausdifferenzierung führen muss. Einige bäuerliche Besitztümer werden größer, während andere KleinbäuerInnen der Konkurrenz nicht standhalten können, und daraus folgt schließlich die Lohnarbeit der ruinierten KleinbäuerInnen. Die kleinbürgerliche Warenproduktion ist die Grundlage der Lohnarbeit, aber nicht die Alternative zu ihr.
Die kleinbürgerlichen Wirtschaftsforderungen des Kronstädter Aufstandes war Ausdruck der sozialökonomischen Rückständigkeit Russlands, in der eine klassenlose Gesellschaft, die sowohl auf der Verneinung der staatskapitalistischen Diktatur der Bolschewiki als auch der kleinbürgerlichen Warenproduktion beruhen musste, objektiv nicht möglich war. Durchsetzen konnte sich nur die staatskapitalistische Zwangskollektivierung der Landwirtschaft oder die weitere Entwicklung der kleinbäuerlichen Agrarwirtschaft zum Privatkapitalismus auf dem Lande. Auch wenn die Kronstädter Resolution die kapitalistische Lohnarbeit ablehnte, die Forderung nach kleinbäuerlicher Freiheit konnte objektiv nur privatkapitalistische Verhältnisse in der Landwirtschaft reproduzieren. Das Wirtschaftsprogramm des Kronstädter Aufstandes war deshalb utopisch-sozialrevolutionär, weil die objektiven sozialökonomischen Bedingungen der kleinen Agrarwirtschaften keine reale soziale Revolution erlaubten. Außerdem waren die Kronstädter Matrosen selbst noch nicht sozial vom KleinbäuerInnentum emanzipiert. So kamen im Kronstädter Aufstand sowohl proletarisch-sozialrevolutionäre als auch kleinbäuerliche, und damit objektiv privatkapitalistische Forderungen zum Ausdruck.
Mit der propagandistischen Bündelung von kleinbäuerlich-privatkapitalistischen und proletarisch-sozialrevolutionären Forderungen, kam ja auch der staatskapitalistische Bolschewismus an die Macht, aber er konnte weder die kleinbäuerlich-privatkapitalistischen Forderungen noch die proletarisch-sozialrevolutionären Forderungen erfüllen, sondern sich nur taktisch zu beiden verhalten und letztendlich beide durch bürokratischen Terror ersticken. Indem die Kronstädter Matrosen im März 1921 sowohl kleinbäuerliche als auch proletarisch-sozialrevolutionäre Forderungen stellten, forderten sie nicht mehr aber auch nicht weniger vom Bolschewismus, dass dieser seine eigenen Versprechungen vom Oktober 1917 erfüllen solle. Doch dass konnte der Bolschewismus als staatskapitalistische Kraft nicht tun. Damit war das Programm des Kronstädter Aufstandes eine Reproduktion der sozialrevolutionären Illusionen, welche die Matrosen im Oktober 1917 zu Verbündeten des Bolschewismus gemacht hatten. „Ihr Programm war unter den gegebenen Umständen zweifellos utopisch, da sie die Losungen des Oktobers proklamierten, die sich in der Praxis als nicht durchführbar erwiesen hatten. Ihnen war eine Wirtschaftsordnung auf kleinster Stufenleiter vertraut geworden; der Aufbau einer modernen Industrie vertrug sich nicht mit der Kombination von Tauschhandel und lokaler Autonomie. Ihr Programm war durchaus nicht ,ausgesprochen bäuerlicher Art‘, wie Schapiro meint (Leonard Schapiro, The Orgin of the communist Autocracy. Political opposition in the Soviet State. First phase 1917-1922, London 1955, S. 306), aber unter den spezifischen Bedingungen Kronstadts war das Verständnis für Bauernwünsche leichter aufzubringen als etwa bei den Arbeitern Petrograds, die weniger Gelegenheit hatten, die Möglichkeiten des primitivsten Handelsverkehrs auszunutzen als die Bewohner des soviel kleineren Hafenstadt.“ (Einführung zu Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur, Band 2: Kronstadt, a.a.O., S. 289/90.)
Als der Bolschewismus sich konterrevolutionär gegen den Kronstädter Aufstand stellte, erhoben die Matrosen die Parole von der „dritten Revolution“ gegen den Bolschewismus: „Als die Arbeiterklasse die Oktoberrevolution zum Erfolg führte, hoffte sie, ihre Befreiung zu erlangen. Das Ergebnis aber war eine noch größere Versklavung der menschlichen Persönlichkeit.
Die Macht des Polizeimonarchismus ging in die Hände der kommunistischen Eindringlinge über, die den Werktätigen statt der Freiheit ständige Furcht vor der Folterkammer der Tscheka brachten, deren Greueltaten die der Gendarmerieverwaltung des zaristischen Regimes um ein Vielfaches übertrafen.
Nach den vielen Kämpfen und Leiden erntete der Werktätige Sowjetrusslands nur Bajonettstiche, Kugeln und grobe Anschnauzer der Opricniki der Tscheka. Das ruhmreiche Wappen des Arbeiterstaates – Hammer und Sichel – ersetzte die kommunistische Regierung in Wirklichkeit durch Bajonett und Kerkergitter, um der neuen Bürokratie, den kommunistischen Kommissaren und Beamten, ein ruhiges, sorgloses Leben zu sichern.
Am schändlichsten und verbrecherischsten ist jedoch die moralische Versklavung durch die Kommunisten: sie machten auch vor der inneren Einstellung der Werktätigen nicht halt, sondern zwangen sie, nur so zu denken wie sie selbst.
Mit Hilfe der staatlichen Gewerkschaften fesselten sie die Arbeiter an ihre Werkbänke und machten so die Arbeit nicht zur Freude, sondern zu einer neuen Sklaverei. Auf die Proteste der Bauern, die in spontanen Aufständen zum Ausdruck kamen, und der Arbeiter, die schon durch die Lebensbedingungen selbst zu Streiks gezwungen waren, antworteten sie mit Massenerschießungen und mit einer Blutgier, die sie sich nicht erst bei den zaristischen Generälen auszuborgen brauchten.
Das werktätige Russland, das als erstes die rote Fahne der Befreiung der Arbeit erhoben hatte, wurde vollkommen überflutet vom Blut derjenigen, die zum Ruhm der kommunistischen Herrschaft zu Tode gequält wurden. In diesem Meer von Blut ertränkten die Kommunisten alle großen und leuchtenden Verheißungen und Losungen der Arbeiterrevolution.
Immer klarer zeichnete sich das ab was jetzt offenbar wurde, nämlich dass die RKP nicht, wie sie vorgab, für die Werktätigen eintritt; die Interessen des werktätigen Volkes sind ihr fremd, und einmal an die Macht gelangt, kennt sie nur die Sorge, sie nicht wieder zu verlieren, und deshalb sind alle Mittel erlaubt: Verleumdung, Gewalt, Betrug, Mord und Rache an den Familienangehörigen der Aufständischen. (…)
Im Kampf mit der Unterdrückung und Gewalt flammte hier und dort im Land das Feuer des Aufstandes auf. Arbeiterstreiks brachen aus, aber die bolschewistischen Spitzel schliefen nicht und ergriffen alle Maßnahmen, um die unvermeidliche Dritte Revolution zu verhüten und zu unterdrücken. (…)
Das aufständische arbeitende Volk hat begriffen, dass man im Kampf mit den Kommunisten und gegen die von ihnen wieder hergestellte Leibeigenschaft nicht auf halbem Wege stehenbleiben kann. Man muss bis zum Ende gehen. Sie täuschen Konzessionen vor: sie beseitigen die Kontrollabteilungen [gegen den Schleichhandel] im Petrograder Gouvernement, und zehn Millionen Goldrubel werden für den Kauf von Lebensmitteln im Ausland bewilligt. Man täusche sich aber nicht: hinter diesem Köder verbirgt sich die eiserne Faust des Herrn, des Diktators, der nur die Wiederherstellung der Ruhe abwartet, um sich seine Zugeständnisse hundertfach vergelten zu lassen. (…)
Hier in Kronstadt wurde der Grundstein zur dritten Revolution gelegt, die die letzten Ketten des Arbeiters zerbrechen und ihm den neuen und breiten Weg des sozialistischen Aufbaus eröffnen wird. Diese neue Revolution wird die arbeitenden Massen in Ost und West aufrütteln. Sie wird das Beispiel eines neuen sozialistischen Aufbaues im Gegensatz zum mechanischen und regierungsmäßigen bolschewistischen ‚Aufbau‘ geben. (…) Die Arbeiter und Bauern gehen unaufhaltsam voran. Sie lassen hinter sich die Konstituante mit ihrem bürgerlichen Regime und die kommunistische Parteidiktatur mit ihrer Tscheka und ihrem Staatskapitalismus, der die Schlinge um den Hals der Arbeiter warf und sie zu erwürgen drohte. Die nunmehr vollzogene Änderung gibt den arbeitenden Massen endlich die Möglichkeit, frei gewählte Räte zu verwirklichen, die ohne gewaltsamen Druck einer Partei funktionieren. Diese Änderung wird ihnen auch die Möglichkeit geben, die verstaatlichten Gewerkschaften in freie Organisationen der Arbeiter, Bauern und Intellektuellen zu verwandeln …“ (Leitartikel Wofür wir kämpfen der Mitteilungen des Provisorischen Revolutionskomitees der Matrosen, Rotarmisten und Arbeiter der Stadt Kronstadt, Nr. 6, vom 3. März 1921, vom 8. März 1921, a.a.O., S. 386-388.)
Die ökonomische Herrschaftsform der bolschewistischen Partei- und Staatsbürokratie wird hier ganz klar als staatskapitalistisch analysiert. In Kronstadt entwickelte sich im März 1921 also jene Verschmelzung von Klasseninstinkt mit der materialistischen Analyse zum revolutionären Massenbewusstsein, das revolutionäre Proletariat stieß mit dem bolschewistischen Staatskapitalismus zusammen. Das Bündnis zwischen Bolschewiki und Kronstädter Matrosen aus dem Jahre 1917 war zerbrochen. Die Kronstädter Matrosen waren neben einigen AnarchistInnen die ersten Kräfte der internationalen Revolution, welche den konterrevolutionären Charakter des Bolschewismus aussprachen, die westeuropäischen RätekommunistInnen folgten ihnen. Die proletarischen RevolutionärInnen in Ost und West begannen das taktische Verhältnis, welches die Partei Lenins und Trotzkis zur proletarischen Selbstorganisation einnahm, zu verstehen. So analysierte die GIK in ihren Thesen über den Bolschewismus: „Indem die Bolschewiki die Räte vorwiegend als Aufstandsorgane betrachteten, statt als die Organe der Selbstverwaltung der proletarischen Klasse zeigen sie um ein übriges, dass es sich für sie in den Räten nur um ein Werkzeug handelt, mit dessen Hilfe ihre Partei die Macht an sich zieht. Praktisch hat der Bolschewismus das nicht nur mit der Organisierung des Sowjetstaates nach der Machteroberung allgemein bewiesen, sondern auch im speziellen Fall der blutigen Niederschlagung der Kronstadtrebellion. Die bäuerlich-kapitalistischen Forderungen dieses Aufstandes wurden durch die NEP-Politik erfüllt, seine proletarisch-demokratischen aber in Strömen von Arbeiterblut erstickt.“ (Gruppe Internationaler Kommunisten Hollands, Thesen über den Bolschewismus, a.a.O., S. 31.)
Für Partei-„KommunistInnen“ ist es undenkbar, dass sie ihren kalten und heißen Krieg gegen die proletarische Selbstorganisation jemals einstellen werden – im Gegensatz dazu war und ist ihnen eine friedliche Koexistenz mit der privatkapitalistischen Reaktion vorübergehend oder auch langfristig möglich. So verwirklichten die Bolschewiki die kleinbäuerlichen Forderungen des Kronstädter Aufstandes zwischen 1921 und 1928 durch die Neue Ökonomische Politik (NEP) mit einer vorübergehenden Reproduktion des Privatkapitalismus in der Landwirtschaft als Folgeerscheinung.
Die Bolschewiki verwirklichten also vorübergehend die kleinbäuerlichen Forderungen des Kronstädter Aufstandes, bevor sie Ende der 1920er und zu Beginn der 1930er Kurs auf die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und die staatskapitalistische Industrialisierung nahmen. Aber ob nun die Bolschewiki oder die Kronstädter Matrosen sich zum Fürsprecher bäuerlicher Forderungen machten, objektiv konnte das nur zur Reproduktion privatkapitalistischer Strukturen in der Landwirtschaft führen. Die bäuerlichen Forderungen des Kronstädter Aufstandes waren also objektiv privatkapitalistisch-reaktionär, trotz der subjektiven Ablehnung der Lohnarbeit. Ein Industrieproletariat, das noch nicht die Mehrheit der Bevölkerung ausmacht und sich auch noch nicht praktisch und geistig vom KleinbäuerInnentum befreit hat, ist weder objektiv noch subjektiv zu seiner sozialrevolutionären Selbstaufhebung fähig. Die bäuerlichen Forderungen der Kronstädter waren subjektiv utopisch-revolutionär, aber objektiv reaktionär. Doch die privatkapitalistische NEP und später die staatskapitalistische Zwangskollektivierung der Landwirtschaft der Bolschewiki waren noch nicht mal subjektiv utopisch-revolutionär, sondern die reale Konterrevolution. Die Kronstädter konnten im Jahre 1921 die kleine Warenproduktion objektiv nicht aufheben, und deshalb auch nicht die Lohnarbeit. Ihre utopische Lösung dieses Dilemmas war ein Ja zur kleinbürgerlichen Warenproduktion und ein Nein zur Lohnarbeit und staatskapitalistischer Zwangskollektiverung der Landwirtschaft. Auch wenn diese Forderung objektiv nicht durchsetzbar war, so blieb sie dennoch subjektiv die einzige sozialrevolutionäre Forderung für die russische Landwirtschaft. Eine harte Nuss für die materialistische Dialektik: Auch die einzig subjektiv sozialrevolutionäre Forderung in der Landwirtschaft war objektiv reaktionär. Nur DogmatikerInnen können den Kronstädter Matrosen für ihre utopisch-revolutionären Losungen verantwortlich machen, wo objektiv keine reale Revolution machbar war.
In der Tat blieb den Kronstädter Matrosen nichts anderes übrig, als das, was sie schon vier Jahre an der Seite der Bolschewiki getan hatten: Für revolutionäre Illusionen zu kämpfen, die allerdings einen harten materialistischen Kern besaßen: Ihre Interessen und Bedürfnisse, die sie sowohl von der privatkapitalistischen als auch von der staatskapitalistischen Konterrevolution unterschied. Auch im Todeskampf mit dem Staatskapitalismus distanzierten sie sich von der privatkapitalistischen Konterrevolution: „Die Kronstädter Matrosen und die schwielenbedeckten Hände der Arbeiter haben den Kommunisten das Steuer aus den Händen gerissen und sich selbst ans Steuerrad gestellt.
Kraftvoll und sicher lenken sie das Schiff der Sowjetmacht nach Petrograd, von wo sich die Herrschaft der schwieligen Hände über das ganze leidgeprüfte Russland ausdehnen soll.
Aber seid auf der Hut, Genossen.
Verstärkt eure Wachsamkeit: eure klippenreiche Strecke führt euch ins offene Fahrwasser.
Eine einzige unbedachte Drehung des Steuerrades, und das Schiff mit seiner euch so teuren Ladung – mit der Ladung des sozialen Aufbaus – kann auf einen Felsen auflaufen.
Habt ein wachsames Auge auf die Kommandobrücke, Genossen, denn schon schleichen sich die Feinde an sie heran. Ein einziger Fehler, und sie entreißen euch das Steuerrad, und das sowjetische Schiff sinkt unter dem schadenfrohen Gelächter der zaristischen Lakaien und der Handlanger der Bourgeoisie.
Genossen, ihr feiert in diesem Augenblick einen großen und unblutigen Sieg über die Diktatur der Kommunisten, und mit euch feiern auch eure Feinde.
Aber die Motive der Freude sind bei euch und bei ihnen völlig verschieden.
Ihr seid beseelt von dem heißen Verlangen, die echte Macht der Sowjets wiederherzustellen, und getragen von der edlen Hoffnung, dem Arbeiter freie Arbeit und dem Bauern das Recht zu verschaffen, über sein Land und die Früchte seiner Arbeit frei zu verfügen; sie aber hegen die Hoffnung, die zaristische Peitsche und die Privilegierung der Generäle zu erneuern.
Eure Interessen sind verschieden, und daher sind sie keine Weggenossen für euch.
Ihr musstet die Macht der Kommunisten brechen, um friedlichen Aufbau und schöpferische Arbeit leisten zu können; sie aber brauchen den Sturz der Kommunisten, um die Arbeiter und Bauern zu versklaven.
Ihr sucht Freiheit, sie wollen euch erneut die Ketten der Knechtschaft anlegen.
Seid auf der Hut. Lasst keine Wölfe im Schafspelz nahe an die Kommandobrücke heran. („Herren“oder „Genossen“, in: Mitteilungen des Provisorischen Revolutionskomitees der Matrosen, Rotarmisten und Arbeiter der Stadt Kronstadt, Nr. 4 vom 6. März 1921, a.a.O., S. 359/360.)
Der Kronstädter Aufstand war also subjektiv für die proletarische Selbstorganisation, für die Sowjetmacht, für das Weitertreiben der russischen Revolution über seine bolschewistisch-staatskapitalistische Etappe hinaus. Allerdings erlaubten die objektiven Bedingungen eine solche „dritte Revolution“ nicht. Deshalb kann es auch kaum verwundern, dass sich die Unzufriedenheit der russischen ArbeiterInnen und besonders der BäuerInnen bereits an anderen Orten in demokratisch-parlamentarischen und antisowjetischen Losungen ausdrückte. Die Warnungen der Kronstädter Matrosen vor der privatkapitalistischen Konterrevolution waren also alles andere als übertrieben.
So tauchten bereits bei den streikenden ArbeiterInnen Petrograds parlamentarisch-demokratische und antisowjetische Parolen auf. So hieß es in einer „Proklamation der sozialistischen Nevski-Arbeiter“ vom 28. Februar 1921: „Wir wissen, wer die Verfassungsgebende Versammlung fürchtet. Das sind diejenigen, die dann nicht mehr plündern können, sondern sich vielmehr von den gewählten Volksvertretern für ihren Betrug, ihre Plünderei und alle Verbrechen verantworten müssen.
Fort mit den verhassten Kommunisten! Nieder mit der Sowjetmacht! Es lebe die Verfassungsgebende Versammlung des ganzen Volkes!“ (Zitiert nach Freies Russland, Die Wahrheit über Kronstadt, in: Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur, Band 2: Kronstadt, a.a.O., S. 302.)
Doch die Kronstädter stellten sich den demokratischen Illusionen, die auch weniger klare und revolutionsmüde gewordene Teile des Proletariats erfassten, entgegen: „Nicht eine Konstituierende Versammlung, sondern Sowjets sind das Bollwerk der Werktätigen.“ (Mitteilungen des Provisorischen Revolutionskomitees der Matrosen, Rotarmisten und Arbeiter der Stadt Kronstadt, Nr. 11 vom 6. März 1921, a.a.O., S. 447.) Ihre Hauptlosung „Alle Macht den Sowjets, nicht den Parteien!“ richtete sich sowohl gegen die bolschewistische Parteidiktatur als auch gegen die demokratische Parteiendiktatur, in dem das Übel zwar nicht monopolisiert, sondern pluralisiert, aber eben noch immer da ist: Die politische Herrschaft der Parteien als Ausdruck der sozialen Diktatur des Kapitals.
Allerdings muss daran erinnert werden, dass wir die Sowjets der russischen Revolution als Mischformen aus proletarischen Klassenkampforganen und einer kleinbürgerlichen „ArbeiterInnendemokratie“ bezeichneten. Der Kronstädter Aufstand reproduzierte objektiv teilweise die kleinbürgerliche Sowjetdemokratie vor der Oktoberrevolution, doch die Sowjetdemokratie war in dieser Zeit nur eine kleinbürgerliche Ergänzung der großbürgerlichen Demokratie. Die Forderung nach Freiheit für die kleinbürgerlich-demokratischen Parteien (Menschewiki und „SozialrevolutionärInnen“) entsprach objektiv nicht den Interessen des russischen Proletariats. Auch dem Kronstädter Aufstand fehlte ein grundsätzlich antipolitisches Bewusstsein.
Doch diese Kritik an der kleinbürgerlichen „ArbeiterInnendemokratie“ und deren tendenzieller Reproduktion durch die Kronstädter Matrosen hindert uns nicht daran, den Kronstädter Aufstand gegen alle Lügen des Parteimarxismus zu verteidigen. All die TrotzkistInnen, welche die staatskapitalistische Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes als „tragische Notwendigkeit“ verteidigen, aber andere ArbeiterInnenaufstände im Staatskapitalismus (1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und 1956, 1970, 1976 und 1980 in Polen), die subjektiv viel stärkere proletarische Illusionen in „Marktwirtschaft und Demokratie“ zum Ausdruck brachten, als „beginnende politische Revolutionen gegen den Stalinismus“ abfeiern, geben sich als erbärmliche ZentristInnen erkennen, die hilflos zwischen staatkapitalistischer und privatkapitalistischer Konterrevolution schwanken. Ihre Verteidigung des „ArbeiterInnenstaates“, war staatskapitalistisch-reaktionär, und ihr Eintreten für die „Arbeiterdemokratie“ stärkte die privatkapitalistisch-demokratischen Illusionen in der ArbeiterInnenklasse. Die trotzkistischen Herren und Damen sind ein Ausdruck des konterrevolutionären Charakters des Parteimarxismus.
Anders die Kronstädter Matrosen, sie lösten sich aus der reaktionären Umklammerung des Bolschewismus und gaben subjektiv alles –ihr Leben– in einem Kampf, der objektiv nicht gewinnbar war. Sie stellten sich bewusst in die Tradition der russischen Revolution um diese weiterzutreiben. Dies geht ganz klar aus dem Artikel Die Etappen der Revolution hervor:
„Vier Jahre sind bereits vergangen, seitdem das dreihundert Jahre alte Joch der Autokratie stürzte.
Das unterjochte, von den Gendarmen und der Polizei Nikolaus‘ bevormundete Volk stieß den verfaulten Thron des Zaren um.
Ganz Russland, ob reich oder arm, freute sich über die Freiheit.
Die Kapitalisten und Gutsbesitzer waren zufrieden, weil sie endlich, ohne mit dem Zaren und seinen Helfershelfern teilen zu müssen, noch mehr in ihre Taschen sammeln konnten, indem sie wie früher den Arbeiter und Bauern um die Früchte ihrer Arbeit betrogen.
Sie hofften sich fest in den Rücken der Werktätigen einzunisten, nachdem sie letztere in der Verfassungsgebenden Versammlung, auf die Kerenski langsam aber sicher zusteuerte, übers Ohr gehauen hatte.
Die Bourgeoisie war überzeugt, dass es ihr auch weiterhin gelingen werde, den Bauern und Arbeiter zu rupfen.
Unerfahrene Bauern und Arbeiter strebten ebenfalls nach der Konstituante, ohne zu wissen, was sie dem Werktätigen verhieß.
Die Losung der Konstituierenden Versammlung beherrschte ganz Russland.
Das war nur vorübergehend. Aber der Bauer war wieder am Ausgangspunkt angelangt und wartete, wann die Konstituante wohl die Landfrage entscheiden werde; der Arbeiter jedoch wurde nach Kräften ausgebeutet. Wie zuvor hatte er kein Recht auf die Früchte seiner Arbeit.
Schließlich begriffen aber die Werktätigen Russlands, dass sie der Hörigkeit der Gutsbesitzer und Kapitalisten nicht entronnen waren und dass ihnen eine neue Form der Sklaverei –die Herrschaft der Bourgeoisie – bevorstand.
Die Geduld hatte ein Ende, und im vereinten Ansturm der Matrosen, der Armee, der Arbeiter und Bauern wurde die Bourgeoisie im Oktober 1917 zurückgeschlagen.
Es schien, als ob das werktätige Volk nun in seine Rechte eintreten werde.
Aber die kommunistische Partei, voll von Egoisten, ergriff die Macht, nachdem sie die Bauern und Arbeiter, in deren Namen sie handelte, beiseite geschoben hatte. Sie beschloss, das Land mit Hilfe ihrer Kommissare nach dem Vorbild des von den Gutsbesitzern beherrschten Russland zu regieren.
Drei Jahre lang stöhnten die Werktätigen Sowjetrusslands in den Folterkammern der Tscheka. Überall herrschte ein Kommunist über Arbeiter und Bauern.
Eine neue kommunistische Knechtschaft entstand. Der Bauer wurde zum Knecht auf den Sovchosen, der Arbeiter zum Lohnempfänger einer staatlichen Fabrik. Die schaffende Intelligenz verschwand. Wer zu protestieren zu versuchte, wurde von der Tscheka gefoltert. Mit demjenigen, der sich auch weiterhin auflehnte, machte man kurzen Prozess… Sie wurden an die Wand gestellt.
Die Atmosphäre war zum Ersticken. Sowjetrussland verwandelte sich in ein allrussisches Zuchthaus.
Arbeiterunruhen und Bauernaufstände bezeugten jedoch, dass die Geduld zu Ende ging. Ein Aufstand der Werktätigen rückte näher. Es kam der Zeitpunkt, an dem die Herrschaft der Kommissare gestürzt werden musste.
Als aufmerksame Wächter über die Errungenschaften der sozialen Revolution verschlief Kronstadt diesen Zeitpunkt nicht. Schon während der Februar- und der Oktoberrevolution hatte es in den ersten Reihen gestanden. Jetzt erhob es als erstes das Banner des Aufstandes zur Dritten Revolution der Werktätigen.
Die Autokratie stürzte. Die Konstituante versank ins Reich der Legenden.
Auch die Herrschaft der Kommissare wird zusammenbrechen.
Die Zeit der echten Macht der Werktätigen, der Macht der Sowjets ist angebrochen.
Ihr seid als Opfer des großen Kampfes gefallen.
Eure unvergesslichen Namen werden im edlen Andenken des werktätigen Volkes, für dessen Glück ihr im Kampf umgekommen seid, nicht vergehen.
Inmitten der Schlacht habt ihr nicht an euch selbst gedacht
Als Kämpfer für eine Idee seid ihr nicht von der Bande der Tyrannen zurückgewichen.
Ihr seid die ersten Opfer der Dritten Revolution, der Revolution der Arbeit; ihr habt ein Beispiel für unerschütterliche Standhaftigkeit im Kampf für das eigene Recht gegeben.
Unter der Losung: ,Siegen oder sterben‘ seid ihr angetreten. Ihr seid gefallen.
Wir, die wir leben, werden den Kampf zu Ende führen.
Wir geloben über euren frischen Gräbern, zu siegen oder an eurer Seite begraben zu werden.
Schon ist die Morgenröte der Großen Befreiung der Werktätigen angebrochen.“ (Die Etappen der Revolution, in: Mitteilungen des Provisorischen Revolutionskomitees der Matrosen, Rotarmisten und Arbeiter der Stadt Kronstadt, Nr. 11 vom 6. März 1921, a.a.O., S. 440-442.)
Doch außerhalb Kronstadts drückte sich der antagonistische Klassengegensatz zwischen bolschewistischer Partei/Staatsbürokratie auf der einen Seite und den bäuerlichen und proletarischen auf der anderen bei letzteren vorwiegend in bürgerlich-demokratischen Forderungen aus. „Freies Russland“ schrieb über diese Isolation der Kronstädter Matrosen in ihrem Kampf für die proletarische Selbstorganisation: „Die Kronstädter hatten eine klare Vorstellung vom Charakter ihres Aufstandes. Sie ließen sich nicht dadurch irremachen, dass in demselben Petrograd die Arbeiter die Konstituante forderten, dass in der Umgebung Moskaus und Petroggrads der Feuerschein der Aufstände unter der Losung einer neuen Konstituante aufloderte und dass im fernen Sibirien diese Losung schon verwirklicht worden war… (Anmerkungen der Buchherausgeber: Nach dem Zusammenbruch Kolcaks im April 1920 hatte sich in Transbaikalgebiet eine unabhängige demokratische Fernostrepublik konstituiert. Es wurden Wahlen zu einer Konstituierenden Versammlung abgehalten, die im Januar 1921 eine Verfassung verabschiedete, die sich bürgerlich-demokratischer Formen bediente.“ (Freies Russland, Die Wahrheit über Kronstadt, in: Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur, Band 2: Kronstadt, a.a.O., S. 332.)
Wie gesagt, objektiv war diese „dritte Revolution“ nicht durchführbar, objektiv war nur der Sieg der staatskapitalistischen oder der privatkapitalistischen Reaktion möglich, wie auch der deutsch-amerikanische Rätekommunist Paul Mattick erkannte: „Die Rebellionen richteten sich nicht gegen das Sowjetsystem, sondern gegen die bolschewistische Partei-Diktatur. Für alle Missstände der sozialen Situation wurde die Regierung verantwortlich gemacht; aber die Regierung war durch das System der Räte nicht länger beeinflussbar. Um dieses System demokratisch zu nutzen, musste man das bolschewistische Regierungsmonopol sprengen. Das Verlangen nach ,freien Sowjets‘ bedeutete Sowjets, die frei waren von der bolschewistischen Bevormundung, was praktisch nur heißen konnte: Sowjets ohne Bolschewisten. Es bedeutete politische Freiheit für alle Organisationen und Tendenzen, die an der russischen Revolution teilgenommen hatten, also auch für die Anhänger der bürgerlichen Demokratie, die nicht über den Kapitalismus hinausstrebten. Kurz: die Rebellen forderten die Rückkehr zu den Zuständen, die vor der Machtübernahme der Bolschewiki bestanden hatten, d.h. die Zurücknahme der bolschewistischen Revolution.
Es war unvermeidlich, dass der Kronstadter Aufstand den Beifall aller Feinde des Bolschewismus fand und damit auch den der Reaktion und der Bourgeoisie. Das erlaubte den Bolschewiki, den Aufstand in die Kategorie ,Gegenrevolution‘ einzureihen, was aber nichts an der Tatsache ändert, dass die Aufständischen der Macht der Partei die der Sowjets entgegensetzten. Die Kronstadter Rebellen hatten nicht die Absicht, die zerfallene bürgerliche Demokratie erneut aufzurichten, sondern versuchten, die Selbstbestimmung der Sowjets zurückzugewinnen. Allerdings blieb objektiv nach wie vor die Alternative bestehen: entweder liberaler Kapitalismus oder autoritärer Staatskapitalismus, da die besonderen Umstände Russlands, der Widerspruch zwischen den bäuerlichen und den proletarischen Interessen und die überwiegende Masse der Landbevölkerung jedes demokratische Regime zum Kapitalismus zu führen drohte.
Der Kronstadter Aufstand überzeugte Lenin jedoch davon, dass die Partei den autoritären Bogen überspannt hatte, und er übernahm einige der wirtschaftlichen Forderungen der Aufständischen, um auf politischem Gebiet zugleich die Zügel noch straffer anzuziehen. Mit der Neuen Ökonomischen Politik begann ein teilweiser Rückzug zur kapitalistischen Marktwirtschaft, um die Bauern auszusöhnen und die Städte besser zu versorgen.“ (Paul Mattick, Der Leninismus und die Arbeiterbewegung des Westens, in: Anton Pannekoek, Paul Mattick u. a., Marxistischer Antileninismus, a.a.O., S. 190-191.)
Wir müssen also feststellen, dass die Kronstädter Matrosen subjektiv eine sozialrevolutionäre Kraft waren, die aber objektiv keine Chance hatte im Kampf zwischen privat- und staatskapitalistischer Reaktion ihre Vorstellungen einer „dritten Revolution“ zu verwirklichen. So wie sie vorher in ihrem Bündnis mit den Bolschewiki objektiv der staatskapitalistischen Reaktion dienten, was sie subjektiv eindeutig nicht taten, sondern wie alle SozialrevolutionärInnen sich über den wirklichen Charakter des Bolschewismus täuschten, diente objektiv der antibolschewistische Aufstand der Kronstädter Matrosen im März 1921 der privatkapitalistischen Reaktion, auch wenn sie subjektiv für die soziale Revolution eintraten.
Aus heutiger Sicht hätte das richtige Verhalten von SozialrevolutionärInnen außerhalb von Kronstadt aber innerhalb Russlands darin bestanden, die bolschewistische Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes als staatskapitalistische Konterrevolution gegen das Proletariat zu geißeln und bloßzustellen. Dies wäre natürlich nur in konspirativer Organisation gegen die Tscheka möglich gewesen. Gleichzeitig hätten RevolutionärInnen auch die Tagträume einer bevorstehenden „dritten Revolution“ zurückweisen, und die Perspektive einer längerfristigen revolutionären Opposition gegen Privat- und Staatskapitalismus aufzeigen müssen.
Nun, uns sind keine RevolutionärInnen bekannt, die eine solche Position damals in Russland bezogen haben. Wir dürfen auch nicht unsere heutigen Analysen zum Maßstab des Verhaltens damaliger RevolutionärInnen machen, weil die Dialektik des Kronstädter Aufstandes sehr kompliziert war. Außerhalb von Kronstadt traten AnarchistInnen entweder revolutionsromantisch für die „dritte Revolution“, oder „realistische“ Linksbolschewiken für die konterrevolutionäre Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes ein, auch wenn sie den Kronstädtern teilweise inhaltlich recht gaben, weil sie die Unmöglichkeit dieser „dritten Revolution“ erkannten, und die staatskapitalistische Reaktion, die sie noch nicht völlig durchschauten, einer privatkapitalistischen Reaktion (sei diese nun monarchistisch oder demokratisch) vorzogen. Die RevolutionsromantikerInnen dienten objektiv der privatkapitalistischen Reaktion, standen uns aber näher als die Linksbolschewiken, die subjektiv glaubten, die privatkapitalistische Konterrevolution revolutionär zu bekämpfen, aber in Wirklichkeit der staatskapitalistischen Reaktion dabei halfen, mit der privatkapitalistischen und sozialrevolutionären Opposition fertig zu werden. Die Linksbolschewiken handelten im März 1921 objektiv konterrevolutionär, aber nicht wenige von ihnen bekamen einen immer besseren Einblick in den staatskapitalistischen Charakter der Sowjetunion und bezahlten ihre revolutionäre Opposition in den 1930er Jahren mit ihrem Leben. Unser heutiger revolutionärer Realismus war also damals aufgespalten in anarchistische Revolutionsromantik und einen marxistischen konterrevolutionären „Realismus“. Beide waren Ausdruck des Dilemmas, dass in Sowjetrussland im Jahre 1921 eine soziale Revolution objektiv nicht durchführbar war. Aber subjektiv stehen wir den anarchistischen RevolutionsromantikerInnen näher als den marxistischen „RealistInnen“ der staatskapitalistischen Konterrevolution.
Ein bekanntes Beispiel für konterrevolutionären „Realismus“: Der russisch-französische Anarchist Viktor Serge, der während der Revolution sich „kritisch“ den Bolschewiki anschloss und bei der „Kommunistischen“ Internationale arbeitete, versuchte während des Kronstädter Aufstandes zwischen den bolschewistischen Konterrevolution und dem letzten Aufbäumen der subjektiv sozialrevolutionären KronstädterInnen zu vermitteln, trug aber nach dem unvermeidlichen Scheitern dieser Versuche auch die staatkapitalistische Konterrevolution gegen die Kronstädter Matrosen „kritisch“ mit. So schrieb er in seinen Erinnerungen: „Der Gedanke einer Vermittlung bildete sich im Verlauf der Unterhaltungen, die ich jeden Abend mit amerikanischen Anarchisten hatte, die kürzlich angekommen waren: Emma Goldman, Alexander Bergman und dem jungen Sekretär der Union der russischen Arbeiter in den Vereinigten Staaten, Perkus. Ich sprach mit einigen Genossen in der Partei darüber. Sie antworteten mir: ,Das wird nichts helfen, und wir sind durch die Parteidisziplin gebunden, und du auch.‘ Ich erregte mich: ,Man kann aus einer Partei austreten!‘ Sie erwiderten mir kalt und traurig: ,Ein Bolschewik verlässt seine Partei nicht. Und du, wo willst du denn hin? Wir sind trotz allem die einzigen.‘ Die Gruppe der anarchistischen Vermittlung versammelte sich bei meinem Schwiegervater, Alexander Russakow. Ich wohnte dieser Zusammenkunft nicht bei, denn es war beschlossen worden, nur die Anarchisten sollten die Initiative ergreifen, wegen des Einflusses, den sie im Schoße des Kronstädter Sowjets hatten, und nur die amerikanischen Anarchisten sollten gegenüber der Sowjetregierung die Verantwortung übernehmen. Emma Goldman und Alexander Bergman wurden von Sinowjew sehr freundlich empfangen und konnten das Machtwort einer immer noch bedeutenden Fraktion des internationalen Proletariats aussprechen. Ihre Vermittlung scheiterte total. Sinowjew bot ihnen im Gegenteil alle Erleichterungen an, damit sie in einem Sonderwaggon ganz Russland besichtigen könnten. ,Sehen Sie selbst und Sie werden verstehen…‘
Von den russischen ,Vermittlern‘ wurde die Mehrzahl verhaftet, ich ausgenommen. Ich verdanke diese Nachsicht der Sympathie Sinowjews, Sorins und einiger anderer, und auch meiner Eigenschaft als Aktiver der französischen Arbeiterbewegung.
Nach langem Zögern und mit unaussprechlicher Herzensangst erklärten wir, meine kommunistischen Freunde und ich, uns schließlich für die Partei. Hier die Gründe. Kronstadt war im Recht. Kronstadt begann eine neue befreiende Revolution, die der Volksdemokratie. ,Die III. Revolution!‘, sagten einige Anarchisten, die mit kindlichen Illusionen vollgestopft waren. Allein, das Land war völlig erschöpft, die Produktion stand fast völlig still, es gab keine Reserven irgendwelcher Art mehr, nicht einmal Reserven an Nervenstärke in der Seele der Massen. Die Elite des Proletariats, die in den Kämpfen mit dem Zarenregime geprägt worden war, war buchstäblich dezimiert. Die Partei, die durch den Zulauf derer, die sich mit der Macht ausgesöhnt hatten, angewachsen war, flößte wenig Vertrauen ein. Von den anderen Parteien waren nur noch winzig kleine Kader von mehr als zweifelhafter Fähigkeit vorhanden. Sie konnten sich natürlich im Laufe von ein paar Wochen neu bilden, aber nur dadurch, dass sie Verbitterte, Unzufriedene und Aufgebrachte aufnahmen – und nicht mehr wie 1917 Enthusiasten der jungen Revolution. Der sowjetischen Demokratie fehlte es an Schwung, an Köpfen, an Organisation, und hinter sich hatte sie nur ausgehungerte und verzweifelte Massen.
Die Konterrevolution des Volkes übersetzte die Forderung freigewählter Sowjets durch die der ,Sowjets ohne Kommunisten‘. Wenn die Diktatur fiel, so bedeutete das in Kürze das Chaos, und durch das Chaos hindurch das Vordringen der Bauern, das Massaker der Kommunisten, die Rückkehr der Emigranten und am Ende durch die Macht der Umstände eine andere, antiproletarische Diktatur. Die Nachrichten aus Stockholm und Tallinn bestätigten, dass die Emigranten dieselben Aussichten in Betracht zogen. Nebenbei gesagt, diese Nachrichten bestärkten die Führer in ihrem Willen, Kronstadt schnell zu erledigen, koste es, was es wolle. Wir überlegten nicht ins Blaue hinein. Wir wussten, dass es allein im europäischen Russland an die fünfzig Herde bäuerlicher Aufstände gab. Im Süden Moskaus rief der rechtssozialrevolutionäre Lehrer Antonow die Abschaffung des Sowjetregimes und die Wiederherstellung der Verfassungsversammlung aus; er verfügte in der Gegend von Tambow über eine vollständig organisierte Armee von mehreren Zehntausenden von Bauern. Er hatte mit den Weißen verhandelt. (Tuchatschewski schlug diese Vendee um die Mitte des Jahres 1921 nieder.) Unter diesen Bedingungen musste die Partei nachgeben und einräumen, dass das wirtschaftliche Regime unerträglich sei. Aber sie konnte nicht die Macht aufgeben. ,Trotz ihrer Fehler und Missbräuche‘, habe ich geschrieben, ,ist die bolschewistische Partei in diesem Augenblick die große organisierte, intelligente und sichere Macht, zu der wir trotz allem Vertrauen haben müssen. Die Revolution hat kein anderes Gerüst, und ist nicht mehr fähig, sich von Grund auf zu erneuern.‘
Das Politbüro beschloss mit Kronstadt zu verhandeln, dann ein Ultimatum zu stellen und als letztes die Festung und die eingefrorenen Panzerschiffe der Flotte anzugreifen. In Wirklichkeit kam es nicht zu Verhandlungen. Ein in aufreizenden Wendungen abgefasstes Ultimatum, von Lenin und Trotzki unterzeichnet, wurde angeschlagen: ,Ergebt Euch oder Ihr werdet zusammengeknallt wie Kaninchen.‘ (…)
Anfang März eröffnete die Rote Armee auf dem Eis den Angriff gegen Kronstadt. Die Artillerie der Schiffe und der Forts feuerte auf die Angreifer. Das Eis brach an verschiedenen Stellen unter der Infanterie ein, die, weiß gekleidet, in mehreren Wellen vorging. Riesige Schollen kenterten und stürzten ihre menschliche Last in die schwarzen Fluten. Das war der Anfang des schlimmsten Brudermordes.
Der X. Parteikongress, der inzwischen in Moskau zusammengetreten war, hob auf Lenins Antrag das Regime der Requisationen auf, das heißt den ,Kriegskommunismus‘, und verkündete die neue Wirtschaftspolitik; alle wirtschaftlichen Forderungen Kronstadts waren erfüllt! Damit wies der Kongress die Opposition zurecht. Die Arbeiteropposition wurde als ,anarcho-syndikalistische Abweichung‘ bezeichnet, die ,mit der Partei unvereinbar sei‘, obgleich sie nicht das geringste mit dem Anarchismus zu tun hatte und nur die Leitung der Produktion durch die Gewerkschaften verlangte (ein großer Schritt zur Arbeiterdemokratie). Der Kongress machte seine Mitglieder und unter ihnen viele Oppositionelle – gegen Kronstadt mobil! Der ehemalige Kronstädter Matrose Dybenko, von der äußersten Linken, und der Führer der Gruppe der ,Demokratischen Zentralisation‘ (eine linksbolschewistische Oppositionsströmung, Anmerkung von Nelke), Bubnow, Schriftsteller und Soldat, kämpften auf dem Eis gegen Aufständische, denen sie innerlich recht gaben. Tuchatschewski bereitete den letzten Angriff vor. (…)
Es galt, vor dem Tauwetter zu Ende zu kommen. Der abschließende Angriff wurde am 17. März von Tuchatschewski eingeleitet und durch einen kühnen Sieg auf dem Eis beendet. Da die Kronstädter Matrosen keine guten Offiziere hatten, wussten sie ihre Artillerie nicht richtig zu verwerten. (Es gab unter ihnen tatsächlich einen ehemaligen Unteroffizier namens Koslowski, aber er leistete nichts besonderes und hatte keine Autorität.) Ein Teil der Rebellen entkam nach Finnland, andere verteidigten sich von Fort zu Fort und von Straße zu Straße. Sie ließen sich erschießen und riefen: ,Es lebe die Weltrevolution!‘ Andere starben mit dem Ruf: ,Es lebe die kommunistische Internationale!‘ Hunderte von Gefangenen wurden nach Petrograd gebracht und der Tscheka übergeben, die sie, noch Monate später, in kleinen Partien dumm und verbrecherisch erschoss. Diese Besiegten gehörten mit Leib und Seele der Revolution, sie hatten das Leiden und den Willen des russischen Volkes ausgedrückt, die NEP (die neue Wirtschaftspolitik) gab ihnen recht, sie waren schließlich Gefangene des Bürgerkrieges, und die Regierung hatte ihnen seit langem die Amnestie versprochen, wenn sie sich ihr anschlössen. Dserschinski leitete dieses lange Massaker oder ließ es geschehen.
Die Führer des Kronstädter Aufstandes waren noch tags zuvor Unbekannte gewesen, die von der Pike auf gedient hatten. Einer von ihnen, Petritschenko, ist vielleicht noch am Leben: er floh nach Finnland. Ein anderer, Perepelkin, war mit einem meiner Freunde in Haft, den ich in dem alten Gefängnis in der Schpapalernaja-Straße besuchte, das so viele Revolutionäre von einst passiert hatten, unter ihnen auch Lenin und Trotzki. Aus seiner Zelle ließ uns Perpelkin, bevor er für immer verschwand, einen Bericht über die Ereignisse zukommen.
Düsterer 18. März! Die Morgenzeitungen waren mit flammenden Schlagzeilen erschienen, die den proletarischen Jahrestag der Pariser Kommune feierten. Und die Geschütze, die vor Kronstadt donnerten, ließen die Fenster dumpf erbeben. In den Büros des Smolny herrschte ein böses Unbehagen. Man vermied es miteinander zu sprechen, wenn man nicht gerade sehr eng miteinander befreundet war, und was man sich unter intimen Freunden sagte, war bitter. Nie erschien mir die weite Newalandschaft fahler und trostloser.“ (Victor Serge, Erinnerungen eines Revolutionärs, Edition Nautilus, Hamburg 1990, S. 147-151.)
Was Victor Serge erlebte, war der endgültige Übergang des Bolschewismus von einer kleinbürgerlich-radikalen zu einer staatskapitalistisch-reaktionären Strömung. Serge selbst schloss sich ab 1923 der trotzkistischen Linksopposition gegen den „Stalinismus“ an, wurde dafür verbannt, konnte aber durch internationale Solidarität Russland verlassen und dadurch der staatlichen Vernichtung der revolutionären Kräfte entgehen.
Durch Victor Serges Erinnerungen wird die opportunistische Inkonsequenz des Linksbolschewismus deutlich. Gefangen in einer mystischen Parteireligion folgten nicht wenige Linksbolschewiken während des Kronstädter Aufstandes Lenin und Trotzki in die staatskapitalistische Konterrevolution. Dadurch stärkten sie jene Macht, der schließlich auch sie zum Opfer fielen. Serge idealisierte diese linksbolschewistische Opposition total. Die „Arbeiteropposition“ war nichts anderes als die Opposition bolschewistischer GewerkschaftsbürokratInnen, welche gegen die vollständige Unterordnung der Gewerkschaften unter die bolschewistische Partei ankämpfte. Die proletarische Basis dieser Opposition war nichts anderes als Kanonenfutter im innerbürokratischen Machtkampf. Gewerkschaftliche Kontrolle über die Produktionsmittel mag vielleicht „ein großer Schritt zur Arbeiterdemokratie“ sein, aber mit proletarisch-revolutionärer Selbstorganisation die zur klassen- und staatenlosen Gesellschaft strebt, hat sie nichts zu tun. Die ArbeiterInnendemokratie und ihre Organe, Parteien und Gewerkschaften, sind ein Hauptfeind der proletarischen und klassenlosen Selbstorganisation. Doch zu dieser Erkenntnis konnte sich Serge nicht durchringen. So blieb er ein kleinbürgerlicher Radikaler mit starken staatskapitalistisch-reaktionären Tendenzen.
Natürlich hatte Serge darin recht, die Möglichkeit einer drittem Revolution im rückständigen, bäuerlichen und durch den BürgerInnenkrieg völlig zerstörten und zerrüttelten Russland abzustreiten. Die AnarchistInnen, die davon träumten waren die Don Quichotes der Revolution, hoffnungslose Romantiker. Aber aus sozialrevolutionärer Sicht ist ein Revolutionsromantiker ein Genosse, während ein „kritischer, aber dennoch realistischer“ Anhänger der Konterrevolution auf der anderen Seite der Barrikade steht! Auch muss gesagt werden, dass jene AnarchistInnen, die für eine „dritte Revolution“ eintraten, doch noch realistischer waren als jene AnarchistInnen und Serge, die versuchten zwischen den Kronstädter Matrosen und dem staatskapitalistischen Regime zu vermitteln. Zwischen Revolution und Konterrevolution gibt es nichts zu vermitteln!
Dass AnarchistInnen in der Regel keine Kritik an den kleinbürgerlich-ökonomischen Forderungen der Kronstädter Matrosen äußern, liegt am ebenfalls kleinbürgerlichen Charakter des Anarchismus. Die anarchistische Idealisierung der kleinbäuerlichen Machno-Bewegung passt da ganz gut in das Bild. Der anarchistische Historiker und ehemalige Mitkämpfer der Machno-Bewegung, Arschinoff, musste zugeben, dass diese Bewegung zwischen 1917 und 1921 keine gesellschaftlichen Veränderungen zuwege brachte. Er gab aber den ständigen Kampf gegen ausländische Intervention, Weiße und Bolschewiki die Schuld daran. Unserer Meinung nach lag dies aber am kleinbäuerlichen Charakter dieser Bewegung. KleinbäuerInnen sind allein auf sich gestellt nicht in der Lage die Warenproduktion zu überwinden, sie neigen zur kleinbürgerlich-individuellen oder kleinbürgerlich-kollektiven Warenproduktion am Rande der kapitalistischen Warenproduktion.
Dass Serge sich übrigens auch positiv auf die kleinbäuerlich-ökonomischen Forderungen der Kronstädter Matrosen bezieht, zeigt dass seine ganz private Ideologieproduktion eine reaktionäre Synthese aus Anarchismus und Marxismus darstellte. Bei seinem Vermittlungsversuch zwischen Revolution und Konterrevolution hegte er die sentimentalen Vorurteile des Anarchismus, dass es vordergründig auf Ideen, Gefühle und Moral ankommt, und nicht auf Interessen und Bedürfnisse, die letztendlich die Ideen, Gefühle und Moral der handelnden Subjekte bestimmen. Und da wo die Interessen und Bedürfnisse von subjektiv revolutionären Matrosen und denen von objektiv konterrevolutionären staatskapitalistischen BürokratInnen gegenüberstanden, musste dieser Konflikt mit aller tödlichen Konsequenz ausgefochten werden. Das ist die grausame Dialektik des Kronstädter Aufstandes. Beide Seiten kämpften aus objektiv-subjektiver Notwendigkeit. Die Kronstädter Matrosen kämpften für die proletarische Selbstorganisation, die staatskapitalistische Bürokratie für deren endgültige Zerschlagung. Die Kronstädter Matrosen waren weder objektiv noch subjektiv in der Lage den Übergang von der proletarischen zur klassenlosen Selbstorganisation zu erkämpfen, denn dass hätte die Zerschlagung des bolschewistischen Staates und die Aufhebung der Warenproduktion erfordert. Der einen Notwendigkeit der sozialen Revolution, der Zerschlagung des bolschewistischen Staatsapparates konnten sie auf Grund des Kräfteverhältnisses objektiv nicht entsprechen, und die zweite Notwendigkeit, die Überwindung der Warenproduktion, war weder objektiv möglich, noch stellten sie es sich subjektiv zum Ziel. Die Notwendigkeiten einer siegreichen Konterrevolution verlangten von den Bolschewiki die Zerschlagung der proletarischen Selbstorganisation und die vorübergehende Förderung kleinbürgerlich-privatkapitalistische Interessen, um die bäuerliche Mehrheit zu beruhigen. Deshalb auf der einen Seite die blutige Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes und erbarmungslose Vernichtung auch der schon geschlagenen Matrosen, und auf der anderen Seite die „Neue Ökonomische Politik“ (NEP) als vorübergehendes Nachgeben gegenüber den bäuerlichen und anderen kleinbürgerlichen Schichten. Die objektiven Bedingungen sorgten dafür, dass sich die Notwendigkeiten der staatskapitalistischen Konterrevolution gegen den proletarischen Klassenkampf durchsetzten
Serge begriff die innere Notwendigkeit und die grausame Dialektik des Kronstädter Aufstandes nicht, und fiel in typisch anarchistische Sentimentalität, wo eine materialistische Analyse notwendig gewesen wäre. Er leugnete die revolutionäre Notwendigkeit des Sturzes des bolschewistischen Regimes, und benutzte die kleinbürgerlich-ökonomischen Vorstellungen der Kronstädter Matrosen, die ja von der bolschewistischen Bürokratie durch die NEP quasi verwirklicht wurden, um sie moralisch zu rechtfertigen, nachdem er sich zuvor „kritisch“ auf die Seite ihrer Mörder gestellt hatte. Hier verschmolz typische anarchistische Sentimentalität mit dem marxistischen Pseudo-„Realismus“, Hinweise auf „objektive Bedingungen“ für die Rechtfertigung der eigenen konterrevolutionären Subjektivität zu benutzen.
Die Kronstädter Matrosen kämpften für ihre Interessen und Bedürfnisse unter objektiven Bedingungen, in denen sie nicht siegen konnten. Sie verkörperten eine subjektive Voraussetzung der sozialen Revolution, nämlich jene, die für ArbeiterInnen darin besteht, kompromisslos für die eigenen Bedürfnisse und Interessen zu kämpfen, auch wenn die objektiven Bedingungen noch so schlecht sind. Denn wer unter schlechten objektiven Bedingungen nicht kämpft, wird auch unter besseren objektiven Bedingungen nicht siegen. Die Matrosen von Kronstadt fielen als heroisches Vorbild für alle sozialrevolutionären ArbeiterInnen und als Zerstörer der revolutionären Phrasen des Parteimarxismus, der bei der Niederschlagung ihres Aufstandes gezwungen war seine konterrevolutionäre Fratze zu zeigen. Überlieferte marxistisch-staatskapitalistische Ideologie und die irrationale Parteidisziplin hinderten viele damalige Linksbolschewiken daran, auf der richtigen Seite der Barrikade zu stehen. Nach dem Kronstädter Aufstand ist die Weiterexistenz eines marxistischen Kommunismus eine Unmöglichkeit geworden. Der Kommunismus muss seine marxistische Vergangenheit abstreifen, denn die staatskapitalistischen Tendenzen des Marxismus schlugen im März 1921 sichtbar in Antikommunismus um, der sich selbst und andere mit kommunistischen Phrasen betrog und noch immer betrügt.
Während der sowjetische Partei-„Kommunismus“ seine Dekadenz als sozialrevolutionäre Theoriebildung im März 1921 offensichtlich zeigte, war er auch als Ideologie der staatskapitalistischen Sozialreaktion ab den 1970er Jahren überlebt. In dieser Zeit begann nämlich die Arbeitsproduktivität im sowjetischen Staatskapitalismus zu sinken. Die ökonomische Dekadenz durchdrang auch die Ideologieproduktion. Gorbatschows Perestroika ging in die privatkapitalistische Lösung der staatskapitalistischen Krise über. Doch die Privatisierung des Kapitals in den nachsowjetischen Nationalstaaten brachte dem dortigen Proletariat kein Friede, Freude, Eierkuchen. Nur die soziale Revolution führt aus dem Elend der kapitalistischen Zivilisationsbarberei heraus. Ein nachmarxistischer und nachanarchistischer Kommunismus als Theoriegebäude dieser sozialen Revolution war und ist notwendig. Der blutgetränkte Boden von Kronstadt war sein Geburtsort.

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Neue Broschüre: Die revolutionäre Nachkriegskrise in Deutschland (1918-1923) https://swiderstand.blackblogs.org/2014/11/25/neue-broschuere-die-revolutionaere-nachkriegskrise-in-deutschland-1918-1923/ https://swiderstand.blackblogs.org/2014/11/25/neue-broschuere-die-revolutionaere-nachkriegskrise-in-deutschland-1918-1923/#respond Mon, 24 Nov 2014 22:12:38 +0000 http://swiderstand.blogsport.de/?p=97 Unsere neue Broschüre: „Die revolutionäre Nachkriegskrise in Deutschland (1918-1923)“ (ca. 122 Seiten) von Soziale Befreiung (Hg.) ist da. Die Broschüre könnt Ihr für 5-€ (inkl. Porto) hier über Onlinemarktplatz für Bücher booklooker.de bestellen.

Inhalt

Einleitung
1. Das deutsche Kaiserreich
2. Marxismus und Anarchismus vor dem Ersten Weltkrieg
3. Die weltgeschichtliche Periode zwischen 1914 und 19451
4. Die Novemberrevolution
5. Die Formierung der revolutionären und konterrevolutionären Kräfte
6. Die Januarkämpfe in Berlin
7. Die Bremer „Räterepublik“
8. Das Hamburger Rätesystem
9. Massenstreiks und bewaffnete Kämpfe
10. Generalstreik und Märzkämpfe in Berlin
11. Die Bayerische „Räterepublik“
12. Stärken und Schwächen der Rätebewegung von 1918/19
13. Die „K“PD gegen die „Ultralinken“
14. Der Kapp-Putsch
15. Die Rote Ruhrarmee
16. Die Herausbildung der FAUD (S), des Unionismus und der KAPD
17. Die Märzkämpfe von 1921
18. Die angeblich „revolutionäre Situation“ von 1923
19. Das geistige Erbe der revolutionären Nachkriegskrise

Die weltgeschichtliche Periode zwischen 1914 und 1945

Um die weltgeschichtliche Bedeutung der revolutionären Nachkriegskrise in Deutschland zu verstehen, ist es zum einen notwendig sie als Teil der europäischen Nachkriegskrise zu betrachten und zweitens erforderlich die letztgenannte im Rahmen der Periode zwischen 1914 und 1945 zu analysieren. Wir wollen dies in dieser Broschüre relativ kurzgefasst tun. Die interessierten LeserInnen seien auf die ausführlicheren Darstellungen dieser welthistorischen Periode in der Broschüre Klassenkämpfe in Griechenland (2008-2013), Soziale Befreiung, Bad Salzungen 2013, S. 10-18 und in dem Text Imperialistischer Krieg und proletarischer Klassenkampf in: Nelke, Schriften zum Klassenkampf III, 2014, S. 58-90 verwiesen. Während der erstgenannte Text sich stärker auf die sozialökonomischen Bedingungen dieser Periode konzentriert, legt die zweite Schrift mehr Wert auf die Schilderung der Klassenkämpfe in diesem Zeitraum.
Wie wir weiter oben schon ausführten, werden die objektiven Bedingungen einer revolutionären Situation stark von der weitgehend blinden Bewegung der Kapitalvermehrung bestimmt. Zur Kapitalvermehrung verwandelt der Kapitalist sein Geldkapital in produktives Kapital, indem er Produktionsmittel als sachliches produktives Kapital kauft und die menschlichen kleinbürgerlichen und proletarischen Arbeitskräfte anmietet. Die Arbeitskräfte sind im kapitalistischen Produktionsprozess nichts anderes als menschliches produktives Kapital, die mit Hilfe der Produktionsmittel das Warenkapital produzieren. Der Wert dieses Warenkapitals entspricht der durchschnittlichen gesellschaftlich notwendigen Herstellungszeit dieses Produktes. Allerdings wird der Preis einer Ware auch durch das Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Markt bestimmt, der Warenpreis ist also in der Regel höher oder niedriger als der Warenwert.
Bei der Produktion des Tauschwertes/des Preises des neuen Produktes, übertragen die Arbeitskräfte den Wert der Produktionsmittel auf die neuentstehende Ware. Gleichzeitig fügen sie während ihrer Arbeitszeit dem neuen Produkt Neuwert zu. In einer selbstreproduktiven Arbeitszeit produzieren sie einen Wert, der ihrem eigenen Lohn entspricht, während sie in einer Mehrarbeitszeit Mehrwert für die Bourgeoisie produzieren. Das Verhältnis zwischen den Löhnen und dem Mehrwert ist die Mehrwertrate, die in Prozenten angegeben wird. Sie ist die Ausbeutungsrate des Proletariats.
Für die Bourgeoisie dagegen ist die Profitrate, das Verhältnis zwischen Lohn- und Produktionsmittelkosten auf der einen und dem Mehrwert auf der anderen Seite wirklich praktisch wichtig. Außerdem verschwindet in der theoretischen Kategorie der Profitrate die kapitalistische Ausbeutung des Proletariats, während die für alle SozialrevolutionärInnen wichtige Kategorie der Mehrwertrate diese Ausbeutung offenbart. Durch die Erhöhung der Arbeitsproduktivität, bei der viele ursprüngliche Funktionen des menschlichen produktiven Kapitals zu Funktionen der sachlichen Produktionsmittel werden, steigen die Kosten für das sachliche produktive Kapital tendenziell relativ schneller als die Profitmasse. Die Folge ist ein tendenzieller Fall der Profitrate.
Zum tendenziellen Fall der Profitrate gibt es eine wichtige Gegentendenz und eine wichtige Kompensationsmöglichkeit. Die Gegentendenz ist die Erhöhung der Ausbeutung des Proletariats, was die Mehrwertrate anwachsen lässt. Doch die Erhöhung der Mehrwertrate trifft sowohl auf biosoziale Schranken als auch auf den klassenkämpferischen Widerstand des Proletariats. Der tendenzielle Fall der Profitrate führt also potenziell zu einer Verschärfung der Klassenkämpfe. Die Kompensationsmöglichkeit zum tendenziellen Fall der Profitrate ist die Erhöhung der Profitmasse. Ein größeres Kapital erzielt auch eine höhere Profitmasse. Die wachsende Konzentration und Zentralisation des Kapitals ist also eine wichtige Kompensation zum tendenziellen Fall der Profitrate. Sie setzt sich vor allem in der Konkurrenz durch. Größeres und ökonomisch potenteres Kapital frisst massenhaft kleineres und kriselndes. So verschärft der tendenzielle Fall der Profitrate die kapitalistischen Konkurrenzkämpfe.
Der tendenzielle Fall der Profitrate führt zu einem tendenziellen Fall der Kapitalvermehrungsrate. Auf den Warenmärkten verwandeln die KapitalistInnen ihr Warenkapital in Geldkapital zurück. Durch den vom Proletariat erzeugten Mehrwert haben sie jetzt mehr Geld als vor dem erloschenem Produktionsprozess. Ein Teil des Geldes setzt die herrschende kapitalistische Klasse in Konsumgüter für ihre biosoziale Reproduktion um, den anderen Teil investiert sie in noch mehr Produktionsmittel und in noch mehr lebendige Arbeitskräfte, also in die Kapitalvermehrung. Die Kapitalvermehrungsrate ist das Verhältnis zwischen dem bereits fungierendem Kapital und dem neu angelegten. Durch den tendenziellen Fall der Profitrate wird auch ein erheblicher Druck auf die Kapitalvermehrungsrate ausgeübt.
Es lassen sich grundsätzlich zwei verschiedene Perioden der Kapitalvermehrung unterscheiden: die beschleunigte Vermehrung des Kapitals und die strukturelle Kapitalvermehrungskrise. In beiden Perioden vermehrt sich das Kapital zyklisch, also durch Aufschwung und Krise hindurch. Doch während der strukturellen Kapitalvermehrungskrise sind die zyklischen Aufschwünge weniger expansiv wie in der Periode der beschleunigten Kapitalvermehrung. Dafür werden die Krisen häufiger und tiefer…
Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren besonders sowohl die USA als auch das deutsche Kaiserreich in einer Periode der beschleunigten Kapitalvermehrung. Doch die allgemeinen Tendenzen der Kapitalvermehrung ließ auch diese beiden Länder durch den tendenziellen Fall der Profitrate in den Zustand der strukturellen Kapitaluntervermehrungskrise hinabgleiten. Diesen Zustand hatte der westeuropäische und US-amerikanische Kapitalismus im Jahre 1914 erreicht (siehe über das Sinken der Kapitalvermehrungsrate in den USA: Nelke, Imperialistischer Krieg und proletarischer Klassenkampf, a.a.O., S. 58 und 61).
Die Periode der strukturellen Kapitaluntervermehrung zwischen 1914 und 1945 in Westeuropa und in den USA ist stark durch das Dreiecksverhältnis aus Krise, Krieg und Klassenkampf geprägt. 1914 befanden sich alle wichtigen Nationalkapitale in einer zyklischen Krise, welche zugleich auch die strukturelle Kapitaluntervermehrung zum Ausdruck brachte. Die Kapitalvermehrung ist sowohl durch die Nachfrage auf den Märken bestimmt, zugleich bestimmt aber auch die Kapitalvermehrung die Marktnachfrage. Sie bestimmt direkt die Nachfrage nach Produktionsmitteln und vermittelt über den Konsum der Bourgeoisie und des Proletariats auch indirekt die Nachfrage nach Konsumgütern. Eine sinkende Kapitalvermehrungsrate ist also mit einer sinkenden Nachfrage nach Produktionsmitteln, ein potenzieller Anstieg der Arbeitslosigkeit, ein Sinken der Profite und Löhne sowie eine sinkende Nachfrage nach Konsumgütern geprägt. Die Kapitale haben wachsende Schwierigkeiten auf den verschiedenen Märkten ihr Waren- in Geldkapital umzuwandeln und dadurch ihre Profite zu realisieren. Die strukturelle Kapitalvermehrungskrise ist dadurch die Quelle für zyklische Profitrealisationskrisen. Der Erste Weltkrieg erzeugte massenhaft eine dritte Nachfrage: die staatliche Nachfrage nach Zerstörungsmitteln. Dadurch kompensierten Rüstung und Erster Weltkrieg und deren Nachfrage nach Zerstörungsmitteln die rückgehende Nachfrage nach Produktionsmitteln und Konsumgütern.
Der Erste Weltkrieg hatte für die direkt teilnehmenden und die offiziell „neutralen Staaten“ unterschiedliche sozialökonomische Auswirkungen. Auch relativ und absolut schwache Nationalkapitale wie das spanische konnten sich sozialökonomisch durch den Ersten Weltkrieg stabilisieren, indem sie die kriegführenden Staaten mit notwendigen Waren versorgten. Aber die größte Kriegsgewinnerin waren die USA. Bevor sie 1917 in den Krieg direkt einstiegen, belieferten sie England und Frankreich mit Zerstörungs- und Lebensmitteln. Dadurch geriet das US-Nationalkapital aus einer Krise geradezu in ein Kriegsboom (siehe dazu ausführlicher: Nelke, Imperialistischer Krieg und proletarischer Klassenkampf, a.a.O., S. 78-80). Gleichzeitig wurden durch den Ersten Weltkrieg die europäischen Hauptkonkurrenten der USA nachhaltig geschwächt.
Bei den am Krieg teilnehmen europäischen Staaten profitierten zwar die privaten Einzelkapitale von dem imperialistischen Gemetzel, aber die Nationalkapitale gerieten durch den blutigen Sog auch in schwere Krisen. Fast alle kriegsteilnehmenden Staaten verschuldeten sich im Ersten Weltkrieg. Deutschland war der größte Verlierer des Ersten Weltkrieges, aber die privaten deutschen Einzelkapitale gehörten zu den Kriegsgewinnern. Die Profite in der deutschen Metallindustrie stiegen während des Ersten Weltkrieges um durchschnittlich 175 Prozent und in der Chemischen Industrie sogar um 200 Prozent. Die Konzentration und Zentralisation des Kapitals nahm in Deutschland während des blutigen Gemetzels ebenfalls enorm zu. Großunternehmen wie die AEG oder Siemens wurden noch größer, während viele kleinere Handwerksbetriebe und Unternehmen, welche Konsumgüter produzierten, massenhaft in eine prekäre Situation gerieten.
Durch den Ersten Weltkrieg konnte mit seiner starken Nachfrage nach Zerstörungsmitteln die zurückgehende Nachfrage nach Produktionsmitteln und Konsumgüter, die eine Folge der strukturellen Kapitalvermehrungskrise war, kompensiert werden. Der Erste Weltkrieg war auch eine Folge der Zunahme des Konkurrenzkampfes der Nationalkapitale, die letztendlich auch durch den tendenziellen Fall der Profit- und Kapitalvermehrungsraten verschärft wurde.
Gleichzeitig war der Erste Weltkrieg ein ultrarepressiver Klassenkampf von oben, den die Weltbourgeoisie gegen das globale Proletariat führte. Das Weltproletariat massakrierte sich gegenseitig für die Profite des Weltkapitals. Durch den nationalistischen Taumel zu Beginn des Krieges und durch die Integration des größten Teiles der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung in die Nationalkapitale gelang es der Bourgeoisie der kriegführenden Staaten den Klassenkampf des Proletariats zuerst einzudämmen. Die soziale Verelendung des Proletariats im Verlauf des blutigen Gemetzels führte aber zu dessen Ende wieder zu einer Verschärfung des Klassenkampfes und mündete schließlich in der europäischen revolutionären Nachkriegskrise (1917-1923).
Schauen wir uns den globalen Prozess, bei dem der Erste Weltkrieg zuerst zu einer Eindämmung des proletarischen Klassenkampfes und dann zu dessen Verschärfung führte, etwas genauer an. Besonders das letzte Jahrzehnt vor 1914 war global durch die Zunahme von Klassenkämpfen – besonders von Massenstreiks –geprägt. Große Massenstreiks entwickelten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Belgien und Schweden zur Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts. Das gewaltigste Beispiel des zunehmen Klassenkampfes war jedoch die russische Revolution von 1905 mit ihren dynamischen Massenstreiks. Auch die ArbeiterInnenräte entstanden in dieser Revolution zum ersten Mal. Die Sowjets (russisch für Räte) von 1905 waren viel unmittelbarer ein Ausdruck des selbstorganisierten Klassenkampfes als die während der europäischen revolutionären Nachkriegskrise, die leider von BerufspolitikerInnen der „ArbeiterInnenparteien“ weitgehend beherrscht wurden. Doch leider konnte diese Revolution von 1905 noch einmal vom Zarismus niedergeschlagen werden.
Der Erste Weltkrieg führte dann wie gesagt global zuerst zur Eindämmung und dann wieder zur Verschärfung des Klassenkampfes. Eröffnet wurde die europäische revolutionäre Nachkriegskrise im Jahre 1917 durch die Februarrevolution (nach dem alten russischen Kalender) in Russland. Das junge und sehr klassenkämpferische Proletariat Petrograds fegte den Zarismus hinweg. Es entstand eine Doppelherrschaft durch die in Räten organisierten ArbeiterInnen und Soldaten auf der einen und der provisorischen Regierung auf der anderen Seite. Die BerufspolitikerInnen der sozialdemokratisch-menschewistischen und der „sozialrevolutionären“ Partei saßen sowohl in der proprivatkapitalistischen Regierung als auch in den Räten. Durch diese Auspallancierung glaubten Menschewiki und „SozialrevolutionärInnen“ eine weitere Radikalisierung des Proletariats und der BäuerInnen verhindern zu können. Doch da die provisorische Regierung den imperialistischen Krieg weiterführte und unwillig und unfähig zu einer Bodenreform war, radikalisierten sich zwischen Februar und Oktober 1917 sowohl das Proletariat als auch die BäuerInnen.
Doch das Proletariat in Russland war sozial noch zu schwach und geistig unreif, um sich revolutionär aufheben zu können. Es war noch in der Minderheit, die kapitalistische Industrialisierung hatte erst begonnen. Außerdem hatten auch die klassenkämpferischsten ArbeiterInnen während der russischen Revolution noch kein klares antipolitisches Bewusstsein. So wurden die ArbeiterInnenräte von den PolitikerInnen der „ArbeiterInnenparteien“ dominiert. Doch die russische Bourgeoisie erwies sich ebenfalls 1917 als zu schwach, um sowohl mit der monarchistischen Konterrevolution als auch mit dem klassenkämpferischen Proletariat fertig zu werden. Diese soziale Schwäche von Bourgeoisie und Proletariat wurde von der Bürokratie des radikalen Flügels der russischen Sozialdemokratie, der bolschewistischen Partei, ausgenutzt. Durch eine geschickte Propaganda, die allen alles versprach, gelang es den bolschewistischen BerufspolitikerInnen in den Räten immer stärker zu werden, um dann im Oktober 1917 (ebenfalls nach dem alten russischen Kalender) die politische Macht zu erobern. Ihre Herrschaft nannte die bolschewistische Parteibürokratie demagogisch „Sowjetrepublik“. In Wirklichkeit begann die Ausschaltung der Räte gleich mit der politischen Machtübernahme durch den Bolschewismus. Die Oktoberrevolution war der Höhepunkt der antifeudal-antiprivatkapitalistischen Revolution und zugleich der Umschlagmoment in die staatskapitalistische Konterrevolution. Weil der staatskapitalistische Bolschewismus am besten den Bedürfnissen der Vermehrung des russischen/sowjetischen Nationalkapitals entsprach, konnte er sich auch im BürgerInnen- und imperialistischen Interventionskrieg (1918-1921) gegen alle sozialreaktionären und -revolutionären GegnerInnen durchsetzen und danach die Sowjetunion durch unvorstellbaren Terror zur Industrienation „gestalten“. Die russische Revolution wurde vom Bolschewismus im März 1921 durch die konterevolutionäre Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes beendet (siehe dazu ausführlicher: Nelke, Schriften zur russischen Revolution, Soziale Befreiung, Bad Salzungen 2012).
Neben dem russischen Zarismus und dem deutschen Kaiserreich überlebte auch die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie nicht den Ersten Weltkrieg und die revolutionäre Nachkriegskrise. Da besonders die so genannte „Ungarische Räterepublik“ im Jahre 1919 auch auf die damalige Situation in Deutschland einwirkte –besonders auf die „Bayerische Räterepublik“ (siehe das entsprechende Kapitel in dieser Broschüre) – wollen wir hier auf die Radikalisierung des Klassenkampfes in Ungarn infolge des Weltkrieges kurz eingehen. Eine ausführlichere Darstellung dazu können die interessierten LeserInnen in unserem Text Klassenkämpfe in Ungarn (1918-1989) in Schriften zum Klassenkampf II, Bad Salzungen 2013, S. 6-16 finden.
Im ungarischen Teil der Doppelmonarchie führten die verschärfte Ausbeutung und das wachsende soziale Elend des Proletariats ab 1915/16 zu einer Zuspitzung des Klassenkampfes. Auch in Ungarn stand die Sozialdemokratie auf der Seite der Kriegstreiber. Die sich anbahnende Niederlage im Krieg radikalisierten große Teile des Proletariats und des KleinbürgerInnentums. Mit Hilfe der Doppelmonarchie ließ sich 1918 nicht mehr erfolgreich der Klassenkampf von oben führen. Das Proletariat und große Teile des KleinbürgerInnentums konnten und wollten nicht mehr so leben wie bisher. So reifte objektiv eine revolutionäre Situation in Ungarn heran – ähnlich wie im deutschen Kaiserreich. Ausdruck der reifenden revolutionären Situation in Österreich-Ungarn und in Deutschland waren die Massenstreiks in diesen Ländern Januar/Februar 1918. Das ungarische politische Personal der Doppelmonarchie hatte sich im Verlauf des imperialistischen Gemetzels und des proletarischen Widerstandes dagegen zerschlissen. Nun mussten die ungarischen DemokratInnen – einschließlich der Sozialdemokratischen Partei Ungarns (SPU) – ran, um zu versuchen den Großgrundbesitz und das relativ schwach entwickelte Privatkapital in Ungarn zu retten.
Die wachsenden Widerstände gegen das Blutbad des Krieges führten im Oktober 1918 zu einer Zersetzung der ungarischen Armee. Am 25. Oktober bildete sich der Zentrale Soldatenrat, in welcher der radikalmarxistische Flügel der Sozialdemokratie eine große Rolle spielte. Ebenfalls am 25. Oktober wurde eine neue demokratisch-nationalistische Regierung unter Einschluss der SPU gebildet – um dem proletarischen und kleinbürgerlichen Widerstand zu brechen. Dieser demokratische Flügel produzierte auch viel Nationalismus zur Formierung eines von Österreich unabhängigen Ungarns. Mit dieser demokratisch-nationalistischen Politik konnte die neue Regierung unter dem liberalen Grafen Mihaly Karolyi sich aber nur eine kurze Zeit halten. Am 29. Oktober entwickelte sich in Budapest ein Generalstreik. In dem zuspitzenden Klassenkampf entwickelten sich auch in Ungarn die Organe der proletarischen Selbstorganisation während der revolutionären Nachkriegskrise, die ArbeiterInnenräte. Aber auch in diesem Land waren sie dominiert von den sozialdemokratischen BerufspolitikerInnen, was die Räte als Organe des selbstorganisierten Klassenkampfes stark deformierte. Die Doppelmonarchie konnte am 31. Oktober durch eine gewaltige proletarische Straßenbewegung in Budapest, die sich einen Tag davor zu entwickeln begann, gestürzt werden, doch nun übernahm es die Demokratie als neue Staatsform den Klassenkampf von oben zu organisieren. Am 3. November 1918 unterzeichneten Österreich und Ungarn einen Waffenstillstand mit der Entente und am 16. desselben Monats wurde die von Österreich unabhängige Ungarische Republik proklamiert.
Doch die ungarischen KleinbäuerInnen verlangten von der linksdemokratischen Regierung eine Bodenreform, die diese nicht durchführen wollte und konnte, da auch die ungarische Bourgeoisie zu stark sozial mit den GroßgrundbesitzerInnen verschmolzen war. Diese kleinbürgerliche Agrarbewegung verjagte die GroßgrundbesitzerInnen und setzte in der Landwirtschaft kleinbürgerlich-individuelles und kleinbürgerlich-kollektives Eigentum (Genossenschaften) durch. So entwickelte sich auf dem Land eine kleinbäuerliche Massenbewegung, die massenhaft nach einer kleinbürgerlichen Warenproduktion – einschließlich von Genossenschaften – strebte. Auch die lokalen ArbeiterInnenräte gingen zu Fabrikbesetzungen über. Durch die kleinbürgerliche Agrarbewegung und den proletarischen Klassenkampf war es der privatkapitalistischen Demokratie nicht möglich sich zu stabilisieren. Am 20. Februar 1919 entwickelten sich bewaffnete Kämpfe zwischen dem demokratischen Regime und dem klassenkämpferischen Proletariat.
Das nutzte die staatskapitalistische Sozialreaktion unter dem Firmenschild der „Ungarischen Räterepublik“. Am 21. November bildete sich die prostaatskapitalistische „Kommunistische“ Partei Ungarns („K“PU), welche nach bolschewistischem Vorbild die kleinbäuerliche und proletarische Unzufriedenheit mit der Demokratie auszunutzen begann. Doch ohne eine kurze staatskapitalistische Wende der zuvor proprivatkapitalistischen SPU wäre die so genannte „Räterepublik“ nie möglich gewesen. Zur kurzfristigen staatskapitalistischen Wende der ungarischen Sozialdemokratie kam es aufgrund des imperialistischen Druckes der Entente, welche die Aufgabe von Teilen Ungarns verlangte. Diesem Druck konnte das privatkapitalistisch-demokratische Regime nicht länger widerstehen und trat am 20. März 1919 zurück. Die SPU verschmolz mit der „K“PU unter Führung des „kommunistischen“ Bürokraten Bela Kun am 21. März. An diesem Tag wurde auch die „Ungarische Räterepublik“ als staatskapitalistisches Regime proklamiert. In dieser seltsamen „Räterepublik“ löste sich der Zentrale Arbeiterrat in Budapest selbst auf und übertrug die Legitimation an die sich formierende staatskapitalistische Regierung.
Die „ungarische Räterepublik“ war von Anfang an wesentlich radikaler staatskapitalistisch ausgerichtet gewesen als das bolschewistische Lenin/Trotzki-Regime. Während letzteres ein paar Monate zwischen Bourgeoisie und Proletariat schwankte und erst im Frühsommer 1918 die gesamte Großindustrie verstaatlichte, ging das ungarische Bela-Kun-Regime bereits ein paar Tage später nach seiner Bildung, am 27. März 1919, zur Verstaatlichung aller Banken und aller Industrie-, Bergbau- und Verkehrsunternehmen mit über 20 Beschäftigten über. Am 3. April 1919 folgte die Verstaatlichung aller Handelsunternehmen mit über 10 Beschäftigten. Noch krasser war der staatskapitalistische Kurs in der Landwirtschaft. Während der bolschewistische Oktoberstaatsstreich 1917 die durch die bäuerliche Agrarbewegung geschaffenen Fakten legitimierte, was bis zur Zwangskollektivierung ab Ende der 1920er Jahre zu einer kleinbäuerlichen Privatwirtschaft in Sowjetrussland führte, verstaatlichte die „Ungarische Räterepublik“ am 3. April 1919 alle landwirtschaftliche Betriebe über 100 Joch (57,5 Hektar). Dadurch vernichtete das staatskapitalistische Regime die GroßgrundbesitzerInnen und die Groß- und MittelbäuerInnen als soziale Schichten, ohne die KleinbäuerInnen und das Landproletariat für sich gewinnen zu können. Die Massen stützten das staatskapitalistische Regime nicht gegen die privatkapitalistische Sozialreaktion, als es am 1. August auch mit Hilfe rumänischer Truppen gestürzt wurde. Die ungarische Sozialdemokratie löste sich wieder vom Partei-„Kommunismus“. Der privatkapitalistisch-konterrevolutionäre Terror beendete die revolutionäre Nachkriegskrise in Ungarn.
Auch in Deutschland führte der Erste Weltkrieg zu einer verschärften Ausbeutung und Verelendung des Proletariats. Die ArbeiterInnenklasse wurde durch das imperialistische Blutbad völlig neu zusammengesetzt. Während viele deutsche männliche Arbeiter zum Wohle des Weltkapitalismus in Uniform gesteckt und gegen ihre ausländischen Klassenbrüder gehetzt wurden, nahmen viele Frauen und Jugendliche ihren Platz in den Fabriken ein, die jetzt größtenteils Zerstörungsmittel für das große Abschlachten von Menschen produzierten. Auch neue Industriekomplexe wie zum Beispiel die chemischen Werke in Leuna entstanden während des Krieges. Die Neuproletarisierung von Kräften, welche die Erfahrungen des Kriegselends machen mussten und nicht durch sozialdemokratische Tradition behindert wurden, trug entscheidend zur Radikalisierung des Klassenkampfes während des Krieges und zur revolutionären Nachkriegskrise bei.
Nachdem auch in Deutschland durch die Burgfriedenspolitik der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung –die deutsche Gewerkschaftsbewegung verzichtete während des Ersten Weltkrieges auf Streiks – zu Beginn des imperialistischen Gemetzels der Klassenkampf abflaute, wurde er ab 1916 verschärft. Es entwickelten sich mehrere wilde Streiks in der Rüstungsindustrie. Der Höhepunkt des Klassenkampfes in Deutschland während des Ersten Weltkrieges waren die unabhängig und gegen den Willen der Gewerkschaftsbürokratie organisierten Massenstreiks Ende Januar 1918 – mit den Berliner RüstungsarbeiterInnen als Schwerpunkt. Organisiert wurden sie von ehrenamtlichen GewerkschaftsfunktionärInnen um Richard Müller, die sich „Revolutionäre Obleute“ nannten. Die Streiks richteten sich pazifistisch – und nicht revolutionär – gegen den Krieg und waren auf eine Demokratisierung des Staates – statt dessen Zerschlagung – ausgerichtet. Richard Müller, der Zeit seines Lebens ein radikaler Sozialdemokrat blieb, sorgte auch dafür, dass SPD-PolitikerInnen in die Streikleitung gewählt wurden. Das war seine Tendenz der Anpassung an die konterrevolutionäre SPD, die er auch während der revolutionären Nachkriegskrise beibehielt.
Trotz all dieser Schwächen der Massenstreiks vom Januar/Februar 1918 gab dieser Klassenkampf einen Vorgeschmack auf die kommenden revolutionären Ereignisse (siehe ausführlicher zu Deutschland während des Ersten Weltkrieges: Nelke, Imperialistischer Krieg und proletarischer Klassenkampf, a.a.O., S. 63-71).
Bevor wir diese jedoch ausführlicher beschreiben, wollen wir noch die geistige Radikalisierung der marxistischen Intellektuellen in Deutschland während des Ersten Weltkrieges und die sozialökonomische Situation in diesem Land als die objektiven und die subjektiven Bedingungen der revolutionären Nachkriegskrise genauer unter die Lupe nehmen.
Die meisten radikalmarxistischen Intellektuellen waren vor dem Ersten Weltkrieg in der Sozialdemokratie desorganisiert. Sie waren objektiv das revolutionäre Feigenblatt einer sozialreformistischen – also sozialreaktionären! – Partei. Eine rühmliche Ausnahme war der spätere rätekommunistische Intellektuelle Franz Pfemfert, der schon vor 1914 das staatstragend-nationale Wesen der deutschen Sozialdemokratie in deutlichen Worten hart auseinandernahm. Seit Februar 1911 brachte er die radikale Zeitschrift Die Aktion heraus. Unsere heutigen antinationalen Positionen haben wir SozialrevolutionärInnen auch Pionieren wie Pfemfert zu verdanken. Auf die kapitalistische Zivilisationsbarbarei des Ersten Weltkrieges reagierte er mit der Gründung der kleinen, aber wichtigen Antinationalen Sozialistischen Partei (ASP).
Aber auch innerhalb der Sozialdemokratie radikalisierten sich die marxistischen Intellektuellen und ArbeiterInnen. Der radikale Marxist Karl Liebknecht überwand im Dezember 1914 als erster und einziger Reichstagsabgeordnete der SPD die Fraktionsdisziplin und stimmte gegen die Kriegskredite. Im März 1915 ging Otto Rühle mit Liebknecht diesen Weg. Die radikalen MarxistInnen um Luxemburg und Liebknecht lehnten den imperialistischen Krieg aus revolutionärer Perspektive klar und grundsätzlich ab. Im März 1916 schlossen sich viele von ihnen zum Spartakusbund zusammen. In der SPD entwickelte sich neben dem Spartakus-Bund auch eine gemäßigtere Oppositionsgruppe, der sich schließlich auch Kautsky und Bernstein anschlossen. Diese Strömung befürwortete das globale Gemetzel zwar als „nationalen Verteidigungskrieg“, verurteilte aber dessen imperialistischen Charakter und richtete sich gegen jede Annexionsbestrebungen. Diese schwammige Haltung war natürlich objektiv reaktionär. Anfang 1916 trennte sich im Reichstag diese gemäßigte Oppositionsströmung als „Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft“ von der SPD-Fraktion. Im April 1917 schlossen sich die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft und der Spartakusbund zur Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) zusammen. Der Spartakusbund behielt zwar seine organisatorische Selbständigkeit, objektiv muss aber dessen Mitgliedschaft in diesem sozialdemokratischen Verein ganz klar als eine konservative Tendenz – besonders von Rosa Luxemburg – betrachtet werden. Und dass in einer Zeit, die den konsequenten Bruch mit der Sozialdemokratie erforderte.
Genau aus diesem Grunde blieb ein Teil der radikalen MarxistInnen vom Spartakusbund organisatorisch getrennt. Das waren zum Beispiel die „Bremer Linke“ um die von Johannes Knief und Paul Fröhlich herausgegebenen Zeitung Arbeiterpolitik und die Gruppe um die in Berlin erscheinenden Lichtstrahlen um Julian Borchardt. Die Bremer und Berliner radikalen MarxistInnen schlossen sich Ende 1915 zu den Internationalen Sozialisten Deutschlands (ISD) zusammen. Diese Organisation war in wesentlichen Punkten – zum Beispiel im Bruch mit der Sozialdemokratie – konsequenter als der Spartakusbund. Die Hamburger MarxistInnen um Heinrich Laufenberg und Fritz Wolffheim unterstützten zwar die ISD, aber sie lehnten deren Internationalismus ab. Sie formulierten schon während des Krieges ihre reaktionäre nationalbolschewistische Ideologie (siehe dazu die beiden Kapitel Das Hamburger Rätesystem und Die Herausbildung der FAUD (S), des Unionismus und der KAPD).
Der radikale Marxismus wurde dann während der revolutionären Nachkriegskrise wie der Anarchosyndikalismus der geistige Überbau einer sich weiter radikalisierenden starken Minderheit des Proletariats. Die objektiven Bedingungen dieser revolutionären Gärung war die zerrüttete sozialökonomische Situation und die starke Verelendung des Proletariats zwischen 1918 und 1923. 1919 lag die deutsche Industrie- und Agrarproduktion um rund 14 Prozent unter dem Stand von 1914. Dem deutschen Personal der Bourgeoisie gelang nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches 1918/19 nicht die Stabilisierung des Geldsystems. Die zuerst galoppierende Inflation ging 1922/23 in eine Hyperinflation über, welche den sozialen Rahmen für den Putschismus der „K“PD im Jahre 1923 gab (siehe dazu das Kapitel Die angeblich „revolutionäre Situation“ von 1923). So lag der Kurs der deutschen Reichsmark zum US-Dollar im August 1923 bei 1 zu 4.600.000 und im November 1923 gar bei 1 zu 4,2 Billionen. Die Löhne wurden zuerst wöchentlich, dann täglich und schließlich mehr Mal am Tag ausgezahlt. Die Ersparnisse der ProletarierInnen und KleinbürgerInnen schmolzen zu Nichts dahin. Erst im November 1923 konnte die Inflation aufgehalten werden. Damit endete die revolutionäre Nachkriegskrise in Deutschland und die Periode der relativen Stabilisierung des westeuropäischen und US-amerikanischen Privatkapitalismus begann.
Doch die relative Stabilisierung des westeuropäischen Kapitalismus dauerte nicht lange. Im Jahre 1929 „brach“ die Weltwirtschaftskrise „aus“. In dieser Weltwirtschaftskrise kam die strukturelle Kapitalvermehrungskrise in zyklischer Form zum Ausdruck. Sie war im Wesentlichen eine Profitproduktionskrise, die jedoch auf der Marktoberfläche als Profitrealisationskrise, als Schwierigkeiten das Waren- in Geldkapital umzuwandeln, sichtbar wurde. Der tendenzielle Fall der Profit- und der Kapitalvermehrungsraten äußerte sich in einer nachlassenden Nachfrage nach Produktionsmitteln und über die Zunahme der Arbeitslosigkeit auch durch eine Zusammenziehung der Konsumgüternachfrage. Doch die Krise ist zugleich auch die Lösung der Krise. Wie wir bereits oben beschrieben haben, wird der tendenzielle Fall der Profitrate kompensiert durch eine Erhöhung der Profitmasse über eine verschärfte Konzentration und Zentralisation des Kapitals. Größere Kapitale erzielen eine größere Profitmasse und kleinere Kapitale und unprofitable Kapitale unterliegen im Konkurrenzkampf. Außerdem musste eine so tiefe weltweite zyklische Krise wie die von 1929 auch zu einer gewaltigen körperlichen Vernichtung von nichtverkäuflichen Waren und Stilllegung von Produktionskapazitäten führen.
Auch die Entwertung des sachlichen produktiven Kapitals in der zyklischen Krise trägt zur Stabilisierung der Profitrate bei. Eine Entwertung des sachlichen produktiven Kapitals erhöht die Rate zwischen den Kosten der Produktion und den Profiten, die Profitrate. So war es auch in der Weltwirtschaftskrise. Mit Zunahme der Arbeitslosigkeit übte das Kapital auch einen gewaltigen Druck auf die Reallöhne aus. Deshalb kam es auch zu einer Zunahme des reproduktiven Klassenkampfes im Zuge der Weltwirtschaftskrise. Doch das europäische Proletariat – besonders das deutsche – hatte die gewaltigen Niederlagen der revolutionären Nachkriegskrise noch zu sehr in Erinnerung, als dass es sozialpsychologisch zu einem neuen revolutionären Versuch fähig gewesen wäre. Dazu kam die völlige Degeneration der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung. Zu dieser gehörte in Westeuropa und in den USA jetzt auch der moskauhörige Partei-„Kommunismus“. SPD und „K“PD und die Gewerkschaften organisierten in Deutschland die kampflose Kapitulation gegenüber den Nazis.
Der von diesen ausgelöste Zweite Weltkrieg war von allen Seiten ein imperialistisch-reaktionärer. Auschwitz, Hiroshima und Dresden sind die Synonyme des zivilisationsbarbarischen Terrors des Weltkapitals – einschließlich der staatskapitalistischen Sowjetunion – gegen die proletarische und kleinbürgerliche Zivilbevölkerung. Der Zweite Weltkrieg war ein ultrabrutaler Klassenkrieg von oben, in dem der globale Kapitalismus die strukturelle Kapitalvermehrungskrise löste und die Bedingungen für den Nachkriegsaufschwung schuf. Die Konzentration und Zentralisation des Kapitals beschleunigte sich im Zweiten Weltkrieg gewaltig. Die Entwertung des produktiven Kapitals wurde durch die physische Vernichtung von Produktionsanlagen durch den Krieg ergänzt. Diese Zunahme der Konzentration und Zentralisation des gesellschaftlichen Gesamtkapitals bei der Zerstörung von Teilkapitalen im Krieg setzte das begonnene „Reinigungswerk“ der Weltwirtschaftskrise fort. So wurden im Blutbad des Zweiten Weltkrieges auch die Bedingungen für das bundesdeutsche „Wirtschaftswunder“ geschaffen…

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Neue Broschüre: Der spanische BürgerInnenkrieg (1936-1939) https://swiderstand.blackblogs.org/2014/09/05/92/ https://swiderstand.blackblogs.org/2014/09/05/92/#respond Fri, 05 Sep 2014 18:38:17 +0000 http://swiderstand.blogsport.de/2014/09/05/92/ Unsere neue Broschüre: „Der spanische BürgerInnenkrieg (1936-1939)“ (ca. 122 Seiten) von Soziale Befreiung (Hg.) ist da. Die Broschüre könnt Ihr für 5-€ (inkl. Porto) auch als E-Book hier über Onlinemarktplatz für Bücher booklooker.de bestellen.

In­halt

Ein­lei­tung

Der spanische BürgerInnenkrieg als innerkapitalistischer Konflikt

1. Der spanische Kapitalismus
2. Klassenkämpfe in Spanien (1931-1936)
3. Der Putsch der Generäle
4. Die institutionalisierte ArbeiterInnenbewegung verteidigt(e) den demokratischen
Kapitalismus

Die antifaschistische Volksfront gegen das Proletariat

1. Stalinistische Mordbuben und Folterknechte
2. CNT: Gewerkschaftskapitalismus und Staatssyndikalism
3. Die POUM als linkes Feigenblatt der Konterrevolution
4. Der trotzkistische Einheitsfront-Antifaschismus

Frauen im Klassenkampf und BürgerInnenkrieg

1. Die Lage spanischer Frauen vor dem BürgerInnenkrieg
2. Spanische Frauen in BürgerInnenkrieg
3. Nach dem BürgerInnenkrieg

Der trotzkistische Einheitsfront-Antifaschismus

Trotzki schrieb ganz richtig über die bürgerlich-nationale Volksfront einschließlich ihrer anarchistischen MinisterInnen während der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts: „Was die bürgerlich-republikanischen Parteien betrifft, so besaßen sie weder eigene Ideen noch eigene politische Bedeutung und hielten sich nur auf dem Buckel der Reformisten und Anarchisten. Man kann weiterhin ohne Übertreibung sagen, die Führer des spanischen Anarchosyndikalismus haben alles getan, um ihre Doktrin zu desavouieren und praktisch ihre Bedeutung auf Null zu reduzieren. (…) Nach Auffassung der Sozialisten und Stalinisten, d.h. der Menschewiki ersten und zweiten Aufgebots, sollte die spanische Revolution nur ihre ,demokratischen‘ Aufgaben lösen, und dazu sei eine Einheitsfront mit der ,demokratischen‘ Bourgeoisie erforderlich. Jeder Versuch des Proletariats, über den Rahmen der bürgerlichen Demokratie hinauszugehen, ist von diesem Gesichtspunkt nicht nur verfrüht, sondern auch verhängnisvoll. Außerdem steht nicht die Revolution, sondern der Kampf gegen den Rebellen Franco auf der Tagesordnung. Der Faschismus ist jedoch nicht feudale, sondern bürgerliche Reaktion. Erfolgreich kann die bürgerliche Reaktion nur mit den Kräften und Methoden der proletarischen Revolution bekämpft werden. Dafür hat der Menschewismus, selbst ein Zweig des bürgerlichen Denkens, kein Verständnis und kann es auch nicht haben.“ (Leo Trotzki, Die spanische Lehre: eine letzte Warnung, a.a.O., S. 295.)
Bleibt nur hinzuzufügen, dass der Trotzkismus ebenfalls ein Produkt bürgerlichen Denkens ist. Er blieb den sowjetischen Staatskapitalismus und seiner Ideologie, dem Leninismus, verpflichtet. Deshalb war und ist auch der Trotzkismus unfähig zu sehen, dass die Wurzeln der stalinistischen Volksfront-Politik schon im Leninismus angelegt waren. Schon als die „Kommunistische“ Internationale durch das staatskapitalistische Lenin/Trotzki-Regime gegründet wurde, bekämpfte die Moskauer Partei- und Staatsbürokratie global sozialrevolutionäre Positionen als „ultralinke Kinderkrankheit“. Die radikalmarxistischen SozialrevolutionärInnen lehnten die Reproduktion des parlamentarischen und gewerkschaftlichen Sozialreformismus, zu der auch Einheitsfronten mit sozialdemokratischen Parteiapparaten gehörten, durch den Leninismus ab. In Deutschland gründete sich 1920 die relativ starke antiparlamentarische und gewerkschaftsfeindliche Kommunistische Arbeiter-Partei Deutschlands (KAPD). Die sich von der KAPD abspaltenden RätekommunistInnen lehnten auch die Partei generell als bürgerlich-bürokratische Organisationsform ab. Der Rätekommunismus war auch ein geistiger Pionier bei der marxistischen Kritik des Bolschewismus. Er erkannte schon den staatskapitalistischen Charakter des Lenin/Trotzki-Regimes. Der Rätekommunismus kritisierte den moskauhörigen Partei-„Kommunismus“ als radikale Sozialdemokratie. Der mit der Tradition der KAPD und/oder des italienischen Radikalleninismus (z.B. Bordiga, Bilan) verbundene parteienförmige Linkskommunismus war in seiner Kritik wesentlich weniger radikal als der Rätekommunismus. Der nachmarxistische und nachanarchistische Kommunismus knüpft am Rätekommunismus an, verschärft ihn aber zu einer materialistischen und systematischen Kritik auch an Marx und Engels. Vom italienischen Linkskommunismus übernehmen wir allerdings die radikale Demokratie- und Antifaschismus-Kritik. Hier hatte der Rätekommunismus einige Schwächen, die wir schon an anderer Stelle kritisiert haben.
Von diesem klaren sozialrevolutionären Standpunkt aus kritisieren wir auch den trotzkistischen Einheitsfront-Antifaschismus. Trotzki kritisierte zwar den Volksfront-Antifaschismus, der auf Bündnissen zwischen den Apparaten der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung und „normalen“ bürgerlichen Parteien beruhte – aber er trat für antifaschistische Einheitsfronten zwischen den Apparaten der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung ein. Bei einer radikalen materialistisch-revolutionären Analyse sind aber auch diese Apparate bürgerlich-bürokratisch, die nur die bürgerliche Politik und damit die Kapitalvermehrung reproduzieren können. Einheitsfronten zwischen den Apparaten der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung können also nur reaktionär sein. Die verschiedenen realen Einheitsfronten zwischen Sozialdemokratie, Stalinismus, Trotzkismus und Anarchosyndikalismus in der Geschichte waren dann auch tendenziell nicht weniger sozialreaktionär als die antifaschistischen Volksfronten. Eine Einheitsfront aus Sozialdemokratie und Stalinismus konnte zum Beispiel nur proprivatkapitalistisch oder prostaatskapitalistisch sein. Waren die Bourgeoisie und die Sozialdemokratie stärker als die StalinistInnen war die Einheitsfront proprivatkapitalistisch. Jedoch war nach dem Zweiten Weltkrieg durch die militärische Besetzung Osteuropas durch die UdSSR die Situation anders. Hier waren die Einheitsfronten und späteren Einheitsparteien eindeutig von den StalinistInnen beherrscht und nach dem Einsetzen des Kalten Krieges eindeutig prostaatskapitalistisch. Trotzkis Kampf für eine antifaschistische Einheitsfront aus SPD und „K“PD gegen Hitler, war objektiv ein Kampf zur Verteidigung der Weimarer Demokratie gegen den Faschismus – und damit objektiv sozialreaktionär. Bei der Stärke von Bourgeoisie und Sozialdemokratie konnte die Einheitsfront der letzteren mit dem Stalinismus nur proprivatkapitalistisch sein. Mal abgesehen davon, dass eine prostaatskapitalistische Einheitsfront auch reaktionär gewesen wäre. Eine solche reaktionäre Einheitsfront aus den beiden staatskapitalistischen Strömungen Stalinismus und Trotzkismus gab es zum Beispiel in Vietnam – bevor der Stalinismus den Trotzkismus auch dort blutig liquidierte. Der vietnamesische Trotzkismus hat durch seine opportunistische Einheitsfrontpolitik seiner eigenen Vernichtung Vorschub geleistet.
Wir stellen den antifaschistischen Volks- und Einheitsfronten der bürgerlichen Politik den selbstorganisierten Klassenkampf des Proletariats und die soziale Aktionseinheit der kämpfenden Klasse gegenüber. Wir SozialrevolutionärInnen beteiligen uns an fast allen reproduktiven Klassenkämpfen des Proletariats – außer es werden total reaktionäre Forderungen gegen andere Teile des Proletariats aufgestellt. Gleichzeitig kritisieren wir SozialrevolutionärInnen in unseren Gesprächen mit unseren KollegInnen und Klassengeschwistern im gemeinsamen Kampf ihre sozialreformistischen Illusionen. Die Gewerkschafts- und ParteibürokratInnen jedoch, welche die „Führung“ oder besser gesagt die Bremse der reproduktiven Klassenkämpfe darstellen, bekämpfen wir kompromisslos! Auch am defensiven Kampf gegen Nazis nehmen wir selbstverständlich teil – aber organisatorisch und vor allem geistig immer getrennt vom Antifaschismus, den wir permanent unerbittlich als sozialreaktionäre Ideologie und Praxis bekämpfen. SozialrevolutionärInnen verteidigen sich gegen Demokratie und FaschistInnen – aber sie verteidigen niemals die Demokratie gegen den Faschismus.
Das war und ist ein fundamentaler Unterschied zum Trotzkismus. Dieser bekämpfte das Volksfront-Regime politisch, verteidigte dieses aber militärisch gegen Franco. So schrieb Trotzki: „1. Der Unterschied zwischen Negrin und Franco ist der Unterschied zwischen der verfaulten bürgerlichen Demokratie und dem Faschismus. 2. Überall wo, und immer wenn die revolutionären Arbeiter nicht stark genug sind, unmittelbar das bürgerliche Regime zu stürzen, verteidigen sie gegen den Faschismus sogar die verfaulte bürgerliche Demokratie…“ (Leo Trotzki, Antworten auf einige Fragen, die spanische Lage betreffend (Gedrängte Zusammenfassung), in: Leo Trotzki, Revolution und Bürgerkrieg in Spanien 1931-39, Band 2 1936-39, a.a.O., S. 271.) Der Trotzkismus teilte und teilt also die Grundideologie des Antifaschismus: die Verteidigung der Demokratie. Damit war und ist auch der Trotzkismus sozialreaktionär. Im Unterschied zum Volksfront-Antifaschismus, trat er aber langfristig für den Sturz des Volksfront-Regimes – während er gegenwärtig den militärischen Kampf dieses Regimes gegen Franco unterstützte, einen innerkapitalistischen reaktionären Krieg, in dem die ArbeiterInnen für Kapitalinteressen, für die spanische Demokratie und den sowjetischen Imperialismus verheizt wurden: „Die Negrin-Stalin-Regierung ist ein scheindemokratisches Hindernis auf dem Weg zum Sozialismus, aber auch ein zwar nicht verlässliches oder dauerhaftes, aber immerhin ein Hindernis auf dem Weg zum Faschismus. Morgen, übermorgen kann das Proletariat vielleicht dieses Hindernis wegräumen und die Macht ergreifen. Wenn es aber heutzutage, und sei es auch nur passiv, zu seiner Beseitigung Hilfestellung geben würde, dann würde es nur dem Faschismus Vorschub leisten.“ (Leo Trotzki, Über die „Ultralinken“ im Allgemeinen und die Unheilbaren im Besonderen, in: Leo Trotzki, Revolution und Bürgerkrieg in Spanien 1931-39, Band 2 1936-39, a.a.O., S. 285.) Die spanischen ArbeiterInnen sollten also an ihren Arbeitsplätzen und an der Front weiter schwitzen und bluten für den Unterschied zwischen Stalins und Francos Folterkammern? RevolutionärInnen kämpfen gegen den Kapitalismus, unterstützen aber nicht – und sei es noch so „kritisch“ – eine Fraktion der kapitalistischen Konterrevolution gegen eine andere.
Die revolutionäre Position zum spanischen BürgerInnenkrieg, den der Rätekommunist Paul Mattick 1937 bezog, richtete sich also auch gegen den Trotzkismus: „Die Volksfront ist nicht ein geringeres Übel für die Arbeiter. Es ist nur eine weitere Diktatur in Ergänzung zum Faschismus. Der Kampf muss gegen den Kapitalismus geführt werden.“ (Zitiert nach Red Devil, Widerworte – Gegen die kapitalistische Verfasstheit der Gesellschaft, Historische Texte, a.a.O., S. 17.) Die bolschewistischen Taktikspielchen des Trotzkismus entwaffneten die ArbeiterInnen geistig gegenüber dem kapitalistischen Krieg und der antifaschistischen Konterrevolution, während nur die Links- und RätekommunistInnen den konsequenten Klassenkampf gegen den Kapitalismus vertraten. Allerdings gab es im Trotzkismus auch Strömungen, die eine militärische Verteidigung des Volksfront-Regimes ablehnten. Doch für die Hauptströmungen des Trotzkismus waren und sind wirklich revolutionäre Positionen nur „SektiererInnentum“. So betonte der Trotzkist Les Evans die Bedeutung von Trotzkis Pädagogik „die ganze Vierte Internationalistische Bewegung in zweifacher Hinsicht zu erziehen: zur Ablehnung nämlich der Sektierer in ihren Reihen, die gegen die Unterstützung des republikanischen militärischen Kampfes gegen Franco im Bürgerkrieg waren, wie auch der Zentristen, die bei der Frage einer Volksfrontpolitik eine schwankende Haltung zeigten.“ (Les Evans, Einleitung zur Amerikanischen Ausgabe zu Leo Trotzki, Revolution und Bürgerkrieg in Spanien 1931-39, a.a.O., S. 16/17.)
Der Trotzkismus bekämpft also weiterhin die wirkliche revolutionäre Kritik am Antifaschismus, während er seinen inkonsequenten Einheitsfront-Antifaschismus als einzige revolutionäre Alternative zur Volksfront-Politik darstellt.
Im Vorwort zu Felix Morrows Revolution und Konterrevolution in Spanien behauptete die damalige trotzkistische Sekte Bund Sozialistischer Arbeiter (BSA) 1986: „Stalinismus, Sozialdemokratie, Anarcho-Syndikalismus und Zentrismus –alle spielten eine entscheidende Rolle dabei, die revolutionäre Offensive der Arbeiterklasse zu brechen und schließlich den Triumph der faschistischen Reaktion zu ermöglichen. Nur die Anhänger von Leo Trotzki und die internationale Bewegung, die er anführte, kämpften gegen den Verrat an der spanischen Arbeiterklasse, der unter dem trügerischen Banner der Volksfront begangen wurde, und zeigten in jedem Moment der Entwicklung den Weg vorwärts. Und es waren Trotzki und die Vierte Internationale, die für die ganze internationale Arbeiterklasse die bitteren Lehren aus der Niederlage in Spanien zog.“ (S. 7.) Diese Ignoranz gegenüber marxistischen KritikerInnen des Stalinismus und Trotzkismus!
Allerdings muss noch angemerkt werden, dass Trotzkis SchülerInnen um einiges opportunistischer waren, als der Meister selbst. So unterschied Trotzki – im Gegensatz zu einem Teil seiner damaligen GenossInnen – zwischen einer politischen und einer militärischen Unterstützung der spanischen Volksfront. So war der damalige US-amerikanische Trotzkist Shachtman der Meinung, ein imaginärer trotzkistischer Parlamentsabgeordneter in Spanien hätte auch für den Militärhaushalt der Volksfront-Regierung stimmen müssen. Das sah Trotzki nicht so. Er schrieb in einem Brief an den amerikanischen Trotzkisten James P. Cannon: „Eine Stimmabgabe im Parlament für das Finanzbudget ist keine ,materielle‘ Hilfe, sondern ein Akt politischer Solidarität. Wenn wir für Negrins Budget stimmen können, warum sollten wir nicht unsere Vertreter in seine Regierung entsenden können? Auch das könnte als eine ,materielle Hilfe‘ interpretiert werden. Die französischen Stalinisten setzen ihr volles Vertrauen in die Volksfrontregierung, offiziell aber nehmen sie an ihr nicht teil. Wir bezeichnen diese Art der Nichtbeteiligung als die schlimmste, verderblichste Art einer Beteiligung.“ (Leo Trotzki, Brief an James P. Cannon, in: Leo Trotzki, Revolution und Bürgerkrieg in Spanien 1931-39, Band 2 1936-39, a.a.O., S. 279.) Auch die „kritische“ Unterstützung eines innerkapitalistischen Krieges ist sozialreaktionär, Herr Trotzki!
Die damaligen spanischen TrotzkistInnen wollten sowohl am innerkapitalistischen Krieg teilnehmen, als auch den Klassenkampf gegen das antifaschistische Volksfront-Regime revolutionär zuspitzen. Bei aller Sympathie für den damaligen Mut der TrotzkistInnen – es gehörte damals verdammt viel Mut dazu, Trotzkist zu sein! – war das objektiv strukturell opportunistisch. So verteilten die spanischen TrotzkistInnen während der Barrikadenkämpfe in Barcelona im Mai 1937 folgendes Flugblatt: „Lang lebe die revolutionäre Offensive. Keine Kompromisse. Entwaffnung der republikanischen Nationalgarde und der reaktionären Asalto-Garden. Dies ist der entscheidende Moment. Das nächste Mal wird es zu spät sein. Generalstreik in allen Industriezweigen, ausgenommen jene, die mit der Fortführung des Krieges verbunden sind, bis zum Rücktritt der reaktionären Regierung. Nur die proletarische Macht kann den militärischen Sieg sichern. Vollständige Bewaffnung der Arbeiterklasse. Lang lebe die Einheit der Aktion von CNT-FAI-POUM. Lang lebe die revolutionäre Front des Proletariats. Komitees der revolutionären Verteidigung in den Geschäften, Fabriken, Distrikten. Bolschewiki-Leninisten, Sektion Spanien (für die Vierte Internationale)“ (Zitiert nach Felix Morrow, Revolution und Konterrevolution in Spanien, a.a.O., S. 146.)
Die RüstungsarbeiterInnen sollten also nicht mitstreiken, weil der innerkapitalistische Krieg selbst noch in der Zuspitzung des Klassenkampfes von den TrotzkistInnen verteidigt wurde! Auch orientierte der Trotzkismus die ArbeiterInnen nicht auf die Zerschlagung des demokratischen Staates, sondern nur auf „den Rücktritt der reaktionären Regierung“! Die TrotzkistInnen ließen auch den linken Flügel der antifaschistischen Konterrevolution, CNT-FAI-POUM, hochleben. Typischer trotzkistischer Einheitsfront-Opportunismus! Hätte es damals in Spanien eine wirkliche sozialrevolutionäre Strömung gegeben, so hätte sie ein Flugblatt verteilen müssen, indem folgendes gestanden hätte: „Wir, das Proletariat, sind zwischen den Hammer Francos und den Amboss von Caballero-Stalin geraten. Um nicht zerschlagen zu werden, müssen wir unseren revolutionären Klassenkrieg gegen beide Seiten, gegen den Kapitalismus, führen. Generalstreik, Fabrikräte, Arbeitermilizen, Klasse gegen Klasse! Nieder mit der antifaschistischen Ideologie, die uns an den Kapitalismus binden und von der Revolution abhalten soll! Jetzt richtet die demokratisch-stalinistische Konterrevolution auch ihr blutiges Strafgericht gegen den Schwanz der Konterrevolution: CNT, FAI und POUM. Die CNT-Bonzen rufen uns zur Kapitulation auf. Kein Wunder, organisiert diese Gewerkschaft doch unsere Ausbeutung mit! Keine Illusionen in die „anarchistischen“ und „marxistischen“ Gewerkschafts- und Parteibonzen. Wenn wir jetzt gegen die republikanisch-stalinistische Konterrevolution kämpfen, dann für uns – nicht für CNT und POUM! Nieder auch mit diesem Schwanz der Konterrevolution! Es lebe der selbstorganisierte revolutionäre Klassenkrieg gegen Franco und die antifaschistische Volksfront!“

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Trotzki schrieb am 1. Juli 1939: „Es ist schwierig, sich eine einfältigere Erfindung als die Hitlers und Mussolinis vorzustellen, wenn sie auf die spanischen Ereignisse als Beweis für die revolutionäre Einmischung der Sowjetunion verweisen. Die spanische Revolution, die ohne Moskau und unerwartet für es ausbrach, strebte bald dahin, einen sozialistischen Charakter anzunehmen. Moskau fürchtete vor allem, dass die Beeinträchtigung des Privateigentums auf der Iberischen Halbinsel London und Paris zu einer Annäherung an Berlin gegen die UdSSR bringen würde. Nach einigem Zögern intervenierte der Kreml in die Ereignisse, um die Revolution in den Grenzen des bürgerlichen Regimes zu halten.
Alle Aktivitäten der Moskauer Agenten in Spanien waren darauf abgestellt, jede unabhängige Bewegung der Arbeiter und Bauern zu lähmen und die Bourgeoisie mit einer gemäßigten Republik zu versöhnen. Die spanische Kommunistische Partei stand auf dem rechten Flügel der Volksfront. Am 21. Dezember 1936 empfahlen Stalin, Molotov und Woroschilow eindringlich in einem vertraulichen Brief an Largo Caballero, dem damaligen spanischen Ministerpräsidenten, dass es keine Eingriffe in das Privateigentum geben dürfe und dass dem ausländischen Kapital Garantien gegen die Verletzung der Handelsfreiheit und für die Aufrechterhaltung des parlamentarischen Systems – ohne Duldung der Entwicklung der Sowjets – gegeben werden müsse. Dieser kürzlich von Caballero der Presse durch den ehemaligen spanischen Gesandten in Paris, L. Araquistain zugeleitete Brief(New York Times vom 4. Juni 1939) fasste aufs Beste die konservative Position der Sowjetregierung gegenüber der sozialistischen Revolution zusammen.
Wir müssen im Übrigen dem Kreml Gerechtigkeit widerfahren lassen. Die Politik blieb nicht bei Worten stehen. Die GPU in Spanien führte eine rücksichtslose Unterdrückung gegen den revolutionären Flügel durch (,Trotzkisten‘, POUMisten, linke Sozialisten, linke Anarchisten). Jetzt, nach der Niederlage (dem Sieg Frankos im BürgerInnenkrieg, Anmerkung von Nelke), werden die Grausamkeiten und Fälschungen der GPU in Spanien bereitwillig von den gemäßigten Politikern aufgedeckt, die weitgehend den Moskauer Polizeiapparat in Anspruch nahmen, um ihre revolutionären Gegner zu vernichten.“ (Leo Trotzki, Die konterrevolutionäre Rolle des Kreml, in: Leo Trotzki, Revolution und Bürgerkrieg in Spanien 1931-39, Band 2 1936-39, a.a.O., S. 333/334.
Heinz Abosch schrieb dazu: „Vor allem täuschte sich Trotzki in der Beurteilung der Politik Stalins. Er sah darin ein Mittel um die Revolution im bürgerlich-demokratischen Rahmen einzuzwängen; er sah nicht, dass diese bürgerlich-demokratisch vermummte Politik der Errichtung einer bürokratischen Diktatur diente, die Trotzki als ,Arbeiterstaat‘ zu verteidigen fortfuhr. Was Stalin in Spanien erprobte, wandte er nach 1945 im östlichen Europa auf breiter Grundlage an, als die ,Volksdemokratien‘ eine Etappe auf dem Wege zur Errichtung kommunistischer Regime darstellten“ (Heinz Abosch, Trotzki und der Bolschewismus, Ullstein Materialien, Frankfurt/M, Berlin, Wien 1984, S. 134/135.)
Abosch zeigte sich durch diese Worte als ein linksdemokratischer Trotzki-Kritiker. Fakt ist, dass sich der Terror Stalins nicht gegen bürgerliche DemokratInnen richtete, sondern gegen ihre linken KritikerInnen. Fakt ist auch, dass er den Kapitalismus des freien Privateigentums unangetastet ließ. Er war also ein Todfeind der sozialen Revolution. Ob Stalin nach einem Sieg über Franko auch die Demokratie und das Privateigentum an den Produktionsmitteln beseitigt hätte, können wir nicht wissen – Franco siegte im BürgerInnenkrieg, begünstigt durch Stalins Politik. Umso weniger konnte das Trotzki wissen – er konnte die Erfahrungen mit dem Sowjetimperialismus in Osteuropa nicht mehr machen, da er vorher von Stalins Schergen ermordet wurde. Auch muss beachtet werden, dass der sowjetische Imperialismus zwischen Anpassung an den Privatkapitalismus und Unterstützung der staatskapitalistischen Sozialreaktion hin und her schwankte. Darüber ob Stalin in Spanien das Privateigentum verteidigte oder letztendlich das Staatseigentum vorbereiten wollte, sollen sich unseretwegen DemokratInnen und TrotzkistInnen streiten –beide Seiten haben keine Ahnung von der sozialen Revolution. Aus unserer Sicht ist diese Frage auch unerheblich. Der „ArbeiterInnenstaat“ ist genauso ein erbitterter Feind der sozialen Revolution wie die Demokratie, die die spanischen Lohnabhängigen seit dem Tod Francos „genießen“ können.

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